Zum Umgang mit Enttäuschungen in der Antike 3515136118, 9783515136112, 9783515136129

Gemeinsam geteilte Erwartungen sind die Grundlage sozialen Handelns. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass die eigene

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Zum Umgang mit Enttäuschungen in der Antike
 3515136118, 9783515136112, 9783515136129

Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber*innen
Jan Timmer I Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt
Katarina Nebelin I Systemwechsel als Enttäuschungsbewältigung?
Christian Rollinger I Der Städteenttäuscher
Dorothea Rohde I Der hellenistische König und seine enttäuschten Peers
Uwe Walter I Wenig Raum für ‚Enttäuschung‘
Bernadette Descharmes I Humor ist, wenn man trotzdem lacht
Lukas Jansen I Personalpolitik mit Enttäuschungspotential
Marian Nebelin I Akzeptanzgruppen und Erwartungsenttäuschungen in der römischen Kaiserzeit*
Rene Pfeilschifter I Große Erwartungen?
Maria Osmers I Paulus, Rom und die enttäuschte lokale Elite
Eva Baumkamp I Die enttäuschte Gemeinde
Jan-Markus Kötter I Martin von Tours, Ambrosius von Mailand und der Priscillian-Prozess
Henning Börm I Enttäuschte Eliten

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Zum Umgang mit Enttäuschungen in der Antike Herausgegeben von Jan-Markus Kötter, Maria Osmers, Dorothea Rohde und Jan Timmer

Geschichte Franz Steiner Verlag Franz Steiner Verlag

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contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte

Zum Umgang mit Enttäuschungen in der Antike

Herausgegeben von Jan-Markus Kötter, Maria Osmers, Dorothea Rohde und Jan Timmer

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2024 www.steiner-verlag.de Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13611-2 (Print) ISBN 978-3-515-13612-9 (E-Book) https://doi.org/10.25162/9783515136129

Inhalt Vorwort der Herausgeber*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Jan Timmer Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt Vorüberlegungen zur Rolle von Enttäuschungen in antiken Gesellschaften . . . . . . . . . . .  9 Katarina Nebelin Systemwechsel als Enttäuschungsbewältigung? Die oligarchischen Umstürze des 5. Jahrhunderts v. Chr. und die Wiederherstellung der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Christian Rollinger Der Städteenttäuscher Demetrios Poliorketes, Athen und das ambivalente Verhältnis zwischen König und Stadt im frühen Hellenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  51 Dorothea Rohde Der hellenistische König und seine enttäuschten Peers Königliche Ansprüche, aristokratische Erwartungen und die Reformen Agis’ IV. und Kleomenes’ III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .77 Uwe Walter Wenig Raum für ‚Enttäuschung‘ Robuste Dispositionen in der römischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Bernadette Descharmes Humor ist, wenn man trotzdem lacht Der enttäuschte Klient in Martials Epigrammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .115 Lukas Jansen Personalpolitik mit Enttäuschungspotential Umgang der Senatoren mit Erwartungsenttäuschungen im Principat . . . . . . . . . . . . . . . .135

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Inhalt

Marian Nebelin Akzeptanzgruppen und Erwartungsenttäuschungen in der römischen Kaiserzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Rene Pfeilschifter Große Erwartungen? Lokale Gemeinschaften und das Römische Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Maria Osmers Paulus, Rom und die enttäuschte lokale Elite Herrschaft und Konflikt im frühkaiserzeitlichen Judäa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Eva Baumkamp Die enttäuschte Gemeinde Auswirkungen und Konsequenzen der Christenverfolgungen in Karthago . . . . . . . . . . . . 209 Jan-Markus Kötter Martin von Tours, Ambrosius von Mailand und der Priscillian-Prozess Reichskirchliche Enttäuschung, innerkirchliche Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Henning Börm Enttäuschte Eliten Das Scheitern des Kaisers Anthemius als historische Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Vorwort der Herausgeber*innen Im Umgang mit Enttäuschungen sind wir alle erprobt – gerade auch als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Diese Feststellung war jedoch nicht der Grund, warum wir vier auf dem Historikertag in Münster vor inzwischen fast fünf Jahren den Entschluss gefasst haben, uns gemeinsam im Rahmen einer Tagung mit genau diesem Thema zu beschäftigen. Vielmehr reizte uns der Versuch, anhand von antiken Beispielen aus unterschiedlichen Regionen, Zeiten und Bereichen auszutesten, ob das Konzept der „Enttäuschung“ für die althistorische Forschung tragfähig ist und einen Erkenntnisgewinn bringen kann. Dabei waren wir uns der Probleme und Fallstricke, die das Thema aufwirft, bewusst: In der Alten Geschichte werden emotionsgeschichtliche Fragestellungen gerade aufgrund der häufig dünnen Quellenlage noch immer mit einer gewissen Zurückhaltung betrachtet; hinzu kommt, dass der Begriff der Enttäuschung keine passgenaue Entsprechung im Griechischen und Lateinischen besitzt. Dafür, dass das Projekt schließlich doch Gestalt annehmen konnte, gebührt unser Dank verschiedenen Institutionen und Personen. Zunächst einmal danken wir der Fritz-Thyssen-Stiftung, die unsere Tagung „Zum Umgang mit Enttäuschungen in der Antike“ großzügig gefördert und unseren Aufenthalt im Stiftungshaus in Köln vom 2. bis zum 4. September 2021 trotz aller Widrigkeiten aufgrund der Corona-Pandemie so angenehm wie möglich gemacht hat. Die technischen und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen schufen so trotz Maskenpflicht, Abstandsregeln und hybridem Publikum eine Atmosphäre, in der angeregt und ausgiebig diskutiert werden konnte. An zweiter Stelle möchten wir den Teilnehmer*innen danken, die sich auf das Thema und das Format eingelassen und die Tagung durch ihre Beiträge bereichert haben. Unser Dank geht zudem an die studentischen Hilfskräfte, die an unterschiedlicher Stelle an der Organisation und Durchführung beteiligt waren, sowie an die vielen Mitdiskutant*innen, die durch ihre Teilnahme ihr Interesse an dem Thema zum Ausdruck gebracht haben. Dieser Sammelband stellt das Ergebnis der Tagung dar und soll – im Idealfall – zugleich zu weiteren Forschungen zum Themenkomplex „Enttäuschungen“ und darüber hinaus zur Beschäftigung mit emotionsgeschichtlichen Fragestellungen anregen. Statt einer Einleitung ist dem Band dabei der Beitrag von Jan Timmer vorweggestellt, der eine theoretische und methodische Einführung in das Thema bietet und bereits auf

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Vorwort der Herausgeber*innen

der Tagung als Diskussionsgrundlage diente. Dafür, dass das Buch nun erscheinen kann, danken wir auf der einen Seite erneut der Fritz-Thyssen-Stiftung, die uns eine großzügige Druckbeihilfe gewährte. Auf der anderen Seite gebührt unser Dank den Autor*innen für die gute Zusammenarbeit. Und zu guter Letzt danken wir dem Franz Steiner Verlag für die Aufnahme des Bandes in sein Programm sowie für die große Unterstützung und gute Betreuung während der Drucklegung. Jan Kötter, Maria Osmers, Dorothea Rohde, Jan Timmer

September 2023

Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt Vorüberlegungen zur Rolle von Enttäuschungen in antiken Gesellschaften Jan Timmer 1. Die Allgegenwart von Enttäuschungen und ihren Folgen „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.“ Den Spruch kennt jeder: ob von einer bekritzelten Toilettentür, dem Liedtext einer deutschen Rockband oder der Lektüre von Wilhelm Buschs Bildgeschichte „Plisch und Plum“, der Geschichte von den beiden missratenen Hundewelpen, die der Besitzer gerne ertränken möchte.1 Aber es kommt anders als man denkt. Die Welpen werden unerwartet gerettet, sie werden – noch unerwarteter –, nachdem sie allerlei Unfug angestellt haben, schließlich gut erzogen (bei Wilhelm Busch erwartungsgemäß durch eine ordentliche Tracht Prügel). Am unerwartetsten ereignet sich schließlich der einzige Todesfall der Geschichte: Es ist der ehemalige Hundebesitzer, den am Ende zuerst der Schlag trifft, bevor er in dem Teich versinkt, in dem er zu Beginn doch die Hunde hatte ersäufen wollen. Alle Erwartungen wurden getäuscht. Nichts trat so ein, wie es die handelnden Personen oder die Betrachter erwartet hatten, und das macht den Witz von Buschs Bilderposse aus. Die Sache selbst ist nicht immer so witzig, sondern häufig enttäuschend: Die Klage darüber, dass Dinge nicht so geschehen, wie man sie erwartet hat, ist dementsprechend weit verbreitet, wird lautstark artikuliert, betrifft alle Lebensbereiche und bleibt nicht folgenlos. Enttäuschungen können wirkmächtig sein: Enttäuschte Erwartungen über die Treue des Partners beenden Beziehungen, enttäuschte Erwartungen über die Ertragslage von Unternehmen lassen Aktienkurse einbrechen, enttäuschte Erwartungen über Entscheidungen zur Verteilung knapper Güter untergraben das Vertrauen in die Regierung und gegebenenfalls sogar die Legitimität des politischen Systems.2 1 2

Bei Busch heißt es allerdings: „Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt.“ (Busch [1959], Bd. 2, 454). Die Verballhornung geht vermutlich auf Hermann Löns zurück (Löns [1923], 123). Gerade diese politischen Enttäuschungen sind in den letzten Jahren, vor allem auch im Kontext der Untersuchung populistischer Strömungen, in den Blick geraten. Vgl. etwa Finkbeiner (2019);

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Nun ist der Umstand, dass die Dinge nicht so geschehen, wie man sie erwartet hat, zwar ebenso enttäuschend wie gegebenenfalls folgenreich, gleichzeitig aber selbstverständlich, denn bei Erwartungen handelt es sich um Selektionen.3 Die Zukunft hält mehr Möglichkeiten bereit, als Menschen zu verarbeiten in der Lage sind. Die Lösung des Problems lautet, den größten Teil dieser Möglichkeiten zu ignorieren.4 Nichts anderes sind Erwartungen. Auf der Grundlage eines im Prozess der Sozialisation erworbenen Wissensvorrates,5 dem, was man über die Werte und Normen einer Gruppe weiß,6 den in der Vergangenheit gemachten eigenen Erfahrungen usw. schließt man auf das, was in der Zukunft geschehen wird, und handelt so, als ob sich die Welt auf die erwartete Art und Weise entwickeln werde.7 In den meisten Fällen funktioniert das auch. Völlig selbstverständlich und zumeist unreflektiert – „automatisch-spontan“8 – weist man Situationen Bedeutungen zu, handelt entsprechend und erwartet den Fortgang der Ereignisse. Allerdings lässt sich aus der Vergangenheit die Zukunft nie sicher voraussagen, weder aus übernommenen Wissensbeständen noch aus in die Zukunft verlängerter Erinnerung. Die Zukunft bleibt kontingent.9 Andere Akteure können die Situation anders gedeutet haben, die Zeichen, die auf das weitere Erleben verweisen, können täuschen: „Kontingenz heißt praktisch Enttäuschungsgefahr“, hat Niklas Luhmann formuliert.10 Wenn nun auf der einen Seite Enttäuschungen nicht zu umgehen sind, weil es sich bei ihnen um notwendige Folgen der Entstehungsbedingungen von Erwartungen handelt, sie aber auf der anderen Seite gravierende Folgen haben können, die kooperatives Verhalten erschweren und die Funktionsfähigkeit von Systemen beeinträchtigen, dann liegt es nahe, Enttäuschungen zum Untersuchungsgegenstand zu machen und nach den historisch variablen Anlässen, nach den Auswirkungen auf die Dynamik sozialer Konflikte und nach den Programmen der Enttäuschungsabwicklung zu fragen, die Gesellschaften ausbilden, um sich vor den Enttäuschungsfolgen zu schützen. Der vorliegende Sammelband will dies tun, und zwar für den politischen Raum antiker Gesellschaften.

Rehberg et al. (2016). Esser (2002), 69–71; Luhmann (2008), 31 f., 40–44; zur Entstehung von Erwartungen auch Baecker (2001); Luhmann (1969); Luhmann (2015), 361–367, 396–399; Preyer (2012), 77–94. 4 Luhmann (2008), 40 f. 5 Kroneberg (2005), 346. 6 Ebd., 351. 7 Beckert (2017). 8 Kroneberg (2005) unter Rückgriff auf die Frame-Selektions-Theorie von Esser (2001), 266. 9 Luhmann (2008), 31. 10 Ebd. 3

Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt

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2. Enttäuschungen als Gegenstand der historischen Forschung Aus der Sicht des Historikers ist zum ersten auf die Häufigkeit des Phänomens zu verweisen: Enttäuschung gehört – neben Angst oder Ärger – zu den am häufigsten auftretenden negativen Emotionen.11 Emotionen aber – und dies ist ein zweiter Grund für die Beschäftigung mit dem Phänomen – stehen seit einiger Zeit im Fokus einer kulturwissenschaftlich orientierten historischen Forschung.12 Zum dritten stellt sich schließlich aktuell die Frage nach einem Zusammenhang von Enttäuschungserfahrungen und der Stabilität demokratischer Ordnungen.13 Untersuchungen zur Enttäuschung in antiken Gesellschaften aber fehlen, und dafür gibt es Gründe: Bereits bei der Lektüre zahlreicher Beiträge der Nachbarwissenschaften, die mit dem Begriff der ‚Enttäuschung‘ operieren, zeigt sich, dass dieser zwar weit verbreitet ist, aber nicht immer versucht wird, die untersuchten Phänomene auch unter Rückgriff auf das Konzept zu erklären. Enttäuschung ist oft nur ein populäres Schlagwort und kein analytischer Begriff.14 Das mag zunächst einmal daran liegen, dass der Begriff umgangssprachlich weit gefasst wird. Eigentlich sind Menschen dauernd enttäuscht: vom Wetter, von den Noten, die die Kinder mit nach Hause bringen, oder vom unterstützten Fußballverein, und zwar auch dann, wenn in Wirklichkeit gar keine Differenz zwischen Erwartung und Erfahrung vorliegt. Mit einem solch weiten Begriff kann man tatsächlich wenig anfangen. Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung, vormoderne Phänomene als Folge bzw. unter Einbezug von Enttäuschungen zu erklären, resultiert aus Vorstellungen über die Differenz von Moderne und Vormoderne in der Geschichtswissenschaft: Wenn Enttäuschung eine Reaktion auf das Auseinandertreten von Erwartung und Erfahrung ist, dann liegt es nahe, von der Koselleck’schen Dichotomie von Erwartungshorizont und Erfahrungsraum bzw. dem Prozess ihres zunehmenden Auseinandertretens in der Neuzeit auszugehen15 und Enttäuschungen als ein Charakteristikum der Moderne zu behandeln.16 Das ist auch geschehen: So wurden Phänomene wie die Blüte nationalis-

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Schimmack / Diener (1997). Frevert (2009) u. (2016); Plamper (2012). Sack (2011); Sleat (2013). Gleichwohl spielt sie als ergänzende Variable in einer Vielzahl von Arbeiten eine Rolle, wie zuletzt Michael Moxter und Nina Heinsohn betont haben. Ob in Psychologie, Philosophie, Religionswissenschaft oder Soziologie, Enttäuschungen werden häufig als Faktor mitberücksichtigt. Am umfangreichsten ist die Beschäftigung in der Psychologie, insbesondere dort, wo es um ökonomisches Verhalten von Akteuren geht; vgl. etwa Martinez et al. (2011); Martinez / Zeelenberg (2015); van Dijk (1999). Die Untersuchung der Rolle von Enttäuschungen ging dabei von der Wirtschaftswissenschaft aus; vgl. bereits Bell (1985). Zur Soziologie: Schulze (2005), 63–67; zur Rolle von Enttäuschung innerhalb der Systemtheorie: Baecker (2005), 85–98; Luhmann (2008), bes. 27–64; Luhmann (2015), 346–487; Pumperla (2017). Koselleck (2017). Gotto (2018), 2 f.

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tischer Utopien im 19. Jahrhundert oder der Terrorismus der 1970er Jahre neben weiteren Faktoren auf kollektive Enttäuschungen zurückgeführt.17 Zuletzt hat Bernhard Gotto in einer grundlegenden Studie Enttäuschung als analytische Kategorie zur Untersuchung politischen Engagements in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts genutzt und die Leistungsfähigkeit der Kategorie zur Erklärung historischer Phänomene unter Beweis gestellt.18 Vormoderne Gesellschaften gelten vielen demgegenüber im Hinblick auf die Erwartungsstrukturen der Akteure als weitgehend stabil. Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich in ihnen nur allmählich, was die Entstehung von Enttäuschungen begrenzen sollte. In der Alten Geschichte treten zwei weitere Faktoren hinzu: zum einen  – das ist nicht ungewöhnlich, aber hier besonders relevant  – ein Quellenproblem.19 Sicherlich stellen auch antike Historiker gegebenenfalls Differenzen zwischen Erwartungen und Erfahrungen dar, und ebenso beruhen etwa die Plotstrukturen der attischen Tragödie wesentlich darauf, dass nicht das geschieht, was die Protagonisten erwartet haben,20 aber zentral, um Erwartungen und Enttäuschungen zu rekonstruieren, sind ego-­Dokumente: Briefe, Tagebücher oder Memoiren. Davon gibt es in der Antike allerdings vergleichsweise wenig. Daneben mag für die Zurückhaltung unter Althistorikern auch eine gewisse im Fach zu beobachtende Skepsis verantwortlich sein, überhaupt moderne Konzepte auf antike Verhältnisse anzulegen, sofern das Phänomen des Interesses nicht gleichzeitig auch Teil der Selbstbeschreibung einer antiken Gesellschaft ist, und das gilt auch für die Emotionsgeschichte. Den Groll des Achill mag man untersuchen, die Scham des Aias ebenfalls, vielleicht noch all die Gefühle, die Aristoteles in seiner Rhetorik behandelt,21 aber nicht die Enttäuschung, für die es im Lateinischen oder Griechischen nur ungefähre Entsprechungen gibt.22 Warum soll man sich dann den Enttäuschungen in antiken Gesellschaften zuwenden? Auch wenn das Auseinandertreten von Erwartungshorizont und Erfahrungsraum sicherlich in seiner Koselleck’schen Form eine moderne Besonderheit darstellt, so bleibt auch in der Vormoderne die Erwartung eine komplexitätsreduzierende und enttäuschungsanfällige Selektion zukünftiger Möglichkeiten. Und Enttäuschungen sind auch in einfachen Sozialsystemen wirkmächtig. Der Abbruch von Kooperation

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Zur Entstehung nationalistischer Utopien als Folge von Enttäuschungserfahrungen Stern (2018); zum Terror der 1970er Elias (2009); zu Enttäuschung als Deutungsmuster Gotto (2018), 16; speziell zu Stern und Elias auch Rehberg (2017), 46 f. Gotto (2018); vgl. Gotto (2014) u. (2020). Vgl. Kaster (2005), 10. Diller (1971). Zuletzt Gottlieb (2021); vgl. Konstan (2007). Die Behandlung von Emotionen in der Antike bleibt weiterhin häufig Philologen vorbehalten oder ist zumindest mit einer philologischen Methode verbunden. Vgl. aus der mittlerweile unüberschaubaren Fülle an Literatur beispielhaft Cairns / Nelis (2017); Chaniotis (2012); Chaniotis / Ducrey (2013); Chaniotis (2021); Kaster (2005); MacMullen (2012).

Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt

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kann gerade in Systemen mit geringer Institutionalisierung politischer Strukturen oder schwacher Ausbildung von Rollen, an die unabhängig von bestimmten Personen Erwartungen geknüpft werden, zur Blockade des Entscheidungsfindungsprozesses führen. Man kann also Enttäuschungen auch in der Antike untersuchen, weil es sie auch dort gab und sie gravierende Auswirkungen haben konnten. Niklas Luhmann hat in seinen Überlegungen zu einfachen Sozialsystemen, also Systemen, die auf Anwesenheit und wechselseitiger Wahrnehmbarkeit der Beteiligten ruhen,23 zudem vermutet, dass sich diese auch insofern von der Moderne unterscheiden, als es andere Formen gibt, mit der Enttäuschung umzugehen, und der Erklärung von Enttäuschungen höhere Bedeutung zukommt als der Abwicklung derselben,24 insbesondere in der reflexiven kognitiven bzw. normativen Form, an der Luhmann besonderes Interesse hatte.25 Man kann also Enttäuschungen in der Antike untersuchen, um alternative Formen des Umgangs mit ihnen in den Blick zu bekommen. Ein vielleicht noch wichtigerer Anlass, Enttäuschung in der Antike zu untersuchen, ist aber die bereits angesprochene Enttäuschungserfahrung in modernen Demokratien. Enttäuschungen wirken; sie stellen die Akzeptanz politischer Herrschaft in Frage; sie verhindern Kooperation unter politischen Akteuren. In der einschlägigen Literatur wird immer wieder darauf verwiesen, dass dies Kennzeichen nicht nur der spätmodernen, sondern eigentlich aller Demokratien ist.26 Zwei Gründe scheinen hierfür ausschlaggebend: Zum einen können in pluralistischen Gemeinwesen die Verheißungen, die mit der Ausweitung von Partizipationschancen in der Demokratie verbunden sind, regelmäßig nicht eingelöst werden. Die Interessen der Bürger sind zu inhomogen, als dass sie selbst in einem idealen Prozess der Interessenaggregation noch alle Berücksichtigung finden könnten.27 Interessenaggregation bedeutet ganz wesentlich auch Interessenselektion, und das heißt wiederum, dass Interessen, die Bürger in den Prozess der Herstellung von Entscheidungen eingebracht haben, in der Entscheidung selbst nicht abgebildet werden. Dies führt  – im Zusammenspiel mit einem aus der Partizipationsverheißung der Demokratie resultierenden Anspruch der Bürger auf die

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Luhmann (1975). Zur Enttäuschungsabwicklung Luhmann (1969), 46; Luhmann (2008), 53–64; Luhmann (2015), 452–456. Grundsätzlich lassen sich reflexive Erwartungen in zwei Typen trennen, solche, die im Enttäuschungsfall angepasst werden, und solche, die man trotz – gegebenenfalls regelmäßiger – Enttäuschung beibehält. Luhmann vermutete, dass in modernen funktional differenzierten Gesellschaften die Möglichkeit der Enttäuschung in die Erwartung eingeschrieben, sie gleichsam miterwartet wird, was zudem die Option eröffnet, die Folgen einer Enttäuschung bereits mitzukommunizieren; vgl. Luhmann (1969), 30–36; Luhmann (2008), 40–53; Luhmann (2015), 436–443. Zur Antizipation der Möglichkeit der Enttäuschung vgl. auch Bell (1985). Sack (2011); Schillo (2013); ähnlich bereits Hirschman (1984), 102. Almond / Powell (2001), 103–127.

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Abbildung eigener Interessen  – zu Enttäuschungen: Von „Demokratien als Enttäuschungsagenturen“ hat Bernhard Gotto folgerichtig gesprochen.28 Enttäuschungen werden aber zum anderen  – und das gilt nicht nur für die Demokratie – nicht nur erlitten, sie besitzen auch eine aktive und transitive Seite. Dem ‚Enttäuscht-Werden‘ entspricht das ‚sich Ent-Täuschen‘,29 eine bewusste Befreiung von Täuschungen, denen man unterliegt. Die Fähigkeit, sich zu ent-täuschen, ist eine für das Funktionieren der Demokratie vermutlich notwendige Kompetenz des Bürgers, eine Kompetenz, die sowohl den Output des politischen Systems steigern kann als auch eine notwendige Bedingung dafür ist zu erklären, warum aus der authentischen Zustimmung einer Mehrheit eine Verpflichtung zum Gehorsam resultieren soll.30 Gleichwohl ist auch die aktive Form mit negativen Emotionen verbunden, die von den Akteuren nicht auf die Demokratie selbst zurückgeführt werden dürfen. Auch das sich Ent-Täuschen macht dementsprechend eine Enttäuschungsabwicklung notwendig.31 Wenn aber die Enttäuschung unmittelbar zur Demokratie gehört, dann liegt es nahe, den Blick nach Athen zu richten, zu fragen, wie sich hier in der ersten Demokratie Programme der Enttäuschungsabwicklung institutionalisierten, unter welchen Bedingungen Enttäuschungen über die Demokratie zu Enttäuschungen in der Demokratie werden konnten und unter welchen nicht. Es ist kein Wunder, dass die laut der pseudo-aristotelischen Atheneion politeia erste Demokratie in Athen, die des Solon,32 daran scheiterte, „dass beide Parteien [sc. Adel und Volk] ihre Meinung über ihn geändert hatten, weil die neue Ordnung ihren Erwartungen nicht entsprach.“33 Dies änderte sich zwar; Enttäuschungen aber blieben. Das lässt sich – wie gesagt – in einer Demokratie auch gar nicht vermeiden. Aber es gelang eine Stabilisierung des Systems, und zwar m. E. durch Verfahren der Abkühlung von Ansprüchen der Bürger, die Personalisierung des politischen Systems und eine besonders enge Verknüpfung des Eintretens des Unerwarteten mit Entscheidungen der Inhaber bestimmter Rollen. Man kann also das Problem der Enttäuschungen auch für antike Gesellschaften untersuchen, um Lösungen aktueller Probleme in nah verwandten und doch zugleich erstaunlich fremden Gesellschaften wie den antiken zu betrachten. 28 29 30 31 32 33

Gotto (2018), 7. Zur transitiven Seite von Enttäuschungen als ‚Ent-Täuschung‘ Furth (1987), 6; vgl. Luhmann (2011), 55. Scharpf (2000), 207; zugleich unterbricht das sich Ent-Täuschen Vertrauensroutinen, die zu einer  – für die Demokratie inakzeptablen  – Grundlage von Macht werden könnten; vgl. Endreß (2019), 53. Anders Luhmann (2011), 55, der das sich Ent-Täuschen letztlich als positiv besetzten Akt der Befreiung, als Aufgabe einer Erwartung, die auf Unmögliches hin ausgerichtet war, versteht. [Aristot.] Ath. pol. 41,2; dabei ist es an dieser Stelle unerheblich, ob es sinnvoll ist, im Falle der solonischen Ordnung bereits von Demokratie zu sprechen. Vgl. zur Debatte etwa Cartledge (2008); Morris et al. (1998). [Aristot.] Ath. pol. 11,2 (übers. M. Chambers): ἅμα δὲ καὶ συνέβαινεν αὐτῷ τῶν τε γνωρίμων διαφόρους γεγενῆσθαι πολλοὺς διὰ τὰς τῶν χρεῶν ἀποκοπάς, καὶ τὰς στάσεις ἀμφοτέρας μεταθέσθαι διὰ τὸ παράδοξον αὐτοῖς γενέσθαι τὴν κατάστασιν.

Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt

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3. Enttäuschung: Eine Begriffsbestimmung und ihre Folgen Wenn es sich aber aus den genannten Gründen anbietet, die Rolle von Enttäuschungen auch für antike Gesellschaften zu untersuchen, so bleibt das Problem bestehen, dass mit einem umgangssprachlich weiten Enttäuschungsbegriff analytisch nur wenig anzufangen ist. Für den Sammelband soll Enttäuschung daher folgendermaßen definiert werden: Unter Enttäuschung soll eine Reaktion auf das Auseinandertreten von gehegter Erwartung und gemachter Erfahrung verstanden werden, die sich dadurch auszeichnet, dass dieses Auseinandertreten mit negativen Emotionen verbunden ist und eine bislang bestehende Kooperationsbereitschaft zur Disposition gestellt wird.34 Diese Form der Enttäuschung beruht darauf, dass mit der Differenz von Erwartung und Erfahrung erstens ein Schaden verbunden ist und dieser Schaden zweitens der Entscheidung eines anderen Akteurs zugerechnet wird.35 Im Folgenden sollen die einzelnen Bestandteile der Begriffsbestimmung zum Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen zur Enttäuschung gemacht werden. Über das Auseinandertreten von Erwartung und Erfahrung in der Folge einer unzutreffenden Selektion möglicher Zukünfte als Grundlage der Enttäuschung wurde bereits gesprochen. Enttäuschungen sind allgegenwärtig. Die Möglichkeit der Enttäuschung muss daher idealerweise bereits in die Erwartung eingebaut werden.36 Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Auf die für moderne funktional differenzierte Gesellschaften beiden wichtigsten Formen soll an dieser Stelle nur kurz eingegangen werden. Kommt es anders, als man denkt, dann bestehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder, man lernt und passt seine Erwartungen den gemachten Erfahrungen an, oder man lernt nicht.37 Man kann seine Erwartungen kontrafaktisch trotz Enttäuschung durchhalten und auf das Lernen verzichten. In modernen funktional differenzierten Gesellschaften gilt, dass bei zahlreichen Erwartungen die Möglichkeit der Enttäuschung der Erwartung im Vorfeld reflektiert und festgelegt wird, welche Reaktion auf eine Enttäuschung folgen soll.38 Normen sind aus dieser Perspektive nichts anderes als Erwartungen, die trotz – gegebenenfalls sogar regelmäßiger – Enttäuschung aufrecht erhalten werden.39 Zudem gibt es auch Funktionssysteme, die entsprechende Reaktionen ermöglichen: das Wissenschaftssystem für das kognitive (lernwillige) und 34 35 36 37 38 39

Vgl. die Begriffsbestimmung bei Gotto (2018), 13, der neben der Abweichung von einer Erwartung, die als unangenehm charakterisiert wird, auf die „Störung sozialer Beziehungen und normativen Verhaltensstandards“ abhebt. Hellmann (1994), 146 f.; dies gilt jedenfalls in den Fällen, in denen die Erwartungen an Personen oder Rollen gebunden sind. Vgl. Anm. 25. Luhmann (1969), 36–39; zum Lernen als Normalfall Esser (2002), 72. Baecker (2005), 88 f. Luhmann (1969), 37; Luhmann (2008), 43; Luhmann (2015), 437.

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das Rechtssystem für das (also normativ-lernunwillige) kontrafaktische Erwarten.40 Beide stabilisieren selbst unwahrscheinliche Erwartungen. Diese reflexiven Formen der Enttäuschungsabwicklung mit ihren im Vorfeld festgelegten Reaktionen verbinden sich mit einem Enttäuschungsbegriff, der weitgehend emotionsfrei ist.41 Enttäuschung ist einfach die Bezeichnung für die Differenz von Erwartung und Erfahrung, nicht für ein Gefühl.42 Tatsächlich wird man feststellen dürfen, dass Emotionen bei den beschriebenen Formen, mit nicht eingetroffenen Erwartungen umzugehen, keine Rolle spielen müssen. Sieht der Polizist den Fußgänger über die rote Ampel gehen, dann gibt es eine Erwartung (der Fußgänger bleibt vor der roten Ampel stehen), diese Erwartung wird kontrafaktisch – trotz zahlloser ­Gegenbeispiele – durchgehalten, und so sanktioniert der Polizist schließlich das Verhalten des Passanten, um die unveränderte Gültigkeit der Norm deutlich zu machen und den Erwartungshorizont aller Beobachter zu stabilisieren.43 Nur wütend, traurig oder betroffen (oder eben enttäuscht im emotionalen Sinne des Wortes) ist der Polizist vermutlich nicht. Im Mittelpunkt des Sammelbandes soll daher die ‚doppelte‘ Enttäuschung von Erwartungs-Erfahrungs-Differenz einerseits und emotionaler Reaktion andererseits stehen, denn ein Enttäuschungsbegriff, der allein auf Differenz abstellt, fasst ggf. auch noch den Lottogewinn als „Enttäuschung“. Eine Verbindung von Auseinandertreten von Erwartung und Erfahrung mit einem negativen Gefühl ist dementsprechend keineswegs selbstverständlich. Zunächst einmal – das ist banal – bedarf es der Verknüpfung mit einem Schaden. Hinzu treten zwei weitere Faktoren, die Einfluss auf die emotionale Dimension des Enttäuschungsgeschehens besitzen können: Zum einen – das schließt an die Überlegungen zu reflexivem kognitiven und kontrafaktischen Erwarten an, die beide zumindest in der Regel ‚enttäuschungsarm‘ sind44 – besteht die Option, dass die Möglichkeit der Enttäuschung nicht zum Erwartungsraum gehörte. Sie wurde nicht im Vorfeld bedacht und einkalkuliert, und es gibt dementsprechend keine Programme der Enttäuschungsabwicklung, die bereits vorgehalten werden.45 Solches selbstverständliches Erwarten stabilisiert Interaktionen; nicht umsonst gehört Institutionalisierung zu den Mechanismen, über die bei steigender Komplexität von Gesellschaften Erwartungssicherheit geschaffen wird,46 ist aber mit Blick auf die Folgen von Enttäuschungen gefährlich. Gefühle sind in gewisser Weise Reaktionen – Luhmann hat von der Immunfunktion des psychischen Systems gesprochen –,47 die dort Bedeu40 41 42 43 44 45 46 47

Luhmann (2015), 440–443. Esser (2002), 72. Enttäuschung als Gefühl: Luhmann (2015), 363 f.; 371 f. Zur Stabilisierung von Erwartungen als Ziel: Luhmann (1969), 30. Esser (2002), 71 f. Zum Problem des selbstverständlichen Erwartens und den Folgen im Enttäuschungsfall: Endreß (2019), 51–53; Muraitis (2016), 46 f.; vgl. zur indifferenten Erwartung auch Esser (2002), 79. Esser (2002), 91 f. Luhmann (2015), 371; vgl. Baecker (2004), 10; Muraitis (2016), 63.

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tung gewinnen, wo unvorhergesehene Störungen wie etwa die Enttäuschung selbstverständlichen Erwartens eintreten.48 Zum anderen sind emotionale Reaktionen im Kontext des Persönlichkeitssystems dort zu erwarten, wo Erwartungen zu Ansprüchen gerinnen.49 Dabei handelt es sich um eine Form kontrafaktischen Erwartens, bei der ein Individuum sich und seine Erwartungen bindet und dies mit einem persönlichen Betroffensein für den Fall, dass sich die Ansprüche nicht erfüllen, koppelt. Dass hier Emotionen im Falle der Nicht-­ Erfüllung eine Rolle spielen, ist offensichtlich.50 Ein lohnendes Untersuchungsfeld sind solche Verfestigungen von Erwartungen gleich in mehrfacher Hinsicht: Erstens verbinden sich Ansprüche meist mit historisch variablen Selbstbindungen des Individuums; ein Anspruch kann gerechtfertigt sein, weil man sich selbst durch eine besondere Treue zur Vergangenheit auszeichnet, die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe einen selbst bindet oder man sich besondere Sachkompetenz zuschreibt.51 Zweitens müssen die Ansprüche nach außen mit Verdiensten korrelieren, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Stratifizierte Gesellschaften neigen dabei dazu, bereits aus der sozialen Lage auf Verdienste zurückzuschließen.52 Seinem Stand angemessen zu leben, wäre dann bereits ein Verdienst, das Ansprüche zu begründen vermag. Allerdings sind solche Verknüpfungen anfällig, wenn es zu einer auffälligen Diskrepanz zwischen sozialer Zugehörigkeit und (aus dieser erschlossener) Leistung kommt.53 Variabel ist zudem, inwieweit Individuen ihre Ansprüche mit sozialen Verdiensten oder individuell erklären und welche Form der Selbstbindung sie wählen. Neben dem Auseinandertreten, der negativen Emotion und dem Schaden bleiben zwei weitere – vermutlich umstrittenere (oder jedenfalls nicht notwendige) – Begriffs­ bestimmungen: Enttäuschung soll dadurch charakterisiert sein, dass eine bislang bestehende Kooperationsbereitschaft zur Disposition gestellt wird. Enttäuschungen bleiben nicht folgenlos. Sie sind nicht nur – wenn überhaupt – irgendein Gefühl, sondern Teil von Skripten, also internalisierten Handlungsketten, mit denen auf das Eintreten des Unerwarteten reagiert wird.54 Besonders wirkmächtig – so jedenfalls die Vermutung – wird die Enttäuschung dort, wo es besondere Gründe für die Erwartung gibt: 48 49

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Luhmann (2015), 376 f. Ebd., 364 mit Anm. 27: „Im Übergang von Erwartung zu Ansprüchen erhöht sich die Chance und Gefahr der Gefühlsbildung, so wie man umgekehrt Gefühle abdämpfen kann, wenn man sich auf bloßes Erwarten zurückzieht.“ Vgl. zur Ausbildung von Ansprüchen auch Baecker (2004), 16; ­Baecker (2005), 96–98; Esser (2002), 64–92; Popitz (1980), 7 f. Esser (2002), 74. Baecker (2009), 42. Luhmann (2015), 365. Dies veranschaulicht die Rede, die Sallust Marius anlässlich der Volksversammlung vor dem Iugurthinischen Krieg in den Mund legt (Sall. Iug. 85), in der die Differenz eigener Leistung, die sich in den Narben des Marius manifestiert, und der ererbten Stellung der Nobilität thematisiert wird (vgl. bes. Sall. Iug. 85,29). Kroneberg (2005).

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Übereinstimmung von Interessen oder gar eine moralische Aufladung der Zusammenarbeit, wie dies etwa im Fall des Vertrauens häufig der Fall ist.55 Hier überrascht das Nicht-Eintreten der Erwartung dann besonders und führt – vor allem bei moralischer Aufladung – auch zu einer emotionalen Reaktion, was vor allem in einfachen Sozialsystemen mit geringer Ausdifferenzierung von Rollen von Bedeutung ist.56 Allerdings bedeutet Enttäuschung auch hier nicht notwendig den Abbruch der Beziehung, das Ende der Kooperation. Enttäuschte Akteure besitzen häufig ein Interesse daran, die Beziehung zum Enttäuschenden fortzusetzen.57 Gelingen muss das freilich nicht. Wo aus vergangenem Verhalten des Gegenübers auf das zukünftige geschlossen wird, da erschwert die Enttäuschung die Fortsetzung der Beziehung. Auf die Enttäuschung kann Protest folgen, als Folge der Enttäuschungserfahrung auch ein moralisch aufgeladener, mit daraus resultierenden eigenen Regeln der Konfliktdynamik.58 Bleibt schließlich die Zurechnung des im Rahmen der Enttäuschung eingetretenen Schadens zu einer Entscheidung eines anderen Akteurs.59 Diese Bestimmung dient zunächst einmal dazu, all die umgangssprachlichen Enttäuschungen über das schlechte Wetter auszuschließen, hat aber weitere Implikationen, die vor allem die Beziehung zwischen Enttäuschung und Kooperationsbereitschaft betreffen. Nur wenn ein anderer für einen Schaden verantwortlich zu machen ist, kann man aus dessen Defektion auf zukünftiges Verhalten schließen und entsprechend handeln. Kooperation zur Disposition zu stellen, ist nur im Zusammenhang mit einer Entscheidung eines anderen Akteurs sinnvoll. Wo es keine Entscheidung gegeben hat, da kann es auch keine Enttäuschung geben. Damit ist aber zugleich ein Ansatz zur Abwicklung von Enttäuschungen gegeben. Sicherlich wird man auch dann auf den unerwarteten Schaden reagieren, gegebenenfalls sogar emotional, etwa traurig sein, wenn der Ausflug am Wetter scheitert, aber hier bleibt die Sache für das Verhältnis zum anderen folgenlos. Möglich ist selbstverständlich auch, dass man zwar eine Entscheidung als Ursache des Schadens ausmacht, aber keine fremde, sondern eine eigene. Von Bedauern statt Enttäuschung spricht man dann in der Psychologie.60 Auch hier bleibt die Enttäuschung weitgehend – man kann sich vorstellen, wie Akteure beschaffen sind, die alle Enttäuschungen eigenen Entscheidungen zurechnen – folgenlos, weshalb die Umstel55 56 57 58 59 60

Endreß (2019), 53. Luhmann (1975), 57 f.; vgl. zur Ausbildung von Rollen als Möglichkeit, Erwartungen zu stabilisieren und Enttäuschungsreaktionen zu begrenzen: Luhmann (2008), 83–88; Luhmann (2015), 429 f.; Preyer (2012), 78–80. Gotto (2018), 15. Hellmann (1994); Itschert / Tratschin (2017). Hellmann (1994), 144, 148 f. Vgl. die Definition bei Zeelenberg (1999), 94: „Regret is a negative, cognitively based emotion that we experience when realizing or imagining that our present situation would have been better, had we decided differently.“ Zur Unterscheidung von regret (Bedauern) und disappointment (Enttäuschung) vgl. grundsätzlich auch Zeelenberg (2000) sowie Martinez et al. (2011); zu den Folgen und Bedauern als Grundlage für prosoziales Verhalten ebd., 353.

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lung von Enttäuschung zu Bedauern eine Möglichkeit der Einhegung möglicher Enttäuschungsfolgen darstellt. Wenn Enttäuschung mit der Entscheidung eines anderen verbunden wird, dann kann man erwarten, dass zu den grundlegenden Programmen der Enttäuschungs­ abwicklung die Entkopplung des Schadens von einer Entscheidung gehört. Ein Blick nach Rom kann diese Verbindung verdeutlichen: Es gehört zu den seit Jahren gut untersuchten Auffälligkeiten der römischen Republik, dass es lange Zeit gelang, besiegte Feldherren nicht nur zu integrieren, sondern auch mit neuen Kommanden auszustatten.61 Vergleichbares gilt für das politische System: Wahlniederlagen besaßen großes Enttäuschungspotential, gerade weil viele Angehörige der alten und ehrwürdigen Häuser einen Anspruch auf die Bekleidung von Ämtern zu haben glaubten.62 Zudem war es bei einem derart personalisierten System wie dem politischen der römischen Repu­ blik nicht sonderlich schwer, ‚Schuldige‘ für die Wahlniederlage auszumachen. Gerade aber, weil diese ein hohes Enttäuschungspotential hatte bzw. tatsächlich zu realen Enttäuschungen führte, musste man besonders darum bemüht sein, diese Enttäuschungen zu erklären, sie abzuwickeln oder zumindest ihre Folgen zu dämpfen, um eine Blockade des Systems zu verhindern.63 Eine Möglichkeit bestand darin, das Subjekt der Enttäuschung verschwinden zu lassen. Bei der Beschreibung solcher Wahlniederlagen in Ciceros Reden pro Plancio oder pro Murena fällt auf, dass es dort keinen Entscheider gibt. Wird man gewählt, dann hat das Volk, der populus Romanus, entschieden. Wird man selbst gewählt (oder ein Freund), dann auch gut und zu Recht, wird man aber nicht gewählt (oder ein Gabinius), so verschwimmt das Subjekt der Entscheidung. Das Volk ist zur Entscheidung dann unfähig. Das verbindet sich mit einem Wandel der Semantik: Aus der Wahl wird ein Naturereignis: Wellen und Wogen, Strömungen und Stürme sind es, denen sich der Kandidat mutig stellt.64 Das reicht bei Cicero bis hin zur Versicherung, gelegentlich wisse doch noch nicht einmal die Menge, wie das Wahlergebnis zustande gekommen sei.65 Wo aber selbst der Wähler nicht weiß, was eigentlich geschehen ist, da ist das Wahlergebnis für den Verlierer ärgerlich – und es ist in der späten Republik vor allem auch teuer –, aber nicht enttäuschend und damit die Kooperationsbereitschaft innerhalb der Nobilität nicht in Frage stellend. Vergleichbares gilt auch für die Zurechnung eines Schadens zu einer eigenen Entscheidung, also der Umstellung von Enttäuschung auf Bedauern: Einen Eindruck des

61 62 63

Rosenstein (1990); Rosenstein (1993); Lentzsch (2019). Cic. fam. 8,14,1; vgl. Russel (2019), 129; Timmer (2022), 236 f. Vgl. zu den Formen, Wahlniederlagen zu verarbeiten, auch den Beitrag von Uwe Walter in diesem Band. 64 Zur Semantik von Wahlniederlagen Russel (2019); Peil (1983), 744–759; zur Differenz der Zuschreibung eines Schadens auf eine Entscheidung bzw. ein Umweltphänomen auch Luhmann (1991), 31–33. 65 Cic. Mur. 35.

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Phänomens vermitteln die 34 erhaltenen Briefe Ciceros aus der Zeit seines Exils.66 Cicero ist am Boden zerstört, das zeigen viele Briefe dieser Zeit,67 aber auffälligerweise spielen Clodius, Piso oder Gabinius, also diejenigen, die er nach der Rückkehr nach Rom verantwortlich machen wird, nur eine untergeordnete Rolle.68 Enttäuscht ist er von seinen Freunden;69 vor allem aber betont Cicero – ermüdend häufig – seine eigenen Fehler. Er selbst hat falsch entschieden,70 auf falsche Freunde gehört,71 zu früh die Stadt verlassen,72 die von Caesar angebotene Legatenstelle ausgeschlagen usw.73 Das macht die Situation nicht erträglicher, hält aber Kooperationschancen offen, auf die er für seine Rückkehr dringend angewiesen ist.74 Diese Form der Enttäuschungsabwicklung stellt m. E. genau das Gegenteil derjenigen dar, die in Athen gebraucht wurde, um die Demokratie enttäuschungsfest zu machen: War es dort die Personalisierung eines Systems, die Intensivierung der Zurechnung von Schaden zu Entscheidungen, die allmähliche Entwicklung einer Vorstellung von Verantwortung der Akteure,75 um eine systeminterne Verarbeitung von Enttäuschungen zu gewährleisten,76 so versuchte man sich in Rom an der Entkopplung des Entscheidung-Schaden-Zusammenhangs, um Enttäuschungen abzuwickeln. Das konnte bereits im Vorfeld geschehen, indem man möglichen Schaden an Umweltfaktoren und nicht an Entscheidungen band, aber die römische Besonderheit scheint darin zu liegen, dass man – wie in dem Beispiel der Wahlniederlage – auch rückblickend noch die Situationsdeutung an die Bedürfnisse anpassen konnte. Ciceros Fähigkeit, immer schon alles gewusst zu haben, wäre hierfür jedenfalls ein Indiz.77 Die Strategien, mit den unvermeidbaren Enttäuschungen umzugehen, und deren Veränderung im Laufe der Zeit, dürften dabei zu den zentralen Feldern einer Unter-

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Zu Cicero in der Zeit des Exils vgl. Gelzer (1969), 135–167; Fuhrmann (1989), 128–138; insb. zu den Briefen dieser Zeit vgl. etwa Claassen (1992) (mit einem umfangreichen Überblick über die ältere Forschung); Claassen (1999), 183 f.; Lintott (2008), 167–183; Narducci 1997. 67 Cic. Att. 3,4; 3,7,1; 3,9,1; vgl. Narducci (1997), 58 f. 68 Zur Differenz der Schriften aus dem Exil und denjenigen nach seiner Rückkehr vgl. Claassen (1992), bes. 31–33. Clodius wird in den Exilbriefen immerhin noch als gefährlicher Gegner beschrieben (Cic. Q. fr. 1,4,3), ansonsten gibt es Erwähnungen seiner gesetzlichen Maßnahmen, verbale Ausfälle hingegen fehlen. L. Calpurnius Piso Caesoninus wird ein einziges Mal – und das eher nebenbei – erwähnt (Cic. fam. 14,3,3), Gabinius gar nicht. 69 Cic. Att. 3,7,2; 3,8,4; 3,9,2; 3,13,1; 3,20,1; vgl. Claassen (1992), 30. 70 Cic. Att. 3,8,4; 3,13,1; 3,15,4 f.; Cic. fam. 14,1,5; 14,3,1; 14,4,1; Cic. Q. fr. 1,4,1; vgl. Claassen (1992), 29 f.; Retsch (2020), 80 f. 71 Cic. Att. 3,8,4; 3,14,2; Cic. Q.fr. 1,3,5.8; 1,4,1. 72 Cic. Att. 3,15,5. 73 Cic. fam. 14,4,1. 74 Deutlich wird dies bei Hortensius, gegen den sich Ciceros Enttäuschung besonders richtet, den sich Quintus gleichzeitig aber ‚warmhalten‘ soll (Cic. Q. fr. 1,3,8 et eo puto per Pomponium fovendum tibi esse ipsum Hortensium). 75 Meyer / Hause (2017). 76 In der Terminologie von Adrian Itschert und Luca Tratschin könnte man von einer Umstellung eskalativer zu konditionierten Konflikten sprechen; vgl. Itschert / Tratschin (1997). 77 Timmer (2022), 246.

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suchung des Phänomens Enttäuschung gehören: Lernen und kontrafaktisches Durchhalten wurden bereits thematisiert, sie sind aber nicht die einzigen Möglichkeiten, noch nicht einmal in modernen Gesellschaften, denn so hoch ist der Grad der Reflexion auch in diesen nicht. Grundsätzlich lässt sich vermuten, dass die einfachste Möglichkeit, negative Auswirkungen der Enttäuschung zu verhindern, immer darin besteht, zu erklären, wie es überhaupt zu der Enttäuschung kommen konnte. Die Möglichkeiten sind zahllos: Ein Irrtum, Verrücktheit des Gegenübers oder böse Absicht (vor allem Verrat), Unfähigkeit oder Glück sind alles Faktoren, die das Eintreten des Unerwarteten begründen und Lernzumutungen beschränken können. Man hat eigentlich richtig erwartet, aber die Umstände haben alle – korrekten – Erwartungen zunichte gemacht.78 In der Moderne ist es der Unfall, der ein funktionales Äquivalent zur Verrücktheit etc. darstellt.79 Für die Antike ist auf zwei andere Möglichkeiten zu verweisen, die unerwartetes Geschehen mit richtigem Erwarten verbinden können: Die erste dürfte im politischen Raum kaum eine Rolle spielen und eher in den Bereich persönlicher Enttäuschungen gehören: Magie. Magische Praktiken verändern die Welt so, dass auch vernünftiges Erwarten enttäuscht werden kann. Wichtiger sind aber wohl Gott bzw. die Götter. Dort, wo ein Gott oder in der Spätantike möglicherweise auch der Teufel in die Geschicke der Welt eingreifen, da stößt menschliches Erwarten an seine Grenzen. Manchmal aber ist die Enttäuschung nicht wegzuerklären, und dann braucht es andere Mechanismen, um die Enttäuschung abzuwickeln und negative Auswirkungen – eben etwa durch ein Ende der Kooperationsbereitschaft eines Akteurs – zu verhindern. Ideen für eine solche Abkühlung des Enttäuschten lassen sich etwa bei Erving Goffman reichlich finden:80 Man kann dem Enttäuschten alternative Ziele – einen Ersatzstatus – schmackhaft machen, wofür es aber selbstverständlich erst einmal akzeptable Alternativen geben muss, oder ihm neue Chancen einräumen, sein eigentliches Ziel doch noch zu erreichen. Man kann ihm ermöglichen, seiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen, oder ein stilles Einvernehmen herstellen, das es dem Enttäuschten gestattet, zumindest sein Gesicht zu wahren. Will man Enttäuschungen bei einem anderen verhindern, so hilft frühzeitige Selektion, aber auch das ‚Mitschleppen‘ ist unter Umständen eine plausible Möglichkeit: Um sich selbst vor Enttäuschungen zu schützen, kann man darauf verzichten, sich einer Sache vollständig zu verpflichten, bzw. man kann, so man es schon tut, auf Öffentlichkeit der Verpflichtung verzichten. Man kann mehrere Alternativen bereithalten und dem Unerwarteten mit Ironie begegnen, also eine unernste Haltung zur eigenen Erwartung einnehmen.81

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Zur Enttäuschungserklärung und der Differenz zur Enttäuschungsabwicklung: Luhmann (1969), 46; (2015), 452–456; Muraitis (2016), 46–48. Luhmann (2008), 56 f.; Luhmann (2015), 454. Zum Folgenden Goffman (1997), 11–16. Siehe den Beitrag von Bernadette Descharmes in diesem Band.

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Das kann der Enttäuschte selbstverständlich alles selbst tun, aber in der Regel zeigen sich institutionalisierte Formen von Dritten, die für die Reintegration des Enttäuschten zuständig sind. Im einfachsten Fall sind es Freunde, die hier als dritte Partei fungieren, sich das Unglück des Enttäuschten anhören, ihn hinhalten, bis sich die Enttäuschung wieder gelegt hat, oder – und das ist manchmal vermutlich die beste Lösung – ihm die Möglichkeit geben, seiner Enttäuschung unter kontrollierten Bedingungen Luft zu verschaffen.82 Das mag für einfache Sozialsysteme reichen; es spielt sicher auch noch in der römischen Republik eine Rolle, wenn man sich die Tätigkeit von Freunden in den Briefen Ciceros ansieht,83 ist aber in seiner Wirksamkeit beschränkt, was bei komplexeren Strukturen höhergradig institutionalisierte Dritte notwendig macht.84 Beratung in der Frage, was eigentlich die richtige Erwartung gewesen wäre und wo der Platz des Enttäuschten in der Gesellschaft ist, bleiben aber stets für die Enttäuschungsabwicklung zentral, egal ob vom Freund oder der Consulting-Firma.85 Bleibt schließlich  – nach der Erklärung von Enttäuschungen und ihrer Abwicklung  – die Stabilisierung von Erwartungen als Möglichkeit der Reduzierung von Enttäuschungen, jedenfalls in dem engen hier beschriebenen Sinn der destruktiven Enttäuschung. Von vornherein unwahrscheinlich (oder zumindest deutlich unwahrscheinlicher) werden Enttäuschungen, wenn die Akteure ganz selbstverständlich Gleiches erwarten. Prozesse der Institutionalisierung gehen mit denen der Ausdifferenzierung und Komplexitätssteigerung von Systemen einher.86 Zudem ist auch die Ausbildung von Rollen zu vermuten, an die Erwartungen geknüpft werden können.87 Diese Erwartungen bleiben auch dann stabil, wenn die Person, die die Rolle ausfüllt, es nicht erwartungsgemäß tut. Das gilt beispielhaft für die Rolle des Princeps, der individuell enttäuschen kann, ohne dass dies Auswirkungen auf die Erwartungen etwa der plebs urbana an ihn haben muss (oder ohne dass die Enttäuschung über den einzelnen Princeps gar systemgefährdende Züge annimmt), oder die christliche Kirche in der Spätantike, bei der die Bischofsrolle vermutlich gestattet, Erwartungen zu stabilisieren, auch wenn ein Cyprian oder ein Ithacius individuell Erwartungen von Gemeinde oder Mitbischöfen enttäuschten.88 Hier können Verknüpfungen von Erwartungen mit Rollen (oder gar Werten und Programmen) anstatt von Individuen eine Möglichkeit sein, Erwartungssicherheit herzustellen und Enttäuschungen lediglich als Folge von Fehlbesetzungen von bestimmten Rollen zu erklären.89

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Goffman (1997), 12. Timmer (2021). Goffman (1997), 11 f. Zur Entwicklung der Formen der Beratung Baecker (2007). Luhmann (1969), 41; Luhmann (2008), 64–80. Luhmann (2008), 85; Luhmann (2015), 429; Muraitis (2016), 49 f.; Preyer (2012), 77–94. Vgl. die Beiträge von Eva Baumkamp und Jan-Markus Kötter in diesem Band. Vgl. Anm. 56.

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4. Jenseits der Enttäuschung Man kann also Enttäuschungen auch in antiken Gesellschaften thematisieren. Es gibt – auch das sollte deutlich geworden sein – zahlreiche Variablen im Zusammenspiel von Anlässen von Enttäuschungen, ihrer Wirkung in sozialen Konflikten und den Formen, mit Enttäuschungen umzugehen, die ein Historiker analysieren kann, aber lohnt sich die Behandlung des Phänomens überhaupt? Oder anders formuliert: Worin liegt der Mehrwert, wenn man Enttäuschungen untersucht? Was sieht man bei der Analyse, was man nicht auch sonst erkennen könnte, wenn man sich die oligarchischen Umstürze in Athen, die Erwartungen von Akzeptanzgruppen im Prinzipat oder Streitigkeiten christlicher Gemeinden anschaut? Was also gerät jenseits der Enttäuschung als Selbstzweck der Untersuchung in den Blick – in zeitlicher, sozialer und sachlicher Hinsicht? Zunächst zur zeitlichen Dimension: Ausgehend von der Bestimmung der Zur-­ Disposition-Stellung von Kooperation gerät mit der Enttäuschung eine Zwischenphase in den Fokus, ein ‚nicht-mehr‘ mit Blick auf die Kooperation bei gleichzeitigem ‚noch-nicht‘ eines möglicherweise auf die Enttäuschung folgenden Konflikts. Man untersucht – oder kann dies zumindest – einen seltsamen Schwebezustand, der sonst nur schwer zu beobachten ist. Einen Mehrwert kann die Enttäuschung auch für die Analyse unwahrscheinlicher Vergemeinschaftungen bieten. Es ist doch auffällig, wie unterschiedlich die Provenienz der deutschen Politiker war, die Grußadressen an die französischen Gelbwesten sandten. Das ist kein Zufall. Die Bewegung selbst ist mit Blick auf die beteiligten Akteure hochgradig inhomogen. Das, was sie eint, ist die Enttäuschung über die herrschenden Verhältnisse. Gemeinschaften entstehen wesentlich über einen durch Gefühle gestifteten Zusammenhalt, und hier spielt Enttäuschung eine wichtige Rolle.90 Das ist sicherlich keine moderne Besonderheit: Sallust braucht drei Kapitel, um einen Überblick über Catilinas Anhänger zu geben. Dieser ist wohl nicht einmal vollständig und lässt einen doch etwas ratlos hinsichtlich der Frage zurück, was die Gruppe verbindet.91 Die Dynamik sozialer Konflikte wäre ein weiterer Anwendungsfall, in dem eine Untersuchung der Rolle von Enttäuschungen weiterführende Ergebnisse zeitigen könnte: Enttäuschungen müssen – wie gesagt – nicht zum Abbruch von Kooperation und noch weniger zu sozialen Konflikten führen. Ein gewisses Maß an Enttäuschungen sollten Beziehungen zu ertragen in der Lage sein, aber wenn die Restabilisierung nicht gelingt, dann bleibt die Enttäuschung nicht folgenlos. Grundsätzlich ist nicht nur die Abwicklung von Enttäuschungen, sondern auch ihre Erhitzung möglich, in der Regel durch das Übersteigern von Werten und die Rückbindung des Konflikts an diese. Eine Verständi-

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Weber (1956), 29–31; vgl. Gotto (2018), 15. Sall. Catil. 14–16; vgl. Cic. Mur. 49; Cic. Catil. 2,18–2,20.

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gung ist dann bei solchen Wertkonflikten im Gegensatz zu reinen Interessenskonflikten häufig nicht mehr oder zumindest nur unter erheblichem Aufwand möglich.92 Je größer die Bedeutung der Enttäuschung innerhalb des sozialen Konflikts, desto größer vermutlich die Tendenz, dass der Konflikt nicht mehr an den Regeln des Systems ausgerichtet ist, in dem er auftritt, sondern eigene Regeln ausbildet – und dazu gehört auch eine Eskalationsdynamik, die bis hin zum Einsatz von Gewalt reichen kann.93 Hinzu treten schließlich Aspekte, bei denen die Unterschiede zwischen Antike und Moderne helfen können, Leerstellen der aktuellen Forschung zu Enttäuschungen zu füllen. So spielt die Instrumentalisierung von Enttäuschungen in der Forschung bislang keine signifikante Rolle. Von der Möglichkeit, jemanden zu enttäuschen, kann aber durchaus auch bewusst Gebrauch gemacht werden, um Hierarchien darzustellen oder zu erzeugen, wie insbesondere die Beiträge zum frühen Principat zeigen können, wo der Kaiser den Erwartungen der Senatsaristokratie regelmäßig und absichtsvoll nicht entsprach. Auch spielt Zeit für die Abwicklung von Enttäuschungen bei Untersuchungen moderner Gesellschaften keine besondere Rolle, während antike Bedingungen das Augenmerk darauf lenken. Da – wie ausgeführt – Enttäuschungen vor allem dort zu erwarten sind, wo die Möglichkeit derselben nicht miterwartet wird, gehörte die Schaffung von Zeitreserven zu den elementaren Formen, negative Auswirkungen von Enttäuschungen zu verhindern.94 Häufig kommt es anders als man denkt. Enttäuschungen sind ebenso unumgänglich wie gegebenenfalls folgenreich. Sie erschweren kooperatives Verhalten, lassen Vertrauen erodieren und Konflikte eskalieren. Ihre Auswirkungen einzuhegen, gehört deswegen zu den notwendigen Aufgaben von Systemen. Die Untersuchung von Enttäuschungen in antiken Gesellschaften bietet damit Chancen auf ein tieferes Verständnis sowohl des Handelns individueller Akteure als auch des Verlaufs sozialer Prozesse. Literatur Almond, Gabriel A. / Powell, G. Bingham (2001): Comparative Politics. A Theoretical Framework (3. Auflage, Erstdruck 1993). New York. Baecker, Dirk (2001): „Erwartung“. In: Pethes, Nicolas / Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg, 152–153. Baecker, Dirk (2004): „Wozu Gefühle?“. In: Soziale Systeme 10, 5–20. Baecker, Dirk (2005): Form und Formen der Kommunikation. Frankfurt am Main.

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Zur Rolle von Enttäuschungen in sozialen Konflikten Hellmann (1994); Bühl (1973); zur Unterscheidung von Wert- und Interessenkonflikten Aubert (1973). Itschert / Tratschin (2017); Luhmann (2018), 536–541; Messmer (2003), 91–93. Luhmann (2008), 158.

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Systemwechsel als Enttäuschungsbewältigung? Die oligarchischen Umstürze des 5. Jahrhunderts v. Chr. und die Wiederherstellung der Demokratie Katarina Nebelin Aus Sicht der Zeitgenossen wie der Nachwelt erschienen die beiden oligarchischen Umstürze von 411 und 404 v. Chr.1 als krisenhafte Einschnitte in der Geschichte des demokratischen Athen. Bereits Thukydides betonte, es sei keine „Kleinigkeit“ gewesen, „dem Volk von Athen etwa hundert Jahre nach dem Sturz der Alleinherrscher seine Freiheit zu nehmen“.2 Ein so weitreichender Eingriff in die jahrzehntelang stabil gebliebene politische Ordnung und damit auch in die unmittelbare Lebenswelt der Athener war nur unter außerordentlichen Umständen möglich. So hat Elisabeth Hermann-Otto für den ersten oligarchischen Umsturz konstatiert, dieser sei „in einer Zeit absoluten außen- und innenpolitischen Desasters“ erfolgt, als es den „unzufriedenen und oppositionellen Kräften“ gelang, „durch ein enormes Täuschungsmanöver auf legalem Weg das Volk zur Selbstentmachtung“ zu überreden; „[d]iesem Akt war“, so Hermann-Otto weiter, „eine totale Verunsicherung bezüglich der demokratischen Verfassungsform vorausgegangen.“3 Das Vertrauen der Athener in ihre demokratische Ordnung und in die eigene militärische Stärke war demnach nachhaltig erschüttert. Das ‚außenpolitische Desaster‘ hatte das innenpolitische scheinbar zwangsläufig nach sich gezogen: Die verheerende Niederlage auf Sizilien und die damit verbundene „demographisch[e] Katastrophe“,4 die Besetzung Dekeleias und ihre Folgen für Athens Wirtschaft, das Bündnis Spar1

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Jahreszahlen verstehen sich im Folgenden immer v. Chr. Ich danke Marian Nebelin für seine wie immer ganz und gar nicht enttäuschenden Anmerkungen, den Teilnehmer:innen der Tagung für anregende Fragen und Kommentare und den Organisator:innen für die lang entbehrte Gelegenheit zu direktem Austausch. Thuk. 8,68,4: χαλεπὸν γὰρ ἦν τὸν Ἀθηναίων δῆμον ἐπ᾽ ἔτει ἑκατοστῷ μάλιστα ἐπειδὴ οἱ τύραννοι κατελύθησαν ἐλευθερίας παῦσαι. Hermann-Otto (1997), 146. Ähnlich auch Nippel (1980), 73; Bleicken (1984), 398; Lehmann (1997), 43 f.; Mann (2007), 282. Brandt (2022), 333.

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tas mit Persien sowie die daraus resultierenden Abfallbestrebungen zahlreicher Seebundmitglieder, die dann auch noch zu einer Verminderung der Einnahmen aus dem Seereich führten, brachten Athen in Bedrängnis.5 Noch fataler war die Ausgangs­lage des zweiten oligarchischen Umsturzes, der unmittelbar nach der bedingungslosen Kapitulation am Ende des Peloponnesischen Krieges erfolgte, als Athen seine Flotte und den Seebund fast vollständig verloren hatte und monatelang durch Sparta belagert worden war.6 Aber waren die Athener tatsächlich über das soeben skizzierte ‚absolute außen- und innenpolitische Desaster‘ enttäuscht? Schafften sie ihre Demokratie aus Enttäuschung ab, oder nicht doch eher aus Verzweiflung und Resignation unter äußerem Druck? Um diese Fragen näher zu untersuchen, ist zunächst zu klären, was unter ‚Enttäuschung‘ zu verstehen und inwiefern sie als Kategorie zur Analyse antiken Handelns anwendbar ist. Unter Bezug auf Jan Timmers Überlegungen lässt sich Enttäuschung als Reaktion auf eine als negativ wahrgenommene Differenz zwischen dem erwarteten oder erhofften und dem tatsächlich eingetretenen Ausgang einer Handlung oder Entwicklung definieren.7 Mit dem Enttäuschungsbegriff ist somit immer auch eine zeitliche Dimension verbunden, denn er bezieht sich auf ein  – negatives  – Auseinanderklaffen zwischen der Gegenwart und dem, was in der Vergangenheit für diese Gegenwart geplant oder gewünscht, also erhofft worden ist. Zeitlich und inhaltlich bildet somit die Hoffnung den Gegenbegriff zur Enttäuschung: Positiv statt negativ und nicht retro-, sondern prospektiv ausgerichtet, bezeichnet sie auf die Zukunft gerichtete, als vorteilhaft bewertete Erwartungen und Wünsche. In der antiken Historiographie werden begründete wie unbegründete Hoffnungen wiederholt als handlungsleitende Motivation behandelt; Thukydides nutzt sie als zentrale Kategorie zur Analyse und Bewertung individuellen wie kollektiven menschlichen Handelns.8 Auch in seiner Schilderung des ersten oligarchischen Umsturzes spielen Hoffnungen eine wichtige Rolle.9 Dagegen kommt der Enttäuschung in Thukydides’ Werk weder

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Wolff (1979), 300 f.; Raaflaub (1992), 7 f.; Lehmann (1997), 19 f.; Heftner (2001), 1–6; Mann (2007), 268 f.; Caire (2016), 11 f.; Brandt (2022), 333, 343. Dazu Caire (2016), 12. Timmer (in diesem Band) definiert Enttäuschung als „Reaktion auf das Auseinandertreten von gehegter Erwartung und gemachter Erfahrung […], die sich dadurch auszeichnet, dass dieses Auseinandertreten mit negativen Emotionen verbunden ist und eine bislang bestehende Kooperationsbereitschaft zur Disposition gestellt wird“. Hervorzuheben ist hier besonders die differenzierte Bewertung der Hoffnung als Handlungs­ motiv im ‚Melierdialog‘: Thuk. 5,102 f.; 111. Die Komplexität von Thukydides’ Hoffnungsbegriff wird bereits daran deutlich, dass Lateiner (2018) vor allem die negativen Auswirkungen der elpis in Thukydides’ Werk betont, während Schlosser (2013) stärker deren Ambiguität und Situations­ bedingtheit hervorhebt. Etwa in Thuk. 8,1,1; 1,2; 53,2; 54,1. Das Urteil von Schlosser (2013), 173, Anm. 14, wonach Thukydi­ des im achten Buch seines Peloponnesischen Krieges schildere, „how the Athenians proceed once disabused of their hopes“, erscheint angesichts dieser noch immer vorhandenen Zukunftshoffnun-

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als Begriff noch als analytischer Kategorie eine vergleichbare Relevanz zu. Dies gilt auch für Xenophons Darstellung des zweiten oligarchischen Umsturzes, in der die Stimmung im belagerten und besiegten Athen zwischen Verzweiflung und Resignation oszilliert,10 während Reaktionen, die als Enttäuschung bezeichnet werden könnten, von ihm nicht direkt beschrieben werden. Im Folgenden soll aber davon ausgegangen werden, dass weder die explizite Rede von ‚Enttäuschung‘ noch die Zuschreibung entsprechend identifizierbarer oder spezifizierter Emotionen in antiken Texten notwendige Voraussetzungen für die Analyse enttäuschender Erfahrungen und deren Verarbeitung darstellen. Wenn antike Autoren wiederholt ihren historiographischen Subjekten Hoffnungen und Erwartungen zuschreiben, die sich dann im weiteren Handlungsverlauf nicht erfüllen, ist davon auszugehen, dass diese Subjekte Enttäuschungserfahrungen machen. Dabei lassen die antiken Beschreibungen der Gefühle, vor allem aber der Handlungen antiker Akteure, auch ohne dass explizit von ‚Enttäuschungen‘ gesprochen wird, Rückschlüsse darauf zu, wie auf Enttäuschungen reagiert wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, den innerhalb von nur sieben Jahren zweimal unternommenen und beide Male innerhalb weniger Monate gescheiterten Versuch, die Demokratie in Athen abzuschaffen und durch eine Oligarchie zu ersetzen, als eine solche durch Enttäuschungen motivierte Reaktion anzusehen – und zu vermuten, dass das zweimalige rasche Scheitern dieser Umstürze ebenfalls mit vielfältigen Enttäuschungserfahrungen einherging. Zur Überprüfung dieser Thesen sollen im Folgenden zunächst die Motive der Verschwörer betrachtet werden: Handelte es sich um eine Verschwörung der Enttäuschten (1)? Anschließend wird diskutiert, ob die Volksversammlungsbeschlüsse über die Abschaffung der Demokratie als Selbstentmachtung aus Enttäuschung über das demokratische System interpretiert werden können (2). Im letzten Abschnitt werden mögliche Gründe für den enttäuschenden Verlauf der oligarchischen Umstürze erörtert (3). 1. Eine Verschwörung der Enttäuschten? Beide oligarchischen Umstürze wurden von vermögenden und teilweise, aber nicht durchgängig bereits in der Demokratie politisch aktiven Angehörigen der athenischen Oberschicht getragen.11 Im ersten oligarchischen Umsturz 411 verschworen sich zahl-

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gen etwas einseitig. Dass der athenische Zukunftsoptimismus nach Beginn des Peloponnesischen Krieges, spätestens ab 411, nachgelassen habe, betont allerdings auch Meier (1980), 482. Verzweiflung: Xen. Hell. 2,2,3; 2,10; Resignation (athymia): Xen. Hell. 2,2,14. Zum sozialen und politischen Hintergrund der Verschwörer in beiden Umstürzen siehe Wolff (1979), 299 f.; Nippel (1980),75; 81; 87–89; 94; Krentz (1989), 51–56; Heftner (2001), 37 f.; Németh (2006), 96–112; 137 f.; Mann (2007), 276–278. Zu den bekannten Mitgliedern der ‚Dreißig‘ siehe bes. Rhodes (2000), 131–136.

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reiche, zumeist hochrangige Angehörige der auf Samos stationierten athenischen Flotte, die Demokratie zu stürzen.12 Den personellen Kern des zweiten Umsturzes 404 bildeten ebenfalls Mitglieder der Oberschicht, darunter Überlebende des ersten Umsturzes und gerade erst aus der Verbannung Zurückgerufene.13 Handelten diese Männer aus Enttäuschung über die demokratische Ordnung? Antike Quellen schreiben den oligarchischen Umstürzlern mehrheitlich ein nüchternes, instrumentelles, primär auf den eigenen Vorteil ausgerichtetes Verhältnis zur Demokratie zu. Vordergründig verfolgten die Teilnehmer am ersten oligarchischen Umsturz eine pragmatisch anmutende außenpolitische Zielsetzung: Thukydides zufolge war ihre Verschwörung durch die Ankündigung des aus Athen geflohenen und in Abwesenheit zum Tode verurteilten Alkibiades ausgelöst worden, nur unter einer „Herrschaft der Wenigen und nicht des Pöbels und der Demokratie“ nach Athen zurückkehren zu wollen.14 Mit seiner potentiellen Rückkehr verbanden sich Hoffnungen auf ein Bündnis mit Persien und eine erfolgreichere Kriegführung in der Ägäis. Allerdings zeigte sich rasch, dass sie nicht von allen Verschwörern unterstützt wurde, und noch bevor die Machtübernahme in Athen abgeschlossen war, war Alkibiades’ Rückberufung bereits von der Agenda der Umstürzler verschwunden.15 Thukydides betont allerdings auch, dass die Verschwörer „mehr noch aus eigenem Antrieb“ handelten, also die Abschaffung der Demokratie ganz unabhängig von der Frage einer möglichen Rückkehr des Alkibiades anstrebten.16 Zu Beginn der Verschwörung von 411 „waren die Hoffnungen bei den Mächtigsten der Bürger, die ja auch die schwersten Lasten zu tragen hatten, groß, selbst in den Besitz der Macht zu kommen und der Feinde Herr zu werden“.17 Für die ‚mächtigsten‘ und finanziell am stärksten belasteten Flottenangehörigen, also vornehmlich Trierarchen und Strategen, waren somit die Durchsetzung ihres eigenen Machtstrebens innerhalb der Polis und die Durchsetzung von Athens Machtstreben gegenüber seinen äußeren Gegnern ­direkt miteinander verzahnt: Eigennutz und deklariertes Gemeinwohl fielen in eins. Individueller und kollektiver Nutzen waren auch in der für die Verschwörer zen­ tralen Frage der Kriegsfinanzierung und der individuellen Belastung der Reichen eng miteinander verflochten.18 Sowohl 411 als auch 404 lautete die Kernforderung der

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Thuk. 8,47,2: τριήραρχοί τε τῶν Ἀθηναίων καὶ δυνατώτατοι. Xen. Hell. 2,2,11; 3,2 f.; [Aristot.] Ath. Pol. 34,3. Thuk. 8,47,2: ὀλιγαρχίᾳ βούλεται καὶ οὐ πονηρίᾳ οὐδὲ δημοκρατίᾳ. Thuk. 8,63,4. Siehe auch die skeptische – und durch die nachfolgenden Ereignisse bestätigte – Einschätzung der Ziele und Pläne der Verschwörer durch ihr Mitglied Phrynichos in Thuk. 8,48,4–7. Thuk. 8,47,2: ἀπὸ σφῶν αὐτῶν. Vgl. dazu Heftner (2001), 88. Thuk. 8,48,1: πολλὰς ἐλπίδας εἶχον αὐτοί θ᾽ ἑαυτοῖς οἱ δυνατώτατοι τῶν πολιτῶν τὰ πράγματα, οἵπερ καὶ ταλαιπωροῦνται μάλιστα, ἐς ἑαυτοὺς περιποιήσειν καὶ τῶν πολεμίων ἐπικρατήσειν. Vgl. Nippel (1980), 74; Lehmann (1987), 38. Das betraf nicht nur die Reichen: Zu Beginn des Umsturzes, als Alkibiades’ Rückkehr und ein von ihm vermitteltes Bündnis mit Persien noch auf der Agenda der Umstürzler stand, spielte die Hoffnung darauf, dass der persische König die Soldzah-

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Demokratiegegner, dass ökonomische Leistungsfähigkeit automatisch mit einer politischen Vorrangstellung einhergehen müsse, während Unvermögende von jeglicher politischen Partizipation ausgeschlossen werden sollten.19 Die Leiturgien und Kriegssteuern, die unter der Demokratie als ungerechte Belastung empfunden worden seien, sollten als Grundlage und Rechtfertigung der Herrschaft jener fungieren, die „am besten dazu im Stande seien, mit ihrer Person und ihren Geldmitteln dem Staat zu dienen“, wie es in der (pseudo-) aristotelischen Athenaion Politeia heißt.20 Parallel dazu sollten die Diäten für Amtsträger, Geschworene und Ratsherren abgeschafft werden.21 Beide Maßnahmen wurden mit der Notwendigkeit begründet, angesichts der akuten finanziellen Notlage alle verfügbaren Geldmittel auf die Kriegführung zu konzentrieren.22 Sie entsprachen aber auch der grundlegenden antidemokratischen Überzeugung, dass nur die Reichen im Sinne des Gemeinwohls handeln könnten, während die breite Masse der Bürger nichts als unvermögendes ‚Gesindel‘ sei und daher von jeder politischen Partizipationsmöglichkeit ausgeschlossen werden müsse.23 Aus Sicht derer, die sich überlegen wähnen, ist politische Gleichberechtigung notwendig ungerecht. Hinzu kam erneut die direkte Verbindung von politischem Herrschaftsanspruch und finanziellen Eigeninteressen: Thukydides zufolge bedeutete die Abschaffung der Demokratie und damit der Ämtervergütung für die Verschwörer auch, dass „man jetzt ja für niemanden anderen mehr Lasten schultere als sich selbst“.24 Das klingt weniger nach einer ausgearbeiteten oligarchischen Herrschaftsideologie als nach den Ressentiments einer selbstbezogenen, tendenziell apolitischen Oberschicht.25 Auffällig politisch indifferent wirken denn auch die Aussagen in den – oft nur fragmentarisch erhaltenen  – Verteidigungsreden, mit denen sich Teilnehmer der Verschwörung von 411 im Nachhinein vor demokratischen Gerichtshöfen für ihr Verhallungen der Ruderer übernehmen würde, eine zentrale Rolle: Thuk. 8,48,2 f. Siehe dazu auch Balot (2001), 213; Taylor (2010), 196–200. 19 Vgl. Thuk. 8,48,1; Xen. Hell. 2,3,48. 20 [Aristot.] Ath. Pol. 29,5: τοῖς δυνατωτάτοις καὶ τοῖς σώμασιν καὶ τοῖς χρήμασιν λῃτουργεῖν, μὴ ἔλαττον ἢ πεντακισχιλίοις. Siehe auch Thuk. 8,65,3. 21 Ebd. 22 Laut [Aristot.] Ath. Pol. 29,5 sollten die vorgeschlagenen Änderungen nur während des Krieges gelten. Siehe dazu auch den folgenden Abschnitt. 23 Vgl. hierzu etwa Raaflaub (1983), 526, wonach die ‚oligarchische Ideologie‘ vornehmlich auf „social prejudice and the historically sanctified terminology of class distinction“ beruht habe. Ebenso etwa Raaflaub (1992), 36 f.; Mann (2007), 281. In dem Schauprozess, der mit seiner Hinrichtung endete, bezeichnete Theramenes den Kampf gegen die gleichberechtigte Partizipation der Armen als grundlegende Konstante seines politischen Wirkens: Xen. Hell. 2,3,48. 24 Thuk. 8,63,4: ὡς οὐκέτι ἄλλοις ἢ σφίσιν αὐτοῖς ταλαιπωροῦντας. 25 Zum weitgehenden Fehlen einer ausgearbeiteten oligarchischen Ideologie im 5. Jahrhundert siehe Nippel (1980), 89; Raaflaub (1992), 31 f.; Rhodes (2000), 136; Eich (2006), 599–603; Ostwald (2000b), 387 f.; Nebelin (2018), 147–152. Entsprechend war vor 411 auch keine organisierte ‚oli­ garchische Opposition‘ in Erscheinung getreten; dazu Wolff (1979), 297–301; Nippel (1980), bes. 64; anders jedoch Lintott (1982), 125–135; Lehmann (1987); Heftner (2001), 70 f. Vgl. auch den Überblick über die Forschungsdebatte bei Mann (2007), 191–193.

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ten während des Umsturzes zu rechtfertigen suchten. So führt etwa der unbekannte Sprecher in Lysias’ Verteidigungsrede gegen eine Anklage auf Sturz der Demokratie aus, dass kein Mensch ‚von Natur aus‘ oligarchisch oder demokratisch gesinnt sei, „sondern diejenige Verfassung, die dem Einzelmenschen Nutzen bringt, die möchte er auch an der Macht sehen“.26 Eigennutz, persönliches Vorteilsstreben und Rachegelüste sind auch die einzigen Motive für die Unterstützung eines politischen Umsturzes, die in dem kurzen erhaltenen Fragment von Antiphons Verteidigungsrede angeführt werden.27 Vermeintlich ‚typisch oligarchische‘ Ideen wie der Glaube an die eigene moralische und intellektuelle Überlegenheit oder die Berufung auf das Wohl der Polis tauchen in diesen Reden nicht auf, wohl weil sie zu offensichtlich der demokratischen Ideologie der Gleichheit aller Bürger beziehungsweise den schlechten Erfahrungen der Zeitgenossen mit der oligarchischen Herrschaft widersprochen hätten. Zudem ist unklar, ob und in welcher Form die überlieferten Reden(fragmente) tatsächlich öffentlich vorgetragen wurden. Dennoch ist auffällig, wie sehr die Selbstdarstellung, die den Sprechern in diesen Reden in den Mund gelegt wird, der ‚Ideologie des Eigennutzes‘ ähnelt, die etwa in Thukydides’ Beschreibung der politischen Ziele der Verschwörer immer wieder anklingt. Der einzelne Bürger fühlte sich dieser Ideologie zufolge nicht an eine bestimmte Staatsform gebunden, sondern war bereit, sich auf jedes System einzulassen, wenn und solange es ihm persönlich Vorteile in Form von Anerkennung, Ehre, Macht oder finanziellen Profiten verschaffte; war diese Voraussetzung nicht mehr gegeben, wandte er sich davon ab.28 Loyalität gegenüber der Polis und Solidarität mit den Mitbürgern mussten in dieser Vorstellungswelt unsinnig wirken, sobald sie mit dem rein selbst26

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Lys. 25,8: πρῶτον μὲν οὖν ἐνθυμηθῆναι χρὴ ὅτι οὐδείς ἐστιν ἀνθρώπων φύσει οὔτε ὀλιγαρχικὸς οὔτε δημοκρατικός, ἀλλ᾽ ἥτις ἄν ἑκάστῳ πολιτεία συμφέρῃ, ταύτην προθυμεῖται καθεστάναι. Ähnlich auch die Darstellung des Theramenes in [Aristot.] Ath. Pol. 28,5, wonach dieser es als seine Pflicht als ‚guter Bürger‘ angesehen habe, sich in jede Staatsgemeinschaft einzufügen – ungeachtet ihrer konkreten Verfassungsordnung. Ostwald (2000b), 387 deutet diese politische Indifferenz so, dass sich zum Zeitpunkt der Rede die Dichotomie von Demokratie und Oligarchie noch nicht herausgebildet habe („[I]deology is not yet regarded as a matter of political principle but of convenience“), blendet dabei aber die konkrete Redesituation aus. Vgl. Antiph. Metast. coll. I–III. Die Vorstellung, dass die einzig legitime Handlungsmotivation das eigene Interesse sei, weshalb das Richten, Entscheiden und Schiedsrichten ebenso ungerecht sei wie als Zeuge gegen jemanden aufzutreten, der einen zuvor nicht geschädigt habe, findet sich auch in dem zumeist demselben Antiphon zugeschriebenen Papyrusfragment DK 87 B 44 Fr. A col. I–II. Auch in den unter Lysias’ Namen überlieferten Verteidigungsreden für ehemalige Angehörige der ‚Vierhundert‘ bzw. ‚Dreißig‘ werden „als Motiv für die Unterstützung eines Verfassungswechsels einzig der persönliche Nutzen oder Schaden, d. h. die individuelle Unzufriedenheit mit dem bestehenden System, anerkannt“: Lys. 20,4; 25,9–12; dazu Raaflaub (1992), 29–33; Zitat ebd. 31. Vgl. auch die Argumentation in Xen. Hell. 1,4,16, wonach Alkibiades keinen Grund gehabt habe, die Demokratie abschaffen zu wollen, da er sich darin doch erfolgreich habe profilieren können. Nippel (1980), 89 konstatiert bei den Umstürzlern eine „Verbindung von Zynismus, Skrupellosigkeit und maßlosem Ehrgeiz“. Zu der im zeitgenössischen, v. a. auch sophistischen Denken vielfach reflektierten Ideologie von Gier (pleonexia), Ehrgeiz und Eigennutz siehe etwa Lintott (1982), 168–

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bezogenen Vorteilsstreben des Einzelnen kollidierten. In antidemokratischen Texten wie dem Pamphlet des sogenannten ‚Alten Oligarchen‘ wurde der Vorwurf erhoben, dass die athenische Demokratie selbst in Zeiten der Prosperität und außenpolitischen Machtentfaltung lediglich der breiten Masse der unvermögenden Bürger Nutzen, Macht und finanzielle Unterstützung bringe – und zwar auf Kosten der geschröpften und entmachteten Reichen.29 Als sich Athen nun aufgrund seiner schwindenden finanziellen Ressourcen, dem Abfall wichtiger Seebundmitglieder und den immensen Verlusten auf Sizilien in einer akuten Krisensituation befand und mehr denn je auf das Privatvermögen seiner reichen Bürger angewiesen war, scheint bei einem signifikanten Teil der Oberschicht der Eindruck entstanden zu sein, dass ihr persönliches Kosten-Nutzen-Kalkül nicht mehr aufging. Nach Athens endgültiger Niederlage im Jahr 404 wiederum nutzte der schon am ersten oligarchischen Umsturz in führender Rolle beteiligte Theramenes die günstige Gelegenheit, mit spartanischer Unterstützung einen Systemwechsel herbeizuführen. Angesichts der veränderten außenpolitischen Lage wurde dabei nicht mehr mit militärischen und bündnisstrategischen Vorteilen argumentiert, sondern schlicht darauf verwiesen, dass die Abschaffung der Demokratie von den Spartanern verlangt werde.30 In beiden Umstürzen bestärkten somit aktuelle militärische Misserfolge grundlegende Ressentiments gegen die Demokratie und gaben den gut miteinander vernetzten Demokratiekritikern Aufwind. Die außenpolitischen Enttäuschungen waren jedoch nicht der Grund ihres Umsturzversuches, sondern eröffneten ihnen die Chance, ihre immer schon vorhandene, grundsätzliche Geringschätzung des ‚Pöbels‘ und seiner Herrschaft offen in politisches Handeln umzusetzen. Doch unter welchen Umständen waren die übrigen athenischen Bürger bereit, sich auf ihre eigene Entmachtung einzulassen? 2. Selbstentmachtung aus Enttäuschung über das demokratische System? Vorgehen und Motive der Verschwörer sind recht gut nachvollziehbar, schließlich strebten sie die Machtübernahme an. Dass aber die athenischen Bürger in einem „Akt der Selbstentmachtung“ der Einsetzung einer Kommission zustimmten, die Reformvorschläge zur Beschränkung der Demokratie ausarbeiten sollte, und die Umsetzung dieser Vorschläge akzeptierten, scheint wesentlich schwerer verständlich.31 Um ihr Handeln zu erklären, ist daher ein genauerer Blick auf die Argumente und politischen

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173; Raaflaub (1992), 21–38; Balot (2001), 180–233; Jordović (2005), 211; Nebelin (2016), 294–304, jeweils mit weiteren Quellenbelegen. [Xen.] Ath. Pol. 1,1–5, 13. Dazu Wolff (1979), 285–291; Rhodes (2000), 129 f.; Mann (2007), 193 f. Vgl. den folgenden Abschnitt. Zitat nach Brandt (2022), 333.

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Strategien der Verschwörer erforderlich. Ausschlaggebend für das Verhalten der Athener waren drei Aspekte, die auf unterschiedliche Weise mit Enttäuschungen und Enttäuschungsverarbeitung verbunden waren: Erstens ihre grundlegende Bereitschaft zu Selbstoptimierung und Selbstdisziplinierung; zweitens die behauptete Alternativ­ losigkeit der Verfassungsänderung; drittens der Einsatz von Gewalt und Terror durch die Verschwörer. Zum ersten Punkt: Im Peloponnesischen Krieg bewiesen die Athener wiederholt ihre Fähigkeit, in Krisensituationen nicht zu resignieren, sondern pragmatische, wenn nötig auch sehr weitreichende Lösungsvorschläge zu suchen und rasch umzusetzen. So hatten sie auf die fatale Niederlage ihrer umfangreichen See- und Landstreitkräfte auf Sizilien 413 zwar laut Thukydides zunächst mit Schmerz, lähmendem Entsetzen und vorübergehender Hoffnungslosigkeit reagiert, waren dann jedoch sehr schnell „bereit, sich diszipliniert zu verhalten.“32 Sie ergriffen daher eine Reihe von Maßnahmen, die auf die Konzentration aller vorhandenen Kräfte, die Stärkung ihrer Flotte, die Sicherung ihres Herrschaftsbereichs und die Reduzierung öffentlicher Ausgaben abzielten.33 Zu diesem Zweck wurde auch ein neues Gremium aus zehn älteren Probuleuten eingerichtet, das offenbar vor allem die laufenden finanziellen Ausgaben im Blick behalten und neu eingebrachte Anträge auf ihre zu erwartenden Kosten überprüfen sollte. Dies führte noch nicht zur Abschaffung der Demokratie, stellte aber einen bedeutenden „Akt der Selbstdisziplinierung des athenischen Demos“ dar, wie Christian Mann ausgeführt hat.34 Die Bereitschaft der Athener zu weitreichenden Eingriffen in ihre politische Ordnung ging einher mit der von Thukydides wiederholt beschriebenen ‚typisch athenischen‘ Reaktionsschnelligkeit, Hyperaktivität (polypragmosyne), Flexibilität, Offenheit und Innovationsfreudigkeit.35 Sie war politisch bedingt: Durch die jahrzehntelang praktizierte Partizipation in den direktdemokratischen Gremien hatten zahlreiche, auch ärmere Athener institutionell verstetigte Erfahrungen der Selbstwirksamkeit gemacht. Ihr Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit stärkte das Bewusstsein für die grundsätzliche Verfügbarkeit und Veränderbarkeit politischer Ordnungen, das Christian Meier als „Könnensbewusstsein“ bezeichnet hat.36 Gerade diese offene, lösungs-

32 Thuk. 8,1,1–4; Zitat 8,1,4: ἑτοῖμοι ἦσαν εὐτακτεῖν. Ähnlich auch [Aristot.] Ath. Pol. 29; Diod. 13,36,1–5. 33 Hierzu und zum Folgenden siehe Thuk. 8,4; siehe auch 8,1,3 u. 15,1; [Aristot.] Ath. Pol. 29,2. 34 Mann (2007), 266; zu den Probuleuten siehe auch ebd. 262–267. Von „Selbstdisziplinierung“ spricht auch Nippel (1980), 75. Vgl. auch Flach (1977), 9; Raaflaub (1992), 26; Heftner (2001), 6–16; Brandt (2022), 334; 351–354. Lehmann (1997), 43, Anm. 49 führt die Einsetzung der Probuleuten auf die „tief[e] Verunsicherung in der politischen Öffentlichkeit der Athener“ zurück und sieht sie bereits in Lehmann (1987), 35 f. als ersten Schritt in Richtung Oligarchie; dies scheint jedoch nur aus der Retrospektive evident. 35 Komprimiert in der Charakterisierung der Athener durch die Korinther in Thuk. 1,70,2–9. 36 Vgl. Meier (1980), 469–499; er attestiert ebd. 495 den Athenern „ein hohes Maß an Kontingenztoleranz“, woraus das weitgehende Fehlen überzogener, ‚ideologisch unterfütterter‘ Erwartungen

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orientierte Herangehensweise wurde jedoch gegen die Athener und ihre politische Ordnung gewendet, als die Verschwörer von 411 die Abschaffung der Demokratie als zwar notwendige und der aktuellen Situation angemessene, jedoch zeitlich beschränkte Maßnahme darstellten. Thukydides berichtet, dass die Abgesandten der Flottenverschwörung zunächst vor die Volksversammlung traten und dort dafür warben, „nicht unverändert an der Demokratie festzuhalten“ – dann könne man Alkibiades zurückrufen, der dann wiederum für Athen ein Bündnis mit den Persern aushandeln werde.37 Diese Vorschläge riefen lautstarke Empörung hervor, woraufhin Peisandros, der Anführer der Verschwörer, Protestierende einzeln vortreten ließ und fragte, ob sie „eigentlich irgendeine Hoffnung auf Rettung der Stadt“ hätten.38 Als die Befragten keine konkreten Alternativvorschläge parat hatten, erklärte Peisandros jedes Mal, es sei erforderlich, die politische Ordnung „vernünftiger und mit Konzentration der politischen Führung auf wenige“ einzurichten, und fügte hinzu: „Später werden wir doch die Möglichkeit zu Änderungen haben, wenn etwas nicht zusagt.“39 Damit suggerierte er erstens, dass die vorgeschlagenen Änderungen alternativlos seien, denn Alkibiades sei „als einziger unter den Lebenden imstande“, Athen zu retten.40 Zweitens stellte er diese Änderungen als vorübergehend dar, und drittens diskreditierte er alle Bedenken angesichts der weitreichenden politischen Eingriffe als unangemessene verfassungstheoretische Spitzfindigkeit, da man in der akuten Notlage „nicht so sehr über die Staatsordnung beraten [müsse] als über die Rettung“.41 Diese Performance hatte den erwünschten Effekt: Das Volk akzeptierte widerwillig, „dass anders Rettung nicht möglich sei“, und gab „eingeschüchtert und zugleich in der Hoffnung, dass auch wieder eine Änderung kommen werde, seinen

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resultiert habe. Zum „verblüffend wenig vor-modern[en]“ demokratischen Wissen der Athener siehe jetzt Walter (2020), Zitat 538. Thuk. 8,53,1: Ἀλκιβιάδην καταγαγοῦσι καὶ μὴ τὸν αὐτὸν τρόπον δημοκρατουμένοις. Anders Xen. Hell. 2,3,45, wonach die Athener die Demokratie abschafften, um das Vertrauen der Spartaner zu gewinnen, was jedoch angesichts der militärischen Lage und der späteren Bereitschaft der Athener zur Fortsetzung des Krieges wenig plausibel erscheint. Thuk. 8,53,2: εἴ τινα ἐλπίδα ἔχει σωτηρίας τῇ πόλει. Dass Peisistratos in der Lage war, das Rede- und Deliberationsverfahren der Volksversammlung eigenmächtig und zu seinem eigenen Vorteil zu verändern, ist erklärungsbedürftig. Thukydides erläutert nicht, wieso ihm dies gelang. Die Vorgehensweise erinnert an die athenischen Gesandten, die ihren Gesprächspartnern im ‚Melierdialog‘ ein ähnliches Rede- und Antwortverfahren aufzwingen und sich durch diese Ausübung diskursiver Macht als dominante Partei erweisen; vgl. Thuk. 5,85 f., 89; dazu auch Nebelin (2016), 350, bes. Anm. 103. Thuk. 8,53,3: εἰ μὴ πολιτεύσομεν τε σωφρονέστερον καὶ ἐς ὀλίγους μᾶλλον τὰς ἀρχὰς ποιήσομεν […] (ὕστερον γὰρ ἐξέσται ἡμῖν καὶ μεταθέσθαι, ἢν μή τι ἀρέσκῃ). Ebd.: ὃς μόνος τῶν νῦν οἷός τε τοῦτο κατεργάσασθαι. Ebd.: μὴ περὶ πολιτείας τὸ πλέον βουλεύσομεν ἐν τῷ παρόντι ἢ περὶ σωτηρίας. Vgl. dazu Taylor (2010), 210, wonach Peisandros „distinguishes the city from its political persuasion, suggesting that there is an existence, a definition to the city that transcends political identification. […] They should not oppose a plan for survival just because the city that survives is not democratic.“

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Widerstand auf “.42 Peisandros hatte die gemeinsame Beratung in der Volksversammlung durch die direkte, autoritäre Befragung seiner Kritiker ersetzt. So unterband er eine nach den etablierten Regeln ablaufende Debatte, in der andere Redner seinen Vorschlägen noch Gegenanträge hätten entgegensetzen können. Mit diesem Vorgehen demonstrierte Peisandros nicht nur die Ratlosigkeit seiner Kritiker, sondern auch das Versagen der hergebrachten demokratischen Deliberationsverfahren. Lysias’ Klageschrift Gegen Eratosthenes zufolge verfolgte Theramenes gut sieben Jahre später eine ähnliche Kommunikationsstrategie. Nachdem Athen mehrere Monate lang belagert worden und jeder Versuch, einen milden Frieden mit Sparta zu erreichen, gescheitert war, schien sich Athens Lage wieder etwas zu verbessern, als der Peloponnesische Bund zwar auf der Schleifung von Athens Mauern, der fast völligen Abschaffung der Flotte, der Heeresfolge gegenüber Sparta und dem Rückruf aller aus Athen Verbannten bestand, aber auf Drängen Spartas gegen die Zerstörung Athens stimmte.43 In Athen hatten im Vorfeld erbitterte Debatten in der Volksversammlung stattgefunden, in denen sich zunächst diejenigen durchgesetzt hatten, die eine bedingungslose Kapitulation und die Abschaffung der Demokratie ablehnten. Sie hatten jede Diskussion über das Schleifen der Mauern verhindert und leisteten auch Theramenes Widerstand, als er nach mehrmonatigem Aufenthalt in Sparta mit Unterstützung des spartanischen Oberkommandierenden Lysander in der Volksversammlung auftrat und die Einsetzung eines dreißigköpfigen Gremiums vorschlug, das eine neue politische Ordnung ausarbeiten und währenddessen die politische Macht übernehmen sollte.44 Die Abschaffung der Demokratie war nicht Teil der Kapitulationsbedingungen gewesen; vielmehr verlangten die Spartaner eine Rückkehr Athens zur ‚väterlichen Verfassung‘ (patrios politeia).45 Dieser bewusst vage gehaltene Begriff beließ den Athenern einen recht weiten Interpretationsspielraum: Während sich Theramenes und seine 42 Thuk. 8,54,1: σαφῶς δὲ διδασκόμενος ὑπὸ τοῦ Πεισάνδρου μὴ εἶναι ἄλλην σωτηρίαν, δείσας καὶ ἅμα ἐπελπίζων ὡς καὶ μεταβαλεῖται, ἐνέδωκεν. Mann (2007), 271 schließt aus Thuk. 8,54,2, dass die Volksversammlung nur Peisistratos’ erste zwei Anträge akzeptierte, wonach eine zehnköpfige Gesandtschaft mit Alkibiades über dessen Rückkehr und mit den Persern über ein Bündnis verhandeln sollte; über die Abschaffung der Demokratie wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgestimmt. Dennoch bedeutete dieser Beschluss angesichts von Peisandros’ fester Verknüpfung der beiden ersten Punkte mit der Notwendigkeit, Athens politische Ordnung ‚vernünftiger‘ und machtzentrierter einzurichten, eine wichtige Weichenstellung für die weitere Entwicklung. 43 Xen. Hell. 2,2,10–20. 44 Diskussionen in der Volksversammlung: Xen. Hell. 2,2,14–16; Lys. 13,5–16; dazu auch Bleckmann (1998), 604–614. Rückkehr des Theramenes nach Athen: Xen. Hell. 2,2,21–3,2. 45 Die patrios politeia wird in [Aristot.] Ath. Pol. 34,3 und Diod. 14,3,2 erwähnt. Xen. Hell. 2,2,20 und Plut. Lysander 14,4 f. nennen keine innenpolitischen Forderungen Spartas an Athen. In Lys. 12,69– 71 wird nicht nur die Abschaffung der Demokratie, sondern auch die in allen anderen Quellen – plausibel – als Kernforderung Spartas benannte Schleifung der Langen Mauern allein Theramenes zugeschrieben; zur feindseligen Haltung dieser Quelle gegenüber Theramenes siehe Lys. 12,62–64 sowie 13,9–14; vgl. dazu Lehmann (1972), 205–208; Bleckmann (1998), 341–343; Stem (2003), 29.

