Zukunftsvision Deutschland: Innovation für Fortschritt und Wohlstand [1. Aufl.] 978-3-662-58793-5;978-3-662-58794-2

Dieses Buch liefert Ihnen Denkanstöße zur Konzipierung einer Zukunftsvision für Deutschland Die Herausgeberin Marion We

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German Pages X, 253 [247] Year 2019

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Zukunftsvision Deutschland: Innovation für Fortschritt und Wohlstand [1. Aufl.]
 978-3-662-58793-5;978-3-662-58794-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Front Matter ....Pages 1-1
Der Weg in die Zukunft (Daniela Beyer, Meike Schiek, Marion A. Weissenberger-Eibl)....Pages 3-13
Front Matter ....Pages 15-15
Zwischen Zukunftsangst und Zuversicht (Reinhold Popp, Ulrich Reinhardt)....Pages 17-66
Front Matter ....Pages 67-67
Strukturwandel durch künstliche Intelligenz – Herausforderungen und Chancen sowie der Einfluss der Rahmenbedingungen regionaler Gründungsökosysteme auf die Auswirkungen für die Gesellschaft (Ralph Henn, Orestis Terzidis)....Pages 69-95
Das resiliente Unternehmen im Mittelstand – Am Beispiel der Neumüller Unternehmensgruppe (Werner Neumüller)....Pages 97-111
Front Matter ....Pages 113-113
Führen mit Sinn – Impulse zur Leadership in einer unruhigen Welt auf Basis einer aktuellen Studie (Kati Najipoor-Schütte)....Pages 115-123
Leadership im Wandel (Gabriele Sons)....Pages 125-147
Analyse und Wargaming von Disruptives als Management-Kompetenz (Hagen Lindstädt)....Pages 149-163
Front Matter ....Pages 165-165
Unternehmenskultur (Simone Menne)....Pages 167-181
Unternehmensentwicklung aus Sicht von Start-ups und Gründern (Ramin Assadollahi)....Pages 183-192
Front Matter ....Pages 193-193
Politikberatung im Kontext Nachhaltigkeit (Rainer Walz)....Pages 195-213
Front Matter ....Pages 215-215
Starkes Europa mit Leidenschaft für Innovation (Martin Brudermüller)....Pages 217-238
KI-Technologieschock und Zukunftsstau (Daniel Jeffrey Koch)....Pages 239-253

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Marion A. Weissenberger-Eibl Hrsg.

Zukunftsvision Deutschland Innovation für Fortschritt und Wohlstand

Zukunftsvision Deutschland

Marion A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.)

Zukunftsvision Deutschland Innovation für Fortschritt und Wohlstand

Hrsg. Marion A. Weissenberger-Eibl Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Karlsruhe, Deutschland

ISBN 978-3-662-58793-5 ISBN 978-3-662-58794-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Futures Literacy als Türöffner für Zukünfte Gemäß Victor Hugo hat die Zukunft viele Namen: Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen das Unbekannte, für die Mutigen die Chance. Seien wir doch mutig und ergreifen die Chance. „Deutschland ist reich an Innovationskapital und an wissenschaftlichen Ressourcen, aber es mangelt an einem kreativen Umgang mit neuen Möglichkeiten und an kreativer und nachhaltiger Ressourcennutzung. Eine Durchdringung gesellschaftlicher Subsysteme (z. B. Bildung) mit zukunftsfähiger Innovationskultur fehlt ebenso wie geeignete Räume zur Erprobung von Neuem. Ansatzpunkte für einen Paradigmenwechsel bieten sich durch die Reform innovationshemmender Institutionen, der Eröffnung von Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit der Zukunft und kreativen Ansätzen in der Bildung. Die Politik kann als ein Akteur unter anderen die Innovationskultur nur mittelbar mitprägen. Sie kann aber Akzente setzen: sie kann Themen auf die Agenda der Forschungs-, Innovations- und Bildungspolitik setzen, sie kann Rahmenbedingungen gestalten und Möglichkeitsräume eröffnen, sie kann gesellschaftliche Diskurse anstoßen und damit zum Vorreiter des Paradigmenwechsels werden.“ Dieses Statement formulierte ich in der Themengruppe „Wovon wollen wir leben“ anlässlich des Expertendialogs 2012, den die Bundeskanzlerin im Rahmen ihres Zukunftsdialogs veranstaltete. Meine zentrale Forderung lautete: Paradigmenwechsel einläuten: Mehr Beweglichkeit in der Innovationskultur. Und sie gilt weiterhin. Lern- und Experimentierräume haben es inzwischen geschafft, als Element für die Auseinandersetzung mit den Grand Challenges – den großen Herausforderungen unserer Gesellschaft – verstanden zu werden. Sie regen an, ein Gefühl für die Möglichkeiten, ein Verständnis für die Risiken und eine dringende Verpflichtung zur Beschleunigung des Fortschritts zu entwickeln. Doch eine Zukunftsvision für Deutschland hat unterschiedliche Perspektiven zu beleuchten und zu berücksichtigen. Eine solche zu diskutieren scheint umso besser zu gelingen, je intensiver wir uns der „Futures Literacy“ zuwenden. Futures Literacy verdeutlicht die Fähigkeit, das Potenzial der Gegenwart im Lichte neuer

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Vorwort

Paradigmen zu erkennen, weitgestreutes Wissen um Wandel zu identifizieren und für Lösungsbeiträge der großen Herausforderungen der Gesellschaft gestalterisch einzusetzen. Zahlreiche Signale für die Veränderung des Zusammenwirkens sind virulent: neue Formen der Vermittlung zwischen Bedarf und Angebot, neue Koordinationsmechanismen, neue Akteurskonstellationen, neue Anforderungen an Innovationen und ein neues Grundverständnis von Innovation, das beispielsweise explizit soziale Innovationen thematisiert. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns den Fragen stellen: Wie kann der Innovationsstandort Deutschland mit knapper werdenden Ressourcen leistungsfähig bleiben, beispielsweise durch die Entwicklungen alternativer Technologiekonzepte und Lebens- und Arbeitsmodelle? Wie vereinbaren wir die für Innovationen notwendige Risikobereitschaft mit unserem Bedürfnis nach Sicherheit? Wie können Experimentierfreudigkeit und (Selbst-)Vertrauen gestärkt werden? Wie können alle Akteure im Innovationssystem befähigt werden, Innovationen systemisch zu denken und konkret umzusetzen? Was bedeutet eine systemische Orientierung für das Erproben und Erlernen von spezifischen Kompetenzen? Wie können die Zeithorizonte, die technischen und nicht-technischen Aspekte sowie die Entscheidungskontexte und -strukturen in Netzwerken berücksichtigt werden? Wie kann Partizipation, Kommunikation und Einstellung zu Innovation in der Gesellschaft gefördert werden? Wie können Kunden, Anwender und Bürger stärker in Innovationsprozesse eingebunden werden, beispielsweise auch um den gesellschaftlichen Rückhalt für Innovationen zu verbessern? Wie kann eine kritische Öffentlichkeit auch als Ressource für Innovationen betrachtet werden? Um sich diesen und weiteren Fragen zu stellen bedarf es Mut und Vorstellungskraft – um nicht Fantasie zu sagen – damit das Neue in die Welt kommen kann, darf und verstanden wird. Es gilt den Mut zu haben, sich das Unvorstellbare vorzustellen und die damit oftmals einhergehende Ungewissheit als Chance zu begreifen und sich trotz nicht-vorhersehbarem Ausgang auf sie einzulassen – und zwar in der Gewissheit die Fähigkeit zu besitzen, das Ungewisse bewältigen zu können. Dies trägt den Zauber und die Begeisterung für das Morgen und Übermorgen weiter. Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft stellen auf Basis langjähriger Erfahrungen und Expertise ihre Sicht auf die Ausgestaltung einer Zukunftsvision für Deutschland in diesem Band dar. Dabei haben sie vor allem die Aspekte resiliente Gesellschaft, Leadership und Unternehmensentwicklung sowie Nachhaltigkeit und Wohlstand im Blick. Die Beiträge zielen darauf ab, Impulse zu setzen und Denkrichtungen aufzuzeigen. Damit eröffnen sie eine möglichst umfassende Perspektive einer diskutablen Zukunftsvision für Deutschland. Mein Dank gilt insbesondere den Autoren des Herausgeberbandes: Ramin Assodollahi, Martin Brudermüller, Ralph Henn, Daniel Jeffrey Koch, Hagen Lindstädt, Simone Menne, Werner Neumüller, Reinhold Popp, Kati Najipoor-Schütte, Ulrich Reinhardt, Gabriele Sons, Orestis Terzidis und Rainer Walz. Meinen ganz besonderen Dank spreche ich meinen Kolleginnen am Fraunhofer ISI und meinem Team am

Vorwort

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Lehrstuhl Innovations- und Technologiemanagements iTM am Karlsruher Institut für Technologie KIT aus: Daniela Beyer, Meike Schiek und Lilian Maier. Ohne ihre Unterstützung, die inspirierenden Diskussionen und die professionelle Umsetzung der Ideen gemeinsam mit dem Springer-Verlag – vertreten durch Christine Sheppard und Janina Tschech – hätte dieser Herausgeberband nicht entstehen können. Marion A. Weissenberger-Eibl

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Einleitung Der Weg in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Daniela Beyer, Meike Schiek und Marion A. Weissenberger-Eibl Teil II  Empirische Ergebnisse Zwischen Zukunftsangst und Zuversicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Reinhold Popp und Ulrich Reinhardt Teil III  Resiliente Gesellschaft Strukturwandel durch künstliche Intelligenz – Herausforderungen und Chancen sowie der Einfluss der Rahmenbedingungen regionaler Gründungsökosysteme auf die Auswirkungen für die Gesellschaft. . . . . . . . . . . . 69 Ralph Henn und Orestis Terzidis Das resiliente Unternehmen im Mittelstand - Am Beispiel der Neumüller Unternehmensgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Werner Neumüller Teil IV  Leadership Führen mit Sinn – Impulse zur Leadership in einer unruhigen Welt auf Basis einer aktuellen Studie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Kati Najipoor-Schütte Leadership im Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Gabriele Sons Analyse und Wargaming von Disruptives als Management-Kompetenz. . . . . . . . 149 Hagen Lindstädt

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Inhaltsverzeichnis

Teil V  Unternehmensentwicklung Unternehmenskultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Simone Menne Unternehmensentwicklung aus Sicht von Start-ups und Gründern . . . . . . . . . . . 183 Ramin Assadollahi Teil VI  Nachhaltigkeit Politikberatung im Kontext Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Rainer Walz Teil VII  Wohlstand Starkes Europa mit Leidenschaft für Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Martin Brudermüller KI-Technologieschock und Zukunftsstau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Daniel Jeffrey Koch

Teil I Einleitung

Der Weg in die Zukunft Warum Deutschland eine Zukunftsvision braucht Daniela Beyer, Meike Schiek und Marion A. Weissenberger-Eibl

1 Heute mit dem Morgen auseinandersetzen Die ganze Welt ist im Wandel. Die „Grand Challenges“, die großen Herausforderungen wie Klimawandel, Migration und Gesundheit, zeigen auf, dass die Welt einen Richtungswechsel braucht. Ein „weiter wie bisher“ ist nicht mehr möglich. Die Entwicklungsspirale dreht sich so schnell, dass man Gefahr läuft, den Anschluss zu verlieren. Das gilt für den einzelnen Menschen wie auch für ganze Nationen, für einzelne Unternehmen wie auch für ganze Branchen. Um Veränderungen steuern – im Sinne von anstoßen, begleiten, fördern oder auch entgegentreten – zu können, sind Vorstellungen über die Zukunft wichtig. Wohin wollen wir als Gesellschaft? Wie soll beispielsweise das Energiesystem der Zukunft gestaltet sein? Oder wie soll Mobilität künftig aussehen? Im Zentrum eines Wandlungsprozesses ist eine Vision über eine wünschenswerte Zukunft daher essenziell. Sie dient als Treiber und Orientierungspunkt für alle Akteure und damit auch für Fortschritt und Entwicklung. Innovation ist seit jeher Instrument, um einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel zu leiten. Gleichzeitig erfordern neue Herausforderungen auch neue innovative Lösungen und technische Entwicklungen. So führen Innovationen vom „Heute“ ins D. Beyer () · M. Schiek  Fraunhofer Institut für System und Innovationsforschung ISI, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Schiek E-Mail: [email protected] M. Weissenberger-Eibl  Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Fraunhofer Institut für System und Innovationsforschung ISI, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_1

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„Morgen“ und ermöglichen beispielsweise Medikamente mit weniger Nebenwirkungen, Roboter, die gefährliche Arbeit für den Menschen übernehmen oder die Nutzung nachwachsender Rohstoffe. Innovation sichert die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, geht aber noch einen Schritt weiter. Heute steht nicht mehr die einzelne Neuerung – meistens hervorgerufen durch eine neue Technologie wie beispielsweise das MP3-Format – im Fokus, sondern das „Veränderungspotenzial“. Innovationen haben die Fähigkeit, ein System grundlegend zu verändern – zu transformieren. Dabei wird in der Zukunft nicht das „Mehr“, sondern das „Anders und Besser“ entscheidend sein. Im Zentrum steht dabei die Transformation ganzer sozio-technischer Systeme. Die Zahl aktueller Beispiele ist hoch: Elektromobilität oder der Wandel des Energiesystems, Industrie 4.0 oder die Einführung der 5G-Technik für die Datenübertragung sind solche Themen. Technische Errungenschaften, die weitreichenden Wandel auslösten, gab es schon immer. Der Buchdruck brachte nicht nur die Möglichkeit, Bücher zu drucken. Er hatte zur Folge, dass Wissen für viel mehr Menschen zugänglich wurde. Die Eisenbahn ermöglichte Transport, Handel und die Erschließung neuer Regionen. Entwicklungsschübe wie diese sind in der klassischen Wirtschaftstheorie der Kondratieff-Zyklen beschrieben (Kontradieff 1926). Hierbei wird davon ausgegangen, dass eine Basisinnovation langfristige wirtschaftliche Folgen mit sich bringt und ein neues Zeitalter einläutet. Diese Perspektive berücksichtigt jedoch nicht, dass nicht immer die ­Technologie den Wandel einläutet, sondern eine zu lösende Herausforderung auch zu Technologieentwicklung und Innovation führen kann (Weissenberger-Eibl 2004). Die „Grand Challenges“ erfordern folgenreiche Neuerungen, die vom gewohnten Schema abweichen und Wandel anstoßen. Daher spielt nicht nur die Technologienentwicklung eine wichtige Rolle für das Innovationsgeschehen, sondern ebenso beeinflussen soziale, ökologische, politische und wirtschaftliche Kontextfaktoren und Wechselwirkungen die Innovationsaktivitäten und ihre Richtungen. Die Entwicklungen in der Informationstechnik, der Digitalisierung und der ­Automatisierung, die den letzten Kondratieff-Zyklus entscheidend geprägt haben, beeinflussen unvermeidbar, wie wir arbeiten und zusammenleben (Weissenberger-Eibl 2018). Digitale Technologien stellen eine große Chance dar, Dinge besser zu machen und tragen dazu bei, dass Deutschland langfristig gut aufgestellt ist. Um beispielsweise die Energieversorgung auf lange Sicht sicherzustellen, werden wir mithilfe immer komplexerer digitaler Datenmodelle alle nur möglichen Effizienzpotenziale ausschöpfen müssen. Der Gesundheitsbereich erfährt aktuell eine Revolution, weil neue Technologien individualisierte Diagnose und Therapie ermöglichen. Auch hier ist die Digitalisierung die zentrale Schlüsseltechnologie. Ebenso werden zentrale Fragen des gesellschaftlichen Zusammenspiels, und vor allem die politische Entscheidungsfindung, auf der Basis digitaler Technologien einen fundamentalen Wandel erfahren. Daraus resultieren neue Möglichkeiten, um eine nachhaltige Gesellschaft zu gestalten. Jedoch ist die Digitalisierung nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck zu verstehen. Die Bedürfnisse des ­Menschen und seiner natürlichen Umwelt müssen im Fokus der Entwicklung stehen.

Der Weg in die Zukunft

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Ein entscheidendes Entwicklungspotenzial der Digitalisierung liegt in der Vernetzung von verschiedenen Themengebieten wie zum Beispiel in der Fusion von Energie- und Verkehrssystemdaten. Nur wenn Wissen aus beiden Bereichen zusammentrifft, kommt ein langfristig sinnvolles Konzept für beispielsweise die Elektromobilität heraus. Die Kombination von Themen hat also Sinn, um ein ganzheitliches Bild zu bekommen. Auch für eine Zukunftsvision Deutschland gilt es, verschiedene Bereiche und Perspektiven zusammenzuführen. Deutschland braucht Vorstellungen über die gewünschte Entwicklungsrichtung und ein ganzheitliches Zukunftsbild, auf das die Gesellschaft zulaufen kann. Wenn gesellschaftliche Akteure den Prozess nicht proaktiv gestalten, kann es sein, dass sich die Entwicklung in eine ganz andere Richtung bewegt. Technologien wie die Digitalisierung dürfen nicht Entwicklungen und Trends befördern, die sogar mehr Ressourcen erfordern und verbrauchen. Das hätte wenig nachhaltige ­Folgewirkungen. Es gilt daher, die Entwicklungen mitzugestalten – und nicht davon überrollt zu werden. Wenn Deutschland der Zukunft aktiv begegnen will, muss sich die Gesellschaft so fit machen, dass die „Zukunft kommen kann“ – welche auch immer dann konkret eintritt. Am Ende wird es darum gehen, adaptiv und agil mit Verschiebungen, Schocks und anderen Ereignissen umzugehen. Damit wird Resilienz, das heißt die Fähigkeit, auf externe Faktoren kompetent zu reagieren, zu einer zentralen Zielgröße der gesellschaftlichen Transformation. Eine resiliente Gesellschaft sichert die Zukunftsfähigkeit aller Akteure. Auch in der Wirtschaft sind Veränderungen nötig, damit in Deutschland die Transformation gelingen kann. Unternehmen jeder Größenordnung müssen innovativ agieren, wenn sie konkurrieren wollen. So hat jedes Unternehmen die Aufgabe, den Blick nach vorne zu richten. In Start-ups kommt viel Kreativität, Mut und Tatendrang zusammen. In etablierten Unternehmen sind erprobte Prozesse, Perfektion und längere Innovationszyklen eher an der Tagesordnung. Mitunter besteht die Gefahr, dass sie von völlig unerwarteten Innovationen überrascht werden. Gerade im Kontext der rasant zunehmenden Digitalisierung entstehen Innovationen und Unternehmungen, die ganze Branchen in Bewegung bringen und die Welt radikal verändern. Unabhängig von Größe, Branche und Geschäftsmodell haben Unternehmen die Pflicht, wachsam das Unternehmensumfeld zu beobachten und auf neue Trends auf sozialer, technologischer, ökonomischer, ökologischer und politischer Ebene in ihren Strategien zu reagieren. Jede Firma steht vor spezifischen „Grand Challenges“ und ist heute extrem gefordert, wenn sie ihre langfristige Fitness sicherstellen will. Dafür müssen Entscheider strategische Entscheidungen treffen. Zu diesen Entscheidungen gehört auch Führung neu zu denken. Hierfür stehen Begriffe wie Leadership. Kotter (1990) definiert Leadership in seinem Werk „A Force for Change: How Leadership Differs from Management“ wie folgt: Manager seien eher Verwalter, Leader dagegen Visionäre. Im Management ginge es darum, Abläufe zu planen und zu kontrollieren. Leadership hingegen solle inspirieren und motivieren. Wenn es darum geht Transformationen erfolgreich zu gestalten, braucht es Leader, die tradierte Pfade verlassen und neue Wege gehen. Indem Leader neue Vorstellungen artikulieren,

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tragen sie dazu bei, eine Zukunftsvision zu entwickeln. Indem sie neue Ideen umsetzen und damit Neuland betreten, zeigen sie im Idealfall auf, wie der Wandlungsprozess gestaltet werden kann. Der Blick der Gründer auf das Thema Unternehmensentwicklung unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den Perspektiven etablierter Unternehmer. Doch eines ist beiden gemein: Für den eigenen Fortbestand und damit auch für die Zukunftsfähigkeit Deutschland sind Unternehmen, die sich beständig weiterentwickeln und neue Wege gehen, essenziell. Die unternehmerischen Wege können sich dabei stark unterscheiden. Doch im besten Fall lernen die Akteure voneinander. Eine Vision für die Zukunft benötigen beide. Auch die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit ist ein Prozess, den die Gesellschaft zu gestalten hat. Im gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs hat die Ökologie aus historischen Gründen oft im Vordergrund gestanden. Denn die Weltgemeinschaft begann sich im Laufe des 20. Jahrhunderts mit den Problemen der Umweltverschmutzung, den Folgen von Überbevölkerung und dem schonungslosen Umgang mit Ressourcen zu beschäftigen. Nachhaltigkeit befasst sich jedoch mit dem Zusammenspiel der drei Dimensionen „Ökologie“, „Ökonomie“ und der „sozialen Ebene“. Ein gutes Beispiel für das Zusammenspiel sind die von der UN aufgestellten Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Vereinte Nationen 2015). Die 17 Ziele machen klar, dass alle drei Dimensionen berücksichtigt werden müssen, um die Weichen für eine nachhaltige Zukunft zu stellen. Betrachtet man die drei Dimensionen isoliert voneinander, stößt man schnell an Grenzen. Die Politik hat dabei nun die Aufgabe, Rahmenbedingungen setzen und Agenda-Setting zu betreiben. Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist die Politik auch auf eine wissenschaftlich fundierte Politikberatung angewiesen. Auch Wirtschaft und Gesellschaft sind gefordert, nachhaltige Wege einzuschlagen. Ein entscheidender Zielkonflikt besteht nach wie vor zwischen Wachstum und ­Nachhaltigkeit. Wenngleich sich die Diskussionen um eine nachhaltige Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten intensiviert haben, stand im 20. Jahrhundert das Wachstumsziel im Vordergrund, um den Wohlstand zu fördern. Heute geht es vermehrt darum, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu fördern, um Handlungsspielräume zu erhalten. In Zukunft kommt es bei Wachstum darauf an, ein Mehr an struktureller Stärke wie Flexibilität, Adaptionsfähigkeit und Potenzial sicherzustellen, anstatt ein Mehr an Waren und Dienstleistungen. Gleichzeitig sind Innovationsaktivitäten notwendig, um solche neuen Wege gehen zu können. Für Deutschlands Zukunftsfähigkeit ist es daher essenziell, ein innovationsfreundliches Umfeld zu fördern. Innovationen – verstanden als Sprungbrett in die Zukunft – fallen nicht einfach vom Himmel. Dafür bedarf es Anstrengungen von allen gesellschaftlichen Akteuren sowie einen starken Verbund aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Sie sind Teil des Innovationssystems, auf welchem sich die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft und eines Landes gründet.

Der Weg in die Zukunft

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2 Systemverständnis für Handlungsspielräume Ein Plan kann immer nur so gut sein wie seine Anpassungsfähigkeit. Dies zu ­akzeptieren wird besonders deshalb immer relevanter, weil es immer mehr einflussnehmende und vor allem schnell veränderliche Kontextfaktoren gibt. Für das Verständnis von Innovationen, die die Zukunftsfähigkeit Deutschlands sichern sollen, müssen daher Rahmenbedingungen und Wechselwirkungen mitgedacht werden. Innovation geschieht nicht einfach. Innovationen entstehen in einem komplexen ­System, das auf dem Zusammenspiel einer Vielzahl an Akteuren, Handlungsfeldern und Prozessen beruht. In dieses System muss sich eine Innovation dann auch einfügen. Eindimensionales Denken, das nur einen Ausschnitt des Systems in Betracht zieht, führt daher nicht zum Erfolg. Stattdessen gilt es, alle zugrunde liegenden Mechanismen und Wechselwirkungen zu betrachten (Weissenberger-Eibl 2017), um ­Handlungsspielräume zu eröffnen. Dazu gehört, von Anfang an die unterschiedlichen Akteure in den Inno­ vationsprozess einzubeziehen: Sowohl die Angebotsseite als auch die Nachfrageseite kann relevanten Input liefern. Auf der Nachfrageseite sind vor allem gesellschaftliche Akteure, der öffentliche Sektor oder Wirtschaftsakteure für den Innovationsprozess wichtig. Auf der Angebotsseite standen lange Zeit nur ökonomische Akteure im Fokus. Aber auch der öffentliche Stakeholder oder Nutzer können Neuerungen, nicht zuletzt im sozialen Kontext, einführen und umsetzen. Entscheidenden Input können beispielsweise Wissenschaftler, Kapitalgeber, Mediatoren und Bildungsakteure liefern. In jedem Falle funktioniert das Ganze nur in einem komplexen Innovationsrahmen. Institutionen wie Gesetze und Normen, Infrastrukturen, Policies und der soziokulturelle Kontext tragen zum Gelingen von Innovationen bei (Warnke et al. 2016). Dabei gilt zu bedenken, dass Wirtschaft, Politik und Gesellschaft einem permanenten und rasanten Wandel unterworfen sind – wegen der zunehmend globalisierten Wirtschaft, sich verschärfenden Umweltbedingungen oder grundlegenden technischen Entwicklungen. Innovationen sind dabei Ursache für den Wandel. Gleichzeitig ermöglichen sie es, diesen Wandel aktiv mitzugestalten. Eine wichtige Basis dafür ist das Verständnis des Innovationssystems. So lässt sich analysieren, wie das Neue in die Welt kommt und w ­ elche Handlungsspielräume sich aus der Innovation ergeben können. Die öffentliche Hand ebenso wie die Wirtschaft können damit frühzeitig auf Entwicklungen reagieren und ihr Handeln strategisch ausrichten. Für ein valides Gesamtbild des Innovationsgeschehens muss die Vielzahl entscheidender Akteure und relevanter Mechanismen einbezogen werden. Es geht heute nicht mehr nur darum, isolierte Fragestellungen durch einzelne Lösungen zu beantworten, sondern darum, ganze sozio-technische Systeme zu transformieren, etwa das Energie-, das Verkehrs- oder das Gesundheitssystem (Eichhammer et al. 2018). Hierbei sind ebenso technische Lösungen zu generieren, wie organisatorische und gesellschaftliche Herausforderungen zu meistern. Die größten Hürden bestehen i­nsbesondere darin, die relevanten Akteure zusammenzubringen und das Zusammenspiel der Beteiligten zu orchestrieren.

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3 Zukunft und Fortschritt gestalten Es reicht nicht aus, auf die Zukunft zu warten. Viel wichtiger ist es, dass die Gesellschaft Zukunft und Fortschritt in eine wünschenswerte Richtung lenkt. Es gibt zwar keine Glaskugel, die die Zukunft voraussagt, doch wissenschaftliche Methoden der strategischen Vorausschau ermöglichen uns, den Blick in die Zukunft zu öffnen und Gestaltungsräume zu erfassen. Eine solche Vorausschau in die Zukunft ist nicht nur spannend, sondern essenziell: Denn nur wenn eine Gesellschaft sich mit Zukunft und Fortschritt beschäftigt, kann sie diese auch gestalten. Die Chance gilt es zu nutzen. Dabei erfordert ein Vorausdenken, das Heute zu analysieren sowie Erwartungen über das Morgen und möglichst alle einflussnehmenden Faktoren einzubeziehen. Zu bedenken ist dabei, dass heutige wie zukünftige Herausforderungen komplexer werden und gleichzeitig die Entwicklungsgeschwindigkeit steigt. Veränderung bedeutet häufig, dass Neuland betreten wird. Daher fehlen Erfahrungswerte und nur äußerst selten reicht planmäßig-rationales Entscheiden aus, um mit den entstehenden Unsicherheiten umzugehen. Früher konnten einzelne Akteure Neuerungen vorantreiben. Aus der zunehmenden Komplexität und Dynamik resultiert, dass sich im Heute und Morgen Hunderte und Tausende am Wandel beteiligen und die Entwicklung vorantreiben. Mehr Entscheidungsbeteiligung erfordert jedoch auch klar strukturierte, systematische Prozesse, um strategisch agieren zu können. Solche Prozesse erfordern, dass sich die Akteure auf ein gemeinsames Ziel verständigen – so die Idee einer Zukunftsvision. Strategische Entscheidungen werden auf Basis von Zukunftserwartungen und -vorstellungen getroffen. Dazu ist es wichtig, sich aktiv mit möglichen sowie ­ unerwünschten Entwicklungen auseinander zu setzen. In der Zukunftsforschung ist daher nicht nur von Zukunft, sondern von Zukünften die Rede. Foresight-­Methoden ermöglichen eine solche strategische Vorausschau. In der Praxis bedeutet dies, gesellschaftlichen und technologischen Wandel zu analysieren, um mit Akteuren aus allen gesellschaftlichen Bereichen Szenarien und Strategien zu entwickeln (Zweck et al. 2015). Trendanalysen können beispielsweise Zukunftsannahmen zu plausiblen Zukünften verdichten. Hieraus lassen sich dann Handlungsoptionen ableiten, womit Unsicherheiten gemanagt werden können. Dafür müssen alle betroffenen Stakeholder mit ihren unterschiedlichen Perspektiven zusammengebracht werden. Ansonsten bleiben relevantes Wissen und auch die Bedürfnisse von Nutzern unberücksichtigt. Innovation ist also keine Einzelaufgabe, sondern Teamwork. Die Lösung großer Aufgaben endet auch nicht an Branchengrenzen. Das macht Innovation zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe. Die Politik kann gesellschaftliche Findungsprozesse anstoßen und moderieren. Dabei ist es ihre Rolle, Akzente zu setzen, indem sie Themen aufgreift und auf die Agenda der Forschungs-, Innovations- und Bildungspolitik setzt. Dazu gehören im Besonderen auch Nachwuchs- und Talentförderung und die Stärkung der Ausbildung. Weiterhin muss der Staat auch Infrastrukturen schaffen. Er kann Rahmenbedingungen gestalten, was bedeutet Möglichkeitsräume zu eröffnen,

Der Weg in die Zukunft

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neue Ansätze zu fördern und Regeln zu setzen. Auf diesem Nährboden können durch wirtschaftliche und andere Initiative Innovationen entstehen, die die großen Herausforderungen angehen. Die Gestaltung der Zukunft erfordert ein klares Commitment von allen Seiten wie auch eine wahrgenommene Notwendigkeit dafür. Der Weg in die Zukunft wird sicherlich nicht einfach – und zwar nicht deswegen, weil es in Deutschland bisher schlecht läuft, sondern, weil es immer noch gut läuft. Ein eingespieltes und erfolgreiches System ist sehr stabil und schwer zu ändern. Um jedoch die großen Herausforderungen, die sich deutlich am Horizont zeigen, zu meistern und auch in Zukunft vorne dabei zu sein, gilt es, die heutige Komfortzone zu verlassen. Fortschritt und Richtungswechsel verlangen Neugier und Mut, widerstrebende Perspektiven, Ansichten und Denkweisen. Entscheidend ist es also, dass eine Gesellschaft die Neugierde pflegt, sich bewusst mit Zukunft auseinandersetzt und Herausforderungen in den unterschiedlichen ­Gesellschaftsbereichen proaktiv angeht.

4 Eine Zukunftsvision für Deutschland Fünf große Konzepte zur Zukunftsvision Deutschlands führen durch das vorliegende Buch: „Resilienz“ (Teil III), „Leadership“ (Teil IV), „Unternehmensentwicklung“ (Teil V), „Nachhaltigkeit“ (Teil VI) und „Wohlstand“ (Teil VII). Die Autorinnen und Autoren aus Wirtschaft und Wissenschaft, etablierten Unternehmen und Start-ups, Universitäten und der Fraunhofer Gesellschaft bringen dafür höchst unterschiedliche ­Perspektiven ein. Genau diese Vielfalt braucht es, um die Debatte zur Zukunftsvision Deutschlands zu eröffnen. Vor dem thematischen Eintauchen in die einzelnen Kapitel bietet der Beitrag von Reinhold Popp und Ulrich Reinhardt einen Einblick in die Stimmungslage der deutschen Bevölkerung zu Zukunftsfragen. Repräsentative Erhebungen von prospektiven Meinungsbildern der Bevölkerung sind nicht nur forschungsmethodisches Instrument, sondern auch handlungsleitende Grundlage für zukunftsweisende Gestaltungsprozesse in Politik und Wirtschaft. Die von den Autoren vorgestellten 40 Meinungsbilder zu acht zentralen, arbeitsbezogenen Zukunftsfragen geben vorausschauende Einblicke in die Komplexität und Dynamik wichtiger technischer, wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen sowie zentraler Erwartungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und Zukunftsängste der deutschen Bürgerinnen und Bürger. Auf Basis dieser Befragungsergebnisse können Trends, Potenziale und Herausforderungen abgeschätzt und prospektiv Gestaltungsoptionen für Politik und Wirtschaft aufgezeigt werden. Im Zentrum des Kapitels zur resilienten Gesellschaft steht die Frage, wie wir auf die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung in unseren Lebens- und Arbeitsbereichen nicht nur reagieren, sondern diese auch aktiv und potenzialorientiert gestalten können. In ihrem Beitrag identifizieren Ralph Henn und Orestis Terzidis Rahmenbedingungen für und Anforderungen an die Entwicklung einer resilienten Gesellschaft.

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Dafür beleuchten sie acht aktuelle Gründungsprojekte im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) aus dem Raum Karlsruhe im Hinblick auf ihre Gestaltungspotenziale. Dabei betonen die Autoren die Bedeutung von Synergieeffekten und Wertschöpfungspotenzialen, die sich aus dem Zusammenspiel von smarten Systemen und menschlicher Fühl-, Denk- und Arbeitsfähigkeit ergeben. Werner Neumüller stellt aus einer unternehmerischen Perspektive den Zusammenhang zwischen nachhaltiger Resilienz und Unternehmenskultur sowie -management dar. Auf dem aktuellen Stand der Forschung aufbauend und mit Bezug auf die Erfahrungen der Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt er auf, wie wichtig das Thema Resilienz im Arbeits- und Unternehmenskontext ist. Resilienz setzt in Unternehmen ein werteorientiertes Management als Kernelement der Unternehmenskultur genauso voraus wie flexible organisationale Strukturen. Das Kapitel zum Thema Leadership besteht aus drei Beiträgen zu den Themenbereichen nachhaltige Unternehmensführung, Leadership im Wandel und Managementkompetenzen. Kati Najipoor-Schütte betont gleich zu Beginn die doppelte Verantwortung und Wirkungsrichtung sinnhafter Führung: Diese denkt Rendite und Nachhaltigkeit zusammen und entfaltet so ihr transformationales Potenzial nicht nur im eigenen Unternehmen, sondern auch in Gesellschaft und Politik. Leadership wird zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, die neben Selbst- und Sozialkompetenzen eine wertebasierte, sinnstiftende und ergebnisorientierte Haltung sowie die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen voraussetzt. Führen mit Sinn und Verantwortung kann dann sowohl für das eigene Unternehmen als auch für die Gesellschaft innovations- und ­zukunftsbezogene Potenziale bieten. Auf Basis ihrer eigenen praktischen Führungserfahrungen im Personalbereich fragt Gabriele Sons, wie Führung schon heute sowie in Zukunft aussehen kann. Der Fokus liegt dabei darauf, wie die Herausforderungen und Potenziale der digitalen Transformationsprozesse nicht nur innovationsfördernd, sondern auch nachhaltig und verantwortlich gestalten werden können und welche Kompetenzen, Eigenschaften, Haltungen und Werte Führungskräfte dafür benötigen. In einer durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUKA) geprägten Lebens- und Arbeitswelt verändern sich Rolle, Funktion und Verantwortung der Führungskraft. Diese agiert nach Sons zunehmend als Unternehmer im Unternehmen und als Netzwerker zwischen Unternehmen. Hagen Lindstädt zeigt in seinem methodisch geprägten Beitrag auf, wie anhand des am Institut für Unternehmensführung des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ­entwickelten Wargaming-Modellierungsansatzes disruptive Herausforderungen, Risiken und Chancen zukünftiger Trends und Entwicklungen modelliert, simuliert und analysiert sowie in Bezug auf Gestaltungsmöglichkeiten bewertet werden können. Das Modell identifiziert hierfür die wichtigsten Marktakteure sowie deren Handlungsoptionen und Präferenzen und stellt die strategisch zentralen Fragen: Wer will was? Wer handelt wie und warum? Welche möglichen Wirkketten ergeben sich aus welchen Entscheidungen und Handlungen und wie kann auf diese reagiert bzw. wie können diese proaktiv geplant und gestaltet werden?

Der Weg in die Zukunft

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Das stark im unternehmerischen Kontext verstandene Leadership-Konzept führt automatisch zur darauf aufbauenden Frage, welche Rolle Unternehmensentwicklung für und im Kontext einer Zukunftsvision spielt. Simone Menne beschäftigt sich in diesem Zusammenhang damit, welchen Beitrag die Unternehmenskultur für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens leisten kann. Auf Basis der Annahme, dass die Unternehmenskultur in Deutschland spezifische Merkmale aufweist, zeigt die Autorin mögliche Ansatzpunkte für eine Veränderung von Führungsmodellen, Kommunikations- und Arbeitsformen sowie Kreativitäts- und Innovationsförderung auf. Dabei könne diese Veränderung nur erfolgreich und nachhaltig gestaltet werden, wenn die angestrebte Unternehmenskultur mit den ihr entsprechenden Werten, Grundüberzeugungen und Zielen klar definiert wird und in die Vision und Strategie, das Risikomanagement und die Leistungsmessung des Unternehmens einfließt. Auf Basis seiner eigenen, vielseitigen Gründungserfahrungen formuliert Ramin Assadollahi in seinem Beitrag konkrete Handlungsempfehlungen für die Etablierung innovationsfördernder Start- und Umsetzungsbedingungen für Gründungsaktivitäten. Er adressiert dabei neben Politik, Wissenschaft und Wirtschaft im Besonderen die Aus- und Weiterbildungsakteure. Mut, Vertrauen, Offenheit, Agilität, Team- und Vernetzungsfähigkeit nennt er als zentrale Einstellungen, Werte und Fähigkeiten von zukunftsweisenden Gründern. Ein solches Mindset erfordert nicht nur neue Inhalte und Medien, sondern vor allem auch neuartige Lehr-Lern-, Experimentier- und Unterstützungsformate in Schule, Aus- und Weiterbildung. Neben den unternehmerischen Perspektiven benötigt die Diskussion um eine Zukunftsvision für Deutschland auch die Auseinandersetzung mit politischen Akteuren. Hierfür wird beispielhaft das Thema Nachhaltigkeit aufgegriffen. Rainer Walz thematisiert in seinem Beitrag die Voraussetzungen, Potenziale und Grenzen einer auf wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen basierenden Politikberatung im Nachhaltigkeitskontext. Anhand von Beispielen aus der aktuellen und zukunftsweisenden Klimadiskussion werden die Phasen des Policy Cycles vorgestellt. Dabei wird deutlich, dass wissenschaftliche Politikberatung im Themenfeld der Nachhaltigkeit auch eine Transformation des Wissenschaftlers selbst erforderlich macht, die neben der Bereitschaft zur inter- und transdisziplinären Kooperation auch das Austarieren unterschiedlicher Systemlogiken und normativer Festlegungen in Wissenschaft und Politik umfasst. Innovation gilt als Garant für Wachstum und Wohlstand. Die Beiträge dieses Buches zeigen, dass ein heutiges Verständnis weit darüber hinausgehen kann. Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb wird Innovation auch in Zukunft die zentrale Quelle des Wohlstands in Europa bleiben. Martin Brudermüller fordert in seinem Beitrag daher ein von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gemeinsam initiiertes Projekt „Innovation Europa“, das die Innovationsleidenschaft und -fähigkeit Europas aktiv fördert und langfristig sichert. Konkret bedeutet dies, dass Unternehmen und Akteuren in ­Politik und ­ Wissenschaft ihre Kompetenzen und Ressourcen stärker vernetzen, Forschung, Entwicklung und Innovation vor allem output- und wirkungsorientiert fördern und ­ ­bessere Rahmenbedingungen für Unternehmensgründungen schaffen.

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Daniel Jeffrey Koch weist in seinem Beitrag darauf hin, dass insbesondere im ­ orschungs- und Entwicklungsbereich der Künstlichen Intelligenz (KI) Netzwerke fehF len, die einen effizienten Transfer von Wissen, Kompetenz und Technologie von der Wissenschaft in die Unternehmen ermöglichen. Als General Purpose Technologie kann jedoch gerade die KI vielfältig und in allen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft eingesetzt werden. Hierfür wird eine KI-Vision und -Strategie benötigt, die den Wissensund Technologietransfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft stärker fördert und auf eine schnelle Erprobung und anpassungsfähige Implementierung von Innovationen zielt. Es geht um die innovations- und wettbewerbsfähige Zukunft Deutschlands. Alle Beiträge zeigen, wie wichtig eine Zukunftsvision für jeden einzelnen Akteur ist und wie komplex das Zusammenspiel der verschiedenen Ansichten und Akteure sein muss, um tatsächlich zu einer Zukunftsvision für Deutschland zu kommen. Die ­vertretenen Perspektiven führen zu einem Verständnis dessen und können den Diskurs, der auf wirtschaftlicher, politischer, zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene geführt werden muss, befeuern. Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt, so lautet ein altbekannter Spruch. Das gilt auch für die Diskussion um ein zukunftsfähiges Deutschland. Die folgenden ­Beiträge zeigen, dass sich Deutschland auf den Weg in Richtung Zukunft macht. Daneben lehrt uns das Sprichwort auch zweierlei Weiteres: Wir müssen eine Idee über die Entwicklungsrichtung haben und den ersten Schritt auch gehen wollen. Das bedeutet, dass die Gesellschaft zunächst eine Idee über eine wünschenswerte Zukunft, eine Zukunftsvision, braucht. Eine Zukunftsvision ist für die Motivation und das Mitgehen eines jeden Einzelnen sowie der Gesellschaft als Ganzes essenziell. Sie ist aber auch für die Entscheidung, in welche Richtung der Weg überhaupt führen soll, notwendig. Der vorliegende Band hat nicht zum Ziel, eine Zukunftsvision zu liefern. Aber er trägt zur Diskussion über die Zukunft bei und gibt damit einen ersten Anstoß für die Ausarbeitung einer Zukunftsvision für Deutschland. Der Band soll Impulse und Denkweisen aus unterschiedlichen Blickrichtungen liefern, um eine Vielzahl an Perspektiven auf die Zukunft Deutschlands zu erhalten. Ob es nun um resiliente Gesellschaft, Leadership, ­Unternehmensentwicklung, Nachhaltigkeit oder Wohlstand geht – diese Bereiche ­müssen Teil des Diskurses zur Zukunft Deutschlands sein.

Literatur Eichhammer, W., Bradke, H., & Weissenberger-Eibl, M. A. (2018). Energiewende: Chancen bei der Transformation der Industrie aus einer deutschen Perspektive. In T. Vogel & P. H ­ orvath (Hrsg.), Das Pariser Abkommen und die Industrie: Wie kann Österreich die Chancen der Energiewende nützen? (S. 110–118). Wien: new academic. Kontradieff, N. (1926). Die langen Wellen der Konjunktur. Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, 56, 573–609. Kotter, J. (1990). A force for change: How leadership differs from management. New York: Free Press.

Der Weg in die Zukunft

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Vereinte Nationen (2015). Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015. http:// www.un.org/Depts/german/gv-70/band1/ar70001.pdf. Zugegriffen: 10. Dez. 2018. Warnke, P., Koschatzky, K., Dönitz, E., Zenker, A., Stahlecker, T., Som, O., et al. (2016). Opening up the innovation systems framework towards new actors and institutions. Fraunhofer ISI Discussion Papers Innovation Systems and Policy Analysis 49. https://www.isi.fraunhofer. de/content/dam/isi/dokumente/ccp/innovation-systems-policy-analysis/2016/discussionpaper_49_2016.pdf. Zugegriffen: 10. Dez. 2018. Weissenberger-Eibl, M. (2018). Schöne digitale Arbeitswelt – Wie sieht Arbeit im Jahr 2030 aus? In In K. Anderson & B. Volkens (Hrsg.), Digital human (S. 213–224). ‎Frankfurt: Campus. Weissenberger-Eibl, M. (2004). Unternehmensentwicklung und Nachhaltigkeit (2. Aufl.). Rosenheim: Cactus Group Verlag. Weissenberger-Eibl, M. (2017). Innovationsforschung – ein systemischer Ansatz. Merkmale, Methoden und Herausforderungen. In Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (Hrsg.). Denkströme, 17, 33–56. Zweck, A., Holtmannspötter, D., Braun, M., Hirt, M., Kimpeler, S., & Warnke, P. (2015). Gesellschaftliche Veränderungen 2030 – Ergebnisband 1 zur Suche von BMBF-Forsight Zyklus II. Düsseldorf: Innovationsbegleitung und Innovationsberatung der VDI Technologiezentrum GmbH (Hrsg.).

Dr. Daniela Beyer ist wissenschaftliche Referentin am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe und Lehrbeauftragte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit Innovationsforschung, Digitalisierung sowie der Zukunft von Forschung und Lehre. Nach einem quantitativen Politikwissenschaftsstudium in Mannheim und interdisziplinären Master am SAIS Bologna Center der Johns Hopkins University arbeitete Daniela Beyer als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz und ­promovierte parallel an der Graduate School of Decision Sciences. Der Fokus lag dabei auf Entscheidungsfindungs- und Agenda-Setzungsprozessen. Dr. Meike Schiek ist als wissenschaftliche Referentin am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe tätig. Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen auf den Themen Innovation, Zukunft der Arbeit, Digitalisierung und Nachhaltigkeit sowie Mobilität. Meike Schiek promovierte zum Thema Corporate Regional Responsibility am Geographischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Dort war sie von 2009 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin, zuletzt in der Arbeitsgruppe Stadt- und Regionalökonomie. Danach leitete sie die Geschäftsstelle der Gesellschaftsinitiative Zukunft durch Industrie e. V. in Düsseldorf. Univ.-Prof. Dr. Marion A. Weissenberger-Eibl leitet das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe und ist Inhaberin des Lehrstuhls für Innovations- und TechnologieManagement am Institut für Entrepreneurship, Technologie-Management und Innovation am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Sie arbeitet zu Entstehungsbedingungen von Innovationen und deren Auswirkungen. Schwerpunkte ihrer Forschung bilden dabei das Management von Innovationen und Technologien, Roadmapping, die strategische Vorausschau und -Planung, Unternehmensnetzwerke sowie Wissensmanagement. Die studierte Bekleidungstechnikerin sowie Betriebswirtschaftlerin promovierte und habilitierte sich an der Technischen Universität München. In Wirtschaft und Politik ist sie eine geschätzte Expertin in den Fokusthemen Digitalisierung, Innovation und Zukunftsforschung.

Teil II Empirische Ergebnisse

Zwischen Zukunftsangst und Zuversicht 40 Meinungsbilder der Deutschen zum Wandel der Arbeitswelt Reinhold Popp und Ulrich Reinhardt

Natürlich interessiert mich die Zukunft. Ich will doch schließlich den Rest des Lebens in ihr verbringen. (Mark Twain)

1 Was zukunftsbezogene Forschung kann – und was nicht Zukunftsbezogene Forschung kann selbstverständlich nicht vorhersagen, wie die Zukunft wirklich wird. Sehr wohl möglich ist es jedoch, mit Hilfe von empirischen und hermeneutischen Forschungsmethoden aus der Analyse der bisherigen Wandlungsprozesse und der gegenwärtigen Ausprägungsformen des jeweiligen Forschungsgegenstandes eine plausible Vorausschau auf die Chancen und Gefahren der zukünftigen Entwicklungen abzuleiten. (Vertiefend zu den Grundlagen und Grundfragen der zukunftsorientierten Forschung siehe u. a.: Popp 2016; Popp et al. 2017, S. 169 ff.). Gute prospektive Forschung erfordert eine interdisziplinäre Kooperation und richtet ihren vorausschauenden Blick auf die Komplexität und Dynamik wichtiger gesellschaftlicher, technischer, wirtschaftlicher, politischer und psychosozialer Phänomene (Vertiefend dazu: Popp 2009; Popp 2012; Popp 2013; Popp und Zweck 2013; Popp und Reinhardt 2014; Popp et al. 2016; Popp 2019; Reinhardt 2011.). Dies gilt auch für die

R. Popp ()  Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected] U. Reinhardt  Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_2

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R. Popp und U. Reinhardt

wissenschaftlich fundierte Forschung zur Zukunft der Arbeitswelt. Denn ohne die kontextanalytische Zusammenschau von wirtschaftswissenschaftlichem, technikwissenschaftlichem, soziologischem, psychologischem und politikwissenschaftlichem Wissen über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Arbeitswelt lassen sich keine gegenstandsangemessenen Aussagen über dieses außerordentlich komplexe Forschungsgebiet machen. Im Gegensatz zu solchen mehrperspektivischen Analysen und Prognosen wird in der medialen Berichterstattung häufig der Eindruck vermittelt, dass die Entwicklung der Märkte und die Zukunft der Arbeitswelt von einem einzigen Phänomen bestimmt wird, nämlich der Digitalisierung – und der damit verbundenen Herrschaft der Maschinen. Durch solche monokausalen Prognosen gerät jedoch die Vielfalt des Berufslebens aus dem Blickfeld. Die seit einigen Jahrzehnten wirksame digitale Evolution ist selbstverständlich ein sehr einflussreicher Prozess. Aber auch in der zukünftigen Arbeitswelt werden die Menschen – und nicht die Maschinen – im Mittelpunkt stehen! Der folgende Text orientiert sich an ausgewählten Ergebnissen mehrerer prospektiver Forschungs- und Publikationsprojekte der beiden Autoren des vorliegenden Beitrags, insbesondere an den folgenden zwei thematisch relevanten Publikationen von Reinhold Popp und Ulrich Reinhardt: • Zukunft:Beruf:Lebensqualität. 77 Stichworte von A bis Z (Popp 2018): Aus dieser Publikation wurden für diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung des LIT-Verlags mehrere Textbausteine genutzt. • Schöne neue Arbeitswelt. Was kommt, was bleibt, was geht? (Reinhardt und Popp 2018): Aus dieser Publikation wurden im vorliegenden Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Stiftung für Zukunftsfragen die grafisch dargestellten Ergebnisse repräsentativer Befragungen sowie einige Textbausteine verwendet.

1.1 Erhebungsmethode Die im vorliegenden Beitrag in komprimierter Form zusammengefassten empirischen Forschungsergebnisse basieren auf einer Quotenstichprobe. Die Ermittlung der Quoten erfolgte auf Basis amtlicher Statistiken und Berechnungen durch die GfK Marktforschung – im Auftrag der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg. Für die Bestimmung der Auskunftspersonen erhielten die Außenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter der GfK Marktforschung die Merkmale Geschlecht, Alter, Beruf und Haushaltsgröße der Befragten vorgegeben. Die Auswahl der Außenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter erfolgte im Hinblick auf die Merkmale Ortsgröße und Bundesland. In diesem Zusammenhang hatte jeder Mitarbeiter bzw. jede Mitarbeiterin an seinem bzw. ihrem Wohnort zu befragen. Die Fragen wurden von den beiden Autoren des vorliegenden Beitrags entwickelt und die Feldarbeiten wurden vom Kooperationsinstitut GfK Marktforschung geleitet sowie kontrolliert.

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Anzahl und Repräsentanz: • Anzahl der Auskunftspersonen ab 14 Jahren: Für die im Abschn. 2. des vorliegenden Beitrags berücksichtigen Fragen wurden zum Teil 2000 bzw. zum Teil 4000 Probandinnen bzw. Probanden befragt. • Zeitraum der Befragung: 2014 bis 2016. • Geografischer Bezugsraum: Deutschland.

1.2 Repräsentative Befragungen in der zukunftsbezogenen Forschung Im Vergleich mit qualitativen Interviews (einschließlich Expertenbefragungen, u. a. in Form von Delphi-Studien) werden repräsentative Befragungen im Bereich der vorausschauenden Forschung eher selten eingesetzt. Einige Wissenschaftler (z. B. Opaschowski 2013; Popp 2015; Popp und Reinhardt 2015; Reinhardt und Popp 2018) interessieren sich jedoch nicht nur für die (mit Hilfe von Experteninterviews erhobenen) Zukunftsbilder von Entwicklungsingenieuren, Politikern oder Managern, sondern auch für die zukunftsorientierten Meinungsbilder des großen Rests der Bevölkerung. (U. a. im Hinblick auf dieses Forschungsinteresse kooperierten die beiden Autoren des vorliegenden Beitrags in mehreren zukunftsbezogenen Forschungs- und Publikationsprojekten.) Durch die Wiederholung von repräsentativen Befragungen in regelmäßigen Abständen – also durch die Zeitreihentechnik – können Veränderungen im Zeitverlauf festgestellt werden. Bei einigen der im Abschn. 2. des vorliegenden Beitrags präsentierten Zukunftsbilder lassen sich derartige Zeitreihenvergleiche anstellen.

1.3 Prospektive Meinungsbilder zwischen Zukunftsangst und Zuversicht Bei der Interpretation der Befragungsergebnisse werden die zukunftsbezogenen Meinungsbilder der Bevölkerung mit thematisch relevanten Forschungsergebnissen verglichen. Dabei spielt das kritisch-hermeneutische Verstehen der empirischen Erhebungsergebnisse eine zentrale Rolle. Diese theoriegeleitete Interpretation der empirischen Daten ermöglicht die Einschätzung der Plausibilität der erhobenen Zukunftsbilder. Bei diesem Typus von zukunftsbezogener Forschung dürfen jedoch die Meinungen der Menschen nicht mit objektiven Aussagen verwechselt werden. Denn selbst wenn ein kollektives Zukunftsbild von einer großen Zahl der Befragten vertreten wird, muss diese Mehrheitsmeinung aus wissenschaftlicher Sicht nicht unbedingt plausibel sein. Manchmal halten also die Meinungen der Bevölkerungsmehrheit einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Diese Diskrepanz tritt vor allem dann auf, wenn die Antworten auf Zukunftsfragen von massiven Zukunftsängsten durchdrungen sind. Zukunftsangst wirkt

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sich demnach negativ auf die Produktion realistischer Zukunftsbilder aus. Bei den mehrheitlich vertretenen Zukunftswünschen spielen häufig auch gewohnte Denkstrukturen eine zentrale Rolle. Dieser Zusammenhang lässt sich mit einem Zitat aus dem Munde von Henry Ford, dem Pionier der industriellen Autoproduktion, verdeutlichen: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: ‚Schnellere Pferde‘.“ Allem Anschein nach wird das Ungewohnte häufig nicht als sinnvolle Alternative zum Bekannten und Bestehenden wahrgenommen.

1.4 Auswertung der erhobenen Meinungsbilder mit dem Schwerpunkt „Generationen“ Im vorliegenden Beitrag werden die Ergebnisse der repräsentativen Befragungen der Deutschen zur Zukunft der Arbeitswelt vor allem im Hinblick auf die Meinungsbilder der unterschiedlichen Altersgruppen bzw. Generationen ausgewertet. (Ausführlicher dazu: Reinhardt und Popp 2018, S. 41 ff.) Diese generationenbezogene Differenzierung erlangte in den vergangenen Jahren im Zusammenhang mit dem Diversity-Diskurs (Popp 2018, S. 61 f.) eine kontinuierlich wachsende Bedeutung. In diesem Sinne ist übrigens ein zukunftsfähiges Personalmanagement in besonderer Weise auch ein Generationenmanagement.

1.4.1 „Generation“ ist ein vager Begriff Meist ist mit dem Begriff „Generation“ eine bestimmte Altersgruppe gemeint, z. B. die Generation 60 plus, also alle Mitglieder einer Gesellschaft, die 60 Jahre und älter sind. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 61 f.) Manchmal wird dem Generationenbegriff auch eine inhaltliche Bedeutung zugeschrieben, etwa „68er Generation“. Im Hinblick auf bestimmte Geburtsjahrgänge wird häufig die folgende grobe Typisierung versucht, wobei es in der einschlägigen Literatur keine einheitliche Zuordnung von Geburtsjahrgängen zu den jeweiligen Generationen gibt. Deshalb ist es erforderlich, die im vorliegenden Beitrag für die Einteilung der sechs „Generationen“ herangezogenen Alterskriterien transparent zu machen: • • • • • •

Kriegs- und Nachkriegsgeneration: früher als 1952 geboren, Babyboomer-Generation: Geburtsjahre 1952 bis 1965, Generation X: Geburtsjahre 1966 bis 1979, Generation Y: Geburtsjahre 1980 bis 1995, Generation Z: Geburtsjahre 1996 bis 2010, Generation ?: (evtl. „A“): ab 2011 geboren.

Bei diesen Typisierungen wird also angenommen, dass die jeweiligen Altersgruppen durch prägende historische Ereignisse und/oder durch veränderte gesellschaftliche bzw. ökonomische Entwicklungen ähnliche Sicht- und Verhaltensweisen entwickelt haben. In den vergangenen Jahren richtete sich der Blick mancher Unternehmensberaterinnen bzw.

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-berater und Arbeitsmarktexpertinnen bzw. -experten vor allem auf die Gemeinsamkeiten der gut unterscheidbaren Altersgruppen bzw. „Generationen“. In der Soziologie und Sozialpsychologie gibt es eine Vielzahl von Definitionen des Begriffs „Generation“, u. a. die folgende: Als Generation bezeichnet man „die Gesamtheit von Menschen ungefähr gleicher Altersstufe mit ähnlicher sozialer Orientierung und einer Lebensauffassung, die ihre Wurzeln in den prägenden Jahren einer Person hat“ (Mangelsdorf 2015, S. 12). Diese Prägung findet vor allem während der Kindheit, der Jugend und des frühen Erwachsenenalters statt, da in diesen Entwicklungsphasen die Motivation für die Veränderung der individuellen Wertesysteme am stärksten ausgeprägt ist. Der damit verbundene generationenspezifische Wertewandel ermöglicht neue Sichtweisen, die wiederum zu modifizierten Lebens- und Arbeitsweisen führen können. Im Hinblick auf die Arbeitswelt wird davon ausgegangen, dass durch diesen Wandel herkömmliche Strukturen, Funktionen und Prozesse in den Betrieben infrage gestellt werden, manche unternehmerischen Anreizsysteme für Mitarbeiter ihre Bedeutung verlieren und eingespielte Hierarchien relativiert werden. Derartige Prognosen sollten jedoch im Hinblick auf die Argumentation im folgenden Unterpunkt 1.4.2. differenziert betrachtet werden.

1.4.2 Kritische Anmerkungen zum Generationenkonzept Die typisierende Beschreibung von „Generationen“ hat durchaus Vorteile, weil sie ein grobes Orientierungsmuster für die Veränderungen von Wertesystemen durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse anbietet und somit eine Reduktion der Komplexität ermöglicht. Allerdings sollte dabei die differenzierte Betrachtung der Individuen nicht zu kurz kommen. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 76 f.) Obwohl die Mitglieder einer bestimmten Altersgruppe manche Ähnlichkeiten aufweisen, gilt sowohl heute als auch zukünftig für alle menschlichen Beziehungen – auch in der Arbeitswelt – der folgende Leitsatz: Jedes Individuum ist einzigartig! In diesem Sinne muss vor den Gefahren einer allzu rigiden Anwendung des Generationenkonzepts in aller gebotenen Deutlichkeit gewarnt werden! Denn niemandem sollten nur aufgrund des Geburtsjahres oder äußerer Einflussfaktoren bestimmte Eigenschaften ab- oder zugesprochen werden. Umstandslose Verallgemeinerungen sind auch deshalb nicht angebracht, weil es innerhalb jeder Generation ähnlich viele Unterschiede (z. B. im Hinblick auf Bildung, familiäre Herkunft oder Einkommen) wie Gemeinsamkeiten gibt. Eine noch stärkere Differenzierung als bei der Einteilung in Altersgruppen ergibt sich, wenn man vom Sinus-Konzept (www.sinus-institut.de) der verschiedenen Milieus und der darin dominierenden Lebensstile ausgeht. In Deutschland kommen zu all diesen differenzierenden Einflussfaktoren noch die unterschiedlichen Prägungen durch die bis zum Beginn der 1990er Jahre getrennten Lebenswelten und Lebenserfahrungen einerseits in der BRD und andererseits in der DDR. Außerdem weisen die im folgenden Abschn. 2 (2.1. bis 2.8.) dargestellten Befragungsergebnisse darauf hin, dass die Meinungsbilder der unterschiedlichen Generationen im Hinblick auf viele Zukunftsfragen nur unwesentlich voneinander abweichen.

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2 Acht thematische Schwerpunkte Die Auswahl der im folgenden Teil des vorliegenden Beitrags präsentierten und theoriegeleitet kommentierten 40 Zukunftsbilder erfolgte nach dem Kriterium der besonderen Relevanz für den Alltag vieler Menschen in der Arbeitswelt von morgen und ­übermorgen. Die ausgewählten Zukunftsbilder werden in Form von acht thematischen Schwerpunkten strukturiert: • • • • •

Zukunftsbilder zur Digitalisierung der Arbeitswelt Zukunftsbilder zur Rolle von Frauen in der Arbeitswelt Zukunftsbilder zur Rolle junger Menschen in der Arbeitswelt Zukunftsbilder zum Übergang vom Berufsleben in das nachberufliche Leben Zukunftsbilder zur Entwicklung der Arbeitszeit und der zeitlichen Flexibilisierung der Arbeitswelt • Zukunftsbilder zur Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit (Life Domain Balance) • Zukunftsbilder zur betrieblichen Gesundheitsförderung • Zukunftsbilder zur berufsbezogenen Bildung Jedes Schwerpunktthemas wird mit einem kurzen Überblickstext eingeleitet.

2.1 Meinungsbilder der Deutschen zur zukünftigen Digitalisierung der Arbeitswelt 2.1.1 Digitale Evolution Der wahrscheinlich wichtigste Einfluss auf die Zukunftsentwicklung geht von der kontinuierlichen digitalen Durchdringung nahezu aller Lebensbereiche aus. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 55 ff.) In diesem Zusammenhang gibt es die weit verbreitete Zukunftsangst, dass digitalisierte Maschinen und die so genannte künstliche Intelligenz sehr vielen Menschen die Arbeit wegnehmen werden. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 25 ff.,100 ff.; Reinhardt und Popp 2018, S. 77 ff., 80 ff.) Historisch betrachtet ist diese angstbesetzte Meinung nicht plausibel. Denn Maschinen haben zwar immer wieder Berufe verschwinden lassen, manchmal sogar in einem durchaus dramatischen Ausmaß. Man denke etwa an die Automatisierung in der Landwirtschaft oder an die Digitalisierung in der Repro- und Druckbranche. Aber die Angst vor Maschinen als Jobkiller hat sich in der bisherigen Wirtschaftsgeschichte immer nur kurzfristig bestätigt. Im Endeffekt hat die gestiegene Arbeitsproduktivität bisher immer dazu geführt, dass die Produkte billiger und manchmal sogar besser wurden, dass die Arbeitszeit sank und die Löhne – zumindest moderat – stiegen sowie neue Arbeitsplätze an anderer Stelle entstanden. Vieles spricht dafür, dass sich das bei den digitalisierten Maschinen ähnlich abspielen wird.

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Denn moderne Arbeitsmärkte sind sehr dynamisch und die Veränderungen kommen ja nicht explosionsartig, sondern in Form eines kontinuierlichen Prozesses. Dazu kommt noch, dass sich diese Entwicklungen – in vielen Ländern der EU und auch in Deutschland – unter den Rahmenbedingungen einer gut organisierten Arbeitspolitik abspielen werden. Im Bereich der Digitalisierung der Arbeitswelt spricht übrigens nichts für eine zukünftige Revolution, jedoch Vieles für eine sehr dynamische Fortsetzung der seit wenigen Jahrzehnten laufenden Entwicklungen, also für die digitale Evolution, bei der die Innovationszyklen immer kürzer werden. Diese evolutionäre Sichtweise reduziert auch die Zukunftsangst. Freilich: Die tief greifenden Technikfolgen der Digitalisierung sollten nicht unterschätzt werden. Aber es gibt nicht nur Gefahren, sondern auch viele Chancen.

2.1.2 Künstliche Intelligenz – menschliche Intelligenz Wenn man unter „Intelligenz“ nur das Speichern und Verknüpfen von gigantischen Datenmengen versteht, dann ist die sogenannte „künstliche Intelligenz“ schon heute besser ist als der Mensch. Deshalb gewinnen künstlich intelligente Maschinen gegen Menschen beim Schach oder bei Quizspielen. In den kommenden Jahrzehnten wird die Technikentwicklung noch für viele Verbesserungen sorgen, und deshalb werden die sogenannten „Roboter“ in dem oben skizzierten Leistungsbereich zukünftig noch mehr können als bereits heute. Wenn man allerdings unter Intelligenz das in der langen Evolution des Homo sapiens entstandene komplexe Gesamtkunstwerk der menschlichen Intelligenz versteht, fällt der Vergleich zwischen Mensch und Maschine völlig anders aus. Denn selbst sehr hoch entwickelte Roboter werden auch zukünftig nur sehr wenig von all dem können, was die menschliche Intelligenz ausmacht – und übrigens auch, was das menschliche Leben lebenswert macht. Roboter können nicht lieben und nicht streiten, haben keine Freunde, empfinden kein Mitgefühl, existieren jenseits von Erotik und Sexualität, haben keine Sehnsüchte und keine Träume, erleben weder die Pubertät noch die Altersweisheit, können sich nicht über gute Musik – egal ob von Mozart oder Madonna – freuen, können weder Kunst noch gutes Essen bzw. guten Wein genießen und selbstverständlich fehlt ihnen auch der Humor. Die Besonderheit der menschlichen Intelligenz liegt in der hoch entwickelten Fähigkeit zur Verknüpfung von kognitiver Intelligenz mit körperlicher, emotionaler und sozialer Intelligenz. Und zur sozialen Intelligenz zählen auch die politische Intelligenz sowie die Fähigkeit, nach ethischen Werten zu handeln. In diesem Zusammenhang sollte auch hinlänglich beachtet werden, dass die menschliche Intelligenz das Produkt einer permanenten und von Emotionen begleiteten Interaktion, Kommunikation und Kooperation mit anderen Personen ist. Die menschliche Intelligenz ist also nicht nur ein neuronales, sondern auch ein soziales Phänomen! (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 100 ff.). 2.1.3 Die fragwürdigen Zukunftsvisionen des Transhumanismus Der Transhumanismus strebt die radikale Optimierung sowohl der physischen und psychischen Existenz des Menschen als auch des menschlichen Zusammenlebens durch eine sich selbst kontinuierlich weiterentwickelnde, informations-, neuro- und biotechnisch

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basierte künstliche Superintelligenz an. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 144 ff.) Letztendlich soll eine neue Spezies von extrem intelligenten, sich selbst permanent verbessernden und sogar ewig lebenden Maschinenmenschen geschaffen werden. Der Bedeutungszuwachs dieser geradezu religionsähnlich anmutenden und letztlich antidemokratischen Zukunftsvisionen der Transhumanisten hängt nicht zuletzt mit der Strahlkraft der von großen Technologiekonzernen finanzierten „Singularity University“ im Silicon Valley zusammen.

2.1.4 Die Digitalisierung ist wichtig, aber keinesfalls die einzige Herausforderung für die Arbeitswelt der Zukunft Viele große Herausforderungen in der zukünftigen Arbeitswelt haben zwar unter anderem auch mit der Digitalisierung zu tun, lassen sich jedoch keineswegs von digitalisierten Maschinen, sondern nur durch kluges Handeln von Menschen bewältigen. So wird auch zukünftig eine gute Arbeitsqualität aus Fähigkeiten resultieren, über die selbst der beste Roboter niemals verfügen wird, u. a. aus kompetenter Kommunikation, menschlicher Empathie und wertschätzender Führung. Ebenso lässt sich der für ein leistungsförderndes Arbeitsklima erforderliche zukunftsfähige Mix an Maßnahmen nur von Menschen aus Fleisch und Blut und nicht von Robotern mit Bits und Bytes planen und umsetzen! Auch für die Lösung von Interessenskonflikten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wird in den kommenden Jahrzehnten die Kommunikationskultur von kompromissorientiert argumentierenden Menschen und nicht die mathematische Rationalität von Robotern sorgen. Im folgenden Teil dieses Abschnitts verdeutlichen einige repräsentativ erhobene Zukunftsbilder der Deutschen die Argumentation im obigen Überblickstext. Zukunftsbild Nr. 01: Wirtschaftswachstum durch die Digitalisierung 84 % der Deutschen glauben daran, dass in der Weiterentwicklung der Technologien für Information, Kommunikation und Automatisierung ein sehr großes Zukunftspotenzial für das wirtschaftliche Wachstum liegt. Erstaunlicherweise präsentiert sich ausgerechnet das Meinungsbild der seit dem Kleinkindalter mit digitalen Medien vertrauten jüngsten Generation Z (75 %) weit unterhalb des Bevölkerungsdurchschnitts (Abb. 1). Zukunftsbild Nr. 02: Bessere Arbeitsbedingungen durch die Digitalisierung 59 % der Deutschen gehen davon aus, dass sich in den kommenden zwei Jahrzehnten durch die Digitalisierung in den meisten Betrieben die Arbeitsbedingungen verbessern werden. Erwartungsgemäß sind die jüngeren Generationen (Generation Y: 66 %, Generation Z: 62 %) ein wenig optimistischer als der Bevölkerungsdurchschnitt (Abb. 2). Zukunftsbild Nr. 03: Angenehmeres Leben durch die Digitalisierung Im folgenden Zeitreihenvergleich zeigt sich, dass sich das Meinungsbild der Deutschen zu der Frage, ob die neuen Technologien das Leben leichter und angenehmer machen, in den vergangenen 22 Jahren kontinuierlich von nur 21 % im Jahr 1996 in Richtung von

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Abb. 1   Digitalisierung als Potenzial für Wirtschaftswachstum

beachtlichen 85 % im Jahr 2015 verändert hat. Trotz vieler Zukunftsängste erkennen offensichtlich fast alle Deutschen auch die positiven Wirkungen neuer Technologien an, wobei die Kriegs- und Nachkriegsgeneration (72 %) erwartungsgemäß ein wenig skeptischer ist (Abb. 3). Zukunftsbild Nr. 04: Zusätzliche Arbeitsplätze durch die Digitalisierung Mehr als die Hälfte der Deutschen (56 %) meint, dass die neuen Technologien zusätzliche Arbeitsplätze schaffen werden. Überdurchschnittlich optimistisch sind die jüngeren Generationen (Generation Y: 65 %, Generation Z: 69 %). Eher skeptisch sind die ­Babyboomer (51 %) und sehr skeptisch die Mitglieder der Kriegs- und Nachkriegsgeneration (45 %). Diese Annahme eines zukünftigen Beschäftigungszuwachses ist durchaus realistisch. Denn durch die Digitalisierung werden zwar manche Jobs wegfallen, aber an anderer Stelle neue Jobs dazukommen. Der Fokus der Diskussion über die

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Abb. 2   Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch Digitalisierung

Zukunft der Arbeitswelt sollte also weniger auf die Frage des Abbaus von Arbeitsplätzen als vielmehr auf den Umbau des Arbeitsmarkts gerichtet sein (Abb. 4). (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 28) Zukunftsbild Nr. 05: Angst vor Jobverlust durch die Digitalisierung Der im Zukunftsbild Nr. 04 präsentierten positiven Annahme zu den Technikfolgen der Digitalisierung stehen jedoch bei einer sehr großen Mehrheit der Deutschen die tief greifenden Zukunftsängste gegenüber, • dass in den kommenden zwei Jahrzehnten viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Roboter ersetzt werden (62 %), • und dass in Zukunft durch die fortschreitende Automatisierung und Digitalisierung (global) mehr Menschen arbeitslos werden (72 %). Bei der Detailauswertung dieses Befragungsergebnisses zeigt sich: je älter desto mehr Zukunftsangst (Abb. 5).

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Abb. 3   Leichteres Leben durch die neuen Technologien?

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Abb. 4   Neue Technologien und Arbeitsplätze

Zukunftsbild Nr. 06: Künstliche Intelligenz – menschliche Intelligenz Knapp die Hälfte der Deutschen (48 %) hält es für realistisch, dass es bereits in 20 Jahren Roboter geben wird, die etwa so intelligent sind wie Menschen. Danach – so meinen sie – wird sich die Intelligenz der Roboter weit über die menschliche Intelligenz hinaus entwickeln (Abb. 6). An dieses transhumanistische Zukunftsbild glaubt jene Altersgruppe, die sich im Generationenvergleich am stärksten mit den Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung auseinandergesetzt hat, am wenigsten (Generation Z: 43 %). Zukunftsbild Nr. 07: Human Enhancement – Doping im Alltag? Zu dem im Zukunftsbild 06 präsentierten Glauben an die Leistungsfähigkeit künstlich intelligenter Maschinen passt auch die – im zweiten Teil der obigen Grafik dargestellte – Annahme, dass die Bedeutung von „Human Enhancement“ zukünftig erheblich wachsen wird. Denn mehr als zwei Drittel der Deutschen (68 %) sind davon überzeugt, dass in den kommenden zwei Jahrzehnten in Deutschland die künstliche Verbesserung der menschlichen Fähigkeiten (z. B. durch leistungsfördernde Medikamente etc.) sehr weit fortgeschritten und verbreitet sein wird. Am wenigsten stark wird dieses Zukunftsbild von der jüngsten Generation Z (64 %) und der ältesten

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Abb. 5   Nehmen Roboter den Menschen ihre Arbeit weg?

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Abb. 6   Roboter-Intelligenz vs. menschliche Intelligenz

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Generation (Kriegs- und Nachkriegsgeneration: 63 %) vertreten. Dieses Meinungsbild ist durchaus realistisch. Denn was im Sport als Doping verpönt ist, hat bereits gegenwärtig beim Streben nach dem schnellen Sieg in Schule und Beruf ein deutlich besseres Image. Zukünftig wird der überforderte Mensch nicht nur auf aktivierende Tabletten zur Leistungssteigerung, sondern auch auf ein weites Spektrum an technischen Muntermachern zurückgreifen können, etwa auf sogenannte Neurostimulatoren, also auf Implantate zur elektronischen Steuerung von erwünschten Gehirnaktivitäten. Gesund sind diese selbstoptimierenden Powerprodukte freilich nicht. Deshalb wäre es bereits heute – und zukünftig immer mehr – sehr sinnvoll, Nein zu sagen, wenn der Druck zu groß und die Lebensqualität zu klein wird.

2.2 Meinungsbilder der Deutschen zur zukünftigen Rolle von Frauen in der Arbeitswelt 2.2.1 Gleichstellung von Frauen in der Arbeitswelt Bei den Abschlüssen an höheren Schulen und Hochschulen haben die jungen Frauen die jungen Männer bereits überholt. Bisher setzte sich diese pädagogische Erfolgsstory jedoch bekanntlich nur sehr begrenzt in den Karrierechancen und in der Höhe des Gehalts fort. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 73) Die Gleichstellung von Frauen und Männern – auch in der Arbeitswelt – ist jedenfalls ein sehr wichtiges Thema der Zukunftsgestaltung. Heute gelten fast alle diesbezüglichen Maßnahmen nur der Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Unverzichtbar ist jedoch auch die Modifikation der mentalen Sichtweisen. Zukünftig braucht es beides: Die Veränderung der Verhältnisse und gleichzeitig des Verhaltens – einschließlich der unbewussten Motive. Für eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen – auch in Vollzeitjobs, in gut bezahlten Technikberufen und als Führungskräfte – spricht jedenfalls das individuelle Ziel einer selbstbestimmten Lebensplanung. Dabei geht es nicht nur um das Einkommen in der beruflich aktiven Lebensphase, sondern auch in der immer länger dauernden nachberuflichen Zeit. Denn die staatlich geregelte Rente wird zukünftig nur bei einer langen Berufstätigkeit mit guter Entlohnung eine existenzsichernde Höhe erreichen. Auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter gab es in den vergangenen Jahrzehnten – vor allem seit den 1970er Jahren – sowohl in der Arbeitswelt als auch im Familienleben einige wichtige Schritte in die richtige Richtung. Aber der größte Teil des Weges liegt noch vor uns! (Vertiefend dazu: Reinhardt und Popp 2018, S. 113 ff.). 2.2.2 Frauen in  Technikberufen Es ist hinlänglich bekannt, dass in Deutschland sowohl im dualen Bildungssystem als auch bei den Hochschulstudien allzu viele Frauen einen großen Bogen um technisch orientierte Ausbildungen machen. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 74) Die Ausrede, Frauen wären wegen ihrer geringeren Körperkraft für Jobs in diesen Berufsfeldern weniger geeignet, ist freilich nicht stichhaltig. Denn in den meisten technischen Berufen

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hängt der Arbeitsalltag längst nicht mehr mit körperlichen Voraussetzungen zusammen. Die mentalen Aspekte der beruflichen Weichenstellung prägen sich oftmals bereits in den ersten Lebensjahren aus. In vielen Familien orientiert sich nämlich die Erziehung noch stark an geschlechtsspezifischen Stereotypen. Deshalb sind die genderspezifische Segmentierung am Arbeitsmarkt im Allgemeinen sowie der geringe Anteil von Frauen in Technikstudiengängen und in gut bezahlten Technikberufen im Besonderen bis heute ein ungelöstes Problem. Oberflächliche Imagekampagnen kurz vor der Berufswahl der jungen Menschen bringen in dieser Frage nur wenig. Bei der Entwicklung von Maßnahmen für eine zukünftige Verbesserung sollte übrigens auch die überwiegend männlich geprägte Kommunikationskultur in den schulischen und hochschulischen Technikausbildungen nicht außer Acht gelassen werden. Die Erhöhung des Frauenanteils im Produktions- und Techniksektor stellt jedenfalls eine große Herausforderung für die ­Bildungs- und Arbeitswelt der Zukunft dar. Zukunftsbild Nr. 08: Frauen als Gewinnerinnen der zukünftigen Arbeitswelt? Nur rund die Hälfte (51 %) der Deutschen geht davon aus, dass Frauen in den nächsten 20 Jahren zu den Gewinnerinnen der Arbeitswelt zählen werden. Im Hinblick auf dieses Zukunftsbild gibt es erstaunlicherweise keine signifikanten Unterschiede zwischen den Generationen. Dieses in der deutschen Bevölkerung weit verbreitete Meinungsbild weist darauf hin, dass die schleppenden Fortschritte bei der Erwerbsbeteiligung, der besseren Entlohnung und der Karriereentwicklung von Frauen neben manchen strukturellen Gründen auch mit den in der unbewussten Psychodynamik tief verankerten genderbezogenen Rollenbildern zusammenhängen (Abb. 7). Zukunftsbild Nr. 09: Gleichstellung von Frauen – auch in der Arbeitswelt? Ebenso nur die Hälfte (50 %) der Deutschen ist sehr zuversichtlich, dass in 20 Jahren Frauen und Männer in der Arbeitswelt gleichgestellt sein werden (gleiches Gehalt, gleiche Karrierechancen). Dieses skeptische Meinungsbild bestätigt die bereits im Zukunftsbild Nr. 08 präsentierten Befragungsergebnisse, wobei die beiden jüngsten Generationen (Generation Y und Z: jeweils 57 %) ein wenig zuversichtlicher sind als die älteren Deutschen (Abb. 8). Zukunftsbild Nr. 10: Frauen in Technikberufen Derzeit sind Frauen im Bereich der meist gut bezahlten technischen Berufe stark unterrepräsentiert. Drei Viertel (75 %) der Deutschen vertreten die optimistische Meinung, dass sich dieser defizitäre Status quo mittelfristig ändern wird und in diesem Berufssegment in 20 Jahren deutlich mehr Frauen arbeiten werden. Zwischen den Meinungsbildern der unterschiedlichen Generationen gibt es in dieser Frage keine nennenswerten Unterschiede (Abb. 9).

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Abb. 7   Frauen als Gewinner der zukünftigen Arbeitswelt

2.3 Meinungsbilder der Deutschen zur zukünftigen Rolle junger Menschen in der Arbeitswelt 2.3.1 Positive Berufsaussichten für gut gebildete junge Menschen Allein schon die geringen Geburtenraten sprechen für gute Jobaussichten der nachwachsenden Generationen. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 92 f.) Denn zukünftig gibt es so wenig Nachwuchs für den Arbeitsmarkt wie schon lange nicht mehr. Außerdem sind viele junge Menschen nicht nur auf die heimischen Stellenangebote angewiesen, sondern können sich auch am internationalen Arbeitsmarkt bewerben. Aber auch in qualitativer Hinsicht haben bereits die heutigen und ebenso die zukünftigen jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einiges zu bieten. Man denke nur an die meist recht guten Fremdsprachenkenntnisse, an die ausgeprägte mediale Kompetenz oder an die Fähigkeit zur kreativen Kooperation in Projekten. Noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es einen so großen Anteil der jungen Generation mit einem vergleichbar hohen formalen Bildungsniveau wie bei den heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Und das alles unter

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Abb. 8   Gleichberechtigung der Geschlechter in der Arbeitswelt

den privilegierten Rahmenbedingungen von Deutschland, das zu den reichsten Ländern der Welt zählt. Gute Chancen bei der Suche nach einem qualitätsvollen Job gibt es allerdings nicht erst in der Zukunft. Denn bereits heute schaffen fast alle Jugendlichen und j­ungen Erwachsenen, die eine duale Ausbildung, eine höhere Schule oder eine Hochschule erfolgreich abgeschlossen haben, relativ bald nach dem Bildungsabschluss den Einstieg in das Berufsleben. Es spricht wenig dafür, dass sich diese positiven Bedingungen in mittelfristiger Perspektive ändern werden. (Vertiefend dazu: Reinhardt und Popp 2018, S. 160 ff.).

2.3.2 Probleme am Arbeitsmarkt für die weniger gut gebildeten jungen Menschen Die oben skizzierte positive Diagnose und Prognose gilt jedoch nur für die große Mehrheit der jungen Menschen mit Abschlüssen im dualen Bildungssystem, an höheren

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Abb. 9   Frauen in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen

­ chulen oder an Hochschulen. Denn die Bedeutung der Bildung als Schlüsselfaktor für S den Erfolg am Arbeitsmarkt, für den Lebensstandard und die Lebensqualität wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiterwachsen. Allerdings sollte die weniger gut gebildete Minderheit unter den jungen Menschen nicht vernachlässigt werden. Diese Gruppe wird es nämlich zukünftig – in Anbetracht des Bedeutungszuwachses der Bildung – leider noch schwerer haben als heute. Zukunftsbild Nr. 11: Junge Generation – Arbeitsplatzsicherheit – Wohlstand? Knapp zwei Drittel (64 %) der Deutschen befürchten, dass es für die junge Generation in Zukunft viel schwieriger werden wird, ebenso abgesichert und im Wohlstand zu leben wie die heutige Elterngeneration. Die diesbezüglichen Meinungsbilder der unterschiedlichen Generationen weichen nur unwesentlich voneinander ab. Allerdings gibt es für diese angstbesetzte Prognose keine rationale Begründung (Abb. 10).

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Abb. 10   Abgesichert wie die Elterngeneration

Zukunftsbild Nr. 12: Berufliche Zukunftschancen der jungen Generation Die im Zukunftsbild Nr. 11 präsentierte negative Einschätzung der zukünftigen beruflichen Absicherung und des Lebensstandards junger Menschen gilt aus der Sicht der repräsentativ befragten Deutschen keineswegs für die Prognose der beruflichen Chancen junger Menschen (Abb. 11). Denn 54 % der Deutschen vertreten die Meinung, dass junge Menschen wegen des demografischen Wandels in den kommenden 20 Jahren am Arbeitsmarkt stark umworben werden. Ein wenig skeptischer ist die jüngste Generation Z (51 %). Zukunftsbild Nr. 13: Junge Generation – mehr Stress im Arbeitsalltag? Obwohl also (im Sinne des Zukunftsbilds Nr. 12) die Jobchancen für junge Menschen für sehr gut gehalten werden, erwarten zwei Drittel (67 %) der Deutschen, dass jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zukünftig einerseits mit mehr Arbeitsplatzunsicherheit und häufigerem Jobwechsel und andererseits mit mehr Druck und Stress im Arbeitsalltag rechnen müssen (Abb. 12). Überdurchschnittlich stark wird dieses

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Abb. 11   Junge Arbeitskräfte als Mangelware

Meinungsbild von der Generation X (70 %) und den älteren Generationen (Babyboomer sowie Kriegs- und Nachkriegsgeneration, jeweils 71 %) vertreten, während sich die jüngeren Generationen (Generation Y: 61 %, Generation Z: 59 %) als weniger skeptisch erweisen. Zukunftsbild Nr. 14: Junge Generation – Lebensqualität statt Lebensstandard? In der öffentlichen und veröffentlichten Meinung wird häufig behauptet, dass für die gegenwärtig jüngeren Generationen (z. B. für die Generationen Y, X oder Z) das persönliche Wohlergehen und eine höhere Lebensqualität zukünftig wichtiger sein wird als die ständige Steigerung des Lebensstandards (Abb. 13). Das repräsentativ erhobene Meinungsbild entlarvt diese Behauptung als Mythos. Denn nur 29 % der Deutschen – auch die jüngeren Generationen – vertreten diese Sichtweise.

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Abb. 12   Arbeitsplatzunsicherheit

2.4 Meinungsbilder der Deutschen zum Übergang vom Berufsleben in das nachberufliche Leben 2.4.1 Alter(n)sgerechte Arbeitswelt Der moderat verlängerte produktive Verbleib von älteren Arbeitnehmern im Erwerbsleben ist eine wichtige Herausforderung der zukünftigen Arbeitswelt. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 18 ff.) Allerdings stimmt dieses Ideal nicht immer mit der gegenwärtigen Personalentwicklung in den deutschen Unternehmen überein. Grundsätzlich halten auch die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Anpassung der Lebensarbeitszeit an die verlängerte Lebenszeit für durchaus plausibel. Wenn es jedoch um die individuelle Lebensplanung geht, hält sich die Begeisterung für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit meist in engen Grenzen. (Vertiefend dazu: Reinhardt und Popp 2018, S. 123 ff.). 2.4.2 Negative Altersbilder Auch außerhalb der Arbeitswelt dominieren negative Altersbilder, etwa, wenn in den Medien der diskriminierende Begriff „Überalterung“ verwendet wird. Denn der Begriff „Überalterung“ suggeriert, dass es zu viele alte Menschen gebe. Erstaunlicherweise gibt

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Abb. 13   Persönliches Wohlergehen vs. Lebensstandardsteigerung

es im allgemeinen Sprachgebrauch keinen vergleichbaren Begriff für die demografischen Entwicklungen im jüngsten Segment der Bevölkerung, z. B. „Unterjüngung“. Eine alter(n)sgerechte Arbeitswelt kann es also zukünftig nur dann geben, wenn sich in weiten Teilen der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik ein positiveres Bild des Alterns und des Alters durchsetzt. Gegenwärtig ist das Image von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern noch überwiegend negativ besetzt: zu teuer, zu langsam, zu unflexibel, zu oft krank. Zukünftig müssen auch jene Kompetenzen betont werden, bei denen ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den meisten jüngeren Kollegen überlegen sind: Ausdauer, Erfahrung, Loyalität, soziale Kompetenz, Verlässlichkeit. Bei aller Wertschätzung des Alters sollten die vielfältigen Qualitäten jüngerer Menschen jedoch nicht wegdiskutiert werden. Auch in der Arbeitswelt dürfen Jung und Alt nicht gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr geht es um einen leistungsgerechten Umgang mit allen Altersgruppen bzw. Generationen (Vertiefend dazu: Popp und Reinhardt 2012; Popp 2017.).

2.4.3 Vorausschau auf die nachberufliche Lebensphase Konzepte des alter(n)sgerechten Arbeitens müssen berücksichtigen, dass die Menschen sich auch in der nachberuflichen Lebensphase eine gute Lebensqualität wünschen. Denn das Leben nach dem Beruf dauert schon heute länger als zwei Jahrzehnte – mit zukünftig weiter steigender Tendenz. Mit dieser Frage des Übergangs von Beruf in die nachberufliche Lebensphase beschäftigen sich die folgenden drei Zukunftsbilder der Deutschen.

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Zukunftsbild Nr. 15: Nur wenige Deutsche wollen länger arbeiten Von der Verlängerung der Lebensarbeitszeit hält die sehr große Mehrheit der Deutschen nur wenig. Denn nur 29 % der Deutschen sind der Meinung, dass in Zukunft das gesetzliche Renteneintrittsalter jährlich um einen Monat ansteigen sollte, da ja auch die Lebenserwartung jedes Jahr um etwa zwei bis drei Monate steigt (Abb. 14). Mit Ausnahme der Mitglieder der jüngsten Generation Z (40 %) bewegen sich die Meinungsbilder aller Generationen auf dem Niveau des Durchschnittwerts der Gesamtbevölkerung. Zukunftsbild Nr. 16: Länger arbeiten – höhere Rente?  Nur 14 % der Deutschen würden lieber länger berufstätig bleiben und später in den Ruhestand gehen, dafür aber eine höhere Rente bekommen (Abb. 15). Der Anteil der Deutschen, der sich diese Variante vorausschauend vorstellen kann, hat sich allerdings im Zeitreihenvergleich seit 1993 (auf niedrigem Niveau) verdoppelt (1993: 7 %, 2003: 8 %, 2015: 14 %). Zukunftsbild Nr. 17: Kürzer arbeiten – weniger Rente? Nur 18 % der Deutschen würden lieber früher vom Berufsleben in den Ruhestand wechseln und dafür eine geringere Rente in Kauf nehmen (Abb. 16). Der Anteil der Deutschen, die sich diese Variante vorausschauend vorstellen können, hat sich im Zeitreihenvergleich seit 1993 nur leicht erhöht (1993: 14 %, 2003: 21 %, 2015: 18 %). Allerdings ist zu beachten, dass es bei dieser Zukunftsfrage sehr große Unterschiede zwischen den Meinungsbildern der jüngeren Generationen und der älteren Generationen gibt (Generation Z: 2 %, Generation Y: 13 %, Babyboomer: 27 %).

Abb. 14   Anstieg des gesetzlichen Renteneintrittsalters

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Abb. 15   Später Ruhestand für mehr Rente

2.5 Meinungsbilder der Deutschen zur zukünftigen Entwicklung der Arbeitszeit und der zeitlichen Flexibilisierung der Arbeitswelt 2.5.1 Beruf: Nur 10 % der Lebenszeit Selbst im Falle einer in Deutschland bereits häufiger realisierten Vollzeitarbeit bis 65 wird nur rund ein Zehntel der Lebenszeit für die berufliche Arbeit verwendet! Diese Aussage klingt zwar überraschend, lässt sich jedoch rasch nachrechnen: 1600 h Jahresarbeitszeit × 45 Arbeitsjahre = 72.000  h Lebensarbeitszeit. Dies sind in Relation zur durchschnittlichen Lebenserwartung (720.000 h) rund zehn Prozent. Dieses Verhältnis zwischen Lebenserwartung und Lebensarbeitszeit wird sich auch zukünftig nicht ändern.

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Abb. 16   Frühzeitiger Ruhestand

Denn das Ausmaß der Lebensarbeitszeit wird zwar steigen, aber die Lebenserwartung steigt noch rascher. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 30 ff.) Insgesamt betrachtet hängen Lebenszufriedenheit und Lebensglück für eine wachsende Zahl von Menschen vermehrt von der Qualität der Lebensbereiche außerhalb des Berufs ab. Dennoch wird der Beruf auch langfristig wichtig bleiben. Aber die Arbeitswelt wird sich weiter wandeln. Die heute – und wohl auch in mittelfristiger Zukunft – für Vollzeitbeschäftigte geltende Jahresarbeitszeit beträgt rund 1600 Arbeitsstunden. Im Fall einer Vollzeitbeschäftigung werden knapp zwei Drittel der Tage eines Kalenderjahres für die berufliche Arbeit verwendet. Mehr als ein Drittel der Tage eines Jahres sind berufsfreie Zeit: Wochenenden, Feiertage und Urlaubstage. An dieser Struktur der Jahresarbeitszeit wird sich in mittelfristiger Perspektive nicht viel ändern.

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2.5.2 Zukünftige Entwicklung der Arbeitszeit Im Hinblick auf die Arbeitszeit sind für Deutschland in mittelfristiger Zukunft folgende Entwicklungen zu erwarten: • Stärkere Flexibilisierung der Tages- und Wochenarbeitszeit. • Keine tief greifende Arbeitszeitverkürzung; allenfalls moderate Verkürzung der Wochenarbeitszeit vor allem im Produktionssektor. • Keine nennenswerte Veränderung des gesetzlich geregelten Ausmaßes des Erholungsurlaubs. • Verbesserung der rechtlichen und faktischen Möglichkeiten für selbst gewählte längere Auszeiten (Arbeitszeitkonten, Sabbaticals). • Moderate Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch gesetzliche und faktische Erhöhung des Antrittsalters für die Altersrente bzw. Pension. • Späterer Einstieg in das Arbeitsleben durch die faktische Verlängerung der Ausbildungszeit.

2.5.3 Work Life Blending Ein bedeutsames Zukunftsproblem besteht im sogenannten „Work-Life-Blending“, also der ständigen beruflichen Erreichbarkeit – nach der Arbeit, am Wochenende und im Urlaub. Entgrenzte Arbeitsverhältnisse, bei denen eine klare Trennung zwischen Berufsund Privatleben fehlt, sind bereits heute für viele Beschäftigte eine gelebte Realität und vieles deutet auf eine Verstärkung dieses Phänomens hin. Denn dank Laptop und Smartphone sind viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überall und jederzeit erreichbar und arbeiten außerhalb der Dienstzeit weiter. (Vertiefend dazu: Reinhardt und Popp 2018, S. 167 ff.). Die folgenden Ergebnisse unserer repräsentativen Befragungen zeigen, dass die Deutschen durchaus plausible Zukunftsbilder im Hinblick auf die Entwicklung der Arbeitszeit und die zeitliche Flexibilisierung der Arbeitswelt haben. Zukunftsbild Nr. 18: Zukünftig Verlängerung der Wochenarbeitszeit? Eine signifikante Erhöhung der Wochenarbeitszeit kann (und will) sich die Mehrheit der repräsentativ Befragten nicht vorstellen. Denn nur 44 % der Deutschen meinen, dass die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in 20 Jahren mehr als 40 h pro Woche arbeiten werden (Abb. 17). Überdurchschnittlich unbeliebt ist das Zukunftsbild einer längeren Wochenarbeitszeit bei der jüngsten Generation Z (36 %). Zukunftsbild Nr. 19: Zukünftig Verkürzung der Wochenarbeitszeit? Wie im Zukunftsbild Nr. 18 präsentiert, glauben die meisten Deutschen nicht an eine Erhöhung der Arbeitszeit. Die Daten im zweiten Teil der obigen Grafik weisen darauf hin, dass noch weniger Deutsche (nämlich nur 21 %) von einer zukünftigen Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 25 h ausgehen. Überdurchschnittlich groß ist jedoch das Bedürfnis nach der Reduktion der beruflich gebundenen Zeit – und nach der damit verbundenen Erhöhung der Freizeit – bei der jüngsten Generation Z (30 %).

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Abb. 17   Zukünftige Wochenarbeitsstunden

Zukunftsbild Nr. 20: Zukünftig Verlängerung der täglichen Arbeitszeit? Auch bei der täglichen Arbeitszeit stehen die Deutschen einer zukünftigen Verlängerung sehr skeptisch gegenüber. Nur 18 % der repräsentativ Befragten wären bereit, die tägliche Arbeitszeit gelegentlich auf bis zu zehn Stunden auszuweiten. Bei den älteren Generationen ist die Bereitschaft für eine zukünftige Erhöhung der Tagesarbeitszeit noch geringer ausgeprägt als bei den jüngeren Generationen (Babyboomer: 15 %, Kriegs- und Nachkriegsgeneration: 11 %). Das Meinungsbild der Kriegs- und Nachkriegsgeneration bezieht sich freilich nur mehr in sehr wenigen Ausnahmefällen auf die eigene Zukunft in der Arbeitswelt, sondern auf eine grundsätzliche Positionierung im Hinblick auf die Lebensqualität der nachkommenden Altersgruppen (Abb. 18).

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Abb. 18   Mehr Arbeit für mehr Lohn

Zukunftsbild Nr. 21: Arbeitszeit – Vertrauen oder Kontrolle? Nur ein Viertel (25 %) der Deutschen meint, dass es zukünftig in den meisten Unternehmen keine Stundenerfassung mehr geben wird und stattdessen das Konzept der Vertrauensarbeitszeit realisiert wird. Die jüngste Generation Z (21 %), die mittlere Generation X (23 %) und die älteste Generation (Kriegs- und Nachkriegsgeneration: 22 %) halten die zukünftige Entwicklung hin zu weniger Kontrolle und mehr Vertrauen für noch weniger realistisch als der Bevölkerungsdurchschnitt (Abb. 19).

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Abb. 19   Modell Vertrauensarbeitszeit

Zukunftsbild Nr. 22: Arbeitszeitkonten – für längere Auszeiten? Rund zwei Drittel (67 %) der Deutschen wünschen sich zukünftig ein Arbeitszeitkonto, auf dem man die Überstunden und/oder Urlaubstage über längere Zeit ansparen kann, um so zu einem passenden Zeitpunkt eine längere Auszeit nehmen zu können (Abb. 20). Für überdurchschnittlich attraktiv wird diese Variante einer längeren Freizeitphase vor allem von den jüngeren Generationen gehalten (Generation X: 75 %, Generation Y: 79 %, Generation Z: 74 %). Zukunftsbild Nr. 23: Sabbaticals – für längere Auszeiten? Eine andere Form von längerer Auszeit in der zukünftigen Arbeitswelt, nämlich das sogenannte Sabbatical, wünschen sich 43 % der Deutschen, sofern die Rückkehr in den bisher ausgeübten Job gesichert ist (Abb. 21). Ähnlich wie bei dem im Zukunftsbild Nr. 22 dargestellten Arbeitszeitkonto ist auch die Sabbatical-Variante bei den jüngeren Generationen überdurchschnittlich beliebt (Generation X: 75 %, Generation Y: 57 %, Generation Z: 53 %). Zukunftsbild Nr. 24: Zukünftig weniger Urlaubstage? Deutschland liegt mit 30 Urlaubstagen jährlich EU-weit ganz vorne. Wird in den kommenden zwei Jahrzehnten aus Gründen der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit die Dauer des Urlaubs schrittweise an den EU-Durchschnitt von jährlich 25 Tagen angepasst? Erstaunlicherweise glaubt rund die Hälfte (49 %) der Deutschen – ohne signifikante Unterschiede im Generationenvergleich – an diese Entwicklung (Abb. 22).

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Abb. 20   Arbeitszeitkonto

Zukunftsbild Nr. 25: Ständige berufliche Erreichbarkeit – auch in der Freizeit? Zu der in den Medien immer wieder heftig diskutierten Problematik der beruflich motivierten Erreichbarkeit in der Freizeit („Work Life Blending“) meint die große Mehrheit (62 %) der Deutschen, dass in 20 Jahren die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch während ihres Urlaubs ständig für die Firma telefonisch und/oder per E-Mail erreichbar sein werden. Offensichtlich halten fast zwei Drittel der Deutschen diese tendenzielle Auflösung der Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit für eine unaufhaltsame Entwicklung (Abb. 23). Zukunftsbild Nr. 26: Mehr Freizeit statt Gehaltserhöhung? Bei Tarifverhandlungen wird häufig auch darüber diskutiert, ob für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Freizeit wichtiger ist als ein höheres Gehalt (Abb. 24). Mit Blick auf die Zukunft würden nur 22 % der Deutschen zugunsten von mehr Freizeit auf eine Gehaltserhöhung verzichten, wobei die Meinungsbilder der unterschiedlichen Generationen nur geringfügig voneinander abweichen.

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Abb. 21   Einjährige Auszeit

2.6 Life Domain Balance? Meinungsbilder der Deutschen zur zukünftigen Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit 2.6.1 „Work-Life-Balance“ oder „Life-Domain-Balance“? Die Qualität des Lebens entwickelt sich zwischen Beruf bzw. Schule, Familie und Freizeit. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 107) Für die Vereinbarkeit dieser Lebensbereiche hat sich in unserer Umgangssprache der Begriff „Work-Life-Balance“ eingebürgert. Dieser Begriff signalisiert zwar das richtige Anliegen, ist aber genau genommen falsch. Denn er suggeriert, dass es um eine Balance zwischen Beruf und Leben gehe. Allerdings ist der Beruf selbstverständlich ein Teil des Lebens und es geht um eine möglichst hohe Lebensqualität in allen Bereichen unserer menschlichen Existenz. Die beiden Wirtschaftspsychologen Ulich und Wiese (2011) schlagen einen neuen Begriff vor: „Life-Domain-Balance“.

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Abb. 22   Urlaubstage der deutschen Arbeitnehmer

2.6.2 Vereinbarkeit von Beruf und Familie Die Vereinbarkeit aller Lebensbereiche stellt die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor große Herausforderungen. Nach der Erfüllung der beruflichen Verpflichtungen geht es im familiären Leben nicht nur um eine gute Beziehung in der Partnerschaft, sondern auch um die gerechte Aufteilung der vielfältigen Funktionen im Haushalt und bei der Kindererziehung sowie zukünftig immer öfter um die häusliche Pflege älterer Angehöriger. (Vertiefend dazu: Reinhardt und Popp 2018, S. 218 ff.). 2.6.3 Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit Außerdem sollten die individuelle Erholung und die Freizeitgestaltung nicht zu kurz kommen. Denn noch nie in der Menschheitsgeschichte hatte ein so großer Teil der Bevölkerung in wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern so viel freie Zeit zur Verfügung wie heute. Zukünftig wird der frei verfügbare Teil des gesamten Lebenszeitbudgets

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Abb. 23   Zukünftige Bedeutungslosigkeit von Zeugnissen

weiterwachsen. Für die Gestaltung der Freizeit gibt es bereits gegenwärtig eine sehr vielfältige Angebotsstruktur; Tendenz weiter steigend. Das wirtschaftliche Wachstumspotenzial der mit dem gesellschaftlichen Phänomen „Freizeit“ verbundenen Märkte und Berufe ist beachtlich. Dies liegt allerdings nicht nur am durchaus wichtigen Teilbereich des Tourismus (also an Gastronomie, Hotellerie, Seilbahnen, Reisebüros und Kur- bzw. Wellnessbetrieben), sondern noch viel mehr an den freizeitbezogenen Entwicklungen im weiten Spektrum von Erlebniskonsum, Medien, Sport, Kultur, Unterhaltung und Bildung. So paradox dies im Gegensatz zum weit verbreiteten Alltagsverständnis von „Freizeit“ klingt: Freizeit ist ein wichtiger Jobmotor der Zukunft!

2.6.4 Bessere Vereinbarkeit lohnt sich auch für Unternehmen Auch die Unternehmen werden durch das Interesse vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der Vereinbarkeit des Berufes mit den familiären und privaten Bedürfnissen und Pflichten herausgefordert. Zukunftsfähige Unternehmen wissen, dass sich die Rücksicht auf das außerberufliche Leben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch ökonomisch lohnt. Denn wer sich ganzheitlich wertgeschätzt fühlt, trägt auch mehr zur

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Abb. 24   Freizeit vs. gutes Gehalt

betrieblichen Wertschöpfung bei. Außerdem bringt das Image als familienfreundliches Unternehmen Pluspunkte beim Marketing. In Abb. 25 sind die in den Texten zu den Zukunftsbildern Nr. 27 bis Nr. 31 kurz kommentierten Ergebnisse der repräsentativen Befragungen der Deutschen zur zukünftigen Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit zusammengefasst: Zukunftsbild Nr. 27: Bessere Vereinbarkeit – für Frauen und Männer Fast alle Deutschen (88 %) – mit Ausnahme der Babyboomer (57 %) – sind davon überzeugt, dass die von der Politik geforderte Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen und Männer gleichermaßen gelten muss, damit auch die Männer Kinderbetreuung zu Hause leisten können. Dieses Meinungsbild hat sich im Zeitreihenvergleich nur geringfügig verändert (2012: 83 %). In diesem Zusammenhang sollte allerdings beachtet werden, dass dieser grundsätzliche Wunsch nach dem gleichen Recht für Männer bisher nicht zur gleichen Wahrnehmung der konkreten Pflichten in den Bereichen Haushalt und Kinderbetreuung geführt hat. Zukunftsbild Nr. 28: Bessere Vereinbarkeit – durch Unterstützung von Unternehmen? Knapp zwei Drittel (63 %) der Deutschen trauen den Unternehmen in Deutschland zu, dass sie die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit in den kommenden zwei Jahrzehnten kontinuierlich verbessern werden.

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Abb. 25   Beruf und Familie – Perspektive Unternehmen/Gesellschaft

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­ berdurchschnittlich optimistisch ist die mittlere Generation X (68 %). Bemerkenswert Ü sind die Veränderungen der Meinungsbilder im Zeitreihenvergleich: Im Jahr 2013 glaubten nur 39 % der Deutschen an die diesbezügliche Bereitschaft der deutschen Betriebe. Zukunftsbild Nr. 29: Bessere Vereinbarkeit durch die jüngeren Generationen? Nur knapp ein Drittel (31 %) der Deutschen glaubt daran, dass die gegenwärtig jüngeren Generationen (Y, Z) mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie Ernst machen werden und nicht den einen Lebensbereich zulasten des anderen opfern wollen. Auch die Meinungsbilder der betroffenen Generationen (X, Y, Z) unterscheiden sich nicht von der Durchschnittsmeinung der Gesamtbevölkerung! Bemerkenswert ist allerdings die sehr starke Veränderung des entsprechenden Meinungsbildes seit 2009 (nur 13 %). Zukunftsbild Nr. 30: Unterstützung der Kinderbetreuung durch Unternehmen Vier Fünftel (80 %) der Deutschen fordern, dass die Betreuung der Kinder von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch durch die jeweiligen Firmen gewährleistet werden muss, z. B. durch Firmenkindergärten oder finanzielle Zuschüsse für die Eltern. Im Zeitreihenvergleich hat sich dieses Meinungsbild seit 2011 (75 %) nur geringfügig verändert. Zukunftsbild Nr. 31: Berufstätigkeit beider Partner durch ganztägige Kinderbetreuung 57 % der Deutschen halten es für ideal, wenn durch die Ganztagesbetreuung der Kinder beide Partner berufstätig sein können. Überdurchschnittlich stark wird dieses Meinungsbild von den jüngeren Generationen vertreten (Generation X: 63 %, Generation Y: 63 %). Dieses Zukunftsbild hat sich seit 2011 (56 %) nicht signifikant verändert. Zukunftsbild Nr. 32: Wird der Job durch Vereinbarkeit zur Nebensache? Nur eine Minderheit (42 %) der Deutschen meint, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie von Unternehmen deshalb nicht besonders gefördert wird, weil befürchtet wird, dass Frauen dann nur noch mit halber Kraft arbeiten. Überdurchschnittlich skeptisch ist die jüngste Generation Z (36 %).

2.7 Meinungsbilder der Deutschen zur Zukunft der betrieblichen Gesundheitsförderung 2.7.1 Veränderung der beruflich bedingten Krankheiten Unter den beruflich bedingten Krankheiten stehen auch heute noch die körperlichen Beeinträchtigungen ganz oben auf der Liste. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 40 ff.) Allerdings geht es in der modernen Arbeitswelt immer seltener um Staub und Lärm, sondern immer öfter um schmerzhafte Rücken-, Muskel- oder Sehnenerkrankungen durch Fehlbelastungen beim Sitzen oder Heben sowie um Augenerkrankungen durch allzu lange Arbeit am Bildschirm. Bereits an zweiter Stelle stehen psychische Probleme.

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Gehörschutz und Helme bleiben freilich auch zukünftig – allerdings für einen kleiner werdenden Teil der Berufstätigen – wichtig. Im größeren Teil der Arbeitswelt geht es aber immer öfter um augenfreundliche Arbeitsbedingungen und ergonomisch gestaltete Arbeitsplätze. Darüber hinaus muss zukünftig die Sensibilität für die psychischen Belastungen steigen.

2.7.2 Was kränkt macht krank. Individuelle und institutionelle Folgen von Mobbing Selbstverständlich macht auch Mobbing krank! Offensichtlich nehmen bereits seit einigen Jahren vielfältige Ausprägungsformen von Mobbing in der Arbeitswelt zu. Dabei geht es um wiederholte Schikanen (z. B. in Form der Zuweisung sinnloser Arbeitsaufgaben), tagtägliche Sticheleien, um ständige Kritik an der individuellen Arbeitsleistung, um das Vorenthalten von Informationen, um das Verbreiten von Gerüchten und gelegentlich sogar um Gewaltandrohung oder Verleumdung. Manchmal verlagern sich Mobbingaktivitäten ins Internet. Diese besonders perfide Variante wird meist als Cybermobbing bezeichnet. Die individuellen Folgen von Mobbing bestehen häufig in der Ausprägung von schweren psychischen Belastungen – in Einzelfällen bis hin zum Suizid. Durch meist langwierige Krankenbehandlungen und krankheitsbedingte Frühverrentungen entstehen jedoch auch erhebliche volkswirtschaftliche Kosten. Die schwerwiegenden betriebswirtschaftlichen Folgen von Mobbing bestehen in den mit langen Krankenständen verbundenen Arbeitsausfällen und den damit verbundenen Kosten, in nachhaltig wirksamen Störungen des Betriebsklimas sowie in der Verschlechterung der Arbeitsmotivation und der Verringerung der Produktivität. Aus heutiger Sicht deutet leider nichts darauf hin, dass das Mobbing im Bereich der Arbeitswelt zukünftig abnimmt. (Vertiefend dazu: Reinhardt und Popp 2018, S. 125 ff.). 2.7.3 Prävention durch betriebliches Gesundheitsmanagement Zukunftsfähige Betriebe können im Rahmen eines gut durchdachten betrieblichen Gesundheitsmanagements wichtige Beiträge für die Vorbeugung von Berufskrankheiten, für die Verbesserung der Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie für die Stress-, Burn-out- und Mobbingprävention leisten. Zukunftsbild Nr. 33: Zukunftsprojekt betriebliche Gesundheitsförderung Rund zwei Drittel (65 %) der Deutschen meinen, dass es in 20 Jahren in fast allen Unternehmen deutlich mehr gesundheitsfördernde Maßnahmen (regelmäßige Gesundheitschecks, Sportprogramme, gesundes Essen in der Kantine etc.) für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben wird als heute. Überdurchschnittlich stark ist diese Meinung in der Generation Y (70 %) ausgeprägt (Abb. 26).

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Abb. 26   Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz

Zukunftsbild Nr. 34: Zukünftig noch mehr Mobbing? Allerdings gehen beachtliche 54 % der Deutschen davon aus, dass es in 20 Jahren in den deutschen Unternehmen deutlich mehr Mobbing am Arbeitsplatz geben wird als heute. Deutlich optimistischer ist die jüngste Generation Z (43 %). Wenn dieser befürchtete Anstieg von Mobbing wirklich eintritt, könnte diese unerfreuliche Entwicklung die positiven Effekte der laut dem Zukunftsbild Nr. 33 erwarteten Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung deutlich mindern (Abb. 27).

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Abb. 27   Mobbing am Arbeitsplatz

2.8 Meinungsbilder der Deutschen zur zukünftigen Entwicklung der berufsbezogenen Bildung 2.8.1 Wandel der Arbeitswelt – Wandel der Bildung Der zukünftige Wandel der Arbeitswelt wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden, z. B.: neue Technologien, Automatisierung, Digitalisierung, neue Medien, Bedeutungsverlust manueller Arbeit, Globalisierung, Migration, Diversity, Geschlechterverhältnis, demografische Trends, intergenerationelle und interkulturelle Teams, ­Flexibilisierung, wachender Innovationsdruck, wachsender Zeitdruck, rasante Zunahme und rasche Alterung des weltweit vorhandenen Wissens, Bedeutungszuwachs der Bildung und der Forschung, wachsende Komplexität etc. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 16) Im Zusammenhang mit diesen kurz skizzierten zukunftsweisenden Wandlungsprozessen dominieren in wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern wie Deutschland – sowohl in der Produktion als auch im Dienstleistungssektor – Branchen und Berufe, die von kontinuierlichen Innovationsprozessen, von Teamwork, von internationalen und interkulturellen Bezügen, von anspruchsvollen Kunden und Kooperationspartnern sowie von einer

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Arbeitsorganisation im Spannungsfeld zwischen Flexibilität und Sicherheit, also „Flexicurity“, geprägt sind. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 72) Die Fähigkeiten und Fertigkeiten sowohl der Führungskräfte als auch deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen auf die Bewältigung dieser Herausforderungen ausgerichtet sein. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 93 ff.) Dies erfordert über die Ausbildungsangebote in der Phase der Kindheit, der Jugend und des jungen Erwachsenenalters hinaus eine bessere und vielfältigere Angebotsstruktur im Bereich des lebenslangen bzw. lebensbegleitenden Lernens.

2.8.2 Fachkompetenzen – Schlüsselkompetenzen Im Zusammenhang mit der Diskussion über die Frage, was sowohl die Arbeitnehmer als auch die Arbeitgeber im weiten Spektrum der Arbeitswelt wissen und können sollten, werden die früher üblichen Begriffe (wie z. B.: „Fachwissen“, „Fähigkeiten“ oder „Fertigkeiten“) zunehmend durch den übergeordneten Begriff „Kompetenzen“ abgelöst. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 93 ff.) Dabei wird meist zwischen den folgenden zwei großen Kompetenztypen unterschieden: • den seit jeher und auch zukünftig unverzichtbaren Fachkompetenzen sowie • den zukünftig immer wichtiger werdenden Schlüsselkompetenzen (reflexive, personale und soziale Kompetenzen).

2.8.3 Neugier – Kreativität – Innovationsfähigkeit Im weiten Spektrum der Schlüsselkompetenzen spielen Kreativität und Innovationsfähigkeit eine zentrale Rolle. Deshalb kommt in zukunftsfähigen Bildungsprozessen der Förderung dieses kreativen Potenzials eine große Bedeutung zu. Kreativität fördert die Entdeckung von neuen Fragen und die innovative Lösung von Problemen. Dies funktioniert selbstverständlich nur dann, wenn sich Schulen, Hochschulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung als „Zukunftswerkstätten“ für kreative und innovative Problemlösungen verstehen. Die zukunftsträchtige Förderung von Kreativität und Innovationsfähigkeit in der Bildungs- und der Arbeitswelt lebt vom Respekt vor der Neugierde der Menschen. Ein prominenter Zeuge für diese zukunftsweisende Einsicht ist kein geringerer als Albert Einstein, der uns folgende überraschend bescheidene Beschreibung seines Begabungspotenzials überlieferte: „Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“. • Neugierde fördert also Kreativität und Innovationsfähigkeit. • Kreativität und Innovationsfähigkeit sind die Motoren für soziale, kulturelle, technische, wirtschaftliche und politische Innovation. • Innovation wiederum stärkt die Chancen der wissensbasierten Gesellschaften Europas am globalen Markt • und sichert dadurch die ökonomische Basis für unsere zukünftige Lebensqualität.

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2.8.4 Bedeutungsverlust von Zeugnissen? Zukünftig wird das weite Verständnis des Kompetenzprofils einer Person – im Spannungsfeld zwischen Fachkompetenzen und Schlüsselkompetenzen – sowohl bei Bewerbungen am Arbeitsmarkt als auch bei der innerbetrieblichen Karriere eine deutlich größere Rolle spielen als heute. Wo und wie diese Kompetenzen erworben wurden, ob in einer Schule oder Hochschule, im dualen Bildungssystem, im Bereich der Weiterbildung oder in der betrieblichen Praxis, wird zunehmend zur Nebensache, und schulische bzw. hochschulische Zeugnisse verlieren kontinuierlich an Bedeutung. Dadurch stellt sich für die Wissens- und Berufswelt von morgen und übermorgen die große Herausforderung, neue und praktikable Formen der Zertifizierung auch für nicht schulisch erworbenes Wissen und Können zu entwickeln, und die Anerkennung unterschiedlicher Bildungsabschlüsse (auch im internationalen Vergleich) zu regeln. In diesem Zusammenhang wird der „Europäische Qualifikationsrahmen“ zukünftig eine noch größere Bedeutung als bereits heute erlangen. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 68). 2.8.5 Digitale Bildung Zukünftig wird auch die digitale Bildung immer wichtiger. (Vertiefend dazu: Popp 2018, S. 53 f.) Während E-Working, E-Banking, E-Commerce und E-Government boomen, hält sich jedoch bisher die Entwicklungsdynamik beim E-Learning noch in engen Grenzen. Die immer vielfältiger werdenden digitalisierten Angebote (interaktive und multimediale Lehrund Lernprogramme, Strategiespielen, Serious Games …) machen Bildung – zumindest teilweise – unabhängig von vorgegebenen Orten und Zeiten. Die Bildungsprozesse in der Kinder- und Jugendphase müssen auf die zukünftigen Formen des lebenslangen Lernens im Erwachsenenalter vorbereiten. Dabei geht es um die ausgewogene Kombination von individualisierten Lernprozessen mit kommunikativen Sozialphasen. Mithilfe der neuen Medien haben sich bereits heute die Möglichkeiten des Zugriffs auf das weltweit verfügbare Wissen vervielfacht. In diesem Prozess der Globalisierung des Wissens stehen wir allerdings erst am Anfang. Zukünftig wird es bei den Bildungsprozessen immer weniger um die Speicherung von Wissen gehen. Das können digitalisierte Maschinen viel besser. Denn das menschliche Gehirn ist keine Festplatte. Deutlich besser als der beste Computer ist unser Gehirn jedoch beim Verstehen, Planen und Gestalten von komplexen Zusammenhängen – im Zusammenspiel zwischen rationaler Analyse, sozialer Empathie, kreativer Innovation, kooperativem Handeln und ethisch fundierten Werturteilen. 2.8.6 Gebildete Menschen – wissensspeichernde Maschinen In der zukünftigen Wissensgesellschaft brauchen wir eine Arbeitsteilung zwischen dem gebildeten Menschen einerseits und seinen Bildungswerkzeugen, den wissensspeichernden und datenverknüpfenden Maschinen, andererseits.

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Bei der Nutzung der neuen Medien besteht jedoch ein nicht zu unterschätzendes generationenspezifisches Zukunftsproblem in der digitalen Spaltung zwischen Jung und Alt. Dies ist eine durchaus schwerwiegende Herausforderung. Denn zukünftig wird es immer schwieriger, offline zu leben! Hier kann und muss zukunftsfähige Erwachsenenbildung wertvolle Lebenshilfe leisten. (Vertiefend dazu: Reinhardt und Popp 2018, S. 244 ff.). Zukunftsbild Nr. 35: Stärkere Orientierung von Universitäten am Arbeitsmarkt? Rund die Hälfte der Deutschen (51 %) geht davon aus, dass in den nächsten 20 Jahren an Universitäten bzw. Hochschulen nur mehr Studienplätze angeboten werden, für die es am Arbeitsmarkt einen nachweisbaren Bedarf gibt (Abb. 28). Überdurchschnittlich stark

Abb. 28   Arbeitsmarkteinfluss auf Studienplätze

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glaubt die jüngste Generation Z (58 %) an diese Zukunftsentwicklung. Dieses Meinungsbild ist allerdings stark gegenwartsbezogen und entspricht den Zielsetzungen der einflussreichsten politischen Parteien und Verbände in Deutschland sowie den in der deutschen Bevölkerung weit verbreiteten Vorstellungen. Aus der Sicht der vorausschauenden Forschung muss allerdings gegen diesen Meinungs-Mainstream der Einwand vorgebracht werden, dass sich ein Hochschulstudium überwiegend auf die Entwicklung eines breiten Kompetenzprofil für die flexible und kreative Zukunftsgestaltung in einer vom permanenten Wandel geprägten Arbeits- und Lebenswelt beziehen sollte. Zukunftsbild Nr. 36: Zukunft des dualen Systems der Berufsausbildung Rund drei Viertel der Deutschen (74 %) erwarten sich, dass auch in 20 Jahren die Bedeutung des dualen Systems Berufsausbildung, also die Kombination aus Lehre und Berufsschule, kontinuierlich hoch bleibt. Am wenigsten stark glaubt die jüngste Generation Z (58 %) an diese Entwicklung (Abb. 29).

Abb. 29   Die Zukunft der klassischen Berufsausbildung

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Zukunftsbild Nr. 37: Bedeutungsverlust von Zeugnissen? Knapp die Hälfte (48 %) der Deutschen meint, dass Zeugnissen von Schulen und Hochschulen in 20 Jahren am Arbeitsmarkt nur noch eine geringe Bedeutung ­ zugemessen wird (Abb. 30). Stattdessen würden sich die Betriebe bei Bewerbungen in der Berufswelt lieber auf eigene Einstellungstests verlassen. Überdurchschnittlich stark wird dieses Meinungsbild von den jüngeren Deutschen vertreten (Generation Y: 52 %, Generation Z: 54 %). Zukunftsbild Nr. 38: Lebenslanges Lernen Fast alle Deutschen (87 %) sind sich sicher, dass in den kommenden Jahren lebenslanges Lernen immer wichtiger wird (Abb. 31). Die diesbezüglichen Meinungsbilder der unterschiedlichen Generationen weichen nur unwesentlich voneinander ab. Ob jedoch dieses weit

Abb. 30   Zukünftige Bedeutungslosigkeit von Zeugnissen

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Abb. 31   Lebenslanges Lernen

verbreitete Verständnis für die Notwendigkeit des lebenslangen bzw. lebensbegleitenden Lernens zukünftig auch zu einer verstärkten Nutzung der vielfältigen Angebote der Erwachsenenbildung führen wird, bleibt abzuwarten. Zukunftsbild Nr. 39: Fachkompetenzen – Schlüsselkompetenzen Ebenso fast alle Deutschen (85 %) erkennen sehr deutlich, dass man in der zukünftigen Arbeitswelt nicht mehr nur Fachkompetenzen, sondern auch Schlüsselkompetenzen wie Zeitmanagement, Kritikfähigkeit, Kreativität, Teamfähigkeit, Durchsetzungsvermögen u. Ä. benötigt (Abb. 32). Erstaunlicherweise ist die jüngste Generation Z (78 %) im Hinblick auf den zukünftigen Bedeutungszuwachs der Schlüsselkompetenzen überdurchschnittlich skeptisch.

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Abb. 32   (Fach-)Kompetenzen

Zukunftsbild Nr. 40: Kreativität – Innovationsfähigkeit – Ideenmanagement Nicht nur in zukunftsfähigen Bildungseinrichtungen sondern auch im betrieblichen Alltag sollte die Kreativität der Akteure zukünftig häufiger als heute gefördert und genutzt werden. Denn in den Köpfen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der deutschen Unternehmen schlummern viele innovative Ideen. In diesem Zusammenhang meint die Hälfte der Deutschen (50 %), dass viele Unternehmen in den kommenden zwei Jahrzehnten Ideenmanager beschäftigen werden, die sich um die Verbesserungsvorschläge der M ­ itarbeiter kümmern (Abb. 33). Die Mitglieder der mittleren ­Generation X (46 %) ­halten diese Entwicklung für weniger wahrscheinlich als der Bevölkerungsdurchschnitt.

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Abb. 33   Neues Berufsfeld „Ideenmanager“

3 Zukunftsbilder als Grundlage der Zukunftsgestaltung Viele Begriffe haben sich von ihrer ursprünglichen Bedeutung gelöst. Dies gilt auch für den Begriff „Zu-kunft“, der ja genau genommen suggeriert, dass die Lebensbedingungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte auf uns zu-kommen. Nach der heute weitverbreiteten Sichtweise kommt jedoch die Zukunft nicht (schicksalhaft) auf uns zu. Vielmehr nehmen – jedenfalls in den wirtschaftlich und demokratiepolitisch hoch entwickelten Ländern – die meisten Menschen an, dass sie kreativ, gestaltend, vorausschauend, vorausplanend und vorsorgend auf die Zukunft zugehen. Dieses gestaltungsorientierte Verständnis von Wandlungsprozessen prägt die Argumentation im vorliegenden Beitrag. Denn auch in der Arbeitswelt geht es bei der Vorausschau, ­Vorsorge und Planung um das kreative Ausloten zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten einerseits und um die (selbst-)kritische Einschätzung von Ressourcen und Kompetenzen für die Zukunftsgestaltung andererseits. Fast alle menschlichen Entscheidungen gehen von mehr oder weniger gut durchdachten Meinungen über die Chancen und Risiken im zukünftigen Spiel des Lebens

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aus. Dabei stellen sich drei zentrale Zukunftsfragen: Was kommt? Was bleibt? Was geht? So gesehen werden die im Hinblick auf innovative Gestaltungsprozesse erforderlichen kurz-, mittel- und langfristig wirksamen individuellen Entscheidungen auf der Basis von Zukunftsbildern, also von zukunftsbezogenen Annahmen, getroffen. Im Zusammenhang mit institutionellen Planungsprozessen in der Wirtschaft und der Politik spielt das Wissen über die prospektiven Meinungsbilder der Bevölkerung eine wichtige Rolle. In diesem Sinne ist die repräsentative Erhebung von Zukunftsbildern ein wichtiges forschungsmethodisches Instrument für die Vorbereitung von Prozessen der Zukunftsgestaltung. Denn die theoriegeleitete Interpretation derartiger Befragungsergebnisse vermittelt die für zukunftsweisende Planungsprozesse unverzichtbaren Einblicke in das weite Spektrum der Erwartungen, Hoffnungen, ­Sehnsüchte und Zukunftsängste der Bürgerinnen und Bürger. Die Berücksichtigung dieser Zukunftsbilder erleichtert – auch im Bereich der Arbeitswelt – eine kooperative Zukunftsgestaltung mit dem Menschen im Mittelpunkt.

Literatur Mangelsdorf, M. (2015). Von Babyboomer bis Generation Z. Der richtige Umgang mit unterschiedlichen Generationen im Unternehmen. Offenbach a. M.: Gabal. Opaschowski, H. W. (2013). Deutschland 2030. Wie wir in Zukunft leben. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Popp, R., & Schüll, E. (Hrsg.). (2009). Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Heidelberg: Springer. Popp, R. (Hrsg.). (2012). Zukunft und Wissenschaft. Wege und Irrwege der Zukunftsforschung. Berlin: Springer. Popp, R., & Reinhardt, U. (2012). Lebensqualität lebenslang. Österreichische und deutsche Zukunftsbilder zum Generationenverhältnis. Wirtschaftspolitische Blätter, 59(2), 317–329. Popp, R. (2013). Participatory futures research. Research or practice consulting? European Journal of Futures Research (springer.com/40309). https://doi.org/10.1007/s40309-013-0016-3. Popp, R., & Zweck, A. (Hrsg.). (2013). Zukunftsforschung im Praxistest. Heidelberg: Springer VS. Popp, R., & Reinhardt, Ulrich. (2014). Blickpunkt Zukunft. Berlin: LIT. Popp, R., & Reinhardt, U. (2015). Zukunft! Deutschland im Wandel – der Mensch im Mittelpunkt. Münster: LIT. Popp, R. (2015). Österreich 2033. Zukunft – made in Austria. Antworten auf 166 Zukunftsfragen. Wien: LIT. Popp, R. – gemeinsam mit: Fischer, N., Heiskanen-Schüttler, M., Holz, J., Uhl, A. (Hrsg.) (2016). Einblicke, Ausblicke, Weitblicke. Perspektiven der Zukunftsforschung. Münster: LIT-Verlag. Popp, R. (2016). Zukunftswissenschaft und Zukunftsforschung. Grundlagen und Grundfragen. Eine Skizze. Münster: LIT. Popp, R. (2017). Zukunft – Alter(n) – Lebensqualität. In R. Likar, G. Bernatzky, G. Pinter, W. Pipam, H. Janig, & A. Sadjak (Hrsg.), Lebensqualität im Alter. Therapie und Prophylaxe von Altersleiden (2. Aufl., S. 27–36). Berlin: Springer. Popp, R., Rieken, B., & Sindelar, B. (2017). Zukunftsforschung und Psychodynamik. Zukunftsdenken zwischen Angst und Zuversicht. Münster: Waxmann. Popp, R. (2018). Zukunft:Beruf:Lebensqualität. 77 Stichworte von A bis Z. Wien: LIT.

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Popp, R. (Hrsg.). (2019). Die Arbeitswelt im Wandel! Der Mensch im Mittelpunkt? Perspektiven für Deutschland und Österreich. Münster: Waxmann. Reinhardt, U. (Hrsg.) (2011). United Dreams of Europe. (Mit einem Begleitwort des Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso.) Rottach-Egern: Ch. Goetz. Reinhardt, U., & Popp, R. (2018). Schöne neue Arbeitswelt. Was kommt, was bleibt, was geht?. Hamburg: Stiftung für Zukunftsfragen. Ulich, E., & Wiese, B. S. (2011). Life domain balance. Konzepte zur Verbesserung der Lebensqualität. Wiesbaden: Springer-Gabler.

Univ.-Prof. Dr. Reinhold Popp (*1949) ist einer der wenigen Hochschullehrer im deutschsprachigen Raum, die sich systematisch mit den Grundlagen und Grundfragen der interdisziplinären Zukunftsforschung beschäftigen. Er leitet das „Institute for Futures Research in Human Sciences“ an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. In enger Kooperation mit diesem Institut forscht und lehrt er am „Institut Futur“ der Freien Universität (FU) Berlin, wo er auch Gründungsmitglied des Masterstudiengangs für Zukunftsforschung ist. Darüber hinaus ist er Dozent für Zukunftsforschung an mehreren Universitäten und Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Kooperationspartner wichtiger Institute für zukunftsorientierte Forschung, Berater von Politik und Wirtschaft, Autor bzw. Herausgeber einer Vielzahl von Publikationen – u. a. mehrerer Standardwerke der Zukunftsforschung (Springer Verlag, Springer VS Verlag, LIT Verlag, Waxmann Verlag) – sowie Mitbegründer und Mitherausgeber der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „European Journal of Futures Research“ (Springer Verlag – international). Weit über die Welt der Wissenschaft hinaus ist Professor Popp durch seine Interviews, Kolumnen und Kommentare in Presse, Hörfunk und Fernsehen sowie durch seine lebendigen Vorträge auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Er leitet seine Analysen und Prognosen aus wissenschaftlich fundierten Zukunftsstudien ab und entwirft plausible Bilder der Zukunft, jenseits von destruktiver Weltuntergangsstimmung und unkritischem Alles-wird-gut-Optimismus. www.reinhold-popp.at Prof. Dr. Ulrich Reinhardt (*1970) ist Zukunftswissenschaftler und wissenschaftlicher Leiter der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen (Hamburg). Er hält eine Professur für empirische Zukunftsforschung am Fachbereich Wirtschaft der Fachhochschule Westküste in Heide. 1999 schloss er sein Studium der Erziehungswissenschaft und Psychologie an der Universität Hamburg ab und begann als Promotionsstudent im damaligen „BAT-Freizeit-Forschungsinstitut“. Anschließend übernahm er verschiedene Aufgaben im Institut, ehe er 2007 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der BAT-Stiftung wurde. Anfang 2011 trat er die Nachfolge von Prof. Dr. Horst W. Opaschowski als wissenschaftlicher Leiter dieser unabhängigen und gemeinnützigen Stiftung an. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. den gesellschaftlichen Wandel, das Freizeit-, Konsumund Tourismusverhalten sowie die Europaforschung. Ulrich Reinhardt ist Mitglied in unterschiedlichen Beraterkreisen, sitzt in Gremien wie dem Kuratorium der „EBC Hochschule“ oder dem Landeskuratorium des „Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft“ und ist Mitherausgeber des „European Journal of Futures Research“ (Springer Verlag). Darüber hinaus ist er ein gefragter Experte für diverse Print-, Online- und TV-Medienpartner. www.ulrichreinhardt.de

Teil III Resiliente Gesellschaft

Strukturwandel durch künstliche Intelligenz – Herausforderungen und Chancen sowie der Einfluss der Rahmenbedingungen regionaler Gründungsökosysteme auf die Auswirkungen für die Gesellschaft Ralph Henn und Orestis Terzidis Der Lehrstuhl für Entrepreneurship und Technologie-Management (EnTechnon) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) verfolgt als Forschungsschwerpunkt das Thema Leadership im Kontext von Digitalisierung und Industrie 4.0. Erste Ergebnisse lassen darauf schließen, dass durch die steigende Durchdringung der Produktion mit Informations- und Kommunikationstechnologie, der damit steigenden Komplexität von Produktionsprozessen sowie steigender Veränderungsdynamik neue Anforderungen an das klassische Führungsverständnis gestellt werden. Basierend auf den Forschungsergebnissen wurde gemeinsam mit dem Institut für Produktionstechnik (wbk) und der IHK Karlsruhe sowie weiteren Partnern die Leadership 4.0 Initiative ins Leben gerufen. Ziel des Programms ist es Industrie 4.0-Technologien in der sogenannten Lernfabrik für die Teilnehmer erlebbar zu machen und im Anschluss über die Vor- und Nachteile von diesen Technologien zu reflektieren und diese in Fallstudien einzusetzen. Potenzielle Risiken durch den bevorstehenden Wandel sollen als Chance und Herausforderungen begriffen werden. Verknüpft mit dem Promotionsthema von Herrn Ralph Henn zur Gestaltung der Rahmenbedingungen von Gründungsökosystemen und der Wichtigkeit von Gründungen für die Nachhaltigkeit der lokalen Wirtschaftskraft entstand der Ansatz einer resilienten Gesellschaft der im nächsten Abschnitt vorgestellt und diskutiert wird.

R. Henn (*) · O. Terzidis  Institut für Entrepreneurship, Technologie-Management und Innovation (EnTechnon), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] O. Terzidis E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_3

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1 Einleitung Künstliche Intelligenz (engl. Artificial Intelligence), Internet-of-Things (IoT) und Digitalisierung zählen im renommierten Gartner Hype Cycle zu den zehn wichtigsten strategischen Technologie-Trends für die nächsten Jahre (Panetta 2017, 2018). Durch die Integration von künstlicher Intelligenz (KI) in industrielle Prozesse und zukünftige KI-basierte Dienstleistungen wird eine Erhöhung des weltweiten Bruttoinlandsprodukts um 14 % bis zum Jahr 2030 prognostiziert (Rao und Verweij 2017). Dies entspricht einem Zuwachs von insgesamt 15,7 Billionen US$. Ein hohes Zukunftspotenzial wird in Bereichen mit vielen Rohdaten auf der einen Seite oder einem hohem Automatisierungsgrad von repetitiven Aufgaben auf der anderen Seite gesehen. Insbesondere in Branchen wie dem Versicherungs- und Bankwesen (Finanz-Tech) sowie dem Rechtsbereich (Legal-Tech) werden erhebliche Effizienzsteigerungen vorausgesagt (Bitkom 2017; Brzeski und Fechner 2018; Wagner 2018). Ebenfalls lassen sich im Gesundheitswesen als KI-gestützte Früherkennung von Mustern bei Krankheitsbildern sowie im Bereich der Mobilität unter den Schlagwörtern „autonomes Fahren“ und „Connected Mobility“ überaus positive Effekte erwarten (CBInsights 2018; Rao und Verweij 2017). Aktuelle Studien legen nahe, dass durch Digitalisierung getrieben Beschäftigungseffekte in erheblichen Ausmaß eintreten könnten, infolgedessen mit Auswirkungen auf die Arbeitswelt gerechnet werden muss (Autor 2015; Effenberger et al. 2018; World Economic Forum 2018). Schätzungen zufolge könnten alleine in Deutschland in etwa 12 Mio. der heutigen Arbeitsplätze ersetzt werden und darüber hinaus bei weiteren Millionen ein Umschulungsbedarf bestehen (McKinsey Digital 2017). Laut Brzeski und Fechner (2018) sind hierzulande 18,3 Mio. Arbeitnehmer von einer potenziellen Automatisierung ihrer Aufgaben betroffen. Über die Hälfte der Berufstätigen wären damit von einer Veränderung betroffen (Brzeski und Burk 2015). Betrachtet man die weltweiten Auswirkungen wird mit einem Abbau und der Transformation von 800 Mio. Jobs bis zum Jahr 2030 gerechnet (Manyika et al. 2017; McKinsey Analytics 2018). Bisher divergieren Schätzungen potenzieller Auswirkungen auf die Arbeitswelt in einem Rahmen von 9 bis 59 %, wodurch keine verlässlichen Vorhersagen getroffen werden können (Brzeski und Fechner 2018). Es gibt aber auch Studien, die positive Effekte vorhersagen. Studien der letzten Jahre weisen in sich Limitationen auf und liefern daher keine stichhaltigen Argumentationsketten. Aufgrund der fehlenden Aussagekraft ist weiterhin ungeklärt welche Tätigkeitsprofile zukünftig konkret nachgefragt sein werden und in welchem Ausmaß dadurch neue Jobs entstehen könnten (Effenberger et al. 2018). Derzeit beschränkt sich der Einsatz von intelligenten Systemen in 69 % der Anwendungsfälle auf Gebiete in denen bereits vorher Softwarelösungen eingesetzt wurden, wodurch es kaum zu Verdrängung von menschlicher Arbeitskraft sondern eher von veralteter Technologie kommt (Chui et al. 2018). Nur in 16 % der Anwendungsfelder, in denen bisherige analytische Methoden nicht effektiv gewesen sind, werden KI-basierte Lösungen eingesetzt.

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Trotz aller Unsicherheit ist davon auszugehen, dass der technologische Fortschritt zu tief greifenden Veränderungen führen wird und uns folglich ein erheblicher Strukturwandel mit der Neugestaltung ganzer Wirtschaftszweige bevorsteht. Dieser Umbruch hat in ersten Teilen bereits begonnen und wird mit der Erfindung der Dampfmaschine sowie der damit einhergehenden ersten industriellen Revolution verglichen (Armbruster 2018). Die radikale Veränderung der Rahmenbedingungen hatte damals zur Folge, dass innerhalb kürzester Zeit viele der vorherrschenden Berufsbilder durch den Einsatz von Dampfmaschinen verdrängt wurden. Einer erheblichen Produktivitätssteigerung auf der einen Seite stand eine resultierende Massenarbeitslosigkeit einfacher, ungebildeter Arbeiter auf der anderen Seite gegenüber. Als Ergebnis kam es zu schwerwiegenden sozialen Unruhen bis hin zu Aufständen und politischen Einschnitten. Strukturwandel bedingt durch technologischen Fortschritt und die dabei entstehenden disruptiven Innovationen, wodurch jeweils ein Reorganisationsprozess der gesamten Gesellschaft ausgelöst wird, sind in der vergangenen Wirtschaftsgeschichte wiederholt aufgetreten. Diese Muster sind mit longitudinalen Konjunkturdaten nachweisbar und unter der Theorie der Kondratieff-Zyklen bekannt. Aufgrund des erheblichen Potenzials sowie der Erfüllung aller Kriterien wird der Bereich der künstlichen Intelligenz als Treiber eines sechsten Kondratieff-Zyklus sowie der vierten industriellen Revolution angesehen (Ashford und Hall 2018). Für die zukünftige Arbeitswelt ist absehbar, dass es diesmal nicht nur Arbeitnehmer mit geringfügiger Qualifikation sondern ebenfalls Arbeitsplätze in mittleren und hochbezahlten Bereichen wie z. B. Sachbearbeiter im Personalbereich, Angestellte im Bank- und Versicherungswesen oder sogar Anwälte betroffen sein könnten. Zurückführen lässt sich dies auf das hohe Einsparungspotenzial von Personalkosten bei gleichzeitiger Steigerung von Qualität und Effizienz. Bereits heute können Algorithmen Millionen von Dokumenten in kürzester Zeit sichten und entsprechend aufbereiten, wofür eine menschliche Fachkraft Tage, Wochen oder sogar Jahre gebraucht hätte (Brzeski und Fechner 2018; Wagner 2018). Darüber hinaus stellt der Einsatz von künstlicher Intelligenz eine Möglichkeit dar dem in vielen Bereichen prognostizierten Fachkräftemangel entgegenzuwirken und damit den Wirtschaftsstandort Deutschland nachhaltig und zukunftsorientiert zu stärken (Bitkom 2017). Ebenfalls ist davon auszugehen, dass in Zukunft die Wertigkeit von sozialen Dienstleistungsberufen sowie von Tätigkeiten in Kunst, Kultur und Umwelt steigen wird. Es besteht die Befürchtung, dass durch die fortschreitende Automatisierung die Polarisierungsthese vorangetrieben werden könnte und sich dadurch die Schere zwischen arm und reich weiter öffnet (Brzeski und Fechner 2018). Aktuelle Diskussionspapiere weißen mit Nachdruck darauf hin, dass in Europa und damit in erster Linie in Deutschland die digitale Revolution deutlich verschlafen wurde und es schwierig werden könnte den Vorsprung der USA und Chinas zu aufzuholen (CBInsights 2018; Hebling 2015). Hochtechnologische Gründungen aus China erhielten im Jahr 2017 fast die Hälfte der weltweiten Investments im Bereich der künstlichen Intelligenz und konnten zum ersten Mal die USA überholen (CBInsights 2018). Die Bundesregierung thematisiert diese Versäumnisse mit einem Eckpunktepapier sowie

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einem Digitalgipfel. Ziel ist es den Forschungsstandort Deutschland und Europa zu stärken, auf die Wichtigkeit von datengetriebenen Technologien und Geschäftsmodellen hinzuweisen und somit die entstandene Lücke zu den führenden Nationen zu schließen (Effenberger et al. 2018). Auf der einen Seite sollen die immensen Potenziale neuer Technologien nutzbar gemacht werden, jedoch explizit nur „auf der Grundlage europäischer Werte wie der Unantastbarkeit der Menschenwürde, der Achtung der Privatsphäre und des Gleichheitsgrundsatzes […]“ (Bundesregierung 2018, S. 1). Eine Diskussion über Ethik von Maschinen wird schon seit Aufkommen des Forschungsgebiets geführt (Götz et al. 1992) und ist essenziell für die Richtung der Weiterentwicklung, zukünftige Einsatzbereiche und die gesellschaftliche Akzeptanz. Dabei sollte immer der Grundsatz gelten dass technologischer Fortschritt den Menschen und somit dem Wohl der Gesellschaft dient und nicht umgekehrt (Brzeski und Fechner 2018). Schlussendlich lautet die Frage nicht, ob es zu einem Strukturwandel getrieben durch künstliche Intelligenz kommen wird, sondern wie stark er ausfallen wird und wie wir uns als Gesellschaft und insbesondere als regionales Ökosystem darauf vorbereiten können (Brzeski und Fechner 2018; Effenberger et al. 2018). Wie können die Rahmenbedingungen eines Ökosystems resilient gestaltet werden um selbst in Zeiten gravierender struktureller Umbrüche sicher vor Risiken und Krisen zu sein? Es werden viele Herausforderungen auf Wirtschaft und Gesellschaft zukommen, aber die sich daraus ergebenden Chancen sind viel größer (Hebling 2015). Lassen sich aus der Geschichte der Entstehung von intelligenten Systemen Rückschlüsse für deren zukünftige Entwicklung ziehen?

2 Entwicklung von Künstlicher Intelligenz Der aktuelle Hype im Bereich der künstlichen Intelligenz ist nicht die erste Euphorie auf diesem Gebiet und wird in Fachkreisen als dritte Welle bezeichnet (Garvey 2018). Viele der heutzutage gelobten Konzepte, wie das der neuronalen Netze sowie der dazugehörigen Algorithmen, wurden bereits vor Jahrzehnten erfunden. Sie profitieren dabei von der exponentiellen Leistungssteigerung von Computern und können dadurch heutzutage erstmals in sinnvollen Praxisanwendungen eingesetzt werden (Hebling 2015). Bereits von Mitte der 1950er Jahre bis etwa 1974 sowie in den 1980ern Jahren gab es vielversprechende Hochphasen der künstlichen Intelligenz. In dessen Rahmen wurden ähnliche Szenarien mit tief greifenden Veränderungen und daraus resultierender hoher Arbeitslosigkeit befürchtet (Jin et al. 2018). Dazwischen kam es aber auch immer wieder zu längeren Tiefphasen (Winter) in denen der Hype um künstliche Intelligenz deutlich zurückging und sich eine gewisse Frustration eingesetzte. Dies lag vor allem daran dass geweckte Erwartungen und prognostizierte Zukunftsszenarien mit der Entwicklung der Technologie noch nicht umgesetzt werden konnten und es beim Einsatz in wenigen spezifischen Aufgabengebieten blieb. Eine kritische Diskussion über die Entwicklung

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von künstlicher Intelligenz und potenzielle Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebenswelt fand ebenfalls bereits in der damaligen Zeit statt (Götz et al. 1992). Als Ursprung der KI wird eine Konferenz am Dartmouth College in Hanover (New Hampshire/USA) aus dem Jahr 1956 bezeichnet (Konrad 1998; McKinsey Analytics 2018). Als Gründungsväter der neuen Disziplin gelten John McCarthy welcher der Organisator der Konferenz gewesen ist sowie Alan Turing. In dieser Zeit herrschte eine regelrechte Goldgräberstimmung. Es wurden Vorhersagen zur bahnbrechenden Entwicklung von Computern getroffen und welche Probleme der Menschheit dadurch gelöst werden könnten. So trafen Simon und Newell (1958) unter anderem die Vorhersage dass „ein Computer ein bedeutendes neues mathematisches Theorem entdecken und beweisen [wird]“. Jedoch schritt nach der anfänglichen Euphorie die Entwicklung nur langsam voran und es wurden kaum noch neue Erkenntnisse in der Forschung gewonnen, wodurch selbst unter Anhängern der neuen Disziplin Zweifel aufkamen (Konrad 1998). In der zweiten Hochphase von 1980 bis 1987 waren es vor allem Forscher aus Japan die neue Standards setzen konnten und die Entwicklung dominierten (Garvey 2018). Dieser nächste Abschnitt von KI beruhte auf der Entstehung von Expertensystemen sowie dem Durchbruch von neuronalen Netzen und wird als „Wissensperiode“ bezeichnet (Jin et al. 2018). In Deutschland kam es zu einem Aufschwung und großer öffentlicher Aufmerksamkeit als es gelang die bedeutendste internationale Konferenz für künstliche Intelligenz, die „International Joint Conference on Artificial Intelligence“, im Jahr 1983 nach Karlsruhe zu holen (Konrad 1998). Trotz einer vielsprechenden Entwicklung kam es Ende der 1980er Jahre aufgrund fehlender Anwendungsfelder in der Praxis und einer Reduzierung von Forschungsgeldern zu einer weiteren Tiefphase (Jin et al. 2018). Aus technologischer Sicht war der Sieg des russischen Schachweltmeisters Gary Kasparov gegen den favorisierten Supercomputer IBM Deep Blue im Jahr 1997 ein schmerzhafter Tiefpunkt (Garvey 2018). Erst als ein Jahr später Deep Blue in einer Revanche Kasparov besiegen konnte, wurde die Vorhersage von Simon und Newell (1958) bestätigt und eine dritte Welle der künstlichen Intelligenz ausgelöst, welche bis zum heutigen Tage anhält. Durch die Entwicklung von Machine Learning in Verknüpfung mit Big Data entstand die sogenannte „Lernphase“ welche getrieben von der Leistungssteigerung von Prozessoren zu neuen Erkenntnissen führte. Ein bedeutender Meilenstein war der überraschende Sieg von AlphaGO gegen den Weltmeister Lee Sedol im Brettspiel GO im März 2015. Im Gegensatz zu Schach kommt es beim asiatischen Go aufgrund der höheren Komplexität in einem hohen Maße auf menschliche Intuition an (Silver el al. 2016). Die wichtigsten IT-Unternehmen haben das Potenzial erkannt und investieren in eigene Großrechner wie den IBM Watson oder Google´s DeepMind und kämpfen um die technologische Marktführerschaft (Musser 2018). Theoretische Konzepte wie das des Quantencomputers könnten die zukünftige Entwicklung sogar weiter revolutionieren und zu einer Vervielfachung der Entwicklungsgeschwindigkeit sorgen (Musser 2018). Dem Zusammenspiel aus neuronalen Netzen und Quantenprozessoren wird eine erfolgsversprechende Zukunft vorausgesagt. Jedoch gibt es

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erste skeptische Stimmen welche die Euphorie im Bereich KI bereits wieder für beendet erklären (Brzeski und Fechner 2018; CBInsights 2018). Trotz alledem werden KI-basierte Systeme weiterhin in neuen Bereichen eingesetzt und eine Vielzahl neuer Anwendungsfelder geschaffen. In einigen Fällen wird wenig zur Lösung von Problemen beitragen und der Bezug zu KI eher als Marketingmaßnahme missbraucht. Beispielsweise wirbt das britische Unternehmen IntelligentX damit ein Bier durch den Einsatz künstlicher Intelligenz zu brauen (CBInsights 2018). In der beschriebenen Historie von KI ist zu erkennen, dass der jeweilige Strukturwandel nicht abrupt sondern immer als schleichender Prozess über einen längeren Zeitraum verlief. Aus diesem Grund ist in der dritten Welle der KI ebenfalls davon auszugehen, dass ein Wandel nicht von heute auf morgen eintritt und es zu keiner plötzlichen Massenarbeitslosigkeit kommen wird Wagner (2018). Jedoch ist es wichtig die Entwicklung aufmerksam zu verfolgen und sich stetig den verändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Insbesondere einfache, repetitive Tätigkeiten in Form einer Automatisierung von Routineaufgaben durch intelligente Systeme werden zukünftig durch Maschinen übernommen und müssen in die Tätigkeitsprofile der menschlichen Arbeitskraft einbezogen werden (World Economic Forum 2018). Fachkräfte sollten durch KI-basierte Technologien unterstützt werden, damit sie sich auf die Lösung von Problemen konzentrieren können und mehr Wertschöpfung generieren wird.