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oligarchischen Mitstreiter auf die patrios politeia beriefen, um mit Lysanders Rückendeckung die Abschaffung der Demokratie durchzusetzen, verstand die Mehrheit der athenischen Bürger darunter eine demokratisch ausgerichtete Ordnung.46 Auf Theramenes’ Antrag, ein Gremium von dreißig Machthabern einzusetzen, reagierten sie daher laut Lysias mit einem „großen Tumult, obwohl ihr [= die Athener; KN] in einer solch ausweglosen Lage wart, denn ihr erkanntet wohl, dass an diesem Tag über Knechtschaft oder Freiheit abzustimmen war“.47 Theramenes erklärte daraufhin, so Lysias, dass der Protest der Versammelten „ihn nicht kümmere, dass er viele Athener kenne, die so handeln würden wie er, und dass seine Beschlüsse die Zustimmung des Lysander und der Spartaner hätten“, was dieser sogleich bestätigte.48 Lysander drohte den Athenern offen, dass nicht ihre Verfassung, sondern ihr Überleben auf dem Spiel stände.49 Denselben Gegensatz hatte auch Thukydides’ Peisistratos aufgemacht, als er die Frage der politischen Ordnung angesichts der existentiellen Bedrohung, in der sich Athen befand, als sekundär und letztlich bedeutungslos abqualifiziert hatte.50 Angesichts der ‚Ausweglosigkeit‘ ihrer Lage teilten sich die Bürger daraufhin auf: „Manche blieben vor Ort und verhielten sich ruhig, manche gingen weg in dem Bewusstsein, wenigstens nicht bei etwas Nachteiligem für die Stadt mitgestimmt zu haben“, und nur „einige wenige, Übelgesinnte und Schlechtberatene, stimmten ab, wie ihnen befohlen worden war“.51 Auch hier waren die üblichen Diskussionsverfahren ausgehebelt worden; die Übermacht Spartas in Gestalt des vor Ort anwesenden Lysanders hatte die Debatte verzerrt und keinen Raum mehr für formalen Widerspruch gelassen,52 sodass den Dissentierenden keine andere Wahl blieb, als zu schweigen oder sogar die

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Stem (2003), 22 f.; vgl. dazu Lys. 13,5–11; Xen. Hell. 2,3,13 f.; [Aristot.] Ath. Pol. 34,3; Diod. 14,3,3 f., 6; Plut. Lysander 15. Zum Begriff der patrios politeia bzw. der patrioi nomoi sowie zu den damit verbundenen semantischen Kämpfen siehe etwa Ruschenbusch (1958); Lehmann (1987), 36; Raaflaub (1992), 41–44; Rhodes (2011); Shear (2011), 41–69; Caire (2016), 262–280. 47 Lys. 12,73: ὑμεῖς δ᾽ ὅμως καὶ οὕτω διακείμενοι ἐθορυβεῖτε ὡς οὐ ποιήσοντες ταῦτα: ἐγιγνώσκετε γὰρ ὅτι περὶ δουλείας καὶ ἐλευθερίας ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρα ἠκκλησιάζετε. Ähnlich Lys. 13,15 f. 48 Lys. 12,74: οὐδὲν αὐτῷ μέλοι τοῦ ὑμετέρου θορύβου, ἐπειδὴ πολλοὺς μὲν Ἀθηναίων εἰδείη τοὺς τὰ ὅμοια πράττοντας αὑτῷ, δοκοῦντα δὲ Λυσάνδρῳ καὶ Λακεδαιμονίοις λέγοι. In Diod. 14,3,5–7 geht die Einsetzung der ‚Dreißig‘ von dem mit den ‚radikalen‘ Oligarchen verbündeten Lysander aus, während sich Theramenes dagegenstellt. Krentz (1989), 49 folgt Diodors Bericht, während Stem (2003), 25 f. die Episode mit der sonstigen Überlieferung zu vereinbaren sucht. Vgl. jedoch auch Bleckmann (1998), 348: „Daß die Erzählung Diodors eine Theramenes-Apologie darstellt, ist allgemein bekannt“; ebenso Jordović (2005), 186, Anm. 106. 49 Lys. 12,74. Siehe dazu Jordović (2005), 185 f. 50 Vgl. Peisistratos’ Aussage in Thuk. 8,53,3 (dazu oben). Zur Ähnlichkeit mit Lysanders Drohung siehe Lintott (1982), 160. 51 Lys. 12,75: τῶν δ᾽ ἐν τῇ ἐκκλησία ὅσοι ἄνδρες ἀγαθοὶ ἦσαν, γνόντες τὴν παρασκευὴν καὶ τὴν ἀνάγκην, οἱ μὲν αὐτοῦ μένοντες ἡσυχίαν ἦγον, οἱ δὲ ᾤχοντο ἀπιόντες, τοῦτο γοῦν σφίσιν αὐτοῖς συνειδότες, ὅτι οὐδὲν κακὸν τῇ πόλει ἐψηφίσαντο: ὀλίγοι δέ τινες καὶ πονηροὶ καὶ κακῶς βουλευόμενοι τὰ προσταχθέντα ἐχειροτόνησαν. 52 Vgl. Lys. 12,72: μήτε ῥήτωρ αὐτοῖς μηδεὶς ἐναντιοῖτο μηδὲ διαπειλοῖτο ὑμεῖς τε μὴ τὰ τῆ πόλει συμφέροντα ἕλοισθε, ἀλλὰ τἀκείνοις δοκοῦντα ψηφίσαισθε. Ebenso [Aristot.] Ath. Pol. 34,3.

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Versammlung zu verlassen, um nicht gezwungen zu werden, ihre Zustimmung zu einer politischen Maßnahme zu geben, die sie von vornherein ablehnten und deren politische Brisanz sie sofort erkannt hatten. Lysander sprach offen aus, wie die Machtverhältnisse lagen: Theramenes brachte keinen Antrag ein, er erteilte einen Befehl.53 Auffällig an beiden ‚entscheidenden‘ Sitzungen der Volksversammlung ist der beharrliche Widerstand der Athener gegen die Abschaffung der Demokratie, der nur durch das bewusste Abgehen von den etablierten Verfahrensabläufen gebrochen werden konnte. Offenbar war es für die Oligarchiebefürworter undenkbar, die Verfassungsänderung anders als durch einen dem äußeren Schein nach legalen ‚Ermächtigungs­ beschluss‘ der Volksversammlung herbeizuführen.54 In beiden Fällen behaupteten sie die diskursive Oberhoheit, indem sie ihre rhetorische Überlegenheit (Peisandros) beziehungsweise die militärische Präsenz der Spartaner (Theramenes) offensiv ausspielten und außerdem dadurch Druck ausübten, dass sie die Diskussions- und Entscheidungsfrist verkürzten und suggerierten, eine Entscheidung sei sofort erforderlich. Die athenischen Bürger reagierten darauf jeweils zunächst mit Empörung und offener Ablehnung und lenkten dann ein. Ernüchternd und vermutlich auch enttäuschend dürfte die Erfahrung gewesen sein, dass die demokratischen Verfahren gerade in einer so entscheidenden Situation nicht weiterhalfen, also weder zur Formulierung alternativer Lösungsvorschläge führten noch den offensiven Angriff auf die Demokratie selbst abzuwehren vermochten.55 Diese Erschütterung des politischen Selbstbewusstseins wurde in beiden Umstürzen durch gezielte Terrorakte unterstützt, die mit unterschiedlicher Intensität und Zielsetzung sowie in verschiedenen Umsturzphasen erfolgten. 404 gehörte die Hinrichtung politischer Feinde und allgemein verhasster ‚Sykophanten‘ zu den ersten Maßnahmen des neueingesetzten Gremiums der dreißig ‚Gesetzesüberprüfer‘.56 Xenophon zufolge brachte gerade die Beseitigung der ‚Sykophanten‘ den ‚Dreißig‘ zunächst Sympathien innerhalb des Demos, was sich jedoch änderte, „als die Zahl der unrechtmäßigen Hinrichtungen wuchs“ und die Machthaber schließlich dazu übergingen, reiche Metöken zum Tode zu verurteilen, um deren Vermögen einziehen und die spartanischen Besatzungstruppen bezahlen zu können, auf die sich ihre Herrschaft

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Lys. 12,74. So Lehmann (1997), 20; vgl. auch ebd. 21: „Es gab keine Akzeptanz für eine andere Begründung der neu zu schaffenden Verfassung als die aus dem Willen des Demos!“ Die Deutung von Taylor (2010), 188–223, wonach die Athener die Abschaffung der Demokratie relativ gleichgültig hinnahmen, berücksichtigt diese Erschütterungen des politischen Selbstbewusstseins zu wenig. Xen. Hell. 2,3,12. Schon vor Theramenes’ Rückkehr aus Sparta hatten die oligarchischen Umstürzler die Hinrichtung des Demagogen Kleophon und weiterer politischer Opponenten durchgesetzt (Lys. 13,12–43); dazu Lehmann (1972), 207; Nippel (1980), 95; Krentz (1989), 60; Ungern-Sternberg (2000), 150; Németh (2006), 139 f.

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stützte.57 Die antiken Quellen erwecken den Eindruck, dass Hinrichtungen nicht nur die wichtigste, sondern geradezu die einzige politische Maßnahme der ‚Dreißig‘ darstellten; wie Theramenes’ Verurteilung zeigte, dienten sie nicht nur der Einschüchterung der Athener und der Finanzierung der Besatzung, sondern auch der inneren Disziplinierung der Herrschergruppe.58 Dagegen nutzten die Teilnehmer am ersten oligarchischen Umsturz Hinrichtungen nicht so exzessiv als Herrschaftsmittel; sie begingen vielmehr vor ihrer Machtübernahme politische Morde. Dahinter stand eine gutdurchdachte Doppelstrategie, die laut Thukydides auf Peisandros zurückging: Nachdem dieser den Plan, die Aktivbürgerrechte auf fünftausend wirklich ‚nützliche‘, also vermögende Bürger zu beschränken und keine Diäten mehr zu zahlen, in der Volksversammlung offen kommuniziert hatte, suchte er die antidemokratisch gesinnten Hetairien auf und überzeugte sie, mit den Verschwörern zusammenzuarbeiten.59 Daraufhin tagten die demokratischen Gremien zwar weiterhin regulär, berieten aber nur noch über Themen, die von den Verschwörern gebilligt wurden.60 Durch gezielte Morde an denjenigen, die dennoch zu widersprechen gewagt hatten, wurde die gesamte Bürgerschaft äußerst effizient eingeschüchtert; danach hatte niemand mehr den Mut, nach den Mördern zu suchen oder Verdächtige anzuzeigen.61 Die Größe der Verschwörergruppe war unbekannt und schien zudem ständig anzuwachsen, da sich zahlreiche Bürger unerwartet als oligarchische Mitläufer entpuppten. Die Anonymität der Großstadt Athen erschwerte es zusätzlich, zueinander Vertrauen zu fassen und sich zu offenem Widerstand zusammenzuschließen – was dann wiederum den Eindruck verstärkte, es gäbe immer mehr oligarchische Überläufer.62 Der Terror der Verschwörer untergrub somit das Sicherheitsgefühl, die Solidarität und das Vertrauen der Athener ineinander; ohne ihn wäre es nicht möglich gewesen, die eingeschüchterte Bürgerschaft mit verhältnismäßig geringem Aufwand zur Abschaffung der Demokratie zu zwingen. Zugleich mussten der Terror und seine Folgen auch 57 58

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Xen. Hell. 2,3,17 u. 21; Zitat ebd. 2,3,17: ἀποθνῃσκόντων πολλῶν καὶ ἀδίκως. Siehe auch [Aristot.] Ath. Pol. 35,3 f.; Lys. 12,5–7, 21. Siehe dazu Ungern-Sternberg (2000), 150 f.; Balot (2001), 222–224; Jordović (2005), 195 f.; Németh (2006), 141–153. Xen. Hell. 2,3,21–23; [Aristot.] Ath. Pol. 36,1; 37,1 f.; Isokr. 7,67. Zum Charakter der Herrschaft der ‚Dreißig‘ siehe auch Lehmann (1972), 216–218; Nippel (1980), 82; Lintott (1982), 162–165; Lehmann (1997), 52 f.; Ungern-Sternberg (2000); Jordović (2005), 207. Zu politischen Morden und Hinrichtungen als Herrschaftsmittel siehe die schonungslosen Aussagen in Xen. Hell. 2,3,24, 32. Thuk. 8,54,4. Interessant ist, dass Peisandros diese Hetairien bekannt und dass diese sofort zur Zusammenarbeit bereit waren; vermutlich gab es hier starke Überschneidungen mit jenen Gruppierungen, die vier Jahre zuvor beim ‚Hermenfrevel‘ ihre demokratiefeindliche Haltung und Handlungsfähigkeit bewiesen hatten. Dazu Lehmann (1987), 51–71; Mann (2007), 256–261; 271; Caire (2016), 300–305. Thuk. 8,66,1 f. Vgl. hierzu und zum Folgenden die tiefgreifende Analyse in Thuk. 8,65,2–66,5 sowie 8,70; siehe auch Lys. 20,8 f. Thuk. 8,66,3 f.

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die Enttäuschung über die Demokratie und die eigenen Mitbürger weiter verstärken: Wenn sich immer mehr Bürger den Oligarchen anschlossen oder auch nur indifferent blieben, wurde dadurch die demokratische Ideologie einer auf gegenseitigem Vertrauen gegründeten Bürgergemeinschaft praktisch widerlegt. Entsprechend ist in den antiken Quellen häufiger die Rede von der ‚Auflösung des Demos‘ als von der ‚Auflösung der Demokratie‘.63 Der Verlust der gewohnten politischen Ordnung vollzog sich für die Athener also nicht auf einer abstrakten verfassungstheoretischen Ebene, sondern bedeutete ganz konkret die Desintegration der Bürgergemeinschaft als politisch verfasster, gemeinsam handlungsfähiger Gruppe.64 Die später durchgesetzten institutionellen Änderungen fixierten dann nur noch, was schon vorher offensichtlich gewesen war: Die demokratischen Institutionen und Verfahren funktionierten nicht mehr, wie sie sollten. Die ‚Atmosphäre der Angst‘, die Terrormaßnahmen und die Aushebelung des politischen Wettstreits durch die Absprachen und Einschüchterungsmaßnahmen der nunmehr herrschenden Elite hatten die politischen Prozesse zerstört.65 Thukydides hat sehr klar analysiert, wie die Verschwörer „im Volk den Mangel an Vertrauen zu sich selbst als verlässliche Größe etablierten“ und darauf ihre Herrschaft gründeten.66 Nachdem ihr Selbstvertrauen untergraben worden war, dürfte die Enttäuschung der Athener über den sang- und klanglosen Untergang ihrer Demokratie und damit letzten Endes auch über ihre eigene Rolle dabei groß gewesen sein. Alles, was danach noch kam, bestätigte und verstärkte diese Enttäuschung weiter, sei es die Versammlung auf dem Kolonos, auf der die Abschaffung der Demokratie (über die Aussetzung der graphe paranomon) und die Einsetzung eines kooptativ bestellten Rates der Vierhundert formal beschlossen wurden, oder die kurz danach erfolgte, hastige Absetzung des alten Rates der Fünfhundert gut einen Monat vor dem offiziellen Ende seiner Amtsperiode.67 Die Schnelligkeit, mit der diese Maßnahmen durchgeführt wurden, lässt vermuten, dass die Verschwörer danach strebten, die Athener durch die Erschütterung ihrer politischen Kultur in eine Art Schockstarre zu versetzen und den

63 ‚Auflösung‘ (katalysis) des Demos: Thuk. 8,65,1; 68,1 u. 4; 86,2; Xen. Hell. 2,3,28; ‚Auflösung‘ der Demokratie: Thuk. 8,47,2; 63,3. 64 Daran zeigt sich auch, dass die von Peisistratos bzw. Lysander rhetorisch vollzogene Entkopplung der Rettung der Stadt von ihrer Verfassung (vgl. Thuk. 8,53,3; Lys. 12,74) in der Praxis unmöglich war: Die politische Gemeinschaft funktionierte und existierte nur in der Demokratie. 65 Zitat nach Nippel (1980), 77; vgl. auch das Zwischenfazit ebd. 96 f. sowie Lintott (1982), 144; Balot (2001), 211–219; Mann (2007), 280 f., während Taylor (2010), 209–217 und, weniger apodiktisch, Heftner (2001), 114 die Bedeutung des Terrors herunterspielen. 66 Thuk. 8,66,5: βέβαιον τὴν ἀπιστίαν τῷ δήμῳ πρὸς ἑαυτὸν καταστήσαντες. 67 Zu diesen Ereignissen siehe Thuk. 8,67–69 sowie die wesentlich glattere, die Legalität aller Vorgänge betonende Darstellung in [Aristot.] Ath. Pol. 29,1–5; 32,1 f. Dazu Flach (1977); Nippel (1980), 77 f.; Raaflaub (1992), 5 f.; Heftner (2001), 153–176; Mann (2007), 270–276, 279 f.; Caire (2016), 103–111.

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Verfassungswechsel rasch durchzudrücken, bevor sich der Widerstand (re)organisieren konnte.68 Beim zweiten Umsturz waren für die Erschütterung des bürgerlichen Selbstvertrauens keine Morde erforderlich; dafür hatten bereits der katastrophale Zusammenbruch der athenischen Flotte und des Seereichs, die monatelange Belagerung, die bedingungslose Kapitulation und vor allem die Anwesenheit der spartanischen Besatzungs­ truppen gesorgt. Die Erfahrung, den willkürlichen Hinrichtungen der neuen Machthaber hilflos ausgeliefert zu sein, wird dieses Gefühl weiter verstärkt haben. Aber dennoch waren beide oligarchischen Regime nur von kurzer Dauer. Dies lag auch an den vielfältigen Enttäuschungserfahrungen, die mit dem oligarchischen Experiment selbst verbunden waren. 3. Der enttäuschende Verlauf der oligarchischen Umstürze Bei der Betrachtung beider oligarchischen Umstürze frappiert zunächst die relative Mühelosigkeit, mit der sich die Verschwörer durchsetzten und eine oligarchische Cliquenherrschaft etablierten,69 ohne auf nennenswerten Widerstand oder gar gewaltsame Gegenwehr zu stoßen. Ebenso eindrücklich ist dann aber auch in beiden Umstürzen die Geschwindigkeit, mit der die Vormachtstellung der Verschwörer erodierte, sodass ihr Regime jeweils innerhalb weniger Monate in sich zusammenbrach. Der erste oligarchische Umsturz wurde durch den Aufstand der Hoplitenabteilungen beendet, die mit der Sicherung der Festung Eetioneia im Hafen von Piräus beauftragt waren;70 zur Beendigung der Herrschaft der ‚Dreißig Tyrannen‘ führte ein Bürgerkrieg, in dem das Heer der Verschwörer in mehreren Schlachten unterlag.71 Die Entwicklungen, die zu diesen Niederlagen führten, legen nicht nur nahe, dass die von Anfang an widerwilligen athenischen Bürger rasch von der Oligarchie enttäuscht waren, sondern lassen vermuten, dass der Systemwechsel auch für die Verschwörer selbst enttäuschend verlief. Dies lag zum einen an den grundlegenden politischen Differenzen und Kommunikationsproblemen innerhalb der Verschwörergruppe und zum anderen daran, dass in beiden Fällen handlungs- und vor allem auch wehrfähige Teilgruppen der athenischen Bürgerschaft nicht unter der direkten Gewalt der Verschwörer standen.

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Dazu auch Heftner (2001), 105. In Thuk. 3,62,3 wird mit Bezug auf die politische Ordnung der Thebaner ausgeführt, dass die Herrschaft einer δυναστεία ὀλίγων ἀνδρῶν weder Oligarchie noch Demokratie sei, sondern als ungesetzliche und ungeordnete Herrschaftsform eine Art ‚kollektive Tyrannis‘ darstelle. Zur Dynasteia als ‚extremster‘ Form der Oligarchie vgl. Jordović (2005), 170–185; Caire (2016), 55–57. Zur Differenzierung verschiedener Oligarchieformen auch Ostwald (2000b), 393 f. Thuk. 8,90–98; [Aristot.] Ath. Pol. 33,1 f. Dazu Nippel (1980), 93; Mann (2007), 275. Xen. Hell. 2,4,10–27; [Aristot.] Ath. Pol. 38,1.

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Während des ersten Umsturzes handelte es sich dabei um die athenische Flotte auf Samos. Von ihr war die Verschwörung ursprünglich ausgegangen, doch später sagte sie sich von dem oligarchisch regierten Athen los und drohte, die Stadt anzugreifen.72 Im zweiten Umsturz war es die wachsende Zahl von Verbannten und Geflohenen, die sich jenseits von Attikas Grenzen zusammenschlossen und von dort eine Invasion durchführten.73 Die Existenz dieser von den Oligarchen unabhängig agierenden und ihnen feindselig gegenüberstehenden, noch dazu militärisch ausgerüsteten und aktionsbereiten Gruppen setzte die Herrscher unter Druck und hielt die ständige Gefahr eines Bürgerkrieges im Bewusstsein aller Athener präsent. Die Wirkung war vermutlich ambivalent: Zum einen schürte dieser Zustand Angst, zum anderen verhinderte er, dass die weitverbreitete Enttäuschung über das zunehmend verhasste oligarchische Regime in Resignation umschlug. Die Hoffnung auf einen erneuten Umschwung und auf die Rückkehr zur Demokratie blieb auf diese Weise stets wach. Die Verschwörer standen dabei vor einem unauflösbaren Dilemma: Wenn sie eine Oligarchie einrichten wollten, gab es zum Ausschluss breiter Bevölkerungsgruppen aus der Bürgerschaft keine echte Alternative; doch diese Gruppen wurden dadurch automatisch zu erbitterten Feinden, die durch ihre bloße Anwesenheit Druck auf das oligarchische Regime ausübten. Erschwerend kam hinzu, dass beide Umstürze, wie bereits betont, auf sozialen Ressentiments und schwammigen antidemokratischen Vorstellungen beruhten, die nicht ohne Weiteres in politische Strukturen umzusetzen waren. Ein ausgefeiltes oligarchisches Gesellschafts- und vor allem Herrschaftsmodell hatte ihnen offenbar nicht zugrunde gelegen, was sich schon daran zeigte, dass die Diskussion darüber, wie genau die angestrebte Oligarchie verfasst sein sollte, nicht im Vorfeld, sondern nach der Machtergreifung stattfand und die Verschwörer entzweite.74 Was sie miteinander verbunden hatte, war ihre Ablehnung der Demokratie; in der Frage, was an deren Stelle treten sollte, waren sie uneins. Folgerichtig kam es zu hef-

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Thuk. 8,73–77; 81–82; 86. Zu diesen Ereignissen Lintott (1982), 141; Heftner (2001), 217–231. Die auf Samos stationierten Flottenangehörigen waren in dieser Zeit nicht nur Quelle von Enttäuschungen für die Bürger Athens (vgl. etwa Aristoph. Lys. 313), sondern vor allem auch selbst wiederholt und mit fatalen Folgen enttäuscht: erst von der Demokratie, weshalb von ihnen deren Sturz ausging (Thuk. 8,47; 48,1–3), dann von der Oligarchie, zu deren Sturz sie ebenfalls den Anstoß gaben (Thuk. 8,72,2–76,7; 86,1–6). Ihrem zentralen Sachziel, das sie zunächst dazu gebracht hatte, den oligarchischen Verschwörern zu folgen, blieben sie dabei treu: der Rückberufung des Alkibiades (vgl. Thuk. 8,81,1), die sie schließlich auch erreichten und die, wie erhofft, mit militärischen Erfolgen auf dem ionischen Kriegsschauplatz einherging. Xen. Hell. 2,4,1–7; 10–22; [Aristot.] Ath. Pol. 38,1. Dass den Verschwörern als ad hoc formierten Gruppierungen sowohl eine ausdifferenzierte politische Programmatik als auch eine gefestigte Organisationsstruktur fehlten, betonen etwa Bleckmann (1998), 334–339; Stem (2003), 30–32; Brandt (2022), 335 f. Eine „théorie de l‘oligarchie“ entstand erst nach dem Scheitern der beiden Umstürze; dazu insgesamt Caire (2016), Zitat 16, sowie Ostwald (2000a); Mann (2007), 279.

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tigen Kontroversen darüber, ob und wie die Herrschaft über den unmittelbaren Kreis der Verschwörergruppe hinaus ausgedehnt werden sollte. In beiden Umsturzperioden kristallisierten sich dabei zwei grundlegende Alternativen heraus: Die Vertreter einer ‚gemäßigten‘ Oligarchie plädierten für die Einführung einer zensusbasierten Ordnung, in der die politischen Rechte an den sozioökonomischen Status gekoppelt sein sollten, wobei mehrheitlich der Hoplitenzensus als angemessenes Zugangskriterium angesehen wurde.75 Auf der anderen Seite stand die Idsee, die Bürgerschaft strikt auf eine zuvor festgelegte Anzahl zu beschränken: fünftausend Bürger im ersten, dreitausend im zweiten Umsturz. Diese Festlegungen waren letztlich willkürlich, was sie anfechtbar machte.76 Hinzu kam, dass die Meinungen darüber, welcher Status den eigenen Überlegungen und Verlautbarungen zur Ausdehnung der politischen Partizipation zukommen sollte, innerhalb der Verschwörer weit auseinandergingen. Die in der Forschungsliteratur sogenannten ‚Radikalen‘ wollten bei einer engen Cliquenherrschaft bleiben und betrachteten die geplante Ausweitung der Bürgerschaft als bloße Propaganda, während die Gruppe der ‚Gemäßigten‘ die eigenen Verlautbarungen zu diesem Thema ernstnahm und selbst die Errichtung einer Oligarchie auf breiterer Basis anstrebte.77 Somit täuschten die ‚Radikalen‘ nicht nur die Außenstehenden, sondern auch die eigenen Mitverschwörer über ihre tatsächlichen Ziele. Die ungelösten internen Konflikte eskalierten, als keine Einigung darüber erzielt werden konnte, ob die in beiden Umstürzen jeweils versprochene Bürgerliste tatsächlich erstellt werden, wie viele Bürger sie genau umfassen und wer konkret auf ihr verzeichnet werden sollte.78 Als die sogenannten ‚Radikalen‘ die Aufstellung dieser Listen hintertrieben und hinauszögerten, führte dies nicht nur bei den athenischen Bürgern, sondern auch bei etlichen Mitverschwörern zu wachsender Unzufriedenheit und erschütterte schließlich auch das Vertrauen der Verschwörer ineinander. Die einen befürchteten, dass sich die ‚Gemäßigten‘ bei passender Gelegenheit abwenden

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Zum ersten Umsturz Thuk. 8,65,3; [Aristot.] Ath. Pol. 29,5, zum zweiten Xen. Hell. 2,3,47–49. Dazu Caire (2016), 112 f.; 133; 227–233. Zum Konzept der ‚Hoplitenpoliteia‘ Nippel (1980), 55; 61. Auch diese Bürgerdefinition entsprach, wie Nippel ebd. 90 betont hat, „in keiner Weise den militärischen Realitäten“, weil sie die militärische Bedeutung der Flotte und damit der Theten völlig negierte. Ebenso Raaflaub (1992), 33. 404 spielte die ‚Hoplitenpoliteia‘ dagegen keine Rolle mehr, auch nicht in der Propaganda: Nippel (1980), 94 f.; Heftner (2001), 351. Zum ersten Umsturz: Thuk. 8,65,3; 67,3; 72,1; Lys. 20,13; zum zweiten Xen. Hell. 2,3,17–20; [Aristot.] Ath. Pol. 36,1 f. Zur Idee der Herrschaft einer fixierten Bürgerzahl und zu möglichen Gründen für die Festlegung auf 5.000 bzw. 3.000 Bürger siehe Nippel (1980), 78 f.; 82 f.; 89–93; 95; Brock (1989), 162 f.; Krentz (1989), 64 f.; Bleckmann (1998), 375; Németh (2000); Heftner (2001), 115 f.; 142–153; Németh (2006), 63–73; Caire (2016), 99–124. Thuk. 8,65,3–66,1; 86,3; 89,2; 92,11; Xen. Hell. 2,3,18; [Aristot.] Ath. Pol. 36,2. Vgl. dazu Flach (1977), 17; 20–23; Nippel (1980), 79; Lehmann (1987), 71 f.; Raaflaub (1992), 33; Heftner (2001), 146 f.; Caire (2016), 114 f. Erster Umsturz: Thuk. 8,66; 92,11; zweiter Umsturz: Xen. Hell. 2,3,17–20; [Aristot.] Ath. Pol. 36,1.

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und sich mit dem politisch entrechteten ‚Pöbel‘ zusammentun würden, die anderen fühlten sich von ihren Mitkämpfern getäuscht und lehnten sich zur Sicherung ihrer Herrschaft immer enger an den auswärtigen Feind Sparta an.79 Innerhalb kurzer Zeit radikalisierten sich so die einen Verschwörer immer mehr, während sich die anderen immer vehementer von ihren zunehmend skrupelloser werdenden Genossen zu lösen suchten und außerhalb der Verschwörergruppe um Verbündete warben. Diese Dynamik führte rasch dazu, dass die Stimmung in der Stadt kippte. In beiden Fällen ging dies mit einer Rückkehr zu den gewohnten Formen des öffentlichen Diskutierens einher: Als die Athener 411 vom Abfall der auf Samos stationierten Flotte erfuhren, war die Position der Oligarchen bereits so geschwächt, dass diese laut Thukydides nichts mehr gegen die Wiederaufnahme des außerinstitutionellen kritischen Austauschs über politische Fragen unternehmen konnten: „So kamen sie [= die Athener; KN] schon in Gruppen zusammen und übten Kritik an den bestehenden Verhältnissen.“80 Und Xenophon zufolge führten 404/3 die zahlreichen „unrecht­ mäßigen Hinrichtungen“ unter den ‚Dreißig Tyrannen‘ dazu, dass „viele Menschen sich ganz offen zusammentaten und sich mit Verwunderung zu fragen begannen, was aus der Verfassung werden solle“.81 In einer Art ‚spontaner Volksversammlung‘, in der die Redefreiheit (parrhesia) und der (ergebnis)offene Austausch über die gemeinsamen Angelegenheiten wieder selbstverständlich praktiziert wurden, fanden die Athener zu sich selbst zurück. Dagegen zeigten sich weder die Oligarchencliquen noch die von ihnen eingerichteten politischen Gremien in der Lage, verbindliche und allgemein akzeptierte Entscheidungs- und Herrschaftsverfahren zu entwickeln und umzusetzen; ihre Konflikte führten zu ungeregelten, gewaltsam ausgetragenen Kämpfen um die Vormacht. Bewährte Verfahren, die politische Eintracht und Handlungsfähigkeit stiften konnten, hatte nur die Demokratie vorzuweisen.82 Ihre Erfahrungen mit der Oligarchie dürften somit für nahezu alle Athener, Gegner wie Sympathisanten, äußerst enttäuschend, wenn nicht gar abschreckend verlaufen sein. Ausschlaggebend für das rasche Scheitern der beiden so erfolgreich gestarteten oligarchischen Umsturzversuche war also offenbar ihr für alle Beteiligten enttäuschender Verlauf. Die beiden oligarchischen Umstürze fielen in eine für Athen überaus enttäuschungsreiche Phase des Peloponnesischen Krieges, in der sich Handlungsspielräume für oligarchische Experimente eröffneten. Der erste Umsturz im Jahr 411 fand in einer Atmosphäre zunehmender Unzufriedenheit mit der Demokratie statt. In dieser 79 Siehe hierzu Thuk. 8,89–92 (erster Umsturz); Xen. Hell. 2,3,26–34; 4,23 (zweiter Umsturz). 80 Thuk. 8,89,2: καὶ ξυνίσταντό τε ἤδη καὶ τὰ πράγματα διεμέμφοντο, ἔχοντες ἡγεμόνας τῶν πάνυ [στρατηγῶν] τῶν ἐν τῇ ὀλιγαρχίᾳ. 81 Xen. Hell. 2,3,17: πολλοὶ δῆλοι ἦσαν συνιστάμενοί τε καὶ θαυμάζοντες τί ἔσοιτο ἡ πολιτεία. 82 Vgl. Thukydides’ Schilderung der Vorbereitung und Abhaltung einer Volksversammlung, diesmal wieder auf der Pnyx, zur ‚Wiederherstellung der bürgerlichen Eintracht‘ in Thuk. 8,93; 97 sowie die vom spartanischen König Pausanias vermittelte Einigung zwischen den Bürgerkriegsparteien in Xen. Hell. 2,4,38–43; [Aristot.] Ath. Pol. 38,4–40,3.

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Lage verbanden sich die Umsturzwünsche verschiedener Personen und Gruppen mit der allgemeinen Enttäuschung über die Kriegsentwicklung und der Hoffnung, durch radikale Notmaßnahmen eine militärische Wende erzielen zu können. Der zweite Umsturz 404 fand hingegen in einer verzweifelten Lage statt, in der Theramenes zusammen mit Lysander den Athenern deutlich machte, dass sie sich keine Hoffnungen auf den Fortbestand der demokratischen Ordnung machen durften. Die Enttäuschung über die Niederlage im Peloponnesischen Krieg verband sich dabei mit der Enttäuschung über den Verlust der Demokratie. Trotz anfänglicher Erfolge scheiterten jedoch beide Umsturzversuche. Die Verschwörer konnten zwar kurzfristig die Demokratie abschaffen, aber keine auf Dauer beständige Alternative zu ihr schaffen. Innenpolitisch gelang es ihnen nicht, Verfahren zu etablieren, die ähnlich effizient wie die demokratischen kollektiv verbindliche Entscheidungen hervorzubringen vermochten; die innere Geschlossenheit der neuen Macht­haber konnte nicht erhalten werden, stattdessen rieben sie sich in Flügelkämpfen auf und erwiesen sich als weitgehend handlungsunfähig. Hinzu kam eine fatale Kopplung von innen- und außenpolitischer Krise. 411 waren die zunächst angestrebte Rückführung des Alkibiades und das Bündnis mit Persien schon im Vorfeld obsolet geworden; die von den Oligarchen angestrebte Verständigung mit Sparta wurde als Hochverrat angesehen und scheiterte ebenfalls. Der Eid der abtrünnigen Flottenangehörigen auf Samos war bezeichnend: Thukydides zufolge schworen sie auf die Bewahrung der Demokratie, der Eintracht sowie auf die unverminderte Fortsetzung des Krieges gegen Sparta.83 Jedes dieser drei Ziele war den Handlungen der oligarchischen Verschwörer diametral entgegengesetzt; deren unausgegorenes, letztlich nur auf Machterhaltung ausgerichtetes ‚Programm‘ war schon nach kurzer Zeit völlig gescheitert. Weder für Athens innere Ordnung noch für das Verhältnis zu den Bundesgenossen und Kriegsgegnern konnten die Oligarchen überzeugende Lösungen anbieten. Noch offensichtlicher war dies beim zweiten Umsturz, wo die Machtsicherungsstrategie der ‚Dreißig‘ die völlige, dauerhafte Abhängigkeit von Sparta als Erzwingungsstab des als illegitim empfundenen oligarchischen Regimes indizierte.84 Auch hier hatten die Oligarchen keine längerfristige und vor allem auch keine attraktive Alternative zur demokratischen Politik anzubieten. Ihr plötzlicher und für viele Bürger überraschender Erfolg blieb an spezifische, nur momenthaft gegebene Ereigniskonstellationen gebunden und vermochte keinen strukturellen politischen Wandel einzuleiten. In der Praxis wie auch als politische Idee entpuppte sich die Oligarchie somit als nachhaltige Enttäuschung.

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Das vierte Ziel bestand darin, die ‚Vierhundert‘ als Feinde zu betrachten und nicht mit ihnen zu verhandeln: Thuk. 8,75,2: ἦ μὴν δημοκρατήσεσθαί τε καὶ ὁμονοήσειν καὶ τὸν πρὸς Πελοποννησίους πόλεμον προθύμως διοίσειν καὶ τοῖς τετρακοσίοις πολέμιοί τε ἔσεσθαι καὶ οὐδὲν ἐπικηρυκεύσεσθαι. Siehe hierzu Xen. Hell. 2,3,14 f.; 21.

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Der Städteenttäuscher Demetrios Poliorketes, Athen und das ambivalente Verhältnis zwischen König und Stadt im frühen Hellenismus Christian Rollinger 1. Einleitung: Die Rückkehr des Königs Wahrscheinlich im Frühjahr 295, im Monat Elaphebolion (März/April), kehrte König Demetrios, der ‚Städtebelagerer‘ (Poliorketes), nach Athen zurück.1 Es war keine wirklich blutige Eroberung, obschon der König seinem Beinamen alle Ehre gemacht, die Stadt seit dem Sommer 296 berannt und schließlich eingeschlossen hatte. Es war aber auch kein wirklicher Triumph, denn schon die bloße Tatsache, dass er die Stadt erneut hatte erobern müssen, war für Demetrios eine bittere Enttäuschung: Er hatte sie nämlich schon einmal befreit. Im Jahr 307 war er mitsamt einer stattlichen Flotte gekommen, um den mit seinem Konkurrenten Kassander verbündeten Philosophen-­ Tyrannen Demetrios von Phaleron zu vertreiben und der Stadt ihre Freiheit wiederzugegeben. In den folgenden Jahren blieb Athen dann die Basis des Demetrios für seine Feldzüge und Bemühungen im Westen. Nach der katastrophalen Niederlage bei Ipsos im Jahr 301 sollte sich Athen, der Ankerpunkt des antigonidischen Bündnissystems in Griechenland, aber vom König lossagen. Grund zur Enttäuschung hatte Demetrios also genug. Doch auch bei den Athenern hatte sich nach 307 zunächst Ernüchterung, dann Enttäuschung, schließlich Verbitterung eingestellt, so sehr, dass einer der Gegner des Demetrios, der Komödiendichter Philippides, seinem Hohn über die Parteigänger des Königs nach der Schlacht bei Ipsos und dem Zusammenbruch des antigonidenfreundlichen Regimes in der Stadt freie Bahn ließ; einige seiner Verse sind uns durch

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Das genaue Datum ist, wie fast jedes wichtige Datum der Diadochenzeit, heftig umstritten; das Minenfeld der Auseinandersetzung um die ‚hohe‘ und ‚niedrige‘ Chronologie müssen wir hier indes nicht betreten, denn für unsere Zwecke ist es nur am Rande relevant. Ich folge im Wesentlichen der Chronologie, die Wheatley / Dunn (2020) etabliert haben. Vgl. auch Thonemann (2005).

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Plutarch überliefert, und in ihnen verspottet der Dichter Demetrios unter anderem als einen Zuhälter im Tempel der Jungfrau Athene.2 Nun also, sechs Jahre später, war Demetrios zurückgekehrt und die athenischen Bürger, die kurz zuvor noch das bloße Reden über die Möglichkeit einer Annäherung an den König mit dem Tode bedroht hatten, fürchteten das Schlimmste. Die erste Begegnung mit dem neuen, alten Herrscher wird von Plutarch in der bekannten Vignette des in vielen Sinnen ‚tragischen‘ Königs Demetrios geschildert, der das Dionysos-Theater und das Fest der Dionysien nun nutzte, um seinen neuerlichen Herrschaftsantritt zu inszenieren und gleichzeitig zu moralisieren.3 Die Episode ist bezeichnend für das Verhältnis zwischen dem makedonischen condottiere und Athen: ein Verhältnis, welches von offenkundig unterschiedlichen Erwartungshorizonten und Enttäuschungen geprägt war, von Diskrepanzen zwischen dem, was man erwartet hat, und dem, was schließlich eintrat. Wieso war das so? Wie konnte es sein, dass ein Herrscher, der 307 mit so großem Enthusiasmus begrüßt worden war, der der Stadt große Wohltaten erwiesen hatte, nur rund sechs Jahre später, als er mit den Resten seiner Armee dort Zuflucht suchen wollte, vor buchstäblich verschlossenen Toren stand und, noch einmal sechs Jahre später, die verängstigte Stadt wieder zurückerobern musste? Der Prozess der inkrementellen, gegenseitigen Enttäuschung von Herrscher und Stadt ist das Thema dieses Beitrags, der versucht, aus der Feststellung dieser Enttäuschung eine analytisch fruchtbare Konsequenz zu ziehen. Dabei soll vor allem die erste Phase des Verhältnisses zwischen Stadt und König thematisiert werden, in der Demetrios wiederholt und über längere Zeit (wenn auch nicht ununterbrochen) in Athen residierte. Anhand seiner beiden Aufenthalte in Athen – 307/6 und, mit Unterbrechungen, 304–1 – sollen die Verlaufsformen und Etappen der Enttäuschung von Herrscher und Beherrschten skizziert werden. Dieser Prozess muss dabei im Kontext des sich etablierenden und entwickelnden hellenistischen Königtums betrachtet werden. Denn das Problem bei Demetrios und Athen und ebenso später bei Demetrios in seiner Rolle als König der Makedonen war nicht unbedingt – zumindest nicht ausschließlich –, dass der Herrscher sich den Erwartungen der Beherrschten verweigerte oder diese brach. Vielmehr werde ich im Folgenden argumentieren, dass die Enttäuschung über Demetrios als Herrscher daraus resultierte, dass überhaupt keine klaren Erwartungen bestanden bzw. dass die ‚traditionellen‘ Erwartungen an einen Herrscher sich in einem Umbruch befanden, der durch das Verschwinden der ‚klassischen‘ makedonischen Monarchie und das chaotische, unfertige, von Anläufen und Abbrüchen

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Vgl. Plut. Demetrios 12,4; 26,3. Philippides selbst hatte noch vor der Schlacht Athen verlassen oder war dazu genötigt worden, und hatte am Hofe des Lysimachos Zuflucht gefunden (IG II2 657 = Syll3 374); er war aber nur einer von vielen, die der Vertreibung des Demetrios aus Athen hoffnungsvoll entgegensahen. Zum ‚tragischen König‘ und den Dionysien s. Thonemann (2005) und vgl. die berühmte Beschreibung des theatralischen Auftritts bei Plut. Demetrios 34.

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geprägte Entstehen der ‚neuen‘ hellenistischen Monarchien ausgelöst wurde. Wie, schließlich, konnte Erwartungen entsprochen werden, wenn die Erwartungen unklar waren? 2. Flitterwochen in Athen: Der condottiere und die Polis (307/306 v. Chr.) Wenden wir uns zunächst der Anfangsphase zu. Im Jahr 307 ankerte eine antigonidische Armada bei Kap Sounion, während Demetrios selbst mit 20 Schiffen handstreichartig in den Piräus einfuhr. Nach kurzen Kämpfen im Hafen ließ Demetrios den Grund seines Kommens verkünden: die Befreiung Athens vom Tyrannen Demetrios von Phaleron.4 Der bewaffnete Widerstand kollabierte; die makedonische Garnison, die der Rivale der Antigoniden, Kassander, in Athen installiert hatte, zog sich in die Mounichia zurück; Demetrios belagerte sie und gleichzeitig das nahe Megara; der mit Kassander verbündete Tyrann Demetrios von Phaleron floh nach Theben.5 ­Megara und die Mounichia wurden eingenommen, geschleift und anschließend an Athen restituiert. Damit hatten Demetrios und sein Vater scheinbar den ersten Schritt zur Einlösung eines Versprechens gemacht, welches die Griechenstädte in den Jahren davor schon häufiger gehört hatten: Angefangen mit Antigonos, dem sich dann mehrere der Nachfolger Alexanders angeschlossen hatten, verkündeten die makedonischen Raub­ritter, den Poleis, die noch unter Alexander und vor allem unter Antipater und ­Kassander ihre Freiheit und Autonomie verloren hatten, diese wiederzugeben.6 Die gesamte Aktion der endgültigen ‚Befreiung‘ Athens nahm etwa einen Monat, vielleicht zwei in Anspruch.7 Anschließend zog Demetrios in Athen ein, sehr wahrscheinlich in einer sorgfältig choreographierten Prozession.8 Er erschien in der ekklesia, wo er die Wiederherstellung der Freiheit (ἐλευθερία) und der ‚väterlichen Verfassung‘ (πάτριος πολιτεία), also der Demokratie, sowie Freundschaft und Bündnis (φιλία καὶ συμμαχία) zwischen Athen und den Antigoniden verkündete.9 Der Aufbau der Ankündigung war wohlbedacht: Unter Antipater und Kassander, den beiden vorherigen ,Befreiern‘ Athens, waren stets zunächst die Symmachie mit den Makedonen sowie 4 5 6

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Plut. Demetrios 8,7; Polyain. 4,7,6; Diod. 20,45,1–2. Zum Verhältnis zwischen Kassander und Athen s. Dreyer (1999), 149–164, 180–184 (zu Demetrios von Phaleron); Landucci Gattinoni (2003), 111–124. Zum Regime des Demetrios von Phaleron s. O’Sullivan (2009a). Allgemein zum makedonischen Einfluss auf Athen s. Green (2003). Diod. 19,61,3; vgl. ebd. 62,1 f. zu einem ähnlichen Versprechen des Ptolemaios. Zum Freiheitsversprechen der frühen hellenistischen Könige s. Lehmann (1988); Dixon (2007); Wallace (2011) u. (2014). Es galt offensichtlich nicht für das eroberte Megara, welches man den Athenern ­unterstellte. Zur Chronologie des antigonidischen Angriffs s. Paschidis (2013), 123 f.; Wheatley / Dunn (2020), 118–122. Zur Ankunft des Demetrios s. Rose (2018), 265–270. Diod. 20,46,1–3; Plut. Demetrios 8,7; 10,1; Sud. Δ 431, s. v. Demetrios.

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eine zensusgebundene Einschränkung der vollen Bürgerrechte verkündet worden, dann die Präsenz einer makedonischen Garnison in Mounichia, unter Kassander auch die Einsetzung eines ‚Statthalters‘ (ἐπιμελητὴς τῆς πόλεως).10 Dagegen bemühte sich Demetrios offenkundig etwas mehr um die Athener: Die Mounichia war geschleift, Freiheit und Demokratie hergestellt, bevor ein Bündnis mit Antigonos verkündet wurde. Zudem versprach er den Athenern 150.000 medimnoi Weizen und Bauholz für 100 ­Triëren; das Versprechen wurde später von Antigonos bestätigt.11 Damit sollte den Athenern offenkundig das Potential der eben verkündeten Allianz gezeigt werden und in der Tat genoss die Polis eine Vorrangstellung in der antigonidischen Politik, von der sie profitierte: Chalkis und Imbros wurden ebenfalls restituiert, wahrscheinlich auch Lemnos, und in den epigraphischen Quellen finden sich in den folgenden Jahren Hinweise auf beträchtliche Geldzahlungen seitens der Antigoniden.12 Mehr noch als die Geldzahlungen waren es aber die Wiederherstellung der Demokratie, die Bereitstellung von Schiffsholz und die Restitution der strategisch wichtigen Inseln – mithin also die Rücknahme zumindest eines Teiles der Konsequenzen der desaströsen Niederlage Athens im Lamischen Krieg –, die die Erwartungen der Athener befeuert haben dürften, implizierten diese Handlungen doch die Möglichkeit der Rückkehr zu einem gewissen Maß an außenpolitischer Autonomie und Handlungsmacht.13 Allerdings sollte diese Erwartung gründlich enttäuscht werden: Demetrios und Antigonos mochten sich eines bekannten Vorwandes bedient haben, indem sie den Griechen ihre ‚Freiheit‘ zurückzugeben versprachen, doch das war natürlich keineswegs das eigentliche Ziel ihrer Politik. Ptolemaios hatte Ähnliches schon in den beiden vorherigen Jahren proklamiert, und die geforderte ‚Freiheit‘ erstreckte sich dabei natürlich vornehmlich auf die innere Verfasstheit der poleis, nicht auf deren außenpolitische Entfaltung.14 Wir sollten uns auch nicht von der Form der athenischen

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Rosen (1967), 86 f. Plut. Demetrios 10,1; Diod. 20,46,4. Vielleicht handelt es sich bei dem Schiffsholz, welches in Syll3 334 (305/4 v. Chr.) B, Z. 118–124 als Geschenk der Könige erwähnt wird, um die Einlösung dieses Versprechens; dagegen aber Paschidis (2008), 89, der das Holzgeschenk in den Kontext einer gleichzeitigen, also 305 erfolgten Restitution von Lemnos rückt. Chalkis: Syll3 328 (306/5 v. Chr.). Imbros: Diod. 46,4. Syll3 334 (305/4 v. Chr.) vermerkt, dass ein Gesandter namens Chionides nach Imbros und Lemnos reiste und dort eine bemerkenswerte Geldsumme eintrieb; die Restitution von Lemnos wird durch SEG 3 (1927) 117 (303/2  v. Chr.) bestätigt. Vgl. Paschidis (2008), 87–89. Zu den Geldzahlungen s. bspw. Syll3 334 B, Z. 105–108 (40 Talente). Zum Lamischen Krieg s. Schmitt (1992). Athens Niederlage in diesem Krieg war vor allem auch eine Niederlage zur See; vgl. Ashton (1977); Morrison (1987); Bosworth (2003). Zu den Folgen der Niederlage für Athen s. Poddighe (1997); Baynham (2003); Oliver (2003). Wheatley / Dunn (2020), 113–115. Ptolemaios’ Garantie von autonomia kai eleutheria an Iasos in Karien im Jahr 309 ist inschriftlich belegt (I. Iasos 2/3). Polyperchon hatte bereits 319 im Namen der Könige Phillip IV. und Alexander IV. eine Rückkehr der Griechenstädte zu ihrem Status quo zur Zeit des Korinthischen Bundes proklamiert, dabei aber das allwichtige Begriffspaar nicht explizit erwähnt (Diod. 18,56). Nach der Proklamation des Antigonos im Jahr 315, die erklärte, dass

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Restitution irreführen lassen; zwar wurde die antigonidische Politik in der ekklesia verkündet, womit vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit zu einem förmlichen psephisma suggeriert werden sollte, doch war es letztlich nichts anderes als die Proklamation eines Monarchen, der zwar noch keinen Königstitel trug, aber als solcher in Griechenland ebenso zu herrschen trachtete wie in Kleinasien und Syrien. Die athenische Reaktion war indes, zumindest für den Augenblick, mehr als en­ thusiastisch. Noch während die Makedonen Mounichia belagerten, hatte sich in der Polis Stratokles von Diomeia als einer der einflussreichsten Politiker etabliert.15 Vielleicht noch während der Volksversammlung und in Anwesenheit des Demetrios, in jedem Fall aber in einem unmittelbaren zeitlichen Kontext, war es nun Stratokles, der unerhörte Ehren vorschlug.16 Die im Wesentlichen von Plutarch und Diodor aufgelisteten Auszeichnungen lassen sich in drei Kategorien fassen, nämlich ‚übliche‘ Auszeichnungen, ‚göttliche‘ Ehren und solche, die die Organisation der Polis betrafen.17 Zu den (mehr oder weniger) ‚üblichen‘ Auszeichnungen gehörten: die Aufstellung von goldenen Statuen von Antigonos und Demetrios auf der Agora, in der Nähe der Tyrannentöter Harmodios und Aristogeiton;18 Ehrenkronen im Gesamtwert von 200 Talenten;19 die Verleihung des attischen Bürgerrechts.20 ‚Göttlicher‘ bzw. sakraler Natur21 waren dagegen der Ehrentitel als (Θέοι) Σωτῆρες;22 die Errichtung eines Altars für die Σωτῆρες;23 die mögliche Einsetzung eines ἱερεὺς

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alle griechischen Poleis frei, autonom und ohne Garnison sein sollten (Diod. 19,61,3 f.), folgte auch Ptolemaios (Diod. 19,62,1). Zu Stratokles von Diomeia und den Unzulänglichkeiten seiner Bezeichnung als ‚Demokrat‘ s. Paschidis (2008), 78–106; Luraghi (2014). Vgl. Luraghi (2014), 194 mit Anm. 8; Paschidis (2013). Die Kategorien sind an Wheatley / Dunn (2020), 129, 131, 135 angelehnt. S. ebd. 129–138 sowie Habicht (1970), 44–55 und Rose (2015), 163–166 für einen systematischen Abriss über die einzelnen Ehrungen. Plutarch überliefert zudem, dass die Athener Demetrios und Antigonos als erste als Könige anerkannten (Plut. Demetrios 10,3: πρῶτοι μὲν γὰρ ἀνθρώπων ἁπάντων τὸν Δημήτριον καὶ Ἀντίγονον βασιλεῖς ἀνηγόρευσαν). Paschidis (2013) hat demonstriert, dass Plutarch irrt oder gar bewusst verzerrt, sodass wir diese vermeintliche Ehrung hier ignorieren können; ähnlich Wheatley / Dunn (2020), 137 f. Diod. 20,46,2. Vgl. IG II3,1 853 (295/4 v. Chr.). Zu dieser zwar ‚üblichen‘, aber doch besonderen Ehrung – es war verboten, in unmittelbarer Nähe der Tyrannentöter andere Bildnisse aufzustellen – s. Brogan (2003), 195–197 mit Wheatley / Dunn (2020), 129 mit Anm. 13. Diod. 20,46,2. Vgl. Mikalson (1998), 79 f. Diese ist zwar nirgends explizit attestiert, muss aber wohl im Zusammenhang mit der Einrichtung zweier neuer Phylen, die ihren Namen trugen, angenommen werden. Vgl. Osborne (1983), T87 u. 88; Wheatley / Dunn (2020), 130. Vgl. hierzu allgemein Mikalson (1998), 75–104. Diod. 20,46,2. Die zusätzliche Bezeichnung als Θέοι ist nur bei Plut. Demetrios 10,4 überliefert, der betont, dass dies nur in Athen üblich gewesen sei. Daran sind Zweifel möglich; vielleicht projiziert Plutarch hier aus einer Zeit, in der göttliche Ehren für Herrscher längst zur Norm geworden waren, auf die Vergangenheit zurück. Zum antigonidischen Soter-Kult ab 307 s. immer noch grundlegend Habicht (1970), 44–48. Diod. 20,46,2. Vgl. Plut. Demetrios 12,4.

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σωτῆρων;24 die Veranstaltung von jährlichen Festspielen mit Prozession, die den Dionysien nachempfunden werden und den Namen ‚Demetrieia‘ tragen sollten;25 das Einweben der Porträts des Demetrios und des Antigonos in den peplos der Athene;26 die Designation aller Gesandten an Demetrios oder Antigonos als θεωροί;27 die Weihung zweier neuer Staatstriëren, der Antigonis und der Demetrias;28 die Verleihung des Ehrentitels εὐεργέτης an Demetrios;29 der Beschluss, Demetrios immer dann, wenn er die Stadt besuche, Ehren zu erweisen, wie man sie auch Demeter und Dionysos erwies, und denjenigen Bürger, der beim Empfang des Demetrios am extravagantesten auftrat, finanziell zu belohnen.30 Auf Antrag eines gewissen Dromokleides von Sphettos wurde zudem beschlossen, dass die Äußerungen des Demetrios als Orakelsprüche aufzufassen seien.31 Schließlich wurde eine Reihe von Ehrungen beschlossen, die einen Eingriff in die traditionelle Verfasstheit der Polis bedeuteten und vor allem auch den öffentlichen Kalender betrafen. Es wurden zwei neue Phylen gegründet, die Antigonis und Demetrias hießen; dies bedeutete einen erheblichen Eingriff in die Funktionsweise der athenischen Demokratie, denn die Phylen waren seit Kleisthenes ausschlaggebend für deren Funktionsweise.32 Jede Phyle entsandte 50 Männer in die Boule und übernahm eine von zehn Prytanien, die im zivilen Kalender der Polis nacheinander den Ratsvorsitz ausübten. Dieses System musste nun auf ein Zwölferprinzip umgestellt, die Boule auf 600 Mitglieder vergrößert werden.33 Der Monat Mounychion im lunaren Kalender der Stadt sollte in Demetrion, der letzte Tag des Monats in Demetrias umbenannt werden.34 Es ist schwer, diese Ehrungen in ihrer Quantität und Qualität nicht übertrieben zu finden, und so sind sie in der Forschung oftmals wahrgenommen worden: als extreme Form der Schmeichelei.35 Aber waren sie (nur) das? Zunächst gilt es, das Problem ihrer Überlieferung zu bedenken: Nicht in allen Fällen ist die Historizität über jeden Zweifel erhaben, lassen sich Plutarchs Behauptungen nachprüfen. Die chronologische Stauchung in seinem Bericht macht es darüber hinaus oft unmöglich, den genauen

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Plut. Demetrios 10,4. 46,1. Plutarchs Behauptung, dieser Priester habe den eponymen Archonten in seiner Datierungsfunktion abgelöst, ist wahrscheinlich falsch; es ist überdies aber insgesamt nicht sicher, ob diese Ehrung historisch ist. Vgl. Wheatley / Dunn (2020), 131 f. Diod. 20,46,2. Ihre Existenz ist zumindest punktuell belegt: Athen. 536a; Syll3 399 = Le Guen 2001, I 41–56 (Nr. 1). Diod. 20,46,2; Plut. Demetrios 10,5. Plut. Demetrios 11,1. FGrH 328 F 47 f. (Philochoros). Plut. Demetrios 9,1. Plut. Demetrios 12,1. Plut. Demetrios 13,2. Diod. 20,46,2; Plut. Demetrios 10,6. Vgl. zu dieser Reform Pritchett (1937); Bayliss (2011), 166 mit Anm. 37. Plut. Demetrios 12,2. Vgl. FGrH 328 F 166 (Philochoros). Bayliss (2011), 156–158.

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Zeitpunkt einer Ehrung zu bestimmen, sodass bei einigen Beschlüssen unklar ist, ob sie unmittelbar nach der Eroberung Athens getroffen wurden, bei Demetrios’ zweitem Aufenthalt in der Stadt, oder aber erst nach der Rückgewinnung Athens im Jahr 295.36 Der Beschluss, Demetrios als Orakel anzurufen, findet zum Beispiel eine auffällige Parallele in einem späteren Beschluss aus der Zeit seines zweiten Aufenthalts, in welchem die Anordnungen des Demetrios als in jedem Fall „vor den Göttern fromm und vor den Menschen gerecht“ geheißen wurden.37 Ob man aus dem Mounychion jemals wirklich den „Schmeichelmonat“ Demetrion gemacht hat, ist fraglich.38 Wie lange die Demetrieia zelebriert wurden, wissen wir nicht. Für Plutarch spielen diese Dinge indes auch keine Rolle; ihm ging es in seinem bewusst mit der Antonius-Biographie gepaarten Bericht darum zu zeigen, wie übermäßige Ehrungen und Schmeicheleien nicht nur die Würde derer schmälern, die sie veranlassen, sondern auch den Charakter desjenigen schädigen, der sie annimmt.39 Einige Ehrungen lassen sich aber auch anders deuten. Anthony Bayliss hat darauf hingewiesen, dass man sie weniger als Ausdruck einer unterwürfigen Schmeichelei denn als einem spezifisch athenischen politischen Kontext verhaftet interpretieren könne. Laut Plutarch sei zum Beispiel Demetrios bei seinem Anlanden recht spontan als Soter und Euergetes akklamiert worden.40 Stratokles, als Anführer der ‚demokratischen‘, Demetrios freundlich gesonnenen ‚Partei‘, konnte dahinter nicht mehr zurückgehen, sondern versuchte, mit den geschaffenen Tatsachen bestmöglich umzugehen, indem er den Status der Σωτῆρες gleichsam offiziell machte, dabei aber die Ehren für Demetrios mit konkreten Reformen verband.41 So mag z. B. eine Reform der Phylenordnung durchaus angezeigt gewesen sein, denn in den rund zweihundert Jahren seit Kleisthenes hatten sich die Bedingungen wesentlich verändert, einzelne Phylen waren gewachsen oder geschrumpft, sodass das ausgeklügelte System des Kleisthenes aus der Balance geraten war. Mit der Erweiterung der Phylen bestand nicht nur die Möglichkeit, den politischen Kalender besser in Deckung mit dem lunisolaren Kalender Athens zu bringen, sondern auch, die Struktur der Phylen selbst zu reformieren.42 In der Tat scheint genau das passiert zu sein.43 Paschalis Paschidis geht gar davon aus, dass die Vorbereitungen für solche Reformen schon vor der endgültigen Eroberung der Mounichia in den ersten Tagen des athenischen Jahres 307/6 stattgefunden ha-

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Für detaillierte Analysen der einzelnen Beschlüsse s. den Kommentar ad loc. der Demetrios-Vita in Rose (2015). Plut. Demetrios 24,8 f. Daubner (2008), 175. Vgl. Bayliss (2011), 166; Wheatley / Dunn (2020), 136. Plut. Demetrios 13,2. Plut. Demetrios 9,1. Bayliss (2011), 165–186. Zum attischen Kalender s. Meritt (1961), bes. 134–166 zu den Versuchen, die Zyklen der Phylen und Kalendermonate in Einklang zu bringen. Traill (1975), 32.

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ben müssen; ein fragmentarisch erhaltenes Dekret zeugt in seiner Deutung davon, dass der unter Demetrios von Phaleron abgeschaffte Zyklus der Prytanie-Sekretäre bereits mit diesem Jahre wieder begann; es war dabei gewiss kein Zufall, dass der im Dekret genannte Lysias aus dem Demos Diomeia stammte, dem auch Stratokles angehörte.44 Die Reform und Erweiterung der Boule führte nicht zuletzt auch dazu, dass mehr Athener am politischen Leben direkt beteiligt waren, was sicherlich im Sinne der wiedererrichteten Demokratie war, die man in den Jahren zwischen 307 und 295 mit großer Energie mit Leben zu füllen versuchte.45 Die gottgleichen Ehren, die Demetrios und Antigonos in Athen zuteilwurden, hatten keinen religiösen Hintergrund in dem Sinne, dass man ihnen göttliche Natur oder Charakteristika zugeschrieben hätte. Es war vielmehr ihr Potential im Dienst der Stadt, ihre Fähigkeit, spezifisch für Athen Dinge zu erwirken, die ansonsten nur die Götter erwirken konnten. Gottgleiche Ehrungen für Fremde, die sich um die Polis verdient gemacht hatten, waren schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ganz ungewöhnlich; sie sind auch als Ausfluss athenischer kultischer Traditionen nicht besonders erklärungsbedürftig.46 Für die ‚demokratische Partei‘ in Athen ebenso wie für den Demos als Ganzes waren die Gewinne, die Demetrios’ Ankunft im Piräus nach sich zog, durchaus ‚göttlich‘. Gerade die Wiederherstellung eines gewissen Maßes an außenpolitischer Betätigungsfreiheit, so schien es, wurde nicht nur dadurch indiziert, dass Demetrios keine Garnison in den Piräus oder die Stadt warf, sondern auch dadurch, dass er den Athenern Imbros, Chalkis und wahrscheinlich Lemnos zurückgab und Bauholz für eine Flotte von 100 Triëren zur Verfügung stellen ließ. Dass sich die Athener in all diesen Dingen irren sollten, mochten sie noch nicht ahnen, und in der Tat war die Anwesenheit des Demetrios unter ihnen zunächst, in dieser ersten Phase, ein Gewinn, keine Belastung, und dauerte auch nur kurz. 3. Interludium: Demetrios im Osten (306–304 v. Chr.) Bereits 306 wurde Demetrios von seinem Vater in den Osten zurückgerufen, wo er im Sommer vor der Stadt Salamis seinen Seesieg über eine Flotte des Ptolemaios errang, der von Antigonos zum Anlass genommen wurde, den Königstitel für sich und seinen Sohn zu beanspruchen.47 An diesem Sieg war auch eine athenische Flotten­abteilung 44 45 46 47

Paschidis (2013), 123 mit Literatur. Bayliss (2011), 102–106, 166. Mikalson (1998), 78–81. Zur Vergöttlichung verdienter Wohltäter s. immer noch grundlegend Habicht (1970). Zu den Ereignissen auf und um Zypern s. vor allem Diod. 20,46,5–53,2; Plut. Demetrios 15–17. Vgl. jetzt Wheatley / Dunn (2020), 146–177 für eine Analyse des Feldzugs und seines Nachgangs. Zur Annahme des Königstitels s. Diod. 20,49–52; Plut. Demetrios 15 f. Vgl. Errington (1978), 124 f.; Billows (1990), 155–160; Wheatley / Dunn (2020), 159–163.

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von 30 Schiffen beteiligt, erste Früchte der Zuwendungen der Antigoniden, die am Ende dann doch nicht ganz so selbstlos waren.48 Während seiner Abwesenheit im Osten, wo Demetrios anschließend die Belagerung von Rhodos unternahm, wurden den Athenern aber die engen Grenzen ihrer außenpolitischen Autonomie aufgezeigt. ­Diodor beschreibt, dass Athen und andere Poleis insgesamt 50 Gesandte nach Rhodos schickten, die Demetrios ersuchten, die Belagerung abzubrechen.49 Dieser gab aber erst nach einem gescheiterten Großangriff sowie vor allem aufgrund einer entsprechenden Anweisung seines Vaters den Kampf auf; das Ersuchen der Athener verpuffte. Die athenische Gesandtschaft wird gemeinhin – und sicher nicht unrichtig – mit der militärischen Situation in Griechenland in Verbindung gebracht. In der Tat hatte Kassander die Abwesenheit des Antigoniden zum Anlass genommen, seine eigene Vormacht in Griechenland wieder herzustellen, und hatte im sogenannten ‚Vierjährigen Krieg‘ auch Athen mehrfach berannt.50 Einen ersten Einfall konnten die Athener noch abwehren, doch in einem zweiten Versuch, wohl 304, wurden die Grenzfestungen Phyle und Panakton erobert, und vielleicht kam es auch zu einer Seeschlacht, bei der die Athener unterlagen.51 Die Lage war also durchaus ernst, und es ist wahrscheinlich, dass der Demos seine Soteres um Hilfe gebeten und dabei nicht nur Gesandte zu Demetrios, sondern auch zu Antigonos geschickt hatte. Vorrangig wird es den athenischen Gesandten also darum gegangen sein, antigonidische Unterstützung gegen Kassander zu erbitten.52 Aber der antigonidische Feldzug gegen Rhodos war darüber hinaus im Grunde nichts anderes als ein désavouement der vielproklamierten ‚Freiheit‘ der Griechen. Was Rhodos sich hatte zuschulden kommen lassen, war nicht etwa ein aktives Engagement gegen die Antigoniden, sondern lediglich die Verweigerung, aktiv am Zypernfeldzug gegen Ptolemaios mitzuwirken.53 Die Ereignisse warfen ein schlechtes Licht auf die von Antigonos seit 315 propagierte ‚Freiheit‘ und das muss auch den Athenern 48 49 50 51 52 53

Diod. 20,50,3. Zum Dank stiftete Demetrios nach der Schlacht 1.200 erbeutete Rüstungen an die Athener: Plut. Demetrios 17,1. Vgl. Arr. Anab. 1,16,6 f. mit Habicht (1997), 77. Diod. 20,98,2. Zum mangelnden diplomatischen Erfolg s. auch Plut. Demetrios 22,4; Diod. 20,99,3. Zu dieser Auseinandersetzung, deren Chronologie nicht zur vollen Zufriedenheit rekonstruiert werden kann: Ferguson (1911), 112–118; Habicht (1997), 74–76; Landucci Gattinoni (2003), 119– 123. Zu den Grenzfestungen s. Plut. Demetrios 23,3. Die bei Polyain. 4,11,1 erwähnte Seeschlacht zwischen Kassander und Athen, die zum Verlust von Salamis führte (vgl. Paus. 1,35,2), gehört wohl in diesen zeitlichen Kontext. Plut. Demetrios 23,1 erwähnt das Hilfegesuch erst nach dem Friedensschluss mit Rhodos. Plut. Demetrios 21,1: ἐπολέμησε δὲ Ῥοδίοις Πτολεμαίου συμμάχοις οὖσι. Diod. 20,82,2: μὴ βιάσασθαι τὴν πόλιν προπεσεῖν παρὰ τὰς συνθήκας εἰς τὸν πόλεμον πρὸς Πτολεμαῖον. Vgl. Wiemer (2002), 66–96; Pimouget-Pédarros (2011), 59–84. Zur vorherigen Symmachie zwischen Antigonos und Rhodos s. Diod. 19,57,3; 58,5; 77,2. Vgl. Hauben (1977), 323. Selbst nachdem sie sich Antigonos verweigert hatten, versuchten sie, den König zu beschwichtigen, indem sie ihm „große Ehrungen“ beschlossen und Gesandtschaften schickten; der König ließ sich nicht beschwichtigen (Diod. 20,82,2).

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schmerzlich bewusst geworden sein. Auch wenn ihre Gesandtschaft an Demetrios auf Rhodos nicht vorrangig den Zweck hatte, ihn wieder auf ihr Verständnis von eleutheria festzulegen, zeigte sie und zeigten die folgenden Ereignisse dennoch, dass Athen am Ende keine eigene Außenpolitik betreiben konnte. Eleutheria und autonomia waren nach innen gerichtete Werte, die im 3. Jahrhundert im Grunde Identisches meinten: die Möglichkeit einer Polis, sich eigene Gesetze und eine ‚Verfassung‘ zu geben.54 Solange eine ‚freie‘ Stadt sich in diesem Rahmen bewegte, begnügten sich die Antigoniden mit ‚soft power‘, äußerten Wünsche und beschenkten die Stadt. Sobald eine Polis aber meinte, eleutheria beziehe sich auch auf die äußeren Verhältnisse, bekam sie, wie Rhodos, die unmittelbare Macht der Diadochen zu spüren.55 4. Königsstadt (304–301 v. Chr.) Nachdem er den Feldzug gegen Rhodos abgebrochen hatte, kehrte Demetrios nach Griechenland zurück, drängte Kassander wieder nach Makedonien ab, ‚befreite‘ Chalkis und gab Athen Phyle und Panaktos, die beiden Grenzfestungen, zurück. Anschließend proklamierte er erneut die Freiheit aller Griechen diesseits der Thermopylen.56 Einen zwischenzeitlichen Abfall Boiotiens bestrafte er, indem er das seit langem zwischen Athenern und Boiotiern umstrittene Oropos an erstere übergab, und insgesamt scheint er versucht zu haben, Athen weiter zu stärken.57 Die Athener dankten es ihm, indem sie eine neue Runde an Ehrungen für ihn beschlossen, wobei nicht sicher festzulegen ist, ob die Ehrungen als Reaktion auf diese ‚Wohltaten‘ des Königs stattfanden oder vielmehr dazu gedacht waren, sie herbeizuführen.58 Die Entscheidung, ihm an dem Ort, an dem er, in Athen angekommen, vom Wagen stieg, einen Altar als Demetrios Kataibates zu weihen, war im Grunde nun schon fast konventionell; es war nichts anderes als eine Ergänzung der gottgleichen Ehren, die er bereits 307 erfahren hatte, und mit der Verleihung der üblicherweise dem Zeus vorbehaltenen Epiklese des καταιβάτης wurde Demetrios’ göttliches Portfolio weiter diversifiziert.59 Unerhört war dagegen der Beschluss, Demetrios solle fortan im hinte54

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Vgl. Billows (1990), 194–197. Wheatley / Dunn (2020), 179 vermuten, dass Rhodos’ geostrategische Lage genau an der Sollbruchstelle eines antigonidischen Reichs mit zwei Kapitalen – Athen und Antigoneia am Orontes – den Ausschlag dafür gab, dass Antigonos die Eroberung der Insel beabsichtigte. Wheatley / Dunn (2020), 114. Plut. Demetrios 23. Zu Oropos s. ISE 8. Vgl. Rose (2015), 215. Paschidis (2008), 95. Plut. Demetrios 10,5; Clem. Alex. Protr. 4,54. Laut Plut. Mor. 338a ließ sich Demetrios auch als Kataibates anreden. Es ist unwahrscheinlich, dass der Altar bereits 307 gestiftet worden sein soll, obschon Plutarch dies zu suggerieren scheint, da Demetrios damals im Hafen gelandet war und es nicht einzusehen wäre, wieso die Athener zwei unterschiedliche Altäre und Epiklesen zur selben

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ren Teil (ὀπισθόδομος) des Parthenon auf der Akropolis residieren und damit gleichsam zum σύνναος der Athene aufsteigen.60 Es ist bereits vielfach gesehen worden, dass diese Auszeichnung gewissermaßen eine Präfiguration der später üblichen Praxis war, die Kultstatuen der zu Göttern erklärten hellenistischen Könige in den Tempeln traditioneller Götter (eben als σύνναοι) aufzustellen.61 Diese Entscheidung war, wie sich herausstellen sollte, keine glückliche. Überhaupt stand Demetrios’ zweiter Aufenthalt in Athen, vor allem der Winter 304/3, unter keinem guten Stern. Unsere Hauptquelle für die Ärgernisse ist Plutarch, der in seiner Absicht, das Bild des seiner Machtstellung und der beständigen Schmeichelei geschuldeten moralischen und charakterlichen Niedergangs des Demetrios zu zeichnen, auf dem Antigoniden äußerst feindlich gesinnte Quellen zurückgreift. Demetrios verübte angeblich mit freigeborenen Knaben und Bürgerfrauen derartige Ausschweifungen auf der Burg, dass der Ort damals noch als rein gelten konnte, als er mit Chrysis, Lamia, Demo und Antikyra, den berüchtigten Dirnen, dort sein Lasterleben führte.62

In der Überlieferung, besonders bei Plutarch, zeigt sich die ganze Schwäche von Demetrios’ Charakter, der sich in den ruhigeren Wintermonaten seinem Hedonismus hingegeben haben soll. Die überlieferten Anekdoten und Schauergeschichten bedienen das ganze Repertoire antiker Dekadenz. Ein Junge namens Demokles, dessen schöner Körper die Aufmerksamkeit des Königs erregte, soll sich seinen Nachstellungen nicht anders als durch Selbsttötung zu entziehen gewusst haben.63 Sexuelle Gewalt war nämlich im griechischen Verständnis traditionell ein Attribut des Tyrannen, und genau als solcher soll Demetrios hier gezeichnet werden.64 Die von Plutarch beschriebene und Zeit hätten stiften sollen. Sinnvoller ist es doch anzunehmen, dass man nun, im Jahr 304/3, nach einer erneuten Ehrung suchte und dazu Demetrios den ‚Absteiger‘ fand. Vgl. Habicht (1970), 48 f.; Rose (2015), 165 f.; Wheatley / Dunn (2020), 130 u. 206. Zur Bedeutung von Dionysos für Demetrios s. Ehling (2000) sowie Holton (2014). 60 Plut. Demetrios 23,3. 61 Zu den synnaioi theoi grundlegend: Schmidt-Dounas (1994). Vgl. Nock (1930). Zum ähnlichen Vorgehen in der römischen Kaiserzeit s. Steuernagel (2010). 62 Plut. Demetrios 24,1: Δημήτριος δέ […] τοσαύτην ὕβριν εἰς παῖδας ἐλευθέρους καὶ γυναῖκας ἀστὰς κατεσκέδασε τῆς ἀκροπόλεως ὥστε δοκεῖν τότε μάλιστα καθαρεύειν τὸν τόπον, ὅτε Χρυσίδι καὶ Λαμίᾳ καὶ Δημοῖ καὶ Ἀντικύρᾳ, ταῖς πόρναις ἐκείναις, συνακολασταίνοι. 63 Plut. Demetrios 24,2. Die Episode kann kaum historisch sein: Die Existenz eines Demokles ist sonst nirgends belegt, und zu Recht wurde betont, dass ein Junge, dessen Name „Ruhm der Bürgerschaft“ bedeutet, der klassische Tugenden verkörpert, von dem weder Patronym noch sonst biographische Details überliefert sind und der sich lieber in einen Topf kochenden Wassers stürzt, als sich der Vergewaltigung eines Autokraten hinzugeben, doch viel eher eine Allegorie als ein wirklicher Mensch gewesen sein wird. Vgl. Wheatley / Dunn (2020), 209. 64 Vgl. Rose (2015), 218–220. Die von Plutarch bemühte Semantik (Demetrios 24,1. Δημήτριος δέ […] τοσαύτην ὕβριν εἰς παῖδας ἐλευθέρους καὶ γυναῖκας) betont den gewaltsamen Aspekt der ‚Ausschweifungen‘ auf der Akropolis, da ὕβρις bzw. das Verb ὑβρίζειν zur Terminologie der sexuellen Gewalt in der Antike zählten; vgl. Doblhofer (1994), 5–7 mit Anm. 7. Zu Tyrannen und sexueller Gewalt s. Holt (1998) und vgl. z. B. Hdt. 1.8–12; 3,80,5; Eurip. Suppl. 444–455; Plat. Rep. 10.571c9;

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betonte μεταβολή ist dabei eine doppelte: Die gottgleichen Ehren und die Allmacht seiner Position stiegen Demetrios zu Kopf und verdarben ihn endgültig, machten ihn zum Tyrannen; dies, sowie seine gelebte, wiederholte Asebie, entfremdete den König ‚seiner‘ Stadt. Dem Ort, an dem all diese Verbrechen und Ausschweifungen begangen worden sein sollen, wurde in diesem Kontext naturgemäß besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei wurde Demetrios’ Residenz im Opisthodomos des Parthenon vorrangig in einem kultischen Kontext gesehen, als letzte Steigerung der gottgleichen Ehren und gleichzeitig als letzte und schädlichste Stufe der Schmeichelei und als Hintergrund seines liederlichen Verhaltens.65 Die Erhebung zum Gott, aber vor allem die libidinöse Schändung dieses heiligsten Heiligtums der Stadt, so die von Plutarch tradierte Version, schockierte und entsetzte die Athener.66 Neben der religiösen und kultischen Bedeutung des Parthenon und der sehr wahrscheinlich historischen Empörung, die das Verhalten des Demetrios ausgelöst hat, gilt es aber auch, die politische Bedeutung des Ortes zu berücksichtigen. Wenn Plutarch sich über die ‚Verunreinigung‘ durch die Taten des Demetrios echauffiert, dann tut er dies nie in Bezug auf das Parthenon, sondern spricht immer von der Akropolis.67 Dies evoziert wiederum das Bild des Tyrannen, zu dessen Topoi in Athen es neben sexueller Gewalt gehört, dass er die Akropolis mit Bewaffneten besetzt.68 Wir dürfen schließlich kaum davon ausgehen, dass Demetrios alleine den Opisthodomos des Parthenon bewohnte. Der König musste auch im Winter 304/3 handlungs- und reaktionsfähig bleiben, musste einen Hofstaat und auch bewaffnete Leibwachen um sich haben, die doch wohl zumindest in gewisser Anzahl

Arist. Pol. 1311a22 f.; 1314b24 f. Zu Plutarchs Sicht vgl. Plut. Mor. 251a; 768e. Zu seinem Umgang mit Quellen in der Demetrios-Vita s. Rose (2015), 54–56. 65 Vgl. Plut. Demetrios 23,2: „Obschon diese [sc. die Athener] sich schon vorher an ihn verausgabt und jede erdenkliche Ehrung ihm zugewendet hatten, so brachten sie es doch auch jetzt fertig, neue und frische Schmeicheleien für ihn zu erfinden.“ 66 Zur Empörung der Athener s. Plut. Demetrios 24 u. bes. 26,3 mit dem überlieferten Spott des Phillip­­ pides über Demetrios, „der die Akropolis für eine Kneipe hält und Dirnen einführt bei der jungfräulichen Göttin“ (ὁ τὴν ἀκρόπολιν πανδοκεῖον ὑπολαβὼν | καὶ τὰς ἑταίρας εἰσαγαγὼν τῇ παρθένῳ). Eine problematische und sehr unsichere Äußerung des Clemens von Alexandria (Protr. 4,54,2–6), eines christlichen Apologeten des 2. Jahrhunderts, hat man gelegentlich zum Anlass genommen zu vermuten, Demetrios habe die Hetäre Lamia in einem kultischen Zeremoniell geheiratet (hieros gamos), doch viel eher haben wir es hier mit einem späteren Missverständnis zu tun als mit einem wirklichen Vorgang. Ogden (1999), 263 f. u. (2009), 15–17 für einen hieros gamos; dagegen Nock (1930), 4; O’Sullivan (2008); Wheatley / Dunn (2020), 208. 67 Plut. Demetrios 24,1. 68 Vgl. etwa Hdt. 5,64; 71 f.; Thuk. 1,126; Athen. Pol. 15,4 u. 19,5. Nach der Schlacht bei Ipsos und der Abwendung der Athener von Demetrios scheint es in der Stadt zu einer Stasis zwischen den Anhängern des Charias und des Lachares, dem späteren Tyrannen, gekommen zu sein, in dessen Verlauf Charias versuchte, die Akropolis zu besetzen; vgl. FGrHist 257 F 1–3 (= P.Oxy. 17,2082). Vgl. hierzu sowie auch für außerathenische Beispiele der Besetzung der Akropolis im Hellenismus Börm (2021).

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auch auf der Akropolis stationiert gewesen sein müssen,69 konnten sie doch schwerlich im Opisthodomos hausen, welches ein von der eigentlichen Cella des Parthenon durch eine Querwand getrennter Raum ohne Fenster, aber mit eisenverstärkten Türen war.70 Die Inventarlisten des Parthenon erwähnen goldene und silberne Gegenstände, Edelsteine, Perlen, Elfenbein, und der Raum war reich dekoriert.71 Im 5. und 4. Jahrhundert wurde er als eine Art sakrales Schatzhaus verwendet, und wahrscheinlich befand sich auch die Staatskasse dort.72 Das war nun der Raum, den Demetrios angeblich zu seinem Aufenthaltsort machte, sicherlich nicht zufällig oder aus Bequemlichkeit und sicherlich nicht nur, weil er sich für den kleinen Bruder der Athene ausgab, wie Plutarch berichtet.73 Es ist überdies fraglich, ob Demetrios wirklich gewöhnlicherweise das Parthenon bewohnt haben kann, vor allem angesichts des anzunehmenden Gefolges. Jedenfalls hatte er den Staatsschatz unter seine Kontrolle gebracht und residierte offiziell als basileus nun dort, wo in mythischer Vorzeit die basileis der Athener gehaust hatten. Die von Plutarch aufgelisteten weiteren Schandtaten des Demetrios in der ‚Königsphase‘ seiner Athener Zeit umfassen dann auch nicht zufällig noch eine Episode von pekuniärem Interesse: Einmal ordnete er an, 250 Talente aufzubringen, die er, als sie rücksichtslos eingetrieben worden waren, an Lamia und seine anderen Begleiterinnen verschenkt haben soll.74 Selbst Plutarch mag diese Geschichte nicht so recht glauben und erwähnt noch eine konkurrierende Version, nach der sie sich in Thessalien zugetragen haben soll.75 Wir haben es wiederum mit Tyrannentopik zu tun: Der ausschweifende Lebensstil des Herrschers wird mit der Ausbeutung der Bürger erkauft.76 Auf die Spitze getrieben wird es dadurch, dass das Geld am Ende in die unwürdigsten Hände, diejenigen der ‚Hetären‘, fließt. Deutlich werden die Unterschiede im Gebaren des Demetrios während dieser athenischen ‚Königsphase‘ in der Episode um Kleainetos.77 Laut Plutarch wurde dieser wegen nicht näher benannter Vergehen von der ekklesia zu einer Geldstrafe von 50 69 70 71 72 73 74 75 76 77

Vgl. Dreyer (1999), 151 mit Anm. 153 sowie Anm. 152 zu weiteren makedonischen Truppen auf den Langen Mauern. Vgl. Linders (2007). Der archäologische Befund des Parthenon ist allerdings notorisch schwierig zu interpretieren und mit Unsicherheiten behaftet. S. Harris (1991), 395–423 zu den Angaben der Inventarlisten. Hollinshead (1999), 210 f. Linders (2007), 777 nennt den Opisthodomos „the strong-room of Athens“. Vgl. allgemein Ferguson (1932); Linders (1975); Harris (1995), bes. 37. Plut. Demetrios 24,1 (über Athena als πρεσβυτέρα ἀδελφή). Wenig überzeugend scheint mir die Vermutung von Scott (1928), 218, Demetrios habe den Opisthodomos ausgewählt, weil es „the most spacious and attractive residence in Athens“ gewesen sei; das war es eben nicht. Zu Lamia s. Wheatley (2003); Wheatley / Dunn (2020), 163–171. Plut. Demetrios 27,1. Zu Plutarchs Zögern s. Cook (2001). Vgl. Athen. 12,542b–e. Der bei Aelian. 9,9 überlieferte Bericht, Demetrios habe 1.200 Talente jährlich an Tributen von den griechischen Städten eingezogen, ist irrig, wie Rose (2015), 237 zeigt. Vor Ipsos waren die Poleis nicht tributpflichtig; vgl. Billows (1990), 256–258. Plut. Demetrios 24. Zu Kleainetos s. Rose (2015), 220.

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Talenten verurteilt. Die Höhe der Strafe deutet darauf hin, dass es weniger um eine finanzielle Wiedergutmachung ging, sondern eher darum, den Kleainetos aus der Stadt zu vertreiben, denn 50 Talente waren von einer Privatperson kaum aufzutreiben. Der Verurteilte aber schaffte es, von Demetrios einen schriftlichen Straferlass zu erwirken, den er der Volksversammlung vorlegte.78 Schriftliche Anweisungen des Demetrios, sicherlich an Stratokles gerichtet, waren seit seiner Rückkehr aus dem Osten offenkundig zu einer Normalität geworden. Die überlieferten, von Stratokles durch die Volksversammlung gebrachten Ehrendekrete für philoi und Unterstützer des Königs aus dieser Zeit beinhalten jedenfalls nur noch sehr vage Begründungen, wieso die Ehrungen ausgesprochen wurden, berufen sich als Anlass nur auf das, „was der König an den Rat geschrieben hat“.79 Angesichts des schriftlich geäußerten Willens des Königs hatte die Volksversammlung keine Wahl und winkte seine Wünsche durch. So auch in diesem Fall: Die Begnadigung wurde akzeptiert, allerdings ergänzt um einen Beschluss, der es Bürgern in Zukunft verbieten sollte, schriftliche Mitteilungen des Königs der Volksversammlung zu überbringen. Damit aber überzog die ekklesia ihre Freiheit und versetzte Demetrios in Rage. Der Beschluss musste wieder kassiert werden, die Volksversammlung verurteilte überdies seine Unterstützer zu Exil oder Tod und beschloss endlich, dass alles, was Demetrios in Zukunft beschließen oder anordnen würde, als für die Götter heilig und für die Menschen gerecht gelten solle.80 Der Allmachtsanspruch des Demetrios zeigt sich in dieser Anekdote ganz deutlich, und es war diese Einmischung, die gleichsam organisch aus seinen anderen, leicht und nicht ganz zu Unrecht als ‚tyrannisch‘ interpretierbaren Verhaltensweisen hervorging, die zuerst die Ernüchterung, dann die Enttäuschung, schließlich den Widerstand der Athener – oder doch zumindest einiger von ihnen – provozierte. Eine solch politische Interpretation gilt selbst für einen der notorischsten Normverstöße des Demetrios: seine irreguläre Einweihung in die Eleusinischen Mysterien. Als Demetrios früh im Jahr 303 von seinen Feldzügen auf der Peloponnes zurückkehrte, äußerte er  – wiederum brieflich!  – den Wunsch, in die Mysterien eingeführt zu werden, allerdings in einer einzigen Zeremonie, ohne die eigentlich vorgeschriebenen zweistufigen Initiationsriten. Laut Diodor berief sich Demetrios explizit auf die Wohltaten, die er Athen erwiesen hatte (διὰ τὰς εὐεργεσίας), als er etwas verlangte, was im

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Die Schriftlichkeit des Beschlusses muss nicht unbedingt Einfluss auf unsere Datierung haben, wie Paschidis (2008), 96 f. und Rose (2015), 220 meinen; zwar ist es durchaus möglich, dass sich die Episode abspielte, während Demetrios 303 auf der Peloponnes operierte, doch spricht nichts dagegen, dass sich auch ein in der Stadt anwesender König 304 schriftlich äußerte, um seinen Willen durchzusetzen. Z. B. IG II2 486: Z. 11–15: [περὶ ὧν ὁ βασιλ]εὺς ἐπέστειλεν τεῖ [βουλεῖ καὶ τῶι δήμωι ἀ]ποφαίνων φίλον ε[ἶναι Εὔπολιν καὶ ὅτι ἄρ]ιστα τῶν β[α]σιλέ[ων ἐπιμέλεσθαι καὶ τοῦ δ]ήμου τοῦ [Ἀθηναίων ---]. SEG 36 (1986) 164: περὶ οὗ ὁ βασιλεὺς ἐπέ[στειλεν] τεῖ βουλεῖ. Vgl. Paschidis (2008), 98–102. Plut. Demetrios 24.9: ἔτι δὲ προσεψηφίσαντο δεδόχθαι τῷ δήμῳ τῶν Ἀθηναίων πᾶν, ὃ τι ἂν ὁ βασιλεὺς Δημήτριος κελεύσῃ, τοῦτο καὶ πρὸς θεοὺς ὅσιον καὶ πρὸς ἀνθρώπους εἶναι δίκαιον.

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Grunde übelster Götterfrevel war, ἀσέβεια. Plutarch beschreibt den Wunsch in diesem Kontext als ungesetzmäßig und ohne Präzedenzfall und reiht ihn ein in die „schockierenden“ und „widergesetzlichen“ Handlungen (πλημμελήματα καὶ παρανομήματα), die der König in dieser Zeit unternahm.81 Das willkürliche Agieren des Königs löste in Athen tiefste Bestürzung aus. Während Robert Parker das Vorgehen eine „lawless piety“ nennt, geht Richard Billows so weit, den „religious whim“ des Demetrios als „calculated to outrage religious feeling“ zu bezeichnen, dazu geeignet, „[to] dispel the goodwill he had previously acquired“.82 Dass Demetrios bewusst Widerstand provozieren wollte, können wir aber wohl ausschließen. Es wurden vielmehr in der neueren Forschung gute Gründe für den Wunsch des Demetrios identifiziert: Wenn die Initiation, wie nun sicher scheint, auf das Jahr 303 datiert werden kann und damit vor der Wiedereinrichtung des antigonidisch dominierten Korinthischen (oder ‚Hellenischen‘) Bundes stattfand, dann sind diese Gründe wiederum politisch.83 Der Zugang zu den Mysterien war nicht auf Athener beschränkt, sondern stand allen Hellenen offen – aber eben nur diesen. In gewisser Weise spielten die Mysterien damit für Demetrios eine ähnliche Rolle wie die Teilnahme an den Olympischen Spielen für frühere makedonische Könige: Seine Einweihung zeigte und betonte sein Hellenentum und seine rituelle Reinheit just zu einem Zeitpunkt, da er versuchte, die Griechen unter antigonidischer Führung in einem Bund zu vereinigen.84 Stratokles konnte mit Hilfe eines Taschenspielertricks erwirken, dass Demetrios innerhalb kürzester Zeit – wobei er den neuntägigen Reinigungsritus einhielt, sodass wir vielleicht von etwa zwei Wochen Gesamtdauer ausgehen können – beide Mysterien durchlief und final eingeweiht wurde.85 Der anti-antigonidische Komödiendichter Philippides dankte es ihm, indem er ihn als den Mann verspottete, der ein ganzes Jahr auf einen einzigen Monat verkürzt habe.86 Zwar kam es unmittelbar anlässlich der Ereignisse nur zu einem kurzen und folgenlos bleibenden Protest seitens eines Offiziellen der Mysterien, der im eleusinischen Kult das zweithöchste, erbliche Amt des Fackelträgers (δαιδοῦχος) innehatte. Doch auch wenn sonstiger Widerstand ausblieb –

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Vgl. Mari (2003) u. (2016). Parker (1996), 268. Billows (1990), 175. Cf. Mari (2016). In der älteren Forschung werden die Ereignisse häufig noch auf das Jahr 302, also nach der Gründung des Korinthischen Bundes, datiert (z. B. Billows [1990], 172–175; Kuhn [2006]). Die Konfusion geht auf Plutarch und Diodor zurück, die beide das Ereignis ins Jahr 302 setzen, doch spricht eine 1986 publizierte Inschrift (SEG 36 [1986], 165) kategorisch dagegen: s. Woodhead (1989) und jetzt, chronologisch richtiger, Paschidis (2008), 92 f.; Rose (2015), 234–236; Mari (2016); Wheatley (2020); Wheatley / Dunn (2020), 223 f. Rose (2015), 234 f.; Wheatley / Dunn (2020), 225. Landucci Gattinoni (1983) betont dagegen, Demetrios habe sich durch seine Aufnahme in die Mysterien als seinen Gegnern ‚moralisch‘ überlegen zeigen wollen (124: „una ‚patente‘ d’innocenza“). Zur Teilnahme des makedonischen Königshauses an den Olympischen Spielen s. Roos (1985); Borza (1990), 111 f.; Adams (2003). Plut. Demetrios 26,3 f. Plut. Demetrios 26,5. Vgl. Rose (2018), 273–276; Wheatley / Dunn (2020), 222–228.