3 Auswirkungen auf die Arbeitswelt und die Gesellschaft Wie in den bisherigen Absätzen vorgestellt, könnten sowohl Digitalisierung als auch künstliche Intelligenz deutliche Auswirkungen auf den Strukturwandel haben sowie unsere Gesellschaft grundlegend und unwiderruflich verändern. Es liegt in der Natur der Menschheit technologischem Fortschritt mit Unsicherheit und der Angst vor einer ungewissen Zukunft zu begegnen (Beschorner und Meckel 2018; Görz et al. 1992). Bei intelligenten Maschinen oder neuronalen Netzen stellt sich die Situation ist nicht anders dar als bei der Einführung der Elektrizität oder der Eisenbahn. Die Diskussion um den zukünftigen Einsatz von KI dreht sich in Regel hauptsächlich um negative Auswirkungen auf bestehende Arbeitsplätze und Implikationen auf die Gesellschaft an sich. Obwohl Wirtschaft und Gesellschaft durch den digitalen Wandel sicher vor große Herausforderungen gestellt werden, sind die sich ergebenden Chancen um ein Vielfaches größer zu bewerten (Fuchs 2016; Hebling 2015). Der Einsatz von künstlicher Intelligenz könnte es ermöglichen die Entstehung und Ausbreitung von Krankheiten, Konflikten und Kriminalität frühzeitig zu erkennen und gegebenenfalls rechtzeitig durch geeignete Gegenmaßnahmen einzudämmen (Hebling 2015). Somit könnte eine Krise vermieden werden bevor sie überhaupt entstanden ist. Das aufkommende Konzept der Resilienz betrachtet diese wirtschaftlichen Entwicklungen sowie die Reaktionsfähigkeit einer bestimmten Region unter dem Einfluss exogener Schocks wie Finanzkrisen und Rezession (Williams und Vorley 2014). Ziel ist es eine Gesellschaft zu einer erhöhten Robustheit zu führen.

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Arbeitsplätze und Tätigkeitsprofile könnten sich wie beschrieben zukünftig stark verändern. Die genaue Richtung und zu welchem Ausmaß kann derzeit nicht mit Sicherheit eingeschätzt werden (Brzeski und Fechner 2018; Effenberger et al. 2018). Einen bedeutenden Anteil an einer nachhaltigen Veränderung haben insbesondere junge, technologiegetriebene Unternehmen für welche sich zahlreiche Gelegenheiten ergeben innovative Produkte und Dienstleistungen umzusetzen und mit ihren disruptiven Geschäftsmodellen etablierte Unternehmen unter permanenten Effizienz- und Innovationsdruck zu setzen (Metzger 2015). In der Zeitspanne von 1977 bis 2005 wurden in den USA neue Arbeitsplätze fast ausschließlich durch das Wachstum von Start-ups generiert, selbst in schwierigen Zeiten als Großkonzerne reihenweise ihre Angestellten entließen (Kane 2010). Technologiebasierte Neugründungen mit skalierbaren Geschäftsmodellen spielen eine bedeutende Rolle zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und gelten als Motor der Wirtschaft, Treiber für einem erfolgreichen Strukturwandel und stellen den Wohlstand für die Gesellschaft sicher (Forster et al. 2014). Für eine nachhaltige, krisensichere Ausrichtung ist eine florierende und volatile Gründungsszene von entscheidender Bedeutung und die Triebfeder für einen erfolgreichen Strukturwandel. Die Rahmenbedingungen eines Ökosystems haben dabei einen signifikanten Einfluss auf das Gründungsgeschehen und dessen schlussendlichen Erfolg der Gründungsaktivitäten (Suresh und Ramsey 2012). Es stellt sich die Frage warum einige Städte und vor allem Regionen mit einer hohen Gründungsaktivität wirtschaftliche schwierige Zeiten besser überstehen als andere (Devece et al. 2016)? Schwere Krisen wie in Folge des Platzens der Dotcom-Bubble im Jahr 2000 oder während der Finanzkrise ab 2008 hatten jeweils einen deutlich spürbaren negativen Einfluss auf die gesamte Weltwirtschaft. Dieser unvorhersehbare, externe Schock führte an einigen Standorten, wie z. B. in Detroit, zu einem kompletten Kollaps, während andere Regionen weit weniger davon beeinflusst wurden. Können die unterschiedlichen Auswirkungen als reiner Zufall angesehen werden oder lassen sich signifikante Unterschiede im strategischen Aufbau der Rahmenbedingungen erkennen? Der Begriff „relisient“ ist in den letzten Jahren, nicht nur in der Forschung, immer populärer geworden und wird dabei sowohl als „resiliente Gesellschaft“ oder als „resilientes Ökosystem“ verwendet (Ostheimer 2017). Dabei wird ebenfalls das Konzept der „Transformation“ aufgegriffen und auf das Zusammenspiel beider Begriffe eingegangen. Als resilient wird ein Ökosystem bezeichnet welches sich kontinuierlich an externen Shocks anpassen kann und damit endogenem Druck standhält (Cadanesso et al. 2006). Um schrittweise ein resilientes Gründungsökosystem aufzubauen und dieses nachhaltig zu stärken, ist es erforderlich die Vernetzung zwischen den einzelnen Akteuren auf die höchste Stufe zu bringen und dort zu festigen (Spigel und Harrison 2018). Neben den Gründern an sich existieren eine Vielzahl weiterer Akteure und Faktoren innerhalb eines Ökosystems, welche sich nach Isenberg (2010) in die sechs Bereiche Politik, Finanzen, Humankapital, Kultur, Unterstützung und Märkte einordnen lassen. Durch den Aufbau von Netzwerken zwischen den einzelnen Teilnehmern des Gründungsgeschehens lassen sich neue Ressourcen generieren, wodurch sich die allgemeine Attraktivität erhöht und

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weitere Akteure, sowohl intern als auch extern, für das Ökosystem begeistern (Spigel und Harrison 2018). Für eine gesunde Gründungskultur ist der ständige Austausch mit anderen Ökosystemen auf persönlicher und intentioneller Ebene und ein darauf aufbauender Wissenstransfer ein positiver Einfluss (Madriz et al. 2018). Diese Netzwerkeffekte im Detail zu untersuchen und einen klaren analytischen Rahmen zu schaffen, ist von großer Bedeutung und wird als eine Schwachstelle in aktuellen Forschungsansätzen angesehen (Alvedalen und Boschma 2017; Malecki 2018). Das optimale Verhältnis im Zusammenspiel zwischen Fokus und Diversifikation der Gründungsaktivitäten kann schlussendlich zur sogenannten Resilienz führen (Oliver et al. 2015; Roundy et al. 2017). Wichtig ist daher ein breit gefächertes Angebot, welches jedoch durch die Konzentration auf strategische Kernkompetenzen Synergieeffekte schafft. Es ist notwendig frühzeitig und bereits in Zeiten einer guten Wirtschaft Rahmenbedingungen zu schaffen um den Transformationsprozess nachhaltig zu gestalten und sich auf neue Gegebenheiten einzustellen (Williams und Vorley 2014). Neben den Auswirkungen auf existierende Arbeitsplätze spielt bei allen Diskussionen die Frage über ethische Standards eine essenzielle Rolle (Beschorner und Meckel 2018; Bitkom 2017; Hebling 2015). Eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik findet seit Beginn der Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz statt (Görz et al. 1992; Konrad 1998). Für die Akzeptanz in der Gesellschaft ist es unabdingbar zu verstehen wie sich Maschinen verhalten und nachvollziehen zu können wie Entscheidungsprozesse verlaufen (Bitkom 2017). Dazu ist vor allem Transparenz der Entscheidungswege und Berechnungen innerhalb neuronaler Netze erforderlich. Die Nutzung von künstlicher Intelligenz sollte auf einer verantwortungsvollen und gemeinwohlorientierten Weise erfolgen. Diesen Fragen wird sich auch die neu ins Leben gerufene Datenethikkommission stellen müssen (Bundesregierung 2018). Konzepte wie das des „Lebenslangen Lernens“ können dazu führen zukünftig Arbeitslosigkeit zu reduzieren, bzw. zu verhindern, und werden als Schlüssel zum Meistern der digitalen Transformation gesehen. In dem Fachkräfte sich ständig weiterbilden können, sind sie in der Lage sich besser den sich schnell verändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahren rasant verändert. Die klassische Vorstellung derselben Arbeitsstelle über 40 Jahre funktioniert nicht mehr. Selbst eine Ausbildung zum Bankangestellten oder ein Jurastudium wird nicht mehr als Garantie auf einen sicheren Arbeitsplatz angesehen (Brzeski und Fechner 2018). Die heutige Generation von Berufseinsteigern sollte sich darauf einstellen, dass eine ständige Flexibilität bezüglich neuer Technologien und Verfahren gefordert sein wird. Dies betrifft sowohl den Arbeitsort als auch konkrete Tätigkeitsbereiche innerhalb einer Unternehmensstruktur. Die Ausbildung endet nicht mehr mit dem Eintritt in das Berufsleben. Es sollte ein ständiger Lernprozess stattfinden um sich als Fachkraft nicht ersetzbar zu machen. In vielen Unternehmen und dabei vor allem im Tagesgeschäft ist dies jedoch nicht ohne weiteres durchführbar. Es ist die Aufgabe der politischen Entscheidungsträger die gesetzlichen Rahmenbedingungen sicherzustellen und damit Arbeitnehmern Anreize zu schaffen sich eigenständig weiterbilden zu können. Erste Initiativen in dieser Richtung wurden

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in Deutschland auf Landesebene umgesetzt und müssen in Zukunft weiter ausgebaut und etabliert werden (Welt 2018). Solche Konzepte können ein wichtiger Baustein auf dem Weg hin zu einer krisensicheren und nachhaltigen Gesellschaft sein, weshalb der Gesetzgeber gefordert ist verbindliche Grundlagen zu schaffen und persönliche Weiterbildungen zu fördern.

4 Der Strukturwandel in Karlsruhe – Eine Erfolgsgeschichte? Beispielhaft für Auswirkungen tief greifender technologischer Veränderungen wird im Folgenden der erhebliche Strukturwandel in Karlsruhe und der umliegenden Region innerhalb der letzten 30 Jahre, welcher unter anderem durch die zunehmende Bedeutung der Informatik entstanden ist, dargestellt. Dabei verlief die Entwicklung von einem hauptsächlich produzierenden Gewerbe hin zu einer Wirtschaftsstruktur die überwiegend von Dienstleistungen rund um den IT-Bereich mit Fokus auf Unternehmen als Kunden (B2B) geprägt ist. Dieser Wandel lässt sich durch den aktuellen Trend der Gründungsaktivitäten und deren Kennzahlen nachdrücklich bestätigen. Im Rahmen einer Umfrage unter Gründern aus Karlsruhe, welche im Zusammenhang mit der Harmonized Instrument Initiative (HII) in den Jahren 2015 und 2017 durchgeführt wurde, konnte die Entwicklung hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft deskriptiv bestätigt werden. Über die Hälfte der ansässigen Neugründungen lassen sich dem IT-Bereich zuordnen, wobei der klare Fokus auf Geschäftsmodellen mit Unternehmen als Endkunden (B2B) sowie auf dem Erbringen von Dienstleistungen liegt (Henn et al. 2015). Ebenfalls erwähnenswert ist, dass sich die restlichen Gründungen breit gefächert über alle Branchen aufteilen und somit eine gute Mischung darstellen. Bahnbrechende Innovationen und bedeutende technologische Meilensteine heben die lange Tradition von großem Erfindergeist in der Region hervor. Dazu zählen unter anderem die Erfindung der Draisine durch Karl Friedrich Freiherr von Drais im Jahr 1817, die Entdeckung der elektromagnetischen Wellen durch Heinrich Rudolf Hertz sowie die Entwicklung des ersten Automobils durch Carl Friedrich Benz in den 1880er Jahren (Csernalabics 2018; Störmer 2017). Betrachtet man die jüngere Geschichte stand die lokale Wirtschaft nicht immer so gut da wie man aus heutiger Sicht hätte vermuten können. Im Zeitraum von 1980 bis 1990 mussten eine Vielzahl der produzierenden Industriebetriebe, wie z. B. die Nähmaschinenfabrik Pfaff oder die Badische Maschinenfabrik, ihre Tore schließen bzw. wurden durch ausländische Konzerne aufgekauft (IG Metall Karlsruhe 2011). Als Folge dessen kam es zu einem erheblichen Abbau von Arbeitsplätzen und Leerstand ganzer Industriestandorte. Diese schwierige Situation wurde genutzt um einem bewussten Strukturwandel einzuleiten, wodurch der Wirtschaftsstandort Karlsruhe wieder aufgebaut und schlussendlich gestärkt werden konnte. Nach dem Scheitern der großen Betriebe wurden konsequenterweise Rahmenbedingungen für die Entwicklung und Förderungen kleinerer Unternehmen geschaffen. Alte Industriegebäude wurden umgebaut, erneuert und als

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Technologiefabrik oder RaumFabrik Durlach zu Hotspots für schnell wachsende Kreativ- und IT-Unternehmen. In den letzten Jahren wurde zusätzlich der Standort Alter Schlachthof zum Kreativpark umgestaltet und bietet heutzutage jungen Gründungen, z. B. in ausrangierten Schiffscontainern des Perfekt Future, einen außergewöhnlichen und inspirierenden Platz zum Arbeiten. Heutzutage sind in etwa 4200 IT-Unternehmen in der Technologieregion ansässig, welche zusammen mehr als 40.000 Arbeitsplätze geschaffen haben (Csernalabics 2018). Die Branchenlandschaft besteht aus vielen kleineren Unternehmen mit zwischen 10 und 20 Mitarbeitern und flachen Hierarchien. Sie haben sich ihre Nische gesucht und gefunden, können sich dabei schnell und flexibel an neue Bedingungen anpassen und sind als „Hidden Champions“ über die Grenzen hinaus bekannt. Eine solche Branchenverteilung kann wie im Absatz „Resilientes Ökosytem“ beschrieben vorteilhaft gegenüber Krisen und potenziellen Risiken sein und ist sicherlich ein Erfolgsfaktor des nachhaltigen Strukturwandels. Als wichtige Meilensteine des Wandels werden die Gründung der ersten Informatik-Fakultät Deutschlands der damaligen Universität Karlsruhe sowie des Cyberforum e. V. als Interessenvertretung der IT-Unternehmen genannt. Die 20-jährige Erfolgsgeschichte stellt eindrucksvoll den positiven Einfluss auf das lokale Netzwerk dar (BNN 2017). Einige der in dieser Zeit entstandenen Gründungen sind bekannte Unternehmen wie Web.de oder Gameforge, deren überaus erfolgreiche Entwicklung in Fallstudien aufbereitet worden ist (Rau 2006; Runge 2014). Verschiedene Studien der letzten Jahre und die dabei erstellten Ranglisten bestätigen den erfolgreichen Strukturwandel und beschreiben die Stärke der Region als ein Zusammenspiel zwischen Technologiefokus (de Prato und Nepelski 2014), kulturellem Angebot (Montalto et al. 2017), Gründungsaktivität aus dem universitären Umfeld (Frank et al. 2016) und einer herausragenden Zukunftsaussicht (Jentsch 2018; von Radecki et al. 2016,). Laut Stahlecker et al. (2014) zeichnet sich der Standort Karlsruhe durch umfangreiche Innovationsaktivitäten, exzellente Studiengänge und die große Anzahl an Forschungseinrichtungen aus. Verdeutlicht wird dies durch eine Studie der Europäischen Union aus dem Jahr 2014 in der Karlsruhe im Vergleich der leistungsfähigsten Standorte der Informations- und Kommunikationstechnik direkt hinter den Metropolen München, London und Paris den 4. Platz belegt (de Prato und Nepalski 2014). Des Weiteren ist in Karlsruhe das größte und wichtigste Rechenzentrum Deutschlands beheimatet über welches mehr als 50 % des nationalen Emailverkehrs laufen. Es wird daher auch als „Postfach der Nation“ bezeichnet und macht Karlsruhe zur heimlichen IT-Hauptstadt (DPA 2018). Das kulturelle und kreative Potenzial der Stadt wird durch die Studie „The Cultural and Creative Cities Monitor“ der Europäische Kommission, bei der Karlsruhe unter den mittelgroßen Städten (250.000 bis 500.000 Einwohner) hinter Edinburgh den 2. Platz belegt, ebenfalls hervorgehoben und gewürdigt (Montalto et al. 2017). Insgesamt lassen sich 13,3 % der ansässigen Unternehmen dem Kultur- und Kreativitätsbereich zuordnen. Der 2. Platz des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) beim Gründungsradar 2016 unterstreicht den Stellenwert des Themas „Gründen“ im universitären Kontext (Frank et al. 2016). Beim renommierten

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deutschen Gründerpreis, welcher seit dem Jahr 2006 in Berlin vergeben wird, erzielten die Karlsruher Start-ups Restube (2015 – 1. Platz), Nanoscribe (2016 – 2. Platz) und INERATEC (2018 – 1. Platz) herausragende Erfolge und konnten eine Leuchtkraft über die Grenzen Deutschlands hinaus erzeugen (Deutscher Gründerpreis 2015, 2018). Der Erfolg hochtechnologischer Gründungen sowie innovativen Geschäftsmodellen ist Treiber für einen Wandel und steht beispielhaft für positive vollzogene strukturelle Veränderungen. Bestätigt wird dies durch den Morgenstadt City Index des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in dessen Rahmen Karlsruhe als zukunftssicherste Stadt in Deutschland 2016 ausgezeichnet worden ist (von Radecki et al. 2016). Darüber hinaus konnte sich Karlsruhe vor Aachen und Ingolstadt in einer aktuellen Studie der Jobplattform Joblift als Spitzenreiter behaupten und wurde als „Tech-Zentrum der Zukunft“ hervorgehoben (Jentsch 2018). Um die zukünftige strategische Ausrichtung voranzutreiben sind weitere Projekte mit unterschiedlichen Schwerpunkten in der Planungsphase oder bereits in Umsetzung. Die Forschungs- und Gründungslandschaft soll auf der einen Seite noch diversifizierter aber auf der anderen Seite fokussierter auf Technologien mit hohem Zukunftspotenzial aufgestellt werden (Stadt Karlsruhe 2018). Beispielhaft hierfür steht der Smart Produktion Park. Ein Projekt bei dem junge Unternehmen bereits in der Anfangsphase Zugang zu Produktionssystemen bekommen. Dort können sie ihre Ideen und Konzepte unter realen Gegebenheiten testen und darüber hinaus bei Bedarf erste Prototypen herstellen. Neben einer großen Lagerfläche wird eine Plattform zur Begegnung und Kommunikation von Gründern und etablierten Unternehmen mit Ziel der Synergiegewinnung geschaffen. Mit First Momentum Ventures wurde von Mitgliedern der Hochschulgruppe PionierGarage e. V. der erste und derzeit einzige von Studenten geführte Investmentfonds Deutschlands gegründet (Neuhaus 2018; Schäfer 2018). Mit dem Fokus auf die PreSeed-Phase kann eine Lücke geschlossen werden die aufgrund der fehlenden Rentabilität für klassische Investoren bisher nicht bedient wurde. Neben der fachlichen und finanziellen Unterstützung wird den gründungsbegeisterten Studenten bereits in der Ideen- oder Projektphase ein großes Netzwerk bereitgestellt. Darüber hinaus schaffen Akteure aus der Privatwirtschaft in verschiedenen Bereichen wertvolle Angebote um für Gründungen mit einem bestimmten Fokus auf Branche, Technologie oder Reifegrad die optimale Unterstützung zu gewährleisten und sie in der Region zu halten oder sogar anzuziehen. Der AXEL-Accelerator mit Fokus auf Start-ups aus dem Energiebereich steht beispielhaft für diese Entwicklung (Csernalabics 2018). Des Weiteren wurde das Cyberlab ausgezeichnet und zum IT-Accelerator des Landes Baden-Württemberg ernannt (BNN 2017). Ein weiterer wichtiger Baustein ist die Vernetzung der Akteure aus Forschung, Wirtschaft und Politik innerhalb von Kooperationen. Im Testfeld für autonomes Fahren (TaF) ist es seit Mai 2018 möglich autonome Mobilität im normalen Straßenverkehr zu testen was einzigartig in Deutschland ist. Mit einen ausgeklügelten Konzept konnte sich Karlsruhe gegen die Mitbewerber Stuttgart und Ulm durchsetzen und bekam eine Finanzierung von 2,5 Mio. EUR vom Landesministerium für Wirtschaft und Bauen (FZI 2018).

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Dieses Projekt steht beispielhaft dafür wie Forschungskooperationen erfolgreich funktionieren können und ist als eine der großen Stärken der Region zu nennen. Schlussendlich ist die Ausrichtung der Stadt Karlsruhe in Bezug auf Gründungen und wirtschaftliche Verflechtungen über den eigenen Tellerrand hinaus zu nennen. Projekte werden nicht nur regional oder national sondern gleich international gedacht. Mit Städten wie Pune in Indien sowie mehreren Ländern in Ostafrika werden die Weichen für eine internationale Zusammenarbeit gestellt und erste gemeinsame Veranstaltungen wie den „Start-up Round Table India“ etabliert. Von diesem gegenseitigen Wissensaustausch profitieren alle Akteure der jeweiligen lokalen Gründungsökosysteme.

5 KI-basierte Start-ups aus Karlsruhe In Karlsruhe, insbesondere im Umfeld des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), sind aufgrund der zukunftsorientierten Ausrichtung und der zunehmenden Relevanz des Themas vermehrt technologiebasierte Gründungen mit Bezug auf künstliche Intelligenz entstanden. Neben der Vielzahl an renommierten Forschungseinrichtungen sowie der langjährigen Tradition im Bereich der IT ist dies sicherlich einer der Gründe wieso Karlsruhe vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie als „digitalhub für Articial Intelligence“ ausgezeichnet wurde (de:hub 2018). Das große Potenzial der Region wurde erkannt und es entstand einer der wichtigsten Standorte für KI-basierte Startups innerhalb Deutschlands und über die Grenzen hinaus. Betrachtet man das aktuelle deutschlandweite Gründungsgeschehen im Bereich der künstlichen Intelligenz, welches im Rahmen der „Initiative for applied Artifical Intelligence“ durch die UnternehmerTUM analysiert und in einer Landkarte zusammengefasst wurde, liegt Karlsruhe mit neun Gründungen in etwa gleichauf mit Hamburg auf Platz 3 (AppliedAI 2018). Klare Spitzenreiter mit deutlichem Abstand sind die beiden Metropolen Berlin und München. Insgesamt wurden von über 400 gesammelten Gründungen die 132 Erfolgsversprechenden ausgewählt und in einem Kategoriensystem grafisch dargestellt, von denen insgesamt neun aus der Region Karlsruhe mit Bezug zum Karlsruher Institut für Technologie kommen. Ebenfalls zu erwähnen ist, dass das zweithöchste Einzelinvestment in Höhe von 75 Mio. EUR an eine hochtechnologische Gründung aus Karlsruhe vergeben wurde (AppliedAI 2018). Inzwischen hat Blue Yonder, ein Spin-off des KITs, einen beachtlichen Exit an den amerikanischen Konzern JDA Software erzielen können und damit seine Erfolgsgeschichte fortgeschrieben (Heeg 2018). Darüber hinaus ist eine Vielzahl sehr junger Start-ups in der Vorgründungsphase oder als Forschungsprojekt aktiv, welche zwar eine rasante Entwicklung durchmachen aber noch nicht von den Statistiken erfasst wurden. Im Folgenden sollen aktuelle Gründungsprojekte und junge Technologieunternehmen aus Karlsruhe auf ihr Potenzial hin beleuchtet werden und beispielhaft für zukünftige

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Veränderungen in unsere Arbeitswelt stehen. Diese Einblicke sollen einen Überblick geben in welche Richtung sich künstliche Intelligenz entwickeln kann, wie sie derzeit eingesetzt wird und in welchem Ausmaß sich Geschäftsmodelle verändern könnten. Nachfolgend werden diese Gründungen in alphabetischer Reihenfolge in kurzen Fallstudien vorgestellt und im Anschluss auf ihre potenziellen Auswirkungen auf die zukünftige Arbeitswelt und die Gesellschaft analysiert. Als Quelle für die gesammelten Informationen wurde die jeweilige Webseite der einzelnen Gründungen herangezogen. Orientiert ist die Vorgehensweise dabei an die von Bughin et al. (2017) vorgestellten fünf potenziellen Anwendungsfälle von künstlicher Intelligenz aus den Bereichen Retail, Bildung, Gesundheit, Energie und Produktion.

5.1 apic.ai Gründer: Frederic Tausch, Katharina Schmitt, Matthias Diehl Gründungsjahr: 2018 Branche: Agriculture Tech/Data Capture Bienen und andere bestäubenden Insekten stehen mit der Natur in einer Beziehung existenzieller Abhängigkeit und sind vor allem für die Landwirtschaft und die Vielfalt der Flora unverzichtbar. In den letzten Jahren ist ihre Zahl jedoch massiv zurückgegangen. Dieses als Bienensterben bezeichnetes Phänomen konnte von der Forschung bis heute noch nicht vollständig aufgeklärt werden. Die genauen Ursachen und die Rolle des Menschen in dieser Entwicklung sind weiterhin umstritten. Das DeepTech-Startup apic.ai hat sich zum Ziel gesetzt diesem Trend zu stoppen und den Erhalt der biologischen Vielfalt zu sichern. Dabei setzt apic.ai auf neueste Technologien aus dem DeepTech-Bereich, wie Machine Learning und neuronale Netze, um die synergetischen Beziehungen der Natur aufzudecken, fehlerhafte Muster schnell zu erkennen und Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren. Dazu wird ein System genutzt, das Bienen an ihren Bienenstöcken erfasst und die Bilddaten mit neuronalen Netzen und smarter Software auswertet. Die Aggregation der Daten verschiedener Bienenstöcke erlaubt es, die Prozesse der Natur großflächig zu erfassen und für Landwirte, Versicherer und staatliche Institutionen nutzbar zu machen. Ungewissheit über die Konsequenzen menschlicher Einflüsse bei der Gestaltung urbaner und ländlicher Lebensräume soll kein Grund mehr für den Verlust von Biodiversität sein. Trotz dessen apic.ai erst im August 2018 gegründet wurde, konnten bereits erste nennenswerte Erfolge verbucht werden. Neben dem 2. Platz im Landesfinale des Elevator Pitch BW 2018 wurde apic.ai mit dem Latidude49-Stipendium der Höpfner-Stiftung für nachhaltigen Entrepreneurship und Social Impact ausgezeichnet.

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5.2 HelioPas AI Gründer: Benno Ommerborn, Ingmar Wolff Gründungsjahr: 2018 Branche: Agriculture Tech/FinTech HelioPas AI erleichtert Agrarversicherern die Abwicklung von Schadenfällen. Die entwickelte Analytics-Software liefert nach einem Unwetter oder sonstigen Umwelteinflüssen schnellstmöglich präzise Informationen darüber, auf welcher landwirtschaftlichen Fläche ein Schaden entstanden ist und in welchem Ausmaß. Darüber hinaus wird der Versicherer im Detail informiert noch bevor der Landwirt oder ein interner Sachbearbeiter den Schaden identifiziert und bewerten konnte. Des Weiteren bestimmt das intelligente System den tatsächlichen Schaden mit hoher Genauigkeit und verschafft dem Versicherungsunternehmen eine gewisse Planbarkeit und erste Risikoabschätzung. Diese verlässliche, objektive und vor allem neutrale Bewertung hilft sowohl dem Versicherer als auch dem Landwirt, sich bei der Einschätzung der Situation und daraus entstehenden Kosten gütlich zu einigen. Der interne Schadenprüfer der Versicherung wird bereits im Vorfeld mit detaillierten Informationen ausgestattet und kann sich bei der Begutachtung auf wesentliche Felder und Themen fokussieren. HeliosPas Ai schafft es durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz die aufgeblähten Prozesse der Versicherungswirtschaft auf das Wesentliche zu reduzieren und somit auf grundlegende Art und Weise zu beschleunigen. Dies führt sowohl zu einer Erhöhung der Qualität der jeweiligen Gutachten als auch zur Senkung der internen Prozesskosten für den Versicherer im Schadensfall. Für den Landwirt kann durch eine schnellere Abwicklung der vermeintlichen Ansprüche und deren Auszahlung das Risiko von Zahlungsschwierigkeiten und Liquiditätsproblemen reduziert werden.

5.3 lengoo Gründer: Alexander Gigga, Christopher Kränzler, Philipp Koch-Buettner, Tobias Nawa Gründungsjahr: 2014 Branche: Natural Language Das Verwenden mehrsprachiger Inhalte ist in unserer vernetzten Welt essenziell geworden. Viele Unternehmen sind jedoch von den Möglichkeiten der voranschreitenden Globalisierung ausgeschlossen, weil sie sich hochpreisige Übersetzungsdienste nicht leisten wollen oder können. Aktuelle Studien zeigen, dass aufgrund der grundsätzlich beschränkten Anzahl verfügbarer Fachexperten und derer zeitlich limitierten Ressourcen überhaupt nur ein sehr kleiner Teil der angefragten Texte tatsächlich übersetzt werden können. Die lengoo GmbH schafft durch den Einsatz Neuronaler Übersetzungsnetzwerke die Schnittstelle zwischen menschlicher Kreativität und technischer Präzision für die Zukunft des Übersetzens und ermöglicht mit seiner einzigartigen Herangehensweise

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ein unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis. Das Fachwissen multilingualer Experten kombiniert mit intelligenten Prozessen macht Fachübersetzungen für Unternehmen auf eine kosteneffektive Weise zugänglich. Mit den besten Linguisten unterstützt durch smarte AI wird der Markt für Fachübersetzungen revolutioniert. Der Einsatz von Neuronalen Übersetzungsnetzwerken, die auf Basis kundenspezifischer Daten trainiert werden, ermöglicht eine Vorübersetzung von Texten innerhalb weniger Sekunden, die in einem zweiten Schritt von Fachexperten auf ihre inhaltliche und linguistische Korrektheit geprüft werden. Dabei werten Algorithmen mithilfe der vorhandenen Datenbasis aus bereits übersetzten Texten aus welches Übersetzungsprojekt am besten zu welchem Übersetzer passt. Diese Vorgehensweise führt erstens zur Erhöhung und Sicherstellung der Qualität der Übersetzung sowie zweitens zu einer Verkürzung der Bearbeitungszeit und somit zur Steigerung der Produktivität. Somit wird eine Win-win-Situation zwischen Unternehmen und internationalen Sprach- und Wissensträger geschaffen.

5.4 Qymatix Solutions Gründer: Lucas Pedretti Gründungsjahr: 2013 Branche: Manufacturing/B2B-Vertrieb Qymatix ermöglicht es Unternehmen aus dem B2B-Bereich, insbesondere dem Großhandel, Daten in handlungsrelevante Erkenntnisse zu verwandeln und ein profitables, nachhaltiges Wachstum zu fördern. Die KI-gestützte Predictive Sales Analytics (PSA) kombiniert mit Software aus Enterprise-Resource-Planning (ERP) und Customer-Relationship-Management (CRM) liefert handlungsrelevante Echtzeitinformationen hinsichtlich Umsatz, Cross-Selling, Abwanderungsrisiko und Preisniveau für traditionelle und digitale Kanäle. Smarte AI, bestehend aus Machine Learning Algorithmen und Big Data, identifiziert Kunden welche mit einer hohen Wahrscheinlichkeit neue Angebote oder bessere Preise akzeptieren und stellt diese Informationen übersichtlich mit den jeweiligen Erfolgschancen in aufbereiteter Form dar. Prozesse in Vertriebsabteilungen werden nicht mehr ineffizient und kostenintensiv nach dem Gießkannenprinzip durchgeführt und können gezielt in die richtige Richtung gesteuert werden. Neben einer Steigerung des reinen Umsatzes wird somit auch der Customer Lifetime Value des einzelnen Kunden gesteigert. Darüber hinaus werden abwanderungswillige Kunden frühzeitig erkannt, die Möglichkeit einer gezielten Ansprache geschaffen und die Wahrscheinlichkeit eines Verlusts von Kunden bzw. der Rückgewinnung dieser erhöht. Die künstliche Intelligenz übernimmt dabei komplexe analytische Aufgaben und unterstützt mit Ihren Diagnosen und Vorschlägen die strategische Arbeit der Mitarbeiter im Vertrieb. Der eigentliche Kundenkontakt läuft weiter über menschliche Fachkräfte, welche jedoch effizienter agieren, ihre Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen und mehr Umsätze für das Unternehmen generieren können.

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5.5 renumics Gründer: Dr. Stefan Suwelack, Markus Stoll, Steffen Slavetinsky Gründungsjahr: 2016 Branche: Manufacturing In der Entwicklung von innovativen Produkten wird immer stärker auf den Aspekt einer frühzeitigen Simulation zurückgegriffen. Diese Vorgehensweise wird eingesetzt um agil und effizient zu entwickeln und setzt den Einsatz von Software voraus. Vorteilhaft durch die Integration von Simulationen in die Produktentwicklung sind verkürzte Entwicklungszeiten, niedrigere Entwicklungskosten sowie eine verbesserte Produktqualität und -lebensdauer. Die Rahmen solcher Simulationsprozesse anfallende Schritte wie Konzeption, Ausführung und Interpretation sind derzeit allerdings nur durch speziell ausgebildete Berechnungsingenieure möglich und gehen mit zeitintensiver manuellen Routinetätigkeiten einher. Durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz automatisiert renumics das sogenannte Computer Aided Engineering (CAE). Die verwendete Technologie wird simulationsgetriebenes Design effizienter und einfacher nutzbar für mittelständische Unternehmen gestalten, ohne eine Vielzahl von Berechnungsingenieuren zu benötigen. Als Kernkompetenz verfügt renumics über ein einzigartiges maschinelles Lernverfahren, mithilfe dessen repetitive Aufgaben erstmals vollständig automatisiert werden können. Auf Basis dieser Technologie wurde ein neuartiges Softwarewerkzeug für die Produktentwicklung entwickelt, welches zukünftig als Plattform für Endnutzer bereitgestellt wird. Mit ihrer Hilfe können Ingenieure manuelle Arbeitsaufwände datengetrieben automatisieren und in Form einfach zu bedienender Softwarewerkzeuge, sogenannter Engineering-Apps, zur Verfügung stellen. Der Fokus liegt im Rahmen des Markteintritts zunächst auf Anwendungen im Bereich der Simulationstechnik. Für ihre herausragende Vision wurde renumics unter anderem mit dem Cyberchampions-Award 2018 in der Kategorie Best-Start-up Concept ausgezeichnet.

5.6 thingsTHINKING Gründer: Dr. Mathias Landhäußer, Dr. Sven Körner Gründungsjahr: 2017 Branche: Natural Language Viele der heutigen Aufgaben können nur von Menschen bearbeitet werden da es essenziell ist den Kontext von Informationen und der Bedeutung zu verstehen. Menschen sind Computer weiterhin überlegen wenn es um den genauen Sinn und das Verständnis der natürlichen Sprache geht. Existierende Ansätze werden dies nicht verändern, solange intelligente Maschinen nicht die Bedeutung von natürlicher Sprache verstehen, sondern weiterhin diese versuchen mathematisch-statistisch auszuwerten. Die von things-

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THINKING entwickelte Technologie erkennt im Gegensatz zu bisherigen Methoden die Semantik (Konzept der Bedeutung) in der Sprache. Diese Technologie kombiniert über Deep Learning Ansätze das Praxiswissen mit statischen Informationen um zur eigentlichen Bedeutung der natürlichen Sprache zu gelangen. Diese Entwicklung wird von der DARPA als dritte Welle der künstlichen Intelligenz bezeichnet. Über 13 Jahre Forschung am Karlsruher Institut für Technologie führten zu dieser Künstlichen Intelligenz, die die Semantik von Sprache versteht und somit ähnlich wie Menschen unstrukturierte Informationen verarbeiten kann. Eingesetzt wird die Methodik im Bereich der technischen Spezifikation, wobei es dem Autor als Unterstützung dient die Anforderungen fachlich korrekt darzustellen. Es werden von vornherein Fehler, Unvollständigkeiten und sprachliche Mehrdeutigkeiten vermieden, deren Korrektur später nur kostenintensiv behoben werden könnten. Dies führt zu einer Erhöhung der Qualität der zu erstellenden Dokumente und wird bereits auf unterschiedliche Art und Weise bei Verträgen und Ausschreibungen eingesetzt. Zur Bundestagswahl 2018 erlangte thingsTHINKING deutschlandweit Aufmerksamkeit als es den schriftlichen Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD mit ihrer Technologie ausgewertet hat und diese mehr Positionen der SPD im Text identifizierte als auf den ersten Blick zu erkennen gewesen wäre.

5.7 understand.ai Gründer: Philip Kessler, Marc Mengler Gründungsjahr: 2016 Branche: Machine Learning/Automotive/Data Capture understand.ai ist ein DeepTech-Startup, welches mithilfe von Machine Learning und selbstlernenden Algorithmen Bild- und Videodaten für das autonome Fahren aufbereitet. Diese Vorgehensweise ist unter dem Konzept des Labeling bekannt und ist notwendig um ein Auto vollkommen selbstständig fahren zu lassen. Damit ein autonomes Fahrzeug die Umgebung um sich herum realitätsgetreu wahrnehmen kann, benötigt die Autoindustrie eine hohe Anzahl an Bild- und Videomaterial zum Anlernen der Algorithmen. Auf diesen Quellen werden die darauf dargestellten Objekte (andere Fahrzeuge, Personen, Verkehrsschilder, usw.) gekennzeichnet. Bislang lassen die großen Fahrzeugbauer diese Kennzeichnung der Daten von externem Dienstleistern mit tausenden von Arbeitern in Ländern der Dritten Welt, vor allem Indien, durchführen. Aufgrund der repetitiven Wiederholung dieser Aufgabe und der geringfügigen Qualifikation der Arbeiter vor Ort ist diese Vorgehensweise relativ fehleranfällig, was bei der sicherheitsrelevanten Diskussion im Bereich des autonomen Fahrens nicht tolerierbar ist. understand.ai hingegen verwendet künstliche Intelligenz, welche es ermöglicht diese Kennzeichnung deutlich schneller, präziser und weniger fehleranfällig auszuführen. Die Kombination von selbstlernenden Algorithmen und menschlicher Intelligenz stellt in einem 3-stufigem Qualitätsprozess sicher, dass die Annotationen pixel-genau auf Bild- und Video-

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ausschnitt mit der realen Umgebung übereinstimmen. Der sich ständig weiterentwickelnde und sich selbst verbessernde Algorithmus, die effektiven Tools sowie die finale Qualitätskontrolle durch hauseigene Experten in Karlsruhe ermöglicht es derzeit dreimal schneller und qualitativ hochwertiger als die rein manuelle Kennzeichnung der Daten durch Menschen zu sein. Es führt somit zu einer Qualitätssteigerung einerseits sowie einer Produktivitätserhöhung andererseits. Aus diesem Grund steht understand.ai beispielhaft für Präzision und Skalierbarkeit in der Industrie des autonomen Fahrens und wurde in einer ersten SeedRunde mit einem Investment von 2,8 Mio. US$ gefördert.

5.8 Zana Technologies Gründer: Dr. Julia Hoxta, Dr. Armand Brahaj Gründungsjahr: 2014 Branche: Healthcare Zana ist ein interaktiver, AI-basierter persönlicher Assistent für Gesundheitsfragen aller Art und bietet mit intelligenten Antworten, informativen Artikel und personalisierten Empfehlungen eine konkrete Lösung für das Bedürfnis nach komplexen Gesundheitsdaten. Dabei kann mit Zana sowohl textbasiert als auch auf gesprochenem Weg jederzeit in natürlicher Sprache interagiert werden. Ziel ist es Menschen in den unterschiedlichsten Lagen dabei zu helfen, hilfreiche und verlässliche Informationen zur Primärversorgung zu finden und sie in die Lage zu versetzen, gesund zu werden und langfristig zu bleiben. Wie eine intelligente medizinische Assistentin unterhält sich Zana mit den Benutzern über eine Schnittstelle, die die Kommunikation mit einem menschlichen Arzthelfer nachahmt. Benutzer können ihre Symptome und gesundheitlichen Bedenken in natürlicher Konversationssprache ausdrücken. Der Assistent antwortet in Echtzeit mit den richtigen Folgefragen zu den Symptomen und den Gründen für die wahrscheinlichste(n) Krankheit(en). Somit liefert Zana für den Nutzer in kürzester Zeit verwertbares Wissen mit detaillierten Informationen über die gefilterten Krankheitsbilder. Diese Informationen werden auf der Grundlage des Gesundheitsprofils des Benutzers (Symptome, Alter, Geschlecht, Standort) personalisiert und kann dem behandelten Arzt zukünftig zur Unterstützung eines Krankheitsbildes oder zur Diagnose zugänglich gemacht werden.

6 Fazit und Ausblick Künstliche Intelligenz und Digitalisierung könnten zu tief greifenden Veränderungen innerhalb der Arbeitswelt und der Gesellschaft führen. Die zugrunde liegenden technologischen Voraussetzungen haben in den letzten Jahren einen neuen Reifegrad erreicht und sind zum Treiber autonomer Systeme in allen Lebensbereichen geworden (DeCanio 2016; Effenberger et al. 2018). Diese rasante Entwicklung führt zur Notwendigkeit der

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Anpassung von sozio-ökonomischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen mit dem Ziel die zukünftigen Möglichkeiten zum Wohle aller Menschen nutzen zu können. Bedeutende Fragestellungen wie wirtschaftspolitische Maßnahmen gestaltet werden müssten um den Strukturwandel positiv zu gestalten, sind derzeit noch nicht endgültig beantwortet. Darüber hinaus sollte frühzeitig ein Konsens gefunden werden an wen die durch künstliche Intelligenz zusätzlich entstehende volkswirtschaftliche Rendite ausbezahlt wird und wie sich diese gerechterweise verteilen lässt. Ebenfalls sollte eine intensive Diskussion darüber stattfinden, ob es neuartiger Ansätze oder Konzepte zur Stärkung einer resilienten Gesellschaft bedarf und wie diese sinnvoll umgesetzt werden könnten. Die durch Einsatz von KI entstehenden Chancen sind bei weitem größer einzuschätzen als potenzielle Bedrohungsszenarien (Beschorner und Meckel 2018). Aus heutiger Sicht gibt es bezüglich eines plötzlichen Beschäftigungsabbaus keinen Anlass zur Beunruhigung (Autor 2015). Die Aussichten sind daher aus Sicht der Gesellschaft unbedingt als Herausforderung zu sehen und diese anzunehmen. Es werden sich insbesondere für innovative Gründungsvorhaben eine Vielzahl von Möglichkeiten ergeben den Wandel nachhaltig mitzugestalten (Hebling 2015). Künstliche Intelligenz ist vor allem dann vorteilhaft sobald es um die Sammlung, Bearbeitung und Nutzung von Millionen von Datensätzen in kürzester Zeit bedarf. Hierbei lassen sich durch Training neuronaler Netze Muster erkennen und darauf aufbauend Entscheidungsempfehlungen ableiten (CBInsights 2018). Für eine menschliche Fachkraft wäre dieselbe Tätigkeit in der Regel in einer endlichen Zeitspanne nahezu ausgeschlossen. Im Medizinbereich sowie dem Gesundheitssektor als Ganzen ergeben sich dadurch fast revolutionäre Möglichkeiten. Es ist nicht auszuschließen, dass in den nächsten Jahren bedeutende Fortschritte, z. B. im Kampf gegen Krankheiten wie den Krebs, erzielt werden könnten (Bughin et al. 2017). Ebenfalls lassen sich Forschungs- und Entwicklungskosten einsparen bzw. auf andere Projekte umverteilen. Darüber hinaus lassen sich einzelne Krankheitsbilder bereits in einem sehr frühen Stadium erkennen und infolgedessen zielgerichteter als bisher behandeln. Durch die Zusammenarbeit mit KI-basierten Systemen wird es Ärzten aller Fachrichtungen ermöglicht bei ausreichendem Datenmaterial für ihre Diagnosen eine unabhängige Vergleichsmeinung als Entscheidungsgrundlage einzuholen. Beispielhaft für eine erste praktische Anwendung steht die App des Startups SkinVision, welche durch das Fotografieren von Leberflecken deren Entwicklung überwacht, automatisch auswertet und zur Erkennung von Hautkrebs dient (CBInsights 2018). In der Arbeitswelt ist der Wandel bezüglich der Anforderungen von Tätigkeiten und einzelner Arbeitsschritte sowie Auswirkungen auf bestimmte Branchen bereits nachweißbar (DeCanio 2016; Frey und Osborne 2017). Im Gegensatz zur industriellen Revolution betrifft es diesmal jedoch Arbeitsplätze aus allen Bildungsniveaus. Aufgrund eines hohen Automatisierungspotenzials sowie durch Einsparungen bei den Personalkosten gibt es bereits deutliche Anzeichen für Veränderungen, z. B. im Rechtsbereich und bei Finanzdienstleistungen (Brzeski und Fechner 2018). Insbesondere in Branchen welche durch einen hohen Grad an repetitiven Aufgaben geprägt sind, ist die Beschäftigungszahl als rückläufig zu beobachten (Frey und Osborne 2017). Laut Brzeski und Fechner (2018)

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besteht dabei eine signifikante negative Abhängigkeit zwischen dem Beschäftigungswachstum der letzten Jahre und der Automatisierungswahrscheinlichkeit der Tätigkeiten. Dieser Umbruch wird in den meisten Fällen nicht zur sofortigen Arbeitslosigkeit, sondern zuerst zu einer Veränderung der Anforderungen an die jeweiligen Arbeitsplätze führen. Frei werdende Ressourcen können eingesetzt werden um bestehende Prozesse nachhaltig zu verbessern sowie nach neuen Lösungen zu suchen und diese in die Unternehmensorganisation zu integrieren (Bitkom 2017). In der Koexistenz und dem Zusammenspiel von autonomen Systemen und menschlicher Fachkraft liegt das eigentliche Wertschöpfungspotenzial der näheren Zukunft. Betrachtet man einen längeren Zeitraum könnten intelligente Maschinen einzelne Berufsgruppen in Gänze verdrängen und im Gegenzug neue Arbeitsplätze mit verändernden Anforderungsprofilen entstehen lassen (CBInsights 2018). Aufgrund dessen noch keine belastbaren, aussagekräftigen Studien ohne Limitationen existieren, ist die Entstehung neuer Jobprofile nur schwer vorhersehbar und weiterhin ungewiss. Als weiterer Vorteil der Integration von künstlicher Intelligenz wirkt die resultierende Effizienz- und Produktivitätssteigerung den innerhalb der nächsten Jahrzehnte befürchtenden Folgen eines Fachkräftemangels entgegen, wodurch sich negative Auswirkungen auf die Wirtschaft vermeiden lassen könnten (Brzeski und Fechner 2018; Effenberger et al. 2018). Investitionen in die Mobilisierung des schier unbegrenzten Potenzials von KI-basierten Anwendungen sowie der Sicherstellung verlässlicher Rahmenbedingungen sind essenzielle Bausteine einer Ausgestaltung und könnten zu einem Wettbewerbsvorteil gegenüber Volkswirtschaften mit ähnlichem demographischem Wandel und Problemstellungen führen. Ziel sollte es sein durch eine geeignete strategische Ausrichtung den Wirtschaftsstandort Deutschland nachhaltig und zukunftsorientiert zu stärken und zu festigen. Als positiver Effekt wird eine Erhöhung der Wertigkeit von sozialen Berufen sowie Beschäftigungen in Kultur und Kunst in der Gesellschaft prognostiziert (Bitkom 2017). Insbesondere bei der Bewältigung des aktuellen Pflegenotstands sehen Studien einen ersten Ansatz. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass bereits erste Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe durch Entwicklungen im Bereich der Robotik von Entwicklungsin Industrieländer zurückwandern (CBInsights 2018). Als Beispiel hierfür steht eine Absichtserklärung zwischen der chinesischen Tianyuan Garments Company und der Landesregierung in Arkansas (USA). Dabei sollen 400 Arbeiter in einer hochmodernen Textilfabrik Beschäftigung finden mit der Aufgabe sich als sogenannte „Babysitter“ um die eingesetzten Roboter des Start-ups SoftWear Automation zu kümmern und bei fehlerhaftem Verhalten einzuspringen. Die Arbeitswelt steht vor einem Umbruch in dessen Rahmen eine langfristige Sicherheit über Jahrzehnte nicht mehr garantiert werden kann und dadurch die Bedeutung von Anpassungsfähigkeit und Flexibilität von Arbeitnehmern sowie ihren Unternehmen stark zunehmen werden. Der Erwerb digitaler Kompetenzen ist eine notwendige Voraussetzung und muss als Bildungsschwerpunkt bereits frühzeitig im Fokus der Schulen und Universitäten stehen (Bitkom 2017). Die Förderung von Kreativität und lösungsorientiertem

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Denken sind in Zukunft bei weitem als wichtiger einzustufen wie eine reine Wissensvermittlung. Um sich durch persönliche Weiterbildung den stetig verändernden Rahmenbedingungen anpassen zu können, wird eine neue Denkweise benötigt. Die Grundlage für eine soziale, ökonomische und nachhaltige Entwicklung könnte durch das Konzept des lebenslangen Lernens erreicht werden (Effenberger et al. 2018; Unesco 2017). Arbeitnehmern sollte es ohne finanzielles Risiko und rechtlich abgesichert ermöglicht werden sich stetig über den formalen Bildungsweg hinaus persönlich und fachlich weiterzubilden. Ein allgemeines Recht gegebenenfalls eine berufliche Auszeit nehmen zu können, wurde in der politischen Diskussion als möglicher Gesetzesentwurf aufgegriffen und erste Programme auf Länderebene dazu ausgestaltet (Grotlüschen und Haberzeth 2018; Welt 2018). Die Bedeutung von Daten zeigt sich durch die Bezeichnung als der „Rohstoff des 21. Jahrhunderts“ (Hebling 2015). Insbesondere gekennzeichnetes Bilder- und Videomaterial, welche als Trainingsdaten genutzt werden müssen, sind ein essenzieller Bestandteil zum Aufbau und zur Verbesserung von Systemen maschinellen Lernens (Chui et al. 2018). Im Bereich von datenbasierten Geschäftsmodellen wird der Markt von IT-Konzernen aus den USA und China dominiert, wodurch Europa den Anschluss verloren hat (CBInsights 2018). Daher sollte es ein gemeinsames Ziel sein, neue Wege der datenbasierten Wertschöpfung zu generieren sowie die gesetzlichen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen zu schaffen diese Vorhaben entsprechend zu ermöglichen. Der Einsatz von KI in Bereichen wie Banking, Versicherung, Gesundheit und bei medizinischen Produkten sowie im öffentlichen und sozialen Bereich ist ein gesellschaftliches Anliegen und setzt eine sorgfältige Regulierung bzgl. der Sicherheit von persönlichen Daten und der Privatsphäre voraus (Hebling 2015). Für eine erfolgreiche Entwicklung ist ebenfalls zu klären wem einzelne Daten eigentlich genau gehören und welche Rechte, Pflichten aber auch Verantwortung sich daraus ergeben. Bei allen Überlegungen sollte immer übergeordnet die Frage stehen wie sich intelligente, datengetriebene Systeme zum Wohle der Gesellschaft nutzen lassen. Neue Ansätze, wie z. B. eine Steuer auf Daten, mit dem Ziel potenzielle Ungerechtigkeiten auszugleichen, werden in einzelnen Konzepten bereits gefordert und sollten auf eine sinnvolle Umsetzung in die Praxis hin analysiert werden (McKinsey Analytics 2018; World Economic Forum 2018). Junge technologiebasierte Gründungen können sich im Gegensatz zu etablierten Unternehmen relativ schnell und flexibel an neue Gegebenheiten sowie externe Einflüsse anpassen und sorgen für einen krisensicheren, risikominimierenden Rahmen. Auf dem langen Weg zu einem Konzept der „Resilienten Gesellschaft“ und um sich weitestgehend gegenüber exogenen Shocks abzusichern ist ein breit gefächertes, lebendiges Gründungsgeschehen mit Schwerpunkten auf einzelnen innovativen Technologien unverzichtbar. Beim Aufbau der Rahmenbedingungen eines Gründungsökosystems sind diese Überlegungen von Anfang an miteinzubeziehen. Auf der einen Seite ist Entrepreneurship ein wichtiger Baustein eines gesunden Ökosystems, kann aber auf der anderen Seite alleine nicht die Lösung aller Probleme darstellen. Zwar unterstützen Start-ups

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durch Schaffung neuer Arbeitsplätze den Strukturwandel in erheblichem Ausmaß, jedoch verändert sich durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz die Arbeitswelt insgesamt. Neuartige Ansätze wie das Konzept des „lebenslangen Lernens“ funktionieren nur bei einer breiten Anerkennung über alle Gesellschaftsschichten hinweg und setzen den Abbau bürokratischer und regulatorischer Hürden voraus. Darauf aufbauend sollten wie beschrieben die Schwerpunkte des gesamten Bildungssystems neu gesetzt und auf die zukünftigen Anforderungen, weg von reinem Auswendiglernen und Frontalunterricht hin zu Kreativität und lösungsorientiertem Lernen, anpasst werden. Daneben finden sozialökonomische Konzepte wie das allgemeine Grundeinkommen immer mehr Unterstützer und müssen konsequent durchdacht werden (Effenberger et al. 2018). Damit gesellschaftliche Spannungen vermieden werden können, sollte über eine Umverteilung der durch intelligente Systeme erzielten zusätzlichen Wertschöpfung zwingend nachgedacht werden. Profitieren nicht alle Bevölkerungsgruppen von der Arbeit der Maschinen wird die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehen, die Polarisierungsthese vorangetrieben und der Strukturwandel misslingen (Brzeski und Fechner 2018). Für die breite Akzeptanz in der Gesellschaft ist es unabdingbar, dass die Prozesse in intelligenten Systemen transparent gestaltet sein müssen sowie getroffene Entscheidungen nachvollziehbar und jederzeit überprüfbar sind (Bitkom 2017; Bostrom und Yudkowsky 2013). Absolut auszuschließen ist, dass durch fehlerhafte Datenbestände oder absichtliche Manipulation die Gefahr von Diskriminierung einzelner Personen oder ganzer Bevölkerungsgruppen entsteht (Hebling 2015). Darüber hinaus sollte eine grundlegende Diskussion über ethische Standards stattfinden bzw. diese vertieft werden (Bundesregierung 2018; Götz et al. 1992). Bei allem technologischen Fortschritt müssen stets europäische Grundwerte wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Achtung der Privatsphäre und der Gleichheitsgrundsatz weiterhin oberste Priorität genießen (Bostrom und Yudkowsky 2013; Bundesregierung 2018). Eine Herausforderung ist intelligente Systeme human- und wertorientiert auszugestalten um die Grundrechte jedes Einzelnen zu wahren (Bitkom 2017). Zum Beispiel ist im Bereich des autonomen Fahrens die ethische Entscheidungsfindung in unvermeidbaren Unfallsituationen und die sich daraus ergebenden Haftungsfragen trotz intensiver Diskussion bisher ungelöst. Bevor es zu einer endgültigen Einführung in den realen Verkehr kommen kann, muss diese grundlegende Fragestellung vollständig geklärt sein (Godall 2014). Zahlreiche Studien positionieren sich nachdrücklich dafür, dass künstliche Intelligenz dem Menschen und dem gesellschaftlichen Nutzen dienen muss. Damit die Ausgestaltung der KI und zukünftige Veränderungen nicht nur Unternehmen aus anderen Nationen überlassen wird, ist es unabdingbar, dass alle europäischen Akteure zusammenarbeiten und ihre Vorstellungen, Traditionen und Werte in die Diskussion einbringen (Bundesregierung 2018, Effenberger et al. 2018). Schlussendlich ist aus heutiger Sicht festzuhalten, dass intelligente Systeme und die menschliche Arbeitskraft in keiner Konkurrenz zueinander stehen (Kramer 2018; World

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Economic Forum 2018). Vielmehr sollte das Ziel sein durch das Zusammenspiel Synergieeffekte zu generieren und Wertschöpfungspotenziale zu heben. Je mehr es zu einem Ausbau der Automatisierung von Prozessen kommt desto wichtiger werden menschliches Urteilsvermögen und Entscheidungskompetenzen (Bitkom 2017). Gemeinsames Ziel aller handelnden Akteure sollte es daher sein die Rahmenbedingungen einer fortschreitenden Digitalisierung in einem Maß mitzugestalten, sodass der Einsatz von künstlicher Intelligenz und dessen Auswirkungen zum Wohle der gesamten Gesellschaft genutzt werden kann.

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Ralph Henn  ist seit 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Entrepreneurship und Technologie-Management am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) tätig. Er absolvierte den Diplomstudiengang Wirtschaftsingenieurwesen am Karlsruher Institut für Technologie mit Fokus auf innovative Technologien und erneuerbare Energien. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Verständnis von dezentraler Gründungsaktivität und den Rahmenbedingungen regionaler Gründungsökosysteme. In Feldforschungsreisen analysierte er die Bedürfnisse der Akteure innerhalb der Gründungsökosysteme von Costa Rica, Peru und Chile. Darüber hinaus arbeitete er als Gastwissenschaftler mit Forschern des CIRCLE Instituts an der Universität von Lund in Schweden zusammen. Als ehemaliger Vorstand der Hochschulgruppe PionierGarage e. V. und als Botschafter von First Momentum Ventures engagiert er sich aktiv in der Karlsruher Gründerszene. Prof. Dr. Orestis Terzidis ist seit 2011 als Professor für Entrepreneurship und Technologie-Management am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) tätig. Nach seiner Promotion in Physik war er 13 Jahre bei SAP tätig, zunächst als Entwickler und dann als Assistent des Vorstandssprechers und als Linienmanager in der Forschungsabteilung. Er ist Mitglied der acatech Arbeitsgruppe zum Thema ‚Lernende Systeme‘ und befasst sich in diesem Zusammenhang mit den Veränderungen der wirtschaftlichen Wertschöpfung und neuen Geschäftsmodellen im KI Umfeld.

Das resiliente Unternehmen im Mittelstand – Am Beispiel der Neumüller Unternehmensgruppe Werner Neumüller

Der Unternehmer, Autor und Herausgeber Dipl.-Ing. (FH) Werner Neumüller präsentiert in seinem Beitrag den Zusammenhang von nachhaltiger Resilienz und Unternehmenskultur wie -management aus Unternehmersicht. Beides basiert auf Werten als klarem Fundament von Mittelständischem Unternehmertum. Resilienz wird als eine selbstverständliche Eigenschaft von Mittelständischen Unternehmen dargestellt und deren Ursache von diesen als „challenge“ angenommen. Mittelständler sollten aus Herausforderungen resiliente Prozesse der Anpassung ableiten und lernen, schnell und richtig zu reagieren.

1 Einleitung Der Beitrag widmet sich verschiedenen Zugängen zum Thema Resilienz und verbindet bestehende Konzepte und Managementansätze am Beispiel eines mittelständischen Familienunternehmens. Im Fokus stehen dabei folgende Fragen: Welche Bedeutung hat hier das Leitkonzept Resilienz? Welche Rolle spielen dabei Lernfähigkeit, Widerstandsfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit? Welche Veränderungsmöglichkeiten (Resilienzlernen, kulturelle Kompetenzen, Innovationsfähigkeit) haben Unternehmen, um die

Aus Gründen der Einfachheit und besseren Leserlichkeit wird im Text als Pronomen immer die männliche Form benutzt. Tatsächlich gemeint sind immer beide Geschlechter ohne jegliche Diskriminierung. W. Neumüller (*)  Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_4

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Zukunftsvision Deutschland nicht aus dem Blick zu verlieren und robust gegenüber turbulenten Rahmenbedingungen zu ein? Welche Rolle spielt dabei die Nachhaltigkeitsbewegung und deren strategische Koordination? Es werden Definitionen von Resilienz vorgestellt und ein Überblick über den Stand der Forschung gegeben. Daran anschließend wird aus Unternehmersicht gezeigt, wie der Begriff Resilienz nach den Erfahrungen der Finanz- und Wirtschaftskrise verstärkt im Arbeits- und Unternehmenskontext angewandt wurde. Zudem wird am Beispiel der Neumüller Unternehmen dargestellt, dass Resilienz in Unternehmen ein werteorientiertes Management als Kernelement der Unternehmenskultur voraussetzt, und dass organisationale Strukturen heute so gestaltet werden müssen, dass sie flexibel auf zukünftige Probleme reagieren können. Resilienzerhöhung und individualisiertes Fitnesstraining gehören dabei eng zusammen. Hierbei wird auch auf die Bedeutung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements eingegangen.

2 Sinngehalt und Verwendung des Begriffs Resilienz Arbeitswelten befinden sich heute in einer gewaltigen Transformation. Sie werden beeinflusst durch immer schnellere Technologie- und Wettbewerbsvorsprünge, veränderte menschliche Bedürfnisse, fließende Übergänge von Arbeit und Leben in einer hybriden Welt sowie gesellschaftliche und technologische Innovationen. Als Unternehmer habe ich gelernt: Wer hier entscheidet und Verantwortung übernimmt, muss sich bewusst sein, auch handlungsfähig zu sein und nicht zum Getriebenen zu werden. Zur Kernaufgabe von nachhaltiger Führung gehört für mich heute deshalb vor allem die Organisation von Zusammenarbeit im Unternehmen, das Sichern der Zukunftsfähigkeit der gesamten Organisation sowie entscheiden statt verwalten und Verantwortung zu übernehmen. Dazu braucht es Resilienz. Wie die verschiedenen Faktoren ineinandergreifen, werde ich aus meiner Sicht im zweiten Teil erläutern. Vorangestellt sei ein kurzer Exkurs zum Begriff Resilienz und seiner Verwendung in unterschiedlichen Kontexten: „Resilient“ leitet sich vom lateinischen „resilire“ ab, was so viel bedeutet wie „zurückprallen, zurückschrumpfen“ (Darnhofer 2014). Das Englische Wort resilience beinhaltet zusätzlich die Veränderungskompetenz (Überlebens- und Anpassungsfähigkeit). Trotz der ursprünglichen lateinischen Bedeutung darf „störungstolerant“ jedoch nicht mit dem im Deutschen geläufigen Wort „widerstandsfähig“ verwechselt werden. Die alltagssprachliche Verbreitung des Wortes „resilient“ im Englischen führte dazu, dass das Wort in mehreren Wissenschaftsdisziplinen unabhängig voneinander eingesetzt wurde. Der Begriff Resilienz wurde erstmalig in den 1970er-Jahren verwendet und hat seinen Ursprung in der Kinder- und Jugendpsychologie. Er wurde hier verwendet, um die Entwicklung einiger Kinder trotz desolater Familienverhältnisse zu beschreiben (Werner und Smith 2001). Auch die technischen Wissenschaften setzten ihn früh ein, um die Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit bzw. Elastizität von Materialien zu erfassen (Cumming et al. 2008). So wird in der physikalischen Werkstoffkunde unter Resilienz

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verstanden, dass sich ein Körper nach seiner Deformierung wieder in seine Ursprungsform selbstständig zurückformt (Haufe-Onlineportal 2016a). Sinngehalt und Verwendung des Begriffs differieren zwar, doch im Kern ist immer die Fähigkeit eines Systems gemeint, auf Krisen und Störungen zu reagieren, sich selbst zu erneuern ohne sich grundlegend zu verändern (Newman 2009, S. 6; Bertelsmann Stiftung 2016). Resilienz wird häufig mit dem Gegenbegriff „vulnerability“ in Verbindung gebracht. Vulnerabilität (Verwundbarkeit) bedeutet, mit einer bedingten Anfälligkeit auf Belastungen in den Person-Umwelt-Beziehungen zu reagieren. Im Gegensatz zur Resilienz spricht man hier von einer herabgesetzten Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen (Stangl Lexikon 2016). Unter psychologischer Resilienz wird die Fähigkeit eines Individuums verstanden, krisenhaften Ereignisse richtig zu meistern: Diese Neigung kann darin bestehen (Masten 2009), dass das Individuum keine negativen Einwirkungen zeigt, dass es nach dem Krisenende in den Ausgangzustand zurückkehrt oder dass es ein posttraumatisches Wachstum zeigt, bei dem es aus der Krise gefestigt und weiterentwickelt hervorgeht (Tedeschi und Calhoun 2004). Forscherteams ermittelten mehrere Charakteristika, die resiliente Menschen ausmachen (Richardson 2002): hohe Erwartungen, Selbstdisziplin, eine positive, proaktive Sicht auf die Zukunft und das Leben, soziale Kompetenz, Problemlösungskompetenz, Improvisationsfähigkeit, kritisches Denken und Humor (Coutu 2002; Garmezy et al. 1984; Masten 2009; Werner und Smith 2001). Das erweitert die eigene Wahrnehmung von der selbstzentrierten Konzentration auf „mich“ zu einer „umfassenderen, warmherzigen Konzentration“ auf das „wir“ (Goleman 2013, S. 260) und prägt den Wert unseres Handabdrucks, die Gesamtsumme der guten Gewohnheiten. In der Praxis sind Individuen dann besonders resilient, wenn sie eine pragmatische Sicht auf die zum Überleben wesentlichen Teile der Realität haben und über die Fähigkeit verfügen, auch aus widrigen Umständen positive Erfahrungen mitzunehmen (Coutu 2002). Ein anderer Forschungszugang sieht Resilienz als Prozess (des Erwerbs) einer positiven Anpassungsfähigkeit an widrige Umstände, Tragödien oder Bedrohungen. Richardson (2002) erkennt darin aber auch in einem größeren Zusammenhang als spirituelle Kraft, die jedem Individuum innewohnt, nach Selbstverwirklichung, Altruismus, Weisheit und Harmonie zu streben. In der Ökologie wird Resilienz (Holling 1973) definiert als das Vermögen eines Ökosystems, auf Störungen zu reagieren, ohne gröberen Schaden zu nehmen, und sich rasch zu erholen (Gunderson et al. 2002). Ökologische Resilienz beruht auf Langlebigkeit, Veränderung und Unvorhersagbarkeit. Die wesentlichen Eigenschaften, die hier gefordert sind, sind Beständigkeit und Anpassungsfähigkeit (adaptability). Aus dieser evolutionären Perspektive erhält die Störungstoleranz zusätzliche Bedeutung: Selbst, wenn ein System versagt, entsteht noch keine Katastrophe (safe-fail) (Gunderson et al. 2002). Typische Beispiele für Bio-Ökosysteme sind Biotope wie etwa ein naturbelassener See, für Sozio-Ökosysteme etwa Städte sowie Unternehmen.

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Im Unternehmenskontext ist dieser Ansatz von Relevanz: Ein System ist resilient, wenn es zur Selbstorganisation fähig ist und keiner steuernden Eingriffe bedarf (Holling 2001). Es ist umso resilienter, je diverser es aufgebaut ist, da das Ausfallen einzelner Systemelemente durch andere Systemelemente abgefedert werden kann. Hingegen ist ein System umso weniger resilient, je komplexer es ist, weil das Versagen einzelner Elemente zu einem Versagen des gesamten Systems führen kann (Holling 2001). Die Resilienz eines Systems ist keine konstante Eigenschaft eines Systems, sondern dynamisch und von verschiedenen Faktoren abhängig (Walker et al. 2004). Resilienz beschreibt aber auch die Fähigkeit des Systems zur Erneuerung, zur Reorganisation und zur Entwicklung – alle drei Phänomene sind unverzichtbar für die Nachhaltigkeit von Systemen (Gunderson und Holling 2002): In resilienten Sozio-Ökosystemen ist Störung die Voraussetzung zur Schaffung neuer Möglichkeiten für Innovationen und Entwicklung. Auch wenn es unterschiedliche Ansätze gibt, so überschneiden sich Resilienzkonzepte mit anderen Konzepten wie „Hardiness“ (Widerstandsfähigkeit), „Coherence“ (Stimmigkeit und Zusammenhang), „Salutogenese“ oder „Mindfulness“ (Achtsamkeit), die für die Zukunft bedeutet, „die langfristigen Folgen des eigenen Handelns für die Generation unserer Kinder, unserer Enkel und darüber hinaus einzukalkulieren“ (Goleman 2013, S. 264). Allen Konzepten gemeinsam ist die individuelle Mitgestaltung des Lebens sowie um die bewusste (nachhaltige) Nutzung eigener Stärken und Ressourcen. Einer der wichtigsten Begriffe in diesem Kontext ist Selbstverantwortung. Er beinhaltet, dass wir zu dem, was wir tun oder unterlassen, stehen und auch die Konsequenzen dafür tragen.

2.1 Unternehmensverantwortung: Resilienz und nachhaltige Entwicklung In der Ökosystemforschung wurde untersucht, wie viel „Krisen“ ein System tolerieren kann, bevor es in einen unerwünschten Zustand „kippt“. Dies belegt, dass Resilienz auch in einem engen Zusammenhang mit der nachhaltigen Entwicklung steht, die sich mit der Frage befasst, wie ein System davon abgehalten werden kann, in einen nicht wünschenswerten Zustand zu kippen (Meadows und Randers 2004), und in einem wünschenswerten Zustand erhält, in dem ökologische, soziale und ökonomische Ansprüche von Mensch und Ökosystem dauerhaft erfüllt werden können (UN 1987). Nachhaltige Entwicklung und Resilienz sind untrennbar miteinander verbunden. Resilienz bezieht sich auf die Anpassung an immer neue Herausforderungen, unternehmerische Nachhaltigkeit vergrößert durch das eigene Handeln die Anzahl sich bietender Möglichkeiten für das Unternehmen („Sustainability“) (Gelbmann et al. 2013), Nachhaltigkeit als Managementprinzip beruht darauf, dass Unternehmen ihre Verantwortung für die Auswirkungen ihrer Unternehmenstätigkeit auf die Gesellschaft und Umwelt kontinuierlich besser wahrnehmen (EC 2011).

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Der Begriff Nachhaltigkeit stammt aus der Forstwirtschaft: Wer einen Wald bewirtschaftet, darf nur so viel Bäume fällen und verkaufen wie auch nachwachsen können (von Carlowitz 1713/2013). Bäume stehen aber auch für Resilienz, denn sie haben die Stärke und Widerstandsfähigkeit, sich unerwarteten Herausforderungen (Stürme, Feuer, Überschwemmungen, Dürre) anzupassen und lange Zeiträume zu überdauern. Werden sie verletzt, können sie sich selbst heilen oder aus dem Untergrund herauszuwachsen. Die Grundaussage (was „tragfähig“ ist) findet sich im Bericht an den Club of Rome (1972). Es wurde nach einem Modell für ein Weltsystem gesucht, das „sustainable“ (nachhaltig) ist, was bedeutet, gegen den Kollaps von Gesellschaften gefeit zu sein, der auf die Übernutzung verfügbarer Ressourcen zurückgeht. Damit verbunden ist heute auch eine neue Einstellung des Managements. Dies betrifft vor allem die Definition und Bewertung von Gewinnen. Nachhaltigkeit im Kerngeschäft kann Risiken verringern oder herausfordernde Situationen auch als Quelle von Wettbewerbsvorteilen nutzen, wenn die Systematisierung des Managements durch eine übergeordnete Instanz auf Unternehmensebene erfolgt. Für ein effektives Nachhaltigkeitsmanagement sowie für eine positive Bewertung der Nachhaltigkeitsperformance des Unternehmens ist eine Modifizierung und Adaption in den zentralen Bereichen des unternehmensweiten Nachhaltigkeitsmanagements vorzunehmen. Hiervon betroffen sind folgende Elemente: die Organisationsstruktur, die Unternehmensrichtlinie Nachhaltigkeitsmanagement, die Handlungsfelder im Bereich Nachhaltigkeit, das Stakeholder Relationship Management sowie die Controlling-Instrumente. Die Grundlage des unternehmensweiten Nachhaltigkeitsmanagements bilden die Vision, die Werte und die Prinzipien unternehmerischen Handelns. Das Nachhaltigkeitsmanagement des Unternehmens sollte entsprechend dort ansetzen, wo die Werte im Sinne seiner Vision schrittweise im Geschäftsalltag umgesetzt werden (Hildebrandt und Silber 2018).