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was hätten die Athener auch tun sollen? –, dürfen wir die Wirkung dieses religiösen Rechtsbruchs nicht unterschätzen. Im Normalfall wurden bereits kleinere kultische oder prozedurale Fehler im Zusammenhang mit den Mysterien geahndet, bis hin zu den drakonischen Strafen, die auf asebeia standen.87 Allein die Tatsache, dass man auf eine ausgeklügelte Kalenderspielerei zurückgriff, zeigt bereits, wie sehr den Athenern die reguläre Durchführung der Mysterien am Herzen lag, gegen die Demetrios nun eklatant verstieß. 5. Fazit: Die Aussichtslosigkeit eines Königs in Athen Demetrios’ Verhältnis zur Stadt hatte sich zwischen 307/6 und 304–1 verändert; sein Verhalten, aber auch seine Akzeptanz durch die Politen, unterschied sich in den späteren Jahren deutlich von der Phase der ersten Euphorie des ‚befreiten‘ Athen. Aber was hatte sich verändert? Wenn wir nicht auf Plutarchs moralisierende Sicht zurückfallen möchten, müssen wir nach einer besseren Erklärung für diese Entwicklung suchen. Ein Wandel in der politischen Ausrichtung der Antigoniden oder der Bedeutung Athens und Griechenlands für ihre Ziele, die die Veränderung im Verhältnis des Demetrios mit Athen erklären könnten, lassen sich nicht feststellen. Verändert hatte sich indes etwas anderes, und zwar etwas Bedeutsames, denn es legte den Grundstein für eine Misskommunikation, die zur gegenseitigen Enttäuschung führte: War Demetrios anfangs noch der Sohn eines einflussreichen und mächtigen Generals gewesen, so waren er und sein Vater nach 306 βασιλεῖς, Könige – zwar aus eigenem Recht und eigener Machtvollkommenheit, aber doch: Könige.88 Diese Statusveränderung war es, die zwischen Athen und Demetrios stand, denn sie stellte beide Parteien vor kommunikative Herausforderungen. Pat Wheatley und Charlotte Dunn haben kürzlich überzeugend gemutmaßt, Antigonos und Demetrios hätten in diesen Jahren zielstrebig einen Plan zur Errichtung einer dauerhaften Antigonidenherrschaft in Europa verfolgt, der, von Athen ausgehend, in der Wiedererrichtung des Korinthischen (oder: Hellenischen) Bundes kulminieren sollte. Solcherart abgesichert, sollte dann der westliche Teil des antigonidischen Reiches von Athen aus kontrolliert und beherrscht werden. Wenn wir diese Perspektive einnehmen, um die Ereignisse von 307 bis 301 zu verstehen, verändert es unsere Einschätzung der Rolle, die die Antigoniden für Athen vorsahen: Die Polis sollte die Königs-Stadt des Deme­

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Vgl. Mari (2003). Zwar berichtet Plut. Demetrios 10,3, die Athener hätten Demetrios und Antigonos bereits 307 als erste (πρῶτοι) als Könige angerufen, doch ist das höchstwahrscheinlich eine Rückprojektion Plutarchs, der später (18,1) die erstmalige Anrufung als Könige Aristodemos von Milet in den Mund legt, als dieser Antigonos die Nachricht vom Sieg des Demetrios bei Salamis überbrachte. Vgl. Rose (2015), 163.

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trios werden. Doch während es im Osten des ehemaligen Alexanderreiches bereits etablierte Residenzstädte gab, in denen die Diadochen tradierte und anerkannte lokale Muster von Königsherrschaft und Kommunikationsmodi zwischen Stadt und basileus weiterführen oder adaptieren konnten, gab es keine vergleichbare Tradition in Hellas. Das spartanische Doppelkönigtum bot sich aus vielerlei Gründen nicht an,89 und das makedonische Königtum ließ sich weder in seiner diffusen, oligarchischen Form vor Alexander noch in der von ihm etablierten, eher autokratischen Gestalt auf Griechenland mit seinen freien poleis und mächtigen Föderalstaaten übertragen.90 Es gab in Hellas schlicht keinen Modus legitimer monarchischer Herrschaft, den Demetrios hätte übernehmen können, und so musste er versuchen, einen zu schaffen. Er bemühte sich daher um neue Formen der Kommunikation und Interaktion. In gewisser Weise war das die Herausforderung für all jene nouveaux riches-Könige dieser Zeit, die, bei allen Gemeinsamkeiten dessen, was man, im Grunde irreführend, ‚das hellenistische Königtum‘ zu nennen pflegt, doch eben ganz unterschiedlich herrschten und herrschen mussten. Ein König war kein Pharao, ein βασιλεύς kein babylonischer Priesterkönig. Ein ‚hellenistisches Königtum‘ gab es so gesehen gar nicht; wohl aber unterschiedliche, verwandte Formen der Monarchie im Hellenismus. Das hellenistische, oder: vermeintlich ‚makedonische‘ an den neuen Königtümern überwölbte bereits vorhandene, primäre Ordnungskonzepte, die regional sehr unterschiedlich waren.91 In den Reichen, die sie etablierten, fanden die Nachfolger Alexanders entweder unterschiedliche und auch regional disparate normative Vorstellungen von und Erwartungen an Königtum vor – oder eben gar keine. Hierin liegt die Krux des antigonidischen Scheiterns in Athen. Sowohl der König als auch die Stadt irrten und verrannten sich in ihrem Herantasten an geeignete Kommunikationsformen. Gerade in der Angelegenheit um Demetrios’ Residenz auf der Akropolis ergibt sich in diesem Zusammenhang die am Ende vielleicht unlösbare Frage, wessen Idee das Ganze eigentlich gewesen sein mag. Denn es zeigt sich doch deutlich, wie unvereinbar die Präsenz des Demetrios auf der Akropolis mit dem Versuch sein musste, den neuen König und seine Macht in das politische Gefüge der Stadt einzugliedern. Sich einen König auf die Akropolis zu setzen, wäre wohl auch dem viel gescholtenen und mit Demetrios eng verbundenen Stratokles kaum in den Sinn gekommen, eben weil dies unbequem deutlich die tatsächlichen Machtverhältnisse offengelegt hätte. Wahrscheinlicher scheint mir deshalb, dass Demetrios selbst den Wunsch geäußert hat, auf der Akropolis zu residieren, eben in dem Bestreben, in Athen einen vorläufigen Hauptort seines Königtums zu etablieren und dafür neue, eigene Formen der Repräsentation zu schaffen. Es gab keinen Palast in Athen, daher ließ sich der König symbolisch auf der Akropolis nieder, die schon die mythischen Kö89 90 91

Siehe zum spartanischen Doppelkönigtum den Beitrag von Rohde in diesem Band. Zum makedonischen Königtum nach Alexander s. Monson (2020). Vgl. Gotter 2008, bes. 184–186.

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nige der Athener beherbergt hatte; dass er dabei als synnaos der Athene interpretiert werden konnte, wird ihn nicht gestört haben, umso weniger, als er ja auch Münzen mit dem Antlitz der Athene prägen ließ.92 Seine für die moralisch aufrechten Athener angeblich so schockierende Lebensweise, das Ausufernde, Ausschweifende seiner Hofhaltung, ist ein weiterer Aspekt, an dem sich die enttäuschende Fehlkommunikation aufzeigen lässt. Bei Plutarch werden im Zusammenhang mit der Hetäre Lamia, der Geliebten des Demetrios, die mit ihm auf der Akropolis schwelgte, zahlreiche Anekdoten überliefert. So soll sie im Namen oder im Auftrag des Königs Geld eingetrieben haben, um den extravaganten Lebensstil auf der Akropolis zu sichern; so effizient sei sie gewesen, dass sie sich den Spitznamen „Helepolis“ („Stadteinnehmerin“) eingehandelt habe.93 In seinem Kommentar zu der entsprechenden Stelle hat Thomas Rose darauf hingewiesen, dass die Kosten, die für die Bewirtung eines Königs nötig waren, als ruinös angesehen wurden; Beispiele reichen dabei von Xerxes bis zu Alexander, der laut Plutarch eine Aufwandshöchstsumme festsetzen musste, um seine Gastgeber vor dem Ruin zu bewahren.94 Ein Gastmahl, welches Lamia für Demetrios veranstaltete, war angeblich so extravagant, dass der Veranstaltung durch Lynkaios von Samos eine eigene Schrift gewidmet wurde.95 Diese Schrift ist leider verloren, doch die bei Athenaios erhaltenen Beschreibungen der Gastmähler makedonischer Adliger geben uns einen ungefähren Einblick in die Prachtentfaltung, die ein junger König wie Demetrios betrieben haben mochte.96 Solche Gastmähler sollten später einen der herausstechenden Orte für die Darstellung der τρυφή der hellenistischen Könige bieten, die ein so wichtiges Element in ihrem Repräsentationsgebaren waren.97 Aus Sicht des Demetrios gab es zudem durchaus auch Gründe, die nicht nur für seine Einweihung in die Mysterien sprachen, sondern gerade für seine irreguläre Initiation. Man kannte Präzedenzfälle hierfür, die ihm sicherlich schmeichelten und zudem nahtlos an seine gottgleiche Position in Athen anknüpften: Herakles, die Dioskuren, Theseus, Asklepios und schließlich niemand Geringeres als Dionysos selbst waren allesamt irregulär in die Mysterien eingeweiht worden.98 Das waren nun zugegebenermaßen mythische oder göttliche Gestalten. Genau das war aber der Punkt, denn indem Demetrios sich in diese ‚Ahnenreihe‘ stellte, machte er für sich eine ähnlich überhistorische, ja übermenschliche Stellung geltend.99

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Athene als Porträtbüste mit Nike auf dem Revers: z. B. Newell 1,4 f.; 7; 9 f.; 19; 21; 33; 35; 37. Als Athene Promachos: Newell 21,166. Plut. Demetrios 27,2. Plut. Alexander 23,10. Vgl. Rose (2015), 238. Zu dieser Schrift s. Dalby (2000), 374–376. Athen. 4,130d. Vgl. Müller (2009), 159–172. S. Rose (2015), 235 f. für Belege; Rose (2018), 275 f. Rose (2018), 275. Vgl. Wheatley / Dunn (2020), 226.

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Doch die Athener waren für nichts davon bereit. Für sie war das, was Demetrios in ihrer Stadt, auf ihrer Burg veranstaltete, eine diskursive Herausforderung: Ein fremder König hatte sich dort installiert. Abhängig von der politischen Einstellung lassen sich die Reaktionen der Athener als zwei unterschiedliche Arten der Reaktion auf diese sonderbare Situation interpretieren. Auf der einen Seite stand der Versuch, die königliche Machtfülle, der die Athener nichts entgegenzusetzen hatten, als quasi-göttlich zu interpretieren. So hat dann auch die Forschung den städtischen Herrscherkult des frühen Hellenismus als ein Mittel der Kommunikation zwischen Polis und König verstanden, als eine von den Städten – nicht den Königen – initiierte Reaktion auf die ‚neue‘ Form der hellenistischen basileia.100 Der Götterkult, der nun zum städtischen Herrscherkult erweitert wurde, war „the one model that was available to them for the representation of a power on whom the city was dependent which was external and yet still Greek.“101 External  – damit ist folglich nicht gesagt, dass die frühen Könige durch einen solchen Kult irgendwie in die politische Landschaft der Stadt zu inte­ grieren gewesen wären. Als Kommunikations- und Interaktionsmodell zwischen Polis und König war der Herrscherkult nämlich mit Ambivalenzen versehen, wie Steffen Diefenbach festgestellt hat: As a deity, the sole ruler was simultaneously both integrated into the polis and citizen body and ,pushed out‘ of it in a virtually dialectic fashion: he had no more a place in the polis than the classical gods, whose operating range was not limited to a single city.102

Wenn es also die Absicht der Athener gewesen sein sollte, Demetrios zum Quasi-Gott zu erheben, um somit seine Macht anzuerkennen, so konnte das im Angesicht der weiterreichenden antigonidischen Pläne für die Stadt nicht funktionieren. Die zweite mutmaßliche Reaktion ist die Folge einer Eigenheit der athenischen politischen Ideologie des 4. und 3. Jahrhunderts v. Chr., die hochgradig auf sich selbst fokussiert war. Nino Luraghi hat unlängst am Beispiel eines Ehrendekrets für Kallias von Sphettos gezeigt, dass auch Ereignisse im Bereich dessen, was wir ‚internationale Politik‘ nennen würden, diskursiv zu ‚inner-athenischen‘ Problemen umgedeutet wurden.103 Die Umstände, die zu Kallias’ Exil geführt hatten, werden im Dekret zu einer „Oligarchie“ erklärt; in Wirklichkeit ist damit die zweite Phase der antigonidischen Herrschaft über Athen gemeint, die Jahre von 295/4–287/6, in denen Demetrios mit Hilfe einer makedonischen Garnison direkte Autorität über die Stadt ausübte und die 100 Zum Herrscherkult u. a. Scott (1928); Taeger (1957); Habicht (1970); Price (1984). Vgl. auch die einschlägige Zusammenfassung bei Chaniotis (2003). 101 Price (1984), 30. 102 Diefenbach (2015), 146. 103 Luraghi (2018), bes. 220. Die Inschrift ist SEG 28 (1978), 60. Zu Kallias, einem in Athen geborenen philos der ersten beiden Ptolemäer, der nach Athens endgültigem Abfall von den Antigoniden 287 in seine Heimatstadt zurückkehrte, s. Shear (1978) mit einem ausführlichen Kommentar der genannten Inschrift.

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demokratischen Prozesse, die in der ersten Königsphase noch Bestand hatten, unterdrückt wurden.104 Die Tatsache, dass dieses Faktum im Dekret nicht angesprochen, ja ideologisch überdeckt wurde, ist bezeichnend. Sie resultiert aus der Notwendigkeit, Phasen externer Dominanz diskursiv zu kaschieren, und dieses Bestreben ließ nur eine Option, um diejenigen Phasen der athenischen Geschichte zu beschreiben, in denen die Demokratie nicht vollständig funktionieren konnte: eben als Oligarchie.105 Die Konstruktion der antigonidischen Direktherrschaft als κατάλυσις τοῦ δήμου, also als endogen ausgelöster Sturz der Demokratie, war Teil eines auf die eigene Vergangenheit rekurrierenden Sinnmachungsprozesses. Oligarchische Umstürze hatte es schließlich auch in der Vergangenheit gegeben, und das Bewusstsein, dass die Oligarchien früher oder später wieder durch eine demokratische Renaissance abgelöst worden waren, erlaubte der Polis den Glauben an die Möglichkeit einer ‚Eukatastrophe‘.106 Die bei Plu­ tarch greifbare Tradition der athenischen Entrüstung über Demetrios’ Verhalten ist letztlich ein Echo dieser ideologischen Grundeinstellung und geht auf die Demetrios gegenüber feindlich eingestellten Kreise zurück.107 Unter diesen Voraussetzungen wird die Misskommunikation zwischen König und ‚Königsstadt‘ besser verständlich. Zum einen wurde versucht, Demetrios in einen emischen politischen Kontext zu integrieren. Das geschah sowohl positiv als auch negativ, denn zumindest zu Beginn mag die Dankbarkeit der Athener gegenüber dem ‚Befreier‘ durchaus aufrichtig gewesen sein. Im Lichte der intensiven demokratischen Aktivität dieser Zeit und nach Maßgabe der skizzierten politischen Ideologie wurde Demetrios gleichsam in diese demokratische Renaissance ‚eingespannt‘. Wenn die neuen Phylen nach Antigonos und Demetrios benannt wurden, und wenn die Statuen der Antigoniden explizit in der Nähe der Tyrannentöter-Bilder aufgestellt wurden, dann kann das als Versuch interpretiert werden, aus einem Fremdherrscher diskursiv einen Mit- und Vorstreiter für die Demokratie zu machen und ihn auch so symbolisch zu ‚integrieren‘. In der zweiten Phase der Beziehung, nachdem Demetrios auch förmlich den Königstitel angenommen hatte, funktionierte diese positive Integration aber nicht mehr. Aus athenischer Sicht waren die Handlungen des Demetrios zwischen 304 und 301 nun ‚tyrannisch‘. Die auf der Akropolis stattfindenden Gelage, sexuellen Transgressionen und die Vereinnahmung sowohl des Schatzhauses der Polis als auch der Gelder ihrer Bürger muteten nicht nur sakrilegisch an, sondern konnten gar nicht anders wahrgenommen werden, denn als das Benehmen eines Tyrannen. Annika Kuhn hat schließlich 104 Vgl. Shear (1978), 53 f. Zu dieser zweiten Phase der antigonidischen Dominanz s. Dreyer (1999), 114–148, 164–167; Wheatley / Dunn (2020), 301–320. 105 Luraghi (2018), 220. 106 Luraghi (2018), 216 f. 107 Vgl. Paschidis (2008), 116–125; 153–159; O’Sullivan (2009b); Luraghi (2014); Wheatley / Dunn (2020), 118 mit Anm. 20; 143; 209. Der von Luraghi angesprochene diskursive Imperativ führte auch dazu, dass Politiker wie Stratokles von der Forschung mit teilweise irreführenden Bezeichnungen belegt worden sind, die die zeitgenössischen Diskurse aufgreifen.

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auch auf die Parallele zwischen der demetreischen Einweihung und der Profanierung der Mysterien durch Alkibiades im Jahr 415 hingewiesen.108 Damals wurde dieser der Mitschuld am Hermokopidenfrevel bezichtigt, und Thukydides gibt die Stimmung in Athen in bezeichnender Weise wieder: Und man nahm die Sache sehr ernst: Denn es schien ein Vorzeichen die Ausfahrt betreffend zu sein, und man glaubte, hinter dem Vorfall stecke eine Verschwörung mit dem Ziel eines Umsturzes und der Zerstörung der Demokratie.109

Daneben wurde er allerdings auch der Asebie verdächtigt, denn er soll beteiligt gewesen sein, als die Einweihungsriten der Mysterien bei einem abendlichen Gelage nachgeahmt worden seien. Laut Plutarch habe sich das Volk daraufhin gegen Alkibiades gewandt, denn beide Handlungen wurden als demokratiefeindlich interpretiert.110 Es ist nicht auszuschließen, dass Demetrios’ irreguläre Einweihung in die Mysterien Assoziationen und Erinnerungen an dieses schlechte Vorbild ausgelöst haben mag. Die Stadt hatte Ärger mit Demetrios, der in einem „unpleasant mix of interference, neglect and personal gratification“ in den Angelegenheiten des Demos intervenierte und, so muss man hinzufügen, dessen erklärte Absicht, sich als König zu zeigen und als solcher zu gelten, den Interessen der Stadt zuwiderlief.111 Die gegenseitige Enttäuschung von Herrscher und Stadt resultierte daraus, dass beide Kommunikationsabsichten nicht kompatibel waren. Wenn Demetrios seinen Willen über die Normen der Polis stellte, dann machte eine Kombination aus königlicher Allmacht, Repräsentation und religiösen Sonderrechten ihn im Kosmos der Athener zum Tyrannen, nicht zum König. Das musste enttäuschen. Literatur Adams, Winthrop L. (2003): „Other People’s Games: The Olympics, Macedonia and Greek Athletics“. In: Journal of Sport History 30, 205–217. Ashton, Neil G. (1977): „The Naumachia near Amorgos in 322 B. C.“. In: Annual of the British School at Athens 72, 1–11. Bayliss, Andrew J. (2011): After Demosthenes. The Politics of Early Hellenistic Athens. London/ New York.

108 Kuhn (2006), 266–269. 109 Thuk. 6,27,3. S. auch ebd. 28.2: „[Die Gegner des Alkibiades] verkündeten lautstark, auf den Sturz der Demokratie ziele die Sache mit den Mysterien ebenso wie die Hermenverstümmelung und nichts davon sei ohne Zutun des Alkibiades geschehen.“ Dazu Edmondson (2017), 206: „The performance of the Eleusinian Mystery ritual by Alcibiades in a private home was understood, not as the frivolity of a drunken aristocrat, but as a symbolic appropriation of the rites of the whole community for his own private use, just the sort of appropriation of public things for private use that marked the tyrant.“ 110 Plut. Alkibiades 19–22. 111 Bayliss (2011), 169.

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Der hellenistische König und seine enttäuschten Peers Königliche Ansprüche, aristokratische Erwartungen und die Reformen Agis’ IV. und Kleomenes’ III. Dorothea Rohde 1. Agis IV. und Kleomenes III. als reformerische Philosophenkönige? Das 3. Jahrhundert v. Chr. gehörte zu den turbulentesten Perioden der an Turbulenzen nicht gerade armen Geschichte Spartas. Auf einen traurigen territorialen Rest zurückgeworfen, zu einem kleinen Kern von Vollbürgern geschrumpft und von großer sozio­ ökonomischer Ungleichheit gekennzeichnet, kämpfte Sparta nicht nur um den verlorenen Einfluss auf der Peloponnes, sondern auch mit den Geistern der Vergangenheit: Sowohl Agis IV. (244–241) als auch Kleomenes III. (235–222) beriefen sich auf den legendären Gesetzgeber Lykurg und projektierten Schuldenerlass, Neuverteilung des verbliebenen Landes, die Verleihung des Bürgerrechts an tausende Fremde, die Einrichtung von Mahlgemeinschaften und die Reformierung des öffentlichen Erziehungssystems.1 Das waren ehrgeizige Pläne, deren versuchte Umsetzung zur Missachtung institutioneller Normen und zu Mord und Totschlag führten. Dabei erstaunt die Radikalität, mit der Befürworter und Gegner der Reformen agierten und die schließlich das Ende der beiden Könige besiegelte – selbstverständlich, so möchte man aus der Rückschau sagen. Dennoch hat sich die althistorische Forschung bisher nicht eingehend mit den Motiven der Reformkönige Agis IV. und Kleomenes III. auseinandergesetzt, sondern sie folgt im Großen und Ganzen dem Erklärungsmuster Plutarchs und unterstellt den beiden Königen restaurative Ambitionen mit fortschrittlichen Methoden unter philo-

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Siehe zu den ‚Reform-Königen‘ Fuks (1962a); Oliva (1971), 213–268; Shimron (1972), 9–52; Martínez-Lacy (1997); Lévy (2003), 277–291; Cartledge (1996); Cartledge / Spawforth (2002), 35–53; Welwei (2004), 327–338; Erskine (2011), 123–149; Thommen (2014), 139–144 und (2017a), 163–169; Shipley (2017); Herrad (2020), 85–90. Zur spartanischen Außenpolitik in dieser Zeit siehe Giannopoulos (2011), 159–181; Kralli (2017), 147–245; Shipley (2018), 54–73.

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sophischem Einfluss.2 Doch waren Agis IV. und Kleomenes III. tatsächlich so naive Philosophenkönige, dass sie glaubten, ihre Pläne wären geeignet gewesen, „den Staat und seine Bürgerschicht zu retten“3? Das wäre höchst ungewöhnlich: Denn Plutarch, unsere Hauptquelle für die Reformen der beiden Könige, war ein philosophisch gebildeter Schriftsteller, dem es vor allem um die Charakterzeichnung herausragender Persönlichkeiten zur moralischen Erziehung seiner Leserschaft ging.4 Dementsprechend fiktionalisierte Plutarch sein historisches Narrativ bis zu einem gewissen Grad,5 wie sich besonders eindrücklich an den Biographien der spartanischen Reformkönige in Gegenüberstellung zu den römischen Gracchen-Brüdern zeigen lässt.6 Zudem taten sich die Mächtigen der griechisch-römischen Antike auch sonst nicht mit der selbstlosen Sorge um die ökonomisch Benachteiligten hervor.7 Dementsprechend verliefen auch im hellenistischen Sparta die Konfliktlinien nicht entlang von Besitzgrenzen: „Die Armen“ oder „das Volk“ spielten in den von Plutarch geschilderten Konflikten jedenfalls nur eine untergeordnete und inkonsistente Rolle.8 Und die Aufnahme von einer so großen Zahl an Neubürgern, dass sie die „Altbürger“ quantitativ bei weitem überflügelten, scheint in einer aristokratisch-restriktiven Gesellschaft wie der spartanischen a priori ausgeschlossen zu sein. Kurz: Um einen stabilen, wenn auch von Ungleichheit gezeichneten Staat zu retten, nimmt man eine blutige stasis und die Gefährdung der eigenen Machtstellung in Kauf? Wenn aber auch schon den antiken Akteuren klar gewesen sein muss, dass die Maßnahmen vehementen Widerstand evozieren würden und allenfalls geringe positive Effekte auf Außenpolitik und gesell-

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So urteilt beispielsweise Thommen (2017a), 163: „Hier spielten aber nicht nur pragmatische Überlegungen eine Rolle, sondern auch der geistige Hintergrund der hellenistischen Stoa, die auf einen neuen gesellschaftlichen Ausgleich zielte und zugleich Bilder von einem ehemaligen egalitären Sparta pflegte, die man konkret zu verwirklichen versuchte.“ Vgl. auch Thomas (1974), 266: „Both kings were influenced by the philosopher Sphairos.“ Erskine (2011), 123, der urteilt, „that it was Stoicism which gave the Spartan revolution [i. e. die Reformen des Agis und des Kleomenes] its coher­ ency and potency“. Dementsprechend bezeichnet Shipley (2018), 54 in der Kapitelüberschrift die Reform-Könige als „military philosophers“. So Thommen (2017a), 163 (siehe vorherige Fußnote). Binder (2008), 11 f.; De Pourcq / Roskam (2016), 164 f. pointiert die communis opinio zusammenfassend. Siehe in diesem Sinne auch die Analyse der Agis-Biographie von Roskam (2005). De Pourcq / Roskam (2016), 165; 175–180. Grundlegend De Pourcq / Roskam (2016). Sprechendes Beispiel ist die kritische Analyse der Gracchischen Reformen, die mit denen der spartanischen Könige von Plutarch parallelisiert wurden: Auch für Tiberius Gracchus konnte gezeigt werden, dass er weniger an den sozialen Missständen seiner Zeit als an seiner politischen Karriere interessiert war. So grundlegend bereits Bleicken (1988). Zur Rolle des damos siehe auch Geske (2009). Die untergeordnete Rolle wird insbesondere bei Kleomenes deutlich: Der damos erscheint nur als Zuhörerschaft der königlichen Reden und nicht als Akteur. So auch Martínez-Lacy (1998), 102 f. Siehe zur literarischen Konstruktion De Pourcq / Roskam (2016), 172. Dementsprechend bezeichnet Fuks (1974), 73 die Reformen des Agis und Kleomenes als „classic example of a revolution guided from above by the heads of the existing political regime“.

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schaftlichen Frieden haben könnten, warum hielten sowohl Agis als auch Kleomenes an ihren Reformplänen fest? Diese Widersprüche scheinen Grund genug zu sein, um noch einmal eingehend nach den Motiven der beiden Reformkönige im Angesicht der innen- und außenpolitischen Problemstellungen ihrer Zeit zu fragen. 2. Die gesellschaftliche Situation nach der Schlacht von Leuktra Der Sieg der Thebaner über die Lakedaimonier bei Leuktra 371 v. Chr. bedeutete den Tod von etwa zehn Prozent der spartanischen Vollbürger.9 Die Dezimierung der Bürgerschaft verstärkte den ohnehin schon enormen Bevölkerungsrückgang und damit die Konzentration des Besitzes in den Händen einiger weniger Familien.10 Das Pro­ blem vergrößerte sich mit der Autonomie Messeniens im Jahr 368, als etwa die Hälfte des spartanischen Territoriums für unabhängig erklärt wurde. Dreißig Jahre später, als Philipp II. das Eurotas-Tal überfiel, wurde Sparta endgültig auf den Südwesten Lakoniens reduziert.11 Mit dem Verlust großer Territorien mussten wichtige, für das Bürgerrecht grundlegende Institutionen aufgegeben werden. Die agoge gab es nicht mehr und die syssitia hatten sich zu aristokratischen Bühnen ostentativen Konsums entwickelt.12 Ungleichheit des Besitzes hatte es auch während der klassischen Zeit gegeben,13 aber der Wegfall des Landbesitzes als Voraussetzung für das Bürgerrecht beeinflusste die Zusammensetzung der Bürgerschaft:14 Um die Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr., zur Zeit Agis’ IV., besaßen laut Plutarch nur noch 100 von 700 Spartiaten Land.15 Die angegebenen Zahlen lassen sich nicht wörtlich nehmen, aber sie spiegeln eine Tendenz: Nur ein kleiner Teil der Bürger verfügte über Landbesitz, während die Mehrheit mittellos (aporos) und deshalb verachtet (atimos) war.16 Die ökonomische ging mit einer sozio-politischen Ungleichheit einher: Die spartanische Gesellschaft bestand aus einer kleinen Elite, deren Mitglieder das Ephorat und

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Vgl. Decety (2018), 629 mit Tab. 1 und Fig. 2. Figueira (2018), 586. Siehe zum Zusammenhang von spartanischer Wirtschaftsordnung, Mindestzensus und Demographie Bresson (2021). Zum Mindestzensus siehe auch unten Anm. 14. Pol. 9,28,6 f.; 18,14,7; Paus. 3,24,6. Phylarchos FGrH 81 F 44. Molpis FGrH 590 F 2c. Vgl. Sphaios FGrH 581 F1. Grundlegend Hodkinson (2000). Das Vollbürgerrecht war an die (Natural-)Beiträge zu den syssitia gebunden (Aristot. pol. 1271 a; 1272 a; vgl. 1330 a), sodass Landbesitz als Voraussetzung für den rechtlichen Status als Spartiat gelten kann. Plut. Agis 5,4. Fuks (1962b), 249. Siehe dagegen Van Wees (2018), 206, der davon ausgeht, dass die genannten 600 Bürger nur einen („lykurgischen“) klaros besessen hätten, während die 100 Reichsten sowohl über einen („lykurgischen“) klaros als auch über zusätzliches Land verfügten. Plut. Agis 5,4.

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die gerousia besetzten und so die Politik dominierten,17 und denjenigen Spartiaten, die zwar an der Volksversammlung teilnahmen, aber als Klientel an die wohlhabende Elite gebunden waren.18 Vertikale und horizontale Bindungen hatten in der spartanischen Gesellschaft zwar eine lange Tradition,19 nun aber erhielt diese Tatsache eine größere Brisanz: Spartiaten mit geringeren Mitteln wurden in die ökonomische Abhängigkeit von einer Elite gedrängt, die ihren Zusammenhalt und damit ihre politische Dominanz stabilisierte, indem sie sich durch Adoption20 und Heiratsbündnisse21 vernetzte. Die Verfestigung vielfältiger Loyalitäts- und Abhängigkeitsverhältnisse verband sich also mit dem Rückgang der Bürgerzahlen und mit Besitzkonzentrationen. 3. Die Reformen – und ihr Scheitern Als rund 130 Jahre nach der Schlacht von Leuktra der neunzehnjährige Agis IV. die basileia übernahm,22 hatte sich die auf rund 700 Vollbürger geschrumpfte Gesellschaft also in eine von Ungleichheit, Patronage und Freundschaftsbeziehungen geprägte Plutokratie gewandelt. Der junge König, so scheint es, packte die Übel an der Wurzel. Als eine Reform der lykurgischen Verfassung deklariert und die offensichtlichen Missstände skandalisierend, initiierte er einen allgemeinen Schuldenerlass, die Neuverteilung der lakonischen Ländereien, die Verleihung des Bürgerrechtes an tausende Periöken und Söldner und die Neustrukturierung der Bürgerschaft in 400 oder 200 Mann starke syssitia.23 Das war harter Tobak. Dementsprechend heftig waren die Reaktionen. Die Opposition formierte sich naheliegenderweise in den Reihen der Elite, die sich mit Leonidas  II., dem Mitregenten aus dem agiadischen Königshaus, verband. Die Volksversammlung sollte die Entscheidung zwischen den beiden Königen bringen. Sie neigte – ebenfalls naheliegenderweise – dem Reformantrag des Agis zu. Dennoch konnten Kräfte innerhalb der Elite die gerousia oder die Ephoren dazu bewegen, die Abstimmung der Volksversammlung von einer Vorentscheidung der gerousia abhängig zu machen. Der Ältestenrat, in dem die angesehensten Familien der spartanischen Elite vertreten waren, war gespalten und entschied sich denkbar knapp, den Antrag zu 17 Prosopographische Untersuchungen zeigen, dass die Ephoren v. a. der Elite entstammten. Thommen (2014), 131 und (2017a), 91 f. Auch die Geronten stellten die „most elite of Spartan families“ dar, so Millender (2018), 460 f.; vgl. auch Arist. pol. 1306a. 18 Hodkinson (2000), 353–368. 19 Hodkinson (2000). 20 Hdt. 6,57,5. 21 Hodkinson (2000), 409–416. 22 Zur Thronbesteigung Agis’ IV. und der Diskussion seines Alters bei Herrschaftsantritt siehe McQueen (1990), 170–177. 23 Plut. Agis 8,2. Die Ränge der Spartiaten sollten mit Periöken und vermutlich Söldnern aufgefüllt werden. Cartledge / Spawforth (2002), 42. Zu den demographischen Aspekten der avisierten Reformen des Agis und Kleomenes siehe Doran (2018), 80–82.

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verwerfen. Daraufhin ließ ein mit Agis IV. verbündeter Ephor den opponierenden König Leonidas durch die Volksversammlung absetzen und exilieren. Als seinen Nachfolger bestimmte man seinen Schwiegersohn Kleombrotos, einen Agis-freundlichen Befürworter der Reformen.24 Die Reformgegner hatten mit Leonidas zwar einen wichtigen Verbündeten verloren, aber es gelang ihnen, im darauffolgenden Jahr die fünf Ephoren zu stellen – was für den Rückhalt innerhalb der Elite und die Macht der Opposition spricht. Die Ephoren klagten sogleich die Anhänger des Agis wegen gesetzwidriger Reformanträge an. Die beiden Könige, Agis und Kleombrotos, widersetzten sich jedoch, ernannten neue Ephoren und ließen die Hunde von der Leine: Sie bewaffneten Jugendliche, befreiten Gefangene und verbrannten die Schuldscheine auf der Agora.25 Zur Neuverteilung des Bodens kam es allerdings nicht. Denn als Agis außenpolitisch erfolglos blieb,26 erstarkten schließlich die Reformgegner und riefen den exilierten König Leonidas II. zurück.27 Von Freunden verraten, wurden Agis sowie seine Mutter und Großmutter verhaftet und von den Ephoren sowie Mitgliedern der gerousia zum Tode verurteilt28 – dies war ein Novum in der Geschichte Spartas und wahrscheinlich ein Überschreiten der Kompetenzen des Ephorats und der Geronten.29 Dass auch weibliche Angehörige des Königshauses den Tod fanden, lässt darauf schließen, dass hier nicht nur die politischen Pläne eines Königs bekämpft, sondern die führenden Persönlichkeiten einer politischen Gruppe ausgelöscht werden sollten.30 Das gelang offensichtlich nur zum Teil. Zwar wurde die Witwe des Agis mit Leonidas’ Sohn, dem Agiaden Kleomenes  III., verheiratet,31 um so einen Verbündeten auf den eurypontidischen Thron zu setzen, aber Kleomenes nahm einige Jahre später die Initiativen von Agis wieder auf. Dazu waren gewisse personelle Vorbereitungen nötig. Kleomenes  III., innenpolitisch gestärkt durch erfolgreiche Feldzüge,32 schickte potenzielle Gegner zum Wachdienst nach Arkadien33 und 80 weitere ins Exil.34 Er ließ die Ephoren von loyalen Anhängern töten,35 schaffte das Ephorat gleich ganz ab,36 installierte stattdessen wohl sechs patronomoi („Wächter über die althergebrachten Gesetze“) und verwandelte die gerousia in ein jährlich wechselndes Gremium mit 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Plut. Agis 9–12. Plut. Agis 12–13. Plut. Agis 15. Welwei (2004), 331. Plut. Agis 16,2. Plut. Agis 19 f. Plut. Agis 21,3. Vgl. auch Powell 1999. Plut. Kleomenes 1,1. Plut. Kleomenes 3–6. Plut. Kleomenes 7. Plut. Kleomenes 10,1. Plut. Kleomenes 8. Plut. Kleomenes 10.

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beschnittenen Kompetenzen.37 Dabei versuchte er noch nicht einmal die Volksversammlung von seinen Reformplänen zu überzeugen. Der Verweis auf die lykurgische Verfassung und die offensichtlichen Missstände genügten ihm als Legitimation. Einen königlichen Verbündeten besaß er in seinem Bruder Eukleidas, den er auf dem Thron der Eurypontiden installierte.38 Die Neuverteilung des Landes sollte dieses Mal 4.000 klaroi berücksichtigen. Das bedeutete zwar immer noch eine Ausweitung des Bürgerrechtes und eine anaplerosis mit mehreren Tausend Periöken und Söldnern, erscheint aber im Vergleich zu den Plänen von Agis geradezu maßvoll – nicht zuletzt da auch exilierte Gegner berücksichtigt werden sollten. Flankiert wurde die Neukonstituierung der Bürgerschaft mit einer Strukturierung in syssitia und der Wiedereinführung der agoge als Teil einer Militärreform nach makedonischem Vorbild.39 Das Glück wandte sich für Kleomenes allerdings in der Folge von außenpolitischen Misserfolgen. Nach der Niederlage der Spartaner in der Schlacht von Sellasia floh er nach Alexandria an den Hof des Ptolemaios Euergetes, wo er wenige Jahre später nach einem missglückten Aufstand freiwillig in den Tod ging.40 Damit waren die Reformen endgültig gescheitert. Beide Könige, Agis IV. und Kleomenes III., wurden sowohl in antiken Schriften, allen voran bei Plutarch, als auch in der modernen Forschung für ihre Reformen gelobt – strebten angeblich doch beide eine egalitäre Gesellschaft an.41 Gerade auf Kleomenes III. soll dabei der stoische Philosoph Sphairos eingewirkt haben.42 Aber kann ein solcher Einfluss wirklich den Willen zur völligen Umgestaltung der sozialen, ökonomischen und politischen Struktur Spartas erklären? Oder stand vielmehr hinter den Plänen die Absicht, Sparta zur alten Größe zu führen? Schließlich war die Hegemonie über die Peloponnes ein Anspruch Spartas, der auch veränderte außenpolitische Bedingungen überdauerte.43 Doch wenn ein solches Ziel hinter den Reformen stand: Warum ließen sich dann so wenige davon überzeugen, obwohl sich doch die Könige auf Lykurg beriefen und die lykurgischen Gesetze offensichtlich wirkmächtig waren?44 Möchte man im Angesicht ihres rigorosen Vorgehens nicht ganz an die hehren Motive der beiden Könige glauben, stößt man auf das Schweigen der antiken Autoren. 37 38 39 40 41 42 43 44

Paus. 2,9,1. Plut. Kleomenes 11,3. Plut. Kleomenes 11. Cartledge / Spawforth (2002), 48 f. Plut. Kleomenes 37. So Fuks (1962a). Plut. Kleomenes 2,2 f. Siehe zu den militärischen Aktionen der „Reform-Könige“ Shipley (2018), 54–73. Die Wirkmacht der „lykurgischen Gesetze“ lässt sich sogar in Inschriften nachweisen. Vgl. beispielsweise Hallof (2019), 180 (aus der Zeit um 290 v. Chr.): „Dem lakedaimonischen Stadionläufer gleich steht dieser hier, dem siegreichen und wohlberühmten Mann, Deinosthenes, (dem Sohn) des Deinosthenes, der Lykurgs Sprüche (φατά) alle bis ins Greisen(alter) hinein erfüllte. Trefflich nämlich hieß er Olympische Maße genau zu machen zur entferntesten Agora des gerechten Sparta.“

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So konzentrieren sich Plutarch und Polybios auf die revolutionären Maßnahmen und Militärexpeditionen der Könige. Über Agis’ politische Ambitionen vor seinen Reformplänen lassen sich nur Vermutungen anstellen, während Kleomenes bereits vor seiner projektierten Reform innenpolitische Gegner aus Sparta entfernte. Dies legt nahe, dass die Reformen zwar von einer imaginierten lykurgischen Ordnung inspiriert waren und durch sie legitimiert werden sollten, dass die fundamentale Neustrukturierung der sozialen, politischen und ökonomischen Ordnung aber gleichzeitig einen Versuch darstellte, die Widerstände innerhalb der Elite zu brechen, wie ein genauer Blick auf die einzelnen Reformvorhaben zeigt:45 Der Schuldenerlass: Er war eine naheliegende und multifunktionale Maßnahme. Vor allem in agrarischen und aristokratischen Gesellschaften stellten Kredite nicht nur ökonomische, sondern in gleichem Maße auch soziale Bindungen her. Das Verleihen von Geld und anderen Gütern war kein rein wirtschaftlicher Akt, sondern häufig ein Akt der Freundschaft zwischen Personen gleichen Ranges oder erzeugte eine patronale Verpflichtung zwischen Personen unterschiedlichen Ranges. Der Geldverleih eta­ blierte die Gegenseitigkeit als soziale Norm: Die Entgegennahme von Geld musste mit einer anderen positiven Handlung beantwortet werden und schuf somit dauerhafte Beziehungen mit moralischen Verpflichtungen. Und genau dies war im hellenistischen Sparta der Fall, wo die wohlhabende Elite durch Freundschaft, Heirat, Adoption, Symposien und Patronage untereinander verbunden war und darüber hinaus die übrigen Spartiaten an sich band. Die Neuverteilung des Landes: Als der effektivste, wenn auch nicht als der einfachste Weg, um wirtschaftliche Ungleichheit und auf ökonomischer Abhängigkeit basierende Verpflichtungen zu beseitigen, kann die Neuverteilung des Landes gelten.46 Allerdings 45

Plutarchs Bericht macht deutlich, dass die Konfliktlinie innerhalb der Elite nicht eindeutig zu bestimmen war und auch nicht klar entlang ökonomischer, altersbedingter und geschlechtlicher Grenzen verlief. So nennt der Autor drei unterschiedliche widerstreitende Gruppen: die Armen und die Reichen, die Jungen und die Alten, die Männer und die Frauen (vgl. Börm (2019), 74). Agis konnte dementsprechend drei sehr einflussreiche Personen aus anderen Familien gewinnen, die sich in Alter und ökonomischem Status unterschieden: seinen Onkel Agesilaos, Lysander (der später zu einem der Ephoren gewählt wurde) und Mandrokleides. Außerdem war die gerousia gespalten (Plut. Agis 9,1; 11,1), und die neu gewählten Ephoren opponierten gegen die Vorschläge des Agis – im Gegensatz zu den vormaligen Ephoren (Plut. Agis 12,1). All dies deutet auf uneindeutige Mehrheitsverhältnisse innerhalb der einflussreichsten Männer und ihrer Familien hin. Diese Interpretation der Ereignisse wird durch das Todesurteil gegen Agis als erstem König in der spartanischen Geschichte (Plut. Agis 21,3) sowie gegen seine Mutter und Großmutter (Plut. Agis 20,4) unterstützt, die als Frauen mit großem politischem Einfluss über ihre Klientel, Freunde und Schuldner charakterisiert werden (Plut. Agis 6,4). Wäre es allein ein Konflikt um politische Programme gewesen, hätte die Aufhebung der Reformvorschläge genügt. Aber Agis destabilisierte den Konsens der politisch relevanten Akteure, um politische Macht zu erlangen, und stellte daher eine Bedrohung für die Gemeinschaft als Ganzes dar. Die Heirat zwischen seiner Witwe und dem Sohn seines Rivalen war daher ein Akt, der die Einheit wiederherstellen sollte. 46 Zum Problem, welches Land eigentlich zur Umverteilung zur Verfügung stand, siehe Shipley (2017).

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bleiben in der praktischen Umsetzung viele Fragen offen, was vermuten lässt, dass dieser Reformpunkt eventuell nicht umgesetzt, sondern nur als Drohkulisse aufgebaut werden sollte.47 Jedenfalls ist die projektierte Neuverteilung des Landes für griechische Verhältnisse einzigartig: Der anadasmos stellt den einzig belegten Fall dar, in dem nicht allein das Land einer unterlegenen Bürgerkriegspartei zur Verteilung stand.48 Die Verleihung des Bürgerrechts an Periöken und Söldner: Die Aufnahme einer großen Anzahl an Neubürgern konnte die Bedeutung der alten Bindungen an die aristokratische Opposition quantitativ verwässern, das politische Gewicht der alten Familien mindern und den Königen zusätzlich eine loyale Klientel verschaffen. Dagegen war die Aufstockung der Bürgerschaft nicht unmittelbar geeignet, die militärische Kampfkraft zu erhöhen. Denn die militärischen Erfolge des Kleomenes basierten auf dem Einsatz von Söldnern.49 Diese nun in den Bürgerverband einzugliedern, besaß letztlich keine Vorteile – noch nicht einmal finanzielle.50 Wiedereinführung und Vergrößerung der syssitia: Im Gegensatz zu den alten Mahlgemeinschaften sollten die neuen erheblich vergrößert werden. Die Wiedereinführung zielte demnach darauf ab, die alten Bindungen aufzulösen und die Bürgerschaft neu zu strukturieren.51 Sie mussten als weiterreichende Eingriffe in das Privatleben aufgefasst werden, indem sie ein Distinktionsmerkmal, die Durchführung luxuriöser symposia, beseitigte. In dieser Perspektive lösten die projektierten Reformen zwar eine regelrechte stasis aus, die Konflikte aber bestanden bereits vorher – und wurden sogar bewusst verstärkt: Die Reformen kalkulierten die bestehenden Verwerfungen zwischen dem König und einflussreichen Familien Spartas ein und wurden so konzipiert, dass sie sich explizit gegen die widerständige Elite wandten. Der Kampf um die Machtverteilung innerhalb der plutokratischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Loyalitäts- und Abhängigkeitsverhältnissen erklärt so auch den vehementen Widerstand gegen die Maßnahmen und den unbedingten Willen der Könige, die Blutvergießen und Traditionsbrüche in Kauf nahmen und den Erfolg ihres politischen Programms mit ihrem eigenen Schicksal verknüpften. Als Schlüssel für die Interpretation der Vorgänge erweist sich das Konzept der Enttäuschung als analytische Kategorie: Der Konflikt zwischen den jeweiligen Thronin-

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Einen Eindruck, wie kompliziert eine faire Verteilung von Land sein konnte, vermitteln die lateinischen Agrimensoren. Siehe zu ihnen und den entsprechenden Verfahren Weber (1891). Cartledge / Spawforth (2002), 48. So Plut. Kleomenes 7,4 in dem Bericht vor den Reformen. Vgl. auch Plut. Kleomenes 27,2, wo von dem finanziellen Aufwand für Söldner und Bürger die Rede ist. Dasselbe lässt sich von der Verleihung des Bürgerrechtes an Periöken sagen: Periöken waren zur Heeresfolge verpflichtet; sie nun in das reguläre Bürgerheer einzugliedern, hatte nur finanzielle Nachteile, aber keine militärischen Vorteile. Ähnlich auch Cartledge / Spawforth (2002), 42. Vgl. zur desintegrativen Funktion der klassischen syssitia aufgrund ihrer geringen Größe von ca. 15 Mitgliedern Link (1998).

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habern einerseits, andererseits zwischen dem König und Teilen der Elite lässt sich als enttäuschte Rollenerwartung erklären. Entscheidend war die negativ wahrgenommene Diskrepanz zwischen den königlichen Ansprüchen und den aristokratischen Erwartungen, wie ein spartanischer König zu agieren und sich gegenüber den angesehensten Spartiaten zu verhalten habe. Denn das spartanische Königtum hatte einen fundamentalen Wandel bis in die hellenistische Zeit durchgemacht. 4. Das archaische und klassische Königtum Das spartanische Königtum war eine sonderbare Institution, nicht, weil es überhaupt Könige gab – und dann auch noch zwei –, sondern weil die königliche Stellung innerhalb der Verfassung eigenartig indifferent war.52 So galt der spartanische König beispielsweise Lukas Thommen als primus inter pares.53 Ebenso meinte Stefan Link, die Könige seien zwar gesellschaftlich privilegiert gewesen, hätten aber kaum politische Handlungsspielräume besessen.54 Und tatsächlich lassen sich viele Argumente für die Integration des Königtums in das Zusammenspiel der politischen Institutionen heranziehen.55 Grundlegend war die Dyarchie; beide Könige besaßen dieselben Kompetenzen, weshalb es in der Geschichte Spartas häufig zu interdynastischen Konflikten kam, wenn ein König die spartanische Politik in seinem Sinn gestalten wollte.56 Aber auch die anderen Institutionen (die Volksversammlung, die gerousia und das Ephorat) begrenzten die institutionellen, militärischen und richterlichen Kompetenzen der Könige.57 Zudem waren die beiden Könige Mitglieder der gerousia, deren Versammlungen sie jedenfalls nicht aufgrund institutioneller Kompetenzen zu dominieren vermochten.58 Nach Plutarch konnten die Geronten sogar einen mäßigenden Einfluss auf die Könige ausüben.59 Als größte Gegenspieler der Könige galten die jährlich wechselnden Ephoren, die sich wie die Geronten aus angesehenen Familien der spartanischen Elite rekrutierten.60 Aus diesem Grund schlossen Könige und Ephoren jeden Monat eine Art Ver52 53 54 55 56 57 58 59 60

Zum spartanischen Doppel-Königtum siehe Thomas (1974) und (1983); Carlier (1984), 240–324; Cartledge (2001); Carlier (2007); Millender (2009); Sahlins (2011); Thommen (2017a), 82–86; Millender (2018). Thommen (2017a), 86. Link (2004). Siehe auch Carlier (1984), bes. 275–279; Millender (2018), 459–464. Vgl. beispielsweise Hdt. 6,50 f.; 61–71,1. Zur institutionellen Einhegung der königlichen Macht siehe Carlier (1984), 249–315; Thommen (1996), 85–90. Millender (2018), 461. Siehe zu den Königen als Mitglieder der gerousia Carlier (1984), 271 f. Vgl. beispielsweise Plut. Lykurg 5,6 f. Vgl. auch Plat. nom. 691c–692a. Siehe oben Anm. 17.

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trag: Die Könige schworen auf die Gesetze, während die Ephoren einen Eid auf die Königsherrschaft ablegten.61 Die grundsätzliche Zustimmung der Ephoren zur Legitimität der basileia machte sie jedoch nicht zu königlichen Komplizen: Die Ephoren konnten die Könige zur Rechenschaft ziehen62 und angeblich sogar alle acht Jahre die Könige absetzen, falls die Himmelsomen negativ ausfielen.63 Ähnliches galt auch für die Volksversammlung. Sie besaß fundamentale Mitspracherechte, wenn es um die Verleihung oder den Entzug der Königswürde ging. Normalerweise herrschte das Prinzip der Primogenitur.64 Im Streitfall oblag es jedoch der apella, den König zu benennen.65 Ebenso konnte die Volksversammlung die Königswürde auf Initiative der Ephoren auch entziehen.66 Darüber hinaus konnten die Könige rechtlich belangt werden.67 Dies galt auch für Fehlentscheidungen auf Feldzügen.68 Zwar besaß der König im Feld uneingeschränkte Befehlsgewalt,69 doch wurde er von einem erst zehn-, dann dreißigköpfigen Gremium (symbouloi) beraten70 – oder eben kontrolliert, da der König bei seiner Rückkehr zur Rechenschaft gezogen werden konnte.71 Dazu kam eine ostentative Integration in die Vollbürgerschaft. Die Könige besaßen keine Insignien72 und bewohnten, wie die anderen Bürger auch, einfache Holzhäuser73 und nahmen ebenso an den syssitia teil.74 Insofern erscheint die spartanische Verfassung als „korporative Regentschaft der verschiedenen Gremien“75, wie es Lukas Thommen formulierte. Schon Aristoteles charakterisierte die spartanische basileia als institutionelle (kata nomon) Königsherrschaft mit eingeschränkten Befugnissen: Denn in der spartanischen Verfassung scheint das Königtum nicht über alles Herr zu sein, sondern [der König] hat, wenn er außer Landes geht, den Oberbefehl im Krieg und außer-

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Xen. Lak. pol. 15,7. Siehe auch Carlier (1984), 252 Anm. 87; 276. Xen. Lak. pol. 8,3 f. Die Möglichkeit, einen König aufgrund schlechter Omen abzusetzen, ist nur einmal im Zusammenhang mit den Reformen des Agis belegt (Plut. Agis 11,3 f.). 64 Hdt. 7,3. 65 Xen. hell. 3,3,4. Pol. 4,35,9. Der Übergang der Königswürde von einem zum anderen evozierte häufig interdynastische Konflikte, vgl. Carlier (1984), 240–248; Cartledge (2000), 100. 66 Thommen (2017a), 83. 67 Auch dies ist nur einmal belegt (Plut. Kleomenes 10,3): Hier verweist Kleomenes auf Ephoren, die Könige anklagen und verurteilen. Damit könnte natürlich auch Agis als Einzelfall gemeint sein. Zu einem weiteren Einzelbeispiel für die Einhegung königlicher Macht durch die Ephoren im Zusammenhang mit den Reform-Königen siehe oben Anm. 63. 68 Vgl. beispielsweise Hdt. 6,82. 69 Xen. Lak. pol. 13,10. Siehe zu den militärischen Kompetenzen der Könige Carlier (1984), 257–265. 70 Thuk. 5,63. Xen. hell. 3,4,2 und 20; 5,3,8 f. Nach 360 werden symbouloi nicht mehr erwähnt. Thommen (2017a), 85. 71 Carlier (1984), 284. 72 Carlier (1984), 273. 73 So zumindest Xen. Ag. 8,7. Paus. 3,12,3. 74 Carlier (1984), 267. 75 Thommen (2017a), 85.

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dem sind den Königen die Kulthandlungen zugewiesen. Dieses Königtum ist also wie ein souveränes und lebenslängliches Feldherrenamt.76

Zuständigkeiten in Krieg und Kult  – das klingt nach wenigen Kompetenzen, doch sind sie in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Denn zugespitzt formuliert war der spartanische König ein durch göttliche Abstammung legitimierter militärischer Führer mit religiösem Kommunikationsmonopol. Und tatsächlich lassen sich gute Argumente für eine herausragende, geradezu übermenschliche Stellung der spartanischen Könige anführen.77 Sie konnten sich auf Herakles als Stammvater berufen.78 Daher galten sie als Garanten und Schützer des Gemeinwohls, was sich im symbolischen Tod des Polislebens nach der Beerdigung eines Königs zeigt: Alle öffentlichen Aktivitäten wurden für zehn Tage ausgesetzt.79 Anschließend wurden die Könige entsprechend ihrer göttlichen Abkunft heroisiert.80 Die göttliche Abstammung prädestinierte die Könige zudem für bestimmte Priesterämter81 und die Durchführung öffentlicher Opfer,82 von denen sie Ehrenportionen erhielten.83 Ebenso übernahmen sie die Kommunikation mit den Göttern vor sowie während der Feldzüge.84 Zudem bestimmten die Könige die beiden Pythier und bewahrten die Orakel auf.85 Überhaupt besaßen die Könige weitere Vorrechte (gerea), die ihre herausragende Stellung sichtbar machten:86 Sie waren im Kampf von einer hundertköpfigen Garde umgeben.87 Abgesehen von den Ephoren mussten sich alle Spartaner vor den Königen erheben.88 Die Könige bestimmten über unverlobte Erbtöchter und überwachten Adoptionen.89 Ihnen oblagen die Verhandlungen mit Gesandten und sie vergaben Proxenien an geeignete Spartiaten.90 An der öffentlichen Erziehung mussten sie nicht

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Aristot. pol. 1285a (eigene Übersetzung): ἡ γὰρ ἐν τῇ Λακωνικῇ πολιτείᾳ δοκεῖ μὲν εἶναι βασιλεία μάλιστα τῶν κατὰ νόμον, οὐκ ἔστι δὲ κυρία πάντων, [5] ἀλλ᾽ ὅταν ἐξέλθῃ τὴν χώραν ἡγεμών ἐστι τῶν πρὸς τὸν πόλεμον: ἔτι δὲ τὰ πρὸς τοὺς θεοὺς ἀποδέδοται τοῖς βασιλεῦσιν. αὕτη μὲν οὖν ἡ βασιλεία οἷον στρατηγία τις αὐτοκρατόρων καὶ ἀίδιός ἐστιν. Vgl. zum Königtum als lebenslängliches erbliches Feldherrenamt auch Aristot. pol. 1285b. Carlier (1984), 292–301; zusammenfassend Millender (2018), 464–467. Hdt. 6,52,1; 7,204; 208,1; 220,4; 8,121,2; 9,33,3. Thuk. 5,16,2; Xen. Ag. 1,2; hell. 3,3,3; Lak. pol. 15,2. Hdt. 6,58. Carlier (1984), 272 f.; Sahlins (2011), 71 f. Xen. Lak. pol. 15,9. Cartledge (1988); Millender (2018), 472 mit weiteren Nachweisen. Hdt. 6,56. Siehe zu den religiösen Aufgaben der Könige Carlier (1984), 265 f. Xen. Lak. pol. 13,2–5; 11. 15,2 f. Carlier (1984), 267. Xen. Lak. pol. 13,2–5. Xen. Lak. pol. 15,5. Carlier (1984), 267–269. Siehe dazu auch Carlier (1984), 287–292. Hdt. 6,56,1,6 f. Carlier (1984), 261. Xen. Lak. pol. 15,6. Hdt. 6,57,4. Cartledge (2000), 108 f. Carlier (1984), 269 f.

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teilnehmen91 und sie beanspruchten bei den syssitia doppelte Portionen.92 Ebenso hatten sie ein Anrecht auf einen besonderen Anteil an der Beute93 und erhielten vielleicht einen basilikos phoros, der auf königlichem Land in Lakonien ruhte.94 Das – und eine geschickte Heiratspolitik95 – machte die Könige zu den reichsten Spartiaten und einflussreichsten Geldverleihern:96 Der Tod eines Königs bedeutete auch einen Schuldenerlass gegenüber dem Königshaus und der öffentlichen Kasse.97 Dabei hing es von individueller Autorität ab, ob sich der spartanische König eher als primus inter pares gerierte, oder er es vermochte, politische Freunde in Schlüsselpositionen im Ephorat oder in der gerousia zu positionieren und eine eigenständige Politik durch persönlichen Einfluss und politische Patronage durchzusetzen.98 Die faktische Macht der Könige ergab sich so aus der Bedeutung von Führungsqualitäten innerhalb der spartanischen Gesellschaft und entsprang im Einzelfall aus dem Vermögen, die eigenen materiellen und immateriellen Ressourcen auch zu nutzen.99 Insbesondere militärische Erfolge ermöglichten es den Königen, in allen anderen politischen und gesellschaftlichen Bereichen Einfluss zu erlangen und ihre jeweiligen Mitregenten zu dominieren.100 Die Ausschaltung des Königskollegen aus dem politischen Tagesgeschäft und die Ausweitung der Handlungsoptionen, die der Dyarchie101 und den autokratischen Zügen der spartanischen basileia seit jeher inhärent waren, lagen gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung des frühhellenistischen Königtums nahe und erhielten dadurch eine zusätzliche Dynamik. 5. Die spartanische Variante des hellenistischen Königtums Die Verbindungen der spartanischen Könige mit den hellenistischen Königsreichen auf der großen Bühne der Politik waren erstaunlich zahlreich.102 Areus I. (309/8–265) unterhielt beispielsweise gute Beziehung zu Ptolemaios II.,103 der ihm eine Statue in

91 Millender (2018), 472 mit Nachweisen. 92 Xen. Lak. pol. 15,4. 93 Hdt. 9,81; Pol. 2,62. 94 Plat. Alk. I 123a; Xen. Lak. pol. 15.3. Vgl. dagegen Oliva (1971), 60 f. und Cartledge (2002), 155. 95 Hodkinson (2000), 410–413. 96 Vgl. auch Xen. Ag. 4,4; Plut. Agesilaos 4,4. 97 Hdt. 6,59. 98 Siehe beispielsweise zu Agesilaos, der seine Machtposition ausnutzte, zusammenfassend Millender (2018), 465 f. 99 Millender (2018), 467 mit weiterer Literatur. 100 Carlier (1984), 284–287. 101 Carlier (2007), 49, der die Fragilität des Doppelkönigtums betont. 102 Zum hellenistischen König in Sparta siehe McQueen (1990); Palagia (2006); Walthall (2013); ­Pagkalos (2015); Stewart (2018). 103 IG II2 687+686 = SIG3 434/6 = HGIÜ II 323.

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Delphi weihte.104 Areus orientierte sich in offiziellen Verträgen an hellenistischen Vorbildern,105 unterschlug dabei den Namen seines königlichen Kollegen106 und ließ auch zum ersten Mal in der Geschichte Spartas eigene Münzen prägen – und das allein in seinem Namen. Die Silbertetradrachmen plagiierten noch dazu Prägungen Alexanders des Großen.107 Auch wenn die Münzen nicht für den Gebrauch innerhalb Spartas gedacht waren, dürfte auch der spartanischen Elite klar geworden sein, dass sich Areus dabei wie ein Diadoche gerierte.108 Areus pflegte zudem ein luxuriöses Hofleben, das Phylarch zu dem Kommentar veranlasste, jener würde mit dem Prunk des persischen Königs konkurrieren.109 Dazu gehörte beispielsweise die Patronage von Künstlern wie Eutychides, einem am seleukidischen Hof tätigen Schüler des Lysipp.110 Offensichtlich wurde Areus in der griechischen Welt als einer der hellenistischen Herrscher wahrgenommen, jedenfalls wurden ihm Verbindungen zum Hohepriester in Jerusalem nachgesagt,111 und die Eleer hielten inschriftlich eine Eulogie auf Areus I. in Olympia fest.112 Areus dominierte also seinen Mitregenten, kontrollierte die spartanische Politik und präsentierte sich dabei wie ein hellenistischer Herrscher. Leonidas  II. wiederum, der Gegenspieler von Agis  IV. und Vater des Kleomenes  III., hatte sich am Seleukidenhof aufgehalten113 und die Tochter eines syrischen Potentaten geheiratet, die er – selbstverständlich – bei seiner Rückkehr nach Sparta zurückließ.114 Wenn Leonidas später Agis  IV. tyrannischer Absichten beschuldigte,115 dann bezog er sich auf dessen autokratisches, unkollegiales Vorgehen und hatte dabei sicherlich auch die hellenistische basileia als abschreckendes Beispiel vor Augen. Und in der Tat gerierte sich Agis IV. wie ein Monarch, als er Leonidas ab- und die Ephoren ersetzte. Noch dazu entfaltete er, wie Areus I., ein regelrechtes Hofleben mit einer blühenden Kunstproduktion, die sich auf die königliche Patronage nach dem Vorbild

104 Palagia (2006), 208; Paus. 6,12,5; 15,8; Syll3 433; IvO 308: [βασιλεὺς] Π � τολεμαῖος βασιλέω[ς Πτολεμαίου] / [Ἀρέα Ἀκρο]τάτου Λακεδαιμονί[ων βασιλέα], / [εὐνοίας ἕ]νεκεν τῆς εἰς αὑτὸν [καὶ εἰς τοὺς] / [ξύμπαντας Ἕλ]ληνας, Διὶ [Ὀ]λ�υμ[π]ίωι [ἀνέθηκεν]. 105 Vgl. Walthall (2013), 135–140. 106 IG II2 687+686 = SIG3 434/6 = HGIÜ II 323. Stewart (2018), 390. Außergewöhnlich ist, dass Areus hier wiederholt „as a political entity separate from the Spartan polis“ angesprochen wird, so Millender (2009), 32. 107 Vgl. die Silbertetradrachme des Areus I. bei Pagkalos (2015), 154 Fig. 1: Auf der Vorderseite ist der Kopf des Herakles / Alexander mit dem Löwenfell abgebildet und auf der Rückseite befindet sich ein sitzender Zeus. Vgl. die nahezu identische Silbertetradrachme Alexanders ebd., 156 Fig. 6. 108 Pagkalos (2015), 152. 109 Phylarchos FGrH 81 F 44. 110 Palagia (2006), 208. 111 1 Makk. 12,7 und 19–23; Ios. ant. Iud. 12,225 f.; 13,167. Thommen (2017a), 162. Cardauns (1967) dagegen hält den Brief des Areus I. für Fiktion. 112 Paus. 6,12,5; 6,15,9. 113 Plut. Agis 3,6. 114 Plut. Agis 11,4. 115 Plut. Agis 7,5.

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der seleukidischen und ptolemäischen Königshöfe zurückführen lässt.116 Den hellenistischen Königshöfen entsprechend verhielten sich auch die Frauen in der Umgebung des Königs: Agis’ Großmutter und Mutter galten als die größten Landbesitzer Spartas, die Geld verliehen und über Klienten sowie Freunde verfügten und daher großen gesellschaftlichen Einfluss besaßen.117 Auch das Verhalten des Kleomenes ließ ihn offensichtlich als Autokraten erscheinen, sodass Polybios ihn nicht etwa als einen Reformer bezeichnet, sondern als einen Tyrannen.118 Überhaupt erweckt die basileia des Kleomenes den Eindruck einer hellenistischen Königsherrschaft, wenn auch in Anbetracht der realen außenpolitischen Machtkonstellationen einer zweitklassigen. Immerhin hatte sich sein Vater Leonidas II. eine Zeit lang am seleukidischen Hof aufgehalten und ließ Kleomenes ganz im hellenistischen Stil von einem Philosophen unterrichten – ‚unspartanischer‘ ging es kaum. Er suchte sich militärisch zu beweisen, reformierte zu diesem Zweck die agoge und gestaltete sie wie eine hellenistische Ephebie119 als eine militärische und intellektuelle Ausbildung.120 Er ließ als erster König Spartas sein Portrait auf Münzen prägen: Mit der Königsbinde geschmückt erscheint er so als hellenistischer Herrscher.121 Er unterhielt Künstler an seinem Hof122 und war auch sonst kunstinteressiert – jedenfalls plünderte er Statuen und Malereien aus Megalopolis.123 Um seine autokratische Stellung abzusichern, schaffte Kleomenes das Ephorat ab, besetzte den eurypontidischen Thron mit seinem Bruder als König zweiten Ranges und löste so die jahrhundertealte Dyarchie der beiden Königsfamilien auf. Folgerichtig betonte er in seiner Herrschaftsikonographie Herakles statt der Dioskuren124 und ließ sich als alleiniger Nachkomme des Herakles anreden.125 Die Dedikation einer Kolossalstatue des Herakles zeigt zudem, wie er die Kunst für seine politischen Zwecke einzubinden beabsichtigte.126 Die 116 Palagia (2006). 117 Plut. Agis 6,4. Dieser Notiz ist sicherlich mehr Glauben zu schenken als Berichten über ihr sonstiges heroisches Verhalten. Siehe zu den spartanischen Frauen in den idealisierenden Berichten Plutarchs und Phylarchos’ Powell (1999); Millender (2009), 28–31; 34 f. 118 Pol. 2,47,3. Martínez-Lacy (1997), 100. 119 Die spartanische Eigenheit der Ephebie bestand in ihrer langen Dauer im Alter von 14 bis 20 Jahren, wobei zumindest im kaiserzeitlichen Ägypten die Ephebie ab 14 Jahren geleistet wurde. Kennell (2015), 173 f. 120 Sphairos soll die Epheben und neoi unterrichtet haben (Plut. Kleomenes 11,2). Kennell (1995), 98–102. 121 Dabei ließ er sich offenbar von Antiochos I. inspirieren, so Palagia (2006), 209. 122 Palagia (2006), 213–215 zu einer Kolossalstatue des Herakles, die im Auftrag des Königs erschaffen worden sein muss. 123 Plut. Kleomenes 25,1. 124 Siehe dazu Palagia (2006), 206–208 und 213–215; Pagkalos (2015), 148–150. Damit setzte sich Kleo­ menes bewusst von den Dioskuren ab, die in archaischer und klassischer Zeit als Symbol der Dyarchie fungierten. Cartledge / Spawforth (2002), 63. 125 Sein nobles Verhalten führte man dementsprechend auf seine Abstammung von Herakles zurück (Plut. Kleomenes 13,2; 16,4). 126 Palagia (2006), 215.

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Weihung einer Statue zu seinen Ehren in Olympia machte zudem dem panhellenischen Publikum deutlich, dass Kleomenes als einziger König Spartas zu gelten habe.127 Die Ansätze einer Militärmonarchie, die Patronage über Bürger, die Heroisierung (wenn auch nach dem Tod) der Könige, ihre göttliche Abstammung, luxuriöses Hof­ leben, überhaupt der Hof als Ort für künstlerische und philosophische Patronage, die statuarische Präsenz in panhellenischen Heiligtümern und schließlich die ethischen sowie philosophischen Rechtfertigungen der politischen Maßnahmen – all das kennt man von anderen hellenistischen Königen und es zeigt, wie insbesondere Areus, Agis und Kleomenes die von Alexander geformte basileia in ihren Kontext adaptierten. Der spartanische König konnte sich dementsprechend als ein Prototyp des hellenistischen Königs sehen – auch wenn die Selbsteinschätzung mit der realen Bedeutung im Vergleich zu den anderen hellenistischen Königen nicht korrelierte. Schließlich war Sparta die einzige ‚echte‘ griechische Polis mit einem König – und das seit Anbeginn der Zeit oder zumindest seit den Herakliden. Der Einfluss und das Vorbild der hellenistischen Könige verstärkten also die autokratischen Tendenzen des spartanischen Königtums, die bereits vorher angelegt waren. Spartanische Könige mit Ambitionen mussten diese Tendenzen nur aufgreifen. Es ist dementsprechend kein Wunder, dass sowohl Agis als auch Kleomenes in den antiken Quellen als Tyrannen bezeichnet wurden. Ein autokratisches System widersprach jedoch den eingeübten Praktiken, also den Erwartungen, wie der König mit der spartanischen Elite umzugehen habe. Diese musste sich in ihrer Stellung bedroht sehen und war vom königlichen Verhalten daher enttäuscht. Gerade die Phase der Etablierung einer neuen Ordnung barg insgesamt ein erhöhtes Enttäuschungspotential, wie man beispielsweise an Demetrios, dem ‚Städte­ enttäuscher‘ sieht.128 6. Fazit: Der hellenistische König und seine enttäuschten Peers In diesem Licht lassen sich die Reformpläne des Agis und des Kleomenes und ihr Scheitern als Folgen unterschiedlicher Rollenerwartungen an die politische Machtverteilung innerhalb Spartas interpretieren. Die Radikalität, mit der die Positionen aufeinanderprallten, gründete schließlich auf dem Fehlen von Institutionen der Enttäuschungsabwicklung. Entscheidender Faktor war die Etablierung einer hellenistischen Monarchie. Die spartanischen Könige verglichen sich mit den hellenistischen Königen; diese waren sowohl Konkurrenten als auch Vorbilder.129 Die spartanischen

127 IvO 309: βασιλεὺς Π[τολεμαῖο]ς / βασιλέα [Κλεομένε]α / Λακεδαιμονίων [Διὶ Ὀλυμπί]ωι. 128 Vgl. den Beitrag von Rollinger in diesem Band. 129 Dies zeigt sich beispielsweise in der Betonung des Herakles durch die spartanischen Reform­ könige, die sich damit in mythische Konkurrenz zu den makedonischen Königen setzten. Pagkalos (2015), 149 f.

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Könige mussten vor diesem Hintergrund ihre außenpolitische Bedeutungslosigkeit als inadäquat empfinden: Waren die Spartaner nicht die einzigen ‚echten‘ Griechen mit einer Monarchie, noch dazu von alters her? Und wurde die spartanische Verfassung nicht ehemals als ideale politeia aufgefasst, auf der die Macht und der Ruhm Spartas beruhte?130 In dieser gedanklichen und außenpolitischen Konstellation lag es nahe, sich auf die lykurgische Tradition zu berufen, um unter veränderten Bedingungen an die alte Stellung anzuknüpfen. Die angestrebten, weitreichenden Reformen wären jedoch nur mit Unterstützung der Elite denkbar gewesen. Doch diese weigerte sich vehement, weil sie ihre machtpolitische Bedeutung nicht aufzugeben gewillt waren. Die einflussreichsten Familien, die sich bereits in klassischer Zeit als mikra ekklesia formiert hatten,131 verteidigten ihren materiellen Besitz, ihr soziales Prestige sowie ihren politischen Rang und nahmen den Wandel der politischen Ordnung zu einer hellenistischen basileia mit autokratischen Zügen nicht hin. Diese entsprach nicht ihren Erwartungen – weder ihrem Bild, wie ein spartanischer König sich zu gerieren und zu regieren habe, noch ihrer Vorstellung, welche Position sie selbst innerhalb des spartanischen Kosmos einnehmen wollten. Die Eliten sahen keinerlei Vorteile in den Reformen. Bei ihnen verfing daher auch nicht die Legitimationsstrategie, Sparta zur einstigen Größe zurückführen zu wollen  – wenn man ‚einstige Größe‘ außenpolitisch als militärische Erfolge und innenpolitisch als Umsetzung einer als lykurgisch begriffenen Ordnung auffasst. Denn einerseits bedeutete Sieghaftigkeit in der Logik der frühhellenistischen basileia auch einen innenpolitischen Machtzuwachs des Königs durch Akzeptanz breiter subelitärer Bevölkerungsgruppen.132 Andererseits hätten die Reformen auch keinen Effekt auf die Schlagkraft des Heeres gezeitigt – zumindest war die neu etablierte agoge dafür ungeeignet. Die öffentliche Erziehung umfasste entsprechend dem hellenistischen Trend nicht nur militärisches Training, sondern auch die Vermittlung von Bildung. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Anekdote, Kleomenes habe während eines Feldzugs ein Theater im Feindesland bauen und einen Agon veranstalten lassen.133 Die Verleihung des Bürgerrechts an Söldner und Periöken wiederum war zwar für diese Bevölkerungsgruppen ein prestigereicher Akt, trug aber nicht unbedingt zum außenpolitischen Erfolg bei – was insbesondere daran deutlich wird, dass Kleomenes bereits militärische Erfolge vor der Einbürgerung von Söldnern und Periöken errang,134 genauso wie seine

130 Vgl. beispielsweise Xen. Lak. pol. 1,1. 131 Thommen (2017a), 97. 132 Gehrke (1982). Vgl. auch das Urteil von Walthall (2013), 141: „It is evident that from the beginning of his reign Cleomenes relied on military leadership as a means to furthering his political aims.“ 133 Plut. Kleomenes 12,2. 134 Shipley (2018), 67.

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Siege nach der anaplerosis auf der Expertise der eingebürgerten Söldner beruhte – und nicht auf dem langjährigen Drill einer Bürgerarmee.135 Aber auch die Legitimation der Reformen als lykurgisch überzeugte die betroffenen Akteure nicht. Der Verweis auf Lykurg musste widersprüchlich und daher als vorgeschoben erscheinen,136 da die Neustrukturierung nur dem König nützte, den Eliten schadete und von den Subeliten nicht getragen wurde. Die Könige nutzten die lykurgische Ordnung als Prestigeprojekt, um Ansehen innerhalb der Riege der hellenistischen Könige zu erlangen und um gleichzeitig die auf informellen Strukturen basierende Macht einer enttäuschten Aristokratie zu brechen und sie in ein neues, den hellenistischen Verhältnissen angepasstes politisches System zu zwingen. Aus diesem Grund konnte Lykurg keine identifikatorische Macht entfalten und den Zusammenhalt innerhalb der Spartiaten stärken bzw. herstellen. Denn die lykurgische Ordnung wurde nicht beschworen, um Macht und Ansehen Spartas wiederherzustellen, sondern um Macht und Ansehen der Reform-Könige größer als jemals zuvor zu machen. Keiner – außer den Königen und ihren Vertrauten – wollte zurück in eine Vergangenheit, die der König nach seinem Willen und zu seinem Vorteil formte. Dass Agis und Kleomenes trotz massiver Gegenwehr die Reformen umzusetzen gedachten, zeigt, dass die Könige ihre jeweilige Machtvollkommenheit überschätzten. Demnach handelten die beiden Reform-Könige nicht aus philosophisch motivierter Philanthropie, sondern aus machtpolitischem Egoismus. Daher lässt sich das Urteil von Paul Cartledge, Agis wäre „high-minded, but impractical“137 gewesen, nicht nachvollziehen. Sowohl Agis IV. als auch Kleomenes III. hatten ihre eigene politische Agenda – und die Beseitigung von Armut und Ungleichheit aus moralischen Gründen gehörte nicht dazu.138 135 So urteilten Cartledge / Spawforth (2002), 49, dass sich die neue Armee bereits in den folgenden zwei Feldzugssaisons sehr gut behauptete. Das lässt sich nicht mit einer strikten agoge nach lykurgischem Vorbild erklären, sondern mit bereits trainierten Soldaten (also den ehemaligen Söldnern und nun spartanischen Bürgern) und der Ausrüstung nach makedonischem Vorbild. Auch die Einbürgerung von Periöken, um die quantitative Durchschlagskraft des Heeres zu erhöhen, überzeugt als Argument nicht. Schließlich waren Periöken ohnehin zur Heeresfolge verpflichtet. 136 Die Widersprüchlichkeit zwischen der Berufung auf Lykurg und Maßnahmen, die mit einer (vermeintlich) lykurgischen Ordnung nicht in Einklang zu bringen waren, sprang allenthalben ins Auge, wie beispielsweise das Prägen von Silbertetradrachmen, die Einbürgerung von Fremden im Gegensatz zur „lykurgischen“ xenelasia oder das Ersetzen der klassischen Hoplitenausrüstung durch die makedonische Kampfesweise mit Sarissa und leichtem Schild. 137 Cartledge (1996), 40. Seine Einschätzung spiegelt die Worte, die Plutarch Agis’ Mutter zuschreibt (Plut. Agis 20,4): „Mein Sohn, große Behutsamkeit, Sanftheit und Nachsicht haben Dich gemeinsam mit uns getötet.“ Vielmehr erscheint der philosophische Einfluss auf die Reformkönige als literarische Konstruktion. Denn die Idee einer stoischen Haltung der Könige, die Plutarch ihnen zuschreibt, kombiniert offensichtlich zwei literarische Traditionen: einerseits die Darstellung Phylarchs und andererseits der philosophischen und historiographischen Überlieferungen, die den spartanischen Kosmos als Verkörperung eines ausgewogenen Idealstaates ansahen. 138 Dies entspricht im Übrigen auch der Interpretation, die die Reformen der Gracchen erfahren haben, die Plutarch nicht zufällig mit Agis und Kleomenes parallelisiert hat: Auch für Tiberius Grac-

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Wenig Raum für ‚Enttäuschung‘ Robuste Dispositionen in der römischen Republik Uwe Walter Das Konzeptpapier der Tagung, auf die der hier vorgelegte Beitrag zurückgeht,1 definiert Enttäuschungen in der Fluchtlinie von Niklas Luhmanns Theoriedesign als „Diskrepanzen zwischen dem, was man erwartet hat, und dem, was schließlich eingetreten ist“. Die Diskrepanzen ließen sich in drei Kategorien einteilen: erstens „Diskrepanzen, die dazu führen, dass man die vorliegende Situation reflektiert und die unterschiedliche Situationsdeutung thematisiert“; zweitens „Diskrepanzen, die mit negativen Emotionen verbunden sind, die ein Ende kooperativen Verhaltens nahelegen“; drittens „Diskrepanzen, die, so man nicht bereit ist, eigene Erwartungen anzupassen, bis zum offenen oder gar gewaltsam ausgetragenen Konflikt führen können“. Impliziert ist dabei, dass die Enttäuschung aus Sicht des Betroffenen mit einem Schaden verbunden ist. Der erste Teil der Definition verweist auf den meist wenig beachteten, eigentlich positiven Wortsinn von Enttäuschung, nämlich das Ende einer Täuschung oder Selbsttäuschung, also eine Klärung und Befreiung, die einen Lernprozess auslösen und zu einer Neuorientierung führen können (ein ‚aufgeklärter‘ Umgang mit dem Erfahrenen). Der zweite Teil lässt auf das zuletzt stark beackerte Feld der Emotionengeschichte blicken, wobei die potentiell zerstörerische Wirkung von negativen Emotionen bereits in der antiken Philosophie vielfach thematisiert wurde; so war Zorn (ira) Gegenstand eines differenzierten Affektdiskurses und galt als machtvolles Hindernis auf dem Weg zu einer gelungenen Selbstformierung sowie als Bedrohung für das friedliche Miteinander.2 Auch der dritte Teil hebt die aus einer Enttäuschung erwachsenen Gefahren 1

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S. die Einleitung von Jan Timmer zu diesem Band sowie ausführlicher ders. (2022). Timmers Aufsatz wurde in den hier vorgelegten bewusst nicht mehr eingearbeitet und sollte vielmehr parallel gelesen werden. Die Beobachtungen und die These, wie sie im Folgenden umrissen werden, ergeben sich primär aus der Zusammenschau von bekannten Einsichten. Auf eine umfassende Literaturdokumentation und -diskussion zu geläufigen Ereignissen und Ereigniskomplexen ist daher verzichtet. – Alle Jahreszahlen im Text verstehen sich ‚v. Chr.‘ In der Philosophie wird, so resümiert Walde (2004), 1383, Zorn als ein „heftiger Affekt, der sichtbare Auswirkungen auf Körper und Seele zeitigt“ bestimmt. Wichtig für das vorliegende Thema

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für ein Gemeinwesen hervor. Dabei stellen die beiden zuletzt genannten Optionen Varianten einer und derselben Grundfiguration dar: In beiden löst die Enttäuschung keinen Lernprozess aus. Das Ende kooperativen Verhaltens (Option 2) liegt dann nahe, wenn die Verhältnisse insgesamt nicht zu ändern sind und lediglich auf einer Mikroebene reagiert werden kann; der auf die Spitze getriebene Konflikt (Option 3) wird real, wenn zumindest aus der Sicht des Ego die Möglichkeit besteht, ihn zu gewinnen und die Regeln zu ändern. Für die eine Option steht Scipio Africanus, der Rom den Rücken kehrte,3 für die andere Iulius Caesar, der Rom unterwarf. Zu berücksichtigen ist ferner, das wurde in den Diskussionen während der Tagung deutlich, dass Enttäuschung als Signatur eines Wahrnehmungs- und Handlungsprozesses stets einen Zeitindex hat und phasiert werden muss. Wäre es anders, müsste praktisch jede Amplitude momentaner und maximaler, sich durchaus auch vegetativ äußernder Enttäuschung eine folgenreiche Umsetzung in reaktive Handlungen nach sich ziehen. Verstreichende Zeit hingegen bringt verschiedene Optionen mit sich: zu jammern, Trost zu suchen, die Sache ruhig zu durchdenken, gegebenenfalls die Ursachen zu ermitteln, die eigenen Möglichkeiten zu wägen, Rat einzuholen,4 die Strategie zu ändern, ‚Bestrafungen‘ zu differenzieren, Vergeltung aufzuschieben oder zu planen usw. Beim Akt der Versöhnung (s. u. 3.6) spielt der richtige Zeitpunkt sogar eine entscheidende Rolle. 1. Lexikalisch-semantische Beobachtungen Ein möglicher Einwand gegen ‚Enttäuschung‘ als analytischer Schlüssel zum Verständnis der politischen Kultur der römischen Republik könnte lauten, dass im lexikalisch-semantischen Befund kein jedenfalls sofort hervorstechendes lateinisches Äquivalent zu finden ist, anders als etwa für einen zweifellos häufigen Grund von Enttäuschung, nämlich die Niederlage in ihren verschiedenen Varianten: in der Schlacht

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erscheint, dass die von Zorn bestimmte Gemütsverfassung zu antisozialen Handlungen dränge, zu Rache, Strafaktionen oder Gewaltanwendungen. Ursache von Zorn sei „eine reale oder imaginierte Kränkung oder Schädigung der eigenen Person, von Nahestehenden oder einer Gemeinschaft“ (ebd., auch das folgende Zitat), weswegen er häufig das Bestreben nach sich ziehe, Rache zu üben, was in jedem Fall den sozialen Zusammenhang bedrohe: „Der als Laster markierte übermäßige Zorn und seine Auswirkungen werden früh als ein Faktor der Destabilisierung oder Zerstörung zwischenmenschlicher Beziehungen und damit als Bedrohung für das Gemeinwesen gesehen. In der Tat sind die Diskurse über den Zorn solche der sozialen Zornkontrolle und zielen darauf ab, die Konsequenzen insbesondere der aus dem Zorn resultierenden Taten durch gesellschaftliche Konventionen einzuschränken. Die Zornfreiheit des Individuums ist seit der griechisch-römischen Antike Merkmal der Bildungsschicht, des Weisen beziehungsweise Frommen und der politischen beziehungsweise religiösen Klasse.“ Vgl. grundlegend Harris (2001) und Braund / Most (2003). S. zuletzt Beck (2019), 45–49 mit weiterer Literatur. Zur Rolle von Freunden bei vielen dieser Handlungsmöglichkeiten s. o. die Einleitung von Jan Timmer.

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(clades, strages, ruina), bei einer Wahl (repulsa) oder vor Gericht, generell Wörter wie calamitas, damnum oder offensio. Bohrt man etwas tiefer, so finden sich jedoch aus ganz verschiedenen Lebensbereichen durchaus interessante Belege, die zumindest in die gesuchte Richtung deuten. Der Ältere Seneca stellt fest, gefährliche Felsen täuschten die vota navigantium;5 hier ist also die religiöse Sphäre berührt. Aus dem bäuerlichen Bereich: Eine zu frühe Aussaat führe oft zur Enttäuschung (decipere) über die Ernte, eine zu späte regelmäßig.6 Häufig drücken Grabinschriften aus, ein zu früher Tod habe die Erwartungen von Hinterbliebenen getäuscht.7 Destituere bedeutet u. a. ‚jemanden im Stich lassen‘ und findet sich bei Livius mit exspectatio und spes konstruiert.8 Ähnliches gilt für fallere, ‚täuschen, betrügen, in die Irre führen‘.9 Die Beispiele haben gemein, dass sie in der Regel nicht die (kognitive, emotionale, aggressive) Reaktion auf die Diskrepanz in den Vordergrund rücken, sondern den zugrundeliegenden ‚objektiven‘ Tatbestand benennen, der die Erwartungen konter­kariert – die Reaktion ‚Enttäuschung‘ scheint eher impliziert zu sein. Diese kann hervortreten, wenn der Täuschende nur schwer personal zu denken ist, wie in dem Satz „Den Bauern hat der unfruchtbare Boden oftmals getäuscht.“10 Noch klarer stellt sich frustratio (‚Misserfolg‘) bei Varro dar: „Ich bete zu Lympha und Bonus Eventus, da ohne Wasser der ganze Ackerbau kärglich und trostlos ist, ohne Erfolg und ‚guten Ausgang‘ es jedoch vollends nur frustratio, keinen Ackerbau gibt.“11 Sehr hübsch ist eine Columella-Stelle zur Maultierzucht: Man finde Stuten zu dem besagten Zweck noch mit erträglicher Mühe; bedeutend größer ist die Mühe, einen Beschäler auszuwählen, weil das tatsächliche Ergebnis oft das Urteil des Prüfenden täuscht (frustratur). „Viele Beschäler, die nach außen einen hervorragenden Eindruck machen, bringen oft eine sehr schlechte Zucht zustande.“12 Frustrari scheint überhaupt einem lateinischen Äquivalent zu ‚enttäuschen‘ am nächsten zu kommen, findet es sich doch öfter direkt mit exspectatio, opinio oder spes verbunden; so schmeichelt Plinius einem Adressaten, der eigene Dichtungen noch zurückhält: Die lange und gespannte Erwartung dürfe er nicht län-

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Sen. suas. 2,1: inquietum omne quod circumfluit mare, fallentia cursus vada altioribus internata, aspera scopulorum et cetera quae navigantium vota decipiunt. Plin. nat. 18,204: festinatam sementem saepe decipere, serotinam semper. CIL 13,2174: pater  … amissione eius deceptus; CIL 5,7982: quae immatura morte decepta vix(it) ann(os) XIIII; vgl. ILS 2,7519: qui negotiando locupletem se speravit esse futurum spe deceptus erat. Vgl. Liv. 26,18,5; 35,19,4. S. die Belege für die Bedeutung „to belie the expectation of, disappoint (a person)“ im Oxford Latin Dictionary: OLD2 738 s. v. ‚fallo 4‘. Ov. ars 1,450: Sic dominum sterilis saepe fefellit ager. Varr. rust. 1,1,6: Nec non etiam precor Lympham ac Bonum Eventum, quoniam sine aqua omnis arida ac misera agri cultura, sine successu ac bono eventu frustratio est, non cultura. Colum. 6,36,3: Verum tamen equae dictos ut in usus minore cura reperiuntur, maior est labor eligendi maris, quoniam saepe iudicium probantis frustratur experimentum. multi admissarii specie tenus mirabiles pessimam subolem forma vel sexu progenerant […].

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ger enttäuschen (frustrari … non debes).13 Der lexikalisch-semantische Befund ergibt jedenfalls, dass Täuschung und daraus erwachsende Enttäuschung auf zwei zentralen, weil für die gesamte Gesellschaft und zu jeder Zeit relevanten Feldern benennbar sind, nämlich der Landwirtschaft im weiteren Sinn sowie der individuellen Lebensspanne. Nicht zu vergessen ist ferner die Sphäre des Rechts: Dort war die Vorstellung von einer bewusst und arglistig begangenen gesetzwidrigen Handlung – sciens dolo (malo), als Gegenbegriff zur bona fides – schon früh entwickelt. Naheliegenderweise führte eine solche Handlung bei Kontraktverhältnissen zu einer manifesten Enttäuschung des Vertragspartners,14 doch gleichzeitig wurde der Umgang mit dieser zweifellos dadurch erleichtert, dass zuverlässige Wege einer gerichtlichen Sanktion existierten (actio de dolo). 2. Wenig Raum, um Frust zu schieben: politische Kultur und aristokratischer Habitus in der römischen Republik Die eingangs zitierte Definition von Enttäuschung legt nahe, dass es sich um eine besondere Klasse von Reaktionen auf kontingenzhaftes Geschehen handelt. Das liefert für die in Rede stehende Epoche einen wichtigen Fingerzeig. Meine These lautet: In der politischen Elite der mittleren und späten römischen Republik – nur für sie sind mit einiger Zuversicht Aussagen möglich – spielte Enttäuschung als starker Auslöser von Handlungen lange Zeit nur eine begrenzte Rolle, weil sowohl auf der personalen Ebene (durch die Sozialisation und in der habituellen Disposition) als auch im Bereich der Institutionen und Routinen das Aushalten von Kontingenz und damit auch von Enttäuschungen sowohl erwartet als auch ermöglicht wurde, und zwar stärker als in vergleichbaren politischen Systemen mit Konkurrenzkonstellationen und aristokratischer Handlungsmacht. Ja, eine besondere „Contenance“, um mit Max Weber zu reden,15 sowie ein risikoaffines Verhalten, vergleichbar mit der Fahrt auf hoher See, 13 14

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Plin. epist. 2,10,2; vgl. OLD2 813 s. v. ‚frustror 2b‘. Vgl. Mommsen (1899), 86–88. Der Jurist Servius Sulpicius definiert dolus als machinatio alterius decipiendi causa; Labeo als omnis calliditas fallacia machinatio ad circumveniendum fallendum decipiendum alterum (Dig. 4,3,1,2). C. Aquilius Gallus, der Schöpfer einer einschlägigen Klageformel, stellt die Täuschungsabsicht heraus; vgl. Cic. off. 3,14,60: cum esset aliud simulatum, aliud actum. Zur Begriffsbestimmung von dolus malus als Herausforderung an die Juristen s. bündig Bürge (1999), 102–104. – Im Verhältnis zwischen Patron und Klient verwendet das Zwölftafelgesetz das Wort fraus; s. tab. 8,21: patronus si clienti fraudem fecerit, sacer esto. Die Reaktion auf die Schädigung und auf die damit verbundene Enttäuschung wurde also entweder in ein formalisiertes Verfahren oder eine unbestimmte soziale Sanktionierung ausgelagert – wenn denn die Zwölftafelvorschrift authentisch ist; dazu freilich skeptisch Ganter (2015), 101–106. Weber (1917/1988), 270: „Die Herrschaft einer Aristokratie mit politischen Traditionen hat vor demokratischen Herrschaftsformen ferner einen staatspolitischen Vorzug: die geringere Abhängigkeit von emotionalen Momenten. Anders ausgedrückt: den durchschnittlich kühleren Kopf, der das Produkt einer bewußt durchgeformten Lebensführung und durch Erziehung auf »Contenance« eingestellten Haltung ist.“ Vgl. für den Zusammenhang Franzmann (2008).

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gehörten geradezu zur DNA der politischen Klasse in Rom.16 Auffällig ist in der Tat die hohe Bereitschaft römischer Aristokraten, sich in Gefahr zu begeben, Risiken einzugehen und immer wieder Situationen entstehen zu lassen, die weitgehend unberechenbar sein mussten.17 Peter Scholz formuliert bündig: In ungewissen, heiklen Situationen tendierte ein Mitglied der republikanischen Senats­ aristokratie dazu, lieber Unwägbarkeiten in Kauf zu nehmen und diese auszuhalten – und sich damit der Zukunft offen zu stellen –, als nicht die Chance zu ergreifen, das Ungewisse handelnd zu erschließen.18

Tom Holland fasst es bildhafter und drastischer: Das „Schicksal eines Römers, der die Süße des Ruhmes gekostet hatte, [konnte] häufig in einer verzehrenden Ruhelosigkeit und der nagenden, unstillbaren Gier eines Süchtigen enden“.19 Eine solche Disposition konnte nicht übermäßig enttäuschungsaffin sein, sonst hätten die Hohen Herren viel öfter, als es uns überliefert ist, im Fall eines Misserfolgs kognitiv ihre Ziele und Präferenzen überprüfen, emotional ihr weiteres Mitspielen aufkündigen oder sogar handgreiflich zum Umsturz schreiten müssen. Dass dies unter anderen Bedingungen aristokratischer Politik durchaus möglich war und häufiger vorkam, zeigen die Staseis in griechischen Poleis von der Archaik bis in den Hellenismus, die dort als endemisches Phänomen gelten können. Nun kann man im Sinne des Tagungskonzepts den cursus honorum mit seinem ‚Flaschenhals‘ und generell die Praxis von Ehrzuweisung und Elitenrekrutierung in der römischen Republik gewiss mit Gewinn auf die Frage hin untersuchen, wie sie potentiell zu Enttäuschungen führten. In diesem Sinn hat Karl-Joachim Hölkeskamp im Rahmen der Tagung „Verlierer und Aussteiger in der Konkurrenz unter Anwesenden“ unterstrichen, dass das Prinzip ‚Wahl‘ als alternativloses Verfahren der Zuweisung respektive Reproduktion von aristokratischem Status, Rang und Reputation regelmäßig Jahr für Jahr zwangsläufig eine (zumindest auf den unteren Stufen des cursus honorum) nicht quantifizierbare, jedenfalls erhebliche Zahl von Verlierern produzierte;20

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Prägnant Cic. rep. 1,1: M. vero Catoni homini ignoto et novo […] certe licuit Tusculi se in otio delectare, salubri et propinquo loco; sed homo demens, ut isti putant, cum cogeret eum necessitas nulla, in his undis et tempestatibus ad summam senectutem maluit iactari, quam in illa tranquillitate atque otio iucundissime vivere. Den Gegenentwurf formuliert (mit den gleichen Sprachbildern) Nep. Att. 6,1: In re publica ita est versatus, ut semper optimarum partium et esset et existimaretur, neque tamen se civilibus fluctibus committeret, quod non magis eos in sua potestate existimabat esse, qui se his dedissent, quam qui maritimis iactarentur. Dazu Walter (2017); van Ross (2018) u. (2019). Scholz (2011), 356. Holland (2015), 89. Hölkeskamp (2019), 19.

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deren naheliegende Reaktion wäre dann, so ist der Gedanke zu ergänzen, Enttäuschung gewesen. Es sei in der Forschung noch gar nicht wirklich erkannt worden, dass gerade darin ein ganz zentrales Problem einer hochgradig kompetitiven politischen Kultur bestehe, welches im Interesse der Stabilität und ‚Eigensicherung‘ eines solchen Systems gelöst werden müsse (ebd.). Dem ist mit Blick auf das republikanische Rom sicher zuzustimmen. Ich möchte mich im Folgenden jedoch, wie bereits in der These umrissen, komplementär zu Hölkeskamps Ansatz auf diejenigen Mechanismen, Dispositionen und Routinen konzentrieren, die dafür sorgten, dass Enttäuschungen entweder gar nicht aufkamen oder gedämpft oder zumindest so eingehegt wurden, dass ihre Folgen begrenzt blieben.21 3. Unsichtbar machen, abdämpfen, einhegen – vom Umgang mit Enttäuschungen Erstens: Die Quästur als Einstiegsamt in den cursus führte bereits vor Sulla in den meisten Fällen zur Einsitznahme im Senat. Wenn jemand über sie nicht hinauskam, betrachten wir das allzu leicht als ein Scheitern. Das war es aber nur mit Blick auf die höheren Ränge. Senator zu sein bedeutete jedoch für den betreffenden Mann zunächst einmal, nahezu alle Mitbürger an Prestige erheblich zu übertreffen; das galt auch gegenüber den oft sehr wohlhabenden und sozial einflussreichen munizipalen Eliten Italiens im Ritterrang, aus denen newcomer aufzusteigen suchten. Sie fanden als Neu-­Senatoren in den Gerichten ein durchaus wichtiges Betätigungsfeld.22 Hinzu kommt: Seit Frank Ryan die alte, schematische Vorstellung vom einflusslosen Hinterbänkler im Senat wenigstens erheblich differenziert hat, wissen wir, dass diese Position in bestimmten Konstellationen durchaus Gewicht erlangen und so individuellen politischen Ehrgeiz befriedigen konnte.23 Überdies zeigt der Verres-Prozess in der frühen Karriere Ciceros, dass auch Quästorier bereits Patronagepotential und auf diese Weise weitere Prominenzchancen besitzen konnten. Grundsätzlich war diese römische Konstruktion genial: Die Quästoren24 mit ihren zumal in den Provinzen vielfältigen und verantwortungsvollen Aufgaben konnten und mussten nicht selten bereits im ersten Amt, mit Ende Zwanzig, zeigen, was in ihnen steckte und ob sie sich für höhere Aufgaben empfahlen. Auch wenn sich nicht viel ereignete, konnte zumindest immer die Interaktion mit dem übergeordneten Magistrat unter die Lupe genommen werden. Die Quästoren

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Etwas anders akzentuiert Jan Timmer in der Einleitung zum vorliegenden Band: Er lässt die entlastenden und relativierenden Faktoren wirksam sein, bevor eine handlungsrelevante Enttäuschung im Sinne der drei Optionen entstehen konnte. Vgl. Steel (2014a), 325–328; (2014b), 664. Ryan (1998). Zu diesem Amt s. jetzt grundlegend Pina Polo / Díaz Fernández (2019).