3 Resilienz im Arbeits- und Unternehmenskontext Der Begriff Resilienz wurde nach den Erfahrungen der Finanz- und Wirtschaftskrise verstärkt im Arbeits- und Unternehmenskontext angewandt. Gibson und Tarrant (2010) sehen Resilienz als komplexes und auf mehreren Faktoren beruhendes, dynamisches Merkmal einer Organisation, das zwar Ergebnis eines Prozesses, Managementsystems, einer Strategie oder Vorsorgemaßnahme sein kann, selbst aber weder ein Prozess, noch ein Managementsystem, eine Strategie oder Vorsorgemaßnahme ist. Im organisationalen Bereich wird Resilienz auch allgemein als die Fähigkeit von Organisationen bezeichnet, sich an herausfordernde Bedingungen positiv anzupassen. Die positive Anpassung der Organisation besteht darin, dass sie aus den Problemen gefestigt und ressourcenstärker hervorgeht. Gibson und Tarrant (2010) beschreiben Resilienz als zeitliche Entwicklung der Fähigkeit, mit Herausforderungen zurande zu kommen: Die reaktive, wenig resiliente Organisation ist im schlechtesten Fall überhaupt nicht auf Herausforderungen vorbereitet oder

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bestenfalls gerade einmal in der Lage, „gerade noch angemessen“ zu reagieren. Vorbereitete Organisationen als nächste Entwicklungsstufe der Resilienz können bereits besser mit Herausforderungen umgehen. Sie handeln geplant oder denken proaktiv. Resilienz kann Unternehmen auch darin unterstützen, Einschätzungen zu treffen und bei der Analyse helfen. Bei einer Unternehmensbewertung oder einem möglichen Invest sollte die Größe der Resilienz als Faktor hinzugezogen werden. Beispielsweise bei Start-up Invests geht es oft nur um Wachstum, Zins oder Exit-Beteiligung – wer aber nachhaltig denkt und Invests auch über mehrere Jahrzehnte eingehen möchte, der sollte auch die Resilienz als Indikator heranziehen. Denn fast jedes Unternehmen muss in seiner Laufzeit kleinere oder größere Krisen bewältigen. Die Resilienz von Unternehmen und Mitarbeitern kann Aufschluss darüber geben, wie gut und gestärkt oder geschwächt ein Unternehmen aus einer Krise geht. Die dritte und höchste Entwicklungsstufe in Bezug auf Resilienz wird von adaptiven Organisationen eingenommen. Sie sind flexibel und anpassungsfähig oder weisen sogar eine inhärente Bereitschaft auf, Herausforderungen produktiv zu nutzen. Resiliente Organisationen können Herausforderungen als Chancen wahrnehmen. Resilienz darf deshalb nicht als statische Größe gesehen werden (Gibson und Tarrant 2010), sondern resultiert aus einem prozesshaften, dynamischen Kräftespiel des Schaffens und Bewahrens von kognitiven, emotionalen, strukturellen oder auf Beziehungen gerichteten Ressourcen. Resilienz setzt das Vorhandensein latenter Ressourcen voraus, die im Falle von Herausforderungen aktiviert und kombiniert werden können (Vogus und Sutcliffe 2007). Sie müssen flexibel, anpassbar sowie dauerhaft verfügbar sein, sodass die Organisation nicht nur erfolgreich mit unerwarteten Ereignissen umgehen kann, sondern daraus auch im Hinblick auf zukünftige Unwägbarkeiten lernt (Sutcliffe und Vogus 2003). Kontinuierliches Lernen ermöglicht die Anpassung von Perspektiven und schafft neue Lösungswege. Es geht darum, ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln und ihre Instabilitätstoleranz zu erhöhen (Peskoller 2014). Dadurch können die Richtung und Geschwindigkeit von Wandelprozessen beeinflusst werden (Gelbmann et al. 2013). Die gezielte Umsetzung des Lernprozesses ist eine Aufgabe des Verantwortungsmanagements in der Organisation. Nachhaltigkeit als Managementkonzept hat hier die Aufgabe, die Wahrnehmung von ökologischen und sozialen Belangen im Unternehmen zu erkennen kontinuierlich zu verbessern. Damit ist auch eine stetige Weiterentwicklung der Organisation bzw. ihrer nachhaltigkeitsbezogenen Kompetenzen angesprochen (Lorentschitsch und Walker 2012). Vor allem das Commitment – das Bekenntnis zu Nachhaltigkeit – der Führungsebene ist von Bedeutung, denn das Management ist die Triebkraft eines nachhaltigen Wandels in der Organisation. Erst in Zusammenhang mit Nachhaltigkeitszielen gewinnt der Begriff der Resilienz eine positive Bedeutung (Beermann 2013). Es steht aber auch außer Frage, dass es keine „Konzepte von der Stange“ geben kann für das Management von Instabilität. Kruse (2002) schlägt deshalb vor, auf die Intelligenz und Kreativität aller Beteiligten zurückzugreifen und kreative Störung als wesentliche Chance des Unternehmens zu begreifen.

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Dazu ist es notwendig, die MitarbeiterInnen von Anfang an in den Wandelprozess zu integrieren und eine lösungsorientierte Kommunikation intern, aber auch mit den externen Stakeholdern zu etablieren.

3.1 Warum Unternehmen ein stabiles Wertegerüst brauchen Unternehmen stehen heute vor großen Herausforderungen: internationaler Wettbewerbsdruck, schnelle Marktbewegungen, demografischer Wandel, Produktweiterentwicklungen, Informationsflut und Komplexitätszunahme, Diversifizierung und Vernetzung über Unternehmensgrenzen hinweg, Verknappung guter Mitarbeiter (War of Talents), aber auch zunehmender Krankenstand durch Stress und Burn-out. Keine Organisation wird in einer solchen Arbeits- und Lebenswelt überlebensfähig sein, wenn sie nicht ein stabiles Wertegerüst hat, das auf einem tragfähigen und Fundament basiert. Organisationale Strukturen müssen heute so gestaltet werden, dass sie flexibel auf zukünftige Probleme reagieren können. Altes Wissen kann sich bei aktuellen Problemen als falsch bzw. hinderlich erweisen und neue Lösungen blockieren (Berthoin Antal 2001, S. 922; OECD 2001, S. 3). Wer nachhaltiges Wirtschaften verstehen will, muss aber auch „begreifen“ (Neumüller und Hildebrandt 2017), was Tugenden bedeuten: Sie setzen nicht nur persönliche Charaktereigenschaften voraus, sondern für den amerikanischen Philosophen Robert C. Solomon „in die Tat umgesetzte Werte“. Werte sind motivierende Haltungen (Staehle et al. 2014), die individuell im Menschen angelegt sind, gesellschaftlich weitergegeben werden und als zentraler Baustein der jeweiligen Kultur wirken. Sie konstituieren das Ethos (das Selbstverständnis), die gelebten Leitbilder von Unternehmern. Ludwig Erhard schrieb vor über 40 Jahren, dass „wahres Unternehmertum nicht nur in banalem Geldverdienen besteht, sondern von dem ständigen Bewusstsein lebt, einer kleinen Gesellschaftsgruppe anzugehören, die aufgrund ihrer besonderen Leistungen Einfluss ausübt“ und trotzdem einen bescheidenen, soliden und kontinuierlichen Lebensstil pflegt (Hennerkes 2016, S. 242). Deshalb sind sie von entscheidender Bedeutung für ihre Verhaltensmuster. Werden Werte glaubhaft gelebt, sind sie nicht zuletzt eine wesentliche Grundlage für Vertrauen. Sie lassen sich in Unternehmen allerdings weder „installieren“ noch von oben herab bestimmen. Sie müssen von Führungskräften und Verantwortlichen, die zu ihrem Wort stehen, vorgelebt werden. Nur dann haben die Mitarbeiter Vertrauen zu ihrem Arbeitgeber. Ich habe gelernt, dass ich konsequent ehrlich sein, mit Fleiß und Ausdauer ausreichend Leistung erbringen kann, um mich so durch überdurchschnittliche Arbeitsleistung und Motivation vom Durchschnitt absetzen zu können. So habe ich Wertschätzung und Förderung erarbeitet. Uns so habe ich als Angestellter und später Unternehmer Karriere gemacht. „Ehrlich, fleißig, nachhaltig“ gehört heute zum Markenkern unserer Unternehmensgruppe: Neumüller ist Partner der Industrie im Umfeld der Personal- und Ingenieurdienstleistung und spezialisiert auf das Research und die Rekrutierung von

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anspruchsvollen Qualifikationen über den Weg der Personaldienstleistung und/oder Arbeitnehmerüberlassung. Beschäftigt sind aktuell ca. 300 Mitarbeitern, davon ca. 200 Ingenieure/Naturwissenschaftler (je m/w). Interesse an Gewinnmaximierung um jeden Preis hatte und habe ich als Unternehmer nie – vielmehr habe ich immer eine Balance zwischen wirtschaftlichem Erfolg, Zufriedenheit der Menschen sowie dem Schutz und Erhalt der Umwelt angestrebt. Jeder fleißige Mensch wird versuchen, die Umwelt mit den Menschen, mit denen er lebt, zu erhalten und chancengleich zu fördern. (Neumüller 2018, S. 148) Es ist meine Aufgabe, als Unternehmer, die Zukunft der Arbeit so zu gestalten, dass sie gegenüber Störungen stabil ist und im Gleichgewicht bleibt. Ich habe mich in der Vergangenheit oft daran gestört, wie sorglos manchmal mit menschlichem Potenzial als Ressource umgegangen wurde und wird. Gerade die Personaldienstleistung ist besonders gefordert, eine mitarbeiterorientierte Personalpolitik zu betreiben, weil sie im Wettbewerb mit Arbeitgebern steht, die in der Gesellschaft über ein vermeintlich höheres Ansehen verfügen. Handeln nach ethischen Werten und Normen ist hier von besonderer Bedeutung, um die erhöhte Zufriedenheit der Bewerber, Mitarbeiter (Neumüller und Hildebrandt 2017) und Kunden zu erreichen. Um dies zusätzlich zu manifestieren, traten die Neumüller Unternehmen 2012 „Ethics in Business“, der Werteallianz des Mittelstandes, bei. Die Mitgliedschaft in der Gilde wurde seit 2013 jährlich bestätigt. Ethik bietet für uns Handlungsorientierung in Form von Normen, Prinzipien oder Werten, die eine Orientierungsfunktion haben, indem sie gemeinsame Maßstäbe für Handlungen schaffen. Grundlage ist dabei unsere gelebte Unternehmens-DNA („ehrlich, fleißig, nachhaltig“), die zudem besonders wichtig ist, weil hier um die Ingenieure mit den Top DAX-Firmen konkurriert wird. Unsere Mitarbeiter zeichnet auch Optimismus aus, das meint keine „rosarote Weltsicht“, sondern die Überzeugung, dass momentane schwierige Situationen wieder besser werden – und dass es richtig ist, Dinge anzupacken und einen positiven Ausgang zu erwarten. Wer dazu tendiert, „hat in der Regel auch eine größere Handlungs- und Durchhaltebereitschaft“ (Heller 2015, S. 71). Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass die Unternehmensphilosophie schon im Kleinen überzeugt. Dazu ist es wichtig, dass die Position und Verantwortung des Arbeitgebers in der Gesellschaft stimmt (Neumüller und Hildebrandt 2017). Eine Unternehmenskultur, die auf Wertschätzung basiert und Werte vermittelt, steigert die Leistung und legt das Fundament für nachhaltigen Erfolg, da sie die Loyalität hoch qualifizierter Arbeitskräfte, namhafter Investoren und langjähriger Kunden gegenüber dem Unternehmen festigt und diese somit an das Unternehmen bindet. Bei ihrer Gestaltung steht jedes Unternehmen vor der Schwierigkeit, Unternehmensziele, Mitarbeiterzufriedenheit und Kundeninteressen miteinander in Einklang zu bringen. Daher muss es ein zentrales Anliegen des Unternehmens sein, eine Unternehmenskultur zu schaffen, in der die Mitarbeiter und deren Leistungsvermögen wertgeschätzt werden, die Lust auf Leistung macht und in der Leistungsbereitschaft und -ergebnisse belohnt werden. Der Unternehmensführung, die die Regeln vorgibt, kommt dabei ein besonderes Gewicht zu.

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Mit dem Wertefundament verbunden ist auch der Gesundheitsaspekt (Gesundheitsmanagement ist bei Neumüller ein Teilbereich des Nachhaltigkeitsmanagements), der zur Resilienz des Einzelnen beiträgt und letztlich auch das Unternehmen stärkt, denn seine Stabilität hängt von gesunden Mitarbeitern ab. Wardetzki (2007) schreibt über psychische Kränkungspotenziale im Kontext Arbeit. Sie gehen auf Arbeitsintensivierung und psychische Überforderung, die Bedeutungszunahme interner Konkurrenzbeziehungen, Verteilungs- und Ressourcenkonflikten sowie Kooperationsblockaden und die Erosion zentraler sozialer Ressourcen (z. B. Vertrauen) zurück. Diese Faktoren beeinflussen maßgeblich die Unternehmenskultur und Führung. Ist sie schlecht, werden die Mitarbeiter nachweislich krank. Eine Herausforderung stellt heute vor allem der Anstieg psychischer Erkrankungen dar, der durch Statistiken der gesetzlichen Krankenversicherungen und durch die steigenden Zahlen zur Frühverrentung durch die Deutsche Rentenversicherung Bund bestätigt wird. Nachhaltig ausgerichtete Unternehmen behalten die Unternehmensentwicklung langfristig im Auge und blicken auch über den Tellerrand hinaus in die Zukunft. Sie sehen den Mitarbeiter nicht nur als sogenanntes „Human Capital“, das über kurze Zeiträume maximal produktiv sein soll. Es genügt nicht, lediglich Maßnahmen zur Gesunderhaltung zu „entwickeln“ und zu vermitteln. Vielmehr müssen Unternehmen in der Belegschaft auch dafür werben und sie fest in der Unternehmenskultur verankern. Ein erfolgreiches Betriebliches Gesundheitsmanagement basiert auf einem ganzheitlichen Nachhaltigkeitsansatz, der strategisch und strukturell im Unternehmen verankert sein muss. Die Ganzheitlichkeit zeigt sich in der Berücksichtigung der Organisation (Verhältnisse) und der Beschäftigten (Verhalten). Darüber hinaus werden sowohl klassische, gesundheitsbezogene Maßnahmen durchgeführt, aber auch Maßnahmen umgesetzt, die die Arbeitsbedingungen berücksichtigen. Ziel des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) ist es, betriebliche Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Mitarbeitergesundheit und Produktivität des einzelnen Menschen sowie des gesamten Unternehmens nachhaltig gestärkt werden (Neumüller 2018, S. 148). Gut qualifizierte und gesunde Mitarbeiter sind für die Zukunftsvision Deutschlands und im Kontext des demografischen Wandels elementar für die betriebliche und gesellschaftliche Wertschöpfung. Die globalen Herausforderungen und die damit verbundenen Unsicherheiten werden allen Menschen die Fähigkeit zur Resilienz noch stärker abverlangen. Zumal der Anteil psychischer Erkrankungen kontinuierlich zunimmt. Die Ursache liegt zum einen an der psychosozialen Belastung des Einzelnen durch individuellen und gesellschaftlichen Stress und an familiären Zerfallsprozessen, beruflicher Mobilität und an der Reduzierung tragfähiger sozialer Beziehungen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass sehr genau darauf geachtet wird, was der eigene Körper macht. Es geht dabei auch um den Mehrwert an Lebensqualität für alle. Das bedeutet, dass Leistungsorientierung durch eine Sinn- und Lebensorientierung für die Beschäftigten ergänzt werden sollte. Damit verbunden ist eine angemessene medizinische und therapeutische Versorgung sowie Vorsorge und ein

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nachhaltiges Gesundheitsmanagement, denn Motivation und Leistungsfähigkeit hängen wesentlich von der aktiven Gestaltung der Gesundheit ab. Weltweit ist ein zunehmender Bedarf zu beobachten, Strategien für ein nachhaltiges Gesundheitsmanagement zu entwickeln und umzusetzen. Als eines der wichtigsten Instrumente der Mitarbeitermotivation gilt die Einbindung von Führungskräften in das betriebliche Gesundheitsmanagement, das Fehlzeiten um 40 % senken kann (Neumüller und Hildebrandt 2017). Mit der festen Verankerung in die Firmenphilosophie führte die Unternehmensgruppe Neumüller 2012 ihr Betriebliches Gesundheitsmanagement ein. Seitdem wurden regelmäßig Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit der Mitarbeiter/innen durchgeführt. Das Unternehmen wird dabei inhaltlich und personell von einer Krankenkasse begleitet, die immer wieder Inhouseveranstaltungen durchführt. Der Bedarf der Beschäftigten wird durch den Einsatz von Partizipationsinstrumenten (Mitarbeiterbefragungen, Gesundheitszirkel oder Arbeitssituationsanalysen) ermittelt. Die Vernetzung der innerbetrieblichen Verantwortlichen und Experten aus Personalabteilung, Arbeitssicherheit, Arbeitsmedizin sowie weiteren Personengruppen gewährleistet den übergreifenden Austausch und garantiert kurze Kommunikationswege. Kontinuierlich arbeitet ein Arbeitskreis an der Weiterentwicklung des Systems. Der Schwerpunkt lag zunächst auf der physischen Gesundheit. Angeboten wurden beispielsweise Ernährungsworkshops, Fitnessstudiogutscheine und auch wurde ein Bonusprogramm für sportliche Aktivitäten („Der Neumüller Gesundheitspass“) ins Leben gerufen. Im September 2015 erfolgte eine Spezialisierung durch die Einführung zweier sogenannter „Gesundheitslotsinnen“ für die Bereiche Gesundheit und Bewegung: Zwei Mitarbeiterinnen der Unternehmensgruppe geben themenspezifische Beratung sowie geben Tipps und Hilfestellungen bei Fragen und Problemen rund um Ernährung und Fitness. Anfang 2016 wurde der Fokus erweitert um psychische und soziale Komponenten im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements zur Stärkung und Steigerung des Wohlbefindens der Mitarbeiter/innen. Im Anschluss daran wurde im Frühjahr 2016 eine Mitarbeiterumfrage zum Thema psychische Belastungen am Arbeitsplatz durchgeführt. Bewertet wurden Arbeitsplatzanforderungen, Organisation der Arbeitsabläufe, Perspektive, Handlungsspielräume bei Problemen und Konflikten sowie das soziale Klima innerhalb des Unternehmens. Im Rahmen der kontinuierlichen Verbesserung entstand an die Umfrage zur psychischen Belastung am Arbeitsplatz anschließend die Idee, den „Feel Good“- Bereich auszubauen. Wo ein gemeinsames Verständnis von gesellschaftlicher Verantwortung wirksam werden soll, müssen sich auch alle einzelnen Akteure zu ihrer persönlichen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Verantwortungsbereitschaft und -übernahme bekennen. So gehört es zu den Grundregeln der Neumüller Unternehmungen, dass jeder für sich und seine Ergebnisse persönlich verantwortlich ist. Eigenverantwortlichkeit, Interdisziplinarität, Zielorientierung, Flexibilität (Bagheri und Hjorth 2007), Lern- und Teamfähigkeit werden neben der Loyalität der Belegschaft immer wichtiger.

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Um diese zukünftigen Anpassungen und Herausforderungen besser zu bewältigen, muss noch dynamischer über optimierte Aus- und Fortbildungsinhalte diskutiert werden – und diese müssen an zukünftige Herausforderungen verstärkt angepasst werden. Zukünftig müssen zusätzlich zu fachlichen Qualifikationen auch persönliche und zwischenmenschliche Fähigkeiten vermittelt werden – sei es in Form von Fächern und Kursen zur „Grundlage Psychologie“, in Diskussionsforen oder in Veranstaltungen zur Gruppenbildung und deren Dynamik. Beispiele für derartige Ausbildungsinhalte finden wir in anglistischen Ländern. In England wird an Schulen in Diskussionsgruppen die Streitkultur trainiert, in Amerika werden in Schulen (die nicht schon wie in Deutschland um 7.30 Uhr beginnen) Kurse in Schauspiel und Theater systematisch angeboten, um die Fremdwahrnehmung oder Empathie zu trainieren. In anglistischen Schulsystemen, die in den Nachmittag hineinreichen, werden z. B. auch vielfältige Sportmöglichkeiten angeboten, die u. a. Teamfähigkeit ausbilden. Es wird in englischsprachigen Ländern und deren Schulsystemen meist mehr aktiv und gesamtheitlich unterrichtet als reine Sachlichkeit und Schulwissen. Genau in diesem praktischen Trainieren und Erleben von Sozialleben und Soft Skills steckt viel Optimierungspotenzial für Deutschland (Neumüller 2018, S. 153). Die Diskussion um Resilienz darf nicht ausblenden, dass auch die Resilienzfähigkeit unserer Kinder gestärkt werden sollte: Sie müssen ebenfalls lernen, mit Veränderungen und Niederlagen umzugehen und sich den Herausforderungen zu stellen: in der Schule, im Sportvereinen, auf Turnieren und im Leben. Wenn im Sportverein ein Spiel verloren ist, gilt die Devise: Weiter geht es! Nächstes Spiel, neue Chance. Möglichst besser vorbereitet und/oder besser motiviert und/oder mit besserer Unterstützung. Da wird nicht resigniert, verzweifelt oder endgültig aufgegeben. Da wird trainiert, gekämpft und ausprobiert. Kinder sollten nicht unter übertriebenen Schutzschirmen der Eltern aufwachsen. Wir sollten unseren Kindern mehr zutrauen. Sie schaffen das schon, sich nach einem Streit mit Gleichaltrigen wieder zu versöhnen oder in die Gemeinschaft zurück zu finden. Eine Intervention der Eltern ist bei der Versöhnung oder der Akzeptanz der Kinder in ihrer Gruppe nicht sehr hilfreich. Fehler gehören zum Leben – es kommt jedoch darauf an, Lehren daraus zu ziehen. Auch möchte ich für die Vermittlung der Grundlagen allgemeiner Psychologie und Rhetorik an unseren Schulen werben. Dadurch werden unser Zusammenleben und unser berufliches Fortkommen genauso wie unser Privates und Familienleben positiv beeinflusst: durch mehr Verständnis und Toleranz, durch mehr gegenseitige Empathie und eine besser gegenseitige Verständigung im Allgemeinen.

4 Überleben in der Krise: Resilienz und Familienunternehmen Familienunternehmen sind – sofern sie wie Neumüller einem nachhaltigen Geschäftsmodell verpflichtet sind – resilient gegenüber Krisen. Von einem Familienunternehmen wird gesprochen, wenn an einem Unternehmen beliebiger Größe und beliebiger

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Rechtsform unmittelbar oder mittelbar mehrheitlich eine oder mehrere Familien beteiligt sind, die untereinander verwandtschaftlich (objektiver Ansatz) oder dadurch, dass sie – in subjektiver Sicht – eine familienübergreifende, auf das Unternehmen bezogene Familientradition oder Unternehmensstrategie verfolgen (subjektiver Ansatz), verbunden sind. Zudem müssen diese Familien in bestimmter Weise einen nachhaltigen Einfluss auf die Strategie des Unternehmens nehmen, sei es durch direkte Einflussnahme der Gesellschafterversammlung auf die Geschäftsführung, sei es über einen Beirat oder über Vertreter im Aufsichtsrat, oder sei es über die Vertretung der Familie im Geschäftsführungsorgan (Hennerkes 2016, S. 35 f.). Die wenigsten dieser Unternehmen geben auf in der Rezession. Sie geben sich nicht geschlagen aufgrund zunehmender Herausforderungen in der Verwaltung, Produktion oder Vertrieb. Sie akzeptieren die Situationen, befreien sich aus etwaigen Opferpositionen oder vermeiden diese präventiv, suchen lösungsorientiert nach zukünftiger Optimierung und nach neuen Chancen. Sehen ihre Aufgaben nicht als Problem, sondern als Gelegenheit. Sie sind trainiert, „ge-challenge-t“. Die meisten nachhaltig ausgerichteten Familienunternehmen vertreten auch in Zeiten der Globalisierung über Jahrzehnte hinweg gleich bleibende Werte: Hier besteht die Verantwortung gerade darin, aus innerer Überzeugung und Pflichtgefühl heraus für die Folgen seines Handelns einzustehen, das Unternehmen langfristig zu erhalten, indem es auf eine nachhaltig solide Grundlage gestellt wird. Resiliente Familienunternehmen sind zwar nicht immun gegen Krisen, doch sie lernen durch entsprechende Anpassungsprozesse, auf unerwartete Ereignisse schnell und richtig zu reagieren (Vogus und Sutcliffe 2007). Die Werte sind in jedem Familienunternehmen individuell, dennoch gibt es auch hier den kleinsten gemeinsamen Nenner, den „Kategorischen Imperativ“ Immanuel Kants (1724–1804), der von ihm in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) entwickelt wird und einer der bekanntesten Prüfsteine moralischen Handelns ist. Er wird meist in der folgenden Fassung zitiert (sogenannte „Gesetzesformel“): „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Kant 1997, S. 51).

Literatur Bagheri, A., & Hjorth, P. (2007). Planning for sustainable development: A paradigm shift towards a process-based approach. Sustainable Development, 15(2), 83–96. Beermann, M. (2013). Entwicklung unternehmerischer Resilienz. Die Zukunft der deutschen Fischwirtschaft in Zeiten zunehmenden Klimawandels. Marburg: Metropolis. Bertelsmann Stiftung. (2016). Begriffsdefinition: „Was ist Resilienz?“ Berthoin Antal, A., Dierkes, M., Child, J., & Nonaka, I. (2001). Organizational learning and knowledge. Reflections on the dynamic of the field of challenges for the future. In Ibid et al. (Hrsg.), Handbook of Organizational Learning and Knowledge (S. 921–939). Oxford: Oxford University Press.

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Dipl.-Ing. (FH) Werner Neumüller (Unternehmer, Autor und Herausgeber) studierte Maschinenbau an der Fachhochschule Regensburg. Nach erster Anstellung bei der Jungheinrich AG Hamburg wechselte er nach fünf Jahren zur Herberg Ingenieurbüro GmbH in die Personaldienstleistung. Nach weiteren fünf Jahren erfolgte die Gründung der ersten Unternehmungen der Neumüller-Gruppe in Nürnberg. Aktuell beschäftigt Neumüller mehr als 300 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an fünf Standorten. Kerngeschäft ist die Rekrutierungsunterstützung über die Personaldienstleistung v. a. im akademischen Umfeld. Für die außergewöhnliche Arbeitsweise

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wurde Neumüller vielfach in Form von Staats-, Kunden-, Mittelstandspreisen und Ehrungen ausgezeichnet. Hierzu zählen zum Beispiel sechs Jahre in Folge Deutschlands Beste Arbeitgeber, dreimal Corporate Health Award, Bayerns Best 50 und Finalist sieGer – gerechte Chancen in der Arbeitswelt.

Teil IV Leadership

Führen mit Sinn – Impulse zur Leadership in einer unruhigen Welt auf Basis einer aktuellen Studie Kati Najipoor-Schütte

1 Leadership in einer überkomplexen Welt Noch nie schlug Führungskräften so viel Misstrauen entgegen wie heute. In den Industriestaaten, und besonders in Deutschland, erreicht das Ansehen der Entscheider in Politik, Wirtschaft, Medien immer neue Tiefstände. Obwohl es objektiv immer mehr Menschen immer besser geht, nimmt die Verunsicherung zu. Die Welt verändert sich in rasendem Tempo, und manches ist so komplex, dass es der Normalbürger nicht mehr verstehen kann – etwa die Bitcoins oder die Fortschritte in der Biotechnologie. Andere Neuerungen erweisen sich als zwiespältig: Die Big-Data-Techniken etwa helfen, die Welt besser zu verstehen, können aber auch zu politischen Zwecken missbraucht werden. Hinzu kommen die sehr großen geopolitischen Unsicherheiten. Viele fragen, ob unsere Eliten noch in der Lage sind, die Ereignisse zu steuern. Und gerade die Eliten selbst entwickeln dieses Problembewusstsein in hohem Maß, denn auch sie sind dem Wandel ausgesetzt wie nie zuvor: Immer komplexer sind die Entscheidungslagen; die Digitalisierung und die Globalisierung zwingen zu immer rascherem Handeln. Wer kann noch eine überzeugende Vision anbieten? An wem kann man sich noch orientieren? Menschen sehnen sich nach ehrlicher, menschlicher und kompetenter Führung, die aus einer gewachsenen Haltung heraus handelt, und zwar unabhängig von Glauben, Ideologien oder politischer Ausrichtung. Über all dem drohen unsere Lebensgrundlagen zerstört zu werden. Niemand mag den Klimawandel noch länger leugnen. Mit jedem sommerlichen Waldbrand dringt er etwas mehr ins Bewusstsein, und es sind nicht mehr nur Fernsehbilder vom Plastikmüll oder

K. Najipoor-Schütte (*)  Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_5

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Prognosen von untergehenden Inseln im fernen Pazifik, die den Menschen zunehmend Sorge bereiten. Zuletzt war es der Abgasskandal in Deutschland, der die Bevölkerung daran zweifeln ließ, ob die Eliten noch in der Lage sind, ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl gerecht zu werden. Die Empörung richtete sich sowohl gegen Politiker als auch gegen Manager. Skandale wie dieser zeigen, was die Gesellschaft heute von ihren Führungsfiguren will: Die Steigerung des Bruttosozialprodukts muss Hand in Hand gehen mit einer nachhaltigen Geschäftsstrategie und Wirtschaftsweise, die immer mit Rücksicht auf die Lebensgrundlagen unserer Gesellschaft angelegt ist. Denn nur dann erteilt die Gesellschaft die „Licence to operate“, ohne die kein Unternehmen erfolgreich agieren kann.

2 Resilienz als gesamtgesellschaftliche Kraft – Zurück zum sinnhaften Handeln Kurz: Die Gesellschaft beginnt, Resilienz zu entwickeln. Dieser ursprünglich aus der Psychologie stammende Begriff wird heute auch auf gesamtgesellschaftliche Situationen angewandt; er bezeichnet die Kraft der Gesellschaft, auf Bedrohungen der Lebensbedingungen zu reagieren, indem sie sie abwehrt oder neue, sinnvolle Wege findet, sich auf sie einzustellen. Das beginnt zunächst bei kleinen Dingen: Immer mehr Menschen ändern ihre Ernährungsweise und ihre Art, sich fortzubewegen, sie vermeiden Plastik, sie kaufen ökologisch produzierten Strom, sie versuchen, die Umweltfolgen in ihre Handlungen einzukalkulieren, wo immer es geht. Zunehmend artikulieren sie ihre Ängste und fordern auch von den Unternehmen verantwortliches und nachhaltiges, sinnhaftes Handeln ein. Mit dem Internet ist ihnen eine unmittelbare und persönliche Plattform gegeben, diese Ängste öffentlich zu machen und darüber in einen gesamtgesellschaftlichen Dialog zu treten. Wie bereits angedeutet, hat man auch in den Chefetagen längst erkannt, wie dringlich es ist, zu einem resilienten Handeln zu kommen. Auch hier wächst das Gefühl, mit allem, was man unternimmt, in der Verantwortung zu stehen. Aber es ist eine doppelte Verantwortung: einerseits für die Umwelt und die Zukunft, aber auch für das Wohlergehen der Firma, für die Arbeitsplätze, für die Belange der Anteilseigner. Hier mischen sich persönliche Betroffenheit und ökonomische Zielsetzungen – und müssen neu, auf nachhaltige Geschäftsstrategien hin, justiert werden. Wie im Folgenden zu zeigen ist, sind dazu vielfältige Widerstände zu überwinden. Es ist umso bemerkenswerter, dass diese Fragestellung von Unternehmensleitern durchaus selbst aufgebracht wird – und nicht nur einem Druck von außen geschuldet ist. Zur Analyse unserer heutigen Situation gehört also die Erkenntnis, dass die Resilienzkraft der Gesellschaft nicht nur von einzelnen Interessengruppen, sondern von allen gemeinsam getragen wird. Sie speist sich von überall, von rechts wie von links, von oben wie von unten. Etwas Vergleichbares geschah Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge eines umwälzenden Trends, der Industrialisierung. Die Wirtschaft – und damit die Gesellschaft – war zum ersten Mal in eine gewaltige Krise geraten, und es zeigte sich, dass

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die arbeitende Bevölkerung nicht mehr auf die Sicherungsmechanismen zurückgreifen konnte, über die sie vor Beginn der Industriellen Revolution verfügt hatte – etwa die Großfamilie oder die Dorfgemeinschaft, die in der Not halfen. Also begann man überall in Europa, neue soziale Sicherungssysteme wie Rentenfonds und Krankenkassen zu errichten, für billigen Wohnraum zu sorgen usw.; auch die Arbeitszeitverkürzung und die Arbeitsschutzvorschriften gehörten zu diesen Maßnahmen. Der Antrieb dafür kam aus allen gesellschaftlichen Schichten (Polanyi 1978, S. 203 f.) Gerade die Wirtschaftsführer haben damals erkannt, dass der Sinn der unternehmerischen Tätigkeit nicht nur im Geldverdienen liegt, sondern darin, den Wohlstand aller Mitarbeiter zu mehren. Genannt seien hier exemplarisch die beiden Großindustriellen Werner von Siemens und Robert Bosch. Ihr Engagement hat ihnen auch finanziell nicht geschadet: Indem sie sich der Arbeitnehmer annahmen, ihnen Sicherheit und Zukunft gaben, schufen sie einen Korpsgeist, mit dem sie ihre Firmen zu Weltruhm bringen konnten. Die Lage heute ist vergleichbar in ihrer Krisenhaftigkeit, aber die Digitalisierung und Globalisierung führen in ihrer zunehmenden Geschwindigkeit, in ihrer Komplexität, aber auch infolge ihrer bahnbrechenden Innovationskräfte zu weitaus größeren Umwälzungen als damals. Wie kann man in dieser Lage wirtschaftliche Ziele verfolgen und gleichzeitig gesellschaftliche Verantwortung ausüben? Dafür gibt es keine einfachen Rezepte. Ist ein radikales Umdenken nötig? Ohne Zweifel: Ja! Und natürlich gibt es auch schon Führungskräfte, die sich durch die Umstände nicht verunsichern lassen, sondern die Chance sehen, eine bessere Zukunft für alle gestalten zu können. Sie fragen weiterhin: Wie erreiche ich eine möglichst hohe Rendite? Wie befriedige ich die Wünsche meiner Shareholder? Aber sie denken dabei radikal über das eigene Unternehmen hinaus. Und sie stellen neue, weiter reichende Fragen: Worin liegt der tiefere Sinn meiner Tätigkeit? Worin liegt der Sinn meines Geschäftsmodells? Befinden wir uns im Einklang mit der Gesellschaft? Handeln wir nachhaltig? Handeln wir zum Nachteil oder zum Nutzen unserer Lebensgrundlagen?

3 Sinnhaftes Führen: Nicht neue Kompetenzen, sondern eine Haltung ist gefragt Die Beantwortung dieser Fragen erfordert mehr als neue Kompetenzen. Hier geht es auch nicht mehr nur um neue strategische Ziele, die im alten Stil verfolgt und erreicht werden könnten. Hier geht es um Haltung. Und Haltung entsteht nicht in „Strategieund-Purpose“-Powerpoints. Wer diese Fragen beantworten, wer wirklich eine neue Haltung gewinnen will, muss aus den eingefahrenen Bahnen heraustreten. Dies wiederum bedeutet: Er1 muss die Erfolgsstrategien auf den Prüfstand stellen und neugierig werden,

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weiteren Verlauf verwenden wir nur der Einfachheit halber die männliche Form.

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auch auf sich selbst. Er muss die eigene Rolle als Führungsperson überprüfen und ggf. anpassen. Er bleibt nicht in den vier Wänden, in denen er es sich bisher eingerichtet hat; sondern er geht hinaus und entdeckt, dass er noch eine Menge vor sich hat. Nur wer sich selbst weiterentwickeln will, wer auch seine verborgenen Seiten wiederentdeckt und fruchtbar macht, wird die Kraft und die Fähigkeiten gewinnen, die er braucht, um dem Unternehmen die richtigen Wege zu eröffnen. Wer sinnhaft führen will, muss auch seinem eigenen Leben einen umfassenden Sinn geben können. Und diese Sinngebung hört nie auf: Die Führungskraft der Zukunft begreift ihr Leben als eine Reise voller Erfahrungen, an denen ihr Charakter wächst; und als eine solche Reise wird sie auch die Entwicklung ihrer Firma begreifen. Wir stehen noch ganz am Anfang dieser Entwicklung. Es gibt kaum Vorbilder. Im Allgemeinen funktioniert das Führungspersonal wie eh und je, vor allem in den Aktiengesellschaften und Konzernen, in denen hohe Renditen das erklärte Ziel sind. Aber es gibt auch erste Gegenbeispiele – so nimmt eine große internationale Versicherung keine Kunden mehr an, die mit der Verstromung von Kohle zu tun haben. Sie verzichtet auf kurzfristige Renditen zugunsten langfristiger Ziele im Kontext einer nachhaltigen Welt. Das geschieht nicht aus einem rein umweltorientierten Ethos heraus, sondern weil diese Konzerne verstanden haben, dass Profitabilität auf lange Sicht nur nachhaltig erreicht werden kann. Erste Anzeichen sprechen also dafür, dass die Bereitschaft zum Wandel durchaus vorhanden ist. Aber finden wir in der Wirtschaftslandschaft schon die Rollenmodelle und Unternehmensstrukturen, die eine solche Entwicklung befördern?

4 Die Ergebnisse der CEO-Studie: Mentalitäten, Wunsch und Wirklichkeit Es lohnt sich, an dieser Stelle ein Bild vom typischen Wirtschaftsführer zu zeichnen, wie wir ihn aus unserer langjährigen Erfahrung kennen. Diese durchweg erfolgsorientierten Leute haben hart gearbeitet, um an die Spitze zu gelangen. Aber einmal oben angekommen, beginnen sie sehr oft, noch einmal anders über sich nachzudenken und ihre Rolle neu zu definieren. In einer exklusiven Umfrage unter CEOs aus dem Jahr 2018 (Zehnder 2018) stimmten 79 % der Aussage zu, dass sie nicht nur ihre Organisation, sondern auch sich selbst verändern müssten; und 60 % der frisch gebackenen CEOs sagten: „Um in die Rolle des CEOs hineinzuwachsen, war eine intensive Phase der Selbstreflexion nötig.“ Oft geben sie nach außen den Alleswisser, dem keiner etwas vormachen kann – das gehört zu ihrem Image, und vielfach wird diese Haltung auch verlangt, namentlich von den Aufsichtsräten und den Shareholdern. Das zeigt: Auch der Kapitalmarkt – und infolge dessen die Aufsichtsräte – stecken in einer überkommenen Vorstellung fest. Immer noch wird von ihnen verlangt, Erfolg fast ausschließlich nach messbaren Größen wie der Rendite (oder nach scheinbaren Messgrößen wie etwa dem Imageerfolg mehr oder weniger ernst gemeinter Nachhaltigkeitskampagnen) zu beurteilen. Die Messlatte muss sich ändern. In Zukunft werden CEOs danach

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beurteilt werden, ob sie ein wertebasiertes Geschäftsmodell pflegen, das gesellschaftlich akzeptiert wird, ob sie im Sinne ihrer Kunden bei jeder Handlung die Folgen bedenken, ob sie sich für ihre Mitarbeiter engagieren, kurz: ob sie langfristig und nachhaltig agieren und ihrem Geschäft einen Sinn zu geben verstehen. Dies sind die Werte der Zukunft, und sie werden sich auch langfristig auszahlen. Zurück zu den Unternehmensführern. Ihr Image ist das eine, die Innenseite sieht anders aus. „Es geht darum, Abstand zu nehmen und zu reflektieren“, sagt einer der befragten CEOs und drückt damit eine verbreitete Ansicht aus: „Zuzugeben, dass ich nicht auf alles eine Antwort habe, und zu wissen, dass das auch gar nicht nötig ist.“ Die Studie zeigt auch, dass CEOs viel nachhaltiger denken, als man gemeinhin annimmt. 62 % der Befragten halten es für ihr wichtigstes Ziel, „eine wertebasierte und sinnstiftende Kultur zu schaffen.“ Diese Erkenntnis und der Arbeitsalltag der meisten Führungspersönlichkeiten stehen dabei oftmals im Widerspruch: Immer noch stecken die meisten in der Alltagsroutine, sie versuchen, ihren Job nicht nur gut, sondern besser als je einer zuvor zu machen. Sie meistern die alltägliche Herausforderung: Hier wird expandiert, dort wird zugekauft, eine Entwicklungsabteilung wird gegründet, ein Joint Venture eingegangen usw. Und leider legen dabei nach wie vor nicht wenige eine erstaunliche Kreativität bei der Ausnutzung gesetzlicher Lücken an den Tag. Sie haben allein die schwarze Zahl im Sinn. Das gehört auch zu ihrem Selbstverständnis, wie sie es sich in langen Jahren antrainiert und verinnerlicht haben. In der Ausbildung und während ihrer oft beinharten Karriere wurden sie auf ein rein gewinnorientiertes Denken getrimmt. Waren sie damit nicht erfolgreich gewesen, und haben es die Vorgänger nicht genauso gemacht? Und schließlich gilt es, den enormen Druck auszuhalten, den die Aktionäre und die Aufsichtsräte ausüben – wie oft schauen sie immer noch ausschließlich auf die kurzfristige Wertsteigerung! Sie kennen keine andere Messlatte für den Erfolg. Nur keine neuen Wege gehen, überschaubare Risiken, keine Experimente.

5 Eine neue Haltung: Mut zum Lernen, Mut zur Demut Einige aber begreifen, dass man mit einem derart verengten Gesichtsfeld auch keine neuen Wege finden kann. Sie wollen sich neue Ziele stecken. Sie beginnen zu überlegen, worin der Sinn ihrer Arbeit besteht. Diese Führungskräfte entdecken, dass viel mehr Menschen auf Antworten von ihnen warten – nicht nur die eigenen Mitarbeiter, die Aufsichtsräte, die Aktionäre, sondern auch die Gesellschaft, in der sie leben. Und sie beginnen, sich entscheidende Fragen zu stellen: Wem gegenüber bin ich verantwortlich, wer sind eigentlich meine wirklichen Stakeholder? Inwiefern hat die Gesellschaft ein Interesse an dem, was mein Unternehmen tut? Worin liegt meine eigene, tiefste Motivation? Und schließlich wird dem CEO klar, dass es eines radikalen Schritts bedarf, um diese Fragen wirklich beantworten zu können. Es braucht neue Instrumente und neue Erfahrungen. CEOs müssen das Haus verlassen, in dem sie groß geworden sind, und sich

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auf eine Reise begeben, um sich selbst neu zu entdecken. Die Koordinaten des eigenen Lebens verändern sich, während man sich im Kern treu bleibt. Es gilt, in den Spiegel zu schauen und zu lernen, sich selbst wahrzunehmen. Es gilt, sich realistisch einzuschätzen mitsamt allen Stärken und Schwächen, und auch zu erfahren, dass noch mehr möglich ist. Zwar sind CEOs an sich mutige Menschen, keine Herausforderung ist ihnen zu groß. Aber dieser Schritt ist schwierig – denn dazu gehört Mut zur Selbstreflexion, und das heißt: Mut zur Demut. Mit der inneren Bereitschaft, sich selbst auf den Prüfstand zu stellen, geht die lange, ja lebenslange Reise los. Einer der Befragten der CEO-Studie formuliert es so: „Die Position erfordert mehr Geduld als gedacht. Ich glaube, man muss eine Art Reifeprozess durchlaufen. Und das kann man wahrscheinlich nicht beigebracht bekommen.“ Reifung bedarf der Ruhe- und der Reflexionsphasen; die Erfahrungen des Lebens, die Erfolge wie die Niederlagen müssen in immer neuen Anläufen sinnhaft verarbeitet, zu neuem Sinn geführt werden. Zwar ist es für Unternehmensführer oft sehr schwierig, sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen; in der Befragung gaben dies 48 % an. Und wenn 35 % nicht vorausgesehen hatten, wie sehr der neue Job ihr Privatleben beeinträchtigen würde, so unterstreicht das diesen Befund. Aber die Zeit zur Selbstreflexion ist keine verschenkte Zeit. Wer einmal die Dringlichkeit der Veränderung zu mehr gesellschaftlicher Verantwortung erkannt und verstanden hat, wie radikal das Umdenken sein muss, der wird sich diese Zeit nehmen. Reifung bedarf auch der Resonanz. Ohne Gesprächspartner inner- und außerhalb der Firma dreht sich jede Reflexion im Kreis. Die befragten CEOs unterstreichen mit Nachdruck, von welch zentraler Bedeutung das unmittelbare Feedback von engen Kollegen und anderen für sie ist. Viele wünschen sich auch mehr Unterstützung vom Aufsichtsrat. Aber unserer Befragung zufolge fühlen sich gerade Top-Führungskräfte oft einsam und mit ihren Problemen alleingelassen. Diese Sorge wurde sehr oft und sehr offen angesprochen; einer brachte die Folgen dieses Mangels an Kommunikation genau auf den Punkt: „Es besteht die Gefahr, zu einer bloßen Rolle statt zu einer Person zu werden.“ Gerade wer begonnen hat, sich selbst zu reflektieren, sollte aktiv für Resonanzräume sorgen, indem er auf Menschen aus seiner beruflichen, aber auch aus der privaten Umgebung zugeht und sie ins Vertrauen zieht.

6 Transformationale Führung Natürlich gibt es Hunderte von Arten, das Selbst und seine Möglichkeiten zu beschreiben. Um zu einer auf Führungskräfte zugeschnittenen, brauchbaren Reduktion zu kommen, hebt die Bestsellerautorin Erica Ariel Fox vier Facetten des Selbst heraus und ordnet sie bildhaft vier verschiedenen Führungspositionen zu: erstens den Träumer, der kreativ ist und sich von Visionen tragen lässt (der CEO); zweitens den Denker und

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Analytiker, der zu argumentieren weiß (der Finanzverantwortliche); der Dritte ist der emotionale Mensch, der ein Gespür für Beziehungen und Empfindlichkeiten hat (der Personalchef); und schließlich der Krieger, der ergebnisorientiert handelt (der Leiter des operativen Geschäfts). (Fox 2018) Genauso wie ein Unternehmen nur dann wirklich funktioniert, wenn diese vier Persönlichkeitsfacetten zusammenarbeiten, genauso muss auch die moderne Führungspersönlichkeit diese vier Eigenschaften in sich vereinen. Dieses Leadership-Konzept wirkt sich auf die Kultur und die Strukturen des Unternehmens gleichermaßen aus. Man spricht von transformationaler Führung; gemeint ist damit „die ganzheitliche und systemische Kompetenz, unternehmensweite Veränderungen in einer modernen Welt herbeizuführen“ (Kuhn 2018) – eine Kompetenz, die, wie beschrieben, durch Selbsttransformation erworben wird. Einfacher gesagt: Eine gewachsene Persönlichkeit, die sich ihre Haltung selbst erarbeitet hat, agiert von innen heraus. Sie kann das Führen mit Sinn verkörpern. Sie kann die Mitarbeiter emotional inspirieren. Deshalb kann sie auch sehr effektiv Aufgaben delegieren. Denn sie verkörpert das, was sie sagt und tut. Sie verkörpert das Suchen nach neuen Wegen, nach Antworten auf die komplexen, auch immer schlechter vorhersehbaren Aufgaben der globalisierten Welt. Der Manager der Zukunft regiert nicht mehr von oben herab, sondern er betreut ein Team von Persönlichkeiten, die ihrerseits mit Komplexität umgehen und gestalten können und vor allem eines im Sinn haben: sich selbst und die Welt besser zu machen. Er ist nicht mehr der strahlende Held an der Spitze, nicht mehr der Kapitän des Tankers, sondern er führt die Aufsicht über eine Menge von kleineren, viel beweglicheren Schiffen – und diese wiederum werden geführt von Menschen, die seine Ideen teilen und weiterentwickeln. Auch die Aufsichtsräte und die Anteilseigner können nun ganz anders eingebunden werden: Wo bisher die Kommunikation auf ein reines Zahlenreporting beschränkt war, entsteht jetzt ein Dialog über die Entscheidungsprozesse, über die kurz- und die langfristigen Ziele. An die Stelle starrer Strukturen tritt ein flexibles Kommunikationssystem. Und das bedeutet: So wie die CEOs sind auch die Aufsichtsräte nicht mehr nur auf eine Rolle – die des Kontrolleurs – beschränkt. Eingebunden in die Prozesse und überzeugt von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns bilden sie jetzt ein Gremium, das über den Tag hinaus denkt; sie lernen, den Erfolg des Unternehmens auch an langfristigen Kriterien zu messen, an der Kundenzufriedenheit, am Engagement der Mitarbeiter, an der Innovati­ onskraft und daran, ob sich das unternehmerische Handeln mit den Wünschen deckt, die von der Gesellschaft formuliert werden. Diese permanente Kommunikation mit den Aufsichtsräten, und natürlich auch mit den einflussreicheren Shareholdern, hat auch Folgen für den Manager selbst: Die viel beklagte Einsamkeit an der Spitze wird sich drastisch reduzieren, denn er hat auf allen Seiten Gesprächs- und Entscheidungspartner, Menschen, die ihm den Spiegel vorhalten, die ihm Resonanz und neue Perspektiven bieten und ihm helfen bei der Weiterentwicklung seiner selbst.

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7 Das selbstlernende Unternehmen Und in ganz derselben Weise verändert sich das gesamte Unternehmen: Es beginnt sozusagen, über sich nachzudenken, es wiederholt den Prozess der Selbst- und Fremdreflexion, dem sich die Führungsspitze unterworfen hat. Immer besser erkennt es seinen Sinn, seinen Daseinszweck. Es begibt sich ebenfalls auf eine Reise – es sucht eine neue, sinnhafte Haltung, es schlägt neue Bahnen ein. Es scheut nicht mehr zurück vor Risiken, sondern entwickelt vielmehr eine Fehlerkultur; denn es will lernen. Ein solches selbstlernendes Unternehmen mit Sinn, Ziel und Zweck zieht auch ganz andere Mitarbeiter an, echte Potenzialträger. Es ist viel besser für die Zukunft gerüstet, weil diese Mitarbeiter nicht mehr nach schnell verdienten Incentives hecheln, sondern bei allem, was sie tun, das langfristige Wohl des Ganzen vor Augen haben. Sie wollen sich für lange Zeit binden, sind absolut loyal, gleichzeitig sind sie von unabhängigem Geist – eine unschätzbare Kombination von Eigenschaften. Fast unnötig hinzuzufügen, dass man sich mit derart motivierten Mitarbeitern um die Kapitalrendite keine Sorgen machen muss.

8 Leadership als gesamtgesellschaftliche Aufgabe Schlagen wir abschließend den Bogen zu den beiden oben erwähnten Unternehmern, Werner von Siemens und Robert Bosch, die zu ihrer Zeit die Resilienz der Gesellschaft maßgeblich mitgetragen haben. Auch sie waren gewachsene Persönlichkeiten, und noch ein letzter Aspekt wird gerade an ihnen deutlich: Ein Wirtschaftsführer von diesem Format wirkt nicht nur in das Unternehmen, sondern auch in die Gesellschaft hinein. Gerade weil er dem Unternehmen einen neuen Sinn zu geben versteht, weil Nachhaltigkeit sein Ethos bestimmt, weil er als Teil der Gesellschaft agiert und weil er erkannt hat, dass diese Gesellschaft von ihm verantwortliches Handeln verlangt, kann dieser Führungstyp auf eine ganz neue Weise auf die Öffentlichkeit zugehen und sich an der politischen Debatte beteiligen: Man hört auf sein Wort, weil man um seine Haltung weiß. Er wird nicht mehr nur die Firmenpolitik erklären, sondern er wird in einen Dialog treten. Sein Wort wird Gewicht haben, weil es ehrlich und ausgereift ist. Und genauso wird er auch in der Politik wirken: als einer, der Stellung bezieht, und als einer, der Impulse aufnimmt, um weiterzubauen an einer besseren Welt.

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Dr. Kati Najipoor-Schütte  leitet die globale CEO-Praxisgruppe von Egon Zehnder. Zuvor verantwortete Kati Najipoor-Schütte das Automotive & Aerospace Segment der Firma. Egon Zehnder ist ein führendes Beratungsunternehmen für Executive Search und Leadership Advisory. Die Besetzung von Spitzenpositionen für Konzerne und Familienunternehmen, Start-ups und Institutionen der öffentlichen Hand gehört dabei ebenso zum Leistungsportfolio wie die Entwicklung von Führungskräften und Teams, die Stärkung von Organisationsstrukturen und Unternehmenskulturen und die Begleitung von Transformationsprogrammen.

Leadership im Wandel Gabriele Sons

In 25 Jahren als Vorstandsmitglied, Geschäftsführerin und Aufsichtsrätin in verschiedenen Branchen und Unternehmen habe ich noch nie eine Zeit so großen Umbruchs in der Wirtschaft erlebt wie aktuell. Das mag auf der einen Seite besorgniserregend sein, doch sehe ich darin auch große Chancen neue Märkte zu entwickeln und in andere Geschäftsfelder vorzudringen, sofern die Weichen richtig und proaktiv gestellt werden. Leadership spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Aus der Unternehmenspraxis und aus meinen Erfahrungen als Verantwortliche für den Personalbereich möchte ich in diesem Beitrag erläutern, wie Führung sich verändern muss, damit wir die Chancen des Wandels ergreifen können.

1 Vielfältige Herausforderungen für Unternehmen Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität, die sogenannte VUKA-Welt ist nur ein Grund für die starken Veränderungen in unseren Unternehmen. Vor allem die digitale Transformation und technologische Umbrüche sind verantwortlich für ein immer volatileres wirtschaftliches Umfeld. Die jüngste Innosight-Studie (2016) prognostiziert, dass die durchschnittliche Lebensdauer der Firmen im Standard & Poor’s 500 Index von 33 Jahren im Jahr 1965 auf nur noch 14 Jahre im Jahr 2026 zurückgehen wird. Auf Unternehmen jeder Größe und Branche lastet ein immenser Druck, sich ständig neu zu erfinden und erfolgreich Innovationen auf den Markt zu bringen: Das Auto soll nicht nur

G. Sons ()  Ratingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_6

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möglichst emissionsfrei sein, sondern auch autonom fahren oder gar fliegen. Die etablierten deutschen Banken und Versicherungen sehen sich massiv von jungen und agilen FinTechs und InsurTechs bedroht und verlieren an Glaubwürdigkeit und Wert. Mit der Energiewende mussten Stromkonzerne in kurzer Zeit ihren Energiemix neugestalten und in der Telekommunikationsbranche steht der Ausbau immer schnellerer Netze mit neuen Technologien und massiven Investitionen im Fokus. Gleichzeitig sind Unternehmen zu Effizienzsteigerung und Sparmaßnahmen gezwungen, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Nur den Wettbewerb und den Technologiewandel zu betrachten, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Ein ebenfalls entscheidender Faktor im Kontext des Wandels sind die Belegschaften unserer Unternehmen. Die Unternehmensberatung McKinsey (2017) schätzt, dass bis 2030 neun Millionen Jobs in Deutschland wegfallen: gemäß der Studie „Jobs lost, jobs gained“ sind bis zu 50 % der globalen beruflichen Tätigkeitsfelder durch Technologien automatisierbar. Viele Arbeiten werden zukünftig Roboter und Maschinen übernehmen. Auch wenn es sehr unterschiedliche Prognosen für den Personalüberhang in der deutschen Wirtschaft gibt, ist es unbestritten, dass die digitale Transformation Arbeitsplätze kosten wird. Gleichzeitig kämpfen wir mit einem besorgniserregenden Fachkräftemangel, der Unternehmen in Deutschland schon heute Umsatz in Milliardenhöhe kostet (Korn Ferry 2018, S. 34). In den für Innovationen so wichtigen MINT-­ Berufen – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – werden im Zuge der Digitalisierung zudem zahlreiche neue Arbeitsplätze entstehen. Wenn die deutsche Wirtschaft für diese Aufgaben keine Fachkräfte findet, wird das ihre weitere Entwicklung massiv bremsen. Auch die Art der Arbeitsplätze wird sich verändern: Sie entstehen vermehrt global, Arbeitszeiten differieren stark und müssen durch die Globalisierung in vielen Bereichen 24 Stunden an sieben Tagen pro Woche abdecken. Immer mehr Menschen werden in atypischer Beschäftigung als Freelancer oder Clickworker von ihrem Computer zu Hause einzelne Dienstleistungen für Unternehmen erbringen, ohne mit ihnen in einem Arbeitsverhältnis zu stehen. Die Beratung Accenture geht in ihrer Studie „Technology Vision“ davon aus, dass Unternehmen ihre anspruchsvollen digitalen Ziele bei knappen Mitarbeiter-Ressourcen nur durch diese sogenannte Liquid Workforce schaffen können (Accenture 2016). Ob als fest angestellter oder als freiberuflicher Mitarbeiter, ob in Vollzeit oder in Teilzeit beschäftigt, ob unbefristet oder nur für die kurze Dauer eines Projekts, sie alle müssen qualifiziert sein für die Welt von morgen.

2 Agile Unternehmen benötigen ein Wertefundament Mit den Herausforderungen unserer Zeit wird ein „weiter so, nur ein bisschen besser“ nicht mehr funktionieren. Unternehmen müssen in der Lage sein, ganz neu zu denken. Das kann auch heißen, das Geschäftsmodell infrage zu stellen und innovativ in neue Bereiche vorzudringen. Unternehmen brauchen eine „beidhändige Organisation“, die das Kerngeschäft optimiert und gleichzeitig strategische Innovationen in neuen

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Geschäftsfeldern aufbaut (Baltes und Selig 2017, S. 83). Gerade in Deutschland neigen wir dazu, Bestehendes zu bewahren und einen potenziellen Schritt ins Risiko gut abzusichern. Dafür bleibt heute allerdings kaum Zeit, denn neue Märkte entwickeln sich rasant. Wir müssen unseren Pionier- und Erfindergeist wiederentdecken und mit Mut unsere Position im globalen Wettbewerb sichern. Google, Amazon, Apple und Netflix haben es uns vorgemacht: sie operieren auf endlos skalierbaren Plattformen und sind so in der Lage ihr Geschäftsmodell auszubauen, auch außerhalb ihres Kerngeschäfts. Durch die Fülle an Daten, die sie kontinuierlich sammeln, haben sie in einer Zeit, in der Daten zum neuen Gold geworden sind, einen großen Wettbewerbsvorteil und dringen so auch in die Geschäftsbereiche der Old Economy vor. Immer wiederkehrende Phasen des Wandels in der Wirtschaft gibt es schon lange; die Veränderungen heutiger Märkte sind jedoch gleichzeitig hochdynamisch und hochkomplex. Wir brauchen daher agile Unternehmen mit einer hohen Wandlungskompetenz, die sich auf die unterschiedlichen Anforderungen rasch einstellen können und neue Formen der Zusammenarbeit nutzen. Starre Hierarchien werden da schnell zum Bremsklotz und müssen fluiden und globalen Netzwerken weichen. Solche Strukturen sind komplex in ihrer Beherrschung und bedürfen einer Flankierung durch das gesamte Führungssystem eines Unternehmens, vom Controlling über Bonusmodelle bis hin zu Karrierepfaden. Auch die Unternehmenskultur wird in dieser neuen Realität wichtiger denn je. Ein solides Fundament an Werten und Verhaltenskodizes ist in einem sich rasch wandelnden Unternehmensumfeld von großer Bedeutung. Die Notwendigkeit, das eigene Produktportfolio zu hinterfragen, kann mit dem Verlust von Stellen einhergehen. Zudem trifft das Arbeiten in der globalen Welt auf andere Gesetze, Strukturen und Kulturen. Unternehmen sollten deshalb festlegen, welche Werte ihrem Geschäft zugrunde liegen. Mitarbeiter, Kunden und Geschäftspartner müssen auf diese Werte vertrauen können. Eine Unternehmenskultur, die von Agilität und Werten gekennzeichnet ist, in der Veränderung nicht nur akzeptiert, sondern aktiv getrieben wird, ist eine gute Voraussetzung für die anstehenden Herausforderungen.

3 Leadership als Motor des Wandels Jetzt sind „Leader“ gefragt, die den Wandel vorantreiben, damit der Wirtschaftsstandort Deutschland den Anschluss an die Spitze nicht verliert. Doch wie muss Leadership aussehen, damit unsere Unternehmen die disruptiven Umbrüche unserer Zeit als Chancen nutzen können? Ein guter Leader in der heutigen Zeit kann jeder Mensch sein, der Visionen hat, mutig Werte vorlebt oder im richtigen Moment das Richtige tut. Ich denke dabei an Passanten, die einem Gewaltopfer auf der Straße beistehen, aber auch an Menschen wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King, die viele Menschen für ihre Ideen begeistert und sichtbare Veränderung bewirkt haben. In meinen weiteren Ausführungen möchte ich auf Leadership in Unternehmen und die Rolle der Führungskräfte dabei eingehen.

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3.1 Leadership mit geändertem Fokus Leadership ist schon seit den 70iger Jahren in der Diskussion. Übersetzt man den Begriff ins Deutsche, dann bedeutet er Führung. Dennoch wird auch im Deutschen der Begriff „Leader“ gerade im Zusammenhang mit den raschen Veränderungen und der digitalen Transformation häufig eigenständig verwendet. Im Gegensatz zum Manager, der Abläufe möglichst perfekt organisiert und kontrolliert und der sein Team hierarchisch führt, gilt der Leader eher als visionär, kreativ und inspirierend (Kotter 1990). Das heißt jedoch nicht, dass wir in unserer Unternehmenswelt keine Management-Qualitäten mehr benötigen. Man denke an den Werksleiter einer Raffinerie oder Pilot eines Flugzeugs: Bei ihnen sind weniger Visionen und Inspiration als klare Regeln, Zuständigkeiten und Kontrollen gefragt. Andernfalls wären Menschenleben in Gefahr. In meinen Augen brauchen Unternehmen beides: Management, damit das operative Geschäft gut funktioniert und Leadership, um visionär in neue Technologien oder Geschäftsfelder vorzudringen und Mitarbeiter zu inspirieren. Eine Trennung zwischen Leader und Manager macht vor diesem Hintergrund keinen Sinn (Wagner 2018, S. 11). Es erscheint mir dagegen eine Herausforderung unserer heutigen Zeit, dass Führungskräfte in einer Person gegensätzliche Anforderungen erfüllen können: mal müssen sie visionär Innovationen vorantreiben, dann wieder akribisch managen, mal diverse Netzwerkstrukturen bedienen und gleichzeitig ein hierarchisch aufgestelltes Werk straff führen. Ob dem Begriff Führung in diesem Kontext eine weitere, eigenständige Bedeutung zukommt oder lediglich eine Übersetzung von Leadership darstellt, mag dahingestellt sein und eher theoretische Relevanz haben. Wichtiger erscheint mir, Führungsteams so zusammenzustellen, dass unterschiedlichen Fähigkeiten und Ausprägungen je nach Anforderung des Geschäftes im richtigen Maß vertreten sind. Die Bezeichnung, ob jemand eine Führungskraft, ein Leader oder ein Manager ist, spielt hierbei dann eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ist die Mischung der Personen in einem Führungsteam und die Vielseitigkeit jeder einzelnen Führungskraft von Bedeutung. Führungskräfte in Deutschland sehen laut einer Studie der Initiative „Neue Qualität der Arbeit“ dringenden Handlungsbedarf bei der Führungskultur. Mehr als dreiviertel der befragten Führungskräfte fordern eine grundlegende Änderung der Führungspraxis, andernfalls bliebe der Standort Deutschland unter seinen Möglichkeiten. Ein Großteil sieht den typisch deutschen Führungsstil als entscheidenden Nachteil im Ringen um Bindung und Gewinnung von Talenten (Initiative Neue Qualität der Arbeit 2014). Wie muss also Führung heute aussehen, um die anstehenden Herausforderungen unserer Wirtschaftswelt optimal zu begleiten und was müssen Führungskräfte dafür mitbringen? Blickt man zurück auf die Entwicklung der Führungskonzepte im Laufe der Zeit (Hofert 2018, S. 44 ff.), dann ging man um 1900 noch davon aus, dass Führung angeboren sei und nicht erlernt werden könne. Später entwickelten sich der autoritäre, der kooperative und der Laissez-faire Führungsstil, die je nach Situation zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. Da Führung nun als erlernbar galt, hielten auch

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Managementtrainings Einzug in die Unternehmenswelt. In den 70er Jahren entwickelte sich der situative Führungsstil, in dem die Individualität der Mitarbeiter und deren Motivation erstmals eine Rolle spielten. In der transaktionalen Führung Ende des 20. Jahrhunderts mit der flächenweiten Einführung von Zielvereinbarungen ging man davon aus, dass Engagement und Zielerreichung der Mitarbeiter belohnt werden müsse. Diese Zielvereinbarungssysteme finden wir noch heute in vielen Unternehmen. Eine Weiterentwicklung ist die transformationale Führung, in der es zusätzlich gilt, Mitarbeiter zu fördern, sie zu motivieren und „ein Feuer in ihnen zu entfachen“ (Hofert 2018, S. 50). Mit der dienenden Führung, die auf Bescheidenheit, Authentizität, Mut und Akzeptanz der Führungskräfte und weniger auf Hierarchien setzt, versucht man aktuell Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Statt die Unternehmensziele in den Vordergrund zu rücken, geht es um das Wohlergehen und Funktionieren der Mitarbeiter und Teams. Die Führungskraft vertraut ihnen, dass sie das Richtige für das Unternehmen tun (van Dierendonck 2011). Ich habe im Laufe meiner langjährigen Erfahrung als Führungskraft in verschiedenen Branchen und Unternehmen, in denen ich für die Rekrutierung und Weiterentwicklung von Managern verantwortlich war, einige Eigenschaften und Herangehensweisen von Führungskräften beobachtet, die aus meiner persönlichen Sicht ein gutes Rüstzeug für die großen Herausforderungen der Zukunft sind. Eine wesentliche Beobachtung ist, dass Leader keine komplett neuen Skills und Kompetenzen benötigen; vielmehr verschiebt sich der Fokus in ihrem Anforderungsprofil. Als unabdingbar für jede Führungskraft sind fachliche Kompetenzen für die konkrete Position. In der Zeit der digitalen Transformation sehe ich ergänzend ein „digitales Mindset“ als absolutes Muss, da es eine hinreichende Offenheit für die anstehenden Veränderungen fördert (Eggers und Hollmann 2018, S. 52). Die Innovationssprünge unserer Zeit haben maßgeblich digitale Grundlagen. Daher brauchen wir auch Führungskräfte, die neugierig darauf sind, sich darauf einlassen und lernen wollen, statt an Altbewährtem festzuhalten. Das bedeutet nicht, dass Manager die neuesten Technologien wie Künstliche Intelligenz, Internet of Things oder Blockchain im Detail kennen müssen. Vielmehr müssen sie ein grundsätzliches Interesse an diesen Entwicklungen haben und wissen, dass die digitalen Veränderungen unserer Zeit nicht an den „Chief Digital Officer“ delegiert werden können, sondern jeden Winkel des Unternehmens erfassen müssen. Wenn Führungskräfte dies vorleben, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch die Mitarbeiter dies verinnerlichen werden. In der nachfolgenden Grafik habe ich versucht, Anforderungen an Führungskräfte, die sich für mich als Erfolg versprechend herauskristallisiert haben, eine nachvollziehbare Struktur zu geben. Führung beziehungsweise Leadership wird demnach getragen von Werten, vor allem von Verantwortung und der Orientierung an einem moralischen Kompass sowie der Fähigkeit, eine Veränderungskultur im Unternehmen zu etablieren. Erfolgreiche Führungskräfte für die Welt von morgen sind zudem Unternehmer im Unternehmen, die im Netzwerk agieren, ihre Mitarbeiter mitnehmen und auch sich selbst in Geist und Seele fit halten. Die folgenden Abschnitte werden Abb. 1 im Detail erläutern.

130 Abb. 1   Leadership als Motor des Wandels

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3.2 Leadership: Verantwortung und Moral In den vergangenen Jahren waren viele große Konzerne in Deutschland mit massiven Compliance-Verstößen konfrontiert und mussten Millionen für Anwälte, Schadenersatz und Aufarbeitung aufwenden. Ein großer Reputationsschaden und die Skepsis der Öffentlichkeit gegenüber der Integrität und dem Werteverständnis der Chefetagen sind die Folge. Eine Konsequenz für die Unternehmen war die Einführung von Compliance-Verantwortlichen in den Vorständen oder obersten Führungsebenen mit dem Ziel der Etablierung einer Compliance-Kultur. Begriffe wie Wertschätzung, Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit und Integrität finden sich inzwischen in den meisten Leitlinien von Konzernen wieder. Ich habe erlebt, wie fruchtbar allein schon die Diskussionen sind, wenn in einem Konzern mehrere Tausend Führungskräfte und Mitarbeiter aus der ganzen Welt gemeinsam ein solches Wertegerüst entwickeln. Es entsteht ein globales Zusammenhörigkeitsgefühl und gleichzeitig wird das Verständnis für die Unterschiedlichkeit der Kulturen geschärft. Eine Compliance-Kultur ist ein guter Baustein, jedoch muss auch jede Führungskraft selbst sich der eigenen Verantwortung bewusst sein. Denn bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel und den Einzug neuer Technologien wird unser bisheriges Werteverständnis herausgefordert. In einer Welt, in der alles möglich zu sein scheint, wird die Definition von Grenzen wichtiger denn je. Nicht alles, was rechtlich und technisch möglich ist, ist auch moralisch vertretbar. Leader benötigen deshalb einen moralischen Kompass, an dem sie ihr Handeln ausrichten können.

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Beispiele für moralische Debatten in der Unternehmenswelt gibt es viele. Vor Jahren haben wir intensiv über die ethischen Grenzen der Gentechnologie diskutiert. Jetzt fordert die Digitalisierung die Diskussion darum, was mit unseren Daten geschieht. Wie werden sie gewonnen, wo verarbeitet oder gar weiter verkauft? Facebook ist mit dem Skandal um Cambridge Analytica im Frühjahr 2018 und dem Verlust von Daten von über 50 Mio. Facebook-Nutzern ein prominentes Beispiel, wie das Vertrauen von Kunden zugunsten von Margen und Ergebnissen verspielt und so finanzielle Unternehmenswerte in kürzester Zeit vernichtet werden. Facebook verlor innerhalb weniger Tage 15 % seines Wertes und auch die Aktien der anderen großen Digital-Player Amazon, Netflix und Google verloren signifikant (Damodaran 2018). Ein weiterer Aspekt in diesem Kontext ist die steigende Relevanz der Corporate Social Responsibility. Firmen müssen heute belegen, wie sie ihrer Verantwortung für soziale Belange gerecht werden. Investoren machen Beteiligungen an Unternehmen immer stärker von solchen vermeintlich weichen Faktoren abhängig. Gleiches gilt für die Kunden und Mitarbeiter, ganz besonders für die Digital Natives, die Unternehmen heute für die digitale Transformation rekrutieren. Werte werden ein immer wichtigerer Faktor in der Wettbewerbsfähigkeit. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Situation, in der Top-Führungskräfte unseres Unternehmens mit Schülern und Studenten diskutierten. Ziel war es, sie für die jüngsten Innovationen zu begeistern. Es traf die Manager unvorbereitet, dass die jungen Leute weit weniger an den bahnbrechenden technischen Neuerungen als an der Frage nach der Rechtfertigung für Produkte, die auch für Kriegszwecke eingesetzt werden können, interessiert waren. Sie wollten eine Wertediskussion führen. In Zeiten des Fachkräftemangels und des War for Talent müssen sich Leader intensiv mit den Werten der Generation Y und Z auseinandersetzen. Diese Generationen stellen andere Sinnfragen und setzen andere Prioritäten als die Babyboomer. Die durch soziale Netzwerke und Medien entstandene Transparenz führt im Falle von negativen Erfahrungen zu einer raschen Verbreitung in Beurteilungsportalen im Internet (Teichmann und Hüning 2018, S. 31). Dies wiederum kann einen Reputationsschaden zur Folge haben, der der Attraktivität des Unternehmens als Arbeitgeber und so dem Unternehmen im Ganzen schadet. Wie bereits beschrieben wird die Digitalisierung in unterschiedlichen Bereichen Arbeitsplätze überflüssig machen. Greift man beispielsweise die Aufzugsindustrie mit ihrer vorausschauenden Wartung durch das Internet of Things, Mixed-RealityDatenbrillen und immer besseren Technologien heraus, dann ist es offensichtlich, dass zukünftig weniger klassische Servicetechniker benötigt werden. Einer der Marktführer dieser Industrie geht davon aus, dass sich der Arbeitsaufwand um 70 % reduzieren wird (Knitterscheidt 2018). Diese und ähnliche Berufe machen in Unternehmen jedoch einen großen Teil der Belegschaft aus. Leader übernehmen in dieser Situation Verantwortung und suchen vorausschauend Lösungen. Man kann für die einzelnen Berufsgruppen in einer sogenannten Fähigkeits-Matrix ermitteln, welche Erfahrungen und Ausbildungen die Mitarbeiter eines Unternehmens heute haben und was sie morgen benötigen.

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3.3 Etablierung einer Veränderungskultur Veränderung wird zum Normalzustand in der Unternehmenswelt, das ist nichts Neues. Neu ist aber, dass sich diese Veränderung in einem weit schnelleren Tempo vollzieht als in der Vergangenheit. Sie betrifft Führungskräfte und Mitarbeiter gleichermaßen. Neben den Entwicklungs- oder technischen Abteilungen sind heute alle Bereiche vom Einkauf bis hin zu den Finanzbuchhaltungen gezwungen, sich weiterzuentwickeln, zu digitalisieren und stärker an das Business heranzurücken. Es werden nur die Unternehmen dauerhaft erfolgreich sein, die sich und ihre Mitarbeiter dazu bringen, sich permanent zu hinterfragen und an den Bedingungen des Marktes immer wieder neu auszurichten. Nur Führungskräfte, die es schaffen eine Change-Kultur zu implementieren, in der ein proaktiver Umgang mit Wandel gelebt wird, können in neue Geschäftsfelder vorstoßen und Chancen schnell ergreifen, wenn sie sich bieten. Jeder Wandel ist mit Zeitaufwand, zusätzlicher Arbeit und Kraft verbunden. Häufig wünschen sich Mitarbeiter daher, dass nach einer Phase der Veränderung wieder Ruhe einkehrt und man sich in einer neuen Umgebung wieder neu finden kann. Leader müssen die Organisation darauf einstellen, dass es nicht nur um diese eine große Veränderung geht, sondern dass sich immer neue Phasen der Veränderung aneinanderreihen, dass Transformation weder einen Anfang noch ein Ende hat (Eggers und Hollmann 2018, S. 45). Ich habe bei solchen Prozessen immer wieder erlebt, dass Angst vor Jobverlust, anderen Aufgaben oder auseinandergerissenen Teams und schlechte Projekt-Erfahrungen aus der Vergangenheit den Wandel behindern. Erfolg haben Führungskräfte, die viel und offen kommunizieren. Sie erreichen, dass ihre Teams ihnen vertrauen. Denn sie erklären, warum Veränderung notwendig ist und sprechen Risiken und Nachteile offen an. Vor allem hören sie ihren Mitarbeitern zu und nehmen Bedenken ernst. Solchen Führungskräften traut man zu, auch schwierige Herausforderungen fair zu lösen. Vertrauen ist aus meiner Erfahrung in vielen großen Veränderungsprojekten eine Grundvoraussetzung, damit Mitarbeiter dem Wandel positiv begegnen. Sind Verantwortung und ein moralischer Kompass sowie Etablierung einer Veränderungskultur eine Art äußerer Rahmen für Leadership, so möchte ich nun spezifischer auf Fähigkeiten und Eigenschaften guter Führungskräfte eingehen. Ich sehe sie als Unternehmer im Unternehmen, die als starke Netzwerker ihre Mitarbeiter inspirieren und mit auf die Reise nehmen. Gleichzeitig übernehmen sie Verantwortung für ihre eigene Entwicklung.

3.4 Führungskräfte als Unternehmer im Unternehmen Das sich ständig verändernde Umfeld und der große Innovationsdruck verlangen von Führungskräften eine Vielzahl von Attributen, die man vorrangig von Unternehmern kennt. Unternehmer müssen bestehendes Geschäft erweitern und neues aufbauen – möglicherweise auch auf Kosten des bestehenden Portfolios. Zudem müssen sie die eigene

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Wettbewerbsfähigkeit immer wieder überprüfen. Sie sind erfolgreich, wenn Innovationsfähigkeit mit einer ausgeprägten Umsetzungsstärke, mit Neugier, Mut und Agilität gepaart sind. Auf der internationalen Bühne haben Unternehmer wie Steve Jobs, Jeff Bezos und Elon Musk erfolgreiches digitales Unternehmertum unter Beweis gestellt. Aber auch in Deutschland gibt es zahlreiche Beispiele von der Start-up-Szene bis hin zu großen Konzernen, die unsere Innovationsfähigkeit und das Aufbrechen von Traditionen belegen. Wer hätte gedacht, dass große Automobilhersteller ins Carsharing-Geschäft einsteigen und die App „moovel“ anbieten? Oder dass das Fintech-Unternehmen Wirecard die etablierte Commerzbank 2018 aus dem DAX verdrängt? Oder dass der Aufzug MULTI von thyssenkrupp nicht nur vertikal, sondern auch horizontal fährt und keine Seiltechnologie mehr benötigt? Dahinter stecken Köpfe, die weit über das bisherige Geschäftsmodell hinaus unternehmerische Chancen erkannt und mit Mut und Durchsetzungsfähigkeit die notwendige Transformation auf den Weg gebracht haben. Ich möchte an dieser Stelle den Begriff Intrapreneurship aufgreifen, eine Wortschöpfung, die aus dem englischen „intra-corporate“ für unternehmensintern und „entrepreneur“ für Unternehmer besteht: der Unternehmer im Unternehmen. Der Begriff wird bereits seit 1978 verwendet und wurde über die Jahre weiter mit Leben gefüllt (Pinchot und Pinchot 1978) Intrapreneure sind kreative Individuen, die neue Ideen entwickeln und ihr Unternehmen als Ganzes voranbringen wollen (Pinchot 1985). Sie agieren an den Rändern der Organisation, um bestehende Produkte, Services und Technologien zu erweitern, neue Firmenpotenziale zu entwickeln und Disruption zu fördern (Deloitte Digital 2015). Diese Bilder passen gut zu den Start-up-Organisationen und Inkubatoren, die inzwischen auch in vielen Unternehmen der Old Economy aufgebaut worden sind. Dort wird nach anderen Regeln gearbeitet als in den etablierten Bereichen. Die Mitarbeiter brennen für ihre Ideen und sind Querdenker, die mit hoher Umsetzungskraft neue Dinge zum Leben erwecken. Intrapreneure sind häufig darüber motiviert, sinnstiftende Innovationen umzusetzen. Insbesondere die Generation Y sucht nach Sinn und Selbstbestimmung in ihrer täglichen Arbeit (Pinchot 2017). Die Art und Weise wie Intrapreneure arbeiten, kann in eine Organisation hinein abfärben und so die Unternehmenskultur positiv beeinflussen. Die Kunst guter Leadership wird nun darin liegen, diese Kultur von den oben beschriebenen Rändern in die innerste Organisation zu tragen. In Zeiten von Fachkräftemangel und dem Kampf um die besten Talente, können dadurch gute Mitarbeiter an das eigene Unternehmen gebunden werden.

3.4.1 Neugier Neugier ist eine wichtige Voraussetzung für Intrapreneurship. Albert Einstein hat einmal gesagt „Ich habe keine besondere Begabung, ich bin nur leidenschaftlich neugierig“ (Süddeutsche.de 2010). Disruptive Veränderungen haben einen guten Nährboden, wenn Leader sich eine kindliche Neugier bewahren, Dinge hinterfragen und nichts als gegeben hinnehmen. Dazu muss die Führungskraft nah genug am Geschehen sein. Wer seine Mitarbeiter aus einem Elfenbeinturm heraus steuert oder nie einen Kunden besucht,

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verzichtet auf Anregungen und Informationen, die den Weg zu neuen Ideen und Innovationen ebnen können. Ich habe immer großen Wert auf Nähe der Führungskräfte zu Mitarbeitern und Kunden gelegt. Praxistage in der Produktion, mit dem Verkäufer bei Kunden oder mit dem Servicetechniker bei der Wartung. Diese Einblicke sind wichtig für Führungskräfte, die hierarchisch weit weg von Kunden und Mitarbeitern arbeiten. Es hat sich gezeigt, dass diese „Job Visits“ spannende Diskussionen zur Folge hatten und Führungskräfte für diese Erfahrungen sehr dankbar waren. Neugier erlebe ich vor allem häufig bei jungen Mitarbeitern. Leider ebenso häufig erlebe ich, dass diese Neugier nach ein paar Jahren in Unternehmen verloren geht. Ich erinnere mich an eine Diskussion mit einer Gruppe junger Talente, die für einen mehrwöchigen Führungskurs aus der ganzen Welt angereist waren. Wir debattierten über die Widrigkeiten des operativen Alltags und über die Unternehmensstrategie. Es war eine Freude zu sehen, mit welch unverstelltem und offenem Blick manche der Trainingsteilnehmer die Branche betrachteten und alles infrage stellten. Sie hatten reichlich Ideen für technische Neuerungen und noch hatte ihnen niemand gesagt, dass dies sowieso nicht funktionieren werde. Starken Leadern gelingt es, genau diese Neugier zu erhalten und so maßgeblich zu Veränderungen beizutragen.

3.4.2 Mut und Risikobereitschaft Während der vergangenen Jahre konnte ich in der Aufzugsindustrie Innovationen sowohl im Servicegeschäft als auch in der Produktentwicklung hautnah miterleben. In einer ­Branche, in der sich über 150 Jahre technisch wenig getan hatte, geschahen plötzlich Quantensprünge. Einer der Haupttreiber dieser neuen Veränderungsgeschwindigkeit war ein CEO, der mit Chuzpe und ohne Ängste vor Rückschlägen sowie einer engen Führung der Teams erfolgreich Innovationen vorantrieb. Wenn ein Entwicklungsteam versuchte, avisierte Meilensteine zu verschieben, blieb der CEO hartnäckig, forderte, motivierte und brachte sein technisches Verständnis mit ein. Irgendwann sprang der Funke über und die Entwickler arbeiteten buchstäblich Tag und Nacht, um zum vorgegebenen Termin ihr Modell präsentieren zu können. Begeisterte Pressestimmen, Innovations-Preise und ein erster Auftrag waren der Lohn dieser Arbeit. Hätte der CEO nicht den Mut gehabt, trotz Risiko und Kosten solche Projekte zu forcieren, wäre man vermutlich heute noch im Forschungslabor. Mut ist somit in der heutigen Zeit etwas, das erfolgreiche Leader maßgeblich auszeichnet. Vorgezeichnete Wege kann jeder gehen, aber sich auf neues Terrain zu begeben und das Risiko des Scheiterns zu akzeptieren – das macht den Unterschied. 3.4.3 Agilität Agiles Führen ist nichts Neues, darüber hat man schon vor 30 Jahren diskutiert, damals noch mit dem Fokus auf IT-Projekte. Da Veränderungszyklen immer schneller werden, wird für Führungskräfte Agilität immer wichtiger. Es ist eine dynamische Einstellung nötig, die Veränderung als Dauerzustand begreift und Zusammenarbeit im Unternehmen auf eine neue Basis stellt. Agile Führungskräfte sind beweglich, flexibel und

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fähig zur Transformation von Menschen, Teams und Prozessen (Hofert 2018, S. 87). Es gibt zahlreiche Methoden, Agilität auch in den praktischen Unternehmensalltag zu integrieren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie eine flexible und effiziente Zusammenarbeit diverser Teams aus Mitarbeitern verschiedenster Abteilungen, Beratern und Kunden unterstützen und so das Managen von Komplexität erleichtern. Das bedeutet auch, dass kleine in sich abgeschlossene Arbeitspakete gebündelt werden. Diese werden regelmäßig von Kunden beziehungsweise von Auftraggebern überprüft. So ist gewährleistet, dass Fehler oder unterschiedliche Auffassungen schnell erkannt und behoben werden können und nicht wie früher, erst am Ende eines großen Projekts. Diese Arbeitsweise ermöglicht es Teams, rasch gegenzusteuern, wenn sich ein Weg als Sackgasse erweist. „Abschied vom Brockhaus-Denken“, weg vom linearen Denken mit klassischer Sortierung, nennt der Forscher Ulrich Weinberg vom Hasso-Plattner-Institut diese Entwicklung in interdisziplinären Teams (Hunke 2016). Führung hat in agilen Organisationen eine nicht personengebundene Rolle, die durch Verantwortlichkeiten und Aufgaben konkret beschrieben wird. Die Besetzung dieser Rolle kann wechseln und kann so weit gehen, dass der Chef oder die Chefin eines solchen Teams von den Mitarbeitern gewählt und nicht von Vorgesetzten bestimmt wird (Hofert 2018, S. 175). Ein Vorgehen, das ich zumindest in höheren Führungsebenen im Unternehmensumfeld, außer bei der gesetzlich vorgeschriebenen Wahl von Vertretern der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat, noch nicht kennengelernt habe. In agilen Reifegradmodellen mit Fragen zu Führung, Mitarbeitern und Team lässt sich auf einfache Weise testen, wie agil eine Gruppe bereits handelt und wo noch Nachholbedarf besteht (Hofert und Visbal 2017). Ausgehend von diesem Stand können stufenweise agile Arbeitsmethoden wie Scrum und Squad, Stand-up-Meetings und Dragon Dreaming (Hofert 2018, S. 171 ff.) eingesetzt werden. Methoden aus der Vergangenheit fallen dabei nicht etwa unter den Tisch. Lean Management oder ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess sind ebenfalls agile Methoden, die Unternehmen mit Erfolg in der heutigen Zeit einsetzen können. Allen agilen Arbeitsmethoden gemein ist die enge Beteiligung der Mitarbeiter, Selbstorganisation der Teams, viel Kommunikation und Führungskräfte als Coaches, die ihre Teams zur Ergebniserreichung befähigen. Ergebnisse, die auch deshalb möglich sind, weil diese Teams ein hohes Maß an Entscheidungsbefugnis haben und sich nicht ständig in langwierigen Prozessen quer durch alle Hierarchien kämpfen müssen. Agile Führung muss aus meiner Sicht außerdem zur Folge haben, dass aufwendige kurz- und langfristige Budgetplanungen, die an die Bonusziele der Belegschaften geknüpft werden, auf den Prüfstand kommen. Schnelle Veränderungen des internen und externen Umfeldes können die mit hohem Arbeitsaufwand generierte Zahlen schnell zur Makulatur werden lassen. Unternehmen müssen den Spagat zwischen dem Erreichen langfristiger Unternehmensziele und gleichzeitig agilem Handeln meistern und neue Wege finden, ihre Mitarbeiter fair und leistungsorientiert zu bezahlen.

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3.5 Führungskräfte als Netzwerker In der digitalisierten Welt herrscht große Komplexität und gleichzeitig eine hohe Veränderungsgeschwindigkeit. Vor diesem Hintergrund ist die kollektive Intelligenz des gesamten Unternehmens gefragt (Wagner 2018, S. 18). Wie bereits beschrieben arbeiten Teams in agilen Arbeitsumfeldern quer über alle Disziplinen und Hierarchieebenen hinweg zusammen. Sie organisieren sich selbst und haben erweiterte Entscheidungsbefugnisse. Statt der klassischen Führungskraft gibt es Koordinatoren oder Sprecher für die Zeit des Projektes. Abteilungsgrenzen weichen auf oder verschwinden ganz. Für Führungskräfte bedeutet dies, dass in vielen Bereichen die Stabilität mit klaren Strukturen einem Orchestrieren von Netzwerken weicht (Baltes und Selig 2017, S. 93). Hierarchien im klassischen Sinne wird es nur noch an einigen Stellen in Unternehmen geben. Die ersten amerikanischen Unternehmen gehen sogar so weit, eine sogenannte Holakratie (auch Holokratie) einzuführen, einen modularen Unternehmensaufbau, in dem sich Teams in Kreisen selbst organisieren und Entscheidungen gemeinsam treffen. Abteilungen gehören in dieser Struktur der Vergangenheit an (Hofert 2018, S. 55). So weit sind wir in Deutschland noch nicht. Aber auch hier führen Leader zeitlich befristet Teams verschiedener Fachrichtungen von der Entwicklungsabteilung über Finanzen bis hin zum Marketing. Sie sind nicht mehr der beste Fachmann im Team und können sich nicht länger auf ihren Wissensvorsprung berufen. Möglicherweise sind sie hierarchisch sogar niedriger angesiedelt als manch anderes Teammitglied. Gleichzeitig ist diese fachliche „Projekt-Führungskraft“ nicht unbedingt auch die Führungskraft, die über die Gehälter, die Boni oder die Beförderung entscheidet und das jährliche Beurteilungsgespräch führt. Wertschöpfung wird zunehmend in diesen dynamischen Netzwerken generiert (Eggers und Hollmann 2018, S. 54). Moderne Unternehmensstrukturen brauchen daher Leader, die bunt gemischte Teams motivieren und inspirieren können, ohne sich auf die Macht ihrer Position zu stützen. Sie sind nahbar und haben eine natürliche Autorität durch ihre Erfahrung und ihre Vorbildfunktion erlangt. Dies gilt sowohl im Umgang mit Kunden oder anderen Führungskräften als auch in ihren agilen Teams und Projekten. Statt Status zählen Wertbeitrag und inhaltliche Kompetenz (Baltes und Selig 2017, S. 93). Hierarchisch geprägte Führungskräfte, die genau darauf achten, wer mit wem kommuniziert und dass dabei keine Hierarchieebenen übersprungen werden, sind für ihre Mitarbeiter nicht nahbar und haben es in solchen Strukturen schwer. Berührungsängste der Mitarbeiter und Angst statt Akzeptanz sind die Folge. Es ist offensichtlich, dass für derart agile Strukturen weniger klassische Führungskräfte benötigt werden als in der Vergangenheit. So entstehen bei Führungskräften Verlustängste. Da aber genau sie es sind, die die agilen Strukturen von morgen schaffen sollen, stehen sie sich möglicherweise aus Eigeninteresse selbst im Weg. Denn wer wird schon an dem Ast sägen, auf dem er sitzt. Dennoch gilt: Es ist essenziell, den Wandel von einer hierarchischen Führung hin zu nahbaren Leadern mit Netzwerker-Qualitäten zu schaffen. Wir brauchen hierfür Führungskräfte mit einer hohen Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie der Fähigkeit, Diversity zu leben.

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3.5.1 Erfolg durch Kommunikation Agile Arbeitsmethoden sowie das Führen von Netzwerken funktioniert nur mithilfe einer intensiven Kommunikation. Um Mitarbeiter zu motivieren und für Kunden attraktiv zu sein, braucht eine gute Kommunikation allerdings mehr als nur Fakten und Zahlen. Sie alle wünschen sich sinnstiftende Geschichten zu dem Wie und Warum, Mitarbeiter wünschen sich Orientierung und stellen zunehmend die Frage nach dem Sinn, den sie bei der Ausführung ihrer Arbeit erkennen wollen (Eggers und Hollmann 2018, S. 54). In diesem Zusammenhang fällt mir immer Saint-Exupéry ein: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer“ (de Saint-Exupéry 1956). Die neuen digitalen Medien ermöglichen Leadern, ihre Botschaften schnell in die gesamte Organisation zu tragen und Feedback zu erhalten. Wie machtvoll habe ich die über das Web ausgestrahlten Vorstandspräsentationen erlebt, bei denen Mitarbeiter weltweit live mit ihrer ersten Führungsebene kommunizieren konnten. Informationen werden nicht mehr wie beim „Stille-Post“-Spiel durch die Verteilung über die Hierarchieebenen nach unten verwässert oder verändert, und Vorstände bekommen direktes Feedback, wiederum nicht durch die Zwischenebenen interpretiert oder gefiltert. In der digitalen Welt werden Mitarbeiter in die Lage versetzt, jederzeit und überall miteinander zu kommunizieren und zu arbeiten. Gleichzeitig haben sie rund um die Uhr Zugang zu sozialen Medien und zum Internet. Manager verlieren hierdurch immer mehr ihren Wissensvorsprung. Für die jungen Generationen Y und Z ist es selbstverständlich, dass Wissen nicht gehortet, sondern geteilt wird. Sie sind mit digitalen Medien aufgewachsen, der Zugriff auf Daten ist für sie alltäglich und von überall möglich. Jeder hat die Möglichkeit seine Meinung online zu posten. Die sozialen Netzwerke sind hierdurch zu einem starken meinungsbildenden, in Teilen auch sehr politischen Kommunikationsmedium geworden (Baumann-Habersack 2017). In unseren Unternehmen arbeiten heute bis zu fünf Generationen: von den sogenannten Traditionalisten geboren bis 1946, über die Babyboomer der Geburtsjahrgänge 1946 bis 1964 bis hin zu den Generationen X, Y, Z; die Jüngsten sind 1998 geboren und kommen langsam in den Unternehmen an. Führungskräfte müssen den Spagat der Kommunikation zwischen diesen Gruppen und ihrem sehr unterschiedlichen Umgang mit digitalen Medien sicherstellen und Möglichkeiten vielfältig einsetzen. Ich erlebe dabei immer wieder, dass jüngere Mitarbeiter gerne digitale Plattformen zur effizienteren Vereinbarung von Terminen, dem Teilen von Präsentationen und offenen digitalen Gedankenaustausch nutzen wollen, während die Erfahreneren Angst vor zu viel Transparenz und ungesteuerter Kommunikation haben und lieber ein gedrucktes Papier als einen Bildschirm vor sich sehen. Dies gilt es positiv für alle Seiten zu lösen und behutsam auch die Zögerlichen in die digitale Welt mitzunehmen. Eine wichtige Spielart der Kommunikation ist das Best-Practice Sharing. Leader sorgen dafür, dass gute Praxisbeispiele im Unternehmen die Runde machen und dorthin gelangen, wo dieses Wissen bisher noch nicht vorhanden ist. Nicht länger wird überall

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das gleiche Rad neu erfunden: Schnelligkeit und geringere Kosten sind die Folge. Mir ist sehr eindrücklich in Erinnerung geblieben, wie erfolgreich eine zu diesem Zeitpunkt dezentral aufgestellte Trainingsorganisation wurde, nachdem sie sich dafür entschieden hatte, über die Entwicklung globaler Trainings zukünftig zentral zu entscheiden und sie jeweils an die Landesorganisation zu vergeben, die zu diesem Thema die höchste Erfahrung und das meiste Fachwissen besitzt. Die Entwicklung fand mit Abstimmungsschleifen im virtuellen weltweiten Team statt, die Trainings wurden anschließend erfolgreich global eingesetzt. Transparente Kommunikation, Loslassen können und Vertrauen in die Kompetenz anderer Teams waren der Schlüssel zum Erfolg.

3.5.2 Kooperation Leader in der Welt von morgen denken im Wir, die „Only-Me“-Mentalität, in der die Führungskraft vor allem das eigene Fortkommen im Auge hat und der Erfolg des Unternehmens eher Mittel zum Zweck ist, hat es in solchen Strukturen schwer. „Think we and Act we“ rät auch Managementberater Schreib, „denn mehr Augen sehen mehr, mehr Ohren hören mehr und mehr Hirne können auch mehr und anders denken“ (Schreib 2018, S. 149). Der Wille zur Kooperation kennzeichnet Leadership in Netzwerkern. Es geht um das Auflösen von Abteilungsegoismen hin zu einer dem Unternehmenszweck dienenden Zusammenarbeit. Vor Jahren war ich mit den Personalleitern einer regional strukturierten Länderorganisation in den österreichischen Bergen zu einem Workshop. Zu diesem Zeitpunkt agierten die Personalchefs sehr eigenständig mit Blick auf ihre Region und hielten wenig davon, sich beispielsweise bei Personalknappheit gegenseitig auszuhelfen oder Talente anderen Regionen anzubieten, eine Zusammenarbeit mit dem Headquarter vermieden sie zudem nach Kräften. Im Morgengrauen bekamen diese Individualisten die Aufgabe, aus ein paar Planken und Seilen eine Brücke über einen Bach zu bauen, die so stabil war, dass das ganze Team ohne nasse Füße darauf stehen konnte. Amüsiert verfolgte ich, wie alle hoch motiviert losstürmten, sich Material schnappten und ohne Plan das Bauen begannen, galt es doch, schneller fertig zu werden als andere vor ihnen. So merkten sie nicht, dass nur einer von ihnen die Erklärung bekommen hatte, wie man mit einem geschickten Knoten die Planken stabil miteinander verbinden kann. Wen wundert es: der Fluss wurde auch nach Zeitzugabe nicht überwunden, zwischen den beiden Brückenköpfen klaffte eine Lücke von zwei Metern und stehen konnte man auf diesem wackeligen Gebilde auch nicht. Zurück blieben wütende, zerknirschte Individualisten. Das war der Startpunkt für uns als Team. Wir diskutierten über die Alleingänge, über gemeinsame Ziele und über Zusammenarbeit. Zurückgekehrt in unser Arbeitsumfeld gab es einen spürbaren Ruck in Richtung Kooperation und „Wir-Gefühl.“ In der digitalen Transformation, mit ihrer hohen Komplexität und den Anforderungen an Geschwindigkeit, wird Kooperation noch wichtiger und sie muss global über Abteilungsgrenzen und Hierarchieebenen hinweg stattfinden. Leader sollten zu Problemlösungszwecken die tatsächlich relevanten Mitarbeiter zusammenbringen und sie motivieren, eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten. Verantwortung wird geteilt und hängt nicht an der einzelnen Führungskraft.

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Von Bonussystemen war im Zusammenhang mit agilen Planungszeiträumen bereits die Rede. Auch im Kontext der Kooperation heterogener, nur zeitweise miteinander agierender Projektteams müssen klassische Vergütungsstrukturen angepasst werden. Zusammenarbeit gedeiht besser, wenn auch die Boni darauf ausgerichtet sind. Einige Unternehmen haben dem bereits Rechnung getragen: die Bonussysteme von Bosch, SAP, Infineon und Bahn stellen verstärkt auf die Unternehmensziele statt auf individuelle oder Abteilungszielen ab, Jeder Mitarbeiter, jede Führungskraft soll sich für den Gesamterfolg seines Arbeitgebers verantwortlich fühlen (Astheimer 2017).

3.5.3 Diversität nutzen Innovationen und komplizierte Problemlösungen funktionieren schneller, wenn es gelingt, die oben bereits beschriebenen diversen und heterogenen Mitarbeiter aus der ganzen Welt erfolgreich in Teams zusammenzubringen. Höchstleistungen entstehen durch „Reibung und Perspektivreichtum“ (Hofert 2018, S. 54). In einem solchen Umfeld sind die Führungskräfte erfolgreich, die Frauen und Männern unterschiedlichen Alters aus unterschiedlichen Kulturen, Ländern und Religionen, mit unterschiedlichen Erfahrungshintergrund führen können. Wirft man einen Blick in deutsche börsennotierte Unternehmen, dann belegen die jüngsten Zahlen über den Anteil weiblicher Führungskräfte oder Ausländer in den Vorständen, dass nach wie vor ein großer Nachholbedarf besteht. Zwar kommt inzwischen jeder dritte Spitzenmanager aus dem Ausland (Simon-Kucher und Partners 2017), allerdings hatten 2017 noch knapp 70 % der Top 200 Unternehmen in Deutschland keine Frau im Vorstand (Statista 2018). Wenn aber die Führungskräfte selbst nicht divers sind, wie sollen sie dann Diversität fördern? Eine Übersicht über die große Spannbreite allein von Kultur- und Führungsdimensionen verschiedener Länder bietet die GLOBE-Studie (House et al. 2004). Diversity-Expertin Veronika Hucke fasst einige der Ergebnisse zusammen: „In den individualistischen Kulturen Deutschland oder USA stellt man sein Licht nicht unter den Scheffel und wird das am lautesten quietschend Rad geölt, im kollektivistischen China oder Japan wird dagegen die lauteste Ente erschossen“ (Hofert 2018, S. 260). Solcher Unterschiede sollte sich jede Führungskraft bewusst sein, wenn sie diverse Teams aus der ganzen Welt führt. es bedeutet virtuelles Zusammenarbeiten zu unterschiedlichen Zeiten, mit verschiedenen Kulturen. Kommunikation findet deshalb meist nicht in der Muttersprache statt. Zudem haben die Teammitglieder häufig unterschiedliche Anforderungen an Führung. Man kann solche Teams auch nicht kurzfristig zu einer Abteilungsbesprechung zusammenholen, wenn etwas im Argen liegt. Deshalb kostet es mehr Zeit und Energie, in solch diversen, virtuellen Strukturen zu agieren. Oft habe ich aber erlebt, dass die Stimmung in den bunt zusammengewürfelten, interdisziplinären Teams energiegeladen und begeistert ist. Häufig verschwimmen die Grenzen zwischen Berufswelt und Privatleben in einem sehr positiven Sinne. Nach meiner Erfahrung müssen Leader mit Diversity mehr als nur umgehen können, sie müssen sich damit wohlfühlen – es sollte für sie selbstverständlich sein. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sie sich in der Komplexität, die diverse Teams mit sich bringen, aufreiben.

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3.6 Mitarbeiter inspirieren Gute Leader agieren als Intrapreneure und Netzwerker. Das sind bereits die besten Voraussetzungen für die Welt von morgen. Gleichzeitig müssen sie in einem Umfeld von Demografie-Herausforderungen, Fachkräftemangel und Wertewandel in der Lage sein, ihre Mitarbeiter zu inspirieren und für deren berufliche Zukunft zu befähigen. In Zeiten disruptiver Umbrüche ist das eine große Herausforderung. Zudem gilt es, Ängste und Zukunftssorgen der Mitarbeiter in eine Lust auf Neues zu verwandeln. Ein Sprichwort sagt, „People join companies and leave leaders“. Der größte Name eines Unternehmens und das spannendste Produkt hilft nichts, wenn Führungskräfte die Erwartungen ihrer Mitarbeiter nicht erfüllen. Das gilt meines Erachtens ganz besonders für die jüngeren Generationen, die eine weniger enge Bindung zu Unternehmen haben und nicht ein ganzes Leben bei einem Arbeitgeber verbringen wollen. Der jüngste Gallup Engagement-Index für Deutschland zeigt ein erschreckendes Auseinanderklaffen von Wunsch und Wirklichkeit bei Führungskräften: während 97 % der Manager sich für eine gute Führungskraft halten, berichten 69 % der Mitarbeiter von mindestens einer schlechten Führungskraft in ihrer beruflichen Laufbahn (Gallup 2016). Dies kann schnell zu Demotivation und innerer Kündigung führen, mit hohen Fehlzeiten oder gar Fluktuation als Folge. Dieselbe Studie beziffert die volkswirtschaftlichen Kosten der Demotivation in Deutschland auf mindestens 80 Mrd. EUR. Nach meiner Erfahrung gibt es zahlreiche Eigenschaften, die gute Leader auszeichnen. Besonders herausgreifen möchte ich aber Empathie, das kontinuierliche Fördern der Mitarbeiter sowie Fairness und Vertrauen mit ihnen.

3.6.1 Empathie Personalüberhang und gleichzeitig Fachkräftemangel, Veränderung der Arbeits- und Qualifikationsanforderungen durch die digitale Transformation und ständiger Wandel führen bei Mitarbeitern schnell zu Unsicherheit und Ängsten: empathische Führungskräfte sind in der Lage, diese Ängste aufzulösen. Zudem schaffen sie es, ihre Mitarbeiter für Neues zu gewinnen, indem sie sich für ihre Mitarbeiter interessieren, ihre Werte und Motivationen verstehen und angemessen reagieren. Der Kommunikation kam im Zusammenhang mit dem Führen in Netzwerken bereits eine große Bedeutung zu. Empathische Vorgesetzte kommunizieren jedoch nicht nur regelmäßig und stets auf Augenhöhe. Wichtig ist, dass sie das, was sie sagen, auch leben. Sie müssen authentisch sein. Es gibt bereits die ersten Stimmen, die davon ausgehen, dass die Bezeichnung „Mitarbeiter“ in der Zukunft abgelöst wird durch den Begriff „Follower“ (Eggers und Hollmann 2018, S. 45). Allein das zeigt, wie massiv sich Anforderungen verändern, denn Follower suchen sich aus, wem sie folgen, Mitarbeiter können ihre Vorgesetzten in den meisten Fällen nicht selbst wählen. Empathische Manger verstehen es, die Digital Natives an sich zu binden. Die junge Generation, die mit Smartphone und Computer aufgewachsen ist, hat andere Wertvorstellungen als die Babyboomer. Gerade ihr digitales Mindset und ihr Fachwissen ist für den Wandel in der Old Economy enorm wichtig. Die Shell-Jugendstudie (2015)

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zeigt, dass die heute 25-Jährigen zwar leistungsorientiert sind, aber auch Zeit für Freunde und Familie haben wollen. Sie wünschen sich spannende, schnell verändernde Aufgaben mit kurzen Entscheidungswegen; Statussymbole wie der Dienstwagen stehen nicht im Vordergrund. Ein Kollege hat mich besonders beeindruckt: zuständig für die Implementierung einer weltweiten Matrixfunktion, baute er innerhalb kurzer Zeit ein motiviertes diverses Team auf. Obwohl er selbst sehr leistungsorientiert ist, sorgte dieser Chef für eine ausgewogene Work-Life-Balance seiner Teammitglieder, indem er regelmäßig Arbeitskapazitäten überprüfte und Projekte gegebenenfalls ablehnte. Er war derjenige, der als erster ein globales Assessment Center für junge Talente aufsetzte und die Devise ausgab, dass er einen ausgewogenen Frauenanteil sowie Teilnehmer aus der ganzen Welt erwarte. Er setzte sein gesamtes Topmanagement als Beobachter im Assessment Center ein und zeigte dadurch den jungen Teilnehmern aus aller Welt eine besondere Wertschätzung. Es wurden Entwicklungspläne aufgesetzt, gefolgt von schnellen internationalen Beförderungen. Der Bereich dieser Führungskraft hatte wenig ungewollte Fluktuation und in Mitarbeiterbefragungen stets exzellente Ergebnisse, besser als vergleichbare andere Abteilungen, obwohl sich die Anforderungen kaum unterschieden.

3.6.2 Mitarbeiter befähigen Gute Führungskräfte verhelfen ihren Mitarbeiter zum Erfolg und geben ihnen eine Bühne, um ihr Können unter Beweis zu stellen. Wissen teilen, fordern und fördern sowie Öffnen der eigenen Netzwerke sind nur einige Beispiele dafür wie der Chef zum Coach wird, der für Mitarbeiter die optimalen Rahmenbedingen schafft, ihnen aber gleichzeitig große Handlungs- und Gestaltungsspielräume gibt (Weissenberger-Eibl 2018, Pos. 674). Im Sinne der dienenden Führung gilt es, Mitarbeiter zu befähigen und zu entwickeln (van Dierendonck 2011, S. 1233). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Talente sich schnell entwickeln, wenn man sie auch Fehler machen lässt, aber stets präsent ist, wenn es brennt. Häufig fordere ich meine Mitarbeiter auf, meine Abwesenheiten zu nutzen, um selbst zu entscheiden. Ich sage dabei zu, ihnen auch bei Entscheidungen, die ich anders getroffen hätte, den Rücken zu stärken. Spannende Diskussionen über unterschiedliche Herangehensweise sind die Folge. Auch ich habe so vieles dazugelernt. Für mich gehört zu guter Führung auch, talentierte Mitarbeiter möglichst früh zu befördern, auch wenn sie noch nicht alle Voraussetzungen mitbringen. Das ist zwar anstrengend, da diese Jobwechsel keine Selbstläufer sind, und man genügend Zeit darauf verwenden muss, um zu erkennen, wann Unterstützung benötigt wird. Trotzdem habe ich oft erlebt, dass gerade diese Kollegen schnell lernen und durch ihre Erfolge großes Selbstvertrauen aufbauen, was wiederum ihren weiteren Karriereweg fördert. Sie wachsen an ihrer Herausforderung. In diesem Zusammenhang gefällt mir eine Aussage von Susanne Kaiser, Chief Technical Officer bei der Just Software AG besonders gut. Sie hat auf die Frage nach ihrer Interpretation von Führung geantwortet: „Für mich bedeutet Führung, im Hintergrund unterstützend statt vordergründig kontrollierend zu agieren“ (Hofert 2018, S. 263).

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3.6.3 Vertrauen und Fairness Massive Veränderungen der Arbeitswelt mit einem hohen Bedarf an Flexibilität, Qualifizierung und atypischen Beschäftigungsmodellen in der Folge sind die Zukunft. Auch wenn keine Einigkeit über die Anzahl der wegfallenden Arbeitsplätze besteht, sicher ist, dass mit der Digitalisierung und der weiter zunehmenden Automatisierung sehr viele Tätigkeiten kaum noch gefragt sein werden. Gelebte Fairness im Umgang mit diesen Herausforderungen spielt eine große Rolle, wenn man die verbleibenden Mitarbeiter auf dem Weg in die digitale Welt mitnehmen möchte. An Krankheitsquoten und Mitarbeiterbefragungen lässt sich intern die Motivation der Beschäftigten leicht ablesen. Auch auf sozialen Netzwerken lässt sich ein Stimmungsbild erkennen. Nach außen getragen, kann Fairness hier ein entscheidender Wettbewerbsvorteil im Kampf um junge Talente sein. Arbeitsmodelle wie Homeoffice, Clickworking und virtuell in verschiedenen Ländern sitzende und schnell wechselnde Teams sind für Führungskräfte eine große Herausforderung und erfordern einen hohen Koordinationsbedarf. Manager müssen loslassen und ihren Mitarbeitern Freiräume schaffen, damit sie eigenverantwortlich zu Ergebnissen kommen. Vertrauen ist der Schlüssel dafür. Jedoch erreicht man dieses nicht einfach per Knopfdruck, sondern man muss hart daran arbeiten (Schwenker und Müller-Dofel 2013, S. 86). Führungskräfte müssen buchstäblich eine „Freude am Kontrollverlust“ entwickeln (Eggers und Hollmann 2018, S. 48). Zudem ist Vertrauen keine Einbahnstraße, sondern muss in beiden Richtungen funktionieren. Disruptive Innovationen und schnelle Reaktion auf komplexe Fragestellungen erfordern ein Mehr am Experimentieren mit ungewissem Ausgang. Fehler sind die unvermeidbare Folge. Lernen lässt sich aus diesen Fehlern jedoch nur, wenn Teams offen damit umgehen und ihren Managern vertrauen können, dass es ihnen nicht zum Nachteil wird, wenn ein Projekt nicht den gewünschten Erfolg bringt. Dabei sollte man nicht unterschätzen, wie schwierig es ist, eine Vertrauenskultur aufzubauen, denn Fehler kosten in der Regel Geld, was in hart umkämpften Märkten immer schwierig zu verdienen ist.

3.7 Selbstführung Unternehmerisch sein, in Netzwerken agieren und Mitarbeiter begeistern können, waren die bisherigen Dimensionen von Leadership. Ein Leader muss jedoch nicht nur seine Mitarbeiter erfolgreich führen, sondern auch sich selbst. In unserer schnelllebigen Zeit werden Anforderungen an Führungskräfte immer höher, der Stress steigt. Nur wer auch sich selbst fit hält, körperlich und seelisch, wird Unternehmen erfolgreich in die Zukunft führen können. Zu Fitness zähle ich in diesem Zusammenhang auch Lebenslanges Lernen, Achtsamkeit und Selbstreflexion.

3.7.1 Lebenslanges Lernen Lebenslanges Lernen in allen Hierarchieebenen und jedem Alter ist heute wichtiger denn je. Die Digitalisierung dringt in alle Bereiche von Unternehmen vor und wird uns

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alle betreffen. Vieles ist noch ungewiss, die technischen Möglichkeiten kaum überschaubar. Oft erlebe ich im Berufsalltag, dass Führungskräfte Weiterqualifizierung zwar von ihren Mitarbeitern einfordern, aber nicht daran denken, dass auch sie von den technischen Umbrüchen betroffen sind. Die Halbwertszeit von Wissen sinkt dramatisch. Man geht aktuell davon aus, dass bereits heute 30 % der eigenen Kompetenzen schon nach vier Jahren wieder überholt sind. Interessanterweise sind es in meinem beruflichen Umfeld häufig Frauen, die Weiterqualifizierung proaktiv einfordern und sehr selbstreflektiert damit umgehen, was sie an Handwerkszeug bereits mitbringen und wo sie nachlegen möchten. Besonders eindrücklich war für mich eine CEO, die neu in ihrem Job, viele operative Herausforderungen gleichzeitig stemmen musste. Als sie zusätzlich ihr erstes Aufsichtsratsmandat übernahm, war es für sie eine Selbstverständlichkeit, dafür in ihrer Freizeit eine umfangreiche Schulung mit anschließender Prüfung zu absolvieren.

3.7.2 Achtsamkeit Psychische Erkrankungen sind mittlerweile die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit in Deutschland (Statista 2017). Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass ein bedeutender Zusammenhang zwischen der Resilienz, also psychischen Widerstandsfähigkeit eines Menschen und dem Auftreten von Burn-out-Syndromen besteht (Mourlane et al. 2013). Da die Fähigkeit, mit Veränderung, Rückschlägen, Druck und Ungewissheit umzugehen in unserer heutigen Wirtschaftswelt gefragter ist denn je, spielt Resilienz auch für Leadership eine entscheidende Rolle. Ich habe in den vergangenen Jahren vermehrt festgestellt, dass auch hohe Manager unter Stress leiden und ausfallen. Dies zuzugeben, passt jedoch nicht in das Bild des taffen Leaders; daher erlebe ich immer wieder Führungskräfte, die eine offene Diskussion über die Grenzen der persönlichen Belastbarkeit abtun. Dabei kann eine geteilte Burn-out-Erfahrung helfen, das Thema Achtsamkeit aktiv in stark beanspruchten Teams zu platzieren. Ich erinnere mich an eine Führungskraft, die den Triathlon für sich entdeckt hatte. Wir hatten eine offene Diskussion darüber, wie er das neben seinem nervenaufreibenden Job schaffen kann. Transparenz im eigenen Team gehörte dazu und hatte den positiven Effekt, dass auch andere Mitarbeiter begannen, ihre Arbeitszeit anders einzuteilen, um ihre Work-Life-Balance sicherzustellen. Nachdem die Arbeit aber nicht weniger wurde, war das Team gezwungen, sich besser zu organisieren. Man schaffte klar definierte Aufgabenpakete, führte Servicetätigkeiten zusammen und strukturierte den Informationsaustausch. Die Folge war neben einer geringeren Arbeitsbelastung durch weniger Überstunden auch eine höhere Motivation der Mitarbeiter und eine bessere Qualität für die Kunden. 3.7.3 Selbstreflexion Wer über sich selbst und über sein Umfeld kritisch nachdenkt und offen für Feedback ist, wird auch in der Lage sein, notwendige Kurskorrekturen vorzunehmen. Ein Weg, der vor einiger Zeit noch richtig war, kann heute schon nicht mehr Erfolg versprechend sein. Gerade in der heutigen Zeit erscheint mir das kritische Hinterfragen unabdingbar für nachhaltigen Erfolg in der Zukunft. Häufig erlebe ich Situationen, in denen es für

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Führungskräfte schwierig ist zu unterscheiden, ob Widerstände in der Organisation nur von notorischen Bremsern kommen oder einen ernst zu nehmenden Hintergrund haben. Teure Fehlentscheidungen können die Folge sein. Wer aktiv eine Feedback-Kultur etabliert und die Meinung von Kollegen und Mitarbeitern ernst nimmt, hat die Chance auf ehrlich gemeinte Rückmeldung. Selbstkritische Führungskräfte holen sich daher starke Partner an ihre Seite, auch wenn sie damit häufiger hinterfragt und zur Reflexion gezwungen sind. Mit jedem Schritt auf der Karriereleiter erhalten Führungskräfte weniger Feedback zum eigenen Führungsstil. Selbstreflexion wird daher für sie immer wichtiger.

4 Mitarbeiter mit Eigenverantwortung Neue Technologien, eine Arbeitswelt, in der Roboter mit Menschen Hand in Hand arbeiten und immer schnellerer Wandel – was bedeutet das für die Mitarbeiter unserer Unternehmen? Zunächst einmal wird die Arbeit für die Menschen sicherer und einfacher, da körperlich anstrengende und gefährliche Tätigkeiten häufig von Robotern und Maschinen übernommen werden können. Eine Veränderung der Aufgabenbereiche bis hin zum Wegfall des eigenen Jobs ist die Kehrseite dieser Medaille. Darauf müssen sich Mitarbeiter einstellen und mit Eigeninitiative die Verantwortung für ihre eigene berufliche Zukunft übernehmen. Neugier, Mut und Agilität habe ich als Eigenschaften von Führungskräften beschrieben. Nach meiner Auffassung sind diese ebenso für jeden Mitarbeiter ein gutes Rüstzeug, um bei disruptiven Veränderungen berufliche Chancen ergreifen zu können. Mitarbeiter müssen sich flexibel neuen Aufgaben stellen. Dafür sollten sie sich neugierig und proaktiv auf Entwicklungen einlassen. Es werden zahlreiche neue Arbeitsplätze und Berufsfelder entstehen. Nicht für jede dieser Positionen benötigt man ein Spezialstudium. Oft hilft eine IT-Zusatzausbildung, die gepaart mit dem Fachwissen aus der bisherigen Tätigkeit, der digitalen Transformation entscheidend weiterhilft. Um sich in einem Unternehmensumfeld, das auf globale Netzwerke statt Hierarchien setzt, gut bewegen zu können, müssen Mitarbeiter stärker als bisher kommunizieren und kooperieren. Lebenslanges Lernen wird die entscheidende Devise für die Beschäftigungsfähigkeit von morgen sein. Gleichzeitig – und auch da unterscheiden sich die Mitarbeiter kaum von ihren Führungskräften – müssen sie eine Menge Druck und Veränderung aushalten. Nur wer achtsam mit sich und seiner Gesundheit umgeht, hat die notwendige Energie, die Zukunft positiv für sich zu gestalten.

5 Zusammenfassung Unternehmen verändern sich mit einer immer höher werdenden Geschwindigkeit und stehen zudem vor vielfältigen Herausforderungen, die vor allem von der digitalen Transformation geprägt werden, die alle Winkel der Unternehmen erfassen und zu disruptiven

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Veränderungen führen. Daher ist die Innovationsfähigkeit mit Hilfe von agilen Arbeitsmethoden und -prozessen eine Schlüsselkompetenz. Leadership ist der Motor dieses Wandels und muss auf Basis eines starken Wertefundaments den Spagat zwischen dem Managen des operativen Tagesgeschäfts und dem visionären Entwickeln von Innovationen schaffen. Hierarchien haben in dieser Struktur ausgedient und werden durch fluide Netzwerke ersetzt. Deren Führung erfordert hohe Kompetenzen in Kommunikation, Kooperation und die Bereitschaft, Diversity zu leben. Erfolgreiche Führungskräfte agieren mit einem moralischen Wertekompass und implementieren ständige Veränderung als Kultur im Unternehmen. Sie agieren als unternehmerische Intrapreneurs und inspirieren ihre Mitarbeiter, Neuerungen nicht ängstlich zu blockieren, sondern begeistert voranzutreiben. Anstatt anzuordnen, wo es lang geht, geben diese Leader ihren Mitarbeitern Raum für ihre Entwicklung und agieren als Coach im Hintergrund. Damit begeistern sie auch die Digital Natives, die – von anderen Werten getragen – wichtige Treiber der digitalen Transformation gerade in der Old Economy sind. Leader halten auch sich selbst fit in – Körper und Seele. Lebenslanges Lernen muss selbstverständlich werden, über alle Hierarchieebenen hinweg. Nur so gelingt nachhaltiger Erfolg in einer sich dauerhaft im Wandel befindenden Gesellschaft.

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Gabriele Sons  Ausgebildet als Journalistin und Rechtsanwältin blickt Gabriele Sons auf 25 Jahre Führungserfahrung in unterschiedlichen Unternehmen wie Lufthansa, Compass Group, Wella, Schindler Aufzüge und Thyssenkrupp zurück. Neben Vorstands-, Geschäftsführungs- und Arbeitsdirektorenfunktionen in der Wirtschaft leitete sie als Hauptgeschäftsführerin außerdem den Arbeitgeberverband Gesamtmetall und war im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit. Heute ist sie vor allem als Aufsichts- und Verwaltungsrätin in der Dienstleistungs- und Automobilzulieferbranche tätig. Ihr Fokus sind Human Resources, Recht, Compliance und Kommunikation.

Analyse und Wargaming von Disruptives als Management-Kompetenz Systematische und pragmatische Analyse statt Blicke in die Glaskugel Hagen Lindstädt Modelle werden am wenigsten dort verwendet, wo sie am meisten gebraucht werden!

Bei zahlreichen Unternehmensentscheidungen werden datenbasierte und quantitative Modelle zur Entscheidungsfindung herangezogen – nur im Bereich Strategie herrscht häufig ein beklagenswerter Mangel in dieser Hinsicht. Nach Überzeugung von Prof. Dr. Hagen Lindstädt sollten sich auch strategische Führungsentscheidungen in Unternehmen auf quantitative Modelle stützen, die die strategische Intuition der Manager geeignet unterstützen. Insbesondere in Zeiten disruptiver Veränderungen ist die Unterlassung solcher Analysen riskant, drohen doch die rasanten technischen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen mit ihren vielfältigen Ketten von Wirkungen und Reaktionen das einzelne Unternehmen zu überrollen.

1 Einleitung: Wir leben in stürmischen Zeiten Wir leben in stürmischen Zeiten! Auf allen Ebenen, so scheint es, bahnen sich gravierende Umbrüche an. Grundsätzliche Veränderungen der Rahmenbedingungen zeichnen sich etwa in der Politik und im makroökonomischen Umfeld ab: Während in den vergangenen Jahrzehnten die Globalisierung und damit einhergehend die Liberalisierung des Handels die Weltmärkte dirigierten, schlägt das Pendel derzeit zurück in Richtung Protektionismus: Die USA und China schotten ihre Märkte ab und belegen sich gegenseitig mit empfindlichen Strafzöllen sowie mit Sonderabgaben auf Importe. Die beiden größten Wirtschaftsmächte der Welt stehen damit am Rand eines Handelskriegs, der den gesamten Welthandel und insbesondere die exportorientierte deutsche Wirtschaft H. Lindstädt (*)  Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_7

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in ­Mitleidenschaft ziehen kann und wird. Europa im Ganzen und die EU als Institution werden durchgeschüttelt vom Brexit mit seinen unübersichtlichen Folgen. Zudem lauern im Hintergrund die schwelende Schuldenkrise in Südeuropa und der wachsende Einfluss von Populisten nicht nur in Osteuropa, die die Gemeinschaft vor eine Zerreißprobe stellen. Und über allem schwebt mit dem Klimawandel eine weltweite Bedrohung mit seiner noch kaum absehbaren Tragweite. Die einzelnen Branchen und Unternehmen sehen sich weiteren Herausforderungen gegenüber: Etablierte Geschäftsmodelle und Industrien werden laufend und – so scheint es – in zunehmender Geschwindigkeit von neuen, revolutionären Entwicklungen und disruptiven Veränderungen überholt. So definierten die Informationstechnologie und die Digitalisierung bereits in den vergangenen Jahren ganze Branchen neu. Die klassischen Medien beispielsweise sind durch neue Konkurrenten im Internet wie Google und Facebook massiv unter Druck geraten und arbeiten fieberhaft an neuen Erlösmodellen. Der Einzelhandel sieht sich dem offensiv vorgehenden, global agierenden, durchdigitalisierten Handelsgiganten Amazon gegenüber und muss große Umsatzeinbußen in Kauf nehmen. Und die nächste Welle der technischen Revolution rollt bereits über die Märkte, ihre Schlagworte lauten Industrie 4.0, lernende Maschinen, künstliche Intelligenz und autonomes Fahren. Wer nicht schnell genug auf die technischen Neuerungen und die daraus entstehenden Kundenwünsche reagiert, läuft Gefahr, vom Markt gefegt zu werden. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist das multinationale Unternehmen Kodak, das als einer der wichtigsten Hersteller von analogem Filmmaterial die Digitalisierung der Fotobranche verschlief und in der Folge in die Insolvenz gehen musste. Andere Anbieter hingegen nutzen die Chancen, die die technischen Entwicklungen und der Wandel bieten – und immer häufiger sind darunter neue Wettbewerber. Die traditionsreichen Automobilindustrien in Deutschland und Japan etwa drohen, die Technologieführerschaft an den Visionär Elon Musk von Tesla zu verlieren. Konkurrenten aus Ländern wie China oder Indien, die zuvor vorrangig als Abnehmer gesehen wurden, drängen zunehmend aggressiv in die angestammten Märkte gerade deutscher Unternehmen. „Made in China“ soll, so der Plan der chinesischen Regierung, zur Premiummarke werden, das Riesenreich nicht länger die Werkbank der Welt sein, sondern zum Weltmarktführer aufsteigen. „Made in Germany“ muss versuchen, bei dieser Entwicklung mitzuhalten und seine Position zu behaupten. Die Gesamtlage aus politischen Krisen, rasantem technischen Fortschritt, globalisierten Märkten, miteinander verflochtenen Lieferketten und gegenseitigen Abhängigkeiten ist für den Einzelnen kaum noch zu überblicken. Angesichts der grundsätzlich schwierigen Vorhersehbarkeit von Ereignissen und ihren Auswirkungen sowie der Geschwindigkeit des Wandels wird es für Unternehmer und Manager immer schwieriger, strategische Entscheidungen zu treffen. Nicht zuletzt deshalb erfreuen sich Themen wie „disruptiver Wandel“, „black swans“ und Ähnliches wachsender Beliebtheit. An dieser Stelle begegnet uns eine scheinbare Paradoxie: Während quantitative Ansätze für die Planung und Steuerung in die allermeisten Bereiche des Managements vorgedrungen sind,

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werden ausgerechnet bei der Unternehmensstrategie – obwohl auch sie sich messbarer Kennzahlen bedient – nach wie vor zahlreiche Entscheidungen vorwiegend aus dem Bauch heraus getroffen. An quantitativen Planungsmodellen für eine kostenoptimierte Fertigung, für schnelle Lieferketten und zunehmend auch für effiziente Marketingmaßnahmen herrscht kein Mangel und diese Modelle werden durchaus mit großem Erfolg in den jeweiligen Unternehmensbereichen eingesetzt. Die Unternehmensstrategie jedoch scheint sich dieser Logik weitgehend zu widersetzen. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, die Vorliebe dafür, das Disruptive zu thematisieren, liege gerade in der Schwierigkeit, bewährte analytische Ansätze hier nutzbar zu machen. Disruptive Veränderungen erwecken damit bisweilen sogar den Eindruck, die letzte Domäne der Bauchentscheidung zu sein, die an die Stelle der faktenbasierten Analyse tritt und die in anderen Bereichen so verhasst ist.

2 Wirkketten erkennen und analysieren Dabei existieren auch im strategischen Management Methoden, die es erlauben, qualitative Daten in quantitativen Modellen zu verarbeiten, und die – anders als häufig vermutet – auch angesichts disruptiver Veränderungen anwendbar sind. Denn Unternehmensführung und Mitarbeiter kennen die wichtigsten relevanten Faktoren für eine strategische Entscheidung im Prinzip – wenngleich diese Informationen oft in qualitativer Form vorliegen. Die zentrale Schwierigkeit besteht hier wie so oft im strategischen Management in der Verarbeitung und Analyse primär qualitativer Daten mit quantitativen, exakten Methoden. Der Schlüssel zur Analyse disruptiver Szenarien liegt in der Erkenntnis, dass es weniger darum geht, die disruptiven Faktoren nur zu identifizieren. Dies ist zwar oftmals weniger schwierig als gedacht. Aber mit der reinen Benennung der entscheidenden Elemente lassen sich ihre Auswirkungen und geeignete, darauf abgestimmte Entscheidungen noch nicht untersuchen. Stattdessen lösen disruptive Ereignisse vielfältige Ketten von Wirkungen und Reaktionen bei den unterschiedlichsten Akteuren aus, die es gezielt abzuschätzen, zu analysieren und zu bewerten gilt. Im Kern erforderlich ist eine explizite Modellierung aller Beteiligten, die in ihren Handlungen und Interessen von den fraglichen disruptiven Ereignissen betroffen sind, sowie eine Erfassung ihrer möglichen Reaktionen innerhalb des modellierten Systems. An dieser Stelle scheitern viele Unternehmen: Zum einen stehen sie vor der Herausforderung, das Problem zu vereinfachen, um es handhabbar zu machen. Zum anderen aber muss ausreichend Komplexität erhalten bleiben, um die Ergebnisse für die vielschichtige und oftmals verwirrende Realität relevant zu halten. Hinzu kommt, dass Entscheidern häufig nur ein einzelner Lösungsvorschlag unterbreitet wird, ohne dass sie vollständig verstehen, welche Annahmen dazu geführt haben.

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Einen Lösungsansatz für dieses Dilemma bietet die klassische Spieltheorie. Hier geht es um einen Prozess der Entscheidungsfindung, bei dem jeder Beteiligte eigene Überlegungen anstrengt und gleichzeitig Ziele und Überlegungen seiner Gegenüber einbeziehen muss, um zu einer Entscheidung zu kommen. Voraussetzungen für diese Entscheidung sind laut Spieltheorie, dass die zugrunde liegenden Informationen inklusive aller möglichen Wechselwirkungen vollständig sind und dass auch Details des Spiels wie die Abfolge der Aktionen und die Bedingungen für ein Ende des Spiels im Vorhinein exakt spezifiziert sind. Gerade diese beiden letztgenannten Bedingungen verursachen jedoch bei der spieltheoretischen Modellierung realer Sachverhalte häufig Probleme. Zudem fällt die Berücksichtigung spezieller, teils emotionaler Motive der Akteure oft schwer. Erfahrungsgemäß hängen jedoch spieltheoretische Ergebnisse und Handlungsempfehlungen sehr empfindlich von den exakten Annahmen in diesen Bereichen ab – eine Schwierigkeit beim Einsatz dieser hochentwickelten klassischen Methoden. Es ist leicht einsehbar, dass die klassische Spieltheorie den Anforderungen an die Analyse disruptiver Veränderungen nicht gerecht wird. Vor allem die Informationslage ist in diesen Zeiten volatil, undurchsichtig und unüberschaubar. Niemand weiß, was morgen geschehen wird, wann welcher Player am Markt reagieren wird und wie sich das Spiel selbst dynamisch verändern wird. Und Ziele und Motive von Akteuren beschränken sich gerade außerhalb westlicher Industrieunternehmen nicht auf Wirtschaftliches und Finanzielles. Im Unterschied zur klassischen Spieltheorie geht es im Wargaming-­ Modellierungsansatz, den wir am Institut für Unternehmensführung des KIT entwickelt haben, nicht darum, einen einzelnen, besonders wahrscheinlichen Weg abzuschreiten und auf dessen Herausforderungen eine Antwort zu liefern, sondern darum, zahlreiche verschiedenen Optionen zu berücksichtigen. In unserem Modell steuern neben der Spieltheorie auch Systems Dynamics und die (politische) Konfliktanalyse Elemente bei, um die Komplexität einer disruptiven Umgebung zu berücksichtigen. Ziel ist es, eine Vielzahl möglicher Wirkketten von Aktionen und Reaktionen zu erfassen, Implikationen ihres Eintretens abzuschätzen und die Menge aller Wirkketten auf Basis computergestützter Analyse- und Simulationsmethoden zu verstehen. Das Verständnis solcher Aktions-Reaktions-Ketten ist der Schlüssel, um die Wirkungen disruptiver Ereignisse vollumfänglich zu begreifen. Dies lässt sich gut am Beispiel der Ereignisse vom 11. September 2001 veranschaulichen. Die direkten Folgen der Anschläge in New York und Washington waren die Todesopfer in den Flugzeugen und den Trümmern, die zahlreichen Verletzten, die einstürzenden Zwillingstürme des World Trade Centers und die massiven Schäden am Pentagon. Doch über diese unmittelbaren Folgen hinaus entfaltete der Terror dieses Tages über eine komplexe Reihung von Aktionen und Reaktionen unterschiedlicher Akteure – Politiker, Behörden, Konsumenten, Unternehmen … – eine immense Wucht, die die Welt in den unterschiedlichen Lebensbereichen für immer veränderte und bis zu Kriegen und zerrütteten internationalen

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Beziehungen führte. Aus ökonomischer Sicht haben verschiedene Unternehmen, etwa Fluggesellschaften, über diese Wirkketten immense Verluste hinnehmen müssen, einige Airlines mussten sogar Insolvenz anmelden und sind vom Markt verschwunden. Nun ist es kaum leistbar, sämtliche Akteure und Handlungsmöglichkeiten vollständig zu modellieren. Dies ist aber im Management in dieser Allgemeinheit meist auch nicht erforderlich. Aus Sicht einer Fluggesellschaft wäre die Annahme, dass Terroristen ein Passagierflugzeug kapern und als Waffe einsetzen, vor 9/11 kaum realistisch gewesen. Aber es wäre durchaus möglich gewesen, ein Modell zu gestalten, in dem beispielsweise die Verunsicherung von Flugpassagieren und ein zunehmender Aufwand durch Sicherheitsbehörden erfasst werden und das so die Folge eines dramatischen Nachfragerückgangs, eines zunehmenden Preisverfalls auf dem Markt für Flugreisen und einer drastischen Kapazitätsanpassung bei den Airlines vorhersagt. Es ist demnach grundsätzlich möglich, die Interessen und Präferenzen von Akteuren innerhalb eines Systems von Handlungsmöglichkeiten zu erfassen und daraus ein Verständnis von Aktions-­ReaktionsWirkketten zu entwickeln. Dieses Vorgehen ist zudem zielführender als die bloße Benennung eines abstrakten Anschlagsrisikos.

3 Disruptives-Impact-Analyse und Strategisches Wargaming in vier Schritten Wenn Manager ihre strategischen Optionen abwägen sollen, entwickeln sie gern Szenarien einer möglichen Zukunft auf Basis des Bekannten oder des auch nur Angenommenen. Allerdings beeinflussen sich strategische Entscheidungen und die Dynamik von Märkten wechselseitig, sodass die angenommene Zukunft sich bereits im Moment der Strategieentwicklung verändert. Ebenso haben Wettbewerber, Kunden, Lieferanten, Regulierungsbehörden oder andere Akteure wie beispielsweise Nichtregierungsorganisationen einen Einfluss auf die Zukunft, den die Szenarien nicht widerspiegeln. Es ist von zentraler Bedeutung, in einem systematischen Prozess diese strategischen Abhängigkeiten zu identifizieren, zu verstehen und die unterschiedlichen möglichen Konsequenzen zu erfassen. Der Gesamtprozess, den wir am Institut für Unternehmensführung des KIT entwickelt haben, besteht aus vier Schritten. Im Wesentlichen geht es darum, ein Modell der Wirklichkeit zu bauen, zu prüfen und zu analysieren. Daraus leiten wir eine strategische Empfehlung zu einer konkreten Fragestellung ab, die wir auch verproben und kontrollieren, ob sie zur Wirklichkeit passt. Das Modell besteht aus drei Elementen: den Spielern oder auch Akteuren, ihren strategischen Optionen und ihren Präferenzen, also der Frage: „Wer will eigentlich was?“.

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3.1 Schritt 1: Relevante Spieler und ihre strategischen Optionen identifizieren Der erste Prozessschritt beschäftigt sich nur mit den relevanten Akteuren und ihren Handlungsmöglichkeiten am Markt. Am Ende dieser Phase besteht Einigkeit darüber, wer diese relevanten Spieler sind und welche Handlungsoptionen sie jeweils haben. Es ist wichtig, dass wir – wenn wir mit Unternehmen arbeiten – verschiedene Perspektiven auf das Thema bekommen. Dafür führen wir zwischen fünf und zwanzig Interviews mit den wichtigsten Mitarbeitern unseres Klienten durch, um zum einen das strategische Problem zu verstehen, und zum anderen, um die Keyplayer sowie ihre strategischen Optionen zu identifizieren. Dieser Punkt ist der Schlüssel, um die strategischen Kernfragen zu beantworten und das Modell zu erstellen. Dabei gehen wir crossfunktional vor und sprechen mit den verantwortlichen Managern, mit Produktmanagern und mit Mitarbeitern aus unterschiedlichsten Funktionsbereichen, die von der Fragestellung betroffen sind. Typischerweise gehören dazu Vertreter vom Marketing, vom Controlling, aus der Produktion und aus der Entwicklung. Die strategischen Optionen der einzelnen Akteure brechen wir – und das ist das Besondere bei unserem Ansatz – im Lauf dieses Prozesses auf sogenannte strategische Hebel herunter. Ein Hebel ist etwas, was jemand tun oder lassen kann – Hebel sind also binär, sie können den Wert 0 oder 1 annehmen. Wenn also beispielsweise ein Spieler oder Akteur drei solcher Hebel hat, kann er jeden einzelnen davon tun oder lassen. Daraus ergeben sich bis zu acht strategische Optionen (= 23). Hat der Spieler zehn Hebel, sind es schon 1024 strategische Optionen (= 210). In der Regel bilden wir in unseren Modellen vier bis sieben Akteure bzw. Gruppen von Akteuren ab, wobei unser Klient meist acht bis zwölf Hebel hat und die anderen Spieler über jeweils drei bis sechs Hebel verfügen. Daraus ergibt sich eine immense Anzahl an strategischen Optionen; eine Durchschnittzahl sind 28 Hebel verteilt auf vier bis sieben Spieler. Meist lassen sich nicht alle Hebel untereinander kombinieren oder einzelne Kombinationen sind nicht sinnvoll, aber die theoretische Obergrenze bei 28 Hebeln liegt bei 228. Das entspricht über 268 Mio. möglichen Zuständen des Systems (Kombinationen von Strategien aller Akteure und Szenarien) insgesamt!

3.2 Schritt 2: Präferenzen der Spieler Im zweiten Schritt geht es um die Präferenzen. Die Grundlage, um strategische Interaktionen zu analysieren, ist das richtige Verständnis der jeweiligen Ziele und Prioritäten eines jeden einzelnen Akteurs. Nach der Sammlung der jeweiligen Optionen der einzelnen Player geht es jetzt also darum, diese Optionen zu bewerten und Möglichkeit und Implikationen ihres Eintretens einzuschätzen. Ziel dieses Schritts ist es, dass wir für jeden Akteur verstehen, was er eigentlich will und welche Präferenzen er hat; und zwar sowohl für die eigenen als auch für alle fremden Hebel.

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Hierbei können wir weiter differenzieren und für jeden Hebel eine Richtung und eine Wichtigkeit festlegen. Das erste Element, Richtung, bedeutet: Will dieser Player, dass etwas passiert? Oder will er, dass etwas nicht passiert? Die dritte Möglichkeit ist „IFF“, das heißt, die Entscheidung pro oder kontra eine bestimmte Option hängt davon ab, wie andere Spieler ihre Hebel betätigen („konditional“). Dazu ein Beispiel: • Ein Unternehmen will nie, dass die Konkurrenz ein innovatives Produkt auf den Markt bringt (Minus), • aber es will eigentlich immer, dass ein Konkurrent sein Geschäft einstellt (Plus). • Die Präferenz (Vorliebe) dafür, ob das Unternehmen in ein bestimmtes Marktsegment vorstößt, ist abhängig davon, welchen Hebel der größte Wettbewerber betätigt: Ist er in diesem Marktsegment vertreten, fällt die Entscheidung negativ aus, bleibt der Konkurrent dem Marktsegment fern, hingegen positiv (IFF). Das zweite Element ist die Wichtigkeit: Wie sehr wünschen sich die einzelnen Spieler, dass ein bestimmter Hebel getätigt wird oder auch nicht? Mit diesem Schritt bringen wir die Hebel in eine Rangfolge. Wir reden also über jeden einzelnen Hebel und darüber, wie wichtig für jeden Akteur welche Option ist – und zwar auch hier wieder sowohl für die eigenen Hebel wie auch für die fremden. Das Ergebnis dieses Prozesses ist eine Matrix, die die Interessen (Präferenzen) der Spieler für alle (eigenen und fremden) Handlungsoptionen samt ihrer Wichtigkeit in Bezug zueinander setzt: Jeder Player nutzt seine strategischen Optionen als Hebel, um seine eigene Position hinsichtlich seiner individuellen Ziele zu optimieren. Die Ziele eines Players zu identifizieren ist nicht immer einfach und eindeutig. Führungskräfte sind häufig unsicher, wenn sie danach gefragt werden. Mithilfe unseres Prozesses führen wir unsere Klienten durch diese herausfordernde Aufgabe und erreichen so valide Annahmen über die Interessen und Prioritäten eines jeden Players. Um die notwendigen Kenntnisse zu sammeln und um die Präferenzen der einzelnen Player zu modellieren, veranstalten wir in der Regel einen Eintagesworkshop mit den Führungskräften und Mitarbeitern unseres Klienten. Dabei wird das erforderliche Wissen zu den Optionen der einzelnen Player zusammengetragen. Während dieser Phase erfassen und diskutieren wir die Facetten des Themas und erzielen einen Konsens darüber, welche die relevanten Einstellungen jedes einzelnen Players sind. Manchmal gelingt es nicht, einen Konsens über die exakten Prioritäten zu erreichen, oder eine genaue Schätzung lässt sich aufgrund der vorliegenden Daten nicht vornehmen. In solchen Fällen setzen wir verschiedenen Werkzeuge ein, etwa eine Sensitivitätsanalyse (siehe unten), um dennoch zu einer Einschätzung zu gelangen. Ziel ist es, eine Balance zwischen der Vereinfachung der komplexen Realität und der Relevanz der Ergebnisse zu erhalten, indem ein Set wahrscheinlicher Aktionen und ihrer Effekte auf entscheidende Faktoren wie Profit oder Nachfrage definiert wird.

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Am Ende des Workshops steht ein Katalog mit spezifischen Präferenzen für jeden einzelnen relevanten Player. Diese Präferenzen bilden im Folgenden die Basis für unsere computergestützte Analyse der strategischen Interaktionen (gelegentlich auch strategic wargaming genannt).

3.3 Schritt 3: Berechnung und Bewertung der Aktion-ReaktionWirkketten Im dritten Schritt geschehen dann zwei Dinge. Zum einen simulieren wir die AktionsReaktions-Pfade, die sich ergeben, wenn ein Spieler einen oder auch mehrere seiner Hebel betätigt. Zum anderen programmieren wir eine Benutzeroberfläche, mit deren Hilfe die Mitarbeiter unserer Klienten die verschiedenen Szenarien selbst am Computer durchspielen können. Zunächst wird das Modell mithilfe bewährter analytischer Konzepte am Computer durchgerechnet. Diese Konzepte leiten sich von der Multi-Player-, der Multi-Period-Game- und der Wargame-Theorie ab. Also: Spieler A betätigt Hebel A1. Spieler B reagiert auf eine bestimmte Art und Weise. Spieler C reagiert auch. Daraufhin passt Player A wieder seine Strategie an und das Spiel geht weiter. Solche Aktions-ReaktionsMuster laufen am Rechner für alle Hebel und alle Akteure durch – das kann man sich bildlich wie eine Relaisschaltung vorstellen, bei der die Schalter hoch- und runterklacken. Für die Berechnungen aller Wege setzen wir einen schnellen Computer mit zahlreichen Rechenkernen und großem Hauptspeicher ein – und selbst dieser Großrechner benötigt ein paar Tage, bis er einmal alle Konstellationen durchgerechnet hat. Mithilfe hochkomplexer, individuell angepasster Computer-Analyse-Tools und -simulationen überprüfen wir alle resultierenden Szenarien der Aktion-Reaktion-Wirkketten und folgern die wahrscheinlichen Ergebnisse. Wir berechnen und überprüfen wortwörtlich Tausende, manchmal sogar Millionen möglicher Ergebnisse und gehen (zum großen Teil automatisiert) allen Wegen nach, die halbwegs sinnvoll erscheinen. Ernst zu nehmen sind beispielsweise alle Pfade, bei denen sich Spieler verbessern – allerdings verzichten kluge Spieler oft auf kurzfristige Verbesserungen, die sich schnell wieder ins Gegenteil verkehren. Eine Verschlechterung nimmt ein Spieler in der Regel nur dann in Kauf, wenn er darauf spekuliert, sich bald danach wieder zu verbessern. Jede Wirkkette wird so lange durchgerechnet, bis ein stabiler Zustand erreicht ist. Ein stabiler Zustand tritt beispielsweise dann ein, wenn sich keiner der Akteure mehr verbessert. Oder wenn das Ergebnis zeigt, dass sich ein Spieler zwar zunächst verbessert, aber im nächsten Schritt etwas passieren wird, das so dramatische Auswirkungen hat, dass er den Hebel gar nicht erst betätigt hätte. Gleichzeitig findet eine Sensitivitätsanalyse statt. Ob bei den Input-Daten bei einer Option als Richtung ein Minus oder ein Plus angegeben ist und ob sich die Ränge in der Wichtigkeit vertauschen, hat sehr häufig nur geringe Auswirkungen auf das Ergebnis. Variiert man in diesen Fällen die Input-Daten, ändert sich an den Output-Daten nicht

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viel, System und Ergebnis bleiben robust. Manchmal aber lässt sich feststellen, dass bereits kleine Details, also beispielsweise die Frage, ob bei einer Option Plus oder Minus steht oder ob diese Option an Rang 2 oder 3 steht, enorm wichtig sind, dass eine kleine Änderung an dieser einen Stelle ein ganz anderes Gesamtergebnis mit sich bringt. In solchen Fällen führen wir eine Sensitivitätsanalyse durch, das heißt, wir rechnen noch einmal mit veränderten Input-Daten und schauen, welche Resultate sich dann jeweils ergeben. Dieses Verfahren kommt auch zum Einsatz, wenn sich in der Workshopphase die Klientenmitarbeiter nicht einig sind, wie bestimmte Akteure und Optionen einzuschätzen sind. Manchmal ist auch während der Analyse zu erkennen, dass bestimmte Faktoren von enormer Bedeutung sind. Dann testen wir insbesondere bei diesen Punkten mehrfach und mit verschiedenen Eingangsbedingungen, um zu validen Ergebnissen zu kommen. Nach dem Robustheitsprinzip ist entscheidend, nicht nur ein, sondern mehrere Modelle durchzurechnen, um zu sinnvollen Lösungen zu kommen. Häufig kommen bei diesen Berechnungen viele Tausend stabile Zustände heraus. Als Nächstes erfolgt ihre Analyse: Was haben die stabilen Zustände gemein und welche Szenarien und Handlungsempfehlungen lassen sich daraus schließen? Nehmen wir als Beispiel einen Handelskrieg: Ein mögliches Szenario ist eine komplette Eskalation, ein anderes eine Eskalation auf Teilgebieten. Es kann auch zu einer Stabilisierung oder Befriedung der Situation kommen. Über die Berechnungen entsteht ein Verständnis dafür, welche Szenarien eigentlich stabil sind und wie sie zustande kommen können. Abhängig von der Ausgangslage entstehen unterschiedliche Ergebnisse und damit auch die Handlungsempfehlungen – je nachdem, welches Ergebnis angestrebt wird. Und sobald sich eine der zahllosen Variablen im Modell verändert, entsteht ein neues Szenario, das ein anderes Ergebnis und damit eine andere Handlungsempfehlung nach sich ziehen kann. Das Modell integriert automatisch eine ganze Reihe verschiedener Aktion-Reaktions-Wirkketten und präsentiert dem Entscheider den besten Weg für die jeweils unterschiedlichen Kombinationen der verschiedenen Faktoren (siehe Abb. 1). Darüber hinaus bringen wir in diesem dritten Prozessschritt das Modell auf ein System von Rechnern und programmieren entsprechende Benutzeroberflächen für die unterschiedlichen Marktakteure. Anschließend bauen wir ein Computernetzwerk auf, treffen uns mit den Mitarbeitern unseres Klienten, teilen sie in Teams „Spieler A“, „Spieler B“ etc. auf und lassen sie wie beim Gaming gegeneinander antreten. Über Schaltflächen können die Teams Hebel in Gang setzen und sehen sofort, welche Auswirkungen dies auf die anderen Akteure hat. Umgekehrt gilt Gleiches: Ein anderes Team betätigt einen Hebel und auf dem eigenen Bildschirm sind sofort die Folgen zu sehen. Die Teams sollen also die verschiedenen Optionen selbst ausprobieren und gegeneinander spielen. Am Ende entsteht für jeden Akteur eine Heatmap für den Spielverlauf, anhand derer sich der Pfad, der gerade durchgespielt wurde, analysieren lässt (siehe Abb. 2). In der nächsten Runde bildet sich ein anderer Pfad, der zu einer anderen Heatmap führt. Die Gruppe erhält auf diese Weise tiefe Einblicke in die Zusammenhänge der verschiedenen Optionen und Entscheidungen.