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standen – trotz Ciceros bekannter Klage, niemand habe sich für seine Amtsführung in der Provinz interessiert25 – zweifellos unter Beobachtung, und zumindest die erfahrenen Nobiles gewannen schnell ein Bild, ob jemand den Ansprüchen genügte oder eben nicht (ähnlich wie früher bei der berühmt-berüchtigten ‚Jungbullenschau‘ auf dem Historikertag). Wer durchfiel, machte möglicherweise, falls er nicht aus anderen Gründen stark protegiert wurde (etwa als Spross einer sehr prominenten Familie), dann zwar keine weitere Karriere, aber er war, wie gesagt, zumindest Senator und als solcher, von außen betrachtet, gleichrangig mit den weiter aufsteigenden peers und den etablierten Wortführern im Hohen Haus. Die Vermehrung der Quästorenstellen unter Sulla auf zwanzig verschärfte das ‚Flaschenhals-Problem‘ und damit die Konkurrenz im cursus auf den ersten Blick nochmals, war aber im skizzierten Sinn durchaus funktional: Die Elite erhielt einen breiteren Pool, um förderungswürdigen Nachwuchs zu finden, und die gewesenen Quästoren, die den Karriereeinstieg gewagt hatten, rückten nunmehr automatisch in den Senat ein, während zuvor bisweilen die Censoren eine Instanz gewesen sein mochten, die in Einzelfällen durch Nichtberücksichtigung bei der adlectio Enttäuschungen produzierte, weil der von einer einzigen mächtigen Person ausgehende Bannstrahl als ungerechtfertigt oder durch sinistre M ­ achenschaften ausgelöst wahrgenommen wurde. Noch größer und von der Herkunft her vielfältiger scheint der Pool beim Volkstribunat gewesen zu sein, das mehr noch als die Quästur eine Anlaufstelle für Aufsteiger darstellte, aber in vielen Fällen eben nicht in eine weitere Karriere mündete.26 Mit dem in der Regel gesicherten Senatssitz für Quästorier und dann auch für Tribunizier liegt, bündig formuliert, ein Fall von Enttäuschungs­ reduktion durch Erwartungssicherung vor.27 Zweitens: Enttäuschungen ließen sich auch reduzieren, indem man Erwartungen vertagte. Stagnierte der cursus, konnte die weitere Karriere auf die nächste Generation übertragen werden, sowohl in den etablierten Häusern, die ein starkes transgenerationelles Profil ausgebildet hatten, besonders aber bei den Aufsteigern aus dem Ritterstand, für die das erreichte Amt bereits einen großen Erfolg darstellte. Für die meisten Prätoren dürfte es keine Enttäuschung bedeutet haben, wenn sie nun nicht auch gleich selbst das Konsulat erreichten. Eine solche Vertagung war schon deshalb unauffällig, 25 26

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Cic. Planc. 64–66. Zur vielfach nicht-stadtrömischen Herkunft tribunizischer Familien bereits in der Frühzeit des Amtes s. die Tabelle in Lanfranchi (2015), 679–695. F. Millar betont, wie wenig wir über die weiteren Karrieren der Volkstribune im 4. und 3. Jahrhundert wissen, weswegen die Annahme, diese seien alle einer plebeischen Aristokratie entsprossen, keineswegs gesichert sei. Und nach Ansicht von Gruen (1974/1995), 188 f. habe etwa ein Drittel der bekannten Volkstribune in der Späten Republik keine senatorischen Vorfahren gehabt, aber etwa die Hälfte von diesen erreichte ein kurulisches Amt. Das Volkstribunat bot demnach „some conveyance for social mobility within aristocratic ranks“ (ebd., 189). Seit wann gewesene Volkstribune regelmäßig Mitglieder des Senats waren, ist allerdings nicht sicher (Mommsen: zwischen 123 und 102; Badian: um 160). Allerdings wuchs mit der zunehmenden Zahl von ‚Hinterbänklern‘, die keine Chance hatten, aus eigener Kraft weiter aufzusteigen, auch ein ‚Klientenpool‘ für die neuen Granden in der Politik.

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weil auch immer ein früher Tod dazwischenkommen konnte. Dieser mochte, wie die einschlägigen Scipioneninschriften zeigen, in der Familie wie in der gesamten Bürgerschaft Anlass für Trauer bieten, weil sich Erwartungen nicht erfüllten, er bedingte aber keinen familialen Prestigeverlust, sondern eher einen zusätzlichen Ansporn für den überlebenden Nachwuchs. Jeder wusste, dass junge Männer eben auch in ihren Zwanzigern sterben konnten. „Ihm fehlte“, so verkündet eine dieser Inschriften, „Lebensspanne (vita), nicht honos.“28 Die allgegenwärtige Erfahrung eines frühzeitigen Todes trug vermutlich zu einer allgemeinen Kontingenzresilienz bei. Dass lange Zeit zumindest im inner circle der Elite mehr Kinder geboren und aufgezogen wurden als im Durchschnitt der Gesamtbürgerschaft,29 dass ferner Adoptionen nicht selten waren, war Teil einer allgemeinen familialen Strategie, die mit solchen Rückschlägen (und auch einzelnen Untauglichen oder Unwilligen) rechnete und mehr Ressourcen hatte, sie zu kompensieren, ähnlich der Strategie beim „Mensch ärgere dich nicht“, mit mehreren Figuren gleichzeitig vorzurücken. Sehr schön zu sehen ist das Resultat dieses Erfolgsmodells bekanntlich bei den Caecilii Metelli mit acht Konsuln von 143 bis 109 (davon allein sechs 123–109) sowie vier weiteren in der Zeit von 98 bis 8030 und bei den Claudii Marcelli mit drei Konsulaten in den kritischen Jahren 51, 50 und 49. Die andere Spielvariante gab es auch, doch es scheint denkwürdig gewesen zu sein, wenn sie in ähnlicher Weise zum Erfolg führte; so vermerkt Velleius Paterculus von den Domitii Ahenobarbi ausdrücklich, in dieser Familie seien sieben jeweils einzige Söhne geboren worden (in gut zweihundert Jahren), von denen jedoch jeder ins Konsulat gelangte.31 Eine Art Kombination beider Modelle gelang den Claudii Marcelli im 3./2. Jahrhundert, als in drei aufeinanderfolgenden Generationen ebenso viele Männer insgesamt neun Konsulate erreichten und dies in der familialen Selbstdarstellung gebührend herausgestrichen wurde.32

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ILS 7. Eine solche praematura mors konnte, wenn wir uns an die eingangs zitierte Dreifachdefinition halten, strenggenommen gar keine Enttäuschung im hier zugrundegelegten Sinn auslösen, denn weder führte sie zu einer Reflexion und gegebenenfalls Anpassung der eigenen Erwartungen (hier logischerweise bei den Überlebenden) noch legten die negativen Emotionen einen Abbruch des kooperativen Verhaltens nahe (auch nicht gegenüber den Göttern) noch konnte das sture Festhalten an den eigenen Erwartungen in diesem Fall zum offenen Konflikt führen. Vgl. Hopkins / Burton (1983), 98–107 u. passim. S. Hölkeskamp (2017) mit Stemma. Vell. Pat. 2,10,2: Notetur Domitiae familiae peculiaris quaedam et ut clarissima, ita artata numero felicitas. VII ante hunc nobilissimae simplicitatis iuvenem, Cn. Domitium, fuere, singuli omnino parentibus geniti, sed omnes ad consulatum sacerdotiaque, ad triumphi autem paene omnes pervenerunt insignia. Die Behauptung ist freilich nicht ganz exakt: Gnaeus (cos. 96) und Lucius (cos. 94) waren Brüder; Lucius (cos. 54) hatte noch einen älteren Bruder; dieser Schwiegersohn Sullas blieb amtlos und kam 81 ums Leben. Der iuvenis Gnaeus (cos. 32) war der Vater Neros. Vgl. das Stemma bei Münzer, RE 5 (1905), 1315 f. Allerdings steuerte allein der Held des Hannibalkrieges fünf Konsulate bei. S. jetzt Hölkeskamp (2021).

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Drittens: Enttäuschungsdämpfend dürfte auch der Umstand gewirkt haben, dass das eigene Nichtvorankommen zwar situativ gut mit üblen Machenschaften von Rivalen (Korruption) erklärt, aber nur schwerlich einem Systemfehler angelastet werden konnte, der dann in eine konzertierte Fundamentalopposition hätte münden können.33 Anders sah das in der athenischen Demokratie aus, wo es in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts eine Gruppe von meist jüngeren Adligen gab, die trotz ihrer angenommenen sozio-politischen Überlegenheit keine Chance auf maßgeblichen Einfluss sahen: Sie wurden zu einer klandestinen, radikalen Systemopposition und betrieben den Umsturz.34 In Rom hingegen konnte man doch jedes Jahr leicht sehen, an den Namen und Köpfen ablesen, dass Aufstieg und Stagnation breit gestreut waren und der Zugang zur Magistratur beziehungsweise dann zum entsprechenden Senatsrang keineswegs von einer eingeschworenen Oligarchie über längere Zeit zuverlässig dirigiert wurde. Die Nobilität war – bei allen ungleichen Startchancen und zeitweisen Ballungen der höchsten Ämter bei wenigen Familien – aus demographischen, ökonomischen und politischen Gründen kein closed shop.35 Etablierte besaßen erhebliche Patronagemacht, doch es scheint keine das gesamte Feld überspannenden Absprachen und Koalitionen gegeben zu haben. Mit der Einbürgerung der Italiker im ersten vorchristlichen Jahrhundert wuchs zudem der Kreis von potentiellen Mitspielern erheblich an. Die Wahlen verliefen in vielen Fällen (und gerade wenn vergleichsweise unprofilierte Kandidaten aufeinandertrafen) hochgradig unberechenbar.36 In vertrauter Kommunikation, aber auch in qualifizierter Öffentlichkeit, war es sogar sagbar, dass die Wähler nicht auf der Basis vernünftiger Abwägungen entschieden, sondern aufs Geratewohl, weswegen eine Abfuhr dem ‚Selbstwertgefühl‘ eines Unterlegenen keinen schweren Schaden zufügen sollte.37 Auch symbolisches Kapital drohte an einem Wahltag rasch dahinzuschmelzen: Es war allgemein bekannt, dass einstige Nobilität – aus ganz verschiedenen Gründen – durchaus für Generationen unsichtbar werden konnte und dann nach einem bekannten Cicero-Wort erst aus alten Listen und Annalen ausgegraben werden

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Zum „placing blame“ s. mit aufschlussreichen Beispielen Russell (2019), 136–141. Dazu der Beitrag von Katarina Nebelin in diesem Band. Bei dieser Gruppe verfing die Legitimation durch Verfahren nicht mehr, und sie nutzte bereitliegende Instrumente und Praktiken (klandestine Symposien, Hetairien, auswärtige Gastfreunde), um von individueller Enttäuschung zu kollektivem Handeln zu kommen. S. Hopkins / Burton (1983), 107 u. passim. Bündig zuletzt (und statt vieler) Cornell (2022), 116: „Elections in the comitia centuriata were unpredictable and no one could control the outcome, least of all the ruling class, whose members were competing for the people’s votes.“ Vgl. Cic. Planc. 9: Non enim comitiis iudicat semper populus, sed movetur plerumque gratia, cedit precibus, facit eos a quibus est maxime ambitus, denique etiamsi iudicat, non dilectu aliquo aut sapientia ducitur ad iudicandum, sed impetu nonnumquam et quadam etiam temeritate. Legitim im Sinne von systemkonform war die Abfuhr dennoch; s. gleich im Text.

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musste.38 Ein Catilina bildete in diesem Sinne eine Ausnahme, wenn er, wie es scheint, tatsächlich nicht zuletzt aus seinem Patrizierstatus den Anspruch auf das höchste Amt ableitete,39 obwohl die Sergii ihren letzten Konsul lange vor dem Galliersturm gestellt und danach lediglich noch einen Prätor (197: M. Sergius Silus, ein körperlich versehrter Held des Hannibalkrieges) vorzuweisen hatten.40 Viertens: Auch die hohe Chancenfrequenz durch die jährlich stattfindenden Wahlen widerriet dem Eindruck einer Versäulung, aus dem sich eine der drei eingangs genannten Varianten von Enttäuschung ergeben hätte. Komplementär zu dieser Chancen­frequenz stand die – zumindest bei den Konsulwahlen – relativ hohe Anzahl von erfolglosen Bewerbern; „die hohe Quote der Verlierer entdramatisierte eine Wahl­ niederlage“.41 Auch wenn bei den Wahlen, um erneut eine Spielemetapher zu benutzen, häufig mit manipulierten Würfeln gespielt wurde und die Chancen niemals gleich sein konnten, so waren die Ergebnisse doch nicht in jedem einzelnen Fall vorherzusehen (s. o.). In jeder Generation gab es Beispiele, dass selbst hochqualifizierte, angesehene und gut vernetzte Bewerber im Ringen um das oberste Amt eine ‚Ehrenrunde‘ drehen, mithin ihre Erwartungen aufschieben mussten. Dieses Erfahrungswissen dürfte in vielen Fällen zumindest beim ersten Verlieren die Enttäuschung gedämpft beziehungsweise zur kurzen Episode gemacht haben.42 Generell bot das jährliche Großevent der Wahlen eine Ballung von Kontingenz, wie sie sonst nur der Krieg bereithält, in dem bekanntlich alle noch so sorgsame Planung Makulatur zu sein pflegt, sobald die erste Feindberührung stattgefunden hat. In den Wahlarenen brach jedes Jahr aufs Neue das Fieber aus und war „die Spannung des Wahltags eine der aufregendsten Erfahrungen

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Cic. Mur. 16: Tua vero nobilitas, Ser. Sulpici, tametsi summa est, tamen hominibus litteratis et historicis est notior, populo vero et suffragatoribus obscurior. […] itaque non ex sermone hominum recenti sed ex annalium vetustate eruenda memoria est nobilitatis tuae. Das legt jedenfalls die ihm von Sallust in den Mund gelegte Rede nahe (Cat. 31,7): ea familia ortum, ita se ab adulescentia vitam instituisse, ut omnia bona in spe haberet; ne existumarent sibi, patricio homini, quoius ipsius atque maiorum pluruma beneficia in plebem Romanam essent, perdita re publica opus esse, quom eam servaret M. Tullius, inquilinus civis urbis Romae. Vgl. allgemein Münzer, RE 2 A 2 (1923), 1688. Mit Recht klassifiziert Schietinger (2017) Catilina als einen „homo paene novus“. Flaig (2019), 62. Damit soll nicht geleugnet werden, dass Akteure unmittelbar nach ihrer Niederlage schwer enttäuscht sein konnten  – das war bestimmt der Fall, wie aus der gleich zu zitierenden Pro Plancio-Passage und mehreren Stellen in Ciceros Briefwechsel hervorgeht; vgl. ferner Val. Max. 7,5,4: Caecilium Metellum […] consulatus repulsa adflictum, tristitia ac rubore plenum. Nach Auct. vir. ill. 61,3 erlitt der hier angesprochene Q. Caecilius Metellus Macedonicus zwei Niederlagen, bevor er für 143 zum Konsul gewählt wurde. Entscheidend für das politische System war, ob der Grund für die Enttäuschung öffentlich skandalisierbar war und wie lange die Emotion handlungsleitend sein konnte. Skandalisierung erforderte einen erheblichen Aufwand und bedurfte einer günstigen Konstellation, damit etwa eine ambitus-Klage Erfolg versprach. Die demonstrative Emotionalisierung durch einen squalor war Niederlagen bzw. Bedrohungen anderen Kalibers vorbehalten; dazu jetzt umfassend Degelmann (2018).

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des bürgerlichen Lebens“, wie Tom Holland treffend formulierte43 – eine Erfahrung, die ohne Zweifel dazu nötigte, Kontingenztoleranz zu entwickeln, eine momentane Enttäuschung zu überwinden und einfach weiterzumachen, ohne grundsätzliche Reflexion auf die Sinnhaftigkeit des eigenen Bestrebens oder die Fundamentalalternative, weitere Mitwirkung aufzukündigen oder gar Gewalt zu üben. Die bekannte Wechselrede in Ciceros Planciana liest sich in diesem Sinne geradezu wie eine Anti-­ Enttäuschungs-Therapie: Wenn du jedoch die Wahl lieber für ein Urteil halten möchtest, dann darfst du es nicht kassieren wollen, sondern musst es hinnehmen. „Das Volk hat schlecht geurteilt!“ Aber es hat geurteilt. „Das durfte es nicht!“ Doch, es konnte so handeln. „Das lasse ich mir nicht gefallen!“ Doch, das haben sich schon viele hochangesehene und überaus einsichtsvolle Mitbürger gefallen lassen. Dies ist ja das Vorrecht freier Völker und besonders unseres Volkes, der Vormacht, des Herrn und Siegers über alle Völker: dass es durch die Wahlen einem jeden gewähren oder vorenthalten kann, was es will. Doch unsere Sache ist es, ja die unsere, die wir von diesem Sturm der Volksmeinung und ihren Fluten hin und her geworfen werden, die Launen des Volkes gelassen zu ertragen, seine Ungunst umzustimmen, seine Gunst zu erhalten, seine Aufwallungen zu beruhigen und nur dann, wenn wir nicht auf Ämter aus sind, dem Volk aus dem Wege zu gehen, uns hingegen, wenn wir danach streben, durch unermüdliches Bitten darum zu bemühen.44

Eine Niederlage (repulsa) bei der Wahl bedeutete, wie erwähnt, in aller Regel keinen markanten Karriereknick oder gar das Ende aller Hoffnungen. Wer in den prägenden Jahren seiner politischen Sozialisation ‚abgehärtet‘ worden war und sich anschließend beim Blick auf seine Konkurrenten gute Chancen ausrechnen konnte, hatte einen zusätzlichen Anreiz. Die Erfahrungen von Generationen bündelt Valerius Maximus eingangs seines in modernen Ausgaben de repulsis betitelten Kapitels: Wer die obwaltenden Faktoren auf dem Marsfeld kenne, vermöge Wahlniederlagen tapferer zu ertragen (ad fortius sustinendos parum prosperos comitiorum eventus: 7,5 praef.). Es sei keine Untat (nefas), wenn die Allgemeinheit dem Einzelnen seine Wünsche versage; auch hochberühmte Bewerber mussten Rückschläge hinnehmen, und wo die g­ ratia nichts ausrichte, bedürfe es der patientia. Aus dem bekannten Beispiel des Scipio ­Nasica ­Serapio, der im Wahlkampf um die Ädilität auf Kosten eines anwesenden Bauern ­einen Witz gemacht und sich damit selbst sabotiert hatte, leitet Valerius Maximus 43 Holland (2015), 120. 44 Cic. Planc. 10 f. (Übers. M. Fuhrmann): Sin autem mavis esse iudicium, non tibi id rescindendum est sed ferendum. ‚Male iudicavit populus.‘ At iudicavit. ‚Non debuit.‘ At potuit. ‚Non fero.‘ At multi clarissimi et sapientissimi cives tulerunt. Est enim haec condicio liberorum populorum praecipueque huius principis populi et omnium gentium domini atque victoris, posse suffragiis vel dare vel detrahere quod velit cuique; nostrum est autem, nostrum qui in hac tempestate populi iactemur et fluctibus ferre modice populi voluntates, adlicere alienas, retinere partas, placare turbatas; honores si magni non putemus, non servire populo; sin eos expetamus, non defetigari supplicando.

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sogar die These ab, Wahlniederlagen hätten mitunter einen heilsamen erzieherischen Effekt bewirkt, aus dreisten jungen Nobiles große und nützliche Bürger mit hoher Autorität gemacht. Staub abklopfen, Zähne zusammenbeißen, weitermachen! Amy Russell stellt mit Recht fest, die Zeit unmittelbar nach einer Niederlage sei als Charaktertest gesehen worden; dabei habe es moralische wie politische Gründe gegeben, emotionale Reaktionen möglichst zu unterdrücken: „since a Roman elite man should show self-control“.45 Ein erhebliches Maß an Robustheit und Kontingenztoleranz erforderte die Option, die Wählerschaft mit einem guten record so lange und hartnäckig (­pertinacia) zu nerven, bis sie nachgab.46 Fünftens: Zumindest zeitweise ist ein Bemühen der Nobilität erkennbar, die Spielregeln so zu setzen, dass bei allen unvermeidbaren Enttäuschungen zumindest das Systemvertrauen, also die oben erwähnte Legitimität durch Verfahren, nicht zerstört wurde. Hans Beck konstatiert für die Jahrzehnte nach dem Hannibalkrieg ein Bestreben des Senats, den Wettbewerb durch gezielte Vorgaben in den Griff zu bekommen, die ihrerseits wiederum wettbewerbsneutrale Regelungsinstanzen darstellten. Der Konflikt, also das Gewinnen und das Verlieren in der Volkswahl, seien damit in einen Raum verwiesen worden, „der von Regeln und Gesetzen eingehegt war, in einen Raum, in dem es Platz für Kompensation […] gab, auch und gerade dann, wenn die eigenen Ambitionen gerade einmal eine herbe Enttäuschung erfahren hatten“.47 In einer Kultur der Anwesenden, so räumt Beck ein, sei es freilich besonders schwergefallen, diesen Raum offen zu halten, weil die politische Kommunikation unmittelbar und ungebrochen gewesen sei, mit wenig Raum zum Rückzug. Doch zumindest absehbare Niederlagen im Senat ließen sich vermeiden, indem man sich dort schlicht nicht blicken ließ. Sechstens: Enttäuschungen durch eine konkrete Person konnten – neben anderen Gründen – in einer aristokratischen Kultur wie der römischen, in der Ehre einen hohen Stellenwert hatte, leicht zu einer inimicitia oder zumindest einer Aufkündigung der Gemeinschaft, sogar der Kommunikation mit dem Anderen führen. Da eine Kumulation solcher Abbrüche jedoch die Politik insgesamt enorm erschwert und die Gefahr von Eskalationen vermehrt hätte, existierte die meist demonstrativ inszenierte Versöhnung durch Dritte.48 Sie stellte die Kooperation wieder her und bewirkte die Re-Integration des Enttäuschten. Siebtens: Da das Feld des Krieges bereits angesprochen wurde: Als einen Versuch, das dissoziative Potential von Enttäuschungen einzuhegen, kann auch der seit Rosenstein gut untersuchte Umgang der Römer mit ihren besiegten Feldherren betrachtet 45 46

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Russell (2019), 129. Ob L. Aemilius Paullus vor seiner Wahl zum Konsul für 182 eine oder mehrere Niederlagen erlitten hatte, ist nicht sicher zu ermitteln; vgl. Val. Max. 7,5,3: aliquotiens frustra consulatum petiit, idemque, cum iam campum repulsis suis fatigasset, bis consul et censor factus […]; s. ferner Liv. 39,32,6 (erfolglose Bewerbung i. J. 185). Plutarch erwähnt gar keine Wahlniederlage. Vgl. Broughton (1991), 6 f. Beck (2019), 45. Dazu jetzt eindringlich Timmer (2021).

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werden.49 Nicht nur die Standessolidarität legte es nahe, die Zuschreibung einer Niederlage vom Befehlshaber abzulenken, sondern auch das Wissen darum, wie unberechenbar der Erfolg in der Schlacht war. Eine sich längerfristig einnistende, von der politischen Führung verstärkte Enttäuschung des Volkes gegenüber den Feldherren hätte für die Zukunft Autorität und Gehorsam generell untergraben können, und eine Erwartung der Kommandeure, regelmäßig zu Sündenböcken gemacht zu werden, wäre gewiss ebenfalls kontraproduktiv gewesen. Das geschah lediglich retrospektiv gegenüber Toten (C. Flaminius, Crassus, Varus). Römische Feldherren waren zwar (auch) dem Volk gegenüber rechenschaftspflichtig, sie befanden sich jedoch durch die Einbindung in das gerade in Krisen zusammenrückende Kollektiv der Senatoren in einer sehr viel sichereren Position als etwa die Strategen im demokratischen Athen, die von einem misstrauischen Dêmos regelmäßig für Niederlagen verantwortlich gemacht und unter Anklage gestellt wurden, wobei dann rasch, wie der Arginusenprozess zeigt, eine Entsolidarisierung eintreten konnte. Achtens: Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass wirklich alternative Wege zu Prominenz und Prestige erst in der frühen Kaiserzeit eine größere Rolle zu spielen begannen.50 Dennoch könnte für die Republik die bekannte Tautologie Christian Meiers, wer zum Adel gehörte, betrieb Politik, und wer Politik betrieb, gehörte zu Adel, den Blick ein wenig verstellt haben. In der notorischen laudatio funebris auf L. Caecilius Metellus (Plin. nat. 7,139 f.) dominieren zwar die militärisch-politischen Kriterien für und Quellen von Bestheit eindeutig, doch es werden daneben bereits solche genannt, die wirken konnten, auch wenn jemand nicht Konsul wurde und nicht triumphierte: oratorische Tüchtigkeit, anständig erworbener Wohlstand, reicher Kindersegen, allgemein ein hohes Ansehen in der Bürgerschaft. Nicht alle Prominenzrollen gehörten zum militärisch-politischen Komplex. Womöglich müssen wir damit rechnen, dass bereits in der späteren Republik bestimmte Ziele nicht allen gleich wichtig waren und man trotzdem bekannt sein konnte. So betrieb ein gewisser C. Sergius Orata neben einer durch Rationalisierungsmaßnahmen und technische Verbesserungen einträglichen Fisch- und Austernzucht auf seinem Gut am Lucrinersee und am Golf von Baiae noch ein schwunghaftes lmmobiliengeschäft.51 Über ihn und einen anderen Fischzüchter sagt Columella, sie „waren ebenso stolz auf ihre Namen von eingefangenen Fischen, wie einst ein Numantinus und Isauricus auf die Namen der von ihnen besiegten Völker“.52 Nun wissen wir nicht, ob Sergius Orata eine politische Karriere angestrebt hat und dabei vielleicht gescheitert ist – immerhin war er kein

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Rosenstein (1990). Lentzsch (2019) befasst sich primär mit den gesamtgesellschaftlichen und erinnerungspolitischen Strategien. Stein-Hölkeskamp (2019). Vgl. Fadinger, KlP 5 (1975), 136 s. v. ‚Sergius (9)‘ mit den Belegen; ausführliche Diskussion der Quellen: Münzer, RE 2 A 2 (1923), 1713 f. s. v. ‚Sergius (33)‘. Colum. 8,16,5.

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Wald- und Wiesen-Ritter, sondern entstammte einer alten patrizischen gens. Aber wir wissen, wie manche Herren aus der allerersten Reihe agierten, wenn sie als Exilierte nun wirklich Grund zur Enttäuschung hatten. Egon Flaig hat die Optionen aufgezeigt: Cicero, der jammerte, barmte und alles tat, um wieder nach Rom zurückzukehren, und P. Rutilius Rufus (cos. 105), der einer gerichtlichen Intrige zum Opfer fiel – und sein Schicksal annahm, Rückkehrchancen ausschlug und in Smyrna sozusagen zum Griechen wurde.53 Er scheint tatsächlich die seltene erste Variante der Timmer’schen Trias – Überprüfung der eigenen Präferenzen und Sinngebungen – gewählt zu haben, konnte das aber auch leichter tun, weil er vor der Exilierung bereits länger als zehn Jahre ein hochangesehener Konsular gewesen war und zudem anders als Cicero offenbar keine systemwidrig dauerhafte Lenkerrolle anstrebte. Die Philosophie mag bei der Kontingenzbewältigung geholfen haben, und Rufus blieb im Exil keineswegs ohne Prominenz: Zunächst schrieb er ein Geschichtswerk, dann empfing er Angehörige des römischen Führungsnachwuchses auf ihrer Bildungsreise. Er muss bis zu seinem Tod und darüber hinaus ein bekannter Mann gewesen sein. Jedenfalls könnte auch für die Republik die Frage nach Alternativen als einem im zweifachen Sinn Enttäuschungen dämpfenden Faktor vielleicht noch einmal durchdacht werden. Christoph Lundgreen hat mit einer Fallstudie zur prominenten Gestalt des L. Licinius Lucullus dazu einen überzeugend differenzierenden Anfang gesetzt.54 Neuntens: Nicht ignoriert werden sollte der Umstand, dass die Vereinzelung der Akteure im politischen Wettbewerb sicher nicht in jedem Fall die Enttäuschung über individuelle Misserfolge bei Wahlen dämpfte, aber deren Folgenpotential doch erheblich einhegte. Das wird deutlich, wenn man sich Situationen anschaut, in denen größere Kollektive enttäuscht wurden und sich danach mobilisieren ließen – in diesem Fall war sogleich Gefahr im Verzug, zumal, wenn es sich um Soldaten oder Gruppen mit Gewaltpotential handelte. Denn in solchen Konstellationen ließ sich Enttäuschung anheizen und zum Bindemittel von horizontalen Formierungen sowie zum Zünder von grundstürzenden Handlungen machen.55 Als bekannte Beispiele seien (aus freilich sehr unruhiger Zeit) genannt: der Aufstand der socii nach der Ermordung des Livius Drusus 91, welche die Italiker ihrer Chance auf Besserstellung durch Senat und Volk von Rom beraubt und alle gehegten Hoffnungen und Erwartungen zunichte­gemacht hatte (so jedenfalls die Überlieferung); Sullas Marsch auf Rom 88, nachdem er seinen für den Asienfeldzug bereitstehenden Soldaten vor Augen gestellt hatte, sie würden ihrer Beuteaussichten beraubt, wenn stattdessen Marius mit seinen eigenen Truppen ausrückte; Pompeius’ Truppen in Africa, denen 81 ihre Auflösung durch Sulla ange-

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Flaig (2011) u. (2019), 70–74. Lundgreen (2019). Das entsprechende Skandalisierungspotential zeigt bereits die tribunizische Agitation wegen des unbefriedigenden Verlaufs des Krieges gegen Iugurtha, die erheblich zum Ansehensverlust der Nobilität beitrug, freilich noch im Bereich der (wahl-)politischen Mobilisierung verblieb.

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kündigt wurde und die der Feldherr durch geschickte Regie zwischen Meuterei und Loyalität zu halten vermochte – jedenfalls erreichte er sein Ziel am Ende. Auch in der popularen Rhetorik steht die Ungerechtigkeit der Mächtigen komplementär zur Enttäuschung der Benachteiligten, zumal dann, wenn an sich Verbesserungen in Aussicht standen oder ein Bild von idealen Zuständen in besseren Zeiten evoziert werden konnte. Die Entwicklung enttäuschungsgesättigter Gemengelagen musste zudem deshalb unberechenbar bleiben, weil der Faktor Zeit hier eskalierend wirken konnte. Zehntens: Die auch für das Thema Enttäuschung wichtige Unterscheidung zwischen (temporärer) Niederlage und (endgültigem) Scheitern, die ebenfalls Egon Flaig vorgeschlagen und begründet hat,56 führt zwingend zum Fall Catilina, der auf den ersten Blick sozusagen als Paradebeispiel für Enttäuschung im zweiten und vor allem dritten Sinn der Timmer’schen Trias gelten mag. Bei Sallust ist zu lesen (Cat. 26,5): Nachdem der Tag der Wahlen [im Jahr 63] gekommen und Catilina weder mit der Bewerbung noch den Fallen, die er den Konsuln auf dem Marsfeld gestellt hatte, erfolgreich gewesen war, beschloss er, Krieg zu beginnen und zu allen Mitteln, auch den letzten, zu greifen,57 weil, was er heimlich versucht hatte, als herber und schimpflicher Fehlschlag geendet hatte.

Allerdings liegen in der historischen Überlieferung zu Catilina sowohl die Chronologie wie auch die pragmatischen Motivationsverflechtungen unter politischer Polemik (Cicero) beziehungsweise einer feststehenden, ein einheitliches Wesen und stringentes Handeln seit den Anfängen unter Sulla konstruierenden Geschichtsdeutung (Sallust) begraben. Eine m. E. ausgewogene und überzeugende Interpretation hat unlängst Georg-Philipp Schietinger vorgetragen.58 Er bezweifelt mit Recht, dass Catilina bereits seit seiner knappen Wahlniederlage i. J. 64 Umsturzpläne ventilierte. Überzeugend erscheint ferner die These, der Sergier habe die Gründe seines dritten Platzes analysiert und Schwächen identifiziert, die er beim nächsten Anlauf zu kompensieren suchte, v. a. durch unübliche programmatische Ankündigungen (Schuldenerlass; Bodenreform). Diese wiederum erleichterten es jedoch Cicero, ihn insgesamt als Umstürzler und politischen Brandstifter darzustellen.59 Zu dieser Stigmatisierung habe auch Catilinas Mobilisierung von sullanischen Veteranen und Angehörigen der plebs rustica für seine Kampagne beigetragen, durch deren Unterstützung der Bewerber den Nachteil seiner vergleichsweise leeren Wahlkampfkasse auszugleichen suchte. Nach der erneut knappen Niederlage und dem Scheitern der Anklage gegen den gewählten L. Murena sei eine erneute Bewerbung i. J. 62 aussichtslos gewesen, da inzwischen deutlich stärkere Bewerber als bei den beiden Wahlen davor in Bereitschaft standen. Volle Zustimmung verdient Schietingers Bilanz; demnach 56 57 58 59

Flaig (2019), v. a. 64. extrema omnia experiri. D. Flach übersetzt: „alles auf eine Karte zu setzen“. Schietinger (2017). Ebd., 172–176.

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war der genuine, historische Catilina gar nicht einmal so sehr ein besonderer Schurke oder ein Sozialrevolutionär, sondern vielmehr lediglich ein letztlich gescheiterter homo paene novus; ein zwar ehrgeiziger prätorischer Verlierertyp, von denen jedoch die strukturelle Ordnung des cursus honorum jährlich immer neue Exemplare hervorbrachte. Insofern war Catilina sogar gerade wegen seiner repulsae bei Konsulwahlen ein für seine Zeit sehr durchschnittlicher wie repräsentativer Senator.60

Aus halbgaren Gedankenspielen in einer inhomogenen Clique und dubiosen ‚Beweisen‘ vermochte Cicero jedoch eine veritable, die res publica tödlich bedrohende Verschwörung zu machen; zu dieser Annahme passt das inkonsistente Verhalten Catilinas vor und nach seinem Rückzug aus Rom bestens.61 Den Rest besorgten zwei brillante Stücke Literatur. 4. Ein kurzes, vorläufiges Fazit Wie die hier entworfene Skizze hoffentlich plausibel gemacht hat, waren die Struktur des politischen Wettbewerbs in Rom mit seinen Vervielfältigungen, Vereinzelungen und Dämpfungen sowie die Habitualisierungen der politischen Elite geeignet, Enttäuschungen im eingangs referierten Sinn, wie sie das niemals in Frage gestellte hochtourig-kompetitive politische System beständig produzierte, eher zu marginalisieren – jedenfalls solange, bis ein Imperator in Gallien nicht länger bereit war, die Verweigerung der Senatsmehrheit ihm gegenüber in ein Scheitern seiner Ambitionen münden zu lassen, und darauf mit maximalem Einsatz antwortete. Literatur Beck, Hans (2019): „Pecuniam inlargibo tibi. Wahlbestechung und Wahlniederlage in der mittleren römischen Republik.“ In: Ders. / Hölkeskamp, Karl-Joachim (Hg.): Verlierer und Aussteiger in der ‚Konkurrenz unter Anwesenden‘. Agonalität in der politischen Kultur des antiken Rom. Stuttgart, 31–53.

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Ebd., 187. K. Nebelin (2022) hält mit Recht fest, dass die Mobilisierung der Unzufriedenen in Faesulae und die Bemühungen Catilinas in Rom zunächst einmal getrennt zu betrachten sind, auch wenn dieser in seiner zweiten Wahlkampagne durchaus auf Unterstützung aus Etrurien setzte und die Ursachen der Depravierung ansprach (414). Doch „it was not Manlius and the Etrurian insurgents who joined Catiline, but Catiline who joined them after he had fled Rome“ (413); seine Autorität dort sei wesentlich aus seiner schlichten Präsenz sowie seinem (außerhalb von Rom) als hoch angesehenen aristokratischen Rang als gewesener Prätor erwachsen; außerdem führte er fasces und andere imperi insignia mit sich (Sall. Cat. 36,1).

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Humor ist, wenn man trotzdem lacht Der enttäuschte Klient in Martials Epigrammen Bernadette Descharmes

1. Einleitung „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“  – Dieses Zitat entstammt der Feder des Schriftstellers Otto Julius Bierbaum.1 Die Redewendung wird gerne benutzt, um unvorteilhafte, schwierigen Situationen zu kommentieren und sich selbst oder anderen zu einem gelassenen und leichtherzigen Umgang mit ihnen zu raten. Der Humor wird hier als Eigenschaft charakterisiert, die auf Resilienz verweist. Resilienz ist die psychische Widerstandskraft, die dazu befähigt, stressige Situationen und alltägliche Krisen zu meistern und dabei den hoffnungsvollen Blick in die Zukunft nicht zu verlieren, das heißt „trotzdem zu lachen“. Das Zitat Birnbaums soll als Titel des vorliegenden Beitrags dienen, weil er nicht nur auf krisenhafte oder konfliktreiche Situationen (Erwartungsenttäuschung) blickt, sondern, weil er bei der Annäherung an die Methoden und Instrumente der Krisenbewältigung (Enttäuschungsabwicklung) das Thema ‚Humor‘ in den Mittelpunkt rückt.2 Ich möchte die These aufstellen, dass Humor und in konkreter Form humorvolle Literatur eine wichtige gesellschaftsstabilisierende Funktion übernahm, wenn es darum ging, politische und soziale Schieflagen zu beklagen, die von individuellen wie kollektiven Enttäuschungserfahrungen begleitet wurden. Das Erzeugen von Komik, Scherzen und Lachen war in diesem Sinn eine Strategie, um einerseits den gesellschaftskri1 2

Julius Birnbaum (1865–1910) stellte die Wendung seiner 1909 unter dem Namen „Yankeedoodle-­ Fahrt“ erschienenen Reisegeschichte voran. Als ‚Enttäuschung‘ definiere ich eine (schmerzhafte) Erfahrung, in der sich Erwartungen nicht erfüllen. Sie stellt sich ein, wenn sich Wünsche und Projektionen nicht mit der Realität decken. Ganz ähnlich die Definition bei Jan Timmer (in diesem Band). Abseits einer Definition dessen, was hier als ‚Enttäuschung‘ verhandelt werden soll, existiert m. W. kein entsprechendes lateinisches Wort für das Phänomen.

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tischen Finger in die Wunde legen, andererseits die daraus resultierenden sozialen und persönlichen Spannungen abfedern zu können. Veranschaulicht wird dieser Mechanismus am Beispiel der Enttäuschungen, die innerhalb der Patron-Klient-Beziehung in der frühen römischen Kaiserzeit eintreten konnten und die der Dichter Martial in seinen Epigrammen aufgegriffen hat.3 Durch seine Nähe zur Realität erfasste Martial – trotz der Fiktivität seiner Charaktere – wie kaum ein anderer seine Umwelt, weshalb er eine nahezu unerschöpfliche Schatzkiste darstellt, wenn man sich über kultur- und sozialhistorische Fragestellungen der frühen Prinzipatszeit nähern möchte.4 Martials fiktive Gestalten sind Typen, anhand derer der Dichter die zeitgenössischen Praktiken und Moralvorstellungen detailreich darstellen und haarklein sezieren konnte. In dieser Manier entwarf Martial unter anderem den Typen des Bettelpoeten und setzte sich prominent mit den Missständen innerhalb der Patron-Klient-Beziehungen auseinander.5 In derlei Beziehungen war Martial ebenfalls eingebunden. Er selbst trat als dichtender Klient in Erscheinung, aber entsprach entgegen seiner Selbstinszenierung gewiss nicht dem, was wir heutzutage als armen Poeten verstehen würden.6 Nichtsdestoweniger stand er in Abhängigkeit von Mäzenen und er bemühte sich darum, auch die Gunst des Kaisers zu erlangen, was seine panegyrischen Gedichte bezeugen.7 Die Situation und das Werk sogenannter poetae clientes ist insbesondere von der altphilologischen Forschung aufgearbeitet worden.8 Aber auch innerhalb der Alten Geschichte widmete man sich der historischen Dimension der satirischen Literatur und ihrer Darstellung von Patronen und Klienten. Insbesondere die Studien von An-

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Zur humorvollen und zugleich gesellschaftskritischen Darstellung des Patron-Klient-Verhältnisses in der römischen Satire: Flores Militello (2019), 12 f. Zur Darstellung des Klientelwesens insb. bei Martial: Garrido-Hory (1985), 381–414; Damon (1997), 146–171; Nauta (2002), 37–90; Nauta (2005), 228; Kleijwegt (1998), 258–267; Holzberg (2016), 74–85. Vgl. Goldbeck (2010), 35 f.; Ganter (2015), 210; Hartmann (2016), 17; Holzberg (2016), 77 spricht sich demgegenüber mehr als deutlich dagegen aus, dass Martials Epigramme einen solchen „Sitz im Leben“ hätten. Zu Martials Stellenwert als Teil eines Diskurses über das ‚richtige‘ Verhalten: Walter (1998), 222. Wenig überzeugend ist m E. Holzbergs Argument, dass schon allein die Fiktivität der Figuren dagegenspräche, dass in den Epigrammen eine ernsthafte Kritik am Patronatswesen stecke. Vgl. Holzberg (2016), 80. Vgl. Ganter (2015), 207 (Anm. 16); Sullivan (1991), 27 f. Einer von Martials Gönnern war Plinius der Jüngere. Martial wurde aber auch von den principes Titus und Domitian begünstigt. Siehe hierzu: Ganter (2015), 207; Nauta (2005), 214; Sullivan (1991), 15–21, 116–130. Dichter, die als Klienten fungierten, trugen ihre Werke unter anderem bei Gastmählern vor. Dort kursierten Texte meist schon vor den Buchveröffentlichungen, die für Martial – wie wir aus seinen Epigrammen selbst lernen – eine große Bedeutung hatten. Sie versprachen ihm eine große Reichweite. Zur Einbindung der Dichter in die stadtrömische Oberschicht bzw. in das Klientelwesen: White (1982). Für die Zeit der späten Republik: Wiseman (1982). White (1982); Wiseman (1982); Nauta (2002); Nauta (2005); Gold (1982); Damon (1997).

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gela Ganter9 und Elke Hartmann10 haben sich mit den krisenhaften Ausprägungen der ­Patron-Klient-Beziehungen in der frühen und hohen Kaiserzeit befasst und dabei ebenfalls Martial zur Sprache kommen lassen. Die Frage nach der Enttäuschung innerhalb dieses Beziehungsverhältnisses schließt unmittelbar an diese Arbeiten an, richtet jedoch den Blick verschärft auf die ausbleibenden Leistungen der Patrone und die damit verbundenen Reaktionen der Klienten. Der vorliegende Beitrag knüpft außerdem an Studien an, die die Funktion von Lachen und Humor innerhalb der römischen Gesellschaft und Politik zu bestimmen suchen. Dass Humor ein „historisch schwieriges Thema“ ist, hat auch Jan Meister in seinen Beiträgen zur sozio-politischen Funktion des Humors und des Lachens in der Römischen Republik und frühen Prinzipatszeit konstatiert.11 Nichtsdestoweniger konnte er zeigen, dass karnevaleske Praktiken, Lachen und Humor angesichts sozialer und politischer Spannungen und Normverletzungen systemstabilisierende und konfliktbeschränkende Funktionen übernehmen konnten.12 Der vorliegende Aufsatz schließt an diese Idee an, indem er die satirische Dichtung eines Martial, dessen dichterische Praxis und Witze in einem breiteren Rahmen der sozio-politischen Kommunikation seiner Zeit verortet.13 In einem ersten Schritt sollen dementsprechend die Auslöser von Enttäuschung und Enttäuschungsereignisse im Rahmen der Patron-Klient-Beziehung erörtert werden, die in den Epigrammen Martials greifbar sind und die ungefähr auf diese Art und Weise durchaus auch im realen Leben vonstattengehen konnten. Hierbei konzentriere ich mich ausschließlich auf die Hoffnungen, die Klienten an ihre Patrone richten, das heißt, wir betrachten das Phänomen aus der Bottom-Up-Perspektive. Die Kontexte der enttäuschten Erwartungen bilden die salutatio und die adsectatio, die sportula, das convivium und die Saturnaliengeschenke. In einem zweiten Schritt soll es um die Frage gehen, wie man mit diesen Erwartungsenttäuschungen im Rahmen der Patron-Klient-Beziehung umgehen konnte. Drei Handlungsoptionen lassen sich aus den Epigrammen ableiten: das Aushalten, das Aufgeben und das Lachen. Der Aufsatz wird sich aber ausschließlich mit der dritten Option befassen und verschiedene Theorien nach den gesellschaftspolitischen Funktionen von Humor und Lachen befragen.

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Ganter (2015). Hartmann (2016). Meister (2021), 188. Meister (2014), 48; Meister (2021), 203–206. Demgegenüber hat Corbeill (1996) v. a. den invektiven Charakter des Humors im Rahmen der spätrepublikanischen Rhetorik betont. Siehe hierzu auch: Papaioannou / Serafim (2021). Zum Humor in visuellen Darstellungen: Clarke (2007). Zum satirischen Charakter der Epigramme Martials: Knoche (1982), 4; Flores Militello (2019), 12 f. Vgl. auch die Kennzeichen der Satire, die Vogt-Spira (1997), 120–122 entwirft, und die durchaus auch auf Martials Epigramme zutreffen. Zu den Berührungspunkten satirischer Dichtung und einer praktizierten Witz- und Spottkultur in Rom: ebd. 128.

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2. Enttäuschungsereignisse im Rahmen der Patron-Klient-Beziehung 2.1. salutatio und adsectatio Der tägliche Klientendienst begann in der Regel mit der salutatio, bei der die Klienten zum Haus des Patrons gingen und ihm dort ihre Aufwartung machten. Von dort aus begleiteten ihn einige über den Tag hinweg auf dem Weg zum Forum, ins Bad und – wenn sie Glück hatten – wieder zurück in dessen Haus, wo sie sich Seite an Seite mit ihrem Patron an einem Abendessen gütlich taten; soweit die Regeln und Erwartungen.14 Martial präsentiert nun aber vielmehr ein Spektrum an Regelbrüchen, an Klagen und Beschwerden über diesen „Togadienst“, wie er es nennt.15 In Mart. 5,22 beispielsweise kommt ein Klient zu Wort, der in aller Frühe zum Haus seines Patrons aufgebrochen war, dabei einen steilen Pfad erklimmen musste, durch Schmutz und Matsch, sich an Maultieren vorbei durch ein Gewühl der arbeitenden Leute schob, um dann zu erfahren, dass sein Patron gar nicht zu Hause ist.16 Er moniert: „Hat denn ein eifriger Klient immer nur unhöfliche Freunde? / Wenn du nicht noch schläfst, kannst du nicht mein Patron sein.“17 Der hier angesprochene Patron, Martial nennt ihn Paulus, bricht mit seiner morgendlichen Abwesenheit ganz offensichtlich mit der Erwartung seines Klienten, indem er nicht etwa noch schläft, sondern – und hier liegt der Witz – offenbar selbst als Klient unterwegs ist. Paulus entspricht damit nicht den erwartbaren Anforderungen. Und mehr noch: Paulus vertritt einen Typus von Patron, der symptomatisch für das Phänomen der „Klientelisierung der Elite“ steht.18 Diese Patrone treten sogar in Konkurrenz zu ihren Klienten, indem sie ihnen den Platz an der Seite anderer potenzieller Patrone streitig machen.19

14 Die adsectatio sei v. a. als Aufgabe der sozial niederen Klienten verstanden worden, so Ganter (2015), 204. Zur morgendlichen salutatio in der Kaiserzeit vor allem: Goldbeck (2010), 263–281. 15 Siehe hierzu auch: Flores Militello (2019), 174. 16 Martial beschreibt auch die physischen Belastungen der Müdigkeit und Kälte. 17 Mart. 5,22,13 f.: semper inhumanos habet officiosus amicos? / rex, nisi dormieris, non potes esse meus. Hier wie an anderer Stelle stammen die deutschen Zitate aus folgender Übersetzung: M. Valerius Martialis (1999): Epigramme (lat./dt.; hrsg. u. übers. v. Paul Barié und Winfried Schindler), Düsseldorf, Zürich. 18 Hartmann (2016), 100. 19 Hiervon zeugt auch die unverblümte Anklage in Mart. 10,10: Cum tu, […] / mane salutator limina mille teras, / hic ego quid faciam? […] quid faciet pauper cui non licet esse clienti? / dimisit nostras purpura vestra togas. („Da du […] / frühmorgens zum Gruß tausend Schwellen abtrittst, / was soll ich dann hier machen? […] / Was soll ein unvermögender Mann tun, der nicht mehr Klient sein darf? / Euer Purpur hat unsere Togen aus dem Dienst entlassen.“ Vgl. Mart. 2,18.

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Neben den dauerhaften, physischen Anstrengungen20 der salutatio und der adsectatio thematisieren die Epigramme die Unzulänglichkeit, Arroganz (fastus)21 und unwürdigen Gegenleistungen der Patrone: Als Senator trittst du sechzig Schwellen in der Frühe ab, / und so scheine ich dir als Ritter faul zu sein, / weil ich nicht seit dem Morgengrauen durch die ganze Stadt hin- und herrenne / und erschöpft tausend Küsse nach Hause bringe. / Du aber tust es, um einen neuen Namen dem purpurnen Jahrbuch zu geben / oder die Völker der Numider und Kappadokier zu regieren: / Doch womit kann ich für mich rechnen, den du zwingst, mittendrin den Schlaf abzubrechen / und morgens den Straßendreck zu ertragen und auszuhalten? / Wenn mein rastloser Fuß aus dem zerrissenen Leder hervortritt / und ein plötzlicher Regen in massivem Guß auf mich herabstürzt, / auch nicht der Diener, der mit meinem Mantel verschwand, auf mein Rufen hin kommt, / nähert sich dein Sklave meinem erfrorenen Ohr / und sagt: „Laetorius bittet darum, dass du mit ihm speisest“. / Für zwanzig Sesterze? Nicht mit mir: Lieber will ich hungern, / als dass ich eine Mahlzeit, du aber eine Provinz als Lohn bekommst / und wir dasselbe tun, doch ohne denselben Gewinn.22

In diesem Epigramm finden wir in einer Art Zusammenschau verschiedener Kritikpunkte aufgeführt: die Selbsterniedrigung und Entwertung des Patrons, der als Senator 60 Schwellen in der Frühe abtritt, dessen Lungern und Schielen auf einen bedeutenden politischen Posten, die mangelhafte ökonomische Lage des Klienten sowie die physischen Strapazen des ganzen Vorgangs. Diese sollen ihm mit einer Einladung zur cena, die wiederum mit 20 Sesterzen aufgerechnet beziehungsweise ohnehin nur noch durch eine monetäre Gegenleistung ersetzt wird, abgegolten werden. Hier sieht der Sprecher selbstredend eine Diskrepanz zwischen seiner Entlohnung und der seines Patrons, die nicht hinnehmbar scheint. Summa summarum profitieren die einfachen Klienten kaum von den togata opera, sodass diese Praxis an verschiedenen Stellen als ineptus23, vanus24 und nocens25 beschrieben wird.

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Z. B. Mart. 1,36; 1,46; 10,70. Z. B. Mart. 7,39. Mart. 12,29: Sexagena teras cum limina mane senator, / esse tibi videor desidiosus eques, / quod non a prima discurram luce per urbem / et referam lassus basia mille domum. / sed tu, purpureis ut des nova nomina fastis / aut Nomadum gentes Cappadocumve regas: / at mihi, quem cogis medios abrumpere somnos / et matutinum ferre patique lutum, / quid petitur? rupta cum pes vagus exit aluta / et subitus crassae decidit imber aquae / nec venit ablatis clamatus verna lacernis, / accedit gelidam servus ad auriculam, / et ‚rogat ut secum cenes Laetorius‘ inquit. / viginti nummis? non ego: malo famem / quam sit cena mihi, tibi sit provincia merces, / et faciamus idem nec mereamur idem. Vgl. Mart. 1,36; 9,100. Z. B. Mart. 1,55,6. Z. B. Mart. 3,4,6. Z. B. Mart. 10,82,8.

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2.2. sportula Bei der salutatio nahmen die Klienten für gewöhnlich die sportula in Empfang. Während in der Frühzeit die sportula in Form von Naturalien ausgehändigt wurde, haben wir es in der Kaiserzeit mit einer monetären Leistung zu tun, die den Klienten für den Aufwand ihrer Aufwartungen entschädigen soll.26 Unter Domitian galt zeitweilig allerdings ein Verbot der sportula. Enttäuschung können wir in den Epigrammen sowohl infolge des sportula-Verbots als auch in Bezug auf die Geringfügigkeit der von den ­Patronen geleisteten Aufwandsentschädigung greifen.27 In Mart. 3,14 wird ein T ­ uccius verspottet, der offenbar nur aufgrund der Aussicht auf die sportula den langen Weg von Spanien nach Rom auf sich nimmt, um dann, nachdem ihn das Gerücht des sportula-­ Verbots erreicht hat, auf der Stelle wieder kehrt zu machen.28 In Mart. 3,38 wird wiederum die Enttäuschung eines gewissen Sextus greifbar, der in der Hoffnung auf eine Karriere als Anwalt, Dichter und/oder Klient nach Rom kommt. Der Sprecher indes konfrontiert ihn mit der Tatsache, dass weder das eine noch das andere ausreiche, um die Bedarfe des Alltags zu decken: Welcher Grund oder welche Zuversicht zieht dich nach Rom, / Sextus? Was erhoffst du dir (quid aut speras) oder was willst du von dort, erzähle! / „Gerichtsreden“, sagst du, „will ich halten, beredter selbst als Cicero sein; / keiner wird mir auf den drei Foren gewachsen sein.“ / Gerichtsreden hielten Atestinus und Civis – du kanntest ja beide –, / doch beide konnten davon nicht die ganze Miete bezahlen. / „Wenn das nichts einbringen sollte, werde ich Verse schmieden; / hörst du sie an, sagst du bestimmt: Das ist Maros Werk.“ / Du spinnst: Unter denen, die in kalten Mänteln / dort frieren, siehst du lauter ‚Nasos‘ oder ‚Vergile‘. / „Ich werde den Kontakt mit bedeutenden Häusern pflegen.“ Kaum drei oder vier gibt es, / die diese Kunst je ernährt hat, die übrige Schar ist blass vor Hunger. / „Was soll ich dann tun? Gib mir einen Rat! Denn in Rom zu leben, bin ich entschlossen.“ / Wenn du gut bist, kannst du, Sextus, vom Zufall leben.29

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Siehe hierzu: Ganter (2015), 212 f. Zu Martials Kritik an der Ökonomisierung und dem materiellen Interesse der Klienten und Patrone: ebd., 220. Auch Juvenal nutzte das Beispiel der sportula, um das rein materialistische Interesse der Klienten und die Umkehr moralischer Normen zu thematisieren: Cloud (1989), 211. Bereits Hartmann (2016), 115 und Sullivan (1991), 118 haben die Reaktion der Klienten in diesem Zusammenhang als Enttäuschung eingeordnet. Zum Verbot der sportula auch: Mart. 3,7. Wallace-Hadrill (1989), 73 f. hat darauf hingewiesen, dass das Klientelwesen grundsätzlich die Möglichkeit bot, Neuankömmlinge in Rom zu integrieren. In den Epigrammen Martials misslingt diese Integration jedoch. Quae te causa trahit vel quae fiducia Romam, / Sexte? quid aut speras aut petis inde? refer. / ‚causas‘ inquis ‚agam Cicerone disertior ipso / atque erit in triplici par mihi nemo foro.‘ / egit Atestinus causas et Civis – utrumque / noras –; sed neutri pensio tota fuit. / ‚si nihil hinc veniet, pangentur carmina nobis: / audieris, dices esse Maronis opus.‘ / insanis: omnes gelidis quicumque lacernis / sunt ibi, Nasones Vergiliosque vides. / ‚atria magna colam.‘ vix tres aut quattuor ista / res aluit, pallet cetera turba

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„Was erhoffst du dir?“, fragt der Sprecher des Epigramms eher rhetorisch, denn offenbar gibt es in Rom nur enttäuschte Erwartungen zu holen. Ein Auskommen werde Sextus nur per Zufall finden. Die Zuwendungen der Patrone scheinen bei Martial demzufolge derart unzureichend, dass sich manche Klienten am Rande existentieller Armut zu bewegen scheinen.30 Den armseligen Zustand eines Klienten karikiert Martial besonders ausführlich in Mart. 12,32, wo der Sprecher einen Vacerra beobachtet, der offenbar nicht mehr in der Lage ist, seine Miete zu bezahlen, und der nun, ausgezehrt, in einer grotesk anmutenden Prozession mit allerlei altem und dreckigem Gerümpel in eine neue Unterkunft zieht.31 Damit prangert Martial in eventuell zwar überzogener und humorvoller, aber nichtsdestoweniger mahnender Weise die Missstände innerhalb der Patron-­KlientenBeziehungen an, die den Klienten scheinbar nicht einmal eine ordentliche Toga, ausreichend Nahrung und ein Dach über dem Kopf gewährleistete; von dem Geld für eine Prostituierte einmal ganz zu schweigen.32 2.3. cena und convivium Die Alternative zur sportula waren die cena und das convivium, die selbstverständlich nicht alle Grundbedürfnisse zu decken vermochten, aber immerhin vielleicht den Hunger und Durst des Klienten stillen konnten.33 Doch auch im Rahmen des Gastmahls musste der Klient mit Enttäuschungen rechnen. Es konnte schließlich geschehen, dass Klienten vom Gastgeber nicht respektvoll behandelt oder erst gar nicht eingeladen wurden. Ein Beispiel für die Ungleichbehandlung beim convivium ist Mart. 3,60: Da ich zum Essen eingeladen werde, seit ich kein bezahlter Klient mehr bin wie früher, / warum setzt man mir dann nicht das gleiche Essen vor wie dir? / Du nimmst dir Austern, die im Lukrinersee sich sättigten, / ich sauge eine Miesmuschel aus und schneide mir dabei in den Mund. / Du hast Champignons, ich muß mir die Saupilze nehmen. / Du hast es mit dem Steinbutt, ich hab’s mit der Brachse zu tun. / Eine goldgelbe Taube füllt dir mit ihren mächtigen Keulen den Magen, / mir wird eine Elster vorgesetzt, die im Käfig

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fame. / ‚quid faciam? suade: nam certum est vivere Romae.‘ / si bonus es, casu vivere, Sexte, potes. Vgl. Mart. 4,5. Als Standardsatz für die Bezahlung der Klienten werden in vielen Epigrammen (z. B. Mart. 6,88; 10,75) 100 Quadranten genannt, die aber weitestgehend als unzureichend verstanden werden. Siehe hierzu: Hartmann (2016), 106. Zur Wohnsituation der städtischen Bevölkerung und der politischen Relevanz der Wohnungsfrage siehe jetzt: Klingenberg (2021). Mart. 3,30; 5,82; 9,2; 9,100; 12,29. Mart. 1,30.

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starb. / Weshalb speise ich ohne dich, da ich doch, Ponticus, mit dir speise? / Dass es die Sportula nicht mehr gibt, soll mir nützen: Essen wir das gleiche!34

Obwohl die Gerichte, die dem Sprecher hier vorgesetzt wurden, nicht ungenießbar waren, so ist doch eine qualitative Asymmetrie herausgestellt, die den Gast herabwürdigt und ihn geradezu beleidigt. Eine solche Diskrepanz bei der Auswahl der Speisen konnte ganz bewusst genutzt werden, um die Statusunterschiede zwischen Patronen und Klienten deutlich zu machen.35 Michael Peachin hat außerdem darauf hingewiesen, dass man sich zur Unterhaltung aller Beteiligten beim convivium gegenseitig auch mal auf den Arm nahm.36 Die Späße konnten dabei selbstverständlich auch auf Kosten der Klienten gehen, über die man Witze riss oder denen man demonstrativ minderwertige Speisen vorsetzte. Eine solche deutliche Ungleichbehandlung erscheint in den Epigrammen als moralisches Problem, lief sie doch der integrierenden Funktion des gemeinsamen Mahls unter amici entgegen. Trotz der faktischen Asymmetrie der Beziehung wurden Klienten im republikanischen Rom noch als amici bezeichnet, was zumindest den Schein sozialer Egalität hervorrief.37 In Mart. 9,48 ist ein Klient wiederum darüber empört, dass er erst gar nicht zum Abendessen eingeladen wurde, und das obwohl er seinem Patron einen Eber geschenkt hatte: Als du bei allem, was dir heilig ist, und bei deinem Haupte schworst, / dass ich den vierten Teil des Vermögens von dir erbe, Garricus, / glaubte ich dir  – denn wer verzichtet gern auf seine Wünsche?  –, / und ich hielt meine Erwartung (spem) mit ständigen Geschenken warm. / Unter anderem schickte ich dir einen laurentischen Eber von seltnem Gewicht: / Aus dem ätolischen Kalydon komme er, konnte man meinen. / Doch du hast Volk und Senatoren sofort zu Tische geladen: / Rom ist noch blaß und rülpst von meinem Eber. / Ich selber – kaum zu glauben – durfte nicht einmal als der letzte Gast dabeisein, / auch keine Rippe gab man mir oder schickte auch nur den Schwanz. / Was soll ich

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Cum vocer ad cenam non iam venalis ut ante, / cur mihi non eadem quae tibi cena datur? / ostrea tu sumis stagno saturata Lucrino, / sugitur inciso mitulus ore mihi: / sunt tibi boleti, fungos ego sumo suillos: / res tibi cum rhombo est, at mihi cum sparulo. / aureus inmodicis turtur te clunibus implet, / ponitur in cavea mortua pica mihi. / cur sine te ceno cum tecum, Pontice, cenem? / sportula quod non est prosit: edamus idem. Vgl. Mart. 9,2. Siehe auch Mart. 3,23, wo den Gästen Speisen vorenthalten werden. Flores Militello (2019), 108 fasst die kritischen Situationen im Kontext des convivium bei Martial zusammen. Hartmann (2016), 120 hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Ungleichheit zwischen Patron und Klient durch solche demonstrativen Praktiken der Herabsetzung auch „künstlich inszeniert“ wurden, um egalitäre soziale Beziehungen asymmetrisch erscheinen zu lassen. Durch den sozialen Wandel in der frühen Prinzipatszeit war die Differenz zwischen Patron und Klient schließlich nicht mehr so deutlich sichtbar. Zur Asymmetrie als kennzeichnendem Element des römischen Klientelsystems: Saller (1989), 49. Peachin (2001), 138. Hierzu: Saller (1989), 57.

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mir da von deinem Viertel erhoffen (sperem), Garricus? / Von meinem eigenen Eber erreichte mich nicht mal ein Zwölftel.38

Dieses Epigramm erscheint im Hinblick auf die Frage nach Enttäuschungsereignissen besonders wichtig, weil es explizit von Hoffnung und Erwartung handelt. Es geht nicht nur um die Erwartung, zum convivium eingeladen zu werden und die Enttäuschung darüber, dass man offenbar nicht zum favorisierten Kreis an Freunden und Klienten zählt, sondern es geht auch um eine Enttäuschungserwartung, die sich daraus ableitet: Vom hoch und heilig versprochenen Erbteil wird der Sprecher wahrscheinlich nichts sehen. Garricus ist damit als ein – auf seinen Vorteil bedachter, Senatoren und populus umschmeichelnder  – Patron entlarvt, der zudem ein grundlegendes Prinzip der Patron-­Klient-Beziehung verletzt: das Prinzip der Reziprozität.39 2.4. Saturnaliengeschenke Der in den Patron-Klient-Beziehungen geltende Grundsatz der Reziprozität manifestierte sich am augenfälligsten im Austausch von Geschenken.40 Vor allem im Rahmen der Saturnalien war es üblich, dass sich Klienten und Patrone gegenseitig beschenkten. Für Martial bot diese Praxis eine weitere Möglichkeit, die Schieflage des PatronKlienten-­Systems zu kommentieren.41 Er schildert die Erwartungshaltungen der Klienten sowie deren Enttäuschung über die Minderwertigkeit der Geschenke wie in Mart. 7,53: An den Saturnalien hast du mir all die Geschenke geschickt, Umber, / die dir die fünf Tage eingebracht hatten: / Zwölf dreiblättrige Schreibtafeln und sieben Zahnstocher; / in ihrem Geleit kamen ein Schwamm, eine Serviette, ein Becher, / ein Halbmaß Bohnen nebst einem Weidenkorb mit Picener Oliven / und ein schwärzlicher Krug Laletaner Most­ sirup; / es trafen ein: kleine, getrocknete Feigen mit weißlichen Pflaumen, / dazu, schwer vom Gewicht, ein Topf mit libyschen Feigen. / Ich glaube, kaum dreißig Sesterze waren die Geschenke insgesamt wert, / die aber acht riesige Syrer trugen. / Wieviel bequemer

Heredem cum me partis tibi, Garrice, quartae / per tua iurares sacra caputque tuum, / credidimus – quis enim damnet sua vota libenter? – / et spem muneribus fovimus usque datis; / inter quae rari Laurentem ponderis aprum / misimus: Aetola de Calydone putes. / at tu continuo populumque patresque vocasti; / ructat adhuc aprum pallida Roma meum: / ipse ego – quis credat? – conviva nec ultimus haesi, / sed nec costa data est caudave missa mihi. / de quadrante tuo quid sperem, Garrice? nulla / de nostro nobis uncia venit apro. 39 Zur Einforderung reziproken Verhaltens bei Martial auch: Ganter (2015), 221, 344; Nauta (2002), 78–87. 40 Zur Bedeutung von Geschenken als wesentliche Bestandteile interpersonaler Beziehungen bei Martial: Spisak (1998). 41 Z. B. Mart. 5,18; 5,19,11–14; 8, 71. 38

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und ohne jede Mühe hätte mir stattdessen / fünf Pfund Silbergeschirr ein junger Sklave bringen können!42

Ob Martial sich hier nur über die mangelnde Freigiebigkeit der Patrone mokiert, oder ob er nicht auch eventuell überzogene Erwartungen seitens der Klienten aufs Korn nimmt, muss an dieser Stelle gar nicht endgültig entschieden werden. Wichtig ist letztlich, dass im Rahmen des Geschenketauschs das Auseinandertreten von Erwartung und Ereignis einen krisenhaften Moment in einer beliebigen Patron-Klient-Beziehung aufgreift, was Martial hier humorvoll und mit einer bilderreichen Sprache verarbeitet: Man sieht acht gut gebaute Sklaven vor sich, die allerlei Krempel abladen, den der Schenkende eben erst selbst erhalten hatte und der vom Beschenkten verächtlich anhand seines ökonomischen Werts bemessen wird. Immerhin hat der hier angesprochene Umber überhaupt etwas geschickt, denn Enttäuschung dürfte sich ebenso breitgemacht haben, wenn Geschenke gänzlich ausblieben, was in den Epigrammen ebenfalls bezeugt ist.43 3. Enttäuschungsabwicklung durch Humor 3.1. Das Spektrum an Handlungsoptionen Wie gingen Klienten und ein Dichter-Klient wie Martial mit den krisenhaften Situationen der Erwartungsenttäuschungen innerhalb der Patron-Klient-Beziehung um? Auch hier bilden die Epigramme ein Spektrum an möglichen Handlungsalternativen ab, die im Wahrnehmungshorizont der Zeitgenossen lagen. Eine Möglichkeit, mit Enttäuschungen umzugehen, war, die Beziehung nichtsdestoweniger beizubehalten.44 Hier dürfte es angesichts der Ignoranz, Arroganz, des Geizes und mangelnder Potenz des Patrons gegolten haben, auch schmerzhafte Emotionen, die Enttäuschungserfahrungen begleiteten, auszuhalten und zu unterdrücken. Wie resilient sich die individuelle Patron-Klient-Beziehung gegenüber wiederholten Enttäuschungserfahrungen gestaltete, können wir auf Basis der Epigramme allerdings nicht rekonstruieren. Eine weitere Option, auf Enttäuschungen zu reagieren, war, die Omnia misisti mihi Saturnalibus, Umber, / munera, contulerant quae tibi quinque dies: / bis senos triplices et dentiscalpia septem; / his comes accessit spongea, mappa, calix, / semodiusque fabae cum vimine Picenarum / et Laletanae nigra lagona sapae; / parvaque cum canis venerunt cottana prunis / et Libycae fici pondere testa gravis. / vix puto triginta nummorum tota fuisse / munera quae grandes octo tulere Syri. / quanto commodius nullo mihi ferre labore / argenti potuit pondera quinque puer! Vgl. Mart. 8,33; 8,71; 10,57. 43 Mart. 4,88; 5,84. 44 Mart. 1,55. 42

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Beziehung abzubrechen. Dies deutet sich z. B. im oben zitierten Epigramm Mart. 5,22 an, wo der Patron selbst antichambriert, oder in Mart. 12,68, wo der Sprecher Rom und den Klientendienst verlassen hat, um Ruhe zu finden.45 Diese beiden Optionen – das Aushalten und das Aufgeben – können an dieser Stelle nicht tiefer beleuchtet werden, denn im Kern soll es darum gehen, die systemstabilisierende Funktion von Komik, Lachen und Humor zu untersuchen. Diese drei Phänomene – Komik, Lachen, Humor – sind eng miteinander verknüpft, benennen aber jeweils unterschiedliche Dinge. Bezogen auf meine Quelle definiere ich als Komik die literarischen Darstellungen von Situationen, anhand derer der Autor Belustigung und Lachen bei der Leserschaft erzeugen möchte.46 Komik zu identifizieren, ist eine äußerst schwierige Aufgabe, müssen wir doch davon ausgehen, dass das antike Publikum über grundlegend andere kulturelle Erfahrungen verfügte, und demzufolge über andere Dinge lachen konnte, durfte und musste als wir; dass also sein Humor, seine Aufgeschlossenheit gegenüber dem Komischen, kulturelle Besonderheiten aufwies.47 Das erklärt, warum wir über manches, was in antiken Texten als lustig beschrieben wird, nur rätseln können. Die Komik, der Witz, die Pointe eines Epigramms erschließen sich dem heutigen Rezipientenkreis demzufolge nicht ohne Weiteres.48 Nichtsdestoweniger gehe ich davon aus, dass sowohl ausreichend kulturelle Überschneidungen als auch ein historisches Verständnis kultureller Rahmenbedingungen es ermöglichen, die Komik in den antiken Texten zu einem gewissen Grad aufspüren und eventuell sogar nachvollziehen zu können. Das entscheidende Argument jedoch, die Epigramme trotz ihres teilweise bissigen Spotts und aggressiven Untertons als humorvolle Textsorte zu klassifizieren, liefert Martial selbst: Er schreibe seine Dichtung mit der Intention zu unterhalten und zum Lachen zu bringen. Seine Texte bezeichnet er selbst explizit als ioci.49 Die verschiedenen Theorien zum Komischen wären für eine Annäherung an die antiken Texte und für ein Auffinden verschütteten antiken Humors letztlich nur begrenzt hilfreich. Zum einen ist die Forschung hierzu kaum zu überblicken, zum anderen vermag wohl keine Theorie alle Aspekte des Komischen zu fassen.50 Es hat sich nichtsdestoweniger ein Kanon dreier Theoriestränge herausgebildet, der eine grobe Geschichte, Orientierung und Verständigung sowie Verortung und Abgrenzung ein-

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Vgl. Mart. 12,18. Martial selbst hatte Rom 98 n. Chr. wieder verlassen und war in seine Heimatstadt Bilbilis zurückgekehrt. Das Thema des Klientelwesens beschäftigte ihn jedoch weiterhin, wovon die Epigramme in Buch 12 zeugen. Zu Martials Rückkehr nach Spanien: Howell (1998). Vgl. Kindt (2017b), 2; Voss (2017), 47. Humor ist zwar ein universelles Phänomen, zeichnet sich aber durch starke kulturelle Prägungen aus. Siehe hierzu: Beard (2016), 65; Meister (2014), 30; Meister (2021), 188. Zur Definition von Humor: Kindt (2017a), 7. Zur Definition von Witz siehe: Willer (2017), 11. Mart. 4,8; 4,14; 7;28; 10,18. Vgl. Nauta (2002), 167 f. Beard (2016), 55.

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zelner Ansätze ermöglicht: die Inkongruenztheorie, die Entlastungstheorie und die Überlegenheitstheorie.51 Diese drei Theorien sollen helfen, verschiedene Aspekte des hiesigen Untersuchungskomplexes (Martial, Humor, Patron-Klient-Beziehung, Enttäuschung) in ihrer Beziehung zueinander sichtbar zu machen, um die These zu stützen, die sich durch das Quellenmaterial selbst nicht ausreichend testen lässt: dass humorvolle Literatur soziale und persönliche Spannungen abfederte, die aus den Enttäuschungen an sich sowie aus der darüber geäußerten Unzufriedenheit entstehen konnten.52 Mein Ansatz bewegt sich damit nicht auf der Ebene des Textverständnisses selbst, das heißt, er versucht nicht, die Pointen in Martials Epigrammen zu entschlüsseln und Humor aufzuspüren, wo eventuell gar keiner ist.53 Er versucht, über die Texte hinausgehend deren sozio-politische Funktion im Rahmen des krisenhaften Transformationsprozesses auszumachen, in dem sich das Klientelwesen im 1. Jahrhundert n. Chr. befand.54 3.2. Die überraschende Verwandtschaft von Enttäuschung und Humor In diesem Sinn dient die Inkongruenztheorie auch nicht als Erklärungsansatz für Martials Witze, sondern soll zeigen, warum Lachen eine erklärbare Reaktion auf eine Enttäuschung ist.55 Die Inkongruenztheorie besagt, dass Lachen in Situationen erfolgt, in denen etwas Unerwartetes geschieht, das sich widersinnig oder konträr zum Er-

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Ebd. 55–57 fasst Überlegenheits-, Inkongruenz- und Erleichterungstheorie kurz und knapp zusammen. Einen kompakten Überblick bieten auch die Einleitungen von Clarke (2007), 1–11 oder Kindt (2017b), 2–6. Indem ich diese drei Theorien anwende, erhebe ich keinesfalls den Anspruch, damit alle in den Epigrammen humorvollen Situationen erfassen zu können oder alle sozialen und politischen Wirkungsmomente satirischer Dichtung abzubilden. Eine Analyse der Funktionsweisen von Witz und Humor in den Epigrammen Martials bietet Sullivan (1991), 211–251. Damit ist nicht gemeint, dass das Klientelwesen vor einer Auflösung stand. Es war alternativlos, erfüllte aber nicht mehr dieselben Funktionen wie in republikanischer Zeit, als die Patrone bspw. bei Wahlen von der Stimmkraft ihrer Klienten abhingen. Dementsprechend kritisiert Martial nicht das Klientelwesen an sich, sondern stellt nur einzelne Verhaltensweisen und Typen infrage, so Ganter (2015), 229. Vgl. ebd. 339; Nauta (2002), 184. Auch Walter (1998), 241 betont, dass Martial keine Vision einer alternativen römischen Gesellschaft vor Augen hatte, sondern dass seine Dichtung auf die Stabilisierung der alten Ordnung und der etablierten Verhaltensweisen ausgerichtet war. Zum Wandel des Klientelwesens auch: Hartmann (2016), 119; Wallace-Hadrill (1989), 80. Nichtsdestoweniger ließe sich der Humor der Epigramme Martials im Hinblick auf das Ausei­ nandertreten von Erwartung und Ereignis analysieren. Weißenberger / Zimmermann (2013), 144 konstatieren, dass die meisten der Epigramme nach einem zweistufigen Schema aufgebaut sind: „Der Kerngedanke wird zuerst in verhüllter Form vorgestellt (‚Erwartung‘), um im zweiten Schritt in einer den Leser überraschenden Form offenbart zu werden (‚Aufschluß‘)“. Vgl. Sullivan (1991), 239.

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warteten verhält.56 Entlang der Inkongruenztheorie mag Enttäuschung nun insofern eine strukturelle Verwandtschaft mit Komik haben, dass beides angesichts des Auseinandertretens von Erwartung und Erfüllung auftritt. Wir haben es quasi mit zwei unterschiedlichen Formen von ‚Ent-Täuschung‘ zu tun: Im Fall dessen, was wir unter ‚Enttäuschung‘ verstehen, stellt die Erfahrung des Unerwarteten eine unangenehme Überraschung dar und ist mit einem schmerzhaften Gefühl verbunden. Im Fall der Komik erzeugt die Inkongruenz von Erwartbarem und tatsächlichem Ereignis hingegen Erheiterung, bestenfalls Gelächter.57 Demzufolge möchte ich Lachen als einen alternativen Reflex auf erfahrene Enttäuschung deuten; wobei er sich immer in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren ausformt und nicht zuletzt durch die kognitive Beurteilung der Schwere und Konsequenzen der Enttäuschung bedingt ist. Dahingehend ist Humor, wenn man trotzdem lacht und den Erfahrungen aus Enttäuschungen im Rahmen der Patron-Klient-Beziehung mit Erheiterung begegnet. Ob der ein oder andere Klient auf diese und jene Situation mit Humor reagierte, lässt sich historisch nicht rekonstruieren. Die Epigramme Martials lassen sich aber als Produkte eines heiteren Modus der Enttäuschungsabwicklung zweiter Ordnung deuten, indem sie die Enttäuschung gewissermaßen aus der Retrospektive literarisch und humoristisch verarbeiten. Anders als die Inkongruenztheorie blicken die Entlastungstheorie und die Über­ legenheitstheorie wesentlich stärker auf die interpersonalen und sozialen Implikationen des Lachens.58 Sie bieten eine Erklärung dafür, wie Humor dabei half, die Kooperation nach Enttäuschungen durch den Patron aufrechtzuerhalten. 3.3. Humor als emotionales Sicherheitsventil Die Entlastungstheorie versteht das Lachen als lustvolle Befreiung von Stress, der sich durch das Unterdrücken und Verdrängen einer Emotion angestaut hat, und es ist wenig überraschend, dass sie in prominenter und noch etwas komplexerer Weise von Sigmund Freud vertreten wurde. Sie entpuppt sich als brauchbares Werkzeug in der Hinsicht, dass sie die Aufmerksamkeit weniger auf die Auslöser des Lachens richtet, sondern vielmehr auf die emotionale Disposition der Lachenden und auf die sozialen und kulturellen Hintergründe, mit denen diese emotionale Haltung assoziiert ist. Diese Theorie möchte erklären, warum wir trotzdem lachen. Die Entlastungstheorie 56 57 58

So schon Aristot. rhet. 3,11,25 oder Cic. de orat. 2,255. In einem weitesten Sinne lassen sich wahrscheinlich viele Emotionen als Reaktion auf ein unerwartetes Ereignis deuten: die Trauer über den plötzlichen Tod eines nahestehenden Menschen ebenso wie Freude über ein verpacktes Geschenk. Die Inkongruenztheorie wird als eine stimulus-Theorie verstanden, die das Komische zu definieren versucht, während die beiden anderen Ansätze als response-Theorien einzuordnen sind, die fragen, warum und vor welchem Hintergrund etwas als komisch erfahren wird. Vgl. Kindt (2017b), 4.

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besagt in verkürzter Form, dass Lachen psychische Energie freisetzt, die sich durch das Unterdrücken von Emotionen, durch nervöse Anspannungen ansammelt. Man entlädt gewissermaßen Druck und lacht über Dinge, die diesen Druck erzeugen.59 Das Lachen über die gescheiterten Klientelbeziehungen kann dementsprechend als Ausdruck einer psychischen Erleichterung verstanden werden; als lustvolle Entladung eines mentalen Stresses, der sich angesichts der Enttäuschungen angestaut haben mag. So können die scherzhaften Epigramme, welche die krisenhaften und zum Teil existenzbedrohenden Situationen der stadtrömischen Klientel schildern, zugleich als „emotionales Sicherheitsventil“60 dienen. Die aus den Enttäuschungen resultierende Unzufriedenheit und Angst wurden auf diesem Weg vielleicht nicht neutralisiert, so aber doch abgeschwächt, und entlasteten nicht nur das Individuum, sondern auch die Spannungen innerhalb der Beziehungen und Gruppen. Auch aus dieser Perspektive scheint es einleuchtend, dass das Lachen unterstützend wirkte, um an einer Beziehung nach Enttäuschungserfahrungen seitens der Klienten festzuhalten. Anders sieht es bei aggressiveren Formen des Humors aus, die weniger geeignet scheinen, Situationen der sozialen Spannung zu entschärfen, wie Ironie, Spott und Zynismus. Diese Formen des Lachens lassen sich am besten mit der Überlegenheitstheorie fassen. 3.4. Lachen verleiht Macht Die Überlegenheitstheorie setzt ein Objekt voraus, das verlacht wird. Als ein solches Objekt qualifizieren sich zumeist Personen oder Gegenstände, die eine Fehlerhaftigkeit oder Unzulänglichkeit aufweisen. Die Theorie besagt nunmehr, dass das Lachen über diese Objekte die Lachenden in ein Gefühl der Größe beziehungsweise Erleichterung versetzt, selbst nicht Gegenstand des Gelächters zu sein.61 Das Lachen wird hier eher als ‚Ver-Lachen‘ ausgedeutet, und wir begegnen ihm in mehr oder weniger aggressiven Ausformungen. Wir haben gesehen, dass Martials Spott nicht immer humorvoll, sondern mitunter bissig formuliert ist. Zwischen spöttischem Scherz und scherzhaftem Spott verlief ein schmaler Grat. Sofern man die Epigramme unter dem Vorzeichen der Überlegenheitstheorie liest, wird klar, dass diese Texte in aller Deutlichkeit auf die moralischen Mängel der ­Patrone sowie deren Unzulänglichkeit im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit als solche verwiesen. Objekte des Lachens beziehungsweise des Spotts waren Typen wie Paulus und Ponticus, über die sich die Lachenden, seien es Klienten oder unbeteiligte Dritte, erheben konnten. Der Witz über den Patron ermächtigte die Klienten, ihre objektive 59 60 61

Vgl. Kindt (2017b), 3. Beard (2016), 57. Kindt (2017b), 3.

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Machtlosigkeit in eine Position der Stärke umzudeuten. Demzufolge konnte der Humor auch ein Ausweg aus einer Enttäuschungserfahrung sein, die dem Klienten subjektiv mehr Autonomie und Anerkennung eröffnete und seine Bereitschaft zur Fortsetzung des Klientendienstes erhöhte.62 Humor war in diesem Fall, wenn man trotzdem lachte. 3.5. Das weite Feld des Lachens Was diese drei Haupttheorien nicht umfänglich fassen, aber worauf sie zielen können, und was für die Frage nach der Abwicklung von Enttäuschungserfahrungen von besonderem Interesse ist, sind die weiteren sozialen Auswirkungen des Lachens und des Humors, seine Bedeutung innerhalb der gesellschaftlichen und politischen Kommunikation, seine destruktiven oder integrativen gesellschaftlichen Folgen und Funktionen, seine Rolle als Sanktionsinstrument, seine institutionellen Rahmungen sowie seine Normierungen in Gestalt von Lacherlaubnissen und Lachverboten. Diese Aspekte können hier jedoch nur angerissen werden. Als erstes möchte ich vor allem die sozial integrierende Facette des Komischen hervorheben. Selbst Schadenfreude, Spott und Ironie, die eher dazu neigen, zu Eskalation interpersonaler und sozialer Konflikte zu führen als zu Kooperation und gesellschaftlichem Frieden, können in Form eines gemeinsamen Lachens den Gruppenzusammenhalt fördern.63 So hat sich die Leserschaft Martials womöglich mit den anklagenden personae identifizieren können und sich über die mündliche Rezitation innerhalb der Gruppe ihrer Zugehörigkeit versichert.64 Desweiteren ist nicht auszuschließen, dass Witze, die nach einer Buchpublikation kursierten und Normverstöße der Oberschicht anprangerten, und dass Scherze, die einzelne Praktiken der Patrone als negative Vorbilder vorführten und ins Lächerliche zogen, Konsequenzen für die Verspotteten hatten und eventuell sogar korrigierend auf deren Verhalten wirkten.65 Dass Martials Kritik am Benehmen von Patronen und Klienten sowie seine moralischen Appelle an die Zeitgenossen ungehört verhallten, ist nicht anzunehmen, aber im Einzelnen nicht zu rekonstruieren. Schlussendlich soll noch der institutionelle Rahmen des literarischen Schaffens hervorgehoben werden, der als „Humorraum“ gedeutet werden kann, der den Spott und

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Zum Komischen als Mittel zur Selbstbehauptung: Kapitza (2017), 143. Zur psychosozialen Wirkung des Lachens: Voss (2017), 47. Zur integrierenden Funktion von Humor in der Antike: Timmer (2017), 156; Beard (2016) 28; Meister (2014), 35–36. 64 Zu den verschiedenen Gelegenheiten der Rezeption der Epigramme: Nauta (2002), 98 (convivium); ebd., 166 (Saturnalien); ebd., 139 (private Lektüre und öffentliche Räume). 65 Zur edukativen Funktion des Lachens über negative Vorbilder: Voss (2017), 47. Zur sanktionierenden und moralisch-regulierenden Wirkung des Lachens und des Spotts: Kapitza (2017), 139 f.

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die Kritik an den Patronen mit einer Lacherlaubnis ausstattete.66 So verfügte satirische Literatur geradezu über die gattungsspezifische Lizenz, wenn nicht gar Notwendigkeit, in ästhetisierter und scherzhafter Form gesellschaftliche Missstände darzustellen und Anstoß an ihnen zu nehmen.67 Die Fiktionalität und der Humor der Texte nahm ihnen dabei ein großes Maß ihrer Aggressivität und erlaubte so eine Grenzziehung zwischen anderen Formen verbaler Gewalt.68 In welchem Maße die Mächtigen ihr Fett wegkriegten, lässt Rückschlüsse über die autoritären Strukturen und kulturellen sowie literarischen Freiheiten einer Gesellschaft zu.69 In der Kaiserzeit konnte es lebensgefährlich sein, den Kaiser aufs Korn zu nehmen und über ihn zu lachen.70 Dies machte eine kritische Äußerung, trotz der institutionellen Einhegung des Spottgedichts, unter Umständen unmöglich. Umso aufschlussreicher ist die Tatsache, dass sich die satirische Verballhornung unzuverlässiger und geiziger Patrone wie ein roter Faden durch die römische Geschichte zieht. Die Institution des Klientelwesens war insofern eng verknüpft mit der Institution der satirischen Literatur und einer Tradition des Lachens übereinander. 4. Schluss Auf der Suche nach Enttäuschungserfahrungen in Rom haben sich Martials Epigramme als eine ergiebige Quelle erwiesen. Sie schildern ganz konkret die materiellen, ökonomischen und interpersonalen Enttäuschungen der Klienten. Zugleich drückt sich darin die moralische Enttäuschung des zeitgenössischen Beobachters aus, der verschiedene Aspekte des Klientelwesens kritisiert: Es geht darum, dass sich Patrone nunmehr selbst als Klienten verdingen, es geht um die Ökonomisierung der persönlichen Beziehungen, um das Ausbleiben der Reziprozität und den mangelnden Respekt. Es muss jedoch festgehalten werden, dass der vorliegende Beitrag nur auf das Fehlverhalten der Patrone geblickt hat, dass aber beide, Patrone und Klienten, den geläufigen Rollenerwartungen nicht mehr gerecht wurden.71

66 Zum Begriff und Definition des „Humorraums“ siehe: Meister (2021), 194. Zur institutionellen Rahmung des Lachens siehe auch: Voss (2017), 49. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Rolle der scurrae, der Unterhaltungsspezialisten, die bei den convivia sowohl die Aufgabe des Spottenden als auch die des Verspotteten übernahmen. Vgl. Nauta (2002), 178. 67 Ebd., 189. 68 Ebd., 175. 69 Siehe hierzu: Kapitza (2017), 136. 70 Vgl. Cass. Dio 73,21,2. 71 Damon (1997), 147; Nauta (2002), 101; Flores Militello (2019), 323; Sullivan (1991), 161 f.; Ganter (2015), 224 weist außerdem zurecht daraufhin, dass Martial die Klienten auch dafür kritisiert, dass sie sich freiwillig in Abhängigkeiten aufhalten, ohne auf die Leistungen wirklich angewiesen zu sein.

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Das Verhalten der Beteiligten konnte nicht nur auf individueller, sondern auf kollektiver Ebene negative Konsequenzen haben und damit das Funktionieren des Systems an sich infragestellen, weil Enttäuschungen potentiell zu emotionalen Spannungen und zwischenmenschlichen Konflikten führten. In Bezug auf die Frage, wie die Akteure mit Enttäuschungen umgingen, ist davon auszugehen, dass Klienten wie Pa­ trone, mehr oder minder abhängig von ihrer ökonomischen und sozialen Lage, die Beziehungen aufkündigten oder aushielten. Im humorvollen Umgang mit Enttäuschungen eröffnete sich eine alternative Möglichkeit, mit der persönlichen Enttäuschung im Kleinen und dem sich abzeichnenden Verfall gesellschaftlicher Ordnung und Moral im Großen umzugehen. Hier bot sich der Raum, trotzdem zu lachen. Als emotionaler Ausdruck oder als Gegenstand literarischer Kontemplation zeichnete sich Enttäuschung nicht in den Texten ab. Nichtsdestoweniger können wir festhalten, dass in Martials Epigrammen eine Vielzahl individueller Negativerfahrungen zu einer präzisen, satirischen Gesellschaftsbeobachtung zusammengeführt wurden. Entlang der hier vorgestellten, vor allem theoriebasierten Deutungsangebote konnten die literarischen Parodien die auftretenden Spannungen und Konflikte entschärfen.72 Das Lachen über die Missstände stabilisierte nicht nur die interpersonalen Beziehungen, sondern das System als Ganzes. Der Anfang einer Geschichte der enttäuschten Klienten ist damit gemacht. Sie kann weitergeschrieben werden, indem wir auf die Gegenseite, den enttäuschten Patron, blicken und damit die Top-Down-Perspektive einnehmen. Man kann aber auch den zeitlichen Horizont erweitern und Martials Enttäuschungsgeschichten mit denen von Horaz oder Juvenal verbinden.73 In jedem Fall bietet die Analyse der Verflechtung von Klientelwesen, Enttäuschung und Humor eine neue Perspektive auf ein klassisches Thema. Literatur Beard, Mary (2016): Das Lachen im alten Rom. Eine Kulturgeschichte (engl. 2014). Darmstadt. Clarke, John R. (2007): Looking at Laughter. Humor, Power, and Transgression in Roman Visual Culture. Berkeley. Cloud, Duncan (1989): „The Client-Patron Relationship: Emblem and Reality in Juvenal’s First Book“. In: Wallace-Hadrill, Andrew (Hg.): Patronage in Ancient Society. London, 205–218. Corbeill, Anthony (1996): Controlling Laughter. Political Humor in the Late Roman Republic. Princeton, New Jersey. Damon, Cynthia (1997): The Mask of the Parasite. A Pathology of Roman Patronage. Ann Arbor.

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In diese Richtung argumentiert auch Timmer (2017), 159. Zur Darstellung der Patron-Klient-Beziehung bei Juvenal: Cloud (1989). Kritisch sehe ich dessen Urteil, die Satire sei eine für die Sozialgeschichte unverlässliche Quelle.

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Personalpolitik mit Enttäuschungspotential Umgang der Senatoren mit Erwartungsenttäuschungen im Principat* Lukas Jansen 1. Intrada Nachdem Vespasian seinen kaiserlichen Machtanspruch im longus et unus annus1 69 erfolgreich durchgesetzt hatte, sah er sich mit hohen Erwartungen aus dem Personenkreis konfrontiert, der seine Usurpation unterstützt und seine Machtübernahme überhaupt erst möglich gemacht hatte. Diese Unterstützer erwarteten sich adäquate Belohnungen für ihren Einsatz. Bereits direkt nach dem Sieg begann das Ausschütten dieser Belohnungen, als Vespasians Stellvertreter in Rom, Domitian und C. Licinius Mucianus, zahlreiche Ämter und Posten verteilten.2 Wie groß der Personenkreis war, den Vespasian nach seinem Herrschaftsbeginn bedenken musste, lässt sich an den überlieferten Namen erahnen, die unter den Flaviern Ämter und Posten erhielten: Unter diesen lässt sich kaum eine Person finden, die nicht in irgendeiner Form mit dem flavischen Griff nach der Macht in Verbindung gebracht werden kann.3 Doch nicht alle wichtigen Unterstützer von Vespasians Usurpation profitierten in dem von ihnen erwarteten Maße von ihrer Parteinahme. Ein prominentes Beispiel ist M. Antonius Primus.4 Der Senator hatte sich als Legionslegat im Jahr 69 der flavi*

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Der Beitrag hat sehr von den Hinweisen und Anregungen der Tagungsteilnehmer:innen profitiert. Teile des Beitrags greifen Aspekte auf, die vertiefend in meiner im Entstehen befindlichen Dissertationsschrift „Der Principat – eine Kultur des Misstrauens? Untersuchungen zu Vertrauen und Misstrauen im frühen Principat“ (Arbeitstitel) behandelt werden. Den Herausgeber:innen danke ich herzlich für die Einladung zur Tagung. Alle Jahresangaben verstehen sich als n. Chr. Tac. dial. 17,3. Tac. hist. 4,47; Suet. Dom 1,3; Cass. Dio 65,2,2–3. Zu Vespasians Personalpolitik, die in den fasti consulares manifest wird, vgl. Eck (2009). Zur Besetzung der Statthalterposten in den 70er Jahren vgl. Eck (1982), 284–301. Für die Zusammensetzung der wichtigsten Priesterkollegien unter den Flaviern vgl. Rüpke (2005), 227–256. Zu M. Antonius Primus und zum Folgenden vgl. PIR2 A 866; Syme (1958), 593; Alföldy (1969), 117 f.; Nicols (1978), 138; Franke (1991), 160 f.

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schen Erhebung angeschlossen, die pannonischen und mösischen Legionen zum Sieg gegen die vitellianischen Truppen in der zweiten Schlacht bei Bedriacum geführt, Rom erobert und Vitellius gestürzt. Für kurze Zeit hatte er die Macht in der Stadt inne, für seine Verdienste erhielt er vom Senat sogar die insignia consularia.5 Mit der Ankunft des Mucianus in Rom, einige Tage nach dem Fall der Stadt, begann aber ein Prozess, in dessen Verlauf Antonius Primus innerhalb weniger Monate politisch vollständig marginalisiert wurde.6 Nachdem er den Machtkampf mit Mucianus verloren hatte, reiste Primus nach Alexandria, wo sich der Princeps in den ersten Monaten seiner Herrschaft aufhielt. Vespasian empfing den Mann, der für ihn den Krieg mit den Vitellianern beendet hatte, zwar nicht ungnädig, aber auch nicht so ehrerbietig, wie Primus erwartet hatte. Diskreditierende Briefe von Mucianus und anderen Parteigängern, in denen sich despektierlich über Primus und sein hastiges Vorgehen beim Feldzug gegen die ­Vitellianer geäußert wurde, hatten das Misstrauen des Princeps gegenüber dem Senator geweckt.7 Primus’ Verhalten in Alexandria, seine eigenen Verdienste wiederholt herauszustellen und alle anderen als feige darzustellen, tat sein Übriges, um bei Vespasian den Argwohn zu verstärken, den die Briefe bereits geregt hatten.8 Das großspurige Auftreten, das Primus in Alexandria an den Tag gelegt haben soll, spricht Bände darüber, welch hohe Meinung er von seinem eigenen Verdienst um Vespasians erfolgreiche Usurpation hatte. Dementsprechend hohe Erwartungen hatte er an Vespasian und rechnete sicher fest mit einer adäquaten Belohnung.9 In den folgenden Jahren unternahm Vespasian aber nichts, um Primus zu fördern, und so fehlt dessen Name in der illustren Gruppe von Männern, die unter Vespasian die fasces führen durften; er erhielt auch sonst keine Ämter oder Posten. Primus musste also miterleben, wie Personen belohnt wurden, die deutlich weniger zum flavischen Sieg beigetragen hatten als er, während er selbst leer ausging. Stattdessen wurde er unter den Flaviern zur persona non grata, der die Schuld an den Gräueln angelastet wurde, die sich zu Ende des Bürgerkriegs ereignet hatten.10 Wie Primus mit der Enttäuschung seiner Erwartungen durch Vespasian umging, ist in der Überlieferung nur schemenhaft zu erkennen, da er aus Tacitus’ Narrativ nach der Begegnung mit Vespasian in Alexandria vollständig verschwindet. Der Historiograph vermerkt nur noch, dass Primus’ Ansehen und Bedeutung allmählich geschwunden

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Tac. hist. 4,4,2. Tac. hist. 4,11,1. Zu C. Licinius Mucianus vgl. PIR2 L 216; Dabrowa (1998), 58–60. Zur Rivalität zwischen Antonius Primus und Mucianus vgl. Briessmann (1955), 91–93 sowie Geisthardt (2015), 263–265, 266 f., 271 f., 274 f. Tac. hist. 3,52,3; 4,80,2. Tac. hist. 4,80,2–3. Bereits zuvor hatte Primus einen Brief an Vespasian geschrieben, in dem er mehr prahlte, als es sich gegenüber einem Princeps ziemte (Tac. hist. 3,53,1). Tac. hist. 3,52,3; 4,80,2. Vgl. etwa Tac. hist. 3,32–33; 3,49,1. Zu den Gründen, die Vespasian veranlassten, Primus politisch zu marginalisieren, vgl. Geisthardt (2015), 271 f.