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Abb. 1   Stabile Anpassungspfade aus dem analytischen Prozess (Beispiel)

Beide Ansätze zusammen – die rein analytische Herangehensweise durch die Computerberechnungen und der eher spielerische Gamingansatz – führen zu einem sehr gründlichen Verständnis des zugrunde liegenden Problems, der möglichen Szenarien und der verschiedenen Handlungsoptionen.

Abb. 2   Ergebnis der interaktiven Simulation („Gaming“)

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3.4 Schritt 4: Empfehlungen für weitere Aktionen Die Analyse der vorliegenden Herausforderung ist ein wichtiger, aber nicht der letzte Schritt des Prozesses. Alle unsere Projekte zielen darauf ab, gemeinsam mit dem Klienten und auf Basis eines umfassenden Verständnisses der zugrunde liegenden Dynamiken eine Empfehlung für weitere Aktionen herzuleiten. Um dies zu erreichen, arbeiten wir gemeinsam mit dem Team des Klienten an einer übergreifenden Empfehlung, die die qualitativen Herausforderungen, Diskussionen und die Beurteilungen der Führungskräfte berücksichtigt. Wir verproben die Ergebnisse mit Experten sowie mit den Managern und stellen sie in den Gesamtkontext, der ja immer größer ist als das, was wir im Modell abbilden konnten. Letztlich geht es darum, ein Ergebnis zu erzielen, das verständlich, akzeptiert und umsetzbar ist. Der Prozess führt nicht nur zu Empfehlungen für die aktuelle strategische Problemstellung. In seinem Verlauf werden zudem sogenannte Breakpoints definiert, also Zeitpunkte, die eine Reaktion des Klienten erfordern. Eine Empfehlung könnte demnach sein: „Beobachten, bis X eintritt, dann die Strategie auf Y ändern und im Weiteren beobachten, ob auch noch Z entsteht …“ Dabei behaupten wir nicht, wir wüssten, was die jeweiligen Spieler tun werden. Wir haben keine Glaskugel, die uns einen perfekten Blick in die Zukunft ermöglicht oder alle Unsicherheiten beseitigt. Unser Ziel ist vielmehr, strategische Interaktionen zu analysieren, um Führungskräften faktenbasierte Entscheidungen in einem systematisierten Prozess zu ermöglichen, die sowohl Entwicklungspotenzial nach oben als auch Absturzrisiken nach unten berücksichtigen.

4 Blockchain als disruptive Herausforderung Das beschriebene Vorgehen eignet sich insbesondere auch dafür, um bei disruptiven Herausforderungen Risiken und Chancen abzuschätzen und die eigenen Optionen durchzuspielen. Ein Beispiel dafür ist Blockchain, eine technische Innovation, die gleich mehrere Branchen in Aufruhr versetzt. Hinter dem Schlagwort steckt eine Distributed-Ledger-Technologie, also eine Technologie zur dezentralen Speicherung von Transaktionen. Blockchain ist eine von mehreren – allerdings die wichtigste und verbreitetste – Distributed-Ledger-Technologien. Die bekannteste Blockchain-Anwendung wiederum ist die digitale Währung Bitcoin, über die weltweit auf kurzem Wege und an traditionellen Geldinstituten vorbei finanzielle Transaktionen abgewickelt werden. Der entscheidende Begriff im Zusammenhang mit Distributed Ledger ist Vertrauen. Wie lässt sich sicherstellen, dass die gespeicherten Informationen vertrauenswürdig, also nicht gefälscht sind? Dass sie den tatsächlichen Stand der Transaktionen und die Besitzverhältnisse widerspiegeln? Dass ein Verlust der gespeicherten Daten ausgeschlossen ist – die Informationen also sicher verwahrt werden? Die Wirtschaft braucht in vielen Bereichen Organisationen, die Daten zentral speichern, zur Verfügung stellen und den

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Austausch ermöglichen. Klassischerweise treten sogenannte Intermediäre als diese vertrauenswürdigen Instanzen auf, etwa die Börsen als Vermittler bei Wertpapiergeschäften. Solche Unternehmen verfügen über einen großen Vertrauensvorschuss und über einen enormen Wettbewerbsvorteil: Für einen neuen Konkurrenten ist es nahezu unmöglich, ihnen Marktanteile abzunehmen, denn er hat einfach nicht den „Namen“, den ein Intermediär benötigt. In dem Moment aber, in dem sich Vertrauen auf technologischem Wege erzeugen lässt, ändert sich die Situation komplett: durch Technologien wie Blockchain werden etablierte Vermittler plötzlich angreifbar. Blockchain setzt dabei auf zwei wesentliche Faktoren: Zum einen nutzt die Technologie rechenintensive kryptografische Verfahren und Konsensmechanismen, um Eigentums- und Transaktionsdaten vor Fälschungen zu schützen. Zum anderen werden die Daten dezentral auf sehr vielen Rechnern gespeichert, um sie so (fälschungs- und verlust-)sicher zu verwahren. Manipulationen an Datensätzen müssten damit nicht mehr nur an einer zentralen Datensammelstelle erfolgen, sondern gleichzeitig auf der Mehrheit der an das Netzwerk angeschlossenen Speicherplätze. Denn würde ein Datensatz auf nur einem (oder auch mehreren) Rechnern verändert, entstünden Abweichungen zu allen anderen Datensätzen, die auf den zahllosen weiteren Rechnern hinterlegt sind. Die Fälschung würde damit vom Netzwerk automatisch erkannt und verworfen. Über diese beiden Schritte schafft Blockchain die Voraussetzung, um die gespeicherten Informationen vertrauenswürdig zu machen. Für diese Technologie gibt es zahlreiche wirtschaftliche Anwendungsmöglichkeiten: Immer dann, wenn es darum geht, Daten auszutauschen und zu speichern, die vertrauenswürdig sein müssen und bei denen eine Fälschung ausgeschlossen werden soll, kann Blockchain die notwendigen Bedingungen schaffen. Damit ist der Weg frei, um einem etablierten Vermittler Konkurrenz zu machen. Der Prozess, einen Intermediär aus dem Markt zu nehmen, heißt auch Disintermediation. Derzeit ist allerdings noch unklar, in welchen Bereichen die Blockchain-Technologie tatsächlich den Intermediären gefährlich werden kann. In Hinblick auf Disruptives-Analyse und strategisches Wargaming lassen sich nun zwei Perspektiven einnehmen: Zum einen ist es damit möglich, die Lage des Intermediärs zu betrachten und eine Verteidigungsstrategie zu entwickeln, wobei die Möglichkeiten begrenzt sind. Unsere Methode ist zum anderen aber auch geeignet, – und das ist zumindest für die Erklärung hier weitaus spannender –, um die Position des Angreifers einzunehmen und die Chancen, die sich aus den disruptiven Entwicklungen ergeben, zu eruieren. Ein Beispiel ist das Computerreservierungssystem Amadeus, an das Fluggesellschaften und Reisebüros angeschlossen sind und über das sie Buchungsdaten austauschen. Bucht jemand einen Flug nicht direkt bei der Airline, gibt der jeweilige Partner die entsprechenden Daten an Amadeus weiter. Das ermöglicht beispielsweise Reisebüros, den Reservierungsstand einzelner Maschinen abzufragen, oder dem Reisenden, seine Buchungsdaten einzusehen und zu verändern. In diesem Geschäft tritt Amadeus als

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vertrauenswürdiger Dritter, also als Intermediär, auf – Daten, die hier verwaltet ­werden und die von hier kommen, gelten als zuverlässig. Diesen Service lässt sich Amadeus von den angeschlossenen Unternehmen sehr gut bezahlen. Für eine Fluggesellschaft oder ein großes Reiseunternehmen ist es nun relativ naheliegend, über die Blockchain-Technologie zu versuchen, die Macht des Intermediärs zu brechen. Aber welches Vorgehen ist konkret sinnvoll? Sollte der Angreifer versuchen, eine eigene Plattform auf Blockchain-Basis zu begründen? Oder sollte er versuchen, einen neuen Industriestandard zu etablieren und andere Marktteilnehmer mit ins Boot zu nehmen? Vielleicht reicht es ja auch aus, dem Intermediär mit der Gründung einer solchen Alternative zu drohen und ihn so zu weitgehenden finanziellen Zugeständnissen zu bewegen? Mit der Disruptives-Analyse und dem strategischen Wargaming werden die allgemeinen disruptiven Veränderungen, hier also die Entwicklung der Blockchain-Technologie, heruntergebrochen auf den konkreten Einzelfall: „Wie und unter welchen Bedingungen kann ich davon profitieren?“ Und das bis hin zu Detailfragen, die die Entscheidung beeinflussen, wie „Wie viele Player im Markt müssten auf einen neuen Standard umsteigen, um ihn zu etablieren?“ und „Welche Positionen sind für den Erfolg unseres Vorhabens besonders kritisch, können wir jemanden an Schlüsselstellen des Markts platzieren?“ und „Habe ich überhaupt eine Chance, den Standard allein durchzusetzen und ihn den anderen Marktteilnehmern als Dienstleistung anzubieten, oder ist das unrealistisch?“. In anderen Fällen sind die Auswirkungen der Blockchain-Technologie auf die Wirtschaft weniger eindeutig, etwa bei Versicherungsunternehmen. Bisher werden die Verträge mit den Kunden bei den Versicherungen selbst gespeichert. Die Kunden vertrauen den Unternehmen, dass die Daten (über die Kopie, die beim Kunden verbleibt, hinaus) dort gut aufgehoben sind, dass keine Manipulationen stattfinden, dass Versicherungsfälle seriös abgewickelt werden etc. Allerdings kann es ja durchaus geschehen, dass die Bevölkerung genau dieses Vertrauen in die Versicherungsunternehmen verliert – und zwar völlig unabhängig davon, ob dieser Vertrauensverlust gerechtfertigt ist oder nicht. Die Blockchain-Technologie ermöglicht es zumindest, Versicherungsdaten dezentral, sicher und vertrauenswürdig zu speichern – und sogar, beim Eintritt von zu Vertragsabschluss definierten Ereignissen automatisch bestimmte Transaktionen durchzuführen. Und damit besteht auch das Risiko, dass sich irgendwann die Überzeugung durchsetzt, dass Verträge eigentlich nur dann wirklich sicher sind, wenn sie in Blockchains gespeichert sind. Für ein Versicherungsunternehmen stellt sich die Frage, wie folgenreich eine solche Entwicklung für das eigene Geschäft wäre. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Das Unternehmen stellt für sich fest, dass das nicht dramatisch ist: „Dann liegen die Verträge halt in der Blockchain, nicht weiter schlimm! Die wichtigeren Elemente wie etwa der Vertrieb über den Makler und die eigentliche Risikoübernahme sind davon überhaupt nicht betroffen.“ Oder aber das Unternehmen stellt fest, dass ihm auf diese Weise ein wichtiger Faktor des Kundenkontakts verloren geht. Welche Auswirkungen hätte das? Wie und unter welchen Voraussetzungen ließe sich eine solche Entwicklung steuern? Welche Reaktionsmöglichkeiten bestehen überhaupt?

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Auch aus solchen spekulativen Überlegungen lassen sich mit der Disruptives-Analyse und dem strategischen Wargaming Modelle entwickeln und Szenarien durchspielen. Das Risiko, von radikalen Veränderungen überrascht und überrumpelt zu werden, lässt sich damit deutlich reduzieren.

5 Management quo vadis? Es stellt sich die Frage nach der Unfehlbarkeit derartiger Methoden und nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, auch ohne sie die beste Entscheidung für das Unternehmen zu treffen. Beide Fragen sind schnell beantwortet: Jede Modelllösung kann nur so gut sein wie ihr Modell: garbage in, garbage out. Es wird zudem kaum gelingen, alle außer den wichtigsten Unwägbarkeiten auf diese Art in den Griff zu bekommen. Und erfahrene Manager werden komplexe Zusammenhänge auch ohne Modell oftmals intuitiv richtig deuten. Tatsächlich sind diese Aspekte jedoch wenig entscheidend für die Verwendung von Modellen in der Strategie. Es geht vielmehr darum, dass faktenbasierte Ansätze, bei denen im Nachhinein falsche Annahmen grundsätzlich identifiziert werden können, immer mehr an die Stelle intuitiver Entscheidungen treten, die ihrem Charakter nach auch im Nachhinein einer systematischen Prüfung kaum zugänglich sind. Die Situation in den Unternehmen erinnert bisher an den professionellen Sport, an die Entwicklungen im Baseball, Basketball und später im europäischen Fußball den Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Gute Trainer hatten von sich behauptet, um die Stärken der Spieler und die beste taktische Aufstellung einfach „zu wissen“, bis sich die Messung von Laufwegen, Geschwindigkeiten und zunehmend auch komplexeren Variablen wie dem Positionsspiel durch ihren Erfolg immer stärker durchsetzen konnte. Auch im Profisport gewannen diejenigen, die anfingen, systematisch zu messen und mit Modellen zu arbeiten, in der Folge nicht jedes Spiel. Der Ansatz setzte sich jedoch mit der Zeit durch und erfolgreiche Trainer und Teams verwenden heute ganz selbstverständlich fortgeschrittene Messmethoden und Entscheidungsmodelle. Es wird zunehmend schwerer, wenn nicht gar unmöglich, dauerhaft und systematisch ohne derartige Modelle und Methoden erfolgreich zu sein. Als rohstoffarmes, hoch technisiertes und exportorientiertes Land besteht für Deutschland ein besonders großes Risiko, von radikalen Ereignissen überrollt und von der Konkurrenz abgehängt zu werden. Deutschland lebt ökonomisch vom hohen Bildungsstand der Bevölkerung und von der Innovationsfreude der Unternehmer. Eine schnelle und gleichzeitig überlegte sowie vorausschauende Reaktion auf disruptive Ereignisse ist daher überlebenswichtig und zukunftsentscheidend für die deutsche Wirtschaft, die keinen Puffer gegen den wirtschaftlichen Absturz durch den Abbau seltener Erde oder durch den Export von Öl hat. Aktuelles Beispiel für die drohenden ökonomischen Gefahren in Zeiten des disruptiven Wandels ist der Einsatz künstlicher Intelligenz, bei dem viele deutsche Unternehmen eher zögerlich vorgehen. Gleichzeitig entwickeln Konkurrenten insbesondere in den USA und in China ständig neue,

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z­ ukunftsweisende Anwendungen und Geschäftsmodelle für die KI-Industrie. Hier droht die deutsche Wirtschaft ins Abseits zu geraten, kann aber mit Mut und Erfindergeist vielleicht auch ein enormes Potenzial realisieren. Sich angesichts einer komplexen Wirklichkeit auf sein Bauchgefühl zu verlassen, ist riskant: Wer zu spät auf Neuerungen reagiert, vergibt Chancen, die sich am Markt bieten, oder verliert den Anschluss. Wer zu früh eine Option unter vielen wählt, setzt womöglich auf das falsche Pferd und verschenkt Zeit und Ressourcen. Wer aber aus Angst vor Unwägbarkeiten in der Diskussion verharrt, entdeckt später oft, dass er Gestaltungsmöglichkeiten aus der Hand gegeben hat und nur noch reagieren statt agieren kann. Disruptives-Impact-Analyse und Strategisches Wargaming bieten einen Ansatz, sich diesen Herausforderungen der Zukunft zu stellen und rechtzeitig Strategien für umwälzende Ereignisse zu entwickeln. In einer Zeit, in der mithilfe traditioneller Algorithmen und künstlicher Intelligenz – die Übergänge sind hier fließend – Computer gegen Menschen in Schach und Go gewinnen, den weltweiten Handel auf den Finanzmärkten zu einem guten Teil steuern und Fahrzeuge lenken, sollten sich Manager nicht dagegen sträuben, sich von quantitativen Modellen bei strategischen Entscheidungen unterstützen zu lassen – auch wenn sie sich das letztendliche Treffen der Entscheidung unbedingt weiter selbst vorbehalten sollten. Prof. Dr. Hagen Lindstädt studierte Mathematik und Wirtschaftswissenschaften an der Uni Hamburg und war danach zunächst fünf Jahre als Management-Berater bei McKinsey & Company in Hamburg. Nach Promotion und Habilitation in Frankfurt am Main als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft war er von 1999 bis 2004 Lehrstuhlinhaber für Strategie an der HHL in Leipzig. Seit 2004 ist er Leiter des Instituts für Unternehmensführung am KIT/Uni Karlsruhe und des Centers for Strategic Business Wargaming, das er 2006 gründete. Als Experte für Strategic Wargaming und Disruptives Management berät Professor Lindstädt zahlreiche Unternehmen in Fragen der Strategie, darunter eine Reihe von DAX30-Konzernen verschiedener Branchen, unterstützt die Generalstabsausbildung der Bundeswehr und die Bundesregierung in Fragen der Corporate Governance.

Teil V Unternehmensentwicklung

Unternehmenskultur Welchen Beitrag kann die Unternehmenskultur für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens leisten? Simone Menne

Wenn wir glauben, die Menschen seien nicht gebildet genug, Kontrolle durch umfassendes kritisches Denken ausüben zu können, dann ist die Lösung nicht, sie ihnen wegzunehmen, sondern ihr Differenzierungsvermögen durch Bildung zu fördern. (Thomas Jefferson)

Es wird viel über Unternehmenskultur geredet, allerdings wird die Bedeutung der Unternehmenskultur aus Sicht von Simone Menne weiterhin stark unterschätzt. In den verschiedenen Positionen ihrer Karriere konnte sie beobachten, wie unterschiedlich die Motivation und die Leistung von Mitarbeitern abhängig von einer Kultur des Wettbewerbs oder der Teamorientierung ausfällt. Unternehmen können nur dann erfolgreich die vielen neuen Herausforderungen bewältigen, wenn die Mitarbeiter auf allen Ebenen des Unternehmens die Transformation verstehen und mittragen. Hier kommt der Unternehmenskultur mit den entscheidenden Dimensionen Vertrauen und Delegation eine maßgebliche Rolle zu. So kann die Unternehmenskultur einen wesentlichen Beitrag zu einer Vision der Zukunft leisten.

1 Einleitung Ein geflügeltes Wort in der Management-Literatur ist der Satz „Culture eats Strategy for Breakfast“ (https://www.samhammer.de/culture-eats-strategy-for-breakfast/). Es nützt also die beste Strategie nicht, wenn diese nicht durch eine entsprechende Unternehmenskultur unterstützt ist. In Zeiten hoher Transformation ist es daher notwendig, dass die Änderung S. Menne (*)  Kiel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_8

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von Strukturen und Prozessen begleitet wird durch eine parallele Änderung der Unternehmenskultur. Die Unternehmenskultur kann und muss einen wesentlichen Beitrag leisten, um Deutschland für die Zukunft zu rüsten. Dem seien die folgenden ­Thesen für eine Zukunftsvision vorangestellt: Das System aus sozialer Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat ist und bleibt ein Erfolgsmodell Der Erfolg deutscher Unternehmen basiert auf den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft, der Demokratie und der Verlässlichkeit und dem Vertrauen in den Rechtsstaat. Eine Zukunftsvision Deutschlands darf diese Prinzipien nicht infrage stellen, sondern muss die Veränderung durch Technologie, Demographie und Umwelt in diese Grundpfeiler integrieren. Wichtig ist, dass diese Prinzipien nicht nur auf einer Metaebene existieren, sondern auch in der Unternehmenskultur verankert sind, sodass die Mitarbeiter diese Prinzipien auch verinnerlichen und kein Paralleluniversum im Unternehmen entsteht, welches von den bürgerlichen Prinzipien abweicht. Multilateralismus ist wichtig Ein weiterer Erfolgsfaktor der Vergangenheit ist die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg. Deutsche Unternehmen sind erfolgreich, weil sie global agieren und sich auf Kunden einstellen können, die auch außerhalb deutscher Grenzen agieren. Dieser Erfolg muss ebenfalls ein Abbild im Unternehmen und in der Unternehmenskultur finden. Wirtschaftlicher Fortschritt und sozialer Fortschritt, die sich früher gemeinsam fortentwickelt haben, haben sich entkoppelt In den letzten Jahren haben sich wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Erfolg voneinander entkoppelt. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich vergrößert, das Vertrauen in Wirtschaft und die Top-Manager der Unternehmen ist verloren gegangen, nicht weil Ungleichheit, sondern weil Ungerechtigkeit empfunden wird. Dies hat negativen Einfluss auf die Unternehmensergebnisse, da Mitarbeiter, die dem Management nicht vertrauen, sich in eine innere Kündigung begeben oder wesentliche Unternehmenswerte infrage stellen. Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft in Europa müssen gemeinsam an der Zukunftsvision arbeiten Unternehmen müssen stärker auch die Vernetzung mit Politik und Wissenschaft suchen. In Deutschland ist die Silobildung stark – die Kultur „Wissen ist Macht“ noch stark ausgeprägt. Zukunftsfähigkeit erfordert die Öffnung für neue Ideen und den Austausch mit Sichtweisen außerhalb der eigenen Unternehmensgrenzen. Die Unternehmenskultur kann und muss einen wesentlichen Beitrag leisten, um diese grundsätzlichen gesellschaftlichen Werte, die zum Erfolg von Unternehmen und damit auch zum Erfolg Deutschlands führen, in den Unternehmen zu verankern und diese aktiv

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zu leben. Dabei sind die Megatrends zu beachten, die gleichzeitig auf die Unternehmen und damit deren Kultur wirken. Hier gilt es diese Trends nicht als eine Bedrohung, sondern als Chancen wahrzunehmen.

2 Megatrends Derzeit lassen sich industrieübergreifende Entwicklungen beobachten, die zu wesentlichen Änderungen in Unternehmen und Gesellschaft führen werden und daher für eine erfolgreiche Zukunftsgestaltung mit einbezogen werden müssen.

2.1 Digitalisierung und neue Technologien Digitalisierung ist ein Schlagwort, unter dem viele Entwicklungen neuer Technologien subsummiert werden. Um diesen Entwicklungen gerecht zu werden, ist sicherzustellen, dass in einem Unternehmen – aber natürlich auch in Politik und Wissenschaft – eine Eindeutigkeit des Diskussionsgegenstandes geschaffen wird. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Internet of Things (IoT), Künstlicher Intelligenz (KI), Data Analytics, Blockchain, Robotics oder Automatisierung, die durchaus schon weit länger existiert, als die sogenannte Digitalisierung. Abhängig vom Gegenstand können unterschiedliche Lösungen entwickelt und Perspektiven aufgezeigt werden. Diese Konkretisierung erfolgt selten. Stattdessen wird häufig der Oberbegriff der Digitalisierung genutzt und eine gewisse Unschärfe beibehalten. Damit werden Ängste geschürt, die einen positiven Umgang mit neuen Technologien verhindern. Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass die neuen Technologien, die unter Digitalisierung subsummiert werden, wesentlichen Einfluss auf die Unternehmen und die Gesellschaft haben werden (Rifkin 2014). Man denke die Einflüsse durch die Einführung der Schrift und des Buchdruckes. Beide haben nicht nur neue Techniken, sondern auch gesellschaftliche Umbrüche gefördert. Wenn davon auszugehen ist, dass 35 bis 40 % von Arbeitsplätzen und Berufen entfallen und völlig neue Arbeitsplätze und Berufsbilder entstehen, hat dies wesentlichen Einfluss auf die Kultur. Ein weiterer Aspekt, der unter der Digitalisierung mit zu betrachten ist, ist die Rolle der sozialen Medien, die die Kommunikation und Arbeit im Unternehmen und in Netzwerken maßgeblich beeinflussen.

2.2 Migration, Demografie und Fachkräftemangel Die Migration von Flüchtlingen hat schon in den letzten Jahren die gesellschaftliche und politische Debatte bewegt. Es ist davon auszugehen, dass aufgrund von Kriegen, Hunger und Umweltentwicklungen weiterhin Menschen in Deutschland Hilfe, Arbeit und wirtschaftlichen Wohlstand suchen. Diese Entwicklung schürt Ängste in der

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Bevölkerung, die befürchtet, Wohlstand zu verlieren. Dies führt dazu, dass auf der politischen Ebene sachliche Lösungen zu einem Einwanderungsgesetz schwer diskutiert werden können. Gleichzeitig sind wir konfrontiert mit einer alternden Bevölkerung und einem Fachkräftemangel. In einem Unternehmen treffen wir Mitarbeiter, die Angst vor der Zukunft haben, da sie nicht wissen, ob sie die neuen Herausforderungen bewältigen oder den Arbeitsplatt verlieren. Gleichzeitig müssen Mitarbeiter aus anderen Kulturen in das Unternehmen integriert werden.

2.3 Neue Arbeitsplatzmodelle Die jüngeren Generationen, die sogenannten „Generationen Y and Z“, haben andere Anforderungen an einen Arbeitsplatz als die Generationen vor ihnen (Scholz 2014). Eine Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit und auch ein sinnstiftendes Arbeiten rückt stärker in den Vordergrund (Moskaliuk 2016). Und hilft sicher auch anderen Arbeitnehmern, die teilweise nur aufgrund der Sozialisierung eher auf Pflichterfüllung als auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf konditioniert waren. Hinzu kommen andere Arbeitsweisen. Man arbeitet mehr in Teams, durchaus virtuell und international. Man arbeitet in anderen Räumen. All das kann maßgeblich auch als kulturbildend eingeordnet werden.

2.4 Neue politische Entwicklungen zur Abkehr von Multilateralismus und westlicher Marktwirtschaft Wenn in der Vergangenheit Globalisierung und Multilateralismus als Erfolgsfaktoren galten, nehmen durch politische Parteien Tendenzen zu, eher auf Protektion und Abschottung zu setzen. Häufig geschieht dies auch mit dem Hinweis auf die Sicherung von Arbeitsplätzen. Dies ist geeignet, nachhaltig negativ auf Unternehmenserfolge und das Wirtschaftswachstum zu wirken. Neben den protektionistischen Entwicklungen gibt es Fragen zu dem politischen Erfolgsmodell der Zukunft. Clemens Fuest (Fuest 2018) weist auf die Verlagerung der Kräfteverhältnisse nach Asien hin und stellt die Frage, ob ein Modell wie der chinesische Staatskapitalismus besser geeignet sein könnte als die westlichen Marktwirtschaften. Hier gilt es anhand eines westlichen Wertemodells Wettbewerbsfähigkeit beizubehalten, um dem Modell der sozialen Marktwirtschaft gerecht zu werden.

2.5 Notwendigkeit der Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility Die Gesellschaft und umweltpolitische Fakten, die durch den Klimawandel verursacht werden, erfordern zukünftig ein nachhaltiges Wirtschaften von Unternehmen. Damit wird nicht nur der Zeithorizont, der zu betrachten ist, erweitert, sondern auch

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das gesamte System, in dem ein Unternehmen agiert, betrachtet. Derzeit herrscht noch Unklarheit darüber, ob Kunden auch bereit sind, für nachhaltige Produkte eine Prämie zu zahlen. Es bestehen aber bereits jetzt gesetzliche Regelungen und Selbstverpflichtungen zur Nachhaltigkeit und den Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals) der UN. Darüber hinaus richten auch Mitarbeiter und Kunden ihre Entscheidungen über Arbeitgeber und Produkte nach den Aussagen und dem Handeln von Unternehmen zur Nachhaltigkeit und der Wahrnehmung von gesellschaftlicher Verantwortung aus.

2.6 Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambivalenz Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz prägen das heutige Unternehmensumfeld. Dadurch ist der Planungshorizont eingeschränkt und schnelle Reaktionsfähigkeit ein Erfolgsfaktor. Hier kann man auch von einer emergenten Komplexität sprechen, die Probleme beschreibt, die nicht linear sind, keine abgeschlossene Problembeschreibung und unklare Beteiligungen aufweisen. (Scharmer 2013). Dies erfordert andere Strategien und Entscheidungsprozesse, heute häufig auch als Agilität in Unternehmen eingefordert.

2.7 Informationszugang Individuen und Unternehmen haben heute schneller Zugang zu Daten und auch wesentlich mehr Daten zur Verfügung. Die Generation Z wird schon als Informationsmanager bezeichnet (Scholz 2014), aber auch Arbeitnehmer und Kunden insgesamt agieren stärker als Informationsmanager. Autorität wird damit nicht mehr über Wissen und Informationszugang definiert. Aber gleichzeitig bedeutet die globale Verfügbarkeit von Daten und Informationen auch eine große Chance für Unternehmen im Hinblick auf Entwicklung von Innovationen und die bessere Bearbeitung von Kundenwünschen.

3 Bedeutung der Unternehmenskultur für den Unternehmenserfolg Das Kulturebenen-Modell des US-amerikanischen Organisationspsychologen Edgar H. Schein (2016) beschreibt Unternehmenskultur anhand dreier Ebenen, die alle einer Änderung bedürfen, um nachhaltig eine Kultur zu ändern. Insbesondere die Ebene der Emotionen und der Werte sind entscheidend, aber auch am schwierigsten zu ändern. Hier stellt sich dann die Frage, welche Grundannahmen und Werte im Unternehmen gelten. Dabei lassen sich folgende Fragen formulieren: Wie gelangt das Unternehmen zur Wahrheit? Ist Wahrheit vielleicht auch das, was zum Ziel führt? Welche Annahmen hat das Unternehmen zur Arbeitsbereitschaft von Menschen? Sind Menschen von sich aus

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motiviert etwas zu leisten, oder vermeiden sie Arbeit und müssen dazu angeregt werden? Misstrauen und Kontrolle versus Vertrauen und Delegation. Steht Pflichterfüllung oder Selbsterfüllung im Vordergrund? In ihrer Studie beweisen Kotter und Heskett (Kotter und Heskett 1992), dass Ausprägung und aktive Gestaltung der Unternehmenskultur messbar positiv auf den Gewinn wirken. Ohne eine passende Kultur können Strategie und Techniken nicht ausreichend wirksam sein. Auch Cameron und Quinn haben in ihrem Modell zu „Competing Values Framework“ verschiedene Unternehmenskulturen identifiziert, die sich an den Dimensionen von Flexibilität versus Stabilität beziehungsweise interner Orientierung versus externer Orientierung bewegen. Dabei bilden sich vier Modelle heraus, die als Hierarchie, Markt, Clan und Adhocracy bezeichnet werden (Cameron und Quinn 2007). Alle diese Modelle sind nicht neu, haben aber von ihrer Gültigkeit nichts einbüßen müssen. Und für alle gilt, bei neuen Einflüssen ist die Unternehmenskultur darauf hin zu prüfen, ob sie noch aktuell und den neuen Umständen entsprechend ist. Mintzberg (Scharmer 2013) setzt auf diesen Strukturkonzepten auf und entwickelt das Modell der Adhocracy weiter. Dabei setzt er auf das gegenseitige Abgleichen und den Ausgleich in vernetzten Beziehungen. Schließlich sprechen Deal und Kennedy (Deal und Kennedy 1984) zum Beitrag einer starken Unternehmenskultur zum Erfolg eines Unternehmens auch von zwei verschiedenen Arten des Kulturwandels. Kulturwandel 2. Grades beschriebt eine Kultur, in der der ständige Wandel ein neues kulturelles Merkmal der Organisation sein muss. Damit ist ein Kulturwechsel die wesentliche Aufgabe der Führung und des Topmanagements. Und es gibt zahlreiche Bemühungen, jedoch auch erhebliche Widerstände, und zwar sowohl auf der Mitarbeiterebene als auch beim Management. Denn Veränderung ist per se zunächst einmal unbequem und erfordert ein Umlernen. Und so beobachten wir, dass die Schlagworte Agilität, Diversität und Fehlerkultur zwar in aller Munde sind, in der Unternehmenspraxis aber keinen Widerhall finden, weil die ungeschriebenen Regeln der Unternehmen seit Jahren anderes fordern.

4 Merkmale der Unternehmenskultur in Deutschland Die Unternehmenskultur in Deutschland weist spezifische Merkmale auf, die sich meines Erachtens von anderen Ländern unterscheiden und maßgeblich auch zum Erfolg in der Vergangenheit beigetragen haben. Es stellt sich die Frage, ob diese Merkmale auch für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens förderlich sind.

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4.1 Prozessorganisation Deutsche Unternehmen sind auch aufgrund eines ausgeprägten Prozessdenkens erfolgreich. Deal und Kennedy (Deal und Kennedy 1984) beschreiben die Prozesskultur als ein risikoaverses Modell, in der Fehler kaum auftreten und wenn sie auftreten, dann ohne große finanzielle Verluste. Diese Kultur beruht aber auf einer peinlichst genauen Befolgung von Vorschriften und stark aufgeprägter Bürokratie. Die Prozesse sind vielfach optimiert und ständig effizienter gestaltet worden. Diese Kultur befördert aber gleichzeitig auch eine Konformität von Management und Organisation, die in einer komplexen und ambivalenten Welt zu wenig Flexibilität zulässt.

4.2 Fokussierung Eine starke Fokussierung war in der Vergangenheit häufig ebenfalls ein wichtiger Erfolgsfaktur. Klare Ziele und eindeutige Vorgehensweisen führten zu einer Konzentration auf das Wesentliche. Dies bedeutet aber auch eine „Vereindeutigung“ von Systemen und Entscheidungen und damit eine mangelnde Fähigkeit Ambivalenz zuzulassen (Bauer 2018). Für Technisierung und Verwaltung ist Einfachheit und Eindeutigkeit bislang ein Vorteil gewesen, denn sie ermöglichen klare Entscheidungswege und Prozesse. Diese Eindeutigkeit ist aber nicht mehr gegeben und somit können Prozess, die auf eindeutig abbildbare Ergebnisse abzielen, in die Irre führen. Darüber hinaus beeinträchtigt Fokussierung auch unsere Fähigkeit, über das gegenwärtig zu lösende Problem hinaus, kritische Informationen aufzunehmen (Bazerman 2013). Schlimmer noch, intensive Fokussierung kann Menschen für Entwicklungen, die normalerweise bemerkt werden, blind machen (Kahneman 2011).

4.3 Optimierung innerhalb bestehender Systeme Viele Unternehmen haben ihre Struktur und Prozesse durch zahlreiche Optimierungen weiter verbessert und auf Effizienz getrimmt. Damit sind aber Freiräume, die Kreativität und Ausprobieren möglich machten, verschwunden. Gleichzeitig gibt es die Tendenz, in Organisationen Regeln und Vorschriften zu entwickeln, da diese vermeintlich eine Absicherung darstellen (Sprenger 2018). Vertrauen wird durch Kontrolle ersetzt. Dies erfordert aber einen Überbau und eine Struktur, die Agilität und Flexibilität zumindest einschränkt, wenn nicht verhindert.

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4.4 Wettbewerbsorientierung Deutsche Unternehmen agieren häufig allein und aus eigener Kraft, teilweise in d­ irekter Konkurrenz zu anderen Unternehmen der gleichen Branche. Zwar kann man die Bildung von Verbänden und Netzwerken mit Zulieferern beobachten, dies sind aber meist Partnerschaften, die nicht zu Entwicklungen außerhalb des eigenen Sektors führen. Dies war in der Vergangenheit ein System, das durch Wettbewerb unter den Unternehmen Anreiz für Verbesserungen bot. Neue Technologien fördern aber Ökosysteme und Megaunternehmen wie Amazon, Apple, Alphabet, Alibaba, die viele Kundendaten sammeln können, um den Kunden darauf bessere Lösungen zur Verfügung zu stellen. Etablierte Unternehmen in Deutschland entwickeln häufig redundant, Forschungsergebnisse werden nicht öffentlich gemacht, öffentliche Forschungsergebnisse zu wenig genutzt und selten geteilt.

5 Bewertung der bestehenden Kultur zur Bewältigung der Zukunft Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz (VUKA) stehen im Widerspruch zur bisher gelebten Unternehmenskultur in Deutschland. Das Denken in Prozessen und deren Optimierung sieht Unsicherheit und Ambiguität nicht vor. Hierarchien fordern klare Entscheidungswege. So beobachtet man mehr und mehr, dass Entscheidungen einerseits nach oben delegiert werden, da wegen der Mehrdimensionalität eines Themas keine eindeutige Verantwortlichkeit mehr herrscht. Gleichzeitig versucht man vor der Entscheidung eine hochprozentige Sicherheit zu erzielen und analysiert bis in die Detailtiefe. Die Ambivalenz wird dadurch jedoch nicht verhindert. Dies führt insgesamt zu verlangsamten Entscheidungsprozessen, wohingegen flexible, individuelle Kundenlösungen nach Schnelligkeit verlangen. Eine Unternehmenskultur muss Entscheidungen unter Risiko ermöglichen und eine entsprechende Fehlerkultur beinhalten.

6 Möglicher Zukunftsbeitrag der Unternehmenskultur Was kann nun die Unternehmenskultur und ihre Änderung für die Zukunft leisten und wie muss diese sich dazu ändern?

6.1 Zulassen von Unsicherheit In einer Umwelt, die volatil, unsicher, komplex und ambivalent ist, muss eine Unternehmenskultur diese Tatsachen akzeptieren. Nach Ashby’s Gesetz (Zimmermann 2016)

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von der erforderlichen Varietät kann ein System, das ein anderes steuert, umso mehr Störungen ausgleichen, je größer seine Handlungsvariabilität ist. Somit müssen Entscheidungen soweit wie möglich an Mitarbeiter delegiert werden, um die erforderliche Schnelligkeit zu erreichen aber auch das vorhandene Wissen optimal zu nutzen. Dies erfordert aber auch eine größtmögliche Transparenz über Unternehmensziele und Zusammenhänge. Notwendig ist auch eine Varianz im Denken. Werden tagesaktuelle Probleme besser mit einem eher intuitiven, regelbasierten Lösungsverhalten bearbeitet, so müssen komplexe Problemstellungen mit einem Lösungsverhalten, welches bewusst nach Abweichungen vom Erwarteten sucht und solche mit einbezieht. Kahneman spricht hier vom System 1 und System 2 (Kahneman 2011).

6.2 Ausrichtung an nachhaltigen Zielen und Corporate Citizenship Viele Investoren förderten bislang eher ein kurzfristiges Denken, Manager treffen Entscheidungen aus ihrer Position heraus und nicht für das Gesamtunternehmen (Bazerman 2013), Mitarbeiter orientieren sich vordringlich an der Arbeitsplatzsicherheit und befürchten, notwendige Änderungen und Innovationen können diese gefährden. All diese führt zu einer kurzfristigen Orientierung und verhindert langfristiges Handeln. Inzwischen haben aber soziale Medien Corporate Social Responsiblity stärker in die Öffentlichkeit gebracht und damit auch die Notwendigkeit herbeigeführt, diese nicht nur als Feigenblatt zu begreifen. Auch bei Investoren lässt sich ein Umdenken erkennen. Daher hilft eine stärkere Ausrichtung an der Nachhaltigkeit auch in der Unternehmenskultur, um eine gesamtheitliche Sicht und Orientierung zu fördern. Eine wirklich nachhaltige Organisation aufzubauen ist aber auch deshalb schwierig, weil es eine bedeutende Umstellung im Hinblick auf Werte und Identität der Organisation erfordert (Henderson et al. 2015).

6.3 Klare Kundenzentrierung Alle Elemente des Unternehmens müssen konsequent am Kunden ausgerichtet sein (Sauberschwarz und Weiß 2018). Neue Technologien ermöglichen aber erfordern auch dass Kunden mit in Entwicklungsprozesse einbezogen werden, um individualisierte Produkte zu kreieren (Peters 2003, 113 ff.). Aber auch die weiteren Prozesse sollten strukturell an den Kundenbedürfnissen ausgerichtet werden, müssen aus Sicht des Kunden gedacht werden (Sprenger 2018).

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6.4 Konsequente Anwendung neuer Technologien Die Unternehmenskultur muss den konsequenten Einsatz und das Ausprobieren neuer Technologien im eigenen Unternehmen fördern. Hier müssen auch Kooperationen mit anderen innovativen Unternehmen gesucht werden, da nur in Kooperationen ein ausreichend großer Überblick und kreative Verbindungen entstehen können. Eine Kultur des Miteinanders wird wichtiger. Spielerisches Lernen und Fehlerkultur sind auch hier entscheidend und dürfen keine Leerformeln sein.

6.5 Transparente und klare Kommunikation Bei der Kommunikation kann nicht mehr nach interner und externer Kommunikation unterschieden werden. Informationen für Kunden stehen gleichzeitig auch Mitarbeitern und Investoren zur Verfügung. Darüber hinaus sorgen die sozialen Medien auch für eine schnelle Verbreitung von Informationen bei Kunden und Mitarbeitern. Die Kommunikation muss im Sinne der Unternehmenskultur möglichst schnell und transparent insbesondere aber auch widerspruchsfrei zu den Unternehmenswerten und Ziele erfolgen. Hier können neue Medien die Unternehmenskultur verstärken, wenn Mitarbeiter mit in die Kommunikation einbezogen werden. So wirkt Kommunikation in beide Richtungen, Mitarbeiter sind an der Unternehmensgestaltung beteiligt und identifizieren sich stärker mit den Zielen und den Ergebnissen. Gleichzeitig lassen sich so Innovations- aber auch Entscheidungsprozesse beschleunigen, da möglichst vollständige und relevante Informationen auf allen Ebenen verfügbar sind.

6.6 Arbeiten in Netzwerken und Partnerschaften Um der Digitalisierung zu begegnen gründen Unternehmen vierfach sogenannte Digital Labs. Diese sind jedoch selten in die Firma integriert. Damit können sie einerseits nicht so erfolgreich sein, wie Start-up-Unternehmen, andererseits können die Unternehmen die Fähigkeiten, die sie bislang erfolgreich gemacht haben, richtig ausnutzen um eine Transformation zu fördern. (Sauberschwarz und Weiß 2018). Innovation muss auf allen Unternehmensebenen ausgeübt werden und darf nicht ausgelagert sein. Unternehmen müssen darüber hinaus die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen stärken. Häufig wird aus Angst vor Wettbewerbsnachteilen oder aus falsch verstandenem Stolz hier nicht auf Ergebnisse anderer zurückgegriffen. Partnerschaften werden aber in Zukunft eine wesentliche Rolle spielen, da sie zum einen Skaleneffekte ermöglichen und eine bessere und breitere Datenbasis liefern. Andererseits fördern Partnerschaften Innovation und ermöglichen unterschiedliche Geschwindigkeiten, wenn beispielsweise Großunternehmen mit Start-up-Unternehmens zusammenarbeiten.

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7 Ansatzpunkte zur Änderung der Unternehmenskultur 7.1 Feststellung von Änderungsbedarf Grundsätzlich werden für die Weiterentwicklung eines vorhandenen Geschäftsmodells andere Organisations- und Kulturformen notwendig als für die Neuentwicklung von neuen Geschäftsmöglichkeiten, die aufgrund von geänderten Umweltanforderungen notwendig werden. Eine der schwierigsten Aufgaben zur Änderung einer Unternehmenskultur ist die Erkenntnis, dass diese tatsächlich nachhaltig geändert werden muss, da die Menschen, die diesen Schritt durchführen fast immer Menschen sind, die in dieser Unternehmenskultur erfolgreich geworden sind. Auch wenn entsprechende Projekte und Mitarbeiterbefragungen zu eindeutigen Ergebnissen führen, schreckt man vor einer tiefgehenden Änderung häufig zurück, da dies die eigenen Werte infrage stellen würde. Darüber hinaus wird kein etabliertes Unternehmen in einem Schlag von einem etablierten System auf ein neues System umschalten können. Es gilt also beide Systeme zumindest zeitweise parallel weiter zu betreiben.

7.2 Bestimmung des Zielbildes Ein Unternehmen muss im Sinne der oben beschriebenen Modelle definieren, welche Kultur erreicht werden und von welcher Ausgangsbasis gestartet werden soll. Hier sind insbesondere die von Schein in der dritten Ebene beschriebenen Werte und Thesen für Erfolg ehrlich zu beantworten. Wenn dieses Zielbild nur den allgemein veröffentlichten Thesen folgt, diese aber nicht m Top Management wirklich verinnerlicht werden, wird eine Erneuerung nicht gelingen.

7.3 Hebel zur Änderung der Unternehmenskultur 7.3.1 Diversität und Inklusion Multikulturelles Arbeiten hilft den Themen Migration, Demografie und Fachkräftemangel zu begegnen und gleichzeitig neue Denkmodelle zu entwickeln. Hier kann die Unternehmenskultur neben der Politik erheblich dazu beitragen, dass ältere Mitarbeiter eine hohe Wertschätzung erfahren (Streibich 2014, S. 189 ff.), junge Mitarbeiter gut ausgebildet werden und Migranten integriert werden. Hier können Politik und Wirtschaft gemeinsam bessere Lösungen finden. Diversität auf allen Ebenen eines Unternehmens stellt sicher, dass auch vielfältige Sichtweisen und Positionen eingenommen werden können, um darauf die jeweils passende Lösung zu entwickeln. Dabei reiht die Diversität, also Vielfalt von Geschlechtern, Nationen, Alter usw. nicht aus. Entscheidend für den Erfolg ist auch die Akzeptanz unterschiedlicher Sichtweisen, also die Inklusion der diversen Parteien (Anderson und Uhlig 2015, S. 195 ff.).

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7.3.2 Rotation Ein regelmäßiger Austausch von Mitarbeitern über Abteilungen, Länder und Aufgaben hinweg hilft den Austausch von Erfahrungen zu befördern und Silodenken zu überwinden. 7.3.3 Kommunikation verschiedener Perspektiven Wichtig ist auch die Kommunikation über die Unterschiede, um zu erkennen, woher verschiedene Sichtweisen kommen, welche Erfahrungen dazu geführt haben und was Vorund Nachteile er jeweiligen Positionen und Lösungen sind. 7.3.4 Ausbildung und Bildung Ausbildung und Bildung der Mitarbeiter muss als Aufgabe des Unternehmens, die über die reine Vermittlung von Informationen und Prozesse hinausgeht, verstanden werden. Dazu gehört die proaktive und vorausschauende Vermittlung neuer Technologien und Arbeitsweisen. Aufgrund der sich schnell und häufig ändernden Technologien wird es anders als in der Vergangenheit notwendig, lebenslang zu lernen und sich auf neue Aufgaben einzustellen Dies fordert das Individuum ebenso wie das Unternehmen. Bislang wird noch zu häufig davon ausgegangen, dass ein einmal ergriffenes Fachgebiet beibehalten werden kann und nur graduelles Lernen von veränderter Software oder eine Oberfläche oder neue Gesetzesauswirkungen oder neue Werkstoffe. Nicht vorgesehen ist ein Wechsel auf ein ganz neues Aufgabengebiet, weil die ursprüngliche Arbeit vollständig entfällt. Notwendig ist hier, Ängste abzubauen und Plattformen zu schaffen, die schon frühzeitig und regelmäßig neue Themen zum Lernen bereitstellt. 7.3.5 Neue Führungsmodelle Machtstrukturen haben sich geändert, heute sind Menschen einflussreich, die viel teilen und mitteilen, nicht solche, die ihr Wissen für sich behalten. Damit funktioniert das Modell von Befehl und Gehorsam anhand einer hierarchischen Befehlskette nicht mehr (Henderson et al. 2015). Der Perspektivwechsel, also das Unternehmen von außen nach innen zu denken, wird zur neuen Führungsaufgabe in der digitalen Welt. Individuelle Zielvorgaben verhindern den Austausch mit und die Förderung von Kollegen, somit muss sich die neue Unternehmenskultur nicht durch Individualleistung, sondern durch Teamleistung auszeichnen (Sprenger 2018). Viele neue Führungsmodelle gehen von eigenverantwortlichen Teams aus (Laloux 2014), Hierarchie und zentrale Steuerung treten in den Hintergrund. Mitarbeiter arbeiten in Netzwerken, die teilweise auch die Unternehmensgrenzen überschreiten. Dies erfordert von Führungskräften eine Führung, die die Vielfalt im Team nutzt und weniger an starren Zielen und Plänen orientiert ist. (Zimmermann 2016, S. 98). Ein neues Organisationsmodell wie „Holocracy“ (Brian J. Robertson 2014) macht jeden Menschen im Unternehmen zu einer Führungsperson, wodurch maximale Agilität und Flexibilität erreicht werden. Die Macht, Entscheidungen zu treffen wird nach den Rollen, die Menschen ausüben verteilt und nicht nach ihren Titeln. Dahinter steht ein Menschenbild eines selbstmotivierten nach Eigenverantwortung strebenden Menschen.

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7.3.6 Strategische Personalplanung Unternehmen müssen langfristig Profile für neue Arbeitsplätze kennen, Planungen dazu erstellen und die bestehende Mitarbeiterschaft auf diese neuen Profile ausbilden. Schon heute wird vielfach erkannt, welche Arbeiten und Arbeitsplätze sowie Berufsbilder verschwinden. Dies wird insbesondere von den Mitarbeitern als Bedrohung empfunden, solange keine Alternativen identifiziert und kommuniziert werden. Für die Bestimmung neuer Arbeitsplätze fehlt es häufig an Fantasie und Ressourcen. Es ist aber dringend geboten, hier frühzeitig tätig zu werden, um zukunftsfähig zu bleiben und entsprechende Mitarbeiter zu identifizieren und gegebenenfalls weiterzubilden. 7.3.7 Schaffung von Experimentierfeldern Innerhalb des Unternehmens müssen Experimentierfelder geschaffen werden, die alle Mitarbeiter regelmäßig nutzen sollten. Hier muss eine Kultur des Ausprobierens ohne Risiko und Angst vor Fehlern ausgebildet werden, welche gleichzeitig als Entwicklungsfeld für Innovationen verstanden werden sollte (Sprenger 2018). 7.3.8 Kooperation und Partnerschaften Die Unternehmenskultur muss das Teilen von Informationen innerhalb aber auch außerhalb des Unternehmens fördern und verinnerlichen. Entsprechende Plattformen, wie beispielsweise Arbeiten mit Free Open Source Software, Forschung mit Open Access hilft bei der Innovation und der Beschleunigung von Entwicklungsprozessen und müssen Eingang in das tägliche Arbeiten finden.

7.4 Praktische Umsetzung Einer der schwierigsten Teile zur Änderung einer Unternehmenskultur ist die Erkenntnis, dass diese tatsächlich nachhaltig geändert werden muss, da die Menschen, die diesen Schritt durchführen fast immer Menschen sind, die in dieser Unternehmenskultur erfolgreich geworden sind. Auch wenn entsprechende Projekte und Mitarbeiterbefragungen zu eindeutigen Ergebnissen führen, schreckt man vor einer tiefgehenden Änderung häufig zurück, da dies die eigenen Werte infrage stellen würde. Wichtig ist dann die klare Definition der angestrebten Kultur mit den entsprechenden Werten und Grundüberzeugungen. Diese muss dann in die Strategie, das Risikomanagement und die Leistungsmessung einfließen, mit messbaren Zielen und entsprechendem Informationswesen. Danach können notwendige Schritte über die Einführung von neuen Techniken, Kommunikation und Arbeitsmodellen hinaus auch der Austausch von Schlüsselpersonen sein, die die ursprüngliche Unternehmenskultur verkörpern. Zu empfehlen ist der ­Aufbau von Nachwuchsführungskräften und die Rotation von Trägern der Zielkultur. Häufig folgt eine Anpassung der Organisation und die Anpassung der Systeme insbesondere der Incentivesysteme.

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8 Fazit Die Unternehmenskultur ist geeignet, den zukünftigen Erfolg von Unternehmen in Zeiten von Transformation positiv zu beeinflussen. Aufgrund der maßgeblichen Änderungen Umwelt und der Geschwindigkeit dieser Änderungen ist eine Anpassung auch von einer bislang erfolgreichen Unternehmenskultur notwendig, die sich aber an den grundsätzlichen gesellschaftlichen Werten orientieren muss. Damit sind Demokratie, soziale Gerechtigkeit und verbindliche Regeln eine Basis, aber auch globales Agieren muss eine Selbstverständlichkeit sein. Das bedeutet auch, Diversität in den Unternehmen abzubilden. Nachweislich sind diverse Unternehmen wirtschaftlich erfolgreicher als Monokulturen. Wichtig ist hier eine Stärkung des europäischen Gedankens, da Deutschland allein nicht konkurrenzfähig sein kann. Hier gilt es auf Unternehmensebene in Partnerschaften zu denken. Auch wenn Konkurrenz zunächst ein natürliches Prinzip ist, zwingen technologische Entwicklungen dazu andere Modelle der Kooperation zu entwickeln. Die Unternehmenskultur muss vermitteln, dass alle an der Erzielung des Erfolgs Beteiligten auch an diesem gerecht partizipieren. Dazu gehören die Investoren als Eigentümer, die Mitarbeiter und auch die Zivilgesellschaft, zum Beispiel die Kommunen, in denen Unternehmen tätig sind. Mit einer entsprechenden tief greifenden Änderung der Werte und Einstellungen kann die derzeitige Stärke der Unternehmen positiv für die Zukunft genutzt werden.

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Simone Menne  begann ihre Karriere bei ITT und wechselte dann zur Deutschen Lufthansa. Nach verschiedenen Positionen im In- und Ausland, darunter CFO bei BMI, wurde sie 2012 als CFO der LH Group ernannt. Von 2016 bis 2017 war sie als CFO bei Boehringer Ingelheim tätig. In beiden Unternehmen war sie verantwortlich für die Gründung des Digital Lab. Frau Menne ist als Aufsichtsrätin bei BMW, DPDHL, JCI und Springer Nature tätig.

Unternehmensentwicklung aus Sicht von Start-ups und Gründern Ramin Assadollahi

Ich habe mit 12 Jahren meinen ersten Chatbot programmiert und dabei gelernt, dass ich bis zu meinem Lebensende Computern die menschliche Sprache und das Denken beibringen möchte. Ich hatte das Glück, dass der Studiengang „Computerlinguistik“ genau zu meinem Abitur angeboten wurde und so habe ich in Stuttgart studiert, wie man Rechnern beibringt, akustische Sprache in Text zu übersetzen, Texte von der einen in die andere Sprache zu übersetzen, Dialoge zu planen, Informationen aus Artikeln zu extrahieren und Zusammenhänge zwischen Konzepten zu verstehen. Ich merkte schnell, dass ich nicht nur wissenschaftlich arbeiten, sondern die Ergebnisse auch zu einer gesellschaftlichen Relevanz führen möchte. Ich gründete ExB Labs, um Computerlinguistik in Produkte zu bringen. Das erste Produkt hätte ein Assistent in Form eines tragbaren Geräts werden sollen, welches lokal Sprache erkennt und die Inhalte später per Dialog navigierbar macht. Dafür gab es in Deutschland kein Venture Capital („Das ist ja Science-Fiction.“). Das zweite Produkt findet sich in nahezu allen Mobiltelefonen wieder: Bei Eingabe einer neuen Nachricht werden ganze, nächste Wörter vorgeschlagen, sodass man Sätze schreiben kann, indem man Wörter antippt statt Buchstaben. Dieses Produkt konnten wir an den damaligen Marktführer Nokia verkaufen. Aus den Gewinnen haben wir dann das dritte Produkt entwickelt: eine „Verstehmaschine“, die Texte, Bilder und strukturierte Daten analysieren kann und Wissen dazu aufbaut. In diesem Kontext haben wir auch deutsches Venture Capital für das weitere Wachstum gewinnen können. Dieses Beitrag soll dem Leser meine Erfahrungen der Reise von der Erfindung zur Unternehmung näherbringen und versuchen, Verbesserungen für Erfinder, Gründer und damit auch Arbeitgeber aus gesellschaftlicher Sicht abzuleiten. Meine Meinung ist, dass wir mehr Erfinder (Menschen, die ein relevantes Problem sehen und über das mentale R. Assadollahi (*)  ExB Labs GmbH, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_9

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Rüstzeug verfügen, es massentauglich nutzbar zu machen), mehr Gründer (Menschen, die eine Innovation wirtschaftlich in einer Unternehmensform umsetzen wollen) und mehr Start-ups (kleine Firmen, die neu gegründet werden mit dem Ziel, die Zahl der Angestellten über die Gründer hinaus hochzuskalieren, um dem Markt nachzukommen) brauchen. Gesellschaftlich wird diese Form der Agilität dringend benötigt, um der hohen Veränderungsgeschwindigkeit der Welt Rechnung zu tragen.

1 Bildung und Qualifikation Vor der Erfindung kommt die Bildung. Nur das qualifizierte Auge erkennt ein Problem und verfügt über Hintergrundwissen, eine Lösung zu erahnen. Es geht nicht mehr um Wissensaufnahme allein. Bildung stellt den Kompass dar, der aus komplexen Situationen führen kann. Dazu gehört, die richtigen Fragen zu stellen, Teamfähigkeit als Kompetenz zu etablieren, sich ein Netzwerk aufzubauen an Menschen, die man befragen kann, Unmöglichkeiten nicht hinzunehmen, kreativ aus Krisen zu navigieren. Wie können wir also in diese Richtung unsere Bildung verbessern? Neben einer Veränderung der Inhalte, wie oben genannt, gibt es weitere Möglichkeiten, Bildung zu verbessern. Es gibt einen Wettbewerb in der Robotik („Robocup“), bei dem Roboter gegeneinander Fußball spielen. Diese Roboter werden von verschiedenen Teams, meist Universitäten, konstruiert und programmiert. Die in diesem Kontext interessante Methode zur fortschreitenden Verbesserung ist, dass die Software vom Gewinnerteam für alle Teilnehmer offengelegt wird, sodass im nächsten Jahr alle Teams mit der besten Software starten können. In meinen Augen könnte das auch in der Föderalismusdebatte eine Möglichkeit darstellen: Die Bundesländer (oder Landkreise, oder usw.) dürfen ihre Art von Bildungsinnovation betreiben, es wird allerdings bundesweit mit dem gleichen Maß gemessen (zum Beispiel Zentralabitur). Nach einer sinnvoll festgelegten Periode wird ermittelt, welche Methoden gut funktioniert haben und diese werden allen Beteiligten, mit einer zu diskutierenden Form der Verbindlichkeit, zur Verfügung gestellt. Ein drittes Thema in der Bildung ist die „Digitalität“ und die aktuelle Diskussion darüber. Meines Erachtens können und sollen sich Medien und Bildung nicht gegenseitig ausschließen, ganz im Gegenteil, die Kosten für Bildung können gesenkt werden, wenn mehr digital gelernt wird. Wenn die Kosten für Bildung sinken, dann wird sie in wesentlich mehr gesellschaftlichen Kreisen erhöht: Unsere Innovationskraft als Aggregat steigt. Höhere Bildung ermöglicht tiefere Innovation, sprich erhöht den möglichen wirtschaftlichen Return on Invest – auch dadurch, dass eine „tiefere“ Idee weniger gleichzeitige Miterfinder auf der Welt haben wird und damit die Konkurrenz geringer sein wird. Darüber hinaus ist digitale Bildung gerade im Kontext von „Self-paced Learning“ ein wichtiges Element zur Akquisition eingangs genannter Fähigkeiten. Zum Beispiel wird auch im späteren Berufsleben digital miteinander im Team gearbeitet, egal ob über Whatsapp, Slack oder Skype. Wie können wir diesen Drang der Jugend, dies auch im Schulalltag zu

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tun in einer Weise nutzen, dass digitale Kommunikation der Benotung nicht entgegenwirkt (wie derzeit), sondern die digitale Koordination sogar zu einer messbaren Kompetenz wird? Ähnliches gilt für adäquates Recherchieren oder auch die „Netiquette“ (welche konstruktiven Umgangsformen muss ich in der digitalen Kommunikation beachten?).

2 Was macht einen Gründer aus? Es gibt Probleme, die zahlreich genug vorkommen, dass es eigentlich eine Firma mit einer Lösung dafür geben sollte. Wenn sich Menschen mit Sachverstand „in der Nähe des Problems“ befinden, gibt es oft genug auch die Möglichkeit, eine Firma zu gründen. Ein Gründer (in diesem Fall in Personaleinheit mit einem Erfinder) ist also jemand, der eine Lösung für ein Problem sieht, für welches es im Moment keine Lösung im potenziellen Markt gibt. Er ist im besten Sinne naiv genug, sich des Problems anzunehmen und hat seine Lösung so klar vor Augen, dass sie ihm nahezu real erscheint. Diese Kraft der zukünftigen Realität stärkt ihm den Rücken, durch alle kommenden Herausforderungen zu navigieren. Als Gesellschaft müssen wir uns fragen, wie wir diese Art von „Träumer“ ausbilden können und wie wir eine Stigmatisierung von Personen verhindern können, bei denen die Realisierung schiefgelaufen ist. Das Internet hat gezeigt, dass „Selbstwertschöpfung“ durch Aufnahme von Wissen allein nicht mehr genügen wird. Die Koordination, das richtige Fragen, Konstruktivität und ähnliche Fähigkeiten sind nicht nur Eigenschaften, mit denen Gründer andere Menschen mitreißen können, sie geben auch ein hohes Maß an Zufriedenheit. Wir brauchen also mehr kleine, neue Firmen. Firmen zu gründen kann die Zufriedenheit massiv stärken, denn viele (wenn auch nicht alle) Menschen sehnen sich nach stärkerer Selbstbestimmtheit. Selbstbestimmtheit führt zu einem höheren Grad an Resilienz, was einer derzeit gefühlt fragilen Gesellschaft wirklich helfen würde. Eine erfolgreiche Gründung kann überdies auch zu höherem Einkommen führen, was nach meiner Auffassung allerdings lediglich ein Nebeneffekt sein sollte. Die Hypothese, dass höhere Bildung zu höherem Einkommen führt, gilt mehr denn je. Aus höherem Einkommen resultieren zusehends mehr Wohlstand und bessere Gesundheit. Die Wege zur erfolgreichen Gründung liegen also in der besseren Qualifikation, meines Erachtens nicht zwingend in einem höheren Ausbildungsgrad, d. h. natürlich können auch nicht studierte Personen erfolgreich gründen. In diesem Kontext ist es wichtig festzustellen, dass wir in einer Zeit leben, in der die Pfade der Weiterqualifikation wesentlich verästelter sind als früher. Dies führt dazu, dass individuellen Bildungsbedürfnissen besser gedient werden kann. Allerdings muss es daher immer mehr zu einer staatlichen oder zumindest gesellschaftlichen Aufgabe werden, die Orientierungsmöglichkeiten zu geben. Vielfach wissen junge Leute nicht, welche Möglichkeiten sie haben und welche gesellschaftliche Wirkung die jeweiligen Berufe haben. Für mich heißt das, dass wir wesentlich mehr darin investieren müssen, dass

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Jugendliche kennenlernen, was sie inhaltlich motiviert, was sie so stark bewegt, dass sie sich selbst in ein Thema einarbeiten können. Wie oben beschrieben, sind die Möglichkeiten, im Internet zu lernen, praktisch unbegrenzt, daher ist es immer wichtiger, die Räume aufzuzeigen, in die man sich entwickeln kann. Ich werde also nicht müde, zu erwähnen, dass Wissensaufnahme allein in keinem der Bildungswege ausreichen wird. Viel wichtiger ist das Reflektieren über ein Problem, zu lernen, die richtigen Fragen zu stellen und zu lernen, dass Teams aus Menschen mit verschiedenen Stärken stärker sind als ein einziger willensstarker Beweger. Mit solchen Menschen werden aus Ideen Start-ups und stabile Unternehmen.

3 Der Schritt aus der Universität Wie aus Forschung Wirtschaft wird: Deutschland ist nach wie vor sehr gut in der Forschung, wenngleich auch nicht Nummer eins auf der Welt. Gleichwohl ist der Weg aus der Forschungseinrichtung in die Wirtschaft hinein nicht leicht. Der Hightech-Gründerfonds ist ein gutes Instrument, das bereits eine Hemmschwelle nimmt: die initiale Finanzierung. Nach meiner Erfahrung ist dies aber nur ein Schritt in ein erfolgreiches Unternehmen. Denn ein Wissenschaftler möchte eigentlich gerne in seiner Materie und seinem Wissensfortschritt bleiben. Zu viele Tätigkeiten, die mit Gründung, Führung und Vermarktung eines Unternehmens zu tun haben, stören ihn zumeist oder reduzieren seine wissenschaftliche Geschwindigkeit. Daher ist es unabdingbar, dass ein sinnvolles Team um die Innovation herum gebildet wird. Inkubatoren haben nach meinem Empfinden diese Aufgabe, sie wird allerdings nicht optimal wahrgenommen. Bisher wird hier mehr auf Vernetzung unter Gründern und Bereitstellung von Räumlichkeiten und Infrastruktur fokussiert, nicht so sehr auf die eigentliche Evolution von Innovation zu Unternehmung. Hierzu müssten zum Beispiel Services etabliert werden wie: • Finden von Förderanträgen • Rechtsberatung zu Gesellschaftsrecht • möglicherweise sogar Steuerberatung und Lohnbuchhaltung • Patentberatung • Methoden-Coaching Gerade Letzteres ist sehr wichtig für die Entwicklung eines größeren Mitarbeiterstammes, wo Wissen und Methoden etabliert, evolviert und eben auch verteilt werden müssen. All dies geschieht nach meiner Erfahrung nicht oder zu wenig. Da Inkubatoren mittlerweile eher als gescheitert gelten, hat sich eine andere Art entwickelt: Coworking Spaces. Hier finden sich Leute freiwillig zusammen, in Inkubatoren wurden sie durch finanziell unterstützende Institutionen ausgewählt. Meines Erachtens sind Coworking Spaces zwar förderlich, eine Start-up-Kultur zu manifestieren, aber gerade oben genannte Wachstumshelfer fehlen. Auch Venture Capitalists wirken auf

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d­ ieser Ebene (in Deutschland zumindest) nicht, denn diese beschränken sich zumeist auf Geld, Netzwerk und Steuerungsmöglichkeiten mittels eines Beirates. Tatsächlich würden gerade oben genannte Wachstumshelfer massiv die Entwicklung des jungen Unternehmens fördern und stabilisieren.

4 Welche Mitarbeiter braucht das Unternehmen in welcher Phase? Am Anfang braucht das Unternehmen Allrounder, idealerweise Leute, die mehrere Aufgaben aus verschiedenen Aktivitätsfeldern bearbeiten können, z. B. sind oft Einkauf, Finanzen, Controlling und Steuern zunächst in einer Hand. Welche gesellschaftlichen Möglichkeiten bieten wir, genau solche Leute zu fördern? Ein Master in Business Administration (MBA) ist eine Methode, aber sicherlich nicht die einzige, zumal sie auch gewisse Notwendigkeiten an finanzielle Ausstattung und Zeitbudget darstellt. Kann die Industrie- und Handelskammer (IHK) hier helfen? Marketing wird oft eher schlecht als recht von den Gründern selbst gemacht, die stark durch ihre Begeisterung für ihre Materie glänzen, aber zu oft nicht über die handfesten (wirtschaftlichen) Vorteile ihres Produkts sprechen. Daher ist ein inhaltlich nicht „gebundenes“ Teammitglied mit Blick auf das Wirtschaftliche, den adressierbaren Markt, Zielgruppen und Preis- und Lizenzpolitik unabdingbar. Welche Möglichkeiten bietet der Staat hinsichtlich Informationsquellen? Wie ist in diesem Kontext unsere Open Data Policy aufgestellt (was kann man kostenlos aus staatlichen Quellen über Märkte regional und überregional leicht finden und verwerten)? Ähnlich ist am Anfang oft Produktplanung, Technologieauswahl, Requirements, Entwicklung et cetera in einer Hand. Für die „fehlenden“ Positionen eignen sich oft erfahrene Menschen, die aus größeren Unternehmen kommen, sich nach einer Verbreiterung ihres Aufgabenumfelds sehnen und wieder mehr gestalten wollen, statt nur zu managen. Wie können wir als Gesellschaft diesen Menschen mehr Sicherheit geben beim Wechsel in ein Start-up, dessen Zukunft ungewiss ist? In einer nächsten Phase sollten sich die Positionen ausdifferenzieren und stärker fokussierte Themen umfassen, sodass die Geschwindigkeit und Professionalität in den Tätigkeitsfeldern faktisch zunimmt. Daneben kommen neue Positionen hinzu, die harmonisierende Wirkung auf die Firmenkultur haben, z. B. Human Resource (HR), Scrum Master et cetera. Diese Positionen kommunizieren mit Mitarbeitern über die funktionalen Einheiten hinweg und bilden eine hervorragende Grundlage, auch für das Management, den Überblick über den emotionalen und motivationalen Zustand der Organisation zu bewahren. Welche Art von „berufsbegleitender“ Förderung für Unternehmer haben wir, dass solche Themen ihre Aufmerksamkeit erreichen? In München bekommen frischgebackene Eltern einen sogenannten „Elternbrief“, der auf das Alter des Kindes abgestimmt ist und sie zyklisch über die nächsten (gewöhnlichen) Entwicklungsschritte ihres Kindes informiert. Wäre ein Äquivalent nicht auch denkbar für Gründer?

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5 Mitarbeiter-Sourcing Aus unternehmerischer Sicht muss Deutschland sich besser einbetten in Europa. Statt Stärkung von Wirtschaftskraft und Außenhandel sollte Solidarität und Harmonisierung von Wohlstand, Arbeit und Bildung in den Vordergrund rücken, denn durch letztere wird auch die Zufriedenheit in ganz Europa besser verteilt. Auch Kleinunternehmen und Start-ups können sich international aufstellen, nicht nur in der Achse USA – Israel, sondern auch und gerade in Europa. Wir sollten aufhören, Gründern zu empfehlen ins Silicon Valley zu gehen. Das Silicon Valley hat eine eigene Kultur, die sich aus drei Faktoren zusammensetzt: Kapital, Köpfe und Kommunikation. Nicht nur gibt es Venture Capital, es gibt viele schlaue Leute, aber es gibt auch die Promotoren, die dieses Gefüge publizieren. Das Valley hat erkannt, dass dieses Geld und diese Köpfe nicht verbraucht werden, sondern lediglich über die Zeit anders allokiert werden. Diese Scheibe können wir uns abschneiden, ohne dorthin zu reisen oder gar überzusiedeln. Was können wir also tun, um unsere eigenen Standorte zu stärken, seien es München, Berlin oder auch Paris? In welcher Form kann Deutschland stolz sein auf das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI GmbH) oder die Max-Planck-Gesellschaft? Auf die eigenen Patente? Sollte es nicht mehr digitale Publikationen über unser eigenes Ökosystem geben als die Webseite „gruenderszene.de“? Auch Meetups werden immer beliebter, auch diese wären sehr förderbedürftig. Meetups führen dazu, dass sich Leute zu einem Thema qualifiziert, aber ungezwungen austauschen, und zwar lokal, d. h. innerhalb einer Stadt. Dies ist die einfachste Form der Ökosystembildung und wird dennoch kaum gefördert. Europa hat ein großes Potenzial an klugen Köpfen, die zum Teil nicht den unternehmerischen Nährboden finden, ihre wirtschaftliche Wirkung zu entfalten. Es ist leichter geworden, Mitarbeiter aus dem Ausland zu gewinnen, allerdings gibt es einige Komplexitäten, die man als Unternehmer oder als Staat adressieren sollte. Die Mitarbeiter auf Plattformen zu finden kostet Zeit, Headhunter sind teuer, Einreise und Visakomplexitäten sind gerade in der Projektarbeit nicht zu unterschätzende zeitliche Risiken. Im europäischen Kontext gäbe es sicherlich noch eine Menge zu tun, diese Hürden abzubauen. Trotz unserer Größe haben wir für unser Unternehmen Wohnungen gemietet, um das Onboarding von Mitarbeitern aus dem Ausland zu erleichtern. Sie können in diesen Wohnungen wohnen bis sie ihre eigene Wohnung gefunden haben und ihre Familie nachholen können. Wäre das nicht auch förderungswürdig? In welcher Form fördert der Staat Sprachschulungen für neue Mitarbeiter, sodass diese sich auch außerhalb des neuen Arbeitgebers integrieren können? Gerade bei Startups konzentriert sich die Value Proposition des Unternehmens im Wesentlichen auf die erfinderischen Gründer. Damit ein skalierendes Unternehmen aus der Erfindung wird, muss mittelfristig die Strategie der Gründer sein, sich selbst überflüssig zu machen. Die Nachhaltigkeit des Unternehmens muss dadurch etabliert werden, dass das Unternehmen als Organ die Innovationsline halten kann. Dies ist sicherlich für viele Erfinder der schwierigste Schritt. Zunächst müssen die Gründer verstehen, dass ihr

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Wert für das junge Unternehmen darin lag, dass sie viele Dinge ganz gut konnten. Klar ist aber auch, dass keine einzelne der Fähigkeiten optimal ausgeprägt sein kann, wenn für das Erlernen weniger Zeit ist als bei einem Spezialisten. Dies bedeutet also, dass zum einen Spezialisten an die Stelle der Einzelfähigkeiten treten müssen und zum anderen, dass der ursprüngliche Inhaber der Funktionen (d. h. der Gründer) dafür sorgen muss, dass es soziale Kohärenz sowie eine klare gemeinsame Vision der Spezialisten geben kann.

6 Wachstum Wenn der Mensch mit der Umwelt interagiert, setzt Nachhaltigkeit ein, wenn höchstens genauso viel an Ressourcen vom Menschen konsumiert wird wie in der Umwelt nachwächst. In die Wirtschaft übersetzt heißt dies, dass wir Vollkostenrechnungen erstellen, die Lieferwege, Energieverbrauch und Umwelteinfluss bei Entstehung wie auch bei Recycling einbeziehen. Für Innovationen und Unternehmen bedeutet dies, dass noch wesentlich stärker über Zuflüsse und Abflüsse nachgedacht werden muss, ähnlich wie es zum Beispiel Apple macht, indem sie ihre Chips selbst entwickeln, statt sie einzukaufen. Apple reduziert die Kosten, behält aber zugleich mehr IP (Intellectual Property, „Geistiges Kapital“ im Sinne von Erfindungen und Patenten) und damit Innovationsvorsprung bei sich bzw. sorgt dafür, dass das Aufholen durch Wettbewerber teurer oder verlangsamt wird. Innovation und damit verbundene Gründung geschieht zwar aus einem bekannten, punktuellen Bedarf heraus, aber erfolgreich bettet sie sich nur in eine Kette (man könnte sie „Value Chain“ nennen, aber auch „Workflow“, je nachdem wo sich die Innovation in der Außenwelt manifestiert) ein. Dies bedeutet, dass zum einen die Abläufe von nutzenden Kunden besser verstanden werden müssen. Zum anderen bedeutet es aber auch, sich während des Wachstums zu überlegen, wie viel der Kette man als Lieferant abdecken kann oder muss. Da durch die Etablierung von Innovation die Preise für das jeweilige Element sinken, muss die Wertigkeit oder die Abdeckung steigen. Gerade hier tun sich kleinere Unternehmen schwer, denn entweder versuchen sie in ihrer Nische zu bleiben oder sie verzetteln sich in der Verbreiterung ihres Angebots. Eine größere Firma macht Innovationsumsatz, alte Innovationen gehen, neue kommen, um die Anpassung an den Markt, die Wettbewerber oder die Zulieferer zu gewährleisten. Diesen Umsatz zu managen ist eine Herausforderung, denn auch dies erfordert umsichtige Investitionsstrategien. Eine Strategie hierfür ist das einfache Neugierigbleiben. Die Gründer und die ganze Firma muss sich zu jedem Zeitpunkt dafür interessieren, wie die Produkte genutzt werden, was Mitbewerber besser machen und vor allem ob eine Disruption bevorsteht, die das gesamte Geschäftsmodell obsolet werden lässt. Diese Neugier führt, richtig nach innen kommuniziert, zu einem ständigen Wandel innerhalb der Firma. Die Firma lernt als Organ und wie bei jedem Organismus muss Input und Output stimmen.

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7 Innovation Sourcing Nicht alles, was für die Generierung der Value Proposition notwendig ist, muss auch selbst gemacht werden (die alte „Make-or-buy“-Frage). Gerade ein komplexerer Wert lebt vom Zusammenspiel vieler Komponenten, die auch von gegebenenfalls vielen Zulieferern eingebracht werden. Nach meinem Empfinden gibt es zwei sehr wesentliche Einflussfaktoren am ­„Eingang“ eines Unternehmens: Human Resources (HR) und Innovation Sourcing. Wenn diese beiden Stellen schlecht besetzt sind, dann ist die mittelfristige Qualität des Unternehmens stark gefährdet. Im Gegensatz zu HR wird Innovation Sourcing in vielen Fällen stark unterschätzt. Mitarbeiter für das Sichten von Innovationen müssen an übermorgen denken, dürfen nicht sofort in Kostenbedenken ersticken, brauchen eine lange Leine und Spielwiesen und müssen scheitern dürfen. In Deutschland unternehmen wir gerne Experimente, wenn wir vorher zu 105 % beweisen können, dass sie auch gelingen. Das kann beim Innovation Sourcing nicht funktionieren. Das Einwirken von Innovation, und sei es nur zur Inspiration, muss in Unternehmen vereinfacht werden. Auch der Euro, der in einen gescheiterten Proof of Concept investiert wurde, ist als wertvoll zu betrachten. Innovation Sourcing kann zum Beispiel auch dadurch geschehen, dass eine größere Firma durch Beobachtung von nationalen Einheiten Best Practices ableitet und dafür sorgt, dass andere nationale Töchterfirmen diese, so möglich, auch umsetzen. Dazu muss Budget bereitgestellt werden. Auch die Verteilung von Innovation kostet etwas und im Vergleich zur Innovation von außen ist sie sogar recht günstig. Innovation Sourcing von außen muss bedeuten, dass der Integration von externer Innovation mit ausreichendem Budget begegnet wird. Experimente sollten offen gestaltet werden, man muss davon lernen können. Gerade wenn große Unternehmen von Start-ups sourcen wollen, dann sollte idealerweise der Einkauf eher etwas auf Abstand gehalten werden. Wenn für ein neues Problem verschiedene Start-ups verschiedene Lösungen anbieten, dann funktioniert die konventionelle Logik des Einkaufs, „Ich brauche drei Angebote, dann nehmen wir das günstigste“, nicht. Denn möglicherweise ist die etwas teurere Lösung, diejenige, die nach einem Proof of Concept tatsächlich funktioniert. Hier muss ein Unternehmen dem Wort der Projektleiter in der Vorentwicklung (der Anbahnung von äußerer Innovation also) mehr Gewicht verleihen als dem Einkauf. Die Etablierung von Innovation durch Startups bei großen Unternehmen basiert allein auf dem aufgebauten Vertrauen in die Leute, die für ihr Thema brennen. Wenn der Einkauf mit dem oben genannten Muster kommt, dann wird der Aufbau des Vertrauens zwischen Projektleiter und Start-up empfindlich gestört. Am Ende ist Vertrauen die Währung für eine erfolgreiche Start-up-Kultur. Gerade im Mittelstands Deutschland und im Kontext der großen laufenden Digitalisierungswelle wäre es äußerst notwendig, diese Interaktion zwischen großen Mittelständlern und Start-ups wesentlich zu vereinfachen. Nicht nur die Politik, sondern auch

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der Kulturwandel innerhalb der Unternehmen ist hier gefragt, und hier hilft nach meiner Erfahrung die Gründung eines „Digital Lab“ oder Ähnliches nur wenig. Diese Labore sind oft mit Kapital ausgestattet, aber leider mit wenig Erfahrung. Die Innovation ist da draußen, warum sie nicht effizienter ein-sourcen, statt zu versuchen, eine eigene „grüne Wiese“ zu pflanzen?

8 Exit oder nicht? Die Idee eines Produkts kann in einer größeren Firma weiterleben, sofern das gekaufte Unternehmen ein wichtiges Teil oder eine Ergänzung zum Portfolio des Käufers darstellt. Sofern der Gründer die Wahl hat (was bei komplexer Struktur von Anteilseignern nicht zwingend der Fall sein muss), sollte er so weit wie möglich dafür sorgen, dass sowohl die Kultur als auch der Kernwert seiner Innovation im Käufer erhalten bleibt. Letztlich ist Kultur das Gut, das die Mitarbeiter bei der Stange hält, d. h. auch der neue Eigentümer muss daran interessiert sein, der gekauften Firma so förderlich wie möglich zu sein, statt mehr Vorschriften einzuführen. Umgekehrt gilt es natürlich, Synergien zu heben und beide Seiten besser zu machen; gerade dies wird natürlich in vielen Fusionen oder Akquisitionen falsch gemacht. Wenn jedoch ein Software-Unternehmen gekauft wird und die zentralen Mitarbeiter mit der Zeit gehen, dann stockt die Innovation in diesem Segment und es wird absterben. Dies kann nicht im Sinne der Käufer sein. Welche Mergers-&-Acquisitions-Kultur (MA) haben wir in Deutschland und wie kann die Politik sie fördern? Wir dürfen nicht vergessen, dass Kapital in Start-ups dann fließt, wenn auch ein Exit in Aussicht steht, denn Initial Public Offerings (IPO) in Deutschland sind eher dünn gesät. Wie kann die Politik die erfolgreiche Akquisition von Firmen ­intensivieren? Ein Qualitätssiegel für den Käufer ist meines Erachtens das möglichst lange Verbleiben der Gründer beim Käufer. Bei freier Wahl wird der Gründer sein Unternehmen nur dann verkaufen, wenn es beim Käufer schneller oder besser wachsen kann als allein. Gründer bleiben (jenseits von vertraglichen Regeln) nur dann im kaufenden Unternehmen, wenn sie ihr „Baby“ wachsen sehen. Oft genug ist dies nicht der Fall. Sofern die Strategie beachtet wurde, dass ein Unternehmen seine Werte langfristig auch ohne die Gründer liefern kann, ist das für den Käufer ein kleineres Problem, denn dann können die funktionsersetzenden Mitarbeiter den Gründer als Team sehr gut ersetzen und der Organismus bleibt beim Käufer intakt. Sollte der Gründer den Käufer verlassen, kann neue Energie freigesetzt werden. Viele Gründer gründen Unternehmen nach dem ersten Verkauf und haben viele Erfahrungen schon gemacht. Ihre Erfolgsaussichten sind meines Erachtens höher, weil sie die Härte der Realität, gerade beim Thema „Product Market Fit“, schon oft genug gespürt haben und wissen, wo sie investieren sollten und wo nicht. Ein Gründer, der erfolgreich verkauft hat, kennt die Abkürzungen, hat ein qualifiziertes Netzwerk und letztlich auch die Abgebrühtheit, die man braucht, das eigene geistige Kind dem Markt so anzupassen,

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dass das Produkt auch zum Markt passt. Nach meiner Erfahrung sind Erstgründer sehr verliebt in ihr Produkt und wollen es weniger verändern als der Markt es bräuchte. Dieser Markt der „Wieder-Gründer“ ist in Deutschland bisher noch kaum bedient, gerade auch, wenn es um Finanzierung geht. Gerade von neuen Firmen gibt es so wenige Exits, dass die Menge an Wieder-Gründern noch gering ist, aber stetig wächst. Wie wäre es also perspektivisch mit einem „Hightech-Wieder-Gründer-Fonds“? Oder anderen Möglichkeiten, das verdiente Geld zu re-investieren statt es zunächst zu versteuern und dann (wenn überhaupt) per Fördergelder wieder zu holen? Dr. Ramin Assadollahi (Jahrgang 1973) hat Maschinelle Sprachverarbeitung studiert und in Klinischer Psychologie promoviert. Während der Promotion gründete er ExB Labs GmbH, deren Texteingabe-Technologie in einem Asset Deal an Nokia verkauft wurde und die derzeit die Cognitive Workbench zur Analyse von Texten und Bildern im Big Data Bereich entwickelt und vertreibt. Er hat zahlreiche Publikationen und Patente im Bereich Natural Language Processing, Cognitive Neuroscience und User Interface verfasst.

Teil VI Nachhaltigkeit

Politikberatung im Kontext Nachhaltigkeit Rainer Walz

Prof. Rainer Walz leitet im Fraunhofer ISI den Competence Center Nachhaltigkeit und Infrastruktursysteme. Vor seiner Tätigkeit für das Fraunhofer ISI war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter der University of Wisconsin und der Enquete-Kommission Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre des Deutschen Bundestags. Geprägt durch diese Erfahrungen an der Schnittstelle von Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft betrachtet er die Politikberatung im Kontext Nachhaltigkeit aus der Perspektive der angewandten Wissenschaft.

1 Einführung In diesem Beitrag werden die Bedingungen für eine erfolgreiche Politikberatung im Themenfeld Nachhaltigkeit thematisiert. Politikberatung wird dabei im Sinne von Policy Advice, d. h. einer formalisierten Beratung, in der wissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse herangezogen werden, verstanden. Fragen des Political Consulting, wie es bei Fragen der Kommunikationsberatung für Deutungshoheit und -richtung von Ereignissen oder bei Wahlkampfkonzepten angewendet wird, bleiben dabei genauso außerhalb des Fokus wie eine nicht-formalisierte Beratung in persönlichen Hintergrundgesprächen. Nachhaltigkeit wird als Herausforderung interpretiert, die Einhaltung planetarer Grenzen der Naturverfügbarkeit unter Berücksichtigung von wirtschaftlichen, sozialen und globalen Entwicklungsprozessen zu gewährleisten. Inhärent für Nachhaltigkeitsprozesse sind damit Vorstellungen über die erwünschte Entwicklungsrichtung.

R. Walz (*)  Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_10

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Zielsetzung des Beitrags ist es, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche wissenschaftliche Politikberatung hinsichtlich Themen, Methoden und institutioneller Bedingungen heraus zu arbeiten. Hierzu wird im ersten Teil die Einbettung der Politikberatung in politische Prozesse thematisiert. Der zweite Teil ordnet ausgewählte Beispiele der Politikberatung für Nachhaltigkeit in dieses Schema der Politikprozesse ein. Im dritten Teil erfolgt dann eine Kondensierung der Erfahrungen hinsichtlich der Erfolgsbedingungen der Politikberatung im Kontext Nachhaltigkeit.

2 Funktionslogik der Politikberatung im politischen Diskurs In einer Multi-Akteurskonstellation politischer Prozesse besteht der Stellenwert der Wissenschaft darin, dass sie einer anderen Funktionslogik folgt als die anderen Stakeholder oder die an ihrer Wiederwahl orientierten Politiker. Einerseits kommt der Wissenschaft die Funktion zu, komplexe, noch ungeklärte Sachverhalte für den politischen Diskurs zu erforschen. Andererseits kann sie dazu beitragen, interessensgeleitete Informationsasymmetrien zwischen den Akteuren aufzuheben. Dabei sollte nicht negiert werden, dass auch die Wissenschaft ein Eigeninteresse aufweist, z. B. an Erhöhung des Renommees der beteiligten Wissenschaftler in der Wissenschaft, aber auch an der Erzielung weiterer Forschungsaufträge. Zentral für die Beurteilung der Rolle der Wissenschaft ist aber zweierlei: Erstens liegen die Eigeninteressen der Wissenschaft eher quer zu den Konfliktlinien des Gegenstands der Politik. Zweitens besteht das System der Wissenschaft ja gerade darin, dass durch die wissenschaftliche Community eine Überprüfung wissenschaftlicher Aussagen stattfindet. Hierdurch wird auch dem Spielraum der politikberatenden Wissenschaftsakteure, unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit Interessen einseitig zu vertreten, gewisse Grenzen gesetzt. Denn in dem Ausmaß, in dem Aussagen ihre Wissenschaftlichkeit verlieren, sinkt auch die besondere Legitimation der Wissenschaftsvertreter im Politikdiskurs, und sie werden eher als normale Stakeholder wahrgenommen. Umso wichtiger ist es, Aussagen der wissenschaftlichen Politikberatung auch transparent zu machen. Wissenschaftliche Politikberatung ist in allen Phasen des Politikprozesses, wie sie das Konzept des Policy Cycles beschreibt (Abb. 1), von Bedeutung. Genauso wichtig wie Fragen der Formulierung und Implementierung von Policies sind die vorgelagerten Phasen der Identifikation von Problemen und das Agenda Setting. Gerade bei umweltbezogenen Nachhaltigkeitsfragen bestehen hier enorme Unsicherheiten, bedingt durch die Komplexität naturwissenschaftlicher Zusammenhänge und ihre Verwobenheit mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen. Aber genauso zentral ist die Frage von Politikberatung bei der Evaluierung bestehender Politiken, die zu ihrer Terminierung oder Adjustierung führen.

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Abb. 1   Policy Cycle der Umweltpolitikanalyse. (In Anlehnung an Böcher und Töller 2012, S. 454)

3 Beispiele für Politikberatung in unterschiedlichen Phasen des Policy Cycles In diesem Abschnitt werden für die unterschiedlichen Phasen des Policy Cycles jeweils Beispiele aus der Nachhaltigkeitsdiskussion thematisiert, an denen sich der Beitrag und Voraussetzungen, aber auch die Grenzen einer wissenschaftlichen Politikberatung verdeutlichen lassen. Da gerade die Klimaproblematik ein Paradebeispiel für Nachhaltigkeit ist, das durch zahlreiche Politikberatungsprozesse gekennzeichnet ist, konzentrieren sich die herangezogenen Beispiele auf dieses Politikfeld.

3.1 Problem-Identifikation und Definition Da Umweltprobleme vielmals nicht offensichtlich sind, kommt der Politikberatung hier eine wichtige Aufgabe zu. In der heutigen Nachhaltigkeitsdiskussion nimmt der Klimaschutz eine zentrale Rolle ein. So haben die Staaten im Pariser Abkommen vereinbart, Maßnahmen zur Begrenzung der globalen Erwärmung auf weniger als 2 Grad durchzuführen. Allerdings war der Klimaschutz vor 1990 ein weitgehend unbekanntes und unbearbeitetes Politikfeld. Das Beispiel des Klimaschutzes und die Arbeitsweise des IPCC verdeutlichen dabei institutionelle Zusammenhänge und Herausforderungen für die wissenschaftliche Politikberatung in der Problemdefinition.

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Die wissenschaftliche Identifikation des Klimaproblems steht vor mehreren Herausforderungen: • die Folgen werden sich erst langfristig einstellen, • das Klimasystem ist extrem komplex und durch zahlreiche Nicht-Linearitäten und Rückkopplungseffekte gekennzeichnet, • die Globalität des Problems macht eine Überprüfung und einen Vergleich der Entwicklung von Teilsystemen unmöglich, zumal im Zeitablauf auch andere Veränderungen von Rahmenbedingungen Einflüsse auf die Durchschnittstemperatur haben können. All dies führt dazu, dass die Klimaproblematik eher einem Problemtypus angehört, der als Mode 2 der Wissensproduktion (Nowotny et al. 2003) umschrieben wird: Die Unsicherheiten sind groß, das Wissen ist unvollständig und ein naturwissenschaftlicher Beweis durch Laborversuche kann nicht gelingen. Wissenschaftliche Politikberatung muss sich unter diesen Bedingungen verstärkt auch damit beschäftigen, bestehendes Wissen zu konsolidieren und trotz bestehender Unsicherheiten zu bewerten. Eine derartige Sichtung und Bewertung kann allerdings durch einzelne Wissenschaftler nicht mehr allein erfolgen. Im Rahmen des IPCC hat sich ein wissenschaftlicher Prozess etabliert, der zu Kommunikationsprozessen zwischen den Wissenschaftlern und der Formulierung von Qualitätsmaßstäben für die dabei einzubeziehende Literatur geführt hat (Pearce et al. 2018; Siebenhüner 2002). Die Aussagen des IPCC, dass der Klimawandel mit großer Sicherheit auf anthropogene Ursachen zurückzuführen ist, war eine der zentralen Voraussetzungen, um die schwierigen Klimaverhandlungen überhaupt starten und – nach langwierigen Verhandlungen – bis zum Pariser Abkommen kommen zu lassen. Gleichzeitig wird es durch diese Kommunikationsprozesse überhaupt erst möglich, Bewertungen im Namen der Wissenschaft abzugeben und damit eine weitaus höhere Glaubwürdigkeit zu erzielen, als es einzelnen Wissenschaftlern möglich wäre.

3.2 Agenda-Setting Aufgabe der wissenschaftlichen Politikberatung beim Agenda-Setting ist die Beschreibung und Bewertung einer komplexen Umweltsituation in einer Form, wie sie in den politischen Diskurs eingebracht werden kann. Wichtige Aspekte sind hier die Dringlichkeit der Reduktion einer Umweltbelastung und die Ableitung von Umweltzielen, denen ganz erhebliche Bedeutung für eine erfolgreiche Umweltpolitik zugesprochen wird (Jänicke und Lindemann 2010). Aus methodischer Sicht wird am Beispiel der Festlegung eines anzustrebenden Umweltzustandes die Bedeutung einer interdisziplinären Zusammenarbeit in der Politikberatung, aber auch die Verschränkung von ethischen Wertsetzungen und Wissenschaft deutlich. Hierbei wird zunächst auf die Unsicherheiten

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bei der Identifikation und Quantifizierung der Umweltwirkungen eingegangen, danach auf deren Bewertung und Ableitung von Umweltzielen (vgl. hierzu ausführlicher Walz 2009). Bevor eine Bewertung einer Umweltbelastung als problematisch erfolgen kann, müssen zunächst die Schadenskategorien identifiziert und die Schäden in physischen Einheiten quantifiziert werden. Daraus ergeben sich hohe Informationsanforderungen und Datenprobleme. Oft bestehen naturwissenschaftliche Wissensgrenzen bei den Dosis-Wirkungs-Beziehungen: dies gilt z. B. bei experimentell schwer nachweisbaren Langzeiteffekten. Ebenfalls große Schwierigkeiten bereiten Abschätzungen der Regenerationsfähigkeit der Umwelt oder der Eintrittswahrscheinlichkeiten von technischem Versagen, das Umweltschäden nach sich zieht. Weitere Probleme ergeben sich aus der mangelnden Datenverfügbarkeit oder aus Zurechnungsproblemen. Aus diesen Gründen wird auch die These einer monetären Unterschätzung der Umweltschäden aufgestellt. So sind bei den Folgen einer Klimaerwärmung neben direkten Wirkungen wie Ernteausfällen oder Landverlusten auch indirekte Folgewirkungen wie krankheitsbedingte Todesfälle oder Zunahme der Migration zu quantifizieren. Daraus wird deutlich, dass es sich jeweils um ganz unterschiedliche Problemfelder handelt, bei deren Analyse die unterschiedlichsten Disziplinen gefordert sind. Da sich die Datenprobleme bei der Quantifizierung der indirekten Folgewirkungen akkumulieren, besteht hierbei jeweils eine Herausforderung darin, zu entscheiden, welche der Folgewirkungen noch empirisch belastbar genug sind, um mit in die Analyse aufgenommen zu werden. Derartige Entscheidungen können aber sinnvollerweise nur getroffen werden, wenn die mit den Methoden der einzelnen Disziplinen verbundenen Unsicherheiten systemisch betrachtet werden. Dies setzt eine gegenseitige Kenntnis der beteiligten Disziplinen und mithin gelebte Interdisziplinarität voraus. Bei der Bewertung der Umweltschäden und der Ableitung von Politikzielen gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. Entsprechend den disziplinären Vorstellungen der schwachen Nachhaltigkeitsökonomik ist z. B. ein Klimaschutz in dem Ausmaß anzustreben, in dem der Nutzen der Klimapolitik ihre Kosten übersteigt. Hierbei wird eine Gegenüberstellung von Nutzen und Kosten in monetarisierter Form angestrebt. Die Kosten des Klimaschutzes ergeben sich entsprechend den volkswirtschaftlichen Auswirkungen im Vergleich zu einem Referenzszenario ohne Klimaschutz und signalisieren damit gleichzeitig die Machbarkeit eines entsprechenden Politikziels. Der Nutzen des Klimaschutzes besteht in den vermiedenen (externen) Kosten der Klimaänderung. Bereits mit diesem Ansatz ist eine normative Grundvoraussetzung verbunden (Ott und Döring 2008; WBGU 1999) mit Ausführungen zur Umweltethik). Denn die Verfahren einer Monetarisierung gehen bei der Bewertung sehr stark von den individuellen Einschätzungen heute lebender Individuen aus. Aus umweltethischer Sicht spiegelt eine derartige Vorgehensweise ein sehr stark anthropozentrisch geprägtes Verständnis wider. Demgegenüber verweisen stärker biozentrisch orientierte Wissenschaftler darauf, dass der Wert der Umwelt auch unabhängig von deren Bewertung durch den Menschen bestehe. Entsprechend müssten Umweltziele nicht aus einer Kosten-Nutzen-Abwägung

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heraus, sondern aus der Aufrechterhaltung der Funktionen der Umwelt abgeleitet werden. Die Wahl der grundlegenden Methodik einer Kosten-Nutzen-Analyse reflektiert also bereits normative Grundvorstellungen. Aber auch bei der Anwendung einer Kosten-Nutzen-Analyse werden die Politikberater mit weiteren ethischen Herausforderungen bei der Berechnung des Nutzens des Klimaschutzes konfrontiert. So treten die Klimafolgen erst mit erheblicher Zeitverzögerung auf, während die Kosten des Klimaschutzes bereits heute zum Tragen kommen. Um beide im Sinne einer Kosten-Nutzen-Analyse vergleichbar zu machen, muss der Wert der künftigen Schäden auf heutige Wertansätze transformiert werden. Üblicherweise werden in der Zukunft liegende Werte durch eine Abdiskontierung auf den heutigen Wert transformiert. In Abhängigkeit der Höhe der gewählten Diskontrate gehen weit in der Zukunft liegende Klimafolgen nur zu einem Bruchteil ihres Wertes in eine heutige Kosten-Nutzen-Analyse ein. Aus generationenübergreifender Sicht lässt sich eine positive Diskontrate durch die soziale Zeitpräferenz begründen, die berücksichtigt, dass bei steigendem Konsumniveau der Nutzen zusätzlichen Konsums abnimmt ­(Schwermer 2012). Bezogen auf den Klimaschutz impliziert diese Sichtweise allerdings, dass bei einem Wirtschaftswachstum künftigen Generationen höhere Klimaschäden deswegen zugemutet werden können, weil sie stattdessen mehr Konsummöglichkeiten zur Verfügung haben. Ob, und wenn ja in welchem Ausmaß, Konsum und Klima aber für künftige Generationen überhaupt entsprechende Substitute darstellen, ist eine normative Grundentscheidung, die heute lebenden Wissenschaftler treffen müssen, wenn sie über die anzusetzende Höhe der Diskontrate in ihren Analysen entscheiden. Ähnlich gelagert ist die Problematik der Bewertung von erhöhten Wahrscheinlichkeiten zusätzlicher Todesfälle durch den Klimawandel. Sie werden vor allem in den Entwicklungsländern auftreten, während die Verursacher des Klimawandels in den Industrie- und zunehmend den Schwellenländern lokalisiert sind. Üblicherweise setzen die Bewertungsmethoden bei Todesfällen an indirekten Verfahren an, z. B. an der Bereitschaft, ein höheres Risiko eines Todesfalls zu akzeptieren, wie es sich z. B. in Lohnzuschlägen für gefährliche Arbeit manifestiert. Nach diesen Methoden ist die Bewertung von Todesfällen eine Funktion des erzielbaren Einkommens. Daher liegt der monetarisierte Wert eines Todesfalls in den Industrieländern auch in etwa um den Faktor 100 über dem in den Entwicklungsländern. Damit erhält aber das Auseinanderfallen von Verursachern und Hauptbetroffenen eine besondere Dimension, da die hautsächlich in den armen Ländern vermiedenen Todesfolgen einen zentralen Nutzen des Klimaschutzes darstellen. Dies wirft erhebliche normative Grundfragen auf: Kommt es zu zentralen Verzerrungen in einer Kosten-Nutzen-Analyse des Klimaschutzes, wenn einer Perspektive der Kosten aus Sicht der Industrieländer eine solche der Nutzen aus Sicht der Entwicklungsländer entgegengesetzt wird? Gerade wenn die erzielten Ergebnisse unreflektiert in eine Kosten-Nutzen-Analyse einfließen, mit der über die Vorteilhaftigkeit einer Klimapolitik entschieden werden soll, wird aus beobachteten faktischen Bewertungen (den sich in unterschiedlichen Ländern ergebenden Wertansätzen) auf eine

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gewünschte Situation geschlossen. Insofern ist dieses Vorgehen auch hinsichtlich der Problematik eines naturalistischen Fehlschlusses zu hinterfragen. Die genannten normativen Probleme der Diskontierung und Bewertung von Todesfällen gewinnen ihre Problematik vor allem daraus, dass es sich bei den Nachhaltigkeitsproblemen um globale und weit in die Zukunft reichende Probleme handelt. Gerade dies lässt bei der Übertragung des ökonomischen Bewertungsansatzes, der ursprünglich für regionale und nationale Entscheidungszeiträume mit eher mittelfristiger Zeitperspektive entwickelt wurde, auf langfristige Probleme der Nachhaltigkeit verstärkt normative Grundfragen an Bedeutung auftreten, die in der bisherigen Anwendung der Methoden eine geringere Rolle spielten. Abhilfe kann hier nur eine Reflexion der Politikberater über die normativen Grundlagen der angewendeten Methodik, eine Transparenz über die getroffenen Abwägungen sowie die Vornahme von Sensitivitätsanalysen, die unterschiedliche Wertannahmen reflektieren, schaffen.

3.3 Formulierung von Politik Die Formulierung von Politik steht vor der Herausforderung, dass die Handlungsspielräume hier unklar sind und die Handlungsempfehlungen nicht auf der Hand liegen. Andererseits wird Politikberatung hier mit einem Geflecht von politischen Vorfestlegungen und Interessen konfrontiert, die die Rezeption wissenschaftlicher Politikberatung in den Hintergrund drängen können. Ein wichtiges Beispiel für den Umgang mit einer derartigen Situation bildet die Diskussion im Rahmen der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ des deutschen Bundestags (Kords 1996). Enquete-Kommissionen sind hierbei eine institutionalisierte Form der Politikberatung, bei der Wissenschaftler direkt in Austausch mit Politikern treten und bei denen ein Eingang in die Politik durch die geschäftsordnungsgemäß vorgeschriebene Behandlung der Ergebnisse im Parlament vorgesehen ist. In der angesprochenen Enquete-Kommission stand die Diskussion über die anzustrebende Klimapolitik im Energiebereich vor der Herausforderung, nicht durch die nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl heftig geführte Kontroverse überlagert zu werden, zu der sich die verschiedenen politischen Parteien bereits positioniert hatten. Zentral war hier die wissenschaftliche Vorgehensweise, die Handlungsspielräume unter verschiedenen Rahmenannahmen herauszuarbeiten, die gerade die politisch umstrittenen Festlegungen widerspiegelten. Entsprechend wurden Szenarien entwickelt, die Klimapolitik unter den Bedingungen eines schnellen und mittelfristigen Ausstiegs, aber auch bei einem Festhalten an oder einem Ausbau der Kernenergie skizzierten. Unter den jeweiligen Politikberatern waren auch jeweils Wissenschaftler und Institute vertreten, die in früheren Analysen auch ganz unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Kernenergiedebatte vertreten hatten. Zentrales Ergebnis dieser Analysen war, dass – unabhängig von den Rahmenannahmen (und den persönlichen Positionierungen der Wissenschaftler bezüglich der Kernenergie als solche) – sich in allen Szenarien die rationelle Energienutzung

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und der Ausbau erneuerbarer Energien als zentrale Handlungsoption zeigten. Folglich wurde von der Enquete-Kommission auch einstimmig der Beschluss gefasst, dass diese beiden strategischen Ansätze höchste Priorität im Klimaschutz hätten. Gerade diese einstimmige Empfehlung über alle sonstigen politischen Differenzen der Positionierung hinweg, zusammen mit einer äußerst erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit, machte dann auch den Erfolg dieser Enquete-Kommission aus, die ganz maßgeblich die Positionierung Deutschlands bezüglich des Klimaschutzes bestimmte. Dass derartige Vorgehensweisen einem zentralen Muster folgen, wird auch durch die neueren Entwicklungen im Klimaschutz ersichtlich. So wird in geführten Interviews mit Beteiligten an den Klimaverhandlungen von Paris auch die Vorgehensweise im fünften Assessment-Report der WG III des IPCC hervorgehoben. Gerade das Aufzeigen unterschiedlicher möglicher Pfade (Adaptation and Mitigation Pathways) habe es zentral befördert, dass sich die Staaten auf das Abkommen einigen konnten. Für die Handlungsspielräume und Handlungsempfehlungen von Umweltpolitik ebenfalls ganz zentral sind die damit verbundenen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Unter dem Schlagwort Impact Assessment treten entsprechende Diskussion inzwischen unweigerlich in nahezu jeder umweltpolitischen Diskussion auf. Die Klimapolitik macht hier keine Ausnahme. Zahlreiche Studien über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Klimapolitik insgesamt, aber auch von Teilbereichen wie dem Ausbau erneuerbarer Energien (Duscha et al. 2016), dem Umstieg auf Elektromobilität (Wietschel et al. 2017) oder den Anpassungserfordernissen von Kreislaufwirtschaftskonzepten (Walz 2011) belegen dies. Die Methodenreflexion über die Durchführung entsprechender Analyse (Walz und Schleich 2009) zeigt auf, dass hier jeweils unterschiedliche Wirkungsmechanismen berücksichtigt werden müssen. So müssen unterschieden werden: • Preis- und kostenbedingte Wirkungsmechanismen, wie die durch Klimaschutz verursachten Mehrkosten, die Realisierungsmöglichkeiten eines no-regret-Potenzials, sowie die Faktorsubstitutionen auf Grund einer veränderter Bepreisung von Energieträgern. • Nachfrageseitige Wirkungen, die aus einer Veränderung vom Niveau der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, aber auch von Veränderungen in der Nachfragestruktur resultieren, und die über Vorleistungsbeziehungen auf die Nachfrage nach Importen und auf die Bedeutung von Sektoren mit unterschiedlicher Arbeitsintensität und unterschiedlichen Qualifikationsanforderungen einwirken. • Innovationsbedingte Wirkungsmechanismen, die sich auf die Rückwirkungen der Klimapolitik auf die Innovationsgeschwindigkeit, aber auch auf die Generierung von zusätzlichen Exportmöglichkeiten durch die Etablierung eines First-Mover-­ Advantages beziehen. Diese einzelnen Wirkungsmechanismen sind nun aber jeweils zugleich Gegenstand einzelner Teildisziplinen. Auch die von Makroökonomen für die Analyse

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der ­ entsprechenden Fragestellungen verfügbaren Wirtschaftsmodelle sind dadurch gekennzeichnet, dass sie jeweils bestimmte Wirkungsmechanismen stärker in den Vordergrund rücken als andere, bzw. einzelne (wie z. B. innovationsbedingte FirstMover-­Advantages) überhaupt nicht berücksichtigen. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn in den einzelnen Studien unterschiedliche Folgen des Klimaschutzes ausgewiesen werden. Politikberatung muss hier selbstkritisch anerkennen, dass die eigenen Modellergebnisse immer nur vor dem Hintergrund der methodisch bedingten Berücksichtigung der unterschiedlichen Wirkungsmechanismen Aussagekraft beanspruchen können. Abhilfe kann auch hier wiederum eine systematische Einordnung der eigenen Ergebnisse in eine Gesamtschau der Bestehenden bieten. Hieraus lässt sich dann z. B. für Deutschland ableiten, dass bei allen Unterschieden im Einzelnen eine mittelfristig ambitionierte Klimapolitik eher nur moderate Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation haben dürfte, Klimapolitik also weder als Jobkiller noch als Beschäftigungswunder anzusehen ist (vgl. Abb. 2). Aber auch die Reflexion über die Wirkungsmechanismen, die auch in den übrigen Modellanalysen ausgeblendet bleiben, ist eine zentrale Voraussetzung für eine umfassende Bewertung. Insgesamt sind also auch hier methodische Selbstreflexion und vertieftes interdisziplinäres Verständnis gefordert.

3.4 Implementierung von Politik Die Formulierung und Implementierung von effektiven und effizienten Politiken ist ein Kernziel der Implementierung von Umweltpolitik. Andererseits trifft hier wissenschaftliche Politikberatung auf einen Politikdiskurs, der durch Eigeninteressen der Beteiligten gekennzeichnet ist. Denn politische Entscheidungen folgen nicht dem fachlich gebotenem, sondern – dies ist gerade eine zentrale Botschaft der politischen Ökonomik – werden durch die bestehenden Interessenskonstellationen geprägt. Die politische Organisierbarkeit betroffener Kreise und ihr Drohpotenzial bestimmen nach der Logik kollektiven Handelns von Olson (1965) die Durchsetzungsfähigkeit der Interessen. Die Berücksichtigung der diesbezüglich durchsetzungsstärksten Interessengruppen wird damit zu zentralen Designvariablen politischer Maßnahmen. Entsprechend werden Tendenzen zur Durchführung einer Symbolpolitik gesehen, die den Wählern zwar den Anschein von Aktivität vermitteln soll, aber andererseits durch mangelnde Stringenz keiner der durchsetzungsstarken Interessengruppen viel zumutet (Michaelis 1996). Aber auch bei der Ausgestaltung einzelner Politikinstrumente kommen derartige Überlegungen zum Tragen. Zentrales Ergebnis umweltökonomischer Analysen ist die Aussage, dass marktwirtschaftliche Instrumente des Umweltschutzes wie Umweltsteuern oder handelbare Verschmutzungsrechte deutliche Effizienzvorteile aufweisen. Wissenschaftliche Politikberater trifft hier die Frage, ob denn von diesen Effizienzvorteilen in der Realität der politischen Umsetzung überhaupt noch viel übrig bleibt. Sieht zum Beispiel die Theorie der Ökosteuer einen einheitlichen Steuersatz vor, kommt es in der Realität zu vielfältigen Anpassungen an politische „Sachzwänge“. Das Beispiel

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Abb. 2   Überblick über die Beschäftigungswirkungen von Klimaschutz in Deutschland, aktualisierte Version von Walz und Schleich (2009, S. 41)

der in Deutschland eingeführten Ökosteuer liefert hier viele Beispiele: unterschiedliche Belastung der Energieträger, geringerer Steuersatz für das Produzierende Gewerbe und spezielle Vergünstigungen für einzelne Branchen, sowie einem Ausschluss von besonders schlecht organisierbaren Bevölkerungsgruppen vom Kreis der durch die Verwendung des Steueraufkommens Begünstigten. Anstelle eines einheitlichen Steuersatzes, der zum

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Ausgleich der Grenzvermeidungskosten (GVK) führt, kommt es in der Realität der Ökosteuer zu ganz unterschiedlichen Grenzsteuersätzen, die dazu führen, dass die realisierten Grenzvermeidungskosten stark differieren (vgl. Abb. 3). Damit wird das Gegenteil dessen implementiert, was das Kriterium der Effizienz erfordern würde. Für wissenschaftliche Politikberater stellt sich hier die Herausforderung, in welchem Ausmaß sie zur Anpassung theoretisch abgeleiteter Vorschläge bereit sind. Einerseits verhallen ihre Vorstellungen ungehört, wenn sie nicht auf die politischen Notwendigkeiten einer Umsetzung eingehen, d. h. auf die Berücksichtigung durchsetzungsfähiger Partikularinteressen. Andererseits setzen sie sich durch zu viel Nähe zum Politikprozess der Gefahr aus, zum reinen Erfüllungsgehilfen machtpolitischer Kalküle zu werden, und nicht nur ihre Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit zu verlieren, sondern zudem auch ineffizienten Ergebnissen Vorschub zu leisten. Letztendlich liegt hier ein unauflösbares Spannungsfeld vor (Walz 2009). Die einzelnen Wissenschaftler müssen jeweils für sich entscheiden, welches Ausmaß an “politischer Realität” sie für wissenschaftlich vertretbar halten. Allerdings spielen hier auch die Funktionsbedingungen für wissenschaftlichen Erfolg eine wichtige Rolle. Wertfreiheit in der wissenschaftlichen Begründung sowie die Trennung von wissenschaftlichen Sachaussagen und Wertungen sind seit dem Werturteilsstreit hoch gehaltene Prinzipien. Wenn Beschäftigung mit den Bedingungen einer praktischen Anwendung umweltpolitischer Vorschläge mit geringem wissenschaftlichem Renommee verbunden ist, kann nicht ausbleiben, dass sich Wissenschaftler eher zögerlich mit der Politikberatung beschäftigen. Gleichzeitig fehlt es aber dann auch an einer geeigneten wissenschaftlichen Community, die das Spannungsverhältnis aus politischen und fachlichen Erwägungen anerkennt und

Vermeidungskosten

GVK Normal

GVK Prod. Gew.

GVK energieintensiv NormalSteuersatz

ermäßigter Steuersatz Prod. Gewerbe Steuersatz Spitzenlastausgleich = teuerste realisierte Vermeidungsopon

Abb. 3   Stilisierte Wirkungsweise der deutschen Ökosteuer?

Energieverbrauch

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Qualitätsstandards für wissenschaftliches Arbeiten in diesem Kontext erarbeitet. Auch erschwert die Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen und ­Teildisziplinen eine übergreifende Beurteilung. Denn die Beurteilung z. B. einer Ökosteuer aus Sicht der effizienzorientierten Kriterien der Volkswirtschaftslehre ist nur eine mögliche Sichtweise. Aus Sicht der Politikwissenschaft könnte z. B. – unabhängig von der Detailausprägung des Instruments – der in einer Bepreisung der Umwelt zum Ausdruck kommende Signalcharakter für eine langfristig ausgerichtete Umweltpolitik bei der Bewertung im Vordergrund stehen (Jänicke und Lindemann 2010). Festzuhalten bleibt, dass Erkenntnisse einer Teildisziplin für eine erfolgreiche Politikberatung nicht ausreichen. Für wissenschaftliche Politikberater ist ein transdisziplinäres Verständnis ihres Gegenstands erforderlich: Es erfordert Kenntnisse über politische Prozesse, die mit den Gestaltungsoptionen verbundenen politökonomischen Problemlagen bis hin zur Logik einer dynamischen Politikentwicklung. Gerade in einer längerfristigen Perspektive sind die Rückwirkungen von Politikmaßnahmen auf die Veränderung der politischen Ökonomie, die in der Politikwissenschaft unter dem Schlagwort der Policy Feedbacks (Jordan und Matt 2014) thematisiert werden, von großer Bedeutung.

3.5 Evaluierung und Policy Learning Eine nüchterne Evaluierung der Wirkung politischer Maßnahmen ist für eine erfolgreiche Zielerreichung unerlässlich. Das Beispiel der Evaluierung der Erneuerbaren Energieförderung, gerade im Hinblick auf ihre Innovationsförderung, zeigt die Herausforderungen in diesem Bereich auf. Beim Umbau der Energiesysteme kommt den Erneuerbaren Energien eine entscheidende Rolle zu. Der Erfolg der Energiewende wird dabei ganz wesentlich von dem Anstoßen und Verbreiten von Innovationen abhängen. Daher ist erklärtes Ziel des Erneuerbare Energien Gesetzes (EEG) – neben dem Umweltschutz – auch die Weiterentwicklung von Technologien zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien zu fördern. Bisweilen wird die tatsächliche Innovationswirkung dieses Instruments kritisch hinterfragt. Die Expertenkommission für Forschung und Innovation (EFI) kam in ihrem Bericht 2014, S. 53 gar zu dem Schluss, dass „das EEG weder ein kosteneffizientes Instrument für Klimaschutz ist, noch eine messbare Innovationswirkung zu entfalten scheint“ und sah deshalb keine Rechtfertigung für eine Fortführung des EEG. Dieser Darstellung wurde in der Community vehement widersprochen (Fraunhofer ISI et al. 2014). Das Argument, das EEG führe zu keiner zusätzlichen CO2-Minderung, beruht auf dem seit einiger Zeit in der Literatur bekanntem Interaktionseffekt zwischen Förderung Erneuerbarer Energien und dem Emissionshandel (Walz 2005). Allerdings darf sich die Evaluierung von Politikmaßnahmen nicht auf einzelne Wirkungsmechanismen allein fokussieren und die sonstigen politischen Rahmenbedingungen und Prozesse ignorieren. So wurden im Rahmen des integrierten Energie- und Klimapakets der EU für das Jahr 2020 die Ziele des Emissionshandels und der erneuerbaren Energien

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aufeinander abgestimmt festgelegt. Dabei wurden die verschiedenen Politikziele des Emissionshandels und der Förderung erneuerbarer Energien von den politischen Entscheidungsträgern bewusst abgewogen. Während der Emissionshandel die Minimierung der kurzfristigen Kosten der CO2-Vermeidung zum Hauptziel hat, wird durch Politikmaßnahmen zur Förderung erneuerbarer Energien insbesondere die Kostensenkung und Technologieentwicklung anfangs noch marktfernerer Technologien angestrebt. Ohne diese Einrechnung der Effekte des Ausbaus erneuerbarer Energien wären die Restriktionen des Emissionshandels noch großzügiger ausgefallen. Einmal mehr wird deutlich, dass fundierte wissenschaftliche Politikberatung Wirkungsmechanismen und Kenntnisse des Politikprozesses integriert betrachten muss. Bezüglich der Innovationswirkung ist festzuhalten, dass Innovation mit einer Vielzahl von Indikatoren gemessen werden sollte. Zu den gebräuchlichen Indikatoren zählen neben Patenten z. B. die Zahl neu am Markt eingeführter oder qualitativ verbesserter Produkte, die Senkung von Kosten und Preisen durch Prozessverbesserungen, aber z. B. auch innovative Unternehmensneugründungen sowie Investitionen in Forschung und Entwicklung. Da Einzelindikatoren immer nur Teilaspekte von Innovation – und diese z. T. nur sehr indirekt – erfassen können, sollte eine umfassende Analyse und Bewertung der Innovationswirkung eines politischen Instruments auf einer Vielzahl von Indikatoren und damit verschiedenen Erhebungsmethoden aufbauen. Auch sind die Innovationswirkungen nicht nur technischer Natur, sondern beziehen sich auch auf organisatorische und institutionelle Neuerungen, z. B. dem Finanzsektor. Erst durch das EEG und vergleichbare Einspeisevergütungen in anderen europäischen Ländern konnten neue Akteure – z. B. kleine Genossenschaften, private Hauseigentümer, Landwirte, Versicherungen und Pensionskassen – gewonnen und umfangreiches Kapital für den Ausbau erneuerbarer Energien zur Verfügung gestellt werden. Insgesamt müssen die Innovationswirkungen einzelner Instrumente also in ein Gesamtumfeld eingebettet werden, das durch öffentliche Förderung von Forschung und Entwicklung, aber auch zunehmenden Handlungsdruck aus dem externen Umfeld, Nachfragepotenziale, Veränderungen in den Kundenpräferenzen und eben auch nachfragefördernde Politikmaßnahmen wie das EEG gekennzeichnet ist. Daraus wird ersichtlich, dass derartige Evaluierungen aber ein heterodoxes Analyseinstrumentarium erfordern, bei dem unterschiedliche Disziplinen in einem ganzheitlichen Systemverständnis zusammenarbeiten müssen. Zugleich wird aus der Evaluierung der Förderung erneuerbarer Energien auch die Notwendigkeit von Policy Learning deutlich. So vermittelt die vorliegende empirische Evidenz den Eindruck, dass sich die optimale Förderstrategie im Zeitablauf ändert. Verminderungen des Risikos und der Transaktionskosten, wie sie durch feste Einspeisevergütungen vorgenommen werden, sind insbesondere für neue Akteure und zu Beginn der Diffusion einer neuen Innovation erforderlich. Mit zunehmender Etablierung von Akteuren und Technologie kann dann der Fokus auf eine Verstärkung der Effizienzanreize bis hin zur Etablierung neuer Marktmechanismen gelegt werden. Wissenschaftliche Politikberatung muss also jeweils die situativen Kontextfaktoren mit aufnehmen und kann sich nicht auf konzeptionelle, allgemeingültige Ratschläge zurückziehen.

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Bei der Evaluierung von Politikmaßnahmen ist auch ein geschärfter Blick für nicht-intendierte Folgen des Handelns erforderlich. Diese nicht-intendierten Folgen können negativer, aber auch positiver Art sein. Das Beispiel der Förderung der Fotovoltaik (PV) verdeutlicht, wie Erfolge und Misserfolge bei intendierten und nicht-intendierten Folgen ineinandergreifen: Inspiriert durch die auch industriepolitisch großen Erfolge bei der Förderung der Windkraft wurde mit der starken Diffusion der PV in Deutschland auch die Hoffnung verbunden, hier zu einem großen Player in der Produktion von Solarzellen zu werden. Diese Hoffnung erfüllte sich so nicht: In den Medien viel thematisiert wird die Konkurrenz aus Asien, die ebenfalls vom EEG profitierte und deutschen Herstellern von Solarzellen Konkurrenz machte. Der Aufbau entsprechender Kapazitäten in Asien erfolgte dabei auch durch Import von Ausrüstungsgütern aus Europa, in die die in Europa gemachten Erfahrungen eingeflossen waren. Im Zeitablauf hat dies nicht nur zu sinkenden Kosten und Preisen der Technologien in Europa beigetragen, sondern gleichzeitig Innovationen etwa im Maschinenbau ermöglicht. Global noch bedeutsamer ist, dass die Außenhandelserfolge der chinesischen Hersteller auch die industriepolitischen Ziele in China beflügelten. Als es dann aufgrund der restriktiveren Ausbaupolitik in Europa zu einer Verminderung der Diffusionsdynamik in Europa kam, während gleichzeitig die Kapazitäten in China massiv ausgebaut worden waren, geriet die chinesische Politik unter Zugzwang. Als Folge kam es zu einer erheblichen Diffusion dieser Technologien auch in China, die aufgrund von Skaleneffekten dann die Kosten der PV noch weiter nach unten trieb. Letztendlich erleichtern die massiv gesunkenen Kosten nun den Einsatz der Technologie in Schwellen- und Entwicklungsländern und ermöglichen es diesen Ländern, jetzt gänzlich neue Strategien beim Ausbau der Elektrizitätssysteme zu verfolgen. Auch bei der Auslösung dieser selbstverstärkenden Feedbackprozesse hat das EEG also eine Rolle gespielt, was bei seiner Evaluierung zu berücksichtigen wäre. Während also die intendierte industriepolitische Wirkung nur eingeschränkt erreicht wurde, könnte Deutschland hier durchaus die die Innovationen auslösende Förderung der heimischen Diffusion und die damit verbundenen Kosten als eine Übernahme globaler Verantwortung für sich in Anspruch nehmen. Festzuhalten bleibt, dass eine wissenschaftliche Politikberatung in der Evaluierung nicht nur interdisziplinär und aus Systemsicht angelegt sein muss. Eine besondere Schwierigkeit besteht auch darin, dass sie das Augenmerk auch auf nicht-intendierte, nicht im Fokus der eigentlichen Politikdebatte stehende Wirkungen richten und zugleich den Instrumenteneinsatz an die jeweilige Entwicklung des Umfeldes anpassen muss.

4 Erfolgsbedingungen für die Politikberatung im Nachhaltigkeitsbereich Die vorangegangenen Abschnitte schilderten an Beispielen aus der Vergangenheit die Herausforderungen, die sich für eine wissenschaftliche Politikberatung im Feld der Nachhaltigkeit stellen. In diesem Abschnitt werden die Erfahrungen systematisiert und

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in Erfolgsbedingungen für die Politikberatung im Nachhaltigkeitsbereich kondensiert. Zugleich ist die Nachhaltigkeitspolitik in einem Prozess der Veränderung begriffen. Zunehmend werden Erfordernisse einer grünen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft postuliert. Es sind immer weniger einzelne Technologien, sondern ganze Sektoren, und mit ihnen das Zusammenspiel von Technologien, Institutionen und Verhaltensweisen, die zum Gegenstand werden. Dies wird einige der Erfolgsbedingungen für eine wissenschaftliche Politikberatung noch stärker akzentuieren. Bereits die in Abschn. 3 aufgezeigten Beispiele verdeutlichen, dass wissenschaftliche Politikberater eine Reihe von Anforderungen erfüllen müssen: • Die Komplexität des Wissens erfordert eine vertiefte interdisziplinäre Zusammenarbeit, die nicht von disziplinären wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen, sondern Problemlösungen getrieben wird. Die Integration von technologischen und sozialen Innovationen, die kennzeichnend für eine Transformationspolitik ist, wird dies noch verstärken. Dies hat zwei Konsequenzen: erstens wird erfolgreiche Politikberatung immer weniger von Einzelpersonen getragen sein können; zweitens wird es im ­Rahmen einer noch immer sehr disziplinär organisierten Wissenschaftsstruktur schwierig, entsprechende Teams im Hochschulbereich zu verankern. Damit ist absehbar, dass der Trend, Politikberatung zulasten von traditionell etablierten wissenschaftlichen Beiräten verstärkt durch Think Tanks durchführen zu lassen, anhalten wird. • Wissenschaft kann via Politikberatung nur dann eine eigenständige Rolle im politischen Diskurs spielen, wenn sich ihre Funktionslogik wahrnehmbar von den Interessenskonstellationen der anderen Akteure unterscheidet. Politikberatung sollte daher als neutral im Sinne einer Verpflichtung zur Einhaltung von wissenschaftlichen Qualitätsstandards verstanden werden. Wird sie als Lobby-Vertreter einer bestimmten Position wahrgenommen, verliert sie ihre Legitimation und Wirksamkeit. • Wissenschaftliche Politikberater müssen fachlich gebotenes mit den Realitäten des Politikprozesses in Einklang bringen. Dies erfordert nicht nur ein Verständnis der Funktionslogiken und der aktuellen Ausprägungen des Politikprozesses, sondern führt auch zu einer permanenten Notwendigkeit der eigenen Positionsbestimmung. Einerseits ist Anpassung an politische Gegebenheiten erforderlich, damit die Vorschläge ankopplungsfähig sind. Andererseits besteht bei zu viel Anpassung die Gefahr, für die Durchsetzung von Interessen instrumentalisiert zu werden, als Stakeholder eines bestimmten Interesses wahrgenommen zu werden und die eigene Glaubwürdigkeit im wissenschaftlichen Umfeld zu verlieren. • Die Kopplung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden mit Werturteilen, und die Heterogenität von möglichen Methoden und Daten führt dazu, dass es in der Politikberatung konkurrierende Resultate und nicht den einzigen, aus Sicht der wissenschaftlichen Politikberatung “richtigen” Beratungsvorschlag gibt. Noch gravierender ist aber, dass mit normativen Wertsetzungen verbundene Bewertungen gerade beim Vorliegen von Unsicherheiten und vorläufigem Wissen, wie sie für den Mode 2 der Wissenschaft charakteristisch sind, für die Politik immer wichtiger w ­ erden.

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Dadurch nimmt aber auch die Bedeutung normativer Wertungen im Prozess der Politikberatung zu. Erforderlich ist hier eine vertiefte Reflexionsfähigkeit aufseiten der Wissenschaft, die Herstellung von Transparenz über eigene Wertvorstellungen sowie das Ausloten von Widersprüchen und Gemeinsamkeiten durch verschiedene Wissenschaftlerteams, die durch unterschiedliche Wertvorstellungen gekennzeichnet sind. • Erkenntnistheoretisch kann auch die Wissenschaft immer nur ein Teilabbild der Realität erfassen. Dies wird durch die Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen, und durch Konzentration auf einzelne Methoden verstärkt. Erfolgreiche wissenschaftliche Politikberatung muss also heterodox sein und verschiedene Methoden miteinander verbinden. Zugleich werden Einbettung der Ergebnisse und Verständnis methodisch bedingter Unterschiede in den Resultaten zentrale Voraussetzung für eine umfassende, systemische Politikberatung. Methodenkenntnisse und Querschnittswissen gewinnen gegenüber dem fachspezifischen, singulären Einzelwissen an Bedeutung. All diese Erfolgsfaktoren haben individuelle Konsequenzen für die Reflexionsfähigkeit der beteiligten Wissenschaftler. Die Kriterien einer Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung, wie sie im Reflexionsrahmen aus Reihen der außeruniversitären Wissenschaft entwickelt wurde (Helming et al. 2016), haben damit besonderes Gewicht für die wissenschaftliche Politikberatung. Darüber resultieren hieraus aber auch Anforderungen an die Weiterentwicklung der Wissenschaft selbst. Als Resonanzboden für die Politikberatung, die die Check-and-Balances der Sicherung der Wissenschaftlichkeit wahrnehmen muss, sollte sie ebenfalls auf diese Herausforderungen reagieren. Dies erfordert vor allem die Herausbildung eines Qualitätsmaßstabs der Politikberatung. Hier besteht noch erheblicher Handlungsbedarf, da die Qualitätsmaßstäbe aus den wissenschaftlichen Einzeldisziplinen nur bedingt passfähig sind. Es sind erhebliche Herausforderungen zu bewältigen, da sich allen Bekundungen einer stärker interdisziplinären Herangehensweise zum Trotz die Funktionslogiken des Wissenschaftssystems noch immer stark disziplinäre Sichtweisen betonen. Bei den Anforderungen an die wissenschaftliche Politikberatung darf nicht vergessen werden, dass sie kein Allheilmittel und kein Surrogat für politische und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse sein kann. Politische Konflikte kann sie genauso wenig auflösen wie Akzeptanz für ungeliebte Lösungen schaffen. Auch steigt ihre Erfolgswahrscheinlichkeit mit dem Ausmaß, mit dem sich die politischen Akteure noch nicht festgelegt haben. Dabei ist zu bedenken, dass die Nachfrage nach wissenschaftlicher Politikberatung auch durch die Veränderungen in den politischen Arenen geprägt wird: • In der jüngsten Zeit hat sich der Politikdiskurs verändert; neue Akteure auf neuen Medien, wie Influencer in den sozialen Medien führen dazu, dass sich die Geschwindigkeit der Kommunikation massiv beschleunigt, aber die Komplexität der transportierbaren Information eher abnimmt. Die Politik gibt hier die neu entstehenden Herausforderungen auch an die wissenschaftliche Politikberatung weiter:

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viel kurzfristiger erzielbare, einfacher kommunizierbare Aussagen nehmen zulasten von komplexen Ursachenanalysen an Bedeutung zu. Das Spannungsfeld von Funktionslogiken der Politik und der Wissenschaft nimmt zu. • Bei zunehmender gesellschaftlicher Ausdifferenzierung der Lebenswelten nehmen die Informationsasymmetrien zwischen Politik und Betroffenen zu. Gleichzeitig verlieren (nationale) harte Steuerungsmöglichkeiten der Politik im Zuge der Mehrebenenverflechtung der Politikakteure und den wirtschaftlichen Globalisierungstendenzen der Wirtschaft an Bedeutung, während weiche, auf die Formulierung von Ansprüchen setzende, aber durch Selbstregulierung umzusetzende Politikmuster an Bedeutung gewinnen. All dies führt zu einem erhöhten Bedarf an Diskurs- und Dialogprozessen, der auch an die wissenschaftliche Politikberatung weitergegeben wird. • Die Geschwindigkeit der Veränderungsprozesse, Akteursvielfalt und gegenseitige (globale) Abhängigkeiten nehmen zu. Damit ist zu erwarten, dass Unterstützung bei Orientierung, Horizon- und Akteursscanning sowie das Zusammenführen und die Systematisierung von Wissen im Spektrum der Aufgaben der Politikberatung noch zunehmen wird. • Verminderte Steuerungsfähigkeit einerseits, und immer komplexer und schneller verlaufende Änderungen im Umfeld andererseits erhöhen die Unsicherheit von Politikmaßnahmen. Gleichzeitig steigen die Ansprüche an die Absicherung von Risiken und die Abfederung von Strukturwandelprozessen durch den Staat an, ohne im gleichen Umfang materiell aufgefangen werden zu können. Daher ist absehbar, dass die möglichen Folgen prozedural durch ein intensiviertes Impact Assessment von Politikmaßnahmen adressiert werden. Zugleich werden Vorschläge für Kompensationsmöglichkeiten für Verlierer und die Darstellung von Erfolgsbeispielen (als Nachweis erfolgreicher staatlicher Aktivität) an Bedeutung gewinnen. Ähnliches gilt für das Aufzeigen von Optionen und Szenarien, um der Offenheit von Zukunftsprozessen Rechnung zu tragen. • Im Zuge der zunehmenden Bedeutung von Transformationen wird sich der Gegenstand der Politikberatung von einzelnen Problemen hin auf das Systemverhalten richten müssen. Hierzu sind neue Frameworks und Taxonomien zu entwickeln, die die Prozesse einer Transformation beschreiben. Die zunehmende Bedeutung von sozialen Innovationen, die aus der Gesellschaft heraus entstehen, verstärkt die Bedeutung neuer Akteure wie zivilgesellschaftlicher Organisationen. Neue Optionen, wie eine Professionalisierung sozialer Innovationen durch neue Akteurskonstellationen einer Social-Private-Partnership werden zum Gegenstand der Politikberatung werden. Auch wird die Politikberatung zunehmend Fragestellungen der Governance aufgreifen, wie die Frage der Herausbildung neuer Organisationsformen hinsichtlich horizontaler Politikvernetzung bei der zunehmenden Anzahl der betroffenen Kreise. All diese Entwicklungen sind dadurch gekennzeichnet, dass wissenschaftliche Politikberatung zunehmend auch selbst über die Grenzen der eigenen Erkenntnis reflektieren muss. Die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit ist ein zukunftsoffener Prozess,

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nicht das Umsetzen eines Masterplans von exzellenten Politikberatern. Das Eingeständnis und das Bewusstsein, dass das eigene Wissen beschränkt und immer nur vorläufig ist, gehört zu einer erfolgreichen Politikberatung. Darüber hinaus ist eine Transformationskultur der Wissenschaftler erforderlich: Arbeiten an den Grenzen von Disziplinen, das Bewegen im Spannungsverhältnis von normativen Festlegungen und wissenschaftlichen Arbeiten sowie das Austarieren der unterschiedlichen Systemlogiken von Wissenschaft und Politik sollte nicht als lästige Nebenbedingung, sondern als intellektuelle Herausforderung und persönlicher Beitrag von Wissenschaftlern zu einer nachhaltigen Entwicklung aufgefasst und entsprechend angegangen werden. Je besser dies gelingt, desto größer kann dann auch der Beitrag der Politikberatung für die “Zukunftsvision Deutschland” ausfallen.

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Prof. Dr. Rainer Walz  ist Leiter des Competence Center Nachhaltigkeit und Infrastruktursysteme im Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe. Nach Studium der Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften Promotion zu einem energiewirtschaftlichen Thema sowie Habilitation in Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of Wisconsin 1987/1988, bei der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ des Deutschen Bundestags 1989/90 sowie seit 1991 am Fraunhofer ISI. Apl. Professur an der Universität Karlsruhe/KIT sowie Gastprofessor am Institute of Science and Development der Chinese Academy of Science.

Teil VII Wohlstand

Starkes Europa mit Leidenschaft für Innovation Martin Brudermüller

Dr. Martin Brudermüller ist CEO und CTO der BASF SE, dem führenden Chemieunternehmen der Welt. Seine Leidenschaft für Innovationen begann bereits vor seinem Chemiestudium – und die ist bis heute geblieben. So ist es nur konsequent, dass er sowohl die Innovationskraft Europas stärken als auch das Bewusstsein fördern will: Innovationen sind die Quelle für Wohlstand in Europa. Für ihn ist klar: Das geht nur mit Entschlossenheit, und das ist eine gemeinsame Aufgabe von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Europa darf sich nicht weiter auf seinen Leistungen aus der Vergangenheit ausruhen. An Ideen mangelt es nicht und das kulturell vielfältige und offene Europa bietet beste Voraussetzungen, um die erfolgreiche Innovationsgeschichte Europas fortzuschreiben.

1 Einleitung Europa ist eine Erfolgsgeschichte. Europa – das steht für Aufklärung, Wissenschaft, Freiheit, Demokratie, Bildungs- und Lebensqualität sowie Solidarität und Wohlstand. Die EU ist der weltweit größte Wirtschaftsraum und der größte Binnenmarkt mit einer halben Milliarde Menschen1 und einem Bruttoinlandsprodukt von 15,4 Billionen EUR2

1Eurostat 2Eurostat

(2018a), Bevölkerung EU 28 am 1. Januar 2018: 512 Mio. (2018b), Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen 2017.

M. Brudermüller (*)  BASF SE, Ludwigshafen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_11

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(Eurostat 2018a und b). Keine andere Region der Welt ist so eng mit anderen Regionen verbunden. Keine andere Region hat eine vergleichbare kulturelle Vielfalt und Attraktivität zu bieten. Das ist das Potenzial. Und die Gegenwart? Es gibt Risse. Es gibt Krisen – nicht weniger, sondern mehr. Antworten lassen auf sich warten und Lösungen für viele Herausforderungen sind nicht in Sicht. Zu langsam stellt sich Europa den neuen Realitäten in der Welt, während der internationale Standortwettbewerb immer härter wird. Viele Länder außerhalb Europas betreiben eine sehr aktive Industriepolitik mit der Förderung kostengünstiger Rohstoffe und mit staatlichen Investitionshilfen. Ein besonders deutliches Beispiel dafür ist das Programm „Made in China 2025“, mit dem China unter anderem den lokalen Fertigungsanteil in Kernbranchen bis zum Jahr 2025 auf 70 % steigern will. Im Mittelpunkt steht dabei Innovation. Wie auch in den USA werden zentrale Forschungsfelder durch großvolumige Forschungsförderungsprogramme unterstützt (The People’s Republic of China 2018). Mit enormer Wirkung. China und die USA liegen Kopf an Kopf an der Spitze bei Patenten (siehe 3.3.2 Patentportfolio, Ernst und Omland 2011). Europa sieht sich daher immer stärkerer Konkurrenz gegenüber. Und es trifft Europa besonders da, wo es bisher eine führende Position innehat: bei Innovationen (EU-Kommission 2018a). Damit wird Europa im Kern angegriffen, denn im Standortwettbewerb kann der Kontinent weder mit günstigen Rohstoffen noch mit Arbeitskosten punkten. Was Europa aber kann, sind Ideen! Ideen sind es, die Europa stark gemacht haben – Ideen und deren Umsetzung in erfolgreiche Produkte und Dienstleistungen. In dem Maße wie sich nun aber die anderen Regionen dieser Welt mit großen Anstrengungen um ihre eigene Innovationskraft und ihre Märkte kümmern, muss daher auch Europa neue Ansätze für eine integrierte Innovations- und Industriepolitik entwickeln. In diesem Beitrag wird dargestellt, wo die Stärken und Schwächen Europas bei Innovation liegen. Am Beispiel der Chemiebranche wird aufgezeigt, was die Industrie zur Stärkung Europas beitragen kann. Darauf aufbauend sollen Ideen und der Rahmen für eine neue Innovations- und Industriepolitik skizziert werden. Dabei werden Ansätze für eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft aufgezeigt, mit denen Europa technologisch und wirtschaftlich gestärkt werden kann.

2 Europa im globalen Wettbewerb – Ruht sich Europa auf seinen Lorbeeren aus? Wie ist es um Europa im internationalen Vergleich bestellt? Wie sieht es beim Wirtschaftswachstum, der Demografie, Produktivität und bei Investitionen im Vergleich zu anderen Ländern und Regionen aus?

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Abb. 1   IHS Markit 2018a, World Economic Service, Prognose Oktober 2018

2.1 Globales Wirtschaftswachstum – EU 28 fällt zurück Die Europäische Union ist nach den USA der größte Wirtschaftsraum der Welt. Allerdings fällt die Region im internationalen Wettbewerb zurück: Das Bruttoinlandsprodukt der EU betrug 2010 noch 25 % des Weltsozialprodukts. Bis 2017 war dieser Anteil bereits auf 22 % gesunken, 2030 wird er voraussichtlich bei 19 % liegen (siehe Abb. 1). Nach aktuellen Prognosen wird China im Jahr 2025 die EU beim Bruttoinlandsprodukt überflügelt haben. Hinter dem sinkenden ökonomischen Gewicht Europas stehen aber nicht nur die höheren Wachstumsraten der asiatischen Schwellenländer. Hinzu kommen auch das geringe Wachstum des europäischen Inlandsmarktes und zunehmende Lokalisierungstendenzen der Produktion in den traditionellen Exportmärkten für europäische Güter.

2.2 Demografie: Bei der Alterung der Gesellschaften liegen die meisten großen EU-Länder an der Spitze Die Inlandsnachfrage wird vor allem durch die Einkommensentwicklung und das Bevölkerungswachstum bestimmt. Die Vereinten Nationen prognostizieren für die EU im Zeitraum von 2018 bis 2030 nur noch eine geringe Zunahme der Bevölkerung von 0,1 % p. a., nach 0,3 % p. a. im Zeitraum von 2000 bis 2017. Hinzu kommt eine signifikante Alterung: Von 2015 bis 2030 wird in den großen EU-Ländern das Verhältnis der über 64jährigen zu den 20 bis 64jährigen um rund 10 Prozentpunkte zunehmen. Auf zwei Erwerbstätige kommt dann nahezu ein Rentner, sofern sich das effektive Renteneintrittsalter nicht deutlich nach oben verschiebt (siehe Tab. 1). Damit sind nicht nur höhere

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Tab. 1  Bevölkerungsalterung Altenquotient 64 +/20–64 (UN 2017a, World Population Prospects. 2017 Revision, Medium fertility variant, BASF-Berechnungen)

soziale Lasten verbunden, sondern auch eine ungleichmäßigere Einkommensverteilung, da die Alterseinkommen des wachsenden Anteils der Senioren voraussichtlich deutlich unter deren Bezügen in der Erwerbsphase liegen werden. Um die mit der Bevölkerungsalterung verbundenen Lasten schultern und die erforderlichen Einkommen erwirtschaften zu können, muss die gesamtwirtschaftliche Produktivität deutlich stärker als in den vergangenen Jahren steigen.

2.3 Produktivität: Schwaches Produktivitätswachstum in der EU Die Produktivitätszuwächse in der europäischen Union waren in den letzten Jahren allerdings gering. Im Zeitraum von 2012 bis 2017 ist die Stundenproduktivität deutscher und französischer Erwerbstätiger nur um 0,5 % p. a. gestiegen. Im Zeitraum 2000 bis 2007 lag das durchschnittliche Produktivitätswachstum in beiden Ländern dagegen noch bei 1,2 % p. a (Eurostat 2018c).3 Darüber hinaus ist die gesamtwirtschaftliche Produktivität in Europa deutlich kleiner als in den USA; sie liegt bei lediglich 75 % des US-Werts (ERT 2017). Die Ursachen für die Schwäche des Produktivitätswachstums sind vielfältig (Ademmer et al. 2017). Hier spielen neben vielfältigen statistischen Erfassungsproblemen sowohl länderspezifische Faktoren4 als auch demografische Effekte sowie strukturelle Verschiebungen zwischen produzierendem Gewerbe und Dienstleistungen eine wesentliche Rolle.

3Eurostat

(2018c), Reale Arbeitsproduktivität je Beschäftigten – jährliche Daten, BASF-Berechnungen. 4In Deutschland z. B. der Abbau der Arbeitslosigkeit im Zuge neuer arbeitsmarktpolitischer Ansätze.

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Abb. 2   Weltbank, World Development Indicators, 2018

2.4 Investitionen: Geringe Investitionsintensität im Vergleich zu China Darüber hinaus zeigt der Blick auf das Investitionsverhalten: In der EU ist das Verhältnis der Investitionen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt im Zeitvergleich gesunken, darüber hinaus ist die so berechnete Investitionsquote deutlich geringer als z. B. in China oder Japan (siehe Abb. 2). Damit geht nicht nur ein langsameres Wachstum einher, sondern auch eine langsamere Erneuerung des Kapitalstocks und damit auch geringere Produktivitätssteigerungen durch neue Technologien. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass sich Investitionen in neue Technologien, z. B. in die Digitalisierung, erst mit Zeitverzögerung auszahlen und die Produktivitätsgewinne dieser Aufwendungen möglicherweise erst in Zukunft messbar sind.

2.5 Fokus: Chemiebranche Auch die Chemieindustrie in Europa spürt den internationalen Wettbewerb.

2.5.1 Die europäische Chemieproduktion im internationalen Vergleich Der Anteil der europäischen Chemieproduktion am globalen Markt ist von 27 % im Jahr 2000 auf nur noch 16 % im Jahr 2017 gesunken. Spiegelbildlich dazu ist China mit einem Marktanteil von 42 % im Jahr 2017 zum weltweit größten Chemieproduzenten aufgestiegen (2000: 10 %). Die EU ist allerdings nach wie vor ein Nettoexporteur von Chemikalien mit einem vergleichsweise hohen Exportüberschuss (47 Mrd. EUR im Jahr 2017). Wichtigste Handelspartner sind die USA und China (Cefic 2017). Dennoch nimmt der

222

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Abb. 3   IHS Markit 2018b, Comparative Industry Service, Prognose Okt. 2018. Marktanteile addieren sich aufgrund von Rundungsdifferenzen nicht immer zu 100

Anteil Europas am gesamten Chemie-Außenhandel ab. Anfang der 2000er Jahre betrug der Exportmarktanteil Europas noch rund 25 %, 2017 lag er bei nur noch 19 % (siehe Abb. 3). Empirische Analysen führen diesen Rückgang vorwiegend auf einen Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit zurück und weniger darauf, dass die wichtigsten Exportmärkte Europas langsamer als die anderen Länder gewachsen sind. Ökonometrisch lässt sich zeigen, dass der Rückgang der Exportmarktanteile in den energieintensiven Segmenten der Petrochemie und der Primärkunststoffe mit Energiekostennachteilen einhergeht. Für alle Chemiesegmente gilt darüber hinaus, dass eine rückläufige Forschungsintensität langfristig mit geringeren Exportmarktanteilen korreliert ist (Oxford Economics 2014).

2.5.2 Neue Produktionskapazitäten und Rohstoffkostenvorteile intensivieren den Wettbewerb Insbesondere zwei Entwicklungen prägen die weitere Entwicklung im internationalen Wettbewerb in der Chemieindustrie. Zum einen werden die Produktionskapazitäten in den Schwellenländern wachsen. Insbesondere in China ist ein schneller Aufbau zusätzlicher Produktionskapazitäten zu verzeichnen. Zum anderen bauen Länder mit Rohstoffkostenvorteilen zusätzliche Fertigungskapazitäten auf. Dies gilt zum einen für die USA, wo die örtlichen Produzenten von niedrigen Schiefergaspreisen profitieren können. Eine Tonne des petrochemischen Grundstoffs Ethylen lässt sich in den USA zu erheblich niedrigeren Kosten als in Europa herstellen (Cefic 2017). Dementsprechend ist es in den letzten Jahren auch in den USA zu einem Investitionsboom in die Petrochemie gekommen. Darüber hinaus diversifizieren die Erdölproduzenten im Mittleren Osten ihre Volkswirtschaften, indem sie zusätzliche petrochemische Kapazitäten aufbauen.

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2.5.3 Rückläufige Investitionsquote in Europa – Sehr hohe Investitionsneigung in China Diese Entwicklungen spiegeln sich auch in einem Vergleich der Investitionsquoten in der Chemieindustrie wider: Während die Investitionen im Vergleich zum Umsatz in Europa 2017 bei rund 4 % lagen und im langfristigen Trend leicht rückläufig sind, betrug die Investitionsquote in den USA 5,5 % mit ansteigendem Trend. In China steigt die Investitionsquote deutlich an, sie lag nach Angaben des nationalen Statistikamtes 2016 bei rund 17 %.

2.6 Zwischenfazit Sowohl die gesamtwirtschaftliche Betrachtung als auch die prototypische Analyse des Chemiesektors verdeutlichen: Um die Herausforderungen des demografischen Wandels in einem Umfeld schwächeren Wachstum und zunehmender internationaler Wettbewerbsintensität bewältigen zu können, muss Europa beim Produktivitätswachstum deutlich vorankommen und insbesondere eine Vorreiterrolle bei Innovationen einnehmen. Das erfordert beträchtliche Anstrengungen aller Akteure im öffentlichen wie im privaten Sektor, aber auch langfristig verlässliche und innovationsfreundliche regulatorische Rahmenbedingungen.

3 Bedeutung von Innovationen – Schlüssel für eine europäische Zukunft 3.1 Wohlstand braucht Innovation – Innovation braucht Vielfalt und Offenheit Europäische Unternehmen – kleine, mittlere und große – sind in Europa und der Welt erfolgreich, weil sie ihre Märkte über Innovationen erschließen. Mit ihrer Wirtschaftskraft und Innovationsstärke liefern diese Unternehmen nachhaltige Lösungen für zentrale gesellschaftliche Herausforderungen wie Klimaschutz, Energieversorgung, Ernährung und Mobilität – und sie sichern so Produktivitätszuwachs und Beschäftigung in Europa (Harrison et al. 2014; Griffith et al. 2006). Dabei knüpft Europa an eine lange Tradition bei Innovationen an – etwa in der Chemie: So wurden zum Beispiel von den ersten 100 Elementen des Periodensystems 78 in Europa entdeckt (Rutherford 2006). Die Erfindung der Ammoniaksynthese durch Haber und Bosch sicherte die Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (BASF 2018a). Ein weiteres Beispiel sind Kunststoffe, die in allen wesentlichen Bereichen der weltweiten Gesellschaft vielfach eingesetzt werden, beispielsweise in der Auto-, Bau- und Möbel-Industrie, Bekleidung, Lebensmittelverpackungen, Haushaltsgeräten, Medizinprodukten, sowie in Spielzeug und Freizeitprodukten.

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Diese Innovationstradition hat zwei entscheidende Säulen: Vielfalt und Offenheit. Hierbei hat Europa auch heute beste Voraussetzungen: Die kulturelle Vielfalt von über 500 Mio. Menschen der Europäischen Union (Eurostat 2018a) birgt großes Potenzial für Innovation – denn neue Ideen brauchen unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen. Grundlegende Innovationen, die sich gänzlich aus einer einzelnen wissenschaftlichen Disziplin speisen, sind heute kaum mehr vorstellbar. Das Zusammenführen verschiedener Perspektiven hingegen, ob wissenschaftlich oder kulturell, katalysiert neue Entwicklungen. Dieser Zusammenhang wurde jüngst in einer Studie der Bertelsmann Stiftung belegt (Bertelsmann Stiftung 2018). Auch bei der zweiten Säule, der Offenheit, hat Europa mit seinem einzigartigen Zusammenschluss demokratischer Systeme in der EU-28 beste Voraussetzungen. Gleichzeitig sind die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Strukturen in Europa durch eine große Vielzahl von Akteuren charakterisiert. Dazu gehören Großunternehmen, mittelständische Firmen, Start-ups, Universitäten und wissenschaftliche Einrichtungen. Deren enge und auf gegenseitiger Offenheit basierende Zusammenarbeit, auch über die Grenzen von Branchen, Institutionen und Disziplinen hinweg, ist entscheidend für Wertschöpfung und Innovationserfolg. Dies gilt umso mehr im Rahmen der Digitalisierung, in der ökonomische Netzwerke an Bedeutung gewinnen – auch in der Chemieindustrie (VCI und Deloitte 2017). Wie wichtig Offenheit für den Erfolg von Innovationssystemen ist, betont auch die Bundesregierung: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bezeichnet es in seinem Bundesbericht „Forschung und Innovation 2018“ als eine der Zukunftsaufgaben, die Offenheit des Forschungs- und Innovationssystems weiter zu stärken (BMBF 2018a).

3.2 Globale Herausforderungen brauchen Innovationen Ein Blick auf die großen globalen Herausforderungen zeigt schnell: Ohne Innovationen werden die dynamischen Entwicklungen bei Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und Klimawandel nicht in die richtigen Bahnen gelenkt werden können. Bis 2050 wird die Weltbevölkerung um 2 auf fast 10 Mrd. Menschen ansteigen (UN 2017b). Mehr als zwei Drittel der Menschen weltweit werden dann in Städten leben – heute sind es rund 50 % (UN 2018). Sie alle brauchen Nahrung, Energie sowie Produkte für den täglichen Gebrauch – in ausreichender Menge, hochwertiger Qualität und zu erschwinglichen Preisen. Damit ändern sich zum Beispiel die Anforderungen an die Landwirtschaft in ganz erheblichem Maße. Um die wachsende Bevölkerung zu ernähren, muss die Produktion von Nahrungsmitteln kontinuierlich erhöht werden. Dem steht gegenüber, dass die Fläche für Ackerland jedes Jahr weltweit um 10 Mio. Hektar schrumpft, was in etwa der Hälfte der Fläche von Großbritannien entspricht (UBA 2015). Der Anspruch muss daher sein, auf weniger Fläche gesunde und bezahlbare Nahrung für alle Menschen zu produzieren und gleichzeitig Ressourcen zu schonen und die Umwelt zu schützen.

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Hierfür bedarf es innovativer Ansätze, wie zum Beispiel die neuen Züchtungsmethoden wie CRISPR-Cas9, die steigende Ertragskraft und Pflanzen mit erhöhter Widerstandsfähigkeit versprechen oder die Digitalisierung der Landwirtschaft, die den Ressourceneinsatz verringert. Auch die Mobilität des 21. Jahrhunderts muss sich grundlegend ändern. Durch das starke Wachstum der Städte entstehen Megastädte, die schon heute unter der Last ihrer Fahrzeugkolonnen leiden – unter Staus, Smog und Platznot (Fraunhofer-Gesellschaft 2012). Die Innovationsfelder für saubere, flexible und platzsparende Mobilität liegen bei den neuen Antriebssystemen, am prominentesten sicher die Elektromobilität, aber auch bei neuartigen Verkehrskonzepten wie Sharing-Modellen und neuen Formen des intermodalen Verkehrs (EU-Kommission 2017 und 2018b). Die wohl größte Aufgabe für Innovation ist der Kampf gegen den Klimawandel. Um die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens zu erreichen und die Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C, möglichst sogar auf 1,5 °C, im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen, ist die Innovationskraft aller Industriezweige erforderlich. Es gilt, in allen Sektoren CO2 einzusparen, vom Gebäudebereich über die Landwirtschaft bis zum Mobilitätssektor und der Energieerzeugung – und auch in der Industrie. Es müssen neue Produkte und Lösungen entwickelt werden, denen beispielsweise BASF in Forschung und Entwicklung jetzt Vorrang gibt (BDI 2018; BASF 2019).

3.3 Wie steht es um die Innovationskraft Europas? Europa muss sich den globalen Herausforderungen nicht nur auf dem eigenen Kontinent stellen, sondern hat als eine der führenden Wirtschaftsregionen der Welt auch eine besondere Verantwortung, zu globalen Lösungsansätzen beizutragen. Innovationen sind nicht nur der Schlüssel, um diese Fragestellungen zu beantworten, sondern sie ermöglichen auch Wachstum und Beschäftigung in Europa. Denn aus der Entwicklung neuer Anwendungen ergeben sich große Potenziale, und die europäischen Unternehmen können sich neue Märkte und Anwendungen in anderen Weltregionen erschließen. Ob Europa dazu in der Lage ist, zeigt der Blick über den geografischen Tellerrand. Laut „Innovationsindikator 2018“5, der eine ganze Serie von Einzelindikatoren bündelt und gewichtet, nimmt Deutschland unverändert Rang 4 ein. Spitzenreiter ist Singapur, gefolgt von der Schweiz und Belgien (BDI et al. 2018). Im Folgenden seien einige weitere wichtige Indikatoren beleuchtet, die ebenfalls Rückschlüsse auf die Innovationskraft eines Landes zulassen; dazu gehören Forschungsausgaben, Patente, Risikobereitschaft einer Gesellschaft sowie der Anteil von Venture Capital am BIP.

5Der

„Innovationsindikator“ wird vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (Fraunhofer ISI) sowie dem Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) gemeinsam publiziert (BDI et al. 2018).

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3.3.1 Forschungsausgaben Die Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegen in der Europäischen Union mit knapp 2 % nur am unteren Rand des Spektrums großer Industrienationen. China hat die Europäische Union bereits 2013 überholt mit Forschungsaufwendungen, die sowohl absolut als auch relativ zum BIP rapide ansteigen. Spitzenreiter ist Südkorea mit mehr als 4,22 % 2016, gefolgt von Japan (3,14 %, 2016) und den USA (2,74 %, 2016). Einige europäische Länder, dazu zählt auch Deutschland mit 3,02 % im Jahr 2017, liegen allerdings deutlich über dem gesamteuropäischen Wert (F.A.Z. 2018; OECD 2018). 3.3.2 Patentportfolio Die Güte eines Patentportfolios zu bestimmen, bedeutet mehr als nur die Anzahl an Patenten zu vergleichen. Der Patent Asset Index™ ist ein objektives Maß für die globale technologische Stärke und Einflussnahme eines Patentportfolios. Er berücksichtigt sowohl die Anzahl der aktiv geschützten Erfindungen als auch deren Qualität basierend auf der Technologie-Relevanz und Marktabdeckung der aktiven Patentfamilien in einem Portfolio (Ernst und Omland 2011)6. Die aktuelle Auswertung aller weltweiten Patentfamilien zeigt, dass Länder wie USA, China, Japan, Deutschland, Südkorea, UK und Frankreich im Zeitraum 2000 bis 2010 auf unterschiedlichem Niveau, aber im Zeitverlauf im Wesentlichen unverändert lagen. Seit 2011 gilt dies auch weiterhin für die meisten Nationen – außer für China. Hier zeigt sich ein dynamischer Anstieg um etwa das 10-fache (Abb. 4). 3.3.3 Risikobereitschaft Zu den weicheren Indikatoren der Innovationskraft einer Gesellschaft gehört ihre Risikobereitschaft. Sie ist entscheidend dafür, ob Innovationen in marktgängige Produkte und Dienstleistungen, und damit in Wohlstand, umgesetzt werden können. Auch hier zeigen sich in Europa deutliche Schwächen, wie das Beispiel der Pflanzenbiotechnologie zeigt (Bartsch 2017). Obwohl Europa über viele Jahre in dieser Schlüsseltechnologie die treibende wissenschaftliche Kraft war, konnte die Pflanzenbiotechnologie in Europa nicht in den Markt eingeführt werden. Dies erfolgte stattdessen in anderen Regionen, die heute von dieser Innovation profitieren. Ein Grund dafür ist, dass in Europa auf die potenzielle Gefahr einer Technologie geschaut wird, statt dabei auch die tatsächliche Anwendung einer Technologie zu berücksichtigen. Es erfolgt also keine Betrachtung des Risikos, das heißt der Kombination von Gefahr und Eintrittswahrscheinlichkeit. Im Fall der grünen Biotechnologie hat dies dazu geführt, dass selbst die Forschung, also die

6Die

Methode wurde in der wissenschaftlichen Forschung entwickelt und validiert. Sie wird seit Jahren von führenden Unternehmen vieler Branchen eingesetzt, jüngst auch bei der Europäischen Kommission im Kontext von Firmenzusammenschlüssen (Ernst und Omland 2011).

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Abb. 4   Patent Asset IndexTM – Innovationskraft anhand des Ursprungs1 der Erfindungen (PatentSight 2018)

Suche nach dem Ausschluss von Risiken, inzwischen überwiegend in die USA verlagert wurde. Zuletzt zeigte sich das im überraschenden Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur CRISPR-Cas9 Technologie, die nun den strengen Auflagen des Gentechnik-Rechts unterliegt (EUGH 2018). Damit steht erneut eine Zukunftstechnologie vor dem wirtschaftlichen Aus in Europa.

3.3.4 Venture Capital Das investierte Risikokapital (Venture Capital) als Anteil am BIP eignet sich ebenfalls als Indikator, um die Innovationskraft eines Landes einzuordnen. Diese Kenngröße ist besser geeignet als die reine Anzahl an Start-ups, da sie den volkswirtschaftlichen Beitrag des Venture Capital abbildet. Laut Berechnungen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung bauen die USA beim Venture Capital ihre bereits überragende Position weiter aus (2016: 3,6 ‰ (promille) vom BIP), gefolgt von China mit ebenfalls großer Dynamik (2016: 1,8 ‰). Mit Abstand folgen Südkorea (0,9 ‰), Schweden (0,5 ‰), Schweiz, Frankreich und UK (je 0,4 ‰). Deutschland und Japan bilden mit je 0,3 ‰ das Schlusslicht bei den Industrieländern (ZEW 2018). Eine weitere Studie von KPMG kommt zum Ergebnis, dass ein substanzieller Teil der Finanzmittel in Technologien der Künstlichen Intelligenz (KI) geht. China hat beispielsweise den KI-Sektor als strategisch definiert und möchte per 2020 die globale KI-Führerschaft erreichen (KPMG 2018).

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3.4 Zwischenfazit Die Wirtschaftskraft und Innovationsstärke europäischer Unternehmen ermöglicht nachhaltige Lösungen, die deren Wettbewerbsfähigkeit stärken, aber auch zentrale gesellschaftliche Herausforderungen angehen. Innovation hat in Europa Tradition und basiert auf zwei Säulen: Vielfalt und Offenheit. Auch zukünftig werden Innovationen die dynamischen Entwicklungen bei Bevölkerungswachstum, Klimawandel und anderen Großthemen in die richtige Richtung lenken. Hierzu, beispielsweise zur Reduktion von Treibhausgas-Emissionen, werden ganz neuartige Lösungsansätze bei Produkten, Prozessen und Dienstleistungen entwickelt werden müssen. Relevante Innovationsindikatoren wie Forschungsausgaben, Patente, Risikobereitschaft und Venture Capital-Investitionen zeigen, dass Deutschland und andere europäische Länder durchaus noch führende Positionen innehaben – auf denen sich die Staaten aber nicht ausruhen dürfen. China zeigt bei vielen Parametern eine sehr dynamische Entwicklung im Bereich Forschung und Innovation. Zur Stärkung des Standorts Europa zählt auch, bei Technologie-Bewertungen nicht nur mögliche Risiken zu betrachten, sondern auch die Chancen von Innovationen zu erkennen; dabei sind Industrie, Gesellschaft und Politik gleichermaßen gefordert.

4 Was ist zu tun, damit Innovationen die europäische Zukunft sichern? 4.1 Was Unternehmen tun – Beispiele aus der Chemiebranche Die genannten Innovationsindikatoren zeigen, dass Europa seine Anstrengungen deutlich intensivieren muss, um sich im globalen Wettbewerb zu behaupten. Das Potenzial ist da, wie das Beispiel der Chemiebranche zeigt.

4.1.1 Forschungsnetzwerke und Forschungsausgaben Die europäische Chemieindustrie ist traditionell ein Innovationsmotor für die eigene und viele andere Branchen (ZEW 2017). Damit gleicht sie ihre strukturellen Nachteile bei Rohstoff- und Energiekosten aus. Sie kann auf ein etabliertes Netz öffentlicher Forschungseinrichtungen, Institute und forschungsintensiver Unternehmen zurückgreifen. Der Zugang zu externer wissenschaftlicher Expertise, neuen Technologien sowie Talenten unterschiedlicher Fachrichtungen hilft, das unternehmerische Innovationsportfolio um neue Projekte zu erweitern (BASF 2018b).7 Dementsprechend kräftig

7BASF

arbeitet beispielsweise bei der Forschung und Entwicklung in einem globalen Netzwerk aus rund 600 Universitäten, Forschungsinstituten und Unternehmen, siehe https://www.basf.com/ de/company/innovation/our-way-to-innovations/collaborations.html und BASF-Bericht 2017, S. 35 (BASF 2018b).

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Abb. 5   F  +  E Intensitäten Chemieindustrie (F+E-Aufwendungen in Relation zum Umsatz.) (Feri Chemdata 2018; BASF-Berechnungen)

investiert die Chemiebranche in Innovation: Mit jährlichen Forschungsaufwendungen von 9,7 Mrd. EUR liegt sie in Europa weltweit an zweiter Stelle (China: 12,9 Mrd. EUR, USA: 9,3 Mrd. EUR), in Bezug auf den Umsatz mit 1,8 % ungefähr gleichauf mit den USA (2 %) und deutlich vor China (1 %) (siehe Abb. 5).

4.1.2 Förderung der Gründerszene in der Chemie und neue Partnerschaften Seit Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind Gründungsrate und Innovatorenquote in Deutschland rückläufig. Das ist besorgniserregend, da gerade in neuen Technologiefeldern, bei Trends und in der frühen Phase des Transfers wissenschaftlicher Erkenntnisse, Produkte und Verfahren von Start-ups und jungen Unternehmen ein wichtiger Treiber beim Erschließen neuer Märkte und damit für den Durchbruch innovativer Ideen sind (EFI Gutachten 2018). Im Gegensatz zur IT-Branche erfahren in der Chemie Start-up-Unternehmen allerdings bisher wenig finanzielle Unterstützung. Gerade bei Life Sciences und Chemie gibt es insbesondere bei der Skalierung einen beträchtlichen Kapitalbedarf – Zugang zu Laboren und Produktionsanlagen sind aufgrund der hohen Anforderungen bei Zulassung und Produktsicherheit sehr kostenintensiv und limitiert. Deshalb setzt sich die Branche für eine Stärkung der Start-up-Szene in der Chemie ein: Mit dem „Forum Start-up Chemie“ wollen der Verband der chemischen Industrie und fünf andere Organisationen eine neue Gründerzeit in der Chemie in Gang bringen und bessere Rahmenbedingungen für die Start-up-Szene in der Chemie schaffen. Sie geben ihr Know-how und ihre Erfahrung an Gründer und junge Start-ups weiter und helfen ihnen, erfolgreich zu sein (VCI 2018a).

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4.1.3 Nachhaltigkeit und Innovation Eine Vorreiterrolle nimmt die europäische Chemieindustrie beim Thema Nachhaltigkeit und Innovation ein. Nachhaltigkeit bedeutet, die drei Dimensionen Wirtschaftlichkeit, Umweltschutz und soziale Verantwortung ganzheitlich zu betrachten (VCI 2018b).8 Innovative Ansätze dafür entwickelt die Chemiebranche mit ihrer Forschung und mit der Anwendung neuer Lösungen zur Schließung von Stoffkreisläufen durch chemisches Recycling zum Einsatz neuer Rohstoffe und Verfahren, z. B. industrielle Biochemie, synthetische Rohstoffe, und zur Effizienzsteigerung durch Digitalisierung in Wertschöpfungsnetzen. Nachhaltigkeit und Innovation gehen dabei Hand in Hand. Entscheidend für eine erfolgreiche Skalierung sind Partnerschaften und Kooperationen entlang der gesamter Wertschöpfungsketten. 4.1.3.1 Circular Economy in der Chemie Das Circular-Economy-Modell hat über die vergangenen Jahre in Politik, Industrie und Gesellschaft an Bedeutung gewonnen (EU-Commission 2018a, b). Ziel ist es, Stoff- und Material-Kreisläufe zu schließen und Produkte sowie Ressourcen bestmöglich entlang eines Wertschöpfungskreislaufes zu nutzen. Dieser Übergang von einer „linearen Wegwerfgesellschaft“ zu einer Kreislauf-Ökonomie bringt einschneidende Veränderungen in Geschäftsmodellen von Unternehmen mit sich. Bei diesem Wandel spielt die Chemieindustrie aufgrund ihrer Innovationskraft eine führende Rolle. Beispielsweise sind der effiziente Einsatz und die Wiederverwertung von Ressourcen Grundprinzip der Produktion im BASF-Verbund. Produktionsbetriebe und ihre Energieversorgung werden intelligent vernetzt, sodass beispielsweise die Abwärme eines Betriebes anderen Betrieben als Energie zur Verfügung steht. Außerdem können die Nebenprodukte einer Fabrik an einer anderen Stelle als Einsatzstoff dienen. So werden nicht nur Rohstoffe und Energie gespart, sondern Emissionen vermieden, Logistikkosten gesenkt und Synergien genutzt. Der Kreislauf-Gedanke konzentriert sich jedoch nicht nur auf unternehmenseigene Geschäftstätigkeiten (BASF 2018c). 4.1.3.2 Chemisches Recycling: ChemCycling-Projekt bei BASF Ein weiterer wichtiger Zweig der Circular Economy ist die Wiederverwertung von Materialien und ihre Rückführung in Stoffkreisläufe. Ein Beispiel dafür sind Kunststoffabfälle. Gesetzgeber weltweit erhöhen den Druck, indem sie Recyclingquoten sowie die Wiederverwertbarkeit von Materialien fordern (EU Commission 2018a, b). Kunden von BASF haben sich verpflichtet, den Anteil von recyceltem Material in ihren Produkten zu erhöhen. 8Aussage

des VCI zur Nachhaltigkeit: „Wir handeln nach dem Leitbild der Nachhaltigkeit und engagieren uns für eine nachhaltige Entwicklung. Darunter verstehen wir wirtschaftlichen Erfolg eng verknüpft mit dem Schutz von Mensch und Umwelt sowie gesellschaftlicher und sozialer Verantwortung.“ (VCI 2018b).

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Da mechanisches Recycling an seine Grenzen stößt und die Reinheit des Materials mit jedem Zyklus abnimmt, hat BASF mit „ChemCycling“ einen neuen Ansatz entwickelt. Dabei wird Kunststoffabfall durch thermochemische Verfahren in Rohmaterialien umgewandelt. Das Rohmaterial kann in den Verbund eingespeist werden, wodurch neue chemische Produkte entstehen. Chemisches Recycling ist ein komplementäres Verfahren zum mechanischen Recycling für Kunststoffabfälle. Es eignet sich insbesondere für Kunststoffabfälle, die nicht hochwertig mechanisch recycelt werden können, beispielsweise weil sie nicht sortenrein sind, und deren chemisches Recycling eine bessere Öko-Bilanz aufweist als die thermische Verwertung. Die Chemiebranche hat Ideen und ist innovativ. Die Beispiele zeigen aber auch, wie wichtig es ist, dass die Politik ein entsprechendes Förder- und Regulierungsumfeld schafft, sodass Innovationen auch die Chance haben, ihre Wirkung zu entfalten.

4.2 Was die Politik tun sollte Klar ist, dass alle Akteure eng miteinander verzahnt arbeiten müssen. Nur in der Bündelung der Kompetenzen und Ressourcen von privatem und öffentlichem Sektor wird in Europa eine kritische Masse an Forschungs- und Innovationsaktivitäten entstehen können, die eine Spitzenposition im globalen Wettbewerb ermöglicht.

4.2.1 Investitionen in Forschung und Entwicklung stärken Die Höhe der Forschungsbudgets in Europa und Deutschland muss der Bedeutung des Themas Forschung und Innovation für die Zukunft des Standorts Europa gerecht werden. In der Ausgabenhierarchie hat Forschung und Entwicklung allerdings immer noch nicht den Stellenwert, den es haben müsste. Dies hat auch die Politik erkannt, wie man am Beispiel der Bundesregierung sieht, die im Koalitionsvertrag ein „3,5 % Ziel“ für die bundesweite Forschungsintensität gesetzt hat (Bundesregierung 2018a). Durch die gemeinsamen Anstrengungen von Politik und der Wirtschaft, die rund zwei Drittel der Forschungsinvestitionen beisteuert, gelang es in den vergangenen Jahren, die Forschungsintensität sukzessive zu erhöhen. Lag die Kennzahl von Forschungsausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in Deutschland 2005 noch bei 2,42 %, so stieg dieser Wert auf 3,02 % im Jahr 2017 (F.A.Z. 2018; OECD 2018). Auch auf europäischer Ebene sollen die Ausgaben deutlich erhöht werden. Das zukünftige EU-Forschungsrahmenprogramm (Horizon Europe 2018), das ab 2021 gelten soll, sieht ein Finanzvolumen von knapp 100 Mrd. EUR vor. Das wäre eine deutliche Steigerung gegenüber den 80 Mrd. EUR des Vorgängerprogramms Horizon 2020. Dieser Entwurf muss nun auch tatsächlich verabschiedet werden.

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4.2.2 Änderung des Charakters der Forschungsförderung: Ein Plan für Innovationen Es geht aber nicht nur um die Höhe der Forschungsausgaben. Forschungsförderung muss auch den Anspruch haben, schneller zu werden und mehr Wirkung zu erzielen (EU Commission 2018c). Dafür müssen Denkmuster durchbrochen, aber auch Strukturen verändert werden. Der Europäische Innovationsrat für bahnbrechende Innovationen sowie die Gründung einer Agentur für Sprunginnovationen auf deutscher Ebene haben beide die Intention, die bereits exzellente inkrementelle Innovation um mehr disruptive Innovationen zu ergänzen (BMBF 2018b; EU Commission 2018d). Finanzierung und Struktur bilden die Grundlage. Auf dieser Basis lassen sich Innovationskraft und Innovationspotenzial aber nur dann signifikant steigern, wenn Ziel und Beitrag einer bestimmten Erfindung klar beschrieben sind. Steht fest, welche globale Herausforderung angegangen werden soll, oder welche Aufgabe („Mission“) gelöst werden soll, dann kann Forschung konzentriert und der Mitteleinsatz noch effizienter gestaltet werden (EU Commission und Mazzucato M 2018). Mit der Ermöglichung von „Important Projects of Common European Interest“ (IPCEIs) gibt es auch bereits einen klugen Weg, wie strategische industrie- und innovationspolitische Ziele verfolgt werden können, ohne die Grundsätze des Wettbewerbs zu beeinträchtigen (EU Kommission 2014). Gleichzeitig können IPCEIs dazu beitragen, den Transfer von der wissenschaftlichen Lösung in ein marktfähiges Produkt zu beschleunigen. Hier muss Europa dringend aufholen, wie die Beispiele des MP3-Players oder der Gentechnologie zeigen, die zwar europäische Erfindungen waren, aber in anderen Regionen der Erde in Produkte umgesetzt wurden. Auch die Bemühungen der deutschen Bundesregierung zur Gründung einer Transferinitiative verfolgen dieses Ziel (Bundesregierung 2018b). 4.2.3 Rahmenbedingungen für Unternehmensgründungen verbessern Inkrementelle Innovationen, bei denen die deutsche und europäische Industrie traditionell stark ist, reichen auf Dauer nicht aus, um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Langfristig sichern nur Sprunginnovationen die Wettbewerbsfähigkeit. Um diese herum bilden sich neue Systeme und Plattformen und damit weitere Innovationen. Hier spielen Start-ups eine entscheidende Rolle, denn „anders und neu denken“ fällt etablierten Unternehmen oft schwerer. Start-ups wiederum brauchen dafür das richtige Ökosystem und die richtigen Bedingungen – mehr Wagniskapital, vor allem in der Wachstumsphase, weniger Bürokratie sowie mehr Aufgeschlossenheit der etablierten Unternehmen für Kooperationen. Konkret fordern die Start-ups folgendes (siehe Abb. 6): Mit dem Hightech Gründerfonds (HTGF) beschreiten in Deutschland Politik und Unternehmen einen erfolgreichen Weg zur frühen Förderung von Technologie-Startups. Mit einem Schwerpunkt auf den Branchen Software, Medien und Internet sowie Hardware, Automation, Healthcare, Chemie und Life Siences hat der Fonds seit 2005

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Abb. 6   Erwartungen von Startups an die Große Koalition (Bundesverband Deutscher Startups e. V. & KPMG 2018)

500 Unternehmen aus der Hightech-Branche finanziert und mit seinem Team aus Start-up-Experten sowie seinem internationalen Partner-Netzwerk erfolgreich begleitet. Neben einem eigenen Fondsvolumen von insgesamt 890 Mio. EUR wurden bislang 1800 Mio. EUR externes Kapital in über 1300 Folgefinanzierungsrunden in das HTGF-Portfolio investiert. Anteile an mehr als 90 Unternehmen wurden bereits erfolgreich verkauft. Zu den Investoren des Public-Private-Partnerships gehören Unternehmen ebenso, das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, die Kreditanstalt für Wiederaufbau sowie die Fraunhofer-Gesellschaft (HTGF 2018). Dieses Modell sollte auch auf Europa übertragen werden.

4.2.4 Innovationsoffenheit demonstrieren und honorieren Letztlich bedarf es für alle diese Ansätze und Aktivitäten eines Mentalitätswandels in der Gesellschaft über den angemessenen Umgang mit Risiken. Die Gesellschaft in Europa muss offener dafür werden, Risiken einzugehen. Um dies im politischen Handeln zu verankern, sollte der Gesetzgeber nach dem Innovationsprinzip vorgehen. Jede gesetzgeberische Tätigkeit sollte auch entsprechende Folgen auf die zukünftige Innovationsfähigkeit berücksichtigen (ERF 2014). Damit Innovationspolitik auf einer wissensbasierten Basis aufbauen kann, muss die Politik das Innovations- und Vorsorgeprinzip ausgewogen berücksichtigen. Ein interessantes Modell sind Reallabore. Das sind Experimentierräume für Innovationen, die in einem weniger reglementierten Umfeld schneller entstehen können. Mit diesem „Learning by doing“-Ansatz wird der Bedarf für eine punktgenaue Regulierung schneller deutlich. So können passgenaue Rahmenbedingungen schon vor der Skalierung getroffen werden.

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4.3 Zwischenfazit Die Grundzüge einer zunehmend stärkeren Gewichtung von Innovationen in Deutschland und Europa sind zu erkennen. Damit sind die wesentlichen Voraussetzungen für eine kluge Zukunftspolitik gegeben. Angesichts der enormen Geschwindigkeit, mit der sich Veränderungen in den USA und in China vollziehen, braucht es aber ein entschlossenes „Mehr“! Europa muss mehr Ressourcen für Innovationen zur Verfügung stellen, diese müssen deutlich strategischer eingesetzt werden und ihr Einsatz muss mit Mut zum Risiko erfolgen. Das sind die Zutaten guter Innovationspolitik. Sie schaffen die Voraussetzung dafür, dass Europa sich auch in Zukunft mit dem einzigen wirklichen Rohstoff – guten Ideen – differenziert. Allerdings muss dieser Rohstoff auch in Wohlstand überführt werden. Das Wissen, das geschaffen wird, muss dann konsequent in Innovationen umsetzt werden. Wie die Beispiele zeigen, sind vor allem die Ansätze erfolgreich, die die Innovations-Akteure aus dem öffentlichen und dem privaten Bereich besser miteinander verknüpfen. Ein starker Verbund von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft kann die Entstehung von Innovationen verstärken und den Transfer von Innovationen in den Markt beschleunigen. Eine integrierte Innovations- und Industriepolitik kann daher nur von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft gemeinsam entworfen und umgesetzt werden.

5 Schlusswort: Leidenschaft für Innovationen und neues Bewusstsein für die Quellen unseres Wohlstandes in Europa Das Projekt Europa wird bedrängt und steht unter Druck – von außen wie von innen. Eine Revitalisierung Europas kann aber nur von innen erfolgen. Der Schlüssel dazu ist die Innovationskraft. Europa braucht daher dringend ein Projekt „Innovation Europa“! Die Leidenschaft für Innovation in Europa zu stärken, ist eine gemeinsame Aufgabe von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Europa darf sich nicht weiter auf seinen Leistungen aus der Vergangenheit ausruhen. An Wissen, Projekten und Ideen mangelt es nicht und das kulturell vielfältige und offene Europa bietet beste Voraussetzungen, an Erfolge der Vergangenheit anzuschließen. Was es braucht, ist zunächst ein deutlich gestärktes öffentliches Bewusstsein, dass Innovationen die Quelle von langfristig gesichertem Wohlstand in Europa sind. Nur mit einer größeren Aufgeschlossenheit und Leidenschaft für neue Ideen wird Europa die Herausforderungen der Zukunft angehen und seine Innovationskraft sowie Wettbewerbsfähigkeit sichern können. Hierauf muss die Entschlossenheit zum Handeln aufsetzen: Politik, Wissenschaft und Wirtschaft müssen agiler und viel vernetzter agieren. Im Jahre 2018 begeht die EU den 25. Jahrestag ihres Bestehens. Darauf muss dringend ein neuer Zukunftsvertrag aufgesetzt werden, der Innovationen als Teil der DNA Europas in den Mittelpunkt rückt und dem Projekt „Innovation Europa“ dauerhaft Schwung verleiht.

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Dr. Martin Brudermüller  ist seit Mai 2018 Vorsitzender des Vorstands und seit Mai 2015 Chief Technology Officer (CTO) der BASF SE. Ab Mai 2011 war er stellvertretender Vorstandsvorsitzender. Seit dem Jahr 2006 ist er Mitglied des Vorstands. Er wurde 1961 in Stuttgart geboren. Von 1980 an studierte er Chemie an der Universität Karlsruhe und erhielt dort 1985 sein Diplom. Nach der Promotion, die er 1987 in Karlsruhe abschloss, absolvierte er einen Postdoc-Aufenthalt an der University of California, Berkeley, USA. Martin Brudermüller begann seine Laufbahn bei BASF 1988.

KI-Technologieschock und Zukunftsstau Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft für einen zukunftsoffenen und marktorientierten Zugang zur General Purpose Technologie KI als Wachstumsmotor für Europa Daniel Jeffrey Koch

KI-Kluft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft überwinden.

Der Foresight Manager Daniel Jeffrey Koch beschäftigt sich aus der unternehmerischen Anwendungsperspektive heraus mit dem Thema Künstliche Intelligenz – zweifellos eine Zukunftstechnologie für innovative Produkte und Prozesse. Ob Hype oder Realität muss sich allerdings an entsprechenden Anwendungen und Use Cases zeigen. Genau dieses Ausprobieren, in die Anwendung bringen und industrialisieren sollte zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Zentrum aller Handlungen zur Förderung von KI stehen. Die deutschen Unternehmen dabei zu unterstützen, KI in Prozesse und Produkte zu bringen, basierend auf dem State of the Art der Forschung, entscheidet über die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in Europa. Ja, deutsche und europäische Unternehmen sind prädestiniert für den Einsatz von KI vor allem gepaart mit der ingenieurwissenschaftlichen und industriellen Kompetenz; aber, es wird möglicherweise auch ungleich schwerer sein, industrielle Daten so brauchbar zu machen, dass KI seine Potenziale in abgeleitete Handlungen übersetzt voll entfalten kann. Scheitert einmal eine Internetsuche, startet eine App nicht, verspätet sich eine Personenbeförderung oder geht ein Internetkauf schief, ist das sicherlich ärgerlich, aber erscheint nicht als Weltuntergang. Gerät eine Produktionsmaschine aus dem Tritt oder erfolgt eine Prozessfehlsteuerung kann dies ernste Folgen haben. Somit sind also möglicherweise nicht nur die Daten schwerer brauchbar zu machen, auch die Auswirkungen von KI abgeleiteten Handlungen können wesentlich kritischer sein. All dies kann nur durch das Anwenden und Erproben

D. J. Koch ()  Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Weissenberger-Eibl (Hrsg.), Zukunftsvision Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58794-2_12

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potenzieller KI Lösungen mit Unternehmen im Hinblick auf eine Industrialisierung erarbeitet werden – dort zeigen sich dann auch die Herausforderungen, die an die Forschung gegeben werden können, um sie für die Anwendung zu lösen.

1 Deutschland in einer disruptiven Welt Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Europa der Technologieführer der Welt. Basierend auf den bahnbrechenden Innovationen europäischer Wissenschaftler und Erfinder erlebte Europa eine Ausbreitung von Wachstum und Wohlstand. Am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint Europa von einer globalen technologisch geprägten Vordenkerposition weit entfernt. Es gibt nur wenige globale Technologieunternehmen, die in den letzten 20 Jahren aus Europa hervorgegangen sind. Der Wettbewerb um digitale Technologien scheint verloren und das Risiko von Asien, insbesondere China, technologisch überholt zu werden ist nicht Fiktion, sondern tägliche Realität. Wachstum und Wohlstand basieren auf technologischer Wettbewerbsführerschaft. Ein Europa, dass sich hiervon verabschiedet, sollte die größte Sorge der politischen Entscheidungsträger in Europa sein, wo alternde Bevölkerungen und begrenzte natürliche Ressourcen nach innovativen Lösungen und neuen Wachstumsquellen verlangen. Es sind allerdings nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen am Horizont sich mit vereinten Kräften neu im Wettbewerb um die globale Innovationsführerschaft zu positionieren. Große Teile der globalen Arbeitsteilung und der Wirtschaft werden unter dem Einfluss disruptiver Technologien neue definiert und ausgeprägt. Hierfür ist es notwendig, dass in Deutschland und Europa alle Partner miteinander wirken. Europa kann nur zum Innovationsmotor werden, wenn eine Bündelung der Kräfte erfolgt ohne individuelle Stärken aufzugeben, vielmehr sollten diese kombiniert werden. Denn nicht nur Künstliche Intelligenz ist eine reale Triebfeder sondern vielmehr die gesamte technologische Basis der Digitalisierung als Mikroelektronik, moderne Kommunikationstechnik, Robotik, Datenwissenschaften, IT-Sicherheit, Blockchain- und Quantentechnologie, um nur Einige zu nennen. Diese Schlüsseltechnologien dürfen in Europa nicht nur erforscht werden, sie müssen zur Anwendung gebracht werden. Dies bedeutet eine intensive Exploration marktlicher Bedarfe und mehrwertgenerierender Anwendung der genannten Technologien. Insbesondere Künstliche Intelligenz KI ist in aller Munde und steht doch nur stellvertretend für eine digitale Welt von Morgen die manche Unternehmen noch gar nicht richtig entdeckt haben. Deutschland steht, wie Europa als Ganzes vor der Herausforderung der Transformation hin zu einer von Daten getriebenen globalen Effizienz und Konsumbewegung. Nationen und Wirtschaftsräume stehen in der internationalen Arbeitsteilung im globalen Wettbewerb miteinander. Grundlagenforschung, anwendungsorientierte Forschung und unternehmerische Ideen stehen in weltweiter meist transparenter Konkurrenz zueinander und technologisch avancierte Marktanforderungen entscheiden über

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deren Erfolg. Negierung, Profanisierung oder gar Rückzug aus diesem Wettbewerb ist keine Option, es würde die Aufgabe einer Quelle nationaler und europäischer Prosperität bedeuten.

2 Vernetzung Wissenschaft und Wirtschaft als Notwendigkeit Deutschland hofft 2018 auf die Chance für ein neues Wirtschaftswunder und ruft die digitale Aufholjagd aus. Die Förderschleusen werden weit geöffnet, zum Wohle der Grundlagen- und anwendungsorientierten Forschung. Wo ausländische Unternehmen die General Purpose Technologien schnellstmöglich in die Anwendung bringen, werden in Deutschland und Europa noch die Förderpläne für die nächsten 3–5 Jahre finalisiert. In Europa und insbesondere in Deutschland scheint nach wie vor eine Kluft zwischen exzellenter Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung und der Wirtschaft – dem Markt als Prüfstein von Ideen. Eine ganze Reihe von technologischen Entwicklungen der Forschung kommen nicht in der Gesellschaft an, dies liegt offensichtlich an einer mangelnden Integration von Wissenschaft und Wirtschaft (Acs et al. 2002, S. 1069 ff.; Cowan 2004, S. 1 ff., 2005, S. 1 ff.; Cowan et al. 2004, S. 1 ff.; Meyer und Ewerhart 2001, S. 45 ff.). Steigender digitaler Wettbewerbsdruck sowie eine brutal wirkende Globalisierung und ein damit einhergehender Komplexitätsanstieg des Umfeldes stellen Deutschland und Europa vor zunehmend neue Herausforderungen. Um die sich daraus ergebenden Chancen und Risiken frühzeitig zu erkennen und zum eigenen Vorteil nutzen zu können, müssen Volkswirtschaften ihr dynamisches Umfeld genau beobachten und die so erlangten Erkenntnisse bei der strategischen Entscheidungsfindung berücksichtigen. Erfolgreiche Länder wie USA und China machen den Markt zum Ausgangspunkt ihres Handelns. Das kann als verwerflich angesehen werden, aber am Ende steht der Markt für Wachstum und Wohlstand. Europa kann sich hierbei in der Pflicht sehen diesen Erfolg nachhaltig zu erreichen. Marktorientiertes Denken und Handeln erfordert aber eine konsequente Ausrichtung aller Prozesse am Kundennutzen (Landes 1990, S. 1 ff., 1994, S. 637 ff., 1998, S. 35 ff., 2003, S. 44 ff.). Im Fokus deutscher und europäischer Bemühungen muss die Fähigkeit der Menschen und Unternehmen stehen Innovationen hervorzubringen, d. h. neues Wissen zu schaffen und dieses in neue, marktfähige Produkte und Dienstleistungen umzusetzen (Battisti und Stoneman 2003, S. 1641 ff.). Hierfür bedarf es eines Verständnisses und einer Offenheit für globale Entwicklungen gegen deren Strömungen ein Schwimmen unweigerlich zum Untergang führt, intelligente Manöver aber zu einem erfolgreichen Überleben führen können. Innovationsoffenheit, Neugierde auf Zukunft und ein gutes Ansehen moderner technologischer Entwicklungen sollte gefördert werden und Stärken und auch Schwächen zu verstehen um erfolgreiche Lösungen zu entwickeln. Den Luxus von Vorbehalten gegenüber Zukunftstechnologien,

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technologischen Entwicklungen aus USA oder Asien kann sich Deutschland, kann sich Europa nicht leisten, wenn europäische Werte in erfolgreichen Marktlösungen eine Rolle spielen sollen. Diese Vorbehalte müssen abgebaut werden um eine Bereitschaft zur Übernahme von unternehmerischem Risiko zu fördern und die Gründungsaktivitäten zu steigern sowie das Vertrauen der Bürger in die Innovationsakteure Forscher, Unternehmen und Politik zu fördern. Für die Entwicklung von Spitzentechnologie sind Forschung und Entwicklung im Rahmen einer Grundlagenforschung enorm wichtig, aber ebenso wichtig ist die Anwendung der Ergebnisse in der Praxis (Koschatzky 1997, S. 181 ff., 2003, S. 115 ff.; Koschatzky und Gundrum 1997, S. 207 ff.; Walter und Broß 1997, S. 267 ff.). Der globale Anpassungsdruck durch einen zunehmend internationalen Technologiewettbewerb ist eine die zentrale Herausforderung für Wachstum und Wohlstand in Europa. Denn die internationale Wettbewerbsfähigkeit hängt nach wie vor von der Innovationsfähigkeit ab und ein Rückgang eines sich verschärfenden Wettbewerbs ist nicht auszumachen (Allbach 1989, S. 1340 ff.; Hult et al. 2004, S. 429 ff.). In der Folge der innovationsempirischen Arbeiten der 1980er Jahre hat sich die Vorstellung etabliert, dass Innovation ein evolutionärer, kumulativer, interaktiver und rückgekoppelter Prozess des Transfers von Information, implizitem und explizitem Wissen in Neuerungen technischen und organisatorischen Charakters ist. Dieser Prozess ist charakterisiert durch Unsicherheit, Informationssuche, Informationscodierung und -dekodierung sowie gegenseitigem Lernen. Dieser Innovationsbegriff schließt soziokulturelle Faktoren explizit ein, da diese die Interaktionsfähigkeit, -art und -intensität zwischen den verschiedenen Akteuren im Innovationsprozess sowie die entsprechenden Lernprozesse entscheidend beeinflussen (Dosi 1988, S. 1120 ff., 1997, S. 1530 ff.; Galende und Fuente 2003, S. 715 ff.; Geels 2004, S. 897 ff.; Kline und Rosenberg 1986, S. 279 ff.; Koschatzky 2005, S. 52 ff.). Für die Akteure im Innovationsprozess zeigt sich die Notwendigkeit der Grenzüberschreitung in neue Wissensbereiche und eines „Pushing the Boundaries of knowledge“. Bereits Schumpeters klassische Definition von Innovation als Prozess der Neukombination und schöpferischen Zerstörung unterliegt implizit einer Auseinandersetzung mit Grenzen und dem Überschreiten dieser Grenzen (Quack und Berthoin Antal 2006, S. 11 ff.). Erfolgreiche soziale Kommunikation als Vorbereitung für eine Ideengenerierung und Innovationen, die sich am Markt und dessen Bedürfnissen orientieren, beruht vor allem auf der Fähigkeit, die Handlungen anderer Menschen zu verstehen (Bosbach et al. 2005, S. 1295 ff.; Schumpeter 1951, S. 216 ff., 1993, S. 88 ff.). Dies beinhaltet den Abbau von Informationsasymmetrien durch eine vernetzte Zusammenarbeit, das Reduzieren der Suchkosten nach geeigneten Partnern, zum Beispiel durch Informationsdienste und Kontaktvermittlung und Verringerung sonstiger Transaktionskosten, über Aufnahmefähigkeit (absorptive Kapazität) für externe FuE-Ergebnisse zu verfügen, damit deren Nutzen erkennbar und die Ergebnisse für eigene Zwecke anpassungsfähig und weiter entwickelbar sind, kommunikations- und lernfähig zu sein, um die Problemsituation und mögliche Wege zur Problemlösung zu erfassen und in die eigene FuE einbinden zu können.

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Das bedeutet, dass die staatliche Förderung von künstlicher Intelligenz sich nicht allein auf die rein finanziellen Aspekte beschränken darf. Es geht auch darum, die sozusagen kulturelle Kluft zwischen weiten Teilen der deutschen Wirtschaft und der noch immer recht jungen KI-Technologie zu schließen. Diesem Ziel könnte die Politik zum Beispiel näherkommen, indem sie ausgewählte KI-Lösungen sehr gezielt fördert und auf diese Weise Unternehmen den intellektuellen Zugang erleichtert. Dabei geht es auch darum, dass Unternehmen die Mechaniken eines KI-Systems und dessen grundlegendes Konzept erst einmal in Gänze verstehen lernen. Das wäre die Basis, um als nächsten Schritt eine Strategie zur Implementierung von KI zu entwickeln, ein geeignetes Implementierungskonzept zu erarbeiten und schließlich effektive Maßnahmen zum Betrieb und zur Überwachung sicherzustellen. Auch wenn es so erscheint, als sei hier noch reichlich Zeit, zeigt sich doch das Vordringen von KI-Lösungen in unterschiedliche Sektoren gleichzeitig und die Positionierung zahlreicher Unternehmen im Wettbewerb. Late Comer werden es hierbei sicherlich schwer haben den intellektuellen Rückstand aufzuholen.

3 KI als General Purpose Technologie Die Künstliche Intelligenz hat die Forschungslabore längst verlassen und verspricht, die industrielle Welt und die Alltagswelt in Form sprechender Geräte und digitaler Assistenten, kooperativer Roboter, autonomer Fahrzeuge und Drohnen zu durchdringen. Ausgelöst durch Big Data und amerikanische Internetkonzerne wird diese Entwicklung durch die fortschreitende Digitalisierung aller Wirtschaftsbereiche befeuert. Auf hochleistungsfähigen Hard- und Softwareplattformen bieten die maschinellen Lernverfahren der KI das Instrumentarium, um aus großen Datenmengen komplexe Zusammenhänge zu lernen, ohne explizit programmiert werden zu müssen. Maßnahmen und Entscheidungen werden nicht nur datenbasiert vorgeschlagen, sondern direkt zur Steuerung von Geräten und Prozessen eingesetzt. Die deutsche Wirtschaft hat erkannt, dass sie den Anschluss nicht verpassen darf, allerdings hapert es an der Umsetzung und der technischen Kompetenz über das angestammte Domainwissen hinaus. Sind heutige Anwendungen noch stark geprägt durch die Paradigmen des Kommunizierens, sowie des Erfassens von Daten und deren Verarbeitung, so bieten KI-Technologien erweiterte Fähigkeiten zur Wissensgenerierung aus heterogenen Datenquellen und zur dynamischen Verhaltensanpassung durch informiertes maschinelles Lernen. KI integriert damit Prinzipien des Lernens und Verstehens auf der Basis vertrauenswürdiger Daten direkt in das Design von Systemen. Es ermöglicht, automatisiert verlässlichere Prognosen und präzisere Handlungsempfehlungen abzuleiten und angemessene Aktionen einzuleiten. Damit wird KI zu einer Schlüsseltechnologie für Wirtschaft und Gesellschaft. In einigen Anwendungsbereichen ermöglichen die breite Verfügbarkeit geeigneter Daten,

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günstig verfügbare hohe Rechenleistungen und algorithmische Fortschritte bei datengetriebenen Verfahren ganz neue Anwendungen und Geschäftsmodelle, mit denen die deutsche Wirtschaft schon heute im Wettbewerb konkurriert. KI kann im Weiteren als Informations- und Kommunikationstechnologie aufgefasst werden charakterisiert sich durch ein hohes Maß an Vielfältigkeit in Bezug auf Einsatzmöglichkeiten. Im Grunde gibt scheint wenig denkbar, dass nicht durch KI verändert/ angereichert werden kann. Solche Technologien werden auch als sog. General Purpose Technologien (GPT) bezeichnet. Die grundlegende Idee oder Annahme ist, dass eine Technologie, die den Charakter einer General Purpose Technologien hat, nach und nach in alle Sektoren einer Ökonomie zur Anwendung kommt (Carlaw und Lipsey 2002). Wie der Bezeichnung General Purpose schon vermuten lässt sind die Technologien grundsätzlich ohne weiteres auf mannigfaltige Anwendungsfälle übertragbar. Das klassische Beispiel sind natürlich Informations- und Kommunikationstechnologien IKT, die Deutschland und insb. Europa unterschätzt haben. Folgt man der Theorie, so können sich deutliche Produktivitätsfortschritte auf der makroökonomischen Eben dadurch ergeben, das entsprechende Technologien möglichst schnell und möglichst umfassend in allen Sektoren zur Anwendung kommen (DIW 2006). Noch stärker als in der Vergangenheit sollten Unternehmen in Deutschland auf die Innovationskraft und Produktivitätsentwicklung setzen, die von der Anwendung neuster Informations- und Kommunikationstechnologien ausgeht. Entscheidend für die Realisierung hoher Produktivitätssteigerungen ist die enge Verzahnung von technologischen Innovationen und Organisationsentwicklungsprozessen. Sehr bedeutsam sind die individuellen Wirkungen von IKT Technologien auf andere Sektoren (nicht IKT Wirtschaft) der Volkswirtschaft und sie erlangt dabei besondere Relevanz. Wichtige Schlüsselbereiche der deutschen Wirtschaft hängen in entscheidender Weise von der jeweils neuesten Anwendungen der IKT Technologie ab. Die ökonomische Literatur betont die hohe Bedeutung von General Purpose Technologen für das Wirtschaftswachstum, die Produktivität und die Beschäftigungsentwicklung. Darunter versteht man auch Querschnittstechnologien mit sehr hoher Produktivitätswirkung auf eine Vielzahl von Bereichen. General Purpose Technologien weisen typischerweise vier Merkmale auf: • Sie lassen sich in einer Vielzahl von Anwendungsbereichen produktiv nutzen • Preise und Leistungsmerkmale dieser Technologien werden im Zeitablauf stark verändert • General Purpose Technologien ermöglichen Folgeinnovationen für zahlreiche Produkte, Prozesse und Geschäftsmodelle • Es gibt starke Wechselbeziehungen mit anderen, komplementären Technologien und Folgewirkungen

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• Investitionen in die Entwicklung und Nutzung digitaler Technologien haben einen sehr starken Einfluss auf das Wachstum und die Produktivitätsentwicklung (EFI 2014). Dabei ist hinreichend bekannt, dass ein bedeutender Teil der des gesamtwirtschaftlichen Anstiegs der Arbeitsproduktivität in den letzten beide Dekaden in Deutschland insbesondere auf Investitionen in Informations- und Kommunikationstechnologien, also GPT-Technologien zurückzuführen ist. General Purpose Technologien werden von Unternehmen aller Wirtschaftszweige eingesetzt, um ihre Produktivität zu erhöhen. Die Bedeutung für Produkt- und Prozessinnovationen zu unterschätzen kann zu wesentlichen Wettbewerbsnachteilen führen.

4 Koordination von Wissen als Treiber von KI Um KI für Deutschland in Europa zum Erfolg zu führen sollte der Fokus auf die frühe Phase im Innovationsprozess gelegt werden. So sollte laut Szyperski (1980) „in der frühen Phase vor allem die Strukturierung des Problems unterstützt werden, in einer Situation, in der vor allem mit Informationen und dem Wissen in den Köpfen der Mitarbeiter eine Koordination erfolgen sollte als artefaktlose bzw. semantische Koordination“. Die Koordination von Informationen und Wissen stellt also eine integrale Aufgabenstellung an das Unternehmen dar. Diese Koordination wird allerdings in den sehr frühen Phasen des Innovationsprozesses, in der Forschung und Entwicklung, in der Situation der Ideengenerierung vornehmlich durch den einzelnen Experten vollzogen. Die angeführte Koordination von Informationen und Wissen erfolgt auf Individualebene durch das Individuum als Experte. Diese Koordination soll hier unter dem Stichwort Entrepreneurship näher betrachtet werden. Von besonderem Interesse für KI-Innovationen ist die gerade diese grundlegende Frage der Koordination, die auch in der Koordination der Arbeitsteilung zu finden ist. Ludwig von Mises (1940, 1949) hat diese Überlegungen dahin gehend erweitert, dass jedes Handeln einen unternehmerischen Kern hat, der in der kreativen Schöpfung von Information über die Zukunft besteht. Der Erfolg eines Unternehmers fußt auf der erfolgreichen Koordination von Informationen, also der Verbindung der Kenntnis zu zukünftigen Marktbedarfen mit eigenen technologischen Potenzialen, die sich natürlich aus den Quellen Domainwissen und KI-Wissen speisen. Ein Anlagenbauer wird so seine technische Expertise um KI-Wissen anreichern müssen um ein Gesamtsystem zu schaffen, welches zukünftigen Marktbedarfen entspricht. Die Herausforderung der Koordination von Wissen in der frühen Phase rührt aus dem Umstand der Erfindung der Arbeitsteilung. Arbeitsteilung ist der Prozess der Aufteilung von Arbeiten oder Aufgaben im Sinne einer Aufgabendekomposition unter mehreren Akteuren oder auch unter Beteiligung von Maschinen.

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Eine Arbeitsteilung bedarf dabei vor allem einer Koordinierung der Teilaufgaben um diese wieder beispielsweise zu einem Produkt zusammenzuführen. Somit beinhaltet die Division of Labour die Zerlegung der Arbeitsschritte im Sinne einer Dekomposition und eine Koordination im Sinne einer Zusammenführung der Ergebnisse. Die Arbeitsteilung steigert nach Adam Smith die Produktivität der Arbeit durch Spezialisierung, Zeitersparnis und technische Fortschritte (Smith 1991). Die Spezialisierung bewirkt, dass sich vor allem Akteure auf den Teil des gesamten Produktionsprozesses konzentrieren, bei dem sie komparative Vorteile haben. Hier bauen Akteure spezialisiertes Wissen in Teilen des Produktionsprozesses auf. Die Zeitersparnis rührt hierbei daraus, dass mehrere Akteure ihr Wissen kombinieren, anstatt, dass ein Akteur versucht sich dieses Wissen alleine anzueignen, was auch kognitiv nicht darstellbar wäre. Der technische Fortschritt kommt dadurch zustande, dass einzelne Teile eines Produktionsvorganges, auch einzelne Wissensdomänen, leichter verbessert werden und flexibler ausgetauscht werden können. Allerdings erfordert die Arbeitsteilung für die frühe Phase eine Fokussierung auf die Zusammenführung des verteilten Wissens als Koordination der ökonomischen Aktivitäten. Diese Koordination wird, und das zeigt die Einleitung sowie die empirischen Phänomene als „schwierig” wahrgenommen, vor allem in der frühen Phase in forschungsintensiven Unternehmen. Denn nach Becker und Murphy (1990) geht zunehmende Spezialisierung mit einem überproportionalen Anstieg der Koordinationskosten einher. Dabei kann angenommen werden, dass je komplexer das zu verhandelnde Wissen und je früher die Phase, desto höher die Koordinationskosten. Der Gewinn durch die Arbeitsteilung wird durch den Aufwand der Koordinierung geschmälert. Das bedeutet, ein Gewinn durch mehr Arbeitsteilung muss den Koordinationsaufwand übersteigen. So lassen sich erste zentrale Aspekte identifizieren, die sich auf Basis der einleitenden Überlegungen herauskristallisiert haben: • Relevanz der Mitarbeiter und deren Fachkompetenzen (z. B. Methodenkenntnis) zum eigenen Umgang und zur eigenen Koordination von Wissen in der frühen Phase. • Relevanz der Vernetzung und des Managements von Wissen in der frühen Phase als Ausgangspunkt für Wissenstransfers. Besonderer Bedeutung kommt dabei der Absorptionskapazität zu. Diese Absorptionskapazität ist nach Cohen und Levinthal (1989, 1990) die Fähigkeit, externe Informationen aufzunehmen, sie zu verstehen, zu verarbeiten und anzuwenden als Ideen oder Innovationen. Grundsätzlich sollte ein potenzieller Forscher oder Gründer Wissen suchen und sammeln. Dabei sollte es sich um internes und externes Wissen handeln (Hauschildt und Salomo 2011). Im Sinne eines Ausdrucks wie „Fortune favors the prepared“ soll Absorptive Capacity aber vielmehr als Fähigkeit oder als „fruchtbarer Boden“ verstanden werden, Informationen aufzunehmen und daraus Möglichkeiten zu entwickeln. Cohen und Levinthal

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(1989, 1990) bestätigen, dass akkumuliertes Vorwissen sowohl die Fähigkeit steigert, neues Wissen aufzunehmen, als auch, es abzurufen und zu nutzen (Cohen und Levinthal 1989, S. 569 ff., 1990, S. 128 ff.). Nooteboom (2006) fordert in Analogie zu den Überlegungen von Cohen und Levinthal (1990) eine stärkere Fokussierung auf die Relevanz der Absorptionskapazität um die grundlegenden Mechaniken des Entstehend von Innovationen zu berücksichtigen, dies gilt umso mehr für das Verständnis neuer Technologien um diese zur produktiven Anwendung zu bringen. Vor allem der Rezipient sollte in der Lage sein das Wissen um neue Technologien aufzunehmen, dabei muss allerdings eine grundsätzliche Zugänglichkeit vorhanden sein. Rogers (2003, S. 137) weist darauf hin, dass der Entwicklungsprozess von Innovationen mit dem Erkennen von Problemen oder Bedürfnissen beginnt. Der Autor führt aber nicht aus, wie sich dieses Erkennen vollzieht oder wie es befördert werden kann. Um neue technologische Möglichkeiten aufzugreifen bzw. zu schaffen, engagieren sich Unternehmen in Such- und Experimentieraktivitäten. Technologisches Wissen sollte verfügbar sein und es sollte für den potenziellen Empfänger von Nutzen sein, wobei von diesem „absorptive capacity“ (Cohen und Levinthal, 1989, S. 569 ff.; Daghfous 2004, S. 939 ff.) bzw. „receiver competences“ (Eliasson und Henrekson 2004, S. 1 ff.) aufgebracht werden sollte, damit dieses Wissen überhaupt verstanden werden kann. Der Zugriff auf externes Know-how ist allerdings nicht uneingeschränkt möglich. Auf der einen Seite kann Know-how tacit sein, wodurch es nicht verfügbar und damit nicht transferierbar wird. Auf der anderen Seite kann, basierend auf dem Konzept der latenten Öffentlichkeit, externes Wissen nur dann für eigene Zwecke verwendet werden, wenn der Empfänger selbst bereits über ein Mindestmaß an Erfahrungen im Umgang mit diesem Wissen verfügt. Hierbei ist die oben bereits angesprochene absorptive Fähigkeit notwendig. Dies hat schließlich zur Folge, dass „[…] in such cases technology transfer may be as expensive and time consuming as independent R&D“ (Cohen und Levinthal 1989, S. 569 ff., 1990, S. 128 ff.; Eliasson und Henrekson 2004, S. 1 ff.). In der ökonomischen Theorie wird über die Kosten des Transfers von Informationen diskutiert und es ergeben sich unterschiedliche Meinungen. Informationen sind dabei „sticky“, wenn mit der Übertragung ein hoher Aufwand verbunden ist (Hippel 1994, S. 429 ff.). Insbesondere die „Stickiness“ des Wissens, die als Schwierigkeit verstanden wird, Informationen und Wissen aufzunehmen und zu transferieren, tritt als zentrales Konstrukt im Kontext der Untersuchung von Innovationen auf (Pawlowski und Robey 2004, S. 646 ff.; Szulanski 1995, S. 437 ff., 1996, S. 27 ff.; Szulanski et al. 2004; Szulanski und Winter 2002). Fuzziness kann darüber hinaus zu Problemen führen, falls gleiche Wörter mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt sein können. Eine Präzisierung von Themenfeldern und Kontexten im Sinne einer definitorischen Schärfe unterstützt grundlegend beim Wissensaustausch bzw. bei der Explizierung nicht-explizit kommunizierter Wissensbedarfe. Akteure sprechen im Sinne des semiotischen Dreiecks nur bedingt die gleiche Sprache, haben sie doch unterschiedliche mentale Repräsentationen der Welt. Der Definition von Untersuchungsgegenständen wird daher eine hohe Bedeutung zugemessen.

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Das „local search“-Phänomen bezieht sich dabei auf die Effizienz der Suche nach Wissens- und Kenntnisdomänen. Typischerweise zeigt sich ein Verhaftetsein von Individuen in vorhandenen Paradigmen. Bei Konzepten und Ideen, die in einer frühen Phase im Zusammenhang mit einem hohen Innovationsgrad stehen, kommt es oftmals in der Eruierung von Lösungen zu einem sehr sequenziellen und iterativen Vorgehen, das oftmals durch lokale Optima gekennzeichnet ist. Bei einer sequenziellen Suche nach Lösungsmöglichkeiten in Form von Diskussionen und Entscheidungen sowie weiteren Diskussionen, kommt es so häufig zu einer Form von Nachbarschaftssuche mit dem Erfolg lokale Optima zu erreichen (Hauschildt und Salomo 2011; Müller-Stewens und Lechner 2005). Um dies zu überkommen kann insb. Boundary Spanning und Gatekeeping eine große Rolle spielen indem Aktivitäten von Wissenschaft und Wirtschaft vice versa intensiviert werden Netzwerke zu bilden. Denn Tushman (1977) hebt die Fähigkeit Informationen aufzunehmen und weiterzugeben als einen kritischen Aspekt des Innovationsprozesses hervor. Obwohl Informationen beispielsweise zu KI aus dem externen Umfeld wichtig sind für den Innovationsprozess, sind sie doch relativ schwer von der Organisation oder den Mitarbeitern aufzunehmen. Als Boundary Spanning-Rollen werden verschiedene Rollenkonzepte bezeichnet. Gatekeeper werden als interne Kommunikationsstars definiert, die eine starke Verbindung zu der externen Umwelt haben. Allerdings haben Gatekeeper dabei oft spezialisierte Informationsdomänen. In der klassischen Vorstellung geht es bei beiden Konzepten oftmals darum, das Unternehmen strukturiert gegenüber sich verändernden Kundenanforderungen zu öffnen. Allerdings ist dies ebenso wichtig, wenn es um neue Technologien wie KI geht. Designierte Rollen können hierbei im Unternehmen erste Zugänge zu neuen KI-Technologien etablieren, von denen dann alle Mitarbeiter profitieren können. Denn die Aufgabe von Unternehmen besteht darin, Wissen aufzubauen, zu koordinieren und zu transferieren. Deutsche Unternehmen stehen dabei vor der Herausforderung existierendes technologisches Domän-Wissen zu ergänzen, um beispielsweise KI-Wissen anzureichern und neues Wissen zu entwickeln, um neue Unternehmenschancen zu generieren.

5 Koordination von KI-Wissen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft fördern Im Vergleich zu anderen Ländern liegt Deutschland bei der koordinierten öffentlichen Förderung der KI-Forschung zurück. Einzelne Staaten insb. USA und China haben das Potenzial von KI viel länger erkannt und Strategien vorgelegt, aber insb. hat sich die Wirtschaft bereits viel klarer positioniert. KI ist der Wissenschaft entwachsen und in der Wirtschaft angekommen. Nun muss der Transfer von Wissen aus der Wissenschaft in die Wirtschaft auch in Deutschland erfolgen.

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China und die USA scheinen hierbei wirtschaftsnäher zu fördern, was insb. bei einer General Purpose Technologie wie KI von Erfolg gekrönt ist, da diese einen Sektor nach dem anderen infiltriert. Direkte Investitionen in die Forschung und Entwicklung von KI als gezielte Vernetzung von Wirtschaft und anwendungsorientierter Universitätsforschung ergänzen dabei nur die privaten Investitionen in den globalen KI-Hotspots in den USA und China. Finanzielle Ressourcen alleine in Forschung und Entwicklung (FuE) zu investieren, hilft dabei nicht. Vielmehr sollten genau diejenigen Bereiche identifiziert werden, in denen durch verbesserte Prozesse die größten Effekte zu erzielen sind. Darüber hinaus sollten die „Köpfe“ identifiziert werden, die Innovationstreiber sind (Jaruzelski 2005, S. 1 ff.). Entsprechende „Köpfe“ sollten dann an realen wirtschaftssachen KI-Lösungen arbeiten, die einen nachvollziehbaren zukunftsorientierten Business Case mit sich bringen. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass vor allem die Beziehungen zwischen den Akteuren einen maßgeblichen Ausschlag haben als Treiber regionaler Innovationssysteme. Hierzu zählen ebenso relationale Kompetenzen, wie Fähigkeiten zu Netzwerken. Der Transfers von Wissen erfolgt dabei nur, wenn es gelingt, aus vorhandenem Know-how konkrete Produkte zu machen. Hierfür ist natürlich eine Stärkung der anwendungsorientierten KI-Forschung notwendig, aber unter der Maßgabe der Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft an zukunftsträchtigen Problemen. Zusammen mit den Unternehmen sollen die Forschungsergebnisse besser in die Praxis transferiert werden denn KI ist keine Innovation wie viele andere, eher die Basis-Innovation, die schon in wenigen Jahren alle Wirtschafts- und Lebensbereiche durchdrungen haben wird. Dies macht es umso bedeutender für die Wissenschaft ihre Erkenntnisse so zügig und gut wie möglich in die Praxis zu transferieren und umgekehrt sollte die Wirtschaft als Hohlschuld den Know-how-Transfer aus der Forschung in die Unternehmen stärken. Hierbei geht es nicht darum, die Verzahnung mit der deutschen Wirtschaft über reale Anwendungsfälle in den Fokus zu rücken. Wissenschaft und Forschung zu fördern ist eine altbekannte Formen der Reaktion, die heute nicht mehr richtig zu greifen scheint. Eine leistungsfähige Wissenschafts- und Forschungslandschaft im Bereich KI, die eng mit der Industrie durch Beteiligung und Kooperationen verbunden ist, ist gemessen an signifikanten Innovationen nicht zu erkennen. Ein immer mehr an Forschung kann hier nicht reichen, ebenso wie die Vertiefung von Forschungskooperationen auch mit weiteren europäischen Partnern nur ein Reflex ist, aber keine Lösung. Damit eine breite Anwendbarkeit gesteigert wird und neue disruptive Anwendungen und Technologien ermöglicht werden, ist vor allem eine Unterstützung von praxisrelevante Anwendung von KI-Verfahren notwendig. General Purpose meint, die Technologie kann sehr breit eingesetzt werden. Grundlagenforschung hierzu bleibt damit relativ weit von der Anwendung entfernt, was zu einem Problem werden kann. Deutschland muss bei der wirtschaftsnahen und angewandten Forschung „eine Führungsrolle“ einnehmen; die Kooperation zwischen Wirtschaft, Forschung und Wissenschaft zu stärken. Es geht weniger um tradierte Reaktionsmuster, dass Forscher immer

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mehr Geld fordern sondern um ganz neue Formen der Kooperation, Organisation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Foresight kann dabei eine Brücke sein, sich anzunähern, Wissen zu koordinieren, Ambiguität abzubauen und Unsicherheiten zu reduzieren. Denn im Bereich der Künstlichen Intelligenz fällt Europa hinter den USA und China zurück. Aber eine deutliche Intensivierung der KI-Forschung in Europa ohne Ankopplung an die Wirtschaft und marktliche Lösungen wird erfolglos enden. Die Wissenschaft sollte Unternehmen erst einmal konkret dabei unterstützen, lernende Systeme anzuwenden, die heute State of the Art sind. Es ist für die Zukunft entscheidend, dass Europa zu einem wettbewerbsfähigen Standort für KI-Innovationen wird, nicht zu einem Elfenbeinturm der KI-Forschung ohne marktliche Relevanz. Es scheint ein Mangel an Verständnis dafür zu bestehen, dass China und die USA gerade wegen der Anwendungen und der sich daraus ergebenden Herausforderungen so erfolgreich sind. Ein europäisches Großforschungsinstitut für KI wäre die vollkommen falsche Entwicklung, viel weiter kann eine Institution nicht von praktischen Anwendungen entfernt sein. Gerade die Tiefen der praktischen Umsetzung und Anwendung von KI bieten die Möglichkeit zu neuen Erkenntnissen gepaart mit Wettbewerbsvorteilen. Dies zu realisieren gelingt aber nur in Innovationen, nicht, wenn Deutschland und Europa, wie in so vielen Fällen in der Forschung stecken bleiben ohne wirkliche erfolgreiche marktliche Anwendungen zu generieren. Die europäischen Werte müssen in der Realität erfolgreicher Anwendungen ankommen – dies ist der Prüfstein, nicht die rein wissenschaftliche Exzellenz. Eine breite Streuung von Fördergeldern muss unabdingbar das Leitmotive wirtschaftlicher Anwendungen in sich tragen. Es geht nicht um noch ein weiteres Forschungszentrum, es geht um die zähe und zeitintensive Aufgabe Wissenschaft und Wirtschaft in dem Feld viel enger zusammenzubringen um wirkliche marktliche Lösungen zu generieren – der Reflex Forschung zu finanzieren, greift an dieser Stelle zu kurz. Es steht nicht weniger auf dem Spiel als die Zukunftsfähigkeit Deutschlands und Europas. Es braucht eine neue Organisationsform von Wissenschaft und Wirtschaft um nicht nur für diese Technologiedisruption sondern grundsätzlich gewappnet zu sein. Wissenschaft muss sich viel stärker als heute bereits als Dienstleister für Wirtschaft und Gesellschaft verstehen, um Wachstum und Wohlstand zu sichern: Es geht um nicht weniger als den anwendungsorientierten Reboot des Wissenschaftssystems. KI wird oft mit den Veränderungen verglichen, die mit der Dampfmaschine oder dem elektrischen Strom Einzug hielten; auf Basis absehbarer Entwicklungen wird KI einen disruptiven Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft haben. Es wird deutlich, dass diese Technologien eine Proliferation in zahlreiche andere Bereiche erfahren werden. Deshalb muss das Ziel darin liegen, die Absorptionsfähigkeit der europäischen Wirtschaft für KI-Expertise zu schaffen. Ansonsten wird die Aufholjagd, mehr ist es nun schon nicht mehr, Europas im globalen Technologiewettbewerb im Sande verlaufen. Die Unternehmen müssen wissen, was mit der künstlichen Intelligenz auf sie zukommt, und in der Lage sein, die Herausforderung zu gestalten.

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Deutschlands Champions sind die Mittelständler. Diese Unternehmen zu ertüchtigen wird ein wichtiger Teil einer KI-Strategie sein, die dann vor allem Kooperationen zwischen Forschung und Wirtschaft betonen sollte um Industriearbeitsplätze in hochinnovativen Bereich mit enormer Wertschöpfung zu schaffen. Forschung muss nun der industriellen Anwendung dienen um Innovationen für eine wettbewerbsfähige Zukunft zu schaffen.

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KI-Technologieschock und Zukunftsstau

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Dr. Daniel Jeffrey Koch  war nach seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Innovations- und TechnologieManagement der Universität Kassel für mehr als zehn Jahre in unterschiedlichen Funktionen und Instituten der Fraunhofer Gesellschaft tätig. Nachdem er am Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI das Geschäftsfeld Management von Innovationen und Technologien aufgebaut hatte, war er als wissenschaftlicher Assistent der Institutsleitung und Projektleiter am Fraunhofer ISI tätig bevor er in das Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme IAIS wechselte und dort das Geschäftsfeld Industrial Analytics aufbaute. Bevor er Mitte 2018 in die Industrie wechselte, war er Leiter der Geschäftsstelle des Zentrums für Maschinelles Lernen im Fraunhofer-Cluster of Excellence Cognitive Internet Technologies. Aktuell ist er als Foresight Manager tätig.