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seien, der Kaiser aber die freundschaftliche Beziehung zu dem Senator zum Schein gewahrt habe.11 Einige Epigramme Martials geben in dieser Hinsicht mehr Aufschluss. Aus ihnen geht hervor, dass Primus der widerfahrenen Erwartungsenttäuschung begegnete, indem er sich aus dem politischen Geschehen zurückzog und sein restliches Leben in seiner Heimatstadt Tolosa verbrachte, wo er noch zur Abfassungszeit des zehnten Buches von Martial in der zweiten Hälfte der 90er Jahre lebte.12 Martial beschreibt Antonius Primus als einen Mann, der positiv auf die vergangenen Tage und sorgenfreien Jahre zurückgeblickt hätte. Keinen Tag habe es für ihn gegeben, an den er sich nicht gerne erinnert hätte.13 Enttäuschung oder gar Verbitterung lässt sich in diesen Zeilen zunächst nicht erkennen. Vielmehr zeichnet der Dichter das Bild eines Mannes, der die Enttäuschung verwunden zu haben scheint, die ihm durch Vespasian widerfahren war, und sich dabei vollkommen mit sich selbst im Reinen befand und seinen Lebensabend genoss. Dieser Eindruck könnte jedoch falsch sein. Es liegt der Verdacht nahe, dass Martial nur Primus’ Selbstinszenierung vorträgt, mit der sich der Senator gegen die Diffamierung und Zurücksetzung zur Wehr setzte, die seine Person unter den Flaviern erfahren hatte.14 Das Schicksal des Antonius Primus war zwar nur eine Randnotiz in der Geschichte des frühen Principats, dennoch soll es als Ausgangspunkt für eine Untersuchung des Umgangs römischer Senatoren mit Enttäuschungen dienen, die durch die kaiserliche Vergabepraxis von Ämtern, Posten und Würden verursacht wurden. Die folgenden Ausführungen sollen das Enttäuschungspotential umreißen, das der Vergabe prestigeträchtiger Güter durch den Princeps inhärent war. Einige exemplarische Fälle aus dem ersten Jahrhundert sollen verschiedene Facetten des senatorischen Umgangs mit Erwartungsenttäuschungen aufzeigen, die aus der kaiserlichen Personalpolitik resultierten.15 Der Fall des Antonius Primus weist dabei schon auf die Schwierigkeiten hin, die sich bei der Suche nach solchen Enttäuschungserfahrungen und nach dem senatorischen Umgang mit ihnen ergeben. Häufig kann auf derartige Erwartungsenttäuschungen nur indirekt geschlossen werden. Der individuelle senatorische Umgang mit der Enttäuschung ist selten im überlieferten Quellenmaterial greifbar und kann nur vereinzelt sichtbar gemacht werden.

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Tac. hist. 4,80,3: Unde paulatim levior viliorque haberi, manente tamen in speciem amicitia. Mart. 9,99; 10,23; 10,32; 10,73. Mart. 10,23,3–6: Praeteritosque dies et tutos respicit annos/[…] nulla recordanti lux est ingrata gravisque;/nulla fuit cuius non meminisse velit. Vgl. hierzu auch Ash (1999), 148. Das Verständnis von Enttäuschungen lehnt sich an den Beitrag von Timmer in diesem Band an.

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2. Erwartungen und Enttäuschungen der Senatoren Die allgemeinen Rahmenbedingungen in Sachen Allokation der prestigeträchtigsten Güter sind für die römische Gesellschaft des Principats hinlänglich bekannt: Die Verfügungsgewalt über die Verteilung von Ämtern, Posten und Würden besaß der Princeps. Er konnte auf direktem oder indirektem Weg die wichtigsten Machtressourcen zusprechen oder verweigern.16 Schon auf den untersten Stufen des cursus honorum konnte der Herrscher nicht genehme Kandidaten aufhalten; die Prätur und das Konsulat werden solche Personen nicht erreicht haben. Nur wer sich im Einvernehmen mit dem Princeps befand, konnte vorankommen. Gegen den kaiserlichen Willen war eine erfolgreiche politische Karriere unmöglich.17 Wer die obersten Stufen der senatorischen Laufbahn nicht erklomm, hatte keine Möglichkeit, für weitere Funktionen ausgewählt zu werden. Für die Senatoren war die Erlangung von Ämtern und Posten daher von besonderer Bedeutung, da ihnen umso höhere Ehre (dignitas) zukam, je höher sie in der senatorischen Rangordnung standen.18 Aus diesen Gründen blieb es für die Männer der römischen Aristokratie auch im Principat erstrebenswert, den cursus honorum zu absolvieren und administrative Ämter und Pflichten auszuüben.19 Die Haltung der Senatoren in dieser Hinsicht bringt der Philosoph Epiktet etwas überspitzt auf den Punkt: Sie würden nicht den Princeps, sondern den Reichtum, das Tribunat, die Prätur und das Konsulat lieben.20 Kaiserliche Personalentscheidungen konnten aber nur dann enttäuschen, wenn sich bei den Senatoren eine Erwartungshaltung ausgebildet hatte, wie ihre Laufbahn vonstattengehen sollte. Gerade in Personalsystemen, die auf Aufstieg ausgelegt sind – und hierzu ist das kaiserzeitliche mit dem cursus honorum zweifelsohne zu zählen –, tendieren Personen zur Ausbildung von Erwartungen.21 Wie sich dieser Prozess gestaltet und welche Auswirkungen die Bildung von Erwartungen auf Personalentscheidungen hat, hat Niklas Luhmann festgehalten: […] Individuen beobachten, wie andere Individuen beurteilt und behandelt werden, und [ziehen] daraus Schlüsse […] auf ihre eigene Situation. Ein dichtes Netz des Klatsches,

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Saller (1982), 41–78; Barghop (1994), 69–71; Wolkenhauer (2014), 171–176. Millar (1977), 303; Wolkenhauer (2014), 170. Lendon (1997), 21. Vgl. etwa zahlreiche Bemerkungen in den Briefen des jüngeren Plinius: Plin. epist. 1,10; 1,22; 2,1; 2,8; 3,1; 3,5; 3,7; 3,12; 4,23; 7,3; 7,25; 8,21; 9,3. Zu Plinius’ Sicht auf den politischen Raum vgl. Page (2015), bes. 89–111. Neben dem politischen Engagement wandten sich die Senatoren zunehmend auch anderen Tätigkeitsfeldern zu, auf denen sie sich zu profilieren suchten, vgl. Stein-Hölkeskamp (2003); Stein-Hölkeskamp (2011); Page (2015); Künzer (2016); Stein-Hölkeskamp (2019); Stein-Hölkeskamp (2020). Epik. 4,1,60. Luhmann (2000), 291. Generell zur Problematik von Personalentscheidungen für gesellschaftliche Schlüsselpositionen aus historischer Perspektive vgl. Fahrmeir (2017).

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des Weiterreichens von Informationen über Personalentscheidungen und deren offene oder verdeckte Gründe, verbindet alle Informationen, erinnert […] Fälle und vergleicht. Daraus ergeben sich dann, diese Informationen raffend, Forderungen nach Gleichbehandlung, Offenlegung der ‚wirklichen‘ Gründe und mit all dem ein starker Druck auf den Entscheidungsprozess, den dieser durch Schematisierung auffängt.22

In einem auf Aufstieg ausgerichteten Personalsystem kommt es also geradezu zwangsläufig zur Ausbildung von mehr oder weniger konkreten Erwartungen über die jeweils bestehenden Möglichkeiten. Dass die Erwartungen der Senatoren sich in ähnlicher Weise bildeten, lässt sich in den kaiserzeitlichen Quellen nachvollziehen. In der eng vernetzten aristokratischen Community Roms war es weit verbreitet, sein eigenes Vorankommen mit dem der anderen zu vergleichen. Auf diese Weise konnte jeder Senator evaluieren, ob andere schneller vorankamen oder größere Ehren erhielten. Diese Vergleiche konnten schmeichelhaft für einen ausfallen, oft gaben sie hingegen Anlass zur Enttäuschung.23 In de beneficiis beschäftigt sich Seneca mit dieser weitverbreiteten Geisteshaltung seiner aristokratischen Zeitgenossen und identifiziert die comparatio als einen der Hauptgründe für die eigene Enttäuschung angesichts des Erreichten. Gerade beim Vergleich mit den anderen Aristokraten ließe sich immer ein Grund finden, um über das enttäuscht zu sein, was man vom Princeps erhalten hat, denn einmal gab dieser einem mehr, beim nächsten Mal bekam jemand anderes etwas schneller.24 In de ira hält Seneca deshalb fest, dass niemandem das Eigene gefalle, wenn er auf das Fremde schiele.25 In einer anderen Passage des gleichen Werks beschwert sich ein Senator, nie das vom Princeps erhalten zu haben, was er erwartet habe: Die Prätur hat er mir gegeben, doch mit dem Konsulat hatte ich gerechnet. Er hat mir die zwölf Rutenbündel gegeben, mich aber nicht zum regulären Konsul gemacht. Er wollte, dass man nach mir das Jahr benennt, doch verhalf er mir nicht zu einem Priesteramt. Ich wurde in ein Priesterkollegium aufgenommen, doch wieso nur in eines? Er ließ mich zu höchsten Ehren gelangen, doch für meine Finanzen tat er nichts.26

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Luhmann (2000), 287 f. Zu einem solchen Vergleich vgl. etwa Plin. epist. 7,16,2. Sen. benef. 2,28,1: Omnibus his vehementius et inportunius malum est invidia, quae nos inquietat, dum conparat: Hoc mihi praestiti, sed illi plus, sed illi maturius. Sen. ira. 3,31,1: Nulli ad aliena respicienti sua placent. Sen. ira. 3,31,1–2 (Übersetzung: Manfred Rosenbach): Dedit mihi praeturam, sed consulatum speraveram; dedit duodecim fasces, sed non fecit ordinarium consulem; a me numerari voluit annum, sed deest mihi ad sacerdotium; cooptatus in collegium sum, sed cur in unum? Consummavit dignitatem meam, sed patrimonio nihil contulit: ea dedit mihi, quae debebat alicui dare, de suo nihil protulit. Vgl. Sen. benef. 2,27,4. Um derartige Erwartungsenttäuschungen zu vermeiden, empfiehlt Seneca sich nicht mit denen zu messen, hinter denen man zurückstehe, sondern sich zu vergegenwärtigen, vor wie viel mehr Menschen man den Vorzug erhalten habe (Sen. ira. 3,31,3; benef. 2,28,2; epist. 73,2 f.).

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Um Senatoren zu enttäuschen, musste der Princeps unter diesen Bedingungen nicht einmal Ämter oder Würden vorenthalten. Jede kaiserliche Personalentscheidung konnte Anlass geben, um über das enttäuscht zu sein, was einem zuteilgeworden war. Bereits an diesen ersten Beispielen wird ersichtlich, wie der aristokratische Diskurs die Personalentscheidungskonstellation modellierte: Als Entscheider in diesen Fragen wird der Princeps identifiziert; die von dessen Entscheidungen Betroffenen sind die Senatoren.27 Durch diese Darstellung wird die Konstellation aber simplifiziert, denn die Differenzierung zwischen Entscheider und Betroffenen fiel nicht derart trennscharf aus, wie es die Quellen suggerieren: Die Principes fällten Personalentscheidungen keineswegs autark, sie wurden hierbei von Beratern und Freunden sowie zahllosen epistulae commendaticiae beeinflusst. Ohne diese Unterstützung hätten die Herrscher die Besetzung der verschiedenen Funktionsstellen überhaupt nicht vornehmen können.28 Dies gab den Senatoren die Möglichkeit, ihre Erwartungen je nach ihren Einflussmöglichkeiten mittel- oder sogar unmittelbar in den Entscheidungsfindungsprozess einzubringen. Dennoch wurde die Komplexität der Personalentscheidungen im aristokratischen Diskurs reduziert, um einen Verantwortlichen – den Princeps – ausmachen zu können, dem exklusiv die Schuld an den negativen Entscheidungsfolgen zugeschrieben werden konnte. Dies lässt eine wichtige Facette des senatorischen Umgangs mit Erwartungsenttäuschungen erkennen. Gegen kaiserliche Personalentscheidungen, denen eine Erwartungsenttäuschung folgte, wurde allerdings kein direkter Protest erhoben, etwa durch das Einklagen von Verantwortung für diese Entscheidung oder die „Aufforderung, dieser Verantwortung gerecht zu werden und die Entscheidung zu ändern“.29 Dem Princeps gegenüber wahrten die Senatoren den Schein und bedankten sich huldvoll für die ihnen gewährten prestigeträchtigen Güter.30 Erst nach dem Ableben und der Verdammung eines Kaisers war es möglich, sich über dessen Personalpolitik negativ zu äußern. Besonders prominent ist in dieser Hinsicht etwa das düstere Bild, das Tacitus und der jüngere Plinius von Domitians Personalpolitik zeichnen, wobei es sich bei den beiden Senatoren bezeichnenderweise um zwei Personen handelt, deren Laufbahnen unter diesem Princeps prosperierten.31 An lebende Herrscher konnte lediglich auf indirekte Weise die senatorische Erwartungshaltung herangetragen werden, gar nicht erst Erwartungs-

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Zur Differenzierung zwischen Entscheider und Betroffenen vgl. Luhmann (1991), bes. 111–134. Eck (2021), 289 f. Zum Beraterkreis und zum Entscheidungsfindungsprozess vgl. zudem Millar (1977), bes. 110–122; 259–272; Eck (1998a); Eck (2010). Zu diesem Verständnis von Protest vgl. Hellmann (1994), 149–151 (Zitat: 149). Wie solch ein Dank aussehen konnte, lässt sich etwa in Plin. paneg. 91,1 und epist. 10,2 ersehen. Zum harschen Urteil der beiden Senatoren über Domitians Personalpolitik vgl. Plin. paneg. 69,4–6; Tac. hist. 1,2,3. Ausgewogene Urteile über Domitians Personalpolitik fällen Birk (1967), 110 mit Anm. 1; Eck (1970), 55–76; Jones (1979); Gering (2012), 335 f. Zu den Laufbahnen von Tacitus und Plinius unter Domitian vgl. Alföldy (1995); Birley (2000); Strobel (2003) und Whitton (2015).

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enttäuschungen durch Personalentscheidungen zu verursachen.32 Ein derartiges Vorgehen ist in einer Passage des plinianischen Panegyricus erkennbar, in der ein Senator dem Princeps Traian seinen Dank für die Übertragung des Suffektkonsulats abstattet: Noch hatten wir das zweite Jahr in unserem arbeitsreichen und wichtigen Amt nicht vollendet, da hast du, Bester der Principes und Tapferster der Feldherrn, uns das Konsulat übertragen, so dass zu der hohen Ehre noch die Auszeichnung eines so raschen Aufstiegs kam. Welch ein Unterschied zwischen dir und jenen früheren Principes! Die suchten die Gnade einer Beförderung dadurch aufzuwerten, dass der Weg dahin so mühsam wurde, und gingen davon aus, es beglücke der Aufstieg in die Ämter desto mehr, wenn zuvor erst einmal die Verzweiflung, die Verbitterung und die lange, einer Zurückweisung gleichende Wartezeit sich zum Gefühl der Schmach und Schande verdichtet hätten.33

Sowohl das Lob an die Adresse Traians als auch der Tadel der Personalpolitik früherer Herrscher verfolgen dabei den gleichen Zweck: den Princeps darin zu bestärken, nicht durch unnötige Wartezeiten auf Ämter und Posten für Enttäuschungen und Unmut in den Reihen der Senatoren zu sorgen.34 3. Senatorischer Umgang mit Enttäuschungen In einer Gesellschaft, in der die Ehrenstellung eines jeden Aristokraten durch die von ihm bekleideten Ämter und Posten bestimmt wurde, war eine Nichtberücksichtigung oder auch nur eine nicht als adäquat empfundene Berücksichtigung in der kaiserlichen Personalpolitik nicht nur eine Enttäuschung, sondern auch eine Kränkung, was dem individuellen Umgang mit einem solchen Ereignis noch eine zusätzliche emotionale Brisanz verlieh.35 Eine Zurücksetzung wog schwer und blieb intensiv in senatorischen Gedächtnissen haften. Enttäuschungen, die durch die kaiserliche Personalpolitik verursacht wurden, konnten eine breite Palette an negativen Emotionen hervorrufen. Laut der oben angeführten Passage aus Plinius’ Lobrede auf Traian habe die Enttäuschung beispielsweise zunächst Verzweiflung und Verbitterung ausgelöst, bevor sich

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Zum kommunikativen Mechanismus des affirmativen Forderns vgl. Seelentag (2004). Plin. paneg. 91,1 f. (Übersetzung: Werner Kühn): Nondum biennium compleveramus in officio laboriosissimo et maximo, cum tu nobis, optime principum fortissime imperatorum, consulatum obtulisti, ut ad summum honorem gloria celeritatis accederet: Tantum inter te et illos principes interest, qui beneficiis suis commendationem ex difficultate captabant, gratioresque accipientibus honores arbitrabantur, si prius illos desperatio et taedium et similis repulsae mora in notam quandam pudoremque vertissent. In der Regel meint Plinius sämtliche Vorgänger Traians, wenn er im Panegyricus unbestimmt von ‚Principes‘ spricht, die sich schlecht verhalten hätten (vgl. Beutel (2000), 49; Seelentag (2004), 245 f.; Geisthardt (2015), 110, 370–383). Zur Darstellung früherer Principes im plinianischen Panegyricus vgl. Künzer (2016), 159–166. Zur Beleidigung, wenn man für ein Amt nicht berücksichtigt wurde, vgl. Lendon (1997), 188.

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die lange Zurücksetzung zu einem Gefühl der Schmach und Schande verdichtet hätte.36 In Senecas de beneficiis beschwert sich ein Aristokrat, der sich übergangen fühlt, bitterlich, dass er zwar vom Princeps erhalten habe, was er wollte, aber erst nach langer Wartezeit und großen Anstrengungen: Nicht hatte ich damit gerecht, in die Masse fühle ich mich verstoßen. Eines so kümmerlichen Geschenks hält er mich für wert? Auf anständigere Weise hätte man mich übergehen können.37

Kränkungen ließen sich dementsprechend gerade bei den jährlichen Wahlen kaum vermeiden, wie Tacitus auch Tiberius in einer Rede vor dem Senat sagen lässt: Wenigstens könnten sich die Senatoren über eine Erwartungsenttäuschung durch die Hoffnung darauf hinwegtrösten, dass sie in naher Zukunft wieder die Chance hätten, an die Reihe zu kommen. Wie groß würde erst der Hass ausfallen, wenn sie über einen Zeitraum von fünf Jahren zurückgestellt würden, äußert Tiberius als Reaktion auf einen Antrag, die Magistrate für fünf Jahre im Voraus zu bestimmen.38 In diesen Ausführungen in den Annalen wird deutlich, was den meisten Senatoren den Umgang mit einer Erwartungsenttäuschung erleichtert haben wird, die aus einer kaiserlichen Personalentscheidung herrührte: Die Zurücksetzung war zwar schmerzhaft, aber sie hatte in der Regel keinen endgültigen Charakter. Die meisten Ämter und Posten wurden in regelmäßigen Intervallen neu besetzt, sodass die Möglichkeit bestand, doch noch das Erwartete zu erlangen. Eine einmalige Enttäuschung irritierte so zwar die Erwartung, musste aber nicht bedeuten, dass diese falsch gewesen war.39 Je länger der Zeitraum der Zurückstellung aber andauerte, umso größer wurde diese und umso mehr sanken auch die Hoffnungen, je berücksichtigt zu werden. Wie reagierten Senatoren, wenn ihre Erwartungen immer und immer wieder enttäuscht wurden und ihnen Ämter und Würden für längere Zeiträume oder sogar für den Rest ihres Lebens versagt blieben?40 Exemplarisch lässt sich dies am Schicksal der Vitellianer unter den flavischen Kaisern zeigen. Nach seinem Sieg über Otho hatte sich Vitellius sofort daran gemacht, die eigenen Unterstützer zu belohnen und hatte damit in vielen Erwartungen auf eine

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Plin. paneg. 91,2. Sen. benef. 2,26,2 (Übersetzung: Manfred Rosenbach): Non hoc speraveram. In turbam coniectus sum. Tam exiguo dignum me iudicavit? Honestius praeteriri fuit. Tac. ann. 2,36,2. Ironischerweise ging Tiberius bei der Besetzung von Statthalterschaften das Feingefühl gänzlich ab, wurden unter ihm doch Statthalter über viele Jahre in Provinzen belassen, wodurch zahlreichen anderen Senatoren die Möglichkeit versperrt wurde, solche Stellen zu bekleiden (vgl. Eck [2002], 139). Zur Irritation von Erwartungen vgl. Stäheli (2000), 43. Siehe hierzu auch den Beitrag von Walter in diesem Band. Allgemein zum senatorischen Umgang mit dem Scheitern im cursus honorum vgl. Flaig (2019b).

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glänzende Zukunft geweckt.41 Durch die Umverteilung der Ämter und Posten, die direkt zu Beginn von Vespasians Herrschaft begann, sah dieser Personenkreis seine Erwartungen schwer enttäuscht.42 Nur wenigen, die eine vitellianische Vergangenheit besaßen, gelang es, das Vertrauen der neuen Herrscherfamilie so weit zu gewinnen, dass sie ihre Karrieren fortsetzen konnten.43 Die meisten der ehemaligen Vitellianer bekamen stattdessen fortan tagtäglich vor Augen geführt, dass ihre Karriere kaum Fortschritte machte oder gänzlich in einer Sackgasse steckte. Ohnmächtig mussten sie zusehen, wie sie jedes Jahr von jüngeren und weniger bekannten Senatoren im cursus honorum überholt wurden. Dass ihnen vom Kaiser dauerhaft Beförderungen versagt wurden, musste sie in ihrem Ehrgefühl treffen. Die teils lebenslang ausbleibenden Rangerhöhungen und Beförderungen müssen deshalb nicht nur als bloße Zurücksetzung, sondern als Demütigung empfunden worden sein. Wenn häufig sogar diejenigen, die bei der kaiserlichen Vergabe von Machtressourcen berücksichtigt worden waren, enttäuscht von dem waren, was sie erhalten hatten, lässt sich erahnen, wie es um die Gefühlslage derjenigen bestellt war, die vollkommen übergangen wurden.44 Die Enttäuschung der vom vorläufigen vitellianischen Sieg geweckten Erwartungen und die jahre- oder teils jahrzehntelange Zurücksetzung, die sie von den flavischen Kaisern erfuhren, transformierten die Erwartungsstrukturen der Vitellianer massiv. Dies wird bei diesen Männern ein weites Spektrum an emotionalen Reaktionen hervorgerufen haben, die von Resignation bis zu Hass und Wut changierten.45 Denkbar wäre es, dass manche Senatoren sogar für einige der ansonsten nebulös bleibenden assiduae coniurationes unter Vespasian verantwortlich waren, von denen Sueton berichtet und gegen die Titus als Prätorianerpräfekt incivilius et violentius vorging.46 Demgegenüber gab es aber auch Aristokraten, die die Enttäuschung über ihr Schicksal herunterschluckten und ihr restliches Leben als Hinterbänkler im Senat fristeten. In diesen Fällen dürfte es wahrscheinlich sein, dass sich die Erwartungen dieser Personen allmählich der eigenen Situation in einem Maße anpassten, wie die Aussichten auf eine Änderung schwanden.47 Als Beispiele hierfür können zwei ehemalige Vitellianer herangezogen werden, deren jahrzehntelanges Schattendasein einzig deshalb bekannt 41

So hatte er etwa das Konsulat für zehn Jahre im Voraus vergeben (Suet. Vit. 11,2). Tac. hist. 3,55,2 spricht nur von multos annos. Es ist nur eine Person bekannt, die Vitellius für ein Konsulat designierte: D. Valerius Asiaticus (PIR2 V 45) für das Jahr 70. 42 Zur Aberkennung der Designationen vgl. Tac. hist. 4,47. 43 Einige Beispiele: L. Iunius Q. Vibius Crispus (PIR2 V 543); Ti. Catius Asconius Silius Italicus (PIR2 S 722); C. Calpetanus Rantius Quirinalis Valerius Festus (PIR2 V 73); L. Tampius Flavianus (PIR2 T 9). 44 Sen. ira. 3,31,1 f.; benef. 2,27,3 f. 45 Zu den verschiedenen Effekten, die Demütigungen hervorrufen, vgl. Schützeichel (2018) und (2019). 46 Suet. Vesp. 25; Tit. 6,1. Von multae coniurationes ist bei Aur. Vict. Caes. 9,3 und Eutr. 7,20,3 die Rede. 47 Zu einem solchen mit dem Altern einhergehenden cooling-out-Effekt vgl. Corsi (1993), 261–265. Originär geht das Konzept des cooling-out auf Goffman (1952) zurück.

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ist, weil sie im hohen Alter doch noch zum Konsulat gelangten. Gemeint sind Q. Iunius Arulenus Rusticus und C. Manlius Valens, die in den Jahren 92 und 96 von Domitian noch zu Konsuln ernannt wurden – Manlius Valens sogar zum consul ordinarius. Beide Männer hatten seit dem Jahr 69, in dem sie sich in besonderem Maße für Vitellius engagiert hatten und ihm bis zum Schluss treu geblieben waren, jahrzehntelang als Prätorier im Senat gesessen, ohne dass für sie in diesem Zeitraum irgendein weiterer Posten bekannt ist.48 Dass sie im hohen Alter – Manlius Valens war bei Antritt seines Konsulats 90 Jahre alt – unter Domitian doch noch die höchste Magistratur bekleideten, lässt darauf schließen, dass sie im Senat der flavischen Zeit nicht negativ aufgefallen waren und sich vielleicht sogar in nicht bekannter Weise um Domitian verdient gemacht hatten.49 4. Schematisierte Personalpolitik als Enttäuschungsverhinderer? Die bisherigen Ausführungen machen die Situation deutlich, in der sich der Princeps befand. Er hatte zwar die Verfügungsgewalt über die prestigeträchtigsten Ressourcen im Reich, der Erwartungshaltung der Senatoren konnte er aber bei der Vergabe nie gerecht werden und enttäuschte immer eine nicht unbeträchtliche Zahl aus ihren Reihen. Angesichts dieser Bedingungen stellt sich die Frage, wie ein System derart stabil bleiben konnte, obwohl kontinuierlich ein nicht unwesentlicher Prozentsatz der Mitglieder einer sozial angesehenen und einflussreichen Gruppe vom Herrscher enttäuscht wurde. Um die Enttäuschungsquote gering zu halten, schematisieren sich die Personalentscheidungen in einem System mit der Zeit. Zu diesem Zweck wird die Laufbahn von Personen so angelegt, dass sie in kleinen Schritten voranschreitet und einem erkennbaren Muster folgt.50 Das Aufkommen eines derartigen Schemas lässt sich auch in der kaiserlichen Personalpolitik feststellen, wie umfassende Auswertungen prosopographischer Daten nahelegen.51 Die Vergabepraxis von Ämtern und Posten an Senatoren verfestigte sich und es entstanden unterschiedliche Muster, in denen senatorische Laufbahnen verliefen. Diese

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Zu Q. Iunius Arulenus Rusticus vgl. PIR2 I 730; Eck (1970), 65. Arulenus Rusticus war sogar noch Teil der senatorischen Gesandtschaft, die Vitellius zu dem vor den Toren Roms liegenden flavischen Heer schickte (Tac. hist. 3,80,2). Zu C. Manlius Valens vgl. PIR2 M 163; Birk (1967), 91 (verzeichnet als T. Manlius Valens); Eck (1970), 67; Franke (1991), 19 f. Manlius war im Jahr 69 Legat der legio I Italica (Tac. hist. 1,64,4). Zum Alter von Manlius bei Antritt seines Konsulats: Cass. Dio 67,14,5. Luhmann (2000), 291. Klassisch hierzu Eck (1974); in italienischer Übersetzung mit Addenda: Eck (1996). Grundlegend auch Birley (1981), 4–35. Vgl. daneben Alföldy (1977), 95–124; Leunissen (1989), 24–125. Zu einer Auseinandersetzung mit der Kritik an den ‚Laufbahnregeln‘ vgl. Eck (2002).

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waren in keiner Weise rechtlich fixiert, doch sie waren durch die immer wiederholte konkrete Praxis im Bewusstsein der Senatoren verankert und entfalteten so ihre Wirkung. Jeder, der eine Funktion innehatte, wusste, wie es bei seinen Vorgängern weitergegangen war, zu welcher Funktion diese weiterbefördert worden waren.52

Es handelt sich hierbei jedoch um eine historische Entwicklung, die im Laufe des ersten Jahrhunderts zustande kam. Erst unter den Flaviern hatte sich das Muster voll ausgebildet.53 Für die Senatoren des frühen Principats bedeutete dies, dass sie zwar schon Erwartungen besaßen, welche Ämter sie wann erreichen konnten, ihre Situation aber noch von einer höheren Unsicherheit geprägt war, da die Herrscher zu dieser Zeit in ihren Entscheidungen noch freier waren und experimentieren konnten.54 Im Laufe der Zeit wurde mit der allmählichen Schematisierung der kaiserlichen Personalpolitik das senatorische Streben nach Ämtern und Würden in vorgegebene Bahnen gelenkt. Die Erwartungshaltung der Senatoren wurde auf einen bestimmten Bereich eingeengt und somit in ein gewisses System gebracht. Die Aristokraten wussten nun ziemlich konkret, was für eine Laufbahn sie erwarten konnten, was dazu führte, dass sich ihre Erwartungen allmählich zu Ansprüchen verdichteten.55 Diese Anspruchshaltung der Senatoren schränkte den kaiserlichen Handlungsspielraum bei Personalentscheidungen ein. Dies bedeutete natürlich keineswegs, dass der Princeps immer dem Schema folgen musste.56 Gelegentliche arbiträre Entscheidungen waren sogar angebracht, um die kaiserliche Macht demonstrativ vor Augen zu führen.57 Auch behutsame Eingriffe in das System und besondere Förderung von bestimmten Personen blieben von Seiten des Kaisers jederzeit möglich. Er konnte aber die senatorischen Erwartungen und Ansprüche schlichtweg nicht permanent ignorieren, wollte er nicht großen Unmut in ihren Reihen erregen.58 Die Konkretheit der aristokratischen Laufbahnerwartungen, die durch die Ausformung des Musters in der kaiserlichen Personalpolitik entstanden, brachte neue Schwie52 53 54 55 56 57 58

Eck (2021), 282. Bruun (2011), 166 f.; Eck (2021), 278. Eck (1974), 172 f.; Eck (1995), 124–128; Eck (2021), 278. Ein Beispiel für die senatorische Anspruchshaltung: Tac. Agr. 42,1. Zur Verdichtung von Erwartungen zu Ansprüchen und zu den Folgen solcher Prozesse vgl. Luhmann (1984), 363–367; Esser (2000), 69–92; Baecker (2005), 96–98. Teils zwangen auch militärische Notlagen zu Abweichungen von den etablierten Schemata, vgl. Eck (2021), 281 f. Beispiele für verlangsamte Laufbahnen diskutieren Syme (1960) und Eck (1970), 65–68. Zu dieser Methode des sporadischen Unterbeweisstellens von Macht vgl. Sofsky / Paris (1994), 37 f. Eck (1974), 226 f.; Bruun (2011), 167 f.; Eck (2021), 282 f. Zur Förderung von Einzelpersonen konnte der Princeps adlectiones vornehmen, mit deren Hilfe Personen einige Stufen der Hierarchie überspringen konnten. Diese Personen wurden direkt in eine senatorische Rangklasse befördert, ohne dass sie vorher die entsprechenden Ämter bekleidet hatten. Vgl. hierzu Chastagnol (1992), 97–120; Eck (1996), 35, 89; Eck (1998b), 33–36.

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rigkeiten mit sich: „Je allgemeiner eine Erwartung formuliert ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit einer Vielzahl von Ereignissen zurecht kommt, ohne von ihnen enttäuscht zu werden.“59 Je konkreter dagegen eine Erwartung gefasst ist, desto leichter kann sie enttäuscht werden, da schon eine kleine Abweichung ausreicht, damit das Erwartete nicht zustande kommt. Die Konkretheit der Erwartung macht also das Eintreten des Erwarteten unwahrscheinlicher.60 Im Falle senatorischer Laufbahnen konnte es durch Herrscherwechsel oder andere außergewöhnliche Ereignisse geschehen, dass sich die Erwartungen einzelner Senatoren nicht erfüllten. Damit entstand eine gewisse Paradoxie: Einerseits senkte sich die Enttäuschungsquote ab, da die meisten senatorischen Laufbahnen gewissen Regelmäßigkeiten folgten. Andererseits nahm die Enttäuschungsanfälligkeit der kaiserlichen Personalentscheidungen zu, weil es zugleich leichter geworden war, senatorische Erwartungen zu enttäuschen. In der römischen Gesellschaft wurde damit keine derartige Institutionalisierung von Laufbahnschemata erreicht, wie sie in modernen Beförderungssystemen für Beamte gegeben ist. Die Senatoren erlangten keine nahezu absolute Erwartungssicherheit, wie sich ihre Karrieren entwickeln konnten. Es bedurfte immer eines erheblichen Maßes an Vertrauen, dass ihrer Laufbahnen den etablierten Schemata folgen würden.61 Wie Senatoren unter diesen Umständen mit Enttäuschungen umgingen, dokumentieren zwei Beispiele aus Domitians Herrschaftszeit.62 Im ersten Fall geriet die Karriere des späteren Princeps Traian nach seiner Prätur 84 ins Stocken. Als Patrizier hätte er erwarten können, das Konsulat innerhalb von zwei bis drei Jahren ohne weitere Zwischenstufe zu erreichen. Statt in der höchsten Magistratur im Jahr 87 anzugelangen, fand er sich dagegen noch 88/89 als prätorischer Legionslegat in Hispania Tarraconensis auf einem Posten wieder, den er aufgrund seines sozialen Status üblicherweise nicht bekleidet hätte und bei dem es sich obendrein um eine wenig aussichtsreiche Stellung handelte.63 Warum Traians Laufbahn einen Bruch erhielt, ist nicht zweifelsfrei erklärbar.64 Als stolzer Sohn eines Patriziers muss die offensichtliche Zurücksetzung für ihn eine kapitale Enttäuschung dargestellt haben. Wie die emotionale Reaktion des Senators in dieser Situation ausfiel, kann aus den vorhandenen Quellen zwar nicht erschlossen werden, dafür lassen sie einen Rückschluss darauf zu, wie sich das weitere Verhältnis Traians zum Princeps gestaltete: Als der Princeps dem Legionslegaten im Januar 89 befahl, seine Legion zur Unterdrückung der Saturninus-Usurpation 59 Hellmann (2001), 60. 60 Luhmann (1984), 417 f. Luhmann spricht zwar an besagter Stelle von „Prägnanz“, mit Hellmann (2001), 60 scheint jedoch das Wort ‚Konkretheit‘ an dieser Stelle geeigneter zu sein. 61 Zur Frage, inwiefern bei institutionalisierten Laufbahnprinzipien von „Vertrauen in die Stetigkeit der Laufbahn“ gesprochen werden kann, vgl. Endress (2002), 74. 62 Zum Folgenden vgl. Eck (1974), 218 f.; Strobel (2019), 142 f. 63 Zu den Laufbahnperspektiven von Legionslegaten der legio VII gemina vgl. Alföldy (1969), 257– 259. 64 Verschiedene Möglichkeiten diskutiert Strobel (2019), 142 f.

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nach Germanien zu führen, zögerte Traian keinen Augenblick, dem Befehl Folge zu leisten.65 Traians loyale Haltung zu Domitian hatte also keineswegs unter dem Enttäuschungserlebnis gelitten. Dank seines energischen Vorgehens wendete sich das Blatt für ihn. Sein rasches – wenn auch nicht entscheidendes – Engagement wurde von Domitian gebührend mit einem eponymen Konsulat im Jahre 91 honoriert. In einem zweiten Fall ist der Umgang mit einer Erwartungsenttäuschung, die sich ebenfalls unter Domitians Herrschaft ereignete, besser dokumentiert, da er ein zentraler Aspekt in Tacitus’ Agricola ist. Nachdem Cn. Iulius Agricola sich frühzeitig im Bürgerkrieg auf Vespasians Seite gestellt hatte, legte er eine Bilderbuchkarriere hin, wurde u. a. in den Patrizierstand sowie die Priesterschaft der Pontifices aufgenommen und bekleidete im Jahr 76 oder 77 ein Suffektkonsulat. Hieran schloss sich eine langjährige Statthalterschaft in Britannia an, während der er weite Teile des Nordens der britannischen Insel eroberte.66 Für seine militärischen Erfolge ließ Domitian dem siegreichen Statthalter eine Ehrenstatue und die ornamenta triumphalia durch den Senat zuerkennen.67 Ein hochdekorierter Senator wie Agricola konnte erwarten, dass er seine Laufbahn einige Jahre später mit dem Prokonsulat in Africa oder Asia abrunden konnte.68 Doch diese Erwartung erfüllte sich nicht. Aus den Beschreibungen, die Tacitus von den Ereignissen gibt, kann darauf geschlossen werden, dass es senatorische Konkurrenzkämpfe um die prestigeträchtigen Prokonsulate waren, die zu diesem Ergebnis führten. Einige Senatoren, die dem Princeps nahestanden und bei denen es sich wahrscheinlich um Konkurrenten um die zur Verlosung stehenden Prokonsulate handelte, übten so lange Druck auf Agricola aus, bis er seine Bewerbung vor Domitian zurückzog. Tacitus schildert die Ereignisse aber so, dass die Ursache für den erzwungenen Verzicht auf die Teilnahme an der sortitio um die Provinzen mitnichten in den Konkurrenzkämpfen lag. Stattdessen identifiziert der Historiograph Domitian als Grund für die Erwartungsenttäuschung: Wegen Agricolas militärischen Erfolgen habe der Princeps den Senator als Konkurrent gesehen, den es zu marginalisieren galt. Der Princeps wird als missgünstiger Neider gezeichnet, der hinterhältig Agricolas Erwartungen zunichtemacht.69 Tacitus stellt Agricola hingegen als Person dar, die vorbildlich mit der erfahrenen Enttäuschung umgegangen sei: Er habe sich würdevoll in sein Schicksal gefügt, sich unter einem Tyrannen mit obsequium und modestia für die res publica eingesetzt und nicht einen von Tacitus als ambitiosa mors deklarierten Tod ohne Nutzen für das Gemeinwesen gesucht.70 65 66 67 68 69 70

Zu Traians Eilmarsch vgl. Plin. paneg. 14,2–5. Zur Saturninus-Usurpation vgl. Strobel (1986); Flaig (2019a), 410–437; Jones (1992), 144–149; Strobel (2019), 143–149; Gering (2012), 316–325. Zu Agricolas Laufbahn vgl. PIR2 I 126; Franke (1991), 269–273; Birley (2005), 71–95. Tac. Agr. 40,1. Zur privilegierten Stellung, die derart geehrte Senatoren wie Agricola innehatten, vgl. Alföldy (2001), 30 f.; Künzer (2016), 74. Zu dieser Erwartung vgl. Tac. Agr. 42,1. Zu Agricolas Leben nach seiner Rückkehr nach Rom vgl. Tac. Agr. 40–44. Zur Beziehung zwischen Agricola und Domitian vgl. besonders Urban (1971), 44–75 und Künzer (2016), 117–129. Tac. Agr. 42,3. Vgl. hierzu auch Künzer (2016), 102–107.

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5. Koda In seiner Ῥωμαϊκὴ Ἱστορία legt der senatorische Historiograph Cassius Dio M. Agrippa eine bemerkenswerte Rede in den Mund. In dieser Rede wird das Problem der Verteilung von beneficia, mit denen er ganz explizit vor allem Ämter und Würden meint, als eines der ausschlaggebenden Argumente dafür benannt, dass eine Monarchie keine praktikable Verfassungsform für die römische Gesellschaft sei. Zwar könne der Herrscher Gutes in Überfülle erweisen und verteilen, die Zahl an Geschenken, die er vergeben könne, reiche aber bei weitem nicht aus, um allen Bittstellern gerecht zu werden. Er müsse so immerzu viele Erwartungen enttäuschen, wodurch er Menschen kränken und sich Feindschaften zuziehen würde. Eine Verteilung der Ressourcen so vorzunehmen, dass alle gleichermaßen zufrieden seien, sei nicht möglich und auch nicht gerecht. Dios Agrippa schließt diesen Teil seiner Rede mit der Bemerkung, dass er die ganze Problematik für eine kaum zu lösende Frage halte.71 Die behandelten Beispiele verdeutlichen, dass in der Verteilung der prestigeträchtigen Ämter und Posten eine Keimzelle für senatorische Enttäuschungen gesehen werden kann, wie dies auch in Agrippas Rede herausgestellt wird. Der senatorische Umgang mit Erwartungsenttäuschungen, die durch die kaiserliche Personalpolitik bedingt wurden, gewann dabei eine besondere Eigendynamik.72 Um die Enttäuschungen abzuwickeln, entwickelten die Aristokraten bestimmte Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, von denen einige in diesem Beitrag skizziert wurden. Dabei rief die Enttäuschung in Senatoren eine Bandbreite negativer Emotionen hervor, die durch die mit einer Nichtberücksichtigung einhergehende Kränkung noch intensiviert wurden und zu einer kompletten Transformation der Erwartungsstrukturen führen konnten. Während die Senatoren derartige Enttäuschungen ihrer Erwartungen nicht kalt ließen, zeigten sie ihre Emotionen dem Princeps gegenüber nicht und brachen ihre kooperativen Verhältnisse mit ihm nicht ab. Literatur Alföldy, Geza (1969): Fasti Hispanienses. Senatorische Reichsbeamte und Offiziere in den spanischen Provinzen des römischen Reiches von Augustus bis Diokletian. Wiesbaden. Alföldy, Geza (1977): Konsulat und Senatorenstand unter den Antoninen. Prosopographische Untersuchungen zur senatorischen Führungsschicht. Bonn. Alföldy, Geza (1995): „Bricht der Schweigsame sein Schweigen? Eine Grabinschrift aus Rom“. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung 102, 251–268. 71 72

Cass. Dio 52,12. Zur Verfassungsdebatte in Dios 52. Buch vgl. etwa Millar (1964), 102–118; Espinosa Ruiz (1982); Fechner (1986), 71–86; Hose (1994), 390–399. Zur Eigendynamik von Erwartungsenttäuschungen aus soziologischer Perspektive vgl. Hellmann (1994) und (2001).

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Akzeptanzgruppen und Erwartungsenttäuschungen in der römischen Kaiserzeit* Marian Nebelin Grundlegende Voraussetzung des Funktionierens einer jeden Herrschaft ist ihre Akzeptanz durch die Machtunterworfenen: Solange eine Herrschaftsordnung hingenommen wird, hat sie gute Chancen, fortzubestehen. Alle anderen Aspekte – wie die ‚Souveränitätslagerungen‘, die genaue Form und die Weise des Funktionierens einer ‚Verfassung‘, die Kontrolle über den Machtapparat, die Durchgriffsfähigkeit der Machthabenden und überhaupt das machtpolitische Gefüge oder gar die personalen Figurationen – sind demgegenüber nur von nachgeordneter Relevanz. Natürlich können sich die grundsätzliche Stabilität eines Herrschaftssystems und dessen jeweilige zeitspezifische Umsetzung in Hinblick auf ihre Akzeptanz erheblich unterscheiden; außerdem sind in keinem Regime alle Akteure von politisch gleichem Gewicht.1 Vor diesem Hintergrund stellen die nachfolgenden Überlegungen einen explorativen Versuch dar, nach der Bedeutung und Wirksamkeit von Enttäuschungen in politischen Akzeptanzsystemen am Beispiel der römischen Kaiserherrschaft zu fragen. Für die Wahl der römischen Kaiserzeit als Beispiel spricht, dass die Kaiserherrschaft eine Herrschaftsform mit erheblichen inneren Wandlungen und Formänderungen in der Longue durée ihres Bestehens war. Das Kaisertum war als politische Ordnung zwar nicht unumstritten, aber offenbar in der Praxis unersetzlich, während die einzelnen Herrscher sich ständig neu bewähren und um die Akzeptanz ihrer Herrschaft ringen mussten. Dabei ist durchaus eine unterschiedliche transformative Wirkungsmächtigkeit der einzelnen Kaiser auszumachen. Weil zudem bei diesem Beispiel an *

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Den Organisatorinnen und Organisatoren der Kölner Tagung danke ich für das angenehme Diskussionsumfeld und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die ertragreiche und weiterführende Diskussion. Der ursprüngliche Vortragscharakter des Beitrags wurde weitgehend beigehalten und Quellen sowie Literatur nur selektiv eingearbeitet. Insofern ist der Beitrag als skizzenhafter und bewusst zugespitzter Diskussionsaufschlag zu verstehen. Dies gilt ausdrücklich auch für die athenische Demokratie, von deren direkter Steuerung Frauen, Kinder und Sklav*innen weitgehend ausgeschlossen waren, obwohl sie gleichwohl am Politischen teilhatten.

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Egon Flaigs Modell des ‚Akzeptanzsystems‘ (beziehungsweise in jüngerer Zeit: der ‚Akzeptanzmonarchie‘) und die dadurch inspirierten Forschungen angeknüpft werden kann, fällt es leicht, potentielle Trägergruppen von Erwartungen zu identifizieren. Fragt man in diesem Zusammenhang nach Erwartungsenttäuschungen, ist dies eine Fokussierung, durch die Normen und Ideale, Funktionsweisen und Dysfunktionalitäten des Herrschaftssystems insgesamt ebenso sichtbar werden wie die aus der Perspektive der einzelnen Kaiser besonders relevante Frage nach den Entwicklungen und Umbruchsmomenten, in deren Folge eine Herrschaft nicht mehr hingenommen wird. Aufgrund seines erheblichen Umfangs kann dieses Thema an dieser Stelle nur skizzenhaft umrissen und exemplarisch erkundet werden. Hierzu werden vier Argumentationsschritte vollzogen: Der erste zielt auf die geschichtstheoretische Explikation von Enttäuschung als Kategorie einer komparativ ausgerichteten Historischen Anthropologie. Exemplarisch untersucht werden soll dies dann anhand von Erwartungsenttäuschungen von Akzeptanzgruppen im Herrschaftssystem der römischen Kaiserzeit, wobei die Kaiserzeit an dieser Stelle epochal weit bestimmt werden soll: vom Sieg Octavians 30 v. Chr. bis zum Ende des Weströmischen Reiches 476 n. Chr. einerseits und bis zum Aufbruch des Herakleios in den Perserkrieg 624 n. Chr. im Osten andererseits.2 Zur Untersuchung des Akzeptanzsystems wird zunächst im zweiten Argumentationsschritt die Flaigsche Vorstellung von der römischen Akzeptanzmonarchie rekonstruiert, um dann in einem dritten Argumentationsschritt so neu gefasst zu werden,3 dass ein umfassenderes Grundmodell akzeptanzbasierter Herrschaft entsteht. Dieses soll zum einen hinreichend abstrakt sein, um auch für Übertragungen auf andere Epochen und Kulturen geeignet zu sein, zum anderen jedoch einen spezifischen Zuschnitt aufweisen, durch den Herrschaft in der römischen Kaiserzeit erfasst werden kann. In einem abschließenden vierten Argumentationsschritt werden die Ergebnisse dieser Überlegungen zusammengeführt, um allgemeinere heuristische Überlegungen erweitert und zu einem Resümee verdichtet.

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Zur Epochenproblematik vgl. grundsätzlich Nebelin (2019). Der Ausgangspunkt markiert jenen Zeitpunkt in der römischen Geschichte, in dem zum ersten Mal eine Person ohne längerfristig nachwirkenden Widerstand die Alleinherrschaft innehatte, die nicht mehr den Willen besaß, auf diese zu verzichten. Zum weströmischen Endpunkt vgl. Börm (2013), 114; zum oströmischen Pfeilschifter (2013), 25 f. ‚Endpunkte‘ wie ‚Ausgangspunkte‘ entsprechend natürlich immer nur markanten Zäsuren; vgl. dazu bspw. Börm (2013), 187. Flaig (1992), bes. 39–207. Egon Flaig hat seine Überlegungen später noch weiter erprobt und präzisiert (vgl. bspw. Flaig [2015]; [1997]; [2021]). Seine grundlegende Schrift Den Kaiser herausfordern (1992/22019) hat er in der Zweitauflage an vielen Detailpunkten überarbeitet (Flaig [2019], bes. 39–235).

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1. ‚Enttäuschung‘ als Kategorie einer Historischen Anthropologie ‚Enttäuschung‘ ist eine Emotion mit temporaler Grundstruktur. Wie alle Emotionen ist sie ein Gegenwartsphänomen: Sie wird in einem Moment manifest und erstreckt sich davon ausgehend in die Zukunft. Weil sie dabei frühere Annahmen über die Zukunft erzwungenermaßen revidiert, ist sie in der Vergangenheit verankert: Enttäuschung bedeute, dass „[e]ine Erwartung […] nicht erfüllt“ sei, meinte in diesem Sinne bereits Martin Heidegger.4 Doch die Zukunftsbezogenheit als dominierende Zeitperspektive der Enttäuschung weist darüber hinaus. Die Provokation der Enttäuschung besteht im Einbruch von Kontingenz in das Leben in Bereichen, über deren zukünftige Form infolge von (wiederholt gemachten) Erfahrungen zuvor eine bestimmte Gewissheit bestand.5 Freilich ersetzen Enttäuschungen Sicherheit nicht einfach durch Unsicherheit; vielmehr können sie auch eine andere Zukunft wahrscheinlich machen – doch ist diese alternative Zukunft zumeist eine weniger ersehnte Zukunft als die preisgegebene. Allerdings führt keinesfalls jede nicht eingetretene Erwartung zur Enttäuschung. Denn zur Alltagserfahrung gehört, dass Erwartungen nicht gänzlich aus Erfahrungen abgeleitet werden können und die Dinge häufig anders kommen als erwartet.6 Deshalb ist ‚Enttäuschung‘ aus der Perspektive der Betroffenen eine negative Wertungskategorie, die partiell einen Bruch mit ihrem Gegenstück, der Hoffnung, darstellt. Als eine Art negative ‚Überraschung‘7 können Enttäuschungen sich zudem gegen abstrakte, strukturelle Entwicklungen richten, denen sich der Einzelne ausgesetzt sieht. Die damit einhergehenden unbestimmten Verantwortlichkeiten überführen die Enttäuschung häufig in ein Gefühl der Ohnmacht, das zu Passivität und Resignation führen kann. Doch sind Enttäuschungen konkreter gefasst und lassen sich Ansatzpunkte oder sogar reale oder vermeintliche Verantwortliche für die Enttäuschung ausmachen, können Enttäuschungen zu einem Handlungsmotiv werden. Innerhalb des „shared ima-

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So lautete Jure Zovko (2017), 217 zufolge die Antwort Heideggers im Rahmen des sog. ‚Zollikoner Seminars‘ des Jahres 1959 auf die Frage, was Enttäuschung sei. Zu Enttäuschung als geschichtswissenschaftlichem Konzept vgl. den Beitrag von Jan Timmer im vorliegenden Sammelband. Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf fallspezifische Konkretisierungen. Zu Erfahrungen und Erwartungen (sowie Erfahrungsraum und Erwartungshorizont) als Kategorien einer Historik siehe Koselleck (1976), 349–359 (dort bes. 354 zum Erfahrungsbegriff und 354 f. zum Erwartungsbegriff) und passim; vgl. dazu Nebelin (2009), 67–69. Vgl. zur ähnlichen systemtheoretischen Korrelation bspw. Pumperla (2017). Vgl. ebd., 356. Die Kategorie der ‚Überraschung‘ wird zumeist positiv aufgefasst, auch wenn sie einen allgemeineren Charakter hat, in dem das Unerwartete zum Ausdruck kommt; vgl. zu dieser Kategorie bspw. Koselleck (1976), 358.

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ginary space“8 einer „Gefühlskultur“9 können Enttäuschungen zudem von mehreren Menschen ‚geteilt‘ werden und dadurch eine ‚kollektive‘ Dimension gewinnen. Diese ‚kollektiven Enttäuschungen‘ gründen dann beispielsweise in einer gemeinsamen Erfahrung oder Betroffenheit, in einem emphatisch geteilten Gefühl, einem ähnlichen Problembewusstsein oder in der Wahrnehmung einer relevanten Normverletzung. Wo entsprechend konkrete Ansatzpunkte ersichtlich und ein Bewusstsein für die Umsetzbarkeit möglicher Reaktionen vorhanden sind, können auf individueller wie kollektiver Ebene Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um die Auswirkungen der Enttäuschung zu bekämpfen und einzuhegen. Wesentlich ist dabei, dass nicht die Enttäuschung selbst revidiert werden kann; sie bleibt im emotionalen Gedächtnis abrufbar und kann dadurch eine Hypothek für die Zukunft darstellen. Insofern sind viele Formen der Enttäuschungsabwicklung zunächst einmal kommunikative Akte, die darauf abzielen, gemeinschaftliche Erwartungen erneut miteinander in Einklang zu bringen. Sofern das Enttäuschungslevel durch nachfolgende Handlungen nicht reduziert werden kann oder sich sogar noch steigert, verschlechtert sich im Fall personenbezogener Enttäuschungen die betroffene Beziehung. Die Akzeptanz des Anderen sinkt aufseiten der Enttäuschten, da sie sich vom besagten Anderen – dem realen oder vermeintlichen Verantwortlichen für die Enttäuschung  – nicht hinreichend anerkannt fühlen. Dies kann den Weg für weitere Maßnahmen bereiten, die individuell zu einem Beziehungsabbruch, gruppen- oder gemeinschaftsbezogen hingegen zu drastischen, auch gewaltgeladenen Maßnahmen zur Wiederherstellung oder Neuaushandlung des ‚kollektiven Erwartungshorizonts‘ führen können.10 Spätestens an diesen Punkten werden Enttäuschungen zu einem Faktor im Akzeptanzsystem der römischen Kaiserherrschaft. Um dies nachvollziehen zu können, ist zunächst eine Rekonstruktion, dann eine Reformulierung des Modells des Akzeptanzsystems erforderlich.

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Das Konzept des Shared Imaginary Space ist den Role-Playing Game Studies entlehnt, die unter anderem damit befasst sind, zu erklären, wie Menschen im Rollenspiel aus einem Bedürfnis der Immersion – d. h. des ‚Eintauchens‘ in die Spielwelt – kommunikativ einen gemeinsamen ‚Weltenbau‘ (Worldbuilding) betreiben. Zum Shared Imaginary Space vgl. Traut (2012). Vgl. außerdem Bowman (2018) sowie Schrier et al. (2018). Unter einer ‚Gefühlskultur‘ werden die „kulturellen Kontexte, die sowohl spezifische Empfindungen und emotionale Erfahrungen als auch je eigene Deutungen, Bewertungen und Normierungen, eigene Repräsentationen und Praktiken […] von Emotionen hervorbrachten und -bringen“ (Bähr [2019], 299) verstanden. Zum Begriff des ‚Erwartungshorizonts‘ vgl. Koselleck (1976), 356; dazu vgl. Nebelin (2009), 68 f.

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2. Rekonstruktion: Enttäuschungen im klassischen Modell des Akzeptanzsystems Unter Herrschaft lässt sich im Anschluss an Max Weber, „die Chance“ verstehen, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.11 Diese Bindung von Herrschaft an die Gehorsamkeitschance bietet sich angesichts der politisch-administrativen Strukturen für das Römische Reich an:12 Dort war Herrschaft zunächst einmal die des Kaisers und des ihm unterstehenden Apparats, der seine Ursprünge im Militärwesen und der privaten senatorischen Hausverwaltung hatte. Auf den rangniedrigeren Ebenen politischer Herrschaft – den Städten und den Provinzen sowie später den Präfekturen und den Diözesen – wurde dieses hierarchische Entscheidungs- und Machtprinzip im Grunde genommen fortgeschrieben, auch wenn das monarchische Prinzip auf der Ebene der Städte durch das oligarchische ergänzt wurde: Dort war es in der Kaiserzeit zumeist der municipalaristokratische ‚Stadtrat‘, der den Gehorsam der übrigen Bevölkerung einforderte. Insofern konnte die fundamentale Erwartung des Kaisers sein, Gehorsam zu finden; wurde dieser nicht geleistet, fand eine Erwartungsenttäuschung statt. Doch Herrschaft vollzog sich, wie jüngst Emma Dench noch einmal unterstrichen hat, im Römischen Reich nicht in einem bloßen Top-Down-Verhältnis, sondern in komplexen und dynamischen Verflechtungen zwischen der Reichsebene, den regionalen und lokalen Untergliederungen und deren politischen Kontexten und Traditionen. Insofern kann von der „thinly stretched nature of Roman power“ gesprochen werden, deren „coexistence with competing systems of power and authority, along with the opportunism engendered by the Roman empire’s substantial reliance on local states and groups“ bei einer Konzeptualisierung römischer Kaiserherrschaft immer mitberücksichtigt werden muss,13 zumal „the power and efficacy of the Roman empire and its finite nature were felt and enacted to different degrees and in different ways across place and time“.14 Bereits Egon Flaig hat betont, dass diese Struktur des Römischen

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Weber (1922), 28. Zur Verwaltung des römischen Reiches in der Kaiserzeit vgl. (mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Interpretationen) bspw. Eck (1980); Lintott (1993); Lendon (1997); Ausbüttel (1998); Ando (2006); Wesch-Klein (2008); Fuhrmann (2012). Zu den Besonderheiten unter den einzelnen Kaisern bis zu Diokletian vgl. nun bspw. die entsprechenden Abschnitte bei Brandt (2021). Vgl. Dench (2018), 157. Egon Flaig (1992), 99 hat postuliert, das Römische Reich sei „an den Maßstäben einer rationalen Verwaltung gemessen […] unteradministriert“ gewesen – „dies auch im Vergleich zu anderen Großreichen“. Später erschien ihm die Verwaltung deshalb sogar „dysfunktional“ (Flaig [2019], 132). Alexander Demandt wiederum hat für das spätantike römische Reich konstatiert, dieses sei wesentlich durch die „Ohnmacht“ der Kaiser gekennzeichnet gewesen, „da sich die wichtigsten Gruppen im Staat einer Regulierung widersetzen und entziehen konnten“ (Demandt [1997], 163). Dench (2018), 57.

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Reiches auch eine systemische „Schwäche“ war, „denn die Mobilisierung von Ressourcen – außerhalb der kaiserlichen Domänen – gelang ohne Friktionen nur, wenn die lokalen Eliten sie übernahmen, also auch befürworteten“.15 Gerade vor diesem Hintergrund verlangt die Webersche Herrschaftsdefinition nach Präzisierung, da sie an sich weder etwas über die Funktionsweise noch über die Tiefenschichten von Herrschaft aussagt. Es muss deshalb systemspezifisch präzisiert werden, wie die von Weber erwähnte ‚Chance‘ auf Gehorsam beschaffen war und worin sie gründete. Die Problematik des Weberschen Herrschaftsbegriffs resultiert daraus, dass er das Herrschaftsideal des modernen imperialistischen Staates mit einer Administration reflektiert, die das Herrschaftsgebiet und dessen Bewohner Top-Down verwaltet und lenkt. Im Römische Reich waren die politischen Entscheidungs- und Verwaltungsprozesse bis ins 7. Jahrhundert hinein jedoch zuvorderst nach dem organisiert, was man als ein Prinzip regionaler ‚Subsidiarität‘ beschreiben könnte,16 d. h. politische Angelegenheiten wurden nach Möglichkeit auf der niedrigsten betroffenen politischen Ebene entschieden und bearbeitet, sofern nicht Interventionen übergeordneter Ebenen eine Verlagerung erzwangen.17 Diese dynamischen Vorgänge führten in der Praxis zu einer Entlastung des zwar beständig anwachsenden, jedoch bis zuletzt vergleichsweise kleinen kaiserlichen Verwaltungsapparates. Erst wenn die untergeordneten politischen Einheiten nicht imstande oder nicht gewillt waren, ein Problem alleine zu lösen, wenn Schlichtungsbedarf bestand oder wenn Belange von reichsweiter oder den Kaiser irgendwie näher interessierender Bedeutung betroffen waren, griff ‚die Zentrale‘ regulierend ein. Herrschaft im Römischen Reich war mithin gleichermaßen durch politisch-administrative Top-Down- wie Subsidiaritätsvorgänge gekennzeichnet, die durch gelegentliche Bottom-Up-Impulse ergänzt wurden.

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Flaig (2019), 132; ähnlich bereits in Flaig (1992), 99. Gemeint ist damit eine angepasste Form des modernen Subsidiaritätsprinzips, wobei ein wesentlicher Unterschied darin besteht, dass das moderne Subsidiaritätsprinzip eine Norm darstellt, die eine Umsetzungspraxis vorgeben soll; in Hinblick auf antike Kulturen gebrauche ich es hingegen als analytische Kategorie, die dazu dienen soll, die damaligen Vorgänge adäquat zu beschreiben – wobei es wichtig ist, zu berücksichtigen, dass im antiken Zusammenhang die übergeordneten ‚staatlichen‘ Akteure oftmals überhaupt nicht imstande gewesen sind, in bestimmten Zusammenhängen (regelmäßig) regulierend oder helfend einzugreifen, sodass Subsidiarität in antiken Kulturen häufig unhintergehbar gewesen ist, um das Überleben der regionalen Akteure und ihrer Gemeinschaft(en) zu sichern. Dieses Konzept regionaler Subsidiarität ist mithin mit dem Konzept ‚lokaler Selbstregelung‘ verwandt, umfasst allerdings sowohl die Bereiche ‚lokaler Selbstregelung‘ wie Formen ‚staatlicher Regulierung‘ vor Ort. Zu ‚lokaler Selbstregelung‘ und ‚staatlicher Regulierung‘ vgl. Fischer et al. (2019), 12 f.; 17 f. (vgl. zu antiken Imperien ebd., 8 f.) sowie Mohamad-Klotzbach (2020), 5 (darin auch eine Diskussion möglicher Beziehungen zwischen beiden Bereichen in ebd., 10–16; zu möglichen ‚Überlappungen‘ im Lokalen vgl. bereits Fischer et al. [2019], 13 f.). Vgl. auch Dench (2018), 158 f., die betont, dass „in the working of the early and ‚high‘ Roman empire in more normal circumstances […] [,] functions of state were delegated to, or more often simply assumed by, local agencies and institutions within the Roman empire“.

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Die Grundlage dafür, dass diese Herrschaftsorganisation funktionierte, war die unhinterfragte Hinnahme des zugrundeliegenden politischen Systems. Vergleichbares kann zwar kurzfristig durch Terror erreicht werden (und das Römische Reich wies in der Tat eine spezifische „economy of violence“18 auf), langfristig bedarf es jedoch einer Verankerung der Akzeptanz des politischen Systems in den Tiefenschichten der politischen Kultur: Bestimmte institutionelle Grundprinzipien und Formvorstellungen müssen ins „lebensweltliche Hintergrundwissen“, d. h. zu jenen unhinterfragten Selbstverständlichkeiten herabsinken, die erst dann thematisierbar werden, wenn sie ihre unhinterfragte Gültigkeit schon wieder verloren haben.19 Dass die Kaiserherrschaft im Römischen Reich seit Augustus nicht mehr mit einer realistischen Systemalternative konfrontiert, sondern allenfalls kritisiert und um ihre Ausgestaltung gerungen werden konnte, verdeutlicht, dass das politische System der Römischen Kaiserzeit mit dem ihm zugrunde liegenden ‚Souveränitätslagerungen‘ bis zum Ende der Antike nicht grundsätzlich hinterfragt wurde. Dies erklärt zwar den über alle Anpassungen hinweg langfristigen Fortbestand des politischen Systems, nicht jedoch den mittel- oder kurzfristigen Erfolg oder das Scheitern der Herrschaft eines bestimmten Herrschers. Vor diesem Hintergrund hat bekanntlich Egon Flaig 1992 vorgeschlagen, die römische Monarchie als ein ‚Akzeptanzsystem‘ zu beschreiben: „[T]he monarchy was legitimate but the emperor’s position was not based on legitimacy but rather on acceptance.“20 Demzufolge erfordert kaiserliche Herrschaft seitens des Kaisers die Bemühung um die Hinnahme seiner Herrschaft durch bestimmte soziopolitische Trägergruppen, die sogenannten Akzeptanzgruppen. In Flaigs Untersuchungszeitraum handelt es sich dabei um die stadtrömische Plebs (plebs urbana),21 den Senat und das Heer. Fanden der Kaiser und seine Herrschaft die Akzeptanz dieser Teilgruppen, konnte er ihren Gehorsam erwarten. Unter Umständen konnte er zudem in gewissem Rahmen Missverhältnisse in seinen Beziehungen zu den verschiedenen Teilgruppen ausgleichen, wobei dem Heer in jedem Fall aufgrund seiner unübertroffenen Fähigkeit zu organisierter und präziser Gewaltausübung eine entscheidende Rolle zukam. Wie Rene Pfeilschifter betont hat, setzt das Vorhandensein eines Akzeptanzsystems a) immer mehr als nur eine Trägergruppe der Herrschaft voraus und b) das Fehlen alternativer, unhinterfragt gültiger und wirksamer Mechanismen der Herrschaftsstabilisierung, wie sie etwa ein etabliertes und langfristig automatisiertes dynastisches System mit sich bringen würde.22

18 19 20 21 22

Ebd., 107. Zur ‚Lebenswelt‘ und zum Konzept des ‚lebensweltlichen Hintergrundwissens‘ vgl. Habermas (1981), Bd. 1, 449–452; Bd. 2, 182–228; Habermas (1988), 85–95. Flaig (2011), 77. Vgl. Brandt (2021), 75 f. zu der komplexen Frage, welche Gruppen die plebs urbana umfassten (besonders, ob sie inklusive oder exklusive Sklav*innen und Fremden zu konzeptualisieren ist). Vgl. bspw. Pfeilschifter (2014), 114.

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Herrschaft in einem Akzeptanzsystem ist folglich immer in gewissem Grade prekär. Zwar basieren die meisten Herrschaftsformen ebenfalls auf der Bereitschaft zur Hinnahme der Herrschaft seitens der Machtunterworfenen, doch gehört zu einem Akzeptanzsystem die spezifische Herausforderung für den ‚Souverän‘, den Erwartungen verschiedener Trägergruppen gerecht werden zu müssen, um die Eröffnung von Möglichkeitsräumen zur Unterminierung oder gar Aufhebung seiner Herrschaft zu verhindern. Die angestrebte Akzeptanz von Herrschaft war natürlich nicht bedingungslos zu haben. So musste der römische Kaiser in den Augen der Angehörigen der Akzeptanzgruppen ein ‚guter Kaiser‘ sein. Um diesen Rollenanforderungen zu genügen, musste er sein Handeln an den teilweise konfligenten Erwartungen der Akzeptanzgruppen ausrichten. Die symbolische Kommunikation mit den Teilgruppen musste auf ‚richtige‘ Weise gepflegt werden. Dadurch konnte der Kaiser seine Anerkennung der Akzeptanzgruppen und ihrer normativen Vorstellungen zum Ausdruck bringen. Um unter den spezifischen Bedingungen antiker Herrschaft Anerkennung auszudrücken, waren vorrangig (a) nicht nur symbolische, sondern auch persönliche Nähe(gesten) und (b) verschiedene Formen des Gabentauschs erforderlich. Dabei musste (c) ein Austarieren der miteinander verketteten Akzeptanzen erfolgen und (d) die Kopplung von Informationsaufnahme und Gehorsamsmodalität angemessen berücksichtigt werden.23 Enttäuschte der Kaiser die Erwartungen der Akzeptanzgruppen vorsätzlich oder akzidentiell, konnte dies längerfristig die Akzeptanz seiner Herrschaft gefährden. Umgekehrt konnte der Kaiser sogar einzelne Angehörige der Akzeptanzgruppen töten, jedoch nicht die Gruppe als solche „stürzen, weil sie nicht als Gruppe handelte und sich auch nicht als solche empfand“.24 Der Kaiser musste sich folglich mit den Akzeptanzgruppen arrangieren – während deren Angehörige auf eine Verbesserung des Funktionierens des politischen Systems hoffen konnten, wenn sie einen missliebigen Kaiser loswurden. Der äußerste Testfall kaiserlicher Herrschaft, der deshalb als negativer Verdichtungspunkt im Zentrum von Flaigs Analyse steht, ist folglich die Usurpation. Im Unterschied zum Beispiel zur Revolte oder zur (gescheiterten) Verschwörung tritt in ihr ein alternativer Funktionsstelleninhaber auf. Dadurch ist der Akt der Usurpation in seinem Kern die Unterbreitung einer konkreten personenbezogenen Alternative. Deshalb muss sich das Verhältnis des Kaisers zu den Akzeptanzgruppen in dieser Krise in besonderem Maße bewähren, sofern er im Machtkampf nicht unterliegen und mit seiner Herrschaft auch sein Leben verlieren möchte. Herrscherwechsel stellen deshalb neuralgische Punkte dar, weil sie neue Erwartungshorizonte eröffnen, wie Flaig am Beispiel des Vierkaiserjahres herausgestellt hat. Solche Erwartungen waren gerade in diesen Umbruchsphasen häufig durch kurzfristig zurückliegende negative Erfahrungen und Enttäuschungen beeinflusst.

23 24

Zu (c) vgl. Flaig (1992), 397 und zu (d) ebd., 491. So mit Blick auf die spätantiken ‚Eliten‘: Pfeilschifter (2012), 141.

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Derartige Enttäuschungseffekte lassen sich vielleicht am deutlichsten von allen Akzeptanzgruppen am Beispiel der symbolisch stark aufgeladenen, zudem durch die Gruppenanonymität zumeist gut geschützten Artikulationen der plebs urbana erahnen: Vor diesem Hintergrund deutet die Forderung, Tiberius nach seinem Tod 37 im Tiber zu versenken (Tiberium in Tiberim!), durchaus auf eine Ablehnung hin, für die eine aus Sicht des Volkes schwache kommunikative Performanz des Princeps ihren Teil beigetragen haben mag, beziehungsweise die man als Ausdruck eines hohen Grades an Enttäuschung über die Performanz des verstorbenen Princeps deuten könnte.25 Vergleichbare Belegstellen, aus denen Enttäuschungen ersichtlich sind, ließen sich sicher für jede der drei von Flaig benannten Akzeptanzgruppen anführen. An dieser Stelle soll allerdings darauf verzichtet werden, weitere Beispiele für diese gut aufgearbeiteten Beziehungsverhältnisse und die in ihnen eingelagerten Formen von Enttäuschungen anzuführen. Stattdessen schlage ich vor, das Akzeptanzmodell zu erweitern: Es sollen neue Akzeptanzgruppen eingeführt und darüber diskutiert werden, welche Rolle in ihren politischen Interaktionen Erwartungen und Enttäuschungen spielten. Denn der Fokus auf die Usurpation hat einen Nachteil: Er ignoriert die Mehrebigkeit imperialer Herrschaft, indem zwei Frageebenen nicht hinreichend unterschieden werden. Das betrifft einmal die durch die Untersuchung der Usurpation ins Zentrum gerückte Frage, wer einen Kaiser stürzen kann, und andererseits die Frage, was Herrschaft überhaupt möglich macht. Während die erstgenannte Frage stärker die Akzeptanzmonarchie im engeren Sinne betrifft, verweist die zweite mit ihrem allgemeineren Charakter auf den institutionellen Untergrund eines jeden Akzeptanzsystems. Zur angemessenen Erfassung dieses institutionellen Fundaments muss die Akzeptanztheorie mit Blick auf das römische Kaiserreich partiell reformuliert werden. 3. Neufassung: Enttäuschungen im mehrebigen Akzeptanzsystem Egon Flaigs Modell kaiserlicher Herrschaft bezieht sich empirisch nur auf die Phase vor dem 3. Jahrhundert. Dabei zeige sich, dass insbesondere im 1. Jahrhundert die Provinzialen „kein maßgeblicher Sektor der politischen Gemeinschaft“ gewesen seien,26

25

26

Suet. Tib. 75. Zvi Yavetz hat vier Gründe ausgemacht, aus denen heraus die Bevölkerung Roms zu Gewalthandlungen als Mittel der Reaktion griff: bei aufbrechendem „economic stress“ (Yavetz [1969], 33), für dessen Bewältigung vom Kaiser (wie zuvor schon von den Angehörigen der römischen Aristokratie) Aktivitäten erwartet wurden; „when it seemed that the authorities (or the emperor personally) were not providing the people with amusements which they expected from them“ (ebd., 34); bei Fragen der ‚Gerechtigkeit‘ (insb. wenn clementia vom Herrscher erwartet wurde) (vgl. ebd., 34 f.); bei im engeren Sinne politischen Fragen nach dem Bestand des Prinzipats als politischem System, dessen Führung durch einen Princeps mit einer ihr genehmen „personality“ sie erwartete (ebd., 36). Flaig (1992), 181.

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wenngleich sie, wie Flaig in der Neuauflauge von Den Kaiser herausfordern zugestand, „zweifelsohne“ einen „‚reichsbezogene[n]‘ Sektor“ darstellten  – „aber eben keinen maßgeblichen“.27 Erst im 3. Jahrhundert, so überlegt Flaig in einer kurzen Passage seines Werkes, hätten möglicherweise andere Großgruppen der Reichsbevölkerung – wie die Provinzialen – an Bedeutung gewonnen, da die Großgrundbesitzer in Nordafrika bei der Kaisererhebung Gordians  (I.) 238 eine entscheidende Rolle gespielt haben. Aus diesem Grund wird dieser Zeit- auch zum Endpunkt von Flaigs Untersuchungszeitraum.28 Dass die Proklamation Gordians am Ende von plebs urbana und ‚Reichs­­­­­ aristokratie‘ „akzeptiert“ worden sei, fasst Flaig nicht nur als Akt der Anerkennung eines neuen Kaisers (beziehungsweise von dessen Nachkommen) auf, sondern aus seiner Sicht trat damit eine weitere Akzeptanzgruppe auf den Plan, die für spätere Phasen der römischen Kaiserzeit von Bedeutung gewesen sei. Allerdings habe sich diese „neue“ Akzeptanzgruppe von den hergebrachten dadurch unterschieden, dass sie „im Gegensatz zu den drei traditionellen maßgeblichen Sektoren […] nur schwach organisiert“ gewesen sei – „und auch bloß auf lokaler, regionaler und höchstens provinzialer Ebene. Dennoch: Der Prinzipat nach 238 konnte nicht mehr derselbe sein wie vorher.“29 Rene Pfeilschifter hat Flaigs Modell aufgegriffen und ebenfalls unterstrichen, dass das Akzeptanzsystem in der Zeit jenseits von Flaigs Untersuchungsschwerpunkt einen erheblichen Wandel durchgemacht hat.30 Doch bereits für die Zeit der Soldatenkaiser könne von einem Akzeptanzsystem im eigentlichen Sinne keine Rede mehr sein, da die vorrangige Fokussierung auf die Soldaten die für ein Akzeptanzsystem erforderliche Pluralität und mithin auch Verkettung der Akzeptanzgruppen vermissen ließe.31 Für das spätrömische konstantinopolitanische Kaisertum könne man jedoch wieder von einem Akzeptanzsystem sprechen, da der Kaiser für seine Herrschaftsausübung auf die Hinnahme und gegebenenfalls Unterstützung seiner Herrschaft durch die Akzeptanzgruppen von Armee, Volk (jetzt: dem der neuen Hauptstadt Konstantinopel) 27 28 29 30 31

Flaig (2019), 200. Flaig (1992), 189 f.; etwas ausführlicher: Flaig (2019), 225 f. So die ausführlichere Fassung in ebd., 226. Vgl. Pfeilschifter (2013), 11–24 und passim. Ebd., 13; vgl. Pfeilschifter (2014), 111 f. Vgl. außerdem besonders die Charakterisierung in Pfeilschifter (2013), 12 f., wo zugleich auf die Bedeutung der Pluralität an Akzeptanzgruppen für den Kaiser und die möglichen Konsequenzen im Fall ihres Fehlens (bzw. ihrer Monotonisierung) verwiesen wird: „Erhob sich ein Usurpator, halfen dem Kaiser [im dritten Jahrhundert; M. N.] weder Volk noch Anerkennung des Senats. Seine einzige Hoffnung lag darin, daß sein Heer das des Gegners aus dem Feld schlagen würde. Deshalb wurde die Dominanz dieser Akzeptanzgruppe noch größer, als sie ohnehin schon gewesen war. […]. Dem Kaiser war die Möglichkeit verlorengegangen, die verschiedenen Gruppen in einem zwar prekären, aber doch herstellbaren Gleichgewicht von Kräften und Interessen zu halten, das ihm selbst größtmögliche Handlungsfreiheit sicherte. Für das dritte Jahrhundert läßt sich gar nicht mehr von einem Akzeptanzsystem im Flaigschen Sinne sprechen, gehören zu diesem doch immer mehrere statt nur einer wichtigen soziopolitischen Gruppe. […] Die Etablierung der Armee als alleiniger Verleiher politischer Legitimität hinderte nur noch die Existenz rivalisierender Heere, welche die Wahl des anderen regelmäßig bestritten.“

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und Eliten angewiesen war.32 Diese Akzeptanzgruppen heißen zwar ähnlich wie die Flaigs, lassen sich aber in einer auf die Verhältnisse in Konstantinopel angepassten Weise bestimmen, sodass sich für Pfeilschifters Untersuchungszeitraum erhebliche inhaltliche Differenzen gegenüber Flaigs Falllage ergeben. Nicht unter die von Pfeilschifter identifizierten Akzeptanzgruppen zählt hingegen die Geistlichkeit, da diese infolge ihrer Heterogenität und ihrer systemisch gegebenen Nachordnung unter den Kaiser nicht konstant über hinreichend Einfluss verfügt habe.33 Es liegt mithin nahe, anzunehmen, dass das Akzeptanzsystem im römischen Fall eine Entwicklungsgeschichte aufweist, die über die untersuchten Bereiche hinausreicht. Allerdings erzwang der Untersuchungsgegenstand der Usurpation bisher eine Fokussierung auf die Person des Kaisers und mithin die oberste Ebene der Reichspolitik. Damit sollte die äußerste Bewährungsprobe einer Herrschaft erfasst werden, sodass im Stresstest des Systems dessen wesentliche Faktoren sichtbar werden. Infolgedessen wird jedoch die höchste personale Hierarchieebene gegenüber allen anderen Ebenen von Herrschaft im Römischen Reich privilegiert. Außerdem spricht Flaig selbst in der Neuauflage seines Buches präzisierend nicht mehr von einem Akzeptanzsystem, sondern von einer ‚Akzeptanzmonarchie‘, um auf diese Weise die römischen Monarchie von anderen Formen der Monarchie abzugrenzen, wobei aus seiner Sicht der zentrale Aspekt dieses Monarchietyps darin besteht, dass die Herrschaft jedes einzelnen Kaisers beständig auf „Akzeptanz“ angewiesen ist und ihr mithin – zwar nicht auf systemischer Ebene, jedoch in Hinblick auf den einzelnen Inhaber des ‚Kaiser­ amtes‘  – eine „entziehbare Legitimität“ zugrunde liegt.34 Dabei besteht Herrschaft nicht nur in jovialen Anerkennungsakten seitens der Herrschenden und regulativen Symbolhandlungen vonseiten der Beherrschten. Diese Interaktionen bilden vielmehr den Verständigungsrahmen, innerhalb dessen sich dann das gemeinsame Handeln bewegt: Der Herrscher verdeutlicht durch sein Handeln und seinen Lebensvollzug, dass er ein guter Herrscher sein kann; im Gegenzug akzeptieren die Beherrschten den Entscheidungsvorrang und die Übermacht des Herrschers und beschränken sich auf Zustimmungsbekundungen, notwendige Interventionen oder passive Hinnahmen. Freilich lässt sich der Akzeptanzbedarf einer Herrschaft nicht auf die unmittelbare Beziehung zwischen dem Kaiser und den bisher identifizierten Akzeptanzgruppen reduzieren, sondern muss sich vielmehr über alle Ebenen des politischen Systems erstrecken, weil dies auch Anspruch wie Faktizität der Kaiserherrschaft ist: Der Kaiser herrschte nicht nur ideologisch, sondern in gewissem Maße auch faktisch über das Römische Reich mit all seinen Städten und Provinzen infolge des – so die tragende

32 33 34

Ebd., 18–38 und passim; Pfeilschifter (2014), 114–116; 130; 140 f.; Pfeilschifter (2022), 45. Vgl. Pfeilschifter (2014), 116; (2022), 45 f.; ausführlich: (2013), 32–38; 355–451 mit dem Fazit ebd., 451. Flaig (2019), 61; dazu vgl. ebd., bes. 60–74 sowie Flaig (2021), bes. 159–162.

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Ideologie – consensus omnium.35 Im Fall des trikontinentalen Reiches bedeutete dies, dass neben der Ebene des Kaisers auch die Hinnahme seiner Herrschaft und ihrer Organisation auf den verschiedenen teilautonomen Ebenen subsidiären Handelns im Reich – und das heißt vor allem: in den Provinzen und Städten – gesichert gewesen sein musste. An dieser Stelle löst sich das Akzeptanzsystem von der Person des Kaisers – der Akzeptanzmonarchie im engeren Sinne – und gewinnt strukturelle und systemstabilisierende Bedeutung. Das Akzeptanzsystem des römischen Kaiserreiches konkretisiert sich auf jeder Ebene und in jeder politischen Einheit des Reiches neu. Wie Hartwin Brandt betont hat, sind auch die Provinzialen mit dem Kaiser über Formen ritualisierter Kommunikation verbunden,36 deren grundsätzliche Bedeutung Flaig bereits für die übrigen Akzeptanzgruppen hervorgehoben hat. Dabei durchdrang natürlich das hierarchische Prinzip alle Ebenen des Reiches und wies beispielsweise den Statthaltern oder den Ratsversammlungen der Städte eine bestimmte Rolle zu. Nur infolge dieser Mehrebigkeit und Tiefe des Akzeptanzsystems wurde es möglich, dass die Hinnahme der Herrschaftsverhältnisse zeitweilig auf einer Ebene oder in einer Region einbrach, jedoch auf den übrigen fortbestand – so betraf ­beispielsweise eine Usurpation nicht zwingend jede Stadt im Reich unmittelbar, und nicht jeder kommunale Aufstand wuchs sich zu einer reichsweiten Krise aus. Dass das Zentrum zudem verständlicher Weise bemüht war, regionale Konflikte begrenzt zu halten, hat Gil Gambash betont und dabei hervorgehoben, dass dies auch die memorialpolitische Dimension betroffen habe: As the evidence shows, the Roman government chose not to make universally public the news of provincial victories; instead, the occurrence of provincial revolts was excluded from the collective memory of the inhabitants of the empire.37

Die Invisibilisierung von innenpolitischen Siegen zielte (aus Sicht des Zentrums) auf eine Stabilisierung des Reiches und auf die Verhinderung einer Ausbreitung von Unruhen. Zugleich transportiert auch das Schweigen eine Aussage: Es verdeutlicht die reichsweite Relevanz und potentielle Gefährlichkeit, die regionalen Unruhen und Aufständen seitens des Zentrums zugeschrieben wurde. Dieser regionale Aspekt von Herrschaft im mehrebigen Modell des Akzeptanzsystems verdeutlicht auch, dass gerade antike Machträume immer ‚Palimpsesträume‘ sind:38 Sie weisen nicht nur verschiedene Formen, sondern auch verschiedene Ebenen mit unterschiedlicher Herrschaftsdurchdringung und -abdeckung auf. Vertieft und

35 36 37 38

Programmatisch verdichtend: Aug. RG 34. Vgl. Flaig (1992), 198: „Das römische Akzeptanzsystem fand seine politische Formel in dem Begriff consensus universorum.“ Vgl. Brandt (2021), 76. Gambash (2015), 124. Zu Macht, Diskurs und Palimpsest vgl. Malinowski et al. (2022), 194 f.; zu Palimpsest und Raum vgl. demnächst Nebelin / Sandten (2024).

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verbreitert man auf diese Weise die Perspektive, wird deutlich, dass gerade kaiserliche Herrschaft immer auch Raumkontrolle erfordert. Dass der politische Tod des Kaisers allein zudem unzureichend ist, um die Funktionsweise der Kaiserherrschaft zu erkennen, verdeutlicht ein markantes Gegenbeispiel: das Ende des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustulus (der ebenfalls ein Usurpator war). Dieser starb irgendwann ‚verrentet‘, nachdem er schon lange seinen Herrschaftsraum eingebüßt hatte. Und auch sein Vorgänger und Kontrahent Julius Nepos, der letzte von Konstantinopel anerkannte weströmische Kaiser, regierte zuletzt nur noch Dalmatien. Die Tragik des west­römischen Kaisertums lässt sich mithin deutlicher anhand der Territorial­ geschichte der Herrschaft als an den Biographien der beiden Kaiser ablesen. Die Mehrebigkeit des Akzeptanzsystems ergibt sich folglich daraus, dass jede Herrschaft auf allen Ebenen auf Akzeptanz angewiesen ist, denn nur wenn zumindest potentiell überall Gehorsam eingefordert und geleistet wird, kann ein Herrschaftssystem wirklich funktionieren. Ein solches Akzeptanzsystem ist also keinesfalls ein ausschließlich römisches Phänomen, sondern durchzieht jede Ebene jedes Gemeinwesens, auf der Menschen institutionalisiert auf Verwaltungs- und Entscheidungsakte Einfluss nehmen können. Von einer Akzeptanzmonarchie kann demnach nur auf jenen Ebenen und in jenen Kontexten die Rede sein, wo konkret die Herrschaft, also Gehorsamkeitsstreben und -chance einer Monarchin oder eines Monarchen, betroffen sind – unter Ausblendung der übrigen Ebenen. Für den römischen Fall hat dies zur Folge, dass bisher das Akzeptanzsystem infolge der Fokussierung auf die Usurpation nur in seiner monarchischen Spitze analysiert und erfasst worden ist. Die tieferen Schichten und regionalen Ausformungen des Akzeptanzsystems im weiteren Sinne sind bisher unberücksichtigt geblieben. Das hängt damit zusammen, dass die zu dessen Erfassung in den Blick zu nehmenden Akzeptanzgruppen gerade aufgrund der oftmals nicht gegebenen Nähe zu den Kaisern andere Arten von Kommunikation pflegten. In diesem Sinne hat bereits Rene Pfeilschifter darauf aufmerksam gemacht, dass die Etablierung des Kaisertums mit einer räumlichen Weitung der innerrömischen Machtbeziehungen einherging: Auch der Raum außerhalb Roms konnte in das Zen­ trum des Reiches zurückwirken – wobei Pfeilschifter vor allem die Soldaten als (neue) Akteure in der Politik auffasst.39 Mit der dauerhaften Etablierung des konstantinopolitanischen Kaisertums und der Verstetigung der Präsenz des Kaisers in der Hauptstadt geht Pfeilschifter zufolge schließlich erneut eine politische Neutralisierung des Außenraumes und damit auch der Soldaten einher.40 Doch auch wenn das politische 39

40

Vgl. Pfeilschifter (2014), 111: „Es war jedoch eine der wesentlichen Neuerungen des Prinzipats, dass der Raum außerhalb Roms eine größere Rolle zu spielen begann, anders ausgedrückt: Er war nicht bloßes Herrschaftsobjekt – was allerdings seine primäre Funktion blieb –, er wirkte nun auch auf die Herrschaftsetablierung und -behauptung ein. Die Legionen an den Reichsgrenzen wurden wesentliche politische Faktoren.“ Vgl. ebd., 113 f.; 130; Pfeilschifter (2022), 43 f. Ebd., 48 stellt Pfeilschifter das Verhältnis von Konstantinopel und seiner Umwelt als „extreme separation of ‚inside‘ and ‚outside‘“ dar: „What is sur-

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Gewicht des Raumes jenseits des Zentrums sich im Verlauf der Jahrhunderte wandelte (und umgekehrt auch das des Zentrums zu- oder abnahm), bleibt dieser Raum eine mögliche Formierungsstätte neuer Akzeptanzgruppen. Nachfolgend soll nun an zwei knappen Beispielen illustriert werden, wie im Verlauf der langen Geschichte des römischen Kaiserreiches weitere Akzeptanzgruppen als die bisher identifizierten an Bedeutung gewonnen haben, weil sie eine Basis kaiserlicher Herrschaft gerade auch außerhalb Roms (und später Konstantinopels) bildeten. Eine davon war von Beginn der Kaiserzeit an von Bedeutung und blieb es bis fast zuletzt; die andere gewann ihre sichtbarste Bedeutung in einem schmalen Abschnitt der Geschichte. Die Rede ist zum einen von den Provinzialen, zum anderen von den Mitkaisern während der Tetrarchie. Die grundsätzliche Bedeutung der Provinzen lässt sich anhand von Ägypten besonders gut veranschaulichen. Bereits Octavian hatte mit der ‚Privatisierung‘ Ägyptens den Sonderstatus der Provinz betont, der sich aus ihrem Reichtum und ihrer Bedeutung für die Getreideversorgung ergab. Innerhalb Ägyptens kam Alexandria entscheidende Bedeutung zu. Die Metropole erwies sich wiederholt als Unruheherd, in dem Unmut am Kaiser laut und symbolisch wirksam artikuliert wurde. Noch in der Spätantike sicherte ihr dies eine Sonderstellung. Dabei fungierte Alexandria häufig als Seismograph für Probleme und Konflikte in der gesamten Provinz: So herrschte beispielsweise 215/216 in Alexandria während Caracallas Aufenthalt ein kaiserkritischer Aufruhr.41 Die Schriftquellen legen nahe, dass erst diese Unruhen  – genauer: „les moqueries des Alexandrins“42 – Caracalla dazu veranlassten, sich nach Alexandria zu begeben, um dort durch umfangreiche Tötungen die Unruhen zu unterdrücken und die Botmäßigkeit der Stadt wiederherzustellen,43 während in jüngerer Zeit zumindest als ein weiterer wichtiger Grund für die Anwesenheit des Kaisers die Vorbereitung von dessen Partherfeldzug eingestuft wird.44 Dass der Aufruhr in jedem Fall eine kai-

prising, however, is the concentration, the compression of this system within this one city, in a space of little more than fourteen square kilometers. The remainder of the vast Empire, the ‚rest‘, one might say, did not belong to the political system.“ 41 Vgl. besonders Cass. Dio 78,22 f.; Herodian 4,8,7–9; 4,9,1–8; SHA Carac. 6,2 f. sowie die Quellenauflistung in Rodriguez (2012). Dazu und zum nachfolgenden vgl. die Interpretationen, Rekonstruktionen und Beobachtungen von Benoît / Schwartz (1948); Sünskes Thompson (1990), 159–166; Buraselis (1995); Bernand (1998), bes. 155–167; Bérenger-Badel (2005), bes. 124–135; Rodriguez (2012) und Łukaszewicz (2021). Die politische Problematik der Massaker lässt sich im Übrigen auch nicht dadurch reduzieren oder relativieren, dass auf mögliche ‚Dramatisierungen‘ in den Schriftquellen verwiesen (Bérenger-Badel [2005], 134 f.) oder der ‚juristische Hintergrund‘ des Geschehens betont (Rodriguez [2012], 254–266, bes. 254: „une répression légale“ und 265: „dimension légale des massacres ordonnés par Caracalla“) wird; vgl. auch Sünskes Thompson (1990), 166. 42 Bérenger-Badel (2005), 126. 43 Vgl. besonders Cass. Dio 78,22 f.; Herodian 4,9,1–3; 4,9,6–8; SHA Carac. 6,3. Wesentlich ist, dass die Unruhen dabei dem Massaker vorausgingen; vgl. Rodriguez (2012), 243. 44 Vgl. Sünskes Thompson (1990), 163. Ein möglicherweise verstärkend wirkender Zusammenhang mit Caracallas Kriegsvorbereitungen ist denkbar, da aus den papyrologischen Zeugnissen hervor-

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serkritische Spitze besaß, verdeutlicht der Umstand, dass Statuen, die mit dem Kaiser in Verbindung standen, umgestürzt und zerstört wurden.45 Die Dramatik der Enttäuschung und Problematik der Situation werden darin besonders sichtbar: „[M]it einem Imperator, der selbst Ursache und Zielscheibe ihres Protestes bildete, war den Provinzialen die höchste Appellationsinstanz genommen.“46 Dass der Kaiser auf die Unruhen mit Gewalt reagierte, ist einerseits auf die Besonderheiten des Akzeptanzsystems und andererseits auf ein wiederholt anzutreffendes kaiserliches Verhaltensmuster gegenüber Alexandria zurückzuführen, das sich durch die Geschichte zieht: Im Akzeptanzsystem blieben der stadtrömischen plebs urbana bestimmte, auch extreme Formen der Kritik vorbehalten; exklusiv ihr galt zudem eine kaiserliche Fürsorgepflicht etwa im Bereich der Getreideversorgung. Beides konnten die Alexandriner nicht für sich in Anspruch nehmen. Gleichwohl hätte der Kaiser sich gegenüber den Bürgern der wichtigen Großstadt natürlich entgegenkommender verhalten können, zumal ihre Erwartungen vermutlich relativ klar umrissen waren. Dass er zudem, wie mehrere Quellen behaupten, in die Stadt gekommene Fremde auswies,47 könnte darauf verweisen, dass ihm auch die Verknüpfung von sozialen und wirtschaftlichen Problemen in der Stadt und der Provinz nicht entgangen war, er beide Problemregionen zu entflechten und dadurch die Stadt zu beruhigen versuchte. Das gewaltsame Vorgehen gegen Alexandria dürfte denn auch nicht mit einer Geringschätzung der Stadt, sondern vielmehr mit einer besonders hohen Einstufung ihrer imperiumsweiten Bedeutung zusammenhängen. Die Mordtaten sollten die Provinzstadt dem Willen des Kaisers unterwerfen und sie auf diese Weise – im Übrigen mit Erfolg – dazu zwingen, ihre Rolle als Getreide- und Heereslieferant wieder zuverlässig zu übernehmen. Es ist jedoch gerade dieser für die Kaiser bestehende Zwang, sich immer wieder mit Alexandria und Ägypten auseinandersetzen zu müssen, der exemplarisch verdeutlicht, welche Bedeutung die Städte und Provinzen für die Kaiser besaßen. Ein Kaiser musste Zeit aufwenden, um sich mit ihnen zu beschäftigen. Im Idealfall trat er mit ihnen in eine geregelte und gestufte kommunikative Beziehung. Auf obszöne Weise veranschaulicht auch dies Caracalla: Immerhin hielt er Alexandria für bedeutend genug, dass er einen Aufstand persönlich und nachhaltig niederschlagen wollte. Das kostete den Kaiser Zeit – die einzige im Kern demokratische und nicht wiedergewinnbare Ressource. Mochten die Städte und Provinzen auch nicht immer zum Kaiser durchdringen und über vergleichsweise geringen Einfluss verfügen: Sie bildeten das Fundament des Reiches. Kaiserliche Politik war auf die Kooperation der Provinzialen

45 46 47

geht, dass zu den Trägergruppen des Aufstandes auch Handwerker gehörten, die vermutlich im Rahmen der Vorbereitungen besonders unter Druck gerieten; vgl. Buraselis (1995). Vgl. dazu Sünskes Thompson (1990), 161; 166; Bernand (1998), 164; Rodriguez (2012), 255 f.; 261 f. So die allgemeine Feststellung von Sünskes Thompson (1990), 176. Vgl. Cass. Dio 78,23,1 f.; vgl. Sünskes Thompson (1990), 159; 164–166.

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angewiesen. Die Akzeptanz kaiserlicher Herrschaft wurde auf diesen Ebenen freilich nicht allein durch euergetische Gaben, sondern gegebenenfalls auch durch die Wendung der Gewaltressourcen des Imperiums gegen die Region hergestellt. Wollte der Kaiser jedoch nicht längerfristig zu einem hohen und riskanten Ressourceneinsatz in den Provinzen gezwungen sein, musste er nach Möglichkeit das Überschreiten einer ‚kritischen Masse‘ an Enttäuschungen bereits im Vorfeld verhindern – eine Strategie, die auch für die anderen Akzeptanzgruppen galt. Es dürfte vor allem der häufig wahrgenommene Umstand der fehlenden unmittelbaren Nähe der Reichsbevölkerung zum Kaiser sein, der die Einstufung als Akzeptanzgruppe bisher erschwert hat. Diese Wahrnehmung mag freilich auch den Untersuchungszeiträumen der bisher vorliegenden Studien zum Akzeptanzsystem geschuldet sein. Dass diese Nähe zum Kaiser und mithin auch die unmittelbare Machtrelevanz der Provinzialen Veränderungen unterlag, hat allerdings – wie bereits ausgeführt – bereits Flaig nahegelegt. In seiner Untersuchung von Usurpationen des 4. Jahrhunderts kam zudem Joachim Szidat zu dem Schluss, dass aus den Quellen ersichtlich sei, dass die Erwartung der jeweiligen regionalen Unterstützer einer Usurpation in „eine[r] stärkere[n] Berücksichtigung der Interessen des Gebietes, auf das sich der Usurpator stützte, oder einzelner Schichten in diesem Gebiet“ bestanden habe.48 Trotz der regionalen Hintergründe mancher Allianzen zwischen Bevölkerung und Usurpator ging es in diesem Zeitabschnitt nach Auffassung von Szidat freilich kaum um Autonomiebestrebungen: Betrachtet man die Interessen, die die Bevölkerung mit der Unterstützung des Usurpators verfolgte, so scheinen es auf den ersten Blick deutlich lokale Sonderinteressen zu sein, in denen sich zentrifugale Kräfte widerspiegeln. Man muß aber bedenken, daß niemals der Anspruch an den Usurpator gestellt wurde oder die Erwartung an seine Unterstützung geknüpft wurde, das von ihm beherrschte Gebiet aus dem Reichsverband zu lösen, und daß man erwartete, daß er mit dem legitimen Herrscher zu einer Übereinkunft kam oder selbst die volle Macht im Reich übernahm. Die Sonderforderungen sind daher lediglich als Preis für die politische Unterstützung anzusehen, die man ihm gewährte.49

Die nächste nach den Provinzialen in den Blick zu nehmende Akzeptanzgruppe mag auf den ersten Blick überraschen: Es handelt sich um Mitkaiser (nicht Gegenkaiser). Spätestens mit der Tetrarchie kündigte sich an, dass auch die Mitkaiser in einem Mehrkaisersystem zu einer neuen Art von Akzeptanzgruppe kaiserlicher Herrschaft werden konnten, da damals jeder von ihnen nunmehr innerhalb des ungeteilten Reiches einen eigenen Zuständigkeitsbereich zugewiesen erhielt und gemeinsames Regieren nur in Abstimmung mit den anderen möglich war. Die politischen Erwartungen an das Verhältnis der Tetrarchen untereinander wurden nach Auffassung von Arne Effenberger

48 49

Szidat (1982), 24. Ebd., 25.

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im unmittelbaren Umfeld des Begründers dieser Monarchieform in den bekannten sogenannten Tetrarchengruppen, die in Venedig und Rom erhalten und anderenorts fragmentarisch bezeugt sind,50 in symbolische Darstellungen gefasst. Dabei weist die reichsweite Verbreitung darauf hin, dass nicht nur Diokletian, sondern wohl auch seine Mitkaiser deren symbolische Aussage teilten.51 Diese Statuen kommunizieren die Selbstvorstellung der Tetrarchen, machen aber damit auch ihre wechselseitige Erwartungshaltung deutlich: Alle Herrscher werden nahezu identisch vorgestellt, wodurch der Eindruck vereinheitlichender Homogenität erzeugt wird. Die Umarmungen der Kaiser lassen ihre enge Bezogenheit aufeinander erkennen.52 Würde dieses Idealbild stimmen, müssten sie enttäuscht gewesen sein, als das System auseinanderbrach. Letzten Endes waren die Kaiser nicht bereit, einander als Akzeptanzgruppe zu akzeptieren; die erforderliche „monarchische Solidarität“ wies Grenzen auf.53 Im weiteren Verlauf der Spätantike gewann der „dynastische Gedanke“ an Bedeutung; „[j]e mehr das Blut zählte, desto weniger Erfolgschancen bekamen Usurpatoren, desto bedeutungsloser wurde die dauernde (und nicht nur einmalige) Anerkennung durch die Akzeptanzgruppen“.54 Leider ist nicht ersichtlich, ob die Kaiser  – vermutlich abgesehen von Diokletian – diesen Drang zum ‚üblichen‘ Geschehen kaiserlicher Herrschaftskonkurrenz als enttäuschend empfunden haben. Nimmt man die Differenz zwischen symbolisch kommunizierten Ansprüchen (beziehungsweise Erwartungen) einerseits und machtpolitischer Praxis andererseits als Maßstab, sind Enttäuschungen nicht auszuschließen. Erschwerend kommt hinzu, dass in kleinen Personengruppen die Gefahr einer Eskalation von persönlichen Konflikten durch die geringe Zahl an engen Beziehungen erheblich höher ist als in größeren Gruppen. Doch bleibt das Quellenproblem: Gewissheit über persönliche Befindlichkeiten lässt sich aus dem zur Verfügung stehenden Material nur eingeschränkt gewinnen, und auch der Rückschluss von Handlungen auf Motive stößt in diesem Fall quellenbedingt an heuristische Grenzen.

50

Die Aufstellungsthese vertritt Effenberger (2013), 217 f.; zu den Fragmenten vgl. Laubscher (1999), 208 f. 51 Es ist unklar, ob die erste – mit den Augusti Diokletian und Maximian in der ursprünglich linken und den Caesares Constantius I. Chlorus und Galerius in der einstmals rechten Tetrarchengruppe (Effenberger [2013]) – oder die zweite Tetrarchie – entsprechend mit den Augusti Galerius und Constantius Chlorus sowie den Caesares Severus und Maximinus Daia (Laubscher [1999]) – gezeigt wird. Für die vorliegenden Überlegungen ist dies kaum von Relevanz, ebenso wenig, ob Effenbergers Auffassung, die Erstaufstellung sei in Nikomedia erfolgt, zutreffend ist. Entscheidend ist vielmehr die Verbreitung, die darauf hindeutet, dass diese Herrschaftsdarstellung zumindest nicht auf den Widerspruch der übrigen Tetrarchen stieß. 52 Mit dieser egalitären Anlage unterscheiden sich diese Darstellungen von anderen Tetrarchendarstellungen wie etwa dem Relief des Galeriusbogens von Thessalonike; dazu vgl. Kolb (1987), 159–176, der in der Szene zugleich eine Darstellung des Übergangs von der ersten zur zweiten Tetrarchie ausmacht. 53 Zur ‚monarchischen Solidarität‘ vgl. Pfeilschifter (2013), 18. 54 Ebd.

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Das ändert sich erst, wenn man die Frage umstellt: Was veranlasste eigentlich zum Beispiel Galerius oder Maximian zu ihren systemdestabilisierend wirkenden Handlungen? Galerius, der die Konferenz von Carnuntum 308 initiiert hatte, orientierte sich offensichtlich am Modell Diokletians und suchte eigentlich das System zu stabilisieren, akzeptierte dadurch aber Veränderungen, die den Weg zu einer dynastischen Politik wiesen; Maximian wiederum hatte das ‚Kaisertum auf Zeit‘ zunächst hingenommen und war 305 zusammen mit Diokletian zurückgetreten, nahm den Kaisertitel jedoch 307 noch einmal aus dynastischen Gründen und 310 vielleicht aus Verzweiflung erneut an. Vermutlich hatte Maximian das System befristeter Kaiserherrschaft nie wirklich verinnerlicht und sich insbesondere infolge dynastischer Erwägungen zum Systembruch verleiten lassen. Auch vor diesem Hintergrund dürfte er ein fortwährend Enttäuschter gewesen sein. Insofern legt eine Untersuchung der Tiefenschichten römischer Kaiserherrschaft den Umstand offen, dass zumindest in den Phasen imperialer Ausdehnung Gruppen wie die Provinzialen für das Funktionieren kaiserlicher Herrschaft eine entscheidende Rolle spielten. Besonders deutlich macht dies eine Gegenprobe. Blickte man beispielsweise im Jahr 271 n. Chr. auf das Römische Reich, so erschien dieses in drei Teile gespalten: Unter Kontrolle des Kaisers war nur der Bereich jenseits des sogenannten Gallischen und des sogenannten Palmyrenischen Sonderreiches.55 Die beiden Sonderreiche hatten sich infolge eines spezifischen Zusammentreffens einer Handlungsschwäche der kaiserlichen Zentralgewalt mit äußerem Druck und spezifischen regionalen (Macht-)Konstellationen ausbilden können. Diese Herrschaftsbildungen mochten nicht nachhaltig Bestand gehabt haben, doch verdeutlichen sie, dass die Herrschaft eines Kaisers auch eine herrschaftsräumliche Dimension aufwies, bei der sein Einfluss in der Fläche zentral war. Entzogen sich ihm die Provinzen (oder wurden sie ihm entzogen), so schwand die Macht des Kaisers. Der Kaiser war mithin auf die Akzeptanz seiner Herrschaft durch die Provinzialen angewiesen – und im Übrigen ebenso auch auf die durch assoziierte Herrscher, wie die Geschichte des Palmyrenischen Sonderreiches veranschaulicht. War ein Herrscher zudem in ein Mehrkaisersystem eingebunden, waren es zusätzlich die übrigen Kaiser, die seiner Herrschaft Grenzen setzten. Dabei unterscheidet sich natürlich ein geregeltes Mehrkaisersystem wie die Tetrarchie fundamental von einer simplen Machtkonkurrenz, wie sie im Verhältnis zwischen den Herrschern des Gallischen Sonderreiches und den Kaisern in Rom bestand. Insofern erweist es sich für eine angemessene Konzeptualisierung des kaiserzeitlichen Akzeptanzsystems als notwendig, die Provinzialen und mögliche Mitkaiser als weitere potentielle Akzeptanzgruppen einzustufen. Dass zur Rekonstruktion dieses Teilaspekts der Geschichte des kaiserzeitlichen Akzeptanzsystems noch genau55

Zum Gallischen Sonderreich vgl. bspw. König (1981); Drinkwater (1987); Luther (2008); Fischer (2012); zum Palmyrenischen Sonderreich vgl. bspw. Urban (1999), 88–94; Hartmann (2001); (2008); Dench (2018), 37.

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ere zeitliche Differenzierungen vorzunehmen sind, markiert Freiräume für zukünftige Forschungen. 4. Resümee: Akzeptanz, Mehrebigkeit und Erwartungsenttäuschungen Die skizzenhafte Erörterung des Akzeptanzsystems legt dessen Generalisierung zu einem mehrebigen Modell nahe. Dabei lassen sich wahrscheinlich Unterschiede ausmachen zwischen Akzeptanzgruppen, zu denen der Kaiser persönliche Nähe pflegen konnte, und solchen, bei denen das nicht der Fall war. In allen Fällen standen der Kaiser und die Akzeptanzgruppen in Kommunikationsbeziehungen, die darauf abzielten, die Hinnahme der römischen Herrschaft zu sichern. Wo dem Kaiser dies nicht persönlich möglich war, kam diese Funktion anderen politischen Funktionsträgern, Organen oder Gruppen wie den Statthaltern und den Provinziallandtagen in den Provinzen oder der Munizipalaristokratie in den Städten zu. Und auf jeder dieser Ebenen bestand mithin ein eigenes Akzeptanzsystem, das durch das übergeordnete bestärkt wurde und dieses seinerseits bestärken konnte, weil es jene Naherfahrung römischer Herrschaftsausübung und -teilhabe ermöglichte, die der Kaiser nicht persönlich jedem einzelnen Bürger zu geben imstande war. Ihre Mehrebigkeit verschaffte der römischen Kaiserherrschaft zudem „Sicherheits-­ Ventil-Institutionen“,56 die halfen, Unzufriedenheiten abzufedern – zumal gerade die Provinzialen immer in langen Zeiträumen denken mussten, wenn sie ernsthaft vom Kaiser eine Reaktion erwarteten. Dabei war die kurzfristige Enttäuschung immer schon einkalkuliert. Bis er selbst durch Enttäuschungsvorgänge in Städten und Provinzen seines Reiches betroffen war, verging für einen Kaiser zudem einiges an Zeit. Möglicherweise war gerade deshalb nicht Nähe, sondern vielmehr Distanz einer der Gründe dafür, dass die römische Monarchie und ihr Reich so lange überlebten. Distanz beförderte die Neigung zu lokaler Selbstregelung; verrinnende Zeit stabilisierte das Regime. Die Beispiele der Provinzialen und der (tetrarchischen) Mitkaiser als neue Akzeptanzgruppen verdeutlichen freilich auch, dass ‚Enttäuschung‘ als analytische Kategorie durchaus heuristische Probleme bereiten kann. Gegenüber Selbstzeugnissen, wie sie etwa Ciceros Schriften darstellen, sind gerade von diese Gruppen kaum entsprechend expressive Artikulationen erhalten, die Auskunft über ihre Enttäuschungen geben. So bleibt nur der interpretative Rückschluss von ihren Handlungen und die vergleichende Betrachtung des Wandels von Verhaltensweisen und Beziehungen. Darin liegt eine überraschende Erkenntnis der Beschäftigung mit Enttäuschungen: Diese mächtige, handlungstreibende Emotion erweist sich häufig in den Quellen als enttäuschend gut versteckt.

56

Den Begriff der ‚Sicherheits-Ventil-Institution‘ hat Lewis A. Coser (1956), 52 Anm. 16 geprägt.

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Große Erwartungen? Lokale Gemeinschaften und das Römische Reich Rene Pfeilschifter Der Großteil des Films High Noon ist ausgefüllt von den vergeblichen Bemühungen von Ex-Marshal Will Kane, ein paar Deputies für den bevorstehenden Kampf zu finden. Die vielleicht bewegendste Begegnung ist die mit seinem Vorgänger und Mentor Martin Howe. Gary Coopers Kane hofft, dass wenigstens Mart ihm beistehen wird. Doch der, verbittert, weist ihn ab: Was für ein Leben sei das eines Marshals? Immer arm zu bleiben, wenn man anständig sei? Irgendwann allein zu sterben im Staub einer Straße? „For what? For nothin’. For a tin star.“ Howe, gespielt von Lon Chaney Jr., nennt noch einen weiteren Grund, sein Alter und seine Arthritis, die ihn für Kane lediglich zur Last machen würden. Es bleibt unklar, was das zentrale Motiv für die Verweigerung ist, Angst, Einsicht in den Verlust der eigenen Fähigkeiten oder Enttäuschung über die Undankbarkeit des Jobs. Wahrscheinlich alles gemeinsam in einer unentwirrbaren Mischung. Bitterkeit macht manchmal hellsichtig. „People got to talk themselves into law and order before they do anything about it. Maybe because down deep they don’t care. They just don’t care.“1 Das ist das Hauptthema des gesamten Films: die Scheu der Gemeinschaft vor der gemeinsamen Verantwortung. Hadleyville, der fiktive Ort der Handlung, ist ein Kaff mit ein paar hundert Einwohnern im Territorium New Mexico. In nicht einer Stunde wird Frank Miller am Bahnhof ankommen. Die lokale Gemeinschaft ist in dieser Situation auf sich gestellt. Es ist nun nicht so, dass sie keine Vorsorge getroffen hätte. Der Marshal ist ein städtischer Angestellter, bezahlt aus den Beiträgen der Einwohner von Hadleyville. Doch Kane hat, nach seiner Hochzeit, das Amt gerade niedergelegt und die Stadt eigentlich schon verlassen. Sein Nachfolger wird erst am nächsten Tag erwartet. Die Bürger von Hadleyville müssten also jetzt zur Selbsthilfe greifen. Doch in der Kürze der Zeit kann kein Zivilist die nötige Entschlossenheit aufbringen.

1

High Noon, Regie: Fred Zinnemann, USA 1952, Zeitindex: 50.–52. Minute.

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Einige Gründe dafür sind nicht ganz so verächtlich, wie der Film es haben will: die Sorge um Frau und Kinder; die Vermutung, es werde nicht so schlimm kommen; der Hinweis darauf, dass man keinen privaten Streit mit Miller habe; schließlich der mehrmals geäußerte Verweis auf die Verantwortung des Staates. Auch Howe sagt dies: Wir Marshals nehmen Verbrecher fest, nur damit sie bald entlassen werden. Vor ein paar Jahren hat Kane mit Hilfe der jetzt zögernden Zivilisten Miller verhaftet und dessen Terrorregime ein Ende gesetzt. Doch nun ist dieser, eigentlich zum Tode verurteilt, begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen. Der Vorgang bleibt diffus, aber im Film ist klar: Der Staat hat versagt, es wird keine Hilfe von oben kommen. Warum also sollten die Bürger jetzt den Karren aus dem Dreck ziehen? Die Furcht und die Apathie der Männer des Städtchens – nebenbei bemerkt: nicht seiner Frauen – werden in High Noon grell in Szene gesetzt. Doch sie würden keinen guten Hintergrund für Kanes Agieren liefern, wenn sie nicht glaubhaft motiviert und, selbst sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, nicht nachvollziehbar gewesen wären. Leute wie Kane sind selten, die braven Bürger von Hadleyville sind überall.2 Kollektive Selbstorganisierung ist ein recht zähes und mühsames Geschäft. Auf die Schnelle gelingt sie kaum, und auf Dauer lässt sie sich nur mit einem erheblichen Aufwand an Zeit und Ressourcen aufrechterhalten. Können die gewünschten Zwecke dank anderer, zumeist staatlicher Mechanismen erreicht werden, sind viele Menschen damit vollauf zufrieden. In der Antike war das meiner Ansicht nach nicht anders. Das Römische Reich des ersten und zweiten Jahrhunderts n. Chr. verdankte seine Stabilität wesentlich dem Umstand, dass die meisten zentralen Regionen dicht urbanisiert waren und die Städte einen großen Teil der nötigen Administration selbst übernahmen. Der römische Staat war nach unseren Begriffen ein schwacher. Er hätte nie alle nötigen Funktionen in Steuereintreibung, Infrastruktur, Justiz und Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung dauerhaft erfüllen können. Allerdings, punktuell konnte er das sehr wohl, für einen bestimmten Ort, für eine bestimmte Zeit, für einen bestimmten Sektor.3

2

3

Der Film lässt sich nicht auf eine simple zeitgenössische Allegorie festlegen, etwa eine Stoßrichtung gegen Kommunisten oder, umgekehrt, gegen das House Committee on Un-American Activities des Kongresses und Senator Joseph McCarthy (vgl. den Überblick bei Day [2016], 69–73). Der politische Kommentar ist von allgemeinerer, grundsätzlicher Art, wie Regisseur Fred Zinnemann selbst betonte: „It was a very good western, and what I thought was fabulous was that there were all these people finding very good reasons why they wouldn’t stand up, or why they couldn’t or wouldn’t protest. This is why I thought there was something unusual about this western formula. The politics, I say again, for me were non-existent, and I would believe that they were non-existent for Coop [sc. Gary Cooper]“ (Marcus [2000], 53). Zu Urbanisierung und städtischer Administration Garnsey / Saller (2015), 40–47, zu den Funktionsdefiziten des römischen Staates Eck (1995), 55–79; Brandt (2021), 85–90 (mit Lit.); Wiemer (2006) (mit Lit.). Zur Begrifflichkeit des schwachen Staates Pfeilschifter et al. (2019), 13 und zu ihrer Anwendung auf das Kaiserreich Pfeilschifter (2022), 15; 23; 26 f.

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Und gerade darauf, so meine These, richteten sich die Hoffnungen der Bürger dieser Städte. Sie erwarteten keineswegs, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln und vom Reich in Ruhe gelassen zu werden. Stattdessen wünschten sie sein Eingreifen, um selbst entlastet zu werden, in zeitlicher, organisatorischer und finanzieller Hinsicht. Blieb ein solches Eingreifen aus, wuchs die Enttäuschung. Um dies zu vermeiden, stiegen die Leistungen des Reiches auf der lokalen Ebene im Laufe der Zeit an. Aus den Quellen ist ein solcher Prozess nicht unmittelbar erschließbar. In ihnen überwiegen stolze Behauptungen zivischer Identität. Die allgemeinen Überlegungen, die ich eben angestellt habe, erlauben Vermutungen, sind aber selbst noch keine Indizien. Eine weitere Möglichkeit, sich der Frage zu nähern, sind historische Analogien. In Mehrebenensystemen, die an sich stabil sind, ist die Kompetenz- und Leistungsverlagerung von unteren auf höhere Ebenen häufig zu beobachten. Das deutsche Kaiserreich etwa begann als ein Staatenbund, vierzig Jahre später waren die Bundesstaaten gegenüber dem Reich deutlich ins Hintertreffen geraten. Liest man die amerikanische Verfassung, kann man nur erstaunt sein, wie sich auf dieser Grundlage eine in vielen Bereichen überaus starke föderale Gewalt entwickeln konnte. Und auch in der Bundesrepublik geben die Länder mit Begeisterung Kompetenzen und, etwas weniger enthusiastisch, Geld an den Bund ab.4 Doch lassen sich für jeden Fall tiefgreifende Unterschiede zum römischen System anführen. Allzuweit kommt man also auch mit einer solchen Beweisführung nicht. Dennoch gibt es einige Gesichtspunkte, die mir für meine These zu sprechen scheinen. Bevor ich diese ausführe, ein Wort zum Untersuchungsbereich. Ich konzentriere mich auf die ersten vier Jahrhunderte nach der Zeitenwende, bevor mit der Reichsteilung und der Entstehung von ‚barbarischen‘ Reichen auf römischem Boden staatliche Alternativen entstanden. Ebenso bleiben Regionen außer Betracht, die nicht oder noch nicht ins Reich integriert waren, sprich die römische Herrschaft nicht akzeptierten. Neben einigen Grenzregionen ist vor allem Judäa zu nennen. Im Vordergrund stehen Städte mit griechischer Tradition. Hier ist die Quellenlage am besten. Hier ist das Phänomen aber auch am interessantesten, denn anders als im Westen lebten ungebrochen städtische Traditionen fort, die unabhängig von Rom waren, ja teilweise weit über Roms Anfänge zurückreichten. Zunächst zum Material. Die Inschriften sind unsere zentrale Quellenart für das öffentliche Leben in den Städten des Römischen Reiches. Von Enttäuschungen lesen wir aber wenig. Der Charakter der uns erhaltenen Inschriften hat dafür gesorgt, dass vor allem Gelungenes überliefert ist, kaum Negatives, und Vollzogenes, weniger Erwartetes. Diese Tendenz ist wohlbekannt, ich brauche darauf hier nicht weiter einzugehen. Was wir haben, ist dennoch wichtig. Die Bedeutung für mein Thema erschließt sich aber

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Kaiserreich: Nipperdey (1995), 85–98; 486–494; Haardt (2020). USA: Rozell / Wilcox (2019), 25–42; 61–67. Bundesrepublik: Weichlein (2019), 50–93; 154–200.

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erst, wenn die Handlungsspielräume der Poleis vermessen sind. Von den Inschriften werden sie eher verdeckt. Ich komme daher im letzten Teil des Aufsatzes zum epigraphischen Befund zurück. Die literarischen Quellen helfen bei der Vermessung mehr. Nur gibt es nicht allzu viele davon. Ego-Dokumente der verantwortlichen Politiker fehlen weitgehend. Auch darüber hinaus ist uns kaum eine tiefergehende Analyse des Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie erhalten. Die meisten Geschichtsschreiber sind auf die Reichsebene konzentriert, auf den Kaiser und wo er sich gerade aufhielt, meist also Rom. Schriftsteller, die aus der Provinz über die Provinz berichten – ‚Provinz‘ in einem untechnischen Gebrauch –, tun das meist in einem lokalromantischen Sinne: Die Heimatstadt und ihre Leistungen werden überhöht, das Reich eher ausgeblendet.5 Bei Libanios ist das sehr deutlich. Er ist darauf aus, sein Antiocheia als möglichst imposant und unabhängig darzustellen – zum Gefallen seiner Zuhörer und Leser, aber auch zur Unterstreichung der eigenen Bedeutung: Libanios wirkte ja in dieser Stadt, und je gewaltiger diese erschien, desto wichtiger die eigene Rolle.6 Die Tendenz der kaiserzeitlichen Literatur, wo es nur geht, auf die Exempel der klassischen Zeit zurückzugreifen, verunklart für uns zudem nicht selten die Schilderungen der zeitgenössischen Verhältnisse. Ausnahmen sind vor allem Dion von Prusa und Plutarch.7 Dion, der ‚Goldmund‘, betonte in seinen Städtereden das autonome Agieren und Rivalisieren in der kleinasiatischen Städtewelt, verschwieg den Faktor Rom aber keineswegs: Sich mit der Vormacht anzulegen sei gefährlich, so seine Mahnung an die Tarser, Wohlverhalten und innere Ruhe seien vonnöten.8 Und nur Einigkeit würde die kleinasiatischen Städte insgesamt vor den Zumutungen der Statthalter bewahren.9 Doch derartige Bemerkungen sind meist anekdotisch und letztlich rar. Die einzige allgemeine Analyse, die ich kenne, sind Plutarchs Politische Vorschriften. Es ist kein Zufall, dass dieses Werk von der modernen Forschung wieder und wieder herangezogen wird. Plutarch kritisiert im 17. Kapitel deutlich diejenigen Lokalpolitiker, die mit Verweisen auf Marathon, Plataiai und den Eurymedon der Öffentlichkeit einen größeren Handlungsspielraum vortäuschen, als tatsächlich vorhanden ist. Man

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Vgl. dazu Millar (1969), 14–16 und jetzt den Überblick bei Kuhlmann (2022); Scardino (2022), 611–626; Schorn (2022), 660 f. Am sichtbarsten wird dies in der Autobiographie (or. 1) und im Antiochikos, der Lobrede auf seine Heimatstadt (or. 11). Dort beschränkt Libanios das Referat über ihre Geschichte fast vollständig auf die vorrömische Zeit. Diese wird auf 28 Teubnerseiten geschildert (§ 44–129), die römische auf einer knappen Seite (129 f.). Vgl. Wiemer (2003). Auch Jones (1978), 95 stellt die beiden heraus. Dio Chrys. 34,7–15; 34,25; 34,38–51; s. auch 31,46; 38,7–51; 40 f.; 44,11 f.; 45; 46,14; 48. Dio Chrys. 38,33–38. Vgl. Jones (1978), 75–94; 99–103; Meyer-Zwiffelhoffer (2002), 307–315. Auch Aristeides forderte diese Städte zwei Generationen später mehrmals zur Eintracht auf, aber Rom spielte bei ihm nur am Rande eine Rolle (or. 23,62–64; 24,22; 27,44 f.).

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könne nicht mehr wie Perikles denken, sondern jeder hohe Amtsträger müsse sich bewusst sein, dass auch er Untertan ist, nachgeordnet dem Prokonsul und nicht einmal auf Augenhöhe mit den Schuhen eines römischen Senators. Nach Ausführungen über die Wichtigkeit guter persönlicher Beziehungen nach Rom kommt Plutarch im 19. Kapitel auf die gegensätzliche Spielart des Politikers zu sprechen: denjenigen, der so viel wie möglich vor Statthalter oder Kaiser bringt, um ja keinen Fehler zu begehen und sich selbst bei den Römern beliebt zu machen.10 Plutarch sagt nicht, welches Verhalten öfter vorkam. Die Extreme dürften immerhin gut abgesteckt sein. Sie sind nicht frei von Traditionalismen. Polybios hatte das Agieren der führenden Politiker des Achaiischen Bundes in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. ganz ähnlich beschrieben.11 Doch liegt hier meines Erachtens nicht die bloße Übernahme eines literarischen Motivs vor. Die strukturellen Situationen sind schlicht so ähnlich, dass auch ähnliches politisches Handeln zu erwarten ist. Was Plutarch freilich nicht sagt, ist, welches Aktionsmuster eher den Beifall der Zeitgenossen fand, was Schlüsse darauf erlauben würde, was Enttäuschungen erzeugte und was nicht. Er gibt nur sein eigenes Urteil. Mit der vorherrschenden Meinung, also derjenigen des Kollektivs, ist dieses schon deshalb nicht in eins zu setzen, weil Plu­ tarch sich hier, wie häufig, als überlegener praeceptor Graeciae stilisiert, der alles besser weiß. Entscheidend helfen also auch seine Politischen Lehren nicht weiter. Unser Quellenmaterial ist also, wie so oft, spärlich und im Grunde ungenügend. Wir bräuchten die unselektierten Materialien des Gesandtschaftsverkehrs zwischen Rom und den Städten, die dann aufzubereiten wären in einer Sammlung, die zum Beispiel heißen könnte Akten zur Auswärtigen Politik der Stadt Ephesos, schön aufgeteilt in Jahresbände. Das ist natürlich illusorisch. Das einzige, was dem nahekommt, ist Plinius’ amtlicher Briefwechsel mit Trajan im zehnten Buch, auch dieser wahrscheinlich selektiert und leider nur die innerrömische Koordination wiedergebend, aber eben am ehesten die Routinen der kaiserzeitlichen Provinzverwaltung abbildend – und genau deswegen von der Forschung auch überstrapaziert. Nach den Quellen komme ich zur tatsächlichen Funktionserfüllung auf lokaler Ebene. Geht man nach den Volksbeschlüssen, den Ehreninschriften für Elitenmit-

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Ähnlich, wenngleich nicht ganz so prägnant, Dio Chrys. 34,38–42; Aristid. or. 23,59–65. Am Ende seines Traktats kommt Plutarch auf die geringeren Handlungsmöglichkeiten, aber auch -notwendigkeiten zurück: Frieden und Freiheit garantierten die Römer, Wohlstand und Bevölkerungswachstum könne ein Politiker nur von den Göttern erbeten. Es bleibe als wesentliche Aufgabe der Erhalt und die Wiederherstellung der inneren Eintracht. Diese sei nicht zuletzt dadurch zu sichern, dass der Politiker Streitende auf die Ohnmacht der Griechen hinweise; kein Kampfpreis sei übrig, keine Herrschaft, Glorie oder Macht, die nicht ein Edikt des Prokonsuls zunichte machen könne (praec. ger. rep. 32). Es ist auffällig, dass Plutarch hier die Verbindung zwischen Stasis und römischer Intervention nur andeutet. Grundlegend für Plutarchs Haltung zum Imperium seiner Zeit ist immer noch Jones (1972), 110–121; 133. Polyb. 24,8–13; 39,3,4–8. Vgl. Pfeilschifter (2005), 220–238; 343–354; Gelzer (1940), 148–150.

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glieder, den prächtigen munizipalen Bauten, hatte sich wenig gegenüber der hellenistischen Zeit geändert: Die Poleis regierten sich selbst. Das meinte ich oben mit der Ver­deckung der realen Handlungsspielräume. Denn in Wirklichkeit verkümmerten die entscheidenden kommunalen Organe vielerorts. In einer Stadt wie Antiocheia können wir schon ab dem dritten Jahrhundert keine exekutiven Ämter mehr fassen, nur die Vergabe von ad hoc-Funktionen.12 Alexandreia bekam trotz wiederholter Bitten vom Kaiser keinen Stadtrat zugebilligt. Den hatten vermutlich zwar schon die Ptolemaier abgeschafft. Aber die Notwendigkeiten für Selbstorganisierung waren jetzt, da Alexandreia keine Hauptstadt mehr war, zweifellos gestiegen. Erst Septimius Severus gestattete 200 die Etablierung einer Boule.13 Auch das Aufgabenspektrum schrumpfte. Die Außenpolitik war ihrer Substanz beraubt, Verteidigung konnte höchstens in Abstimmung mit dem Reich stattfinden. Um 262 sammelte sich ad hoc ein Aufgebot der Griechen, das die Goten bei den Thermopylen blockierte. Wenig überraschend stellte der General vor der Begegnung Parallelen zum Kampf gegen Xerxes her. Das schien um so passender, als der Kaiser inmitten der Reichskrise keine Truppen schicken konnte. Doch der Sprecher, Marianus, war nicht nur der erwählte Anführer freier Griechen, sondern auch der imperiale Statthalter der Provinz Achaea und offenbar ein Römer.14 Als die Athener ein paar Jahre später, 267, immerhin zweitausend Mann aufbrachten, die sich den Herulern entgegenstellten, war von vornherein kein Alleingang geplant. Das Aufgebot sollte und musste in Abstimmung mit der römischen Flotte operieren.15 Und als Palmyra seine erstaunliche Hegemonie über den östlichen Teil des Reiches entfaltete, geschah das nicht nur im Namen Roms, sondern gestützt auf römische Truppen und mit römischer Autorisierung.16 Selbst in äußerster Not konnten Städte notwendige Funktionen nur mit Hilfe imperialer Strukturen erfüllen.17 Die Zeiten eines Perikles lagen in der Tat weit in der Vergangenheit. Innere Sicherheit wurde bei Bedarf ebenfalls von oben reguliert, eigene Kräfte nur in einem Maß akzeptiert, das keine Gefährdung der römischen Herrschaft darstellte. Das städtische Justizwesen war zwar weder so tot noch so nachgeordnet, wie die ältere Forschung annahm. Aber es gab nun zumindest eine römische Parallelgerichtsbarkeit, 12 13 14 15

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Liebeschuetz (1972), 168–170. Bowman / Rathbone (1992), 114 Anm. 35; 116–119; Jördens (1999), 151–156. In der Spätantike verloren auch in Alexandreia die städtischen Ämter an Bedeutung: Haas (1997), 74 f. FGrHist 100 Dexippos F 41; Hist. Aug. Gall. 5,6–6,1. Vgl. Mallan / Davenport (2015), 207 f.; 210– 212. Für die bei Dexipp und anderen Quellen der Reichskrise geschilderte militärische Zusammenarbeit zwischen lokaler und imperialer Ebene vgl. demnächst Watts (im Druck). FGrHist 100 Dexippos F 28a. Diese Begebenheit ist deshalb interessant, weil unser Gewährsmann Dexipp ganz in der klassischen Tradition lebte – dazu Millar (1969), 19–25 – und, selbst Anführer des athenischen Aufgebots, in einer Feldherrnrede die historische Vorbildrolle der Stadt für die Griechen beschwor (F 28a,6). Vgl. Hartmann (2001), 146–161; 427–466; Brandt (2021), 563–567. Das sah selbst Decius so, ein Kaiser in der Krise (FGrHist 100 Dexippos F 26).

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und Plutarch wirft den übereifrigen Romfreunden insbesondere vor, dass sie Prozesse vor den Stuhl des Statthalters schleppten. Am ehesten blieben die soziokulturellen Grundlagen des Lebens, also Kult, Religion, Spiele, Bildung und Kultur, unter munizipaler Kontrolle.18 Doch die Finanzierung dieser Aufgaben, zudem die Abgabenpflichten gegenüber Rom stellten eine erhebliche Belastung dar, die mit dem traditionellen Euergetismus der Eliten nur bei günstigen Rahmenbedingungen zu bewältigen war. Trat eine ökonomische Krise ein, geriet eine Stadt schnell in Schieflage. So überrascht es nicht, dass gerade im wirtschaftlich-finanziellen Bereich das Kümmern des Reiches offensichtlich war. Nach Katastrophen wurde großzügige Hilfe geleistet, durch Steuerentlastungen, aber auch durch infrastrukturelle Maßnahmen. So wurde der Bereich der materiellen Grundlagen des öffentlichen Lebens zum Gegenstand einer Art konkurrierender Zuständigkeiten.19 Das wachsende städtische Funktionsdefizit lässt sich auch von einer anderen Ebene her beleuchten, und zwar der darunterliegenden. Dazu nur kurz. In der Kaiserzeit verdichteten sich in vielen Städten die schon in hellenistischer Zeit florierenden Berufskollegien, die ethnischen Gemeinschaften, die Vereine mit unterschiedlichen Zielsetzungen, die Kultgenossenschaften und die religiösen Gemeinden, unter denen die jüdischen und später die christlichen nur die wichtigsten waren. Sie verdichteten sich zu einem Gefüge zwischen Staat, Markt und Familie, das ich in einer anderen Arbeit als antike Zivilgesellschaft bezeichnet habe. Solche informellen und formalen Zusammenschlüsse waren meiner Meinung nach integral für das Funktionieren und die Integration der städtischen Gemeinschaften. Und dies galt um so mehr, je weniger die kommunalen Organe, wie Stadtrat und öffentliche Amtsträger, zu solchen Inte­ grationsleistungen in der Lage waren, die über die Eliten hinausreichten und weitere Schichten der Stadtgesellschaft umfassten.20 Die Schwierigkeit der Leistungserbringung minderte natürlich den Willen dazu. Doch das erklärt den Prozess der Funktionsverlagerung nach oben nur zum Teil. Der schwache römische Staat hätte sich ihm entgegenstemmen können. Und die Ideologie der Autonomie hielt die griechischen Eliten dazu an, die städtischen Angelegenheiten selbst zu besorgen, so weit es eben ging. Dennoch erhoben sie Ansprüche, die deutlich

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Dio Chrys. 31,161 f. hält den Rhodiern nüchtern vor, welche Aufgaben ihnen unter Rom geblieben sind: sich selbstverwalten, Ehrungen aussprechen, sich beraten, Recht sprechen, Opfer darbringen und öffentliche Feste feiern. Stahl (1978), passim, bes. 73–136, zeichnet den Funktionsverlust der Städte des Imperiums im Wesentlichen zutreffend. Die Interventionsfreudigkeit Roms scheint mir aber zuungunsten der städtischen Bitten um solche Eingriffe überbewertet, auch weil Stahl der römischen Administration wohl zuviel an Steuerungskapazität zutraut. Die geringe Initiative der Statthalter arbeitet Meyer-Zwiffelhoffer (2002), passim u. 331 (zusammenfassend) heraus. Zu dem gesamten Pro­ blemkomplex vgl. demnächst die in Druckvorbereitung befindliche Habilitationsschrift von Osmers (2019). Pfeilschifter (2022).

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über das Notwendige hinausgingen – und nicht selten akzeptierten die Römer sie. Plinius’ Tätigkeit in Bithynien ist hier tatsächlich aufschlussreich. Er und auf seine Anfragen hin Trajan sorgten sich selbst um die Kleinigkeiten des städtischen Lebens. Manchmal waren es Dinge, die dem Statthalter auffielen: zum Beispiel, dass in manchen Städten verurteilte Verbrecher zum Teil seit Jahrzehnten die einen gewissen Status verschaffenden Aufgaben von Gemeindesklaven versahen. Trajan musste schreiben, was zu tun war.21 Öfter kam aber vor, dass die Städte dem Gouverneur von sich aus ihre Probleme unterbreiteten. Ob ein Tempel für die Magna Mater um ein paar Meter verlegt werden durfte, musste allen Ernstes in Rom entschieden werden.22 Die Nikaier hatten zu viel und zu schlecht gebaut, ein Theater und ein Gymnasion, und wussten jetzt nicht mehr weiter. Die implizite Hoffnung auf die kaiserliche Schatulle wehrte Trajan zwar ab, aber die Entscheidung, was nun wie zu Ende gebracht werden sollte, fiel dem Statthalter zu.23 Amisos, immerhin eine freie und verbündete Stadt, bat Plinius um die Entscheidung eines Gelddisputs zwischen ihr und einem ihrer Bürger. Das mochte in der Stadt pazifizierend wirken, und solche Klärungen waren auch Aufgabe eines Statthalters. Aber wer so agierte, brauchte sich nicht zu wundern, wenn seine politischen und finanziellen Spielräume schwanden. Selbst die Frage, ob Amisos eine von einem Verein getragene Armenkasse erhalten sollte, wurde dem Kaiser in Rom vorgelegt.24 Der jüngere Plinius mag ein besonders engagierter Vertreter Roms gewesen sein, und nicht ganz zu Unrecht hat man geglaubt, einen leichten Ton der Genervtheit in Trajans Antworten erkennen zu können.25 Aber dass sich an Rom große Hoffnungen knüpften, wo immer seine Repräsentanten erschienen, ist unbestreitbar. Und diese Hoffnungen wurden auch deutlich formuliert.26 So betrachtet, ist die Betonung des zivischen Stolzes und der urbanen Autonomie nicht einmal Camouflage, um von der immer geringeren munizipalen Leistungserbringung abzulenken. Nicht wenige Städte arbeiteten im Grunde auf das Ende ihrer Eigenständigkeit hin. Den Kaiser zu bitten war eben einfacher, als alles selbst zu erledigen. Warum taten die Griechen das, warum spielten die Römer mit, und weshalb und bei wem kam es dennoch zu Enttäuschungen? Mit der Kontrolle des Mittelmeerraums, schon seit dem frühen zweiten Jahrhundert v. Chr., war eine gewisse Vereinheitlichung

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Plin. epist. 10,31 f. Plin. epist. 10,49 f. Plin. epist. 10,39 f. Mit solchen Problemen der physischen Infrastruktur wurde Plinius häufig befasst: 10,23 f.; 10,37 f.; 10,39,5; 10,40,3; 10,41 f.; 10,61 f.; 10,70 f.; 10,90 f.; 10,98 f. Plin. epist. 10,92 f.; 10,110 f. mit Sherwin-White (1966), 718 f. Dies scheint mir, gegen Meyer-Zwiffelhoffer (2002), 174–176, zum Beispiel aus Traian. Plin. epist. 10,40,3; 10,76; 10,82; 10,117 deutlich hervorzugehen. In extremer Form von Aristeides in seiner Romrede (or. 26): der funktionierende Instanzenzug im imperialen Mehrebenensystem (§ 32 f.), die dank römischer Sorge hervorragende Ordnung der Städte (64–67), die Freiheit von Krieg (69 f.), Wohlfahrt und Wohlstand (93–99).

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der römischen Herrschaftsadministration erwartbar geworden. Diese kam nur langsam in Gang und sogar zum Stillstand, als die Römer erst einmal untereinander klären mussten, welche Form der Herrschaft sie selbst bevorzugten. Seit Augustus nahm der Prozess dann allmählich Fahrt auf, blieb aber immer sehr gemütlich. Zum Schrecken heutiger Verwaltungsexperten nahm sich noch Diokletian zwanzig Jahre Zeit, bis er seine Reformen im ganzen Reich eingeführt hatte. Der bürokratische Apparat, der Standardisierungsprozesse vorantreibt, war und blieb in Rom immer klein, und so gingen die Dinge eben langsam voran.27 Was aber an Formalisierung dennoch geschah, ging nie mit einem Kompetenzverzicht der Zentrale einher. Einen Grundsatz der Subsidiarität, noch dazu einen, der dann auch befolgt worden wäre, vermag ich im Handeln Roms nirgends zu erkennen. Dann hätten die Römer sich nämlich anders gegenüber den Erwartungen von unten verhalten müssen. Es waren ja, das ist schon deutlich geworden, die Städte selbst, die ihre Verkümmerung betrieben. Sie hatten das schon in republikanischer Zeit getan, sie taten es auch jetzt. Vieles und fast jedes wurde im Zweifel dem Statthalter und Rom vorgelegt. In dieser Perspektive gewinnen die Inschriften an Aussagekraft für das Thema. Denn dass derartiges nicht nur das Tun einzelner Ehrgeiziger war, sondern der herrschenden Meinung über good governance entsprach, zeigen die zahlreichen Ehrenbeschlüsse für solche Leute, die einen guten Teil unseres epigraphischen Befunds ausmachen. Plutarch und manch andere mochten auf die Risiken dieses Ansatzes hinweisen. Da er aber denen, die ihn umsetzten, Ehre und Ansehen einbrachte, und zwar in einem großen Maße, stellten die meisten ihre Bedenken zurück und machten mit. Beim Statthalter etwas erreicht zu haben, zum Kaiser geschickt zu werden, ihm einen Kranz überreicht zu haben, ein Versprechen auf eine neue Säulenhalle mitzubringen, gar eine Steuererleichterung oder Finanzhilfe nach einem Erdbeben – nun, da die Möglichkeit der Heerführung im Krieg nicht mehr realistisch war, war dies das Höchste, was man erlangen konnte. Und es war einfacher, als die örtliche Ephebie zu organisieren.28 Plutarch selbst nennt unter den Möglichkeiten, die griechischen Politikern verblieben waren, neben Gerichtsprozessen zuerst die Gesandtschaften an den Kaiser, da sie Feuer, Mut und Verstand erforderten.29 Diese positive Wertung durch einen Skeptiker zeigt, dass das zentrale Problem gar nicht so sehr der überbordende Ehrgeiz verspäteter Themistoklesse war, sondern die schlichte Notwendigkeit, gelegentlich um die Unterstützung des Reiches zu bitten. Und da Statthalter und Kaiser darauf nicht selten 27

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Republik: Schulz (1997), 93–298.  Augustus: Eck (2022), 251–266. Kaiserzeit: Eck (1995), 1–28; (1979); Eich (2005), passim, bes. 98–158; 180–188; 288–337; 383–390; Garnsey / Saller (2015), 35– 40; 47–54; Jacques / Scheid (1990), 161–196; Scheidel (2015). Diokletian: Kuhoff (2001), 338–370; 499–501; 523–530. Das Material haben Millar (1992), 363–368; 379–385; 410–456 und Quaß (1993), 149–178; 224–228; 255–257; 376–381 gesammelt. Vgl. jetzt auch Brandt (2021), 87–89; 345–350. Plut. praec. ger. rep. 10.

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eingingen, bot sich hier nicht nur ein Weg an, der beschritten werden konnte, sondern, so der nicht unberechtigte Eindruck, immer wieder auch beschritten werden musste. Denn die Städte erhielten nicht bloß materielle Ressourcen und Prestige – nur durch solche Akte der Anerkennung der Überlegenheit Roms wahrten sie sich dessen Gunst. Auf die Bitten, Anforderungen, Zumutungen gingen die Römer also durchaus ein. Aber natürlich nicht immer. Dafür sprach der Gewinn weiterer Agency in den lokalen Angelegenheiten, das Wissen, sich die Bittsteller verpflichtet zu haben. Dafür sprach eine Gemeinwohlorientierung, die man sich freilich, wenn sie über Italien hinausging, nicht als zu ausgeprägt vorstellen darf. Dafür sprach die Vermeidung von Unzufriedenheit, die sich auf anderen Feldern, etwa in Steuervermeidung oder gar in einem Aufruhr, äußern konnte. Dagegen sprachen zunächst einmal begrenzte Ressourcen und die Notwendigkeit, die eigene Großzügigkeit nicht dadurch zu entwerten, dass man immer und zu jedem großzügig war. Denn bald wäre sie als selbstverständlich wahrgenommen worden. Das Patronagesystem scheint mir bei all dem keine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Es wirkte im Kleinen, etwa wenn Plinius für seinen Physiotherapeuten von Trajan das Bürgerrecht erwirkte.30 Im Großen, und darum geht es mir hier, also bei Steuer­ erlässen oder bei Neubauten von Säulenhallen, war das schwieriger. Senatoren konnten nicht einfach solche Gefälligkeiten erweisen, auch wenn sie sich einer Stadt noch so sehr verpflichtet fühlten, weil ihnen entweder die Kompetenz fehlte oder, selbst falls das der Fall war, sie sich dem Verdacht des Kaisers ausgesetzt hätten. Sie mussten ihn also um Erlaubnis fragen. Statthalter konnten ohne Gesichtsverlust auf ihre Rolle verweisen – sie waren erst recht Untergebene und vermochten nichts Entscheidendes ohne Zustimmung von oben zu gewähren.31 Der Kaiser selbst war durch die räumliche Distanz und durch, meistens, das Fehlen einer persönlichen Beziehung zu den Bittstellern bis zu einem gewissen Grad gegen die patronalen Anforderungen imprägniert. Es ist kein Zufall, dass sich ein guter Teil von Privilegien auf persönliche Aufenthalte des Kaisers vor Ort zurückführen lässt. Aber solche Aufenthalte kamen, bezogen auf die einzelne Stadt, insgesamt selten vor. In der Regel stand die zentralstaatliche Bürokratie wie eine Wand zwischen Anliegen und Entscheidungsbevollmächtigten. Und es ist eine der nützlichsten Nebenwirkungen von Bürokratie, selbst wenn sie in solchen Protostadien verblieb wie im Römischen Reich, dass sie Verantwortlichkeiten verwischt und Entscheidungen nach Sachkriterien zumindest suggeriert. Der Kaiser wäre als Alleinherrscher nämlich der Patron aller gewesen – und damit niemandes, denn er konnte schlecht dem einen Klienten geben, was er dem anderen vorenthielt. Individuelle, subjektive Präferenz stand

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Plin. epist. 10,5–7; 10,10. Zu den Grenzen der statthalterlichen Kompetenzen Meyer-Zwiffelhoffer (2002), 287 Anm. 47.

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einem scheinbar allmächtigen und gerechten Augustus schlecht an. Charakteristisch für ein Patronagesystem ist aber gerade der partikularistische Kampf um Ressourcen.32 Schließlich, und das scheint mir der wichtigste Faktor dabei zu sein, Bitten auf Leistungserfüllung nicht zu gewähren: Die Römer konnten Enttäuschungen auf lokaler Ebene gut aushalten. Ihre Herrschaft war alternativlos. In hellenistischer Zeit hatte es immer einen anderen König gegeben, an den man sich wenden konnte. Das hatte den Städten Agency verliehen. Bis ins zweite Jahrhundert v. Chr. hatte es auch Städtebünde gegeben wie den Aitolischen und den Achaiischen Bund. Die Römer achteten sorgfältig darauf, dass sich solche Zusammenschlüsse nicht mehr bildeten oder sie machtlos blieben. Die koina und concilia aber waren keine Landtage in unserem Sinne – deshalb halte ich auch wenig von dem eingeführten Begriff der Provinziallandtage –, sie waren weder Parlamente noch Treffpunkte, an denen Städtevertreter Allianzen gegen die Zentralmacht schmiedeten. Neben den kultischen Funktionen boten die koina vielmehr Ergänzungen, teilweise sogar Optimierungen der Reichsadministration; sie konnten zwar Fluchtpunkte für eine kollektive Identität sein, aber es war eine überlokale, im Zweifelsfall auf das Imperium bezogene provinziale Identität.33 Letztlich also stand jede Stadt dem Kaiser allein gegenüber. Das daraus resultierende extreme Gefälle im Potential der Partner machte lokale Enttäuschung für Rom unerfreulich, aber nie herrschaftsgefährdend. Die einzige Möglichkeit des signifikanten Protests war der Anschluss an einen Usurpator. Joachim Szidat hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Haltung der zivilen Eliten, auf Reichs- wie auf lokaler Ebene, ebensowenig bedeutungslos war wie die des Volkes, besonders in den großen Städten.34 Doch nie stürzten eine Provinz, eine Stadt oder irgendwelche provinzialen Eliten einen Kaiser, und nie riefen sie einen Kaiser aus. Das tat außerhalb von Rom stets die Armee. Deshalb möchte ich daran festhalten, dass die zivile Bevölkerung außerhalb der jeweiligen Residenzstadt keine Akzeptanzgruppe war.35 Es kam auf sie schlicht nicht an. Ich resümiere: Individuelle wie kollektive Enttäuschungen der Untertanen gab es, unvermeidlich, denn immer hegten diese die berechtigte Hoffnung, mit ihren Anliegen Erfolg zu haben. Oft genug wurde die Hoffnung zunichte gemacht. Die römische Herrschaft wurde dadurch noch nicht destabilisiert. Doch ebensowenig wie Rom alle Begehren befriedigen konnte und wollte, so wenig konnte und wollte es ausschließlich Enttäuschungen produzieren. Und so wirkten die Erwartungen doch auf den Ausgang, in Form einer allmählichen Umgestaltung des Mehrebenensystems. Das Reich war um

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Dazu grundlegend Jehne (2022), 223–250; 327–339. Eich (2005), 69–78 spricht treffend von einer (auf den Kaiser bezogenen) „personalen Bürokratie“, sieht diese aber bis ins späte 3. Jahrhundert in die Interaktionen des Patronagesystems eingebettet. Edelmann-Singer (2015). Szidat (1982); (2010), 189–197; 295–299. Flaig (2019), passim, bes. 494–498; Pfeilschifter (2013), passim, bes. 14–18.

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200 deutlich stärker als zur Zeitenwende. Die Reichskrise setzte nicht wegen plötzlich neuauftretender Anforderungen einen bislang weitgehend statischen politischen Organismus in Bewegung. Vielmehr wurde eine stetig im Gang befindliche Transformation erheblich beschleunigt. Um nicht missverstanden zu werden: Die städtische Autonomie war im ersten Jahrhundert ein zentrales Charakteristikum des römischen Herrschaftssystems. Sie war es auch im zweiten, dritten und vierten Jahrhundert, nur eben in schwindendem Maße. Kommunale Spielräume, ein bisschen emphatischer: Freiheiten, gingen verloren. Aber wenn man sich von der These des spätantiken Zwangsstaats löst – das hat die Forschung längst getan –,36 wenn man auch aufhört, die schwieriger werdende Lage der Kurialen mit dem Unglück der Städte gleichzusetzen – da ist die Forschung weit unschlüssiger –,37 unter diesen Voraussetzungen also muss man sagen, dass es den Untertanen Roms im vierten Jahrhundert nicht schlechter gegangen zu sein scheint als im ersten. Zumindest kommunizierten sie dies nicht. Die Freiheiten wurden eben nicht nur weggenommen, sie wurden auch weggegeben. Alle lokalen Angelegenheiten selbst zu regeln war und ist kein menschliches Grund­ bedürfnis. Wer dennoch ein selbstbestimmtes, wenngleich mühsames Leben in Selbst­ organisierung bevorzugte, der hatte jetzt ein neues Ziel: Mönchsgemeinschaften. Die meisten aber waren ganz zufrieden damit, wenn der Staat den Karren aus dem Dreck zog. Je öfter, desto besser. Literatur Bowman, Alan K. / Rathbone, Dominic (1992): „Cities and Administration in Roman Egypt“. In: Journal of Roman Studies 82, 107–127. Brandt, Hartwin (2021): Die Kaiserzeit. Römische Geschichte von Octavian bis Diocletian 31 v. Chr.–284 n. Chr. München. Day, Kirsten (2016): Cowboy Classics. The Roots of the American Western in the Epic Tradition. Edinburgh. Eck, Werner (1979): Die staatliche Organisation Italiens in der hohen Kaiserzeit. München. Eck, Werner (1995): Die Verwaltung des Römischen Reiches in der hohen Kaiserzeit. Ausgewählte und erweiterte Beiträge. Bd. 1. Basel u. a. Eck, Werner (2022): Gesellschaft und Administration im Römischen Reich. Aktualisierte Schriften in Auswahl. Hg. von Kolb, Anne. Berlin u. a. Edelmann-Singer, Babett (2015): Koina und Concilia. Genese, Organisation und sozioökonomische Funktion der Provinziallandtage im römischen Reich. Stuttgart. Eich, Peter (2005): Zur Metamorphose des politischen Systems in der römischen Kaiserzeit. Die Entstehung einer „personalen Bürokratie“ im langen dritten Jahrhundert. Berlin. Flaig, Egon (2019): Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich (2. Auflage). Frankfurt am Main u. a. 36 37

Rilinger (1985); Meier (2003). Zusammenfassend dazu Pfeilschifter (2017), 149–154; 292.

Große Erwartungen?

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Paulus, Rom und die enttäuschte lokale Elite Herrschaft und Konflikt im frühkaiserzeitlichen Judäa Maria Osmers 1. Einleitung: Paulus in Caesarea Laut Apostelgeschichte besuchte der Apostel Paulus um das Jahr 56/7 n. Chr. ein Fest in Jerusalem und sorgte bei seinem Aufenthalt für Aufregung in der jüdischen Bevölkerung. Es kam zu Unruhen, sodass Paulus von den anwesenden römischen Auxiliareinheiten festgesetzt und nach einigen Verwicklungen schließlich zum Präfekten Marcus Antonius Felix nach Caesarea überstellt wurde.1 Doch damit war die Angelegenheit für die Einwohner von Jerusalem und die sie vertretenden lokalen Eliten keineswegs abgeschlossen: Nach fünf Tagen erschienen der Hohepriester sowie weitere Angehörige der Jerusalemer Oberschicht mit einem Anwalt namens Tertullus in Caesarea, um Paulus offiziell vor dem Präfekten Felix anzuklagen.2 Doch anstatt wie gefordert und von der Gegenseite erwartet in dem angestrengten Prozess eine Entscheidung zu treffen, verschleppte Felix sein Urteil; auch zwei Jahre später, als Porcius Festus sein Amt als Präfekt in Judäa antrat, befand sich Paulus noch in Haft.3 Trotz der Zeit, die inzwischen vergangen war, war die Angelegenheit bei der jüdischen Bevölkerung keinesfalls in Vergessenheit geraten. So wiederholten die Angehörigen der Oberschicht beim Antrittsbesuch des Präfekten in Jerusalem ihre

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Zu den Vorgängen siehe Apg. 21,27–23,22; vgl. zu den Hintergründen und der Brisanz der Ereignisse auch die Ausführungen unten. Laut Apg. 24,1 „kam der Hohepriester Ananias mit einigen Ältesten und dem Anwalt Tertullus“ (κατέβη ὁ ἀρχιερεὺς Ἁνανίας μετὰ πρεσβυτέρων τινῶν καὶ ῥήτορος Τερτύλλου τινός. Die Übersetzungen in diesem Beitrag folgen jeweils der Einheitsübersetzung). Zum Hohepriester und weiteren Eliten als Ankläger (οἱ κατήγοροι) gegen Paulus siehe Apg. 23,30. Die Rede des Tertullus und die Gegenrede des Paulus vor Festus bietet Apg. 24,2–21; vgl. zu den Vorgängen auch McLaren (1991), 142 f.; Kirner (2004), 316–318. Siehe Apg. 24,22–27; laut Apg. 24,26 verschleppte Felix die Angelegenheit, da er sich Bestechungsgelder erhoffte; vgl. zu den möglichen Gründen der Verschleppung auch Kirner (2004), 320–323.

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Vorwürfe gegen Paulus und forderten endlich eine Entscheidung.4 Und tatsächlich widmete sich Festus nach seiner Rückkehr nach Caesarea der Angelegenheit, bestimmte einen Gerichtstermin und hörte sich die Beschuldigungen an, die gegen Paulus vorgebracht wurden.5 Da Paulus in dieser Situation jedoch darauf verwies, das römische Bürgerrecht zu besitzen, und eine Überstellung an den Kaiser forderte, entschied sich Festus nach Rücksprache mit seinem Consilium – sowie eventuell mit Agrippa II.,6 der laut der Apostelgeschichte zufällig in Caesarea weilte –, Paulus nicht wie von den Eliten gewünscht in Jerusalem vor Gericht zu stellen, sondern zu Kaiser Nero nach Rom zu schicken.7 Fraglos enttäuschte er damit die Angehörigen der traditionellen Oberschicht von Judäa, die große Mühen investiert hatten, um die Interessen der jüdischen Bevölkerung – also eine Verurteilung des Paulus vor Ort – durchzusetzen, und dabei auf eine gute Zusammenarbeit mit den römischen Offiziellen gesetzt hatten. Nur etwa zehn Jahre nach den soeben geschilderten Vorgängen rund um Paulus in Caesarea, im Jahr 66 n. Chr., kam es zu einem Aufstand der Juden gegen die römische Herrschaft. Am Ausbruch des so genannten jüdischen Krieges waren dabei auch die lokalen Oberschichten entscheidend beteiligt. So überzeugte das Mitglied einer hohe­ priesterlichen Familie, der Tempelhauptmann Eleazar, die Priester, das Opfer für den Kaiser im Tempel einzustellen.8 Diese Entscheidung bildete eine Zäsur im Verhältnis zur Obrigkeit, da eine erneute Annäherung an Rom im Anschluss nicht mehr möglich erschien.9 Stattdessen traten in der Folge viele Angehörige der traditionellen Jerusalemer Oberschicht als militärische und religiöse Führer auf und gaben dem Aufstand eine Struktur und ein ideologisches Fundament.10 Obwohl sich Teile der Eliten noch in den späten 50er Jahren um eine Kooperation mit Rom bemüht hatten, kam es nun 4

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Laut Apg. 25,2 „erstatteten die Hohepriester und die Vornehmsten der Juden bei ihm Anzeige gegen Paulus. Sie ersuchten ihn, gegen Paulus vorzugehen“ (ἐνεφάνισάν τε αὐτῷ οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ πρῶτοι τῶν Ἰουδαίων κατὰ τοῦ Παύλου καὶ παρεκάλουν αὐτὸν); vgl. zu den Forderungen und den beteiligten jüdischen Gruppen auch McLaren (1991), 142 f. Vgl. Apg. 25,4–8; zu den Klagen der Juden vor Gericht und der Antwort des Paulus siehe Apg. 25,7 f. Laut Apg. 25,13–26,32 waren Agrippa II. und seine Schwester Berenike in Caesarea; zu Agrippas II. Rolle insgesamt vgl. auch Wilker (2007), 256–282. Siehe Apg. 25,10 f. Zu den Gründen für die Appellation des Paulus siehe Nippel (2003), 365; Kirner (2004), 327 f.; zur Appellationspraxis insgesamt ebd. 328–334; vgl. auch Sherwin-White (1963), 57–62; Garnsey (1968); Jones (1972). Über das weitere Schicksal von Paulus in Rom informiert die Apostelgeschichte nicht, vgl. hierzu Raspke (1994), 174–191; vgl. zur Quellenlage zu Paulus’ Aufenthalt in Rom auch Kirner (2004), 298. Vgl. Jos. Bell. 2,409. So betont auch Jos. Bell. 2,409 bezogen auf die Weigerung der Priester, Opfer von Nichtjuden anzunehmen: „Das war der eigentliche Anfang des Krieges gegen die Römer; denn die Opfer für diese und Caesar wurden damit zurückgewiesen“ (τοῦτο δ᾽ ἦν τοῦ πρὸς Ῥωμαίους πολέμου καταβολή: τὴν γὰρ ὑπὲρ τούτων θυσίαν Καίσαρος ἀπέρριψαν). Vgl. auch Jos. Bell. 2,417. So trat beispielsweise Flavius Josephus – selbst aus einer priesterlichen Familie stammend, vgl. Jos. Bell. 3,352; Jos. Vit. 1 – als militärischer Führer auf, siehe Jos. Vit. 22 f.; vgl. zu Josephus, seinem

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zu einem Abbruch der Beziehungen, der schwerwiegende Folgen nach sich zog. Dieses Verhalten der Oberschicht deutet auf ein zutiefst gestörtes Vertrauensverhältnis hin und verweist auf ihre Hoffnungslosigkeit, die Zusammenarbeit mit Rom noch konstruktiv fortführen zu können. Doch wie kam es dazu? Welche Faktoren trugen dazu bei, dass das Verhältnis der Eliten zu Rom im Jahre 66 in dieser Form gestört war? Welche strukturellen Probleme zeichneten sich bereits in den 50er Jahren ab und bildeten so den Hintergrund dieser Entwicklung? Welche Punkte also veranlassten die Eliten dazu, die Beziehungen nach Rom zu hinterfragen? Und welche Rolle spielte dabei – anschließend an die thematische Ausrichtung dieses Sammelbands – die Enttäuschung der traditionellen Oberschichten? Um diesen Fragen nachzugehen, werde ich im Folgenden zunächst untersuchen, welche Anforderungen die Römer an die lokalen Oberschichten im Reich stellten und welche Erwartungen die Eliten wiederum an Rom herantragen konnten. Hierfür werde ich kurz auf die Herrschaftspraxis der Römer eingehen und wichtige Mechanismen vorstellen, welche die römische Herrschaft in den Provinzen auch im Falle von enttäuschten Erwartungen absichern konnten. Anschließend werde ich ausgehend von den Vorgängen, die sich laut Apostelgeschichte rund um Paulus’ Aufenthalt in Judäa ereigneten, nachzeichnen, welche Bedingungen und Probleme in den 50er Jahren in Judäa existierten und inwiefern die gegenseitigen Erwartungen hier nicht erfüllt wurden bzw. erfüllt werden konnten, sodass es zu Enttäuschungen kam. In diesem Zusammenhang werde ich auch prüfen, ob und wenn ja welche Veränderungen sich in Judäa vollzogen hatten, die dazu führten, dass bewährte Programme der Enttäuschungsabwicklung versagten. In einem kurzen Ausblick werde ich abschließend ergründen, welche Bedeutung enttäuschte Erwartungen wie beim Umgang mit Paulus für die weitere Entwicklung in Judäa besaßen und inwiefern sie dazu beitrugen, dass eine gewaltsame Eskalation schließlich nicht mehr vermieden werden konnte oder sogar alternativlos erschien. 2. Herrschaftspraxis und Erwartungen: Die lokalen Eliten und Rom Für die Funktionstüchtigkeit und Stabilität des römischen Reiches in der Kaiserzeit war eine gute Zusammenarbeit Roms mit den lokalen Eliten von immenser Bedeutung. Denn die Machthaber in Rom konnten sich im Umgang mit den Bewohnern des Reiches nicht allein auf ihre wichtigsten Instrumente zur Machtsicherung – also insbesondere das Heer und die Beamten vor Ort – verlassen, da die personellen Res-

Leben und seinem Werk auch Rajak (1983); Schwartz (1990); siehe zur Bedeutung der Eliten für den Aufstand auch McLaren (1991), 163 f.

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sourcen begrenzt waren. Vielmehr waren die Römer darauf angewiesen, dass die Oberschichten in den Provinzen in ihrem Sinne wirkten, die wichtigsten alltäglichen Angelegenheiten regelten und so die Ruhe und Ordnung vor Ort aufrechterhielten.11 Daher mussten auch die Bedürfnisse, welche die lokalen Eliten an die römische Obrigkeit herantrugen, zu einem gewissen Grad Berücksichtigung finden. In der Kommunikation mit den lokalen Oberschichten konnten die Römer dementsprechend nicht nur eigene Ansprüche anmelden, sondern mussten auch die Erwartungen vor Ort ausloten, um die Kooperationsbereitschaft zu erhöhen und so die Beziehungen in die Provinzen zu stärken.12 Aus dieser Perspektive betrachtet, war das römische Herrschaftssystem durchaus störungsanfällig – insbesondere aufgrund der Größe und Heterogenität des Imperium Romanum. Denn enttäuschte Erwartungen konnten dazu führen, dass einzelne Gruppen ihr kooperatives Verhalten zur Disposition stellten und dessen Nutzen hinterfragten. Entschieden sich die lokalen Eliten dabei für einen Abbruch der Beziehungen zu Rom, zogen sie sich im besten Fall zurück, um sich beispielsweise abseits des römischen Machtzugriffs lokalen oder regionalen Angelegenheiten zu widmen. Im schlechtesten Fall aber suchten sie die offene Konfrontation mit der Zentrale und forderten diese heraus. Soweit die theoretische Einordnung. In der Praxis jedoch lässt sich beobachten, dass gewaltsame Eskalationen von Konflikten im römischen Reich in der Kaiserzeit keineswegs an der Tagesordnung waren. Nur selten kam es zu geschlossenem Widerstand einzelner Städte oder Regionen gegen Rom, die ein militärisches Eingreifen notwendig machten.13 Störungsanfällig war das System zwar häufig zu Beginn der römischen Herrschaft in verschiedenen Gebieten, also in einer Zeit, in der die gegenseitigen Erwartungen noch nicht ausreichend kommuniziert worden waren und unterschiedliche Vorstellungen über die Form der zukünftigen Beziehung vorherrschten.14 Nach einer gewissen Zeit kehrte allerdings in den meisten Regionen Ruhe ein und die Zusammenarbeit funktionierte weitgehend reibungslos.15 Natürlich können wir davon ausgehen, dass auch weiterhin die Erwartungen einzelner Vertreter der Oberschicht enttäuscht wurden. Doch offensichtlich gelang es, im römischen Reich im Laufe der Zeit verschiedene Programme der Enttäuschungs­ abwicklung zu etablieren, welche geeignet waren, die Eskalationen zu begrenzen, und 11 12 13 14 15

Zur Verantwortung der lokalen Eliten für die Aufrechterhaltung der Ordnung siehe Nippel (1995), 103–106; zur Bedeutung der Städte für die Funktionsfähigkeit des Reiches vgl. Vittinghoff (1980); Reynolds (1988). Vgl. hierzu insbesondere Ando (2000) und Lobur (2008). Zu den Aufständen und Protestbewegungen im römischen Reich siehe Dyson (1971); MacMullen (1975); Pekáry (1987); Shaw (2000); Gambash (2015). Siehe hierzu insbesondere Dyson (1975). Ausnahmen bildeten in erster Linie periphere Gegenden mit wenig urbanen Strukturen, etwa das raue Kilikien oder die Wüstenregionen Nordafrikas, vgl. hierzu Dyson (1975), 162–167; 169–170.

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die im besten Fall eine Fortsetzung der Zusammenarbeit ermöglichten. Bedeutung besaß hierbei insbesondere die römische Rechtspraxis, die Individuen oder Gruppen auf verschiedenen Ebenen die Gelegenheit bot, seiner bzw. ihrer Enttäuschung Ausdruck zu verleihen und auf Veränderungen oder Anpassungen hinzuwirken.16 Ebenso gewährte das römische Herrschaftssystem den Angehörigen der lokalen Oberschichten gewisse Handlungsspielräume, die auch einen Rückzug aus dem politischen Leben oder die Erweiterung des Aktionsradius’ über die eigene Stadt hinaus zuließen.17 Als äußerstes Mittel konnten die Römer schließlich auf verschiedene Sanktionen zurückgreifen, indem sie ihre militärischen oder rechtlichen Möglichkeiten ausschöpften. Und tatsächlich bewirkte häufig schon die Androhung von direkten Eingriffen vor Ort, dass die lokalen Eliten davon abgehalten wurden, die Kooperation mit Rom zu beenden.18 In den meisten Regionen wirkten diese Mechanismen in der Kaiserzeit und es blieb weitgehend ruhig. Eine prominente Ausnahme von dieser Regel bildete Judäa. Schon seit dem Beginn der römischen Herrschaft war es in diesem Gebiet immer wieder zu Spannungen gekommen.19 Die Konflikte verschärften sich jedoch in den 50er und 60er Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. und führten schließlich im Jahre 66 n. Chr. zum Ausbruch des Jüdischen Krieges, in dem die Mehrzahl der jüdischen Einwohner Judäas gewaltsam gegen Rom aufbegehrte. 3. Paulus in Jerusalem: Der Zustand Judäas in den 50er Jahren des 1. Jh. n. Chr. Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen lohnt es sich, die Vorgeschichte der Ereignisse in Caesarea noch einmal ausführlicher zu beleuchten: So kam es – wie erwähnt – zu dramatischen Szenen, als Paulus 56/7 n. Chr. in Jerusalem weilte. Der Apostel war wegen des Schawuot-Festes in die Stadt gekommen und besuchte auch den Tempel.20

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So existierten gerade in der Kaiserzeit Strukturen auf provinzialer und reichsweiter Ebene, welche die römische Herrschaft im rechtlichen Bereich sicherten, etwa das Konventsystem der Statthalter, das in vielen Provinzen belegt ist, vgl. Burton (1975); Haensch (1997); oder das Kaisergericht, siehe hierzu Millar (1992); Tuori (2016); zum Verhältnis zwischen lokaler und römischer Rechtspraxis in den Provinzen insgesamt siehe Horstkotte (1999); Galsterer (2000); Ando (2006). Zu den Betätigungsmöglichkeiten der Eliten auf provinzweiter Ebene beispielsweise in den sogenannten Provinziallandtagen vgl. Deininger (1965); Edelmann-Singer (2015). Dies zeigt beispielsweise der Bericht über den Aufstand der Silberschmiede in der Apostelgeschichte: Als ein lokaler Beamter auf mögliche Eingriffe Roms verweist, flacht die Empörung in der Bevölkerung ab, vgl. Apg. 19,40. Zu den Entwicklungen Judäas unter direkter römischer Herrschaft bis zum Ausbruch des Jüdischen Krieges vgl. Smallwood (1976); McLaren (1991). Paulus reiste laut Apg. 20,16 in die Stadt, um am jährlichen Schawuot–Fest (πεντηκοστή) teilzunehmen; zum Aufenthalt des Paulus in Jerusalem und den Gründen hierfür siehe insgesamt auch Apg. 21,17–26; vgl. hierzu auch Kirner (2004), 300 f.

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In dieser Situation erkannten ihn einige Juden aus der Provinz Asia und erhoben schwerwiegende Vorwürfe: Sie beschuldigten Paulus, mit seinen Lehren gegen das jüdische Gesetz zu verstoßen und überdies Nicht-Juden in den Tempel gebracht zu haben.21 In der Folge stießen immer mehr Juden zu der Gruppe der Empörer hinzu, sodass sich schließlich ein Menschenauflauf bildete, der sich lautstark über Paulus und sein Verhalten beschwerte und ihn aus dem Tempel zerrte. Als die Situation bereits gewaltsam zu eskalieren drohte, griff schließlich ein Oberst der Auxiliareinheiten mit seinen Soldaten ein,22 nahm Paulus fest und führte ihn zur nahe gelegenen Burg Antonia.23 Dort angekommen, bemühte sich der Oberst laut Apostelgeschichte, die Hintergründe der tumultartigen Szenen im Tempel zu ergründen und fragte Paulus, ob er der sogenannte Ägypter sei, der vor kurzer Zeit die Stadt Jerusalem in Aufruhr versetzt hatte.24 Da sein Gegenüber dies verneinte und auch sonst nichts zur Aufklärung der Angelegenheit beitrug, beschloss der Oberst, Paulus in der Burg Antonia geißeln und verhören zu lassen. Er ließ von diesem Vorhaben erst ab, als Paulus ihm mitteilte, das römische Bürgerrecht zu besitzen.25 Die bis hierhin skizzierten Ereignisse verraten einiges über die Verhältnisse in Jerusalem in den 50er Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. und bestätigen zugleich das Bild, das der jüdische Historiker Flavius Josephus von dieser Zeit entwirft.26 Natürlich ist der Bericht der Apostelgeschichte in einzelnen Aspekten problematisch, da es Lukas primär darum ging,27 die Person des Paulus in einem günstigen Licht erscheinen zu 21

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Zum Ablauf des Konflikts im Tempel vgl. Apg. 21,27–29; zur jüdischen Rechtspraxis in Judäa in dieser Zeit siehe Falk (1972). Zur großen Bedeutung des zweiten vorgebrachten Vorwurfs siehe CIIP I 2; vgl. auch Jos. Bell. 5,193 f.; 6,124–126; Jos. Ant. 3,145; 12,145; 15,417; Phil. Leg. 212; siehe zu diesem Aspekt auch Schürer (1973), 2,284–286. Laut Apg. 22,24 griff ein χιλίαρχος ein, der laut Apg. 23,26 den Namen Claudius Lysias trug und auch Inhaber des römischen Bürgerrechts war, siehe auch Apg. 22,28; vgl. hierzu Sherwin-White (1963), 155 f. Laut Apg. 21,31 griff der Oberst ein, „als sie ihn töten wollten“ (ζητούντων τε αὐτὸν ἀποκτεῖναι). Ob Paulus tatsächlich umgebracht werden sollte, ist zwar ungewiss, aber auch die Tatsache, dass die Tore des Tempels geschlossen wurden, nachdem die Gruppe um Paulus diesen verlassen hatte (καὶ ἐπιλαβόμενοι τοῦ Παύλου εἷλκον αὐτὸν ἔξω τοῦ ἱεροῦ καὶ εὐθέως ἐκλείσθησαν αἱ θύραι, Apg. 21,30), deutet darauf hin, dass gewalttätige Auseinandersetzungen vom Tempelpersonal erwartet wurden, vgl. auch Kirner (2004), 302. Zu den Vorgängen insgesamt siehe Apg. 21,30–35. Zu den polizeilichen Aufgaben, welche die Auxiliareinheiten in dieser Episode übernahmen, siehe McLaren (1991), 141; Kirner (2004), 314. Vgl. Apg. 21,39. Zu den Aktivitäten des sogenannten Ägypters, der mit seiner Gefolgschaft Jerusalem einnehmen wollte und eine ernstzunehmende Gefahr darstellte, die nur dank der Unterstützung des Präfekten Felix und dessen Truppen gebannt werden konnte, siehe Jos. Bell. 2,261–263; Jos. Ant. 20,169–172. Siehe Apg. 22,25–29; zur Frage, ob Paulus tatsächlich das römische Bürgerrecht besessen hat, vgl. Rapske (1994), 71–112; Noethlichs (2000); Nippel (2003); Weber (2012). Zum Bild, das Flavius Josephus von Judäa in dieser Zeit entwirft, vgl. siehe Rajak 1983, 65–77; Schwartz 1990, 1–22; McLaren (1998), 68–126. Ohne mich in der Autorenfrage klar zu positionieren, nenne ich den Verfasser der Apostelgeschichte im Folgenden Lukas und identifiziere ihn mit dem Autor des gleichnamigen Evangeliums.

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lassen und dessen Unschuld sowie die Vereinbarkeit der Lehren Jesu mit jüdischem und römischem Recht zu erweisen; die jüdische Seite als vermeintlicher Aggressor wird dementsprechend per se negativ dargestellt.28 Zudem bot das Vorgehen gegenüber dem Apostel dem Autor insgesamt die Möglichkeit, den Vorteil bestimmter Rechtswege gerade für Inhaber des römischen Bürgerrechts aufzuzeigen. Die Apostelgeschichte liest sich in diesem Sinne in manchen Passagen wie eine Lehrschrift, die den frühen Christen Ratschläge geben wollte, um mit der ihnen potenziell feindlich gestimmten Umwelt umgehen zu können.29 Diese Punkte schmälern jedoch nicht den Wert der Schrift als Quelle für die lokalen Verhältnisse in Judäa, mit denen Lukas offensichtlich gut vertraut war.30 Zunächst fallen im Bericht die umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen auf, die am Schawuot-Fest in der Stadt ergriffen wurden. Den Hintergrund der erhöhten Präsenz römischer Truppen in Jerusalem bildete die Gefahr, die gerade an Festtagen von den sogenannten Sikariern ausging,31 deren Anschläge in der jüngeren Vergangenheit die Römer in ständige Alarmbereitschaft versetzt hatten.32 Zudem befanden sich die Auxiliareinheiten offensichtlich noch unter dem Eindruck der jüngsten Auseinandersetzungen mit dem sogenannten Ägypter, der laut Josephus kurze Zeit zuvor viele Anhänger auf dem Ölberg versammelt und die Stadt belagert hatte. Erst durch einen umfangreichen Einsatz der Truppen des Präfekten konnte die Bedrohung abgewehrt werden; der Anführer der Gruppe – der Ägypter – war jedoch geflohen.33 Somit spiegelt sich in der Paulus-Episode insgesamt die angespannte Sicherheitslage in Judäa. Auch Josephus berichtet nicht nur von den Sikariern, sondern auch von falschen Propheten, Räuberbanden und weiteren Verbrechern, die die Region in Angst und Schrecken versetzt hätten. Die Situation in Judäa war laut dem Historiker in den 50er Jahren mehr als angespannt.34

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Vgl. hierzu McLaren (1991), 140; Kirner (2004), 336 f. Den Charakter der lukanischen Schrift, rechtliche Vorteile des römischen Bürgerrechts aufzuzeigen, hebt etwa Kirner (2004), 315 hervor; vgl. zu dieser Funktion der Apostelgeschichte auch Trites (1974); Nippel (2003). Zur Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte insgesamt siehe Trites (1974); Bruce (1984); Nippel (2003). Jos. Ant. 20,167 beschreibt die Zustände in Jerusalem in dieser Zeit folgendermaßen: „Infolge des Treibens der Räuber war die ganze Stadt ein Schauplatz der nichtswürdigsten Verbrechen“ (Τὰ μὲν οὖν τῶν λῃστῶν ἔργα τοιαύτης ἀνοσιότητος ἐπλήρου τὴν πόλιν). Zur Unsicherheit, die aufgrund des Treibens der Sikarier in der Stadt herrschte, vgl. auch Jos. Bell. 2,256 f. Die Anwesenheit von Truppen des Präfekten an Festtagen, mit der auf die steigende Gefährdungslage in der Stadt aufgrund der Sikarier reagiert wurde, bestätigen beispielsweise Jos. Bell. 2,255 und Jos. Ant. 20,165; 20,187; vgl. zu dieser Thematik auch Isaac (1990), 99 f. Zu den Konflikten mit dem sogenannten Ägypter vgl. Jos. Bell. 2,261–263; Jos. Ant. 20,169–172. So beschreibt Jos. Ant. 20,181 die Zustände in Judäa in dieser Zeit folgendermaßen: „So war an die Stelle von Recht und Gerechtigkeit die zügellose Tyrannei unruhiger Köpfe getreten“ (οὕτως ἐκράτει τοῦ δικαίου παντὸς ἡ τῶν στασιαζόντων βία).

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Die Folgen der chaotischen Zustände in Judäa zeigen sich bei der Empörung über Paulus: So fällt auf, dass weder die Diaspora-Juden noch die hinzukommenden Juden aus Judäa die lokalen Autoritäten anriefen, um diese über die Angelegenheit zu informieren. Paulus war fraglos als Jude in der Stadt aufgetreten; es handelte sich bei den Vorgängen also um einen innerjüdischen Konflikt.35 Es wäre demnach die naheliegende Option gewesen, eine Untersuchung vor den Hohepriestern und dem Hohen Rat sowie ggf. eine sich anschließende Überweisung an den Präfekten einzuleiten, wie dies beispielsweise bei Jesus geschehen war.36 Die Empörer im Tempel wählten jedoch nicht die bewährten Verfahrenswege, sondern versuchten, eigenmächtig gegen Paulus vorzugehen, und griffen zur Selbstjustiz. Da ihr Verhalten allerdings die Ruhe in der Stadt gefährdete, schritten der Oberst und die Auxiliareinheiten ein, um Gewalttaten zu verhindern.37 Hinweise, welche Gründe für das Eingreifen der Truppen sowie die angespannte Lage in Judäa identifiziert werden können, liefert ein Blick auf den Fortgang der Ereignisse. So soll der Oberst am folgenden Tag die Hohepriester und den Hohen Rat zusammengerufen haben, um von diesen mehr über die konkreten Vorwürfe zu erfahren, die gegen Paulus erhoben wurden.38 Die einberufene Sitzung verlief jedoch anders als geplant: Die anwesenden Angehörigen der Jerusalemer Elite, laut Apostelgeschichte Sadduzäer und Pharisäer,39 zerstritten sich so sehr, dass der Oberst die Befragung abbrach und Paulus zurück in die Burg Antonia brachte.40 Als im Anschluss eine Grup35

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Es lag zwar im Interesse des Lukas, die Streitigkeiten im Tempel als innerjüdischen Konflikt zu präsentieren, um Paulus vom Vorwurf freizusprechen, ein Unruhestifter gewesen zu sein. Dennoch spricht das gesamte Setting dafür, dass Paulus nicht bewusst provozierte, sondern als Jude den Tempel besuchen wollte. Ähnliches betonen auch McLaren (1991), 144 f.; Kirner (2004), 342. Dies gilt zumindest für die Zeit, in der sich Paulus noch nicht auf sein römisches Bürgerrecht berufen hat, vgl. Kirner 2004, 306 f; die Festnahme von Jesus durch lokale Instanzen erwähnen beispielsweise Mt. 26,47–50; Mk. 14,43–47; Lk. 22,47–50; Joh. 18,2–11; die Verhandlung vor dem Hohen Rat beschreiben Mt. 26,65; Mk. 14,64; vgl. auch Lk. 22,70; die Überweisung an Pontius Pilatus erwähnen Mt. 26,66; Mk. 14,64. Die Passionsgeschichte überliefern Mt. 26,47–27,56; Mk. 14,43–15,41; Lk. 22,47–23,49; Joh. 18,1–19,37; zu den Unterschieden in der Darstellung der Ereignisse siehe insbesondere die gelungene Analyse von Kirner (2004), 248–291; vgl. zu Detailfragen auch Brown (1994). Zu den polizeilichen Aufgaben der Auxiliareinheiten in dieser Episode siehe auch Cassidy (1987), 97; McLaren (1991), 141; Kirner (2004), 314. Siehe Apg. 22,30; zu den Funktionen sowie den religiösen und politischen Aufgaben des Hohepriesters im frühkaiserzeitlichen Judäa vgl. Smallwood (1962); Stern (1976), 600–612; Horsley (1986); McLaren (1991), 201–203; zum Sanhedrin und seinen Kompetenzen siehe Schürer (1973), 2,218–223; McLaren (1991), 214–217; Kirner (2004), 165–168. Die Darstellung der Sadduzäer und Pharisäer folgt gewissen stereotypen Zuschreibungen, und auch die Zweiteilung des Sanhedrins in diese beiden Gruppen wird der realen Zusammensetzung des Rats sicher nicht gerecht, vgl. hierzu McLaren (1991), 143 f. Zu den gesellschaftlichen Strukturen in Judäa in dieser Zeit insgesamt sowie insbesondere zu den Gruppen der Sadduzäer und Pharisäer vgl. auch Mantel (1977); Regev (2014). Zu den Konflikten im Sanhedrin siehe Apg. 23,6–10; zu möglichen Hintergründen vgl. auch Kirner (2004), 312.

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pe von etwa 40 Verschwörern zudem versuchte, weitere Verhöre des Paulus vor dem Sanhedrin für einen Mordanschlag zu nutzen, entschied der Oberst schließlich, Paulus aus der Gefahrenzone zu bringen und zum Präfekten Felix nach Caesarea überführen zu lassen.41 Der Bericht verdeutlicht, was die Verhältnisse in Jerusalem verkomplizierte und zugleich zumindest zum Teil auch als Ursache für die chaotische Gesamtsituation in Judäa in den 50er Jahren benannt werden kann: Die traditionelle Elite trat in dieser Situation sehr zerstritten auf. Sogar im höchsten Gremium – dem Hohen Rat – konnte keine Geschlossenheit und Einigkeit hergestellt werden. Vielmehr richteten sich einige Vertreter mit ihren Aktionen explizit gegen die römische Obrigkeit und versuchten, die Entscheidungen der Beamten vor Ort zu unterlaufen.42 Auch diese Darstellung entspricht dem, was Flavius Josephus über die Oberschicht in Jerusalem berichtet. So beschreibt der Historiker den Zustand der Stadt unter dem Präfekten Felix folgendermaßen: Übrigens gerieten jetzt auch die Hohepriester mit den Priestern und den Vornehmsten zu Jerusalem in Streit, sodass jeder von ihnen eine Schar verwegener und aufrührerischer Gesellen um sich sammelte, die, wo sie sich trafen, sich gegenseitig mit Beschimpfungen und Steinwürfen überschütteten. Niemand fand sich ein, der sie zurechtgewiesen hätte, sodass die Willkür sich immer breiter machte, als sei keine Obrigkeit mehr vorhanden.43

Zwar ist diese Beschreibung der Zustände in Jerusalem zu gewissen Teilen auch das Ergebnis einer literarischen Zuspitzung, da Josephus die Auswirkungen, welche die Aktionen einzelner Eiferer auf die Abläufe in Judäa hatten, möglichst drastisch darstellen wollte.44 Dennoch verweisen die sich anschließenden Bemerkungen über konkrete Vorfälle, nämlich finanzielle Streitigkeiten zwischen den Priestern und den Hohepriestern, durchaus auf einen realen Hintergrund seiner Schilderungen.45 Die

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Zu dem Komplott und der Beeinflussung / Erpressung der Eliten durch die Verschwörer siehe Apg. 23,12–15. Laut Apg. 23,16–22 deckte ein Verwandter des Paulus die Affäre auf und verriet sie an den Oberst. Zur Überführung nach Caesarea vgl. Apg. 23,23–35. 42 Zur Verschwörung gegen Paulus siehe Apg. 23,12–22; vgl. auch Apg. 25,3. 43 Jos. Ant. 20,180: ἐξάπτεται δὲ καὶ τοῖς ἀρχιερεῦσι στάσις πρὸς τοὺς ἱερεῖς καὶ τοὺς πρώτους τοῦ πλήθους τῶν Ἱεροσολυμιτῶν, ἕκαστός τε αὐτῶν στῖφος ἀνθρώπων τῶν θρασυτάτων καὶ νεωτεριστῶν ἑαυτῷ ποιήσας ἡγεμὼν ἦν, καὶ συρράσσοντες ἐκακολόγουν τε ἀλλήλους καὶ λίθοις ἔβαλλον. ὁ δ᾽ ἐπιπλήξων ἦν οὐδὲ εἷς, ἀλλ᾽ ὡς ἐν ἀπροστατήτῳ πόλει ταῦτ᾽ ἐπράσσετο μετ᾽ ἐξουσίας. 44 Zur Intention, die Josephus bei der Konzeption seines Werkes verfolgte, sowie zur Tendenz seiner Darstellung der Ereignisse vor dem Krieg siehe Cohen (1979), 236–242; Rajak (1983), 65–77; Schwartz (1990), 1–22; McLaren (1992), 68–126. 45 Laut Jos. Ant. 20,181 verweigerten die Hohepriester den Priestern die Auszahlung des Zehnten, was gerade bei den älteren Priestern große finanzielle Schwierigkeiten auslöste, vgl. zu diesem Konflikt auch Schürer (1973), 1,464 f. Die Konflikte traten später – beispielsweise unter Albinus – erneut auf, vgl. Jos. Ant. 20,206 f.

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zunehmende Konkurrenz und vermehrte Konflikte innerhalb der Oberschicht schädigten die Funktionstüchtigkeit der lokalen Ordnung. Die traditionellen Eliten waren in den 50er Jahren also untereinander zerstritten und daher nur bedingt handlungsfähig. Trotz aller Skepsis an der Historizität der konkreten Vorgänge, die sich laut Apostelgeschichte vor dem Hohen Rat abgespielt haben sollen, spiegeln sich in den geschilderten Konflikten unverkennbar die Spannungen, die innerhalb der Jerusalemer Oberschicht in dieser Zeit bestanden. Auch das Auftreten von Verschwörern, die vor illegitimen Aktionen nicht zurückschreckten und den Sanhedrin mit erpresserischen Mitteln für ihre Zwecke einspannen wollten, erscheint vor dem Hintergrund der von Josephus beschriebenen Verhältnisse in Jerusalem plausibel, denn die wiederkehrenden Konflikte innerhalb der Oberschicht und mit den römischen Vertretern vor Ort belasteten nicht nur die Beziehung zu Rom, sondern auch das Ansehen der Oberschicht in der Bevölkerung.46 In dieser chaotischen Situation nutzten einzelne Personen und Gruppen die Schwäche der Oberschicht und füllten das Machtvakuum in Judäa, wobei sie offensichtlich weite Teile der Bevölkerung erfolgreich für sich gewinnen konnten;47 in den 50er Jahren traten so neue Konkurrenten auf, die Führungsansprüche in der jüdischen Gesellschaft anmelden wollten und konnten und dabei teilweise gewaltsam gegen die traditionellen Eliten vorgingen.48 Neben einzelnen Angehörigen der Priesteraristokratie, die sich bewusst von Rom abwandten, gehörten zu diesen neuen und anerkannten Führungspersönlichkeiten fraglos auch Personen, die Josephus bewusst als Sikarier oder Räuber und damit als Verbrecher zeichnet, um sie so zu diskreditieren.49 Die traditionellen Jerusalemer Eliten

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So konnten die Eliten etwa nur mit größten Mühen und dank der Hilfe Agrippas eine Eskalation vermeiden, nachdem sich die Konflikte zwischen Galiläern und Samaritanern unter Cumanus und Quadratus zugespitzt hatten, vgl. Jos. Bell. 2,239–245; Jos. Ant. 20,125–135; vgl. zu den Ereignissen auch Smallwood (1976), 266–268; McLaren (1991), 134–139; Kirner (2004), 220–224. Dass beispielsweise die Verschwörer bzw. Gegner des Paulus großen Rückhalt in der Bevölkerung besaßen, wird an mehreren Stellen deutlich, vgl. Apg. 21,34; 21,36; 22, 22 f.; 24,5. Der Aufstieg alternativer Führungspersönlichkeiten, die in der Bevölkerung statt der traditionellen Eliten an Ansehen gewannen, vollzog sich außerhalb Jerusalems gerade in dünn besiedelten Regionen bereits ab den 40er Jahren, vgl. beispielsweise Jos. Ant. 20,2–4; siehe hierzu auch Smallwood (1976), 259. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei dem Konflikt zwischen Samaritanern und Galiläern unter Cumanus, vgl. Jos. Bell. 2,235; Jos. Ant. 20,121–124. Zum Aufstieg von weiteren Führungspersönlichkeiten, die verstärkt Roms Anerkennung genossen, siehe unten. Den Einfluss dieser Personen in der Bevölkerung gesteht auch Josephus ein, siehe Jos. Bell. 2,264: „Die Betrüger und Räuber taten sich jetzt zusammen, verleiteten viele Judäer zum Abfall und reizten sie zum Befreiungskampf auf “ (οἱ γὰρ γόητες καὶ λῃστρικοὶ συναχθέντες πολλοὺς εἰς ἀπόστασιν ἐνῆγον καὶ πρὸς ἐλευθερίαν παρεκρότουν); vgl. auch Jos. Bell. 2,253. Dass etablierte Eliten dabei mit den neuen Führungskräften, die Josephus als „Räuber“ bezeichnet, kollaborierten, zeigt der Bericht über einen gewissen Doran, der dem Hohepriester Jonathan sehr nahestand (τὸν πιστότατον τῶν Ἰωνάθου φίλων Ἱεροσολυμίτην τὸ γένος Δωρᾶν ὀνόματι), aber an dessen Ermordung beteiligt gewesen sein soll, siehe Jos. Ant. 20,163. Insgesamt zur heterogenen Gruppe derer, die in den Quellen negativ als „Räuber“ gezeichnet werden, die aber von den Zeitgenossen keineswegs alle als Kriminelle wahrgenommen wurden, sondern teilweise auch Ansehen genossen, siehe Shaw 1984.

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gerieten dementsprechend immer mehr in die Defensive – und setzten umso stärker auf die Kooperation mit Rom, die ihre Autorität wiederherstellen und ihre Stellung in Judäa stärken sollte. 4. Die enttäuschten Eliten: Paulus in Caesarea In dieser Situation komme ich auf die eingangs geschilderten Ereignisse in Caesarea zurück. Der Hohepriester und weitere Eliten bemühten sich intensiv darum, einen Prozess gegen Paulus in Jerusalem oder zumindest eine direkte Verurteilung von Paulus beim Präfekten zu erwirken. Sie reisten wiederholt nach Caesarea, um den Präfekten aufzusuchen und ihr Anliegen vorzutragen.50 Das Engagement, das die Eliten an den Tag legten, zeigt, dass sich die Angehörigen der traditionellen Oberschicht in Judäa in den späten 50er Jahren im Klaren darüber waren, dass sie sich in einer schwierigen Situation befanden. Sie setzten ihre Hoffnungen in Rom und bemühten sich, die Beziehungen zum Präfekten zu stärken, um so ihre frühere Stellung zurückzugewinnen. Dabei griffen sie auf die Mittel zurück, die das römische Herrschaftssystem ihnen zur Verfügung stellte, und demonstrierten so Kooperationsbereitschaft. In diesem Sinne brachten sie sogar einen Anwalt bzw. geschulten Rhetor mit nach Caesarea, der sie bei ihrem Vorhaben unterstützen sollte.51 Sie ließen sich also auf die römischen Gepflogenheiten in der Rechtspraxis ein und hofften, diese für ihre Zwecke nutzen zu können. Ihr entgegenkommendes Verhalten gegenüber den Beamten vor Ort sollte dabei einerseits beweisen, dass die traditionelle Oberschicht nach wie vor in der Lage war, die von Rom an sie gestellten Aufgaben zur Zufriedenheit aller Seiten zu erfüllen, und so das Vertrauen des Präfekten in sie wiederherstellen. Andererseits wurde die Jesus-Bewegung spätestens seit der Herrschaftszeit Agrippas I. – also seit den frühen 40er Jahren – in der Jerusalemer Bevölkerung durchaus kritisch gesehen und verfolgt.52 Ein Vorgehen gegen Paulus, dessen Handlungen einige Juden am wichtigen Schawuot-Fest verstört hatte, bot so auch die Möglichkeit, das Ansehen der Oberschicht bei den jüdischen Einwohnern Judäas wieder zu steigern. Das Zutrauen in ihre Fähigkeiten als Führungsschicht sollte erhöht werden – sie wollten sich als zuverlässige Mittler gegenüber Rom erweisen, um so potenzielle Konkurrenten auszustechen und das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen.

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Vgl. Apg. 24,1 f.; 25,7. Vgl. Apg. 24,1. So begannen die Juden ab den späten 30ern verstärkt gegen Christen vorzugehen, vgl. etwa Apg. 8,1–3; 9,1–2. Das Leben in Jerusalem wurde für Christen in dieser Zeit zunehmend schwierig, sodass sie gerade in den 40ern Christen vermehrt in anderen Regionen und Orten auftauchten. So wirkte Philippos in Samaria, siehe Apg. 8,5; Petrus in Lydda, vgl. Apg. 9,32.

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Die Eliten bemühten sich also zu diesem Zeitpunkt, beiden Gruppen – den Juden und den Römern – gerecht zu werden und damit die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen. Zugleich hatten die Angehörigen der Oberschicht ihrerseits klare Erwartungen an die römische Obrigkeit: Sie rechneten mit einer Entscheidung in ihrem Sinne, die ihre Position in Judäa und die Beziehung zu Rom festigen sollte. Denn aufgrund der angespannten Lage bot ihnen nur eine erfolgreiche Kooperation mit der Obrigkeit die Möglichkeit, den vielschichtigen Problemen in Judäa zu begegnen und die gesellschaftlichen Konflikte, die sich in dieser Zeit abzeichneten, zu überwinden. Die Mission nach Caesarea bzw. die Verurteilung des Paulus besaß für die Vertreter der Jerusalemer Oberschicht also eine hohe Relevanz. Doch der Präfekt Felix erfüllte die Erwartungen nicht, sondern erwies sich als schlechter Kooperationspartner, der sich einer klaren Entscheidung und damit einer Stärkung der Oberschicht verweigerte. Erst Festus war bereit, ein Urteil zu fällen. Aber auch er entschied sich schließlich dagegen, durch eine Kooperation mit den Jerusalemer Eliten deren Position zu stärken. Stattdessen sandte er Paulus nach Rom. Sein Entschluss stellte sicher keine bewusste Entscheidung gegen eine Kooperation mit der lokalen Oberschicht dar. Vielmehr ging es Festus wohl darum, sich zusätzlichen Ärger zu ersparen.53 Dennoch muss die Entscheidung eine Wirkung auf die Eliten entfaltet haben: Sie waren fraglos enttäuscht über den Ausgang und stellten den Nutzen ihres kooperativen Verhaltens insgesamt in Frage. Für sie spielte es nämlich in ihrer momentanen Situation eine untergeordnete Rolle, dass bzw. ob der Handlungsspielraum des Präfekten durch die Appellation des Paulus eingeschränkt war.54 Sie hatten jahrelang auf eine Verurteilung des Paulus hingearbeitet, sodass sie für die plötzliche Überstellung an Rom wenig Verständnis aufbringen konnten. Zugleich zeigt das Vorgehen des Festus, dass er dem Anliegen der Eliten weniger Gewicht zusprach als diese. Der Präfekt verfügte fraglos über Informationen aus seinem Zuständigkeitsbereich und ahnte, dass die traditionelle Oberschicht geschwächt war und eine Stärkung ihrer Position anstrebte.55 Dass er den an ihn gestellten Erwartungen dennoch nicht entsprach, verweist darauf, dass er der Gruppe um den Hohepriester nicht zutraute, ihre Funktion in einer Form auszuüben, welche die römische Seite zufriedenstellte. Die Skepsis Roms gegenüber den Jerusalemer Eliten war offensichtlich groß. Dies zeigt insbesondere der Vergleich zu früheren Zeiten, in denen die Zusammenarbeit zwischen dem Präfekten und den Eliten durchaus funktioniert hatte. So weist die Ausgangssituation bei der Festsetzung von Paulus gewisse Parallelen zu anderen

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Festus wählte die Option wohl, um niemanden zu verärgern und sich der Verantwortung zu entziehen, siehe McLaren (1991), 142; Nippel (2003), 365. Zu den Ermessensspielräumen der römischen Magistrate siehe Nippel (2003), 358. So dachte Festus laut Apostelgeschichte vor der Appellation darüber nach, den Juden eine „Gunst“ zu erweisen, vgl. Apg. 25,9: Ὁ Φῆστος δὲ θέλων τοῖς Ἰουδαίοις χάριν καταθέσθαι; siehe zu diesen Überlegungen auch Kirner (2004), 327–334.

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Vorfällen auf, etwa bei Jesus. Der Apostel Paulus kam wie Jesus im Rahmen eines Festes in die Stadt, und es waren ebenfalls einzelne Gruppen oder Personen, die ihn als Unruhestifter identifizierten und als solchen unschädlich machen wollten.56 Jedoch wurde bei Jesus schnell ein geregeltes Verfahren eingeleitet; nach kurzer Zeit traf der Präfekt Pontius Pilatus eine Entscheidung, die im Sinne der traditionellen Elite war,57 zu Verzögerungen oder Komplikationen bei der Zusammenarbeit kam es nicht. Es lässt sich insgesamt beobachten, dass die Oberschicht in der Amtszeit von Pilatus als wichtiger Kooperationspartner auftrat und etablierte Programme der Enttäuschungsabwicklung im Zweifelsfall griffen. Durch gute Zusammenarbeit gelang es so auch in anderen brenzligen Situationen – etwa bei der Aufstellung der Feldzeichen in Jerusalem und der Entnahme vom Geldern aus dem Tempelschatz, um ein Aquädukt zu bauen  –, durch schnelles Gegensteuern eine Eskalation zu verhindern.58 Gerade im zuerst genannten Fall konnte der Präfekt auch Kritik der Oberschicht annehmen, als diese einen geordneten und gewaltfreien Weg des Protests einschlug.59 Pilatus erfüllte in dieser Situation die Erwartungen, die an ihn herangetragen wurden, um eine weitere Zusammenarbeit vor Ort zu ermöglichen. Weitere Beispiele aus den folgenden Jahren demonstrieren, dass das Verhältnis der römischen Offiziellen zu den traditionellen Eliten keineswegs von Beginn an gestört war. Sogar im Streit um die Aufstellung der Kaiserstatue im Tempel unter Caligula nahm der syrische Statthalter die Einwände der Eliten ernst  – auch wenn er selbst am Ende keine Entscheidungsgewalt in dieser Frage besaß.60 Seine Verzögerung der Maßnahme konnte einen Gewaltausbruch verhindern und war damit retrospektiv be-

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Zur Wahrnehmung von Jesus als Unruhestifter siehe Mk. 14,48; Mt. 26,55; Lk. 22,52; vgl. auch McLaren (1991), 98; Brown (1994); einen ähnlichen Hintergrund erkennt McLaren (1991), 103– 108 bei den Festnahmen von Petrus und Johannes. Zur Kreuzigung siehe Mt. 27,26; Mk. 15,15; Lk. 23,24; Joh. 19,16. Zur Kooperation zwischen lokalen Eliten und römischer Obrigkeit vgl. auch McLaren (1991), 98 f.; Kirner (2004), 280 f. Die Episode mit den Feldzeichen schildern Jos. Bell. 2,169–174; Jos. Ant. 18,56–59. Eine abweichende Variante bietet Phil. Leg. ad Gaium 299–305; vgl. zu der Episode auch Smallwood (1976), 161 f.; McLaren (1991), 83 f.; Eck (2014), 57–59. Berichte über die Entnahme von Geldern aus dem Tempelschatz bieten Jos. Bell. 2,175–177; Jos. Ant. 18,60–62; vgl. zu diesen Vorgängen auch Smallwood (1976), 162; Horsley (1986), 36; McLaren (1991), 86 f.; Wilker (2007), 103 f. Siehe hierzu Jos. Bell. 2,171–174; Jos. Ant. 18,57–59; zum Verhalten von Pontius Pilatus und dem Ausgleich mit den Eliten vgl. auch Eck (2011); Demandt (2012), 53–56. Zum Befehl der Aufstellung siehe Jos. Bell. 2,185; Jos. Ant. 18,261; Phil. Legat. ad Gaium 207; den Hintergrund des Befehls Caligulas bildeten laut Phil. Legat. ad Gaium 200–204 gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Juden in der Stadt Jamnia, in deren Verlauf ein Altar der Heiden zerstört worden war. Die Anordnung beschränkte sich nicht auf Jerusalem, zuvor waren bereits in Synagogen Kaiserbilder aufgestellt worden. Den Versuch, die Ereignisse in einen größeren Zusammenhang römischer Politik unter Caligula einzuordnen, unternimmt (mäßig überzeugend) Bernett (2007), 264–287. Zu den Reaktionen der Juden in Judäa siehe Jos. Bell. 2,186 f.; 2,192; Jos. Ant. 18,262–264.

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trachtet die richtige Strategie.61 Noch in den 40er Jahren erwiesen sich die etablierten Programme der Enttäuschungsvermeidung bzw. -abwicklung – in diesem Fall durch die Anrufung des Kaisers – als wirksam, als ein Konflikt über die Aufsicht über das Gewand des Hohepriesters entbrannte, den Claudius schließlich im Sinne der Juden entschied.62 Erst in den 50er Jahren veränderte sich das Verhältnis der Römer zu den traditionellen Oberschichten, die mehr und mehr als ungeeignete Kooperationspartner identifiziert wurden, deren Erwartungen nur eine untergeordnete Rolle für die Beamten vor Ort spielen mussten. Ursächlich hierfür war auch, dass die Angehörigen der traditionellen Eliten nicht nur von neuen Konkurrenten innerhalb der Gesellschaft Judäas unter Druck gesetzt wurden, sondern bereits seit den 40er Jahren vermehrt andere jüdische Vertreter als Kooperationspartner der Römer auftraten und von diesen als Mittler angesehen wurden. In diese Stellung rückten so mehr und mehr die Herodianer – insbesondere Agrippa II., der als vertrauenswürdiger Partner Roms eingeschätzt wurde.63 Zwar bleibt ungewiss, welche Rolle Agrippa II. bei der Frage nach dem Umgang mit Paulus tatsächlich spielte.64 Dass allerdings ihm und nicht dem Hohepriester in der Apostelgeschichte und in ähnlicher Form auch bei Josephus ein Einfluss auf den Präfekten zugeschrieben wird,65 illustriert einmal mehr, dass sich die Einschätzung der Römer über die gesellschaftlichen Hierarchien in Judäa gewandelt hatte; die Jerusalemer Eliten verloren so an allen Fronten an Einfluss und Bedeutung.

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Vgl. Jos. Bell. 2,200 f.; Jos. Ant. 18,277 f.; die Entscheidung, von dem Befehl abzulassen, verkündete Petronius laut Jos. Ant. 18,279–283 vor den versammelten Juden, während Phil. Legat. ad Gaium 246–248 eher von einer stillen Verzögerungstaktik des Petronius berichtet. Laut Phil. Legat. ad Gaium 213–221 verzögert der syrische Statthalter Petronius die Ausführung des Befehls, da er von Beginn an Bedenken gegen das Vorhaben hegt. Den Hintergrund dieser Darstellung könnte allerdings auch die negative Zeichnung Caligulas bei Philon bilden, vgl. McLaren (1991), 119–121. Dass der Entschluss des Petronius kein böses Nachspiel hatte, verdankte er vielleicht auch den Interventionen Agrippas I. bei Caligula, so zumindest Phil. Legat. ad Gaium 276–333, eher aber dem Tod des Kaisers, siehe Jos. Bell. 2,203. Jos. Ant. 20,6–10 berichtet von einer Gesandtschaft an Claudius, um die Frage zu klären, wer das Gewandt des Hohepriesters verwahren durfte, da diese Aufgabe in der Regierungszeit Agrippas I. an den König gefallen war; den Brief, den der Kaiser als Antwort schickte, überliefert Jos. Ant. 11– 14; vgl. zu dem Brief auch Schürer (1973), 1,52; Goodman (1987), 44; McLaren (1991), 129–131. Zum Aufstieg der Herodianer seit Agrippa I. vgl. Smallwood (1976), 164; 173; Goodman (1987), 141; Schwartz (1990), 18–23; 77–89; Wilker (2007), 140–146; die wachsende Konkurrenz zur traditionellen Elite betont auch Mason (2014). Zur Funktion Agrippas II. in der Apostelgeschichte vgl. Nippel (2003), 365 f.; Kirner (2004), 334– 341. Zur Kooperation Agrippas II. mit Rom beispielsweise Jos. Ant. 20,203; vgl. auch Wilker (2007), 240–255.

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5. Ausblick und Fazit: Enttäuschungen und der Weg in die Katastrophe Die weitere Entwicklung in Judäa zeigte jedoch, dass die römische Obrigkeit die Situation falsch eingeschätzt hatte. Zwar konnten sich die traditionellen Eliten nicht mehr von ihrem Autoritätsverlust erholen und konkurrierende Führungspersönlichkeiten gewannen weiter an Ansehen und Einfluss, sodass die Verhältnisse in den 60er Jahren immer zerrütteter wurden.66 Jedoch waren es am Ende gerade Vertreter der Jerusalemer Priesteraristokratie, welche die Erhebung gegen Rom einleiteten. Denn im Angesicht der zunehmend ausweglosen Situation schlugen sich mehr und mehr Angehörige der Oberschicht auf die Seite der Aufständischen und läuteten schließlich – wie oben erwähnt  – den Aufstand ein.67 Und nach der Einstellung des Opfers stellte sich die Mehrzahl der Eliten in den Dienst der Sache; die Vertreter der Oberschicht lieferten dabei das militärische und strategische Know-How sowie die strukturellen und ideologischen Grundlagen für die Erhebung. Ihre Teilnahme am Kampf gegen Rom erklärt auch, weshalb so viele Personen aus Judäa aufbegehrten und die Aufständischen in der Anfangszeit relativ organisiert und geschlossen auftraten. Dies demonstriert, dass die traditionellen Eliten nach wie vor über gewisse Anerkennung verfügten und die Bevölkerung mobilisieren und leiten konnten. Gerade in der Anfangszeit des Aufstands trat die Oberschicht dabei im Verhältnis zu früheren Zeiten relativ geschlossen auf.68 Zwar zerbrach der fragile Konsens in den nächsten Jahren, in denen in Jerusalem bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten und alte Konfliktlinien erneut hervortraten.69 Doch zu Beginn zeigten sich die Eliten einig wie lange nicht mehr, berieten gemeinsam über strategische Entscheidungen und wählten militärische Führer aus ihren Reihen.70 Zu dieser Geschlossenheit trugen fraglos die Erfahrungen bei, welche die Oberschicht seit den 50er Jahren mit der Obrigkeit gemacht hatte: Die Enttäuschung über das Vorgehen der römischen Offiziellen 66

So heißt es etwa bei Jos. Ant. 20,160 über die 50er und 60er Jahre: „Die Verhältnisse Judäas wurden inzwischen von Tag zu Tag zerrütteter“ (Τὰ δὲ κατὰ τὴν Ἰουδαίαν πράγματα πρὸς τὸ χεῖρον ἀεὶ τὴν ἐπίδοσιν ἐλάμβανεν). 67 Dass einige Angehörige der Oberschicht mit einem Aufstand liebäugelten, zeigte sich so auch schon vor der Einstellung des Opfers, etwa bei dem Konflikt mit Florus um die Gelder, siehe hierzu Jos. Bell. 2,320–324; vgl. Goodman (1985); zum Zustand bzw. zur Spaltung der Oberschicht siehe auch Smallwood (1962), 28–30; Cohen (1979), 190; Goodman (1987); McLaren (1991), 163–172. 68 Nur eine kleine Gruppe warb nach der Einstellung des Opfers weiterhin für eine Zusammenarbeit mit Rom; Teile der Priesterschaft blieben einer letzten Versammlung aber fern, siehe Jos. Bell. 2,417; vgl. auch Goodman (1987), 172; McLaren (1991), 171 f. Josephus erwähnt nur wenige Kollaborateure, etwa Ananias, der zu Beginn des Krieges umgebracht wurde, siehe Jud. Bell. 2,441; zu weiteren romtreuen Eliten vgl. Jos. Bell. 2,533 f.; 2,556. 69 Eine überzeugende Rekonstruktion der Ereignisse während des Krieges, in dem gerade in Jerusalem bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, bietet Price (1992). 70 Zur Wahl der Feldherren nach der Niederlage des Cestius siehe Jos. Bell. 2,562–568; Jos. Vit. 22 f. demonstriert aber, dass die Eliten bereits zuvor auf die Seiten der Aufständischen getreten waren, vermeintlich da sie auf einen Sieg des Cestius hofften.

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vor Ort hatte sie zusammengeschweißt – sie erlebten eine kollektive Enttäuschung, die zur erneuten Integration ihrer Gruppe beitrug. Die wiederentdeckte Geschlossenheit stärkte auch ihre Autorität, sodass sie im Aufstand als anerkannte Führungspersönlichkeiten auftreten konnten. Der Umgang der Präfekten Felix und Festus mit Paulus stellte freilich nur ein Beispiel von vielen dar, das die Eliten zur Überzeugung brachte, das kooperative Verhalten einzustellen und sich gegen Rom zu wenden. In den folgenden Jahren kamen weitere Enttäuschungen hinzu, welche der Oberschicht verdeutlichten, dass sie unter römischer Herrschaft keine Chance besaß, ihre alte Stellung zurückzugewinnen. So ließ beispielsweise der Präfekt Albinus einen Unglückspropheten namens Jesus im Jahre 62 n. Chr. nach der Überstellung an ihn durch die Eliten einfach frei, obwohl dieser während des Laubhüttenfests den Untergang des Tempels vorhergesagt und so die versammelten Juden verstört hatte.71 In ähnlicher Weise unterstützte der Präfekt Festus Agrippa II. gegen die Priester, als dieser sich über eine Mauer beschwerte, die ihm die Sicht in den Tempel versperrte.72 In dieser Situation konnte zwar eine Gesandtschaft an Nero den Konflikt auflösen,73 gerade im Vorfeld des Aufstands im Jahr 66 häuften sich jedoch die Enttäuschungen auf Seiten der Eliten, immer mehr Angehörige der Oberschicht wandten sich in der Folge von Rom ab.74 Die Flucht nach vorne – und in diesem Punkt waren sich die Eliten mehr und mehr einig – schien ihnen der einzige Ausweg aus dem Dilemma, in dem sie sich befanden. Und unter dem Eindruck der kollektiven Enttäuschung lebten die traditionellen Eliten so ein letztes Mal auf, indem sie sich mit der Mehrzahl der Bevölkerung Judäas gegen Rom verbündeten. Natürlich würde es zu weit führen, die Enttäuschung als alleinigen Grund für den Aufstand zu identifizieren; die Situation in Judäa war in der frühen Kaiserzeit ungeheuer komplex und viele verschiedene Faktoren trugen dazu bei, dass der jüdische

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Das Verhalten des Unglückspropheten beschreibt Jos. Bell. 6,300 f. Zur Festsetzung und Geißelung des Jesus sowie zur Übergabe an den Präfekten vgl. Jos. Bell. 6,302–304; die Freilassung des Jesus aufgrund von „Wahnsinn“ (μανία) überliefert Jos. Bell. 6,305.; vgl. zu dieser Episode auch Kirner (2004), 198–200. Zu den Baumaßnahmen des Agrippa II. und den Reaktionen der Eliten – die ihrerseits eine Mauer errichteten – siehe Jos. Ant. 20,189–192. Zu möglichen Hintergründen des Mauerbaus siehe McLaren (1991), 146 f.; vgl. auch Wilker (2007), 210–216. Dass Festus Agrippa II. unterstützte, überliefert Jos. Ant. 20,193. Siehe Jos. Ant. 20,193–195. Die Gesandtschaft bestand aus zehn Mitgliedern der Oberschicht sowie aus dem Hohepriester Ismaël und dem Tempelhauptmann Helkias. Die beiden zuletzt genannten blieben im Anschluss an die Entscheidung Neros als Geiseln in Rom zurück. Dies deutet daraufhin, dass Nero Agrippa II. zumindest entgegenkommen wollte, vgl. auch Smallwood (1976), 279; Goodman (1987), 142 f.; McLaren (1991), 148. Insbesondere die Vorgänge unter Florus verstärkten diese Dynamik. Der Präfekt forderte – offensichtlich ohne Rücksprache mit der Oberschicht – Gelder aus dem Tempelschatz ein und trug so entscheidend zur Eskalation bei, vgl. McLaren (1991), 161 f.

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Krieg ausbrach.75 Aber die Enttäuschung der lokalen Eliten, deren Erfahrungen mit der römischen Obrigkeit häufig nicht mit ihren Erwartungen in Übereinstimmung zu bringen waren, trugen fraglos zur Eskalation bei. Denn die Ausweglosigkeit ihrer Situation ließ die Angehörigen der Oberschicht auf die Seiten der Aufständischen treten, wodurch zugleich breite Massen für die Erhebung mobilisiert werden konnten und die Unternehmung an Struktur gewann. Die kollektive Enttäuschung trug so dazu bei, dass einer der größten und organisiertesten Aufstände im römischen Reich ausbrach. Zugleich offenbart der Blick auf die Erwartungen und Erfahrungen der lokalen Eliten, dass sich die Römer in Judäa verkalkuliert hatten – und damit ihren Beitrag zur verworrenen Situation im Jahre 66 n. Chr. leisteten. Dies demonstriert eindrucksvoll, wie fragil das römische Herrschaftssystem war, wenn die Konstellationen nicht passten bzw. die Lage vor Ort falsch eingeschätzt wurde. Literatur Ando, Clifford (2000): Imperial Ideology and the Provincial Loyalty in the Roman Empire. Berke­ley. Ando, Clifford (2006): „The Administration of the Provinces“. In: Potter, David S. (Hg.): The Blackwell Companion to the Roman Empire. Oxford, 177–192. Bernett, Monika (2007): Der Kaiserkult in Judäa unter den Herodiern und Römern. Unter­ suchungen zur politischen und religiösen Geschichte Judäas von 30 v. bis 66 n. Chr. Tübingen. Bruce, F. F. (1985): „The Acts of the Apostles: Historical Record or Theological Reconstruction“. In: Haase, Wolfgang (Hg.): Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Teil II, Band 25.3: Religion, Berlin/New York, 2569–2603. Burton, Graham P. (1975): „Proconsuls, Assizes and the Administration of Justice under the Empire“. In: Journal of Roman Studies 65, 92–106. Cohen, Shaye J. D. (1979): Josephus in Galilee and Rome. His Vita and Development as a Historian. Leiden. Deininger, Jürgen (1965): Die Provinziallandtage der römischen Kaiserzeit. Von Augustus bis zum Ende des dritten Jahrhunderts n. Chr. München. Demandt, Alexander (2012): Pontius Pilatus. München. Dyson, Stephen L. (1971): „Native Revolts in the Roman Empire“. In: Historia 20, 239–74. Dyson, Stephen L. (1975): „Native Revolt Patterns in the Roman Empire“. In: Temporini, Hildegard (Hg.): Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Teil II, Band 3: Politische Geschichte (Provinzen und Randvölker: Allgemeines; Britannien, Hispanien, Gallien), Berlin/New York, 138–175.

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So spielten strukturelle Probleme in der Peripherie, unklare Zuständigkeiten durch die Eingliederung in die Provinz Syria ebenso eine Rolle für den Ausbruch des Aufstands wie die Besonderheiten der jüdischen Religion. Zu den verschiedenen Faktoren vgl. Mason 2016, 199–280.

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Maria Osmers

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Die enttäuschte Gemeinde Auswirkungen und Konsequenzen der Christenverfolgungen in Karthago Eva Baumkamp 1. Einleitung Der März des Jahres 250 bedeutete für die christliche Gemeinde in Karthago einen erheblichen Einschnitt: Aufgrund der allgemeinen Aufforderung des Kaisers Decius zur supplicatio Ende 249/Anfang 250 an alle Bewohner des Reiches verließ der Bischof Cyprian die Stadt. Er versteckte sich ein gutes Jahr an einem bis heute unbekannten Ort. Der aus der karthagischen Oberschicht stammende Cyprian war nach seiner Bekehrung 245/6 und einer schnellen kirchlichen Karriere seit ca.  248 Bischof der Hauptstadt der Africa proconsularis.1 Seine Gemeinde wurde durch die Geschehnisse vor Ort und die Abwesenheit ihres Bischofs so erschüttert, dass einzelne Gruppen dem Bischof die alleinige Autorität in theologischen Fragen absprachen und es 252 zu einem Schisma in der Gemeinde kam. Folgt man der diesem Sammelband zugrunde liegenden Definition, dass eine Enttäuschung […] eine Reaktion auf das Auseinandertreten von gehegter Erwartung und gemachter Erfahrung [ist], die sich dadurch auszeichnet, dass dieses Auseinandertreten mit negativen Emotionen verbunden ist und eine bislang bestehende Kooperationsbereitschaft zur Disposition gestellt wird,2

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Als vermögendes Mitglied der karthagischen Gesellschaft wurde Cyprian gegen den Widerstand einiger Presbyter gewählt. Die Laien befürworteten dagegen die Wahl: Cypr. epist. 43,1,2. Cyprians Wahl darf man als Beleg dafür sehen, dass die Übernahme eines Bischofsamtes, zumindest in einer der größten Städte des Imperium Romanum, für Mitglieder der Oberschicht an Attraktivität gewann. Bis zu seiner Hinrichtung in der valerianischen Verfolgung 258 stand er der Gemeinde vor. Allgemein zu Cyprian: Baumkamp (2014); Brent (2010); Bakker (2010); Bobertz (1988). Das nordafrikanische Christentum behandeln Burns / Jensen (2014), die religiöse Landschaft Karthagos beleuchtet Rives (1995). Vgl. Jan Timmer in der Einleitung zu diesem Band.

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so ist zu prüfen, ob einerseits der diesem Schisma zugrundeliegende Konflikt um die Wiederaufnahme von lapsi durch confessores und Märtyrer, andererseits die vollzogene Gemeindespaltung 252 als Enttäuschungsreaktion zu erklären sind. In einem ersten Schritt werden die sich entwickelnde Differenzierung der Kategorien ‚Märtyrer‘ und ‚Bekenner‘ sowie die karthagische bzw. nordafrikanische Märtyrer­ erinnerung knapp erläutert, da sie als Grundlage der in der Gemeinde gehegten Erwartung gelten können, wie man sich in einer Verfolgungssituation idealtypisch verhalten sollte. In einem zweiten Schritt wird die Situation in Karthago während der Flucht des Bischofs 250/1 auf Grundlage des Briefaustauschs zwischen Cyprian, Klerikern und confessores analysiert. In einem dritten Schritt steht die vollzogene Gemeindespaltung 252 nach Cyprians Rückkehr auf Grundlage des Briefaustauschs mit dem römischen Bischof Cornelius im Fokus. Bei allen Ausführungen ist stets zu bedenken, dass Enttäuschungen aufgrund der Quellenlage nur indirekt erschlossen und phänomenologisch beschrieben werden können. 2. Karthagische bzw. nordafrikanische Märtyrererinnerung Nordafrika, insbesondere die Africa proconsularis, gehörte zu den Regionen des Imperium Romanum, die schon zu Beginn des 3. Jahrhunderts Bischofssitze in erheblicher Zahl aufwiesen. Die Gemeinden waren hierarchisch organisiert: An ihrer Spitze standen Bischöfe, die in größeren Gemeinden von besoldeten Presbytern und Diakonen unterstützt wurden. Die Zahl der Laien lässt sich kaum bestimmen. Schöllgen geht davon aus, dass die karthagische Gemeinde, trotz der latenten Bedrohung aufgrund staatlicher Verfolgungen, schon in der Zeit Tertullians „einige tausende Mitglieder“ hatte.3 Es ist zu vermuten, dass es aufgrund der Größe der Gemeinde in Karthago Teilgemeinden gab, die von Presbytern im Auftrag des Bischofs betreut wurden.4 Das Andenken an Märtyrer und der Umgang mit wiederkehrenden Verfolgungen war vielfach Thema in zeitgenössischen Werken, wobei in den ersten beiden Jahrhunderten kaum begriffliche Unterscheidungen zwischen ‚Bekenntnis‘ und ‚Martyrium‘ vorgenommen wurden.5 Als martyr galt jeder Christ, der seinen Glauben vor römischen Magistraten bekannt hatte und aus diesem Grund hingerichtet wurde.6 In späteren Zeiten wurde jedoch nicht jeder Christ infolge eines öffentlichen Bekenntnisses zwangsläufig zum Märtyrer, sondern konnte weiter am Gemeindeleben 3 4 5 6

Schöllgen (1985), 268; Burns / Jensen (2014), 1–7. Burns / Jensen (2014), 373. Dazu Bowersock (1995), 5–18; Butterweck (1995); 8–23; Buc (1997), 73–78. Allgemein zur Märtyrer­ literatur Seeliger / Wischmeyer (2015). Bähnk (2001), 110–123, 112: „Vor dem Hintergrund der Verfolgungssituation nahmen diese Begriffe im christlichen Sprachgebrauch einen spezifischen Sinn eines Bekenntnisses des christlichen Glaubens vor den heidnischen Richtern an.“

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teilnehmen. Es entwickelten sich verschiedene Kategorien von standhaft gebliebenen Christen: Christen, die hingerichtet werden sollten und verstarben, wurden zu Märtyrern (martyres designati bzw. martyres),7 diejenigen, die Verhör und Gewalt überlebt hatten, zu confessores. Tertullian, der produktivste Autor der karthagischen Gemeinde an der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert, prägte den Begriff confessor.8 Durch ihn wurden die Bekenner als eigene Gruppe innerhalb der Gemeinde fassbar.9 Zwei seiner Schriften verdienen für den vorliegenden Kontext besondere Beachtung: Ad martyras und De fuga. In Ad martyras wendet Tertullian sich an inhaftierte Bekenner und potentielle Märtyrer, um sie im Glauben zu stärken und ihre besondere Rolle für die Gemeinde deutlich zu machen. Das Gedenken an die Märtyrer obliegt nach Tertullian der Gemeinde. In De fuga lehnt er die Flucht während staatlicher Verfolgungen ab. Die zahlreichen Schriften Tertullians waren in Karthago auch zur Zeit Cyprians noch bekannt. Ganz in diesem Sinne handelte es sich bei dem frühesten in lateinischer Sprache verfassten Zeugnis, das die Existenz von Christen in Nordafrika belegt, um Märtyrer­ akten, nämlich diejenigen der Märtyrer von Scili, die 180 verurteilt wurden. Dieses vermeintlich authentische Gerichtsprotokoll betont die Standhaftigkeit der angeklagten Christen und sollte an ihr Martyrium erinnern. Diese Erinnerung wurde in den nordafrikanischen Gemeinden wachgehalten, wie durch Tertullian deutlich wird.10 Als weiteres Werk ist der Martyriumsbericht der Vibia Perpetua und ihrer Sklavin Felicitas zu nennen: Im Jahr 203 kam es in Karthago während der Feierlichkeiten zu Getas Geburtstag zu Martyrien. Über die Geschehnisse informiert der Martyriumsbericht, der in der Ich-Perspektive den Weg einer jungen Mutter von der Gefangenschaft bis zur Verurteilung ad bestias schildert.11 Ohne an dieser Stelle auf die Besonderheiten des Berichts selbst einzugehen, ist zu betonen, dass an das Martyrium der Perpetua und ihrer Sklavin (ebenso wie an die Märtyrer von Scili) in den Gemeinden von Karthago und Hippo Regius noch im 5. Jahrhundert beständig erinnert und das Gedenken

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Tert. mart. 1,1. Der Begriff confessor ist ein christlicher Neologismus. Vgl. dazu van Damme (1995), 321. Siehe auch Tert. Scorp. 11; adv. Marc. 4,28. Welche Bedeutung Bekenner als eigene Gruppe innerhalb der Gemeinde hatten, wird auch durch die frühen Kirchenordnungen (bspw. Traditio apostolica) deutlich. Sie werden dort eigens aufgeführt, da ihre Position in der Gemeinde noch bestimmt werden musste: Trad. apost. 9. Vgl. Schöllgen (1991), 15. Vgl. Burger (1909); Teeuwen (1926), 87–97 behandelt die christliche Umdeutung des juristischen Begriffs confessio. Ferner: Bähnk (2001), 114. Tert. Scap. 3,4. Vgl. Delehaye (1933), 1: „le nom de martyr est devenue le titre glorieux qu’un homme puisse ambitionner.“ Zu Erinnerungstagen und Gräbern vgl. ebd., 24–49. Zu den unterschiedlichen literarischen Versionen des ‚Protokolls‘ siehe Rebillard (2021), 93–123. Rebillard (2021), 85 datiert die Passio in ihrer literarischen Gesamtheit allerdings erst auf die Zeit nach der valerianischen Verfolgung.

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an sie auf diese Weise lebendig gehalten wurde.12 Um 202/3 kamen neben den in der Passio genannten Christen auch weitere karthagische Gemeindemitglieder zu Tode, derer ebenfalls in den Gemeinden gedacht wurde,13 auch wenn es von ihren Martyrien kein derart beeindruckendes literarisches Zeugnis gibt. Schon für das 3. Jahrhundert ist für die karthagische Gemeinde also eine intensive Märtyrererinnerung belegt, wenngleich die Verehrung der Märtyrer, verbunden mit der Reliquienpraxis, erst im 4. Jahrhundert einen regelrechten Aufschwung erlebte.14 Gerade das nordafrikanische Christentum befürwortete, so jedenfalls die literarischen Zeugnisse, das Martyrium und machte es zu einem Bestandteil der christlichen Identität.15 In den Gemeinden wurde an die Hingerichteten erinnert, und es wurden eigene Festkalender etabliert – ein entsprechendes Verhalten durfte dementsprechend auch von den Funktionsträgern erwartet werden.16 Bischof Cyprian entzog sich dieser Erwartung jedoch durch seine Flucht. Daher lässt sich eine Dissonanz zwischen den gehegten Erwartungen der Gemeindemitglieder und den mit Cyprian gemachten Erfahrungen vermuten. Die mutmaßliche Erwartung der Standhaftigkeit war dabei wohl weniger mit Cyprian als Individuum verbunden als seiner Rolle als Bischof der Gemeinde geschuldet. Als Bischof besaß er in seiner Leitungsfunktion Vorbildcharakter, auch wenn er erst kurze Zeit im Amt war.17 3. Die Flucht Cyprians Die Ereignisse in Karthago während der decischen Maßnahme sind aufgrund fehlender Parallelüberlieferung nur durch das Briefcorpus Cyprians zu rekonstruieren. Dieses Corpus weist einige Besonderheiten auf, wie die fehlende Datierung und die unvollständige Überlieferung der Briefe, die die Rekonstruktion des Geschehens erschweren. Immerhin stammt über die Hälfte der überlieferten Briefe des gesamten Corpus aus der Zeit der decischen Verfolgung, auch wenn diese nur etwa ein Fünftel der Amtszeit Cyprians ausmachte. Das Bild Cyprians, das der Kompilator der Brie12 13 14 15 16 17

Vgl. Aug. serm. 280–282, 335A sowie Quodv. serm. 11,5 (De tempore barbarico 1,5) über ein Fest zu Ehren der Perpetua. Cyprian nennt Familienmitglieder des jungen Bekenners Celerinus: Cypr. epist. 39,3,1. Duval (2005), 244 weist darauf hin, dass die Festkalender diese Namen jedoch nicht verzeichnen. Seeliger / Wischmeyer (2015), 41 bezeichnen die Märtyrerverehrung als „eine charakteristische Form spätantiker Religiosität“. Zur Entwicklung des Phänomens in der Spätantike vgl. Dahlmann (2017); Heid (2018). Vgl. Moss (2012), 143; Rebillard (2021), 20 wendet sich gegen die Idee, dass die frühen Martyriums­ berichte eine Bekehrung zum Christentum motivieren sollten. Zu den Festkalendern siehe Cypr. epist. 12,2. Timmer weist in der Einleitung zu diesem Band mit Luhmann darauf hin, dass mit Institutionalisierungsprozessen auch Rollenerwartungen einhergehen, die unabhängig von der Person stabil bleiben.

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fe durch seine Auswahl kreiert, unterliegt daher bewussten Verzerrungen. So gibt es einerseits Briefe zu verschiedenen theologischen Problemkreisen, die im Corpus zusammengefasst werden, andererseits finden sich Briefe, die einen konkreten Anlass oder ein Ereignis thematisieren. Briefe, die nicht mit der Funktion als Bischof in Verbindung stehen und einen privaten Charakter haben, werden ausgeblendet. Die Briefe des Corpus sind daher keine unabsichtlich überlieferten Selbstzeugnisse, mithin keine Ego-Dokumente, sondern zeigen Cyprian in seiner Rolle als Bischof.18 Adressaten Cyprians sind ausschließlich Christen. Die Briefe waren für die Veröffentlichung in der karthagischen, den nordafrikanischen, sogar in überregionalen Gemeinden bestimmt und wurden vom Bischof teils selbst gesammelt.19 Anfragen an Cyprian von Bischöfen oder anderen Personen sind nur vereinzelt überliefert. In vielen Briefen wird der dialogische Charakter ersichtlich, wenn einzelne Themen mehrfach zwischen den Korrespondierenden diskutiert werden. Briefe der Gesamtgemeinde an Cyprian – beispielsweise von Klerikern verfasst – sind nicht überliefert. Hier wird der ausschnitt- und lückenhafte Charakter der Briefsammlung besonders deutlich, denn faktisch haben sich Kleriker, wohl auch im Namen der Gemeinde, während seiner Abwesenheit durchaus an Cyprian gewandt. Die Kompilation der Briefe diente der Legitimation und Apologie des Verhaltens Cyprians während seiner Zeit als Bischof, vor allem während der Zeit seiner Flucht.20 Dies ist der übergeordnete Gedanke der gesamten Zusammenstellung. Beachtenswert ist, dass in den Briefen weder Absender noch Adressaten ihre Enttäuschungen direkt verbalisieren. Andere Gefühle wie Angst, Freude, Furcht oder Stolz werden dagegen explizit genannt. Positive Emotionen – trotz oder gerade wegen der lebensbedrohlichen Situation in Karthago – werden offener thematisiert und funktionalisiert als negative. So überwiegt in den ersten Briefen Cyprians an Kleriker und Bekenner aus dem Frühjahr 250 zum einen die Freude über deren standhaftes Bekenntnis, zum anderen die Trauer um die vom Glauben abgefallenen Christen.21 Anders als andere Bischöfe, die in den ersten Monaten der decischen Maßnahme hingerichtet worden waren,22 hatte Cyprian mit Bekanntwerden des Opferbefehls Karthago im März 250 verlassen und sich damit der aktiven Verteidigung seines Glaubens vor den Behörden entzogen. Die Gemeindeleitung versuchte er weiterhin über Briefe und ihm loyale Mitarbeiter wahrzunehmen. In der Gemeinde gab es verschiede18 19 20 21 22

Baumkamp (2014), 52–54. In Cypr. epist. 20,2 spricht Cyprian von dreizehn Briefen, die er als Beleg seines Handelns in Karthago nach Rom weitergeleitet hat. Baumkamp (2014), 52 f. Z. B. Freude in Cypr. epist. 5,1; 6,1; 9,1 (zum Martyrium Fabians); 10,1; 13,1; Stolz in Cypr. epist. 13,4 (Stolz der Bekenner); Trauer in Cypr. epist. 17,1. Der römische Bischof Fabian wurde hingerichtet, vgl. Lib. pontif. 21,1: Fabianus, natione Romanus, ex patre Fabio, sedit ann. XIIII m. XI d. XI. Martyrio coronatur. Fuit autem temporibus Maximi et Africani [a. 236] usque ad Decio II et Quadrato [a. 250], et passus est XIIII kal. Febr.

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ne Gruppen: In Karthago verbliebene niedere Kleriker, standhafte Christen und vom Christentum abgefallene Gläubige. Aus dem cyprianischen Corpus gewinnt man den Eindruck, dass weite Teile der Gemeinde sich am geforderten Opfer beteiligt, bzw. sich zumindest eine Opferbescheinigung besorgt hatten.23 Diese lapsi strebten nach Ausweis des Briefcorpus zwar überwiegend die weitere Zugehörigkeit zur Gemeinde an, doch forderten einige dabei die sofortige Wiederaufnahme ohne Bußleistungen, andere warteten das Urteil des Bischofs bezüglich zu erfüllender Bußleistungen ab. 3.1. Cyprian und die karthagischen Bekenner Unmittelbar nach seiner Flucht aus Karthago hatte Cyprian sich in seinen Briefen besonders um die Gruppe der Bekenner (confessores), die inhaftiert und gefoltert, zum Teil auch hingerichtet wurden, bemüht.24 In seinen Briefen werden sie wiederholt als eigene Gruppe bezeichnet. Unter den Bekennern finden sich Kleriker wie Laien. Hatten insbesondere in Karthago inhaftierte Kleriker und Laien auf das Vorbild ihres Bischofs gehofft, wurde diese kollektive Erwartung durch seine Flucht nicht erfüllt. Die Flucht und das fehlende aktive Bekenntnis des Bischofs in dieser lebensbedrohlichen Situation sind als Enttäuschungsanlässe zu werten, immerhin drohte den Bekennern der Tod, mithin der größtmögliche Schaden. Aufgrund dieser Enttäuschung, und im Bewusstsein der eigenen Standhaftigkeit, waren es gerade die confessores und Märtyrer im Verbund mit einzelnen Klerikern, die Cyprian die alleinige Autorität in theologischen Fragen ab- und sich selbst zusprachen, wie aus ihren Selbstzeugnissen erkennbar ist.25 Den confessores und Märtyrern wurde eine spirituelle Autorität gleich der des Bischofs zudem vor allem von denjenigen Christen zugestanden, die während der Verfolgungssituation zu lapsi geworden waren.26 Sie verlangten von den confessores Zuspruch und die Wiederaufnahme 23

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Cyprian spricht selbst von der großen Zahl von Christen, die ihren Glauben verleugnet hatten. Cypr. laps. 7: maximus fratrum numerus fidem suam prodidit. Im cyprianischen Corpus finden sich Beispiele für Bischöfe, die zusammen mit ihren Gemeinden geopfert haben, so in Cypr. epist. 55 oder 67. Dazu auch Leppin (2018), 383. Finanzielle Zuwendungen und theologischer Zuspruch durch Briefe und von Cyprian beauftragte Kleriker waren die wichtigsten Strategien, die er aus der Ferne umsetzen konnte, um seine Funktion als Bischof trotz Abwesenheit zu erfüllen: Baumkamp (2014), 138–156. Die Bedeutung des Gefängnisses bzw. des Gefängnisaufenthalts als identitätsstiftendes Moment hat Cobb (2021) untersucht. Üblicherweise konnten kirchlichen Funktionsträgern nach Rapp (2005), 3–152 verschiedene Ausprägungen von Autorität – eine spirituelle, eine asketische und eine pragmatische – zugestanden werden; den Bekennern wurden prophetische Qualitäten, Sündenvergebung und himmlischer Ruhm zugeschrieben. Kötting (1976), 9: Es galt „als feste Überzeugung, [dass] der Geist Gottes in den Bekennern ähnlich [wirkte] wie in den Propheten“. Die Konkurrenz zwischen Bischof und Bekennern betont auch Leppin (2018), 387. Dünzl (2009), 519 bezeichnet sie als „Elite der Gemeinde“.

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in die Gemeinde – wie vom Glauben abgefallene Christen es auch schon zu Zeiten ­Tertullians getan hatten.27 Die confessores reagierten auf diese Forderungen, indem sie Bescheinigungen für die vom Glauben abgefallenen Christen ausstellten, sogenannte libelli pacis. Diese wurden von einzelnen Presbytern und Diakonen akzeptiert und führten zur unmittelbaren Wiederaufnahme in die Gemeinde ohne Bußleistungen. Mit diesem Vorgehen widersprachen die Bekenner der von Cyprian in seinen Briefen angedachten Praxis, die Wiederaufnahme erst infolge einer eingehenden bischöflichen Prüfung nach seiner Rückkehr nach Karthago vorzunehmen.28 Nach Pierre Bourdieu, „[führt] der Konflikt um die spezifisch religiöse Autorität zwischen den Spezialisten und / oder der Konflikt um die Macht im Innern der Kirche dazu, daß die kirchliche Hierarchie bestritten wird“.29 Genau das geschah in Karthago, gerade weil der Bischof nicht vor Ort war und sein fehlendes Bekenntnis Enttäuschung hervorgerufen hatte. Es gibt leider keine Zeugnisse der karthagischen Gemeinde, die ihre Erwartungen an den Bischof offenbaren würden, doch ist ein Schreiben des römischen Klerus an die Gemeinde überliefert. In diesem Brief wird Cyprian spöttisch als insignis persona bezeichnet, und die römischen Kleriker machen ihre Ablehnung gegenüber seiner Flucht deutlich.30 Dem Konflikt um seine Autorität begegnete Cyprian in mehreren Briefen.31 Er entschuldigte die Handlungen der confessores einerseits mit einer vermeintlichen und unverschuldeten Unkenntnis der biblischen Texte32 sowie dem unzulänglichen Verhalten einiger Kleriker,33 andererseits akzeptierte er libelli pacis als Empfehlungsschreiben 27 28 29 30

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Tert. mart. 1,6: Quam pacem quidam in ecclesia non habentes a martyribus in carcere exorare consueverunt. Et ideo eam etiam propterea in vobis habere et fovere et custodire debetis, ut, si forte, et aliis praestare possitis. Beispielsweise in Cypr. epist. 15 u. 17. Bourdieu (2000), 87. Cypr. epist. 8,2,3: Ecclesia stat fortiter in fide, licet quidam terrori ipso conpulsi, siue quod essent insignes personae siue adprehensi timore hominum, rueruntet. Die römischen Kleriker erkannten C ­ yprian nicht mehr als Ansprechpartner in Belangen der Gemeindeführung an. Der Bischof selbst rechtfertigte sich wiederholt während und nach Ende der Verfolgung, indem er darauf hinwies, dass in Karthago sein Name genannt und damit seine Inhaftierung bzw. sein Tod von der paganen Bevölkerung öffentlich gefordert worden war. So z. B. Cypr. epist. 20,1,2: Nam sicut domini mandata instruunt, orto statim turbationis inpetu primo, cum me clamore uiolento frequenter populus flagitasset, non tam meam salutem quam quietem fratrum publicam cogitans interim secessi, ne per inuerecundam praesentiam nostram seditio quae coeperat plus prouocaretur. Ähnlich in Cypr. epist. 59,6. Es handelt sich um die Briefe 15–18. Cypr. epist. 15 an die Märtyrer und Bekenner; epist. 16 an Presbyter und Diakone; epist. 17 an die Laiengemeinde; epist. 18 an Presbyter und Diakone. Cypr. epist. 15,1 u. 16,3. Cypr. epist. 16,3 u. 17,2. Gemeint sind eben die Kleriker, die sich seinen brieflichen Anweisungen zur Unterweisung der Bekenner widersetzt hätten und gegen ihn agierten. Cypr. epist. 17,2,1: Audio quosdam tamen de presbyteris nec euangelii memores nec quid ad nos martyres scripserint cogitantes nec episcopo honorem sacerdotii sui et cathedrae reseruantes iam cum lapsis communicare coepisse et offerre pro illis et eucharistiam dare, quando oporteat ad haec per ordinem perueniri. Einen Hinweis auf die bestehenden Spannungen bietet eine Bemerkung in epist. 16,2,1: Contumelias episcopatus nostri dissimulare et ferre possem, sicut dissimulaui semper et pertuli.

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an ihn34 und stellte erstmals Synoden in Karthago in Aussicht.35 Der Bischof schlug den Bekennern also ein geregeltes zweistufiges Verfahren der Wiederaufnahme vor, das sowohl den Bischof als auch die confessores miteinbezog. Cyprian suchte in einer seine alleinige Autorität bedrohenden Situation den Kompromiss, ohne aber seine Entscheidungshoheit aufzugeben. Durch die einzuberufende Synode sollte dieses Verfahren über Karthago hinaus Gültigkeit erlangen. Cyprian appellierte somit an die Kooperationsbereitschaft der Bekenner und ihre Akzeptanz kirchlicher Hierarchien.36 Es wird hier deutlich, dass sich die Kirche im 3. Jahrhundert weiterhin in einer Formierungsphase befand, in der später allgemein akzeptierte Verfahrensregeln erst noch ausgebildet werden mussten. Die von Cyprian in seinen Briefen vorgebrachten Argumente (Unkenntnis der Bibel, fehlerhaftes Verhalten von Klerikern) und die Angebote (Empfehlungsschreiben, Synoden) an die confessores und die mit Cyprians Linie nicht übereinstimmenden Kleriker reichten aber nicht aus, stattdessen verschärften sich die Dissonanzen bis hin zum Kommunikationsabbruch: Die Bekenner und Teile des Klerus stellten im Frühsommer 250 eine vormals bestehende Kooperationsbereitschaft zur Disposition. Cyprian schreibt ungehalten: „Ich wundere mich, teuerste Brüder, dass ihr auf die vielen Briefe, die ich so häufig an euch geschickt habe, noch nichts erwidert habt […].“37 Um die Kooperationsbereitschaft wiederherzustellen, zeigte sich Cyprian weiterhin kompromissbereit: Die confessores sollten nun nicht nur Empfehlungsschreiben ausstellen dürfen, sondern die libelli sollten im Falle lebensbedrohlicher Krankheiten und Todesgefahr eine sofortige Wiederaufnahme ermöglichen.38 Cyprian modifizierte also seine kirchenpolitische Auffassung, um dem Kommunikationsabbruch zu begegnen. Auch wenn der Kontakt zwischen Teilen des Klerus und dem Bischof daraufhin wieder aufgenommen wurde, war der Konflikt um die Rolle der Bekenner und Märtyrer noch nicht behoben, wie Selbstzeugnisse der confessores zeigen. 3.2. Selbstzeugnisse der karthagischen Bekenner Ein Bekenner wird von Cyprian und dem unbekannten Kompilator der Briefe herausgehoben: der karthagische Laie und confessor Lucianus, der in der Anfangsphase der Verfolgung mit anderen Bekennern im brieflichen Kontakt stand. In seinem Brief an einen anderen Bekenner, Celerinus, erläutert Lucianus ausführlich, warum er befugt 34 35 36 37 38

Cypr. epist. 15,4. Cypr. epist. 15,1 u. 17,3. Brent (2010), 253 bezeichnet Cyprian aufgrund seines Versuchs der geregelten Verfahrensetablierung als „divine model for bureaucrats of any kind“. Cypr. epist. 18,1,1: Miror vos, fratres carissimi, ad multas epistulas meas quas ad uos frequenter misi nihil rescripsisse […]. Cypr. epist. 18 u. 19.

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sei, libelli pacis auszustellen. Er beruft sich auf den schon verstorbenen Märtyrer Paulus, der ihm dazu den Auftrag erteilt habe.39 In seinem Schreiben wird deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt noch eine formale Prüfung durch den Bischof erfolgen sollte, die zusammen mit dem libellus der Wiederaufnahme der lapsi diente. In einem weiteren Schreiben des Lucianus an Cyprian ist von diesem Verfahren nichts mehr zu lesen.40 In Brief 23 informierte der Bekenner den Bischof stattdessen über die neue Wiederaufnahmepraxis: „Du sollst wissen, dass wir all denen, die dir über ihr Verhalten nach ihrem Vergehen Rechenschaft schuldig sind, den Frieden gewährt haben, und wir wünschen, dass diese Bescheinigung durch dich auch den anderen Bischöfen bekanntgegeben wird.“41 Lucianus forderte von Cyprian, die Praxis der karthagischen Bekenner den übrigen afrikanischen Bischöfen mitzuteilen. Eine erst nachträgliche Prüfung der Wiederaufgenommenen durch den Bischof schwächte aber dessen Autorität, wie Cyprian selbst einräumt: ‚Die dir über ihr Verhalten nach ihrem Vergehen Rechenschaft schuldig sind.‘ Dieser Zusatz trägt uns noch größere Anfeindung ein; denn wenn wir anfangen, die Fälle der einzelnen anzuhören und zu untersuchen, dann scheint es, dass wir vielen etwas verweigern wollten, von dem sich jetzt alle brüsten, es von den Märtyrern und Bekennern erhalten zu haben.42

Cyprian konnte immerhin darauf verweisen, dass nicht alle Bekenner die Position des Lucianus hinsichtlich der Aufnahmepraxis vertraten: Andere inhaftierte confessores richteten sich in der Wiederaufnahmefrage nach dem Vorschlag des Bischofs und akzeptierten, dass ausgestellte libelli noch der eingehenden Prüfung durch den Bischof bedurften, bevor eine Wiederaufnahme der lapsi in die Gemeinde erfolgen konnte.43 Dennoch: Verweigerte Cyprian sich der Erwartung der confessores und Gefallenen, dann drohte eine immense Enttäuschungsreaktion, denn nach Bekanntwerden des Schreibens des Lucianus – es bleibt unklar, wer für dessen Verbreitung verantwortlich war – muss es in den afrikanischen Gemeinden zu massiven Wiederaufnahmeforderungen von lapsi gekommen sein. Cyprian spricht von Aufruhr (seditio) in den Gemeinden und von einem Angriff (impetus) auf die Bischöfe.44 An den Entwicklungen der ersten Jahreshälfte 250 wird deutlich, dass der Einfluss der Gemeindeleiter desto 39 40 41

Cypr. epist. 22,2. Dazu Brent (2010), 270–273. Cypr. epist. 23,1: Scias nos uniuersos quibus ad te ratio constiterit quid post commissum egerint dedisse pacem, et hanc formam per te et aliis episcopis innotescere uolumus. 42 Cypr. epist. 27,2: Additum est plane ‚quibus ratio constiterit quid post commissum egerint‘. Quae res maiorem nobis conflat inuidiam, ut nos cum singulorum causas audire et excutere coeperimus, uideamur multis negare quod se nunc omnes iactant a martyribus et confessoribus accepisse. 43 Cypr. epist. 27,3. 44 Ebd.

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mehr erodierte, je länger die Verfolgung andauerte und der führende Bischof Nordafrikas abwesend war. Zeit spielte folglich eine wichtige Rolle bei der Eskalation des Konfliktes um die Wiederaufnahme. 3.3. Exkommunikationen von karthagischen Klerikern Im Laufe der zweiten Jahreshälfte 250 scheint sich die Situation in den Gemeinden Nordafrikas nicht geändert zu haben. Der Presbyter Gaius nahm – trotz mehrfacher Aufforderung, dieses Verhalten zu unterlassen – noch immer vom Glauben abgefallene Christen, die im Besitz eines libellus pacis waren, wieder auf.45 Trotz seiner eigenen Abwesenheit gelang es Cyprian, seine Mitbischöfe mit der Exkommunikation des Gaius zu beauftragen.46 Exkommunikationen waren das letzte Mittel auf der Klaviatur der Gegenmaßnahmen Cyprians, um dem Autoritätskonflikt zu begegnen und den eigenen Führungsanspruch durchzusetzen. Der Ausschluss Einzelner aus der christlichen Gemeinschaft zeigt zugleich die tiefe Unsicherheit, die aus den Enttäuschungen infolge der decischen Maßnahme resultierte. Trotz der Exkommunikation des Gaius organisierten sich weitere enttäuschte Kleriker und lapsi in Karthago: Die Presbyter Novatus, Donatus, Fortunatus und Gordius befürworteten zusammen mit dem später von Novatus geweihten Diakon Felicissimus die sofortige Wiederaufnahme der lapsi durch die libelli pacis ohne Bußleistungen. Sie überschritten dadurch in Cyprians Sicht zwar ihre Kompetenzen,47 doch erfüllten sie die Erwartung der vom Glauben abgefallenen Christen auf erneutes Seelenheil. Cyprian betont, dass gerade die soeben namentlich genannten Presbyter die Bekenner im Gefängnis bei der Ausstellung von libelli pacis unterstützt hätten.48 Die Gruppe um

Cypr. epist. 34,1: censuistis non communicandum, qui communicando cum lapsis et offerendo oblationes eorum in prauis erroribus suis frequenter deprehensi et semel atque iterum secundum quod mihi scripsistis a collegis meis moniti, ne hoc facerent, in praesumptione et audacia sua pertinaciter perstiterunt. 46 Durch diese Aktion wird Cyprians Anspruch gegenüber den Amtskollegen, führender Bischof Nordafrikas zu sein, verdeutlicht. Allgemein zur Bedeutung des karthagischen Sitzes vgl. Baumkamp (2014), 237–240; Burns / Jensen (2014), 387 f. Zu Gaius Didensis vgl. Clarke (1984), 154. Zu diesem Zeitpunkt war es also möglich, dass sich Bischöfe in Karthago versammelten – Cyprian selbst blieb aber weiterhin in seinem Versteck! Wie ausschnitthaft die Zusammenstellung des Briefcorpus ist, wird bei der Exkommunikation des Gaius deutlich, denn er wird hier erstmals genannt, obgleich er schon länger tätig gewesen sein musste. Die Exkommunikation war das letztgültige Sanktionsmittel der versammelten Bischöfe, um Cyprians Position und das vorgeschlagene Verfahren zur Wiederaufnahme zu stärken. Cyprian selbst befürwortete den Verlust der kirchlichen Besoldung für renitente Funktionsträger und drohte in seinen Briefen weitere Exkommunikationen an: Cypr. epist. 34,4. 47 Eine dezidiert theologische Perspektive zu dieser Frage verfolgt Ley (2016). 48 Cypr. epist. 43,2,1: Hi fomenta olim quibusdam confessoribus et hortamenta tribuebant, ne concordarent cum episcopo suo nec ecclesiasticam disciplinam cum fide et quiete iuxta praecepta dominica continerent, ne confessionis suae gloriam incorrupta et inmaculata conuersatione seruarent. 45

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­ ovatus und Felicissimus49 muss in der karthagischen Gemeinde breite Zustimmung – N und zwar nicht nur der lapsi – erfahren haben; ansonsten wäre die Stellung Cyprians nicht so bedroht gewesen, wie sie es offensichtlich war.50 Es handelte sich ja um Funktionsträger, die, anders als der geflohene Bischof, weiterhin in Karthago ihren Dienst versahen.51 Vermutlich war schon im Frühsommer 250 die Frage der Wiederaufnahme und des Umgangs mit lapsi für diese Presbyter von erheblicher Relevanz gewesen. In einem Schreiben vom Beginn der Verfolgung hatten sie sich – zu diesem Zeitpunkt noch ohne Felicissimus  – an den Bischof gewandt.52 Cyprian vertröstete sie, indem er auf eine spätere gemeinsame Diskussion mit den karthagischen Klerikern und der Laiengemeinde hinwies.53 Durch die über ein Jahr andauernde Abwesenheit Cyprians kam es jedoch nicht zu einer einvernehmlichen Lösung in der Wiederaufnahmefrage, trotz der in den Briefen kommunizierten Angebote Cyprians. Dies war für Teile des Klerus eine unbefriedigende Situation und die Autorität Cyprians schwand mit zunehmender Dauer seiner Flucht. Die Dynamik des durch die Enttäuschung über das Verhalten des Bischofs ausgelösten Konflikts wird offensichtlich. In einem Brief wandte sich Cyprian daher um Ostern 251, vor seiner Rückkehr nach Karthago, an die Gesamtgemeinde. Er begründete seine fortwährende Abwesenheit nun mit den Anfeindungen von Teilen des Klerus, ohne allerdings einzelne Personen mit Namen zu nennen.54 Cyprian berichtet nebulös, dass sich diese Presbyter selbst aus der Kirche ausgeschlossen hätten.55 Ein formaler Exkommunikationsbeschluss wie beim Ausschluss des Felicissimus findet sich im Briefcorpus nicht. Vielleicht ist 49

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Felicissimus scheint neben Novatus der Anführer dieser Gruppe gewesen zu sein. Sein angebliches Fehlverhalten (Betrug, Raub, Ehebruch und Nichtauszahlung von Geldern, die Cyprian Gemeindemitgliedern zur Verfügung gestellt hatte) wird vom Bischof besonders hervorgehoben: Cypr. epist. 42,2. Von Lucianus, der eine Vielzahl von Wiederaufnahmebescheinigungen ausgestellt hatte, erfährt man in den Briefen nichts mehr. Vermutlich starb er im Gefängnis. Im Exkommunikationsschreiben der Bischöfe Caldonius, Herculanus und Victor sowie der Presbyter Rogatianus und Numidicus werden neben Felicissimus drei weitere Männer und zwei Frauen unter Angabe ihrer Berufe bzw. Herkunft genannt: Cypr. epist. 42. Die Zahl der Presbyter in Karthago zur Zeit Cyprians ist nur schwierig zu bestimmen, so auch Seagraves (1993), 318; Burns / Jensen (2014), 374. In allen Briefen werden 10 Presbyter namentlich erwähnt: Donatus, Fortunatus, Novatus, Gordius, Gaius Didensis, Numidicus, Primitivus, Rogatianus, Sergius und Virtius. Belege zu den einzelnen Personen: Donatus: Cypr. epist. 14,4. Fortunatus: 14,4; 59,9–16. Novatus: 14,4; 47,1; 50; 52,1–2. Gordius: 14,4. Gaius Didensis: 34,1. Numidicus: 40 (Adressat); 42 (Absender); 43,1. Primitivus: 44,2,1; 48,1. Rogatianus: 6 (Adressat); 7,2; 13 (­Adressat); 40 (Adressat); 42 (Absender); 43,1,1. Sergius: 6 (Adressat). Virtius: 43,1,1. Möglicherweise handelt es sich auch bei Tertullus um einen Presbyter: 12,2; 14,2. In den Acta Cypriani wird zudem Iulianus erwähnt. Act. Cypr. 5,5. Cypr. epist. 14,4. Cypr. epist. 14,1. Cypr. epist. 43,1,2: Hoc enim quorundam presbyterorum malignitas et perfidia perfecit, ne ad uos ante diem Paschae uenire licuisset, dum coniurationis suae memores et antiqua illa contra episcopatum meum immo contra suffragium uestrum et dei iudicium, uenena retinentes instaurant ueterem contra nos inpugnationem suam et sacrilegas machinationes insidiis solitis denuo renouant. Cypr. epist. 43,1,3: ut a nobis non eiecti ultro se eicerent.

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dies als Hinweis zu werten, dass Cyprians Amtsautorität doch nicht so weit reichte, fünf Presbyter gegen den Willen weiter Teile der Gemeinde exkommunizieren zu lassen  – immerhin beinahe die Hälfte des karthagischen Presbyteriums. Was genau in den Wintermonaten 250/1 in Karthago geschah, bleibt durch die selektive Zusammenstellung des Corpus im Dunkeln. Die Reaktion Cyprians war jedoch eindeutig: Er bestätigte die Exkommunikation des Felicissmus und drohte dessen Anhängern, die trotz Verbots weiterhin die Gemeinschaft mit den lapsi aufrechterhielten. Cyprian bezeichnet Felicissimus und seine Befürworter als Häretiker.56 Zusätzlich sollten die verbliebenen loyalen Presbyter und Diakone diejenigen Personen schriftlich festhalten, die mit Novatus und Felicissmus sympathisierten.57 Die Anlage einer solchen Liste darf als Sanktionsdrohung verstanden werden. Der Kreis um Novatus und Felicissimus war jedoch trotz Exkommunikation bzw. Exkommunikationsdrohung weiter in Karthago tätig. Durch die fehlende Akzeptanz des Ausschlusses der Presbyter bei Teilen der Gemeinde und die mangelnden Durchsetzungsmöglichkeiten durch Cyprians Flucht wurde die Gemeinde nicht befriedet.58 4. Die Rückkehr Cyprians: Die Gemeindespaltung von 252 Nach Ostern 251 kehrte der Bischof nach über einem Jahr Abwesenheit endlich zurück, doch auch seine Rückkehr änderte nichts an der Spaltung der Gemeinde, wie aus den Schreiben an den römischen Bischof Cornelius hervorgeht. Mitte des Jahres 251 schrieb Cyprian einen Brief an Cornelius von Rom,59 in dem er ausführlich über vermeintliche Verbrechen des Presbyters Novatus berichtete, der mittlerweile nach Rom aufgebrochen war.60 Cyprians Brief zielt auf die moralische Diffamierung seines ehemaligen Presbyters, und er nutzt dabei Elemente der Tyrannentopik (Veruntreuung von Geldern; Nichtbestattung der Eltern; Fehlgeburt aufgrund

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Zum cyprianischen Begriff von ‚Häresie‘ und ‚Schisma‘: Dunn (2004). Allgemein zur historischen Entwicklung der begrifflichen Abgrenzung von Schisma und Häresie vgl. Kötter (2019). Cypr. epist. 43,7,2: Si quis autem paenitentiam agere et deo satisfacere detractans in Felicissimi et satellitum eius partes concesserit et se haereticae factioni coniunxerit, sciat se postea ad ecclesiam redire et cum episcopis et plebe Christi communicare non posse. In seinem Schreiben an die Gemeinde erinnert Cyprian abschließend daran, dass in Abstimmung mit weiteren Bischöfen ein geregeltes Verfahren zu Prüfung und Wiederaufnahme etabliert werde, das durch die Amtsautorität der Bischöfe (omnis sacerdotalis auctoritas et potestas) legitimiert sei: Cypr. epist. 43,3. Cornelius von Rom wurde nach der Sedisvakanz 251 Bischof der Hauptstadt. Er setzte sich bei seiner Wahl gegen Novatian durch, der zu den führenden Presbytern während der decischen Maßnahme gehört hatte. In der Folge etablierte Novatian eine eigene Kirche: Vogt (1968); Gülzow (1975). Cypr. epist. 52.

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eines Fußtritts; anmaßendes Verhalten).61 Der Bischof wirft Novatus vor, Uneinigkeit und Spaltung zu entfachen (discordiae et schismatis incendium), und warnt Cornelius vor einem ähnlichen Verhalten in Rom.62 Auch 252 war die Situation in Karthago für Cyprian trotz seiner Rückkehr noch prekär, da die Frage der Wiederaufnahme weiterhin nicht geklärt war. Cyprian war es zwar schon 251 gelungen, eine Synode abzuhalten, auf der die Wiederaufnahmefrage diskutiert wurde.63 Bereits 252 war aber eine weitere Zusammenkunft der Bischöfe nötig, um erneut über die Wiederaufnahmefrage zu beratschlagen. Bei dieser Versammlung versuchte der schon seit den 230er Jahren exkommunizierte Bischof von Lambaesis, Privatus, persönlich vor den Bischöfen zu sprechen, um seinen Kirchenausschluss aufzuheben.64 Das Rederecht und die Teilnahme an der Synode wurden ihm jedoch verwehrt. Parallel zur Synode wurde daraufhin der Presbyter Fortunatus von fünf numidischen Bischöfen unter Führung des exkommunizierten Privatus von Lambaesis zum Bischof von Karthago geweiht.65 Die mangelnde Kooperationsbereitschaft der zur Synode des Cyprian in Karthago versammelten Bischöfe führte also zur Wahl eines Gegenbischofs, von dem Privatus sich wohl die Wiederaufnahme erhoffen konnte. Es gab nun zwei geweihte Bischöfe in Karthago, damit war das Schisma, das sich seit 251 angedeutet hatte, offiziell vollzogen. Um die Wahl des neuen Bischofs bekannt zu geben, reiste Felicissimus mit einigen Anhängern nach Rom und informierte Cornelius.66 Dieser war irritiert, da ihm Cyprian zuvor zwar vom Agieren des Felicissimus berichtet hatte,67 doch dabei seine eigenen seit 251 bestehenden Legitimationsprobleme offensichtlich nur unzureichend skizziert hatte. Zum Kreis der Befürworter des Bischofs Fortunatus gehörten vom Glauben abgefallene Christen, die von ihm ohne Bußleistung wieder in die Kirche aufgenommen wurden und die von der zögerlichen Auffassung Cyprians in der Wiederaufnahmefrage enttäuscht waren. Problematisch für diese Gruppe war – in der Argumentation Cyprians –, dass sie sich einerseits des 61 62

Cypr. epist. 52,2,5. Knapp zur Entwicklung der literarischen Tyrannenfigur Tomassi (2015). Um die (nicht formal vollzogene?) Exkommunikation des Novatus weiter zu legitimieren, erläutert Cyprian, dass Novatus angeblich schon längst hätte exkommuniziert werden sollen, doch sei zuvor die Verfolgung in Karthago ausgebrochen: Cypr. epist. 52,3. Glaubhaft ist diese Argumentation nicht, da Cyprian bis kurz vor Ostern 251 mit den Presbytern um Novatus in Kontakt stand, die in Karthago das Gemeindeleben organisierten. 63 Cypr. epist. 55,6. Vgl. Baumkamp (2014), 229. 64 Welche konkreten Vorwürfe zu Privatus’ Exkommunikation führten, ist nicht bekannt. Cyprian selbst schreibt unbestimmt von multa et gravia delicta, die Privatus vorgeworfen wurden, und bezeichnet ihn als vetus haereticus: Cypr. epist. 59,10,1. 65 In einem Schreiben an Cornelius von Rom aus dem Frühsommer berichtete Cyprian vom Verhalten des Presbyters Fortunatus, einem Mitglied des Kreises um Felicissimus, zu dem der karthagische Bischof während seiner Flucht noch Kontakt gehalten hatte: Cypr. epist. 59. Vgl. Baumkamp (2014), 240–244; Brent (2010), 12. 66 Der Diakon behauptete, dass die Wahl des Fortunatus durch 25 numidische Bischöfe vorgenommen worden wäre, um ihr größere Legitimität zu verleihen: Cypr. epist. 59,9 f. 67 Cypr. epist. 45,4.

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Glaubensabfalls, anderseits der Wiederaufnahme durch einen von Exkommunizierten geweihten Bischof schuldig gemacht hatten. Ob dieses Argument Cyprians die lapsi unmittelbar zur Rückkehr auf seine Seite bewegte, bleibt, ebenso wie das weitere Schicksal des Gegenbischofs Fortunatus, im Dunkeln. Im Jahr 252 wurde zudem vom römischen Rivalen des Cornelius, Novatian, ein Maximus als weiterer Gegenbischof für Karthago ernannt, über den aber keine Informationen bekannt sind.68 Zeitweise gab es in Karthago also drei konkurrierende Bischöfe. 5. Fazit Der Konflikt um die Wiederaufnahme von lapsi durch confessores und Märtyrer kann mit allen Auswirkungen und Konsequenzen als Enttäuschungsreaktion auf die Flucht Cyprians erklärt werden. Es gibt allerdings keine Briefe, die die Situation aus der Perspektive der vom Bischof enttäuschten Kleriker, confessores und lapsi beleuchten würden. Aus den erhaltenen Briefen lässt sich nur erschließen, dass die confessores stolz auf ihr eigenes standhaftes Bekenntnis waren und ihnen von Dritten eine spirituell-religiöse Autorität zugestanden wurde, die der des Bischofs mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar übergeordnet war. Die von der Gemeinde gehegte Erwartung an ein vorbildhaftes Verhalten ihres Bischofs während einer akuten Verfolgungssituation hatte sich nicht erfüllt, stattdessen wurden die Christen Karthagos mit der Flucht ihres Bischofs konfrontiert. Neben der Emotion der Enttäuschung wäre auch Wut über das Verhalten Cyprians als negative Reaktion denkbar – doch auch hier fehlen die Zeugnisse. Sicher lässt sich nur sagen, dass Cyprians Flucht ihn vor immense Autoritätsprobleme stellte, mithin negative Emotionen und Reaktionen hervorrief, die der Bischof selbst und der spätere Kompilator durch die Zusammenstellung der Briefe verschleiern wollten. Das Schisma von 252 ist ebenfalls als Enttäuschungsreaktion zu betrachten. Hier dürften auch noch die enttäuschten Erwartungen einiger Presbyter anlässlich der Wahl Cyprians zum Bischof von Karthago 248 eine Rolle gespielt haben – immerhin wirft Cyprian den Presbytern vor, sein Episkopat von Beginn an abgelehnt zu haben. Cyprians lange Flucht aus Karthago war für die weiterhin in Karthago tätigen Presbyter, die vor Ort ihr Leben riskierten, dann zusätzlich enttäuschend. Bedingt durch die Zusammenstellung der Briefe sind die maßgeblichen Protagonisten des Schismas die Presbyter, die während der Verfolgung in Karthago geblieben waren. Gerade weil Enttäuschungen ein auslösendes Moment des Schismas 252 waren, zeigt sich die Dynamik sozialer Konflikte deutlich: Eine aufgekündigte Kooperationsbereitschaft und die Ablehnung existierender kirchlicher Hierarchien führte zum Abbruch der sozialen Beziehung.

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Cypr. epist. 59,9,2. Vgl. Baumkamp (2014), 248; allgemein Dunn (2005).

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Zu Anlässen und Umgang mit Enttäuschungen in christlichen Gemeinden lässt sich folgendes Muster ausmachen: Das nicht rollenkonforme Verhalten von Amtsträgern führte zu Enttäuschungen. Diese Enttäuschungen sind nicht in der gesamten Gemeinde fassbar, sondern vor allem bei denjenigen Gemeindemitgliedern, seien sie Kleriker oder Laien, die während der akuten Bedrohungssituation ihren Glauben verteidigt hatten und nach Ausweis der Quellen in der Minderheit waren. Dieser enttäuschte Teil bemühte sich um die Anerkennung seiner theologischen Auffassung, scheiterte aber oftmals an der Mehrheitskirche. Nach Ende der decischen Maßnahme kam es wiederholt zu synodalen Treffen, die divergierende Haltungen der Bischöfe diskutieren und auflösen sollten. Cyprian berief diese Bischofsversammlungen jährlich in Karthago ein. Synoden sind zwar Ausdruck der Kooperationsbereitschaft der versammelten Akteure, doch gelang es den dortigen Teilnehmern häufig nur unzureichend, Gemeindespaltungen zu überwinden: Die erlittenen Enttäuschungen machten weiteres kooperatives Verhalten oftmals unmöglich. Literatur Bähnk, Wiebke (2001): Von der Notwendigkeit des Leidens. Die Theologie des Martyriums bei Tertullian. Göttingen. Bakker, Henk (Hg.) (2010): Cyprian of Carthage. Studies in his Life, Language and Thought. Leuven u. a. Baumkamp, Eva (2014): Kommunikation in der Kirche des 3. Jahrhunderts. Bischöfe und Gemeinden zwischen Konflikt und Konsens im Imperium Romanum. Tübingen. Bobertz, Charles A. (1988): Cyprian of Carthage as Patron. A Social Historical Study of the Role of the Bishop in the Ancient Christian Community of North Africa. Ann Arbor. Bourdieu, Pierre (2000): Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens. Konstanz. Bowersock, Glen W. (1995): Martyrdom and Rome. Cambridge. Brent, Allen (2010): Cyprian and Roman Carthage. Cambridge. Buc, Philippe (1997): „Martyre et réalité dans l’antiquité tardive. Horizons de l’écriture médiévale des rituels“. In: Annales 52, 63–92. Burger, Franz X. (1909): Art. „confessor“. In: ThLL 4, 191,81–192,46. Burns, J. Patout / Jensen, Robin M. (2014): Christianity in Roman Africa. The Development of its Practices and Beliefs. Grand Rapids u. a. Butterweck, Christel (1995): ‚Matyriumssucht‘ in der Alten Kirche? Studien zur Darstellung und Deutung frühchristlicher Martyrien. Tübingen. Clarke, Graeme W. (1984–1989): The Letters of Cyprian of Carthage. 4 Bde. New York. Cobb, L. Stephanie (2021): „From Prison to Palace: The Carcer as Heterotopia in North African Martyr Accounts“. In: Maier, Harry O. / Waldner, Katharina (Hg.): Desiring Martyrs. Locating Martyrs in Space and Time. Berlin u. a., 137–153. Dahlmann, Alissa (2017): Zwischen Bischof und Gemeinde. Die Entwicklung von der Märtyrerverehrung zum Reliquienkult im 4. und 5. Jahrhundert. Münster. Delehaye, Hippolyte (1933): Les origines du culte des martyrs (2. Auflage, Erstdruck 1912). Brüssel. Dunn, Geoffrey D. (2004): „Heresy and Schism according to Cyprian of Carthage“. In: Journal of Theological Studies 55, 551–574.

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Martin von Tours, Ambrosius von Mailand und der Priscillian-Prozess Reichskirchliche Enttäuschung, innerkirchliche Sanktion Jan-Markus Kötter 1. Die Priscillian-Kontroverse Martins Einsatz hatte keine Früchte getragen. Trotz erheblicher Vorbehalte war der Bischof von Tours im Jahr 385 an den Hof von Kaiser Maximus nach Trier gereist, um diesen in einem laufenden Strafprozess gegen den Häretiker Priscillian zur Mäßigung aufzurufen. Priscillian, ein Asket aus wohlhabender Familie, hatte ab den mittleren 370er Jahren in seiner Heimat Spanien zunächst für Aufsehen und dann für Streit gesorgt: Mit seiner Lehre, die irgendwo zwischen theologischer Weltentsagung und sozialer Subversion changierte, fand er rasch Anhänger und Unterstützer, zunächst unter den Laien, dann aber vermehrt auch im spanischen Episkopat.1 Angesichts der Entwicklungen beriefen die Bischöfe Ithacius von Ossonoba und Hydatius von Mérida 380 eine Synode nach Saragossa, auf der einige der religiösen Praktiken verurteilt wurden, die sie mit Priscillian in Verbindung brachten. Während auf der Synode auf die namentliche Verurteilung Priscillians und seiner Anhänger noch verzichtet worden war, traf den Asketen in der Folge doch noch eine Bannsentenz seiner spanischen Gegner, als einige seiner Anhänger ihn kurz darauf zum Bischof von Ávila weihten – unkanonisch, wie Hydatius und Ithacius feststellten.2

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Zu Priscillian und seiner Lehre ausführlich: Sanchez (2009), 150–264 (Theologie) u. 308–425 (religiöse Praxis); vgl. ferner Chadwick (1976), 57–110. Dass der Hinweis auf Priscillians begüterte Herkunft bei Sulp. Sev. chron. 2,46,2 eine Parallele zu Sall. Catil. 5 darstellt (vgl. Goodrich [2016], 286 Anm. 213), spricht nicht gegen die Aussage an sich, zumal dem Weg in die Askese nur dann Distinktionspotential zukommen konnte, wenn der Asket eine Alternative hierzu hatte. Die Abschnittszählung der Chronik des Sulpicius Severus folgt in diesem Beitrag der Sources Chrétiennes-Ausgabe von Ghislaine de Senneville-Grave (1999). Priscillian betonte in der Folge mehrfach, dass er niemals synodal exkommuniziert worden sei, v. a. in seinem an Damasus von Rom gerichteten zweiten Traktat. Das gegenläufige Zeugnis in Sulp. Sev. chron. 2,47 beruht laut Girardet (1974), 583 f. auf einer Vermischung der frühen kirchenrecht­

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Die Priscillian-Gegner informierten daraufhin den Hof von Kaiser Gratian über die Vorkommnisse, wobei sie Priscillians Lehre als ‚gnostisch‘ bzw. ‚manichäisch‘ brandmarkten und dadurch erreichten, dass der Kaiser die Priscillianer mittels eines Edikts aus ihren Bischofsstädten vertrieb.3 Das wiederum konnte Priscillian nicht hinnehmen: Er wandte sich selbst nach Italien, wo er seinen Fall Ambrosius von Mailand und Damasus von Rom vorlegen wollte, die sich aber beide weigerten, ihn auch nur zu empfangen.4 Immerhin gelang es ihm aber, den magister officiorum Macedonius auf seine Seite zu ziehen, durch dessen Einfluss die Priscillianer staatlicherseits rehabilitiert wurden. In der Folge richtete sich die weltliche Macht dann gegen die vormaligen Ankläger des Asketen, allen voran gegen Ithacius, der als perturbator ecclesiarum diffamiert wurde und aus Spanien nach Gallien floh.5 Dort ergriff 383, von Britannien kommend, der Usurpator Magnus Maximus die Macht und tötete nach kurzem Bürgerkrieg Gratian. Ohne Verzögerung nutzte Ithacius diesen unverhofften politischen Umschwung und brachte seine Vorwürfe gegen Priscillian nun vor den neuen faktischen (und zunächst auch offiziellen)6 Herrscher, der nur allzu gern bereit war, ihnen sein Ohr zu leihen: Zum einen wurden die Vorbehalte gegen Priscillian von der Mehrheit der gallischen Bischöfe geteilt, deren Wohlwollen für die Herrschaftsstabilität des neuen Kaisers eine wichtige Rolle spielte; zum anderen war der Asket auch im benachbarten italischen Herrschaftsgebiet des Gratian-Halbbruders Valentinian II. auf Ablehnung gestoßen.7

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lichen Stufen der Kontroverse. Zur initialen spanischen Phase des Streits: Girardet (1974), 578– 587; Chadwick (1976), 8–36. Konkret zur Synode von Saragossa mit weiterführender Literatur: Weckwerth (2013), 187 f. Nr. 183; Burrus (1995), 25–46. Priscillians erster Traktat war an diese Synode gerichtet. Sulp. Sev. chron. 2,47,2. Die Vorwürfe zeigen sich in Sulp. Sev. chron. 2,46,1, aber auch in Priscillians zweitem Traktat, in dem er sich vehement gegen die Belastung mit dem (politisch verfolgten) Manichäismus wehrt. Auch Vorbehalte gegen die angebliche religiöse Praxis der Priscillianer (bspw. nackte Gebete) lassen sich als Einzelaspekte des crimen ‚Manichäismus‘ verstehen, worauf Girardet (1974), 599 hinweist. Natürlich waren die Anschuldigungen in weiten Teilen polemisch. Vgl. hierzu insg. Burrus (1995), 47–78; Sanchez (2009), 132–149. Sulp. Sev. chron. 2,48,2. In diesen Kontext gehört die an Damasus gerichtete Verteidigungsschrift Priscil. tract. II. Zur Zurückweisung Priscillians vgl. Burrus (1995), 84–92. König (2008), 14–16 weist darauf hin, dass Damasus und Ambrosius um ihre bischöfliche Autorität fürchteten, immerhin fußte die priscillianische Programmatik nicht zuletzt auf einer fundamentalen Kritik an einem allzu machtbewussten Episkopat; vgl. u. Abschnitt 3.4. Sulp. Sev. chron. 2,49,1. Die antipriscillianischen Quellen führen den Umschwung am Hof auf Bestechungen zurück (Sulp. Sev. chron. 2,48,2; 49,2), mit Girardet (1974), 585 dürfte aber auch eine Rolle gespielt haben, dass Priscillian belegen konnte, dass die Synode von Saragossa ihn nicht namentlich verurteilt hatte (s. o. Anm. 2). Dass gerade Theodosius I. seinen neuen Amtskollegen zunächst anerkannt hatte, wird nicht zuletzt daraus ersichtlich, dass er das Konsulat von Maximus’ praefectus praetorio, Evodius, für 386 billigte: CTh 2,33,2; 3,4,1; 8,5,48; 9,44,1; 12,6,21. Vgl. auch Kienast (52011), 342. Zur Wendung des Ithacius an Maximus: Sulp. Sev. chron. 2,49,2. Schon zuvor hatte der im Exil lebende Bischof an den Prätorianerpräfekten Gregor appelliert, der magister officiorum Macedonius konnte aber erreichen, dass diesem die Verfolgung entzogen und stattdessen auf den in Spanien

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Der neue Kaiser berief daher 384 ein Konzil nach Bordeaux, das die Klagen gegen Priscillian erneut untersuchen sollte.8 Als sich der Beklagte aber weigerte, seiner Vorladung zu dieser Versammlung Folge zu leisten und stattdessen direkt an Maximus appellierte, wurde das Verfahren in der kaiserlichen Residenz Trier fortgesetzt, und zwar nicht mehr als kirchlicher Prozess (dieser konnte durch Priscillians Verweigerung als erledigt gelten), sondern als ziviles Verfahren.9 In diesem traten Ithacius, Hydatius und womöglich der Trierer Residenzbischof Britto, der Ithacius seinerzeit dem Kaiser empfohlen hatte, als Ankläger auf. Sie erhoben (bzw. wiederholten) den gegen Priscillian gerichteten Vorwurf des Manichäismus, ein crimen, das im kirchlichen Verständnis mit dem Vorwurf der Häresie belastet war, das in ziviler Perspektive aber auch als ernstes politisches Vergehen galt, auf das wegen der mit ihm einhergehenden Verdächtigungen der Zauberei die Strafe der Exekution stand.10 An dieser Stelle kam Martin ins Spiel, der seit etwa fünfzehn Jahren Bischof von Tours war. Wegen seiner überragenden Frömmigkeit, seinem vorbildlichen Lebenswandel und dem Ruf, Wunder zu wirken, war er hochangesehen, nicht allein bei den Laien und seinen gallischen Bischofs- sowie Mönchskollegen, sondern auch bei Maximus.11 Der Kaiser, so berichtet Martins Biograph und Schüler Sulpicius Severus, hatte bereits mehrfach den Wunsch geäußert, den heiligen Mann persönlich treffen zu dürfen, dieser hatte sich aber bislang stets geweigert, der Einladung Folge zu leisten.12 Zugunsten Priscillians gab Martin seine Zurückhaltung nun aber auf und reiste nach

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amtierenden vicarius übertragen wurde (Sulp. Sev. chron. 2,49,1 f.). Diese Regelung wurde durch die Usurpation des Maximus natürlich hinfällig. Die Synode kann nicht ganz im Sinne des Ithacius gewesen sein, der den Standpunkt vertrat, dass Priscillian überhaupt niemals rechtmäßig Bischof gewesen war, weshalb es einer kirchlichen Aburteilung gar nicht bedurft hätte; er drängte wohl von vornherein auf den später anschließenden zivilen Prozess. Maximus wollte sich aber (trotz seiner grundsätzlichen Parteinahme für die Anti­ priscillianer) formal nicht angreifbar machen. Vgl. Girardet (1974), 587–589. Zur Synode von Bordeaux mit weiterer Literatur: Weckwerth (2013), 124. Priscillians Motivation, der Synode fernzubleiben, ist unklar; Sulp. Sev. chron. 2,49,3 suggeriert, dass er selbst es war, der das kaiserliche Gericht eingeschaltet hätte, womit er die letztliche Schuld am Ausgang des Verfahrens getragen hätte. Girardet (1974), 591–593 vermutet dagegen, dass Priscillian eher eine kirchliche Revision seines Falles unter Hinzuziehung spanischer Bischöfe gefordert hätte. Schon 372 waren kaiserlicherseits Exilierung und Enteignung von Manichäern verfügt worden (CTh 16,5,3), 381 die Intestabilität (CTh 16,5,7). Zur drohenden Todesstrafe angesichts der vorgebrachten Vorwürfe schließlich: CTh 16,7,3. Der letztliche Schuldspruch lautete dann auf maleficium. Zwar lässt sich die später überbordende Popularität des Martin (hierzu Ewig [1976]) nicht zuletzt auf die Werke seines Hagiographen Sulpicius Severus zurückführen (vgl. Rousseau [2010], 143–147; Pietri [2016], 353–356), nichtsdestoweniger besaß der Bischof von Tours auch schon zeitgenössisch eine immense fama, nicht zuletzt als einer der Begründer des abendländischen Mönchtums. Sulp. Sev. Mart. 20,2. Sulpicius war mit Martin unmittelbar bekannt, so bezeichnet er sich in Sulp. Sev. dial. 1,27,3 selbst als dessen Schüler; vgl. auch Chron. Gall. (452), 48: ex disciplina sancti Martini. Zu den Schriften des Sulpicius über Martin ausführlich: Stancliffe (1983), 71–107.

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Trier – nicht, dass er theologische Sympathien für den spanischen Asketen gehegt hätte, den er ausdrücklich für einen Häretiker hielt, nein: Es ging ihm lediglich darum, ein Todesurteil zu verhindern. Beim Treffen mit Maximus nahm Martin diesem daher das Versprechen ab, sich jeglichen Blutvergießens zu enthalten,13 nur um, kaum zurück in seiner eigenen Bischofsstadt, die Nachricht zu erhalten, dass Priscillian und etliche seiner Anhänger auf Geheiß des Kaisers doch enthauptet worden waren.14 Martins Einsatz hatte keine Früchte getragen – und er zeigte sich entsprechend enttäuscht. 2. Die Reaktion auf Priscillians Hinrichtung Bevor der Fokus auf die Gründe für Martins Enttäuschung gerichtet werden soll, muss zunächst ein Blick auf seine Reaktion geworfen werden, weil sich die Enttäuschung durch seine Reaktion sozial (und historisch) überhaupt erst manifestierte; denn ob der Bischof von Tours tief in seinem Innern wirklich nicht mit dem blutigen Fortgang der Ereignisse nach seiner Abreise gerechnet hatte, lässt sich naturgemäß nicht mehr feststellen.15 Letztlich geht es darum auch gar nicht; es geht nicht einmal darum, ob Martin mit dem blutigen Ausgang des Prozesses rechnen konnte. Entscheidend ist in erster Linie, ob er damit rechnen wollte: Seine Erwartung war offenbar stark normativ geprägt, und in diesem Erwartungsmodus war es zweitrangig, ob die gehegten Erwartungen realistisch waren (im Fall des Priscillian-Prozesses waren sie es offenkundig nicht), da die Normativität einer Lernwilligkeit im Wege stand und insofern ohnehin immun gegen Erwägungen einer (un)wahrscheinlichen Erwartungserfüllung war.16 Wichtig für die geschichtswissenschaftliche Betrachtung ist vor allem, dass Martin 13

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Versprechen des Maximus: Sulp. Sev. chron. 2,50,2. Martin hatte argumentiert, dass es ausreiche, einen Häretiker durch ein bischöfliches Urteil aus der Kirche zu entfernen, nicht durch ein kaiserliches Gericht; hier (und in der bisherigen Verweigerung eines Zusammentreffens mit Maximus an sich) deutet sich bereits an, dass Martins Vorbehalte gegenüber dem Umgang mit Priscillian nicht allein auf das drohende Todesurteil beschränkt waren, sondern grundsätzlicher griffen; vgl. hierzu u. Abschnitt 3.4. Der Prozess war ungeachtet der Zusage des Maximus unter dem praefectus praetorio Evodius weitergegangen: Sulp. Sev. chron. 2,50 f. Für eine Rekonstruktion: Girardet (1974), 587–603; Birley (1983). Das Privatvermögen der Priscillianer wurde zugunsten der Staatskasse eingezogen, was einer der Gründe für den Prozess gewesen sein mag, immerhin litt Maximus unter finanziellen Engpässen: Sulp. Sev. dial. 3,11,11. Ohne ihren sozialen Ausdruck, so die Meinung des Autors, lässt sich Enttäuschung geschichtswissenschaftlich nicht greifen, weil sie als reine Emotion (zumal bei der Abwesenheit von Ego-Dokumenten) in den Quellen keine Spuren hinterlässt. Insofern müsste man, als Ergänzung zum von Jan Timmer vorgeschlagenen Analyseraster, sogar in Betracht ziehen, dass es zumindest in ‚normativen‘ Erwartungsmodi durchaus Enttäuschungserklärungen ohne ‚echte‘ Enttäuschungen geben kann. Zu diesem normativen Erwartungsmodus, der sich von einem kognitiven (also im Enttäuschungsfall lernfähigen) Modus der Erwartung abgrenzt: Luhmann (1972), 40–53. Vgl. dazu den Beitrag von Jan Timmer in diesem Band.

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seiner Enttäuschung (einen auch in den Quellen greifbaren) Ausdruck verlieh und dadurch überhaupt zeigte, dass das Geschehene in Widerspruch zu seiner Erwartung gestanden hatte. Konkret zeigte Martin sein Missfallen dadurch, dass er sich von der kirchlichen Gemeinschaft mit Priscillians Anklägern zurückzog, was in erster Linie Ithacius betraf, in zweiter Linie aber auch dessen Unterstützer, die im Rahmen des Prozesses zahlreich in die Residenz geströmt waren. Als der Trierer Bischof Britto kurz nach Ende des Verfahrens starb und der anwesende Episkopat Felix zu seinem Nachfolger weihte, verweigerte Martin daher konsequenterweise auch ihm communio und Anerkennung.17 Hiermit war der Bischof von Tours keineswegs allein, denn auch Ambrosius von Mailand kommunizierte seine Ablehnung des Trierer Bluturteils, indem er Felix und diejenigen, die mit ihm in Gemeinschaft standen, exkommunizierte.18 Das durch den breit getragenen Abbruch der kirchlichen Gemeinschaft (auch Rom schloss sich der Haltung von Martin und Ambrosius an)19 ausgelöste ‚Felicianische Schisma‘ sollte erst gegen Ende des Jahrhunderts beigelegt werden. Es stellt insofern einen Sonderfall kirchlicher Spaltung dar, als beide Parteien ausdrücklich keine Glaubensdifferenzen hatten: Priscillian galt auch Martin und Ambrosius als Häretiker. Ambrosius hatte sich schon einige Jahre zuvor ja geweigert, den Häresiarchen überhaupt nur zu empfangen; und der Martin-Schüler Sulpicius Severus scheute nicht einmal davor zurück, Felix eine persönliche Orthodoxie zuzugestehen: Der nicht anerkannte Bischof von Trier sei durchaus ein sanctissimus vir gewesen, hätte es aber verdient gehabt, in besseren Zeiten zu leben.20 Die im Felicianischen Schisma ausgedrückte Enttäuschung martinischer und ambrosianischer Erwartungen betraf also mitnichten die eigentliche theologische Aufga-

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Sulp. Sev. dial. 3,11–13 berichtet ausführlich von einer zweiten Trier-Reise des Martin nach dem Prozess, auf der er um Mäßigung bei der Verfolgung der spanischen Priscillian-Anhänger bat. Noch während seines Aufenthalts erfolgte die Weihe des Felix; zwar nahm Martin zunächst die Gemeinschaft zu ihm auf, zog sich aber letztlich doch von ihr zurück. Möglicherweise stand dies im Zusammenhang mit dem ähnlichen Schritt des Ambrosius (vgl. Anm. 18); da aber die Gründe für Martins Enttäuschung anders gelagert waren als die des Ambrosius (s. u. Abschnitt 3.4), kann er durchaus autonom zu seiner Position gelangt sein. Ambrosius’ Rückzug von der Gemeinschaft ergibt sich indirekt aus dem Protokoll der Synode von Turin 398: CC 148:57 f. Der Bischof von Mailand hatte sich schon im Umfeld des Prozesses kurzzeitig in Trier aufgehalten und hatte schon hier den Priscillian-Anhängern die communio verweigert: Ambr. epist. 30 [24],12. Sein Aufenthalt erfolgte im Rahmen einer diplomatischen Mission für Valentinian II.; zum Kontext der epist. 30, die den Gesandtschaftsbericht darstellt, vgl. Dörner (2001); Bajoni (2014). Ferner auch Ausbüttel (2020), 31. Vgl. auch hierzu die Synode von Turin (Anm. 18). Maximus rechtfertigte sein Urteil später gegenüber Siricius von Rom: Avell. 40,3 f. (CSEL 35:91). Auch die Chronik des (eng am Papsttum orientierten) Prosper von Aquitanien kritisiert die Trierer Urteile, ohne freilich die Häresie des Priscillian in Abrede zu stellen: Prosp. chron. 1171; 1187; 1193. Sulp. Sev. dial. 3,13,2. Das Felicianische Schisma ist eines der seltenen Beispiele für ein schisma purum, vgl. Kötter (2019c), 855 f. mit 848 f. Zum Schisma auch: Mathisen (1989), 11–18.

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be des Episkopats, für die Reinerhaltung des christlichen Glaubens zu sorgen; in dieser Hinsicht hatte sich keiner der Beteiligten irgendetwas zu Schulden kommen lassen, weder Martin und Ambrosius noch Ithacius und Felix. Das Problem, das die orthodoxen Bischöfe mit ihren orthodoxen Mitbischöfen hatten, muss also einen anderen Problemkomplex berührt haben: Während nämlich die Reaktion auf das Todesurteil von Trier auf eine kirchliche Sanktion zurückgriff, lag die zugrundeliegende Enttäuschung auf einer Ebene, die nicht genuin kirchlich war. 3. Die Gründe für die Enttäuschung 3.1. Problemstellung: reichs|kirchliche Enttäuschung Eigentlich wäre davon auszugehen, dass in einem System ‚Kirche‘ nur eine Differenz zwischen ‚orthodox‘ und ‚häretisch‘ wirksam sein sollte: Die Aufgabe der Institution Kirche war in erster Linie die Reinerhaltung ihrer Bekenntnisgrundlage. Auf dieser Grundlage muss man in der Tat fragen, was Martin und Ambrosius für ein Problem damit hatten, dass der überführte Häretiker Priscillian, der durch die Feststellung seiner Häresie und seiner unkanonischen Bischofsweihe ohnehin kein Teil der Kirche mehr war, zum Tode verurteilt worden war, noch dazu in einem rein zivilen Strafprozess, der von der kirchlichen Ebene letztlich abgekoppelt war. Ihre Enttäuschung hätte in dieser Hinsicht allenfalls der Person des Kaisers und dem Agieren der staatlichen Institutionen gelten können, und in der Tat hatte Maximus sein Versprechen Martin gegenüber gebrochen. Der Ausdruck der Enttäuschung der Bischöfe von Tours und Mailand betraf aber eben nicht den Kaiser, sondern ihre bischöflichen Amtskollegen, obwohl der kirchlichen Aufgabe doch Genüge getan und die Reinheit des Glaubens gewahrt worden war.21 Die Grundlage für die im Felicianischen Schisma ausgedrückte Enttäuschung muss daher in Kontexten gesucht werden, die nicht genuin kirchlich waren, und hier kommen doch die Person des Kaisers, der zivile Strafprozess und das Todesurteil ins Spiel. Die Enttäuschung von Martin und Ambrosius war nämlich auf der Ebene der für die spätantike Kirchlichkeit so relevanten Erweiterung kirchlicher Verfahren durch die ihr strukturell fremde Ebene des zivilen Reichs angesiedelt, ein Zusammenhang, den wir

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Dass das Martyrium des Priscillian seine Häresie in Spanien überhaupt erst richtig befeuerte, wie Sulp. Sev. chron. 2,51,4 erwähnt (in die gleiche Richtung deutet ein nur fragmentarisch erhaltener Hinweis in Hyd. chron. 16; z. St. Scardino [2019], 203 f.), ist dem Wissen des Sulpicius über die weitere Entwicklung geschuldet; es dürfte kaum bereits Gegenstand der martinisch-ambrosianischen Enttäuschungserklärung gewesen sein. Ambrosius soll darüber hinaus zwar auch Maximus verdammt haben, dies aber ausdrücklich nicht aufgrund seiner Behandlung des Priscillian, sondern aufgrund der Ermordung des Gratian: Paulin. vit. Ambr. 19.

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hier und in der Folge als reichs|kirchlich bezeichnen wollen.22 Es ging im Felicianischen Schisma also nicht um die traditionell innerkirchlichen Konfliktzonen von Dogma und Hierarchie (hier waren sich alle Akteure einig), sondern um die reichs|kirchliche Frage, wie sich das Verhältnis der Kirche zum Römischen Reich gestalten sollte. Diese Frage war erst vor wenigen Jahrzehnten, mit der sog. ‚Konstantinischen Wende‘, überhaupt an die Kirche herangetragen worden, und noch hatten die kirchlichen Akteure keine abschließende und allgemein akzeptierte Position zu den grundlegend neuen Rahmenbedingungen ihres Handelns gefunden. Ithacius und seine Anhänger vertraten in der Frage offenkundig eine andere Position als Martin und Ambrosius; aber auch diese beiden in ihrer Enttäuschung vorgeblich verbundenen Bischöfe wiesen, blickt man genauer auf die Situation, Unterschiede auf, mit denen wir uns in der Folge genauer befassen wollen. Angesichts der reichs|kirchlichen Grundlage für die Enttäuschung lohnt es sich, zunächst einen Blick auf das genuin innerkirchliche und dann auf das durch Reich und Kaisertum ergänzte Protokoll der Häresieabwehr zu werfen, um die unterschiedlichen Positionen der beteiligten Akteure und die Heftigkeit ihrer Reaktionen besser verstehen zu können. 3.2. Das innerkirchliche Protokoll der Häresieabwehr Blicken wir auf den genuin kirchlichen Anteil der Häresieabwehr und gehen dafür zurück in eine vorkonstantinische Zeit, in der die Ebene des Reiches noch keinen Platz in den Abläufen um Bekenntnis- und Hierarchieentwicklung beanspruchte, so lässt sich (zwar kontrafaktisch, aber wohl doch ohne heftigen Widerspruch zu erregen) die These aufstellen, dass der Streit um den spanischen Asketen in diesen frühen Kontexten niemals solche Kreise gezogen hätte wie später im Umfeld des christlich gewordenen (bzw. werdenden) Reichs.23 Das Aufkommen von Häresien hatte in der frühen Kirche an sich keinen sonderlich hohen Nachrichtenwert, schon die Heilige Schrift und die Apostolischen Väter zeigten ein Bewusstsein dafür, dass Spaltungen und Irr22

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Zum Begriff Kötter (2014), v. a. 3–8. Der senkrechte Strich weist hier darauf hin, dass es die ‚Reichskirche‘ als Institution niemals gab, sondern sie sich immer nur durch eine Kooperation von Kirche und Reich (gewissermaßen spontan) bildete, wobei aber beide Seiten strukturell eigenständig blieben. Die kaiserliche Beteiligung hatte die Reizschwelle zur Wahrnehmung ursprünglich meist lokal bzw. regional begrenzter Konflikte gesenkt, vgl. Kötter (2014), 16 f. Auch die Priscillian-Kontroverse erhielt ihre überregionale Relevanz erst dadurch, dass Ithacius und Priscillian sich an Gratian gewandt hatten. Dass es unmittelbar infolge der ‚Konstantinischen Wende‘ zu gleich mehreren heftigen Auseinandersetzungen gekommen war (bspw. um Arianismus und Donatismus), lag nicht zuletzt daran, dass sich in vorkonstantinischer Zeit relativ einfach und v. a. relativ unbemerkt lokale theologische Traditionen hatten bilden können, die teilweise stark voneinander abwichen und nun unvermittelt aufeinanderprallten.

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lehren zu den Grunderfahrungen der christlichen Gemeinde gehörten und damit auch immer gehören würden.24 Das Problem war in Erfahrungs- und Erwartungshorizonten der Zeitgenossen schon bald so fest verankert, dass sich Mechanismen etablierten, um auf entsprechende Herausforderungen zu reagieren. Das Protokoll war denkbar einfach, wenn auch nicht sonderlich effektiv: Der Feststellung der Häresie folgte der Ausschluss der Häretiker aus der kirchlichen Gemeinschaft. In Ermangelung anderer Sanktionsmittel erklärte man die häretischen Akteure schlicht und ergreifend für nicht mehr zur Kirche gehörig, womit ihr Einfluss auf das eigene ‚orthodoxe‘ Bekenntnis neutralisiert wurde.25 Bis zu diesem Punkt hatte sich die Abwicklung des Priscillianismus ans Protokoll gehalten: Priscillians Gegner hatten seine als anstößig empfundene Lehre synodal verurteilt und ihre Vertreter exkommuniziert. Dabei wäre es in vorkonstantinischer Zeit im Großen und Ganzen auch geblieben: Priscillian und seine bischöflichen Unterstützer hätten sich in ihre Städte zurückgezogen; ihre Gegner, die sie nicht mehr als Amtskollegen anerkannten, hätten sie dort, wo das überhaupt möglich war, durch andere Priester ersetzt, natürlich ohne dass die Häretiker ihre Absetzungen akzeptiert hätten. Wahrscheinlich hätten beide Seiten mit Rundbriefen die ein oder andere Gemeinde im Reich informiert und um Unterstützung für ihre jeweilige Sache geworben, was aber in der oben erwähnten Ermangelung konkreter Sanktionsmittel wenig daran geändert hätte, dass sich (je nachdem, wie stark der Rückhalt der einzelnen Bischöfe in den einzelnen Städten in Spanien ausgeprägt war) entweder Doppelhierarchien gebildet hätten, oder aber die eine Partei mal in dieser, die andere mal in jener Stadt die Oberhand gewonnen hätte. Auf kurz oder lang hätte sich eine Seite als stärker erwiesen, woraufhin manche Häretiker reuig in die Mehrheitskirche zurückgekehrt wären; die anderen hingegen hätten fortan einfach Winkelmessen gefeiert.26 Ein solcher Verlauf war für beide Seiten streng genommen natürlich nicht wünschenswert, weil sich beide Seiten selbst als rechtgläubig wahrnahmen, die jeweiligen Abweichler aber ihres Seelenheils verlustig gingen und damit auch das Seelenheil ihrer Gemeinden gefährdeten; der skizzierte Verlauf war letztlich aber eben nicht zu ändern, weil mit der Exkommunikation die ultima ratio der möglichen kirchlichen Sanktionsmittel erreicht war. Gegen einen etwaigen Widerstand der Exkommunizierten (und ihrer Gemeinden) war letztlich nichts auszurichten, womit das kirchliche Protokoll 24 25

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1 Kor 11,18 f.; vgl. auch Didasc. apost. 23; Iustin. dial. 35,3. Alles in allem baute dieses Protokoll auf normativ-lernunwilligen Erwartungen auf: Auch wenn die Akteure grundsätzlich wussten, dass es immer wieder zu Häresien kommen würde, stellten sie ihre Erwartungen in Bezug auf die Reinheit des Glaubens nicht hierauf ein. Die Orthodoxie war nicht verhandelbar. Insofern war es nur konsequent, auf entsprechende Enttäuschungen mit dem Abbruch der Gemeinschaft zu reagieren, da man dadurch vermied, sich inhaltlich neu positionieren zu müssen. Noch in reichs|kirchlicher Zeit sollte es übrigens mitnichten gelingen, die nach 380 als häretisch markierten Homöer gänzlich aus dem Reich zu verdrängen.

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der Häresieabwehr seelsorgerlich eine erhebliche Leerstelle aufwies. Insofern war es folgerichtig, dass es nicht zuletzt die kirchlichen Akteure selbst waren, die nach der grundlegenden Umorientierung der kaiserlichen Religionspolitik an Beginn und zur Mitte des vierten Jahrhunderts danach strebten, das in seiner Konsequenz letztlich stumpfe Protokoll der Häresieabwehr durch die Sanktionsmittel des zivilen Reiches zu ergänzen. 3.3. Das ergänzte Protokoll der Reichs|Kirche Erstmals aktenkundig wurde ein solcher Rückgriff auf staatliche Sanktionsmittel in den 270er Jahren, also noch gut fünfzig Jahre vor der ‚Konstantinischen Wende‘. Paul von Samosata, der Bischof von Antiochia, war von einer Synode seiner Mitbischöfe abgesetzt worden, weigerte sich aber, seinen Bischofssitz aufzugeben, wobei er offenbar auf die Unterstützung seiner Gemeinde bauen konnte. Seine Gegner appellierten daraufhin an Kaiser Aurelian, der sich dazu bereitfand, das synodale Urteil staatlicherseits in Geltung zu setzen.27 Hiermit hatte Aurelian ein Muster vorweggenommen, das später zum reichs|kirchlichen Standardprotokoll werden sollte: Auf Ebene der Kirche wurde ein kirchliches Urteil gefällt, das auf Ebene des Reiches dann sanktioniert und durchgesetzt wurde. An dieser Zweistufigkeit des Verfahrens änderte sich dabei übrigens auch mit der Annahme des Christentums durch die Kaiser seit Konstantin nichts grundlegend, weil die beiden Verfahren funktional getrennt blieben.28 Denn auch, wenn in der Forschung häufig wie selbstverständlich von der ‚Reichskirche‘ gesprochen wird, so hatte es diese als feste Institution niemals gegeben: Die christlichen Kaiser hatten keine fest definierte Rolle in der Kirche, und die Bischöfe waren niemals regelrechte Beamte im Reich geworden.29 Immerhin führte die Anerkennung des Christentums von nun an dazu, dass das kaiserliche Engagement der kirchlichen Sentenz geradezu standardmäßig nachfolgte, sodass die Ergänzung des kirchlichen Protokolls durch die kaiserliche Bestätigung und Durchsetzung in der Folge mit einer immer größeren Selbstverständlichkeit auch erwartet wurde. Gerade vonseiten der Kirche nutzte man diese Möglichkeit auch durchaus bereitwillig, womit die Ziviladministration immer wieder in die kirchlichen Streitigkeiten hineinzogen wurde, auch im Fall des Priscillian, als sowohl dieser selbst als

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Eus. hist. eccl. 7,30. Zum Streit um Paul von Samosata vgl. mit weiterer Literatur Hahn (2004), 147. Vgl. hierzu schon Girardets Betrachtungen zum ‚Kaiser- und Bischofsgericht‘ (Girardet [1975]). Das skizzierte Standardprotokoll wurde in reichs|kirchlicher Zeit dann auch zunehmend rechtlich abgesichert, vgl. bspw. CTh 16,2,12; Const. Sirmond. 3. Fournier (2006), 158 weist ausdrücklich darauf hin, dass die Kirche aus sich selbst heraus keine Möglichkeit gehabt habe, ein Urteil gegen Widerstände tatsächlich auch durchzusetzen. Grundlegend hierzu Kötter (2014).

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auch Ithacius am Kaiserhof um Revision bzw. Bestätigung des Urteils nachsuchten.30 Hierdurch wurde aus der eigentlich rein kirchlichen Kontroverse ein Gegenstand der Reichs|Kirche, und dass sowohl Gratian als auch Maximus sich in den Streit hineinziehen ließen, war insofern gut etablierte Praxis – und Maximus wies im Angesicht der scharfen Kritik am Trierer Urteil nicht zu Unrecht darauf hin, dass er von Seiten der kirchlichen Vertreter um sein Eingreifen gebeten worden war.31 Nichtsdestoweniger konnte das Eingreifen des Kaisers grundsätzliche Vorbehalte hervorrufen, denn die Supplementierung des kirchlichen Protokolls durch die kaiserliche Sanktion wies zum einen einer eigentlich kirchenexternen Ebene einen Platz in der Häresieabwehr zu und steigerte zum anderen eben hierdurch die Komplexität (und die Kontingenz) des Verfahrens. Zunächst einmal war nicht von vornherein ausgemacht, welcher Partei ein Kaiser im Streitfall zur Durchsetzung verhelfen würde. Da in einer entsprechenden Situation für gewöhnlich beide Seiten für sich beanspruchten, die reine Lehre zu vertreten, mussten die unterlegenen Bischöfe die kaiserliche Sanktion fast zwangsläufig als häretischen Übergriff wahrnehmen, und das durch einen hierzu letztlich eigentlich gar nicht legitimierten Akteur. In einer solchen Situation blieb der unterlegenen Seite letztlich nichts anderes übrig, als auf einen Wechsel der politischen Großwetterlage zu hoffen. Die Widerstände gegen die Kirchenpolitik des Constantius II., die in der Priscillian-Kontroverse noch sehr präsent waren,32 zumal zumindest Ambrosius in Mailand unmittelbar mit den Nachwehen der homöischen Positionierung des Kaisers zu ringen hatte,33 legten von diesem Mechanismus Zeugnis ab: Die von Constantius ins Exil getriebenen nizänischen Bischöfe hatten ihre Verbannung erfolglos damit zugebracht, beim Kaiser für einen bekenntnispolitischen Umschwung zu werben, den sie daraufhin erst einleiten konnten, als es infolge des vorzeitigen Todes des Kaisers

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Musste das Engagement eines heidnischen Kaisers Aurelian noch spontan erfolgt sein und damit punktuell bleiben (es hatte aus Sicht des Kaisers v. a. ordnungspolitische Gründe), so wurden christliche Kaiser nun geradezu dazu verpflichtet, zugunsten der Orthodoxie (die die einzelnen Gruppen jeweils selbst zu vertreten meinten) zu handeln, weil die Wahrung der Glaubensreinheit nach der Anerkennung des Christentums durch die Kaiser in die kaiserliche Zuständigkeit fiel. Vgl. hierzu Avell. 40 an Siricius von Rom, wo Maximus anlässlich der von Siricius an ihn herangetragenen Bitte, eine gallische Synode im Fall eines unrechtmäßig geweihten Priesters einzuberufen, auf sein Engagement im (als parallel gelagert verstandenen) Fall des Priscillian zu sprechen kommt. In der Tat sehe ich gegen Fournier (2006), 159 f. nicht, dass Maximus das Protokoll per se geändert hätte; er hatte es mit dem Todesurteil lediglich konsequent zu Ende geführt. Es ist bezeichnend, dass Sulpicius den Bericht über die Priscillian-Kontroverse (chron. 2,46–51) unmittelbar an den Bericht über die Konflikte rund um Constantius II. (chron. 2,37–45) anschließt. Einer der unter Constantius exilierten Bischöfe, Hilarius von Poitiers, hatte darüber hinaus keinen geringeren als Martin in den Klerus geweiht: Sulp. Sev. Mart. 5. Zum Verhältnis von Martin zu Hilarius: Brennecke (1984), 243–247; Rousseau (2010), 148 f. Dem Kontext des Kampfes gegen den ‚arianisierenden‘ Hof in Mailand entsprangen die ambrosianischen Werke de fide und de spiritu sanctu. Zum antiarianischen Profil des Ambrosius vgl. zusammenfassend Markschies (1995), 84–212; Moorhead (1999), 111–122; Dassmann (2004), 61–80.

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zum politischen Umschwung unter Julian kam. Kaum zufällig sorgten ausgerechnet die diversen Exilanten nun ab 361 für eine nizänische Restauration, gerade auch im westlichen Reichsteil.34 Diese Möglichkeit zur heilsgeschichtlich notwendigen Korrektur eines dogmatischen Irrwegs baute jedoch darauf auf, dass Constantius die widerständigen Bischöfe zwar vertrieben hatte, nicht aber getötet. Auch wenn Maximus im Gegensatz zu Constantius orthodox war (zumindest galt er Ambrosius und Martin als orthodox), änderte das nichts am strukturellen Problem: Genauso, wie Häresien jederzeit zu erwarten waren, waren jederzeit auch häretische Herrscher denkbar. In diesem Wissen erwies sich nun ausgerechnet der beispiellose Eifer des Maximus als potentielle Gefahr, da die Hinrichtung eines Häretikers (der immer nur subjektiv als solcher markiert war) auch die in ihrer Selbstsicht orthodoxen Bischöfe bedrohte: Die unwiderrufliche Bestrafung eines Kirchenvertreters mit dem Tod verhinderte die Korrektur eines dogmatischen Fehlurteils. Hier dürfte der Kern der ambrosianischen Kritik gelegen haben: Zwar hielt der Bischof von Mailand eine nachträgliche Korrektur bezüglich der konkreten Bewertung des Priscillianismus kaum für notwendig, es konnte ihm aus der Erfahrung seines eigenen Kampfes gegen die Homöer jedoch gleichzeitig nicht daran gelegen sein, dass das Beispiel der Konfliktbereinigung durch Maximus Schule machte. Zwar erwartete Ambrosius offenkundig reichs|kirchliches Engagement von Kaisern, das er niemals per se zur Disposition stellte (hier unterschied er sich nicht von Priscillian oder Ithacius), wollte den Erwartungsraum dabei aber nicht so weit gefasst sehen, dass er Kapitalstrafen gegen Häretiker beinhaltete.35 Der Bischof von Mailand war einer Durchsetzung kirchlicher Urteile durch staatliche Instanzen also keineswegs abgeneigt; die Beteiligten in Trier hatten hierbei aber jegliches Augenmaß verloren. Dass sich Ambrosius’ Zorn und die Enttäuschungsabwicklung des Felicianischen Schismas nicht in erster Linie gegen den Kaiser richteten, sondern gegen die kirchlichen Akteure um Ithacius, die für die blutige Eskalation des Prozesses von Trier letztlich verantwortlich gemacht wurden, spiegelt diese Perspektive wider.36 Die Enttäuschung des Ambrosius bezog sich also zwar auf die Ausgestaltung des (weiter im Werden begriffenen) reichs|kirchlichen Prozederes, nicht aber auf die 34

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Zum nizänischen Widerstand gegen Constantius vgl. Klein (1977), v. a. 116–144; Brennecke (1984). Die aus dem Westen verbannten Nizäner waren noch 362 mit Athanasius auf einer Synode in Alex­ andria zusammengetroffen und hatten dort den späteren Umschwung koordiniert. Zur Verbannungspolitik des Constantius, der insg. gut 80 Bischöfe zum Opfer fielen, ausführlich: Stevenson (2014). Neben der heilsgeschichtlichen Scheu vor den vollendeten Tatsachen trieb den Bischof auch eine pastorale Frage um, wie sich an der im Rahmen der Priscillian-Kontroverse entstandenen Einlassung über Todesurteile durch christliche iudices zeigt: Ambr. epist. 68 [26],3. Hinzu kam natürlich, dass Ambrosius nur allzu bereit war, von den Vorteilen reichs|kirchlicher Kooperation zu profitieren, indem er sich dem Kaisertum als Berater andiente: Schulz (2014). Nur auf dieser Grundlage konnte er überhaupt ein Bild von einem idealen Kaiser entwickeln, wie Groß-Albenhausen (1999), v. a. 134–143 es skizziert.

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Reichs|Kirche an sich. Eine solch eher relative Kritik am kaiserlichen Vorgehen in Trier war aber kaum die einzige denkbare Grundlage für die Enttäuschung, die sich im Abbruch der kirchlichen Gemeinschaft mit den ithacianisch-felicianischen Bischöfen Ausdruck verschaffte: Der Blick auf Martin von Tours legt nahe, dass die Enttäuschung auch deutlich grundsätzlichere Züge annehmen, also tatsächlich die Reichs|Kirche betreffen konnte. Die Kooperation zwischen Kaiser und Kirche konnte nämlich nicht allein aus der Perspektive individueller theologischer Präferenzen heraus haken (der Kaiser verhalf also nicht der eigenen Seite zur Durchsetzung), sondern wies darüber hinaus eine ganz grundlegende Ebene des Missbehagens auf: Während die Kirche hinsichtlich der Bewertung dogmatischer Konflikte zwischen ‚orthodox‘ und ‚häretisch‘ unterschied, differenzierten die Kaiser hinsichtlich der Bekenntnisentwicklung eher zwischen ‚integrativ‘ und ‚desintegrativ‘.37 Damit teilten zwar beide Seiten das Ziel der umfassenden kirchlichen Einheit, wiesen aber hinsichtlich der Ansprüche, die sie in theologischer Perspektive an diese Einheit stellten, grundlegende Unterschiede auf. So hatte Constantius II. im Angesicht der Konflikte um das Nizänum von 325 im Trinitarischen Streit ein homöisches Bekenntnis unterstützt, das in gewisser theologischer Unterkomplexität für möglichst alle christlichen Gruppierungen zustimmungsfähig sein sollte, dann aber von seinen Gegnern nicht zuletzt aufgrund dieses kaiserlichen Kompromisscharakters abgelehnt und als ‚Datiertes Bekenntnis‘ verspottet wurde.38 Schon Konstantin d.  Gr. war im aufziehenden Arianischen Streit den theologischen Streitfragen mit Unverständnis begegnet, als er die verfeindeten kirchlichen Parteien im Vorfeld der Synode von Nizäa aufgerufen hatte, ihre Einheit doch bitte nicht wegen vorgeblicher Quisquilien in der Bezeichnung der Gottessohnschaft aufzukündigen.39 Für die Kirche stellte sich durch die kaiserliche Supplementierung ihrer internen Prozesse also immer die Frage nach der konkreten Ausbalancierung einer rein kirchlich zu denkenden ‚Reinheit‘ und einer in wechselseitiger Spannung zum diesbezüglich ebenfalls interessierten Kaisertum herzuleitenden ‚Einheit‘. Zwar hatte die Kirche im Zuge von Wiedereingliederungsdebatten schon in vorkonstantinischer

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Vgl. hierzu jüngst u. a. Kötter (2019a), 300 f.; ähnlich aber schon Winkelmann (1971), 289. Den Text des datierten Bekenntnisses überliefern Ath. syn. 8,3–7; Socr. hist. eccl. 2,37,18–24. Constantius hatte die Bekenntnisgrundlage in einem offiziellen und somit datierten Schreiben bekannt gemacht. In der spottenden Bezeichnung zeigt sich das Unbehagen bzgl. der unterschiedlichen Anforderungen an die Einheit: Während der Kaiser lediglich datierbare Kompromisse produzierte, orientierten sich die kirchlichen Akteure an dem, was sie für offenbart (und damit für überzeitlich gültig) hielten. Zur Bekenntnispolitik des Constantius: Klein (1977), v. a. 86–105; Brennecke (1988), 5–86; Diefenbach (2012) u. (2015). Rufin. hist. 10,2 zitiert eine entsprechende Adresse des Kaisers an die Bischöfe auf dem Konzil. Auch später noch ergaben sich Missverständnisse: So provozierte Kaiser Zenon 482 unbeabsichtigt ein Schisma, als er mittels eines kaiserlichen Edikts in die Kontroversen um die Rezeption des Konzils von Chalcedon eingriff und einen Kompromiss stiftete, den man in Rom für eine kaiserliche Kompetenzüberschreitung und damit für theologisch illegitim hielt. Hierzu: Kötter (2013), v. a. 61–68.

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Zeit eigene Erfahrungen mit diesem latenten Konflikt gemacht, der nicht zuletzt dem Wachstum der christlichen Gemeinden geschuldet war (gleichzeitig war es nicht zuletzt dieses Wachstum, das die Kaiser kirchenpolitisch überhaupt erst auf den Plan rufen sollte), im Zuge der nun meist reichs|kirchlich geregelten Streitfragen ergab sich hieraus nun aber fast notwendigerweise ein zusätzlicher und durchgehender Ballast.40 3.4. Kirche ohne Kaiser? Martins Enttäuschung über die Reichs|Kirche Während die Enttäuschung des Ambrosius also zwar dem Todesurteil gegen Priscillian galt, nicht aber der kaiserlichen Intervention in die Kontroverse um den spanischen Asketen an sich, griff die Enttäuschung Martins von Tours offenbar tiefer: Schaut man sich das Schriftgut des Sulpicius Severus an, der als Schüler des Martin durchaus die zeitgenössischen martinischen Diskurse gespiegelt haben dürfte, so erkennt man, dass sich der Bischof von Tours wohl ganz grundlegend die Frage gestellt hatte, ob die Kirche nicht ohne kaiserliche Interventionen besser fahren würde. So wirft Sulpicius in seiner Chronik nicht allein dem Häretiker Priscillian vor, den Kontakt zum Hof gesucht zu haben, sondern kritisiert auch die eigentlich orthodoxen Bischöfe Hydatius und Ithacius für ihr analoges Verhalten nach der Synode von Saragossa und im Vorfeld der Synode von Bordeaux: Sie seien so unklug gewesen, in der eigentlich kirchlichen Frage weltliche Richter herangezogen zu haben.41 Der innerkirchliche Instanzenzug hätte bis dahin ja funktioniert; zum Problem wurde die ganze Causa erst, als der Hof (bzw. die Höfe) mit der Durchsetzung der kirchlichen Entscheidung betraut worden waren.42 Spätestens als Ithacius und Hydatius sich als Ankläger vor einem dezidiert weltlichen Gericht betätigten (also nicht allein dabei geblieben waren, die rein kirchliche Schuld des Priscillian festzustellen), hatten sie die Ebenen von Reich und Kirche dann endgültig unbotmäßig vermischt.

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Zu den Wiedereingliederungsdebatten vgl. den Beitrag von Eva Baumkamp in diesem Band. Den Konflikt zwischen ‚Einheit‘ und ‚Reinheit‘ hat schon Georg Simmel erkannt (Simmel [1995/1906], 78–81), und tatsächlich lag die grundlegende Differenz der beiden Ebenen letztlich allen schismatischen Situationen der spätantiken Kirche zugrunde, vgl. hierzu einleitend Kötter (2019c), 857 f. Zur Kritik am Vorgehen der Antipriscillianer: Sulp. Sev. chron. 2,46,3; 2,47,2; 2,49,3; 2,50,1 f. Vgl. Hattenhauer (2015), 406 f., der darauf hinweist, dass Martin damit auf jegliche über die Exkommunikation hinausgehende Sanktion des kirchlichen Urteils verzichtete. Seine Überzeugung beruhte teilweise natürlich auf dem kontingenten Umstand, dass die erste kirchlich-synodale Befassung mit dem Fall seiner kirchenpolitischen Position entsprach. Insofern taugte seine Haltung ‚realpolitisch‘ auch kaum zur Verallgemeinerung, was der Grund dafür sein mag, dass sich die Mehrheit der Kirchenvertreter schlussendlich nicht dazu bereitfand, auf die kaiserlichen Durchsetzungsmöglichkeiten zu verzichten. Auf Inkonsistenzen der martinischen Position weist auch Girardet (1974), 595 hin.

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Angesichts einer geradezu polemischen Darstellung der zentralen antipriscillianischen Bischöfe bei Sulpicius43 mag ihr persönliches Fehlverhalten sogar erwartbar gewesen sein. Beide erscheinen immerhin als grundlegend weltlich korrumpiert, ganz im Gegensatz zu Martin selbst: In einer Szene, die Sulpicius beim Empfang Martins durch Maximus in Trier ansiedelt, zeichnet sich Martin dadurch aus, dass er dem Kaiser ausdrücklich keine höhere Ehre erweist als seinen ihn begleitenden Priestern – im Gegensatz zu allen anderen Bischöfen, die sich am Hof kaum noch von zivilen Hofschranzen unterschieden hätten und damit letztlich aus ihrer bischöflichen Rolle gefallen wären.44 Genau dieses Verhalten der ‚Weltkleriker‘ war einer der Gründe, mit denen auch Martins wiederholtes Fernbleiben vom Hof – trotz mehrfacher Einladungen durch Maximus – erklärt wird. Offenkundig wollte Martin sich nicht dem Risiko einer Kontaktschuld aussetzen, bis kirchenpolitische Umstände, also das drohende Todesurteil gegen Priscillian, dies schlussendlich doch notwendig machten. In dieser Situation achtete der Bischof von Tours dann aber ganz bewusst und ganz ausdrücklich auf die Trennung der Ebenen von Kirche und Reich. Während Ambrosius also ‚lediglich‘ das Todesurteil von Trier nicht erwartet hatte (oder: nicht hatte erwarten wollen), war dieses Urteil in den Augen von Martin ein Zeichen für das viel tiefer liegende Problem der Vermischung von Reich und Kirche, die in seinen Augen die Reinheit der kirchlichen Entwicklung bedrohte, wie sich am Lebenswandel der von ihm kritisierten ‚Weltkleriker‘ ablesen ließ. Diese hatten in Trier nun endgültig eine rote Linie überschritten, hier lag die normative Enttäuschung des Martin und seine Reaktion, die Lösung der Gemeinschaft, begründet. Der Grund für diesen Unterschied zwischen Ambrosius und Martin liegt natürlich nicht zuletzt im monastischen Profil des Bischofs von Tours, mit dem er sich von Ambrosius (und in erster Linie natürlich von Ithacius) unterschied, gar nicht aber so sehr von Priscillian.45 Dieser hatte sich die initiale Feindschaft seiner spanischen Gegner nicht zuletzt durch seine performative Kritik am üppigen Lebensstil der Weltkleriker verdient, ein Diskurs, den auch Martin bediente, erscheinen Ithacius und Hydatius bei ihm doch ebenfalls in sehr negativem Licht. Dass Martin selbst in Verdacht geriet, mit Priscillian zu sympathisieren, ist vor diesem Hintergrund nur allzu nachvoll-

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Vgl. v. a. die Charakterisierung des Ithacius in Sulp. Sev. chron. 2,50,1: […] certe Ithacium nihil pensi, nihil sancti habuisse definio: fuit enim audax, loquax, impudens, sumptuosus, uentri et gulae plurimum impertiens. Zur Charakterisierung des Hydatius vgl. die Darstellung seiner ambitio in chron. 2,51,3. Sulp. Sev. Mart. 20,1–5. Die Szene schildert die Teilnahme Martins am Empfang des Maximus, bei dem er demonstrativ die höfische Etikette missachtete. Hierzu Hattenhauer (2015), 413–415. Vgl. zur Kritik am Verhalten der anderen Bischöfe am Hof auch Sulp. Sev. dial. 3,11–13. Martins Rolle als Bischof tritt in der Vita Martini gegenüber der Rolle als Mönch jedenfalls deutlich in den Hintergrund, vgl. ausdrücklich Sulp. Sev. Mart. 10. Ambrosius hingegen war durch und durch Bischof. Vgl. zum Bild des martinischen Mönchbischofs auch Diefenbach (2013), 102–108.

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ziehbar.46 In der Tat wird ein weiteres Eingreifen Martins zugunsten der Priscillianer (nach den vollzogenen Todesurteilen) in den Dialogi des Sulpicius Severus damit motiviert, dass der Bischof von Tours Sorge um das Schicksal nicht-priscillianischer Asketen in Spanien gehabt hätte, da er den staatlichen Behörden dort kaum zutraute, zwischen guten und schlechten Weltentsagern zu unterscheiden, und sich auch der dezidierte Weltkleriker Ithacius offenbar recht unterschiedslos gegen beide gewandt hatte.47 Begreift man die Askese Priscillians (und Martins) also als Reaktion auf den Lebenswandel hoher Kleriker, so lag hierin eine Ebene reichs|kirchlicher Enttäuschung, immerhin ließ sich die Korrumpierung und die Willfährigkeit eines Großteils des Episkopats gegenüber Kaiser und hohen Beamten, für die Ithacius und Hydatius bei Priscillian und Martin stellvertretend stehen, als Folge der neuen reichs|kirchlichen Verhältnisse begreifen. Es ging beiden um eine Wahrung der kirchlichen ‚Reinheit‘ gegenüber dem politisch relativierenden Postulat einer letztlich externer Beeinflussung unterworfenen ‚Einheit‘. Dass die Asketen in diesem strukturellen Grundkonflikt kirchenpolitisch auf unterschiedlichen Seiten standen, war dabei dem letztlich kontingenten Umstand geschuldet, dass Martin in seinem Bestreben, die rein kirchliche Häresieabwehr von staatlichen Eingriffen freizuhalten, sich einem einmal gefällten Urteil meinte anschließen zu müssen, das von so hochrangigen Bischöfen wie Damasus von Rom und Ambrosius von Mailand bestätigt worden war – ob Martin bei alldem dogmatische Vorbehalte gegenüber Priscillian hatte, ist fraglich, ging es diesem doch ohnehin weniger um Glaubenssätze als um Fragen der Glaubenspraxis.48 In dieser Perspektive fußte Martins Enttäuschung letztlich gar nicht auf dem Todesurteil per se, dieses hatte sich Priscillian selbst zuzuschreiben, immerhin war er es, der den Fall aus rein kirchlichen Kontexten herausgehoben hatte; die Enttäuschung galt dem Verhalten der Kirchenvertreter (auf beiden Seiten), die den Konflikt vor dem Kaiser überhaupt hatten dermaßen eskalieren lassen, dass es schlussendlich zum Trierer Urteil hatte kommen können.

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Sulp. Sev. chron. 2,50,1; dial. 3,12,1 f. Verschiedentliche Invektiven Priscillians gegen hochgestellte Kleriker in Spanien hätten insofern tatsächlich auch von Martin stammen können. Es lässt sich bereits hier eine Linie zum späteren ‚Semipriscillianismus‘ ziehen, der in der Chronik des Hydatius von Aquae Flaviae immer wieder durchscheint: Hyd. chron. 31 u. 135; vgl. auch chron. 102 mit Kötter (2019b), 270 f. Dass asketische Ideale im gallischen Klerus durchaus Anklang finden konnten, zeigt die sog. ‚Semipelagianische Kontroverse‘, zu dieser zusammenfassend: Hwang et al. (2014); Bonner (2018). Vgl. Sulp. Sev. dial. 3,11,5. Vgl. noch einmal die in Anm. 1 aufgeführten Titel zur Lehre des Priscillian. Das Mönchtum hatte grosso modo die Neigung, allzu differenzierte Theologoumena skeptisch zu betrachten und die spekulative Theologie zugunsten der Reinheit der individuellen Glaubenspraxis zu relativieren.

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4. Zusammenfassung und Ausblick Es ist deutlich geworden, dass die Enttäuschung sowohl bei Martin als auch bei Ambrosius auf die Reichs|Kirche bezogen war. Hinsichtlich des rein kirchlichen Protokolls der Häresieabwehr hatten sich die Beteiligten des Priscillian-Prozesses allesamt korrekt verhalten; es war erst das in der folgenden kaiserlich-kirchlichen Kooperation gefällte Todesurteil, das Ambrosius und Martin nicht erwartet hatten bzw. nicht hatten erwarten wollen. Ihre Enttäuschung speiste sich dabei aber aus unterschiedlichen Quellen und war hinsichtlich der neuen kirchenpolitischen Kontexte, die die Reichs|Kirche seit gut siebzig Jahren geschaffen hatte, dementsprechend auch unterschiedlich prinzipiell: Von Ambrosius, als Residenzbischof in Mailand selbst dem Typus ‚Weltkleriker‘ zugehörig, wurde die reichs|kirchliche Kooperationsbereitschaft der Kirche niemals grundsätzlich kritisiert; die am Priscillian-Prozess Beteiligten waren aber schlichtweg zu weit gegangen, als sie durch ein staatliches Urteil die Möglichkeit einer heilsgeschichtlich gewirkten Revision möglicher Fehlurteile abgeschnitten hatten. Ambrosius hatte aus gutem Grund Sorge, dass dieses Beispiel Schule machen könnte. Die Enttäuschungsabwicklung, der Abbruch der communio, verblieb dabei ausschließlich auf kirchlicher Ebene, weil er dem Kaiser schlecht vorwerfen konnte, überhaupt aktiv geworden zu sein, immerhin war Maximus von kirchlichen Amtsträgern zum Eingreifen ermuntert worden und Ambrosius selbst durchaus bereit, kaiserliche Sanktionspotentiale zu nutzen, nur eben mit größerem Augenmaß als seine Kollegen in Trier. Für den ‚Mönchsbischof ‘ Martin von Tours war der Priscillian-Prozess, mit den bischöflichen Anklägern vor dem staatlichen Gericht, hingegen ein Symptom für eine generell als ungünstig erachtete Annäherung von Kirchenvertretern an staatliche Instanzen, die die innere Reinheit der christlichen Gemeinschaft und ihrer episkopalen Vertreter bedrohte. Das Todesurteil gegen Priscillian war in dieser grundsätzlichen Distanz zur Reichs|Kirche letztlich kaum mehr als der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Martins Kritik traf, ausweislich des Sulpicius Severus, daher auch nicht nur den verurteilten Häretiker, sondern in mindestens gleichem Maße seine Ankläger, die sich in Verhalten und Auftreten kaum noch von kaiserlichen Beamten unterschieden. Die Kritik traf aber eben nicht Kaiser Maximus, zumindest blieb Martins Enttäuschungsreaktion ausschließlich auf der kirchlichen Ebene: Wie Ambrosius verweigerte Martin denjenigen Bischöfen, die er für das Todesurteil von Trier – und damit für die in seinen Augen viel zu weit gehende Andienung kirchlicher Amtsträger an zivile Prozesse – verantwortlich machte, die Gemeinschaft. Dass diese rein innerkirchliche Sanktion nicht auch den Kaiser traf, der immerhin sein Wort Martin gegenüber gebrochen hatte, gründete dabei nicht allein in der Trägheit etablierter Verfahren (der Abbruch der communio war erprobt, weshalb man spontan auf ihn zurückgriff), sondern hatte eine innere Logik: Gerade Martin konnte auf Basis seines Missbehagens gegenüber der Reichs|Kirche kaum daran gelegen sein, den Kaiser zu sanktionieren, weil das letztlich bedeutet hätte, die problematische Abgrenzung von

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Reich und Kirche zu explizieren und damit einen Schritt auf dem Weg zur Schaffung einer wirklichen (also institutionalisierten) Reichskirche zu gehen, die mitnichten in seinem Interesse lag.49 Während Ambrosius und Martin im Angesicht des Trierer Todesurteils also beide enttäuscht waren und beide ihrer Enttäuschung auch auf die gleiche Art und Weise Ausdruck verschafften, waren die Gründe für ihre jeweilige Enttäuschung – auch wenn sie beide die Reichs|Kirche betrafen – unterschiedlich grundsätzlich. Ironischerweise führten beide Gründe aber dazu, dass das Problem, das sich in Trier gezeigt hatte, jeweils als rein innerkirchliches behandelt wurde, auch wenn es das in beiden Fällen mitnichten war. Das Felicianische Schisma, das infolge der reichs|kirchlich verhandelten Priscillian-Kontroverse als schisma purum unter den Gegnern des spanischen Asketen ausbrach, als solches aber allein die Ebene der Kirche berührte, steht damit sinnbildlich für einen strukturellen Mangel der spätantiken Kirche: Niemals wurde der Versuch unternommen, das Verhältnis der Kirche zum Reich theoretisch klar zu bestimmen,50 entweder, weil einzelne Akteure kein Interesse an einer klaren Regelung hatten, sondern sich die flexiblen Möglichkeiten des ungeregelten Verhältnisses erhalten wollten, oder aber, weil sie per se nicht an einer Verbindung beider Seiten interessiert waren. So war es auch 385: Mit Abbruch der communio zwischen den beiden schismatischen Gruppen war im Moment der manifesten Enttäuschung über das Vorgehen von Trier sowohl die Notwendigkeit als auch die Möglichkeit entfallen, sich über die deutlich gewordenen Streitpunkte zu verständigen – und wie wir gesehen haben, hätten hierbei nicht einmal Martin und Ambrosius ähnliche Positionen vertreten. So baute schließlich auch das Ende des Felicianischen Schismas nicht auf einer inhaltlichen Verständigung auf, sondern einfach darauf, dass die felicianischen Bischöfe das vorgebliche Skandalon, nämlich Bischof Felix, fallen ließen.51 Der eigentliche Stein des Anstoßes war damit freilich keineswegs aus dem Weg geräumt worden und bot auch in der Folge immer wieder Anlass für Enttäuschungen auf der kirchlichen Seite.

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Allerdings hatten auch das Kaisertum selbst und die ‚Weltkleriker‘ hieran kein größeres Interesse, weil die eher ungeregelte Kooperation beiden Seiten eine gewisse Flexibilität in der situativen Ausgestaltung ihrer Verhältnisse bewahrte. Es gab vielmehr ein situatives Schwanken, für das Hilarius von Poitiers in seiner Verbannung unter Constantius  II. ein Beispiel liefert: Während er zunächst in einer lobenden Schrift um die Unterstützung des Kaisers warb, richtete er sich nur wenig später in einer Schmähschrift gegen den vorgeblichen Verfolger. Vgl. hierzu Barry (2016), v. a. 164–174; Wickman (2017). Vgl. Stancliffe (1983), 283 f.: Nachdem die Antifelicianer auf dem Konzil von Turin 398 (Anm. 18; Martin und Ambrosius waren im Vorjahr gestorben) ihre Bereitschaft zur Wiederaufnahme ihrer Gegner bei einer Lossagung von Felix erklärt hatten, dankte dieser wohl ab.

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Enttäuschte Eliten Das Scheitern des Kaisers Anthemius als historische Zäsur* Henning Börm Sed ut acerbum est, pro benefactis quom malis messem metas! Plautus, Epidicus 5,2,52

Im Frühjahr 475 schrieb Gaius Sidonius Apollinaris einen – wenn man der überlieferten Fassung glauben darf – ungewöhnlich direkten Brief an seinen Kollegen Graecus, den Bischof von Marseille,1 und stellte diesem einige wütende Fragen: Ist das etwa unser gerechter Lohn dafür, dass wir Hunger, Pestilenz, Feuer und Schwert erduldet haben, Schwerter, die sich am Blut sattfraßen, und Krieger, die abgemagert und ausgehungert waren? Erlitten wir es im Namen dieses vielgerühmten Friedensvertrages, das Unkraut aus den Mauerritzen zu reißen, um uns davon zu ernähren, sodass wir in unserer Unkenntnis häufig von schädlichen Kräutern vergiftet wurden, die eine hungernde Hand gepflückt hatte, weil sie grün waren? Ist es also der Lohn für unsere zahllosen sichtbaren Treuebeweise, dass man uns nun, wie ich höre, einfach über die Klinge springen lässt?2

Die Enttäuschung, die aus diesen Zeilen spricht, ist mit Händen zu greifen. Was war geschehen? Sidonius, der der gallorömischen Senatsaristokratie3 entstammte und höchste Ämter im Weströmischen Reich bekleidet hatte, war inzwischen Bischof von Clermont geworden; aber das bedeutete natürlich nicht, dass er seine Aufmerksam-

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3

Ich danke Maria Osmers und Jan-Markus Kötter für Anregungen und konstruktive Kritik. Vgl. van Waarden (2010), 262. Graecus war der Adressat mehrerer Briefe des Sidonius. Sidon. epist. 7,7,3: Hoccine meruerunt inopia flamma, ferrum pestilentia, pingues caedibus gladii et macri ieiuniis proeliatores? propter huius tam inclitae pacis expectationem avulsas muralibus rimis herbas in cibum traximus, crebro per ignorantiam venenatis graminibus infecti, quae indiscretis foliis sucisque viridantia saepe manus fame concolor legit? pro his tot tantisque devotionis experimentis nostri, quantum audio, facta iactura est? Vgl. zur spätantiken Senatsaristokratie insgesamt Jones (1964), 523–562; Näf (1995); Schlinkert (1996); Rebenich (2008).

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Henning Börm

keit nur noch auf geistliche Fragen gelenkt hätte.4 Im Herbst 468 hatte der westgotische Kriegerverband unter dem rex Eurich das foedus mit Rom aufgekündigt und war zu einer brutalen Expansionspolitik übergegangen.5 Bald waren Clermont und die ganze heutige Auvergne mit Krieg überzogen worden, aber die Einwohner hatten, wie Sidonius bezeugt, offenbar tapfer Widerstand geleistet und gehofft, die Zentralregierung in Ravenna werde Hilfe schicken.6 474 ernannte der neue Kaiser Julius Nepos tatsächlich Ecdicius, den Schwager des Sidonius, zum magister militum per Gallias,7 doch hatte man nicht mehr die Mittel, den General auch mit nennenswerten Truppen auszustatten. Ecdicius, ein Sohn des einstigen Kaisers Eparchius Avitus, der dessen Sturz im Jahr 456 vermutlich dank der Verwurzelung seiner Familie in Gallien überlebt hatte, musste sich mit lokalen Milizen behelfen und konnte allenfalls hinhaltenden Widerstand leisten. Und so schloss der Kaiser schließlich einen neuen Vertrag mit den gotischen Kriegern, an dessen Aushandlung der eingangs adressierte Bischof Graecus prominent beteiligt war und der Sidonius fassungslos machte. Faktisch bedeutete dieses neue foedus nämlich, dass die Reichsregierung in Ravenna, die zwei Jahre zuvor mühsam eine gotische Invasion Italiens abgewehrt hatte,8 Gallien kampflos Eurich und seinen Kriegern auslieferte. Unabhängig davon, ob es angesichts der Kräfteverhältnisse überhaupt eine realistische Alternative gegeben hätte, setzte dieser Friedensschluss den Schlussakkord in Moll unter das verzweifelte Ringen vieler Gallorömer, im Zuge der Desintegration des westlichen Reichsteils nicht unter die Herrschaft barbarischer Krieger zu geraten.9 Die Enttäuschung und Verbitterung waren so groß wie die Verzweiflung.10 In den folgenden drei Jahrhunderten sollte kein Kaiser mehr über das Gebiet zwischen Rhein und Pyrenäen herrschen.

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Die Forschungsliteratur zu Sidonius ist mittlerweile sehr umfangreich; verwiesen sei hier neben der noch immer grundlegenden Studie von Harries (1994) auf Overwien (2009), Montone (2015) und Hanaghan (2019). Eine knappe Skizze bietet Hess (2019), 30–37. Mratschek (2020) und Kulikowski (2020) beleuchten den sozialen und politischen Kontext. Erhellend sind daneben die Überlegungen bei Meurer (2019), 164–253. Zu Eurich, der erst 466 das regnum übernommen hatte, nachdem er seinen Bruder getötet hatte, Claude (1994). Vgl. hierzu allerdings die Überlegungen bei Delaplace (2012). PLRE 2:383 f. Chron. Gall. a. 511, 653: Vincentius vero ab Eurico rege quasi magister militum missus ab Alla et Sindila comitibus Italia occiditur. Drinkwater (2013). Vgl. zu den Problemen bei der Rekonstruktion dieser Transformationsprozesse die Skizze bei Meier (2019), 573–579. Sidonius selbst wurde von Eurich für zwei Jahre ins Exil geschickt; vgl. Harries (1994), 238–242.

Das Scheitern des Kaisers Anthemius als historische Zäsur

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1. Enttäuschte Hoffnungen: Anthemius Dieser letzten enttäuschten Hoffnung, die speziell die traditionellen Eliten in Südgal­ lien betraf, war freilich einige Jahre zuvor eine noch größere Desillusionierung vorangegangen, die man als die notwendige Voraussetzung der Ereignisse um 475 betrachten kann, und diese soll im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen: die Entsendung des Flavius Procopius Anthemius als neuen Augustus des Westens im Jahr 467, die gewaltigen Erwartungen, die er weckte, und die Folgen seines Scheiterns.11 Rom hatte in Verlauf seiner langen Geschichte viele schwere Niederlagen erlitten; doch der gescheiterte Angriff auf das afrikanische Vandalenreich, den Anthemius und sein oströmischer Kollege Leo im Jahr 468 befahlen,12 erwies sich rasch als eine historische Zäsur. Welche Rolle spielt dieses Ereignis, um zu verstehen, wieso nur sieben Jahre später die römische Herrschaft über Gallien erlosch und 476 auch das nunmehr obsolete westliche Kaisertum an ein Ende gelangte? Die Westhälfte des Imperium Romanum war bereits seit dem gewaltsamen Ende der männlichen Linie der theodosianischen Dynastie im Jahr 455 nicht mehr zur Ruhe gekommen.13 In den folgenden zwölf Jahren hatten vier Kaiser in Italien ihr Glück versucht, und mindestens drei von diesen fanden ein gewaltsames Ende.14 Mit einem von ihnen, dem bereits erwähnten Avitus,15 war unser Gewährsmann Sidonius persönlich verbunden gewesen, denn er war ihm als sein Schwiegersohn nach Rom gefolgt und hatte einen Panegyricus auf den neuen Augustus gehalten.16 Aber die internen Konflikte im Reich ließen sich nicht einhegen, und ein wesentlicher Grund hierfür waren mächtige Militärs wie der magister militum Flavius Ricimer, der seit 456 zum eigentlichen Machthaber aufgestiegen war.17 Der zweite Grund, wieso eine Stabilisierung nicht gelang, war die fehlende Kontrolle der Zentralregierung über Nordafrika, das sich seit 439 fest in der Hand des vandalisch-alanischen Kriegerverbandes befand, der von Geiserich geführt wurde.18 Dieser konnte nicht nur mit seiner Flotte innerhalb

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Vgl. zu Anthemius einführend PLRE 2:96–98 sowie Henning (2006). Wichtige Beobachtungen verdanke ich daneben Roberto (2015). Vgl. zu den Ereignissen Heather (2005), 399–407; Steinacher (2016), 221–225. Ein gutes, aktuelles Narrativ bietet Kulikowski (2019), 214–230. Nützlich daneben McEvoy (2017), unverzichtbar Henning (1999). Vgl. Wickham (2009), 76–89; Lee (2013), 94–109; Fisher (2022), 564–578; Börm (2023). Vgl. Oppedisano (2013), 71–81; Green (2016). Sidon. carm. 7. Vgl. zu Sidonius als Panegyriker Watson (1998); zu seinem Verständnis kaiserlicher Legitimität Becker (2022), 62–68. Grundlegend zu Ricimer ist die gründlich dokumentierte Studie von Anders (2010), der alle zentralen Fragen diskutiert, auch wenn ich seinem Urteil nicht immer zustimme. Vgl. daneben MacGeorge (2002), 178–268. Eine konzise, einleitende Skizze zu Geiserich bietet Walter (2007).

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Henning Börm

von Tagen Italien erreichen, wie die Plünderung Roms 455 illustriert hatte,19 sondern kontrollierte überdies die Getreidelieferungen aus Nordafrika.20 Drittens, und damit zusammenhängend, fehlte der weströmischen Regierung seither der Zugriff auf die Steuereinnahmen aus dem noch immer reichen, gründlich urbanisierten Gebiet um Karthago.21 Folglich lag auf der Hand, dass eine Rückeroberung Nordafrikas den Schlüssel zu einer Restabilisierung der westlichen Reichshälfte darstellte. Kaiser Majorian hatte 460 persönlich eine Armee kommandiert, die die Straße von Gibraltar überqueren sollte; doch Geiserich hatte die dafür versammelte Flotte vernichtet,22 und Ricimer ließ den in seinen Augen nun offenbar nutzlosen Kaiser wenig später hinrichten.23 Dies wiederum hatte unter anderem den magister militum per Gallias, Aegidius, zum Abfall bewogen.24 In den folgenden Jahren muss Ricimer bewusst geworden sein, dass ein erneuter Angriff auf die Vandalen nur dann Erfolg versprach, wenn er von Konstantinopel unterstützt würde. Der Heermeister war offenbar bereit, sich zu diesem Zweck sogar mit einem Westkaiser zu arrangieren, der sich von ihm nicht ohne weiteres kontrollieren ließ.25 467 kam es schließlich zur Verständigung, und der östliche Augustus Leo (457 bis 474)26 erhob den Aristokraten Procopius Anthemius zum Caesar und schickte ihn mit starken Truppen nach Italien, wo er plangemäß zum Augustus ausgerufen wurde.27 Ricimer wurde der Schwiegersohn des neuen Kaisers, und sogleich machte man sich daran, einen von beiden Augusti gemeinsam verantworteten Feldzug gegen Geiserich zu planen. Hatten in den Jahrzehnten zuvor oft genug Konflikte und Rivalitäten zwischen den beiden Kaiserhöfen nicht unwesentlich zum inneren Chaos und zu den Erfolgen der Hunnen, Goten und Vandalen beigetragen,28 so demonstrierten Leo und Anthemius

19

Vgl. zur Plünderung Roms, die in den Kontext der innerrömischen Wirren nach der Ermordung Valentinians III. gehörte, Steinacher (2016), 196–205. Die Folgen für die Stadt Rom diskutiert Salzman (2021), 148–159. 20 Vgl. zur wichtigen Rolle, die die Getreidelieferungen für die Machtkämpfe im weströmischen Reichsteil spielten, Wijnendaele (2019). 21 Vgl. Halsall (2007), 93–96 (mit weiterer Literatur); Moorhead (2013) 54–65. 22 Vgl. MacGeorge (2002), 207 f.; Steinacher (2016): 214 f.; insb. Oppedisano (2013), 249–272. 23 Prisc. frg. 36,2 (Blockley). 24 Vgl. MacGeorge (2002), 82–110. 25 Unklar ist, ob Ricimer zu diesem Zweck bereits 465 Kaiser Libius Severus aus dem Weg räumen ließ, um eine Verständigung mit Konstantinopel zu ermöglichen. Vgl. hingegen Oost (1970), der aus dem Umstand, dass den Zeitgenossen die Annahme, Ricimer habe den Kaiser töten lassen, offenbar plausibel erschien, ableitet, Severus sei als Bedrohung der Machtstellung des magister militum et patricius wahrgenommen worden. 26 Vgl. Külzer (2008) und Crawford (2019), 41–56. 27 Cassiod. chron. 1283 (ad a. 467): Anthemius a Leone imp. ad Italiam mittitur, qui tertio ab urbe miliario in loco Brontotas suscepit imperium. Indem er Anthemius, der als Schwiegersohn Kaiser Marcians 457 als Kandidat für den oströmischen Thron im Gespräch gewesen war, nach Italien sandte, entledigte sich Leo überdies auf elegante Weise eines potentiellen Rivalen; vgl. Börm (2010), 165 f. 28 Vgl. Börm (2018), 42–104.

Das Scheitern des Kaisers Anthemius als historische Zäsur

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RIC X 2825: Solidus des Anthemius (Wikimedia Commons)

nun ostentativ Einigkeit,29 erließen gemeinsame Gesetze und setzten das Bild beider Herrscher auf Goldmünzen, die die Legende salvs rei pvblicae trugen.30 Die Hoffnungen, die sich mit diesen Vorgängen verbanden, lassen sich mit Händen greifen.31 Sogar in der Tarraconensis wurden nun nach einer Pause wieder Inschriften für den Kaiser gesetzt,32 und in der fernen Gallaecia notierte Hydatius in seiner Chronik: Der aus Konstantinopel vom Augustus Leo entsandte Anthemius […] erreichte zusammen mit Marcellinus und anderen Männern, die als Heerführer ausgewählt worden waren, und mit der gewaltigen Masse eines gut ausgerüsteten Heeres auf Gottes Anweisung hin Italien […]. Die Gesandten, die zum Kaiser geschickt worden waren, kehrten zurück und berichteten, dass in ihrer Anwesenheit ein überaus großes Heer unter drei ausgewählten Heerführern von Kaiser Leo aus gegen die Vandalen losgezogen ist. Gleichzeitig sei auch Marcellinus mit einer großen Armee, die ihm von Kaiser Anthemius zur Seite gestellt worden ist, entsandt worden.33

Auch Sidonius, dessen Hoffnungen in neue Kaiser bereits zweimal bitter enttäuscht worden waren, ließ sich augenscheinlich von der Euphorie anstecken. Er begab sich persönlich nach Rom, wo er einen Panegyricus auf den neuen Herrscher hielt,34 und

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34

Vgl. Roberto (2015), 180: „Fu organizzata una grande spedizione, che doveva rappresentare il segno concreto di una rinnovata concordia tra Oriente e Occidente, dopo alcuni anni di divisione.“ RIC X 2804 u. 2825. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Oppedisano (2017). CIL II 4109. Hydat. chron. 234 u. 247 (KFHist): De Constantinopoli a Leone Augusto Anthemius […] cum Marcellino aliisque comitibus viris electis et cum ingenti multitudine exercitus copiosi ad Italiam deo ordinante directus ascendit […] legati, qui ad imperatorem missi fuerant, redeunt nun tiantes sub praesentia sua magnum valde exercitum cum tribus ducibus lectis adversum Vandalos a Leone imperatore descendisse directo Marcellino pariter cum manu magna eidem per imperatorem Anthemium sociata. Vgl. hierzu zuletzt Montone (2015).

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Henning Börm

erreichte es auf diese Weise und durch die Fürsprache des einflussreichen stadtrömischen Senators Caecina Decius Basilius, im Januar 468 zum praefectus urbi aufzusteigen.35 Zwar lassen sich seinen Briefen gewisse Bedenken entnehmen, weil er den gewaltigen Aufwand, mit dem die Verschwägerung zwischen Ricimer und Anthemius gefeiert wurde, für die Verschwendung kostbarer Ressourcen hielt;36 doch zugleich ist offensichtlich, dass Sidonius überzeugt war, auf das richtige Pferd zu setzen. Nichts deutet darauf hin, er habe zu diesem Zeitpunkt vorausgeahnt, das weströmische Kaisertum könne nur acht Jahre später erlöschen – ganz im Gegenteil: Nach Jahren der Krise schien nun endlich der Wendepunkt erreicht; von nun an sollte es wieder bergauf gehen.37 Tatsächlich scheinen beide Kaiserhöfe versucht zu haben, diesmal nichts dem Zufall zu überlassen. Bereits seit 429 hatte man immer wieder mehr oder weniger halbherzig gegen Geiserich gekämpft,38 aber dieses Mal plante man eine Unternehmung in einer Dimension, die allenfalls mit einem großen Perserkrieg vergleichbar war. Laut Johannes Lydos investierte alleine Konstantinopel 4,7 Millionen solidi und 700.000 Pfund Silber,39 und auch wenn Prokops Angabe, es seien insgesamt 100.000 Soldaten mobilisiert worden, nicht über jeden Zweifel erhaben ist, scheint die Größenordnung nicht unrealistisch zu sein.40 Es gab zudem einen wohlüberlegten Feldzugsplan, der vorsah, die Vandalen an drei Fronten gleichzeitig anzugreifen, um ihre Kräfte zu zersplittern. Nach menschlichem Ermessen war die römische Überlegenheit derart erdrückend, dass ein Erfolg ausgemacht erscheinen musste; und dass eine Rückeroberung Nord­ afrikas militärisch in der Tat möglich war, sollte die weitere Geschichte erweisen. Nur tat sie das eben erst einige Jahrzehnte später.41 Im Frühjahr 468 hingegen endete der Angriff auf Geiserich in einer beispiellosen Katastrophe. Aus letztlich unklaren Grün-

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Vgl. Henning (1995), 152–156. Vgl. auch Oppedisano (2020). Sidon. epist. 1,5,10–11. Bewusst scheint Sidonius den bevorstehenden Kampf als einen ‚vierten Punischen Krieg‘ stilisiert zu haben, offenbar in der Hoffnung, er werde aus italischer Sicht so siegreich enden wie die ersten drei; vgl. Jiménez (2011). 38 So endete eine größere Flottenunternehmung, die Theodosius II. befohlen hatte, 441 ohne greifbare Ergebnisse, und 442 schloss Valentinian III. notgedrungen ein neues foedus mit den Vandalen: Steinacher (2016), 141–146. 39 Joh. Lyd. de Mag. 3,43. Ausgehend von der damals gängigen Relation zwischen Gold und Silber von 1 zu 14 gelangt man zu einer Gesamtsumme von etwa 8 Millionen solidi. Diese Größenordnung bestätigt Candidus (Suda X 245), demzufolge die beiden östlichen praefecti praetorio 47.000 Goldpfund beisteuerten, während der comes sacrarum largitionum 17.000 Goldpfund und 700.000  Pfund Silber aufbrachte; hinzu kamen noch – zweifellos weitaus geringere – Mittel aus dem westlichen Staatsschatz. 40 Prokops knappe, vermutlich direkt oder indirekt aus Priscus schöpfende Darstellung (vgl. auch Brodka [2014]) des gescheiterten Feldzugs (Procop. hist. 3,6,7–25) ist alles in allem die wohl verlässlichste Version. 41 Vgl. zur raschen Zerschlagung des vandalischen regnum unter Justinian im Jahr 533/4 Leppin (2011), 150–156; Steinacher (2016), 299–309; Heather (2018), 123–146.

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den ließ der zuständige Admiral Basiliscus,42 der den Hauptstoß gegen Karthago führen sollte, seine Flotte mehrere Tage vor der afrikanischen Küste ankern und bot den Vandalen damit die Möglichkeit zur Gegenoffensive.43 Geiserich setzte Brander ein, die kaiserliche Flotte wurde weitgehend vernichtet; die von dem comes rei militaris ­Heraclius von Ägypten herangeführte Landstreitmacht brach ihren Vormarsch daraufhin ab, und Marcellinus, der die weströmischen Truppen auf Sizilien kommandierte, wurde im August 468 unter unklaren Umständen ermordet.44 Der Schock und die Enttäuschung angesichts dieses so unerwarteten wie umfassenden Scheiterns müssen gewaltig gewesen sein. Prokop lässt sich entnehmen, dass im Rahmen der nun erforderlichen Kontingenzbewältigung zumindest im Osten ein Verratsnarrativ entstanden zu sein scheint, das Basiliscus als Schuldigen identifizierte.45 Mutmaßlich bot sich dieser als Sündenbock besonders an, nachdem er 475 in Konstantinopel einen Usurpationsversuch unternommen hatte.46 Auch der magister militum praesentalis Flavius Aspar,47 der am östlichen Hof eine beinahe so starke Position innehatte, wie sie Ricimer in Italien genoss,48 wurde des Hochverrats verdächtigt. Hydatius wiederum, den bereits vor der Attacke falsche Gerüchte über eine Entmachtung Aspars erreicht hatten,49 geht auf den Ausgang der Expedition, deren Beginn er so hoffnungsvoll schildert, mit keinem Wort ein; es ist vielleicht kein Zufall, dass seine Chronik wenige Sätze später einfach abbricht. Auch Sidonius scheint es zunächst die Sprache verschlagen zu haben. Doch wenn man sich die Ereignisse, die sich anschlossen, vor Augen führt, ergibt sich ein recht klares Bild der Folgen dieser Enttäuschung: Das Jahr 468 markierte einen point of no return.50 Offensichtlich verloren sowohl jene, die auf eine erneute Stabilisierung der kaiserlichen Herrschaft gehofft hatten, als auch jene, die einen römischen Sieg eher gefürchtet als herbeigesehnt haben dürften, den Glauben daran, dass

42 PLRE 2:212–214. 43 Vgl. Crawford (2019), 65–71; Bleeker (2022), 148–155. 44 Mutmaßlich war Ricimer für den Mord an Marcellinus verantwortlich, doch schweigen die Quellen hierzu; vgl. Kulikowski (2002), 188 f. 45 Vgl. Crawford (2019), 71–74. 46 Vgl. zur zeitweilig erfolgreichen Usurpation des Basiliscus, die im Sommer 476 scheiterte, Crawford (2019), 109–124. Zum religionshistorischen Kontext vgl. Redies (1997). 47 Vgl. zu Aspars Aufstieg unter Leo Croke (2005), 157–163. Allgemein zu Aspar vgl. Bleeker (2022), der allerdings fast nur englischsprachige Forschungsliteratur zur Kenntnis nimmt. 48 Vgl. zur Rolle der Heermeister in Ost und West insbesondere Kuhoff (2012); Poguntke (2016); Stickler (2016). 49 Hydat. chron. 241 (KFHist): Asperem degradatum ad privatam vitam, filium eius occisum, adversum Romanum Imperium, sicut indicati detectique sunt, Vandalis consulentes. 50 Prägnant Meier (2019), 477: „Es fehlt nicht an Stimmen, die mit dem Jahr 468 das Schicksal des Weströmischen Reiches besiegelt sehen. Allenthalben zeichnet sich jetzt ab, dass auch das letzte Vertrauen, das man in die ravennatische Regierung gesetzt hatte, mit diesem finalen Fehlschlag gegen die Vandalen verspielt war.“

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das Steuer noch einmal herumgerissen werden könnte.51 Wenn beide Kaiser vereint und unter Einsatz sämtlicher Mittel auch des wohlhabenden Ostens gescheitert waren, dann konnte es mit der römischen Macht nicht mehr allzu weit her sein.52 Der westgotische rex Eurich scheint als einer der ersten zu diesem Schluss gelangt zu sein, brach, wie erwähnt, das foedus, das seine Krieger bislang an Rom gebunden hatte (rupto dissolutoque foedere antiquo),53 und begann mit der systematischen Ausweitung seines Machtbereichs, die 475 in die eingangs geschilderte Aufgabe Galliens durch den Kaiser münden sollte.54 469 entsandte Anthemius ein letztes Aufgebot unter seinem eigenen Sohn, um die Goten aufzuhalten; aber die kaiserlichen Truppen wurden in einer Entscheidungsschlacht vernichtet,55 und kurz darauf bemerkte Sidonius in einem Brief beiläufig, er habe gehört, Anthemius habe kein Geld mehr – eine bittere Aussage über einen römischen Augustus.56 2. Imperium und lokale Eliten Während die Feinde der weströmischen Regierung triumphierten, mussten jene, die auf eine Konsolidierung gehofft hatten, versuchen, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren; und auch hier bietet sich Sidonius als Gewährsmann an. Über Jahrhunderte war es der Dienst für den Kaiser gewesen, der gallorömischen Aristokraten wie ihm Prestige und Ehre versprochen hatte.57 Dabei war es nicht unbedingt darum gegangen, ein bestimmtes Amt innezuhaben, sondern fast noch wichtiger war es, überhaupt eines bekleidet zu haben. Nicht nur Sidonius bezeugt, wie sehr der Dienst für das Imperium, den er selbst bemerkenswerterweise als dignitas hereditaria auffasste,58 zumindest bis 468 noch immer als zentrale Quelle für reichsweit wirksames Ansehen und Ressourcen galt.59 Jeroen Wijnendaele und Michael Hanaghan haben unlängst

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58 59

Vgl. Elton (2018), 215 f. Nun scheint es auch zu einem Konflikt zwischen dem Kaiser und dem römischen Bischof gekommen zu sein; vgl. O’Flynn (1991), 127 f. Sidon. epist. 7,6,4. Vgl. Meier (2019), 580–584. Chron. Gall. a. 511, 649. Zum Ende des weströmischen Heeres vgl. Liebeschuetz (1993). Sidon. epist. 2,1,4. Vgl. Rebenich (2008), 157 f.: „Wiewohl ein cursus honorum fortbestand, wurden Rang und Stand eines Senators nicht mehr primär über die Mitgliedschaft im Senat und durch die Bekleidung eines bestimmten Amtes definiert, sondern vielmehr durch den Dienst für den Kaiser. Dieser Dienst begründete oder bestätigte den senatorischen Rang einer Person.“ Zwar ist zu konstatieren, dass dieses System im Gallien des 5. Jahrhunderts langsam erodierte, doch meines Erachtens blieb die Vergabe von comitiva für jene, die reichsweit etwas gelten wollten, nach wie vor von großer Bedeutung. Zum senatorischen cursus zur Zeit des Sidonius vgl. Styka (2011). Sidon. epist. 1,3,1. Exemplarisch für die Ansicht, nur Reichsdienst zähle wirklich, ist Sidon. epist. 1,6.

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plausibel machen können,60 dass das Epitaph für einen ansonsten unbekannten Con­ stantius aus den 460er Jahren stammen dürfte, in dem es heißt: Hier liegt die Zierde Italiens, der Held (heros) Constantius, begraben, welcher der Schild seines Vaterlandes war, seine Mauer und seine Waffen […]. Ausgeglichenen Sinnes, stark in der Schlacht, züchtig, tugendhaft, herausragend als Mann und im Kampf, wurde er von den Römern ebenso geliebt, wie er von den pannonischen Horden gefürchtet wurde. Ehren (honores) erwarb er für sich selbst und seine Söhne, und abgeschlagene Köpfe brachte er den Kaisern (principibus) als Gabe dar.61

Naturgemäß stieg angesichts der unruhigen, von Bürgerkriegen und äußeren Angriffen geprägten Zeiten die Bedeutung von Männern, die wie Constantius in der militia armata dienten;62 aber die Gratulationsschreiben, die Sidonius an jene Freunde richtete, die zivile Posten bekleiden durften, belegen ebenso wie sein eigenes Streben, dass auch in diesem Bereich noch Prestige zu gewinnen war.63 Dieses Engagement für den Kaiser hatte zwei wesentliche Voraussetzungen: Zum einen musste gesichert erscheinen, dass allgemeiner Konsens darüber bestand, Leistungen, die nicht für die lokale Gemeinschaft, sondern im Dienst des Imperiums erbracht wurden, seien besonders ehrenvoll und anerkennenswert; sie seien eine einem Aristokraten angemessene Form von negotium.64 Zum anderen musste man sich darauf verlassen können, dass die dem Imperium erbrachten Dienste auch in angemessener Weise belohnt werden würden. Genau hier müssen bereits seit 455 angesichts der instabilen Lage in Italien erste Zweifel aufgekommen sein; Sidonius selbst hatte erlebt, wie sein Engagement für Avitus angesichts dessen Niederlage im Bürgerkrieg von 456 nicht nur keinen Ertrag eingebracht hatte, sondern sogar mit großer Gefahr verbunden war, weil man befürchten musste, vom Sieger bestraft zu werden.65 Aber erst nach dem Scheitern des Anthemius wurden diese Bedenken immer grundsätzlicher. In einem Brief an seinen Freund, den vir illustris Eucherius,66 beklagt Sidonius, es sei offensichtlich, dass die res publica diesem die verdiente Anerkennung für seine überragenden Leistungen schuldig geblieben sei: facile clarescit rem publicam morari beneficia vos me-

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Vgl. Hanaghan / Wijnendaele (2021). ILCV 66: Hic decus Italiae tegitur, Constantius heros qui patriae tegumen, murus et arma fuit […] Romanis blando quantum flagravit amore tantum Pannoniis gentibus horror erat. Iste sibi et natis bello mercavit honores, munera principibus colla secata dedit. Sidonius spricht zuletzt von einer praerogativa partis armatae: Sidon. epist. 1,9,2. Wichtige, quellennahe Beobachtungen bietet noch immer Demandt (1980). Vgl. auch Croke (2015). Einschränkend Rebenich (2008), 160: „Den senatorischen Adligen genügte jetzt häufig die Bekleidung eines oder weniger prestigeträchtiger Ämter, um den Rang eines illustris zu erlangen. Danach verlagerten sie als honorati ihr Engagement in die Provinzen.“ Vgl. Meurer (2019), 248–253. Grundlegend zu den Vorgängen ist Mathisen (1979). PLRE 2:406.

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reri.67 Und in einem Schreiben an seine Gattin Papianilla versucht er, sich selbst einzureden, die Dinge könnten sich in dieser Beziehung nun wieder ändern: Der neue Kaiser Julius Nepos habe die Beförderung, die sein Vorvorgänger Anthemius Papianillas Bruder in Aussicht gestellt habe, endlich vorgenommen, sodass dessen eifriger Dienst jetzt doch belohnt werde.68 Gerade der Umstand, dass Sidonius bejubelt, damit habe der Kaiser gezeigt, dass die Zusagen eines princeps doch noch etwas wert seien, illustriert die Verunsicherung, die die raschen Herrscherwechsel und die schwindenden Mittel der Zentralregierung in diesem Zusammenhang erzeugt haben müssen. Fraglos war es hier vermehrt zu Kränkungen und Enttäuschungen gekommen, die Zweifel daran nährten, ob es sich überhaupt noch auszahlte, sich in den Dienst des Imperiums zu stellen. Spätestens mit dem eingangs beschriebenen foedus zwischen Julius Nepos und Eurich waren dann, wie wir gesehen haben, die letzten Hoffnungen zerstoben. Nun war der Widerstand, der längst Züge eines verzweifelten, asymmetrischen Guerillakrieges angenommen hatte,69 endgültig sinnlos geworden; der Einsatz für den Kaiser war umsonst gewesen. Bei Sidonius äußerten sich Fassungslosigkeit und Enttäuschung in hilfloser Wut. Allerdings hatte er bereits zuvor für sich persönlich Konsequenzen aus dem Scheitern des Anthemius gezogen, indem er die Karriere im Reichsdienst aufgab und sich stattdessen zum Bischof weihen ließ.70 Und damit gelangt man zu der Frage nach den Effekten der Enttäuschung, die die Katastrophe der Vandalenexpedition bedeutet hatte. Immer mehr Menschen müssen in Gallien zu einem Schluss gelangt sein, den lokale Eliten andernorts bereits ein bis zwei Generationen früher gezogen zu haben scheinen: Das Imperium Romanum hatte seinen Sinn eingebüßt. Weder war der west­ römische Kaiser noch in der Lage, für den inneren Frieden, die pax Augusta, zu sorgen,71 noch war es ihm insgesamt möglich, als Quelle von materiellen und immateriellen Belohnungen und Schutz zu dienen; je weiter man von Italien entfernt war, umso weniger. Offenbar hatte man den Eindruck, man begegne dem Imperium im Grunde fast nur noch in Gestalt von Steuereintreibern und plündernden Soldaten, wie es Salvian von Marseille für Nordgallien bereits um 450 in überspitzter Form beklagt hatte.72

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Sidon. epist. 3,8,2. Eucherius wurde etwas später auf Betreiben seines römischen inimicus Victorius (PLRE 2:1162–1164), der unter den neuen Herren seinerseits zum comes et dux Aquitaniae primae aufstieg, von Eurich hingerichtet: Greg. Tur. hist. 2,20. Sidon. epist. 5,6. Vgl. Hanaghan (2019), 115. Sidon. epist. 3,3. Vgl. zu diesem Schritt Harries (1994), 169–186. Vgl. Börm (2018), 156–160. Salv. gub. 5,4–8.

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3. Reaktionen Schon um 410 hatte man sich in Britannien von der Zentralregierung losgesagt, um eigene Wege zu gehen,73 und nun ließ sich auch unter den Eliten in Südgallien, das man schwerlich als imperiale Peripherie bezeichnen kann, eine sich beschleunigende Neuorientierung kaum übersehen. Peter Brown hat die Tendenz, im Rahmen der Desintegration zwar an der römischen Identität, nicht aber an der Loyalität gegenüber der kaiserlichen Regierung in Italien festzuhalten, als „local Romanness“ bezeichnet.74 Dies mag in kultureller Hinsicht auf manch andere eher zutreffen als auf Männer wie Sidonius. Aber je länger die weströmischen Bürgerkriege dauerten,75 desto mehr richteten sich die Blicke auf die neuen Machthaber, auf warlords wie Eurich, die einem militärischen Kontext entstammten und Anhänger um sich scharten, die in den gewalttätigen Zeiten nach dem Ende der pax Augusta zu gebrauchen waren.76 Diese neue Aristokratie legitimierte sich im Kern nicht dynastisch und besaß daher ein sehr hohes Integrationspotential für Aufsteiger; sie umfasste neben Männern unterschiedlichster Herkunft durchaus auch viele Römer.77 Der hilflose Sidonius gab ihnen bösartige, dem frühen Prinzipat entlehnte Spitznamen wie Narcissus, Asiaticus, Parthenius und Pallas und zeichnete sie als Emporkömmlinge, berauscht an ihrer Macht, die mit ihrer Verschwendungssucht bezeugten, dass sie an Wohlstand nicht gewöhnt seien.78 Diese Männer legten sich offenkundig das zu, was Archäologen wie Philipp von Rummel als habitus barbarus zu bezeichnen pflegen.79 Sidonius beklagt, selbst zu einer Abendeinladung erschienen sie in voller Rüstung, und auch in der Kirche trügen sie Hosen und verfolgten die Messe im Pelz.80 Diese Transformation der säkularen Eliten wirkte noch lange nach dem Ende der Antike fort, derweil das Festhalten von Aristokraten wie Sidonius an klassischer παιδεία als Statussymbol zusehends fruchtlos

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Vgl. zu den Entwicklungen in Britannien Vanderspoel (2009), 433–436 und Meier (2019), 923– 948; zu den Hintergründen auch Halsall (2007), 383–392. Vgl. Brown (2013), xxvi–xxv. Vgl. zur Bedeutung der innerrömischen Konflikte für die Desintegration des Hesperium Imperium Halsall (1999); Börm (2018), 127–130; Mathisen (2019), 148–152. Vgl. Mathisen (2006). Anregend hierzu ist Scheibelreiter (1999), der viele Kernelemente dieser „barbarischen Gesellschaft“ korrekt identifiziert, wenngleich er ihren Ursprung außerhalb des Imperiums vermutet. Vgl. zum Phänomen der spätantiken warlords zuletzt Wijnendaele (2018); Carr (2019); Meier (2021). Unter den prominentesten Vertretern waren neben Männern wie Eurich, Stilicho, Ricimer, Geiserich oder Odoaker, die einen Migrationshintergrund aufwiesen, der im passenden Kontext gegen sie verwendet werden konnte, auch Personen wie Constantius (III.), Bonifatius, Aëtius, Marcellinus oder Syagrius, deren Romanitas auch feindselige Quellen nicht bezweifeln konnten. Sidon. epist. 5,7. Vgl. von Rummel (2007), 401–406. Zur Kritik an dieser Interpretation jedoch Eger (2015), 233: „The grave finds must not be seen connected to members of the Late Roman military aristocracy of the western half of the Empire in general, but to certain clansmen of barbarian gentes.“ Sidon. epist. 5,7.

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wurde.81 Diejenigen, die sich nicht entschieden, Hose, Pelz und Schwert anzulegen, versuchten, sich auf andere Weise anzupassen: Sie traten als Verwaltungs- und Rechtsexperten in den Dienst der neuen Machthaber und lernten die germanischen Dialekte, die diese zumindest anfangs oft zu sprechen pflegten.82 Da sich bereits seit dem ersten Konzil von Konstantinopel im Jahr 381 der sogenannte ‚Arianismus‘ zu einem Kennzeichen einer christlichen Identität entwickelt hatte, durch die sich insbesondere Kriegergruppen wie die Westgoten oder Vandalen von der zivilen, römischen Mehrheitsbevölkerung in den von ihnen kontrollierten Territorien absetzen konnten,83 überrascht es überdies nicht, dass sich der frischgebackene (katholische) Bischof Sidonius in einem seiner Briefe nach 468 besorgt zeigt, das ‚arianische‘ Bekenntnis verbreite sich nun wieder unter der Bevölkerung.84 Dies lässt sich als ein weiteres Indiz dafür interpretieren, dass sich die von der Zentralregierung enttäuschten Bewohner Galliens nun teilweise von Rom abwandten und sich gewissermaßen in Barbaren verwandelten – auch dies ein Prozess, der für Nordgallien bereits etwas früher bei Salvian beschrieben und beklagt wird.85 Auf die Enttäuschung von 468 folgte also eine Neuorientierung.86 Ein Seitenwechsel konnte während der Agonie der kaiserlichen Herrschaft allerdings lebensgefährlich werden; das 5. Jahrhundert war eine goldene Zeit für Delatoren.87 So erfahren wir von Sidonius, man habe eine ganze civitas gegenüber den Burgundern verleumdet, sie halte es heimlich „mit der Parteiung des neuen Kaisers“ (partibus novi principis) – so weit war es gekommen, dass Loyalität zum Imperium als Hochverrat gelten konnte.88 Bereits einige Jahre zuvor war in Hispanien Hydatius von drei Römern namens Ascanius, Dictynius und Spinio gegenüber suebischen Kriegern denunziert worden.89 Umgekehrt konnte es einem aber auch zum Verhängnis werden, die Machtverhältnisse falsch einzuschätzen und sich zu früh gegen den Kaiser zu stellen. Das am besten dokumentierte Beispiel hierfür ist zweifellos Arvandus, ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der in der militia officialis aufgestiegen war und im Jahr 468 als praefectus praetorio Galliarum amtierte.90 Offenbar war er verschuldet und hatte sich mit seiner anfangs hochgelobten Amtsführung zuletzt keine Freunde mehr gemacht; aber die Chronologie der Ereignisse legt nahe, dass es der katastrophale Ausgang der Vandalenexpedition war, der ihn zu einem verhängnisvollen Entschluss brachte: Als ihm 469

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Vgl. etwa Meurer (2019), 252 und Hess (2019), 114. Sidon. epist. 5,5. Vgl. einleitend Brennecke (2014). Sidon. epist. 7,6 u. 8,4. Vgl. auch Overwien (2009), 100–103. Salv. gub. 5,4–8. Vgl. zur Kontingenzbewältigung im spätantiken Gallien nun auch Stadermann (2021). Vgl. zum Problem der delatores Furbetta (2015). Sidon. epist. 5,6,2. Hydat. chron. 201 (KFHist). PLRE 2:157 f.

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in Rom der Prozess gemacht wurde, konnten seine Ankläger einen Brief vorlegen, dessen Echtheit unstrittig war und in dem Arvandus den rex Eurich aufgefordert hatte, mit Kaiser Anthemius zu brechen, sich mit den Burgundern zu einigen und sich die Herrschaft über Gallien mit diesen zu teilen, wobei die Loire die Grenze zwischen den Machtbereichen markieren sollte.91 Natürlich wissen wir nicht, ob Arvandus vielleicht schon vor dem Scheitern des Feldzugs ein Gegner des neuen Kaisers gewesen war, den er laut Sidonius in dem verräterischen Brief als Graecus imperator verunglimpft hatte.92 Aufgrund seiner glänzenden Karriere im Reichsdienst erscheint es aber wahrscheinlich, dass wir es mit einer Reaktion auf die militärische Katastrophe in Nordafrika zu tun haben, durch die der Kaiser in den Augen des Arvandus wohl seine Legitimität eingebüßt hatte;93 jetzt ging es darum, sich bei Eurich, mit dessen Vormarsch nun zu rechnen war, als frühzeitiger Unterstützer zu empfehlen.94 An die Stelle der Hoffnung auf einen Sieg des Anthemius trat also die Erwartung eines gotischen Sieges. Die reichsweiten Folgen der kaiserlichen Niederlage gegen Geiserich scheint der Prätorianerpräfekt jedenfalls zügiger als andere überblickt zu haben; und genau dies wurde ihm zum Verhängnis, denn er wurde in einem Majestätsprozess schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt, und nur aufgrund der Fürbitte von Freunden wie Sidonius wurde die Strafe schließlich in eine Exilierung umgewandelt.95 Weniger glimpflich endete um dieselbe Zeit ein vergleichbarer Prozess gegen einen gewissen Seronatus, der wohl als vicarius septem ­provinciarum fungiert hatte und wegen des Vorwurfs, den ‚Barbaren‘ in die Hände gespielt zu haben, hingerichtet wurde.96 Dies war ein Vorgang, den der mit ihm verfeindete Sidonius sehr begrüßte,97 der Seronatus unter anderem vorwarf, gotische leges den kaiserlichen vorgezogen zu haben.98

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Vgl. zu den Vorgängen Teitler (1992) und de Luca (2017). Sidon. epist. 1,7,6. Folgt man Cassiod. chron. 1287 (a. 469), wo allerdings von „Arabundus“ die Rede ist, so warf man ihm zuletzt vor, selbst nach dem Purpur gestrebt zu haben: Arabundus imperium temptans iussu Anthemii exilio deportatur. Diese Nachricht ist meines Erachtens aber mit Vorsicht zu genießen, da Arvandus in diesem Falle nach dem Schuldspruch wohl hingerichtet worden wäre. 93 Ob es römischen Kaisern möglich war, gezielt Legitimität zu generieren, diskutiert Lendon (2006), 58–62. 94 Vgl. zu Eurich auch den Überblick bei Panzram (2007). 95 Die bei weitem wichtigste Quelle zu den Ereignissen ist Sidonius (epist. 1,7), der einer der Freunde gewesen zu sein scheint, die sich für Arvandus verwandten. 96 PLRE 2:995 f. Vgl. zur Verwendung des Barbarenbegriffs Wood (2011) und Egetenmeyr (2019). 97 Sidon. epist. 7,7. Vgl. auch epist. 5,13. 98 Sidon. epist. 2,1,3: Leges Theodosianas calcans Theodericianasque proponens.

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4. Alles auf eine Karte: Die Niederlage von 468 Dass ein Imperium, zumal unter vormodernen Bedingungen, auf die Kooperation der lokalen Eliten angewiesen ist, ist natürlich eine Binse, ebenso wie die Beobachtung, wonach diese Kooperation letztlich darauf beruht, dass sie sich für die Beteiligten auch auszahlt.99 Was die Analyse der Ereignisse zwischen 468 und 476 im Zusammenhang des vorliegenden Bandes aber interessant macht, ist die besondere Prägnanz der Zäsur; die Geschehnisse in den Jahren nach 468 glichen einem Erdrutsch.100 Dies lässt sich freilich nicht allein durch machtpolitische Realitäten erklären. Zwar stimmt es, dass durch die Niederlage gegen Geiserich gewaltige Mittel vernichtet worden waren; doch spätestens um 480 konnten die in Konstantinopel residierenden Augusti wieder große Armeen einsetzen.101 Die westliche Reichsregierung, die ohnehin seit Jahren unter leeren Kassen litt,102 traf der Verlust natürlich wesentlich härter, aber auch hier wäre mit der Zeit sicherlich eine Erholung möglich gewesen. Die Römer hatten im Lauf der Jahrhunderte häufig schwere Niederlagen erlitten, und stets waren sie wieder auf die Beine gekommen; warum sollte dies nun anders sein? Ein Bischof wie Hydatius mochte um 460 vielleicht das Weltende nahen sehen;103 doch war er damit weder der erste – ­Cyprian etwa hatte dies zwei Jahrhunderte zuvor ebenfalls getan104 – noch der letzte Apokalyptiker. Auch wenn die Macht der weströmischen Regierung im Jahr 468 bereits einen langen Erosionsprozess hinter sich hatte, illustriert das Verhalten von Männern wie Sidonius anschaulich, dass sich dies durchaus als vorübergehende Schwächephase betrachten ließ. Waren nicht auch am Ende des 3. Jahrhunderts eine Restabilisierung des Kaisertums und eine Reintegration des Reiches gelungen?105 Niederlagen gegen Geiserich, wie man sie 441 und 460 erlitten hatte, konnte man damit entschuldigen, die Kaiser hätten eben nicht alle Ressourcen des vereinten Imperiums mobilisiert. Es hat daher den Anschein, als wäre gerade der gewaltige Aufwand, den die beiden Höfe 468 vereint betrieben hatten, verhängnisvoll gewesen. Der Vandalenfeldzug wurde reichsweit – wie Hydatius im fernen Hispanien belegt – annonciert; jeder wusste,

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Vgl. Krause (2018), 261–263. Zu imperialen Aristokratien allgemein etwa Burbank / Cooper (2010), 82 f.; 146 f.; 445 f. Vgl. auch Destephen (2021), 180–183. Vgl. Kulikowski (2019), 224–230. Leos Nachfolger Zeno (474–491) konnte sich militärisch in mehreren internen Auseinandersetzungen durchsetzen, und Anastasius (491–518) war bereits wieder in der Lage, einen großen Perserkrieg zu führen; vgl. Lee (2013), 168–173. Einen nützlichen Überblick über die Entwicklung der römischen Armee im 5. Jahrhundert bietet Elton (2015). Bereits unter Valentinian III. (Nov. Val. 15) und Majorian (Nov. Maior. 3,7) hatte die kaiserliche Kanzlei die finanziellen Probleme mit bemerkenswerter Offenheit beklagt. Vgl. zur Fiskalpolitik dieser Jahre Stickler (2002), 291–296. Vgl. Kulikowski (2004), 155. Möglicherweise erwartete Hydatius die Parusie Christi zuletzt für den 27. Mai 482: Burgess (1996). Cyp. ad Demetr. 3. Vgl. Jones (1964), 37–111; Demandt (2007), 57–103; Potter (2014), 264–294; Krause (2018), 53–103.

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dass das Imperium seine gesamte Macht in diesem einen Schlag konzentrierte und alle Muskeln anspannte. Die Erwartungen, die sich mit der Kampagne verbanden, wurden von Leo und Anthemius augenscheinlich bewusst geschürt und auf die Spitze getrieben; zweifellos in der Absicht, auf diese Weise ein Exempel zu statuieren, um nicht nur das aufsässige vandalische regnum zu zerschlagen, sondern auch alle anderen foederati durch eine Machtdemonstration einzuschüchtern.106 Daher wusste aber eben auch jeder, sei er nun Freund oder Feind, dass man alles auf eine Karte gesetzt hatte; und genau deshalb waren die psychologischen Folgen der überraschenden Nieder­lage noch weitaus gravierender als die militärischen und finanziellen. In einem Wort: 468 war wohl vor allem deshalb eine entscheidende Zäsur, weil man es im Vorfeld dazu erklärt hatte. Das Ausmaß der Enttäuschung entsprach dem der zuvor geweckten Erwartungen. Als Geiserichs Männer vor Kap Bon die römische Flotte vernichteten, zerstörten sie zugleich den Nimbus der kaiserlichen Herrschaft – vor allem natürlich im Westen, wo die Macht des Augustus bereits einem längeren Erosionsprozess unterworfen gewesen war. Gerade weil die Erwartungen, die man geschürt hatte, so gewaltig gewesen waren, war die Enttäuschung nun umso niederschmetternder. Damit änderte sich die Dynamik der Entwicklung in entscheidender Weise: Bis 468 war es der Glaube an die Unvergänglichkeit des Imperiums gewesen, der erhebliche Teile der lokalen Eliten zumindest in Italien, Gallien und Hispanien – mutmaßlich aber auch in Nordafrika und vielleicht sogar in Britannien  – davon ausgehen ließ, es mit einer vorübergehenden Schwächephase zu tun zu haben, weshalb man weiterhin bereit war, in das Imperium zu investieren. Nach dem Scheitern gegen Geiserich verkehrte sich dies in das Gegenteil.107 Es ist unwahrscheinlich, dass hier eine bloße Scheinkorrelation vorliegt. Das Verhalten von Männern wie Seronatus oder Arvandus, immerhin ein praefectus praetorio, illustriert anschaulich, dass auch Angehörige der Aristokratie, die als hohe Würdenträger bisher vom Imperium profitiert hatten, nun zügig auf das Ende der römischen Herrschaft zu setzen begannen. Damit setzte ein Prozess ein, der Züge einer selbsterfüllenden Prophezeiung trug – weil man nach der Enttäuschung von 468 den Glauben an das Kaisertum verlor, entzog man der Reichsregierung das Vertrauen und schwächte sie dadurch nur noch mehr, während die Anhängerschaft der reges wuchs.108 Selbst wenn das letzte Aufgebot des Anthemius die Westgoten 469 besiegt hätte, hätte dieses lokale Ereignis die Dynamik wohl nicht mehr umkehren können. Erst jetzt scheint das Ende des Kaisertums im Westen unausweichlich geworden zu sein – eben deshalb, weil die enttäuschten Eliten auch im Kerngebiet den Glauben an den Augustus in Italien verlo-

106 Vgl. zu den foederati den konzisen Überblick bei Stickler (2007). 107 Vgl. Heather (2005), 399–430. 108 Vgl. zu dieser Phase auch Meurer (2019), 250: „Für die provinzialen clarissimi ging es dabei häufig um die Frage, ob sie sich zentral legitimierten Heermeistern oder militärischen Potentaten vor Ort zuwenden sollten.“

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ren hatten, der nur noch Belastung war und nicht mehr Verheißung.109 Und so entsprach das, was der General Odoaker die Senatsgesandtschaft verkünden ließ, die Ende 476 die ornamenta palatii nach Konstantinopel überführte,110 aus Sicht vieler Aristokraten sicherlich der Wahrheit: Der Westen brauchte keinen eigenen Kaiser mehr.111 Literatur Anders, Friedrich (2010): Flavius Ricimer. Macht und Ohnmacht des weströmischen Heermeisters in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Frankfurt am Main. Becker, Audrey (2022): Dieu, le souverain et la cour. Stratégies et rituels de légitimation du pouvoir impérial et royal dans l’Antiquité tardive et au haut Moyen Âge. Bordeaux. Bleeker, Ronald (2022): Aspar and the Struggle for the Eastern Roman Empire, AD 421–71. London. Börm, Henning (2008): „Das weströmische Kaisertum nach 476“. In: Ders. et al. (Hg.): Monumentum et instrumentum inscriptum. Stuttgart, 47–69. Börm, Henning (2010): „Herrscher und Eliten in der Spätantike“. In: Ders. / Wiesehöfer, Josef (Hg.): Commutatio et contentio. Studies in the Late Roman, Sasanian, and Early Islamic Near East. Düsseldorf, 159–198. Börm, Henning (2015): „Born to be Emperor. The Principle of Succession and the Roman Monarchy“. In: Wienand, Johannes (Hg.): Contested Monarchy. Oxford, 239–264. Börm, Henning (2016a): „A Threat or a Blessing? The Sasanians and the Roman Empire“. In: Ders. et al. (Hg.): Diwan. Studies in the History and Culture of the Ancient Near East and the Eastern Mediterranean. Duisburg, 615–646. Börm, Henning (2016b): „Civil Wars in Greek and Roman Antiquity: Contextualising Disintegration and Reintegration“. In: Ders. et al. (Hg.): Civil War in Ancient Greece and Rome. Stuttgart, 15–28. Börm, Henning (2018): Westrom. Von Honorius bis Justinian (2. Auflage, Erstdruck 2013). Stuttgart. Börm, Henning (2022): „The End of the Roman Empire. Civil Wars, the Imperial Monarchy, and the End of Antiquity“. In: Rollinger, Robert et al. (Hg.): The End of Empires. Wiesbaden, 191–212.

109 Statt die pax Augusta zu gewährleisten, waren die Westkaiser nun selbst ein Quell der Unruhe; denn wenn sie sich mit ihrer Machtlosigkeit abfanden, provozierten sie Konflikte um ihre Kontrolle, taten sie es aber, wie Majorian oder Anthemius, nicht, so waren Auseinandersetzungen mit dem magister militum et patricius kaum zu vermeiden. Da eine Abschaffung des Kaisertums für die Beteiligten dennoch nicht in Frage kam, war die Lösung von 476 tatsächlich nur folgerichtig – es gab weiterhin einen für Italien zuständigen Augustus, doch residierte dieser im fernen Konstantinopel, wo er dem Einfluss der westlichen warlords ebenso entzogen zu sein schien wie diese dem seinen. Dass Justinian Jahrzehnte später versuchen würde, die kaiserliche Autorität in Italien und Nordafrika militärisch wieder durchzusetzen, war 476 schwerlich absehbar. 110 Dass die ornamenta palatii damals an Kaiser Zeno gesandt wurden, erfährt man aus den Quellen erst im Zusammenhang ihrer Rücksendung durch Kaiser Anastasius an den Amaler Theoderich, die meines Erachtens als Aufforderung, wieder einen Augustus im Westen zu erheben, zu verstehen ist: Facta pace cum Anastasio imperatore per Festum de praesumptione regni, et omnia ornamenta palatii, quae Odoacar Constantinopolim transmiserat, remittit (Anon. Vales. 64). 111 Malch. frg. 14 (Blockley). Die Bedeutung des Jahres 476 als Zäsur diskutiert Meier (2014). Zu gescheiterten Versuchen, nach 476 bzw. 480 das weströmische Kaisertum zu erneuern, vgl. Börm (2008).

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Gemeinsam geteilte Erwartungen sind die Grundlage sozialen Handelns. Den­noch kommt es immer wieder vor, dass die eigene Sicht der Welt von anderen nicht geteilt wird bzw. eigene Situationsdeutungen nicht anschlussfähig sind. Enttäuschungen sind die Folge. Der Sammelband nimmt verschiedene Ent­täuschungsanlässe, mögliche Verlaufsformen sowie Programme der Ent­täusch­ungsabwicklung in verschiedenen antiken Gesellschaften in den Blick.

ISBN 978-3-515-13611-2

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783515

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Die diachronen Beispielstudien widmen sich politischen Enttäuschungssituationen im klassischen und im hellenistischen Griechenland, in der römischen Republik und Kaiserzeit sowie der Spätantike. Hierdurch soll, neben der Behandlung eines wichtigen emotionsgeschichtlichen Phänomens an sich, auch erstmals die Leistungsfähigkeit der ‚Enttäuschung‘ als analytische Kategorie für die Betrachtung antiker Gesellschaften erprobt werden.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag