Zukunft Mikromobilität: Wie wir nachhaltig in die Gänge kommen: Ein Rad-Geber 9783963178627, 3963178620

Minitransportmittel wie E-Bikes, überdachte Fahrräder, Lastenräder oder auch E-Scooter sorgen für einen Boom der Mikromo

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Zukunft Mikromobilität: Wie wir nachhaltig in die Gänge kommen: Ein Rad-Geber
 9783963178627, 3963178620

Table of contents :
Cover
Inhaltsverzeichnis
Vorwort: Vorfahrt Mikromobilität (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Rad-Mobilität der Zukunft mit Cradle to Cradle (Nora Sophie Griefahn und Tim Janßen)
Mehr Mobilität mit weniger Verkehr (Matthias Schäpers)
Wir Mobilitätsmenschen. Das Fahrrad im Fokus der Verkehrswende (Benedikt Weibel)
Fahrräder in China. Der Inbegriff eines modernen Lebens zwischen Mobilität und Technologie (Tobias Loitsch)
Bewegte Zeiten: Von den Anfängen des Individualverkehrs zur fahrradgerechten Stadt (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Frauen am Rande des Oderbruchs (Anne Weiss)
Geschichte und Geschichten rund ums Rad: Von der Kaiserin über den König zum Komiker (Alfons Schweiggert)
Die wichtigsten Fahrradtypen und ihre Einsatzgebiete (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Mosaiksteine zur Mobilitätswende: Welche Rolle spielen E-Scooter? (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Wie nachhaltig sind Produkte rund ums Rad? – Eine kleine Warenkunde (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Die Bedeutung der Lieferkette in der Fahrradbranche (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Das Fahrrad als Dekorationsobjekt (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Von Einzelkämpfern und Teamentwicklern – und der Strahlkraft des Fahrrads (Claus-Peter Niem und Karin Helle)
Nachhaltiger Tourismus (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Radfahren & Wellness (Alexandra Hildebrandt)
Vom Glück des Radelns: Gedanken zu einem tragenden Lebensgefühl (Karsten Schumann)
Eine Radtour in Thüringen ist immer auch eine Tour zu den »Drei Gleichen«. Über Stock und Stein mit Goethe, Schiller, Luther (Olaf Schulze)
Was die Diversifizierung der Mikromobilität für die Verkehrsplanung und Straßenraumgestaltung bedeutet (Dennis Knese)
Urbane Mobilitätskonzepte und Umsetzungen für klimaneutrale gesunde Unternehmen und Quartiere. Perspektiven & Projekte von Beratung bis Wartung (Stephan A. Jansen unter Mitarbeit von Martha Wanat)
Fahrrad statt Elterntaxi: Von klein auf eigenständig mobil (Anika Meenken)
Klimabildung in den Schulen – und die Rolle der Mobilität (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Klimafreundliche Mitarbeitermobilität (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Förderung der Fahrradnutzung als Beitrag zum Betrieblichen Mobilitätsmanagement (Dieter Brübach (B.A.U.M. e.V.) und Natalia Astrin (GIZ))
Emissionsfreie Zustellung auf der Letzten Meile. Wie gelingt verantwortlicher Versandhandel (Claudia Silber)
City Logistik neu gedacht. Das Lastenrad als Game Changer (Karolin Zientarski)
Kreislaufwirtschaft statt Wegwerfprodukt: Das Schwalbe Recycling System (Frank Bohle)
Die Kultur der Reparatur (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Ein Stück Freiheit: Fahrräder für Geflüchtete (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)
Verkehrskonzepte der Zukunft – 10 Thesen (Stefan Carsten)
Gute Verbindung: Die wichtigsten Netzwerke für eine nachhaltige Verkehrswende (Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber)

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ZUKUNFT MIKROMOBILITÄT

Um die Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft voranzutreiben, benötigt es vor allem Menschen – Menschen, die aus Überzeugung engagiert handeln und im Rahmen ihrer Möglichkeiten Dinge bewegen. Einer dieser Menschen ist Dr. Alexandra Hildebrandt, die mir immer wieder aufzeigt, wie vielfältig und facettenreich diese Möglichkeiten sind und die mich immer wieder motiviert weiterzumachen, auch wenn die Hürden und Probleme noch so groß erscheinen. Ohne ihre Beharrlichkeit wäre dieses Buch nie entstanden. Mein Dank und meine Hochachtung gehen an dieser Stelle nicht nur an sie, sondern an alle Menschen, die sich täglich für mehr Nachhaltigkeit und für ein gutes Leben auch für die nachfolgenden Generationen einsetzen. Claudia Silber

Alexandra Hildebrandt, Claudia Silber (Hg.)

ZUKUNFT MIKROMOBILITÄT Wie wir nachhaltig in die Gänge kommen: Ein Rad-Geber

Alexandra Hildebrandt, Claudia Silber (Hg.) Zukunft Mikromobilität Wie wir nachhaltig in die Gänge kommen: Ein Rad-Geber ISBN (Print) 978-3-96317-313-4 ISBN (ePDF) 978-3-96317-862-7 Copyright © 2022 Büchner-Verlag eG, Marburg Satz: DeinSatz Marburg | rn Bildnachweis Umschlag-Illustrationen: Jan Hendrik Ax | www.janhendrikax.de Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. www.buechner-verlag.de

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Inhaltsverzeichnis

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Vorwort: Vorfahrt Mikromobilität

8

I. Zukunft in Bewegung Nora Sophie Griefahn und Tim Janßen Rad-Mobilität der Zukunft mit Cradle to Cradle

30

Matthias Schäpers Mehr Mobilität mit weniger Verkehr

43

II. Das Rad der Geschichte gestern und heute Benedikt Weibel Wir Mobilitätsmenschen. Das Fahrrad im Fokus der Verkehrswende

47

Tobias Loitsch Fahrräder in China. Der Inbegriff eines modernen Lebens zwischen Mobilität und Technologie

60

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Bewegte Zeiten: Von den Anfängen des Individualverkehrs zur fahrradgerechten Stadt

70

Anne Weiss Frauen am Rande des Oderbruchs

77

Alfons Schweiggert Geschichte und Geschichten rund ums Rad: Von der Kaiserin über den König zum Komiker

88

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Die wichtigsten Fahrradtypen und ihre Einsatzgebiete

94

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Mosaiksteine zur Mobilitätswende: Welche Rolle spielen E-Scooter?

107

6  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Wie nachhaltig sind Produkte rund ums Rad? Eine kleine Warenkunde

109

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Die Bedeutung der Lieferkette in der Fahrradbranche

122

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Das Fahrrad als Dekorationsobjekt

126

Claus-Peter Niem und Karin Helle Von Einzelkämpfern und Teamentwicklern – und der Strahlkraft des Fahrrads

129

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Nachhaltiger Tourismus

149

Alexandra Hildebrandt Radfahren & Wellness

155

Karsten Schumann Vom Glück des Radelns: Gedanken zu einem tragenden Lebensgefühl

164

Olaf Schulze Eine Radtour in Thüringen ist immer auch eine Tour zu den »Drei Gleichen«. Über Stock und Stein mit Goethe, Schiller, Luther

180

III. Verkehrspolitik und nachhaltige Mobilitätswende Dennis Knese Was die Diversifizierung der Mikromobilität für die Verkehrsplanung und Straßenraumgestaltung bedeutet

198

Stephan A. Jansen unter Mitarbeit von Martha Wanat Urbane Mobilitätskonzepte und Umsetzungen für klimaneutrale gesunde Unternehmen und Quartiere. Perspektiven & Projekte von Beratung bis Wartung

214

Anika Meenken Fahrrad statt Elterntaxi: Von klein auf eigenständig mobil 228 Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Klimabildung in den Schulen – und die Rolle der Mobilität 250

Inhaltsverzeichnis  7 

IV. Klimafreundliche Mitarbeitermobilität – Alternativen zum Firmenwagen Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Klimafreundliche Mitarbeitermobilität

254

Dieter Brübach und Natalia Astrin Förderung der Fahrradnutzung als Beitrag zum Betrieblichen Mobilitätsmanagement

259

V. Mobilität und Logistik Claudia Silber Emissionsfreie Zustellung auf der Letzten Meile. Wie gelingt verantwortlicher Versandhandel

272

Karolin Zientarski City Logistik neu gedacht. Das Lastenrad als Game Changer

275

VI. Nachhaltige Wege zur Circular Economy Frank Bohle Kreislaufwirtschaft statt Wegwerfprodukt: Das Schwalbe Recycling System

288

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Die Kultur der Reparatur

297

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Ein Stück Freiheit: Fahrräder für Geflüchtete

302

VII. Die neue Mobilitätskultur und Future Mobility Stefan Carsten Verkehrskonzepte der Zukunft – 10 Thesen

305

VIII. Zusatzinformationen Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Gute Verbindung: Die wichtigsten Netzwerke für eine nachhaltige Verkehrswende

318

8  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

Vorwort: Vorfahrt Mikromobilität

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber In Zeiten, in denen unsere Privatheit immer mehr verlorengeht und die Welt aus den Angeln gehoben ist, wächst das Bedürfnis, die Welt selbstbestimmt zu gestalten und zu handeln. Die moderne Sehnsucht nach Freiheit, die sich auch in der Liebe zum Fahrrad widerspiegelt, verdankt sich einer Komplexität, die den Einzelnen immer mehr vereinnahmt und dazu führt, dass er sich von sich selbst löst und fremdbestimmt ist: von den Medien, der Technik und der Welt des Konsums. Inmitten dieser Unüberschaubarkeit von Möglichkeiten suchen Menschen nach etwas, das sie im buchstäblichen Sinn »selbst« bewegt, das mit dem Spüren ihres Körpers verbunden ist, der Freude am Ursprünglichen und im wahrsten Sinne des Wortes mit Erdverbundenheit. »Nichts ist vergleichbar mit der einfachen Freude, Rad zu fahren.« John F. Kennedy Bis Ende März 2022 präsentierte das Stadtmuseum Berlin im Märkischen Museum gemeinsam mit mususku – Museum der Subkulturen eine Sonderausstellung unter dem Titel »Easy Rider Road Show«. Im Mittelpunkt stand dabei das Fahrrad als Phänomen der Subkultur, welches gleichzeitig Freiheitsversprechen, Glücksbringer und Utopie ist. Fotografien zeigten, wohin uns das Rad bringen kann, welche starke Verbindung es zwischen Menschen schafft, und wie es als Teil von Protesten gegen Umweltzerstörung und für eine lebenswerte Stadt eingesetzt wird. Das Fahrrad hat das Potenzial, das Leben in der Stadt und die Stadt selbst zu verändern. Radfahren, Radsport und Radreisen sind so beliebt wie nie – Corona hat den Trend noch beflügelt. Ursprünglich wollten wir nur einen nachhaltigen »Rad-Geber« herausgeben, doch erkannten wir bald, dass das Thema viel komplexer ist und in einen größeren Kontext eingebunden sein muss. Das Rad steht hier deshalb auch symbolisch als Teil fürs Ganze. Mit der Corona-Pandemie kamen auch viele neue Gründe für die Dringlichkeit und die Chancen einer Verkehrswende hinzu. Zum einen sorgen

Vorwort: Vorfahrt Mikromobilität  9 

technologische Entwicklungen wie Elektrifizierung, Digitalisierung und automatisiertes Fahren für differenzierte Mobilitätsbedürfnisse, zum anderen muss der Verkehr seine Schadstoff- und Treibhausgasemissionen deutlich senken und so vor allem einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Gegenwärtig erlebt die Mobilitätsbranche ihre wohl radikalste Umstrukturierung seit Einführung des Automobils. Dabei ist die Bewältigung künftiger Mobilitätsströme eine der wichtigsten Herausforderungen. Das Umweltbundesamt ermittelte im Jahr 2020, dass ein Auto pro gefahrenen Personenkilometer durchschnittlich 152 Gramm CO2 ausstößt – im Gegensatz dazu erzeugen Schienennahverkehr 86 Gramm, Straßen-, Stadt-, U-Bahn 75 Gramm und Fernbus 27 Gramm pro Personenkilometer. Bei Radfahrenden betragen die Emissionen, die durch Infra­ struktur und Produktion anfallen, weniger als 10 Gramm CO2 pro Kilometer. Um die aktuellen Herausforderungen zu meistern, ist eine grundlegende Transformation in Richtung nachhaltige Mobilität notwendig. Wie groß der Beitrag ist, den sie zur Reduktion von Treibhausgasen leisten kann, hat 2021 die Bitkom-Studie »Klimaeffekte der Digitalisierung« ermittelt: Demnach lassen sich durch den gezielten und beschleunigten Einsatz digitaler Lösungen bis zu 25 Megatonnen CO2-Äquivalent einsparen. Die Vereinten Nationen formulieren in ihren 17 Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals – SDGs) detailliert, wie Mobilität bis 2030 aussehen soll (Zugang zu sicheren, bezahlbaren und nachhaltigen Verkehrssystemen für alle). Die Maßnahmenprogramme, die während der Pandemie auf den Weg gebracht wurden, bieten enorme Gestaltungschancen für eine faire und klimagerechte Verkehrswende, die sich allerdings schon vor der Krise andeutete: Die deutsche Automobilindustrie verlor ihren Ruf als unangefochtener Fortschrittsgarant durch den Dieselskandal, und auch der Klimawandel sowie neue soziale Bewegungen wie Fridays for Future forderten neue gesellschaftliche und politische Handlungsbereitschaft. Die aktuellen Herausforderungen lassen sich nur mit einer konsequenten Reduzierung des Autoverkehrs meistern. Dies steigert nicht nur die Lebensqualität, sondern eröffnet auch ein Mehr an Mobilitätsoptionen. Früher war das Auto als Status- und Erfolgssymbol ein konkurrenzloses Objekt der Begierde. Auch der Führerschein galt als Initiationsritus vieler Generationen. Das hat sich inzwischen geändert – vielen Menschen ist eine BahnCard 100 heute sogar wichtiger als ein Dienstwagen. Der mit dem PKW zurückgelegte Weg ist im Vergleich zu den meisten anderen Mobilitätsformen die CO2-intensivste und zudem teuerste. Wird statt des

10  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

eigenen Autos der ÖPNV genutzt, wird nur noch ein Achtel der Waldfläche für den CO2-Ausgleich benötigt. Außerdem senkt die Fahrt mit Bahn oder Bus das Stresslevel. Stellt das E-Bike eine Alternative zum Auto dar, werden die Treibhausgase bereits nach 100 km Fahrt ausgeglichen (Vergleich mit den eingesparten PKW-Kilometern). »Lieber ein Fahrrad als ein SUV und lieber ein Park als ein Parkplatz!« Dr. Eckart von Hirschhausen Die bisherigen Aktionen und Projekte zur Verkehrswende ermutigen immer mehr Menschen zur Eigeninitiative. Auch aus der Klimabewegung entstehen derzeit viele neue Ideen, die vom Redaktionskollektiv »AUTOKORREKTUR« (Clara Thompson, Jörg Bergstedt, Jutta Sundermann und Tobi Rosswog) im »Aktionsbuch Verkehrswende« zusammengetragen und gebündelt wurden. Der Name wurde von Katja Diehl ausgeliehen, die das gleichnamige Buch »# Autokorrektur« schrieb. Die Mobilitätsexpertin, Podcasterin und Autorin hat über 40 Interviews mit Menschen über ihre individuelle Mobilität geführt und fragte: »Willst du oder musst du Auto fahren?« Befragt wurden aber auch Menschen, die nicht Auto fahren können oder wollen. Das Ergebnis: Viele würden sofort auf ein eigenes Auto verzichten, wenn sie ihre Mobilität frei gestalten könnten. Mehr als 50 Prozent der Befragten hätten sich für die BahnCard 100 entschieden. Der größte Hinderungsgrund am Kauf war allerdings der Preis. Die Gruppe derer, die nicht auf das Auto angewiesen sein wollen, ist nach Ansicht von Katja Diehl enorm, aber sehr heterogen, weshalb sie nicht als »großes Ganzes« wahrgenommen wird. Hinzu kommt, dass das Auto – vor allem im ländlichen Raum – häufig noch vorausgesetzt wird. Die Gründe sind historisch bedingt: In der Nachkriegszeit geriet Deutschland in einen Rausch des Umbruchs, des Wirtschaftserfolges und der gesteigerten Mobilität. Nicht-motorisierte Verkehrsteilnehmer wurden an den Rand gedrängt. »Die automobile Prägung von Stadt und Land wurde zur neuen Normalität.« Katja Diehl Die Vision ihrer # Autokorrektur beginnt auch beim Fußverkehr und orientiert sich nicht nur am Klimaschutz, sondern auch an der Stadtplanung, an den Kosten, an der Gesundheit, an der Lärmbelästigung, am Feinstaub, am

Vorwort: Vorfahrt Mikromobilität  11 

Flächenverbrauch und an einer Vorstellung vom guten Leben, in der wieder der Mensch im Mittelpunkt steht. Erst dann ist es möglich, die Verkehrswende nachhaltig voranzubringen, »damit eine Mobilität entsteht, die wahlfrei, barrierefrei, inklusiv und klimaschonend ist.« Dabei sollten Fahrräder und Fußgänger die gleichen Rechte wie Autos erhalten. Hier setzt auch das »Aktionsbuch Verkehrswende« an, dessen vielfältige und debattenreiche Beiträge wichtige Impulse für diesen Herausgeberband gaben. Es bildet darüber hinaus eine wichtige Ergänzung zur aktuellen Mobilitätsdebatte, die Themen wie »Barrierefreiheit« oft ausblendet. Deutschland hat zwar 2010 die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) unterzeichnet, doch mangelt es häufig noch an Umsetzungsmaßnahmen. Belegt wird, dass die USA im Bereich Barrierefreiheit und Behindertenrechte wegen der starken Behindertenrechtsbewegung der 1970er-Jahre und der Zusammenarbeit mit dem Civil Rights Movement und den Black Panthers weiter sind als viele europäische Länder. Auch das Thema Alter findet in aktuellen Publikationen zur Verkehrswende kaum Erwähnung. Dabei fühlen sich viele Menschen vom Radfahren ausgeschlossen, weil sie entweder Angst vor dem Verkehr haben oder es ihnen ihr Gesundheitszustand nicht (mehr) erlaubt, Fahrrad zu fahren. Einige haben es auch nicht gelernt. Zum Thema »Radeln im Alter« finden sich deshalb ebenfalls viele »bewegende« Beispiele: So hat sich in Wurzen, einer kleinen Stadt östlich von Leipzig, vor einigen Jahren eine Gruppe von Umweltaktivist:innen im sogenannten »Kanthaus« niedergelassen. Viele von ihnen engagieren sich für eine nachhaltige Verkehrswende; Lebensmittel und Baumaterialien werden mit Fahrradanhängern transportiert und vor der Haustür steht eine Fahrradreparaturstation für alle. Im Jahr 2021 gründete das Kanthaus hier einen Standort von »Radeln ohne Alter«. Fast ein Drittel der Bevölkerung ist hier älter als 65 Jahre. Es gibt mehr als zehn Pflegeeinrichtungen – und es entstehen immer mehr. Die meisten Bewohner:innen können sich nicht einfach ein Fahrrad beschaffen. Die Bewegung »Radeln ohne Alter« (»Cycling Without Age«) begann 2012 in Kopenhagen. In den letzten Jahren sind viele weitere Länder hinzugekommen. Ehrenamtliche bieten kostenlose Fahrten in Rikschas (dreirädrige Fahrräder mit einem Sitzplatz für zwei Fahrgäste in der Front) für Pflegeheimbewohner:innen an. Die Räder werden elektrisch unterstützt und die Sitzpositionen erleichtern das Gespräch zwischen Radfahrer:innen und Fahrgästen. Das Beispiel zeigt, dass die Verkehrswende für alle erreichbar sein kann.

12  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

In unserem Buch werden auch Beispiele fahrradgerechter Stadtplanung vorgestellt, und wir widmen uns der Frage, wie die Lebensqualität in Städten und Ballungsräumen erhöht werden kann – dabei muss zuweilen auch der Gegenwind der Autofahrer:innen ausgehalten werden. Zudem werden wichtige Impulse für dringend notwendige Veränderungsprozesse sowie Inspirationen für passende Maßnahmen vor Ort geliefert. Auch wird gezeigt, dass es mehr braucht als nur neue Mobilitätskonzepte: Benötigt wird ebenso ein neues Verhältnis zu Arbeit und Freizeit. Zahlreiche Beispiele belegen, wie die notwendige Verkehrswende im Personen- und Wirtschaftsverkehr vorangebracht werden kann und welche Rolle dabei innovative Maßnahmen spielen – für eine nachhaltigere Verkehrszukunft. Im Fokus stehen folgende Aspekte: der Radverkehr und seine Förderung in Deutschland und Europa, die Fahrradpolitik auf deutscher und europäischer Ebene, der Radtourismus als nachhaltiger Wirtschaftsfaktor, die Förderung von umweltfreundlicher Mobilität, das Radfahren als Gesundheitsfaktor sowie die Verbesserung der Sicherheit von weniger geschützten Verkehrsteilnehmern. Das Fahrrad entwickelt sich vor allem in Großstädten zu einer kostengünstigen, platzsparenden und sauberen, wenn auch nicht zu einer besonders sicheren Alternative zum Auto, das immer weniger an Bedeutung gewinnt. Eine internationale Studie unter der Leitung von Forschenden der Transport Studies Unit an der Universität Oxford belegt, dass der Umstieg auf das Fahrrad, E-Bike oder aufs Zu-Fuß-Gehen für die tägliche Fortbewegung auch einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise leistet. Sie entstand innerhalb des EU-finanzierten Projektes PASTA (»Physical Activity Through Sustainable Transport Approaches«). Ziel ist es, Verkehr und Gesundheit miteinander zu verbinden, indem aktive Mobilität (zu Fuß gehen sowie Rad- und E-Bike fahren) in Städten als innovativer Weg zur Integration von körperlicher Aktivität in unseren Alltag gefördert wird (Study Protocol). Die Ergebnisse, die in der Fachzeitschrift Global Environmental Change veröffentlicht wurden, belegen, dass eine Steigerung der aktiven Mobilität den CO2-Fußabdruck signifikant senkt – sogar in europäischen Städten mit bereits hohem Fuß- und Radverkehrsanteil. Fast 2.000 Stadtbewohner:innen wurden über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet. Gesammelt wurden Primärdaten zum täglichen Mobilitätsverhalten, zu Wegezwecken sowie zu persönlichen und räumlichen Einflussfaktoren in den sieben europäischen Städten (Antwerpen, Barcelona, London, Orebro / Schweden, Rom, Wien, Zürich).

Vorwort: Vorfahrt Mikromobilität  13 

Wichtige Ergebnisse: • Eine Umstellung von nur einer Fahrt pro Tag vom Auto auf das Fahrrad würde den jährlichen CO2-Fußabdruck pro Person um etwa 0,5 Tonnen reduzieren (das macht einen beträchtlichen Anteil der durchschnittlichen Pro-Kopf-CO2-Emissionen aus). Wenn nur zehn Prozent der Bevölkerung ihr Reiseverhalten auf diese Weise ändern würden, lägen die Emissionseinsparungen bei etwa vier Prozent der Lebenszyklus-CO2-Emissionen des gesamten Autoverkehrs. • Die durchschnittlichen Pro-Kopf-CO2-Emissionen aus dem Verkehr (ohne internationalen Flug- und Schiffsverkehr) lagen zwischen 1,8 Tonnen CO2 pro Person und Jahr in London und 2,7 Tonnen CO2 pro Person und Jahr in Wien. • Seitens des Verkehrsangebots wird die Bedeutung von »Carrot-andStick«-Ansätzen als Kombination von Maßnahmen zur Attraktivierung aktiver Mobilität (Carrot) und zur De-Attraktivierung von Wegen mit dem Pkw oder motorisierten Zweirädern (Stick) unterstrichen. • Durchgängige und qualitativ hochwertige Infrastrukturen für Fußgänger:innen und Radfahrer:innen sind ein weiterer zentraler Erfolgsfaktor für die gezielte Förderung aktiver Mobilität. • Es wurde ein Handlungsbedarf an Städte weltweit abgeleitet: Sie sollten bei ihren stadtplanerischen Konzepten radikal umdenken (z. B. Stärkung dichter Strukturen und gemischter Landnutzungen). Zu den Begriffen, die mit dem neuen Mobilitätsgefühl assoziiert werden, gehören neben Nachhaltigkeit auch Funktionalität, Unabhängigkeit, Dynamik und Selbstverwirklichung. Viele der lebenswertesten Städte der Welt sind inzwischen Fahrradstädte. Ihre Bewohner:innen und Entscheider:innen haben erkannt, dass die zunehmende Mobilität des Menschen künftig umweltfreundlicher, effizienter und intelligenter sein muss, denn die steigende Bevölkerung in den größten Ballungszentren sowie der zunehmende Verkehr führen häufig zur Lähmung oder sogar zum Stillstand der gesamten Region. Für die Bewältigung der globalen Klimakrise sind die 2020er-Jahre eine wesentliche Entscheidungs- und Umsetzungsdekade, nachdem zuvor die Weichenstellungen gesetzt wurden. Im europäischen Green New Deal ist das Ziel festgeschrieben, dass Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent werden soll. Um das Ziel der Klimaneutralität in Deutschland bis 2045 zu erreichen, legt das Klima-

14  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

schutzgesetz für 2030 das konkrete Zwischenziel einer Treibhausgas-Emissionsminderung um mindestens 65 Prozent gegenüber 1990 fest. Doch ein Scheitern am Meilenstein dieses Zwischenschritts würde das große Ziel unerreichbar machen. Bis 2045 müssen Treibhausgas-Emissionen unterschiedlicher Sektoren (Energie, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft) enorm reduziert werden, während nicht vermeidbare Emissionen durch Treibhausgas-Senken ausgeglichen werden. Viele Menschen hofften darauf, dass es nach dem ersten Lockdown in Deutschland im Frühjahr 2020, als das Stauniveau für einige Wochen gegen Null sank, zu einer Mobilitätswende kommen würde. Dem war leider nicht so. Im Oktober 2021 hatte der Verkehr wieder das Niveau aus der Zeit vor der Pandemie erreicht. Das bestätigt auch eine Analyse der Süddeutschen Zeitung, die Daten zum Straßenverkehr zwischen Januar 2019 und Ende Oktober 2021 ausgewertet hat: Im städtischen Verkehr stehen die Autofahrer:innen wieder deutlich mehr im Stau. Die Erfahrungen des Lockdowns belegen zugleich, wie wenig Zwang ausrichtet. Nachdem die Coronabeschränkungen aufgehoben waren, schnellten die CO2-Emissionen wieder nach oben. Im ersten Corona-Jahr 2020, als sich viele Gewohnheiten und Routinen verschoben hatten und einige Städte den reduzierten Autoverkehr zum Anlass nahmen, um provisorische Radwege einzurichten (das Konzept Pop-up-Radwege ist auf alle Städte in Deutschland übertragbar: Testen am lebenden Objekt »Straße«, nachbessern, schnell finalisieren), und auch wieder mehr Menschen zu Fuß gingen, sanken die Treibhausgasemissionen um etwa 80 Mio. t CO2. Sie lagen damit etwa 42,3 % unter dem Niveau von 1990. Etwa zwei Drittel des Rückgangs ist auf die Corona-Wirtschaftskrise zurückzuführen. Weltweit verminderten sich die Emissionen um etwa 7 %, in Deutschland um etwa 10 %. Hauptursachen für die geringeren Emissionen 2020 waren: • geringere Energienachfrage / geringere Kohleverstromung • gesunkene Industrieproduktion • Einbruch der Verkehrsnachfrage / reduziertes Verkehrsaufkommen • höhere CO2-Preise im EU-Emissionshandel • milder Winter. Diese Corona-bedingten Treibhausgasminderungen dämpfen allerdings die Erderhitzung bis 2050 nach Berechnungen des UN-Umweltprogramms nur um 0,01 Grad Celsius. 2021 nahmen die CO2-Emissionen dann um rund 33 Mio.

Vorwort: Vorfahrt Mikromobilität  15 

Tonnen beziehungsweise 4,5 Prozent gegenüber 2020 in Deutschland zu. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Denkfabrik Agora Energiewende, die sich dem vergangenen Klima- und Energiejahr mit einem Fokus auf die Energiewende im Stromsektor widmet. Entscheidend für klimapolitische Erfolge ist eine Klimapolitik, die nachhaltig Investitionen in neue, klimaneutrale Technologien fördert, klimaschädliche Investitionen nicht weiter subventioniert und auf diese Weise den Verbrauch von Kohle, Erdöl und Erdgas ersetzt. Dazu braucht es Anreize in Richtung Erneuerbare Energien, energetische Sanierung und klimafreundliche Mobilität. Aber auch demografische Veränderungen und Migrationsdruck stellen enorme Herausforderungen für Stadtverwaltungen, Energieversorger und Verkehrsbetriebe dar. Hintergrund ist die Entwicklung des Menschen vom »Homo mobilis« zum »Homo transportandum«. Vor allem in Ballungsgebieten wird er zunehmend zum »Transportproblem«. Der weiter zunehmende Verkehr stellt Städte vor große Herausforderungen. Während es der Industrie, dem Handel und Privathaushalten gelingt, ihre Treibhausgas­ emissionen zu senken, tritt der Verkehrssektor allerdings immer wieder auf der Stelle. »Der Transportsektor spielt eine entscheidende Rolle für das Erreichen der ambitionierten Klimaziele für 2030«, sagt Prof. Dr. Bernhard Lorentz, Geschäftsführer der Stiftung Klimaneutralität. Es müssten etwa 65 Prozent der Emissionen eingespart werden (70 bis 80 Millionen Tonnen CO2). Um die aktuellen Herausforderungen zu verstehen, braucht es eine grundlegende Transformation in Richtung nachhaltige Mobilität. Es geht um einen kompletten Umbau des Verkehrssystems, um klimaneutral zu werden. Eine längst überfällige Verkehrswende, bei der Klimaschutz und Lebensqualität im Fokus stehen, ist deshalb notwendig. Dazu braucht es auch den politischen Willen, die Klimafrage mit oberster Priorität anzugehen, das Bewusstsein für Dringlichkeit sowie richtige Projektorganisation und Ausbildung. Leider ist bislang an den Hochschulen der Rad- und Fußverkehr thematisch noch unterrepräsentiert. An der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften werden Spezialist:innen für die Verkehrswende im Fachbereich »Radverkehrsmanagement« bereits ausgebildet. »Der Mobilitätswende Flügel verleihen!« Unter diesem Appell hat der Dialog »Nachhaltige Stadt« – ein Projekt des Rates für Nachhaltige Entwicklung« – Ende September 2021 einen Appell an die neue Bundesregierung veröffentlicht, deren Empfehlungen sich mit den Forderungen von Franz Alt decken (Franz Alt, 2021).

16  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

Vorgestellt wurden dort sechs zentrale Empfehlungen: 1. Umsetzung und Kompensation CO2-Preis mit Lenkungswirkung 2. Nachhaltiges Bundesmobilitätsgesetz statt überholtem Bundesverkehrswegeplan 3. Abbau klima- und umweltschädlicher Subventionen 4. Zulassung von mehr Flexibilität für die Städte bei Tempo 30, Fahrradstraßen, Parken & Co. 5. Ausreichende Finanzierung von Kommunen und Abbau von Bürokratie bei Fördermitteln 6. Verbesserung von Rahmenbedingungen für neue Mobilitätsformen. Städte und Kommunen sind in einer Schlüsselposition, um den Mobilitätsverbund zu stärken. Sie stehen vor der Aufgabe, ehrgeizige Klimaziele zu formulieren und Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele einzuleiten. Die Mobilitätswende ist allerdings in weiten Teilen ein lokales Projekt. Die Herausforderung besteht darin, den klassischen Kraftfahrzeugverkehr zu reduzieren und attraktive Mobilitätsalternativen sowie die entsprechende Infrastruktur anzubieten, die nachhaltig sind und die Lebensqualität in den Städten steigern. Die Mikromobilität spielt also eine wichtige Rolle bei der Energie- und Mobilitätswende in den Städten – vor allem das Fahrrad, das künftig immer mehr die Verkehrslandschaft prägen wird. Es vereint flexible Mobilität, Lebensqualität und Nachhaltigkeit auf perfekte Weise. Komplett emissionsfrei ist natürlich auch ein Fahrrad nicht: Seine Herstellung benötigt wie alle Produkte wertvolle Ressourcen. Radfahren ist jedoch sehr energieeffizient im Vergleich zum Gehen, weil der Körperschwerpunkt nicht bei jedem Schritt angehoben wird. Im Vergleich zu einem vierrädrigen Fahrzeug ist die Rollreibung ebenfalls geringer. Nachhaltige Vorteile des Fahrrads: • Das Fahrrad garantiert eine emissionsfreie Fortbewegung. • Bis 5 km Reichweite ist man mit dem Rad (bzw. bis 10 km mit dem Pedelec) schneller am Ziel als mit dem Auto. • Das Fahrrad schont Ressourcen (bis zu 100 mal geringerer Energie- und Rohstoffverbrauch bei der Herstellung im Vergleich zum Auto) und ist zudem viel besser recycelbar und kostengünstiger reparierbar.

Vorwort: Vorfahrt Mikromobilität  17 

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Das Fahrrad senkt private Kosten – es spart im Vergleich zum Auto satte 17 Cent pro km. Das Fahrrad senkt allgemeine Kosten – ein Kilometer Radweg kostet ein Fünfzigstel eines Kilometers Autobahn. Das Fahrrad hält fit – 75 Minuten Rad fahren pro Woche reduziert die privaten Gesundheitskosten um bis zu 2.000 Euro/Jahr, der Arbeitgeber spart bis zu 1.200 Euro/Jahr. Das Fahrrad schont die Umwelt – eine intelligente Verkehrsmittelwahl spart bis zu 27 % CO2 in Deutschland. Das Fahrrad reduziert den Flächenverbrauch – 20 mal mehr Platz benötigen Autos im Vergleich zu Fahrrädern in der Stadt.

»Wo ein Wille ist, ist auch ein Radweg.« Dr. Eckart von Hirschhausen Um unsere Mobilität nachhaltiger, bedarfsgerechter und effizienter zu gestalten, benötigen wir eine Vielzahl an Mobilitätsoptionen. Mikromobilität kann hier ein wichtiger Baustein sein. Bei Mikromobilen, die das Angebot an Verkehrsmitteln erweitern, handelt es sich um Fahrzeuge, die ein oder zwei Personen befördern können. Dazu gehören Fahrräder und Roller, Segways oder Hoverboards sowie Kleinstfahrzeuge mit E-Antrieb wie zum Beispiel E-Scooter, E-Fahrräder und Pedelecs, Elektrolastenräder, Roller. Vor diesem Hintergrund ist auch die neue Initiative Dialog Mikromobilität zu sehen, ein Branchenbündnis von Verbänden, Unternehmen und Expert:innen. Das Motto der Initiative lautet »Mehr Miteinander wagen«. Es geht um die Kernthemen Sicherheit, Flächengerechtigkeit und Recht auf Mobilität, das für alle Verkehrs­ teilnehmenden gleich sein sollte. Fahrräder benötigen eine eigene Infrastruktur. Dabei ist die Schaffung genügender Abstellmöglichkeiten in den Kernstädten das größte Problem. Mikromobilität wird auf der infrastrukturellen und regulatorischen Ebene noch nicht ausreichend berücksichtigt. Vielerorts fehlt eine Ladeinfrastruktur für Elektroleichtfahrzeuge wie E-Roller, E-Kick­ scooter oder E-Lastenräder. Besonders wichtig ist eine intelligente Ladeinfrastruktur für professionell eingesetzte E-Lastenrad-Flotten, die schon heute für viele Unternehmen unverzichtbar sind. Die Bundestagswahl 2021 wurde auch vom Dialog Mikromobilität zum Anlass genommen, Vorschläge für die Politik auszuarbeiten, wie sich die städtische Infrastruktur und die Straßenverkehrsordnung an die neuen Realitäten anpassen lässt. Es geht um die grundlegen-

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den Themen Sicherheit, Flächengerechtigkeit und Recht auf Mobilität (mehr Radwege, breitere Radverkehrsanlagen, Rad-Schnellstraßen, Ladeinfrastruktur für E-Lastenräder, angepasster Rechtsrahmen, Verknüpfung von Klimaschutz und Wirtschaftsförderung, Ausdehnung der Forschungsförderung auf Radlogistiksysteme). Der Dialog Mikromobilität ist eine Initiative, die sich als offene Diskussionsplattform versteht. Es ist das erste Mal, dass sich Verbände, Unternehmen und Fachleute verschiedener Branchen im weiten Feld der Mikromobilität zusammengeschlossen haben. Das war dringend nötig, denn die Mikromobilität boomt, aber auf der infrastrukturellen und regulatorischen Ebene wird dies noch nicht ausreichend berücksichtigt. Bisher fehlt eine Ladeinfrastruktur für die Mikromobilität, was besonders wichtig ist für professionell eingesetzte E-Lastenrad-Flotten. Allerdings geht es nicht nur um die Infrastruktur für die Nutzung der unterschiedlichen Fortbewegungsmittel – vielmehr spielt hier der ruhende Verkehr eine wichtige Rolle. Eine nachhaltige Verkehrswende als gesellschaftliches Großprojekt bedeutet, eine umfassende Mobilitätswende durchzusetzen, die wesentliche technische Innovationen wie On-Demand-Verkehrsangebote für mehr Klimaschutz einschließt. Allerdings sind sie nur ein Teil eines fundamentalen gesellschaftlichen Transformationsprozesses. Eine nachhaltige Verkehrswende umfasst Ausbau und Förderung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, Sharing-Systeme sowie Rad- und Fußverkehr. Es gibt aber auch Menschen, die auf ihr Auto nicht verzichten wollen oder können und die genauso gern Bahn fahren, radeln und Fußgänger sind. »Ich mag das Für-sich-Sein im Auto. Das Meditative langer Bahnfahrten. Das Serotoninglück auf dem Rad. Die mikroskopische Weltwahrnehmung im Gehen.« Henning Sußebach Berücksichtigt werden sollten zudem wesentliche technische Innovationen für mehr Klimaschutz und innovative Maßnahmen (Emissionen sparen, Platz schaffen, mobil sein). Erreicht werden kann dies nur durch eine engagiertere und integrierte Verkehrspolitik von Bund und Europäischer Union, die Maßnahmen auf kommunaler Ebene stützt und eine nachhaltige Mobilität für alle in Stadt und Land befördert.1 Dabei muss jede Region ihren eigenen Weg fin1

Anna Riesenweber: Ein Plädoyer für gerechte Mobilität. In: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH. 29.04.21 (https://idw-online.de/de/news767752)

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den, weil Infrastruktur und gesellschaftliche Strukturen überall unterschiedlich sind. Viele Stadtbewohner:innen und Entscheider:innen haben erkannt, dass die zunehmende Mobilität künftig umweltfreundlicher, effizienter und intelligenter sein muss. Doch hätten Städte größere Handlungsspielräume, wären viele Entscheidungen im Sinne der Nachhaltigkeit unkomplizierter zu treffen. Um dies zu erreichen, müssten Planungsverfahren einfacher und effizienter werden. Im ersten Schritt bedeutet eine nachhaltige Verkehrswende Vermeidung von überflüssigem Verkehr im Güter- und Personenverkehr. Anschließend muss der Güterverkehr auf die Schiene und der Personenverkehr auf den Umweltverbund aus Fuß-, Rad-, Bus- und Schienenverkehr verlagert werden. In den Regionen, in denen der ÖPNV gestärkt wird, und es mehr alternative Angebote gibt, lassen mehr Menschen ihr Auto stehen. Damit das vielerorts möglich wird, kooperieren Verkehrsbetriebe mit Anbietern neuer Mobilitätsformen wie Bikesharing, Carsharing oder Ridepooling. Jeder Kilometer, der im Autoverkehr eingespart wird, hilft in Zeiten von Klimawandel, hohen Spritpreisen und angestrebter Unabhängigkeit von ausländischen Energielieferungen. In der Kombination von öffentlichen mit anderen Verkehrsmitteln stecken enorme Einsparpotenziale. Mobilität war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein aristokratisches Vorrecht. Macht hatte, wer sich schneller fortbewegen konnte. Der Mensch spiegelte sich in seinem Fortbewegungsmittel. Im 21. Jahrhundert bedeutet Mobilität ein vielseitiges Miteinander aus Öffentlichem Verkehr, Individualverkehr im Pkw, zu Fuß, auf dem E-Bike oder dem Fahrrad. Der motorisierte Individualverkehr (MIV) ist bei einem CO2-Budget von 1.090 Millionen Tonnen CO2 (2-Grad-Ziel) nicht die Lösung für die kommenden Jahre. Er verbraucht bei einer Pkw-Dichte wie in Deutschland etwa 10 Prozent dieses Budgets. Um dem Klimawandel zu begegnen, werden Mobilitätsplattformen benötigt, die bedarfsgerecht nachhaltige Mobilitätslösungen anbieten. Vor allem die nachwachsende Generation entwickelt ein anderen Mobilitätsverständnis. Wichtig für den Erfolg der Verkehrswende sind auch die Car-Sharing-Stationen und die gute Anbindung an S-Bahn, Stadtbahn und Busse. Die Verkehrskonzepte der Zukunft stehen unter dem Motto »Teile und kombiniere!«. Sie sind »multimodal«, bestehen nicht aus einer Einzellösung, sondern aus einem Ideenmix in einem ganzheitlichen Konzept. Besitz hat dabei einen viel geringeren Stellenwert als früher. Was heute zählt, sind Zugang, Nutzung und Dienstleistung. Umweltfreundliche Zukunftsmobilität kann nur gewährleistet werden,

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wenn es ein Zusammenspiel aus öffentlichen Verkehrsmitteln, Angeboten wie Carsharing, Carpooling, Ridesharing, Bikesharing, Mobilitätsstationen, digitalen Buchungs- und Informationssystemen und einer stadtverträglichen Lastenradlogistik gibt. Fahrräder und Mobilitätsstationen benötigen allerdings mehr Platz im öffentlichen Raum. In der Regel geht dies zu Lasten von Kfz-Stellflächen. Das birgt Konflikte, was dazu führt, dass sich viele Radprojekte verzögern. Das Forschungsteam des »City2Share-Projekts«, das vom Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) gemeinsam mit weiteren Partnern durchgeführt wurde, verdeutlichte allerdings, dass weniger Parkplätze kein individueller Verlust sein müssen. Im Gegenzug kann Lebens- und Aufenthaltsqualität für alle im Wohnviertel gewonnen werden. Die Modellstädte München und Hamburg testeten innovative Wege in eine mobile und umweltverträgliche Zukunft. Die Publikation belegt, dass eine Reduzierung des Verkehrs nicht nur die Lebensqualität steigern, sondern sogar ein Mehr an Mobilitätsoptionen eröffnen kann. In den beiden Modellstädten wurden mehrere Maßnahmen zur Entlastung des Verkehrs parallel erprobt, beispielsweise der Einsatz wohnungsnaher Mobilitätsstationen mit geteilten und elektrischen Mobilitätsangeboten (Bike- und Carsharing), ein umweltverträglicher Lieferverkehr auf der Basis von Mikro-Depots und Lastenrädern sowie die Rückgewinnung und Aufwertung des kostbaren öffentlichen Raums, kombiniert mit einer umfassenden Bürgerbeteiligung, denn eine smarte Stadt hört nicht bei Energieeffizienz, Klimaschutz oder intermodaler Mobilität auf. Vielmehr schafft sie auch Arbeitsund Bildungsangebote, verbessert die Gesundheitsversorgung und beteiligt die Bürger bei der Mitgestaltung. All das führt zu einer höheren Lebensqualität für Bewohner:innen und zu besseren Rahmenbedingungen für Unternehmen. In Städten entwickelt sich das Fahrrad gemeinsam mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Mobilitätsmedium der Zukunft. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) forciert ebenfalls die Verkehrswende hin zum Fahrrad und sieht E-Bikes als passendes Mittel in diesem Vernetzungsprozess an. Die Corona-Krise erforderte einen raschen Auf- und Ausbau der provisorischen Radinfrastruktur. Was es folglich braucht, sind auch bauliche Veränderungen für eine dauerhafte Integration in bestehende Verkehrssysteme. Die »Smart Cities« der Zukunft sind durch Nähe, Öffentlichkeit, Agilität und Vernetzung geprägt: Alle Informationen zu den städtischen Infrastrukturen, Akteuren,

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Ereignissen laufen zusammen. Zu den wichtigsten Bausteinen einer nachhaltigen Smart City-Strategie gehören strategische Planung und IT-Infrastruktur. Besonders relevant sind dabei die ineinandergreifenden Anwendungsfelder öffentliche Verwaltung, Gesundheit, Bildung, Energie und Umwelt, Gebäude sowie Mobilität. Die Transformation hin zu einer klimaneutralen Welt braucht neben einer Änderung unseres Verhaltens und dem Wandel des öffentlichen Bewusstseins aber auch eine neue Geschichte des menschlichen Fortschritts. Dabei sollte es darum gehen, nicht unsere Gier, sondern unsere Neugier zu wecken, Gestaltungsräume aufzuzeigen und mit kritischem Urteilsvermögen Dinge zum Besseren zu verändern. Deshalb spielt das Thema nachhaltige Innovationen und deren Geschichte ebenfalls eine wichtige Rolle in diesem Buch. Anhand zahlreicher Beispiele wird ebenfalls gezeigt, dass Klimaschutz auch für Unternehmen zu den zentralen Nachhaltigkeitsaufgaben gehört. Im Rahmen ihrer Nachhaltigkeitsstrategien setzen sie sich mit dem eigenen Mobilitätsmanagement das Ziel, eine effiziente, umweltfreundliche und sozial verträgliche Mobilität zu fördern. Viele Betriebe, die hier vorgestellt werden, haben bereits fahrradfreundliche Maßnahmen umgesetzt, die Vorbild für andere sein können. »Mobilität soll auch Spaß machen, weil sie ein wichtiger Teil des Lebens ist«, sagt der Mobilitätsexperte Benedikt Weibel. Das Fahrrad bewegt uns und steht zugleich für eine größere gesellschaftliche Bewegung, die sich nur begreifen lässt, wenn wir die »Motive« dahinter sehen: Es geht um Aufbruch, ums Entdecken, unerwartete Begegnungen und den Wunsch nach Unabhängigkeit und Ungebundenheit, der seinen Ausdruck auch in der Do-it-yourself-Bewegung, der Liebe zum Handwerk oder dem Urban Gardening findet. Hier wird besonders deutlich, dass Menschen heute nicht nur konsumieren wollen, sondern auch ein neues Verhältnis zu den Dingen suchen, indem sie diese mehr achten und schätzen. Die Humanwissenschaften sprechen auch von einem »material turn«. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Dinge alt oder neu sind. »Manchmal ist das Leben ganz schön leicht, zwei Räder und ein Lenker und das reicht«, singt Max Raabe in seinem Retro-Schlager »Fahrrad fahr’n«. Der Künstler, der mit einem Repertoire aus Schlagern der 1920er- und 30er-Jahre und eigenen Titeln im Stil dieser Zeit bekannt wurde, empfindet das Rad als ein »sehr angenehmes Fortbewegungsmittel – »das ist das Ideale und lüftet die Sandale.« Er fährt fast immer auf einem Herrenrad aus den 1960er-Jahren ohne Gangschaltung – sogar zu Preisverleihungen im Smoking. Im Mai 2019 wurde

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er beim Nationalen Radverkehrskongress in Dresden als »Fahrradfreundlichste Person 2019« ausgezeichnet. Seine Botschaft: »Man darf halt nicht so ellbogenhaft herumfahren. Mit etwas Geschmeidigkeit kommt man viel besser voran.« Der Philosoph Peter Sloterdijk sieht die Einheit von Mensch und Fahrzeug schon bei Plato vorgebildet und in allen Kulturen, die das Rad, den Wagen oder das Reiten entdeckt und das kentaurische Motiv entwickelt haben: Der Mensch mit seiner kleinen Kraft bewegt sich auf einer tragenden größeren Energie. Wer sie nutzt und sich auf den Weg macht, verändert sich – genauso wie seine Wahrnehmung und sein Denken. Diese Verbindung von innen und außen fördert zugleich die Kultur der Achtsamkeit (»mindfulness«), mit einem ständigen Lernprozess in einer sich ständig verändernden Umgebung. Damit verbunden ist auch die wachsende Gemeinde von Enthusiasten, die alte Räder sammeln und noch ohne Tacho auskommen: Ihnen geht es ums Fahren und nicht um Leistung. Einer der bekanntesten Retro-Orte ist Gaiole im Chianti. Seit 1997 treffen sich hier jährlich im Oktober Tausende Retro-Anhänger zur »L’Eroica«2. Veranstalter verlosen mittlerweile Startplätze, »weil das Vintage-Peloton zur Lawine angeschwollen ist«. In Flandern findet die »Retro Ronde«3 statt, in Frankreich unter anderem die »Anjou Velo Vintage«4. Anhänger:innen skurriler Rennen streichen sich den Tag des »Kalmit-Klapprad-Cup«5 rot im Kalender an. »Es geht auch um Wertschätzung für klassische Handwerkskunst«, sagt der Nürnberger Künstler und Gastronom Ralf Siegemund. Diese Sehnsucht ist auch eine Reaktion auf die fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft. Viele der in diesem Buch vorgestellten Produkte rund ums Rad, die mit klima- und umweltfreundlichen Produkten überzeugen können, erinnern auch an frühere Zeiten, als ihre Herstellung noch etwas Besonderes war und über viele Jahre benutzt wurden. Sie spiegeln ebenso die Persönlichkeit ihres Besitzers. Vielleicht erleben Retro- und Nostalgiethemen derzeit einen Boom, weil sie mit persönlichen Bindungen zu tun haben, Orientierung geben und Identität stiften. Zugleich sind sie ein Zugeständnis an einen langsameren, natürlichen Rhythmus in einer viel zu schnellen, technisierten Welt. Dieser Überblick verdeutlicht zugleich den Ansatz dieses Buches: Es ist nicht starr auf ein Thema fixiert, sondern widmet sich auch vielen Seitenstraßen, die 2 https://eroica.cc/de 3 https://www.retroronde.be/en/ 4 https://www.anjou-velo-vintage.com/fr/ 5 http://www.kalmit-klapprad-cup.de/

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während der »Entstehungstour« des Buches von uns entdeckt und befahren wurden. Die Zusammenstellung der Beiträge war ein fließender Prozess, dem wir als Herausgeberinnen gern gefolgt sind. Das Thema lädt dazu ein, nicht nur auf einer Spur zu bleiben, sondern sich auch vielen kleinen Zwischenstationen und Nebensächlichkeiten zu widmen, die sich quasi im Vorbeifahren ergeben haben. So geht es in diesem Sammelband nicht nur um die Verkehrswende, Mobilitätsforschung, politische Rahmenbedingungen und den Wirtschaftsfaktor Fahrrad, Netzwerke und Initiativen, Service- und Routentipps, sondern auch um das Fahrrad im historischen Kontext, um Anekdoten und Kurioses sowie kleine, unterhaltende Wissenshäppchen rund um das Thema nachhaltige Mobilität, die allerdings nur ein Baustein ist, denn es kommt letztlich darauf an, unsere gesamte Lebensweise zu überdenken. Die Beiträge stellen sich beispielsweise den folgenden Fragen: ‣ Wie können alternative Mobilitätsformen wie Rad- und Fußverkehr gegenüber dem motorisierten Individualverkehr gestärkt werden? ‣ Wie gelingt es, gemeinsam Anreize zu schaffen, damit der private Nutzer den PKW stehen lässt? ‣ Warum geht der Ausbau des Radverkehrs in einigen deutschen Städten nur langsam voran? ‣ Wie kann eine echte Circular Economy, die den Erhalt von Ressourcen und Produkten in den Mittelpunkt stellt, gestärkt werden? ‣ Inwiefern leistete die Corona-Krise ungewollt einen Beitrag zur Verkehrs­wende? ‣ Was bedeutet Dienstrad-Leasing? Welche Vorteile und Probleme bringt diese Idee mit sich? ‣ Warum werden in der Fahrradindustrie Design-Aspekte stärker als bisher berücksichtigt? ‣ Warum werden E-Bikes immer beliebter? ‣ Wie sieht heutzutage der Entwicklungsprozess eines Fahrrads aus? ‣ Welche Hemmschwellen gibt es für E-Mobilität? ‣ Wo ist der Einsatz von E-Scootern sinnvoll? Wie funktioniert die Nutzung? Wie sieht es aus mit der Sicherheit und wie ökologisch sind sie überhaupt? ‣ Welche Erfahrungen machen Menschen mit dem Rad? ‣ Was sind die wichtigsten Fahrradtrends?

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Wie kann vermieden werden, dass kostbare innerstädtische Flächen durch Dauerparker und Lieferverkehr unverhältnismäßig hoch belastet werden? ‣ Was ist der Stand zu Future Mobility? ‣ Welche GPS-Radcomputer sind sinnvoll? ‣ Wie kann die städtische Infrastruktur und die Straßenverkehrsordnung an die neuen Realitäten angepasst werden? ‣ Welche unterschiedlichen Formen des kollaborativen Produzierens, Reparierens und Teilens entstehen heute jenseits von Markt und Staat? ‣ Welche neuen Konzepte gibt es zur Zweiradkultur? ‣ Welche Rolle spielen Lastenfahrräder bei der Mobilitätswende? Warum brauchen sie eine eigene Infrastruktur? Wie unterscheiden sich die verschiedenen Lastenradtypen voneinander? Wo sind sie erhältlich und wie lassen sie sich finanzieren? ‣ Warum sollten wir die Letzte Meile neu denken? ‣ Vor welchen Herausforderungen steht die Logistikbranche? ‣ Welche Maßnahmen sind für eine erfolgreiche Verkehrswende nötig? ‣ Welche Möglichkeiten gibt es zum mikromobilitätsgerechten Ausbau städtischer Infrastrukturen, die Erhöhung der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmenden sowie mehr Flächengerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der Mobilität? ‣ Was ist die Aufgabe eines Mobilitätsbeauftragten? ‣ Weshalb ist es dringend nötig, dass Unternehmen Mobilitätskonzepte entwickeln? ‣ Was macht nachhaltiges Mobilitätsmanagement aus? ‣ Welche Faktoren haben uns in die heutige Mobilitätsmisere geführt? ‣ Weshalb sollten mehr Mobilitätsstationen errichtet werden? ‣ Was muss passieren, damit sich nachhaltige Mobilität im bisherigen Autoland Deutschland zu einer attraktiven klima- und sozialverträglichen Fortschrittsvision entwickelt? ‣ Wo gibt es nachhaltige Fahrräder? ‣ Was macht eine nachhaltige Fahrradbekleidung aus? Warum sind nachhaltige Fahrradhelm-Alternativen so schwer zu finden? ‣ Was ist die größte Herausforderung bei der Herstellung nachhaltiger E-Bikes?

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Wie kann der ÖPNV der Zukunft aussehen? Benötigen Mikromobile spezielle Parkzonen, wie wir sie auch für Pkw haben? Sind Bürger:innen und Unternehmen schon weiter als die Politik? Welche politischen Rahmenbedingungen braucht eine wirkliche Mobilitätswende? Wie sieht der rechtliche Rahmen für Elektro-Kleinstfahrzeuge aus? Welche Rolle spielt die Kultur der Reparatur im Kontext der nachhaltigen Mobilität? Was hat Mobilität mit Sexismus zu tun? Wie können Menschen mit Einschränkungen freier ihre Mobilität gestalten? Wie kann die Verkehrswende auch sozial gerecht gestaltet werden? Wie kommen wir vom Verkehrskollaps zur solidarischen Mobilität? Wie bewegt sich die Stadt der Zukunft? Wie bewegt man sich in er Stadt der Zukunft? Welche Maßnahmen zur Stärkung des Radverkehrs gibt es innerhalb und außerhalb des Unternehmens? Gilt das Fahrrad als neues Statussymbol? Wie kann das Straßenverkehrsrecht geändert werden, um die Handlungsmöglichkeiten der Kommunen zur Umsetzung der Mobilitätswende zu stärken? Welche Rolle spielen die 17 Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen für die nachhaltige Mobilität? Welche Rolle spielt der nachhaltige Tourismus? Welche geeigneten Instrumente unterstützen die Transformation im Mobilitätsbereich? Wie können Menschen überzeugt werden, öfter Rad zu fahren – mit Sanktionen oder mit Anreizen? Wie können mehr Menschen zum Umsatteln auf eine umweltbewusste Art der Fortbewegung motiviert werden? Was können Unternehmen tun, um Mitarbeitende bei der Wahl eines umweltbewussten Verkehrsmittels zu unterstützen? Wie können sie umweltbewusste Verhaltensweisen fördern? Wie können Menschen vor Umweltbelastungen geschützt werden und trotzdem mobil bleiben?

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Wie kann der Strukturwandel zur Klimaneutralität gelingen? Wie gelingt es, Menschen, die Angst vor Veränderungen haben, auf dem Weg nicht zu verlieren und Mut statt Angst zu machen? Wir schaffen wir vielfältigere Verkehrsangebote? Wie sehen Verkehrskonzepte der Zukunft aus? Wie lässt sich das Verkehrssystem sozial-ökologisch und gleichzeitig fair für alle umgestalten? Wie kann die notwendige Verkehrswende im Personen- und Wirtschaftsverkehr vorangebracht werden? Was sind wesentliche Gründe dafür, dass die Verkehrswende immer wieder ins Stocken gerät? Welche innovativen Wege gibt es in eine mobile und umweltverträgliche Zukunft? Wie funktioniert die Zukunftsvision »Fahrradstadt«?

Wir danken allen Autor:innen für ihre bereichernden Beiträge sowie jenen, die daran direkt oder indirekt beteiligt waren, die mit uns bereitwillig ihr Wissen geteilt haben und uns behilflich waren: Anna Rechtern von VAUDE, Steffen Jüngst von SCHWALBE, Dr. Constanze Pomp und Michael Jahn. Norman Rinkenberger vom Büchner-Verlag gilt unser besonderer Dank, ohne ihn würde es dieses Buch nicht geben. Auch Judith Göbel sei von Herzen für ihre Lektoratsarbeit gedankt. Wir sind uns bewusst, dass dieses Buch nur einen Ausschnitt des Themas wiedergeben kann und immer etwas zu wünschen übrigbleibt. Wir hoffen dennoch, dass Sie viel Freude beim Lesen haben und dass Sie auf Ihrer nachhaltigen Mobilitätstour vieles lesend »erfahren«, was Sie bisher noch nicht über das Thema gewusst haben. Und vielleicht ist es ja ein Beitrag, dass auch Sie Freude haben am »Umsteigen«. Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Sommer 2022

Anmerkung: Wir haben es den Autor:innen überlassen, eine gendergerechte Schreibweise zu wählen oder der besseren Lesbarkeit wegen die Sprachform des generischen Maskulinums zu verwenden. Personenbezogene Aussagen beziehen sich auf alle Geschlechter. Leider gibt es noch keine perfekte Lösung zur Umsetzung dieses Anliegens, aber es steht uns eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Verfügung. Neben neutralen For-

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mulierungen wie »Mitarbeitende« oder »Studierende« werden in einigen Beiträgen Sternchen verwendet oder der Doppelpunkt. Dieses vertraute Satzzeichen fügt sich nach Wahrnehmung vieler Menschen besser ins Wortbild ein und stört den Lesefluss weniger als das Sternchen. Auch eignet sich diese Schreibweise besser für Screenreader, die automatische Sprachausgabe für blinde oder sehbehinderte Menschen. Die meisten dieser Programme machen beim Doppelpunkt eine kurze Pause, andere Sonderzeichen werden jedes Mal beschrieben. Dennoch gehen die Meinungen auch an dieser Stelle auseinander, wenn das Sternchen dem Doppelpunkt vorgezogen wird, weil letzterer ein Satzzeichen ist, das nicht innerhalb eines Wortes vorkommen sollte. Das alles würde für sich ein eigenes Buch füllen. Weiterführende Informationen: Onlinebeiträge (Abruf: 29.5.2022): Agora Energiewende (2021): Die Energiewende im Corona-Jahr: Stand der Dinge 2020. Rückblick auf die wesentlichen Entwicklungen sowie Ausblick auf 2021: https://static. agora-energiewende.de/fileadmin/Projekte/2021/2020_01_Jahresauswertung_ 2020/200_A-EW_Jahresauswertung_2020_WEB.pdf »Der Mobilitätswende Flügel verleihen!« https://www.nachhaltigkeitsrat.de/aktuelles/ appell-an-kommende-bundesregierung-21-oberbuergermeisterinnen-aus-nachhaltig keits-dialog-fordern-mobilitaetswende-als-prioritaet/ Die Erstausstattung für den Radpendler: https://www.pd-f.de/2020/06/10/die-erstaus stattung-fuer-den-radpendler_14973 Fahr Rad! Wie Verkehrskonzepte der Zukunft in die Gänge kommen: https://dralexan drahildebrandt.blogspot.com/2020/03/fahr-rad-wie-verkehrskonzepte-der.html Fair und klimagerecht: Die Verkehrswende nimmt Fahrt auf: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2022/05/fair-und-klimagerecht-die-verkehrswende.html Gerecht und fair: Mobilität für alle: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2021/ 06/gerecht-und-fair-mobilitat-fur-alle.html Immer mehr Menschen satteln um: Job & Rad: https://dralexandrahildebrandt.blogspot. com/2020/10/immer-mehr-menschen-satteln-um-job-rad.html Mikromobilität boomt: Was nun?: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2021/09/ mikromobilitat-boomt-was-nun.html Mobilitätskonzepte: Wie Unternehmen umweltbewusste Verhaltensweisen fördern: https:// dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2021/09/mobilitatskonzepte-wie-unternehmen. html

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»Nachhaltige Mobilität soll auch Spaß machen«. Interview mit dem Mobilitätsexperten Benedikt Weibel: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2021/10/nachhaltigemobilitat-soll-auch-spa.html Peter Sloterdijk legt Bundestrainer Joachim Löw Rücktritt nahe. In: DER SPIEGEL (26.11.2020).https://www.spiegel.de/kultur/peter-sloterdijk-legt-bundestrainer-joachimloew-ruecktritt-nahe-a-4175fcac-e460-4b1c-ba69-1ffdd09d6cf2 Trübe Aussichten: Zunahme der CO2-Emissionen: https://dralexandrahildebrandt.blog spot.com/2022/01/trube-aussichten-zunahme-der-co2.html Umweltfreundliche Zukunftsmobilität: Konstruktive Beiträge zur Verkehrswende: https:// dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2021/04/umweltfreundliche-zukunftsmobilitat. html Verkehrswende: Wie gelingt eine klimaneutrale Zukunft in den Städten?: https://dralex andrahildebrandt.blogspot.com/2022/01/verkehrswende-wie-gelingt-eine.html Wie kann der Strukturwandel zur Klimaneutralität 2045 gelingen?: https://dralexandra hildebrandt.blogspot.com/2021/11/wie-kann-der-strukturwandel-zur.html Meditation in Bewegung: Warum Radfahren so beliebt ist (10.10.2020) https://dralexandra hildebrandt.blogspot.com/2020/10/meditation-in-bewegung-warum-radfahren.html Zeitungen und Zeitschriften: »Das Ruder herumreißen«. In: DUP Unternehmer Magazin (Februar 2022), S. 48. Sebastian Herrmann: Stahl und Wolle. In: Süddeutsche Zeitung (21./22.6.2014), S. 5. Sophie Menner, Caroline Vogt, Lea Weinmann: Der Stau ist zurück. In: Süddeutsche Zeitung (18./19.12.2021), S. 60. Nina Pauer: Der große Raum der Freiheit. In: DIE ZEIT (22.12.2021), S. 56. Felix Reek: »Ein Auto ist viel Gewohnheit«. In: Süddeutsche Zeitung (21.2.2022), S. 55. Henning Sußebach: Parkplatzhirsch. In: DIE ZEIT (3.2.2022), S. 31. Marco Völklein: Druck von der Straße. In: Süddeutsche Zeitung (15./16.1.2022), S. 46. Lorenz Wolf-Doettinchem: Da kommt was ins Rollen. In: stern (4.6.2020), S. 39–47 Bücher: Franz Alt: Nach Corona – Unsere Zukunft neu gestalten. Patmos Verlag, Ostfildern 2021. Franz Alt: Nach Paris: Warum uns die Energiewende zu Gewinnern macht. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Berlin Heidelberg 2021.

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Heiko Bielinski: # Einfach autofrei leben. Nachhaltig mobil: Die besten Alternativen – Mit Corona-Spezial. Südwest Verlag, München 2021. Katja Diehl: Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2022, S. 24 f. Pryor Dodge: Faszination Fahrrad – Geschichte, Technik, Entwicklung. Verlag DeliusKlasing, Bielefeld 2003. Peter Hennicke, Thorsten Koska, Jana Rasch, Oscar Reutter, Dieter Seifried: Nachhaltige Mobilität für alle. Ein Plädoyer für mehr Verkehrsgerechtigkeit. Oekom Verlag, München 2021. Alexandra Hildebrandt (Hg.): Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. SpringerGabler Verlag, Berlin, Heidelberg 2020. Jörg Knieling (Hg.): Wege zur großen Transformation. Herausforderungen für eine nachhaltige Stadt- und Regionalentwickelung. Oekom Verlag, München 2018. Hans-Erhard Lessing: Ich fahr’ so gerne Rad … dtv Verlag, München 2002. Guido Schlaich: Weshalb mich weniger Besitz glücklich macht. Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 2021, S. 101. Oliver Specht, Axel Nauert: Planet Proofed. Wie Sie Ihr Unternehmen nachhaltig und erfolgreich in die Zukunft führen. REDLINE Verlag, München 2020. Clara Thompson (Hrsg.), Tobi Rosswog (Hrsg.), Jutta Sundermann (Hrsg.), Jörg Berg­ stedt (Hrsg.): Aktionsbuch Verkehrswende. Acker, Wiese & Wald statt Asphalt. Oekom Verlag, München 2021. Benedikt Weibel: Wir Mobilitätsmenschen. Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr. NZZ Libro, Basel 2021. Anne Weiss & Bettina Schuler: Das Weltretter-ABC. Schlag’s einfach nach – clevere Tipps für dein wunderbar nachhaltiges Leben. mvg Verlag, München 2022.

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Rad-Mobilität der Zukunft mit Cradle to Cradle

Nora Sophie Griefahn und Tim Janßen Die Sonne scheint und Sarah beschließt, heute Morgen mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Sie zieht ihre biologisch abbaubare Jacke an und will sich direkt auf ihr Rad schwingen. Moment! Fast hätte sie ihre nachfüllbare Wasserflasche vergessen. Schnell packt Sarah die Flasche aus vollständig recycelbarem und materialgesundem Kunststoff ein. Jetzt aber los. Als sie die ersten Meter fährt, denkt sie daran, dass sie demnächst ein neues Coating für ihre Fahrradreifen braucht. Gut, dass sich darum das Herstellerunternehmen des Fahrrads kümmert. Sarah hat ihr Rad nur geleast, denn sie möchte eigentlich nur Fahrrad fahren, die darin verbauten Materialien können gerne Eigentum des Herstellerunternehmens bleiben. Die Firma nimmt das Fahrrad nach der Nutzung durch Sarah wieder zurück, repariert und überarbeitet es oder zerlegt es sortenrein in seine Bestandteile, recycelt diese und lässt die recycelten Materialien in den Produktionsprozess für neue Fahrräder einfließen. Kopfschüttelnd denkt Sarah daran, wie die Menschen früher die Umwelt durch Mikroplastik aus Reifenabrieb verschmutzt haben. Jetzt entsteht mit jedem Meter, den sie auf dem Fahrrad zurücklegt, neuer Nährstoff für Pflanzen. Sarah tritt fester in die Pedale und freut sich über die saubere Luft und die blühenden Wiesen neben der Radschnellroute. An ihrem Arbeitsplatz angekommen stellt Sarah ihr Fahrrad im Fahrradparkhaus nebenan ab. Dort kann sie das E-Bike kostenlos laden, mit sauberer Energie aus den kreislauffähigen Solarpaneelen auf dem Dach, die so viel Strom erzeugen, dass damit auch die Firmenkantine versorgt wird. Dieses Parkhaus ist nicht nur ein Parkhaus, sondern ein Ort der Zusammenkunft und der sozialen und ökologischen Vielfalt. Sitzecken laden zum Verweilen ein, während das E-Bike lädt, und überall summt und brummt es, da die Fassadenbegrünung zum Biotop für Insekten und andere Tiere geworden ist. Ein Ort zum Wohlfühlen als Teil einer ganzheitlichen Mobilitätsstrategie, die sich nicht nur auf die reine Fortbewegung beschränkt, sondern Mehrwerte schafft.

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Nach Feierabend holt Sarah sich noch schnell einen Kaffee zum Mitnehmen im komplett recycelbaren Mehrwegbecher aus gesunden und hitzebeständigen Materialien und ruft sich per App ein autonomes Shuttle, in dem sie das Fahrrad problemlos transportieren kann. Nach einem langen Arbeitstag ist sie erschöpft und zudem ist ihr Knie nach einer Verletzung vor ein paar Wochen noch nicht wieder komplett fit. Weil sie noch einen Termin nachbereiten will, wählt sie in der App ein Shuttle aus, in dem ein Arbeitsplatz eingerichtet ist. Zur Auswahl stehen auch Shuttles für den Transport von Gruppen sowie Shuttles mit Sitzecken oder Sofas für längere Strecken – je nachdem, was man gerade benötigt. Gut, dass Sarah sich nicht für eine Fortbewegungsart entscheiden muss, sondern bequem von einem klima- und ressourcenpositiven Verkehrsmittel ins andere wechseln kann. Das Shuttle kann von allen Menschen kostenfrei genutzt werden und bietet gerade Menschen wie Sarah, die in ländlichen Regionen wohnen, in Kombination mit dem Fahrrad eine praktische Form der Mobilität. Selbstverständlich wird jeglicher im Shuttle verbrauchte Strom ausschließlich aus Erneuerbaren Energien aus kreislauffähigen Anlagen gewonnen. Fossile Energieträger, wie altmodisch… Eine Utopie – oder vielleicht doch eher eine realistische Vision für unsere Mobilität der Zukunft? Das Fahrrad muss auch in Zukunft ein wichtiger Teil unserer Mobilität sein. Denn Fahrrad fahren hat viele Vorteile: Es stößt im Vergleich zu anderen Transportvehikeln in der Herstellung weniger und im Betrieb kein CO2 aus, es hält fit und macht Spaß. Die Anschaffung ist deutlich günstiger als die eines Autos und macht das Rad für nahezu alle Menschen erschwinglich. Wer Rad fährt, ist bereits heute flexibel: kein Warten auf den Bus, keine Suche nach einem Parkplatz. Doch zum Fahrrad gehört viel mehr als nur die reine Fortbewegung. Wenn das Fahrrad also Teil einer langfristig zukunftsfähigen Mobilität sein soll, müssen wir uns wesentlich breitere Gedanken über seine Herstellung und seine Nutzung machen als dies heute der Fall ist. Welche Materialien nutzen wir für die Herstellung eines Fahrrads? Unter welchen Bedingungen fertigen wir das Rad und seine einzelnen Bestandteile? Welche Arbeitsbedingungen herrschen entlang der Lieferketten eines Fahrrads? Welche Geschäftsmodelle und welche Infrastruktur benötigen wir für eine zukunftsfähige Rad-Mobilität?  Für eine ganzheitliche Mobilitätsstrategie reicht es nicht aus, dass wir uns Gedanken über alternative Antriebe machen und Radwege bauen. Wir müssen die Art und Weise, wie wir Transportvehikel und ihre Infrastruktur planen

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und herstellen, völlig neu denken und umgestalten – egal, ob Auto, Zug, Bus oder Rad. Denn natürlich ist das Rad klimafreundlicher als etwa ein Pkw – in Produktion und Betrieb. Doch diese Betrachtung lässt außer Acht, dass auch Fahrradreifen, Rahmen oder Gepäckträger – wie jedes Auto und jeder Zug – aus endlichen Ressourcen wie Metallen und Erdöl hergestellt werden. Und wir befinden uns eben nicht nur inmitten einer Klimakrise, sondern seit Jahren auch in einer Ressourcenkrise.  Das heißt: Durch unseren heutigen linearen Umgang mit Ressourcen berauben wir uns unserer eigenen Existenzgrundlage und verschlimmern dazu noch die Klimakrise. Höchste Zeit also, das Thema Ressourcen mitzudenken, wenn wir uns über eine zukunftsfähige Mobilitätsstrategie Gedanken machen.  Cradle to Cradle (C 2 C) ist ein Ansatz für eine solche umfassende Mobilitätsstrategie. Cradle to Cradle bedeutet, wörtlich übersetzt, von der Wiege zur Wiege, und ist ein Gegenentwurf zu unserer heutigen linearen Wirtschaftsweise. Die komplexen Herausforderungen unserer Zeit erfordern ein Umdenken – und eine ganzheitliche Lösung für zusammenhängende ökologische, ökonomische und soziale Probleme. Die C 2 C-Denkschule beschreibt ein solches Umdenken, indem wir den Menschen als Nützling sehen, der durch sein Handeln einen positiven Mehrwert für sich und seine Umwelt schaffen kann. Denn mit unserer heutigen Strategie, die Umwelt etwas weniger zu belasten und damit etwas weniger Schaden anrichten zu wollen, werden wir die Klimaund Ressourcenkrise vielleicht abmildern, aber eben nicht abwenden. Anstatt unseren negativen Fußabdruck verringern zu wollen müssen wir uns also das Ziel setzen, einen möglichst großen positiven Fußabdruck zu hinterlassen. Diese C 2 C-Denkschule können wir mit dem C 2 C-Designkonzept praktisch umsetzen. Mit Cradle to Cradle designen wir alle Produkte von Anfang an so, dass sie in kontinuierlichen technischen und biologischen Kreisläufen zirkulieren. Dabei verwenden wir ausschließlich gesunde und positiv definierte Materialien, die für ihr jeweiliges Nutzungsszenario designt sind. Bestandteile von Verbrauchsprodukten, die bei der Nutzung zwangsweise in der Natur landen, zirkulieren in biologischen Kreisläufen. Bestandteile von Gebrauchsprodukten, die nicht in der Biosphäre landen, zirkulieren in unendlichen technischen Kreisläufen. Dazu müssen sie so designt sein, dass sie sortenrein trennbar sind und bei mindestens gleichbleibender Qualität recycelt werden können.

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Kreislauf Systematisch (2022) © C 2 C NGO

Eine C 2 C-Fahrradbranche als Teil der Mobilitätswende Genau diesen Ansatz brauchen wir auch für eine innovative Fahrradindustrie, die sich nicht nur darauf beschränkt, weniger Schaden anzurichten, sondern wegweisende Produkte entwirft, die Spaß machen und gut für uns und die Umwelt sind. Nur so kann die Fahrradindustrie Teil einer zukunftsfähigen Mobilitätswende sein. Für die Fahrradbranche ist ein zirkulärer Ansatz eine Chance, wertvolle Ressourcen in Kreisläufen zu führen. Denn Materialien wie Aluminium oder Stahl sind endlich. Wenn die im Rad verbauten Rohstoffe nach der Nutzung einfach auf der Müllkippe landen, ist das weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll. Eine weiterhin linear wirtschaftende Fahrrad­industrie ist also nicht zukunftsfähig. Das Rad der Zukunft sollte deshalb nach Cradle to Cradle-Kriterien gebaut sein. Das ist besonders für die ressourcenarmen Länder Europas wie Deutschland sinnvoll. Denn durch die Kreislaufführung von Ressourcen machen wir uns zudem auch weniger abhängig von Rohstoff­importen. Mit C 2 C können wir die Fahrradindustrie zu einer

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noch innovativeren Wirtschaftsbranche transformieren, die zu einer zirkulären Mobilitätswende beiträgt und eingebettet in eine kluge und zukunftsfähige Mobilitätsstrategie Mehrwerte schafft: ökologisch, ökonomisch und sozial. So sieht ein Fahrrad nach Cradle to Cradle aus Doch wie sieht nun so ein C 2 C-Fahrrad konkret aus? Und was unterscheidet es von einem herkömmlichen Rad? Ein Fahrrad setzt sich aus vielen einzelnen Bestandteilen zusammen. Bei einem C 2 C-Fahrrad zirkulieren die Materialien jedes einzelnen Bauteils entweder in der Biosphäre oder in der Technosphäre. Ein C 2 C-Fahrradrahmen ist beispielsweise so gebaut, dass er vollständig sortenrein demontier- und recycelbar ist. Das bedeutet, dass er nach der Nutzung rückstandslos in seine Einzelteile zerlegt werden kann, die einzelnen Materialien also nicht irreversibel verklebt oder verpresst sind. Das gleiche gilt für eine Fahrradgabel. Diese Teile sind Gebrauchsprodukte, die in der Technosphäre zirkulieren. Viele dieser Bestandteile bestehen heutzutage aus Gewichtsgründen oft aus Carbonfasern, die mit Harz verklebt sind. Das führt dazu, dass die Fasern bisher, wenn überhaupt, nur mit einem erheblichen Qualitätsverlust recycelt – und damit downgecycelt – werden können. Bei einem C 2 C-Rad sind alle Bestandteile dagegen zu 100 Prozent ohne Qualitätsverlust recycelbar und bestehen ausschließlich aus Materialien, die getrennt und in der Techno­ sphäre gehalten werden können. Im Gegensatz dazu landen Bestandteile von Verbrauchsprodukten bei ihrer Nutzung, beispielsweise durch Abrieb, unweigerlich in der Umwelt. Diese Produkte müssen also so designt sein, dass ihr Abrieb biologisch abbaubar ist. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein Fahrradreifen. Durch das Fahren entsteht Abrieb, der in der Natur landet. Das gleiche gilt für die Bremsen eines Fahrrads. Heute bestehen Reifen meist aus herkömmlichem Gummi, das als nicht kompostierbares Mikroplastik die Umwelt belastet und als Mikropartikel in der Lunge landet. Gleichzeitig enthalten die Reifen oftmals Weichmacher wie Phthalate und andere gesundheitsschädigende Stoffe wie poly­zyklische aromatische Kohlen­wasser­stoffe, kurz PAK, die krebs­erregend, frucht­schädigend oder erbgutver­ändernd wirken können.  Doch was wäre, wenn wir durchs Fahrrad fahren einen positiven Impact in unserer Umgebung hinterlassen würden, der weit über die Einsparung von CO2-Emissionen hinaus geht? Der Reifen der Zukunft ist nach Cradle to Cradle gebaut, er besteht aus einem biologisch abbaubaren Material und enthält aus-

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schließlich positiv definierte Materialien. Denn auch bei der Materialauswahl gilt: Nur weniger schlecht sein, reicht nicht. Dazu müssen wir weg von unserer »Frei-von«-Mentalität kommen, nach der wir einen Stoff ausschließen, wenn er sich als schädlich erwiesen hat, dann mitunter aber Substitute verwenden, die ebenso schädlich sind. Stattdessen sollten wir ausschließlich gesunde Materialien für unsere Produkte wählen. So können wir nicht nur weniger Schaden in der Umwelt hinterlassen, sondern können sogar Nährstoff in die Natur bringen. Blühende Wiesen durch gesunden Reifenabrieb – so kann C 2 C-Fahrradmobilität aussehen. Und dafür müsste noch nicht einmal der komplette Reifen biologisch abbaubar sein. Denkbar wäre auch eine Beschichtung aus einem biologisch abbaubaren Material, die regelmäßig neu aufgetragen wird. Nicht nur das Fahrrad selbst ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir schon beim Design eines Produkts an das jeweilige Nutzungsszenario denken müssen. Dass Produktbestandteile aus einem biologisch abbaubaren Material sein müssen, wenn sie bei der Nutzung unweigerlich in der Umwelt landen, gilt auch für sonstiges Equipment, das zum Radsport dazu gehört. Denn auch beim Tragen und Waschen von Fahrradbekleidung entsteht Abrieb. Dementsprechend müssen Trikots, Hosen und Jacken so designt sein, dass jene Fasern, die sie beim Waschvorgang verlieren, kompostierbar sind.  Auch wenn die Grundbestandteile wie Rahmen, Reifen und Sattel ähnlich sind, gibt es schon heute eine Vielzahl verschiedener Fahrradtypen, die an ihr jeweiliges Nutzungsszenario angepasst sind: Lastenräder, E-Bikes, Mountainbikes und viele mehr. In einer Zukunft, in der Fahrräder eine immer größere Bedeutung für unsere Mobilität haben werden, wird es voraussichtlich auch ein immer größeres Angebot geben. Und das ist auch begrüßenswert: So findet jede Person das den eigenen Bedürfnissen entsprechende Fahrrad. Egal ob Gravel Bike oder Kinderfahrrad: Alle verbauten Materialien müssen gesund für Mensch und Umwelt sein und entweder im biologischen oder technischen Kreislauf zirkulieren. E-Bikes sind dann sinnvoll, wenn alle Bestandteile einer Batterie nach ihrer Nutzung recycelt und damit zur Ressource für neue Produkte werden können – und die Batterie damit nicht, wie es heute der Fall ist, zu Sondermüll wird und dadurch wiederum das Klimaproblem verschärft. Nur mit einer konsequenten Kreislaufführung aller Bestandteile eines Rads können wir eine zukunftsfähige Radmobilität gestalten.

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Cradle to Cradle umfasst alle Produktionsschritte Für eine C 2 C-inspirierte Mobilitätswende ist auch entscheidend, unter welchen Bedingungen ein Rad produziert wird. Wie muss die Produktion eines Fahrrads in Zukunft aussehen, damit die Umwelt nicht nur nicht belastet wird, sondern wir durch die Herstellung sogar einen positiven Impact haben können? Dazu müssen sich grundlegende Aspekte ändern, wie beispielsweise der Energieeinsatz bei der Herstellung eines Fahrrads. Eine Produktion basierend auf Energie aus fossilen Brennstoffen stößt nicht nur Schadstoffe aus, sondern ist auch aus ökonomischer Sicht langfristig nicht sinnvoll. Denn anders als Öl und Gas sind erneuerbare Energie im Überfluss vorhanden. Deshalb wird die Fahrradindustrie der Zukunft ausschließlich regenerative Energien für die Produktion nutzen. Damit Solarpaneele, Turbinen und Windräder nicht zum Sondermüll der nächsten Generation werden, ist es wichtig, dass auch alle Anlagen zur Energieerzeugung vollständig kreislauffähig und materialgesund sind. Nur so können erneuerbare Energien zu einer zukunftsfähigen Wirtschaft beitragen.  Neben der Energieversorgung müssen bei der Fahrradproduktion auch Aspekte wie das Wassermanagement beachtet werden. Wasser, das beispielsweise in der Stahlproduktion verbraucht wird, muss in Kreisläufen geführt werden. Ein intelligentes Wassermanagement in der Produktion sorgt dafür, dass nicht einfach nur weniger Wasser verbraucht und es weniger verschmutzt wird, sondern kann sogar zur Wasserreinigung beitragen. Wasser, das Fabriken sauberer verlässt als es hineingegangen ist, ist der Idealfall. Ein bedeutender Faktor für eine Produktion, die Mehrwerte schafft, ist, neben allen technischen Aspekten, der Mensch. Cradle to Cradle setzt das Wohlergehen von Mensch und Umwelt in den Fokus. Das gilt auch für die Arbeitsbedingungen, unter denen Fahrräder und ihre Bestandteile hergestellt werden. Die Einhaltung von Menschenrechtsstandards ist dabei nicht das Ziel, sondern das absolute Mindestmaß. Es sollte unser Anspruch sein, dass alle Menschen stets unter gesunden und guten Umständen arbeiten.

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Mit C 2 C-Geschäftsmodellen zukunftsfähig wirtschaften Eine wirklich geschlossene Kreislaufwirtschaft, wie sie auf EU-Ebene sowie in Deutschland politisch angestrebt wird, funktioniert nur mit kreislauffähigen und materialgesunden Produkten. Und gleichzeitig nützen all diese Produkte nichts, wenn wir es nicht schaffen, sie in ihre jeweiligen Kreisläufe zu bringen. Zu einer zukunftsfähigen Radmobilitätsstrategie gehören daher auch zeitgemäße Geschäftsmodelle bei allen Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette. Sollen die Materialien, aus denen ein Fahrrad besteht, wirklich in unser Eigentum übergehen oder wollen wir nicht eigentlich nur Fahrrad fahren? Bei sogenannten Product-as-a-Service-Systemen verbleiben die Ressourcen im Eigentum eines Fahrradherstellers oder eines Handelsunternehmens, die das Rad, und damit alle darin verbauten Rohstoffe, nach der Nutzung zurücknehmen. Das setzt den Anreiz, qualitativ hochwertige Materialien zu verbauen, damit diese nach der Nutzungsphase in einem Fahrrad in mindestens gleichbleibender Qualität für die Produktion neuer Fahrräder zur Verfügung stehen. So können wir auf betriebswirtschaftlicher Ebene wertvolle Ressourcen im Kreislauf führen und das Fahrrad wird zum fahrenden Rohstofflager. Leasing-Modelle gibt es bereits heute, ob bei Autos oder Fahrrädern, jedoch sind diese Angebote nicht zu Ende gedacht. Das geleaste Rad wird nach der Vertragslaufzeit meist an die leasende Person verkauft, von ihr vielleicht irgendwann noch einmal weiterverkauft und schlussendlich entsorgt – der Kreislauf wird also nicht wieder geschlossen. Für kontinuierliche Kreisläufe in der Fahrradbranche brauchen wir Rücknahmesysteme bei Herstellerunternehmen, im Handel und für Privatpersonen sowie eine entsprechende Logistik. Diese Kreislauflogistik kann dafür sorgen, dass die einzelnen Bestandteile eines Produkts kontinuierlich zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle verfügbar sind. Sie verbindet Rohstoffförderung und -verarbeitung, Produktion, Handel, Konsum, Recycling und Wiederverarbeitung recycelter Ressourcen. Auf betriebswirtschaftlicher Ebene können Produkt-Service-Systeme zudem künftig durch Materialpooling-Systeme ergänzt werden: Wenn sich mehrere Unternehmen zusammenschließen, können sie sich aus einem gemeinsamen Materialpool bedienen, in den die Rohstoffe aller zurückgenommen Fahrräder wieder einfließen. So entstehen neben echten Materialkreisläufen auch neue Märkte und damit neue, gesunde Wachstumschancen. Leasing, Wartung und Rücknahme der Räder können bei einem Handelsunternehmen liegen, das so als Schnittstelle zwischen Herstellerunternehmen und Endkundschaft fungiert.

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As-a-Service-Modelle sind auch für einzelne Radbestandteile denkbar, wie beispielsweise bei der bereits genannten Beschichtung für Fahrradreifen, sowie zwischen Zulieferern und herstellenden Unternehmen.  Aus C 2 C-Perspektive steht aber auch beim Blick auf Geschäftsmodelle das Nutzungsszenario im Fokus. Für bestimmte Umstände und Bedürfnisse mag das Bike-as-a-Service genau das richtige Angebot sein. In anderen Situationen ist das Geschäftsmodell vielleicht gar nicht umsetzbar oder erwünscht. Etwa bei Menschen, die Radsport betreiben und ihr Fahrrad nicht nur als Mittel zum Zweck des Transports sehen. So lange auch dieses Sportrad nach C 2 C designt und hergestellt ist und nach seiner Nutzung den Weg in das vollständige Recycling findet, ist das auch kein Problem. Bike-Sharing dagegen könnte in Zukunft etwa im Kontext von Fuhrparks von Unternehmen für ihre Beschäftigten eine noch größere Rolle als heute schon spielen. Lastenräder bieten in urbanen Räumen flexible Transportmöglichkeiten, da Platz in Städten eine knappe Ressource ist und auch in Zukunft sein wird. Selbstverständlich ist auch hier das Nutzungsszenario entscheidend: Große, schwere Transporte über längere Distanzen werden sich wohl auch in Zukunft nicht per Lastenrad durchführen lassen. Für andere Nutzungsszenarien können sie aber eine ökologische und ökonomische Lösung sein. Mobilität nach Cradle to Cradle ist also nicht festgelegt auf ein Produkt, eine Technologie oder ein Geschäftsmodell, sondern ermöglicht eine Vielzahl von Angeboten und bietet so für jedes Nutzungsszenario die passende Lösung.  Damit einher geht auch, dass digitale Prozesse für eine gesunde und ressourcenpositive Mobilität noch wichtiger werden als bisher. Sharing- oder Leasingangebote sind dann besonders effektiv, wenn sie auf digitalen Angeboten basieren, die die Nutzung einfach und attraktiv machen. Doch Apps, die die Verfügbarkeit unterschiedlicher kreislauffähiger Mobilitätsangebote anzeigen oder über die Miet- oder Sharing-Angebote buchbar sind, sind dabei nur die eine Seite. Auch auf Produkt- und Produktionsebene können Herstellerunternehmen durch digitale Produktpässe genau festhalten, welche Materialien an welcher Stelle in einem Rad verbaut sind. Jede Schraube, jede Speiche, jedes Kilogramm Stahl kann so nachverfolgt werden. Das erleichtert die Demontage und sortenreine Trennung einzelner Materialien und kann die Rohstoffversorgung der gesamten Fahrradindustrie bei immer knapper – und damit teurer – werdenden Primärressourcen sichern. So kann jederzeit eingesehen werden, wo sich wertvolle Ressourcen gerade befinden und welchen Marktwert sie haben.

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Eine echte Mobilitätswende muss daher auch mit einem Ausbau der digitalen Infrastruktur einhergehen.  Passende Infrastruktur für attraktive urbane Räume  Zirkuläre Bestandteile und originelle Geschäftsmodelle werden jedoch auch in Zukunft nicht ausreichen, um mehr Menschen zum Fahrradfahren zu bringen, wenn die passende Infrastruktur nicht vorhanden ist. Wenn Fahrradfahren nicht nur eine optionale Fortbewegungsmöglichkeit von Wenigen sein soll, sondern ein ernstzunehmender Bestandteil einer wirklich nachhaltigen Mobilität, müssen wir dringend in eine fahrradfreundliche Infrastruktur investieren. Länder wie die Niederlande oder Dänemark sind hier schon deutlich weiter. Deutschland muss in diesem Bereich nachziehen, um in Zukunft mehr Menschen auf das Fahrrad zu locken. Verkehrssichere Radschnellwege sowohl im urbanen als auch im ländlichen Raum bilden die Grundlage, um das Fahrrad zu einem attraktiven Fortbewegungsmittel zu machen. Aber auch bei der Umsetzung dieser Infrastruktur müssen wir neue Wege gehen, damit eine wachsende Anzahl von Radfahrenden nicht zur Belastung für die Umwelt wird. Fahrradwege müssen beispielsweise nicht zwangsläufig entlang von Straßen gebaut werden. Fahrradwege auf Stelzen versiegeln keine Flächen und können so gebaut werden, dass sie sogar neue Grünflächen kreieren und Lebensraum für Tiere bieten. Durch die Loslösung vom Autoverkehr wird das Radfahren sicherer und attraktiver.  Auch bei der Fahrradinfrastruktur dürfen wir nicht blind drauf los bauen, sondern sollten uns überlegen, welches Nutzungsszenario vorliegt und entsprechende Materialien wählen. Das gilt für die eigentliche Fahrbahn ebenso wie für das Verkehrsleitsystem. Kreislauffähige Smart-Grid-Fahrbahnen können Energie erzeugen, wenn sie befahren werden und farbige Markierungen von Radwegen können den Radverkehr sicherer machen. Letztere sollten jedoch immer mit gesunden und biologisch abbaubaren Farben aufgetragen werden. Denn durch das Befahren der Wege und durch Witterung entsteht Abrieb. Heutzutage gelangt auf diesem Wege Mikroplastik in die Umwelt. Durch gesunde Farben nach Cradle to Cradle kann dieser Abrieb wieder zu Nährstoff werden und Fahrbahnmarkierungen können sogar einen positiven Einfluss auf die Umwelt haben.  Neben Radwegen gehören auch Parkmöglichkeiten zu einer funktionierenden und attraktiven Radinfrastruktur. Fahrradparkhäuser an Verkehrsknoten-

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punkten machen den Umstieg auf andere Verkehrsmittel wie den öffentlichen Nahverkehr leichter und können auch Sharing-Angebote oder Reparaturservices enthalten. Und auch im privaten Gebrauch muss für sichere und ausreichende Parkmöglichkeiten gesorgt sein. Wenn diese Gebäude nach Cradle to Cradle-Kriterien gebaut sind, sind sie rückbaubar, modular, klimapositiv und mit gesunden Baumaterialien entstanden. C 2 C-inspirierte Gebäude haben immer einen Mehrwert, der über den eigentlich Nutzungszweck, wie hier das Parken, hinausgeht. Eine Fassaden- oder Dachbegrünung sorgt für eine gesunde Umgebung und Lebensraum für Tiere. Durch kreislauffähige Solarpaneele auf dem Gebäude kann Energie für den Gebäudebetrieb gewonnen werden und im Idealfall können umliegende Gebäude und Verkehrstafeln mitversorgt werden. Mit solchen Gebäuden schaffen wir Orte der ökologischen und sozialen Vielfalt, an denen sich Menschen wohlfühlen und zusammenkommen. So kann unsere Fahrradinfrastruktur weit mehr, als nur ressourcen- und klimapositives Radfahren zu ermöglichen: Sie wird zum wichtigen Element für die Gestaltung attraktiver urbaner Räume.   Mit Cradle to Cradle in die Zukunft fahren Letztendlich geht es beim Thema Mobilität immer um die Frage: Wie komme ich am besten von A nach B? Wir werden uns in Zukunft die Frage stellen müssen: Was bedeutet denn »am besten«? Am schnellsten? Am bequemsten? C 2 C-inspirierte Mobilität legt sich nicht auf ein Verkehrsmittel der Zukunft fest oder will gar eines vorschreiben. Denn für die eine Person mag das kreislauffähige Fahrrad das passende Verkehrsmittel sein. Die nächste Person ist vielleicht aus medizinischen Gründen gar nicht in der Lage, ein Rad zu nutzen, sondern ist auf einen gut angebundenen öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Und natürlich kann sich dieses Nutzungsszenario von Tag zu Tag ändern. Eine C 2 C-inspirierte Mobilität ist inklusiv und barrierefrei, sie stellt das Wohl der Menschen in den Fokus und gleichzeitig sicher, dass ihre Lebensgrundlage erhalten bleibt. Sie bezieht die Bedürfnisse aller Menschen mit ein und schafft so Mehrwerte für alle. Egal welches Verkehrsmittel wir künftig nutzen werden, um von A nach B zu kommen: Wichtig ist, dass alle Bestandteile des Gefährts aus materialgesunden und kreislauffähigen Materialien bestehen und dass die Produktion und fortlaufende Nutzung C 2 C-Kriterien folgt. Diese Grundsätze lassen sich nicht nur auf ein Fahrrad, sondern auch auf jede andere Fortbewegungsart anwenden. Bestehende, und noch zu erfindende.  

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Eine Radmobilitätsstrategie kann daher nicht losgelöst von einer übergeordneten Mobilitätsstrategie betrachtet werden, sondern muss ein integraler Teil davon sein. Die Mobilitätswende darf natürlich nicht zu einer reinen Antriebswende verkümmern, doch gleichzeitig sollten wir Radmobilität auch nicht losgelöst von anderen Verkehrsmitteln, von Infrastruktur und urbaner Entwicklung und von der Frage, wie wir künftig mit unseren knappen Ressourcen umgehen müssen, betrachten. Stattdessen brauchen wir ein echtes Umdenken unserer gesamten Planungs-, Produktions- und Wirtschaftsprozesse rund um das Thema Mobilität. Denn sonst verharren wir in einem Denken, das die falschen Prozesse perfektioniert, anstatt die Dinge von vornherein richtig anzugehen. Wenn wir auch in Zukunft auf einem lebenswerten Planeten existieren wollen, müssen wir dringend ganzheitliche Lösungen für die Klima- und Ressourcenkrise finden. Mit Cradle to Cradle ist das möglich: Indem wir mit unserer Art zu leben und zu wirtschaften über den reinen Verzicht und Reduktion hinausgehen, und uns stattdessen positive Ziele setzen. Mobilität ist ein Grundbedürfnis von uns Menschen. Wir wollen uns bewegen, wollen etwas von der Welt sehen und sie entdecken. Wir haben Spaß an Bewegung und wollen sie gemeinsam mit anderen erleben. Mit Cradle to Cradle können wir Mobilität positiv gestalten und Mehrwerte schaffen – und zwar für alle.

Vita Tim Janßen ist Mitgründer und geschäftsführender Vorstand von Cradle to Cradle NGO. Mit C 2 C NGO treibt er seit 2012 die Verankerung der Cradle to Cradle Denkschule und deren Designkonzept in Wirtschaft und Politik voran und setzt C 2 C-Leuchtturmprojekte wie das C 2 C LAB in Berlin um. Er ist seit rund 10 Jahren gefragter Experte für C 2 C-Innovation, zirkuläre Geschäftsmodelle sowie grünes Unternehmertum und spricht darüber auf Veranstaltungen, als Gastkommentator und Gesprächspartner in Printmedien und digitalen Formaten sowie mit politischen Entscheidungsträger*innen. Darüber hinaus lehrt Janßen an verschiedenen deutschen Hochschulen. Nora Sophie Griefahn ist Co-Gründerin und geschäftsführende Vorständin von Cradle to Cradle NGO. Auf politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Podien und Veranstaltungen sowie in den Medien ist die Umweltwissenschaftlerin seit gut zehn Jahren als Expertin für C 2 C, einen zukunftsfähigen

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Umgang mit endlichen Ressourcen und die Notwendigkeit materialgesunder und kreislauffähiger Produkte gefragt. Mit C 2 C NGO treibt sie ein Umdenken in Wissenschaft, Politik, Bildung und Gesellschaft voran, das mehr als nur Klimaneutralität zum Ziel hat. Darüber hinaus hat Griefahn Lehraufträge an verschiedenen deutschen Hochschulen.

© Cradle to Cradle NGO

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Mehr Mobilität mit weniger Verkehr

Matthias Schäpers Haben Sie schon einmal den Begriff »Mobilität« gegoogelt? Als ich dies vor über zehn Jahren tat, waren die ersten Treffer alle von Automobilkonzernen besetzt. Ich habe mich gefragt, ob das Ergebnis wirklich unser Verständnis von Mobilität wiederspiegelt. Oder wurde nicht viel zu lange durch Politik und Wirtschaft versucht, das Auto als Statussymbol und Mobilitätsform Nummer eins künstlich zu erhalten? Handelt es sich bei dem so genannten Motorisierten Individualverkehr (MIV) wirklich um die flexibelste Form der Mobilität, auch wenn manch einer weiterhin auf das eigene Auto angewiesen sein wird? Es hat sich in der Zwischenzeit einiges geändert. Denn wir erkennen immer mehr, dass uns andere Alternativen der Mobilität viel mehr Vorteile bringen und wir viel zu lange unsere Städte und Gemeinden, ja unser ganzes Leben dem Auto und seiner gewaltigen Infrastruktur angepasst haben. Das stetig steigende PKW-Aufkommen auf deutschen Straßen (Anfang 2022 waren es über 48,5 Mio. PKW und damit so viele wie noch nie) kehrt die vermeintliche Flexibilität mehr und mehr in einen Nachteil um. Corona und die Möglichkeit des Home-Office haben uns zeitweise vor Augen geführt, wie es sich anfühlt, wenn weniger Emissionen und Lärm die Umwelt belasten und dafür ein Stück Lebensqualität in die Städte bringen. Jeder von uns verbringt mit dem Auto im Durchschnitt 120 Stunden pro Jahr im Stau. Vor allem zur Hauptpendlerzeit bilden sich die längsten Staus. Der ADAC hat ermittelt, dass Mittwoch der Tag mit den meisten Staus ist. Auf rund 5.900 Kilometern stehen die Autos dann aneinandergereiht. Diese Reihe würde sich rund siebenmal von Norden nach Süden durch Deutschland ziehen. Ein ungemeiner Stresspegel, dem sich Pendler mit dem MIV täglich aussetzen. Nicht nur, dass wir uns durch das Stehen in Staus einem ungesunden Stress­ pegel aussetzen und zudem wertvolle Zeit verlieren. Oft ist auch ohne Staus die Wahl einer anderen Mobilität die schnellere Variante. Generell hängen die zeitlichen Vorteile von den Bedingungen vor Ort ab, von den vorhandenen

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ÖPNV-Angeboten und -Anbindungen, vor allem aber von der Entfernung. Dabei wird ein Detail oft vergessen: Die Zeit bis man sein Fahrzeug überhaupt erst erreicht hat. Ich vergleiche deshalb das Fahrrad manchmal mit dem Pferd des Cowboys im Wilden Westen. Er band sein Pferd direkt vor dem Saloon fest, stieg nach dem Besuch wieder auf und ritt davon. So ist es auch mit dem Fahrrad. Ich muss keinen Parkplatz finden, der oft weiter entfernt liegt, und diesen beim Verlassen eines Gebäudes dann wieder aufsuchen. Generell kann man davon ausgehen, dass in Städten bei einer Entfernung bis 5 Kilometer das Fahrrad die bessere Alternative ist, mit einem Pedelec erhöht sich die Entfernung auf 10 Kilometer. Durch die Zeit auf dem Fahrrad spart man sich zudem gleich die Zeit für den Spinning-Kurs. Gesünder ist es allemal, das Rad zu nutzen. Was sich übrigens auch in den Gesundheitskosten widerspiegelt. Rund 1.200 Euro weniger Gesundheitskosten pro Jahr zahlen nämlich Menschen, die viel mit dem Rad unterwegs sind wie eine Studie des Allgemeinen Deutschen Fahrrad Clubs (ADFC) herausgefunden hat. Immense Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Mobilitätsformen liegen im Flächenverbrauch. Dabei geht es nicht nur um die Infrastruktur für die Nutzung der unterschiedlichen Fortbewegungsmittel, vielmehr spielt hier der ruhende Verkehr eine wichtige Rolle. Denn dieser ruhende Verkehr benötigt mehr und mehr qualitativ hochwertige Flächen, die uns gerade in den Städten nicht mehr für wichtige andere Funktionen zur Verfügung stehen. Im Vergleich zum Radverkehr wird in der Stadt beispielsweise für Autos bis zu 20 Mal mehr Fläche benötigt. Flächen, die auch durch die notwendigen Klimaanpassungsmaßnahmen in Städten immer wertvoller werden. Vergessen wird gerne, dass die Kosten für die Verkehrsinfrastruktur durch die Allgemeinheit getragen werden. Kein Geheimnis ist, dass der MIV einen erheblichen Anteil an den 22 % des jährlichen CO2 Ausstoßes unserer Mobilität trägt. Der mit dem Auto zurückgelegte Kilometer ist nicht nur der CO2-intensivste, sondern auch der teuerste. Im Vergleich zu allen anderen Sektoren gibt es seit Jahren im Bereich der Mobilität leider keine Tendenz zur Reduktion der Emissionen. Also ist ein schnelles Umdenken und Handeln notwendig. Fangen wir also bei uns selber an. Welche Alternative kann jeder Einzelne nutzen? • Mehr Rad fahren: Die Ausrede »schlechtes Wetter« zählt nicht. Laut Deutschem Wetterdienst regnet es während der Fahrt zur Arbeit über-

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haupt nur zehn bis 20 mal im Jahr. Bei kurzen Strecken bist du mit dem Fahrrad schneller, manchmal sogar zu Fuß. Denn es fällt die zeitaufwendige Parkplatzsuche weg. Statt einen Spinning-Kurs zu besuchen, die Fahrt zur Arbeit nutzen, um fit zu bleiben. Ein Anreiz fürs In-die-Pedale-treten könnten auch lokale Challenges sein, bei denen es etwas zu gewinnen gibt. Job- und Monatstickets für den ÖPNV sind eine Alternative zum Auto. Sie sind nicht nur am Wochenende oft übertragbar und damit auch von Familienmitgliedern nutzbar. Auch bike + ride ist manchmal eine Option, gerade wenn man von außerhalb in die Stadt fährt. Verabredung für Fahrgemeinschaften: Oft wohnt in deiner Nachbarschaft jemand, der die gleiche Strecke zurücklegt. Es kann auch jemand aus einem anderen Unternehmen oder einer anderen Institution sein.

Für mich persönlich ist das Fahrrad die erste Wahl als tägliches Verkehrsmittel. Im städtischen Raum habe ich hiermit die größtmögliche Flexibilität, ich entlaste den stark beanspruchten städtischen Raum, spare Geld und ganz nebenbei reduziere ich hiermit meinen gesamten CO2-Footprint um ca. 20 %. Eine echte Win-Win-Situation für alle. Viele Unternehmen machen sich auf den Weg, ein ganzheitliches betriebliches Mobilitätsmanagement aufzubauen und ihre Mitarbeiter zu einem umweltbewussten Mobilitätsverhalten zu motivieren. So werden ÖPNV, Bike-Leasing und Fahrgemeinschaften gefördert, Belohn-Systeme und Aktionen für alternative Mobilitätsformen eingeführt und das Thema E-Mobilität ausgebaut. Denn Unternehmen haben erkannt, dass sie ebenso in der Verantwortung stehen und Teil der Lösung sind. Im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung von Städten, Gemeinden, Gewerbegebieten etc. müssen alle die an der Gestaltung unseres Umfeldes beteiligt sind, eine intelligente und klimaschonende Mobilität mitdenken. Jede neue Planung, ob Gebäude oder Quartier, bietet die Chance das Nutzerverhalten hinsichtlich einer nachhaltigen Mobilität positiv zu beeinflussen und eine lebenswerte Qualität zu schaffen. Hier geht es vor allem um Verhaltensänderungen, denn wir sind von einer jahrzehntelangen Ausrichtung der Stadtplanung auf den Autoverkehr geprägt. Es gibt in unserem Leben nur wenige Momente, in denen Verhaltensänderungen leichter umzusetzen sind. Ein Moment ist der Umzug in eine neue

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Wohnung oder ein neues Haus, oder aber Veränderungen am Arbeitsplatz. Dieser Zeitpunkt ist eine riesige Chance und den dürfen wir nicht verpassen.

Vita Matthias Schäpers ist seit 1. Mai 2022 Senior Projektleiter für klimapositive Kommunen bei der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e.  V. Zuvor war er Leiter für Nachhaltigkeit und Wohngesundes Bauen der Krieger +  Schramm Unternehmensgruppe und fast 13 Jahre bei der SMA Solar Technology AG. Dort startete er als Architekt und Projektmanager mit der Leitung eines © privat echten Leuchtturmprojektes für nachhaltiges Bauen, der stromnetzunabhängigen Günther Cramer Solar Academy. Ab 2012 übernahm er als Corporate Sustainability Manager die Verantwortung für das Thema Nachhaltigkeit. Seine strategischen Schwerpunkte sind Nachhaltigkeitsmanagement, Energie- und Umweltmanagement sowie nachhaltiges Mobilitätsmanagement. Zuletzt entwickelte er für SMA einen Leitfaden für nachhaltige Produktgestaltung auf Basis einer Circular Economy Strategie. Sein Engagement für Nachhaltigkeit geht aber weit über seinen Beruf hinaus: Seit 2018 ist er ehrenamtlicher Klimaschutzbotschafter des hessischen Umweltministeriums für die Stadt Kassel und Vorstand des Umwelthauses Kassel. Außerdem teilt er seine Expertise in bundesweiten Vorträgen über Nachhaltigkeitsstrategien sowie Mobilitäts- und Energiemanagement in Unternehmen und Bauprojekten.

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Wir Mobilitätsmenschen. Das Fahrrad im Fokus der Verkehrswende Benedikt Weibel »Ohne das Fahrrad wäre das Leben ein Irrtum.« Peter Sloterdijk 1 Die Mobilität von Gütern und Menschen ist das zentrale Nervensystem unserer Wirtschaft und unseres Wohlstandes. Bewegungsfreiheit ist ein Gut, das wir gar nicht hoch genug schätzen können. Aber sie hat auch Grenzen. Dort, wo sie die Grundlage des Lebens auf diesem Planeten bedroht. »Freiheit ohne Autorität ist Chaos, Autorität ohne Freiheit ist Tyrannei.« Stefan Zweig zeigt das Kontinuum auf, in dem sich jede Freiheit befindet. Die Zeiten der uneingeschränkten Mobilität sind vorbei. Die Aufgabe ist klar. Es gilt die Grenzen der Mobilität so klug zu ziehen, dass sich der Mensch auch in Zukunft über seine Bewegungsfreiheit freuen kann. Logik einer Verkehrswende 197 Staaten haben sich verpflichtet, die Treibhausgas-Emissionen bis 2050 auf netto-null zu senken und dieses Ziel with the highest possible ambition anzustreben. Als Zwischenziel hatte man sich vorgenommen, bis 2020 eine Reduktion von zehn Prozent im Vergleich mit 1990 zu erreichen. Das Ziel wurde deutlich verfehlt. Von den fünf Sektoren (Haushalte, Dienstleistungen, Verkehr, Indus­ trie, Landwirtschaft) haben vier namhafte Absenkungen vorzuweisen, einzig der Verkehr hat sogar etwas mehr ausgestoßen als im Referenzjahr. Gut 25 Prozent der Treibhausgas-Emissionen stammen vom Verkehr. 94 Prozent davon hat der individuelle Motorfahrzeugverkehr ausgestoßen (in Deutschland). Erster logischer Schluss: Wenn das Klimaziel erreicht werden soll, ist eine Verkehrswende zwingend. Zweiter logischer Schluss: Fossile Treibstoffe müssen durch klimaneutrale Treibstoffe ersetzt werden. Die Schweiz verfügt über hervorragende Straßen- und Bahnnetze. Im Durchschnitt sind diese Netze nur mäßig ausgelastet. Netzausbauten in großem 1

Peter Sloterdijk, in: Der Bund, 14.03.2015, S. 3.

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Stil brauchen von der Idee bis zur Inbetriebnahme mindestens 25 Jahre – Tendenz steigend. Daher lautet der dritte logische Schluss: Mit oberster Priorität müssen die bestehenden Netze besser ausgelastet werden. Das ist ein physikalisches Problem, für dessen Lösung es mehrere Ansätze gibt: Digitale Technologien verbessern die Verkehrssteuerung; Verkehrsmittel werden wesensgerechter eingesetzt; organisatorische Maßnahmen (z. B. Staffelung von Arbeitszeiten im Büro oder im Home-Office) und monetäre Steuerungselemente brechen Verkehrsspitzen und/oder füllen freie Kapazitäten in Randlagen. »Wesensgerecht« ist ein Verkehr, wenn er in einer bestimmten Relation folgenden vier Kriterien am besten genügt: Durchsatz (Menge an Personen und/ oder Gütern, die in einer bestimmten Zeit einen Querschnitt passieren kann); Flächeneffizienz (die von einem Verkehrsmittel beanspruchte Fläche); Energieeffizienz; Emissionen. Diese Werte sind vom Verhältnis zwischen Fahrzeuggewicht und der Zuladung, dem Reibungswiderstand und der Geschwindigkeit abhängig. Auf kurze Distanzen ist der Fußverkehr, der auf jegliches Verkehrsmittel verzichtet, mit Abstand am effizientesten. Im gebündelten Verkehr ist es die Eisenbahn – dank ihrer Gefäßgröße und einem geringen Reibungswiderstand. Deshalb basieren Verkehrskonzepte für Großanlässe auf einer Kombination von Bahn und Fußmärschen. Auf kürzeren Distanzen hat das Fahrrad aus physikalischen Gründen große Vorteile. Es wiegt wesentlich weniger als die fahrende Person, weshalb man allein mit menschlicher Energie beträchtliche Distanzen zurücklegen kann. Das Fahrrad ist flächeneffizient und hat einen hohen Durchsatz. Auf der Parkplatzfläche eines Autos kann man sechs Fahrräder abstellen. Gemäß Zählungen in Kopenhagen sind auf einem Fahrradweg pro Stunde 2,5-mal so viele Personen unterwegs wie auf einer wesentlich breiteren Autospur. Das Fahrrad ist in städtischen Verhältnissen ein ausgesprochen wesensgerechtes Verkehrsmittel. Seitdem es elektrifiziert wurde, haben sich seine Vorteile potenziert. Vierter logischer Schluss: In den engen räumlichen Verhältnissen in Städten und Agglomerationen erfordert der wesensgerechte Einsatz der Verkehrsmittel eine Umwidmung der Verkehrsflächen zugunsten von öffentlichem Nahverkehr, Fahrrad und zu Fuß Gehenden. Die Auferstehung des Fahrrads Das Jubiläum 200 Jahre Fahrrad wurde schon zelebriert. Obwohl es sich erst 1888 richtig durchsetzte, als der Luftreifen erfunden wurde. Das damals Velo-

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ciped genannte Gerät wurde zum ersten Verkehrsmittel, das weiten Teilen der Bevölkerung einen größeren Bewegungsradius und Unabhängigkeit verschaffte. Im Zuge der Verdeutschung von Fremdwörtern fand sich im Duden 1900 erstmals der Begriff »Fahrrad«, während sich in der mehrsprachigen Schweiz »Velo« gehalten hat. Innerhalb kurzer Zeit wurde es zu einem europäischen Volksvehikel. Das Fahrrad durchdrang alle Lebensbereiche: Arbeit, Tourismus und Sport. 1903 fand die erste Tour de France statt. Ihr Mythos hat sich bis heute gehalten. Das Fahrrad ist zum Rad geworden. Dass sich dieser Begriff zum Gattungsbegriff entwickelt hat, zeigt, wie bedeutend dieses Transportmittel ist. Nach und nach eroberte das Auto in Europa den oberen, dann den mittleren und schließlich auch den unteren Mittelstand. Die autogerechte Stadt wurde zum neuen Leitbild, und das Fahrrad wurde zunehmend an den Rand gedrängt. Das änderte sich, als in den 1970er-Jahren in Kalifornien das Mountainbike erfunden wurde. Es begann sich auch in Europa rasch zu verbreiten. Bald wurden mehr Mountainbikes verkauft als andere Fahrradtypen. Das Mountainbike löste einen anhaltenden Trend zur technologischen Erneuerung des Fahrrads aus: neue Federungssysteme, Schaltsysteme, Bremssysteme, Getriebe, Riemenantrieb. Neue Fahrradtypen entstanden: das Trekkingbike und das Citybike. Das Fahrrad wurde zu einem globalen Lifestyle-Vehikel – von einer globalen Industrie weiterentwickelt, hergestellt und vertrieben. Zu den neueren Entwicklungen gehört das Lastenrad. Eine gewisse Popularität hat es erhalten, weil die grüne Partei im deutschen Wahlkampf die Subventionierung von Lastenrädern propagierte. Das Kosten/Nutzen-Verhältnis einer solchen Maßnahme ist allerdings zweifelhaft. Erstens ist der Anteil von Verschiebungen mit größeren Lasten verhältnismäßig gering (und mit temporär verwendbaren Anhängern ebenso gut zu bewältigen), und zweitens sind Lastenräder relativ unförmige Vehikel – ihr Durchsatz und ihre Flächeneffizienz sind gegenüber dem konventionellen Fahrrad wesentlich schlechter. In den 1990er-Jahren begannen sich in Japan und der Schweiz Fahrräder mit Elektroantrieb (E-Bike oder Pedelec genannt) zu verbreiten. Für Berufspendlerinnen und -pendler hatten diese Fahrzeuge im Vergleich zu einem konventionellen Rad entscheidende Vorteile. Es erweitert den Distanzradius und ermöglicht auch im welligen Gelände transpirationsfreies Radfahren. Radfahren im

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Anzug wurde salonfähig. Die zunächst noch etwas unförmigen Geräte wurden immer schnittiger und bald setzte das E-Bike den Trend im Fahrradmarkt. In stätischen Verhältnissen ist das E-Bike das mit Abstand schnellste Verkehrsmittel. Seit geraumer Zeit wächst sein Bestand exponentiell. Das E-Bike hat sich sowohl im Berufs- wie im Freizeitverkehr durchgesetzt. Dass es der Branche gelungen ist, ihre Wertschöpfung mit elektrifizierten Mountainbikes substanziell zu erhöhen, ist ein marketingtechnischer Geniestreich. Für gewisse Fahrräder werden heute Preise verlangt, für die man sich auch einen Kleinwagen erstehen könnte. Seit 1980 hat sich die weltweite Fahrradproduktion verdoppelt, ihr Volumen wird weltweit auf 29 Milliarden Dollar geschätzt.2 In Deutschland, Österreich und der Schweiz verfügen mehr als zwei Drittel aller Haushalte über ein Fahrrad. »Die Fahrradfritzen sind erwachsen geworden«, kommentiert die NZZ diesen »Aufstieg zu einer veritablen Industrie«, was dazu geführt habe, dass Velofahrer zahlreicher und anspruchsvoller geworden sind.3 Ein ideales Freizeitgerät Die gute Nachricht: Radfahren ist gesund. Nie aufhören, sich zu bewegen – geistig und körperlich, das ist eine der wichtigsten Devisen für ein gutes Leben. Bewegen kann man sich primär zu Fuß oder auf dem Rad. Radfahren beansprucht viele Muskeln, stärkt den Rücken, verhindert Schläge (im Gegensatz zum Joggen) und beansprucht, vor allem im hügeligen Gelände, den Kreislauf. Das Rad hat einen großen Vorteil: es erweitert den Bewegungshorizont. Fernreisen mit dem Fahrrad werden immer beliebter. Die Tourismusbranche hat die Radfahrenden längst als interessante Zielgruppe entdeckt. Vielerorts werden Gesamtpakete mit zur Verfügung gestellten Rädern (auf Wunsch auch elek­trisch verstärkt), Effektentransport und Unterkunft angeboten. Reisen mit dem Fahrrad öffnet eine neue, sinnliche Erlebniswelt. Man nimmt die Landschaft mit all ihren Formen, Geräuschen und Gerüchen wahr. Man gewinnt ein neues Verhältnis zur Distanz. Die höchste Form der Rad-Fernfahrt beginnt mit dem Aufpacken des Gepäcks zu Hause und der Abfahrt nach einem fernen Ziel. Während der ersten Kaffeepause einer Tagesetappe konsultiert man die Karte, einigt sich auf einen Zielort und reserviert eine Unterkunft. Dort angekommen, im Biergarten den ersten Schluck trinkend, erlebt man einen Augenblick des Glücks. Kalorienbeschränkung gibt es beim anschließenden Essen 2 NZZ, 03.11.2020, S. 21. 3 Ebd.

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keine. Dann nimmt man die Karte wieder zur Hand und setzt sich mit der morgigen Etappe auseinander. Das Glücksgefühl weicht einer leichten Unruhe, weil man nicht weiß, was einen erwartet. Dieser Wechsel der Gefühle macht die Rad-Fernfahrt zu einem kleinen Abenteuer. Der Feind der Radfahrenden ist das Wetter. Natürlich kennen wir den Spruch: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung. Das stimmt, aber gerade im Freizeitverkehr macht Radfahren im Regen keinen Spaß. Deshalb sollte man seine Rad-Fernfahrten nicht durchplanen, sondern von Tag zu Tag entscheiden. Und den wetterbedingten Ruhetag genießen. Die schlechte Nachricht: Radfahren ist gefährlich. Auf keinem anderen Verkehrsmittel ist man derart ungeschützt. Das Risiko eines schweren Unfalls ist nur mit dem Motorrad größer. Ein erheblicher Teil der Unfälle mit dem Fahrrad sind selbst verursacht. Wenn man auf dem Rad sitzt, ist man sich kaum bewusst, welche Energie selbst bei relativ niedrigen Geschwindigkeiten im Spiel ist. Schon ein minimales Aufmerksamkeitsdefizit kann verheerende Folgen haben. Das Problem hat sich mit den wesentlich schnelleren und schwereren E-Bikes verschärft, was sich auch in den Unfallstatistiken abzeichnet. Früchte einer konsequenten Fahrradpolitik Mit dem wachsenden Autoverkehr nahm die Anzahl der Unfälle und der dadurch verursachten Todesfälle stark zu. 1971 kamen in den Niederlanden 3.300 Menschen, davon 400 Kinder, bei Verkehrsunfällen ums Leben. Das bewog die niederländische Regierung, ein Maßnahmenpaket zur Stärkung des Fahrradverkehrs zu starten. Eckpunkte dieser Maßnahmen waren: Priorität für den Radverkehr (auch bezüglich Raumverteilung), Aufbau eines Netzes von getrennten Radwegen (für das Schulkind bis zur Oma gleichermaßen befahrbar), Schaffung von Veloabstellplätzen, insbesondere im Umfeld von Bahnhöfen und ein landesweites Orientierungssystem für Radfahrer. Ähnliche Initiativen wurden gleichzeitig in Dänemark, insbesondere in Kopenhagen verfolgt. Seit nunmehr über 50 Jahren werden die Maßnahmen in den Niederlanden und in Kopenhagen systematisch umgesetzt. Kopenhagen veröffentlicht periodisch einen Bicycle Account, der über das Erreichen der ehrgeizigen Ziele berichtet. So sollen bis ins Jahr 2025 mindestens die Hälfte aller Wege zur Arbeit oder zur Ausbildung mit dem Velo gefahren werden. 2016 hat dieser Wert 41 Prozent betragen, 2018 waren es bereits 49 Prozent. Bezogen auf sämtliche Wege beträgt der Veloanteil 28 Prozent, jener des Autos 32 Prozent. Bis 2025 soll letzterer

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auf 25 Prozent gedrückt werden. Die Ziele beschränken sich nicht auf Verkehrsanteile. Die anspruchsvollste Vorgabe für 2025 betrifft die Sicherheit. Bis dahin soll es keine schweren Fahrrad-Unfälle mehr geben. Das Monitoring ist differenziert und beinhaltet unter anderem die mittlere Geschwindigkeit, die Zufriedenheit mit den Abstellplätzen und den Einfluss der Fahrradkultur auf das städtische Leben. Mit Ausnahme der Zufriedenheit mit den Abstellplätzen entwickeln sich alle Messgrößen positiv. Die jüngste Initiative in der dänischen und niederländischen Fahrradpolitik ist die Schaffung von Cycle Superhighways zwischen den Städten. Das ist eine Folge des zunehmenden Anteils von E-Bikes, welche den Radius im Fahrradverkehr deutlich erweitern. Bis 2045 sollen in Dänemark 746 km neue Radschnellwege entstehen. Das würde eines der profitabelsten Infrastrukturprojekte des Landes. Wobei in Dänemark viele Überlandstraßen bereits heute über Fahrradwege verfügen, die durch einen Grünstreifen von der Autostraße abgetrennt sind. Besonders anspruchsvoll ist die Bereitstellung einer genügenden Anzahl Abstellplätze. Die Dimensionen sind gewaltig. Im niederländischen Groningen wurde ein vollautomatisches Veloparkhaus mit 10.000 Abstellplätzen gebaut. Amsterdam plant neue Plätze für 21.000 Fahrräder. Seit 2011 hat Utrecht 100.000 zusätzliche Stellplätze geschaffen. Diese Abstellanlagen müssen bewirtschaftet werden. Dazu zählt die Entsorgung von wild parkierten und aufgegebenen Velos. In Kopenhagen belegen aufgegebene Velos 14 Prozent der Abstellplätze. Ein heikles Problem ist die Frage einer Tarifierung der Veloparkplätze. Der Anspruch auf einen Gratis-Abstellplatz gehört zur Kultur der Radfahrenden. In einer neu erstellte Velostation in Zürich kostet das Parkieren eines Velos 2 Franken am Tag, eine Jahreskarte 180 Franken. Mit dem Ergebnis, dass die Plätze kaum genutzt werden. Dass hier ungelöste Probleme schwelen, zeigen Befragungen der Radfahrerinnen und Radfahrer in Kopenhagen. Abstellplätze beanspruchen öffentlichen Raum, und es ist schwer zu begründen, weshalb dieser den Fahrradfahrenden gratis zur Verfügung gestellt werden soll. Seit den kühnen Entscheidungen für eine offensive Fahrrad-Politik in Dänemark und den Niederlanden sind fünfzig Jahren vergangen. Seither hat sich in beiden Ländern eine ausgeprägte Fahrradkultur entwickelt. Das Fahrrad wurde zum Symbol für Freiheit, Aktivität und Gesundheit. Radfahren ist nicht cool, es ist einfach eine Selbstverständlichkeit. Wer als Mitteleuropäer die Gelegenheit hat, in einer holländischen oder dänischen Großstadt Velo zu fahren, staunt über mancherlei. Über die gewaltigen Massen an Radlerinnen

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und Radler. Über ihre Haltung auf dem Rad: aufrecht, weil der Lenker höher ist als der Sattel. Über ihre Gelassenheit. Dass nebeneinander gefahren wird. Dass kaum jemand einen Helm trägt. Trotzdem hat es Jahrzehnte gedauert, bis das Beispiel von Dänemark und den Niederlanden in Mitteleuropa wahrgenommen wurde. Seither ist das Interesse massiv gestiegen und beide Länder haben entdeckt, dass ihre Fahrrad-Politik ein gesuchter Exportartikel ist. Schlagendes Beispiel dafür ist das neue Verb to copenhagenize als Label für die Stoßrichtung von Veloinitiativen. Tatsächlich ist der Stellenwert des Fahrradverkehrs in den meisten EU-Ländern und der Schweiz bescheiden. Während Mitte der 10er-Jahre in Holland 36 und in Dänemark 23 Prozent der Bevölkerung regelmäßig Rad gefahren sind, waren es in Deutschland 12, in der Schweiz 8 und in Österreich 6 Prozent.4 Man begründet den Unterschied damit, dass Holland und Dänemark eine Fahrrad-taugliche Topografie haben. Außerdem herrsche dort eine ausgeprägte Velokultur. Diese Kultur liegt aber nicht in den Genen der Däninnen und Holländer. Es ist das Resultat einer seit 50 Jahren konsequent betriebenen Politik. In diese Zeit haben sich ideologische Fronten zu pragmatischen Haltungen gewandelt. In Deutschland wurde 2002 mit den Stimmen aller Fraktionen ein erster nationaler Radverkehrsplan beschlossen und seither schrittweise umgesetzt. 2012 folgte der nationale Radverkehrsplan 2020, der auch quantitative Ziele enthält. In Österreich legte das Ministerium für Verkehr, Innovation und Technologie das Fahrradpaket 2012 auf. In der Schweiz wurde 2020 ein neuer Artikel in der Bundesverfassung in einer Volksabstimmung angenommen: »Der Bund legt Grundsätze über Fuß-, Wander- und Velowegnetze fest.« Bemerkenswert sind zwei Dinge: das Fahrrad hat nun Verfassungsrang, und das Wort »Netz« kann man dahin interpretieren, dass es um den Aufbau einer neuen Infrastruktur geht. Aus den Erfahrungen in Holland und Dänemark kann man drei Schlüsse ziehen: (1) Eine konsequente Politik zur Förderung des Fahrrads leistet einen großen Beitrag zur Bewältigung der Verkehrsprobleme in dicht besiedelten Räumen; (2) das Kosten/Nutzen-Verhältnis von Maßnahmen zur Förderung des Fahrradverkehrs ist günstig; (3) um substanzielle Veränderungen zu erzielen, braucht es einen langen Atem. Was in Holland und Dänemark in einem halben Jahrhundert erreicht wurde, kann man nicht innerhalb weniger Jahre kopieren. 4

Der Bund, 09.08.2016, S. 7.

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Mikromobilität Der Begriff ist im deutschsprachigen Raum so jung, dass es noch keinen Eintrag bei Wikipedia gibt. Unter Micromobility findet sich der Hinweis, dass das Wort 2017 aufgetaucht ist. Es ist ein Sammelbegriff für kleine, leichte Fahrzeuge mit geringer Geschwindigkeit, typischerweise für den Einsatz auf der last mile. Im Micromobility-Eintrag findet sich eine Liste mit nicht weniger als 18 Mikromobilen. Zuoberst ein alter Bekannter: das Fahrrad. Gefolgt von einem Gefährt, das auch schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hat: dem Golfwagen. Wir ersparen uns die vollständige Aufzählung und beschränken uns auf die prominentesten Geräte: E-Bike, E-Tretroller, E-Roller, Monowheel, E-Roller-Skates. Wie man sieht, ist der elektrische Antrieb nicht ein Definitionsmerkmal, aber ein Charakteristikum der meisten dieser Fahrzeuge. Mikromobilität ist zu einem Startup-Geschäft geworden. Die meisten dieser Startups entwickeln nicht nur Mikromobile für den Verkauf, sondern sie visieren auch den Markt der sharing mobility an. Als es diesen Begriff noch gar nicht gab, war es nicht ein Startup, sondern die Stadt Paris, die ein Mietsystem für Fahrräder konzipierte und eine Konzession an einen Betreiber ausstellte. 2007 gestartet wurde Vélib rasch populär. Vélib ist dockbased, die Fahrräder müssen an einer Velostation abgeholt bzw. abgegeben werden. Das Smartphone mit immer sophistischeren Apps ermöglicht heute Systeme, die dockless funktio­ nieren. Die operationelle Abwicklung des Miet-Geschäfts ist aufwendig. Die Verkehre sind selten »paarig«, deshalb müssen die Bestände an den Stationen ausgeglichen werden. In Paris sind die höher gelegenen Stationen oft leer. 10 bis 14 Prozent der Räder müssen aufwendig umplatziert werden. Das größte Problem ist der Vandalismus. In Paris müssen täglich bis 1.500 Reparaturen vorgenommen werden. Mit den E-Bikes stellt sich die zusätzliche Aufgabe, den Ladezustand der Batterien im Griff zu haben. Wie ein Blick auf Tripadvisor zeigt, sind das Dauerprobleme: »80 Prozent der Fahrräder sind defekt. Wir wurden im Schnitt erst bei der dritten Station fündig.« Dieselben Probleme belasten die Erfolgsrechnungen aller Sharing-Modelle mit MikromobilitätsVehikeln. Große Margen lassen sich damit kaum erzielen. Der mittlerweile etwas abgeflachte Mikromobilitäts-Hype hat eine ausgesprochen positive Seite. Er ist Ausdruck eines innerhalb kürzester Zeit gewachsenen Bewusstseins für die Probleme im Stadtverkehr. Lassen wir uns überraschen, welche dieser Mikromobile sich wo durchsetzen. Aus heutiger Sicht scheint das gute alte Fahrrad, elektrisch unterstützt und technologisch laufend weiterentwickelt, zumindest in Europa in der Poolposition.

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Friedliche Koexistenz Als sich das Autos zu verbreiten begann, wurde es als rasendes Objekt wahrgenommen, das viel zu schnell auf schlechten Straßen fuhr und riesige Staubwolken aufwirbelte. Passanten konnten nur einen flüchtigen Blick auf die Automobilsten richten, die mit Staubbrillen, Staubmänteln, Lederhauben und Schals geschützt hinter dem Steuer saßen. Für den Verkehrshistoriker führt diese Position hinter dem Steuer zu einer »radikal veränderten Wahrnehmungsperspektive«, in der jedes sächliche oder menschliche Hindernis die kognitiven Prozesse des Automobilisten stört. Autofahren verlange »umständliche Koordinationsleistungen« und produziere so ein »extremes Maß an selektiver Wahrnehmung (…)‚ ›Herrenfahrer‹ sind keineswegs nur arrogant, sondern das Opfer einer kognitiven Selbstüberforderung.«5 Der Neurologe Eric Kandel hat für seine Forschungen über den Prozess der Wahrnehmung den Nobelpreis erhalten. Gemäß seinen Erkenntnissen werden aus der Überfülle von sensorischen Reizen Details eliminiert, dann die wesentlichen Merkmale von Personen, Objekten oder Landschaften extrahiert und mit gespeicherten Mustern verglichen.6 Wahrnehmung ist also immer selektiv und ein Lernprozess. In den letzten hundert Jahren haben sich im Unterbewusstsein der Menschen hinter dem Steuer Handlungsmuster eingeprägt, die die anfänglichen Koordinationsprobleme beseitigt haben. Etwas aber hat sich in all diesen Jahren nicht verändert. Wer sich hinter ein Steuer setzt, mit dem geschieht etwas. Das Unterbewusstsein versetzt die Person hinter dem Steuer in eine Rolle, manchmal sogar in verschiedene Rollen. Sie sitzt in ihrem persönlichen Raum. Die PS-starke Maschine verleiht ihr Kraft. Wie sehr sich das Unterbewusstsein wider die Vernunft durchsetzt, zeigt sich am Überhandnehmen übermotorisierter, überschwerer, aggressiv designter SUV’s. »Der Mercedes AMG GLC 63 ist das blechgewordene Äquivalent zum volltätowierten, solariumsgebräunten Muckibuden-Oberkörper, der an warmen Sommertagen im knappen Muskel-Shirt ausgeführt wird. Ein Auto, nach dem sich alle umdrehen, selbst wenn sie danach den Kopf schütteln«.7 Der Trend ist offensichtlich. »Fast alle Automobilhersteller leben phänomenolo5

Kaschuba, Wolfgang: Die Überwindung der Distanz, Zeit und Raum in der europäischen Moderne. S. 189. 6 Kandel, Eric: Zeitalter der Erkenntnis. München 2012, S. 278. 7 https://www.spiegel.de/auto/fahrberichte/mercedes-amg-glc-63-aufgedonner ter-suv-mit-v8-motor-a-1177063.html (16.04.2020)

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gisch von der Droharchitektur.«8 Wer am Steuer eines solchen Fahrzeugs sitzt, hat eine andere Rolle, als wenn sie (die gleiche Person) zu Fuß unterwegs ist. Es ist paradox. Wir sind alle hybrid. Wir gehen zu Fuß, fahren Rad, fahren Auto, fahren Tram, Bus und Zug, fliegen. Aber mit jeder dieser Fortbewegungsarten ist eine Rolle verknüpft, in die wir unbewusst schlüpfen. Wenn wir Rad fahren, ist die Rolle von zwei Faktoren geprägt: Erstens ist man auf dem Rad schlecht geschützt, jeder Unfall kann schwere Folgen haben. Zweitens bewegt man sich auf dem Rad ökologisch korrekt, was eine gewisse moralische Überlegenheit verleiht. Mittlerweile spielt sich der Konflikt bereits auf einsamen Bergwegen ab, wo sich immer mehr Mountainbiker und Wanderer kreuzen. Wie sehr eine Rolle prägt, wissen die, die ein schnelles E-Bike fahren: Im Rückspiegel nähert sich ein Fahrrad, von der Haltung des Fahrers her ist es elektrisch unterstützt, was umgehend einen Beschleunigungsreflex auslöst. Die Summe dieser Rollenkonflikte beeinflusst das »Verkehrsklima«, dessen Spannweite von entspannt bis gereizt reicht. Die Stadt Zürich hat dazu eine Studie veranlasst. 65 Prozent der Befragten bezeichnen die Stimmung auf Zürichs Straßen immer oder oft als schlecht.9 Die Sache ist nicht banal. Auf dem Spiel steht insbesondere der Mischverkehr verschiedener Verkehrsmittel auf der gleichen, knappen Fläche. Diese einst gelobte Verkehrsphilosophie der friedlichen Koexistenz sei sogar bei den Linken in Ungnade gefallen, heißt es in Zürich.10 Nur: Realistisch gesehen ist eine vollständige Entflechtung aller Verkehrsmittel eine Illusion, es gibt schlicht zu wenig Raum. Wir sind zur friedlichen Koexistenz verdammt. Und sie ist möglich. Die gute Nachricht: Auch unbewusste Muster lassen sich verändern. Die schlechte: Das braucht Einsicht und viel Zeit. Der Weg dazu führt über unser Bewusstsein und zwei Erkenntnisse. Die erste Erkenntnis betrifft unseren Status als Hybrid. Wenn wir uns der verschiedenen Rollen bewusstwerden, sollte es möglich sein, sich mindestens partiell vom Rollendiktat zu befreien. In den 1980er-Jahren war »Transaktionsanalyse« groß in Mode. »Ich bin ok – du bist ok« war die Devise. Der Schlüssel dazu: sich in eine andere Person hineinversetzen. Was nirgends so einfach sein müsste wie im Mobilitätsgeschehen. Weil wir praktische Erfahrung in allen Rollen haben. Die zweite Erkenntnis betrifft die Rücksicht, ohne die ein erträgliches Verkehrsklima nicht zu haben 8 9 10

Der Bund, 12.10.2020, S. 28. NZZ, 07.11.2019, S. 21. NZZ, 14.09.2018, S. 19.

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ist. Rücksicht im Mobilitätsgeschehen ist eine Bringschuld des Stärkeren. Der Autofahrer gegenüber der Velofahrerin, die Benutzerin eines schnellen E-Bikes gegenüber dem Normalfahrrad, der Velofahrer gegenüber der Fußgängerin. Besonders exponierte Mischflächen sind gut trassierte Wanderwege, mit einem generellen Fahrverbot versehen und trotzdem von vielen Fahrradfahrerinnen und -fahrern belegt. Kürzlich haben sich die für einen solchen Weg verantwortlichen Behörden der Macht des Faktischen gebeugt. Das Fahrverbot für Fahrräder wurde aufgehoben. Nun hängen dort Tafeln »Fahrradfahrer nehmen Rücksicht auf Fussgänger.« Darunter einige Verhaltensregeln, mit einfachen Piktogrammen erläutert. Die Geschwindigkeit ist auf 10 km/h beschränkt. Es funktioniert, jedenfalls besser als vorher. »Wir sehen die klügsten, verständigsten Menschen im gemeinen Leben Schritte tun, wozu wir den Kopf schütteln müssen.« Dieser erste Satz im 1788 erschienenen Buch »Über den Umgang mit Menschen« von Freiherr von Knigge hat zeitlose Gültigkeit. Vielleicht bräuchte es wieder einen Knigge über die friedliche Koexistenz im Verkehr. Jedenfalls ist nicht alle Hoffnung verloren, denn was uns als Menschen einzigartig macht, »ist die Fähigkeit, im Laufe eines Lebens neue Verhaltensweisen zu lernen.«11 Von der Ideologie zur Pragmatik Der Kampf um knappen Raum in den Städten polarisiert. Die Fronten sind klar: auf der einen Seite die bürgerlichen Parteien mit den ihnen nahestehenden Automobilverbänden und dem lokalen Gewerbe, auf der anderen eine starke Fahrradlobby und die Parteien im linken Spektrum. Die Positionen sind oft unversöhnlich: »Velo und Wahn – die einen fordern drakonische Strafen für ›Velorowdys‹, die anderen erheben das Fahrradfahren zu einer Staatsreligion.«12 Im ideologischen Grabenkampf wird hemmungslos polemisiert. »Die Velolüge« – unter diesem Titel behauptet einer der bekanntesten Ökonomen der Schweiz: »Der Veloverkehr ist eine für die Allgemeinheit extrem belastende Verkehrsart – weit schlimmer als der Autoverkehr.«13 Er bezieht sich auf einen Bericht des schweizerischen Bundesamtes für Raumentwicklung über die externen Effekte des Verkehrs. Dort werden für den Fuß- und Fahrradver-

11 12 13

Das Magazin 17, 2020, S. 5. NZZ, 03.07.2017 Reiner Eichenberger, in: Sonntagszeitung, 14.01.2018, S. 22.

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kehr externe Kosten von 14,2 Rappen14 pro Personenkilometer ausgewiesen (für das Auto sind es bloß 7,8 Rappen). Dabei handelt es sich ausschließlich um Unfallkosten, denen allerdings im selben Bericht ein doppelt so hoher externer Nutzen gegenübergestellt wird. Die holländischen und dänischen Erfahrungen zeigen jedenfalls: je besser die Fahrradinfrastruktur und je mehr sie genutzt wird, desto mehr sinken die Unfallkosten. Auf der anderen Seite des Grabens ist das »Lizenz-Syndrom« verbreitet. Wer aufs Velo steigt, ist ungeschützt und nimmt ein Risiko in Kauf. Man tut es aus verschiedenen Gründen, aber immer im Bewusstsein, sich umweltgerecht zu verhalten. Das verleiht nicht selten eine vermeintliche Legitimation, um Rotlichter zu überfahren, auf Gehsteigen und über Fußgängerstreifen zu fahren und in dunkelster Nacht ohne Licht. Für zu Fuß Gehende sind Radfahrer oft ein Ärgernis. Diese Positionskämpfe sind eine natürliche Folge des Kampfes um knappen Raum. In der Transformation zur Stadt der kurzen Wege gibt es keine Win-Win-Situation, es wird Gewinner und Verlierer geben. Wenn die Verkehrswende gelingt Das Corona-Virus hat dem Fahrrad einen unerwarteten Schub verliehen. Monatelang war der Fahrradhandel durch Lieferengpässe bei Verkauf und Wartung geprägt. Man spricht von einer Fahrrad-Revolution in Europa. Überall wurden kurzfristig Verkehrsflächen zu Radwegen umgewidmet. Oft provisorisch, oft mit der Idee, das Provisorium in eine definitive Lösung überzuführen. In Spanien und Italien, Ländern, in denen bislang nur die Armen im Alltag Fahrrad fuhren, wurde das Fahrrad quasi über Nacht chic. »Auch die Piazza Venezia ist kaum wiederzuerkennen. Glich sie früher für Velofahrer einem der von Dante beschriebenen Höllenkreise, fügt man sich heute problemlos in den Kreiselverkehr ein, ohne darin gefangen zu bleiben.«15 So schnell kann es gehen, man muss nur wollen. Selbst der Chef von Volkswagen hat erkannt, dass das Auto in urbanen Räumen künftig nur dann akzeptiert wird, »wenn das Rad genug Raum im Mobilitätsmix hat«.16 Das Fahrrad ist in städtischen Verhältnissen ein ausgesprochen wesensgerechtes Verkehrsmittel. Die Beispiele von Holland und Dänemark zeigen, was man mit einer gezielten Förderung erreichen kann. Aber auch, wie viel Zeit es 14 15 16

100 Rappen = 1 Franken NZZ, 18.07.2020, S. 43. Sonntagszeitung, 16.10.2021, S. 39

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braucht, um eine fahrradgerechte Infrastruktur zu errichten. Ein erklärtes Ziel sollte man von Holland und Dänemark übernehmen: keine schweren Unfälle mit dem Fahrrad. Doch vor einer Illusion sollte man sich hüten: man wird nie alle Konfliktzonen vermeiden können. Deshalb ist die Kultur so wichtig. Eine Kultur der gegenseitigen Rücksichtnahme mit einer Priorität für die Schwächeren vor den Stärkeren. Wenn die Verkehrswende gelingt, hat sich die Matrix der Verkehrsbeziehungen im Jahr 2050 markant verändert. Die interkontinentalen Verkehrsströme haben an Gewicht verloren. Die Verkehrsspitzen sind weniger ausgeprägt, die Verkehrsinfrastrukturen gleichmäßiger ausgelastet. In den Städten haben sich Cluster von Bewegungen in den Quartieren gebildet, die Bewegungen sind dichter geworden, die Wege kürzer und zum überwiegenden Teil mit dem Fahrrad und zu Fuß zurückgelegt. Mobilitätsentscheidungen werden unter Berücksichtigung des ökologischen Fußabdrucks getroffen. Und es hat sich eine Verkehrskultur entwickelt, die von Gelassenheit und gegenseitigem Respekt geprägt ist.

Vita Benedikt Weibel (*1946), Dr. rer. pol., Studium und Assistenz an der Universität Bern. Diplomierter Bergführer. 1978 Eintritt in die SBB (Schweizerische Bundesbahnen AG). 1993 – 2006 SBB-Chef. 2007 – 2016 Honorarprofessor für »Praktisches Management« an der Uni Bern. Präsident und Mitglied verschiedener Verwaltungsräte. Seit 2008 Präsident des Aufsichtsrats der privaten WESTbahn in Österreich. Aktuelle Publikationen: »Warum wir arbeiten: Sinn, Wert und Transformation der Arbeit« (2020) und »Wir Mobilitätsmenschen – Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr« (2021).

© Michael Stahl

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Fahrräder in China. Der Inbegriff eines modernen Lebens zwischen Mobilität und Technologie Tobias Loitsch Einleitung Mit Puyi, dem letzten Kaiser von China, begann eine Entwicklung in China, welche die Grundlagen legte, die heute zu einer modernen Mobilität beitragen. Es gab Zeiten, da waren Fahrräder in China so begehrt, dass Wartelisten zum Kauf eingeführt wurden. Ein Fahrrad war der Inbegriff eines modernen Lebens, das zu den wichtigsten Besitztümern gehörte. Heute sind Fahrräder zu digitalen Gefährten geworden, die mit einem nicht unerheblichen Anteil an der dynamisch wachsenden digitalen Wirtschaft und im Speziellen der Share Economy in China beitragen. Eine dreijährige Fahrradreise im Jahr 1891 führte die amerikanischen Weltenbummler Thomas Allen und William Sachtleben nach China. Nie zuvor waren hier Fahrräder mit luftgefüllten Gummireifen gesehen worden und wurden entsprechend bestaunt, wie in ihrem Buch »Across Asia on a Bicycle« nachzulesen ist. Kurz nach dem Besuch der ausländischen Abenteurer war Puyi, der letzte Kaiser von China, einer der ersten Radfahrer im Reich der Mitte. Bereits mit 2 Jahren wurde er 1908 zum Kaiser ernannt und bekam von seinem schottischen Lehrer ein Fahrrad geschenkt. Er entwickelte so eine Begeisterung für das Radfahren, dass er sogar die Türschwellen in seiner Residenz in der Verbotenen Stadt in Peking entfernen ließ, um überall einfach Rad fahren zu können. Der Ausdruck »Sanzhuan Yixiang« oder »drei Runden und ein Geräusch« wurde schnell zu einer beliebten Abkürzung für das gute Leben – die »drei Runden« sind die Räder eines Fahrrads, das Ziffernblatt einer Uhr und die Spindel einer Nähmaschine und der »Ton« eines Transistorradios. Von den vier Gegenständen war das Fahrrad mit Abstand das wertvollste.1 Wartelisten für die berühmteste Fahrradmarke des Landes, die Flying Pigeon (Fliegende Taube), erstreckten sich über mehrere Jahre und veranlasste Maos Nachfol1

Loitsch Tobias: China im Blickpunkt des 21. Jahrhunderts: Impulsgeber für Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Springer Gabler, 2021

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ger Deng Xiaoping zu der Bemerkung, dass seine Vision für ein wohlhabendes China eine »Taube in jedem Haushalt« sei. Chinesen schätzten Fahrräder zudem, weil der öffentliche Nahverkehr so schlecht und es unmöglich war, ein Auto zu besitzen. Viele Städte hatten breite Radwege, ausreichend Parkplätze auf den Gehwegen und Fahrräder hatten Vorfahrt. Die Gründung der Volksrepublik China 1949 war ein Wendepunkt für die Fahrradindustrie. Die Partei beschloss, das Fahrrad als Volksfahrzeug zu fördern und startete eine Initiative zur Produktion. Fahrräder wurden nun in der Stadtplanung berücksichtigt, und diejenigen, die das Fahrrad für den täglichen Weg zur Arbeit nutzten, erhielten zusätzliche Vorteile. In den Jahren nach 1970 beherrschten fünf einheimische Marken das Land zu 70 Prozent: Phoenix, Yongjiu, Fliegende Taube, Goldlöwe und Fünf Widder. Als im Herbst 1981 der Bauer Yang Xiaoyun aus der Provinz Hubei 10.000 Kilogramm mehr Getreide als die vorgeschriebene Quote an den Staat verkaufte, antwortete er auf die Frage, was er sich denn nun als Belohnung am meisten wünsche: »Ich möchte ein Fahrrad der Marke Yongjiu.«2 Diese Entwicklung wurde von Parteiführer Deng Xiaoping ab 1978 fortgeführt. Mit seiner Öffnungspolitik brachte er das Land weiter in Schwung, der sich stark positiv auf die Wirtschaft und die Verbrauchernachfrage auswirkte. Mobilität, Komfort und Prestige Der Blick in die Geschichte zeigt: Fahrräder boten ihren Besitzern bereits in der Vergangenheit Mobilität, Komfort und Prestige. Drahtesel, die über die Straßen schwärmten, waren nicht nur ein günstiges Transportmittel, sie waren zudem ein Symbol des gemeinsamen Strebens nach Wohlstand: China – das Land mit den meisten Radfahrern auf der Welt. Ungefähr 500 Millionen Fahrräder sind heute in China unterwegs. Etwa ein Fahrrad pro Haushalt und somit mehr als in jedem anderen Land der Erde. Mit dem einsetzenden Wirtschaftswachstum verlagerte sich das Interesse der Menschen jedoch vermehrt auf die neuen Autos, die mit steigendem Einkommen für immer mehr Chinesen bezahlbar wurden. Das Fahrrad wurde etwas verdrängt und verlor seine so wichtige Bedeutung. Während der Herrschaft des Vorsitzenden Mao Zedong war das Fahrrad ein stolzes Symbol des Proletariats, und später, inmitten der Wirtschaftsrefor2 http://www.chinatoday.com.cn/ctgerman/zt/text/2009-07/27/content_20 9311.htm (Abruf: 06.08.2022)

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men des obersten Führers Deng Xiaoping, war es ein Zeichen des finanziellen Fortschritts.3 Fahrräder gehören heute zu modernen Verkehrsmitteln und das Straßenbild verändert sich. In den großen Metropolen wie Peking, Shanghai oder Hangzhou, die unter langen Staus und Smog leiden, werden Fahrräder mittlerweile wieder als Alternative neben Autos und Mopeds wahrgenommen. So hat sich die Infrastruktur für Fahrräder stark verbessert. In Peking, zum Beispiel, wurde ein spezieller Fahrrad-Highway eröffnet. Der nur für Fahrräder zugängliche Weg soll die Überlastung des Öffentlichen Nahverkehrs durch Zehntausende von täglichen Pendlern verringern. Wie die China Daily berichtete, wurde der Radweg in den ersten drei Tagen nach der Eröffnung über 40.000 Mal benutzt.4 Fahrräder sind zu digitalen Geräten geworden Doch diese neuen Fahrräder sind nicht mehr nur reine Transportgefährte. Fahrräder sind zu digitalen Geräten geworden, die einen nicht unerheblichen Anteil an der dynamisch wachsenden digitalen Wirtschaft und im Speziellen der Share Economy in China beitragen. Es ist nicht unbedingt nötig etwas zu besitzen, um es nutzen zu können, wenn man es braucht. Die Maxime der Sharing Economy, dass Dienstleistungen, Ressourcen oder Produkte geteilt oder verliehen werden können, ist das Geschäftsmodell von Sharing-Dienstleistern. Die Entwicklung und das starke Wachstum im Bereich Bike Sharing, wurde besonders durch digitale Innovationen und günstig herzustellende Technologie angetrieben. Dazu kommt die flächendeckende Verbreitung von Smartphone-Anwendungen, mit denen es einfach ist, die Fahrräder zu nutzen. Die Registrierung und Abrechnung erfolgt via QR Code-Scan in Verbindung mit einer Mobile-Payment-App. Die vier großartigen Erfindungen des neuen Chinas So hat die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua das Teilen von Fahrrädern als eine von »vier großartigen Erfindungen des neuen Chinas« bezeichnet (die anderen drei sind: mobiles Bezahlen, E-Commerce und Hoch-

3 http://www.chinatoday.com.cn/ctgerman/zt/text/2009-07/27/content_20 9311.htm (Abruf: 06.08.2022) 4 China Daily. Beijing’s first bicycle-only road to complete by 2019

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geschwindigkeitszüge) und Präsident Xi Jinping lobte die Expansion der Sharing Economy.5 Es mag für die westliche Welt ungewöhnlich erscheinen, wenn Leihräder bzw. die Sharing Economy als wirtschaftsprägend bezeichnet werden und mit Erfindungen der Vergangenheit wie Papier, Schießpulver und Kompass gleichgesetzt werden. Das verdeutlicht jedoch die Bedeutung, die von staatlicher Seite in China der Sharing Economy beigemessen wird. Die Idee, Dinge zu teilen, ist natürlich nicht neu, schon altertümliche Stammesverbände nutzten Ressourcen gemeinsam und in modernen Industriegesellschaften gab es jeher Möglichkeiten, Güter zu pachten, zu mieten, zu leihen oder unentgeltlich anderen zu überlassen. Aber China ist das erste Land, das diese wirtschaftliche Entwicklung als nationale Priorität einstuft. Offenheit gegenüber neuen Technologien Ermöglicht und begünstigt wurde diese Entwicklung fundamental durch Technologie-Komponenten, die verhältnismäßig kostengünstig produziert werden konnten. Dazu kommt weiter, dass die chinesische Bevölkerung sehr technikaffin ist. So zeigen Chinesen eine große Offenheit gegenüber neuen Technologien und nutzen diese in ihrem Alltag. Es wird ermöglicht auf Dinge zuzugreifen und Leistungen zu nutzen, die bisher für bestimmte Bevölkerungsgruppen finanziell nicht erreichbar waren. Eine stärkere wirtschaftliche Teilhabe wurde hierbei mit den Möglichkeiten und Anwendungen der Share Economy geschaffen. Dem gegenseitigen Verleihen von Gütern, die selbst im Moment nicht genutzt werden. In China hat sich die Share Economy überwiegend zur kurzfristigen Vermietung von Produkten oder Dienstleistungen entwickelt. »Die Idee einer Sharing Economy ist einer kommunistischen Gesellschaft sehr ähnlich«, sagte Robin Li, Gründer der Suchmaschine Baidu, weil beide Systeme auf Verteilung nach Bedarf aufgebaut sind.6 So entsteht eine neue Art Kameradschaft, die chinesische Verbraucher so begeistert, dass es den Anschein hat, als sei die Idee des Teilens selbst eine chinesische Erfindung. Es gibt ein Gefühl von Zusammenhalt, das dadurch entsteht, dass man die Mittel hat, etwas zu besitzen, und sich dafür entscheidet, es trotzdem zu teilen. Dieses 5 6

China Today. Von Gaotie bis AliPay: Die »Vier große Erfindungen« des modernen China. 2018. New York Times Magazine, China’s Revealing Spin on the »Sharing Economy«

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Gefühl und die große Anzahl auf dem chinesischen Markt, bietet Unternehmen enorme Möglichkeiten neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Durch Technologie ergeben sich neue Ansatzpunkte einer Zusammenarbeit. Plattformen, auf denen Informationen geteilt werden können, ermöglichen neue Geschäftsmodelle. Für eine Zusammenarbeit mit China bietet die Share Economy viel Potenzial. Teilen gehört hier zum Alltag und das Teilen wurde mit Technologie alltagstauglich gemacht. Seitdem sind insbesondere zahlreiche urbane Bike-Sharing-Programme entstanden, die es den Nutzern ermöglichen, das Fahrrad mit einer Smartcard oder einer Münzwährung zu entsperren. Diese zweite Ära der »freischwebenden« oder docklosen Mikromobilität hat mit dem Aufkommen von Smartphones und GPS-Sensoren ihre Blütezeit erlebt. Die Innovation wurde zu einem Riesenphänomen in China, wo Unternehmen wie Ofo und Mobike Millionen von Fahrrädern einsetzten, die schließlich die Bürgersteige verunreinigten und damit viel Kritik von Anwohnern und Behörden hervorriefen. Als 2019 eine Welle chinesischer Bike Sharing-Unternehmen pleitegegangen war, vermuteten einige Beobachter, dass die Nachfrage einfach ihren Höhepunkt erreicht habe. Der aktuelle Aufwärtstrend beim Bike-Sharing deutet jedoch darauf hin, dass das Problem eher bei den Geschäftsmodellen als bei der Verbrauchernachfrage an sich liegt. Wenn Unternehmen reife, fortschrittlichere Technologien einführen und einen besseren Service anbieten, werden die Menschen auf längere Sicht eher Fahrrad-Sharing nutzen. Dies könnte sich zudem auf die Sharing Economy insgesamt auswirken, wenn Unternehmen Künstliche Intelligenz und Big Data nutzen, um ihre Produkte und Dienstleistungen an die schwankende Nachfrage anzupassen. Dieser Ansatz erleichtert es den Menschen auch, während der Hauptverkehrszeit verfügbare Fahrräder zu finden. Seit Beginn der Corona-Pandemie nutzen chinesische Pendler für längere Fahrten zunehmend Shared-Bikes. Anfang dieses Jahres war die Zahl der Fahrten mit einer Länge von mehr als 3 Kilometern doppelt so hoch wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres, wie Daten von Bike-Sharing-Unternehmen zeigen. Dies war eine Abkehr von der herkömmlichen Nutzung, bei der die Menschen typischerweise kurze Strecken – wie die sogenannte »erste Meile« von der Haustür bis zur nächsten U-Bahn- oder Bushaltestelle – auf geteilte Fahrräder umstiegen. Da die Menschen es vorzogen, im Freien zu fahren und das Infektionsrisiko zu vermeiden, gingen sie über diese erste Meile hinaus und legten die gesamte Reise mit dem Fahrrad zurück.

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Bildungs- oder Beschäftigungsmöglichkeiten erkunden Eine Folge davon ist die zunehmende Nutzung von Elektrofahrrädern und -rollern, die lange Fahrten bequemer machen. Da sie teurer als herkömmliche Fahrräder sind, werden E-Bikes und E-Scooter eher geteilt, insbesondere von jungen und mobilen Menschen, die möglicherweise nur begrenzte Zeit in einer bestimmten Stadt bleiben, bevor sie anderswo Bildungs- oder Beschäftigungsmöglichkeiten erkunden. Sharing-Plattformen bieten Menschen für nur 200 Yuan (weniger als 30 US-Dollar) im Monat unbegrenzten Zugang zu ihnen. Dagegen würde ein neuer E-Scooter mehrere tausend Yuan kosten. Zuvor waren Elektrofahrräder und -roller in China ein etwas übersehener Trend, teilweise weil er in Städten mit wenigen öffentlichen Verkehrsmitteln begann. In diesen Städten übertraf jedoch bereits vor Corona ihre Nutzung die von herkömmlichen Fahrräder bei weitem. Nach Angaben von Hellobike, einem Bike-Sharing-Unternehmen, werden in China ca. 300 Millionen Fahrten pro Tag mit herkömmlichen Fahrrädern absolviert. Mehr als doppelt so viele Fahrten werden jedoch mit Elektrofahrrädern und Elektrorollern unternommen: ca. 700 Millionen Fahrten am Tag. In der Stadt Nanning, in der Provinz Guangxi, überstiegen im Jahr 2021 die Fahrten mit Elektrofahrzeugen 34 Prozent aller Transportmittel und übertrafen damit die öffentlichen Verkehrsmittel und Privatautos. Pandemiebedingte Änderungen des Lebensstils haben diesen Trend in die Großstädte getragen – und Sharing-Plattformen haben dies zur Kenntnis genommen. Meituan, ein chinesischer Mischkonzern, dem das Bike-Sharing-Unternehmen Mobike gehört, gab im Mai 2020 bekannt, dass es im zweiten Quartal mehrere Hunderttausend E-Bikes auf die Straße bringen wird. Es sagte, es sei bereit, bei Bedarf weitere hinzuzufügen. Auch der Anbieter Didi’s Qingju Bicycle hat den Ausbau seines E-Bike-Sharing-Geschäfts zu einer Priorität gemacht. Standards für Elektrofahrzeuge Städte wandeln sich, um Elektrofahrzeuge willkommen zu heißen. Für die Politik bedeutet das, entsprechende Regelungen zu erarbeiten, um die nötige Infrastruktur zu schaffen. China hat 2019 nationale Standards für Elektrofahrzeuge veröffentlicht, die Anforderungen für zentrales Laden und Austauschen enthalten. Bike-Sharing-Unternehmen haben sich mit Batterieherstellern zusammengetan, um diese technologischen Herausforderungen zu meistern, um mehr als 1 Million Elektroroller in ganz China einzusetzen. An seinen Kios-

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ken tauschen E-Bike-Nutzer ihre leeren oder defekten Akkus gegen neue aus, ohne Stecker einstecken und warten zu müssen. Aufgrund der Pandemie dringen geteilt genutzte Fahrzeuge in den Mainstream vor und überholen langsam den öffentlichen Verkehr und das private Auto als bevorzugtes Fortbewegungsmittel. Dies könnte die Wahrnehmung der Menschen in Bezug auf den Verkehr langfristig verändern und sie offener für neue Ideen der Mobilität machen. Pendler, die das Radfahren anfangs als Mittel zur Vermeidung von Infektionen ausprobiert haben, stellen möglicherweise fest, dass es angenehmer und bequemer ist, als sie dachten. Auch Sharing-Unternehmen bieten eine breitere Palette als bisher an Angeboten wie herkömmliche Fahrräder, E-Bikes, E-Scooter und Fahrgemeinschaften an und geben den Menschen damit weitere Anreize, an der neuen Art des Pendelns festzuhalten. Allmählich wird Mobilität als Dienstleistung verstanden. Die Menschen müssen Autos, Roller und Fahrräder nicht mehr kaufen, sondern jemand anderen dafür bezahlen, diese bereitzustellen, zu pflegen und bei Bedarf zu nutzen. Dieses auch als MaaS (»Mobility-as-a-Service«) bekannte Konzept gewinnt in China langsam an Bedeutung. Technologie ist der Schlüssel zum Erfolg Die praktischsten und bequemsten Sharing-Dienste basieren auf Technologie, die Nutzerdaten analysieren und Funktionen mit künstlicher Intelligenz verknüpfen, um eine optimale Planung steuern zu können. Die Menschen werden nur dann weiter teilen, wenn es einfach und mit ihrem vollen Terminkalender vereinbar und wirtschaftlich vorteilhaft ist: Radfahren in die Zukunft! Die Corona-Krise hat Branchen, Geschäftsmodelle und Privatleben auf der ganzen Welt verändert. Auf lange Sicht könnten einige Entscheidungen und Gewohnheiten wieder so sein, wie sie vor der Corona-Pandemie waren. Die aktuelle Situation ist aber auch eine Chance, bisherige Lebensstile zu überdenken. Viele Menschen haben in diesem Jahr, nicht nur in China, zum ersten Mal dem Radfahren über längere Strecken eine Chance gegeben, als Reaktion, um sich vor dem Virus zu schützen. Die Herausforderung besteht darin, ihnen einen erschwinglichen, bequemen und zuverlässigen Service anzubieten, der durch modernste Technologie unterstützt wird, und ihnen dabei zu helfen, ihre Fahrradgewohnheiten für eine sauberere und gesündere Zukunft beizubehalten. Mit der Verbesserung des Lebensstandards der Menschen verschiebt sich der Fokus der Fahrradindustrie von traditionellen Transportbedürfnissen hin zu Sport und Freizeit. Gegenwärtig entwickelt sich Chinas Fahrradmarkt

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ebenso in Richtung Mittel- und High End-Trend, insbesondere in Bezug auf Material-Upgrades von traditionellem Stahl zu Leichtmetallen, Kohlefaser und anderen High End-Materialien. Mit der Steigerung des Konsumniveaus und der Popularität von Sport-, Gesundheits- und Umweltschutzkonzepten, gepaart mit der aktiven Förderung von Fahrradaktivitäten durch lokale Fahrradverbände, wird sich der chinesische Mid- bis High End-Fahrradmarkt in Zukunft stärker entwickeln. Beschränkungen für Geschwindigkeit und Gewicht Im vergangenen Jahr führte die chinesische Regierung neue nationale Standards für Elektrofahrräder ein, die Beschränkungen für Geschwindigkeit und Gewicht der Fahrräder sowie für die Batteriespannung beinhalten. Zusätzliche technische Anforderungen umfassen manipulationssichere und feuerfeste Ladeschutzsysteme. Diese Sicherheitsvorschriften werden die Herstellungsund Betriebskosten der E-Bike-Unternehmen erhöhen. Kleinere Städte scheinen jedoch lockerere Vorschriften zu haben, was dazu geführt hat, dass die meisten aufstrebenden E-Bike-Unternehmen diese Städte wählen, um ihre E-Bike-Geschäfte dort zu starten. So vertreibt Hellobike beispielsweise seine E-Bikes in Provinzen wie Henan, Jiangsu, Yunnan und Hubei. Auch Didi Qingju verfolgt die gleiche Strategie, da es, wie berichtet, ebenso plant, den Betrieb in diesen Städten aufzunehmen. China ist derzeit der weltweit größte Exporteur von E-Bikes, was E-BikeDienstleistern eine konsolidierte Lieferkette bietet. Unternehmen müssen sich an die neuen nationalen Standards der Regierung anpassen und gleichzeitig Innovation und Entwicklung im Rennen um neue Benutzer fördern. Mit dieser Perspektive gewinnt der Trend zur Share Economy eine neue Lesart. Es müssen demnach nicht allein Fragen der wirtschaftlichen Bewertung und rechtlichen Einstufung einer Ökonomie des Teilens geklärt werden, sondern es ist gesellschaftlich zu diskutieren, welches Potenzial diese Form des alternativen Wirtschaftens besitzt. Traditionelle Verbrennungsmotoren werden durch elektrische Antriebe ersetzt Die Welt der Mobilität befindet sich in einem gewaltigen Umbruch. Traditionelle Verbrennungsmotoren werden nach und nach durch neue elektrische Antriebskonzepte ersetzt. Der Besitz von Fahrzeugen verliert an Bedeutung

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und geteilte Mobilitätsdienste nehmen zu. »Mikromobilität« prägt die Zukunft des Stadtverkehrs. Innovative Mikromobilitätsdienste haben die urbane Landschaft unzähliger Metropolen auf der ganzen Welt grundlegend verändert und tragen zur Zukunft der Personenmobilität bei. Die Idee hinter der Mikromobilität ist die Entflechtung des Autos. Anstatt für jede Fahrt das eigene Auto zu nutzen, wählt der Nutzer stattdessen ein Fahrzeug nach seinem spezifischen Bedarf aus. Mikromobilität als elektrisch betriebenes Fortbewegungsmittel Heute kann Mikromobilität als elektrisch betriebenes Fortbewegungsmittel definiert werden. Doch warum hat die Mikromobilität in der modernen Mobilitätslandschaft rasant an Bedeutung gewonnen, statt eine Randnotiz zu bleiben? Während der öffentliche Verkehr nach wie vor das effizienteste Mittel ist, um eine große Anzahl von Menschen zu befördern, liegt das Potenzial der Mikromobilität darin, Menschen an das bestehende Verkehrsnetz anzubinden, und so das gemeinsame Problem der ersten und letzten Meile zu lösen. Darüber hinaus ist dieses Geschäftsmodell eine umweltfreundliche Alternative für den Nahverkehr. Mobilität als Motor der Innovation Wir können ohne individuelle Mobilität nicht mehr existieren. Doch angesichts überfüllter Städte und einem fortschreitenden Klimawandel ist die Umsetzung eines nachhaltigen Mobilitätskonzeptes von großer Bedeutung. Mobilität wird dadurch zum Motor für Innovation und Technik. Für eine umweltschonende, smarte und tragfähige Mobilität der Zukunft, wo das Fahrrad weiter eine entscheidende Rolle spielen wird. Literatur: Larmer, Brook: China’s Revealing Spin on the »Sharing Economy«. In: The New York Times Magazine, 2017 (abgerufen am 19.05.2022) Loitsch, Tobias: China im Blickpunkt des 21. Jahrhunderts: Impulsgeber für Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Springer Gabler. 2021 Roulin, Zheng: Von Gaotie bis AliPay: Die »Vier große Erfindungen« des modernen China. In: China Today. http://www.chinatoday.com.cn/german/2018/rdwz/201802/ t20180202_800116157.html (abgerufen am 19.05.2022)

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Xinhua: Beijing’s first bicycle-only road to complete by 2019. In: China Daily. http:// www.chinadaily.com.cn/a/201805/25/WS5b07e05aa31001b82571c5dd.html (abgerufen am 19.05.2022)

Vita Tobias Loitsch ist Autor, Publizist, Projektmanager und Lehrbeauftragter. Durch seine fast 20-jährige China-Erfahrung hat er einen umfassenden Einblick in das Land und seine Entwicklungen bekommen. Mit seiner Tätigkeit möchte er zu einem besseren China-Verständnis beitragen. Dabei sieht er sich als Impulsgeber für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft und ist dabei für Unter© privat nehmen, Regierungseinrichtungen, NonProfit-Organisationen und Bildungsinstitutionen tätig. Tobias Loitsch ist Herausgeber des Magazins China im Blickpunkt sowie weiterer Bücher und Veröffentlichungen.

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Bewegte Zeiten: Von den Anfängen des Individualverkehrs zur fahrradgerechten Stadt Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Das Fahrrad war die technische Grundlage der Massenmobilität. Dieses Fortbewegungsmittel ist heute aus dem Verkehr nicht mehr wegzudenken und hat so viele Anhänger wie nie. Es durchlief viele Entwicklungsschritte, auf die hier und in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches näher eingegangen wird: Draisine (1817) – Pedalantrieb (um 1862) – Hochrad (um 1870) – Niederfahrrad (1885) – Luftreifen (1888) – Gangschaltung (1898) – Freilauf (1899) – Fahrradrennen (1903) – Bonanzarad (ab 1963) – Mountainbike (um 1980) – E-Bikes, Pedelecs (um 2005). Am 12. Juni 1817 unternahm Karl Drais die erste Ausfahrt mit seiner zweirädrigen Laufmaschine – damals eine revolutionäre Erfindung, die damals wie heute die Mobilität der Menschen verändert hat. Für die sieben Kilometer lange Strecke von der Mannheimer Innenstadt nach Rheinau benötigte er allerdings noch eine halbe Stunde. Damit war er schneller als die Postkutsche. Der Prototyp des Fahrrads (vélocipède) war ein einfaches Laufrad, mit einem unkomfortablen Holzsitz und langem Lenkhebel. Die Arme konnten auf einem Brett abgelegt werden, da der Lenkhebel noch keinen sicheren Halt bot. Die »Draisine« wurde nachgebaut (Patentrechte gab es noch nicht), dann verlor sich das Interesse daran, denn das Gerät war teuer und wurde von der Polizei verboten. Karl Drais, geboren 1785 in Karlsruhe, starb vierunddreißig Jahre später, 1851, verarmt. Fast vergessen ist, dass er auch eine Stenografiermaschine mit Lochstreifen und ein Klavier erfand, das Musik aufzeichnen sollte, oder einen sparsamen Holzofen mit Abgaswärmetauscher. Was ihm nicht gelang, schaffte Pierre Lallement im Jahre 1866: Er gab dem Laufrad einen Tretkurbelantrieb (Pedale) und meldete ein US-Patent an. Die Draisine erhielt den Namen »Kurbelveloziped«. Es ist unklar, ob er oder der Mechaniker Ernest Michaux der Erfinder war, denn in Paris stellte die Firma »Michaux & Cie.« auf der Weltausstellung 1867 ein ähnliches Gebilde vor. Das 30 bis 40 Kilogramm schwere Vélocipéde mit eisenbeschlagenen Holzrädern

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löste einen Boom in Europa aus. Carl Benz schildert in seinen Erinnerungen, dass er 1867 einem Bekannten ein Veloziped abkaufte, das dieser in Stuttgart erworben hatte, aber schnell wieder abgeben wollte, weil seine Versuche damit erfolglos waren. Benz konnte innerhalb von zwei Wochen auf dem »zentnerschweren« Gefährt balancieren und legte damit längere Strecken – zum Beispiel von Mannheim bis Pforzheim – zurück. Im Englischen wurde das unhandliche Ding »bone shaker« (Knochenschüttler) genannt. Dennoch hinterließ es bei Carl Benz einen bleibenden Eindruck, denn es bestärkte die Vision, »pferdelos zu fahren«. Bis es so weit war vergingen allerdings noch einige Jahrzehnte. Nach eigenen Angaben gründete in Stuttgart C. F. Müller die »erste deutsche vélocipède-Fabrik«. In Pinneberg arbeitete Wilhelm Schlüter in seiner Eisengießerei an einem Eigenbau, den er Anfang 1869 auf dem Hamburger Gänsemarkt vorstellte. Im Wiener Prater eröffnete Friedrich Maurer im Frühjahr 1869 ein »vélocipède gymnase« nach Pariser Vorbild. Hier konnten sich Interessierte in einer Halle ins Fahren der Maschinen einweisen lassen. Zwischen 1870 und 1880 eroberte schließlich das Hochrad, das seinen Fahrern akrobatische Fähigkeiten abverlangte, die Straßen. Das vergrößerte Rad (»Bicycle«) sollte ein schnelleres Vorankommen garantieren. In Vergessenheit geriet das Veloziped durch den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Das erste Faltrad konzipierte der Brite William Grout, das er 1878 patentieren ließ. Das Hochrad mit Vollgummireifen, dessen Vorderrad sich in vier radiale Segmente zerlegen ließ, fand mit gefaltetem Rahmen Platz in einem dreieckigen Koffer. 1902 wurde die Gangschaltung in der Hinterradnabe mit Freilauf erfunden und fand ab 1924 Verbreitung, so dass der Anteil der EinGang-Räder seitdem erheblich gesunken ist. Dann schrumpfte das Rad wieder auf die erste Größe und gelangte 1930 zur heutigen Form. Nachdem Anfang der 1890er-Jahre der vom schottischen Tierarzt John Boyd Dunlop erfundene Luftreifen den Markt eroberte, entwickelte sich das Fahrrad zu einer leistungsfähigen und modernen »Maschine«. Das »Safety« (»Niederrad«) war komfortabler und schneller. Auch die Preise dafür sanken kontinuierlich (ein Hochrad kostete den durchschnittlichen Jahreslohn eines Arbeiters). Um 1900 setzte ein Bicycle-Boom ein, der das Straßenbild prägte. Überall bildeten sich Vereine: in Mannheim, Hannover, Aachen, Berlin, Braunschweig, Leipzig, Magdeburg und München; in Hamburg zum Beispiel Quickrun und der Eimsbütteler Velocipeden-Reit-Club. Es wurden vielerorts bürgerlich-elitäre »Bicycle-Clubs« gegründet (angeheizt durch britische Pio-

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niere wie T. H. S. Walker, der in Berlin mehrere Fahrradproduzenten vertrat). Im Jahr 1895 stieg die Zahl der in Vereinen organisierten Radfahrer auf über 25.000. Der Altonaer Bicycle-Club, der noch heute existiert, gilt als ältester Radfahrer-Club der Welt (Gründungsjahr 1869)1. Um dem Interessenverlust an dem Verein entgegenzuwirken (das Fahrrad verlor inzwischen seine Exklusivität), führte der ABC um 1900 das »Radwandern« ein: Rad-Wanderführer und das Engagement für den Radwegebau sollten das Radeln wieder attraktiver machen. In den 1920er-Jahren kamen weitere Radsportarten wie Radpolo und Radball hinzu. In den ABC wurden ab 1925 nur Personen »arischer Abstammung« aufgenommen. Zudem wurde der Verein während des Nationalsozialismus durch die Gestapo dazu aufgefordert, seinen Namen »einzudeutschen« und Mitgliederlisten einzureichen, um diese auf jüdische Mitglieder zu prüfen. Da der Verein seine Gemeinnützigkeit nicht mehr nachweisen konnte, wurde er 2001 aus dem Vereinsregister gelöscht. Seit 2013 existiert er allerdings wieder und engagiert sich heute für die Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung des Fahrrads und des Radsports. »Die Zeit ist mehr als reif für eine Geschichte des Radfahrens aus der Sicht von Frauen. Es ist eine Geschichte für uns alle: für diejenigen von uns, die heute auf dem Rad sitzen und sich fragen, warum das Radfahren nicht so vielfältig ist, wie es sein sollte; für diejenigen, die das noch nicht erkannt haben; und für diejenigen, die nach uns kommen werden und für die ihr Platz auf der Straße, dem Berg oder der Rennstrecke hoffentlich selbstverständlich sein wird.« Hannah Ross2 Gestaltet wurde das Fahrrad allerdings von Anfang an nur nach den Bedürfnissen von Männern. Erst in den 1980er-Jahren gründete die ehemalige Wertpapieranalystin Georgena Terry mit 34 Jahren die erste Firma, die sich auf Design und Bau von Fahrrädern für Frauen spezialisierte: Terry Precision Cycling. Sie war die Erste, die eine Fahrradgeometrie für Frauen konstruierte, einen Sattel mit Anpassung, um Druckstellen zu reduzieren, sowie einen Lenker mit einem kleineren Durchmesser für kleinere Hände. 2012 verkaufte sie ihr Unternehmen, designte aber weiter Sonderanfertigungen. Durchgesetzt hat sich ihre Marke für Frauenräder allerdings nicht – stattdessen brachten große Hersteller wie Giant eine eigene Produktlinie für Frauen auf den Markt. 1 https://www.abendblatt.de/hamburg/article216939479/Deutschlands-erstenFahrradclub-gab-es-in-Eimsbuettel.html 2 Ross 2022, S. 13

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In den Anfängen des Radfahrens gab es noch einen strengen Dresscode für Frauen und Männer: Frauen mussten Röcke tragen, die bis zum Boden reichten. Die städtische Mobilität trug mit dazu bei, »sich von den sehr kasteienden Reifröcken und der Schichtkleidung zu verabschieden« (Katja Diehl). Die US-amerikanische Frauenrechtlerin Amelia Jenks Bloomer (1818–1894) entwickelte schließlich das nach ihr benannte Kostüm, das ohne Korsett auskam und den Rock auf Kniehöhe einkürzte. Damit die Knöchel bedeckt blieben, trug sie darunter eine Hose. Durch weniger Stoffverbrauch war dieses Kleidungsstück bequemer, bewegungsfreier und billiger. Männer warfen mit Steinen nach Frauen, die diese Kleidung trugen, beschimpften und diffamierten sie. Ende des 19. Jahrhunderts waren Frauenwahlrecht, Bildung und ein eigenständiges Leben noch in weiter Ferne. Amalie Rother, Vorsitzende des Berliner Damen Radfahr-Clubs, sagte 1897: »Das erste, was unbedingt in die Rumpelkammer muß, ist das Korsett (…). Bei mir persönlich macht es sogar einen ganz bedeutenden Unterschied in der Leistungsfähigkeit, ob ich ganz ungezwungen oder mit wenn auch noch so losem Büstenhalter fahre.« Der Publizist Leon Sachs veröffentlichte am 7. Januar 1898 in der Zeitschrift »Sport im Bild« einen Aufsatz mit dem Titel »Der Einfluss des Fahrrades auf die Emanzipation der Frau«: »Die endliche Verbreitung des Fahrrades unter den Frauen aller gesellschaftlichen Schichten hat die Entwicklung des Selbstständigkeitssinnes bedeutend gefördert, weil die Benutzung dieses neuesten Beförderungsmittels für die Frau mit einem Kampf gegen alte Vorurteile verbunden ist und außerdem auch bei einem jeden ein Gefühl der Unabhängigkeit und Überlegenheit den anderen Beförderungsmitteln gegenüber wachruft.« Auch Schauspielerinnen wie Sarah Bernhardt oder Kurtisanen wie Blanche d’Antigny ließen sich mit Zweirädern abbilden. In ihrem Buch »Frauenwahlrecht« erinnert Ana Kugli auch an Anita Augspurg (1857–1943), die ihre individuelle Daseinsart selbst bestimmen wollte: Nach ersten Versuchen als Schauspielerin führte sie mit ihrer Lebenspartnerin ein erfolgreiches Fotoatelier. Und sie tat vieles, was sich für Frauen ihrer Zeit nicht schickte: Sie trug kurze Haare und Hosen, fuhr Fahrrad und ritt im »Herrensitz« auf Pferden. Die österreichische Frauenrechtlerin Rosa Mayreder resümierte 1905: »Das Bicycle hat zur Emanzipation der Frau aus den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammen.« Für die Suffragetten war das Fahrrad das Mittel für ihre Kampagnen, sie fuhren in den 1910er-Jahren mit Transparenten durch

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die Gegend. Zuvor – in den 1890er-Jahren – erklärte die Frauenzeitschrift Godey`s: »Im Besitz ihres Fahrrads fühlt die Tochter des 19. Jahrhunderts, dass die Erklärung ihrer Unabhängigkeit verkündet worden ist.« Viele der Autobauer:innen begannen übrigens mit dem Fahrrad, ohne das die Technik, auf der das Auto heute basiert, nicht entwickelt worden wäre. Adam Opel baute erst Nähmaschinen und Fahrräder. Carl Opel fuhr, ebenso wie seine vier Brüder, in den 1880er-Jahren mit dem Bicycle Rennen. Erst 1898, drei Jahre nach seinem Tod, startete Sophie Opel mit dem Bau von Autos. Auch Henry Ford hob sein erstes Auto auf vier Fahrradlaufräder und brachte die Kraft des Motors durch die Fahrradkette an die Räder. Die Dodge-Brüder und die Peugeots verdienten zunächst ebenfalls ihr Geld mit dem Fahrradbau, bevor sie Autos bauten. Die Jahre bis 1914 markieren die erste Hochphase des Fahrrads. Die Technik kam bald der Entwicklung von Motorrädern und Automobilen zugute. »Welche Ironie, dass es das Fahrrad selbst war, das seinen größten Konkurrenten hervorbrachte!« (Lars Amenda) Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Fahrrad ein wichtiges Transportmittel für alle Menschen. Vor allem die Trümmerfrauen und Handwerker radelten zu den Baustellen. Auch zum Hamstern von Lebensmitteln auf dem Land wurde das Rad genutzt. In der Nachkriegszeit wurde auch das bekannteste Radrennen der Welt, die Tour de France, so beliebt, dass sich sogar Philosophen wie Roland Barthes dafür zu interessieren begannen. 1948 erschien in Italien das erste Buch, in dem der Dorfpfarrer Don Camillo mit dem Fahrrad über die Landstraßen fuhr. Um 1950 wurden in Westdeutschland mehr als eine Million Fahrräder produziert. Die Siedlungsräume um Bielefeld und Cloppenburg entwickelten sich zu Fahrrad-Industriegebieten. Allerdings hielt der neue Fahrradboom nicht lange an, denn Motorräder und Autos wurden zu erschwinglichen Verkehrsmitteln. Den Tiefpunkt erreichte in Deutschland die Entwicklung in den 1960er- und 1970er-Jahren mit der Ideologie der »autogerechten Mobilität« (die noch immer im Umlauf ist) und der »autogerechten Stadt«, für die überall Fahrbahnschneisen durch die Innenstädte geschlagen wurden. So gab es in den 1970er-Jahren kaum Nachfragen oder Neuerungen – selbst das Bonanzarad blieb (trotz späterem Kultstatus) lediglich eine skurrile Eintagsfliege der Fahrradgeschichte. Der Fitnesskult aus den USA brachte in den 1980er-Jahren das Mountainbike in die Mitte der Gesellschaft, und es begann der Wettlauf um Hochtechnologie. Auch durch ökologische und ökonomische Krisenzeiten rückte das Fahrrad wieder ins gesellschaftliche Bewusstsein. Seit

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den 1990er- und 2000er-Jahren wird der Trend zum technisch anspruchsvolleren Rad und zu einer fahrradfreundlicheren Verkehrsstruktur sichtbar (Fahrradtiefgaragen, Leihsysteme etc.). In Dänemark hingegen ist die Fortbewegung auf zwei Rädern nicht erst ein »Phänomen von Fitnesskult und Ökowelle« (Sebastian Balzter). Bereits 1932 beschrieb Kurt Tucholsky seine Eindrücke von der dänischen Hauptstadt: »Wenn die Kinder anderswo zur Welt kommen, schreien sie – in Kopenhagen klingeln sie auf einer Fahrradklingel.« Anfang der 1960er-Jahre wurde dort die Shoppingmeile zur Fußgängerzone umgewandelt und es folgte ein Radwegenetz durch die Innenstadt. Dahinter stand vor allem der Architekt Jan Gehl, der noch heute als Botschafter des Kopenhagener Modells weltweit unterwegs ist und beklagt, dass der Autowahn unsere Städte kaputt mache. Kopenhagen veröffentlicht periodisch einen »Bicycle Account«, in dem über das Erreichen der Mobilitätsziele berichtet wird: Bis zum Jahr 2025 sollen mindestens die Hälfte aller Wege zur Arbeit und zur Ausbildung mit dem Velo gefahren werden. Bis zur »fahrradgerechten Stadt« ist es aber hierzulande noch weit – dennoch erobert es seit Jahren die Städte zurück. Seit November 2021 gilt eine neue Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung. Sie soll die Bedingungen für den Radverkehr in den Kommunen verbessern. Eine große Bedeutung dabei haben Fahrradstraßen und Fahrradzonen. Das Bundesverkehrsministerium will 600 Millionen Euro in den Ausbau der Radinfrastruktur investieren und hat in sieben Hochschulen Lehrstühle eingerichtet, um den Radverkehr als Universitäts- und Forschungsfach zu verankern. Drei davon sind mit Frauen besetzt. Weiterführende Informationen: Lars Amenda: »Ist’s möglich, Sie radeln nicht?« In: DIE ZEIT (2.10.2019), S. 23. Franz Alt, Ernst Ulrich von Weizsäcker: Der Planet ist geplündert. Was wir jetzt tun müssen. Hirzel Verlag. Stuttgart 2022, S. 17. Sebastian Balzter: Tretet in die Pedale! In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (10. 10.2016), S. 26–27. Katja Diehl: Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2022. Pryor Dodge: Faszination Fahrrad – Geschichte, Technik, Entwicklung. Verlag Delius Klasing, Bielefeld 2003.

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Alexandra Hildebrandt: Eine traurige Wahrheit: Der lange Weg zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2020/12/einetraurige-wahrheit-der-lange-weg.html Jürgen Isendyck: 50 Fahrräder aus 200 Jahren auf 50 Seiten. Verlag radundbuch, Ludwigsburg 2017. Ana Kugli: Frauenwahlrecht. J. S. Klotz Verlagshaus. Neulingen 2020. Hans-Erhard Lessing (Hg.): Ich fahr’ so gerne Rad… Geschichten vom Glück auf zwei Rädern. dtv, München 2002. Hans-Erhard Lessing: Vom Fahrrad zum Auto. In: Kultur & Technik 3/2003, S. 12–17. Michael Link: Handbuch Fahrrad und E-Bike. Hg: Stiftung Warentest, 17.11.2020. Hannah Ross: REVOLUTIONS. Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten. mairisch Verlag, Hamburg 2022. Leon Sachs: Der Einfluss des Fahrrades auf die Emanzipation der Frau. In: Sport im Bild, Berlin-Wien, 7.1.1898. https://www.flaneurin.at/fahrrad-und-emanzipation/ (abgerufen am 01.07.2022) Johannes Schweikle: Die abenteuerliche Fahrt des Herrn von Drais. Eine Romanbiografie. Klöpfer & Meyer. Tübingen 2017. Katharina Slodczyk: Sturheit hilft. In: manager magazin (April 2022), S. 127–129. Olaf Thormann, GRASSI Museum für Angewandte Kunst Leipzig (Hg.): Bikes! Das Fahrrad neu erfinden. Hirmer Verlag, München 2017. Marco Völklein: Es rollt was durchs Land. In: Süddeutsche Zeitung (31.12.2016/1.1.2017), S. 71. Christian Wüst: Geniestreich der Dynamik. In: DER SPIEGEL 46 (2016), S. 116–119.

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Anne Weiss »Ich muss ganz schnell los«, keuche ich außer Atem, nachdem ich mit meinen Siebensachen die Treppen des Altbaus hinuntergestolpert bin. »Petra wartet schon am Hauptbahnhof.« Francesco, der unten im Hof eine Werkstatt für Möbelrestauration betreibt, wirft mir einen Blick vom Format einer italienischen Oper zu, der deutlich zeigt, dass er nichts anderes erwartet hat. In letzter Zeit habe ich einige Termine versäumt, war immer auf den letzten Drücker unterwegs. Unterdessen fummele ich an meinem Korb herum, um die beiden vollbepackten Fahrradtaschen zu befestigen. Vermutlich sieht es aus, als würde ich mit letzter Kraft versuchen, eins der Rettungsboote der Titanic klarzumachen. Francesco hängt die Daumen in die Taschen seiner Hose ein, kommt gemächlich zu mir rüber, packt die Tasche und hängt sie mit einem sicheren Griff ein. »Wo geht’s hin?«, will er wissen. »Oder-Neiße-Radweg«, sage ich, immer noch etwas aus der Puste. »Schöne Strecke. Sehr entspannt.« »Und was tuste du dann so verrückt?«, fragt er, während er mit dem Schraubenzieher, den er immer in der Brusttasche seiner Arbeitshose trägt, noch die Bügel zurechtbiegt, mit denen meine Taschen am Gestänge befestigt werden, damit sie nicht in die Speichen geraten. Ich wische mir über die Stirn. Schon am Morgen 25 Grad und die ganze Rennerei – kein Wunder, dass ich schwitze. »Ich bin nicht verrückt«, sage ich, »nur spät dran.« Insgeheim muss ich allerdings zugeben, dass er gar nicht so unrecht hat. Ich habe kaum geschlafen, bis zur letzten Minute an einem Manuskript gearbeitet, dann alle meine Sachen in die Taschen geworfen, weil die Uhr schon halb elf zeigte und der Zug nach Görlitz, den Petra und ich mit unseren Rädern gebucht haben, um

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kurz nach zwölf fährt. Zum Hauptbahnhof schaffe ich es mit dem Rad zwar in knapp zehn Minuten, aber ich bin jetzt langsam echt spät dran. Während Francesco in aller Gemütsruhe neben meinem Fahrrad kniet und meine Satteltaschen richtet, gehe ich ein paar Schritte über den Hof und rufe Petra an, um ihr zu sagen, dass ich gleich da bin. »Meine Güte, was für ein Morgen«, seufze ich, als ich das Handy zurück in meine Umhängetasche stecke. »Pronto.« Zufrieden steckt Francesco den Schraubenzieher wieder ein und richtet sich auf. »Toll!« Ich bin kurz davor, ihn vor Dankbarkeit zu umarmen. Geschafft hätte ich das zwar auch allein, aber in der Eile hätte ich sicher länger gebraucht als er. Verdammt – eigentlich war alles gut geplant. Wie kann es sein, dass ich erst auf die letzte Minute fertig werde? Egal, ich habe jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich vertraue einfach auf die Magie meines Drahtesels. Schnell verabschiede ich mich von meinem hilfsbereiten Nachbarn, der mir noch »Haste du Luftpumpe?« hinterherruft. Flickzeug habe ich, aber die Luftpumpe habe ich in der Tat vergessen. Egal, Petra hat sicher eine dabei. Ich winke Francesco zu und schiebe mein Rad mit den gepackten Taschen über den Hof, durch das große Tor, durch das vor hundert Jahren noch Fuhrwerke in den Hinterhof gelangen konnten, bevor alles voller Autos war. Erst draußen schwinge ich mich auf den Sattel und trete kraftvoll in die Pedale. *** Yay! Ich merke deutlich, wie der Stress von mir abfällt. Fahrradfahren wirkt bei mir immer: Von einem Moment auf den anderen fühle ich mich befreit. Der Urlaub beginnt, sobald mein Hintern den Sattel berührt, mein Atem wird ruhiger, gleichmäßiger. Im Nu bin ich aus Moabit zum Hauptbahnhof geradelt, wo Petra schon steht, zünftig in einer halblangen Radlerinnenhose, mit Satteltaschen, die meinen gleichen. »Gut, dass du die gekauft hast, das sind die besten!«, ruft sie, als sie mich sieht und deutet auf meine Taschen. Ich muss grinsen. Wir loben uns jedes Mal übertrieben dafür, dass wir beide diese Taschen ausgewählt haben. Sie sind aus robuster LKW-Plane gefertigt, werden am Gepäckträger eingehängt, sind regendicht und fassen ordentlich Gepäck. Genau das, was wir brauchen, wenn wir jetzt zehn Tage unterwegs sind.

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»Ich hab meine Luftpumpe vergessen«, fällt mir ein. »Hast du deine mit?« »Mist.« Petra schüttelt den Kopf. »Können wir unterwegs kaufen, wir sind ja zwei Tage in Görlitz.« Petra und ich machen oft Fahrradtouren, wir unternehmen ausgedehnte Spaziergänge, die ans Wandern grenzen, und sind schon wochenlang mit dem Rucksack unterwegs gewesen. Wir mögen es einfach, auf Tour zu sein. Die Strecke, die wir uns vorgenommen haben, war zu Zeiten der DDR als Grenze zum polnischen Nachbarland besonders heftig abgeriegelt, obwohl sie beschönigend »Friedensgrenze« genannt wurde. Wir haben sie ausgewählt, weil sie bis an die Ostsee führt und weil die Autorin Lea Streisand auf einer Lesebühne so anschaulich von ihren Erlebnissen auf dem Radweg erzählt hat. Wir hieven unsere Drahtesel in den Fahrradwaggon, der natürlich heute nicht da hält, wo es laut Plan vorgesehen ist, sondern am anderen Ende des Gleises. Die Deutsche Bahn ist hilfreich, um schneller an den Ausgangsort unserer Radreise zu gelangen. Spontan geht allerdings nichts – für unsere Oder-Neiße-Tour haben wir die Fahrradplätze reserviert, sobald unsere Reisedaten feststanden. Schon etliche Male wäre ich gern spontan mit dem Rad verreist, hätte die letzten Kilometer vom Zielbahnhof per Drahtesel überwunden. Doch die Fahrradplätze sind begrenzt, wer einfach losreisen will, muss schon ein Auto mit Fahrradgepäckträger besitzen. Vielleicht sollte ich mir doch endlich ein Klapprad kaufen, damit ich mit der Bahn reisen kann, wann immer mir der Sinn danach steht? Die Räder verstaut, bugsieren wir unsere Taschen vorsichtig durch das volle Abteil und lassen uns auf zwei freie Plätze sinken. »Ah, ihr seid uff Tour, Mädchen«, kommentiert der Mann, der uns gegenübersitzt, nach kurzer Zeit mit einem Kennerblick auf Petras Radlerinnenhose. Wir sind bereits beide weit jenseits der vierzig, trotzdem: Mädchen. »Elbe?«, will er nun mit Kennerblick wissen, aber es klingt bereits wie eine Vorgabe, nicht wie eine Frage. Ich mache den Fehler »Oder-Neiße« zu antworten. »Anfänger.« Er winkt ab, schaut einen Moment wie ein ungefragtes Lexikon und meint dann: »Elbe ist schöner.« Ich bin beeindruckt – keine fünf Minuten unterwegs, schon weiß es einer besser. In der nächsten halben Stunde erklärt er uns ungefragt, warum. *** Die Zugfahrt von Berlin nach Görlitz dauert knapp drei Stunden, vergleichsweise lang, wenn man sich rechtfertigen muss, warum man bei seiner geplanten

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Reiseroute bleibt. Petra stößt mich an, als die Ansage für unseren Zielbahnhof kommt. Wir sind schon sehr gespannt auf die Stadt, die wegen ihrer Dichte von Baudenkmälern ein beliebter Filmstandort ist und sich so den Spitznamen Görliwood erworben hat. Große Produktionen wie »Inglourious Basterds« und »Grand Budapest Hotel« wurden in dem beschaulichen Städtchen gedreht. Östlich der Neiße liegt die andere Hälfte der Stadt, das polnische Zgorzelec. Wir sind skeptisch, weil die AfD in Görlitz die stärkste Fraktion im Stadtrat bildet. Wie wohl werden wir uns in einer Stadt fühlen, die von vielen Rechtspopulisten regiert wird? Wenigstens das Amt des Oberbürgermeisters wird bisher noch nicht von einem AfD-Lappen bekleidet. Als der Zug in den Bahnhof einläuft, verabschieden wir uns von dem mitteilsamen Mitreisenden, holen die Räder aus dem Fahrradabteil und schieben sie schon wenige Minuten später über den Bahnsteig. Nicht ein Wölkchen am Himmel, ich greife nach der Sonnencreme. »So müssen viele Städte vor dem Krieg ausgesehen haben«, meine ich, als wir die Räder durch die Einkaufspassage Richtung Marktplatz schieben. Die erste Unterkunft haben wir schon gebucht, ein kleines Hotel in der Innenstadt, das wir schnell finden. »Die Luftpumpe!«, fällt Petra ein, als wir wieder auf die Straße treten, um die Stadt zu erkunden. Da ertönt von der Seite ein Raunen. Als wir uns umdrehen, taucht vor uns eine Pappmachéfigur auf, doppelt so groß wie wir, Pappmaché-Hände an Stangen schwenkend – ein Riese mit starr lächelndem Gesicht, einem Schlapphut und einem langen dunkelgrauen Mantel. Schnell finden wir heraus, dass wir zufällig mitten in einem internationalen Straßentheaterfestival gelandet sind, das ViaThea heißt. Wir lassen uns vom Strom des Publikums treiben und landen schließlich in einen Park etwas außerhalb des Stadtzentrums, wo Buden und Bühnen aufgebaut sind. Vergessen ist der stressige Morgen in Berlin, während wir der Musik lauschen und uns umsehen. »Leben Sie hier?«, fragen wir ein älteres Ehepaar neben uns, die an einem der Stehtische eine Limo trinken. Sie seien nach der Rente hergezogen, erzählen sie, weil ihnen die Stadt gut gefallen habe und es hier nicht so teuer sei. »Ein bisschen Bedenken wegen des Rechtsdralls hier hatten wir schon«, sagt der Mann, aber die Stadt mache wirklich was, um dem entgegenzuwirken und sich zu öffnen, wie mit dem Festival jetzt.

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Das bunte Treiben dauert bis spät in den Abend, auf der Wiese stehen die Menschen für Minidonuts an, während gleich daneben auf der Bühne eine Sängerin mit ihrer Gitarre einen Song anstimmt. Riesenseifenblasen ziehen schillernd über unsere Köpfe und wir lauschen gebannt, als jemand beginnt, einem Xylophon aus Holzbalken mit einem dicken Hammer satte Töne zu entlocken. Es ist schon dunkel, als wir in unsere Herberge zurückkehren. Morgen soll es losgehen, und da es so spät ist, denkt keine von uns mehr an den geplanten Luftpumpenkauf. *** Am nächsten Morgen steigen wir auf unsere gepackten Fahrräder und radeln durch die Stadt, die nach der Festivalnacht ein wenig schlaftrunken wirkt. Auf einer Restaurantterrasse, die in die Neiße hineinragt, trinken wir noch einen Kaffee, wenig später fahren wir links der Neiße aus der Stadt hinaus, wo wir schon bald einen Weg zwischen wogenden Weizenfeldern einschlagen. Der blaue Himmel über uns, das Geräusch der Reifen, die widerstandslos über den glatten Asphalt rollen, das ist Glück. »Wie schön das Fahrradfahren ist: Es hält fit und macht keinen Lärm«, so eine Pionierin des Radfahrens, die 1914 geborene Billie Fleming. Recht hatte sie – wir gleiten lautlos dahin. Während wir so zwischen den Feldern entlangradeln, an deren Rand einige Ringeltauben nach Körnern picken, muss ich erneut an unsere Zugbekanntschaft denken. Warum wollte der Mann uns ausreden, diesen Weg zu nehmen? Ist die andere Strecke wirklich besser oder war er nur ein Besserwisser? Der nächste Ort, den wir ansteuern, ist Bad Muskau, und als wir die kleine Stadt erreichen, ist in der Ferne leichtes Gewittergrummeln zu hören. Wir suchen uns eine Unterkunft, das Hostel liegt zwar etwas außerhalb, aber wir sind ja mit dem Fahrrad da. Muskau kommt von dem sorbischen Begriff Mužakow, was so viel wie Männerstadt bedeutet. Und Männer haben die umgebende Lausitz geprägt: durch den Braunkohletagebau, aber auch durch die irrsinnig teuren Parkanlagen, die Hermann von Pückler-Muskau anlegen ließ, den wir heute vor allem als Namensgeber einer fetten Eiskrem kennen. Weniger bekannt ist, dass sich Pückler mit 52 Jahren für sein sexuelles Vergnügen in Kairo ein zehnjähriges Mädchen kaufte, das mit dreizehn einsam in seinem Schloss an einer Tuberkulose verstarb. Von Bad Muskau geht es am nächsten Tag weiter durch die vom Tagebau zerklüftete Landschaft der Oberlausitz. Wir machen auf einer Anhöhe halt,

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um das Ausmaß des Tagebaus auf uns wirken zu lassen, dann fahren wir weiter nach Forst zum Rosengarten, der seltsam vertrocknet wirkt, und bis nach Guben, wo Dr. Gunther von Hagens plastinierte Körper ausstellt. Muskeln oder Nervensystem sind oft stärker herausgearbeitet – wenn eine der plastinierten Leichen Rad fährt, wäre das Geschlecht wohl egal. *** »Wie schön, so unterwegs zu sein«, sagt Petra, als wir einen Tag später Rast an der Stelle machen, wo die Neiße in die Oder fließt, und sie hat recht. Über dem Wasser fliegen einige große Libellen, einige Watvögel suchen unweit auf einer kleinen Sandbank nach Futter. Was haben für ein Glück, das uns hier hergeführt hat, dass wir Radfahren können. Meine Tante hat es nie gelernt, genau wie die aus Charkiw geflüchtete Irina, der ich vor einigen Wochen begegnete. Sie war darauf angewiesen, dass sie jemand mit dem Auto fuhr, und besaß daher einen entsprechend kleinen Radius. Die Schwierigkeit, auf dem Land ohne Fahrrad mobil zu sein, ermöglichte ihr nicht ausreichend, sich fortzubewegen und zu entfalten, Menschen kennen zu lernen, die Sprache richtig zu lernen. In die nächste Stadt zum Deutschkurs? Eine Hürde. Ins Museum, auf den Markt, eine neue Wohnung finden? Immer mit hohem Aufwand verbunden. So wie sich der Radius erweitert, so sehr erweitert sich auch der Blick auf die Welt, das Gefühl, sich eigenständig und unabhängig von anderen bewegen zu können. Und das Selbstbewusstsein. Aus diesem Grund halte ich das Erlernen des Radfahrens für genauso wichtig wie Lesen zu lernen. Und Fahrradfahren ist auch wichtig für den eigenen Platz in der Welt, das Körpergefühl. Virginia Woolf schrieb über die Bedeutung, ein Zimmer für sich zu haben. Ich würde dem noch ein Fahrrad für sich zufügen. Denn Fahrradfahren beschwingt, es fühlt sich an, als würde ich mein Herz fliegen lassen. Für Frauen ist es noch nicht so lange selbstverständlich, ein Rad zu besteigen – ich muss an die Frauen denken, die im späten neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Radfahren für sich eroberten. Ich habe große Achtung vor ihrem Wagemut, und ich frage mich, ob ich mich an ihrer Stelle wohl so durchgesetzt hätte. Anders als für mich bedeutete Fahrradfahren für Frauen damals, wie eine Zumutung angestiert zu werden. Persönliche Freiheit, Flexibilität und einen größeren selbst bestimmten Radius zu haben, hat sie wohl trotz dieser Einschränkung angetrieben.

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Wer sich über Mikromobilität Gedanken macht, darf thematisch nicht vorbeirauschen an dem Fortschritt, den Radfahren für marginalisierte Gruppen wie Frauen bewirkt hat. Es ist also in der Tat ein feministischer Gedanke, auf den Drahtesel zu steigen, denn das Fahrrad ist gerade für Frauen ein unverzichtbares Vehikel auf dem Weg zur Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit. Für die Frauenbewegung spielte das Fahrrad eine entscheidende Rolle: Die Suffragetten protestierten in den Zehnerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts auf dem Fahrrad mit Transparenten für gleiche Rechte. Das Fahrradfahren galt zwar zunächst als unschicklich, aber es veränderte nicht nur die Wege von Frauen, sondern auch deren Erscheinungsbild und Bewegungsfreiheit: Statt bodenlanger Reifröcke, mit denen es gar nicht möglich gewesen wäre, ein Rad zu besteigen, trugen fahrradfahrende Frauen nun Hosen, wenn auch weite, unter einem knielangen Rock. Und auch das Korsett, in das sie traditionell gezwängt waren, ließ sich auf dem Fahrrad nicht unfallfrei tragen, es schränkte zu sehr ein. Auch für sportliche Betätigung im Allgemeinen war das Korsett nicht geeignet – davon zeugt das beißend nach Ammoniak stinkende Riechsalz, das Damen der höheren Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert bei sich trugen. Es diente dazu, wieder zu Sinnen zu kommen, wenn die allzu einschnürende Unterbekleidung einem den Atem raubte. Ich blicke an meinem T-Shirt aus leichtem Baumwollstoff herab auf meine Jeans, in der ich die Bewegungsfreiheit habe, um bequem zu radeln. Unvorstellbar für mich, ein Korsett oder einen Reifrock zu tragen. Wie sollte ich damit so leben, wie ich es gewohnt bin? Trotzdem ich nicht mal mein Erscheinungsbild ändern musste, um Fahrradfahren zu lernen: Es zu erlernen hat mich ganz gewiss verändert. Ich bin in den Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts aufgewachsen und kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem ich im Innenhof unseres Wohnblocks Fahrradfahren lernte – ohne Stützräder. Es war ein Übergangsritus, durch den ich Selbstständigkeit erhielt, Zugang zu einer neuen Welt. Die Eltern, die enge Welt des Gefahren-Werdens oder des Zu-Fuß-Gehens loszulassen – das war ein wichtiger Entwicklungsschritt. Es erweiterte meinen Kontakt zu Gleichaltrigen, wenn ich etwa mit dem Fahrrad ins Freibad, zu Freundinnen oder in die Schule fuhr – darauf zu verzichten, wäre in der ländlichen Gemeinde, in der ich groß wurde, schwierig gewesen. Das Fahrradfahren wurde so sehr Teil meines Alltags, dass ich es nicht hätte missen wollen.

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Ein Mama-Taxi gab es damals noch nicht, wir hatten einen Familienkombi und das war’s. Mit dem Auto fuhr mein Vater zur Arbeit, im Urlaub ging es damit bis nach Empuriabrava in Katalonien, eine Strapaze, die meine Eltern wegen des Autoatlas’ und der Quengelei ihrer drei Kinder sicher den letzten Nerv kostete. Traditionell war meine Mutter für den Atlas und mein Vater fürs Lenken zuständig, was in dieser Kombination gelegentlich für Unmut auf beiden Seiten sorgte. Autofahren fand ich darum nervig, und mir wurde schon damals oft schlecht in dem Blechkasten. Das Fahrrad ermöglichte mir, mich in meinem eigenen Tempo fortzubewegen, in meine eigene Richtung. *** In Eisenhüttenstadt, das von breiten Straßen durchzogen ist, fühlen wir uns nach all der freien Natur mit dem Rad an den Rand gedrängt. So anders ist diese Stadt als das hinter uns liegende beschauliche Neuzelle, wo es ein Bilderbuchkloster gibt. Fast ein wenig unwillig halten wir auf einer Brücke an und trinken etwas, während die Wagen an uns vorbeirauschen, so wie wir es aus der Großstadt kennen. Eisenhüttenstadt ist eine sozialistische Planstadt, und das ist auch heute noch zu erkennen. Sie wurde so konstruiert, dass sie den Arbeitern dient – und offenbar auch den Autos. Was wäre gewesen, wenn Mobilität von Anfang an inklusiver gedacht gewesen wäre, gleichberechtigter, gerechter? Gerade sind wir auf das Auto fixiert, starren es durch die Augen der StVo. und unserer Erziehung an wie das Kaninchen die Schlange. Auch heute sind noch die Auswirkungen der androzentrischen Denkweise in der Mobilität zu spüren. Die meisten Autos sind auf Männer zugelassen. Je besser jemand verdient, desto mehr PS, so ist meist die Regel – und die meisten Besserverdienenden sind eben auch heute immer noch Männer, sie verdienen im Schnitt 20 Prozent mehr als Frauen, und diese arbeiten mehr als drei Mal so häufig in Teilzeit. Seit den autogesteuerten Sechziger- und Siebzigerjahren – beschönigend sprach man damals von »autogerechter Mobilität« wurden graue Schneisen des Verkehrs in die Städte geschlagen, Autobahnen ausgebaut. Die Lärmbelastung wuchs, die Gefahren für Mensch und Tier, die Feinstaubbelastung und Abgase. Alle, die auf ein Fahrrad angewiesen seither, müssen sich mit dem Platz begnü-

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gen, der von den Autos übriggelassen wird, und mit der Luftverschmutzung, die sie verursachen – das ist sozial ungerecht. Das mangelhafte Radwegenetz, das Verstellen von Freiflächen durch Blechkarossen und die Belastung der Atemluft wird so in Großstädten zu einer anderen Form von Korsett. Wer Fahrradfahren kann, dem erschließt sich die Welt auf andere Weise. Es ist unmittelbarer als mit dem Auto durch die Lande zu fahren, denn auf dem Rad ist es möglich, den Blick schweifen zu lassen, der Kontakt zur Umgebung ist im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar: Die Infrastruktur erschließt sich anders, weil sie näher ist. Und in der Stadtarchitektur ist es die günstigste Möglichkeit, eine Stadt wohnlicher und sicherer zu gestalten – es ist viel lebendiger als in der abgeschlossenen Fahrerkabine des Faraday’schen Käfigs. Es sollte darum dringend mehr in Fahrrad- und Fußinfrastruktur investiert werden, die Ausgaben pro Kopf sind im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten bisher gering: Zwischen 2,30 Euro und 5 Euro geben deutsche Großstädte jährlich pro Kopf für die Radinfrastruktur aus – in Amsterdam sind es laut Greenpeace rund 11 Euro, in Kopenhagen gar über 35 Euro. Weil das Fahrrad durch seine im Vergleich mit dem Auto geringen Kosten mehr Menschen ermöglicht, gefahrfrei am Straßenverkehr teilzunehmen, ist es wesentlich, in gute Infrastruktur zu investieren. Wenn sie da ist, wird sie nachweislich auch genutzt. Sonst ist eine Stadt so wenig wohnlich wie Eisenhüttenstadt, das wir nun verlassen. *** Am Wegesrand auf einem Abfalleimer prangt ein Aufkleber von Fridays for Future, und mir fällt ein, dass Radfahren nicht nur eine Frage von persönlicher Freiheit, sondern auch von Generationengerechtigkeit ist. Trotz Klimakrise richten wir uns immer noch nach dem Gebot der Automobilität, wie zuletzt gut am Beispiel der A49 und des schockierenden Kahlschlags für Automobilität durch den Dannenröder Wald zu sehen war, genau wie bei der Ankündigung, die Stadtautobahn A100 solle zügig weiter durch Berlin gebaut werden. Das Auto hat Vorfahrt vor dem Klima, vor Trinkwasserschutzgebieten, vor Artenvielfalt, vor Wohnqualität – kurz: vor Menschen, ihrer Gesundheit und ihrem Überleben. Ich muss an den Braunkohletagebau in der Lausitz denken, in dem ebenfalls fleißig weitergebaggert wird. Auch wenn uns nicht mehr viel Zeit bleibt, um die Emissionen zurückzufahren, steht selbst ein vergleichsweise kleiner Einschnitt wie das Tempolimit, das in sämtlichen anderen Ländern um uns

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herum bereits gilt, für einige Parteien außer Diskussion. Dabei sind wir laut IPCC-Bericht bereits so weit, dass wir nach jedem Strohhalm greifen müssten: Bereits ab 2026 werden wir die 1,5-Grad-Grenze mit hoher Wahrscheinlichkeit überschreiten. Nur ist der Verkehr in Deutschland eben auf das Auto ausgerichtet. Wie der VCD und andere Verbände beklagen, steht die Straßenverkehrsordnung der Verkehrswende im Weg. Wäre das anders, wenn der Posten diverser besetzt werden würde – von FLINTA* ? Fakt ist: Das Bundesverkehrsministerium wurde noch nie von einer Frau, geschweige denn von einer queeren oder trans* Person geführt. Wie in der Weimarer Republik, unter den Nazis und in der DDR war das auf oberster staatlicher Ebene bisher immer ein Männerjob. In die richtige Richtung hat es uns nachweislich nicht geführt – es war eher eine Einbahnstraße. Oder, wenn wir schon beim Tempolimit sind: ein Einbahn-Highway, auf dem wir einer bangen Zukunft entgegenbrettern. Wir versiegeln im Eiltempo immer mehr Flächen, bauen weiter Stadtautobahnen durch Wohngebiete und bringen die Schwächsten in Gefahr. Noch immer verunfallen jährlich viel zu viele Kinder im Straßenverkehr: 2020 waren es in Deutschland 22.462 Kinder, davon wurden 48 getötet. 18, weil sie im Auto mitfuhren, 15, die zu Fuß gingen und 9 beim Radfahren. Jedes dieser verunfallten und verkehrsgetöteten Kinder ist eins zu viel. Vielleicht würde eine Bundesverkehrsministerin* dies eher in den Blick nehmen, so wie uns die erste deutsche Außenministerin auch gerade zeigt, dass sie Familien im Blick hat. Wer auch immer also dieses wichtige Amt künftig bekleidet: Der Verkehr muss menschengerecht werden, nicht noch autogerechter. *** Wir kurven über eine Schotterpiste einen kleinen Hügel hinab, vor uns türmen sich Wolken auf, die einen Sommerregen verheißen. Gar nicht schlecht, denn mir ist fast zu warm. »Wart mal!«, ruft Petra hinter mir her. Als ich mich zu ihr umdrehe, sehe ich, dass sie abgestiegen ist und sich über ihr Vorderrad beugt. Just haben wir Frankfurt an der Oder hinter uns gelassen, wo wir uns am Fluss mit Pommes und einer Apfelschorle gestärkt haben. Vor uns erstreckt sich das Oderbruch – ein Binnendelta der Oder, eine einzigartige Naturlandschaft aus Nasswiesen, wo es Biber und Störche gibt. »Wie schön es hier ist!«, rufe ich, genau in dem Moment, als mir ein dicker Tropfen auf die Nase platscht. Schon bald folgen weitere.

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»Mein Reifen ist platt«, ruft meine Freundin mir durch den Regen zu. »Kein Problem, den flicken wir gleich.« Doch dann fällt mir ein, dass wir noch immer keine Luftpumpe besorgt haben. Petra streicht sich eine nasse Strähne aus der Stirn, dann kramt sie ihre Regenjacke raus. »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs…« »Lass uns lieber sagen: Frauen am Rande des Oderbruchs.« Ich schlage die Kapuze hoch. »Na gut, und jetzt?« Manches kann man im Moment nicht ändern, weil es früher hätte eingeleitet werden müssen. Es bleibt dann nur, mit dem zu arbeiten, was da ist. Und so beschließen wir, es sportlich zu nehmen: Es ist nur ein kurzer Schauer, der ist fast vorbei. Und auch wenn wir jetzt bis zum nächsten Ort schieben müssen – danach geht’s wieder weiter mit der Reise. Petra blickt auf ihren kaputten Reifen, dann sieht sie auf und lässt den Blick über das Oderbruch schweifen. »Auf jeden Fall ist die Aussicht schön.« Und das stimmt, denn in diesem Augenblick bricht ein Sonnenstrahl aus den Wolken hervor, die Wasserfläche vor uns gleißt im Licht, ein Kiebitz fliegt auf. Da stehen wir, zwei Frauen am Rande des Oderbruchs. Wir sind schon weit gekommen mit unseren Rädern, wir wissen, in welche Richtung es gehen soll – und es geht auf jeden Fall weiter. Das sind in jedem Fall gute Aussichten.

Vita Anne Weiss, Jahrgang 1974, studierte in Bremen Anglistik, Germanistik und Kulturwissenschaft und arbeitete als Lektorin bei großen deutschen Buchverlagen wie Ullstein und Bastei Lübbe. Gemeinsam mit Co-Autor Stefan Bonner schrieb sie zahlreiche Bestseller, darunter »Generation © Mathias Bothor Doof« und »Wir Kassettenkinder«. In »Generation Weltuntergang« setzten sie sich mit dem Klimawandel auseinander. Weitere Informationen: Homepage: www.meinlebenindreikisten.de, Engagement: https://writers4future.de, http://volksentscheid-berlin-autofrei.de/podcast

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Geschichte und Geschichten rund ums Rad: Von der Kaiserin über den König zum Komiker Alfons Schweiggert I. Die radelnde Kaiserin Elisabeth Nach Erfindung der sogenannten »Laufmaschine«, der ersten Version des Fahrrads durch Carl Friedrich von Drais 1818, entwickelte sich das Rad rasant. Bald entstanden Hochräder, deren Nutzung akrobatisches Können verlangte. Doch erst mit Einführung des schnelleren und leichter zu kontrollierenden Sicherheitsniederrads mit Kettenantrieb erlebte das Fahrrad ab Mitte der 1880er-Jahre einen regelrechten Boom, auch wenn Radfahren Ende des 19. Jahrhunderts oft nur für gutbürgerliche Gesellschaftsschichten erschwinglich war. Mit der Entwicklung der gebogenen Mittelstange im Jahr 1885 wurde das Fahrrad endlich auch für Rock tragende Frauen angenehmer, die allerdings bald bequemere Beinkleider wünschten. Damit leitete das Fahrradfahren das Ende des Rockzwangs und der bodenlangen Kleider ein. Mit geknöpften Hosen erhielten Frauen mehr Bewegungsfreiheit. Doch manche befürchteten, dass die Frauen bald ganz »die Hosen anhätten«. Auch Sisi erlebte, wie das Fahrrad zum Symbol einer unabhängiger werdenden Frau wurde, die für ihre Rechte einstand und sich emanzipierte. Die Berlinerin Amalie Rother begann um 1890 mit dem Fahrradfahren und gründete den ersten Berliner Damenradklub. 1893 wurde mit dem Grazer Damen-Bicycle-Club der erste Frauenradfahrclub ins Leben gerufen. Auf dem Hochrad fuhr Sisi noch nicht, aber Versuche auf dem Fahrrad mit gebogener Stange unternahm sie vermutlich schon. Interesse für das Radfahren entwickelt Kaiserin Elisabeth erst in den letzten Jahren vor ihrem Tod 1898, nachdem sie von ihrer Tochter Gisela und von Katharina Schratt dazu angeregt wurde. Sie sah darin eine weitere Möglichkeit, ihr Gewicht zu halten. So fragte Sisi ihren Ehemann einmal, ob die gemeinsame Freundin Kathie Schratt durch das Radfahren wirklich schon »entfettet« worden sei. Die Schratt radelte so eifrig, dass sie sogar einmal vom Rad stürzte und sich verletzte. Franz Joseph stieg natürlich

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nie auf ein Rad und lehnte wie viele Männer Radfahren für Frauen ab. Es sei unanständig und die Frauen könnten sich dabei überanstrengen. »Ich denke, das Fahrrad hat mehr dazu beigetragen, Frauen zu emanzipieren, als irgendetwas auf der Welt. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich eine Frau auf einem Fahrrad vorbeifahren sehe. Es gibt ihr ein Gefühl der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit in dem Moment, in dem sie es tut.« Das sagte nicht Kaiserin Elisabeth, aber ganz in ihrem Sinn die US-amerikanische Frauenrechtlerin Susan B. Anthony 1896, also zwei Jahre vor Sisis Tod. II. König Ludwig II. rätselhaftes »Velogesetz« Der in vielen technischen Belangen seiner Zeit weit vorauseilende König Ludwig II. packte sein Schloss Neuschwanstein mit der damals entwickelten modernsten Technik voll. Selbstverständlich gab es dort eine Heißluft-Zentralheizung, fließendes Heiß- und Kaltwasser, ja sogar eine Toilette mit automatischer Spülung. Mittels einer batteriebetriebenen Rufanlage konnte er seine Diener und Adjutanten rasch zu sich beordern. 1882, sechs Jahre nachdem das erste Telefon patentiert worden war, wurde auf seinen Befehl auch ein solcher Apparat im dritten und vierten Obergeschoss des Schlosses installiert. Damit konnte mittels einer der wohl ersten Fernsprachanlagen in Deutschland Neuschwanstein mit Schloss Hohenschwangau verbunden werden. 1881 ließ sich Ludwig ein Velociped, also ein Fahrrad nach Neuschwanstein kommen, was die Vermutung nahe legt, der König sei auch so etwas wie der erste Mountainbiker in der Geschichte des Alpinsports gewesen. Nach Aussagen von Historikern des »Allgemeinen Deutschen Fahrrad Clubs« (ADFC) habe Ludwigs II. bereits 1880 ein königlich-bayerisches Velo-Gesetz erlassen wollen. Hellsichtig ahnte er die uns heute quälenden Probleme wie Verkehrskollaps und Luftverschmutzung voraus, durch die sein schönes Bayernland kläglich zugrunde gerichtet wird. In seinem Gesetzesentwurf heißt es u. a.: »Jede Stadt, jedes Dorf, jeder Markt und jede Gemeinde im Bayerischen Lande sollen Platz schaffen für jeden Bayern, der mit dem Velo fährt. Straßen, Plätze, Wege und Kreuzungen sind unverzüglich zu bauen und zu bewahren in ausreichender Anzahl und Qualität.« Außerdem fordert der König starke finanzielle Zuwendungen aus dem bayerischen Staatssäckel sowie ausreichend Personal zur Umsetzung des Gesetzes. Ehe das »Königlich-bayerische Velo-Gesetz« jedoch in Kraft treten konnte, fand der König im Starnberger See einen bis heute rätselhaften Tod. Bis

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heute kursiert das Gerücht, Ludwig II. sei wegen seines geforderten »Velo-Gesetzes« von dessen Gegnern am 13. Juni 1886 ertränkt worden. Es sei sicherlich kein Zufall, dass am 3. Juli 1886, also nur knapp einen Monat nach des Königs Ermordung, eben jenes Verkehrsmittel, das im folgenden Jahrhundert das Fahrrad von den Straßen verdrängen sollte, öffentlich vorgeführt wurde: das erste Automobil mit Verbrennungsmotor von Carl Benz. In Erinnerung an Ludwigs II. Velogesetz-Entwurf von 1880 ruft der ADFC seit 1998 alljährlich am 3. Juni, dem »Tag des Fahrrads« oder auch »Europäischer Tag des Fahrrads« genannt, alle Radfahrerinnen und Radfahrer auf, lautstark zu demonstrieren, dass das königliche Velogesetz jetzt endlich einmal in Kraft tritt. III. Valentins überwältigende Hochradnummer Karl Valentin liebte das Radfahren über alles. Im Frühherbst 1922 fand in den Münchner Kammerspielen von 22.00 Uhr bis 23.30 Uhr ein so genanntes »Mitternachtstheater« statt, in dem auch Valentin und Liesl Karlstadt auftraten. Angekündigt war eine sensationelle Hochradnummer. Liesl Karlstadt trat als Impresario auf und verkündete: »Meine Damen und Herren, Sie erleben nun die überwältigende Hochradnummer des großen Radkünstlers Karl Valentin. Als erstes, liebes Publikum, führt Valentin das dreimalige Umkreisen der Bühne auf dem Hochrad vor.« Nun kletterte Valentin höchst umständlich auf sein vorsintflutliches Vehikel und fuhr dann in gemächlichem Tempo dreimal das Bühnenrund aus. Nach dem noch zaghaften Beifall des Publikums verkündete Liesl Karlstadt: »Meine Damen und Herren, Sie erleben nun zweitens das dreimalige Umkreisen der Bühne auf dem Hochrad unter Glockengeläute.« Hierauf folgte nun genau der gleiche Vorgang wie beim ersten Mal, nur dass diesmal die Karlstadt dazu eine Kuhglocke schwang, deren Gescheppere Valentins Umrundung der Bühne lautstark begleitete. Der Applaus war nun schon etwas kräftiger. Jetzt kündigte die Karlstadt drittens die eigentliche Sensation des Abends an: »Valentins schauerliche Todesfahrt durch Nacht und Nebel.« Nach einer kurzen, aber unheimlichen Stille, wodurch die Wirkung der grausigen Ankündigung noch verstärkt wurde, stellte die Karlstadt zwei Stangen auf, zwischen die ein Papierband mit der Aufschrift »Nacht und Nebel« gespannt war. Und nun fuhr Valentin in höchster Aufregung los, erst ein paarmal zaghaft außen an

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den Stangen vorbei, doch endlich nahm er einen Anlauf und fuhr zwischen den beiden Stangen hindurch, wobei das Spruchband »Nacht und Nebel« zerriss. Unter riesigem Applaus des Publikums bekam Valentin von der Liesl einen Lorbeerkranz umgehängt, und die Karlstadt zeigte den Zuschauern stolz die durchtrennten Papierfetzen »Nacht und Nebel«. IV. Karl Valentins Verkehrsregeln »So kann es im Straßenverkehr unmöglich weitergehen«, schimpfte Valentin. »Die Autos durchsausen die Straßen, die Radfahrer fahren, wie sie wollen, die Fußgänger gehen mitten auf der Straße spazieren, kommen zwischen die Wägen, die Sanitätskolonnen haben Hochbetrieb, die Krankenhäuser können die Verwundeten wegen Platzmangel nicht mehr aufnehmen … dies alles kann nur anders werden durch meinen Vorschlag, der alle diese Mißstände auf einmal aus der Welt schafft. Mein Vorschlag ist folgender, und jeder Irrsinnige wird mir recht geben. Der Verkehr soll folgendermaßen eingeteilt werden. Und zwar täglich von 7 bis 8 Uhr Personenautos, von 8 bis 9 Uhr Geschäftsautos von 9 bis 10 Uhr Straßenbahnen von 10 bis 11 Uhr Omnibusse von 11 bis 12 Uhr die Feuerwehr von 12 bis 1 Uhr die Radfahrer von 1 bis 2 Uhr die Fußgänger. Sollte diese stundenweise Einteilung nicht möglich sein, wäre eine andere Lösung möglich, und zwar Tagesverkehr: Der Montag ist nur für die Personenautos, der Dienstag nur für die Geschäftsautos, der Mittwoch Straßenbahn, der Donnerstag für die Omnibusse, der Freitag für die Feuerwehr, der Samstag für die Radfahrer. Die Sonn- und Feiertage nur für die Fußgänger. Auf diese Weise würde nie mehr ein Mensch überfahren werden.« Karl Valentin verstand es nie, dass die Behörden seinem Vorschlag nie folgten.

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V. Der Radfahrer: Dialog von Karl Valentin Personen: Der Radfahrer Karl Valentin, Ein Schutzmann Schutzmann: Halt! Valentin blinzelt den Schutzmann an. Schutzmann: Was blinzeln Sie denn so? Karl Valentin: Ihre Weisheit blendet mich, da muß ich meine Schneebrille aufsetzen. Schutzmann: Sie haben ja hier eine Hupe, ein Radfahrer muß doch eine Glocke haben. Hupen dürfen nur die Autos haben, weil die nicht hupen sollen. Karl Valentin drückt auf den Gummiball: Die meine hupt nicht. Schutzmann: Wenn die Hupe nicht hupt, dann hat sie doch auch keinen Sinn. Karl Valentin: Doch – ich spreche dazu! Passen Sie auf, immer wenn ich ein Zeichen geben muß, dann sage ich Obacht! Schutzmann: Und dann haben Sie keinen weißen Strich hinten am Rad! Karl Valentin: Doch! Zeigt seine Hose. Schutzmann: Und Rückstrahler haben Sie auch keinen. Karl Valentin: Doch! Sucht in seinen Taschen nach. Hier! Schutzmann: Was heißt in der Tasche – der gehört hinten hin. Karl Valentin hält ihn auf die Hose: Hier? Schutzmann: Nein – hinten auf das Rad – wie ich sehe, ist das ja ein Transportrad – Sie haben ja da Ziegelsteine, wollen Sie denn bauen? Karl Valentin: Bauen – ich? Nein! – warum soll ich auch noch bauen? Wird ja so soviel gebaut. Schutzmann: Warum haben Sie dann die schweren Steine an Ihr Rad gebunden? Karl Valentin: Damit ich bei Gegenwind leichter fahre, gestern in der Frühe z. B. ist so ein starker Wind gegangen, da hab ich die Steine nicht dabei gehabt, ich wollt nach Sendling nauf fahren, daweil bin ich nach Schwabing nunter kommen. Schutzmann: Wie heißen Sie denn? Karl Valentin: Wrdlbrmpfd. Schutzmann: Wie? Karl Valentin: Wrdlbrmpfd – Schutzmann: Wadlstrumpf?

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Karl Valentin: Wr – dl – brmpfd! Schutzmann: Reden S’ doch deutlich, brummen S’ nicht immer in Ihren Bart hinein. Karl Valentin zieht den Bart herunter: Wrdlbrmpfd. Schutzmann: So ein saublöder Name! – Schaun S’ jetzt, daß Sie weiterkommen. Karl Valentin fährt weg – kehrt aber nochmal um und sagt zum Schutzmann: Sie, Herr Schutzmann – – – Schutzmann: Was wollen Sie denn noch? Karl Valentin: An schönen Gruß soll ich Ihnen ausrichten von meiner Schwester. Schutzmann: Danke – ich kenne ja Ihre Schwester gar nicht. Karl Valentin: So eine kleine stumpferte – die kennen Sie nicht? Nein, ich habe mich falsch ausgedrückt, ich mein, ob ich meiner Schwester von Ihnen einen schönen Gruß ausrichten soll? Schutzmann: Aber ich kenne doch Ihre Schwester gar nicht – wie heißt denn Ihre Schwester? Karl Valentin: Die heißt auch Wrdlbrmpfd – – –

Vita Alfons Schweiggert, Autor von Biographien, Belletristik, Lyrik und Sachbüchern. Kurator und Gestalter von Ausstellungen. Auszeichnungen u.  a.: 1995 Bayerischer Poetentaler. 1997 Werkschau in der Internationalen Jugendbibliothek, München. Co-Präsident der Autorenvereinigung »Turmschreiber« (2000 bis 2017). Vorstand der von ihm 2007 begründeten »Karl Valentin-Gesellschaft«.

Alfons Schweiggert am PC, © Karikatur von Franz Eder, München

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Die wichtigsten Fahrradtypen und ihre Einsatzgebiete

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Im Folgenden wird hier eine Auswahl der wichtigsten Fahrradtypen und ihrer Einsatzgebiete vorgestellt; zunächst ausführlicher zum Thema Lastenrad.

Lastenräder Lastenräder haben in den letzten Jahren (auch als elektrisch unterstütztes Cargobike) einen erheblichen Popularitätsschub erfahren. Im Jahr 2020 wurden nach Angaben des Zweirad-Industrie-Verbands ZIV 103.200 Lastenräder in Deutschland verkauft. Bei umweltbewussten Privatpersonen und Unternehmen werden sie immer populärer, denn sie sind wesentlich umweltfreundlicher, geräuschärmer und platzsparender als Kleintransporter, Autos, Lieferwägen oder -motorräder. In bestimmten Fällen können sie Transporter und andere Lieferfahrzeuge mit herkömmlichem Antrieb ersetzen. Erste Vorläufer gab es bereits im 19. Jahrhundert für den Transport von Backwaren, Post oder als Krankentransport. Ursprünglich kommen sie aus den Niederlanden, wo sie schon lange fest im Straßenverkehr etabliert sind. Zu den modernen »Beziehungskisten« gehören der ungelenke Klassiker, der rollende Holländer, das störrische Batmobil, der wendige Flitzer, das verblüffende Mischwesen, der reduzierte Purist sowie das vernünftige Dreirad.

JUIZZ Store Nürnberg (Fotos: Dr. Alexandra Hildebrandt)

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Gründe für Lastenräder und Cargobikes Lastenräder und Cargobikes sind ideal zum Transport von Einkäufen, schwereren Lasten oder für die Mitnahme von Kindern. Sie stellen vor allem im urbanen Bereich eine umweltfreundliche und günstigere Alternative zu Pkws und Dieseltransportern dar. Ein schneller, zuverlässiger und nachhaltiger Warentransport wird hierdurch gewährleistet. Lärm, Verkehrsdruck und Abgase werden reduziert, und Verzögerungen durch Staus werden vermieden. Lange Parkplatzsuchen inklusive Kosten entfallen. Die Nutzer bleiben fit und gesund. Nachfrage und Angebot wachsen stetig. Von zweirädrigen Varianten über dreirädrige Modelle bis hin zu Rädern mit verlängerten Gepäckträgern ist für fast jeden Einsatzzweck und jedes Transportgut ein passendes Rad dabei. Transportmittel für Dienstleister Es gibt viele Anwendungsbeispiele, bei denen Lastenräder zum Transport eingesetzt werden. Im Handwerk eignen sie sich zum Beispiel für kleinere Kundentermine und Lieferungen. Immer mehr Dienstleistungsunternehmen transportieren ihre Ware mit einem Lastenrad zügig zu den Kunden. Viele kleine Geschäfte bauten in der Corona-Pandemie neue Lieferketten auf und entwickelten neue Geschäftsmodelle. So war beispielsweise die kleine Buchhandlung Christiansen in Hamburg von Beginn an bei »Altona bringt’s« dabei: Der Laden lieferte jeden Nachmittag Bestellungen mit dem Lastenfahrrad aus. Ein nachhaltiger Kundenansatz war auch die Bestellmöglichkeit über eine Onlineplattform von regionalem Gemüse, Milch und Käse von Biohöfen aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg. Die Abo-Bio-Kisten mit Grundnahrungsmitteln und vorgekochten Mahlzeiten wurden mit Transportfahrrädern und Lieferwagen zu den Kunden nach Hause gefahren. Beispielhaft ist auch der Einsatz der Radlogistik beim Versandhandel (siehe dazu den Beitrag von Claudia Silber zur »Emissionsfreien Zustellung auf der Letzten Meile« der memo AG). Kurierdienste Fahrradkuriere von Essenslieferdiensten gehören inzwischen zum Stadtbild – einige Dienste versprechen sogar, dass sich die Kunden nicht mehr als zehn Minuten gedulden müssen. Allerdings sind die Arbeitsbedingungen der Kuriere, die solche Versprechen einlösen müssen, häufig prekär. Für die Auslieferung mussten bisher die eigenen Räder und Handys benutzt werden. Es

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gab nur eine Verschleißpauschale von 25 Cent pro Stunde für private Räder. Inzwischen sind Lieferdienste verpflichtet, Rad und Handy zu stellen. Dass es auch anders geht, zeigen folgende Beispiele: Christoph Neimög, der 2018 den Rostocker Radentscheid mitbegründete und sich für eine bessere Radinfrastruktur in der Stadt einsetzt, hat zusammen mit seiner Mitgründerin Juliane Borths vor einigen Jahren in Rostock ein Kurier-Kollektiv gegründet: die »Cykelbude«. Seine inzwischen acht Kolleginnen und Kollegen arbeiten im Nebenjob als Kuriere. 75 Prozent ihrer Fahrten sind ohne Lastenrad zu bewältigen (die Fracht passt in den Rucksack des Fahrers oder der Fahrerin). Beim restlichen Viertel der Aufträge profitieren sie davon, dass die zwei Lastenräder der »Cykelbude« mit 18 Kilogramm besonders leicht sind. 2021 wurde das Unternehmen von den Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeit (RENN) als Transformationsprojekt im Wettbewerb »Projekt Nachhaltigkeit 2021« ausgezeichnet, weil der Kurierdienst »eine ökologisch-nachhaltige Warenlieferung für den Rostocker Innenstadteinzelhandel« etabliert hat. In der Schweiz gibt es mit Swissconnect eine städteübergreifende, multimodale Expresslogistik: Fahrrad, Zug, Auto in der jeweils umweltfreundlichsten Kombination. Es wird nicht nur der schnellste und ökologischste Transport garantiert, sondern auch faire Arbeitsbedingungen der Kuriere gesichert. Dazu gibt es seit 2019 sogar einen Gesamtarbeitsvertrag der Velokuriere1. Transporträder Lastenräder können zwei- oder dreirädrig gefahren werden, mit oder ohne Motorhilfe. Auch gibt es sie in verschiedenen Größen. Freilich ist ein Lastenrad kein Mountainbike. Da sich das Vorderrad nicht weit einschlagen lässt, ist der Wendekreis entsprechend groß. Der Lenker muss deshalb voll eingeschlagen werden. Auch muss etwa einen Meter weiter vorausgedacht und -geschaut werden, denn das Vorderrad ist etwa einen Meter weiter vorn als bei einem normalen Fahrrad. Es gibt eine Vielzahl von Lastenrädern, z. B. welche, die sich durch eine besondere Neigetechnik auszeichnen, die die Transportbox in den Kurven mitbewegt und schnelleres Fahren ermöglicht, oder die durch ein kleines Vorderrad viel Platz für eine Transportkiste bieten. Kinder sitzen in der Box vor der Lenkstange auf Höhe der Pedale. Eines der bekanntesten Transport­räder für Familien ist das Christiania Bike: Annie Lerche und ihr Mann Lars Engstrøm sind seit mehr als drei Jahrzehnten Unternehmer. Sie lebten in den Acht1 https://swissconnect.ch/de/warum-wir/nachhaltig

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zigerjahren in der Freistadt Christiania, der selbst verwalteten Wohnsiedlung inmitten von Kopenhagen, wo alles begann: Zu Lerches 29. Geburtstag baute der gelernte Schmied Engstrøm ein Fahrrad für sie, da andere Verkehrsmittel im Ort nicht zugelassen waren. Es war ein Dreirad mit einer Transportkiste als Vorbau (das erste Christiania Bike). Er entdeckte das Lastenrad wieder, das bis in die Fünfzigerjahre bei Kurieren beliebt gewesen war, und etablierte es als Familientransportmittel. In die Transportkiste passen hundert Kilogramm Einkäufe oder vier bis sechs Kinder. Herausforderungen Rechtlich werden Lastenräder als Fahrräder betrachtet. Sie dürfen also auf dem Radweg fahren, das ist ein großer Vorteil im dichten Stadtverkehr. Allerdings sind Lastenräder und insbesondere die für Logistik und Transport interessanten Schwerlasträder breiter als normale Fahrräder. Benötigt wird eine Ladeinfrastruktur für E-Lastenräder sowie ein rechtlicher Rahmen, der die aktuelle und künftige Bedeutung von Lastenrädern berücksichtigt und die Bedingungen für die gewerbliche Nutzung von E-Cargobikes verbessert. In den meisten großen Städten ist die Infrastruktur überlastet. Lastenräder benötigen eine eigene Infra­ struktur und müssen in neuen städtischen Verkehrskonzepten entsprechend berücksichtigt werden. Es braucht bauliche Veränderungen für eine dauerhafte Integration in bestehende Verkehrssysteme. Die höheren Kosten für Schwerlastenräder sollten mit höheren Förderbeträgen berücksichtigt werden. Auch Beratungsleistungen zum Ausbau Lastenrad-basierter Logistikkonzepte benötigen eine Förderung. In verschiedenen Städten gibt es unterschiedliche Förderungen. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle hat eine Richtlinie zur Förderung von elektrisch angetrieben Schwerlasträdern erlassen2. Lastenräder und E-Cargobikes sowie einfallsreiche und praktikable Akku-Wechselsysteme spielen eine wesentliche Rolle in nachhaltigen multimodalen Logistiksystemen. Die Forschung und Entwicklung auf der technischen sowie systemischen Ebene muss gestärkt werden, um den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzen weiter zu steigern. Darüber hinaus müssen auch Beratungsleistungen zum Ausbau Lastenrad-basierter Logistikkonzepte gefördert werden. 2 https://www.bafa.de/DE/Energie/Energieeffizienz/E-Lastenfahrrad/e-lasten fahrrad_node.html

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Common- und Sharing Economy-Bewegung Lastenräder spielen auch in der Common- und Sharing Economy-Bewegung eine wichtige Rolle. Ähnlich wie beim Car-Sharing ist es beispielsweise möglich, dass sich Menschen ein oder mehrere Lastenräder teilen. Lastenräder zum Ausleihen finden sich häufig auch in gemeinschaftlichen Wohnprojekten, bei denen mehrere Generationen unter einem Dach leben. Die Gemeinschaften können ihr Lastenrad aber auch individuell zusammenbauen. Das spart Kosten für den Bau, den Unterhalt und die gemeinsame Nutzung. Es ist aber auch möglich, dass Lastenrad-Besitzer:innen ihr Lastenrad verleihen, wenn sie es gerade selbst nicht nutzen. Selbst bauen Die Anschaffung eines Lastenrades ist in den meisten Fällen nicht ganz günstig, weshalb sich immer mehr Menschen dafür entscheiden, ihr Lastenrad selbst zu bauen. Im Internet gibt es eine Vielzahl von Bauanleitungen für Lastenräder. Die Initiative Werkstatt Lastenrad bietet beispielsweise umfangreiche Informationen mit Bauanleitungen für verschiedene Lastenradtypen3. Auch XYZ CARGO bietet eine Reihe von neuartigen Transport-Fahrrädern, die auf einem Open Source Projekt von N55 & Till Wolfer basieren4. Im Fokus steht die lokale Produktion in Hamburg und Kopenhagen zu nachhaltigen Bedingungen, mit dem Anspruch, dass jeder handwerklich begabte Heimwerker in der Lage ist, selber ein Lastenrad aufzubauen. Jährlich bietet der Hersteller Workshops in Hamburg, Kopenhagen und Wien an. Interessenten können ihre eigenen Lastenräder zusammenbauen und mit nach Hause nehmen. Der gemeinnützige Verein Taschengeldfirma e.V.5 in Neukölln hat seit einigen Jahren eine Projektfahrradwerkstatt auf dem Tempelhofer Feld, die sich sogar mit eigenem Strom unabhängig gemacht hat. Hier werden alte Fahrräder auseinandergeschraubt und neue montiert. Als Jugendprojekt wurde hier ein E-Cargobike gebaut, das von allen Nachbarn genutzt werden kann. Im Bielefelder Traditionsbetrieb Patria 6 gibt es E-Bikes und Lastenräder, die mittels eines Konfigurators nach eigenen Wünschen zusammengestellt wer3 www.werkstatt-lastenrad.de 4 http://www.n55.dk/MANUALS/SPACEFRAMEVEHICLES/spaceframe vehicles.html 5 https://taschengeldfirma.org/ 6 https://www.patria.net/

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den können. Auch können direkt vor Ort alle Fertigungsschritte kontrolliert werden und die Fahrräder müssen zur Komplettierung nicht erst um die halbe Welt wandern. Weiterführende Informationen: Nachhaltige Mobilitätswende: Welche Rolle spielen Lastenräder?: https://www.xing.com/ news/insiders/articles/nachhaltige-mobilitatswende-welche-rolle-spielen-lastenrader3480338 »Lastenräder spielen eine entscheidende Rolle bei der Mobilitätswende«: https://www. lifeverde.de/nachhaltigkeitsmagazin/gruene-wirtschaft/lastenraeder-spielen-eine-ent scheidende-rolle-bei-der-mobilitaetswende Businesstransport mit Lastenrädern: schnell, nachhaltig und auffällig durch die Stadt: https://www.lifeverde.de/nachhaltigke4itsmagazin/gruene-wirtschaft/businesstrans port-mit-lastenraedern-schnell-nachhaltig-und-auffaellig Mit dem Lastenrad von A nach B – sicher, unkompliziert und schnell: https://www.lifeverde.de/nachhaltigkeitsmagazin/news-tipps/mit-dem-lastenrad-von-a-nach-b-sicherunkompliziert-und-schnell Ich schraube, also bin ich: Warum immer mehr Menschen Lastenräder selbst bauen: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2020/10/ich-schraube-also-bin-ich-war um-immer.html Nachhaltige Fahrradmarken für umweltbewusstes Radfahren: https://www.lifeverde.de/ nachhaltigkeitsmagazin/news-tipps/nachhaltige-fahrradmarken-fuer-umweltbewuss tes-radfahren Klimapaket Würzburg: Eine nachhaltige, urbane Logistik ist möglich: https://dralexan drahildebrandt.blogspot.com/2020/01/klimapaket-wurzburg-eine-nachhaltige.html Schritte und Aktionen zum Bau eines Lastenrads: https://jetztrettenwirdiewelt.de/aktionen/ lastenrad-bauen/ Shut Up Legs Fahrrad-Blog: DIY: Wie man aus einem alten Fahrradrahmen und Stahlprofilen ein Lastenrad bauen kann: https://shutuplegs.de/2017/08/diy-wie-man-aus-einemalten-fahrradrahmen-und-stahlprofilen-ein-lastenrad-bauen-kann/ Klimaneutrale Kuriere: https://www.nachhaltigkeitsrat.de/aktuelles/klimaneutrale-kuriere/ Informationen zur Förderung des Lastenrads: https://e-rock.de/info/e-lastenrad-foerde rungen Technische Fragen und rechtliche Fragen zum Lastenrad: https://e-rock.de/info/start/faq Joachim Becker: Jeder Tag Weihnachten. In: Süddeutsche Zeitung (25./26.8.2018), S. 66.

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Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Anforderungen an eine professionelle CSRund Nachhaltigkeitsberichterstattung. In: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020, S. 297–305. Alexandra Hildebrandt: Mobilität und Logistik: Richtige Wege, die nicht aufs Abstellgleis führen. Amazon Media EU S.à r.l., Kindle Edition 2017. Norbert Höfler: Die neuen Lieferketten. In: stern (16.4.2020), S. 36–39. Lia Nordmann: Umkämpfte Produktionsmittel. In: Philosophie Magazin 2 (2022), S. 8. Ilona Koglin und Marek Rohde: Und jetzt retten wir die Welt: Wie du die Veränderung wirst, die du dir wünschst. Kosmos Verlag, Stuttgart, 2020. Alexander Kühn: Kommt Zeit, kommt Rad. Das Erfolgsgeheimnis des dänischen Lastenfahrrads. In: DER SPIEGEL 4 (19.1.2019), S. 66–67. Felix Reek: Unterwegs in der Badewanne. In: Süddeutsche Zeitung (12./13.9.2020), S. 45. Andreas Remien: Kinder, Käse, Kübelpflanze. In: Süddeutsche Zeitung (23./24.5.2020), S. 46. Nina Pauer: Der große Raum der Freiheit. Überall Mütter auf Lastenrädern – was sagt uns das? Und warum bloß sind so viele Menschen genervt von ihnen? In: DIE ZEIT Nr. 53 (22.12.2021), S. 56. Marco Völklein: Die schaffen was weg. In: Süddeutsche Zeitung (6./7.11.2021), S. 49. Marco Völklein: Zuschuss fürs Lastenrad. In: Süddeutsche Zeitung (6./7.11.2021), S. 49.

Citybikes Cityräder werden vor allem für angenehmes Vorankommen in der Stadt und auf befestigten Radwegen genutzt sowie für Kurz- und Mittelstrecken. Sie sind meist Tiefeinsteiger und haben einen breiten, oft gefederten Sattel und einen hochgestellten Lenker. Ausgestattet sind sie meistens mit Schutzblechen, Gepäckträgern und Lichtanlage.

Cyclocross Der Begriff »Cyclocross« bezeichnet in seiner ursprünglichen Form das Querfeldeinrennen als eine Disziplin des Radsports. Das Fahrrad dafür vereint die Geschwindigkeit und Leichtigkeit eines Rennrads mit der Robustheit eines Mountainbikes. Es hat grobprofilige, aber schnelle Reifen, eine ähnliche Rahmengeometrie wie das Rennrad, keine Federung, einen gekröpften Rennradlenker und eine Einfach-Schaltung. Es wird auf der Straße und auf leichtem Gelände genutzt. Im Herbst und Winter ist es das optimale Übergangsrad für den Rennradsport.

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Dreiräder Gemeint ist hier nicht das traditionelle kleine Dreirad für Kinder, sondern ein Modell, mit dem vor allem körperlich beeinträchtigte Menschen mobil bleiben können. Im Stand ist ein  sicheres Aufsitzen ohne die Gefahr  des Umfallens gewährleistet, auch bei langsamer Fahrt bewährt sich ein Dreirad durch hohe Stabilität. Modelle mit Elektromotor unterstützen, wenn die Muskelkraft nicht mehr ausreicht. Neben Schwimmen gibt es kaum eine gelenkschonendere körperliche Betätigung als das Radfahren, wobei auch das Herz- und Kreislaufsystem gestärkt wird. Menschen, die sich ansonsten unsicher auf dem Rad fühlen oder sich längere Strecken nicht mehr zutrauen, werden so wieder sicher und mit Spaß in Bewegung gebracht. Auf dem Markt sind unterschiedliche Modelle mit hoher oder tieferer Sitzposition, zwei Rädern hinten oder vorne (um einen besseren Überblick über die Breite zu haben), Sitzflächen statt schmalen Satteln. Allerdings sind Dreiräder recht sperrig und benötigen mehr Platz sowohl im Straßenverkehr als auch beim Abstellen. Angeboten werden auch Stützräder, die an herkömmlichen Fahrrädern nachträglich montiert werden können, aber natürlich nicht über die Stabilität der Dreiradmodelle verfügen.

E-Bikes Die meisten aller angebotenen E-Bikes sind genau genommen Pedelecs (s. u.). Reine E-Bikes hingegen fahren per Knopfdruck auch ohne Pedalunterstützung und sind ab 6 km/h zulassungspflichtig. Die meisten Modelle haben einen Mittelmotor, der im Tretlager positioniert ist. Frontmotoren befinden sich an der Vorderradnabe, Heckmotoren im Hinterrad. Das E-Bike ist der Turbo der Fahrradbranche – dies führte auch zu einem Revival des Fachhandels. Mittlerweile sind etwa 40 Prozent aller verkauften Räder in Deutschland E-Bikes. Der Markt reagiert darauf mit einer Vielzahl unterschiedlicher Modelle. Aber wie umweltfreundlich sind sie? Die Herstellung von Akkus für die Pedelecs verbraucht Energie und verursacht Treibhausgasemissionen. In den meisten Fällen werden Lithium-Ionen verbaut, die unter anderem Kobalt, Nickel, Kupfer und Aluminium enthalten. Diese Stoffe sind selten, schwer zu entsorgen und können bei der Herstellung sowie der Entsorgung die Umwelt schädigen. E-Bikes können schnell verschleißen, weil sie über längere Strecken gefahren und deshalb stärker beansprucht werden. Das traditionelle Fahrrad schneidet deshalb bei der Klimabilanz besser ab. Im direkten Vergleich der Ökobilanzen sind Zweiräder dem Auto allerdings weit überlegen. 15,6 Kilo CO2

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verursacht ein Diesel durchschnittlich auf 100 Kilometer (ein Benziner 17,7 Kilo). Mit dem Pedelec hat man nach den ersten 150 Kilometern Fahrstrecke das Auto ökologisch überholt. Der Wert verbessert sich nochmals, wenn der Strom für die Batterieladung aus regenerativen Quellen kommt. Auch beim Feinstaub und den gesundheitlichen Stickoxiden gewinnt das Pedelec.

Falträder Faltbare Räder sind platzsparend, praktisch und leichter als herkömmliche Fahrräder. Sie können als E-Bike-Variante oder auch ohne elektrischen Motor gekauft werden und eignen sich besonders für Kurzstrecken. Das Faltrad gilt (zumindest im zusammengefalteten Zustand) als normales Gepäckstück und kann während der Sperrzeiten in der Bahn mitgenommen werden – ohne dass ein zusätzliches Fahrradticket gelöst werden muss. Das klassische Klapprad erlebt gerade ein nostalgisches Revival: So werden im Unternehmen »Klapprad-Manufaktur« (Mittweida) Falträder aus originalen DDR-Klapprahmen aufbereitet, indem jedes Rad ein neues Tretlager erhält und sämtliche Anbauteile durch hochwertige Komponenten ersetzt werden.

Fatbikes Das Fatbike wurde in den 1980er-Jahren in Alaska entwickelt und ist seither immer populärer geworden. Sein ursprüngliches Terrain ist der Fels, der Sand und der Schnee. Spötter nennen es »Motorrad für Arme«, weil diese Mountainbikes mit motorraddicken Reifen bestückt sind. Sie unterliegen dem Hipster-Leitsatz »Weniger ist mehr«. Gefahren wird es vor allem von erfahrenen Mountainbikern.

Fixies Fixies haben, im Unterschied zu Singlespeed-Bikes, keinen Freilauf in der Nabe. Dadurch entsteht ein starrer Gang (engl. fixed gear), der dafür sorgt, dass sich Kurbel und Pedale über die Kette verbunden ohne Freilauf immer mitdrehen. Sie haben eine schmale Bereifung und einen sportlichen Rahmen, das Bremsen erfolgt per Gegendruck auf die Pedale (sog. Skidden). Damit sind sie für den normalen Straßenverkehr nicht zugelassen.

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Gravelbikes Gravel-Bikes (gravel, engl. für Schotter) sind geländegängige Rennräder mit Reifen, die zwischen 32 und 47 Millimeter breit sind. Angesiedelt sind sie zwischen dem Crossrad und Marathon-Rennrad. Es ist das schnellste und leichteste Fahrrad, mit dem auf verschiedenen Untergründen gefahren werden kann. Das geringe Gewicht ermöglicht es auch, es mit auf Reisen zu nehmen. Mit den »Breitreifen-Rennrädern« sind Strecken befahrbar, die mit einem normalen Rennrad nicht möglich wären. Gravelbikes funktionieren auf jedem Untergrund. Die meisten Gravelbikes haben in der Regel eine Komfort-Geometrie als Rahmenbasis (kurzes Oberrohr und ein langes Steuerrohr. Es ist vor allem für sportliche Fahrer:innen geeignet, die auch jenseits des Asphalts gern unterwegs sind. Die Sitzposition ist aufrechter als bei einem normalen Rennrad. Das Oberrohr ist kürzer und das Steuerrohr länger. Daraus ergibt sich eine entspanntere Haltung. Die besondere Rahmengeometrie ist gestreckter ausgelegt, was das Fahrerlebnis verbessert.

Handbike Das Handbike (auch Handcycle) ist eine Art Liegerad, das allein durch die Arme angetrieben wird. Es gibt zwei Grundtypen: das Adaptivbike, das an viele handelsübliche Rollstühle montiert werden kann und sich für den Alltagsgebrauch und für mittellange Touren eignet, und das reine Rennbike, das gerne für schnellere, sportliche Fahrten genutzt wird. Die Sitz- bzw. Liegeposition ist dabei nach hinten geneigt. Statt eines Sattels verfügt das Handbike über einen Netz- oder Schalensitz. 1983 wurden in den USA die ersten modernen Handbikes angefertigt.

Hollandräder In die Niederlande wurden anfangs nur Räder aus England, Frankreich und Deutschland importiert. Eine eigene niederländische Fahrradproduktion begann erst 1869. Dabei lehnten sich die produzierten Fahrräder an englische Vorbilder an. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts begannen dann die Hersteller, in der Rahmenform spezifisch niederländische Merkmale zu integrieren, kennzeichnend ist z. B. eine aufrechte Sitzposition und ein geschlossener Kettenschutz. Hollandräder haben einen stabilen Rahmenbau und sind meistens Tiefeinsteiger. Sie eignen sich für Stadtfahrten sowie für Kurz- und Mittelstrecken. In vielen nordeuropäischen Fahrradstädten wird das Hollandrad vor allem an

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Touristen verliehen, womit eine entspannte Stadtrundfahrt ohne sportlichen Ehrgeiz möglich ist.

Kinderräder Die Zahl der Hersteller ist mindestens genauso groß wie die Auswahl an Modellen. Beim Kauf sollten die Kinder anwesend sein, damit die Größe stimmt und das Rad später nicht umgetauscht werden muss. Die Hersteller geben immer an, für welches Alter und für welche Größe ein Rad geeignet ist – das ist eine gute Orientierung. Es ist vor allem darauf zu achten, dass Vorbau und Lenker keine scharfkantigen Ecken aufweisen, auch ein geschlossener Kettenkasten ist wichtig. Von Stützrädern wird inzwischen abgeraten, weil Kinder dadurch nicht lernen, ihr Gleichgewicht zu halten. Zudem können sie an seitlichen Hindernissen hängenbleiben und leichter stürzen. Das Rad sollte ab einem gewissen Kindesalter straßentauglich sein.

Liegeräder Ende des 19. Jahrhunderts war der Kettenantrieb im Fahrradbau sehr populär und viele Erfinder setzten zahlreiche Varianten dieses Konzepts um. 1893 gehörten auch die ersten Vorläufer des Liegerads dazu, das französische Fauteuil-Velociped. Liegeräder sind heute als Zwei- oder Dreirad erhältlich. Sie haben eine schmale Bereifung, die Sitz- bzw. Liegeposition ist nach hinten geneigt. Tretlager und Pedale sind vorne angebracht. Bei gesundheitlichen Problemen ist es eine Alternative zu einem normalen Fahrrad. Es kann aber auch für sportliche Touren auf Asphalt, für Wettkämpfe sowie für lange Radausfahrten genutzt werden.

Mountainbikes (MTB) Es handelt sich um meist vollgefederte Modelle, die mit 120 bis 140 mm Federweg auch für anspruchsvolles Gelände geeignet und dabei mit alltagstauglicher Ausstattung auf Touren aller Art zugeschnitten sind. Meistens basieren diese Bikes auf echten, hochwertigen MTB-Rahmen, die hohe Stabilität und lange Haltbarkeit garantieren.7

7 https://www.fahrrad-rat.de/rahmenbau-typen.html

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Pedelecs Der Elektromotor unterstützt hier nur dann, wenn in die Pedale getreten wird. Pedelecs verfügen über eine Traktionsbatterie, eine Steuerelektronik für den Motor (darf maximal 250 Watt haben) sowie einen Sensor für die Kurbelbewegungserkennung. Da die Pedalunterstützung nur bis 25 km/h erfolgt, gelten Pedelecs als Fahrrad und sind nicht zulassungspflichtig. Pedelecs eignen sich besonders für die Arbeit (Postzustellung, Polizei, Firmenfuhrparks, Pendler), für touristische Nutzung (Verleihstationen an Bahnhöfen, in Ferien- oder Kurorten, für längere Touren) und für gesundheitlich beeinträchtigte Personen. S-Pedelecs gelten rechtlich nicht als Fahrräder, sondern als Kleinkrafträder (d. h. sie sind zulassungspflichtig und es besteht Helmpflicht). S-Pedelecs bieten Motorunterstützung bis zu einer Geschwindigkeit von 45 km/h (statt 25 km/h).

Reiseräder Reiseräder sind robuste Variationen aus Touren- und Trekkingrädern. Sie sind speziell für die Bedürfnisse von Radreisenden konzipiert und können selbst mit über 50 bis 75 kg Gepäck noch sicher gefahren und gebremst werden. Wegen der größeren Belastbarkeit haben sie eine andere Rahmengeometrie mit stabileren Materialien und dickeren Rahmenrohren. Ein Reiserad-Hersteller wirbt mit dem Slogan »Räder für Velosophen«.

Trekkingräder Trekkingräder werden auch All Terrain Bike genannt. Sie sind vielseitig, robust und schließen die Lücke zwischen dem klassischen Straßenfahrrad und einem Mountainbike. Der Prototyp des Tourenrads hat einen klassischen, rautenförmigen Diamantrahmen, 28-Zoll-Reifen, eine Kettenschaltung, griffige Vorderund Hinterradbremsen und einen guten Gepäckträger. Die Reifenwahl richtet sich nach dem bevorzugten Untergrund (weniger Profil für Asphalt, gröberes für Schotter, Stollen für Offroadfahrer). Viele Trekkingräder verwenden Titan als Rahmenmaterial, das aber wegen seiner energieintensiven Herstellung nicht den besten Ruf hat. Einige Hersteller werben allerdings mit der langen Lebensdauer, denn ein solcher Rahmen hält Jahrzehnte.

Urbanbikes Urbanbikes sind die passenden Räder für den Alltag. Trotz ihrer Sportlichkeit erfüllen sie die volle Funktionalität für die Anforderungen in der Stadt. Sie

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haben ein geringes Gesamtgewicht, eine agile Geometrie und leichte Laufräder. Dadurch lassen sie sich leicht beschleunigen und dynamisch durch das Großstadt-Gedränge bewegen. Das Spektrum reicht vom klassischen Tiefeinsteiger-Rad über minimalistische und aufwändige Bikes bis hin zu robusten Rädern an der Schwelle zum Transportfahrrad. Wer ein solches Rad sucht, sollte vor allem die Wege betrachten, die damit zurückgelegt werden. Auch Länge, Beschaffenheit und Verkehrssituation und Einsatzzweck spielen dabei eine wichtige Rolle. Wer schnell und sicher zur Arbeit möchte, greift am besten zu minimalistischen Urbanbikes. Weiterführende Informationen: Fahrradtypen Übersicht: https://www.fahrrad-xxl.de/beratung/fahrrad/typen/#Gelände Faltbare Räder – Fahrrad-Origami nur in unkompliziert: https://www.lifeverde.de/nach haltigkeitsmagazin/news-tipps/faltbare-raeder-fahrrad-origamie-nur-in-unkompliziert Nachhaltig unterwegs: Fahrradtypen und ihre Einsatzgebiete im Überblick: https://dralex andrahildebrandt.blogspot.com/2022/03/nachhaltig-unterwegs-fahrradtypen-und. html Warum E-Bikes immer beliebter werden: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/ 2020/11/warum-e-bikes-immer-beliebter-werden.html Gravelbikes im Test: Offroad https://www.radsport-rennrad.de/gravel/gravelbiketest-2020/ Joachim Göres: Große Freiheit auf drei Rädern. In: Süddeutsche Zeitung (8./9.5.2022), S. 46. Alexandra Kraft: Fahrrad, E-Bike oder Bus und Bahn? In: stern (30.9.2021), S. 80. Dominik Prantl und Hans Gasser: Radler, Typen, Velosophen. In: Süddeutsche Zeitung (13.10.2016), S. 37. Andreas Remien: Abgeschaltet. In: Süddeutsche Zeitung (17./18.4.2021), S. 46. Andreas Remien und Marko Völklein: In der Kurbel liegt die Kraft. In: Süddeutsche Zeitung (online: 19.03.2019) Marco Völklein: Aus dem Akku kommt die Kraft. In: Süddeutsche Zeitung (30./31.10.2021), S. 46. Marco Völklein: E-Bike mit eingebautem Ohrwurm. In: Süddeutsche Zeitung (5./ 6.3.2022), S. 55.

Mosaiksteine zur Mobilitätswende: Welche Rolle spielen E-Scooter?  107 

Mosaiksteine zur Mobilitätswende: Welche Rolle spielen E-Scooter?

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber E-Scooter sind in Form von sogenannten Elektrokleinstfahrzeugen erst seit 2019 auf deutschen Straßen unterwegs. Im Fokus steht hier vor allem das Ausleihen und die kurzfristige Nutzung von Produkten, die man selbst nicht besitzt oder besitzen möchte. Das schont nicht nur Umwelt und Ressourcen, sondern sorgt dafür, dass Produkte intensiver genutzt werden. Die Share Economy beschreibt das systematische Ausleihen beziehungsweise das gegenseitige Bereitstellen von Produkten und Flächen. Durch die Digitalisierung erlebte diese Entwicklung einen rasanten Aufschwung und gewann in den letzten Jahren an ökonomischer Bedeutung. »Sharing is caring« (dt. Wer teilt, hilft allen) wurde auch 2019 verheißungsvoll propagiert und die Vorteile aufgelistet: geringe Nutzungsgebühr, keine Anschaffungskosten, kein Equipment. Jederzeit kann einfach losgefahren werden. Die meisten Angebote – 100.000 Stück fahren davon durch Deutschland – funktionieren nach dem Prinzip des »free-floating« und können überall abgestellt werden. Die jeweiligen Betreiber, die Namen tragen wie Voi, Bird, Bolt, Lime oder Tier, kümmern sich ums Laden, Warten und die Instandhaltung. Auch wenn die E-Scooter als Ergänzung zum öffentlichen Verkehr gedacht waren, werden viele nur als Spaß- und Freizeitinstrument genutzt. Vor allem die einfache Handhabung – das Abstellen an dem Ort, wo der E-Scooter nicht mehr benötigt wird – erregt mittlerweile die Gemüter und sorgt an vielen Stellen für großen Ärger. Viele E-Scooter werden falsch geparkt und liegen dann an Ort und Stelle herum. Teilweise landen sie sogar in Flüssen, wo sie aufwändig geborgen werden müssen. Hinzu kommt, dass die Anbieter die Akkus regelmäßig einsammeln müssen – dafür sind Autofahrten erforderlich (nicht selten mit einem Verbrenner). Es fehlt an der notwendigen Infrastruktur: Wie bei Fahrrädern sollten auch E-Scooter fest installierte Lade- und Abstellpunkte haben. Aber auch wenn ein Fahrzeug allein keinen Beitrag zur Verkehrswende leisten kann, so ist der E-Scooter dennoch ein wichtiger Baustein in der öko-

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logischen Transformation. »Wenn Menschen sich an viele verfügbare E-Bikes, an Lasten-Pedelecs und Scooter im öffentlichen Raum gewöhnen, wird ein Umdenken einsetzen.« (Uwe Schneidewind)

E-Scooter in Nürnberg (Foto: Dr. Alexandra Hildebrandt)

Weiterführende Informationen: Mikromobilität – Hype oder schon bald Alltag?: https://www.dlr.de/content/de/artikel/ news/2020/04/20201130_mikromobilitaet-hype-oder-schon-bald-alltag.html Mit dem Service der Deutschen Bahn kann man in vielen Städten günstig ein Rad ausleihen: www.callabike-interaktiv.de Green Moves Abo-Räder: https://www.green-moves.de Jonas Weyrosta: E-Scooter – Roller rückwärts. In: DIE ZEIT (31.3.2022), S. 22.

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Wie nachhaltig sind Produkte rund ums Rad? – Eine kleine Warenkunde

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Wer sein Leben nachhaltig ausrichtet, wird leider häufig an 100 Prozent gemessen – doch es ist nicht möglich, hundertprozentig ökologisch zu leben. Wichtiger ist es, anzufangen und dort ökologisch zu handeln, wo es im eigenen Rahmen möglich ist. Auch auf diese Weise kommt eine nachhaltige Gesellschaft »in die Gänge«. Das Fahrrad steht dafür auch symbolisch, denn das komplett nachhaltige Rad gibt es bislang noch nicht. Abgesehen von wenigen Ausnahmen findet die Entwicklung und Endfertigung von Fahrrädern zwar in Deutschland statt – doch stammen Rahmen, Bremsen oder Schaltung fast immer aus Ländern wie Taiwan oder Japan. In der Regel umrunden die Materialien bereits mehrfach unseren Planeten, bevor sie im Werk zusammengesetzt werden. Dennoch ist das Fahrrad ein nachhaltiges Verkehrsmittel – gerade dann, wenn es ein Auto ersetzt. Wenn es um Nachhaltigkeitsaspekte rund ums Rad geht, ist es empfehlenswert, sich an höchstmöglichen Standards zu orientieren, die an ökologische Produkte angelegt werden. Relevant sind dabei die verwendeten Materialien, eine ressourceneffiziente Herstellung, eine sparsame und recyclingfähige Verpackung oder die Recyclingfähigkeit bzw. problemlose Rückführung des Produktes in natürliche Kreisläufe. Der folgende Überblick zeigt, welche nachhaltigen Angebote und Hersteller es im Radbereich gibt – und was sich von ihren Produkten erwarten lässt. Fahrradanhänger Anhänger für das Fahrrad sind praktisch für längere Touren, Tagesausflüge oder größere Besorgungen. Sie bieten genügend Bewegungsfreiheit für die Fahrer:innen und ausreichend Platz für Gepäck. Wer auch bei längeren Radtouren nicht auf den besten Freund des Menschen verzichten möchte, hat eine große Auswahl an speziellen Hundefahrradanhägern. Anders als bei Fahrradtaschen befindet sich das zusätzliche Gewicht nicht direkt am Fahrrad. Die meisten Modelle sind mit einer Universalkupplung ausgestattet, die an fast jedem Fahr-

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rad befestigt werden kann. Für mehr Sicherheit sorgen die Felgenreflektoren. Werden Fahrradanhänger nicht benötigt, können die Räder, die Anhängerkupplung und die Transportbox einfach demontiert und vielfach flach zusammengelegt werden. Zudem wird in der Regel ein abnehmbares Verdeck zum Schutz vor Wind und Wetter mitgeliefert. Gemäß Straßenverkehrs-ZulassungsOrdnung (StVZO) müssen Fahrradanhänger über ein Rücklicht verfügen, um für den Straßenverkehr zugelassen zu sein. Allerdings fanden englische Wissenschaftler vom Global Centre for Clean Air Research (GCARE) der Universität Surrey in einer im Februar 2022 veröffentlichten Studie heraus, dass Kinder im Fahrradanhänger einer um 14 Prozent höheren Konzentration grober Luftverschmutzungspartikel ausgesetzt sind als ihre Eltern in Fahrerhöhe. Deshalb ist es wichtig, bei starkem Verkehr Kinder im Fahrradanhänger durch Abdeckungen vor Schadstoffen zu schützen. Diese Abdeckungen reduzieren den Gehalt an feinen Partikeln in Anhängern während der Stoßzeiten am Morgen auf die Hälfte. Weiterführende Informationen: Fahrradanhänger im Test: https://www.mtb-news.de/news/tfk-velo-2-fahrradanhaengerim-test/ Hundefahrradanhänger im Test: https://www.zweiradkraft.com/hundeanhaenger-test/ Im Fahrradanhänger höhere Schadstoffbelastungen als auf dem Fahrrad: https://www. nwzonline.de/gesundheit/oldenburg-im-fahrradanhaenger-hoehere-schadstoffbelas tungen-als-auf-dem-fahrrad_a_51,7,2169231176.html# Minicaravan fürs emissionsfreie Zelten: https://www.stern.de/auto/service/der-fahr rad-wohnwagen-zum-selberziehen-8153204.html (Abruf: 02.08.22)

Fahrradbekleidung AGU (Alkmaarse Groothandels Unie) aus den Niederlanden ist seit mehr als 50 Jahren im Bereich Fahrradbekleidung tätig. Das Unternehmen legt großen Wert auf eine ethische Produktion in Heimatnähe, um für den Transport so wenig CO2 wie möglich auszustoßen. Dazu arbeiten sie unter dem firmeneigenen Greensphere-Label, das den Einsatz von umweltfreundlichen Materialien wie recyceltem Polyester und organischer Baumwolle garantieren soll. Endura verzichtet vollständig auf den Kunststoff PTFE, der lange braucht, um in der freien Natur abgebaut zu werden. Auch PFC hat Endura seit 2018 komplett aus ihren Produkten verbannt. Für das Recycling wurden außerdem alle

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Laminat- und Glanzlacke von Verpackungen und Etiketten entfernt. In einer Kampagne wurden über eine Million Bäume gepflanzt. Die schottische Firma möchte bis 2024 komplett CO2-negativ werden. Engel bietet bereits seit Anfang der 80er-Jahre hochwertige Bekleidung aus Naturfasern, die unter Einhaltung ökologischer Anforderungen gefertigt wird. Im Jahr 2013 entwickelte das Unternehmen einen neuen Stoff aus starken Merinowollfasern in Kombination mit robuster Seide. Es entstand die Marke ENGEL SPORTS, die Kollektionen speziell für den Sport- und Outdoorbereich herstellt. Die Textilien wurden bereits 2015 mit dem Bundespreis ecodesign ausgezeichnet. Die Schafschur wird streng überwacht und erfolgt unter der Einhaltung höchster Tierschutzrichtlinien, z. B. unter Verzicht auf das schmerzhafte Mulesing-Verfahren, das üblicherweise zur Vermeidung von Madenbefall auf der Schafshaut eingesetzt wird. Engel ist nicht nur Gründungsmitglied des Internationalen Verbands der Naturtextilwirtschaft IVN, sondern auch Mitinitiator des weltweit anerkannten Textilstandards GOTS, der hohe Anforderungen entlang der gesamten Produktionskette stellt. So achtet das Unternehmen selbst auf die Einhaltung strenger ökologischer und sozialer Standards wie die Veredelung der Materialien mit gesundheitlich und ökologisch unbedenklichen Farben. Fertigung und Konfektionierung der Produkte erfolgen direkt am Hauptstandort in Pfullingen oder anderen deutschen Betrieben. Icebreaker bietet funktionale und nachhaltige Outdoor-Bekleidung aus Merinowolle an. Damit auch die Schafzüchter vom ökologischen und sozialen Engagement des neuseeländischen Unternehmens profitieren, werden nach eigenen Angaben langfristige Verträge abgeschlossen. Isadore aus der Slowakei bietet eine große Auswahl an Radbekleidung sowohl aus recycelten Materialien als auch aus Merinowolle. Für die Herstellung wird auf lokale Partner aus Europa gesetzt. Auch werden alle Produkte nach Oeko-Texund bluesign-Standards produziert. Zusätzlich wird ein Trikot-Miet- und -Reparatur-Service angeboten, wobei alle Verpackungen biologisch abbaubar sind. Local Outerwear aus Freiburg setzt seit seiner Gründung im Jahr 2010 auf eine nachhaltige und faire Herstellung von Fahrradbekleidung. Die Stoffe sind Oeko-Tex-zertifiziert und stammen ausschließlich aus der EU. Selbst Muster und Reststoffmengen werden noch zu Accessoires verarbeitet. Der Versand erfolgt klimaneutral mit DHL. Schöffel ist seit 2011 Mitglied der Fair Wear Foundation (FWF), deren Mitglieder sich verpflichtet haben, faire Produktionsbedingungen umzusetzen (neben

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Europa produziert das Traditionsunternehmen auch in Asien und Afrika). Alle Produkte sind frei von PFC und werden klimaneutral unter Verwendung von 100 % recycelter oder recycelbarer Materialien versendet. Um diese Entwicklung einer umweltfreundlichen Paketzustellung noch weiterzuverfolgen, engagiert sich Schöffel mit dem Projekt »VerPlaPos« für die Beobachtung von Verbraucherreaktionen bei Plastik und dessen Vermeidungsmöglichkeiten im Verkauf. Selbst aus recycelten PET-Flaschen oder aus den Abfällen von Kaffeesatz produziert Schöffel im technischen Faserverbund Stoffe, die später als Grundlage für nachhaltige Fahrradbekleidung dienen. Der Outdoorausrüster VAUDE kontrolliert mit dem eigenen Nachhaltigkeitslabel Green Shape die Materialien für die spätere Fahrradbekleidung auf Umweltfreundlichkeit und bedenkliche Substanzen. Green Shape ist außerdem durch den Grünen Knopf (dem staatlichen Siegel für nachhaltige Produktion, faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen) und die Fair Wear Foundation zertifiziert. Verstärkt setzt das Unternehmen auf Hanf und Bio-Baumwolle. Bei den Produkten setzt die Marke verstärkt auf Recycling- und Naturmaterialien als Alternative zu erdölbasiertem Material. Seit 2022 ist VAUDE mit all seinen Produkten weltweit klimaneutral. Produziert wird unter Berücksichtigung strengster Anforderungen im eigenen Unternehmen oder aber in zertifizierten Produktionsstätten, die sich im baden-württembergischen Tettnang, Europa und Asien befinden. Weiterführende Informationen: Nachhaltige Fahrradbekleidung für jedes Wetter: https://www.lifeverde.de/nachhaltigkeitsmagazin/news-tipps/nachhaltige-fahrradbekleidung-fuer-jedes-wetter Wie nachhaltig ist mein T-Shirt?: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2020/07/ wie-nachhaltig-ist-mein-t-shirt.html Verantwortung in der Lieferkette: Warum der Grüne Knopf mehr als ein Textilsiegel ist: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2021/02/verantwortung-in-der-lieferkette-warum.html Die DNA der Natur nutzen: Warum die Textilbranche zunehmend auf nachhaltige Materialien setzt: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2019/09/die-dna-der-naturnutzen-warum-die.html Wie nachhaltig ist die Nutzpflanze Hanf?: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/ 2021/04/wie-nachhaltig-ist-die-nutzpflanze-hanf.html

Wie nachhaltig sind Produkte rund ums Rad? – Eine kleine Warenkunde  113 

Fahrradgriffe Fahrradgriffe werden in der Regel aus preiswerten Gummimischungen ge­ fertigt. Die darin enthaltenen Weichmacher lösen sich mit der Zeit durch Umwelteinflüsse aus dem Material, welches dadurch klebrig wird. Plastikgriffe, die einfach auf die Lenker aufgesteckt sind, sind nicht zu empfehlen, denn sie lassen sich schwierig auswechseln. Ein Griff sollte sich am Lenker verschrauben lassen. Einige werden direkt verschraubt, andere mit einem sogenannten Verschlussring befestigt. Beide Systeme sind gut, weil sie den Griff sicher halten und sich im Bedarfsfall leicht wieder lösen lassen. Schwieriger ist dagegen die Entscheidung für eine Griffform. Die meisten kommen mit den klassischen runden Griffe gut zurecht. Allerdings können sie vor allem an geraden Lenkern dazu führen, dass der Karpaltunnel des Handgelenkes abgeklemmt wird. Gerade bei langen Fahrten kann dies zu Reizungen des Mittelnervs führen. Eine Alternative sind ergonomische Griffe, die eine ausgeprägte flache Auflagefläche für die Hand haben. Das verteilt den Druck auf die Hände besser und verhindert das Abknicken des Handgelenks. Griffe sollten bei einem Händler gekauft werden, bei dem man probefahren kann. Auch die Frage nach dem Hörnchen (die kurzen Stummel aus Metall oder Kunststoff, die an den Lenkerenden befestigt sind und heute Bar-Ends genannt werden) ist entscheidend. Sie ermöglichen mehr Griffpositionen. Zudem lassen sie sich weit nach vorne drehen, so dass auf diese Weise zwischen bequemer und sportlicher Sitzposition gewechselt werden kann. Beim Kauf sollte man darauf achten, dass die Hörnchen nicht fest mit dem Griff verbunden, sondern separat einstellbar sind. Griffe aus weichem Schaumstoff sollten gemieden werden. Sie sind in der Regel nur gesteckt und nicht geschraubt, außerdem nehmen sie bei Regen Wasser auf und der Schaumstoff zerbröselt leicht. Das Start-up Personomic verwendet hochwertiges Silikon, das nach Unternehmensangaben wesentlich abriebfester und resistent gegen Verkleben ist. Durch die Fertigung mit 3 D-Druck wird die Griffoberfläche stets individuell gestaltet. Besonders angenehm sind Griffe aus Kork, gerade bei besonders kaltem oder warmem Wetter. Das Material dämpft gut und fühlt sich auf der Haut besser an als Gummi. Allerdings sind sie etwas teurer und verschleißen geringfügig schneller als Gummigriffe. Auch Ledergriffe vermitteln ein angenehmes haptisches Gefühl. Anders als früher ist das Leder mittlerweile so imprägniert, dass es auch Regengüsse und Schweiß verträgt. Die Lebensdauer eines Gum-

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migriffs erreichen Ledergriffe allerdings nicht. Sehr wertig kommen polierte, geölte und wetterfeste Nussbaum-Holzgriffe daher. Mit einer patentierten Federung entlasten sie die Handgelenke, wofür ihr Erfinder – der Schreiner und Radler Klaus Mildenberger – schon mehrfach ausgezeichnet wurde. Die Velospring-Griffe sind für jeden Lenker geeignet, bequem und langlebig. Weiterführende Informationen: Ralf Neukirch: Gut Holz. Der richtige Fahrradgriff. In: Spiegel online (16.6.2018): https:// www.spiegel.de/auto/fahrkultur/der-richtige-fahrradgriff-eine-wichtige-entschei dung-blog-radel-verpflichtet-a-1212675.html Personomic: Maßgefertigte Fahrradgriff aus dem 3  D-Drucker: https://3  druck.com/ case-studies/personomic-fahrradgriff-3d-drucker-57102828/ Elisa Holz: Münchens Fahrrad-Kreative. In: Süddeutsche Zeitung (30.4.2021), S. 3.

Fahrradhelme In Deutschland gibt es zwar keine Helmpflicht, doch ist unbestritten, dass Fahrradhelme Kopfverletzungen bei Stürzen und Unfällen verhindern. Alle Helme, die hier zugelassen sind, müssen bestimmte Sicherheitsstandards erfüllen, bevor sie auf den Markt kommen. Es gibt smarte, massive, luxuriöse oder schlichte Fahrradhelme. Nachhaltige Helm-Alternativen sind allerdings schwer zu finden. Das Problem am herkömmlichen Helm ist das Styropor – es wird sehr energieintensiv hergestellt und lässt sich nicht zersetzen oder abbauen. Häufig sind sie aus Kunststoff und haben Plastikvisiere. In Schweden wurden schon nachhaltige Alternativen entwickelt: ein Helm aus natürlichen Rohstoffen, wie Holz, Zellulose-Schaum und Papier oder der Airbag-Fahrradhelm Hövding. Dieser wird mit Batterie betrieben, die nach 14 bis 16 Stunden wieder geladen werden muss. Auch ist der Airbag nur ein einziges Mal anwendbar. Der Holzhelm von Cellutech ist mit abbaubaren Zellulose-Schaum gefüttert. Er wurde 2015 für das Projekt »Ekoportal2035« entwickelt, ist jedoch noch nicht auf dem Markt erhältlich. Auch in den USA wurden Alternativen entwickelt. Das Start-up Coyle Tree Pieces stellt beispielsweise Helme aus Holzabfällen her und polstert diese mit Kork. Allerdings haben diese Helme einen langen Transportweg nach Europa. Eine weitere Alternative aus New York ist der faltbare Helm Eco Helmet aus Papier, der komplett recyclebar ist. Durch eine besondere Falttechnik schützt er den Kopf und ist dazu noch praktisch zum Transportieren. Die Helme von Urge, einem französischen Unternehmen,

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bestehen ebenfalls aus recyceltem Material, ohne gesundheitsschädliches Carbon Produziert werden sie allerdings in China. Weiterführende Informationen: Auf der Suche nach nachhaltigen Fahrradhelmen: https://www.lifeverde.de/nachhaltig keitsmagazin/gesellschaft/auf-der-suche-nach-nachhaltigen-fahrradhelmen

Fahrradrahmen Konventionelle Fahrradrahmen werden zum größten Teil in Asien hergestellt. Ein Rahmen legt hierbei mit dem Flugzeug oder dem Schiff einen Weg von mehr als 15.000 km zurück. Die Verwendung des ursprünglichen Werkstoffs Stahl begünstigt vor allem die Materialrückführung, da sich dieser gegenüber Carbon und Aluminium deutlich besser verarbeiten, reparieren und verwerten lässt. Im Schadensfall kann Stahl als Wertstoff eingeschmolzen werden und erneut verwendet werden. Viele Fahrradunternehmen versuchen dadurch den Produktlebenszyklus zu schließen. Fahrradschläuche Schwalbe produziert hochwertige, lange haltbare Fahrradschläuche aus 100 % recycelbaren Materialien und verfolgt den Ansatz eines nachhaltigen Produkts von der Entwicklung bis zur Entsorgung. Das Unternehmen engagiert sich seit vielen Jahren in diversen gemeinnützigen Projekten, darunter FAIR RUBBER e.V. (Produkte aus fair gehandeltem Naturkautschuk) und GREEN COMPUND (Laufflächen-Gummimischung aus ausschließlich nachwachsenden und recycelbaren Rohstoffen). Näheres wird im Abschnitt »Kreislaufwirtschaft statt Wegwerfprodukt« von Frank Bohle erläutert. Fahrradtaschen Hartmut Ortlieb fragte sich bereits Anfang der 80er-Jahre, warum es keine wasserdichten Radtaschen gibt, schließlich wird die Ware in Lastkraftwagen wird ja auch nicht nass. Also nähte er auf der Nähmaschine seiner Mutter sein erstes Paar Satteltaschen aus Lkw-Plane: So entstand die Firma Ortlieb. Anfangs wurde noch mit richtigen Nähten gearbeitet, die von innen abgeklebt werden mussten, damit kein Wasser eindrang. Inzwischen werden die Nähte nur noch verschweißt. Das Prinzip »wasserdicht« gilt bis heute, außerdem lassen sich die Radtaschen der neuesten Generation ohne Werkzeug auf den Gepäckträger

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anpassen. Produziert wird nach wie vor in Deutschland, der Firmensitz liegt im fränkischen Heilsbronn. Die Wurzeln des Unternehmens CHROME liegen im Fahrradkurier-Bereich. Auch hier wurden die Ur-Exemplare aus LKW-Planen und ausgedienten Autosicherheitsgurten gefertigt. Inzwischen stellt das Unternehmen Taschen, Textilien und Schuhe her. Die meisten Produkte, vor allem Taschen, werden jedoch in Fernost hergestellt. Das 2018 gegründete Düsseldorfer Start-up Valkental produziert eine Kombination aus Fahrradtasche und Rucksack. Die wasserdichte und schmutzfeste Außenhülle ist aus umweltfreundlichem TPU-Material hergestellt –. Die Firma ist Partner des Eden Reforestation Projects, das sich der Aufforstung gemäß dem Motto »Ein Produkt = ein Baum« widmet. Nachhaltige Fahrradtaschen, beispielsweise aus PVC-freiem Planenmaterial, bietet auch FAHRER Berlin (aus recycelten Materialien wie Lkw-Planen) oder der Outdoor-Spezialist VAUDE an, wo sie klimaneutral in Deutschland hergestellt werden. Weiterführende Informationen: Die besten Fahrradtaschen von Vaude, Ortlieb und Co. für Alltag und Radtouren: https://www.t-online.de/ratgeber/id_89526856/die-besten-fahrradtaschen-von-vaudeortlieb-und-co-fuer-alltag-und-radtouren.html Die besten Fahrradtaschen: Die Top-Modelle laut Stiftung Warentest: https://www. chip.de/news/Die-besten-Fahrradtaschen-Die-Top-Modelle-laut-Stiftung-Warentest_184098508.html Karriere dank Kurieren: https://www.lifeverde.de/nachhaltigkeitsmagazin/gruene-wirtschaft/nachhaltige-urbanwear-inspiriert-von-fahrradkurieren

Trinkflaschen Einweg-Flaschen und -Kaffeebecher sind zum Synonym einer verantwortungslosen Gesellschaft geworden. Umso wichtiger sind Mehrweg-Trinkflaschen aus nachhaltigen Materialien wie Glas, Edelstahl oder speziellem Kunststoff ohne bedenkliche Stoffe (etwa Bisphenol A) – am besten gefüllt mit Wasser aus dem heimischen Hahn, was zusätzlich Emissionen einsparen hilft. Allerdings sollten gerade beim Sport die Flaschen vor allem auch leicht und stoßfest sein. Wenn sie nebenbei auch noch gut aussehen, umso besser! Die in Deutschland ansässigen soulbottles werden aus bis zu 80 % Recyclingglas

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mit Bügelverschluss aus Edelstahl, Keramik und fairem Naturkautschuk hergestellt. Das Unternehmen legt laut Eigendarstellung Wert auf faire Arbeitsbedingungen, zudem geht mit jeder verkauften Flasche ein Euro an Trinkwasserprojekte von Viva con Agua de Sankt Pauli e.V. und an die Welthungerhilfe in Nepal. Auch das niederländische Unternehmen dopper sieht sich als positiven Weltveränderer. Die 2010 entstandene Firma produziert eine wiederverwendbare, leicht zu reinigende Trinkflasche, die auch als Becher nutzbar ist. Das Design von Rinke van Remortel erhielt 2013 beim reddot design award eine lobende Erwähnung. Mittlerweile gibt es die Cradle to Cradle-zertifizierten Flaschen in vielen verschiedenen Farben und aus unterschiedlichen Materialien. Gefördert werden beispielsweise Trinkwasserprojekte in Nepal sowie Projekte, um die Aufmerksamkeit für das Problem des Plastikmülls in den Weltmeeren zu wecken und Lösungen dafür zu entwickeln. Fahrrad-Wandhalterungen Auf nachhaltige Rohstoffe für Fahrrad-Wandhalterungen setzt z. B. die Firma BicycleDudes aus Hameln. Die Wandhalterungen sind aus heimischem Holz und handgearbeiteter Qualität ohne Einsatz giftiger Chemikalien. Das Unternehmen gewann 2019 dafür den Bicycle Brand Contest, der jährlich die besten und kreativsten Produkte der Fahrradbranche auszeichnet. Die Fahrrad-Halterungen tragen ein Gewicht bis 20 kg. Für Minimalisten reichen wahrscheinlich auch zwei Holzstäbe und ein paar Schrauben, die in der Wand montiert werden (sog. »Wooden Bike Hook«). Beim Modell der Firma Borgen schützt eine integrierte Gummiauflage vor dem Verrutschen und Zerkratzen des Fahrradrahmens. Artifox setzt dagegen auf vertikale Aufhängung, was diese Lösung insbesondere für ungenutzte Ecken des Raums interessant macht, um zusätzlichen Platz einzusparen. Verbaut ist ein Mix aus Birkenholz und Stahl, der zu 100 Prozent in Deutschland gefertigt wird. Eine starke Gummi-Polsterung sorgt für zusätzlichen Schutz des Rahmens. Weiterführende Informationen: Fahrrad-Wandhalterungen – Praktisch, stylisch, cool: https://www.lifeverde.de/nachhaltig keitsmagazin/news-tipps/fahrrad-wandhalterungen-praktisch-stylisch-cool Wandhalterungen fürs Fahrrad: Wie kann man es richtig aufhängen?: https://www.myho mebook.de/how-to/fahrrad-wandhalterung

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E-Bike und Fahrrad Wandhalterung von funktional bis stylisch: https://ebike-news.de/6fahrrad-und-e-bike-halterungen-von-funktional-bis-stylisch/119078/ Fahrrad-Wandhalterung BicycleDudes: https://www.lifeverde.de/nachhaltigkeitsmagazin/ gruene-wirtschaft/kreativ-und-platzsparend-die-fahrrad-wandhalterungen-vonbicycledudes

Routenplaner und Rad-Computer Die Funktionen von modernen Routenplanern gehen längst über den eigentlichen Einsatz als reines Navigations-Tools hinaus und werden ständig erweitert: Die App Komoot greift auf weltweites Kartenmaterial zurück. Zieleingaben können direkt über die App erledigt werden, für eine detailliertere Navigation ist es mit dem eigenen Computer kompatibel. Gewählt werden kann aus verschiedenen Tourenvorschlägen anderer Nutzer, die auch nach eigenen Wünschen angepasst werden können. Zusätzliche Informationen zu Streckendistanzen, Tempo, Höhenunterschieden und zur Bodenbeschaffenheit sind inbegriffen. Bikemap bietet Offline-Karten, mit denen man sich auch ohne eine mobile Datenverbindung an ein Ziel navigieren lassen kann. Es kann aus einem frei zugänglichen Bereich mit grundlegenden Funktionen gewählt werden – oder einem erweiterten Premium-Bereich, der für 30 Euro jährlich einige spezielle Features bereithält. Aber bereits in der Standard-Version kann aus einer Vielzahl an vorgeschlagenen Touren gewählt werden. Diese lassen sich direkt starten, zwischenspeichern oder extern herunterladen. Naviki bietet Strecken für Rad-Typen jeder Art. Die Nutzung der App und der dazugehörigen Webplattform sind kostenlos, für einzelne Funktionen wie die Sprachausgabe können unter Umständen aber Gebühren anfallen. Naviki plant Strecken, die speziell auf den eigenen Rad-Typ zugeschnitten sind und achtet auf fahrradfreundliche Wege. Für die Routenfindung greift die App allerdings auch auf Adressen aus dem privaten Telefonbuch zurück. Mit Radbonus lassen sich Punkte sammeln, die für geradelte Kilometer bei nachhaltigen und grünen Shops gegen Prämien eingetauscht werden können. Die App Zeopoxa wurde vor allem für sehr ambitionierte Rad-Sportler entwickelt. Die App überprüft auch die Herzfrequenz, das durchschnittliche Tempo, die Menge der verbrannten Kalorien und die Distanz. Zudem können individuelle Trainingsziele gesetzt werden. Gleichzeitig werden persönliche Bestleistungen dokumentiert.

Wie nachhaltig sind Produkte rund ums Rad? – Eine kleine Warenkunde  119 

Der Strava-Routenplaner ist ein Analyse-Tool (z. B. Überprüfung der relativen Leistung während des Fahrradfahrens). Nicht alle Funktionen sind von Beginn an kostenfrei, lassen sich aber über Strava Summit in drei gesonderten Paketen käuflich erwerben. Die Routen können in der App geplant und auf der vorgegebenen Linie abgefahren werden. Integrierte Trainings-Features ermöglichen eine gezielte Vorbereitung für Rad-Wettkämpfe oder auf Langstreckenfahrten. Auch viele Bundesländer und Regionen haben die Zeichen der Zeit erkannt und bieten im Netz und teilweise als App Informationen rund ums Radeln an. Das Bayernnetz für Radler beispielsweise ist ein Radverkehrsnetz des Freistaats Bayern, das aus ca. 125 Radwegen mit einer Gesamtlänge von rund 9.000 km besteht und durchgehend neben dem jeweiligen Routenlogo noch zusätzlich mit dem Logo des Bayernnetzes ausgeschildert ist. Weiterführende Informationen: Diese Outdoor-Apps erleichtern Navigation und Routenplanung: https://www.spiegel. de/netzwelt/apps/wandern-und-radfahren-diese-outdoor-apps-erleichtern-navigationund-routenplanung-a-05a8826a-2b1b-456e-9c2c-d8a1230531c6 Die besten Routenplaner fürs Fahrrad: https://utopia.de/ratgeber/routenplaner-fahrrad/ 6 coole Routenplaner und Navigations-Apps im Test: https://www.lifeverde.de/nach haltigkeitsmagazin/news-tipps/6-coole-routenplaner-und-navigations-apps-im-test Bayernbike: https://www.bayernbike.de/startseite/bayernnetz-fuer-radler.html

GPS Radcomputer bilden eine Alternative zwischen Fahrrad-Navis und gewöhnlichen Tachometern, die Funktionalitäten beider Geräte kombinieren. Sie lassen sich mit Fitness-Apps und Sensoren verbinden und zeichnen gefahrene Strecken zur späteren Auswertung auf. Vor allem für Mountainbiker und Rennradler sind GPS Radcomputer nützlich. Beim Kauf sollte vor allem darauf geachtet werden, dass das Menü logisch und strukturiert aufgebaut ist, dass sich der Radcomputer gut während der Fahrt bedienen lässt, dass sich die Daten bei starker Sonneneinstrahlung oder in der Dunkelheit ablesen und sich die Karten schnell herunterladen lassen. Auch die Nutzdauer und die Laufzeit des Akkus spielen eine wichtige Rolle. Der Ciclosport Protos 213 ist besonders für Einsteiger, Pendler und Hobby-Radsportler geeignet. Über das funkgesteuerte 4-Zeilen-Display lassen sich alle wichtigen Daten auf einen Blick ablesen, darunter Höchst- und Durchschnittsgeschwindigkeit, Kalorienverbrauch und die Fahrtzeit.

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Der GPS Radcomputer Polar M460 stellt Radfahr-Statistiken ausführlich dar. Erweitert wird er mit einer barometrischen Höhenmessung und Echtzeit-Feedback mit motivierenden Visualisierungen. Der GPS Radcomputers Lezyne Mega XL GPS verfügt über ein großes, hintergrundbeleuchtetes Display, auf dem Herz-, Tritt- oder Geschwindigkeitsfrequenz angezeigt werden sowie Telefonanrufe oder Textnachrichten. Dafür kann das Gerät per Bluetooth mit dem Smartphone gekoppelt werden. Der GPS-Chip erfasst exakte Streckendaten und Höhenmeter. Der Bryton GPS Rider 750 E verfügt über einen 2,8 Zoll Touchscreen mit einer intuitiven grafischen Benutzeroberfläche. Die vorinstallierten Karten werden ständig mit Updates aktualisiert. Durch die kabellose Konnektivität kann er mit externen Geräten verbunden werden, und so die auf der Tour gesammelten Daten direkt weitergeben. Der Garmin Edge 530 ist besonders für Mountainbike-Fahrer interessant. Mit der MTB-Downhill-Funktion des GPS Radcomputers lassen sich Grit-, Flowund Sprunganalysen durchführen und mit ClimbPro die Länge des Aufstiegs und bereits bewältigte Höhenmeter dokumentieren. Das 2,6 Zoll-Display ist auch bei Sonneneinstrahlung gut abzulesen und per Tastendruck bedienbar. Die integrierten Satellitensysteme GPS, GLONASS und Galileo liefern zuverlässige Daten über Geschwindigkeit, Distanz oder Belastung. Per Bluetooth-Verbindung können weitere Sensoren gekoppelt werden. Zudem können Benachrichtigungen des Smartphones, Anrufe, Nachrichten und Wetterinfos eingesehen werden. Der Wahoo Fitness ELEMNT Roam GPS versorgt die Nutzer:innen bis zu 17 Stunden lang mit Details (Angaben zur Geschwindigkeit, Herzfrequenz, Leistung oder dem Anteil des Muskelsauerstoffs). Ein Helligkeitssensor steuert die Hintergrundbeleuchtung je nach Wetterverhältnissen, Tages- und Nachtzeit. Mit der Zoom- und Schwenkfunktion des GPS Radcomputers lassen sich Zielpunkte direkt auf der Karte auswählen und als Favoriten speichern, die mit anderen Radfahrern geteilt werden können. Per Bluetooth oder Wifi lassen sich die Daten auch auf das eigene Smartphone übertragen. Der Sigma Sport ROX 12.0 enthält alle OpenStreetMap-Karten inklusive. Mit der Anbindungsmöglichkeit der beiden Routenplaner Komoot und Strava sind noch zusätzlich weitere Routen möglich.

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Weiterführende Informationen: Fahrradcomputer: Für wen lohnt sich welche Preisklasse?: https://www.rnd.de/ e-mobility/fahrradcomputer-oder-tacho-fuer-wen-lohnt-sich-was-Q3TXU B3RVVCGZNYKC2YCBHNTBA.html Fahrradcomputer und Navigationsgeräte für E-Bikes: https://www.imtest.de/140591/ ratgeber/fahrradcomputer-navigationsgerate-modelle-preise-uebersicht/ Alexandra Hildebrandt (Hg.): CSR und Sportmanagement. Jenseits von Sieg und Niederlage: Sport als gesellschaftliche Aufgabe verstehen und umsetzen. SpringerGabler Verlag. Heidelberg, Berlin 2019.

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Die Bedeutung der Lieferkette in der Fahrradbranche

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Komplexe globale Lieferketten machen es Unternehmen besonders schwierig, zuverlässige Informationen über die Tätigkeit ihrer Lieferanten zu erhalten. Ein zuweilen unübersichtliches Geflecht einzelstaatlicher Vorschriften bremst die Fortschritte bei der Übernahme bewährter Verfahren. Auch gibt es für einige Produktbereiche bisher keine allgemein anerkannten Standards hinsichtlich Ökologie und Sozialverträglichkeit über die komplette Lieferkette hinweg. Die persönliche Überprüfung aller beteiligten Hersteller:innen – vom einzelnen Rohstoff, über Bauteile bis hin zum Endprodukt – ist für große und kleine Unternehmen gleichermaßen eine enorme Herausforderung. Vor diesem Hintergrund legte die EU-Kommission am 23. Februar 2022 den Vorschlag für ein europäisches Lieferkettengesetz vor. Damit soll gewährleistet werden, dass der private und öffentliche Sektor der Union auf internationaler Ebene unter uneingeschränkter Achtung ihrer internationalen Verpflichtungen hinsichtlich des Schutzes der Menschenrechte und der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung sowie der internationalen Handelsregeln handelt. Das bedeutet konkret: die Sorgfaltspflicht zum integralen Bestandteil ihrer Unternehmenspolitik machen, tatsächliche oder potenzielle negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt ermitteln, potenzielle Auswirkungen verhindern oder abschwächen, tatsächliche Auswirkungen abstellen oder sie auf ein Minimum reduzieren, ein Beschwerdeverfahren einrichten, die Wirksamkeit der Strategien und Maßnahmen zur Erfüllung der Sorgfaltspflicht kontrollieren und öffentlich über die Wahrnehmung ihrer Sorgfaltspflicht kommunizieren. Dadurch soll ein wirksamerer Schutz der Menschenrechte, die in internationalen Übereinkommen verankert sind, gewährleistet werden. Dieser Vorschlag gilt auch für die Tochtergesellschaften der Unternehmen und die Wertschöpfungsketten (direkt und indirekt bestehende Geschäftsbeziehungen). Anders als das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz sieht der europäische Vorschlag eine zivilrechtliche Haftung bei Verstößen vor (z. B. Geldbußen bei

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Nichteinhaltung). Die neuen EU-Rechtsvorschriften werden für Unternehmen Rechtssicherheit und gleiche Wettbewerbsbedingungen und für Verbraucher und Anleger mehr Transparenz schaffen. Einige Unternehmen sind bereits führend im Bereich nachhaltiger Unternehmenspraxis. Allerdings tun sich auch viele nach wie vor schwer, wenn es darum geht, ihren ökologischen Fußabdruck und ihre Bilanz im Bereich der Menschenrechte zu verstehen und zu verbessern. Hier lohnt ein Blick auf die Nachhaltigkeitsberichte von Öko-Pionieren wie der der memo AG. Zur Vermeidung entsprechender Auswirkungen werden bei diesem Versandhändler folgende Maßnahmen im Rahmen der Sortimentsgestaltung sowie bei der Lieferantenauswahl und ‐beurteilung ergriffen: • Der Lieferant bestätigt seine unternehmerische Verantwortung durch die Unterzeichnung des memo Verhaltenskodex. • Lieferanten innerhalb Deutschlands und Europas werden soweit möglich bevorzugt. • Es wird ein intensiver und partnerschaftlicher Austausch mit den Lieferant:innen sowie ein regelmäßiger Dialog mit Verbänden, NGOs und der Wissenschaft gepflegt. • Im regelmäßig erscheinenden Nachhaltigkeitsbericht wird offengelegt, welche Maßnahmen für die Lieferkette ergriffen werden, um zu erreichen, dass Menschenrechte weltweit geachtet und Zwangs‐ und Kinderarbeit sowie jegliche Form der Ausbeutung verhindert werden. Dieser Hintergrund ist auch wichtig, wenn es darum geht, das Thema in der Fahrradbranche näher zu beleuchten. Die Corona-Pandemie zeigte gerade in diesem Bereich, wie anfällig die Transportkette aus Asien ist (längere Lieferzeiten und Warenknappheit im Fahrradhandel). Die meisten weltweit angebotenen Fahrräder werden dort produziert. Immer mehr Unternehmen arbeiten deshalb verstärkt an Lösungen, um die Produktion wieder nach Europa zu holen. Auch unzureichende oder keine ökologischen und sozialen Standards sorgen für einen schlechten Ruf asiatischer Produktionen. Die Herstellung in Europa ist möglich, wenn konventionelle Prozesse neu gedacht werden. Das Beispiel der E-Bike-Marke Mokumono zeigt, was möglich ist: Die Batteriezellen kommen aus europäischer Produktion. Ein kohlenstoffarmes Aluminium, das in Schweden mit erneuerbaren Energien produziert wird, gehört hier ebenfalls zu den Neuerungen. Um Kosten für Kunden und die Umwelt zu sparen,

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wird künftig noch stärker auf eine Produktion vor Ort in Europa gesetzt. Dies spart allein sechs bis acht Wochen Transportzeit. Produktionsschritte werden automatisiert und regionale Komponenten verbaut (keine Ausstattung aus Übersee). Die Bremsen kommen von Formula aus Italien, die Beleuchtung von Supernova aus Deutschland und der Rahmen aus der eigenen Produktion in den Niederlanden. Es ist für viele Unternehmen nicht leicht, die gesamte Wertschöpfungskette einzelner Fahrradkomponenten zurückzuverfolgen, dennoch nehmen viele Unternehmen der Fahrradbranche die Verantwortung an und sind bemüht, ihren Teil zu einer nachhaltigeren Entwicklung beizutragen. Auch der Mühltaler E-Bike-Hersteller Riese und Müller GmbH setzt auf eine transparente Lieferkette. Um diese darzustellen und zu analysieren, wird die Cloud-Plattform Sustainabill eingesetzt, die auch die Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Zulieferern entlang der Lieferkette ermöglichen soll. Grundlage dafür sind die Profile der Lieferanten, die von den einzelnen Unternehmen auf der Plattform hinterlegt werden. Die Vorlieferkette wird dabei ebenfalls berücksichtigt. Zur Erfassung der lieferkettenbezogenen Daten kann eine Firma auf der Grundlage verschiedener Nachhaltigkeitsstandards wie dem GHG Protocol (Greenhouse Gas Protocol, dt. »Treibhausgasprotokoll«) und den UN Guideline Principles (den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte) eine Bewertung des Nachhaltigkeitsengagements der Lieferanten erarbeiten. Berücksichtigt werden neben Informationen zum jeweiligen Unternehmen und zu nachhaltigkeitsrelevanten Managementprozessen auch Umweltauswirkungen, Arbeitsbedingungen sowie die Auswahl und der Umgang mit Vorlieferanten. Daraus können zielgerichtete Präventionsmaßnahmen abgeleitet und die Einhaltung von Standards sichergestellt werden. Auf diese Weise wird Transparenz bis in die Tiefe der komplexen Liefer- und Wertschöpfungskette hergestellt. Mit der sog. Bike Charta haben 22 Unternehmen, die sich seit Jahren im BIKEBRAINPOOL (einem Thinktank der Fahrradbranche) engagieren, einen Appell zu mehr Nachhaltigkeit unterzeichnet. Sie bietet Fahrradunternehmen einen passgenauen Einstieg, sich schrittweise ökologisch und sozial besser aufzustellen und orientiert sich an der nationalen und internationalen Gesetzgebung. Vorgestellt werden Nachhaltigkeitsthemen und Maßnahmen vor allem aus den Handlungsfeldern Markt und Umwelt sowie Arbeitsplatz und Gemeinwesen. Der verabschiedete Entwurf umfasst 18 Themenbereiche

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rund um Produktion, Standort, soziale Relevanz und strategisches Nachhaltigkeitsmanagement mit insgesamt 110 konkreten Handlungsmöglichkeiten. Zu den ersten Unterzeichnenden gehören ABUS, BIKE & CO, B.O.C., Croozer, Delius Klasing, Fellowz, Hebie, Humpert, IDBerlin, JobRad, Kienzler, Pressedienst Fahrrad, Radlager, Schwalbe, Riese & Müller, Rose Bikes, Thun, Velokonzept, VSF, Wertgarantie, WSM und Zedler. Weiterführende Informationen: Gerechte und nachhaltige Wirtschaft: Kommission legt Unternehmensregeln für Achtung der Menschenrechte und der Umwelt in globalen Wertschöpfungsketten fest: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_1145 EU-Richtlinienvorschlag zur unternehmerischen Sorgfalt – Revolution oder Evolution?: https://www.akzente.de/blog/eu-richtlinienvorschlag-zur-unternehmerischen-sorg falt-revolution-oder-evolution/ Klimatransformation: Welchen Einfluss hat die Dekarbonisierung der Lieferkette?: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2022/02/klimatransformation-welcheneinfluss.html Lieferkette: Warum es eine ganzheitliche Erfassung der unternehmerischen Klimaleistungen braucht: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2022/01/lieferkette-warumes-eine-ganzheitliche.html Zur Notwendigkeit eines Lieferkettengesetzes: Studie zu freiwilligen Nachhaltigkeitskooperationen: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2020/11/zur-notwendig keit-eines.html Transparenz in der Lieferkette: Riese und Müller setzt auf Cloud-Plattform: https://rad markt.de/nachrichten/transparenz-lieferkette-riese-mueller-setzt-cloud-plattform Fahrradbranche 2022: Zwischen Innovationsvielfalt und Lieferengpässen: https://www. pd-f.de/2021/08/25/fahrradbranche-2022-zwischen-innovationsvielfalt-und-liefer engpaessen_16311 Bike Charta: https://www.pd-f.de/2021/11/03/deutsche-fahrradunternehmen-entwickelnbike-charta-fuer-eine-nachhaltige-branche/ memo Nachhaltigkeitsbericht 2021/2022: https://www.memo.de/nachhaltigkeitsbericht

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Das Fahrrad als Dekorationsobjekt

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Immer mehr Menschen möchten dem Alltag nicht passiv ausgesetzt sein, sondern auch formgebend in ihn eingreifen. Der Trend im Deko-Bereich geht zwar seit Jahren zum Minimalismus, doch ist für viele Menschen eine ansprechende Deko unverzichtbar. Auch das Fahrrad ist ein beliebtes Dekorationsobjekt in den eigenen vier Wänden – es findet sich heutzutage aber auch in Schaufenstern von Modehäusern, Computerläden, Bankfilialen oder Möbelladen. Damit verbunden ist zudem das wachsende Interesse am Vintage-Look von Fahrrädern und an Nostalgie. Es geht darum, das eigene Leben zu verschönern und sich selbst und seine Umwelt mehr wertzuschätzen. Nostalgische Objekte – Fahrräder finden sich auch draußen als Gartendeko – symbolisieren einen Mythos von Heimat, Ursprung und Authentizität. Der Begriff Nostalgie ist eine Kombination aus dem altgriechischen nóstos (Heimat) und álgos (Schmerz). Er bedeutet, dass wir an einer »alten Wunde« leiden. Handwerklich hergestellte Produkte, die Verwendung traditioneller Materialien und die Bewahrung sind ein wertvolles Kulturgut und stellen eine nachhaltige Alternative zur Welt der Massenprodukte und zum schnellen Konsum dar. Sie symbolisieren das erweiterte Selbst seiner Besitzer:innen und schaffen ein tiefes Verhältnis zu Langsamkeit, zu Dauer und Kontinuität. Dinge und ihre Ordnung erzählen eine Geschichte – mit unserem Verhältnis zu ihnen gestalten wir die Welt. Kluge, reine Dinge zeigen uns etwas von ihrer Machart, sind langlebig und sind zugleich Symbole menschlicher Selbstbestimmtheit. Wer ausschließlich auf nachhaltige Dekorationsobjekte setzen möchte, sollte sich deshalb folgende Fragen stellen: • Welche Materialien wurden verwendet? • Wo wurden die Objekte gefertigt und von wem? • Unter welchen Bedingungen wurden sie produziert? • Können sie problemlos repariert und in natürliche Kreisläufe zurückgeführt werden? • Wie können derartige Objekte auch noch nach deren Lebensende verwendet werden?

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Fahrrad-Dekorationsobjekte (Fotos von Hans Dolmer):

© Hans Dolmer

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© Hans Dolmer

Weiterführende Informationen: Auswahl nachhaltiger Dekorationsobjekte: www.memolife.de Dekorieren statt resignieren: Schöne neue Wohnwelten in Zeiten von Corona https:// www.xing.com/news/insiders/articles/dekorieren-statt-resignieren-schone-neue-wohn welten-in-zeiten-von-corona-3762480 Erschöpfte Zukunft: Darum boomt Nostalgie in Krisenzeiten https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2019/12/erschopfte-zukunft-darum-boomt.html Thorsten Firlus: Für die Straße oder eher fürs Wohnzimmer? In: WirtschaftsWoche 12 (17.3.2017), S. 101 f. Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Nachhaltigkeit begreifen: Was wir gegen die dummen Dinge im Zeitalter der Digitalisierung tun können. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2021.

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Von Einzelkämpfern und Teamentwicklern – und der Strahlkraft des Fahrrads Claus-Peter Niem und Karin Helle Kairos – dieser Begriff bezeichnet den günstigen Zeitpunkt für eine Entscheidung, für den richtigen Augenblick, den es am Schopf zu packen gilt! Wie erkennt man aber, dass sich genau jetzt die eine Gelegenheit bietet, die man nicht verstreichen lassen darf? Wie fühlt man den günstigsten Moment, wie spürt man den rechten Augenblick? Für den Coach Sven Rohde sind es fünf Fertigkeiten, die es zu schärfen gilt: 1. Die Achtsamkeit, um den Moment wahrzunehmen; 2. Das Bewusstheit, um seine Bedeutung zu erkennen; 3. Die Intuition, die uns ohne lange Überlegungen entscheiden lässt; 4. Den Mut, um die gewohnten Wege zu verlassen; 5. Das Selbstvertrauen, dass wir die Probleme auf dem Weg schon lösen werden. »Wenn du etwas haben willst, musst du es dir holen«, meint der heutige Unternehmer und frühere Extremsportler Jochen Schweizer, einem Millionenpublikum spätestens seit seinen Auftritten in der Fernsehshow »Höhle der Löwen« bekannt. Schon immer ein Mann der Tat, kletterte er nicht nur im übertragenen Sinne hoch hinaus, sondern schon im Alter von 11 Jahren in die Baumwipfel seiner Heimatstadt Ettlingen und schnitt in den Kronen Mistelzweige, um diese danach goldgelb zu besprühen und auf dem Weihnachtsmarkt zu verkaufen. Bereits früh hatte er also ein Gespür für erfolgreiche Geschäfte oder besser gesagt den Unternehmergeist (nicht zuletzt inspiriert durch seine Oma), immer eine Mark mehr einzunehmen als auszugeben. Du musst dich also im wahrsten Sinne des Wortes auf den Weg machen und am besten heute sein, was du morgen werden willst – in seinem Fall die körperliche Herausforderung lieben. Eben erleben, statt nur verstehen. Offenheit und Neugierde gehört dazu oder: »Erfolg hat drei Buchstaben – TUN.« Umso größer ist sicherlich die Wahrscheinlichkeit, zu wachsen und sich zu entwickeln – eben da sein, wenn es drauf ankommt, die sich bietende Chance beim Schopfe packen. Am Ende besteht das ganze Leben aus wahrgenommenen und nicht wahrgenommen Möglichkeiten.

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So ging es letztlich auch uns, angefangen bei einer zufälligen (»zugefallenen«) Begegnung in den englischen Midlands mit dem Trainer des Aston Villa FC aus Birmingham (einst sogar Tabellenführer der englischen Premier League) und der sich daraus entwickelten Idee, Fußballtrainer, -manager und -teams zu coachen. Spätestens zurück im Ruhrgebiet stellten wir dann fest, dass es in erster Linie darum ging, vor allem Trainer zu »entwickeln« – denn je besser der Trainer, desto besser das Team. Über Stefan Kuntz, damals noch als Coach in Karlsruhe tätig, trafen wir dann Jürgen Klinsmann, Jogi Löw und Co. – »and the rest is history«. Doch dabei waren es keinesfalls immer nur die »großen« Namen und Begegnungen, die prägten – ganz im Gegenteil. Häufig waren es einfach Menschen wie du und ich, angefangen beim Zeugwart eines Teams, über den Fan in der Kurve bis hin zur Frau am Schalstand, die die Dinge gekonnt auf den Punkt brachten, – und es musste genauso wenig zwingend immer nur der reine Fußballsport sein. Einer der Leitsprüche von Jürgen Klinsmann hieß nicht umsonst: »Think outside the box.« Vielleicht war es genau dieser Gedanke, der uns an Jürgen Grüter und Kosta Runjaic so begeisterte. Und während der eine als Individualist und Querdenker in den 50er-Jahren seiner Zeit schon weit voraus war und als junger Mann per pedes nach Paris fuhr, um an Jazzfestivals teilzunehmen, entwickelte sich der andere im neuen Jahrtausend mehr und mehr zum Chaos-Bändiger und Nachhaltigkeitsexperten – mit und ohne Fahrrad und ausgerechnet im Profifußball – und beide zu echten Rad(t)-Gebern. Davon möchten wir erzählen, um einen kleinen Einblick in unsere Arbeit zu geben und um aufzuzeigen, wie sehr der (Rad-)Sport die Persönlichkeit formen kann. Vom Einzelkämpfer bis zum Teamentwickler – auf dem Fahrrad wie auf dem Platz. Und dann wäre da noch Michael »Michi« Weiss, über den man sowieso ein eigenes Buch schreiben könnte. Ironman, Triathlet oder einfach nur der »Sniper«, wie er sich selbst bezeichnet. Wie er zum Fahrrad steht und was ihn sonst noch antreibt… dazu hier später mehr. Jürgen Grüter Jürgen Grüter wurde am 6.4.1938 in Bielefeld geboren. Schon in jungen Jahren zog er mit seinen Eltern ins Rheinland nach Wesel, übernahm hier später die Schreinerei seines Opas und machte vor allem eins: Sein ganz eigenes Ding. Heute würde man wohl von einem Original sprechen, besser noch von

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einem Individualisten, so individuell wie seine Vorliebe zum Jazz – genauso wie zum Fußball. »Ich bin aus Opposition Dortmunder geworden, alle in der Klasse waren Schalker,« so ein typischer »Grüter« über seine Kindheit Ende der 40er-Jahre als der Ruhrpott in erster Linie »blau-weiß« war. Heute schaut der mittlerweile 84-jährige auf mehr als 75 Jahre Fanleben in »Schwarz-Gelb« zurück. Bezeichnend: Als das Fahren zu internationalen Spielen von auswärtigen Zuschauern quasi noch nicht stattfand, weil zu teuer, zu weit, einfach noch nicht »en vogue«, war Grüter schon mittendrin – ob in London, Glasgow oder Madrid – seit Beginn der 60er-Jahre und seiner Zeit voraus. Wer mit Jürgen über die Themen des Alltags diskutieren darf, ob Sport, Musik oder Politik, merkt schnell, dass er vor allem eines hat: Eine ganz eigene Meinung – kantig, klar, echt. Er liebt es zu diskutieren, gerne und möglichst auch emotional. Denn die Emotionen sind sein Antrieb – sie brachten ihn ein Leben lang vorwärts, doch hinterließen auch Spuren. »Ich habe immer schon den Kampf geliebt«, blickt Jürgen zurück, »ohne Kampf würde ich schon lange nicht mehr leben.« »Wer den Kampf sucht, dem schickt das Leben auch Gegner«, so das Resonanzgesetz. Und um den Bogen zum Radsport zu spannen: Natürlich war Grüters Mutter nicht seine Gegnerin, doch als sie wollte, dass ihr Sprössling im Alter von nur acht Jahren Tennis lernte, entschied er sich genau für das Gegenteil: Radrennen fahren. Oder anders gesagt: Er entschied sich gegen den elitären Sport – und für den Sport aus den Hinterhöfen.

Foto 1: Rad-Lektüre (Credit: Claus-Peter Niem)

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Foto 2 (Credit: Claus-Peter Niem)

Foto 3 (Credit: Claus-Peter Niem)

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Foto 4 (Credit: Claus-Peter Niem)

»Meine Mutter mochte den Fahrradsport nicht. Er fand für sie in den Hinterhöfen statt. Da wurde geschraubt und malocht, eben die Fahrräder auf Hochtouren gebracht. Das war für sie der Sport des einfachen Mannes.« Grüter dagegen liebte den Fahrradsport. Schon als kleiner Junge hatte er ein Fahrrad und bemerkte sehr schnell, dass dies genau seine Sportart war. Denn: Sie fiel ihm leicht. Wie heißt es so schön: »Spiel die Karten aus, die du in den Händen hältst.« Mach es also mit Leichtigkeit. Und das tat Jürgen Grüter auch. Er machte sich eine Freude daraus, mit seinem ersten Fahrrad und gerade mal im Alter von acht Jahren den Dorfpolizisten samt Moped zu überholen. Grüter merkte: »Ich bin ausgesprochen schnell.« Das merkte er auch, wenn er mit anderen Kindern auf der Straße Wettrennen fuhr. »Als die Ersten ein Fahrrad kriegten, hab ich mich immer gerne mit anderen gemessen. Wie Kinder eben so sind – wer ist der Schnellste? Da habe ich gemerkt: Ich war immer der Schnellste. Ist ja im Fußball das Gleiche oder in der Leichtathletik oder beim Laufen. Aber da ich in der Leichtathletik nie so gut war, habe ich

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mich auf das Fahrrad gesetzt, weil ich hier alles am besten umsetzen konnte.« Gerne fuhr er als junger Teenager zudem im Windschatten der LKW. Diese fuhren damals häufig noch mit Anhänger. »Das war ein großer Spaß, aber brandgefährlich«, schaut er heute kritisch zurück. »Das war ja eine verbotene Geschichte, hinter einem LKW herzufahren. Die fuhren ja damals mit zwei Anhängern, die hin und her schwankten. Ich bin meist von Wesel bis Schermbeck gefahren, zwischen Wesel und Münster, das sind 18 Kilometer. Auf der Rückfahrt habe ich mir den nächsten gesucht – immer im Windschatten. Da habe ich auch gemerkt, dass ich für Steherrennen geeignet bin, weil ich im Windschatten mitfahren konnte bei relativ hoher Geschwindigkeit. Da war ich natürlich viel schneller als ohne LKW. Fasziniert hat mich da der Geschwindigkeitsrausch. Das ist wie eine Sucht gewesen, da mithalten zu können – da erst schon mal ransprinten an den LKW. Da konnte man ja nur ran, wenn er langsam fuhr. Dann steigerte er sich. Und dann hast du es geschafft oder hast es nicht geschafft. Wenn er dann auf volle Pulle war, fuhr man so 60 Kilometer die Stunde. Das hast du mit einem normalen Rad nicht geschafft.« Das Talent für sich entdeckt, tägliche Freude am Fahren – dann kommt es häufig so wie es kommt: Die Dinge fallen einem zu, es ergeben sich Schlüsselmomente. Grüters Vater nahm, nachdem er als Kriegsgefangener wieder zurück gekehrt war, irgendwann wieder seine Arbeit als Architekt auf. Und während der kleine Jürgen größer wurde und zunächst nur auf normalen Fahrrädern (»so Primitivräder mit einem Rennlenker«) die Straßen am Niederrhein unsicher machte, übernahm Jürgens Vater zu Beginn der 50er-Jahre einen wegweisenden Job. Der erste Zufall in Sinne von »es fällt einem zu«: »Mein Vater hat für einen Fahrradhändler in Wesel, der hieß Hans Ströker, ein Haus gebaut. Der wusste, dass ich mich für Radsport interessierte und der hat erkannt, dass ich Radfahren konnte. Ströker hat mir dann schon Räder zusammengebaut.« Und dann noch ein weiterer Zufall: In diesem Fall waren es die steten Besuche bei den Verwandten im nicht weit entfernten Bocholt. Hier gab es einen Radrenn-Verein. Das interessierte den jungen Jürgen Grüter kolossal! »Ich wollte mich einem Klub anschließen. Es gab einen Verein in Dinslaken und in Bocholt. Dinslaken war näher, nur 10 Kilometer entfernt, Bocholt doppelt so weit, aber hier wohnte die Verwandtschaft meiner Mutter, außerdem hatte ich mehr Beziehung zu Bocholt, weil es hier eine Bahn gab, also eine Betonradrennbahn, 333 Meter lang, und ich wollte auch Bahnrennen fahren. Offiziell bin ich dann

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mit 16, 17 zum Radsport gekommen. Das war relativ spät. Erst mal bin ich bei den Junioren mitgefahren, mit 18 kam ich dann in die C-Klasse. Das war die unterste Klasse. Die meisten Radfahrer kamen damals aus dieser Klasse nicht raus, weil sie das Talent nicht hatten. Raus kam man da nur über Platzierungen oder über einen Sieg bei einem großen Rennen in die B- und dann in die A-Klasse. Da bin ich ganz schnell reingerutscht. In der C-Klasse bin ich Platzierungen gefahren, bin dann in die B-Klasse und danach in die A-Klasse. Dann konnte ich an den großen Rennen der Amateure teilnehmen.« Grüter holt aus seiner Ledertasche seine damalige Radfibel aus dem Jahre 1958 heraus, »ganz zerfleddert«, wie er bemerkt – samt Ernährungsplan, Tipps und Tricks, alles feinsäuberlich angekreuzt und »wie die Räder damals so aussahen.« Inklusive einer Autogrammkarte seines Freundes Peter Post, ehemaliger niederländischer Radsportler und Bahnspezialist, der alleine 65 Sechstagerennen gewann ebenso den Radklassiker Paris – Roubaix, einen der so genannten fünf »Monumente des Radsports« – und das mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 44 Stundenkilometern auf schlechtem Asphalt. Ich staune … «Übrigens, einer meiner guten Radsportfreunde ist jetzt verstorben – Hennes Junkermann, der beste deutsche Tourfahrer, den es je gegeben hat. Viermal war er bei der Tour de France unter den ersten 10. Einmal hat er das gelbe Trikot gehabt, das hat er nur verloren, weil er am Abend nach dem Essen eine Fischvergiftung hatte. ›Die haben mir was untergejubelt‹, das hat Hennes immer behauptet. Ich habe ihn vor zwei Jahren noch einmal getroffen. Bis vor zwei Jahren ist er noch jeden Tag 100 Kilometer von Krefeld nach Xanten und zurück gefahren – mit 84.« Doch zurück zu Grüters eigener Karriere, die schon bald durch einen neuen Unterstützer geprägt wurde: »Ich habe einen Förderer gehabt, der hieß Paule Büssing. Er hat mir gesagt: ›Du kannst Profi werden, ich unterstütz dich!‹ Du musstest immer einen haben oder mehrere Förderer, die dich finanzierten. Das war eine reine Bettelei, um an einen zu kommen. Wir haben ja alle nebenher gearbeitet.« Paul Büssing, selbst Bauunternehmer und zudem noch Motorradfahrer bei Steherrennen (zum Beispiel bei den legendären 6-Tage-Rennen in der Westfalenhalle), erkannte das Talent von Grüter und förderte es fortan mit einem kleinen Handgeld. Viel wichtiger aber: Er glaubte an ihn. Der Bauunternehmer, der zu den wenigen Spezialisten gehörte, die eine solche Maschine fahren konnten, war also von Grüters »Steherqualitäten« überzeugt – wenngleich bei diesen Ausdauerrennen eigentlich der Vordermann der Steher

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ist: Der Motorradfahrer steht auf seiner Maschine, der Radfahrer fährt in dessen Windschatten. Die so genannten »Schrittmacher«, also Stehermaschinen, besaßen im Übrigen nur einen Gang, da das Schalten einen Ruck ausgelöst hätte – und dieser wiederum hätte den Fahrer hinter dem Steher gefährden können. »Früher hat es ja Steherrennen ganz lange auch in der Westfalenhalle gegeben. Hinter den schweren Motoren, 1000 Kubik-Motoren, die man in einem Gang bis 100 Kilometer hochziehen konnte. Da war hinten eine rotierende Rolle dran. An dieser Rolle fuhr man hinter dem Schrittmacher her, der einem den Wind nahm. Die Rolle rotierte in sich, damit man nicht stürzte, wenn man sie berührte. Paule war Steher. Der sagte: ›Du müsstest auch Steherrennen können, du hast das Zeug dazu.‹ Paule hatte eine große Bauunternehmung in Bochum. Ein paar hundert Mark hat man da im Jahr bekommen und Trikots.« Grüter machte zu dieser Zeit seine Lehre als Maurer. Neben seinem Radsport-Talent hatte er schon früh das Zeichnen für sich entdeckt, sich viel von seinem Vater abgeschaut und fortan das Ziel, wie dieser Architekt zu werden. Doch da ihn die Schule nicht sonderlich interessierte und er die mittlere Reife über die Abendschule gemacht hatte, entschied er sich zunächst zur Maurerlehre gefolgt von einer Lehre als Schreiner – damals konnte man sich über diesen Umweg ebenfalls zum Architekturstudium anmelden – ohne Abitur. Das sollte der Weg neben der angestrebten Profilaufbahn werden. Doch wie so oft kann man die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht planen. »Paule Büssing ist dann tödlich mit der Schrittmacher-Maschine verunglückt. Da hatte ich keinen Förderer mehr. Die Steher-Karriere war zu Ende, bevor sie begonnen hatte. Wir haben ja erst mal trainiert hinter der Rolle, um zu gucken, ob mir das überhaupt liegt. Aber da ich eine gesunde Härte hatte hinter der Schrittmacher-Maschine, da ging es ja um ziemliche Geschwindigkeiten bis zu 70/80 Stundenkilometer auf der Bahn, dann durch die hohen Kurven. Da gab es nicht viele, die den Mut dazu hatten. Und Paul war immer mutig. Und ich konnte das. Da hat er gesagt: ›Wir werden zusammen Rennen fahren.‹ Und dann ist er verunglückt. Danach bin ich weiter Straßenrennen gefahren.« Den wertvollen Unterstützer jäh verloren, konzentrierte sich Grüter fortan wieder ausschließlich auf die Straßenrennen – ob in Stuttgart, Dortmund, Krefeld, München oder Berlin – überall war er in Deutschland in der A-Klasse dabei. »Wir haben uns immer zu zweit oder zu dritt zusammengetan mit einem Auto, die Räder obendrauf. Sogar das Startgeld mussten wir selber zahlen, nicht einmal das konnte der Verein unterstützen. Zu gewinnen gab es in der Zeit bis 61 meist

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Sachpreise – Kühlschränke, Schrankwände. Ich war Spezialist für Schrankwände (lacht). Krefeld habe ich gewonnen, ansonsten immer Platzierungen gefahren. Die ersten 10 von 150 Fahrern wurden gewertet. Es gab in Deutschland rund 150 bis 200 A- und B-Fahrer. Dann folgten Hunderte von C-Fahrern. Wir sind immer mit den Amateuren gefahren, aber gestaffelt.« Doch was wäre der nächste Schritt gewesen? Wieso nicht ganz oben angreifen? Für Grüter, der sich damals schon reflektieren konnte, vielleicht aber auch zu kritisch sah, fehlte das letzte Quäntchen Talent. Zudem hatte er nicht die Zeit zum Training, die andere Spitzenfahrer teilweise hatten. Diese hatten auch in Firmen ihre Förderer, arbeiteten hier nur halbtags, um am Nachmittag trainieren zu können. Er dagegen konnte im Sommer erst nach 18.30 Uhr auf die Straße – bis zum Sonnenuntergang. »Ich bin immer zweigleisig gefahren, war dann in der Situation, wo ich gedacht habe: ›Soll ich die Profigeschichte wagen?‹ Dann habe ich aus Vernunftgründen gesagt: ›Jürgen, dass ist Blödsinn. Da kommst du nie weiter, du wirst nie ein großer Fahrer. Du bist ein Talent, ein guter Fahrer, doch das Letzte fehlte.‹ Ich bin vorne mitgefahren, aber selten ganz vorne gewesen. Und habe auch nicht die Trainingsmöglichkeiten gehabt. Die anderen haben vormittags bei ihrer Firma gearbeitet, und nachmittags ihre 180 Kilometer trainiert.« Noch heute ist Grüter davon überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war. Sicherlich spielten auch die fehlenden Unterstützer eine Rolle, mit seiner Mutter hätte er sich sonst vollkommen »entzweit«. Und dann noch so ein Zeichen: »Und dann hat sich das ja alles erledigt, als mein Großvater gestorben ist und er mir auf dem Totenbett gesagt hat: ›Jürgen, übernimm du die Schreinerei.‹ « Das Profileben schien ihm einfach zu ungewiss. Mit Paul Büssing an seiner Seite hätte er einen nächsten Schritt gewagt, auch seine Mutter als Unterstützerin wäre mehr als wertvoll gewesen – doch es sollte nicht sein. Zudem hatte er soeben ein weiteres Talent entdeckt. »Ich hatte ja schon immer Zeichentalent. Als ich mir bei meinem Vater den letzten Schliff für die Innenarchitektur geholt habe, dann noch die Schreinerei dazu kam, war das der Anlass, als Autodidakt da reinzugehen. Wenn um 7 Uhr abends Schluss war und es war im Sommer bis 10 Uhr hell, bin ich dann aus der Werkstatt und bin drei Stunden Rad gefahren. Aber ich konnte keine Bäume mehr ausreißen und keine Rennen mehr fahren. Ich hätte in der C-Klasse noch mitgurken können, aber das war ja uninteressant.«

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Typisch Grüter eben, ganz oder gar nicht. Noch heute sagt er über sich: »Im Endeffekt war ich immer ein Sprinter, ausgezeichnet mit einem fantastischen Kampfgeist.« Diese Kraft spiegelte sich in seinem ganzen Leben wieder – mal schlug das Pendel nach oben, mal nach unten aus. »Ich wusste, dass es schiefgeht, habe es dennoch gemacht – auch, wenn die Chance nur bei 10 Prozent stand«, schaut er heute ohne Reue zurück. Das zeigte sich schon bei seinen Wettrennen in der Kindheit oder später bei seinen Ausreißversuchen beim Radrennen. »Ich versuchte es – auch wenn die Aussichten alles andere als gut waren.« Eben voll auf Angriff. Dennoch mochte er keine Selbstüberschätzung. Und konnte sich vielleicht deshalb auch ehrlich eingestehen, dass andere Sportler für die ganz große Karriere ein noch größeres Talent hatten. Also folgte er seiner ganz eigenen Idee, übernahm nach seiner Lehrzeit als Maurer und Schreiner und durch die erlernten autodidaktischen Fähigkeiten als technischer Zeichner/Architekt seitens seines Vaters die Schreinerei des Opas – und war fortan im Ladenbau aktiv. Auch hier waren es Zufälle, Schlüsselmomente, die ihm den Weg ebneten. Der Freund des Vaters, der für den damals noch kleinen REWE-Konzern in Köln ein »Ladenbau-Konzept von der Stange« suchte – ein starker Einstieg für Grüter ins Geschäft und in ganz Nordrhein-Westfalen auf Montage, doch nach zwei Jahren langweilig. Genauso wie dann folgend die heute international hoch angesehene Firma Dula in Dortmund, die heute weltweit für exklusiven Innenausbau und Ladengestaltung steht. Absolute Pionierarbeit leistete Grüter hier mit dem Gründer Heinrich Dustmann, der eine ähnliche Vita wie er aufwies. Ihr gemeinsames Konzept: Die innovative Kombination von Holz und Metall. Sein individueller Ansatz: »Ich war immer selbstständig, wir waren lediglich Vertragswerkstatt.« Grüter war ein moderner Chef, teilte die Gewinne mit dem ganzen Team, und an den Wochenenden sogar seinen geliebten Aston Martin. Bis in die 80erJahre war er mit seiner Firma im gehobenen Ladenbau europaweit tätig – hauptsächlich im Einzelhandel. Drogeriemärkte richtete er ein genauso wie Lederwarenboutiquen oder Parfümerien. Und der Radsport? Der lebte von Tag Eins der Übernahme der großelterlichen Schreinerei in Grüter weiter – bis heute – und zwar auf außergewöhnliche Art und Weise. »Beim Radfahren habe ich mir immer die Motivation für meine Arbeit geholt. Sobald die Tür zufiel am Abend bin ich auf das Fahrrad gestiegen, um den Kopf frei

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zu kriegen. Überhaupt habe ich hier die besten Ideen entwickeln können, vielleicht lag es an der monotonen Bewegung, jedenfalls hat das Fahren meine Kreativität immer angeregt.« Jede freie Minute verbrachte er auf dem Fahrrad, nicht immer im Sinne seiner Ehefrau, wie Grüter heute lachend bemerkt: »Sie war zwölf Jahre jünger, ich ständig mit der Firma auf Montage oder auf dem Fahrrad. Das konnte nicht gut gehen. Übrigens hatte ich immer auch mein Rennrad mit dabei, wenn ich mit der Firma unterwegs war. Sogar in Belgien, den Niederlanden, jede freie Minute habe ich genutzt.« Die Kraft des Radsports, den einmaligen Kampfgeist, den Drang zur Schnelligkeit nahm er immer mit – und blieb dem Profisport stets treu. Was uns in Gesprächen besonders begeisterte, waren die vielfachen Schlüsselmomente, Zufälle, die einem anscheinend begegnen, wenn man sich mutig auf den Weg macht, einfach tut, den Moment ehrt – und die damit verbundenen Begegnungen. »Wenn ich in Belgien mit meiner Firma auf Montage war oder bei den FlandernRundfahrten, habe ich immer bei Briek Schotte in Kortrijk gewohnt. Briek war ein früherer Radrennfahrer, ein hervorragender Sprinter, ich hatte ihn einmal bei einer Rundfahrt kennen gelernt. Nachdem er seine Laufbahn beendete, übernahm Briek ein kleines Hotel. Hier traf sich alles, was Rang und Namen im belgischen Radsport hatte. Rik van Looy zum Beispiel und natürlich Eddy Merckx. Eddy war damals ganz schüchtern und gerade Amateurweltmeister geworden, da war er gerade einmal 19 Jahre alt, das muss so um 1961 gewesen sein. Ich habe ihn immer mal wieder getroffen, wenn ich als Zuschauer zu Rennen gefahren bin, da hatte man noch die Möglichkeit, mit den Fahrern später zusammen zu kommen und zu plaudern. Briek Schotte war damals sein Betreuer, der sagte mir da schon: ›Jürgen, dass wird der größte Radfahrer aller Zeiten.‹ Er war einfach ein Supertalent, hatte alles, was man braucht. Eddy konnte Berge fahren, das normale Tempo auf der Straße halten, sprinten, Zeitfahren, alleine fahren … Er hatte eine hervorragende Körperkonstitution, doppeltes Lungenvolumen, Herz, die richtige Größe – alles passte zusammen, selbst die Hebelverhältnisse zwischen Fahrrad und Fahrer waren optimal. Außerdem ist er auf dem Teppich geblieben, trank nur wenig Alkohol, war immer bescheiden. Ist ja beim Fußball auch nicht anders – wenn das große Geld sprudelt, entscheidet sich der Weg … Ist halt alles eine Frage von Disziplin und Charakter.« Neben den belgischen Ausnahmesportlern waren es die niederländischen Radprofis, die Grüter auf seinem Weg begleiteten – auch hier wieder Zufälle, Begegnungen, Weggefährten.

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»1959 saß ich bei der Straßenweltmeisterschaft in Amsterdam auf der Tribüne, Rudi Altig wurde dort übrigens Weltmeister, da nahm Hank Nijdam plötzlich neben mir Platz – er war gerade ausgeschieden. Wir kamen ins Gespräch. Und da ich in ganz Amsterdam kein Hotel gefunden hatte, konnte ich sogar bei ihm nächtigen. Hank war noch in seinen Anfängen, gerade mal Anfang 20, später wurde er selber zweimal Weltmeister im Verfolgungsrennen. Jedenfalls entwickelte sich schnell eine Freundschaft. Hank war als Bahnradfahrer unglaublich schnell, ich glaube, er hat später neun Tour-de-France-Etappen gewonnen, ein gestandener Fahrer. Immer, wenn ich mal Zeit hatte, habe ich kurz angerufen und bin für zwei Tage nach Amstelveen, da hatte er eine kleine Wohnung. ›Jürgen, fahr mit uns‹, hat er dann immer gesagt. Ich durfte dann immer mit ihm und seiner Trainingsgruppe mitfahren, einmal war das fast die ganze holländische Nationalmannschaft – mein Fahrrad hatte ich ja immer mit dabei. Peter Post habe ich da auch kennengelernt. Jedenfalls war Hank immer verwundert, dass ich ohne große Rennpraxis so gut mithalten konnte. Ich bin immer relativ hart gefahren, war nicht kleinzukriegen. Man konnte mich schlecht abhängen. Dennoch war ich so realistisch, dass ich wusste, die berufliche Laufbahn liegt auf anderem Sektor. Ich bin ja immer viele eigene Wege gegangen, aber ich musste ja auch an die Familie denken, meine Mutter und meinem Opa. So war das … Jedenfalls war ich mit Hank auch lange befreundet.« Heute lebt Jürgen Grüter nach über 50 Jahren Beruf und Berufung – als Arbeitgeber wie als Freiberufler – stets fleißig, immer im Job, nie auf Kosten anderer lebend, in Düsseldorf von Hartz IV. Grüter spricht von »Wirtschaftskrimina­ lität«, die ihm in der Mitte seines Lebens Haus und Hof kosteten – und trotzdem arbeitete er Schulden im Wert von einer halben Millionen Euro bis zu seinem 70. Lebensjahr wieder ab. Doch das ist eine andere Geschichte, die es noch zu erzählen gilt. Eben typisch Jürgen Grüter: Ein »stirb und werde«, ein »rauf und runter«, ein Leben in Extremen – Elemente, die sich in seinem so geliebten Jazz wiederfinden (auch hier: Unglaubliche Begegnungen und eine Fast-Liebesnacht mit der Jazz-Diva Nina Simone), genauso wie im Radsport – auf der weiten Straße zum Erfolg – oder ein Leben im Rausch des Windschattens … »Auf dem Fahrrad ist es wie im Leben: Ich habe nie ein Rennen aufgegeben. Und das werde ich auch weiterhin nicht. Ein Gräuel für mich sind faule Sportler, die nicht alles aus sich herausholen.«

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Kosta Runjaic Der heutige Profifußball zeichnet sich durch eine hohe Laufintensität aus: Ständig sind die Spieler in Bewegung – den Gegner unter Druck setzen, schnell umschalten, Konter ausspielen oder das eigene Spiel machen – vom Pressing bis zum Gegenpressing. Schaut man sich Spiele aus den Anfängen der Bundesliga an und vergleicht diese mit heutigen Duellen, wird schnell klar: Die Spieler laufen im Durchschnitt einfach wesentlich mehr – teilweise 13 Kilometer und mehr pro Match. Ausdauertraining ist also notwendig, möchte man ganz oben mithalten. Das Kosta Runjaic wiederum kann durch intensives Rad(Fotocredit: Claus-Peter Niem) training verbessert werden. »Besonders in der Saisonvorbereitung, wenn Kondition gebolzt wird, ist Radfahren eine gute Alternative zum Waldlauf oder Medizinballtraining«, so Kosta Runjaic, Erfolgstrainer von Pogon Stettin und aktuell Legia Warschau. Seit den 90er-Jahren gilt es in höheren Fußballerkreisen als »in«, das Fahrrad als Ausdauergerät zu nutzen – genauso wie zur Regeneration. Wenngleich das alternative Sportgerät anfangs bei Profifußballern nicht immer auf ungeteilte Gegenliebe stieß – es geht eben nichts über individuelle Mannschaftssteuerung. Andreas Herzog, österreichischer Rekordnationalspieler, erinnert sich an die WM-Vorbereitung: »Des war halt modern damals, regenerieren, regenerieren, regenerieren. Und wir ham’ ganz wenig trainiert und wir sind viel mit dem Fahrrad gefahren. ›Scheiße‹, dachte ich mir, das ist für mi’ genau das Falsche. I muss härter trainieren.« Herzog hatte sich zuvor im Bundesligaendspurt für Werder Bremen verletzt, fühlte sich daher nicht fit und war sich sicher, Trainingsrückstand aufholen zu müssen – doch beim österreichischen Nationalteam stand lediglich Regeneration auf dem Programm, schließlich hatten die meisten Spieler eine harte Saison in den Knochen.

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Und während sich der Mannschaftstross um Stöger, Polster und Schöttel nach den ewigen Fahrradtouren massieren ließ, ging »Herzerl« eigene Wege. Rauf und runter sprintete er einen Hügel, fünfzehn- bis zwanzigmal, ohne Rücksicht auf Verluste. Das sollte sich spätestens am nächsten Morgen rächen. Vollkommen übersäuert sei er gewesen bei einem Laktattest – Dr. Schopp, seines Zeichens Nationalteamarzt, kam entsetzt auf Herzog zu: »Andi, das gibt es ja nicht. Wir trainieren überhaupt nicht und du bist komplett übersäuert.« Soweit ein emotionaler Ausflug in die Kindertage der »Fahrrad-meets-Profifußball«-Zeit – und wieder hinein in die sinnhafte Nutzung des Bikes für Berufskicker und alle, die es werden wollen. Und auch, wenn es für Herzog damals nicht das richtige Training war: Deutlich wird durch seine Worte auf jeden Fall die Bedeutung des Fahrrads für die Regeneration. Das wiederum hängt mit der Position des Fahrradsattels zusammen. Denn im Gegensatz zu anderen Methoden des Ausdauer- oder Krafttrainings oder dem üblichen Lauftraining, lastet das Körpergewicht beim Radfahren nicht auf den Sprunggelenken, sondern auf dem Sattel – Sprung- und Kniegelenke werden somit geschont und entlastet – bei langsamer Fahrweise zudem Muskeln gelockert, Stress abgebaut. Neben Ausdauer- und Regenerationstraining kann kontinuierliches Radfahrtraining vor allem zur Verbesserung der Athletik des Fußballers genutzt werden: Es trägt zur Stärkung der Muskelgruppen in Ober- und Unterschenkeln bei, genauso wie zur Stabilisierung der Rumpf- , Brust- und Armmuskulatur. Ziel: Verbesserung des Zweikampfverhaltens, um sich gegen athletische Gegenspieler durchzusetzen. Und noch ein Aspekt: Profifußballer, die nach länger Verletzungspause oder zum Saisonstart wieder ins Training einsteigen und an Gewicht zugenommen haben, können mit dem Rad hervorragend überschüssiges Fett abbauen – bis zu 500 Kalorien verbrennt der Körper in einer Stunde durch intensives Radfahren. Arjen Robben, Joachim Löw, Neymar – sie alle haben eins gemeinsam: Fahrradfahren ist nicht nur ein notweniges Mittel zum (Fußball-)Zweck, vielmehr ein Stück weit auch ihre Passion. Und während Jogi Löw in seiner langjährigen Zeit als Nationalcoach zum Entspannen und Abschalten am liebsten im Schwarzwald seine Runden drehte, fuhr der niederländische Weltklassespieler Arjen Robben zu seiner Zeit beim englischen Premier League Club FC Chelsea oft mit dem Rad zum Stadion an der Stamford Bridge.

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Kosta Runjaic gilt als beständiger Trainer. Fünf Jahre lang trainierte er bis zum Saisonende 2022 Pogon Stettin, zuvor Zweitliga-Größen wie 1860 München, den 1. FC Kaiserslautern oder Darmstadt 98. Interessant in diesem Zusammenhang: In der Regel stürzte sich der Sohn serbischer Einwanderer in das übliche Chaos sogenannter Traditionsvereine, um diese nach und nach zu bändigen. In diesem Zusammenhang stellte er eine interessante Theorie auf, von der sein Freund und Journalist Ronald Reng berichtet: »Eines Nachmittags rief mich der deutsche Zweitligatrainer Kosta Runjaic an. »Hör mal«, sagte er. »Ich habe ein Angebot von Pogon Stettin, die sind abgeschlagen Tabellenletzter in der 1. polnischen Liga. Würdest du das an meiner Stelle annehmen?« – »Bist du wahnsinnig!«, rief ich. »Tabellenletzter, das kannst du nicht machen!« – »Ja?«, sagte er. »Ich habe gerade zugesagt.« Unter den Argumenten, die mir Runjaic für sein Engagement beim Tabellenletzten nannte, ist mir eines lebhaft in Erinnerung geblieben: Ein Trainer solle immer dorthin gehen, wo der Vorgänger mit seinen Vorstellungen Probleme hatte. Dann würden die Ideen des neuen Trainers von den Fußballern dankbar angenommen.« Im Umkehrschluss: Wird ein Trainer entlassen, obwohl es im Team einigermaßen rund lief, fällt es dem neuen Coach schwer, seine Gedanken zu implementieren – außergewöhnliche Ideen, andere Spielsysteme oder neue Automatismen werden dann eher als Störung empfunden. Eine interessante Analyse Runjaics, die in der Bundesliga in der Saison 2021/22 des Öfteren zu beobachten war – in Mönchengladbach genauso wie in Frankfurt oder Wolfsburg. Trainerwechsel brachten hier tabellarisch keine wesentliche Verbesserung – ganz im Gegenteil. Kosta Runjaic jedenfalls machte seiner eigenen Theorie alle Ehren – und formte aus dem polnischen Tabellenletzten in nachhaltiger Entwicklungsarbeit eine famose Spitzenelf. »Ein Trainer braucht eben nicht nur große Ideen, sondern eine Elf, die sie auch nötig hat«, so das Fazit. Doch was hat Runjaics persönliche Entwicklung als Mensch genauso wie als Coach bis hin zum Chaos-Bändiger ausgerechnet mit dem Fahrrad zu tun? Von klein auf begeisterte er sich für das Radfahren, als Kind in den Straßen der Opelstadt Rüsselsheim genauso wie als heutiger Trainer, um das Fahrrad als Trainingsgerät zu nutzen – oder zur persönlichen Entschleunigung nach intensiven Spielen. Nicht umsonst sehen Experten in der monotonen Bewegung des Radfahrens ein hervorragendes Mittel, um mit sich und der Umwelt eins zu werden – das Fahrrad als Meditationswerkzeug.

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Wir trafen Kosta Runjaic erstmals in Kaiserslautern und waren sofort von seiner Offenheit, Neugierde und seinem großen Interesse an Wachstum begeistert – er gehörte zu den Trainern, die nicht »in ihrem eigenen Saft schwammen«, sondern gerne über den Tellerrand schauten. Und so durften wir immer wieder von ihm lernen und uns mit ihm austauschen – in Lautern wie in Stettin. Doch zurück zu seiner Begeisterung für das Fahrrad – und was uns bezüglich dessen besonders verblüffte: Als wir Kosta Runjaic nach drei identitätsstiftenden Symbolen fragten, die für ihn, für sein »Ich« stehen, Symbole eben, mit denen er sich absolut identifizieren kann, nannte er zu allererst das Fahrrad. Das ließ uns stutzen. Andere Sportler nennen »Feder« für Leichtigkeit, »Pfeil und Bogen« für den Kampf – doch das Fahrrad als Fußballtrainer? Wir wollten mehr wissen! Schnell brachte es Coach Kosta auf den Punkt: Das Rad kann nur durch eigene Energie angetrieben werden, somit steht es erstens für seinen ureigenen Antrieb, zweitens für Bewegung und drittens für das Erreichen seiner Ziele – und das alles noch absolut nachhaltig, weil umweltfreundlich. Michael (Michi) Weiss Wir trafen Michael »Michi« Weiss zunächst eher zufällig, genauer gesagt in einem kleinen, feinen Hotel vor den Toren von Wien und inmitten der Weinberge. Chef des Hotels war ausgerechnet der Schwimmcoach von Michi – und so »fiel« uns ein gemeinsames Treffen buchstäblich »zu«. Beim Besuch eines nahe gelegenen Heurigen-Lokals waren wir zunächst einmal erstaunt bis überwältigt, was Michi Weiss alles essen konnte oder essen musste. 3000–4000 Kalorien »gehen sich beim Abendessen locker aus«, wie er uns erzählte. Kein Wunder andererseits, wenn man bedenkt, was für Strecken ein Triathlet während eines Wettkampfes zurücklegt – 3,8 Kilometer schwimmen, gefolgt von 180 Kilometern auf dem Rad und abschließend noch ein Lauf über die übliche Marathondistanz von gut Michi Weiss (rechts) 42 Kilometern. (Fotocredit: Claus-Peter Niem)

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Natürlich, an diesem Abend hatte Michi Weiss keinen Triathlon hinter sich, dafür aber einen Halb-Triathlon (über die Hälfte der Distanz) in der Wachau im Jahr 2019. Wir fuhren mit dem Auto hin, durften ihn während des Wettkampfs bestaunen und als Sieger auf dem Podest beklatschen und fuhren mit dem Auto wieder rund 80 Kilometer zum besagten Heurigen. Michi Weiss hatte anscheinend noch nicht genug vom Wettkampf, schwang sich abermals auf sein Rad und traf kurze Zeit nach uns ein – mit dem besagten Appetit und weiteren fast 100 Kilometern in den Knochen. Unglaublich, was für eine Dynamik. Überhaupt faszinierend, wenn er von seinem täglichen Trainingsprogramm erzählte – mal stand das Laufen, mal das Schwimmen, mal das Radfahren im Vordergrund. Immer mit dem Ziel, für den nächsten Triathlon punktgenau und perfekt »prepared« zu sein. »Put everything into the detail«, nannte es Weiss gerne – dazu passend auch sein Spitzname: Präzise wie ein ›Sniper‹, ein ›Scharfschütze‹, wie er uns schmunzelnd verriet. In der Tat ein absoluter »Profikiller« – im übertragenen Sinn: Kontrolliert, abgecheckt, eiskalt (wenn es im Rennen darauf ankommt). Ein Jahr später durften wir in Podersdorf im Burgenland mit dabei sein – diesmal über die volle Ironman-Distanz. Am Abend vorher trafen wir Michi Weiss samt Trainer – vor einem urigen Restaurant direkt am See hatten sie es sich bei untergehender Sonne gemütlich gemacht, dazu ein Glas Bier als Absacker. Das war anscheinend eine Art Wettkampfritual, um sich nach harten Trainingswochen auf diese Weise die nötige Portion Lockerheit zu holen. Doch kontrolliert und konsequent wie immer war gegen 21.30 Uhr Bettruhe angesagt. Schweigend gingen wir noch einmal zum See, genossen gemeinsam mit ihm die Monotonie des Sonnenuntergangs und verabschiedeten uns – schließlich schellte der Wecker bereits um 3.00 Uhr morgens. Dann die üblich präzise bzw. passgenaue Vorbereitung, Frühstück und ab ins Wasser gegen 6.00 Uhr. »Fast, hard, legendary«, lautete das Motto des Triathlons im September 2020, an dem rund 2000 Sportler, Profis wie Amateure, teilnahmen. Und genauso sollte es auch kommen. In einer »Fabelzeit« von 7 Stunden 36 Minuten 56 Sekunden lief Michi Weiss ein in der Tat legendäres Rennen – und verfehlte den Weltrekord über die Ironman-/Langdistanz um nur wenige Sekunden. »Den hebe ich mir für ein größeres Rennen auf«, so Michi Weiss verschmitzt, der anscheinend auch hier wieder ganz im Sinne des »Sniper« messerscharf kalkulierte. Wir waren einfach nur sprachlos  … Es ist eben alles eine Sache der Einstellung.

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Für ein Interview erreichen wir Michi Weiss via Whatsapp. Er ist gerade in Colorado und bereitet sich auf die Ironman-WM vor, die am 7.5.2021 in St. George, Utah, stattfindet. Wann hast du das Radfahren für dich entdeckt? Das Radfahren habe ich als Jugendlicher für mich entdeckt, als ich mein erstes Mountainbike bekommen habe. Damals war ich so 13, 14 Jahre. Es bedeutete für mich von Anfang an Freiheit. Ich konnte mit dem Fahrrad alleine, ohne die Hilfe von jemand anderem weiter weg fahren und natürlich auch ins Gelände, mit dem Fahrrad auf den Trails, wo man sonst nur zu Fuß hin gekommen ist. Wie viele Stunden pro Tag trainierst du auf dem Fahrrad? Als Triathlon-Fahrer trainiere ich eigentlich nur drei bis vier Mal in der Woche am Fahrrad, ich würde sagen im Schnitt so 10 Stunden pro Woche, auf Trainingslagern kann es aber auch bis zu 20 Stunden pro Woche werden. Also, ich trainiere nicht täglich am Rad, Gott sei Dank, ich weiß nicht, ob das mein Sitzfleisch aushalten würde. Zum Glück gibt es im Triathlon noch zwei andere Disziplinen, was auch sehr viel Zeit im Training beansprucht. Der Vorteil ist, dass ich mich, wenn ich nur dreimal in der Woche am Rad sitze, mich vielmehr freu, als wenn ich jeden Tag auf dem Fahrrad trainieren müsste. Wieso bist du vom Mountain-Bike auf Triathlon umgestiegen? Obwohl ich ein sehr guter Radfahrer bin, war ich eigentlich immer der Läufer. Das hat damit angefangen, dass ich immer überall hingelaufen bin, wo sich die anderen Kinder oder Jugendliche haben hinführen lassen mit dem Auto, bin ich gelaufen. Dann, als junger Fußballspieler, war ich technisch nicht so begabt, aber ich war eben der Läufer, immer diese Mittelfeldposition, Offensive, und hab so auch meinen Teil dazu beigetragen im Fußballverein. Mein Vater war zudem Sportlehrer. Er hat immer für Marathons trainiert, was damals ziemlich extrem war. Jetzt ist es ja normal, dass man Marathon läuft. Da bin ich im Urlaub usw. immer wieder mit meinem Vater mitgelaufen, schon als junger Mensch, so mit 10, 11 Jahren. Das ist einfach immer natürlich gewesen für mich, das Laufen. Das war auch der Grund, warum ich vom Mountain Bike auf das Triathlon gewechselt bin, weil ich einmal das Radfahren und das Laufen kombinieren konnte zum Schwimmen dazu noch. Es hat sich einfach rausgestellt, dass ich noch viel erfolgreicher als Triathlet war und bin. Was ist das Besondere an einem Rennrad für den Iron-Man? Das Besondere an einer Triathlon-Wettkampfmaschine ist, dass es für die Aerodynamik ausgelegt ist. Das erste, was jemand machen will, wenn er ein Rad sieht, eines was cool ausschaut: Er will es heben. Die Leute fragen immer: ›Wieviel Kilo wiegt

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das Rad?‹ Das Gewicht ist nicht so entscheidend, weil im Triathlon, vor allem in der Langdistanz, also Ironman-Triathlon, was ich mach, zählt eigentlich die Aerodynamik. Die Zeitfahrposition, also man ist in so einer windschlüpfrigen Position im Rad, die ausgetestet wird im Windkanal oder auf der Fahrradbahn, da ist sehr viel Technik dahinter, und dazu auch noch die speziellen Helme, Anzüge, Laufräder, Felgen usw. Das ist eigentlich das Besondere, dass es für die Geschwindigkeit gemacht wird, und es gibt eigentlich kaum ein Rennen, wo die Durchschnittsgeschwindigkeit unter 40 km die Stunde liegt. Und ich bin ja auch in Podersdorf, damals wie ihr dabei wart, fast 45 km/h gefahren für 180 Kilometer, also fast schon so schnell wie ein Moped (lacht). Wo hast du deine größten Erfolge gefeiert? Meine größten Erfolge habe ich gefeiert – (Pause) – ja, gut, bei all meinen Siegen. Ich habe schon acht Ironman gewinnen können und sieben Halbdistanzen, aber bei den Weltmeisterschaften in Hawaii, da ist auch ein zehnter Platz, was bisher mein bestes Ergebnis war, ein riesen Erfolg. Es ist halt immer dann emotional und eine Genugtuung und Erleichterung, wenn man so hart darauf hin trainiert hat und dann lohnt sich‘s. Es muss nicht immer ein Sieg sein, ein gewisses Ziel zu erreichen. Konkret bereite ich mich jetzt gerade vor auf die Ironman-Weltmeisterschaft in St. George in Utah, die normalerweise Anfang Oktober in Hawaii ist. Aber wegen der Pandemie ist sie zweimal ausgefallen und verschoben worden von Hawaii nach Utah. Das Besondere daran ist, dass ich dort in St. George 2010 meinen ersten Ironman gewinnen konnte. Und das ist sicher etwas Besonderes, dorthin zurückzukehren. Was bedeutet für dich Erfolg? Erfolg kann natürlich einerseits bedeuten, seine gesteckten Ziele zu erreichen, wie gesagt, es muss nicht immer ein Sieg sein, aber ich glaube, Erfolg ist auch, wenn man die mentale Stärke besitzt, immer konstant weiterzukämpfen und weiterzumachen, sein eigenes Ding zu machen, nie aufzugeben. Natürlich ist es manchmal aus strategischen Gründen notwendig, im Wettkampf aus strategischen oder aus gesundheitlichen Gründen auszusteigen, aber es ist auch einfach so, eine sportliche Karriere hat Hochs und Tiefs und sicherlich einen Gesamthöhepunkt, und dann muss man halt entscheiden, was sind realistisch betrachtet die individuellen Ziele, die man sich stecken kann und soll, um weiterhin motiviert zu bleiben. Was treibt dich an? Ziele zu haben, auf die Ziele hin zu arbeiten, zu planen, sein Bestes zu geben an den Wettkampftagen – einfach dieses strategische Hinarbeiten, der Ehrgeiz – dieses

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»Keep on going«, das treibt mich eigentlich an. Ich verstecke mich nie vor den großen Rennen. Für mich ist es wichtig, dass ich große, wichtige Wettkämpfe habe. Ich möchte mich mit den Besten der Welt messen. Michael »Michi« Weiss: Mountainbike-Olympiateilnehmer 2004, Österreichischer Mountainbike-Meister im gleichen Jahr, seit 2008 Top-Triathlet und 8-facher Ironman-Sieger – man darf gespannt sein, wie die Reise weitergeht.

Vita Karin Helle war schon immer von der Energie des Fußballsports begeistert. Ihre besondere Leidenschaft: Führungspersönlichkeiten zu entwickeln, die den Unterschied ausmachen können – und zwar auf und neben dem Platz. Neben ihrer langjährigen Leitung einer Grundschule im Brennpunkt der Dortmunder Nordstadt bildete sich die gebürtige Wienerin als Managementberaterin, Mentaltrainerin und Coach weiter – und coachte zunächst Unternehmer, Teams und Einzelpersonen. Ihr Credo: »Leading with the heart.« Claus-Peter Niem gilt als bestens vernetzt in der Fußball-Trainerwelt. Fasziniert von der ganz besonderen Fußballmentalität des Ruhrgebiets, deren Bewohnern und Geschichten zog es ihn zum Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie nach Dortmund, um hier im Bildungsbereich zu arbeiten. Seine Vision: Spieler, Teams und Trainer so zu entwickeln, dass sie zukünftigen Herausforderungen im Leben wie auf dem Platz gewachsen sind – mental, emotional, mit Teamspirit und eigener Persönlichkeit.

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Nachhaltiger Tourismus

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Der internationale Tourismus gehört zur wichtigsten Industrie unseres Jahrhunderts. Doch mit seinem Erfolg werden auch dessen Schattenseiten deutlicher: Reisen bedeutet eben nicht nur Sonne, Strand und Sightseeing, sondern auch Treibhausgase oder Wasserknappheit. Schädlich sind vor allem Flugreisen, weil der Steigflug beim Start sehr viel Treibstoff verbraucht. Bei Langstreckenflügen verstärken die in großer Höhe ausgestoßenen Gase den Treibhauseffekt zusätzlich. Kurzstreckenflüge weisen auf den Kilometer gerechnet eine besonders schlechte Klimabilanz auf. Wie und wo Urlaub gemacht wird, hat also großen Einfluss auf unseren »Ökologischen Fußabdruck«: Dieses Konzept entwickelten 1992 Mathis Wackernagel und William Rees als Indikator, der die Fläche berechnet, die benötigt wird, um beispielsweise den Treibstoff für eine Flugreise zu erzeugen oder ein Kleidungsstück herzustellen. Die Grundidee: Nur ein Viertel der Erdoberfläche besteht aus produktiver Land- und Meeresfläche. Bei einer Gesamtbevölkerung von derzeit etwa 6,6 Milliarden Menschen stehen jedem Erdbewohner durchschnittlich 1,7 Hektar zur Verfügung. Unser globaler Fußabdruck liegt jedoch um ein Viertel darüber. Die erneuerbaren Energien werden schneller verbraucht, als sie sich regenerieren können. Je höher also der Hektarverbrauch, desto größer die Umweltbelastung. Die Reisewirtschaft spielt deshalb auch eine wichtige Rolle zur Erreichung der Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (SDGs). In der Agenda 2030 wird der Tourismus mit drei konkreten Zielvorgaben (Goal 8, 12 und 14) ausdrücklich erwähnt: Bis 2030 sollen politische Rahmenbedingungen geschaffen werden, die einen nachhaltigen Tourismus fördern, der Arbeitsplätze schafft und lokale Gemeinschaften unterstützt. Zudem sollen nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster etabliert und Instrumente entwickelt werden, die die Auswirkungen des Tourismus auf eine nachhaltige Entwicklung der Welt dokumentieren.

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In der Corona-Pandemie sind viele Urlaubsträume zerplatzt – für die Umwelt war es dagegen eine willkommene Verschnaufpause, denn mit den stornierten Flügen sank der Ausstoß von Klimagasen. Viele nutzten die Zeit auch, um ihre Urlaubspläne zu überdenken. So ist die Nachfrage nach nachhaltigen Natur- und Urlaubserlebnissen weiter angestiegen. Dies hat auch mit der Sehnsucht nach authentischem Erleben und einer intakten Natur zu tun. Die Vorliebe von Inlandsreisen geht mit dem Trend zum Wandern, Spazierengehen und Naturerleben einher. Wichtig ist deshalb, dass der Tourismus auf lokalen und regionalen naturräumlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen aufbaut. An- und Abreise Wenn nicht mit dem Rad gefahren wird, machen An- und Abreise den größten Anteil am ökologischen Fußabdruck eines Urlaubs aus. Wer die Urlaubsregion mit Bus, Bahn oder Rad erkundet, fährt grüner als mit dem (Miet)Auto. Bei größeren Entfernungen reicht die Zeit nicht immer für eine Bahnfahrt. Es ist dann besser, einen Direktflug zu buchen anstatt einen mit Zwischenstopp. Buchung Das Gemeinschaftsprojekt »Green Travel Transformation« hat eine einheitliche Kennzeichnung für nachhaltige Reiseangebote eingeführt. Durch die Markierung werden für Reisebüros nachhaltig zertifizierte Hotelangebote zum ersten Mal großflächig im deutschlandweit meistgebuchten Beratungs- und Angebotssystem »Bistro Portal« sichtbar und buchbar. Immer mehr deutsche Reisende sind an nachhaltigen Reiseangeboten interessiert, doch werden viele nachhaltige Aspekte bei der Buchung nicht berücksichtigt, weil Informationen nicht zur Verfügung stehen. Gepäck Gereist werden sollte stets mit kleinem Gepäck. »Sag nein zu totem Gewicht« lautet hier die Devise, denn auch das Gewicht des Gepäcks schlägt sich auf den CO2-Ausstoß nieder und zwar sowohl bei Auto- als auch bei Flugreisen. Geschäftsreisen Die Möglichkeiten im Bereich Mitarbeitermobilität und Geschäftsreisen werden häufig nicht optimal ausgeschöpft. Dabei steckt gerade in diesem Bereich

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ein enormes Potenzial für eine bessere ökologische Unternehmensbilanz. In welchem Maße Strategien für grüne Geschäftsreisen umgesetzt werden, ist eine Frage der jeweiligen Unternehmenspolitik. Nur in Ausnahmefällen sollten Geschäftsreisen ins Ausland mit dem Flugzeug zurückgelegt werden, komplett vermieden werden können diese wohl nicht. Einerseits sind Lieferantenbesuche erforderlich, um die Einhaltung der strengen Beschaffungskriterien sicherzustellen, andererseits sind Flugreisen zu europäischen Händlern erforderlich. Unternehmen haben die Möglichkeit, die durch den Flug entstehende Klimabelastung durch freiwillige Kompensationszahlungen auszugleichen, durch die in Klimaschutzprojekte investiert werden kann (z. B. beim Anbieter atmosfair). Innerhalb Deutschlands ist ein Flug weitgehend unnötig und auch bei Reisen in angrenzende Länder kann, wo sinnvoll und abhängig von der Zugverbindung, die vergleichsweise umweltverträgliche Bahn gewählt werden. Bei der Planung der Geschäftsreise sollte darauf geachtet werden, dass möglichst viele Termine, die nahe beieinander liegen, auch zeitlich entsprechend koordiniert werden. Zudem sollte immer überprüft werden, ob persönliche Treffen nicht auch durch Web- und Videokonferenzen ersetzt werden können. Viele Geschäftsreisende nutzen von allen am Zielort zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln am häufigsten das Taxi. Der öffentliche Nahverkehr wird nur von wenigen genutzt. Selten wird auf Leihfahrräder zurückgegriffen, die es inzwischen in vielen deutschen Großstädten gibt. Lässt sich am Reiseziel ein Mietwagen nicht vermeiden, empfiehlt es sich, bei der Anmietung ein Elektroauto oder ein Modell mit Hybridantrieb zu wählen. Für Kurzstrecken ist auch Carsharing eine gute Alternative, das sich als Konkurrenz zu Taxen, Mietwagen oder öffentlichen Verkehrsmitteln in Großstädten mittlerweile etabliert hat. Reiseziel Bei der Wahl des Reiseziels sollte immer die Dauer des Aufenthalts eine Rolle spielen. Flugreise, Dauer und CO2-Ausstoß sollten in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Wenn schon Urlaub mit Flug, dann sollten am Urlaubsort mindestens zwei Wochen verbracht werden. Bei der Flugbuchung sollte auf den Flugzeugtyp geachtet und modernere Maschinen bevorzugt werden, die weniger klimaschädliche Treibhausgase verursachen. Wer auf den Flug nicht verzichten möchte, hat die Möglichkeit, seinen verursachten CO²-Verbrauch zu kompensieren: Die bereits erwähnte Klimaschutzorganisation atmosfair ermittelt beispielsweise für Flugreisende den entsprechenden Schadstoffverbrauch

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und gleicht diesen durch die Unterstützung nachhaltiger Umweltprojekte wieder aus. Auch viele Fluggesellschaften bieten mittlerweile ähnliche Aktionen an, um den ökologischen Fußabdruck zu neutralisieren. Allerdings sollte man auch hier im Blick behalten, dass eine Neutralisierung nicht unmittelbar erfolgt, da sich beispielsweise Aufforstungsflächen erst über Jahre entwickeln müssen. Je kürzer der Urlaub, desto näher sollte er am eigenen Wohnort sein. Eine Faustregel besagt, dass wir pro Stunde Zeitumstellung und zehn Grad Temperaturunterschied etwa einen Tag zur Anpassung benötigen.

Die Holzbrücke bei Essing ist eine Spannbandbrücke, die in der Nähe von Kelheim Fußgänger und Fahrradfahrer über den Main-Donau-Kanal führt. (Foto: Dr. Alexandra Hildebrandt)

Umweltsiegel Im Deutschland-Tourismus gibt es zwar eine Vielzahl entsprechender Labels, aber auch sie sind vielen Menschen nicht bekannt, obwohl im Internet zahlreiche ökologische Unterkünfte, Eco-Campingplätze über Klima-Hotels und -Ferienhäuser bis hin zu Bio-Bauernhöfen angeboten werden. Deshalb hat der Bundesverband VERBRAUCHER INITIATIVE e.V. in der Studie »Anforderungen an Unternehmenszertifizierungen für nachhaltigen Tourismus in

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Deutschland« (2017) gemeinsam mit dem Zentrum für Nachhaltigen Tourismus (ZENAT) 36 Zertifizierungssysteme auf Grundlage internationaler Richtlinien untersucht1 und dabei ihre inhaltlichen Ansprüche sowie ihre Transparenz und Prozesse analysiert: Die meisten Zertifikate werden für Hotels vergeben, seltener für Reiseveranstalter. Lediglich vier Labels (TourCert für Reiseveranstalter und Unterkünfte, Travelife Gold und Green Sign) erfüllen über 75 Prozent der strengen Kriterien. Weitere elf erreichten über 50 Prozent. Bei den meisten Zertifikaten werden jedoch zwei Drittel der entsprechenden Kriterien erfüllt – allerdings bleiben die inhaltlichen Ansprüche häufig hinter den Ansprüchen eines nachhaltigen Tourismus zurück. Vor allem soziale Kriterien (z. B. die Zufriedenheit der Mitarbeitenden) werden oft vernachlässigt. Besser steht es im Bereich Umwelt- und Ressourcenschutz, wo das EU Ecolabel und die internationalen Umweltmanagement-Standards EMAS und ISO 14000 weit vorn liegen. Folgende überregionale Zertifikate werden empfohlen: Bio Hotels, Certified Green Hotel, EU Ecolabel, Green Globe, Green Key, Green Sign, Österreichisches Umweltzeichen, TourCert, Travelife Gold, Viabono. »Bett + Bike«-zertifizierte Unterkünfte sind hingegen speziell auf die Bedürfnisse von Fahrrad-Urlaubern ausgerichtet. Wanderer können bei der Planung ihrer Routen auf das Zeichen »Qualitätsweg Wanderbares Deutschland« achten. Unterkunft »Grüne Hotels« tragen in der Regel ein Umweltsiegel. Aber auch für konventionelle Hotels und Pensionen gibt es mittlerweile Nachhaltigkeitschecks, da auch hier die Erfahrung gemacht wurde, dass es bei fast jeder Unterkunft Einsparoptionen gibt, die auch mit geringen oder gar keinen Investitionen und mit schneller Amortisierung (in ein bis zwei Jahren) umzusetzen sind. Für die Klimabilanz der Unterkünfte spielen unter anderem der Energie- und Wasserverbrauch, die Abfallproduktion pro Gast und Nacht sowie die Infrastruktur des Gebäudes eine Rolle. Energie- und Wasserkosten verursachen mittlerweile neben Wareneinsatz und Personal den drittgrößten Kostenblock. Wer nahezu energieautark (mit Ökostrom bzw. regenerativen Energien), Elektromobilität und fortschrittlicher Abwasserklärung arbeitet, kann bis zu 20 % einsparen. Zumeist betrifft dies sogar weniger den klassischen Technikbereich als vielmehr eine Ausrichtung auf einen effizienten Betrieb bzw. Sensibilisierung der Mitar1 https://www.zenat-tourismus.de/images/pdf/Ergebnisbericht_NachhaltigerTourismus.pdf

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beitenden und der Gäste. Statt All-inclusive-Buffets bieten sich Restaurants mit lokaler Küche an, der Wasserverbrauch kann durch Mehrfachverwendung von Handtüchern und Bettwäsche reduziert werden und eine Klimaanlage sollte (wenn überhaupt) nur in kurzen Intervallen genutzt werden. Auch dies ist ein sinnvoller Teil des Kundenbeziehungsmanagements. Denn wer als Kunde Wert auf Nachhaltigkeit legt, achtet auch auf das Engagement der Hotelleitung – und kommt gerne wieder. Weiterführende Informationen: Umweltfreundliche Radreisen: www.fahrradreisen.de Fünf Faustregeln für faires Reisen: http://www.fairunterwegs.org/fair-unterwegs/5-faust regeln/ Urlaub in Deutschland: Warum immer mehr Menschen auf Inlandsreisen setzen: https:// dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2018/06/urlaub-in-deutschland-warum-immermehr.html Reisen mit gutem Gewissen: Anforderungen an einen nachhaltigen Tourismus: https:// dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2019/06/reisen-mit-gutem-gewissen-anforde rungen.html Flugreisen und Klimaschutz: Eine nachhaltige Herausforderung: https://dralexandrahilde brandt.blogspot.com/2019/03/flugreisen-und-klimaschutz-eine.html Öko-Tourismus: Warum nachhaltige Natur- und Urlaubserlebnisse immer beliebter werden: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2018/07/oko-tourismus-warumnachhaltige-natur.html Besser unterwegs: Wie sich Geschäftsreisen nachhaltig gestalten lassen: https://dralexandra hildebrandt.blogspot.com/2018/08/besser-unterwegs-wie-sich.html Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gut zu wissen  … wie es grüner geht: Die wichtigsten Tipps für ein bewusstes Leben. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017. Alexandra Hildebrandt: Urlaub. Das Gute in der Nähe finden. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017. Frank Herrmann: FAIRreisen. Das Handbuch für alle, die umweltbewusst unterwegs sein wollen. Oekom Verlag, München 2016.

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Radfahren & Wellness

Alexandra Hildebrandt Fahrradfahren als Gegenwelt zum Alltag Für viele Menschen ist ihr Alltag heute »aus dem Takt« gekommen, denn sie sind ständig abgelenkt, immer und überall erreichbar und können sich nicht mehr auf die wenigen, wirklich wesentlichen Elemente ihres Lebens konzentrieren. Dann reift in ihnen der Wunsch, sich in Reservate des Privaten wie Freizeit und Achtsamkeit zurückzuziehen und sich neu auszurichten, damit es sich im Alltag wieder »rund« anfühlt. Die Fragen nach der eigenen Erfüllung und dem Sinn des Lebens führen häufig nicht mehr in die Kirchen hinein, sondern zu kleinen und großen Ausstiegen aus dem Alltag. Die Entschiedenheit, die dort oft fehlt, wird mit einem Aufbruch spürbar und konkret: Grenzen werden neu definiert, und es wird entschieden, was zu ändern und was zu tun ist. Es geht um den Mut, sich auf Neues einzulassen. Wandern, Flanieren und Fahrradfahren sind mit dem Gefühl verbunden, sich aus der Dauererreichbarkeit auszuklinken. Trotz individueller Ausgestaltung machen alle Menschen die Erfahrung von leichten und schweren Wegstrecken, von Hitze und Kälte, leichtem und schwierigem Fortkommen. Wer erst einmal seinen eigenen Rhythmus gefunden hat, kann seine Gedanken schweifen lassen und dem Unbestimmtem Raum geben. Das Schweifen des Geistes nennen Neurologen »Mind Wandering«. Wenn der Geist auf Wanderschaft geht, wendet sich unsere Konzentration offensichtlich von gerade anstehenden Aufgaben ab. Das »behindert« nach Ansicht von Arbeitsmedizinern und Psychologen insbesondere bei kognitiv anspruchsvollen Tätigkeiten die menschliche Leistungsfähigkeit. Die amerikanische Studie »A wandering mind is an unhappy mind« aus dem Jahre 2010 bestätigte, dass die Teilnehmenden 47 Prozent der Wachzeit abgeschweift waren – bei der Arbeit am meisten. Ergebnisse wie diese unterstützen das oft unausgesprochene Vorurteil, dass konzentrierte und zielgerichtete Aufmerksamkeit einen höheren Wert habe als offene und spontane Wahrnehmung, der häufig das Stigma des

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Nutzlosen anhaftet. Die einseitige Annahme, dass Aufmerksamkeit nur im Dienste von Problemlösungen oder zum Erreichen von Zielen notwendig sei, ist irrig, denn damit werde »die fruchtbare Neigung des menschlichen Geistes« heruntergespielt, die Gedanken umherschweifen zu lassen. Konzentration und Abschweifen gehören für den US-Psychologen Daniel Goleman zusammen und führen zur Stabilisierung, Kultivierung und Beweglichkeit des Geistes. Wir sollten uns deshalb öfter gestatten, unseren Geist umherschweifen zu lassen. Während des Wanderns oder Radfahrens verbessern sich menschliche Leistungen in allem, was von plötzlichen Geistesblitzen abhängt. Goleman verweist auf positive Auswirkungen wie kreative Ideen und Erfindungen. Zudem wird den Schaltkreisen im Gehirn für intensivere Konzentration eine Pause gegönnt. Tagträume sind also nicht »nutzlos«, sondern eine wichtige Unterstützung unserer Hirnareale. Wie der amerikanische Neurologe Jonathan Schooler ist auch Goleman der Meinung, dass der »wandernde Geist« nicht immer vom Wesentlichen wegwandern und »abhängen« will. Er kann sich auch auf etwas Wertvolles zubewegen. Der schweifende Geist ist auch im Kontext der Nachhaltigkeit von Bedeutung, weil er »Szenarien für die Zukunft« schafft sowie Selbstreflexion und die »Orientierung in einem komplexen sozialen Umfeld« ermöglicht. Dazu braucht es eine offene Aufmerksamkeit, die uns veranlasst, Informationen aufzunehmen, die uns sonst im besten Wortsinn »entgehen« würden. Der schweifende Blick geht haltlos über die Landschaft, er ist dezentriert, und alles wird zu Zwischenräumen, die wir heute umso mehr brauchen, weil sie uns Gelegenheit zur erfüllten Ruhe geben, in der wir uns als Gestalter unseres eigenen Lebens spüren. Wo sich der Nachhaltigkeits- und der Wellness-Diskurs treffen In den Begriffen Langfristigkeit und Gleichgewicht treffen sich der Nachhaltigkeits- und der Wellness-Diskurs. Beiden geht es darum, Regenerationsprozesse auf Dauer zu stellen. Die Sehnsucht nach ökologischer Nachhaltigkeit prägt unsere Zeit, denn immer mehr Menschen suchen heute nach einem natürlichen Leben abseits des tradierten ökonomischen Systems, weil ständiger Druck ihr individuelles Lebenstempo verschärft und die Welt zunehmend unsicherer und komplexer wird. Engländer und Amerikaner sagen zum Wohlbefinden »wellbeing« und zur Leistungsfähigkeit »fitness«. Beides zusammengesetzt ergibt das Wort »Wellness«. Der Begriff bezeichnet einen modernen Lebensstil, der auf Wohlbefinden, Lebensfreude und gute körperliche Verfassung setzt.

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Damit verbunden ist heute auch ein großer Markt, der »Wellness für zuhause« anbietet: Dazu gehören Badesalze, Pflanzen- und Pflegeöle, Duftmischungen Pflegeöle, Kräuterball, Duftstäbchen, Badeöle, Salzpeeling, Duftlampen, Kissensprays oder Tees. Viele Menschen machen heute am liebsten »Wellnessurlaub«. »Einfach die Augen schließen. Und auf die Fingerspitzen hören. Sich von der Nase leiten lassen. Mit dem Herzen denken. Sich in die Natur vertiefen, Gegend erleben, die Landschaft einatmen!«, heißt es auf der Website eines Familien- und Wellnesshotels im Salzkammergut. So wie hier finden sich in den meisten Hotels auch Hallenbäder, Massageduschen und Whirlpool, eine Sauna und Dampfbäder. In vielen Hotels werden geschlossene Stoffkreisläufe genutzt, in der sowohl an Ernährungssouveränität und Ernährungsautarkie orientierte Lebensmittel als auch Landwirtschaft eine wichtige Rolle spielen. Um achtsam mit der Natur, unseren Lebensmitteln und uns selbst umzugehen, braucht es das, was Daniel Goleman »ökologische Intelligenz« nennt. Sie erkennt er vor allem in der Empathie für alles, was lebt – die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, wird auf alle Natursysteme erweitert. In der Corona-Pandemie entdeckten viele Menschen für sich Urlaub in der Natur. Die Osttiroler bezeichnen dies als »Naturwellness«. Heinz Mayer, 1. Bürgermeister der fränkischen Gemeinde Burgthann, hatte früher ein normales Rad und ist damit auch gern bergig gefahren. »Dann wurde als Gemeindefahrrad ein E-Bike gekauft – und damit entdeckte er die Freude am E-Bike. Mit der Corona-Krise hat er sich mit seiner Lebensgefährtin eigene Räder gekauft und seitdem fährt er sozusagen fast pausenlos: egal ob Termine im Gemeindegebiet, er ist aktiv unterwegs. Ob Happburger Stausee oder am Gardasee die Berge rauf und runter oder schnell über den Dillberg nach Neumarkt – das ist kein Problem mehr für den Bürgermeister«, sagt Elke Leser, Marketingleiterin der Gemeinde Burgthann.

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Heinz Meyer, 1. Bürgermeister der Gemeinde Burgthann (Foto: Gemeinde Burgthann): »Meine Lieblingsstrecke ist am alten Ludwigskanal, weil er so schön eingewachsen ist und zu jeder Jahreszeit etwas zu bieten hat.«

Der Ludwigskanal in Burgthann (Foto: Sebastian Baum)

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Tipps und Anregungen für Radtouren im Nürnberger Land sind online erhältlich unter: https://urlaub.nuernberger-land.de (Foto: Hans Dolmer).

Beliebt bei Radlern ist auch Schmidmühlen, ein Markt im Oberpfälzer Landkreis Amberg-Sulzbach, der zur Metropolregion Nürnberg zählt (Foto: Hans Dolmer).

Beispielhafte Touren: Vom Rad ins Bad Zu den beliebtesten Radwegnetzen gehört die Region um Bad Füssing, Bad Griesbach und Bad Birnbach (Kurztouren für Einsteiger, anspruchsvolle Langstrecken für Fortgeschrittene, Sportliches für Mountainbiker), der Bierradlweg von Vilshofen entlang der Vils bis Aldersbach, der »Apfel-Radl-Weg« zwischen Donau und Inn, der Donauradweg von Passau nach Wien. Beim »Wellnessurlaub« kann das Fahrrad über einzelne Streckenabschnitte stehengelassen und die Natur bei einer Wanderung erkundet werden. Auch das Ruhrgebiet empfinden viele Menschen als Wohlfühloase, die sich mit dem Fahrrad gut erkunden lässt – besonders die schönen Arbeitersiedlungen und Gartenstädte. Fast jede Ecke und die Altstädte sind aus dem

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Sattel erreichbar.1 Aber auch die »Beuys & Bike«-Route am Niederrhein, die in Zusammenarbeit mit den Tourexperten des ADFC entstand, ist sehr beliebt.2 Zur Feier seines 100. Geburtstages 2021 machte sie den Künstler Joseph Beuys, seine Ideen und Werke erfahrbar. Die rund 300 Kilometer lange Radroute führt von Kleve unter anderem durch Krefeld, Mönchengladbach, Duisburg und Düsseldorf nach Leverkusen. Hier stehen die Stationen seines Lebens und Wirkens: sein Geburtshaus, das erste Atelier, die Kunstakademie und die Museen, die seine Kunst bekannt machten. Wer sich auf diese Spuren begibt, lernt Beuys aus unterschiedlichen Perspektiven kennen. Erlebt wird zugleich auch eine Zeitreise vom antiken Rom in Xanten über eine postmoderne Architekturikone in Mönchengladbach bis zur urbanen Street Art am Rhein in Krefeld. Sehr gefragt ist auch Rügen, die flächengrößte und sonnenreichste Insel Deutschlands. Wer hierher kommt, möchte innehalten und Kraft für einen Richtungswechsel finden. Denn Unruhe ist heute so etwas wie ein permanenter Alarmzustand, aus dem es keine Befreiung, sondern nur Erlösung gibt. Das ist allerdings nur an einem Ort möglich, wo Menschen auch ihr inneres Gepäck ablegen können. Die westliche Kultur hat die Muße leider an den Rand gestellt. Dabei hat sie nichts mit Faulenzen zu tun. Wer sich ihr hingibt, zieht sich von der alltäglichen Welt beobachtend zurück, um dann mit erneuter Kraft wirksam und produktiv zu sein. Rügen eignet sich perfekt dafür: Die Anreise ist umweltfreundlich möglich, und es gibt viele nachhaltige Übernachtungsmöglichkeiten, Sehenswürdigkeiten und Rad- und Wanderwege. Der Rügenrundweg ist circa 275 km lang und schließt alle wichtigen Eckpunkte der Insel ein.3 Die Küsten mit ihren Kreidefelsen, die feinsandigen Strände, die Schlösser, Parks und Herrenhäuser, die Bäderarchitektur, die Wälder und Moore sowie die schilfgesäumten Lagunen sind einzigartig. Viele Gebiete gehören deshalb zu den Nationalen Naturlandschaften, zwei sogar zum UNESCO-Weltnaturerbe. Auch die Insel Hiddensee, die gerade einmal 16,8 km lang ist, bietet sich für Radtouren an, denn sie darf nicht mit dem Auto befahren werden. Das Ostseebad Binz ist nicht nur das größte Seebad der Insel – es bietet auch ein vielfältiges Kultur- und Veranstaltungsangebot und ist bequem mit der Bahn zu erreichen. Neben dem fünf Kilometer langen Sandstrand ist dieser Ort 1 2 3

Über das Radwegenetz des Ruhrgebiets informiert: www.radrevier.ruhr »Beuys & Bike«-Route am Niederrhein: www.dein-nrw.beuys Beliebte Fahrradtouren auf Rügen: https://www.reiseland-ruegen.de/beliebtefahrradtouren-auf-ruegen/

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in eine beeindruckende Naturlandschaft eingebunden, die sich beispielsweise vom Naturerbe-Zentrum Rügen aus erleben lässt. Das Zentrum befindet sich in Prora, dem nördlichsten Teil von Binz. Schon die Anreise mit dem Fahrrad entlang des Ufers lässt die beeindruckende Naturlandschaft erahnen. Genussradeln Muße und Freude am guten Leben sind mit Genuss verbunden, der auch bei vielen Radler:innen im Fokus steht: eine schöne Tour zu fahren und die Landschaft zu genießen, Gleichgesinnte kennenzulernen oder in ein Gasthaus mit regionalem Essen einzukehren. Diese Lebensqualität wird Menschen in ihrer Freizeitgestaltung heute immer wichtiger, wie auch das folgende Beispiel zeigt: Zwischen der Donau, Tschechien und Österreich erstreckt sich auf 6000 Quadratkilometern eine einmalige Natur- und Kulturlandschaft. Bereits vor mehr als 30 Jahren unternahm der Touristikexperte, Mountainbiker und Radsportler Uwe Neumann mit seiner heutigen Frau einen Kurztrip nach Furth im Wald im Bayerischen Wald. Die unberührte Mittelgebirgslandschaft empfand er damals als Paradies. Beide unternahmen ausgedehnte Touren mit dem Mountainbike oder Rennrad, wanderten über die höchsten Gipfel des Bayerischen Waldes und joggten auf vielen Trails in einem einzigartigen Naturpark. Als Stadtmensch waren ihm die Glücksgefühle, die die Natur in ihm ausgelöste, völlig neu. Schließlich wurden die Besuche im Bayerischen Wald, eine der »ursprünglichsten« Regionen Europas, immer häufiger und so verlegten sie nach einiger Zeit sogar ihren Lebensmittelpunkt dorthin. Uwe Neumann arbeitete in der Tourist-Information, wo er mehr und mehr über die Region erfuhr und sein Hobby bei geführten Fahrrad-Touren oder Wanderungen sowie bei verschiedenen Outdoor-Events weiter pflegen konnte. In der Natur wurde vor allem das Fahrrad ständiger Begleiter der beiden. Viele Touren fanden nun auf dem kompletten »Grünen Dach Europas« (Bayerischer und Böhmischer Wald mit seinen zwei Nationalparks) statt. Seine Touren hat er mittlerweile in einem umfangreichen Radreiseführer zusammengefasst. Zuvor setzte Neumann auch im Landkreis Cham wegweisende Akzente. So war er beispielsweise an der Streckenkonzeption der TRANS  BAYERWALD (eine Mountainbike-Reiseroute durch die schönsten Gegenden des Bayerischen Waldes) maßgeblich beteiligt. Seine Konzepte haben Erfolg, weil er vermitteln kann, wie wichtig es ist, sich etwas zu gönnen und zu genießen. Für Menschen wie Uwe Neumann

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ist Genuss auch damit verbunden, etwas Gutes in sein Umfeld zu projizieren: Sich bewusst zu werden, dass Freiheit, Selbstverantwortung und Genuss keine Widersprüche sind, sondern zu den Säulen der Nachhaltigkeit gehören. Ökonomie, Ökologie und Soziales brauchen auch diese inneren Ressourcen, die genauso gepflegt werden müssen. Deshalb wird bei den Genusstouren auch Wert gelegt auf ökologisch erzeugte Lebensmittel, regionale und saisonale Erzeugnisse sowie abwechslungsreich und bekömmlich zubereitete Speisen. Auf diese Weise »erfahren« Radler:innen unmittelbar, was es bedeutet, unser Ernährungssystem nachhaltig zu gestalten und die Erde pfleglich zu behandeln. Weiterführende Informationen: Die mit Abstand beste Art von Wellness ist »Naturwellness«: https://sportmarkt.info/diemit-abstand-beste-art-von-wellness-ist-naturwellness/ Radfahren in Coburg Rennsteig: https://www.coburg-rennsteig.de/ (Die Urlaubsregion bietet flache Wege entlang weitläufiger Wiesen und Auen, ebenso wie sportliche Strecken und Trails mit steilen Anstiegen und anspruchsvollen Abfahrten in vier Teilregionen) Die zehn schönsten Radwege Deutschlands: https://www.wellnesshotel24.de/blog/well nessurlaub-mit-dem-fahrrad-unsere-top-10-der-radwege/ Wellnesshotels mit Fahrradverleih in Deutschland: https://wellness-hotel.info/wellnessur laub/deutschland/fahrradverleih Mountainbike Hotels in Österreich: https://www.mountainbike-hotel.com/themen/ mountainbiken-wellness.html Dauerhafte Regenerationsprozesse: Was Wellness mit ökologischer Nachhaltigkeit verbindet

https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2022/02/dauerhafte-regenerati

onsprozesse-was.html In Balance: Der Schlüssel für mehr Nachhaltigkeit und Stabilität https://dralexandrahilde brandt.blogspot.com/2022/01/in-balance-der-schlussel-fur-mehr.html Warum Rügen die beliebteste Ostseeinsel ist https://dralexandrahildebrandt.blogspot. com/2022/04/warum-rugen-die-beliebteste-ostseeinsel.html Mind Wandering: Wohin uns der schweifende Geist führt https://dralexandrahilde brandt.blogspot.com/2022/02/mind-wandering-wohin-uns-der.html Alexandra Hildebrandt (Hg.): CSR und Sportmanagement. Jenseits von Sieg und Niederlage: Sport als gesellschaftliche Aufgabe verstehen und umsetzen. SpringerGabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2019.

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Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand: Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit: Umrisse eines Forschungsprogramms. Transcript Verlag, Bielefeld 2018. Magdalena Marszałek, Werner Nell, Marc Weiland (Hg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit. Transcript Verlag, Bielefeld 2018. Uwe Neumann: Genussradeln im Bayerischen Wald. 33 Erlebnis-Radtouren für Naturliebhaber. SüdOst Verlag 2022.

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Vom Glück des Radelns: Gedanken zu einem tragenden Lebensgefühl

Karsten Schumann Ein Leben in Bewegung Bei schönem Wetter und noch mehr an sonnigen Wochenenden radeln viele sportlich ambitionierte Menschen gern ins südliche Umfeld von München. Die leicht ansteigende Landschaft mit herrlichem Blick auf die Alpen und mit der Seenlandschaft aus größeren und bekannten, aber auch vielen kleineren Seen sowie den sportlichen Herausforderungen im Voralpenland ziehen viele Radfahrer:innen an. Und genau das mag ich nicht. Deshalb bevorzuge ich lieber das antizyklische Radeln, sehr früh oder vormittags an Wochentagen im Isartal mit seinen herausfordernden Abfahrten und Aufstiegen. Und wenn es einer harten Prüfung bedarf, dann wird der Aufstieg zum Spitzingsattel auf über eintausendeinhundert Metern mit weit über fünfhundert Höhenmetern zum Scharfrichter. Radfahren bedeutet für mich vor allem körperliche Aktivität in Ruhe und des Mit-sich-selbst-Seins, der Muße und des Glücklichseins, des Nachdenkens und des Aufräumens von Gedankengängen in und mit der Natur. Fahrradfahren ist aber auch seit über einem halben Jahrhundert in meinem Alltag ein wichtiges Fortbewegungs- und Transportmittel. Nachhaltiges Handeln war in meinen jungen Jahren in der damaligen DDR noch kein vordergründiges Handlungsprinzip: Es war den Gegebenheiten, auch des Mangels, geschuldet, zu Fuß oder eben schneller mit dem Fahrrad zur Schule und dem sportlichen Training zu kommen, zum Treffen mit Freunden, um Fußball oder in der Natur zu spielen, im Sommer die Erdbeeren und andere Früchte und Gemüse im bewirtschafteten Garten zu ernten oder den Einkauf zu erledigen. Autos wurden dafür kaum genutzt. Somit war in der Schul-, Ausbildung- und Studienzeit das Fahrrad im Alltag integriert. Das hatte sich dann vor allem durch berufliche Anforderungen für fast 20 Jahre geändert: Der Alltag wurde die Straße. Viele Autokilometer – etwa Hunderttausend im Jahr! Rückblickend bin ich froh, dass das vorbei ist. In den letzten

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Jahren wurde das Fahrrad wieder für die Alltagswege zur Normalität. Dazu kommt eine Verbindung von sportlicher Aktivität und körperlicher Herausforderung. Durch einen schon Anfang des 20. Lebensjahrs erlittenen Knieschaden wurde das sportliche Radfahren zu einem wichtigen physischen, aber auch psychischen Ausgleich für mich. Das fast tägliche Auf-dem-Sattel-sitzen bei jedem Wetter wurde so zu einem Lebensgefühl. Doch nach einem Sturz auf einer eisgefrorenen Strecke mit angebrochenen Ellenbogengelenk sowie immer wieder steifen und kalten Fingern bei Minus-Temperaturen – wo selbst beheizbare Handschuhe nicht helfen –, aber auch bei Regen, Sturm und Schnee wurde das Standbike im Keller bei offenem Fenster für die sportlichen Aktivität mehr als nur ein Alibi für mich. Es ist nicht zuletzt der Vernunft des Alters und dem damit auch verbundenen vorsichtigeren Denken und Handeln geschuldet. Aber im Freien und in die Natur zu radeln, hat für mich etwas Sinnliches – emotional und gefühlt die wahre, wirkliche und inspirierende Umwelt. In Ausdauersportarten können die monotonen, die immer wiederholenden, gleichen Bewegungen recht einfach und schnell erlernt und durch diszipliniertes und regelmäßiges Training sowohl im zeitlichen Umfang als auch in der Intensität auf ein gutes sportliches Niveau entwickelt werden. Neben den wichtigen und wissenschaftlich belegten gesundheitlichen Aspekten und den Wirkungen der Luft und Natur auf das Wohlbefinden wird auch das Nachdenken angeregt und der Kopf »frei«. Und insbesondere beim sportlich ambitionierten Radfahren kommt ein weiterer Aspekt dazu: Der Versuch, an die eigenen körperlichen und mentalen Grenzen, an das eigene Limit zu kommen. Unabhängig vom Leistungsniveau werden Anstiege und auch quälende Steigungen – die beim Schreiben direkt im Kopf des Schreibers auftauchen – angegangen. Und diese Kraftanstrengungen sind oft bei hochsommerlichen Temperaturen und großer Hitze zu erbringen. Für Außenstehende wird die Sinnhaftigkeit dieser mehr oder weniger großen Strapazen vielleicht fragwürdig bleiben. Viele, und nach meinen persönlichen Beobachtungen auch mehr jüngere Menschen, nehmen die Anstrengungen des Radfahrens bewusst auf sich. In meinem Umfeld freuen sich einige, wenn sie ihre gefahrenen Kilometer und Höhenmeter, ihre Geschwindigkeiten und Herzfrequenzen oder sogar ihre getretenen Wattzahlen kennen. Andere steuern ganz bewusst bestimmte Ziele an: Sehenswürdigkeiten, Orte und bestimmte Stellen in Städten, Umland und Natur. Andere wollen so wie ich einfach ihren Fitnesszustand trainieren und mehr oder weniger auch ihre Grenzen

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austesten. Letztlich geht es dabei auch immer um die eigene Erfahrung und das Erfühlen der eigenen Anstrengungen. Beim sportlichen Radfahren kann jeder auf seinem Niveau an und in Grenzbereichen auch extreme Erfahrungen sammeln. In diesen Grenzbereichen können die Herausforderungen von qualvollen Abschnitten zum Prüfstein einer gewissen eigenen Leidensfähigkeit werden. Einige fahren die legendären Strecken der großen Radtouren und wollen diese besonderen und außergewöhnlichen Herausforderungen selbst erleben. Meistens fährt man seine eigenen Routen, und wenn der Ehrgeiz durchkommt, kann daraus auch ein imaginäres Rennen werden. Dann fährt man gegen Mitstreiter oder mit seinem Idol und will die Anstrengungen, den Kampf und das Leiden nachempfinden, die eigenen Grenzen erkennen, aber auch die Glücksgefühle nachempfinden. Allerdings denkt der Autor immer häufiger: Warum? Fahr dein eigenes Tempo, du musst dich nicht mehr mit anderen vergleichen, sondern nur mit dir selbst. Ja, aber die Verlockung ist immer noch groß – doch die eigene Leistungsfähigkeit wird immer altersgerechter. Diese Fragen beschäftigen mich im Kontext des Radfahrens in besonderer Weise: Wie entsteht eine Leidenschaft zum Radfahren? Gab es ein Ereignis oder ein Vorbild? Hat man ein Lieblingsfahrrad? Braucht es mehrerer »Pferde im Stall«? Was kann beim Radfahren passieren? Welches Erlebnis war prägend? Anhand dieser Fragen werden drei persönliche Ereignisse und Erlebnisse aufgegriffen, um die eigene und bisher gelingende sowie in vielseitiger Hinsicht auch nachhaltige Philosophie des Radfahrens auf eine hoffentlich unterhaltsame und vor allem anregende Weise für die Leser aufzuzeigen. Drei Erzählungen: »Täve« das Idol Bei vielen Menschen, die in der DDR vor Mitte der 1980er-Jahre geboren wurden, entstehen bei dem Kürzel »Täve« sofort Radrenn-Assoziationen: Friedensfahrt, Straßen mit Menschenmassen, vorbeirasende Radfahrer und eben der Anfeuerungsruf »Täve, Täve, Täve«. Viele Schulkinder haben am Straßenrand gestanden, gewartet auf den kurzen Moment des sich aufbauenden Lärms, der das Peloton von Radfahrern begleitet. Die Internationale Friedensfahrt war von 1948 bis 1989 die größte Amateurrundfahrt und führte durch die drei Länder Polen, die damalige CSSR und die DDR. Mit wenigen Ausnahmen waren die Hauptstädte dieser Länder – Warschau, Prag, Berlin – abwechselnd Start-, Etappen- oder Zielort. Und wenn das Feld der Friedensfahrt heran- und

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noch viel schneller vorbeifuhr, und ein kurzer Blick auf die Fahrer möglich war, wurde mit »Täve, Täve« angefeuert. Bei mir war dieses Erlebnis Anfang der 1970er-Jahre der zündende Funke fürs Radfahren. Die Liste erfolgreicher Sportler:innen in den unterschiedlichsten Sportarten und Disziplinen aus der DDR bei den Olympischen Spielen sowie Weltund Europameisterschaften ist lang. Einer dieser erfolgreichen Sportler war der 1931 geborene Rennradfahrer Gustav-Adolf »Täve« Schur. Er gewann als erster Deutscher 1955 die Gesamtwertung der Internationalen Friedensfahrt und wiederholte diesen Erfolg 1959. Schur gewann 1958 die Weltmeisterschaft im Straßenrennen der Amateure und verteidigte als erster Amateur erfolgreich diesen Titel 1959. Bei den Olympischen Spielen gewann er im Mannschaftsfahren 1956 in Melbourne Bronze und 1960 in Rom Silber. Schur wurde von 1953 bis 1961 neunmal hintereinander zum Sportler des Jahres in der DDR gewählt, so häufig wie kein anderer Sportler. Bei einer 1979 durchgeführten Umfrage nach den besten und populärsten DDR-Sportlern aller Zeiten belegte Schur den ersten Platz. Auch bei einer ähnlichen Wahl 1989 wurde Schur, nun bereits 25 Jahre nach Beendigung seiner aktiven Laufbahn, mit fast der Hälfte aller Stimmen auf Platz eins gewählt (Kluge, 2000, S. 356–358). Zur Legende wurde Schur nicht allein durch seine aufgeführten Erfolge. Die Rad-Weltmeisterschaften 1960 wurden in der DDR durchgeführt und waren eine der ersten großen internationalen Sportereignisse in diesem Land, und dementsprechend war der Andrang der Zuschauer groß. Das Straßenrennen der Amateure fand am 13. August 1960 statt und die 8,7 km lange Rennstrecke auf dem Sachsenring säumten 150.000 Zuschauer (Hönel, 2010), andere Quellen sprechen sogar von 200.000 begeisterten Zuschauern (MDR, 2021). Schur galt als zweifacher Weltmeister und Titelverteidiger mit der Chance auf einen WM-Hattrick auch für dieses Rennen als einer der Favoriten. Ein anderer DDR-Fahrer meinte, von den 111 Fahrern am Start hatten grob überschlagen 40 eine Siegchance (Hönel, 2010). Springen wir in die letzten 3 Runden: Es gibt eine Führungsgruppe mit dem DDR-Fahrer Eckstein – Schur hat 1:22 Minuten Rückstand und nimmt die Verfolgung auf (Ullrich, 1960, S.343). In der vorletzten Runde und den bereits vielen zurückgelegten Kilometern unter großer Hitze ist das Fahrerfeld weit auseinandergerissen. Eckstein und ein Belgier, ein international bekannter und starker Sprinter, liegen nun vorne und Schur und ein sowjetischer Fahrer nähern sich den beiden. Plötzlich sprintet der Belgier los und versucht Eckstein abzuhängen. Dieser wartet auf Schur, dem sein

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Begleiter nicht mehr folgen kann und eingangs der letzten Runde betrug der Vorsprung des Belgiers auf die nun beiden Verfolger aus der DDR noch 28 Sekunden (Ullrich, 1960, S. 344; Hönel, 2010). Die letzte Runde ist legendär  … Eckstein erinnert sich: »Einen Kilometer vor dem Ziel war der Ausreißer gestellt. (…) Täve und ich wechselten kein Wort. Ich raste los, als sei der Teufel hinter mir her.« Schur reagierte nicht und blieb bei dem Belgier, der völlig verdutzt war, denn er rechnete mit dem Antritt des zweimaligen Weltmeisters, der aber gar nicht daran dachte. Und nochmal Eckstein: »Ich kam ein kleines Stück weg. Das reichte zum WM-Trikot. Der Belgier hatte nie damit gerechnet, dass ein Kapitän seine Chance verspielt, um den WM-Titel für die Mannschaft zu retten.« (Hönel, 2010) Übrigens schlug Schur den Belgier im Endspurt und wurde Zweiter. (Ullrich, 1960, S. 346) Aber noch einmal: »Als Eckstein antrat, hielt sich Schur uneigennützig zurück und überließ seinem Freund den Titel.« (MDR, 2021) Mit dieser taktischen Entscheidung, die eigenen Siegchancen dem möglichen Erfolg des Teamkameraden zu opfern, avancierte Täve an jenem 13. August 1960 endgültig zur Sportlerlegende.

Links: Vorderseite Programmheft der Rad-Weltmeisterschaften 1960 (Privatbesitz). Rechts: Autogrammkarte Täve Schur (Privatbesitz)

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Zu seinem 90. Geburtstag wurde Schur gefragt, was sein schönster Erfolg war. Er zögerte keine Sekunde: »Der Sachsenring! Weil sich da gezeigt hat, was die Massen begeistert! (…) Wie das Rennen lief, das hat die Menschen glücklich gemacht«, glaubte Schur. (Süddeutsche Zeitung, 2021) Er bekräftigt die philosophische These, »dass das Gewinnen im Radsport mit moralischer Ambiguität behaftet ist.« (Block/Joye 2018, S. 185) Es geht letztlich darum »die richtige Balance zwischen dem Gewinnen und dem Wert, welcher der Achtung bzw. der Freundschaft beigemessen wird, zu finden.« (Block/Joye 2018, S. 181) Das Rennen und insbesondere das Ende war eine »taktische Meisterleistung« (Kluge 2000, S. 357) von Schur und auch ein klares Bekenntnis, dass in einer Mannschaft die Einzelinteressen dem Erfolg der Mannschaft unterzuordnen sind. Als Teamsportler kenne ich die Mechanismen erfolgreicher Mannschaften sehr gut. Täve war auch aufgrund seiner Leistungen der Kapitän und stellte den Mannschaftserfolg bei der WM von 1960 über den eigenen Erfolg und sich selbst in den Dienst der Mannschaft. Vertreter des Pragmatismus gehen davon aus, »dass die Situationen, in denen Menschen sich in etwas involvieren, das sie an ihre Grenzen bringt, das also erst die Grundlage für individuelles Wachstum schafft, eher dazu geeignet sind, diese besonderen Momente zu kreieren.« (Elcombe/Tracey 2018, S. 20) Vor allem das begründet aus meiner Sicht den Mythos »Täve«. Abschließend noch ein sehr persönliches Anliegen: Täve Schur wurde die Mitgliedschaft in der Hall of Fame des deutschen Sports verweigert. Nach zwei gescheiterten Anläufen wird es nach Aussagen des Vorstandschefs der Deutschen Sporthilfe von 2017 keinen dritten Anlauf mehr geben (Süddeutsche Zeitung, 2021). Natürlich war Schur durch seine sportlichen Erfolge und seine Beliebtheit ein sportpolitisches Aushängeschild und auch in politischen Gremien der DDR tätig. Einige Entwicklungen und Teilbereiche des Sports bedürfen mit Abstand noch einer vorurteilsfreien und seriösen fachlichen Aufarbeitung und kritischen Hinterfragung. Für mich stellt sich nur die Frage: Wäre es nicht korrekt, dem mit überwältigender Mehrheit gewählten populärsten Sportler eines Teils des wiedervereinten Deutschlands auch den entsprechenden Platz in der Ruhmeshalle einzuräumen? Für Schur ist das erledigt (Süddeutsche Zeitung, 2021), aber es gibt auch bekannte Fürsprecher (Süddeutsche Zeitung, 2021). »«Täve«, oder besser gesagt »unser Täve«, war in der DDR die Sportlegende schlechthin – und er ist es über die 40 Jahre DDR hinaus. Bei aller Denkmalspflege: Sympathie, Beliebtheit kann man nicht verordnen. »Das

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Phänomenale an Schur (…) ist, daß er sich diese Popularität weit über seine aktive Zeit hinaus bewahren konnte (…).« (Kluge, 2000, S. 356) Wer in der Heimatgegend von Schur im Magdeburger Umland mit dem Rad unterwegs ist, kann ihm durchaus auch auf dem Rennrad begegnen. »Das geht nur, wenn es wärmer wird«, berichtet Schur, sonst geht's jedoch fast täglich zu Fuß auf eine ordentliche Runde (Grahl, 2021). Und ich rufe ihm in inniger Verbundenheit als mein Idol auf vielen Rad-Kilometern auf diesem Weg nochmal zu: Täve, Täve, immer weiter, Täve, Täve! MEIN Rad vermisse ich! In meinem Leben und sicherlich auch in dem Leben vieler Menschen in dem kleinen Land DDR war das Fahrrad ein wichtiges Fortbewegungsmittel. Ich habe allerdings keine Erinnerung, ob es Mitte der 1960er-Jahre schon kleine Kinderfahrräder wie in der heutigen Zeit bereits gab. Ein blauer Roller mit Luftreifen war für mich die Vorstufe und es gab auch ein Tretauto. Wann ich genau das Fahrradfahren gelernt habe, kann ich nicht genau sagen, aber das Rad habe ich in Erinnerung: Es war dunkelbraun und von unserer Oma. Als kleinerer Bruder habe ich immer Sachen und Dinge von meinem älteren Bruder bekommen, die wir von Verwandten und Bekannten für eine gewisse Zeit benutzten und dann wieder zurückgaben oder an jüngere Kinder weitergegeben haben. Damals hat niemand von Nachhaltigkeit gesprochen, aber unabhängig von den Gründen, war das bereits nachhaltiges Verhalten über Generationen hinweg. So war das auch mit meinen Fahrrädern. Mein erstes neues und dann auch eigene Fahrrad habe ich zum 13. oder 14. Geburtstag von meinen Eltern geschenkt bekommen. Das war gefühlt dann auch etwas ganz Besonderes. Es war von der Marke Diamant. Es gab nicht so viele Marken wie heute, aber unser Rad-Idol Täve fuhr – natürlich Diamant. Die Fahrradmarke gibt es bereits über 135 Jahre und hat ihren Sitz im Umfeld von Chemnitz. Übrigens war Täve einer der ersten Rennfahrer, der Anfang der 1950er-Jahre die nach dem Krieg wieder neu aufgebaute Fahrradproduktion von Diamant nutzte (Ullrich, 1960, S. 4). Mit dem Straßenrennrad Nr. 167 von Diamant gewann Täve Schur 1955 die Einzelwertung der Internationalen Friedensfahrt und auf diesem »Friedensfahrtmodell« auch 1958 seinen ersten Weltmeistertitel. Ab 1963 darf Diamant aber im Amateur-Radsport nur noch inkognito antreten. Um die Kommerzialisierung im Sportbereich zu unterbinden, wird der Schrift-

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zug »Diamant« durch den Schriftzug »Friedensfahrt« ersetzt. Allerdings ist die Marke so bekannt, dass nicht nur Insider wissen, von welcher Marke diese Rennräder kommen (Diamant, 2022). Mein Diamant war ein hellblaues Sportrad, eine Mischung aus einem normalen Tourenrad und einem Rennrad. Schmalere, aber keinen Rennradreifen, einen Leerlauf ohne Rücktrittbremse und dadurch mit zwei Felgenbremsen, eine Beleuchtung und auch ein Gepäckträger. Ein wirklich schönes Rad, auf das ich sehr stolz war und das mir neue Möglichkeiten und Freiheiten eröffnete. Mein Schulweg war kurz, aber zu meinem Fußball- und Leichtathletiktraining, zum Schwimmbad oder zu Erledigungen und zum Einkaufen fuhr ich nun mit meinem Fahrrad. Auch in der Freizeit war ich nun viel flexibler, mit Freunden die Umgebung und auch die Nachbarorte zu erkunden. Später begann ich zunehmend auch weitere Strecken zu fahren und aufgrund meiner hohen sportlichen Aktivitäten gezielt das Fahrradfahren zur Konditionssteigerung zu nutzen. Ich bin in einer kleinen Stadt in Westthüringen an der Grenze nach Hessen geboren und aufgewachsen, die als Tor zur Rhön gilt, und von den Ausläufern dieses Mittelgebirges in seiner Landschaft geprägt wird. Auch der Thüringer Wald, ebenfalls ein Mittelgebirge, ist in guter Erreichbarkeit. Bei meinen Touren in diesen Gegenden kam ich immer mehr an meine und auch an die Grenzen meines Fahrrades, das eben kein Rennrad war. So wuchs Ende der 1970er-Jahre die Einsicht, dass mein Fahrrad für meine Bedürfnisse nicht mehr geeignet war. Ich brauchte für meine sportlichen Ambitionen ein Rennrad und für den Alltag ein zweites Rad. Das zweite war kein Problem, es gab genug Möglichkeiten, ein gut gebrauchtes Fahrrad für kleines Geld zu erwerben. Dieses Fahrrad wird in der letzten Geschichte eine traurige, aber wichtige Rolle einnehmen. Das gewünschte Rennrad war ein größerer Aufwand. Mein Vater bot mir einen Tausch an: Mein hellblaues Sportrad und Unterstützung beim Aufbau gegen sein altes Rad. Was für den Leser vielleicht wie ein schlechtes Geschäft aussieht, machte mir Freude: Das weinrote Rad war auch von Diamant und von 1960! Ja, 1960, das Jahr als Täve zur Legende wurde. Es war klar: Das wird umgebaut und kein neues Rennrad gekauft, was aber auch nicht ganz so einfach gewesen wäre. Denn Rennräder gab es zu dieser Zeit auch nicht einfach zu kaufen. Dann begann das mühsame Zusammentragen der benötigten Einzelteile wie Rennlenker, zwei Sportbremsen oder Rennfelgen sowie passende Schläuche und Radmäntel. Das allergrößte Problem war die Schaltung. Gut, dass ich die Unterstützung meines Vaters hatte. Er brachte

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von einer Kur in Karlsbad, damals Tschechoslowakei, eine 6-Gangschaltung mit vorne zwei Ritzel und hinten drei. Den Einbau machte ein im Nebenberuf tätiger Fahrradmechaniker an einem Samstagnachmittag hinter verschlossenen Türen: Selbstständige unterlagen auch in der DDR der Steuerpflicht und mir ersparte es Geld. Voller Glücksgefühle war die erste Fahrt vom Mechaniker nach Hause unvergesslich. Das nun fertiggestellte Rennrad hatte einen Rennlenker, der mit rotem Klebeband umwickelt war, und eine Schaltung, bei der die Kette ab und zu runtersprang, und ich oft mit schwarzen, schmierigen Händen zurück kam und meine Mutter natürlich einen Schreck bekam, da sie dachte, ich sei gestürzt. Aber mit einer Handbürste und ATA-Reinigungsmittel und ausgiebigen schrubben waren die Hände auch wieder sauber. Mit meinem Traumrad fuhr ich ausgiebige Touren in den Mittelgebirgen und bewältigte viele Höhenmeter im Thüringer Wald und der Rhön oder auch die sportlichen Herausforderungen eines Triathlon. Ich liebte es wegen seiner Geschichte und den vielen Kilometern, die ich auf dem Rad fuhr und mich immer ohne Stürze ans Ziel brachte. Es war für mich »mein Glücksrad«. Mitte der 1980er-Jahre zog ich wegen meinem Studium nach Leipzig. Mein Rennrad war dabei und war ein Hingucker – immer sauber und geputzt. Ich war erstaunt, dass man wunderbar mit dem Fahrrad auch in Leipzig und Umgebung fahren konnte. In guter Erinnerung bleiben die Fahrten in der Dübener Heide und die herausfordernden Steigungen im Muldetal. Mein einziger Sturz mit meinem Rennrad passierte in Leipzig. Viele Straßen hatten in dieser Zeit noch Kopfsteinpflaster und bei Nässe und Regen wird dieses Pflaster zu einem sehr rutschigen Untergrund. Aber das meisterte ich gut, das andere Problem in Leipziger Straßen hingegen nicht. Straßenbahnen gehören zum Gesicht der Stadt, aber es kann für Radfahrer gefährlich werden, wenn man in die eingelassenen Schienen gerät. Glück im Unglück für mich: Ich fuhr in die Schienen, schaffte es nicht wieder auf die Straße und schlidderte über das regennasse Kopfsteinpflaster. Zum Glück kam ich mit dem Schrecken davon. Die gesellschaftlichen Umbrüche 1989/90 in Leipzig zu erleben, war besonders. Die großen Demonstrationen von Hunderttausenden von Menschen um den Leipziger Ring waren beeindruckend, und wie durch friedliches Handeln Veränderungen eingeleitet wurden, bleibt unvergesslich. Aber auch unvergesslich wurden Erscheinungen, die ich vorher nicht kannte. Ein Fahrrad nicht mehr zu sichern, bedeutet meistens, es nicht mehr vorzufinden. Ich kaufte mir

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extra eine stabile Sicherungskette, die am Rahmen in einem Kasten untergebracht und etwa 1,50 m lang war. Damit konnte ich immer beide Räder sowie den Rahmen an Gegenständen, wie Fahrradständern oder Regenabflussrohren, sichern. Eines Nachts wurden alle Keller des Hauses, ich dem ich wohnte, aufgebrochen. Mein Rennrad war mit der langen Sicherungskette durch beide Räder gesichert. Im Keller gab es keine Möglichkeit, das Rad als Ganzes an einen Gegenstand anzuschließen. Die Diebe hatten leichte Beute und mussten es nur raustragen. Ich hingegen trug schwer an dem Verlust und war sehr traurig. Nach über dreißig Jahren wirkt es immer noch nach. Ein neues Rad der Marke Diamant vermag ich mir nicht mehr zu kaufen. MEGA Rahmenbruch Mit großer Freude beobachte ich beim Morgenspaziergang mit Oscar, unserem Hund, junge Frauen und Männer, die ihre kleinen Kinder in Lastenfahrrädern in den Kindergarten fahren oder sie zum Einkaufen mitnehmen. Es zaubert mir immer ein Lächeln ins Gesicht, weil beide, Elternteil und Kind, ersichtlich Freude an dieser Art des Transports haben. Wie gut, dass auch diese Art von Fahrrädern weiterentwickelt wird. Bei mir kommt bei dieser Beobachtung immer das Bild auf, wie ich mit meinem ältesten Sohn unterwegs war: Leipzig im Winter 1989/90, starker Schneefall und die verschneite Straßen, die gar nicht schnell genug geräumt werden konnten. Ich musste meinen Sohn früh in den Kindergarten fahren, und entsprechend der Witterungsbedingung war er natürlich mit einer dicken Jacke, einer dicken Hose, Handschuhen und Mütze warm angezogen. Dann ging es mit einem normalen Fahrrad los. Wie damals üblich, saßen die Kleinkinder auf einem kleinen Sitz, der auf der oberen Stange des Rahmens zwischen den Armen des Fahrers befestigt war, und die Füße standen auf kleinen, abklappbaren Stützen, die an der Vordergabel montiert waren. Das was übrigens nicht ungefährlich, wie ich im Vorsommer schon erlebt hatte. Wir waren im Urlaub in Thüringen, und beim Fahrradfahren kam mein kleiner Sohn mit dem Fuß in die Speichen. Zum Glück sind die Bänder und Knochen bei Kleinkindern noch elastisch. Berechtigterweise bekam ich viel Ärger von der Mama. Allerdings konnte ich dann den restlichen Urlaub damit verbringen, meinen Sohn in einem Handwägelchen des Uropas überall hinzufahren, da sein Füßchen 14 Tage Ruhepause brauchte. Aber zurück zum Winter: Ich fuhr diesmal sehr vorsichtig durch die verschneiten Leipziger Straßen, als ich nach unten schaute: Mein Sohn war zwar dick eingepackt, hatte aber noch die

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Hausschuhe an! Mein inzwischen erwachsener Sohn und ich lachen heute darüber herzlich. Heutzutage ist das in den Lastenrädern kein Problem mehr: Die Kinder sitzen gut geschützt in einer Holzumrahmung. Allerdings werden auch in München, wo wir heute leben, die Schneefälle spürbar weniger. Ich gebe zu, ich bin ein Buchfetischist. Ich liebte es als Student, und liebe es heute immer noch, durch die Antiquariate in Leipzig zu schlendern und in alten Büchern zu stöbern. Meine Familie ist nicht so begeistert von meiner immer weiter wachsenden Büchersammlung. Aber gehen wir noch einmal zurück in die aufwühlende Zeit der Wiedervereinigung 1990: Mit dem Beitritt der fünf neugegründeten Bundesländer zur Bundesrepublik nahmen viele Veränderungen ihren Lauf. Auch die Hochschullandschaft der DDR wurde an die neuen Bedingungen angepasst. So wurde zum Beispiel die in Leipzig ansässige und weltbekannte Deutsche Hochschule für Körperkultur abgewickelt und als deutlich geschrumpfte Fakultät Sportwissenschaft in die Leipziger Universität eingegliedert (Schumann, 2002). Ich erlebte diese Zeit als Forschungsstudent an dieser Einrichtung. Mit der Abwicklung einher gingen ein massiver Abbau von Instituten, Personal und Sachmitteln. Aber ich hätte es auch aus unserer deutschen Geschichte nicht für möglich gehalten, dass Bücher aus Fenstern geworfen werden und sich zu Bücherbergen aufbauen. So geschehen in Leipzig an mehreren Einrichtungen. Das empfand ich als sehr beschämend. Demgegenüber ging die Vernichtung der Institutsbibliotheken an meiner abgewickelten Hochschule noch relativ gesittet ab. Ich musste damals mit einem Mitstudierenden die Institutsbibliotheken ausräumen und die Bücher in Kartons zur Entsorgung packen. Es war für mich persönlich trotzdem schlimm. Ich konnte nur einige Bücher mitnehmen, wie zum Beispiel die Bände des Mediziners und Nobelpreisträger Pawlow oder dem bedeutenden Pädagogen und Schriftsteller Makarenko – beides weltweit anerkannte sowjetische Wissenschaftler. Die mehrbändigen Ausgaben transportierte ich in einem grünen, stabilen Stoffrucksack von meinem Opa. Diese sehr stabilen und belastbaren Rücksäcke sieht man heute noch bei älteren Bergfilmen. Ich wohnte etwa fünf Kilometer von der ehemaligen Hochschule entfernt und hatte ein älteres Fahrrad, mit dem ich alle Wege in Leipzig erledigte. Auch den Transport der ausgesuchten Bücher durch Leipzigs Grünanlagen wie den Clara-Zetkin-Park und durch Teile des Auenwalds.

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Gesamtausgabe Makarenko (Privatbild), Gesamtausgabe Pawlow (Privatbild)

Mein Fahrrad leistet mir dabei gute Dienste. Neben den Büchern wurde auch das Mobiliar vernichtet. Als Student war die Einrichtung meiner Zwei-Zimmer-Wohnung eher spartanisch. Daher waren ein Beistelltisch, ein mittleres Buchregal oder ein Rollcontainer aus Holz willkommen. Auch diese Gegenstände transportierte ich mit meinem Fahrrad. Demgegenüber war der Transport einer Schreibtischlampe ein Vergnügen. Alle diese Sachen habe ich noch heute. Aber die wirklichen Herausforderungen kamen erst noch auf mich zu. Auch die ehemalige Hochschulbibliothek der DHfK musste sich von Büchern trennen, die wohl nicht mehr in die Zeit passten. Da ich viel in der Bibliothek an meinem Promotionsthema arbeitete, kannten mich die Mitarbeiter:innen. Eines Tages kam eine Mitarbeiterin auf mich zu und fragte mich, ob ich nicht Interesse hätte, die vollständige, in braunes Leder gebundene Gesamtausgabe von Lenin in 40 Bänden zu übernehmen. Diese Bücher mussten aus der Bibliothek »ausscheiden«, wie in der Fachsprache das Aussortieren genannt wurde. Die besagten Bücher erhielten den entsprechenden Stempel und konnten nun von mir übernommen werden. Über den inhaltlichen Wert von Lenins Werken kann und muss man diskutieren. Aber dazu sollte das Werk auch selbst gelesen werden, um sich ein eigenes Bild zu machen. Die Gestaltung und das bibliophile Erscheinungsbild dieser Gesamtausgabe ist einfach ansprechend. Selbstverständlich konnte ich nicht alles auf einmal transportieren. Mein grüner Rucksack war zwar sehr stabil, aber mit dem Gewicht von etwa 15 Bänden musste man sich am Lenker des Fahrrads schon festkrallen, damit man nicht nach hinten kippte. Mit drei Fahrten hatte ich die Gesamtausgabe bei mir zu Hause und die Bände ergaben aneinandergereiht einfach ein gutes Bild. Bei einem nächsten Besuch in der Bibliothek kam die nächste Anfrage auf mich zu. Auch Marx und Engels in der Gesamtausgabe (MEGA) schieden aus der Bibliothek aus und die Mitar-

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beiter:innen wollten auch diese Ausgabe nicht vernichten und fragten mich erneut, ob ich nicht auch diese Werke übernehmen könne. Ja ich wollte und konnte. Der ein oder andere Leser wird vielleicht nicht verstehen, wie jemand all diese Bücher übernehmen kann. Ich war schon immer der Meinung, wer über etwas mitreden will, muss sich selber mit den Originalquellen auseinandersetzen und nicht die immer subjektiv interpretierten Beschreibungen und Darstellungen zur Meinungsbildung annehmen. Und selbst »Meterware« sieht in Leder gebunden einfach schön aus.

Im obersten Regal die MEGA und in der unteren Reihe die Lenin-Ausgabe (Privatbild)

Warum auch immer, vielleicht weil ich ein guter Abnehmer war oder weil kein anderer wollte, wurde ich nun nochmals von den Mitarbeiter:innen der Bibliothek gefragt: »Lieber Karsten, die MEGA hatten wir zweimal. Wobei die zweite Ausgabe nicht ganz vollständig ist, es fehlen vielleicht zwei oder drei Bände. Möchtest du die nicht auch noch haben? Kennst du jemanden, der Interesse hat?« Ich fragte meinen Freund Olaf – und auch er wollte. Und die Mitarbeiter:innen freuten sich, auch diese Ausgabe nicht wegschmeißen zu müssen. Also machte ich mich wieder mit meinem stabilen grünen Rucksack auf dem Weg, die Bücher zunächst bei mir zu Hause zwischenzulagern. Der Rucksack hielt. Mein altes, immer treu dienendes Fahrrad nicht. Die Fahrt mit den letzten Büchern fand ein jähes Ende nach der Hälfte der Strecke. Im Auenwald machte es »knacks« und der Rahmen brach. Zum Glück stürzte ich nicht, aber vor Wut und weil ich noch 2,5 Kilometer vor mir hatte, warf ich das gebro-

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chen Rad in die Büsche und marschierte los. Es war der schwerste Weg, ich verfluchte die MEGA und hatte Gewissensbisse, dass ich das Fahrrad einfach im Wald entsorgt hatte. Als ich verschwitzt und geschafft die letzten Bände zuhause hatte, machte ich mich nochmal auf den Weg. Ich konnte das Rad einfach nicht im Wald liegen lassen und entsorgte es beim nächsten Sperrmüll. Als mein Freund Olaf seine MEGA daheim hatte, konnten wir endlich über diese Sache lachen. Das machen wir auch heute immer mal wieder. Es muss nur das Wort MEGA fallen – aber verstehen kann uns dann keiner. Nachtrag: Einige Bände der MEGA dienen bei Olaf bis heute als stabile Stütze einer losen Bettstrebe. Seinen vier Kindern hat das Schlafen auf der MEGA nicht geschadet, sie sind dank MEGA ausgeschlafen und haben ihren Weg ins Leben gefunden – trotz oder wegen der MEGA. In Anlehnung an die bekannte 11. Feuerbachthese von Marx (1958, S. 7) kommt es eben nicht darauf an, wie man das interpretiert, es kommt darauf an, wie man etwas verändert. Nachwort Radfahren war, ist und wird immer eine fast tägliche Betätigung für mich sein. Sicherlich wird sich dabei die Art des Fahrens verändern. Als Fortbewegungsmittel für die örtlichen Wege werden meine beiden normalen Räder weiterhin ihren Dienst erfüllen. Für die sportliche Aktivität und die damit verbundene Gesundheit und das Wohlgefühl wird in der kalten und nassen Jahreszeit das Standbike im Keller zum Trainieren genutzt. Bei warmem, trockenem Wetter kommt die sportliche Radvariante zum Einsatz. Hier wird es sicherlich irgendwann auch die Akku-Unterstützung geben und auch der Umstieg auf ein E-Bike erfolgen. Ich finde das jetzt schon großartig, dass sich Leute mit diesen Rädern bewegen, vor allem auch weitere Strecken, oder eben wie im Münchner Umland auch die Steigungen leichter fahren können. Mein Vater im 85. Lebensjahr fährt in den trockenen Jahreszeiten regelmäßig im Thüringer Wald und der Rhön mit dem E-Bike alle Steigungen. Das spüre ich immer wieder und beruhigt mich, mit diesen Entwicklungen auch im Altwerden die Freude des Radfahrens in der Natur weiterhin erleben und erfahren zu können. Ich freue mich auf die Zukunft des E-Bike-Fahrens – oder, um mit Peter Fox aus seinem Song »Haus am See« zu enden: »Wenn ich so daran denke, kann ich’s eigentlich kaum erwarten!«

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Literatur: Block, Andreas de & Joye, Yannick: Eddy Merckx – ist der Kannibale ein fairer Sportler? In: Ilundáin-Agurruza, J., Austin, M.W., Reichenbach, P. (Hg.): Die Philosophie des Radfahrens. Mairisch Verlag, Hamburg 2018, S. 171–186. Diamant Fahrradwerke GmbH (abgerufen am 25.05.2022): https://www.diamantrad. com/geschichte Elcombe, T. & Tracey, J.: Die Tour de France, das Leiden und das bedeutungsvolle Leben. In: Ilundáin-Agurruza, J., Austin, M.W., Reichenbach, P. (Hg.): Die Philosophie des Radfahrens. Mairisch Verlag, Hamburg 2018, S. 193–206. Grahl, Jirka: Alt wird nur, wer sich zu wenig bewegt. 22.02.2021: https://www.nd-aktuell. de/artikel/1148626.taeve-schur-alt-wird-nur-wer-sich-zu-wenig-bewegt.html Hönel, Manfred: Goldenes Sportjubiläum: Wie »Täve« Bernhard Eckstein zum WM-Titel verhalf. 26.08.2010. https://www.volksstimme.de/sport/goldenes-sportjubilaum-wietave-bernhard-eckstein-zum-wm-titel-verhalf-387959 Ilundáin-Agurruza, J., Austin, M.W., Reichenbach, P. (Hg.): Die Philosophie des Radfahrens. Mairisch Verlag, Hamburg. 2018 Kluge, Volker: Das große Lexikon der DDR-Sportler. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin. 2000 Marx, Karl: Thesen über Feuerbach. S. 7. In: Marx, K., Engels, F.: Werke (MEGA), Bd. 3. Dietz Verlag, Berlin. 1958 Schumann, Karsten (Hg.): DHfK Leipzig 1950–1990. Chronologie einer weltbekannten Sporthochschule und das abrupte Ende ihrer Geschichte. Deutscher Sportverlag, Köln. 2003 Täve schließt ab – Schur feiert 90. Geburtstag fast allein. In: Süddeutsche Zeitung, 22.02.2021: https://www.sueddeutsche.de/sport/radsport-taeve-schliesst-ab-schur-feiert90-geburtstag-fast-allein-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210218-99-499098 Ullrich, Klaus: Unser Täve. Sportverlag, Berlin. 1960

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Vita Prof. Dr. Karsten Schumann wur­ de 1963 in Thüringen geboren. Für ihn spielen seit frühester Kindheit Bewegung und sportliche Aktivität eine maßgebliche Rolle – als eigene körperliche Aktivität sowie für seine beruflichen Tätigkeitsfelder. Er studierte von 1985 bis 1989 © Claus Uhlendorf Sportwissenschaften an der Hochschule für Körperkultur und Sport in Leipzig und promovierte 1993 erfolgreich an der Fakultät Sportwissenschaft der Leipziger Universität. 2006 bis 2012 Tätigkeit beim Deutschen Fußball-Bund und von 2012 bis 2016 bei der FC Bayern München AG als Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sportdirektors bzw. des Vorstands Sport. Seit 2017 selbstständig als Leistungsexperte für angewandte Sportwissenschaften und strategischer Beratung im Tätigkeitsfeld sportlicher Höchstleistungen. Dozent an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement mit Berufung zum Professor für Sportökonomie und Leistungssport. Autor und Herausgeber sportwissenschaftlicher Publikationen: www.karstenschumann.de

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Eine Radtour in Thüringen ist immer auch eine Tour zu den »Drei Gleichen«. Über Stock und Stein mit Goethe, Schiller, Luther Olaf Schulze Thüringen ist landschaftlich und kulturell nahezu sensationell: zum Radfahren, Wandern, Skilaufen. Wir sind die grüne Mitte Deutschlands – und es gibt alle paar Kilometer etwas zu entdecken. Auch Erfurt ist als Landeshauptstadt eine Perle, aber (noch) keine Fahrradstadt. Bis zum Rennsteig nach Süden via Arnstadt (Bach) und Ilmenau (Goethe) sind es keine 60 km, bis zum Brocken im Norden in Sachsen/Anhalt via Lutherweg und Goetheweg gute 100 km, nach Westen bis Eisenach (Bach, Goethe, Luther) und nach Osten über Weimar (Schiller, Goethe, Herder, Wieland) bis Jena (Goethe, Schiller) oder Rudolstadt (Schiller) sind es auch nur diese 60 km – wobei in Ostthüringen mit Altenburg, Eisenberg, Gera, Greiz, Saalfeld, Schleiz und Zeulenroda noch weitere Teile des wunderbaren Thüringen zu entdecken sind, und auf dieser Welle liegen dann auch Mühlhausen (Müntzer) und Heiligenstadt (Storm) im Nordwesten. In Südthüringen hinter dem Rennsteig in Bad Salzungen, Meiningen, Sonneberg bis Suhl gibt es jeweils noch mehr Thüringen! Und wirklich: Selbst nach dem regelmäßigen Befahren derselben Fahrradstrecken – mit ein wenig Abweichung vom Kurs entdeckt man immer noch etwas Neues. Und wenn es mal keine Denkmäler und Tafeln oder Gegenden und Landschaften sind, die überraschen, dann sind es die Menschen links und rechts, vor und hinter und auf dem Radweg, die besonders interessant sind. Der Weg ist das Ziel Wer durch Thüringen mit dem Kraftfahrzeug fährt, kommt auf der BAB A 4 zwangsläufig zwischen Gotha und Erfurt an den Drei Gleichen vorbei: der Wachsenburg, der Mühlburg und der Burg Gleichen – ein wunderschöner Anblick. Sie stehen fast in einem gleichschenkligen Dreieck. Und genauso wenig kann man Thüringen bereisen, ohne an Goethe, Schiller und Luther vorbei zu kommen. Besonders einladend ist eine Entdeckungstour mit dem

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Fahrrad. Zum Glück gibt es für eine sichere und abwechslungsreiche Radtour immer mehr Fernradwege, und zu den besonders schönen Plätzen und Aussichtspunkten geht es sowieso nur zu Fuß oder mit dem Fahrrad! Aber irgendwie kann man sich sicher sein, Goethe, Schiller, Luther, aber auch viele andere historische Persönlichkeiten, wie Napoleon, Wilhelm von Humboldt, Bach, Salzmann, Fröbel zu treffen. Sie wirkten hier und haben sowohl in der Kulturlandschaft als auch bei den Menschen Spuren hinterlassen. Dabei kommt man mehr oder weniger immer auf dem Lutherweg (gekennzeichnet mit dem geschwungenen »L«) vorbei und kann schon ahnen, dass es im Abstand von wenigen Kilometern etwas Besonderes und Unerwartetes zu bestaunen gibt.

Links: Lutherweg von Erfurt nach Weimar, rechts: Wigbertikirche in Niederzimmern im April 2022 © Olaf Schulze

Mit dem Fahrrad lässt sich das alles gut entdecken, denn einerseits schafft man relativ viele Kilometer auf der Tour und ist andererseits nicht so schnell, dass man an den Ereignisstätten aus Versehen vorbeidüst. Bei uns geht es oft über Stock und Stein. Ziemlich sicher ist, dass je nach Maßstab, entweder ein gewaltiger Hügel oder ein kleiner Berg auf jeder Strecke liegt. Oft sind es dann viele dieser kleinen Hügel.

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Unterwegs begegnet man fast immer tollen und aufgeschlossenen Menschen. Letztens habe ich einen älteren Herrn in Eisenach überholt, der aus der LutherStadt mit einem modernen Diamant-Rad herausfuhr. Als ich an einer roten Ampel halten musste, hatte er mich wieder. Jedenfalls fuhr ich neben ihm und bewunderte sein Diamant-Rad. Er berichtete dann von einer Radtour aus Kindheitstagen mit seinem kriegsversehrten Vater von Eisenach bis nach Altenburg und Schneeberg/Erzgebirge, quer durch den Süden der DDR. Der Radfahrer war schon Rentner, aber tourte alle Wege rund um Eisenach mit dem Rad – guter Mann, hält sich fit und ein Auto weniger ist auf der Straße. Da kommt man schnell von der Gegenwart in die Geschichte, als ich von der Tour auf den Ettersberg wenige Tage zuvor berichtete. Als ich ihn fragte, wo er gedient hat, waren wir ganz eng verbunden, denn, wenn auch in völlig verschiedenen Einheiten, er in den 70ern, ich für ein Jahr ab 1982, so waren wir beide in Eggesin (Mecklenburg-Vorpommern) stationiert. Übrigens ein Ziel, zu dem ich mit dem Fahrrad noch hin will – über Eisleben, Wittenberg, Prenzlau, wo es jeweils ein Luther-Denkmal zu sehen gibt, genauso wie in Eisenach und Erfurt. Beim Radfahren erlebt man viel, kommt in Thüringen schnell herum. Man muss natürlich auch viel strampeln, denn es geht oft durch die Hügel und spätestens auf dem Rennsteig1 mit Schotterpiste weiß man Training und ein gutes Rad zu schätzen. Dort oben gilt für mich Mountainbike-Pflicht! Aber auf den Höhen des Thüringer Waldes wird man immer mit einer schönen Aussicht belohnt. Wenn ich von Erfurt auf direktem Weg auf den Rennsteig radle, gibt es auf der Schmücke (916 m) erst einmal eine verdiente Teepause nach dem Anstieg. Vor dem Anstieg kann man in und um Ilmenau viel Goethe spüren und erleben – und deshalb klappt es selten mit dem direkten Weg nach oben, ich bin dann viel zu abgelenkt! Da oben in der Einsamkeit muss man unweigerlich an Goethes Wandrers Nachtlied denken: Über allen Gipfeln ist Ruh, In allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch; 1

Rennsteig: https://thueringen.info/rennsteig.html?msclkid=d726e111cee011ec8 337e2b422bf58eb (letzter Zugriff 08.05.2022)

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Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde ruhest du auch. Leider bin ich die 169 km Rennsteig noch nie in einer Tour von Hörschel nach Blankenstein oder umgekehrt gefahren, zwar schon von Erfurt bis zur Schmücke (916 m), insgesamt bis dahin gute 800 Höhenmeter, und dann mehrmals ab Schmücke nach Westen bis Hörschel an die Werra und einmal nach Osten bis Blankenstein. Da sammelt man auf einer Tour schnell gut 2.000 Höhenmeter zusammen und ist kumuliert auf einem Alpenpass-Niveau. Ich habe schon erlebt, wie jemand am Aufstieg vom Kleinen zum Großen Inselsberg an mir vorbeigedüst ist; der Anstieg ist derart steil, dass man das Rad fast tragen muss – aber ich war so erschöpft und fertig, dass ich nicht mal schauen konnte, ob es sich (hoffentlich) um ein E-Bike handelte. Und natürlich ist in dem ländlich geprägten Thüringen das Fahrrad neben dem Spaß und Hobby und Sport ein probates Transportmittel, um seine Wege und Besorgungen, zur Arbeit, Schule oder Studium zu fahren – leise, emissionsfrei, immer in Bewegung, man ist körperlich und bezüglich unserer Kulturlandschaft auch geistig mobil! Mit dem Fahrrad kommt man an fast jedes Ziel, wenn man will … Wo Goethe, Schiller und Luther am Wege lauern In Thüringen – aber nicht nur hier – trifft man einerseits bewusst, andererseits oft überraschend auf Goethe, Schiller oder Luther2 und viele andere Berühmtheiten unserer deutschen Kultur und Geschichte. Bei mir ist mindestens einmal jährlich eine Radtour nach Weimar Pflicht. Von Erfurt nach Weimar geht es auf dem Lutherweg3, um in Weimar immer wieder aus anderen Perspektiven Goethe und Schiller zu begegnen. Das Goethe-Schiller-Denkmal am Deutschen Nationaltheater, Schillerstraße, Schiller-Haus, Goetheplatz und Goethe-Haus, Friedhof, Goethes Gartenhaus. Und zwischendurch natürlich auch noch Wieland, Herder, Louis Fürnberg, das Carl2

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Per Fahrrad durch das Land der Dichter und Künstler, Managermagazin vom 09.04.2021: https://www.manager-magazin.de/lifestyle/reise/radreise-durchthueringen-durch-das-land-der-dichter-und-kuenstler-a-2ebc7ab5-497f-463fa943-741063f6c4c6 (letzter Zugriff 08.05.2022) Lutherweg Thüringen: https://www.lutherweg.de/lutherwege/thueringen/?ms clkid=bf5e4308cee111ec8c8e05f53b34c8fd (letzter Zugriff 08.05.2022)

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August-Denkmal vor der Franz-Liszt-Musikschule – ein weiteres Denkmal befindet sich im Ilmpark – und eine Johann-Sebastian-Bach-Büste vis a vis. Da sind die Gemälde im Weimarer Stadtschloss noch nicht einmal reflektiert. Das ist so schön, und jeder Besuch in Weimar hat eine andere Überraschung parat. Letztens habe ich erst wieder am Sächsischen Hof, vormals Schwarzburger Hof, an einer Tafel entdeckt, dass Goethe dort von 1775 bis 1776 wohnte.

Links: Herder-Denkmal und -Kirche im April 2022, rechts: Carl-AugustDenkmal im April 2020 © Olaf Schulze

Dann geht es mit dem Wechselbad der Gefühle von den Sehenswürdigkeiten zu anderen Gedenkstätten. Am Museum Gauforum am Jorge-Semprun-Platz sind die Bilder der letzten Überlebenden und Zeugen des KZ Buchenwald aufgestellt – auch das von Boris Romantschenko4. Buchenwald hatte er überlebt, aber nicht den russischen Angriff am 18.03.2022 auf Charkiv. Jorge Semprun 4 Bundestag erhebt sich in Gedenken an Boris Romantschenko: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw12-de-gedenkenromantschenko-885632?msclkid=bf79683ecee511ec938b8fd6f0e1893e (letzter Zugriff 08.05.2022)

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war im zweiten Weltkrieg im KZ Buchenwald inhaftiert, später der erste frei gewählte Kulturminister in Spanien nach Franco, und 2012 war der Titel seines Buches auch Titel der Antrittsrede von Bundespräsident Gauck5. Das ist lebendige Geschichte! An der Carl-August-Allee in Weimar befindet sich ein Thälmann-Forum, der im KZ Buchenwald am 18. August 1944 ermordet wurde. Der Besuch der Gedenkstätte ist für mich ein Muss! Es geht wenn auch nicht weit, aber doch konsequent ab Weimar bergauf bis zum Obelisken und dann nach links auf dem Kopfsteinpflaster weitere 4 km und insgesamt 250 Höhenmeter hinauf zur Gedenkstätte. Spätestens dort wird gegenwärtig, dass auf Humanismus und Aufklärung in Weimar in 15 km Entfernung ein ganz dunkles Kapitel deutscher Geschichte folgte: Nie wieder! Deshalb war es nicht nur bei meiner Jugendweihevorbereitung üblich, dass ich 1978 den Pflichtbesuch in der Gedenkstätte Buchenwald absolvierte, sondern dass das auch für meine vier Kinder galt. Es gibt drei Straßen zur Gedenkstätte, und man muss immer hoch zum weither auch von Erfurt sichtbaren und mahnenden Glockenturm. Richtung Norden geht es nach Ettersburg steil in die Ebene bergab – oder eben umgekehrt bergauf. Übrigens auch sehr sehenswert mit dem Schloss, in dem Schiller »Maria Stuart« vollendete und Goethes »Iphigenie« aufgeführt wurde. So nah liegen in Thüringen Geschichte und Gegenwart beieinander! Und das Fahrrad ist sodann auch Teil unserer Vergangenheit, Geschichte und Zukunft! So wie ich einmal im Jahr mindestens nach Weimar radele, geht es von Erfurt in die andere Richtung zu Luther – mit Lutherhaus, Lutherdenkmal, Lutherweg und Wartburg – nach Eisenach. Und zwischendurch befindet sich in Bad Berka in der Goetheallee die Goethequelle oder in Rudolstadt in der Schillerstraße das Schillerhaus.

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Joachim Gauck, Was für ein schöner Sonntag: https://www.zeit.de/politik/ deutschland/2012-03/gauck-wahl-rede?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww. bing.com%2F (letzter Zugriff 08.05.022)

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Links: Goethe-Quelle Bad Berka, rechts: Luther-Denkmal Eisenach Karlsplatz im April 2022 © Olaf Schulze

Egal wie, überall – in Bad Berka, Bad Tennstedt, Eisenach, Erfurt oder Gotha, Ilmenau, Jena, Pößneck oder Rudolstadt – überall trifft man Goethe, Schiller und Luther und viele andere. Man muss nur mit offenen Augen radeln, und schon entdeckt man neben der Klosterruine Paulinzella an einer Tafel, dass Goethe dort am 28.08.1817 seinen Geburtstag feierte oder Fröbel in Griesheim bei Stadtilm eine Zeit lang wohnte. In Mönchenholzhausen erinnert ein Obelisk an das Treffen von Napoleon und Zar Alexander zum Erfurter Fürstenkongress 1808, wo auch Goethe und Napoleon sich trafen. 1813 verfolgten deutsche und russische Truppen gemeinsam diesen Napoleon nach der Völkerschlacht bei Leipzig durch Thüringen. Im 1819 veröffentlichten West-östlichen Divan hat Goethe der Stadt Erfurt ein Gedicht gewidmet: Sollt’ einmal durch Erfurt fahren, das ich sonst so oft durchschritten, und ich schien, nach vielen Jahren, wohlempfangen, wohlgelitten. Wenn mich Alten alte Frauen aus der Bude froh gegrüßet, glaubt’ ich Jugendzeit zu schauen, die einander wir versüßet.

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Recht hat er! Goethe war mehr als 50 Mal in Erfurt, damals eine Tagesreise von Weimar entfernt, heute lässt sich das sehr gut mit dem Fahrrad in weniger als zwei Stunden gemütlich erfahren. Mein Tagesstreckenrekord steht mit dem Rennrad bei 256 km, mit dem Mountainbike bei 230 km, beide Touren begannen zumeist in Erfurt. Dort sind die Herren sowieso immer gegenwärtig: am Haus Dacheröden am Anger erinnert zum Beispiel eine Tafel daran, dass hier Schiller und Goethe ein- und ausgingen und Wilhelm von Humboldt sich mit Caroline von Dacheröden vermählte. Eigentlich benötigt man in Thüringen nicht einmal eine Tourenplanung, man kommt immer irgendwie an diesen Geschichten und Ereignissen vorbeigeradelt. Bei Schiller muss ich immer an folgende Anekdote denken: Um den September 2001 herum hatte ich mir eine CD von Jean-Michel Jarre bestellt und erhielt eine von »Schiller«. Naja, dachte ich, sicher eine Literaturlesung, nett aber nicht bestellt. Die Rücksendung hatte ich verschlafen, aber Schiller auf CD ging irgendwie auch in Ordnung. An irgendeinem trübsinnigen Abend, das war etwa so wie derzeit, zuerst 9/11, dann der Krieg in Afghanistan, die Welt stand Kopf… Ich saß am PC, legte die CD ein – und war elektrisiert: Willkommen in der Welt von Schiller – Project Schiller! »Dream of you« war bei mir angekommen, und hatte zwar nichts direkt mit Friedrich Schiller zu tun, aber irgendwie doch! Denn diese Musik bedeutet für mich neben der Namensgleichheit einen ähnlichen Schub wie der Sturm und Drang der Meister im 18. Jahrhundert, denn auf meinem Fahrrad, wenn die Touren endlos lang werden und die Kräfte schwinden, singe ich meine Version von »Dream of you or me«! Denn meistens kommt nach dem einen Berg der nächste, und auf dem Rennsteig drängt es mich von der Schmücke zur Werra in Hörschel und weiter und weiter den Lutherweg entlang – und dann endlich (ab der Hohen Sonne): Ein herrlicher Wartburgblick!

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Links: Wartburgblick auf dem Rennsteig Hohe Sonne nach Hörschel im Juni 2021, rechts: Haus Dacheröden, Anger Erfurt, August 2020 © Olaf Schulze

Taktische Überlegungen zu literarischen und anderen Brocken Irgendwann wurde unser Fahrradhändler des Vertrauens auch Teil des Bekanntenkreises. Wir reden oft von ihm, weil er ein besonderer und liebenswerter Mensch ist und kaufen alle neuen Fahrräder bei ihm in Elxleben bei Erfurt. Regelmäßig, wenn auch nicht jedes Jahr, bringen wir sie zur Wartung, und wenn man irgendwo liegenbleibt, gibt es sogar einen Rückholservice – einfach klasse! Das Beste ist jedoch, dass er mein Diamant (*1989) auf Vordermann gebracht hat: »Diamant aus Karl-Marx-Stadt« mit Büffellenker und Torpedo-Nabenschaltung – voll retro. Dieses Fahrrad ist heilig, das darf nicht benutzt werden! Daneben habe ich noch ein MIFA-Klapprad, auch tief aus den 80ern, leider mit neuen Reifen, denn die originalen hatten sich nach ca. 40 Jahren einfach aufgelöst. Auch das gehört zum Fahrradfahren dazu, die Würdigung alter Räder. Da wird nichts weggeschmissen, Nostalgie und Nachhaltigkeit ergänzen sich. Früher gab es den bösen Spruch: »Diamant ist weltbekannt und wird im Ausland Schrott genannt« – erst später wurde uns bewusst, wie robust diese Fahrräder waren und sind, und eines davon gehört mir! Aber wie gesagt, es ist in der Familie verboten, damit zu fahren, es ist einfach zu kostbar .

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Als Kind schon bin ich mit dem 20 er MIFA-Klapprad weite Strecken geradelt. 1977 zum Beispiel, das vergesse ich nie, war der Maßstab das Erreichen der 100 km und zwar an einem Sommerferientag mit einem Freund auf Tour von Halle/Saale bis nach Freyburg/Unstrut. Die Räder waren schon zäh. Irgendwann ab dem 15. Lebensjahr kam dann die Simson-Zeit6 – eine Weile bin ich nicht in der Lage gewesen, auch nur 500 Meter ohne mein Mokick unterwegs zu sein, es sei denn, das gute Stück war kaputt und musste geschoben werden. Beim Fahrradkauf bin ich eher geizig, ich fahre keine Rennen, also bin ich beim Kaufpreis eher zurückhaltend. Ich habe ein Rennrad, ein Mountainbike für die Berge und ein Mountainbike für die Strecke – jeweils mit unterschiedlicher Schaltung. In den Bergen sind mir die Schaltung und Übersetzung und natürlich die Scheibenbremse das Wichtigste. Einmal jährlich geht es auf den Brocken, entweder direkt ab Erfurt über Braunlage oder ab Nordhausen über Schierke – mit meinen Cousins und deren Freunden. Dann geht es über die Generationen hinweg auf den Berg der Deutschen Einheit. Dabei gibt es zwei Regeln: Pause ist erlaubt, aber nicht schieben, und der Letzte, der oben ankommt, zahlt das alkoholfreie Bier. Ich musste noch nie zahlen, habe natürlich freiwillig gelöhnt. Der Berg hört nicht auf, hoch bis Schierke ist eigentlich nur zum Warmwerden, um dann richtig auf den Brocken (1142 m) zu steigen. 2014 habe ich mich leider gecrasht, natürlich genau dort auf dem Kamm vom Brockenbett nach Drei Annen Hohne, wo man überhaupt nicht stürzen muss. Ich bin auf dem Schotterweg mit hoher Geschwindigkeit weggerutscht, ich weiß auch nicht mehr wie, jedenfalls wurde die linke Körperhälfte ziemlich lädiert, genäht in Wernigerode, eine Woche Helios-Krankenhaus Erfurt und zwei OPs am linken Arm, drei Wochen Totalausfall. Also nie schneller Radfahren, als die eigenen Schutzengel fliegen können, und gut aufpassen! Aber ich scheine mit der Statistik nicht allein zu sein, mehr Fahrräder führen zwar zu mehr Rad-Unfällen7, aber sorgen auch für Entspannung und Entschleunigung im Straßenverkehr. Die E-Bikes ermöglichen es nahezu jedermann, auch wei6 7

Kleinkraftrad des Herstellers VEB Fahrzeug- und Gerätewerk Simson Suhl Mehr Unfälle mit Beteiligung von Pedelecs in Sachsen-Anhalt, NTV vom 05.05.2022: https://www.n-tv.de/regionales/sachsen-anhalt/Mehr-Unfaelle-

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tere Strecken und Höhenunterschiede zu überwinden. Immer öfter sieht man auch Rastplätze und Restaurants, die Ladepunkte für Fahrräder anbieten; das scheint bald besser zu laufen als bei den Elektroautos. Auf meinem Fahrrad herrscht deshalb auch Helmpflicht, keine Tour ohne Helm, und es wundert mich, dass das noch nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. Natürlich gehört Fahrradkleidung für die vielen Stunden im Sattel zur Ausstattung, vor allem Fahrradhandschuhe, denn bei den zahllosen kleinen Erschütterungen spüre ich oft mehr Wirkung auf den Handgelenken und Schultern als in den Beinen. Wenn ich auf Tour gehe, ziehe ich immer dieselben Sachen an, von den Socken bis zum Trikot, und der ganze Kleinkram geht in einen Rucksack. Wenn dann noch das Trikot in einer Signalfarbe leuchtet, damit man auch von Autofahrern gesehen wird, geht’s los! Der Weg auf den Brocken ab Erfurt ist ein grandioser Ritt, aber man wird belohnt. Auf dem Brocken hat man bei gutem Wetter eine geniale Fernsicht, die Strapazen der Anfahrt und des Aufstiegs sind im Nu vergessen. Ab Erfurt fahre ich immer durch Gangloffsömmern, ein schönes Dorf, und da haut’ es einen vor Erstaunen vom Sattel, denn auf der rechten Seite gibt es eine Goethe-Siedlung. Es geht dann bei ca. Kilometer 80 an Nordhausen vorbei, durch den Vorharz, um dann Attacke entweder offroad über Stock und Stein hoch nach Benneckenstein oder gleich über die Serpentinenstraße nach Braunlage zu fahren. Hier fängt das Umweltdrama schon an, es geht bergauf und man sieht die ersten abgestorbenen Bäume und später ganze Wälder. Hinter Braunlage wird es dann auch ganz traurig, der ganze Bergwald ist abgestorben und z.T. gerodet, aber es gibt Hoffnung durch die Wiederaufforstungen. Da geht es in kleinen Gängen hoch bis zum Goetheweg und dann zunächst parallel zur Brockenbahn und zuletzt auf dem Brockenweg zum Brocken. Der Goetheweg ist nicht nur steil, sondern besteht als ehemaliger DDR-Grenzer-Kolonnenweg aus Betonplatten mit tausend Löchern drin. Dort kann man nicht mal richtig laufen, geschweige denn berggestresst Radfahren. Als ich 2021 an der Ecke, an der man auf die Brockenbahn trifft, Rast machte, radelte ein junger Mann gerade wieder los. Als ich auf dem Brocken ankam, saß er schon oben und sein Daumen ging ebenfalls hoch! Wir hatten es geschafft! So etwas verbindet ohne mit-Beteiligung-von-Pedelecs-in-Sachsen-Anhalt-article23310139.html?mscl kid=19fb5323cef211eca98e0213c3dbe65e (letzter Zugriff 08.05.2022)

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Worte! In Blickrichtung Wernigerode wartet auf dem Plateau ein 1856 errichteter Heinrich-Heine-Felsen8, schließlich hat er dem Harz mit der »Harzreise« ein literarisches Denkmal für die Ewigkeit gesetzt. Am Ziel anzukommen ist Pflicht, man darf nur nicht vergessen, dass man irgendwie auch wieder zurück muss. Von Erfurt zum Brocken und zurück – dafür hat bei mir noch kein einzelner Tag gereicht. Denn neben der Fahrradsturzerfahrung von 2014, die allerdings nicht meine erste gewesen ist, bin ich oft beeindruckt von den viele Meter langen Bremsspuren auf den Schotterwegen bergab, die dann kurz vor einem Baum in der Kurve aufhören. Ich lasse es bergab lieber ein wenig langsamer angehen, und gebe lieber zum Ende hin noch etwas »Gas«, um in Nordhausen den Zug nach Hause zu schaffen. Beim Abschluss einer Radtour ist jedoch mein größtes Problem, dass dem Mobiltelefon-Akku noch eher die Kraft ausgeht als mir. Das Fahrrad-Navi, der Kilometerzähler, der Tacho, die Uhr… alles habe ich dabei und am Ende brauche ich fast nichts davon, maximal den Kilometerzähler, damit ich weiß, wie weit ich gefahren bin. Teilweise habe ich gar kein Equipment mehr installiert, denn ständig ist irgendetwas kaputt oder der Akku leer. Es ist beim Fahrrad nicht anders als beim Auto, je mehr Technik umso mehr Bruchstellen, und alles muss mitschleppt werden. Als ich mal in Eisenach vom Stadtschloss zum Palais Bechtolsheim radelte, sah ich einen alten Wartburg 311, blau mit weißem Dach, sehr schick, dem ich natürlich hinterher düste. Beim Radfahren trifft man oft auf Oldtimer, da gibt es eine Korrelation, eventuell weil bei beiden der Weg das Ziel ist. Bloß kein Leerlauf – Verzehr im Verkehr Der Thüringer benötigt eigentlich nur eine Rostbratwurst und eine Waldmeisterlimo – und ich dann noch einen Schwarztee. Irgendwann kommt der berühmte Hungerast, und deshalb geht es auf der Tour vorsorglich an die Bratwurstbude. Zwar habe ich immer einen Snack bei mir, aber den esse ich eher aus Frust, weil ich körperlich am Ende bin und es noch weit bis nach Hause ist, als dass ich Hunger hätte. Egal, die Kraft muss irgendwo herkommen, also wird unter8

»Heinrich Heines – Brockenaufstieg & romantische Naturbegegnung«, https:// www.harz-abenteuer-wandern.de/heinrich-heine-brockenaufstieg/?mscl kid=f90858bacef211eca2244ce52ecabe9 (letzter Zugriff 08.05.2022)

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wegs einerseits für den Körper Rast gemacht. Andererseits ist mir wichtig, dass abseits der großen Städte die kleinen Restaurants, Cafés und Imbissstände von mir genutzt werden, denn auch diese sind Teil unserer Kultur und Regionalität. Man kann aber auch gleich in die Goethe Chocolaterie9 nach Oldisleben radeln. An der Thüringer Pforte, dem Durchbruchstal der Unstrut in die Goldene Aue, bekommt man vielleicht keinen Durst, aber Appetit, wenn man an Goethes »Christgeschenk« denkt: »Mein süßes Liebchen! Hier in Schachtelwänden/ / Gar mannigfalt geformte Süßigkeiten (…).« Bei mir muss in der Fahrradflasche immer etwas drin sein. Flasche leer – ich leer. Seit Neuestem habe ich sogar zwei Flaschenhalter am Fahrrad, also doppelte Reichweite im Sattel. Wenn ich mit Freunden unterwegs bin, wundert mich oft, dass sie schon nach wenigen Kilometern anfangen, an der Flasche zu nuckeln, nein sogar zu trinken. Als Freund gebe ich irgendwann den wohlgemeinten Rat, das Wasser gut einzuteilen – dann kommt die Antwort, wir können doch unterwegs Getränke nachkaufen. Ja, na klar, aber auf dem Rennsteig bei 30 ° C und vielen Höhenmetern werden 20 km zur Fahrt durch die Hölle. Woher ich diese »Sozialisierung« mit der Korrelation von Wasserflasche und eigener Vitalität habe, weiß ich nicht. Ich denke, das hängt (wenn auch 40 Jahre zurück) mit meinem Wehrdienst zusammen – dort gab es Trinken nur auf Befehl. Und auch damals war Wasser (oder Tee) in der Flasche und nicht irgendwelche speziellen »Energy«-Drinks. Als ich Pfingsten 2018 von Erfurt über Eisleben (Lutherdenkmal, Geburts- und Sterbehaus), Köthen (Bachhaus) und Zerbst nach Brandenburg (auch hier stehen in einem Park vis a vis eine Goethe- und eine Schillerbüste) radelte, hatte ich die Wasserflasche und mich zunächst an einer Tankstelle aufgetankt. Von Zerbst (Kilometer 190) ging der Ritt durch den Fläming, eigentlich ganz idyllisch, keine Steigungen, nur nerviger Ostwind. Auf den nächsten 50 Kilometern bin ich fast leer gelaufen, ich war am Ende. Aber auf keinen Fall wollte ich die Flasche leeren, denn solange dort noch etwas drin ist, bin ich auch noch da. Bei Kilometer 240 kam dann Wollin und eine Tankstelle, die hatte ich schon ewig in Gedanken. Ich kaufte irgendetwas zu essen und eine 1-Liter-Packung Eistee – wer trinkt denn so etwas? In solchen Situationen bin ich bereit, alles zu trinken. Ich habe sogar die Wasserflasche aufgefüllt, aber ich brauchte gar 9

Goethe Chocolaterie: https://www.goethe-chocolaterie.de (letzter Zugriff 08.05.2022)

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nicht mehr viel: Es war alles nur eine Kopfsache! Die letzten 15 km bis Brandenburg war ich dann wie entfesselt, und bin bei 256 Kilometern angekommen. Geschafft! Zu Ostern 2022 bin ich nach Eisenach geradelt, um Freunde zu besuchen, natürlich mit einem obligatorischen Abstecher zum Lutherdenkmal, zum Lutherhaus, zum Bachhaus und zuvor zum Stadtschloss, wo Goethe ebenso wie im Palais Bechtolsheim einige Male verweilte (heute passend an der Goethestraße gelegen), das befindet sich alles auf dem Weg. Als es vom Kindel bei ca. km 50 hinunter nach Wenigenlupnitz ging, der Blick auf die Wartburg, war der Asphalt zwei Mal auf 10 m Distanz aufgeschlitzt, weil wohl eine Querleitung verlegt wurde, aber eben nicht der Asphalt wieder hergestellt war. Oh Mann, das gab einen Schlag, als ich unvorbereitet durch diese Löcher gefahren bin. Die Wasserflasche flog aus der Halterung, knallte auf die Straße und hatte im Deckel ein Loch. Also Flasche kaputt und leer, aber ich schaffte es nach Eisenach, tankte Kraft bei Luther, Goethe und Bach, bekam dann auf dem Rückweg im Flughafenrestaurant Kindel einen Tee, der bis nach Erfurt reichte – Kilometerstand: 124. Was Übrigens immer gut geht, um die Wasserflasche mit etwas Besonderem aufzufüllen, ist ein Besuch in Bad Berka, das »Goethe-Bad im Grünen«. Goethe war an der Entwicklung des Badeortes beteiligt, und daher gibt es eine GoetheQuelle an der Goethe-Allee am Kurpark. Hier lässt sich der Durst gut löschen und die Wasserflasche auffüllen, insbesondere wenn man vorher aus dem Saaletal hochgestrampelt ist – z. B. nach einem Besuch in Rudolstadt bei unserem Schiller. Die Quelle selbst hat 1807 Goethes Sekretär Johann Jakob Ludwig Geist entdeckt, den Goethe in seinen Briefen als »seinen Geist« bezeichnete. Vor wenigen Jahren habe ich bei Freunden zufällig die Nachfahren jenes »Geist« auf einem Familienfest kennengelernt. Dort war ich zwar aus gutem Grund ohne Fahrrad, aber ich habe viele tolle Dinge über Geist und Goethe erfahren, wobei die Nachfahren natürlich immer noch so heißen und immer noch in Bad Berka wohnen – eine tolle Geschichte und Tradition. Weiße Flecken – wo Goethe, Schiller und Luther schon waren und ich mit dem Rad noch hin muss Es gibt noch Vieles, was ich für mich entdecken will und wo mich die Drei Gleichen und die gleichen Drei gedanklich begleiten: Bad Lauchstädt, Halle/ Saale, Wittenberg, Leipzig, Jena und die Ostsee.

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Ich komme aus Halle/Saale – wo ich in der Goethe-Schule eingeschult wurde – und war auch schon mit dem Fahrrad in Bad Lauchstädt, das von hier nur wenige Kilometer und von Erfurt keine 100 km entfernt liegt. Da muss ich aber unbedingt nochmals hin! Denn schließlich ist es die »Goethe-Stadt« Bad Lauchstädt, wo Goethe u. a. 1802 bei der Eröffnung des Theaters weilte10 und er sich mit dem Direktor der Franckeschen Stiftungen aus Halle traf. Wenn es Ende Juni 2022 dann mit dem Rad nach Halle /Saale geht, um 40 Jahre Abitur an der August-Hermann-Francke EOS zu feiern, bin ich mir sicher, dass es da klingelt auf dem Weg. In Halle war Goethe als vielseitig interessierter Mensch auch Mitglied der Leopoldina11, und ich schau selbstverständlich noch an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vorbei, an der ich studierte. Apropos Wittenberg: Eine wunderschöne Stadt, und auch wegen Martin Luther war ich schon oft dort, aber noch nie mit dem Rad. Ich bin mir daher sicher, dass ich einiges übersehen habe. Nicht zu übersehen ist die schöne Innenstadt mit Lutherdenkmal und Lutherkirche, an der die Thesen angeschlagen wurden. Zuletzt war ich im Januar 2022 dort. Mit dem Fahrrad gut 80 km ab Halle, aber keine 200 km ab Erfurt – da geht noch was. Bad Lauchstädt mag zwar eine »Goethe-Stadt« sein, doch wurde es auch von Schiller bereist. Diesen zog es genauso nach Leipzig, wo er ab 1785 längere Zeit weilte. Die Erinnerungstafel an einer Hauswand in der Leipziger Innenstadt muss ich noch finden, dafür war ich aber schon in Auerbachs Keller. Und schon sind wir wieder bei Goethe: Wer kennt nicht die schöne Faust-Szene in Auerbachs Keller in Leipzig! Es ist schon so lange her, dass ich dort gegessen und deshalb die Szenerie vergessen habe. Das muss ich natürlich nochmal auffrischen. Während Faust von der Situation geplagt war und deshalb »Lust (hätte), nun abzufahren«, bekomme ich nun Lust, nach Leipzig zu radeln. Vor der alten Börse begrüßt einen noch ein Goethe-Denkmal, man sieht ihm seine Jugendlichkeit an. 1765 begann er in Leipzig sein Jura-Studium und offensichtlich hat es ihm dort so gut gefallen, so dass er in »Dichtung und Wahrheit« schrieb: 10 11

Geschichte des Ortsteils Bad Lauchstädt: https://www.goethestadt-bad-lauch staedt.de/seite/104866/bad-lauchst%C3%A4dt.html?msclkid=7acd200dcefb 11eca0a91c3d61d10577 (letzter Zugriff 08.05.2022) Goethe als Mitglied der Leopoldina, https://www.leopoldina.org/ueber-uns/ akademien-und-forschungsvorhaben/leopoldina-ausgabe-goethe-die-schrif ten-zur-naturwissenschaft/goethe-als-mitglied-der-leopoldina/?msclkid= 41be0013cefc11ecacd4932f2e6118ff, letzter Zugriff 08.05.2022

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»Einer Stadt kann kein größeres Glück begegnen, als wenn mehrere im Guten und Rechten gleichgesinnte, schon gebildete Männer darselbst nebeneinander wohnen. Diesen Vorzug hatte Leipzig und ich genoß ihn (…).«

Wenn es Goethe und Schiller in Weimar zu »heiß« wurde – vom Wetter oder wegen exponierter Situationen – zogen sie sich in ihre Gartenhäuser nach Jena zurück. Jetzt wird es peinlich, denn ich war noch nie mit dem Fahrrad in Jena, das muss ich unbedingt nachholen. Obwohl dort 1993 mein erster Arbeitsort nach dem frisch abgelegten zweiten Staatsexamen war. Wunderschön liegt es im Saaletal, umgeben von steilen Hügeln. Von Weimar geht es zunächst bis Mellingen auf dem Ilm-Radweg entlang, der eigentlich weiter nach Bad Berka läuft, aber man biegt links weg und radelt direkt nach Jena. Das ist weder richtig weit noch ein großer Umweg. Wenn ich dann erst einmal in Jena war, mache ich auf dem Rückweg noch einen Abstecher nach Apolda mit seinem außerordentlichen Kunsthaus. Wie, kein Goethe? Doch, die Goethe-Brücke! Und in Jena die Goethe-Galerie (ein Einkaufszentrum) und in Weimar das Schiller-Kaufhaus … Was noch zu tun bleibt und gar nichts mit den drei Gleichen zu tun hat, aber schon lange mein Traum von Freiheit ist, bin ich im Kopf schon oftmals durchgegangen – die Fahrradtour an die Ostsee: Tag 1: Erfurt – Halle (Händel, Luther) via Bad Lauchstädt (Goethe, Schiller); Tag 2: Halle/Saale via Wittenberg (Luther) nach Potsdam (Fontane); Tag 3: von Potsdam nach Templin; Tag 4: von Templin über Prenzlau (Luther) und Eggesin nach Ueckermünde (an dem Goethe-Palais komme ich sicher vorbei!); Tag 5: von Ueckermünde über Usedom mit Ahlbeck, Trassenheide und Wolgast nach Anklam, um dann in den Zug via Berlin nach Erfurt zu steigen und irgendwie am nächsten Morgen zu Hause anzukommen – Pi mal Daumen 700 km. Irgendwann in den nächsten Jahren steigt diese Aktion, aber irgendwo muss dann auch ein Goethe, Schiller oder Luther unterwegs für die Motivation sorgen. Man sollte es, wie so vieles im Leben, einfach machen! Just do it!

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Links: Café Goethe-Palais Ueckermünde, rechts: Luther-Denkmal Prenzlau Januar 2022 © Olaf Schulze

Fazit Ich hoffe, dass ich möglichst lange kein E-Bike benötige, sondern fit genug bleibe, weiterhin die Thüringer Berge und den Harz zu bezwingen. Aber irgendwann werde auch ich mit dem E-Bike diese Grenzen überwinden und mir neue, ansonsten unerreichbare Ziele ermöglichen. Es ist übrigens einfach nur deprimierend, wenn man »auf Kette« in den Bergen an einem am Wegesrand pausierenden, vielleicht älteren oder nicht ganz fitten Zeitgenossen vorbeifährt, dann am Hang die Gänge herunterschaltet und sich schwitzend und keuchend Meter für Meter und Umdrehung für Umdrehung durch Geraberg, Ilmenau oder Trusetal kämpft, und plötzlich dieser Radfahrer mit seinem E-Bike ganz locker vorbeigezogen kommt. Dann ist es Zeit, vor Frust in den Lenker zu beißen – und später vor Freude die Träne aus dem Auge zu wischen, wenn der Gipfel oder das Tourziel erreicht, nein erkämpft wurde. Denn dann halte ich es mit Goethe aus Fausts Studierzimmer: Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! (Faust I) Auf geht’s! Danke an Goethe, Schiller, Luther und an die drei Gleichen …

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Vita Olaf Schulze wurde 1963 in Halle/Saale geboren, Wohnort Erfurt, vier Kinder; Studium der Staats- und Rechtswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; 1993 zweites juristisches Staatsexamen Düsseldorf; Berufliche Stationen: u. a. TEAG Thüringer Energie © privat Erfurt, EuroPower Energy Frank­­ furt, seit 2005 METRO Düsseldorf, aktuell Director Energy Management/Real Estate Sustainability METRO PROPERTIES Holding GmbH.

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Was die Diversifizierung der Mikromobilität für die Verkehrsplanung und Straßenraumgestaltung bedeutet Dennis Knese Die Fahrrad- und Mikromobilitätsbranche hat in den letzten Jahren in vielen Ländern ein dynamisches Wachstum erlebt. Während der Covid-19-Pandemie erwies sich die individuelle Mikromobilität als Garant für eine infektionssichere Alltagsmobilität. Insbesondere Fahrräder stellten eine sichere, bequeme und erschwingliche Alternative zu öffentlichen Verkehrsmitteln dar (Sunder et al. 2021, S. 10ff). Doch bereits vor der Pandemie stieg der Radverkehrsanteil in vielen Regionen weltweit, insbesondere in den urbanen Räumen (Mason et al. 2021). Verantwortlich für das Wachstum des Fahrradmarkts sind unter anderem die veränderten Schwerpunkte der Verkehrspolitik, getrieben durch Klima-, Umwelt- und Sicherheitsziele. Gleichzeitig verändert sich das Nachhaltigkeitsbewusstsein der Menschen, mit dem ein anderes Konsum- und Mobilitätsverhalten einhergeht. Die Fahrradindustrie selbst hat diesen Trend beschleunigt, indem sie eine große Vielfalt an Fahrradtypen auf den Markt brachte – vom erschwinglichen Cityrad «für jedermann» bis hin zu Luxusmodellen, die mit einem starken Elektromotor und Boxen für den Transport von Kindern oder Waren ausgestattet sind. Zudem wurden in den vergangenen Jahren diverse elektrische Kleinstfahrzeugtypen im Markt eingeführt. Einerseits bringt diese Entwicklung neue Potenziale für die Verlagerung von Fahrten des motorisierten Individualverkehrs auf die Mikromobilität mit sich. Andererseits ergeben sich neue Bedürfnisse und Herausforderungen in Bezug auf eine geeignete Infrastruktur und Rechtsprechung für die verschiedenen Mikrofahrzeugtypen. Höhere Anteile, steigende Auswahl Der europäische Fahrradmarkt erlebt seit einigen Jahren einen enormen Aufschwung. Der Verkauf von Elektrofahrrädern ist einer der Hauptgründe für dieses Wachstum. Im Jahr 2020 entfielen 23  Prozent der gesamten Fahrradverkäufe in der EU auf Elektrofahrräder, in den Niederlanden und Belgien

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wurden bereits mehr elektrische als konventionelle Fahrräder verkauft (Zuser et al. 2021; Bike Europe 2021). Laut Prognosen von Cycling Industries Europe (CIE), der European Cyclists Federation (ECF) und der Confederation of the European Bicycle Industry (CONEBI) könnte der Verkauf von Elektrofahrrädern bis 2030 auf 17 Millionen Stück pro Jahr wachsen und damit das gleiche Niveau wie konventionelle Fahrräder erreichen (Reibold 2020). Deutschland stellt den mit Abstand größten Fahrradmarkt in Europa dar. Hier wurden 2021 insgesamt 4,7 Millionen Fahrräder verkauft. Davon waren zwei Millionen mit einem Elektromotor ausgestattet – der größte Teil davon entfiel auf Pedelecs1. Im Vergleich zu 2019 ist das eine Steigerung von 68 Prozent (siehe Abbildung 1). Die Gesamtzahl der Elektrofahrräder auf deutschen Straßen stieg damit auf mehr als 8 Millionen (ZIV 2021). Innovationen in der Antriebs- und Batterietechnologie, eine breitere Auswahl an unterschiedlichen Modellen und mit Skaleneffekten einhergehende Preissenkungen tragen zu dieser Entwicklung bei.

Abbildung 1: Entwicklung der Verkaufszahlen von Fahrrädern in Deutschland (eigene Darstellung, Datenquelle: ZIV 2022)

1

Als Pedelecs gelten Fahrräder, die bis 25 km/h eine elektrische Trittunterstützung bei einer maximalen Nenndauerleistung von 250 Watt erhalten. Sie gelten rechtlich als Fahrräder. S-Pedelecs hingegen werden bis 45 km/h durch einen Elektromotor unterstützt und gelten rechtlich als Kleinkrafträder. Demnach dürfen sie keine Radwege nutzen. Zudem gibt es verschiedene Varianten von E-Bikes (20 km/h, 25 km/h, 45 km/h), die ohne Muskelkraft angetrieben werden und rechtlich als Mofa bzw. Kleinkraftrad eingestuft sind.

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Neben konventionellen und elektrischen Fahrrädern haben Lastenräder in vielen deutschen und europäischen Städten einen starken Zuwachs erfahren. Die Zahl der in Deutschland verkauften Lastenräder stieg von 60.100 im Jahr 2018 auf 167.000 im Jahr 2021. Davon entfallen 120.000 Einheiten auf Elektro-Lastenräder, wie Abbildung  2 verdeutlicht. Einhergehend mit einer steigenden Verfügbarkeit von Lastenradmodellen besteht ein hohes Verlagerungspotenzial im Individualverkehr. So könnten Lastenräder mehr als drei Viertel aller städtischen Kfz-Fahrten in der privaten Logistik ersetzen. Für den gewerblichen Lieferverkehr liegen die Schätzungen für das Verlagerungspotenzial auf Lastenfahrräder zwischen 23 und 30 Prozent aller Fahrten (Reiter et al. 2018, S. 44f ). Bereits die Substitution jeder vierten Fahrt mit einem Lkw, Transporter oder Pkw könnte eine spürbare Entlastung des städtischen Verkehrs bedeuten, da der gewerbliche Verkehr insbesondere die sensiblen Innenstadtbereiche belastet.

Abbildung 2: Entwicklung der Verkaufszahlen von Lastenrädern in Deutschland (eigene Darstellung, Datenquelle: ZIV 2022)

Hinzu kommen 3,5 Millionen Motorroller in Deutschland, die zum Teil elektrisch, zum Teil fossil angetrieben werden (Statista 2021). Auch sie sind Teil der Mikromobilität. Ebenfalls vermehrt auf den Straßen zu finden sind elektrische Tretroller, die häufig als E-Scooter bezeichnet werden2. Wie viele dieser Fahrzeuge tatsächlich zugelassen sind, ist nicht bekannt. Der größte Teil dürfte allerdings in Verleihsystemen angeboten werden. Durch ihre Integration in Ver2

E-Scooter sind in der Regel mit einer wiederaufladbaren Batterie ausgestattet und erlauben eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h.

Verkehrsplanung und Straßenraumgestaltung  201 

leihdienste hat ihre Bedeutung für die Verkehrssysteme und den Straßenraum in den letzten Jahren stark zugenommen. Mit der Plattform Shared Mobility hat sich ein Verband gegründet, dem sich bislang sechs der größten Anbieter angeschlossen haben. Sie waren Anfang 2021 mit rund 150.000 Fahrzeugen in mehr als 80 deutschen Städten vertreten (Maier 2021). Aufgrund des vermehrten Aufkommens der elektrischen Tretroller und der unklaren Rechtssituation wurde 2019 die Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung (eKFV) eingeführt. Weitere Fahrzeuge, die unter dem Begriff Mikromobilität gefasst werden, sind Segways, Einräder, Hoverboards oder Skateboards. Ihr Marktanteil ist bislang allerdings so gering, dass sie keinen starken Einfluss auf den Verkehr haben. Einige von ihnen haben ohnehin keine Straßenzulassung. Eine Fahrzeuggruppe, die in Deutschland und Europa bislang ebenfalls nur selten anzutreffen ist, in einigen Definitionen aber auch unter Mikromobilität subsummiert wird, sind kleine zweispurige Kraftfahrzeuge der Klassen L6e und L7e. Beispiele sind der Renault Twizi oder der Microlino. Die Spezifikationen und Erscheinungsbilder der verschiedenen Fahrzeugtypen sind sehr unterschiedlich – sowohl in Bezug auf die Fahrzeuggeometrie und -technik, als auch auf die Fahrdynamik und die elektrische Ausstattung. Die folgenden Abschnitte fassen grundlegende Merkmale zusammen, die für die (Neu-)Gestaltung des Straßenraums und der unterstützenden Infrastruktur relevant sind. Heterogene Geschwindigkeitsniveaus Elektrofahrräder und -kleinstfahrzeuge erlauben aufgrund ihrer elektrischen Unterstützung deutlich schnellere Geschwindigkeiten als herkömmliche Fahrräder. Während die Höchstgeschwindigkeit bei den verschiedenen Fahrzeugtypen bis zu 45 km/h betragen kann, ist die tatsächliche Fahrgeschwindigkeit auf der Straße jedoch deutlich geringer. Verschiedene Studien zeigen, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit von Pedelecs 2 bis 4 km/h höher ist als die von herkömmlichen Fahrrädern (Vlakveld et al. 2021; Twisk et al. 2021; Blass et al. 2019; Schleinitz et al. 2017; Dozza et al. 2016; Sander et al. 2015). Bei S-Pedelecs beträgt der Unterschied zu konventionellen Fahrrädern 5 bis 9  km/h (Vlakveld et al. 2021; Twisk et al. 2021; Blass et al. 2019; Schleinitz et al. 2017). Für die Radlogistikbranche, aber auch für Radfahrende im Allgemeinen, kann das erhöhte Geschwindigkeitsniveau eine schnellere Fortbewegung in Städten bedeuten und somit zu einer Zeitersparnis auf den alltäglichen Wegen führen.

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Gleichzeitig treten unterschiedliche Geschwindigkeiten bereits bei konventionellen Fahrrädern auf und hängen stark von den Nutzungsgruppen ab. Radfahrende mit einem Rennrad sind in der Regel schneller als diejenigen mit einem gewöhnlichen Cityrad. Kinder und ältere Menschen sind oft langsamer als der Durchschnitt. Einerseits erlauben die verschiedenen Geschwindigkeitsstufen jeder Person, ein für ihre Kondition geeignetes Tempo zu wählen. Andererseits kann diese Vielfalt an Modellen und Geschwindigkeitsniveaus zu Konflikten und gefährlichen Situationen auf gemeinsam genutzten Infrastrukturen führen, insbesondere wenn kein Platz zum sicheren Überholen vorhanden ist. Höhere Reichweiten und mehr Mobilität Elektrofahrräder und -kleinstfahrzeuge benötigen eine Möglichkeit zum Aufladen der Fahrzeugbatterie. Ist diese gegeben, sorgt die Batteriekapazität für eine höhere Reichweite, verglichen mit nichtelektrischen Modellen. Dies ermöglicht Fahrten über größere Distanzen bei gleicher körperlicher Anstrengung. Studien aus Deutschland und den Niederlanden zeigen, dass die durchschnittliche Streckenlänge einer Pedelec-Fahrt bei 6,1 bzw. 5,9  Kilometer liegt und damit 2,4 bzw. 2,3 Kilometer länger ist als die von konventionellen Fahrrädern (Nobis 2019, S. 61; Bruntlett 2022). Die vergleichsweise hohe Durchschnittsgeschwindigkeit und der geringe mechanische Aufwand erhöhen auch das Potenzial für Strecken im Entfernungsbereich von 15 bis 20 Kilometern und machen es damit zu einer echten Alternative zum Auto, zum Beispiel für Pendlerfahrten. Da in Deutschland 80 Prozent aller Fahrten zwischen 5 und 20 Kilometer auf den motorisierten Individualverkehr entfallen, ist das Verlagerungspotenzial sehr hoch (Nobis 2019, S. 74). Elektrofahrräder und -kleinstfahrzeuge können zudem den öffentlichen Verkehr entlasten, da sie Fahrten ermöglichen, die bisher mit Bahn oder Bus zurückgelegt wurden. Außerdem kann der Einzugsbereich von Haltestellen des öffentlichen Verkehrs vergrößert werden, da in der gleichen Zeit größere Entfernungen zurückgelegt werden. Die elektrische Unterstützung ermöglicht das Radfahren auch für Menschen mit geringerer körperlicher Fitness. So kann die Mobilität älterer oder körperlich eingeschränkter Menschen aufrechterhalten und mentale Vorteile gefördert werden (Van den Steen 2019, S. 5ff). Des Weiteren lassen sich mit elektrischen Fahrzeugen natürliche Hindernisse, Höhenunterschiede und Gegenwind leichter überwinden, was nicht nur für Alltagsradfahrende von Vorteil ist, sondern vor allem für Nutzende, die Personen oder Güter in Lasten-

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rädern transportieren. Aufgrund der Möglichkeit größere Lasten bei geringerem Kraftaufwand zu transportieren, bieten elektrische Lastenräder ein großes Potenzial für den Wirtschaftsverkehr und werden vermehrt von Handwerksbetrieben, Paketdiensten oder Lieferanten genutzt. Veränderte Fahrdynamik Mit einer höheren Geschwindigkeit der Fahrzeuge verlängert sich der Bremsweg von Fahrrädern und anderen Kleinstfahrzeugen. Bei Lastenrädern, die in der Regel ein höheres Gewicht haben, wird dieser Effekt zusätzlich verstärkt. Dies kann zu gefährlichen Situationen führen, insbesondere an Knotenpunkten oder beim Vorbeifahren an ein- und ausparkenden Kraftfahrzeugen. Gleichzeitig erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für Unfälle mit schwerwiegenden Folgen für die beteiligten Personen. Dies hängt mit der kinetischen Energie der Fahrzeuge zusammen. Je schneller und schwerer die Fahrzeuge sind, desto größer sind die Folgen eines Zusammenstoßes (Immers et al. 2020, S. 14). Außerdem können Elektrofahrräder und -kleinstfahrzeuge stärker beschleunigen als herkömmliche Fahrräder. Infolgedessen können Kurven mit einem scharfen Radius zu einer potenziellen Gefahrenstelle werden. Lastenfahrräder haben aufgrund ihres längeren Radstandes ebenfalls einen größeren Wendekreis. Auch ihr hohes Gewicht von bis zu 300  Kilogramm führt zu einer erschwerten Manövrierbarkeit. Die veränderten Fahreigenschaften mit einem Elektrofahrrad, Lastenfahrrad oder einem E-Scooter – darunter Anfahren, Beschleunigen, Bremsen und Wenden – können insbesondere bei älteren oder unerfahrenen Nutzenden zu Unsicherheiten führen (Heer et al. 2019, S. 11). Länger, breiter, schwerer, teurer Lastenräder sind in der Regel länger und breiter als konventionelle Fahrräder, je nachdem, ob es sich um einspurige oder zweispurige Räder handelt und wie groß die Ladefläche ist. Bei der Untersuchung von 42 privat genutzten Lastenrädern konnte ein Dimensionierungs-Lastenrad identifiziert werden, das 85 Prozent aller privat genutzten Lastenräder repräsentiert: Es ist 2,60 Meter lang, hat einen Radstand von 2 Metern, ist 1,20 Meter hoch und hat eine 70 Zentimeter breite Transportbox sowie einen 89 Zentimeter breiten Lenker (Schäfer et al. 2021a, S. 35). Im gewerblichen Umfeld sind noch größere Modelle mit einer Länge von bis zu 3,40 Meter und einer Breite von 1,20 Meter üblich (ONO 2022; Rytle 2022). Diese größeren Dimensionen haben Konsequenzen für den

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fließenden sowie ruhenden Verkehr, indem sie zum Beispiel ein Risiko für Kollisionen auf Radwegen und für die unsachgemäße Nutzung von Seitenräumen bergen. Elektrofahrräder sind in der Regel deutlich schwerer als herkömmliche Fahrräder und daher nicht so leicht zu transportieren. Bei Lastenrädern ist diese Herausforderung noch größer. Die Fahrt mit einem schweren Lastenrad ohne elektrische Unterstützung erfordert einen höheren menschlichen Kraftaufwand, was zu einer niedrigeren Geschwindigkeit der Nutzenden führen kann. Grundsätzlich gilt: Je schwerer die Fahrzeuge sind, desto schwieriger sind sie zu handhaben. Die Fahrzeuge können nicht einfach über Hindernisse gehoben werden. Besonders für körperlich eingeschränkte Menschen ist es oft nicht möglich, ihre Fahrzeuge über Bordsteine oder gar Treppen zu heben. Deshalb spielen ebenerdige und barrierefreie Möglichkeiten für schwerere Fahrzeuge auch für die Gestaltung von Abstellanlagen eine wichtige Rolle. Daneben verändert sich die Wertigkeit von Mikrofahrzeugen. Auf der einen Seite wird seit vielen Jahren diskutiert, ob die Bedeutung des Autos als Statussymbol abnimmt, insbesondere bei jüngeren Bevölkerungsgruppen. Auf der anderen Seite steigt die Bereitschaft, einen höheren Preis für ein Fahrrad zu zahlen. In Deutschland stieg der durchschnittliche Preis, den die Menschen bereit sind auszugeben, von 685 Euro im Jahr 2019 auf 1.052 Euro im Jahr 2021 (Sinus 2021). Der durchschnittliche Verkaufswert pro (Elektro-)Fahrrad stieg im gleichen Zeitraum von 929 Euro auf 1.395 Euro (ZIV 2022). Bereits bei herkömmlichen Fahrrädern reicht die Produktpalette von sehr günstigen bis hin zu teuren Premium-Modellen. Elektrofahrräder und Lastenräder jedoch sind meist noch deutlich teurer als vergleichbare konventionelle Fahrräder. Dementsprechend sind geeignete Abstellanlagen mit Schutz vor Diebstahl, Vandalismus und Witterung von besonderer Bedeutung. Radwegenetze größer denken Die Diversifizierung bedeutet, dass Radverkehrsanlagen in Zukunft nicht nur die Kapazität benötigen, um den normalen Anstieg des Radverkehrsaufkommens zu bewältigen, sondern auch für alle Arten von Elektrofahrrädern, Lastenrädern und anderen Kleinstfahrzeugen ausgelegt sein müssen. Die zuvor genannten Fahrzeuge sind zum größten Teil auf Radverkehrsanlagen zugelassen. Dies geht einher mit heterogenen Ansprüchen und Anforderungen seitens der Nutzenden. Doch es ergeben sich nicht nur neue Herausforderungen in

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Bezug auf die physische Integration und die Bereitstellung einer angemessenen Infrastruktur für alle Nutzenden, sondern auch auf die Überprüfung und Anpassung des derzeitigen Rechtsrahmens, da dieser einen starken Einfluss auf die Attraktivität und Akzeptanz der Verkehrsmittel sowie die Verkehrssicherheit hat. Die Möglichkeit von Elektrofahrrädern und -kleinstfahrzeugen längere Strecken als herkömmliche Fahrräder zurückzulegen, muss in der Netzplanung berücksichtigt werden. Der Ausbau von Radverkehrsanlagen und die Entwicklung eines kohärenten Radverkehrsnetzes, sind essentielle Maßnahmen zur Erhöhung des Radverkehrsanteils. Diese Forderung beschränkt sich nicht nur auf städtische Gebiete, sondern umfasst auch ländliche und topographisch anspruchsvolle Regionen, in denen die elektrische Unterstützung das Fahren mit Mikrofahrzeugen erleichtert. Das bedeutet, dass die Netzplanung nicht an den Gemeindegrenzen enden darf, sondern auch die regionale und überregionaler Ebene umfasst. Speziell Strecken mit regionaler Verbindungsfunktion bieten ein großes Potenzial für eine Verkehrsverlagerung im Pendelverkehr. Dazu gehören beispielsweise Radschnellverbindungen und Radvorrangrouten, die ein zügiges, sicheres und komfortables Radfahren auf bedeutsamen Quelle-Ziel-Verbindungen erlauben. Solche Fernverbindungen sollten mit entsprechenden Zubringerrouten eine wichtige Netzfunktion übernehmen und in das reguläre Radverkehrsnetz integriert werden. Auch Radlogistikunternehmen würden von einem erweiterten Netz profitieren. Darüber hinaus können intermodale Konzepte gestärkt werden, da die Einzugsbereiche von ÖV-Haltestellen aufgrund der höheren Reichweiten von elektrischen Fahrrädern und Kleinstfahrzeugen zunehmen. Straßenraumaufteilung und Führungsformen neu denken Die verschiedenen Geschwindigkeitsniveaus, die durch das vielfältige Angebot der Mikromobilität erreicht werden, müssen zu einem radikalen Umdenken bei der Gestaltung des Straßenbildes führen. Physisch vom motorisierten Verkehr und Fußgängern getrennte Radverkehrsanlagen stellen grundsätzlich die sicherste Möglichkeit für Mikrofahrzeuge dar, insbesondere im Hinblick auf die zu erwartende zunehmende Anzahl an Überholvorgängen. Eine Mischung von elektrischen Mikrofahrzeugen und dem Fußgängerverkehr sollte in jedem Fall vermieden werden. Die Ergebnisse einer niederländischen Studie deuten

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jedoch darauf hin, dass die Gefahr von Konflikten zwischen S-Pedelecs und Fahrrädern bei der Benutzung von Radwegen höher ist als zwischen S-Pedelecs und Kraftfahrzeugen, wenn diese gemeinsam auf der Fahrbahn fahren – wenngleich die Folgen von Unfällen mit motorisierten Fahrzeugen auf der Fahrbahn für S-Pedelec-Nutzende gravierender sein dürften als für Fahrräder auf dem Radweg (Vlakveld et al. 2021). Mischverkehrslösungen können eine Alternative darstellen. Dies setzt allerdings ein geringes motorisiertes Verkehrsaufkommen und eine Absenkung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h voraus. Auch die optionale Radwegenutzung sollte stärker in Betracht gezogen werden. Neben der erreichbaren Geschwindigkeit der Fahrzeuge unterscheiden sich auch die körperlichen Fähigkeiten und das Selbstvertrauen der Radfahrenden. Ziel sollte es sein, dass langsame und schnelle Radfahrende entsprechend ihrer Wunschgeschwindigkeit fahren können, ohne dass es zu Konflikten kommt. Da jedoch nicht in allen Straßenräumen breite und qualitativ hochwertige Radwege angelegt werden können, sollte darauf geachtet werden, dass die Benutzung von Radwegen nicht verpflichtend ist und sich der motorisierte Verkehr auf die Koexistenz mit dem Radverkehr einstellt, zum Beispiel durch Geschwindigkeitsreduzierung, Fahrbahnverengungen und flankierende Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung. Die duale Führung mit Wahlfreiheit hat sich in Pilotprojekten als guter Kompromiss erwiesen und zu einer Situation geführt, in der schnelle Radfahrende eher die Fahrbahn und langsame Radfahrende eher den Radweg nutzen (Schäfer et al. 2021b, S. 41). Je nach räumlichen Gegebenheiten und den Anforderungen des Verkehrsnetzes könnte eine Straße auch in Abschnitte mit unterschiedlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen unterteilt werden. Dieser Ansatz wurde in mehreren niederländischen Städten erprobt und könnte auch die aktuellen Unklarheiten über die Nutzungsrechte von Radverkehrsanlagen lösen (Immers et al. 2020). Denn der derzeitige Rechtsrahmen erlaubt einigen Fahrzeugen die Nutzung von Radverkehrsanlagen, während andere, wie zum Beispiel S-Pedelecs und einige E-Bike-Typen, verboten sind. Dabei würden hochwertige Anlagen, wie Radschnellverbindungen, eine ideale Verbindung für diese Fahrradarten bieten, da sie längere Strecken ermöglichen und somit ein hohes Potenzial für die Substitution von Pkw-Fahrten besitzen. Dies könnte auch ein Grund dafür sein, dass die Verkaufszahlen von S-Pedelecs bislang noch gering sind. Es braucht also einerseits eine Anpassung des Rechtsrahmens und andererseits

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mehr Mut und mehr Innovation durch lokale Behörden, um neue Lösungen für die zunehmende Diversifizierung der Fahrzeugtypen auszuprobieren. Standards von Radverkehrsanlagen neu bemessen Radverkehrsanlagen sollten zukünftig so gestaltet sein, dass der Elektroantrieb und die Aerodynamik für ein möglichst schnelles Vorankommen gut genutzt werden können. Eine Überprüfung der geschwindigkeitsabhängigen Gestaltungsparameter, wie Kurvenradien, Bremswege auf nasser Fahrbahn oder Sicherheitsabstände zu anderen Verkehrsmitteln und Straßenmöbeln, ist zwingend erforderlich. Aufgrund der höheren Geschwindigkeit, der größeren Dynamik und des höheren Gewichts von Elektrofahrrädern und anderen Mikrofahrzeugen sind griffige Oberflächenbeläge ohne Beschädigungen erforderlich, um Sicherheitsrisiken und Komfortverluste zu vermeiden. Dazu gehört auch ein entsprechender Winterdienst. Für die Integration von Lastenfahrrädern – unter Berücksichtigung ihrer größeren Radabstände sowie zunehmender Fahrzeugbreiten und -gewichte – werden breitere Radverkehrsanlagen noch wichtiger. Dies ermöglicht nicht nur eine bessere Manövrierfähigkeit, sondern begünstigt auch überholende Fahrzeuge mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Für Überholmanöver von zwei Lastenrädern sind beispielsweise drei Meter erforderlich. Zumindest sollten die Breiten so bemessen sein, dass ein einspuriges Fahrrad ein Lastenfahrrad überholen kann. Um Kollisionen im Begegnungsverkehr zu vermeiden, sind zudem Markierungen vor Kurven und Kuppen notwendig. Zudem sollten Steigungen, Hindernisse wie Poller und Umlaufgitter, Bordsteinabsenkungen oder Wartebereiche an Knotenpunkten angepasst werden. So sind zum Beispiel die Taster an Lichtsignalanlagen für Lastenräder oft zu dicht an der Straße angebracht (Schäfer et al. 2021a, S. 28). Neue, zielgruppenspezifische Angebote zur Routenplanung und Navigation sind aus den genannten Gründen insbesondere für Lastenradnutzende essentiell. Für Lastenräder, Fahrräder und E-Scooter sollten außerdem zusätzliche Halteflächen und Wartebereiche im Straßenraum eingeplant werden. Dabei ist vor allem das Abstellen von E-Scootern ein Aspekt, bei denen Kommunen derzeit sehr unterschiedlich vorgehen, was zu Unsicherheiten bei Sharing-Anbietern und Nutzenden führt. Aufgrund der vorhandenen Potenziale – insbesondere für die erste oder letzte Meile in Kombination mit dem ÖPNV – sollte es einen einheitlichen Ordnungsrahmen geben, der die Nutzung nicht ein-

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schränkt, sondern die Zuordnung zur Infrastruktur klar regelt. Zur Förderung der Radlogistik wird empfohlen, spezielle Abstell- und Ladezonen für Lastenräder vor Geschäften einzurichten. Dies wäre nicht nur ein Anreiz für Unternehmen und Privatpersonen, Lastenräder zu nutzen, sondern würde auch verhindern, dass Gehwege oder Radwege blockiert werden. Obwohl Elektrofahrräder und -kleinstfahrzeuge regelmäßig aufgeladen werden müssen, zeigen Umfragen, dass Nutzende im Alltagsverkehr nur selten eine Ladestation im öffentlichen Raum benötigen, da sie in der Regel zu Hause oder am Arbeitsplatz laden. Um Mikrofahrzeuge jedoch als Alternative für touristische Strecken zu fördern, sind Lademöglichkeiten vor allem für längere Fahrten wichtig und sollten an Orten in Betracht gezogen werden, an denen ein längerer Aufenthalt zu erwarten ist, wie zum Beispiel Restaurants, Freizeiteinrichtungen oder Hotels. Die höherpreisigen Elektrofahrräder und Lastenräder benötigen aber vor allem sichere Abstellmöglichkeiten, wie beispielsweise Fahrradboxen. Eine hohe Nutzungsfreundlichkeit bieten abschließbare Anlagen mit Witterungsschutz, einbruchsicherem Material, Fächer für Gepäck oder Kleiderhaken, einer Helm-Vorrichtung sowie ausreichender Beleuchtung (Schäfer et al. 2021c, S. 12). Da Elektrofahrräder und Lastenräder in der Regel ein höheres Gewicht haben, ist auch ein barrierefreier Zugang zu Abstellanlagen von besonderer Bedeutung. Dies ist sowohl für den öffentlichen als auch den privaten Raum relevant und könnte durch die Integration in Stellplatzsatzungen und Landesbauordnungen gefördert werden. City-Logistik neu bewerten Der gewerbliche Verkehr macht heute etwa ein Drittel des innerstädtischen Verkehrs aus (Heinz 2021). Insbesondere der Lieferverkehr wird dabei hauptsächlich von 3,5-Tonnern abgewickelt, die oft durch unerlaubtes Halten in zweiter Reihe Radwege blockieren. Die kommunalen Ziele in Bezug auf Luftreinhaltung, Lärmreduzierung, Klimaschutz, Verkehrssicherheit und Flächenverbrauch erhöhen den Druck, einen Rahmen für nachhaltige Logistikkonzepte zu schaffen. Die Nutzung von Lastenrädern, insbesondere für die «letzte Meile» bringt für viele Anwendungsfälle nicht nur ökologische, sondern auch ökonomische Vorteile mit sich. Der Fahrradmarkt hat sich auf diese Entwicklung eingestellt und entwickelt stetig neue Modelle für die gewerbliche Nutzung.

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Um Waren auf der letzten Meile mit dem Fahrrad ausliefern zu können, werden jedoch sogenannte Mikrodepots benötigt. Hierbei handelt es sich um mobile oder stationäre Standorte für den Umschlag und die Zwischenlagerung von Transportgütern, wie zum Beispiel Paketen. Transportdienste liefern Waren an die Mikrodepots, von wo aus sie mit dem Lastenrad an Endkunden verteilt werden. Aktuell sind sie zumeist in dicht besiedelten Gebieten mit hohem Sendungsaufkommen zu finden. Sie ermöglichen auch das sichere Abstellen von Lastenrädern, wenn diese nicht genutzt werden. Aufgrund der Immobilienpreise und des begrenzten Platzangebots gestaltet sich die Suche nach Mikrodepots – insbesondere in urbanen Gebieten – schwierig. Kommunen können nachhaltige Lieferkonzepte zum Beispiel durch die Bereitstellung verfügbarer Flächen in städtischem Besitz unterstützen. Die Zusammenarbeit von Lieferdiensten zur gemeinsamen Anmietung von Flächen oder zur Bündelung der Warenverteilung kann zusätzlich zur Effizienzsteigerung und Kostensenkung beitragen. Bei der Entwicklung von Mikrodepot-Lösungen sind verschiedene infrastrukturelle Aspekte zu berücksichtigen, wie die notwendigen Raummaße für die Zufahrt mit Lkw, Transportern und Fahrrädern sowie Lagerung, Abstellen und Umschlag, Sanitärbereiche für Mitarbeitende, Ladestationen und die notwendige technische Ausstattung. Für zukünftige Überlegungen ist auch die Kombination von Straßenbahn- und Lastenradzustellung ein vielversprechender Ansatz (Schocke et al. 2020). Die Schaffung klarer rechtlicher Rahmenbedingungen sowie die Unterstützung wegweisender City-Logistikkonzepte ist dabei ein wesentlicher Schlüssel zur Verbreitung von Mikrofahrzeugen im Wirtschaftsverkehr. (Mikro-)Mobilität neu kommunizieren und planen Öffentlichkeitsarbeit und Mobilitätsmanagement spielen eine entscheidende Rolle für das Bewusstsein und das tatsächliche Mobilitätsverhalten der Menschen. Diverse Bevölkerungsgruppen und Wirtschaftsakteure profitieren von der zunehmenden Diversifizierung des Mikrofahrzeugmarkts. Zielgerichtete Maßnahmen sind entscheidend, um möglichst viele Menschen für nachhaltige Mobilitätsoptionen zu gewinnen. Dazu gehört die Information über die Vorteile der Nutzung von Mikrofahrzeugen – für jeden Einzelnen und für die Gesamtgesellschaft – aber auch die Aufklärung und Schulung im Umgang mit diesen, was speziell für Personen wichtig ist, die die zusätzliche Kraft der elektrischen Unterstützung noch nicht beherrschen.

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Über das betriebliche oder kommunale Mobilitätsmanagement sind An­reize für nachhaltige Mobilitätsformen zu setzen, wie die Schaffung von Infrastruktur- und Serviceangeboten. Die höheren Anschaffungskosten von Elektrofahrrädern und Lastenrädern können beispielsweise durch die Einführung von Subventionen und Leasingprogrammen kompensiert werden. Arbeitgeber können dabei als Multiplikatoren einen wesentlichen Beitrag zur Verkehrswende leisten, wenn sie nachhaltige Mobilität als Grundprinzip in ihrer Unternehmenskultur verankern. Auch in der Politik und Verwaltung bedarf es eines Wertewandels, indem die Verkehrspolitik und -planung nicht aus einer fahrzeugorientierten Perspektive gesteuert wird, wie es jahrzehntelang der Fall war. Der Wert und die Qualität des öffentlichen Raums sowie die Bedürfnisse der Menschen sollten im Mittelpunkt stehen. Dies führt automatisch zu einer gerechteren und zukunftsorientierten (Straßen-)Raumverteilung, bei der Zufußgehenden und der Mikromobilität der Vorrang eingeräumt wird. Als zentraler Baustein integrierter Stadtentwicklungs- und Mobilitätskonzepte kann die Mikromobilität so dazu beitragen die Anteile des motorisierten Individualverkehrs zu reduzieren. Literatur: Bike Europe (2021): E-bike and bicycle market value hiked by one third in the Netherlands. https://www.bike-eu.com/40060/e-bike-and-bicycle-market-value-hiked-byone-third-in-the-netherlands (11.04.2022) Blass, Philipp, Aggelos Soteropoulos, Monika Romaniewicz-Wenk & Florian Schneider (2019): Geschwindigkeitsunterschiede ausgewählter Fahrradtypen. In: Zeitschrift für Verkehrsrecht, Vol. 6, Wien. Bruntlett, Chris (2022): From Pop-up Cycling Streets to Permanent Multimodal Streets: Global Lessons from the Netherlands. Presentation auf: Cycling Europe – Matchmaking and expert talks, März 2022. Dozza, Marco, Gulio Francesco Bianchi Piccinini & Julia Werneke (2016): Using naturalistic data to assess e-cyclist behavior. In: Transportation Research Part F: Traffic Psychology and Behaviour, Vol. 41, Part B. Immers, Ben, Bart Egeter, Johan Diepens & Paul Westrate (2020): The Good Street: A new approach for rebalancing place and mobility. https://mobycon.com/wp-content/ uploads/2020/11/The-Good-Street-FINAL.pdf (29.04.2022)

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212  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

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Verkehrsplanung und Straßenraumgestaltung  213 

Zuser, Veronika, Philipp Blass, Eveline Braun, Nina Senitschnig, Christoph Breuer, Aggelos Soteropoulos, Lisa-Marie Brunner, Lena Baumgartner & Severin Stadlbauer: Potenzial von S-Pedelecs für den Arbeitsweg. Rahmenbedingungen für eine sichere und effiziente Nutzung in Österreich. KFV (Kuratorium für Verkehrssicherheit) – sicher leben, Band 34, Wien 2021.

Vita Dennis Knese ist seit 2021 Professor für nachhaltige Mobilität und Radverkehr an der Frankfurt University of Applied Sciences. Die Querschnittsprofessur ist in den Fachbereichen Architektur, Bauingenieurwesen, Geomatik sowie Wirtschaft und Recht angesiedelt und Teil des Research Lab for Urban Transport © Friederike Mannig (ReLUT). Der gelernte Geograph und Verkehrspla­ner war von 2016 bis 2020 als Berater für nachhaltige Mobilität bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammen­arbeit (GIZ) tätig. Zuvor arbeitete er als Wis­senschaftlicher Mitarbeiter in der Fachgrup­pe Neue Mobilität der Frankfurt UAS und als Forschungsmit­arbeiter bei der Vancouver Economic De­velopment Commission in Kanada. Seine Promotion zur Integration der Elektromobilität in die Stadtplanung und Straßenraumgestaltung schloss er 2018 an der Universität Kassel ab.

214  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

Urbane Mobilitätskonzepte und Umsetzungen für klimaneutrale gesunde Unternehmen und Quartiere. Perspektiven & Projekte von Beratung bis Wartung Stephan A. Jansen unter Mitarbeit von Martha Wanat »Sind Autos das neue Fleisch?« Schaufenster des BICICLI Cycling Concept Store, Berlin, S-Bahnhof Friedrichstraße

Im folgenden Beitrag wollen wir aus wissenschaftlicher, beraterischer und um­ setzungsbezogener Perspektive die Herausforderungen sowie Gelingensprojekte der urbanen Innovation von Mobilität und deren Projekt-Governance aufzeigen.1

I. Herausforderungen: Die Gleichzeitigkeitswende der Mobilität Verkehr ist irgendwie immer verkehrt. Zu langsam, zu schnell, zu viel, zu wenig, zu laut oder unerhört. Straßenkämpfe finden auch in den Medien, bei Lobbygruppen und der Internationalen Automobil-Ausstellung statt. Die Zivilgesellschaft übt den zivilen Ungehorsam – von Fridays for Future über Greenpeace und Sand im Getriebe bis Extinction Rebellion. Unsere These: Es wird eng; es wird noch enger auf den Straßen und in den Städten. Es wird zu eng in den Konflikten, denn die Reibung steigt: Aus der Soziologie kennen wir die Moralisierung insbesondere bei der Mobilität, wenn Dilemmata und Zielkonflikte nicht mehr auflösbar erscheinen. Ob SUVs, Plug-Ins, Bike-Sharing, eScooter oder Lastenräder. Es ist immer verkehrt. Unsere Zeitenwende ist aber keine militärisch verengte, sondern eine Gleichzeitigkeitswende – und die Mobilität dabei die Verbindung. Die Klimawende, die Energiewende, die Gesundheitswende, die Immobilienwende, die Arbeitswende sowie die Digitalwende als auch die Zivilgesellschaftswende sind für sich genommen schon komplexe Aufgaben – aber sie 1

Einige der Auszüge entstammen dem Buch von Stephan A. Jansen und Martha Wanat »Bewegt Euch. Selber!« Wie wir unsere Mobilität für gesunde und klimaneutrale Städte neu erfinden können, München: Hanser Verlag, 2022

Urbane Mobilitätskonzepte und Umsetzungen  215 

finden gleichzeitig statt. So zeigt sich insbesondere in bestimmten Städten mit hoher sozialer Ungleichheit, bei spürbaren Flächengerechtigkeitsproblemen der Verkehrsträger, aber auch bei Hitze, Luftverschmutzung und sich stauendem Wachstum eine Moralisierung. Die Geschichte der »Moralisierung der Mobilität« ist noch gar nicht so lang, weil wir Mobilität als Menschenrecht und Freiheit schätzen, auch als eine durch Immanuel Kant philosophisch grundierte aufklärerische Erfahrbarkeit von Welt ansehen und schlicht als kindliche Freude bis ins hohe Alter sehr ernstnehmen – gerade in Deutschland. Aber die Mobilitätswende aus einer in Deutschland verrechtlichten Klimaschutzpolitik, aus einer neuen Anspruchshaltung der kaum mehr dienstreisenden und pendelnden Home Office-Belegschaften wie auch aus den neuen z.T. rechtlichen Verantwortlichkeiten von Städten für Gesundheit ihrer Bewohnenden bei tropischer Hitze, Verfehlung der Luftreinhaltepläne oder Lärmemission wird rasant sein – und dann geschieht wie bei schnellen Wendemanövern vor allem eines: es quietscht. In Deutschland sind wir deutlich langsamer, wenn man sich viele Städte von Amsterdam, Barcelona, Helsinki über Paris und Wien allein in Europa anschaut, die deutlich flotter voranfahren mit neuer urbaner, gesunder und klimaneutraler Mobilität, erweiterter Infrastruktur und sozialer Innovation.

II. Die Chartas: Von der Auto-Biographie zur Gesundheitsstadt Die Geschichte der Städte ist immer auch eine Geschichte zeitgenössischer und aktueller Probleme und zukünftiger technologischer Lösungsmöglichkeiten. So wie sich die städtebauliche Entwicklung mit Blick auf die bereits weit fortgeschrittene Industrialisierung im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts neu formulierte – nämlich als »Funktionelle Stadt« –, zeigt deutlich, was die damaligen Probleme und die daraus entwickelten Lösungen waren. Die Charta von Athen wurde auf dem IV. Kongress der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne  1933 in  Athen  verabschiedet. Unter dem Thema »Die funktionelle Stadt« hatten dort zeitgeistige Stadtplaner und Architektinnen über die Aufgaben der modernen Siedlungsentwicklung diskutiert. Resultate in der Umsetzung der Charta waren veränderter Städtebau und die Auflösung des klassischen Urbanismus durch große Freiflächen und die nun funktionale Trennung von bebauten Quartieren nach Wohnungen (z. B. Großwohnsiedlungen in Trabantenstädten), Büros, Einkaufsmöglichkeiten, Gewerbe und Industrie

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sowie die Funktionen verbindende Mobilität als »autogerechte Stadt«. Was funktional getrennt wurde, musste mobilitätsseitig wieder verbindbar werden. Heute brauchen wir weniger Innovation als vielmehr Exnovation, also die Abschaffung dieser Innovation der Auto-Biographie der Städte. Und dann kam während Corona die Charta von Leipzig: Die für Stadtentwicklung zuständigen Ministeriumsspitzen der Europäischen Union haben im November 2020 die »Neue Leipzig-Charta« verabschiedet.2 Das Papier, das an die »Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt« von 2007 anknüpft, soll auf neue Herausforderungen wie den Klimawandel, die Ressourcenknappheit, den Verlust an Biodiversität sowie den verstärkten demographischen und wirtschaftlichen Wandel reagieren. Einen besonderen Akzent legt es auf die Stärkung der kommunalen Planung, der Daseinsvorsorge und der Bürgerbeteiligung. Klingt alles plausibel und wieder zeitgemäß – auch weil in Teilen der Europäischen Gemeinschaft nach wie vor hoch ineffiziente Zentralismen, gepaart mit wirtschaftlichen Interessen von Großunternehmen, lokale Bemühungen lähmen. Zielgrößen sind 1. Dichte und Kompaktheit von Stadträumen, 2. Verkehrsvermeidende Nutzungsmischung und 3. Reduzierung des Flächenverbrauchs. So gut gemeint die Athener Charta war, so schwach und unterdefiniert sind die Chartas von Leipzig. Selbst der Bund der deutschen Architekten hat in einem Positionspapier – durchaus auch gegen eigene Interessen – einen weitgehenden Verzicht auf Neubauten und eine »Kultur des Pflegens und Reparierens« gefordert.3 Die New Urban Agenda der Vereinten Nationen (Habitat III) war schon mal weiter – 2016 in Quito. Die EU will zumindest 100 klimaneutrale Städte in Europa fördern, damit wir vom »Protest« umschalten ins »Pro Testen«. Das Stadt-Modell der Zentrale und ihrer Trabanten werden wir aufgeben müssen. Stattdessen drängt sich das Narrativ der »Stadt der kurzen Wege« oder der

2 https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/ 2020/eu-rp/gemeinsame-erklaerungen/neue-leipzig-charta-2020.pdf?__ blob=publicationFile&v=6 (10.11.21) 3 Arnold Bartetzky (2021): Sanfte Worthülsen, FAZ, 06.01.2021, S. 9.

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»15 Minuten-Stadt« vor: eine Stadt, in der alle relevanten Bildungs-, Gesundheits-, Kultur- und Einkaufsverkehre zu Fuß bzw. mit dem Rad erreichbar sein sollen.

III. Innovationen im Mobilitätssystem: Sozial, intersektoral, interdisziplinär und intermodal Sowohl an den Universitäten wie auch bei der Mobilitätsberatung MOND haben wir in vielen Sitzungen an der Frage gearbeitet, welche Innovationslogiken in dieser Form der Mobilitätswende stecken. Die Kernerkenntnis: Die Mobilitätswende ist keine Technologiewende, sondern eine Verhaltenswende! Wir sehen daher soziale Innovationen als Ergänzung zu produktbezogenen, technologischen wie geschäftsmodell-bezogenen Innovationen an, die viel wesentlicher sind als Elektrifizierung oder gar autonomes Fahren. Soziale Innovationen werden dabei definiert als Innovationen, die 1. durch Inklusion der Beteiligten, 2. Hybridisierung4 der Organisation von verschiedenen, wichtigen Akteure (auch durch Digitalisierung) und 3. Systematisierung von sozio-technologischen Lösungen (z. B. Mobilitätsbudget statt Dienstwagen) gelingen. Wir sehen intersektorale Innovationen – also Innovationen, die zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft entstehen – für gelingensrelevant an, wie wir in Stadtstrategien von Amsterdam bis Paris genau erkennen können. Wir brauchen interdisziplinäre Innovationen – z.T. durch Stadtlabore wie in Wien oder Hamburg – neue forschungsbasierte Partizipationsarenen zu Prototypen. Wir fördern intermodale Innovationen durch nachhaltigere Designs urbaner Mobilität als ökosystemische und digital unterstützende Integration von Verkehrsangeboten im Zusammenspiel verschiedener Akteure. Dafür haben wir das Glücksrad der Urbanen Mobilität entwickelt, was wir in jedem Quartier bzw. für jede Wohnungsbaugesellschaft und Arbeitgeber mit Blick auf Branchenbedarfe individualisiert analysieren – und auf Basis von Mobilitäts- und Infrastrukturbedarfsanalysen Konzepte in diesen Innovationslogiken ko-kreieren und begleitforschen.

4

Eine Organisation ist hybrid, wenn sie Elemente, Wertsysteme und Handlungslogiken von verschiedenen Sektoren (staatlich-öffentlicher Sektors, Privat­sektor etc.) mischt. Eine besonders enge Bedeutung bekommt der Begriff, wo er für die Analyse der Verschränkung verschiedener Steuerungselemente in privatwirtschaftlichen Organisationen verwendet wird.

218  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

Glücks-Rad der urbanen Mobilität Ökosysteme sozialer Innovation

Soziale Gerechtigkeit

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Urbane, betriebliche &  individuelle Gesundheit

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Ressourcenschonende Immobilienentwicklung

LEGENDE SPEICHEN

VENTIL

KATZENAUGEN

Maßnahmenbündel von Akteuren im Zuge der Regulierung (Speichen) Richtung Speichen individuelles und kollektives Verhalten

Zivilgesellschaft Verbände, Stiftungen, soziale Bewegungen etc.

Maßnahmen von Akteuren Zielerreichungsgrad Individuell (innen) Kollektiv (aussen)

Eigene Darstellung (MOND) in Jansen/Wanat 2022

IV. Selbstkritische Analyse Radbranche & Mikromobilität: Wir müssen im Peloton fahren! Nun ist für viele das Rad und die Mikromobilität die Lösung. Die Lösungsprobleme sind zum Glück überschaubar – allenfalls bei klimaschädlichen Fußersatzverkehren wie z. B. E-Scootern. Sogar die Energie- und Klimabilanz bei E-Bikes ist als Auto-Ersatzverkehr schon ab 100 Kilometern Laufleistung positiv. Aber: Als »Gesellschaft für Urbane Mobilität BICICLI« – mit auf Handel, Werkstattleistung, Dienstrad- und Flotten-Leasing spezialisierten Geschäftsbereichen – sehen wir aber bei allem Wachstum und aller Innovationsfreude vor allem ein Problem: eine resiliente und professionelle Wachstumsfestigkeit für insbesondere Business-to-Business-Anwendungen. Die Pandemie bewirkte bislang zweierlei: Das Auto erfuhr eine Renaissance als »Reservemobilität« (weg vom Pendler- zum Freizeitverkehr). Ebenso stieg die Freizeit-Radmobilität mit einem boomenden Rad-Tourismus. Der aktuelle Krieg verstärkt noch die Lieferkettenprobleme, führt zu einer Refossilisierung des Energiemixes und zu atemberaubenden Rabattaktionen auf Benzin oder

Urbane Mobilitätskonzepte und Umsetzungen  219 

Kaufprämien für nicht recycling-fähige Batteriefahrzeuge. Das mag strukturell vermögendere Autobesitzer erstmal freuen – aber auch eine gut gemeinte, aber schlecht gemachte 9 Euro-ÖPNV-Nutzungs-Revitalisierung zeigt: Wir müssen bodenständiger planen – und uns selbst bewegen. Wir haben in Zeiten von Dieselskandalen, Kartellabsprachen, Dividendenausschüttungen einerseits und Kurzarbeit andererseits und der gleichzeitig späten Umstellung auf klimafreundliche Fahrzeuge viel über die Antriebsschwäche der Automobilbranche aufgezeigt bekommen. Aber ist denn nun die Radbranche als scheinbar überholender Gewinner für die Mobilitätswende überhaupt ausreichend aufgestellt? Ist die Branche auch für betriebliche Mikro-Mobilitätsstationen und deren professionelle Betreuung nachhaltig (im doppelten Sinne) ausgerichtet? Können also einerseits die Private Equity-finanzierten Start Ups auch rentable Geschäftsmodelle aufstellen? Und sind diese Geschäftsmodelle auch wirklich nachhaltiger im flottierten Betrieb bis hin zur Wartung und Relokation – und das alles unter angemessenen Arbeitsbedingungen? Die sogenannten ESG-Anforderungen (Ecology, Social, Governance, also Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) in den Taxonomien werden nun auf S und G gehen, was viele Anbieter der Liefer- und Sharingdienste kaum bewältigen werden. Kurz: Wird es eine Entwicklung vom margenarmen Endkunden- und verlustreichen Verleihgeschäft hin zu einer professionellen Dienstleistung geben? 1. Individuelle Flottierung: nur herstellerübergreifend als systemische Leistung Unternehmenskunden haben eine hohe Bereitschaft für eine Flottierung von emissionsarmen bzw. -freien betrieblichen Verkehr. Der FuhrparkmanagementVerband – also der größten Einkäufer von Verbrennermobilität – hat sich 2022 umbenannt und will mehr als die Industrie leisten kann. Aber wenn das Fuhrparkmanagement auf die Alphabets (der herstellerübergreifende Auto-Leaser von BMW) oder VW Financial Services stießen, dann wussten sie, was sie erwarten konnten. Wen spricht man nun an, wenn man was anderes sucht? Genau: es gibt keinen. Dabei ist das Thema Mobilitätsstation mit Infrastruktur für Parkierung wie Ladung, Schließung und Buchung und einem Wartungsvertrag ein spannendes Produkt – und war Gründungsmotivation der Gesellschaft für Urbane Mobilität BICICLI, die mit dem Geschäftsbereich BICICLI Cycling Solutions eben solche Produkte für Unternehmen und Quartiere anbietet und mit der Mobilitätsberatung MOND – Mobility New Designs entsprechende Standort-Analysen und eine Strategie- und Konzeptentwicklung voranstellt.

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Mit vielen unserer Kunden zeigt sich für uns nach wenigen Jahren: die Nachfrage ist da. Das Angebot bleibt dahinter und herausfordernd, da nicht nur die Radwirtschaft zersplittert ist – vom Zubehör, den Radtypen, den Werkstattleistungen, den physischen wie digitalen Infrastrukturen – sondern auch die interessenvertretende verbandliche Arbeit einer kleinen Industrie. 2. Lastenlogistik: Pedalbetriebene Paketdienste Eine der wichtigsten Anwendungen aus verkehrlicher und klimaschützender Perspektive ist sicherlich die Letzte Meile-Logistik der Paketdienste – z. B. mit dem Lastenrad. Das Thema selbst ist in Deutschland wesentlich sperriger als so manches Rad. Erst im Jahr 2018 haben Hersteller, Anwender und Dienstleister den Radlogistikverband Deutschland (RLVD) gegründet. Dieser will den Einsatz moderner Lastenräder und Lastenanhänger in der Logistik voranbringen und vertritt die Interessen kleiner und mittelständischer Unternehmen. Im ersten Branchenreport für das Jahr 2020 gab es allein hier rund 100 Unternehmen mit gerade einmal 2.600 Beschäftigten und einem Umsatz von 76 Mio. Euro. Die aktuell noch kleine, jedoch rasch wachsende Branche der Lastenradlogistik hat in den letzten fünf Jahren eine beeindruckende Entwicklung durchlaufen. Waren es zuerst die etwas heldenhaft wie kurios anmutenden Fahrradkurierdienste, im Stadtverkehr von New York City bis Schwerte-Ergste, so haben sich die Angebote durch Fahrräder mit größerem Transportvolumen verändert. Heute kommen auch ganz neue Anbieter auf den Markt, wie das Fahrradportal. Es entstand eine neue Kategorie Pedal Assisted Transporter (PAT) 5. Die Tests durch Paketdienste haben gezeigt, dass es einer Weiterentwicklung bedarf: »Unsere Hoffnung ruht nun auf einer neuen Generation an Lastenrädern, die sich hinsichtlich der Qualität und des Fahrverhaltens verbessern müssen«, so die Einschätzung von Hermes. DPD, LGS und viele andere kamen zu einer ähnlichen Einschätzung. Es wird also eine Professionalisierung benötigt, auch in der Ersatzteilgarantie und Lieferbarkeit und der Wartung vor Ort. Das sind alles Kompetenzen, die die Automobilwirtschaft mit ihrer Händler- und Werkstattstruktur grundsätzlich bedient, aber in dieser Sparte der Lastenräder immer wieder aufgegeben hat. Volkswagen Nutzfahrzeuge haben wieder einen Bully-Leckerbissen als Prototypen präsentiert – und bewerben den auf der Volkswagen-Homepage anregend: »Autofreie Innenstädte, weitläufige Industrieanlagen oder verstopfte Straßen. Das E-Bike Cargo ist die Mobilitätslösung für heutige Herausforderungen des Städtewachstums. Egal, ob Sie Ihren Einkauf transportieren oder als Hand-

5 https://ebike-news.de/onomotion-liefert-die-ono-pat-pioneers-edition-aus/ 194901/; ONOMOTION GmbH, Berlin

Urbane Mobilitätskonzepte und Umsetzungen  221 

werker zu Ihren Kunden fahren möchten: Auf dem multifunktionalen Lastenrad mit Automatikgetriebe und Pedelecunterstützung gelangen Sie zügig und bequem von Ort zu Ort.«6

50 Kilo schwer, 100 Kilo Nutzlast. So geht SUV. 3. Maintenance und Flotten-Angebote: Startups & ADAC – Warten auf Wartung Das Unternehmen LiveCycle beispielsweise startete 2016 hoffnungsfroh als Deutschlands erste mobile Werkstattleistung zunächst für Rad-Endkunden und später auch als individualisierte Dienstleistungen im B2B-Bereich. Trotz einer expansiven Regionalisierungsstrategie funktionierte es aber auf keinem der Märkte und daher wurde das Unternehmen im April 2020 wieder verkauft. Daraufhin kam der ADAC mit seinen gelben Engeln auf E-Lastenrädern zu seinen autofahrenden bzw. liegengebliebenen Mitgliedern. Die Presse war beeindruckt, die Mitglieder auch, denn der Stau, den ein liegengebliebenes Auto erzeugt, kann eben auch autofahrende Engel ausbremsen. Mit den E-Rädern kamen sie hingegen flott durch. Nachdem die Stadt Wien wie in so vielen Bereichen »Vor-Radlerin« wurde, starteten auch in Berlin und Stuttgart die ersten Lastenräder mit Anhängern und 70 Kilo Werkzeug durch. Waden statt Warten! Durch den Impuls des Bike-Booms baute der ADAC sein Leistungsangebot aus: Mitglieder, die in Berlin und Brandenburg mit einer – ja genau – Fahrradpanne liegen bleiben, profitierten von dem Pilotprojekt der fahrradfreundlichen Pannenhilfe. Die Gelben Engel halfen vor allem Radfahrern, die mit Reifen-, Ketten-, Brems- oder Akkuproblemen nicht mehr weiterfahren konnten. »Viele unserer Mitglieder nutzen immer häufiger das Fahrrad. Deshalb wollen wir jetzt herausfinden, wie hoch der Bedarf an dieser Hilfeleistung ist und wie sie bei den Menschen ankommt«, erklärte der Leiter der ADAC-Pannenhilfe. Damit der neue ADAC- Service so zuverlässig und erfolgreich abläuft wie beim Auto, wurden die Pannenhelfer entsprechend geschult und ausgestattet. Zum Einsatz kommen die Gelben Engel unter anderem bei der Pannen- und Unfallhilfe direkt an Ort und Stelle, beim Transport zur nächsten geeigneten Werkstatt und auch bei der Bergung von Gepäck oder Ladung. Dem Mitglied sollen nach einer Panne so rasch es geht die Weiterfahrt ermöglicht und Unannehmlichkeiten erspart werden. Dies wäre sicherlich für Versicherungen von Leasing-Anbietern, die eine Mobilitätsgarantie auch für Radler versprechen, eine interessante Kooperation. 6 https://www.volkswagen-nutzfahrzeuge.de/de/elektromobilitaet/modelle/e-bikecargo.html

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4. »Hätte Hätte Lieferkette« oder: Die schonende Kraft des Peloton-Fahrens Außer dem ADAC stehen noch viele weitere Anbieter in den Startlöchern, aus unterschiedlichen Branchen der Immobilien- und Mobilitätswirtschaft. Die Gesellschaft für Urbane Mobilität BICICLI setzt auf die Erarbeitung eines kollaborativen Flotten- und Service-Managements – gemeinsam mit der Automobilwirtschaft. Denn diese kann über ihre etablierte Händler- und Werkstattstruktur eine verlässliche, anpassungsfähige und bedarfsgerechte Struktur bieten. Ein Ideologiekampf hilft hier wenig, nur Zusammenarbeit! Das Thema »Nachhaltige betriebliche Flotten und ihr Management« wird weiterhin sorgfältig analysiert und mit der Mobilitätsberatung »MOND – Mobility New Designs« verkehrsmittelübergreifend fortgeführt. Für Cargo-Dienstleister ist eine genaue mitarbeiterzentrierte Datenanalyse der Mobilitäts-, Infrastruktur- und Wartungsbedarfe notwendig. Ebenso ist es essenziell, die spezifische Unternehmenskultur und das Mobilitätsverhalten der Menschen zu kennen und die jeweiligen Erwartungen und Wünsche an eine nachhaltige Flotte in die Lösungsentwicklung einzubeziehen. Dazu braucht es einen Zusammenschluss von Verkehrs- und Stadtplanern, Architektenbüros, Stadtmöblierern, Parkraumbewirtschaftern, Energieversorgern, Stadtwerken, ÖPNV und Digitalwirtschaft mit anpassungsfähigen Werkstatt-Leistungen und zukunftsfähiger Finanzierung.

V. Projektbeispiele für gesunde Mobilität Im Folgenden wollen wir eine Auswahl von anregenden Projekten vorstellen, für die es zahlreiche Auszeichnungen gegeben hat – vom Innovationspreis des Deutschen Handels, den Innovationspreis beim Future Mobility Summit und dem Deutschen Fahrradpreis u. a. vom Bundesverkehrsministerium. Motivierend ist es zu sehen, in wie vielen Branchen und Bereichen auch ungewöhnliche Modelle greifen. Partnerschaftlich entstehen Lösungen aus der von uns eingesetzten AKKU-Methode: Analyse, Konzeption, Kommunikation und dann Umsetzung – aus einer Hand. 1. Der Flughafen Berlin-Brandenburg (FBB) entwickelte unter Leitung der Gesellschaft für urbane Mobilität BICICLI mit seinen Abteilungen für Personal und Nachhaltigkeit das Konzept »Bike Days«. Dazu wurden Daten zum aktuellen Mobilitätsverhalten gesammelt, analysiert und ausgewertet, um daraus Empfehlungen für eine Fahrradflotte (Größe, Standorte, Radtypen) für die Terminalverkehre abzuleiten. Gleichzei-

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tig wurde das BICICLI Dienstrad-Programm eingeführt (wohl zuerst bei einem Flughafen überhaupt), mit dem sich die Mitarbeitenden des Flughafens ihren Wunsch nach einem hochwertigen Fahrrad, E-Bike oder auch Cargo-Bike erfüllten – und das bei kommunaler Trägerschaft im Jahr 2018. Jedes Jahr findet zudem ein »BICICLI Bike Day« statt, an dem die FBBler nicht nur eine große Auswahl neuer Modelle auf dem Gelände ihres Arbeitgebers testen, sondern auch ihre Diensträder zum Service abgeben können. Bildungszentren: Das Berliner Studentendorf Schlachtensee, das vor allem für Studierende der Freien Universität Berlin und internationale Gaststudierende Unterkunft bietet, erstellte im Rahmen des 60-jährigen Bestehens ein nachhaltiges Konzept für die Mobilität der Mitarbeitenden und Studierenden. Das Fahrrad bzw. E-Bike war das gewünschte Verkehrsmittel. Nun entsteht ein erster Mobility Hub mit Park-, Lade- und Digitalinfrastruktur, der den Autobesitz von Studierenden vermeiden soll bzw. diesen obsolet werden lässt. Neue Arbeit & Co-Working: Design Offices ist der deutsche Marktführer für Corporate Coworking und der wichtigste Workspace-as-a-ServiceAnbieter in Deutschland. Im Jahr 2008 gegründet als Plattform der »New Work«-Bewegung sind nun über 10.000 Menschen von nationalen und internationalen Unternehmen in derzeit über 40 Standorten in allen Metropolen Deutschlands aktiv. Der Gründer und Geschäftsführer benötigte 2016 aufgrund der zentralen Lagen aller derzeitigen und künftigen Standorte ein Mobilitätskonzept – unter Vermeidung der Anmietung von Autostellplätzen. Es erfolgte eine Flottenumsetzung mit ausgewählten wartungsarmen und höchstwertigen Rädern für diese Klientel mit einem Vor-Ort-Service bei der Wartung. Kulturanbieter: Die neue Geschäftsführerin des Baden-Badener Festspielhauses hat sich für das Ensemble in Kooperation mit der EnBW eine Flotte aus E-Bikes und E-Lastenrädern zum Transport von Instrumenten und anderem entwickeln lassen. Park- und Ladeinfrastruktur mit einem ansprechenden Corporate Branding gab es dazu – vollverleast, versichert und gewartet vom Kooperationshändler vor Ort. Nun fährt der Kontrabass flotter durch die Stadt! Wohnungsbaugesellschaft: Hier steckt ein besonderer Hebel der Verkehrsvermeidung. Die Berliner landeseigene Wohnungsbaugesellschaft GEWOBAG AG mit über 130.000 Mietenden und knapp 1.000 Mitar-

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beitenden nahm hier eine Vorreiterfunktion ein und erhielt mit BICICLI den Infrastrukturpreis des Deutschen Fahrradpreises im Jahr 2020. Die GEWOBAG AG holte sich mit BICICLI einen »Rundum sorglos«-Berater, der das Projekt dann in Kooperation mit WÜRSCHINGER Architekten umsetzte: Eine Fahrradgarage am Verwaltungsstandort am Spreebogen (im ehemaligen Pressezentrum des Bundesinnenministeriums Alt Moabit Berlin). Zunächst stand eine Mobilitätsbedarfsanalyse an mit konkreten Pendlerbewegungen und deren Entfernungen sowie der betrieblich veranlassten Verkehre an die vielen Standorte der Stadt. Im zweiten Schritt wurde eine Infrastrukturbedarfsanalyse inklusive Prognosen der zukünftigen Nutzungen spezifischer Radtypen, wie E-Bikes vs. Non-E-Bikes sowie insbesondere Falträder für intermodale Verkehre (ÖPNV/Rad) sowie Lastenräder auf Basis der familiären Verkehre mit Kindern vorgenommen. Die »Fahrrad-Oase«, welche direkt von der Straße hinderungsfrei im Erdgeschoss einfahrbar, ist bietet nun auf 320 m² Abstellmöglichkeiten für Fahrräder, Lademöglichkeiten für Pedelecs, einen großzügigen Sanitärbereich mit Duschen und Schließfächern sowie einen Werkstattbereich. Dies war auch der Startschuss des BICICLI Dienstrad-Leasings mit Vor-OrtWartung, Vollkaskoversicherung und Mobilitätsgarantie, das spezifisch für eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft mit Tarifbindung entwickelt werden musste) da die klassischen Leasing-Vermittlungsmodelle der Bruttoentgeltumwandlung hier nicht anwendbar waren). Der Ausblick: Die Mobility Hubs für die über 80.000 Wohnanlagen sollen hier zusammen mit den Sharing-Angeboten und dem Berliner Jelbi-Angebot7 weiter ausgebaut werden. 6. Quartiers- und Immobilienentwicklung: Für viele Entwickler wie Assiduus, Bauwens, Quantum und andere hat BICICLI in Hamburg, Berlin, München oder Düsseldorf kollaborativ passgenaue Mobilitätsstationen geplant und die Infrastruktur zoniert. Dies gilt für Umbauten von Konzernzentralen wie die Salzgitter Mannesmann Handel AG in Düsseldorf, Hochhausneubauten in Düsseldorf oder der Hamburg Hafencity über neue Quartiersentwicklungen in Berlin City West oder Tacheles in Mitte, für Architekten wie RKW, Herzog & de Meuron oder Grüntuch Ernst bis hin zu speziellen Büroflächen für radfahrende Mieter und Mieterinnen an Fahrradschnellstraßen. Allen ist gemein: Die Quartiersentwicklungen werden mit Blick auf die 7 https://www.jelbi.de

Urbane Mobilitätskonzepte und Umsetzungen  225 

Klimaneutralität auch im Bereich der Mobilität, deren Infrastruktur und die letzte Meile optimiert, in komplexen Abstimmungen mit der Stadt, Anrainern und den Mietenden. 7. Gesundheit: Ein interdisziplinäres Forschungsinstitut wurde zwischen den Berliner Universitäten, der Charité und mehreren Digitalforschungsinstituten begründet, das sich der nächsten Stufe von digitaler Gesundheit im Quartier widmet – gemeinsam mit über 20 Förderern aus Wohlfahrtsorganisationen, der Gesundheits-, Immobilien- und Digitalindustrie sowie der Finanzwirtschaft und weiteren Verbänden. Das »Digital Urban Center for Aging & Health (DUCAH)«8 setzt dabei neben digitalen Anwendungen auch auf selbst-aktivierende Quartiere für Pflege und Gesundheit im Sinne der 15 Minuten-Quartiere. In Entwicklung geht beispielsweise eine umfassende Mobilitätsstrategie, die die Stephanus Stiftung, die größte Pflegestiftung Berlins, zusammen mit der Mobilitätsberatung MOND und dem DUCAH erarbeitet. Fazit mit Gemeinsamkeiten: »Social Mobility Hubs« als integrierte Leistung Allen Projekten, die mit hoher Wirksamkeit an einer quartiersbezogenen klimaneutralen Mobilitätsstrategie und -konzeption arbeiten und umsetzen, ist gemein: • Ein Umweltverbund wird priorisiert, sowohl infrastrukturell wie auch bezuschussend (Mobilitätsbudget, JobTicket oder Dienstrad-Leasing), • Die Fahrradinfrastruktur (d. h. das Angebot von Park-, Lade-, Digital- und Dusch-/Spind-Plätzen) wird konsequent von Beginn an mitgeplant und umgesetzt. • Kommunikation und Erfahrbarkeit werden durch Mobility Days bzw. Bike Days vor Ort gefördert. • »Mobility as a Service« (d. h. die Finanzierung, Versicherung und Wartung) wird zentraler Bestandteil. Die höchste Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit in Quartieren und bei Arbeitgebern haben die Mobilitätsstationen, die so genannten »Social Mobility Hubs«, die mit weiteren Funktionen wie Packstationen, Werkstätten, Gastronomie und Gesundheitsconcierge ergänzt und so zu sozialräumlichen Anlauf- und Aufenthaltsorten entwickelt werden. 8 https://www.stiftung-internet-und-gesellschaft.de/ducah/

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VI. Manifest für Mobilität in gesunden und klimaneutralen Städten In unserem aktuellen Buch zur Stadtentwicklung und deren Verhaltenswende der Mobilität haben wir ein Manifest für gesunde und klimaneutrale Städte verfasst, dass hier in Auszügen mit den zentralen Aspekten der Projekt-Governance fokussiert wird. Der Aufforderungscharakter soll die Dringlichkeit des Gesagten unterstreichen.9 ‣ Schafft inklusive Formate der Beteiligung von Bürger*innen! Nutzt die Wünsche der Bürger und fokussiert nicht auf die Angst vor Widerständen. Ermöglicht (ständige) Bürgerräte, Stadtgremien, Expertenräte als Places of Participation. Initiiert Volksentscheide, gründet Stiftungen und Graswurzelbewegungen. Setzt Euch an Picknicktische und schafft ein gemeinsames Verständnis von individueller Freiheit als Emanzipation und Unabhängigkeit von endlichen Ressourcen, als soziale Selbstbewegung. ‣ Bildet »Mobility Data Sharing Communities«! Gewährt allen Akteuren gleichberechtigt und transparent Zugang zu sämtlichen erhobenen (Bewegungs-)Daten, und schafft so Anreize für einen Wettbewerb um innovative, umweltfreundliche und nutzerfreundliche Mobilitätskonzepte. Setzt auf transparente Transformation und lasst alle an der Stadtentwicklung teilhaben. ‣ Investiert in einen starken Umweltverbund! Priorisiert aktive und emissionsarme Mobilität in Form von städtischen Mobilitätsgesetzen und grünen Mobilitätsbudgets. Macht den ÖPNV zum Generalbass mit ansprechendem und hygienischem Waggon-Design, klugem Pricing und einem Hang zu selbstironischen Hymnen. Investiert in sichere und ästhetische Rad- und Fußwege und integriert Seilbahnen als luftig-leichte Lückenschließer. Baut ein dichtes digitales und physisches Netzwerk öffentlicher intermodaler Mobilität. Schafft das Mobilitätsangebot vor der Fertigstellung der Immobilien. ‣ Schafft transdisziplinäre, analoge Orte der Kollaboration! Ruft Reallabore und Forschungscampi, unabhängige Institute und Think Tanks ins Leben oder nutzt die Expertise der bestehenden. (Ver)Traut Euch in Experi9

s. Jansen/Wanat, Bewegt Euch! Selber, Kapitel 7.

Urbane Mobilitätskonzepte und Umsetzungen  227 

menten und Prototypen! Testet Zero Emission Zones, Sommerstraßen, Pop-Up Bike Lanes und temporäre Kulturräume und lernt aus diesen Erfahrungen. ‣ Feiert das Lokale und Regionale! Respektiert die lokalen und kulturellen Besonderheiten und integriert sie und die Region in die Entwicklung von ganzheitlichen Mobilitätkonzepten. Wiederbelebt die (historischen) Zentren durch die Umwidmung von Autostellplätzen in verkehrsberuhigte Zonen, ein strengeres Stadtteilmanagement und ermöglicht Gestaltungslücken, Kontinuität und Ko-Kreation. Entwickelt daraus Eure eigenen, gemeinsamen Narrative. Oder kurz: Bewegt Euch. Selber! Am besten zusammen vor Ort. Denn wichtig ist auf dem Platz – und der ist kein Parkplatz!

Vita Prof. Dr. Stephan A. Jansen vereint Bildung, Beratung und Bewegung. Professur für Urbane Innovation – Mobilität, Gesundheit und Digitalisierung, Universität der Künste Berlin. Gründungskoordinator »Digital Urban Center for Aging & Health (DUCAH)« in Zusammenarbeit © Gesellschaft für urbane Mobilität BICICLI mit Charité und Berliner Universitäten. Seit 1999 Gastforscher an der Stanford University. Wissenschaftlicher Berater von Bundesministerien, Unternehmen, Stiftungen und Bildungseinrichtungen, Autor von zahlreichen Publikationen und Kolumnist beim Wirtschaftsmagazin »brand eins«. Er ist Geschäftsführer der »Gesellschaft für urbane Mobilität BICICLI« sowie deren Mobilitätsberatung MOND (Mobility New Designs) – und meditierender Langstreckenrennradler.

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Fahrrad statt Elterntaxi: Von klein auf eigenständig mobil

Anika Meenken Spielen, toben, Freund*innen treffen – all das findet für Kinder und Jugendliche heutzutage nicht mehr auf der Straße vorm Haus, sondern immer mehr drinnen, auf dem Spielplatz oder im Sportverein statt1. In der Fachwelt spricht man von Prozessen der »Verhäuslichung« und »Verinselung« ihrer Lebenswelt.2 Dabei kommt dem Spiel auf der Straße und dem selbstständigen Entdecken des Straßenraumes eine große Bedeutung für die soziale, kognitive und physische Entwicklung von Kindern zu3. Im Gegensatz zum Spielen auf dem Spielplatz fördern Straßenspiele die Kreativität, weil sie keine Themen vorgeben. Darüber hinaus können sich Kinder, die selbstständig unterwegs sind und nicht von den Eltern oder Großeltern auf den Spielplatz begleitet werden, besser orientieren, identifizieren sich stärker mit ihrem Wohnumfeld und bauen andere soziale Bindungen zu Nachbarn auf. Soweit die wissenschaftlichen Fakten. Schaut man auf die Welt von Kindern und Jugendlichen heute, wird deutlich, dass die Freizeit viel stärker durchorganisiert ist als früher: Schule, Sportverein, Musikschule, Nachhilfe. Zudem liegen die Orte, an denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten, häufig weit auseinander. Die Wege dorthin können oder dürfen die Kinder daher oft nicht selbstständig bewältigen. Die Angst der Eltern vor Verkehrsunfällen plus die »Verinselung« der kindlichen Aufenthaltsorte sorgen dafür, dass Kinder auf den meisten ihrer Wege von Erwachsenen begleitet werden4. Besonders deutlich wird diese Veränderung, wenn man sich den Schulweg anschaut: 43 Prozent aller Kinder unter zehn Jahren werden mit dem Auto zur Schule gefahren5. 1970 gingen noch 92 Prozent der sechs- bis

1 2 3 4 5

Funk 2008, S. 11 Funk 2008, S. 28; Bundesverkehrsministerium (BMVBS) 2010, S.4 Scheiner/Holz-Rau 2015, S.33 Funk 2008, S. 12 Nobis 2019, S. 11

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zwölfjährigen ohne Begleitung zur Schule, im Jahr 2000 waren es hingegen nur noch 56 Prozent.6 Die Folgen: Durch die Verhäuslichung und den steigenden Anteil an Autofahrten bewegen sich Kinder zunehmend weniger. Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge sollten sich Kinder und Jugendliche täglich mindestens 60 Minuten lang moderat bis intensiv bewegen. Davon sind die meisten weit entfernt: Die WHO geht davon aus, dass sich nur ein Drittel der 13- bis 15-jährigen Jugendlichen in dem empfohlenen Maße körperlich betätigt. 7 Außerdem werden Kinder und Jugendliche unsicherer im Straßenverkehr. Ihnen fehlt die Übung. Verkehrserziehung im klassischen Sinn, wie die Radfahrprüfung in den Klassenstufen drei und vier mit Theorieteil und Proberunde auf dem Übungsplatz, kann die mangelnde Erfahrung auf Alltagswegen nicht ausgleichen. Selbstständige Mobilität ist für eine gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen entscheidend und steht in engem Zusammenhang mit Verkehrssicherheit. Es muss also heißen: wieder raus aus den Autos und gemeinsam bewegen, Erfahrungen sammeln und vertiefen. Das vermeintlich sichere Auto ist längst nicht so sicher, wie es vielen scheint: ein Drittel der Kinder unter 15 Jahren verunglückten auf der Rückbank oder auf dem Beifahrersitz, bei Kindern unter sechs Jahren sind es sogar 58 Prozent8. Zudem sorgen die sogenannten Elterntaxis vor vielen Schulen für große Probleme. Denn zwischen den parkenden Autos und in der morgendlichen Hektik werden Kinder schlichtweg übersehen. Vorteile eigenständiger Mobilität Der ökologische Verkehrsclub VCD empfiehlt für den Schulweg, das Elterntaxi stehen zu lassen und die Kinder stattdessen zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kommen zu lassen. Denn für Kinder ist es ungemein wichtig, sich zu bewegen, soziale Kontakte zu knüpfen, das eigene Wohnumfeld kennen zu lernen und eigenständig mobil zu sein. All das können sie im Auto nicht lernen. Wer zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kommt, ist außerdem wacher und kann sich besser konzentrieren.9 Mit Klassenkamerad*innen zusammen zu laufen oder Rad zu fahren, vermittelt gerade Grundschulkindern ein Gefühl 6 7 8 9

Limbourg/Reiter 2003, S. 9 World Health Organization (WHO) 2015, S. 6 Destatis 2021, S. 7 Vinther 2012, o. S.

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von Freiheit und unterstützt sie dabei, in ihrer Klasse Freunde zu finden. Der VCD macht sich deshalb dafür stark, dass Kindern die Möglichkeit gegeben wird, selbstständig und sicher unterwegs zu sein. Sei es über politische Lobbyarbeit für kindgerechte Verkehrsräume und -gesetze oder die Entwicklung von interaktiven Spiel- und Unterrichtsideen, die Spaß machen. Anders als bei der klassischen Verkehrserziehung, bei der die Vermittlung von Verkehrsregeln und Kompetenzen zur Unfallvermeidung im Fokus stehen, setzt der VCD auf nachhaltige Mobilitätsbildung. Hierbei geht es darum, Kinder und Jugendliche zu befähigen, selbstbestimmt Mobilitätsentscheidungen zu treffen und deren Folgen für sich und die Umwelt zu reflektieren. Eine nachhaltige Mobilitätsbildung fördert die Nutzung des Umweltverbunds durch gezielte Angebote und verankert nachhaltige Mobilität frühzeitig im Sozialisationsprozess und Alltag von Kindern und Jugendlichen. Deshalb engagiert sich der VCD seit Jahrzehnten für eine nachhaltige Mobilitätsbildung vom Kindergarten bis hin zur beruflichen Aus- und Weiterbildung und darüber hinaus. Im Sinne eines lebenslangen Lernens bietet der Verband gestufte Bildungsangebote mit unterschiedlichen Lerninhalten und -zielen für alle Alters- und Nutzergruppen an. Mit dem VCD Bildungsservice bieten wir Erzieher*innen, Lehrenden und Ausbilder*innen gebündelt Unterstützung und Ideen.10 Werfen wir nun einen Blick auf die unterschiedlichen Stationen für eine aktive Mobilität von Anfang an. Auto oder Fahrrad? Auf die Eltern kommt es an Bereits in der Kindheit wird das Fundament für das spätere Mobilitätsverhalten gelegt.11 Mobilitätsgewohnheiten und -einstellungen der Eltern oder anderer Familienmitglieder sind dabei maßgeblich prägend. Doch gerade in Familien ist die Pkw-Nutzung im Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen besonders präsent.12 Die große Mehrheit der Familienhaushalte verfügt über mindestens ein Auto. Lediglich neun Prozent dieser Haushalte haben keinen Pkw, während mit 48 Prozent fast die Hälfte sogar zwei oder mehr Autos hat.13 Kinder bis neun Jahre legen etwa die Hälfte ihrer Wege im Pkw als Mitfahrende der Eltern zurück. So wird das Elterntaxi und die damit einhergehende Abhängig10 https://bildungsservice.vcd.org 11 Kalwitzki 1994 in Döring 2015, S. 30 12 Schneider/Hilgert »Urbane Familienmobilität im Wandel« 2017, S. 3 13 Nobis/Kuhnimhof 2018, S. 35 f.

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keit von den Eltern normalisiert. Dabei schauen sich Kinder von ihren Eltern ab, für welche Zwecke sie welche Verkehrsmittel nutzen und welche Bewertung den unterschiedlichen Mobilitätsträgern zugesprochen wird. Werden im Alltag beispielsweise viele Wege mit dem Auto und in der Freizeit mehr Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt, so verinnerlichen Kinder die Nutzung der Verkehrsmittel im Kontext dieser Erfahrungen.

»Kindheit auf dem Rücksitz« (Quelle: MiD 2017; infografik.vcd.org; Layout: weareplayground.org)

Das Auto möglichst häufig stehen zu lassen, ist daher die wirksamste, aber nicht die einzige Möglichkeit, wie Eltern die selbstständige Mobilitätsentwicklung ihrer Kinder fördern können. So gilt auch bei der Mobilitätsbildung das Motto »Übung macht den Meister«. Ab dem ersten bis zum dritten Lebensjahr können Kinder mit Laufrad, Dreirad oder Roller spielerisch ihren Gleichgewichtssinn trainieren und in Begleitung der Eltern den Verkehrsraum erkunden. Ab drei Jahren ist der Umstieg auf das erste Kinderrad möglich. Hierbei empfiehlt der VCD, auf Stützräder zu verzichten, da diese das Trainieren des kindlichen Gleichgewichtssinns erschweren. Welches Kinderfahrzeug passt zu welchem Alter? Rutscher, Roller, Dreirad – was ab welchem Alter angemessen ist, kann von Kind zu Kind stark variieren. Durch tägliches Üben können die nötigen Kompetenzen schon früh erworben und verfestigt werden. Als Orientierung können aber folgende Empfehlungen dienen: Rutscher können für Kinder ab circa zehn Monaten interessant sein. Denn zeitgleich mit dem Erlernen des Laufens, lernen Kinder Wahrnehmungen und

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Bewegung zu koordinieren. Mithilfe des Rutschers können sowohl die Beinmuskulatur als auch der Gleichgewichtssinn trainiert werden. Sobald Bewegungen wie das Laufen, Krabbeln oder Greifen kontrolliert und zielgerichtet ausgeführt werden (ab etwa zwei Jahren), stellt das Rollerfahren motorisch kein Problem mehr dar. Auch das Laufrad wird ab dieser Altersstufe meist sehr schnell motorisch beherrscht. Die Aufmerksamkeit von Kleinkindern wechselt in diesem Alter allerdings sehr schnell von der einen zur anderen Sache. Außerdem fehlen die Wahrnehmung und Bewertung der Personen und Gegenstände in der Umgebung. Kleinkinder denken zudem egozentrisch und kaum antizipierend: »Ich sehe das Auto, also sieht das Auto mich auch.« Ab drei Jahren, wenn die Gleichgewichtsfähigkeit gut entwickelt ist, steht dem Wechsel vom Laufrad zum Kinderrad aus motorischer Sicht nichts entgegen. Noch nicht ausreichend ausgebildet sind in diesem Alter jedoch die Reaktionsfähigkeit auf wahrgenommene Situationen, die konstante selektive Aufmerksamkeit und die Antizipation von Verkehrssituationen. Daher sind für die ersten Übungen vor allem verkehrsberuhigte Straßen, Parks und Plätze gut geeignet. Ängste vor den Gefahren des Straßenverkehrs sollten Eltern jedoch nicht daran hindern, ihre Kinder so oft wie möglich mit dem Rad oder Roller fahren zu lassen. Denn eine möglichst sichere Verkehrsteilnahme entsteht nur durch: üben, üben, üben – und das am besten in realen Verkehrssituationen. Eltern sind mit der Aufgabe der Mobilitätsbildung aber nicht auf sich alleine gestellt: Mit der VCD-Mobifibel14 unterstützt der VCD Eltern und bietet zahlreiche Tipps, wie Kinder zu Fuß, auf dem Rad und im ÖPNV gut und sicher unterwegs sein können. Außerdem ermutigt die VCD Mobifibel, selbst aktiv zu werden, um Städte kindgerechter umzugestalten. Mit dem Aktionsbündnis Kidical Mass15 gehen Familien deutschlandweit und sogar global regelmäßig auf die Straße, um für kinderfreundliche Städte zu demonstrieren. Kita / Kindergarten: Vorstufen des Radfahrens im Fokus Wie bereits dargelegt, ist die Verkehrswahrnehmung bei kleinen Kindern noch nicht vollständig ausgeprägt. Daher wird ihr Mobilitätverhalten stark durch ihr direktes soziales Umfeld bestimmt. Hier zeigt sich, dass das Auto in der Verkehrsmittelwahl der Eltern stark dominiert: Etwas mehr als die Hälfte der Wege 14 www.vcd.org/download-mobifibel 15 https://kinderaufsrad.org

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von Null- bis Fünfjährigen in Deutschland werden im Pkw zurückgelegt.16 Die Gründe hierfür sind vielfältig, doch ein oft genanntes Argument ist die Sorge, dass motorische und koordinative Defizite von Kleinkindern im Straßenverkehr zu Unfällen führen können. Die Unfallstatistik hingegen kann das Auto nicht als sicherste Verkehrsentscheidung bestätigen. Kleinkinder verunglückten 2017 überproportional oft mit dem Pkw.17 Die zunächst eingeschränkten Sinnes-, Reaktions- und Konzentrationsfähigkeiten von Kleinkindern sollten von Eltern nichtsdestotrotz ernstgenommen werden. Für die Unfallprävention ist daher die regelmäßige Übung dieser Fähigkeiten und ein schrittweises Herantasten an den Straßenverkehr unerlässlich. Erfreulicherweise zeichnet sich in den letzten Jahren ein Trend in die richtige Richtung ab: Seit 2002 ist die Nutzung von Fahrrad und ÖPNV bei unter Fünfjährigen in Deutschland leicht angestiegen18. Aktive Mobilität zu Fuß oder auf Rädern bringt für kleine Kinder viele Vorteile, auch über Bewegungs-, Gesundheits- und Entwicklungsförderung hinaus. Als Lern- und Spielgerät erweitern Roller und Co. das Bewegungsangebot und bieten Möglichkeiten für Projekte und Aktionen in verschiedenen Bildungsbereichen. Da Kleinkinder dort einen Großteil des Alltags verbringen, gilt dies insbesondere auch in der Kita. Die Nützlichkeit der Spielgeräte als Vorstufe des Fahrradfahren-Erlernens erschließt sich von selbst. Auch das spielerische Erlernen des Umgangs mit der Natur und Anknüpfungspunkte zu Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung sind naheliegend. Darüber hinaus können die Fahrgeräte als Bindeglied verschiedener Bildungsbereiche dienen, da mit ihnen neue Lebenswelten erschlossen und soziales Miteinander erlebbar gemacht werden. In den Bildungsplänen der Länder19 werden die Themen Mobilität und Verkehr mit verschiedenen Bildungsbereichen verknüpft. Dazu gehören unter anderem die Bereiche »Körper, Bewegung und Gesundheit«, »Personale und soziale Entwicklung« oder »Natur und kulturelle Umwelten«. Dabei liegt der Fokus auf dem Erlernen von sicherem Verhalten im Straßenverkehr, insbesondere auf dem Weg zur Kita, oder dem Kennenlernen neuer Verkehrsmittel 16 17 18 19

Allianz Pro Schiene 2020, o. S. Destatis 2018, S. 14 f. Allianz Pro Schiene 2020, o. S. Textor 2019, o. S.

234  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

und -infrastruktur. Im Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg wird beispielsweise dazu geraten, das Verhalten im Straßenverkehr durch viele anschauliche Übungen und das Aufsuchen verschiedener, neuer Orte zu erlernen.20 Einzelne Länder, wie etwa das Saarland, verknüpfen das Wahrnehmen von Straßengeräuschen auch mit dem musikalischen Bildungsbereich.21 Konkrete Anregungen und Materialien zum Thema Mobilitätsbildung, angelehnt an die einzelnen Bereiche aus den Bildungsplänen, sind unter www.bildungsservice. org/bildungsmaterial/kindergarten zusammengestellt. Um mit Kindern erfolgreich rund um das Thema Laufrad, Roller und Co. arbeiten zu können, bedarf es einer guten Infrastruktur: sowohl für den Weg zur Kita hin als auch in der Kita selbst. Dazu gehört ausreichend Platz zum Rollen, ein sicherer Kitafuhrpark sowie gut zugängliche, wetter- und diebstahlgeschützte Abstellanlagen. Ausflüge mit erfahreneren Kindern können Abwechslung in den Kita-Alltag bringen und Kinder mit verkehrssicherem Verhalten vertraut machen. Sollen diese mit Rollgeräten unternommen werden, sollten diese regelmäßig gewartet und auf ihre Straßentauglichkeit geprüft werden. Sichere Wege vor der Kita sind unentbehrlich für derartige Ausflüge und das tägliche Bringen und Abholen der Kinder. Für viele Kita-Mitarbeitenden und Eltern ist das morgendliche Verkehrschaos vor der Einrichtung zur Normalität geworden, doch ein- und ausparkende Autos, hektische Eltern und dazwischen herumwuselnde Kinder können ein enormes Sicherheitsrisiko darstellen. Die Kita sollte auf mobilitätsbedingte Sicherheitsprobleme vor der Einrichtung hinweisen und alle Eltern bei der Lösungsfindung einbeziehen. Dabei sollte grundsätzlich auf Schuldzuweisungen verzichtet werden. Stattdessen können nachvollziehbare Ängste von Eltern über gezielte Infoveranstaltungen abgebaut und die Vorteile von »bewegten« Kita-Wegen für die Gesundheit und Entwicklung der Kinder aufgezeigt werden. In besonderen Gefahrensituation können Maßnahmen wie Parkverbote oder temporäre Straßensperrungen unmittelbar vor der Kita notwendig sein. Beim Thema Mobilität bleiben die Eltern die wichtigsten Partner für die Kitas. Schließlich haben Eltern selbst ein großes Interesse daran, dass ihre Kinder lernen, sich sicher im Verkehr zu bewegen. Sie können als Ideengeber oder Unterstützer mit Praxiserfahrung bei Mobilitätsprojekten und Aktionen 20 21

Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2011, 1.1 Preissing 2018, S. 129

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beitragen. Außerdem verfügen sie oft über ein Netzwerk aus hilfreichen Kontakten, was insbesondere bei der Sponsorensuche für Mobilitätsprojekte von Vorteil sein kann. Idealerweise sollte diese Zusammenarbeit von einem produktiven beidseitigen Austausch geprägt sein und unterschiedliche Kapazitäten und Motivationen berücksichtigen. Die allgemeine Erfahrung zeigt, dass gut informierte und frühzeitig in die Entscheidungsprozesse eingebundene Eltern motivierter und einsatzbereiter sind. Elterninitiativen sind hier naturgemäß im Vorteil, da die Beteiligung und Unterstützung der Eltern hier von vornherein gegeben ist. Gerade bei langfristig angelegten Projekten, wie einer Rollerwerkstatt, kann diese Organisationsform erfolgreich sein. Selbstverständlich können sich auch andere Familienmitglieder, die in die Kindererziehung mit einbezogen sind, in solchen Initiativen einbringen.

»Von klein auf selbstständig mobil« (Quelle: VCD/DKHW; infografik.vcd.org; Layout: weareplayground.org)

»Kind und Verkehr« Programm des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) Das Programm bietet kostenfreien Informationsveranstaltungen, die an Erwachsene, an Eltern, aber auch Betreuerinnen und Betreuer in Kitas und Kindergärten gerichtet sind. Je nach Interesse können von den ausgebildeten Moderator*innen individuelle Schwerpunkte gesetzt und Projekte zur Verkehrssicherheit direkt mit den Kindern durchgeführt werden. www.dvr.de/praevention/programme/kind-und-verkehr Kita Praxishandbuch »50 Spiele für mobile Kinder« 50 bewegungsfördernde Spiel- und Lernideen speziell für den Elementarbereich hat der VCD in diesem Praxishandbuch, das sich an Erzieher*innen in Kindergärten und Kitas richtet, zusammengestellt. Die Spielanleitungen inklusive Druckvorlagen und

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Arbeitsblättern sind sechs verschiedenen Lernbereichen zugeordnet, die sich so oder in ähnlicher Form in den Bildungsprogrammen aller Bundesländer wiederfinden. www.vcd.org/artikel/vcd-kita-praxishandbuch/

Grundschule: Radfahrprüfung – und was noch?

»Grundschulwege« (Quelle: VCD/DkHW; infografik.vcd.org; Layout: weareplayground.org)

Zwischen dem sechsten und dem neunten Lebensjahr fahren Kinder im Schnitt etwas mehr Fahrrad und werden etwas seltener mit dem Auto gefahren. Etwa ein Drittel der Wege werden weiterhin zu Fuß zurückgelegt.22 Die Unfallhäufigkeit bei Grundschulkindern im Alter zwischen fünf und zehn Jahren im Pkw und als Fußgänger blieb relativ konstant. In der gleichen Altersgruppe macht sich bei den Fahrradunfällen jedoch ein starker Geschlechterunterschied bemerkbar. Ab dem siebten Lebensjahr nimmt die Unfallhäufigkeit bei männlichen Kindern stark zu und ist mit zehn Jahren mehr als dreimal so hoch wie bei anderen Verkehrsmitteln. Auch bei den Mädchen nehmen in dieser Altersgruppe die Unfälle mit dem Fahrrad leicht zu, im Vergleich zu den Unfällen mit anderen Verkehrsmitteln und im Vergleich zu ihren männlichen Altersgenossen machen sie jedoch nur einen kleinen Anteil aus.23 Dieses Geschlechterungleichgewicht ist zudem nicht nur auf das Fahrradfahren beschränkt. Insgesamt zeigt sich bei Jungen ein höheres Unfallaufkommen im Straßenverkehr und auch in anderen Lebensbereichen, wie Sport und Freizeit. 2019 waren 58 Prozent der in einen schlimmeren Verkehrsunfall verwickelten Kinder männlich.24

22 23 24

Allianz Pro Schiene 2020, o. S. Destatis 2021, S. 28 BaSt 2020, S. 34 f.

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Vor allem bei den schweren Fahrradunfällen lässt sich ein großer Unterschied zwischen den Geschlechtern feststellen: 74,7 Prozent der Kinder waren Jungen, 25,3 Prozent Mädchen. Ein Erklärungsansatz für dieses geschlechterspezifischen Ungleichgewichts ist, dass Jungen mehr Radfahren (dürfen) als Mädchen.25 Statistisch gesehen kann darauf allerdings nur ein Teil des erhöhten Unfallrisikos zurückgeführt werden. Kleinert et al. benennen des Weiteren multikausale Ursachen, wie körperliche Divergenzen und Unterschiede in der geschlechterspezifischen Sozialisation, wie beispielsweise eine erhöhten Risikobereitschaft bei Jungen. Darauf kann aber durch das soziale Umfeld und gezielte Mobilitätsbildung Einfluss genommen werden.26 Sieht man sich also die Unfallstatistiken an, wird die Notwendigkeit einer langfristig angelegten und bedürfnisorientierten Mobilitätsbildung in Kitas und Schulen deutlich. Die Radfahrausbildung in der dritten und vierten Klasse soll die Kinder zur sicheren Teilnahme im Straßenverkehr befähigen. Aufgrund erheblicher Unterschiede in der motorischen Entwicklung, Motivation und Schulwegsituation von Kindern bringt eine Integration des Themas in den Schulalltag außerhalb der in den Lehrplänen der Bundesländer vorgeschriebenen Radfahrausbildung enorme Vorteile mit sich. Drei Leitgedanken stechen hier besonders hervor: Durch frühzeitige Bewegungsförderung kann motorischen und muskulären Schwächen von Kindern bereits vor der Radfahrausbildung entgegengewirkt werden. Verschiedene Studien zeigen zudem, dass ein Praxisbezug zum eigenen Wohn- und Schulumfeld für das Erlernen der Regeln förderlich ist. Zuletzt kann das Erlernte durch eine langfristige Radförderung, weit über die klassische Radfahrausbildung in der dritten und vierten Klasse hinaus, viel besser verinnerlicht werden. Sinnvoll ist auch die Bereitstellung von Fahrrädern, die in der Pause auf dem Schulhof genutzt werden können. Neben diesen Leitgedanken bietet das Thema »Fahrrad« Grundschulen interessanten Lehr- und Lernstoff für verschiedene Fächer und für den fächerübergreifenden Unterricht. Zudem ist es zu empfehlen, das Thema Fahrrad auch bei schulischen Aktivitäten außerhalb des Unterrichts miteinzubeziehen: durch einen Fahrradparcours auf dem Schulhof, Ausflüge oder auf Klassenfahrten. Auch in AGs oder Projekten können Kinder zu den Themen Mobilität, Fahrrad und Klimaschutz arbeiten. 25 26

Ebd., S. 36 Kleiner et. al. 2006 in BaSt 2020 Kinderunfallatlas, S.35

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Lehrpersonal kann sich unter bildungsservice.org/bildungsmaterial/grund schule ganz einfach Unterrichtsmaterialien und Anregungen für verschiedene Grundschulfächer herunterladen. Laut Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 2012 soll die »Mobilitäts- und Verkehrserziehung« dazu dienen, Sicherheit, soziales Verhalten, Gesundheits- und Umweltbewusstsein zu fördern. Zudem wird gefordert, Themen aus dem Bereich Verkehr in allen Schulstufen und -arten in die Lehrpläne aufzunehmen.27 Während der Grundschulzeit ist das Thema zusammen mit der Radfahrausbildung fest im Lehrplan aller deutschen Bundesländer verankert. In der Grundschule soll bei der Mobilitäts- und Verkehrserziehung von den Kindern als Verkehrsteilnehmenden ausgegangen werden. Neben dem Erlernen, wie man sich mit verschiedenen Verkehrsmitteln sicher fortbewegt, sollen auch soziales Verhalten und die Umgebungswahrnehmung der Kinder geschult werden. Zudem wird auf die Umweltverträglichkeit der Verkehrsmittel eingegangen.28 Sollen Kinder im schulischen Kontext Fahrrad fahren, gibt es Rechtliches zu beachten. Gut zu wissen ist für Eltern, dass sie sich generell keine Sorgen um den Versicherungsschutz ihrer Kinder auf dem Schulweg machen müssen. Denn nach Sozialgesetzbuch29 sind Kinder auf ihrem direkten Weg (längere Umwege zu Freund*innen zählen nicht) zu und von der Schule versichert. Hierbei ist egal, welches Verkehrsmittel sie nutzen.30 Um mit dem Fahrrad zur Schule zu kommen oder an Fahrradausflügen mit der Klasse teilzunehmen, müssen Kinder auch nicht zuvor eine Radfahrprüfung abgelegt haben. Eltern genügen ihrer Aufsichtspflicht, indem sie je nach individueller Entwicklung des Kindes, den Gefahren direkt vor der Haustür und der Verkehrssituation auf dem Schulweg entscheiden, ab wann ihre Kinder mit dem Rad zur Schule fahren können – allein oder als Teil eines »Radbusses«. Vorab sollte dieser Weg gemeinsam geübt werden – im besten Fall zuerst zu Fuß und dann mit Roller und Fahrrad.

27 28 29 30

KMK 2012 S. 5 ff. KMK 2012, S. 5 SGB VII, §§ 2 Abs. 1 Nr. 8b, 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII Volksbanken Raiffeisenbanken 2021, o.S.

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Aktionstage: Zu Fuß zur Schule und zum Kindergarten Die Mitmachaktion lädt Kindergärten und Grundschulen dazu ein, Aktionstage zu eigenständiger Mobilität durchzuführen. Dabei sind die Einrichtungen nicht auf sich alleine gestellt, denn das Deutsche Kinderhilfswerk und der VCD unterstützen unter anderem mit Aktionsideen und Materialien: www.zu-fuss-zur-schule.de Der Laufbus Die gemeinsame Schulwegeplanung und Organisation eines Laufbusses, lehrt Kindern Selbstständigkeit, entlastet Eltern und fördert die Gemeinschaft und Zugehörigkeit in der Nachbarschaft. Der VCD liefert eine Anleitung: https://www.vcd.org/ artikel/vcd-laufbus-zusammen-sicher-zur-schule-gehen

Sekundarstufe I und II: der blinde Fleck der Mobilitätsbildung Bei Jugendlichen macht sich die zunehmende Selbstständigkeit auch dadurch bemerkbar, dass sie lieber eigenständig mobil sind. Verglichen mit allen Altersgruppen fahren 10- bis 17-Jährige am häufigsten mit dem Fahrrad und den öffentlichen Verkehrsmitteln und am wenigsten als Mitfahrende im Auto.31 Zwischen 2002 und 2017 nahm die tägliche Wegestrecke in dieser Altersgruppe um sieben Kilometer zu.32 Ein Erklärungsansatz für diesen Trend ist die steigende Schulwegdistanz, die möglicherweise durch eine zunehmende Spezialisierung von Schulen und Konzentration von Schulstandorten beeinflusst wird.33 »Die Ausbildung« macht mit 35 bis 40 Prozent der Alltagswege einen wichtigen Wegezweck der Jugendlichen aus und kommt direkt nach den »Freizeitwegen« mit 42 bis 44 Prozent.34 Eine positive Entwicklung: Obwohl das Radfahraufkommen der 10- bis 15-jährigen zwischen 2002 und 2017 deutlich zugenommen hat, gab es bundesweit weniger Verunglückte.35 Die Unfalldaten von Jugendlichen (15- bis 17-Jährige) werden als eigene Gruppe erfasst, da in diesem Alter bereits mit dem Moped oder Leichtkraftrad gefahren wird und sich das Mobilitätsverhalten immer stärker von dem der Kinder (bis 14 Jahre) unterscheidet. Da Jugendliche vorrangig auf zwei Rädern (Fahrrad, Leichtkraftrad oder ähnlichem) unterwegs 31 32 33 34 35

Nobis 2019, S. 75 Nobis/Kuhnimhof 2018, S.51; BaSt 2022 Unfallatlas, S. 27 Eisenmann et.al. 2018, S. 90 Nobis 2019, S. 33 BaSt 2022, S. 31

240  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

sind, geschieht auch ein Großteil der Unfälle mit diesen Verkehrsmitteln. Rund 30 Prozent der Unfälle von Jugendlichen im Jahr 2020 waren Fahrradunfälle.36 Bei der Betrachtung der Fahrradunfallzahlen von Jugendlichen fällt wieder der Geschlechterunterschied auf: 2020 verunglückten etwa doppelt so viele männliche Jugendliche mit dem Fahrrad wie weibliche.37 Erklären lässt sich das auch hier mit sozialisationsbedingten Unterschieden in der eigenständigen Verkehrsbeteiligung und Risikobereitschaft.38 Lehrpläne: Bewusstsein für nachhaltige Mobilität schaffen Während Schüler*innen der Sekundarstufe I vorwiegend das Fahrrad und den ÖPNV benutzen, fahren ältere bzw. solche der Sekundarstufe II bereits teilweise mit dem Auto oder Motorrad. Deswegen steht in diesen Altersstufen die Wirkung von Alkohol und Drogen im Straßenverkehr auf den Lehrplänen. Außerdem empfiehlt die Kultusministerkonferenz, dass sich Kinder und Jugendliche in diesem Alter im Unterricht ausführlicher mit den Auswirkungen von Mobilität auf Klima und Umwelt auseinandersetzen, beispielsweise durch ökologische Klassenfahrten.39 Im Rahmenlehrplan Berlins für die gymnasiale Oberstufe (Stufen 11 bis 13) ist sogar festgeschrieben, dass sich Schüler*innen mit »der wachsenden Rolle des Radverkehrs für die eigene Gesundheit und die zukünftige Mobilität« befassen.40 In den Lehrplänen der meisten anderen Bundesländer finden Verkehrserziehung und Mobilitätsbildung hingegen leider weit weniger Beachtung – teilweise tauchen die Begriffe nicht einmal auf. Im Rahmen der Umweltbildung können die negativen Auswirkungen des Verkehrs – wie Schadstoffausstoß, Flächenversiegelung oder Lärm – gut aufbereitet und gemeinsam Lösungen erarbeitet werden. Ältere Kinder und Jugendliche können sich in Fahrrad-AGs, Fahrradwerkstätten oder an Reparaturaktionstagen beteiligen und erlernen, wie man kleinere Reparaturen am Fahrrad selbst durchführen kann. FahrRad! Fürs Klima auf Tour Die VCD-Jugendkampagne motiviert über einen deutschlandweiten Wettbewerb jährlich tausende Jugendliche im Alter von 10 bis 18 Jahren zum Fahrradfahren. Über

36 37 38 39 40

VMS nach Statistisches Bundesamt 2021, o.S. Destatis 2020, S. 29 Destatis 2021 S. 8; Kleiner et. al. 2006 in BaSt 2020 Kinderunfallatlas, S. 35 KMK 2012, S. 6 LISUM 2021, S. 22

Fahrrad statt Elterntaxi: Von klein auf eigenständig mobil  241 

eine virtuelle Tour werden die zurückgelegten Kilometer erlebbar gemacht. Abrufbares Unterrichtsmaterial und Aktionsideen unterstützen Pädagog*innen zudem in der Mobilitätsbildung. www.klima-tour.de/ Kurzleitfaden für eine fahrradfreundliche Schule Der VCD hat zu dem Thema »Fahrradfreundliche Schule« zusammen mit der AKTIONfahrRAD einen Kurzleitfaden für Schulen veröffentlicht, welcher beispielhafte Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs, sowohl für den Unterricht als auch für das Schulgelände, vorstellt. www.vcd.org/fileadmin/user_upload/Redaktion/Themen/ Mobilitaetsbildung/Kurzleitfaden_fahrradfreundliche_Schule_VCD.pdf Deutschlands fahrradfreundlichste Schule Die Aktion »Deutschlands fahrradfreundlichste Schule« der AKTIONfahrRAD zeichnet jährlich Schulen in Deutschland aus, die besonders engagiert Radfahrbildung in den Schulalltag integrieren. Darüber hinaus unterstützt die Initiative bundesweit die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften und fördert mit ihren Projekten das Radfahren in der Freizeit. www.aktionfahrrad.de

Junge Erwachsene in der Berufs- und Hochschulausbildung Mobilitätsbildung endet nicht mit dem Schulabschluss, sondern setzt sich idealerweise ein ganzes Leben lang fort. Eine Studie der LMU München zeigt, dass verschiedene Lebensereignisse wie ein Umzug oder Arbeitswechsel, die Geburt eines Kindes oder der Einstieg in die Rente das Mobilitätsverhalten stark verändern können.41 So macht sich beim Mobilitätsverhalten von 20- bis 29-Jährigen die Möglichkeit des Führerschein-Erwerbs bemerkbar: In dieser Altersgruppe setzen sich besonders viele hinters Steuer. Doch seit 2002 nimmt die Dominanz des Autos in der Altersgruppe stark ab. Stattdessen ist ein besonders hoher Anstieg der Rad- und der ÖPNV-Nutzung zu beobachten. Dies lässt sich unter anderem damit erklären, dass die emotionale Bindung an das Auto bei jüngeren Generationen nicht so stark ausgeprägt ist wie bei den Generationen vor ihnen.42 Viele junge Erwachsene ziehen zudem nach dem Schulabschluss in eine größere Stadt und haben dort Zugang zu besseren ÖPNV-Angeboten. Gegenüber den jüngeren Altersgruppen, werden bei der Radnutzung keine geschlechterspezifischen Unterschiede mehr beobachtet.43 41 42 43

Rau et. al. 2022, S. 5 Tully 2011, o.S. Nobis 2019, S. 59

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Doch auch wenn viele junge Erwachsene verstärkt auf Bus und Bahn sowie das Fahrrad setzen, ist die Infrastruktur vielerorts schlecht. Denn unser Verkehrssystem ist noch immer hauptsächlich auf das Auto ausgelegt. Bei jungen Erwachsenen ist das Bewusstsein für die Klimakrise und den Verkehrssektor als einen der Hauptverursacher klimaschädigender Emissionen sehr hoch. Das birgt enormes Potenzial für das selbstständige Einfordern einer nachhaltigen Transformation des Verkehrs. Um die Mobilität von Morgen selber mitbestimmen zu können, bedarf es vielseitiger Unterstützung in Form von Bildungsangeboten zum Thema Mobilität, Gelegenheiten zur aktiven gesellschaftlichen Teilhabe an Entscheidungsprozessen und zuletzt natürlich Eigeninitiative. Junge Erwachsene an Berufs- und Hochschulen oder in ihren Ausbildungsunternehmen können sich an den Einrichtungen für eine nachhaltigere Mobilität und bessere Voraussetzungen für den Radverkehr einsetzen. Gerade Hochschulen schaffen seit jeher Räume für das kritische Hinterfragen des Status Quo. Dabei haben auch die Einrichtungen selbst Einfluss darauf, wie die Mobilität vor Ort gestaltet wird: So lässt sich durch qualitativ hochwertige Fahrradabstellanlagen das Radfahren attraktiver machen. Eine (Selbsthilfe-) Fahrradwerkstatt motiviert Studierende oder Auszubildende zudem dazu, sich mit ihren Fahrrädern auseinander zu setzen und spart jungen Menschen in Ausbildung teure Reparaturkosten. Um gute Beispiele für studentische Mobilitätsprojekte zu sammeln, hat der VCD zusammen mit netzwerk n die Broschüre »Nachhaltige Mobilität an Hochschulen«44 veröffentlicht. Darin werden spannende Projekte vorgestellt, welche an Hochschulen in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz von Studierenden selbst umgesetzt wurden. Die Projekte reichen dabei von einem PedelecCafé, welches Angehörigen der Hochschule Pedelecs zur Verfügung stellt, bis hin zum Einrichten eines verkehrsberuhigten Bereiches auf dem Campus. DIY: Verkehrswende selber machen Mit einer sehr großen Bandbreite an Workshops, Schulungen, Mobilitätsforen, Mitmachaktionen, Förderungen und einem Kilometer-Sammel-Wettbewerb unterstützt das Projekt junge Menschen in Ausbildung und Studium bei der Entwicklung und Umsetzung eigener Mobilitätsprojekte. Das Projekt des VCD wird gefördert durch das Bundesklimaschutzministerium im Rahmen der Nationale Klimaschutz Initiative. https://diy.vcd.org/

44 https://diy.vcd.org/vertiefen/themenheft-mobilitaet

Fahrrad statt Elterntaxi: Von klein auf eigenständig mobil  243 

Welche Rahmenbedingungen braucht es? Forderungen an Kommunen, Länder und Bund Für eine lebenslange, aktive Mobilität braucht es entsprechende Rahmenbedingungen, damit alle gut, sicher und gerne zu Fuß und mit dem Rad unterwegs sein können. Das bezieht sich sowohl auf die entsprechende Infrastruktur (wie ein dichtes Fuß- und Radverkehrsnetz sowie ausreichend Abstellanlagen) als auch auf Kenntnisse zu den verschiedenen Mobilitätsarten und deren Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit. Mobilitätsbildung muss dabei als lebenslanger Prozess verstanden werden, welcher sich nicht nur auf das Kindesalter beschränkt, sondern auch die Ausbildung, das Studium, die Fahrausbildung und das Lernen bis ins hohe Alter einschließt. So wird jedem Einzelnen immer wieder bewusst, wie ein mobiles Leben umweltschonend und mit hoher Lebensqualität möglich ist. Daher fordert der VCD Veränderungen bei allen Akteuren: sowohl bei den unterschiedlichen politischen Entscheidungsebenen (Bund, Land, Kommune) als auch bei den Bildungseinrichtungen.45 Bundesregierung Um die umweltschonende und gesunde Mobilität von Schüler*innen, Lehrenden und Schulmitarbeitenden zu fördern, sollten sowohl das schulische Umfeld als auch die Bildungseinrichtung selbst so gestaltet werden, dass sie attraktiv für Radfahrende sind. Als Instrument bietet sich hier schulisches Mobilitätsmanagement an. Weil die Kommunen die dafür notwendigen Mittel in aller Regel nicht selbst stemmen können, braucht es eine Förderung auf Bundesebene, beispielsweise durch ein Sonderbudget des Nationalen Radverkehrsplans. Fahrrad- und kinderfreundliche Infrastruktur fängt nicht erst am Schultor an, sondern bereits auf dem Weg dorthin. Für mehr Sicherheit auf dem Schulweg bedarf es z. B. einer Reduzierung der Regelgeschwindigkeit innerorts auf 30 km/h, sichere Querungsmöglichkeiten und ein lückenloses Fuß- und Radverkehrsnetz. Um das flächendeckend umsetzen zu können, muss die Straßenverkehrsordnung (StVO) auf Bundesebene entsprechend geändert werden. Nicht nur der schulische Unterricht muss überarbeitet werden, sondern auch die Fahrschulausbildung. Sie muss auf Bundesebene reformiert werden, um Belange des Fuß- und Radverkehrs sowie des Umweltschutzes stärker zu berücksichtigen. 45

VCD 2022

244  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

Landesregierung Um Menschen frühzeitig und lebenslang über die Vorteile und Möglichkeiten der nachhaltigen Mobilität zu informieren, fordert der VCD, diese Themen fest in den Lehrplänen der einzelnen Bundesländer zu verankern. Vielerorts sind die (baulichen) Voraussetzungen für einen sicheren Schulweg noch nicht gegeben und müssen erst neu geschaffen oder ausgebaut werden. An Kitas und Schulen selbst sollte es ausreichend sichere Abstellmöglichkeiten für Fahrräder, Roller und Anhänger geben, die bestenfalls auch Witterungsschutz bieten. Dies ist in den Landesbauverordnungen zu verankern. Fahrradstellplätze müssen in der Stellplatzverordnung mit entsprechend höheren Anforderungen bedacht werden. Bei der Planung der Infrastruktur fordert der VCD die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, um die kindliche und jugendliche Perspektive bestmöglich einzubeziehen. Dafür sollten sowohl sie selbst durch geeignete Formate – beispielsweise im Rahmen einer Spielleitplanung – eingebunden werden, als auch ihre Eltern, Schulbehörden und Interessenvertretungen wie der ADFC oder VCD.46 Partizipation in Stadt- und Verkehrsplanungen muss in jeder Kommune verpflichtend erfolgen und daher in den Landesgesetzen verankert werden. Durch die Beteiligung und das Einbringen von Lösungen können die Schüler*innen erste Erfahrungen mit lokaler Verkehrs- und Stadtplanungspolitik und dem Umgang mit politischen Entscheidungsträgern sammeln. Die je nach Alter der Schüler*innen unterschiedlich ausgeprägte Einbindung in das Projekt ist dabei außerordentlich wichtig. Durch die Beschäftigung mit der Problematik und möglicherweise durch die Erarbeitung von Verbesserungsvorschlägen, rückt das Fahrrad stärker in das Blickfeld der Kinder und Jugendlichen und sie nutzen es auch eher für ihre Alltagswege. Weiterhin sollen vermehrt Verkehrsplaner*innen und Ingenieur*innen für die Umsetzung von Fuß- und Radverkehrsanlagen an den Universitäten und Fachhochschulen ausgebildet werden. In Verwaltungen, wie auch bei umsetzenden Betrieben, braucht es dringend ausreichend qualifiziertes Fachpersonal für die Planung und Realisierung von Fuß- und Radverkehrsstrategien. Kommunalregierung Die Gemeinden sind dafür zuständig, Schulwegkonzepte zu entwerfen: Dazu werden alle Schulwege, die mit dem Rad, den Füßen oder dem Auto zurückge46

DKHW et al. 2020 S. 2

Fahrrad statt Elterntaxi: Von klein auf eigenständig mobil  245 

legt werden, untersucht, um daraus einen Maßnahmen- und Aktionsplan für alle Verkehrsmittel zu erarbeiten. Alle Straßen, die laut Schulwegplänen von Kindern genutzt werden, sind prioritär fußverkehrs- und fahrradfreundlich zu gestalten. Dazu sollten beispielsweise sichere Querungsmöglichkeiten wie Zebrastreifen geschaffen und die Radwege für ein erhöhtes Aufkommen an Fahrradfahrenden in den Stoßzeiten konzipiert werden. Da Schüler*innen es morgens häufig eilig haben, sind eine sichere Gestaltung der Kreuzungsbereiche und eine fahrrad- und fußgängerfreundliche Ampelschaltung wichtig. Auf den Schulwegen der Kinder muss Tempo 30 gelten. Damit diese Maßnahme Wirkung entfalten kann, muss die Einhaltung kontrolliert und Verstöße durch deutlich höhere Bußgelder geahndet werden. Um Unfallgefahren vor der Schule zu verringern, bietet es sich zudem an, den Straßenverkehr vor den Schulen und Kitas wirksam zu begrenzen und Alternativparkplätze anzubieten. Dies lässt sich am besten durch ein Park- und Halteverbot vor den Einrichtungen und durch das Angebot von alternativen Parkmöglichkeiten erreichen, die als »Elternhaltestelle« gekennzeichnet werden. Bildungseinrichtungen Fahrradfreundliche Kitas und Schulen tragen dazu bei, dass die Schüler*innen, aber auch das Lehr- und Verwaltungspersonal eher das Fahrrad als Verkehrsmittel wählen und fördert so aktiv Gesundheit, Konzentrationsfähigkeit und Umweltschutz. Wichtig sind Fahrradabstellanlagen, die diebstahlsicher sind und im besten Fall auch witterungsgeschützt. Es sollte zudem auf ausreichend Abstand zwischen den Anlagen geachtet werden, damit Platz zum Rangieren und Beladen bleibt. Als Aktivitäten bieten sich Klassenfahrten und Ausflüge mit dem Fahrrad an, das Betreiben einer Selbsthilfewerkstatt oder die gemeinsame Teilnahme an Kilometersammel-Wettbewerben wie die Klimatour »FahrRad!« des VCD. Literatur: Allianz pro Schiene 2020: Das Mobilitätsverhalten von Kindern und Jugendlichen. www. allianz-pro-schiene.de/themen/forschungsprojekte/jung-und-umweltfreundlich-mo bil/das-mobilitaetsverhalten-von-kindern-und-jugendlichen/. Zugriff: 29.04.2022. Bundesanstalt für Straßenwesen (BaSt) 2022: Kinderunfallatlas 2015–2019 (BaSt-Bericht M 326). Fachverlag NW in der Carl Ed. Schünemann KG, Bergisch Gladbach.

246  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

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248  Hildebrandt | Silber (Hg.): Zukunft Mikromobilität

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Vita Anika Meenken ist Sprecherin für Radverkehr und Mobilitätsbildung beim ökologischen Verkehrsclub VCD und seit 15 Jahren für die Verkehrswende aktiv. Nach ihrem Studium sammelte sie bei Greenpeace erste berufliche Erfahrungen, zuerst in einer internationalen Meereskampagne und dann in © Katja Taeubert der Kinder- und Jugendabteilung. Beim VCD setzt sie sich dafür ein, dass klima- und umweltverträgliche Mobilität in unserer Gesellschaft verankert und gestärkt wird. Sie ist außerdem Mitglied im Bund-Länder-Arbeitskreis Radverkehr des Bundesverkehrsministeriums, im Vorstandsausschuss des Deutschen Verkehrssicherheitsrats »Kind und Jugend« und in der Jury vom »Deutschen Fahrradpreis«.

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Klimabildung in den Schulen – und die Rolle der Mobilität

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Klimaschutz ist eine der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart. Dazu braucht es einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel – auch im Schulalltag. Viele Jugendliche treibt die Sorge um den Klimawandel und die Dringlichkeit der Lage schon lange um, wie auch die Jugendbewegung Fridays for Future zeigt, in der viele Schüler:innen aktiv sind. Viele fühlen sich allerdings mit ihrem Engagement nicht immer ernst genommen. Häufig hörten sie in der Vergangenheit Sätze wie »Ihr geht für das Klima auf die Straße, aber danach geht ihr zu McDonald’s. Wenn ihr die Politik zur Nachhaltigkeit auffordert, müsst ihr auch selbst etwas machen.« Die Teenager eines Lübecker Gymnasiums haben sich allerdings nicht entmutigen lassen und gründeten die Initiative »Wir lernen klimaneutral«1, die sich als Graswurzelbewegung betrachten lässt: Aus der Schülerschaft entwickelt, soll sie die Schule durchdringen und darüber hinaus auch weitere Schulen, Städte und Kommunen erreichen. Allerdings ist es derzeit noch nicht möglich, den CO2-Ausstoß deutscher Schulen auf Null zu reduzieren. Unvermeidbare Treibhausgase können jedoch zumindest kompensiert werden. Die Initiator:innen entwickelten ein 9-Schritte-Programm zur klimaneutralen Schule, das auch anderen Schulen als Orientierungshilfe dienen kann. 1. Informieren: Informationen über den Klimawandel, die aktuelle Sachlage und mögliche Tools sammeln. 2. Vernetzen: Mitstreiter:innen an der Schule suchen – auch unter den Lehrkräften, Eltern, der Schulleitung sowie außerhalb der Schule. 3. AGs gründen: An der Schule sollte es eine (nicht zu große) Koordinierungsstelle geben (am besten eine AG), in der sich alle Beteiligten regelmäßig austauschen. Daneben kann es noch weitere AGs zu speziellen Themen geben wie Recycling oder Schulhof-Begrünung. 1 https://wirlernenklimaneutral.de

Klimabildung in den Schulen – und die Rolle der Mobilität  251 

4. Verbrauch erfassen: Daten zum Ausstoß von Treibhausgasen der Schule in verschiedenen Bereichen sammeln und berechnen. 5. Konzept entwickeln: Nach der Auswertung des Verbrauchs kann die Schule ein darauf abgestimmtes Einsparungskonzept entwickeln. 6. Offizieller Beschluss: Die Schulkonferenz muss Beschlüsse fassen, die das Einsparungskonzept nachhaltig verankern. Dazu sollte ein entsprechender Antrag erarbeitet und eingebracht werden. 7. Konzept ausbauen: Für nachhaltige Veränderungen in der Schule müssen auch Behörden mit ins Boot geholt werden. 8. Ergebnisse prüfen: Das Konzept und seine Auswirkungen sollten regelmäßig auf deren Wirksamkeit überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Außerdem sollte regelmäßig das Feedback der Schulgemeinde eingeholt werden. 9. Wissen teilen: Um andere Schulen auf dem Weg zur klimaneutralen Schule zu unterstützen, sollten Kontakte, Konzepte und Einspartipps transparent sein und Erfahrungen weitergegeben werden. Zunächst wurden Informationen gesammelt und Kontakt zu anderen Schulen hergestellt, die schon entsprechende Projekte umgesetzt haben. Über »Fridays for Future« waren sie bereits mit vielen anderen Schülervertretungen vernetzt. Das Johanneum in Lübeck gehört zu den Modellschulen, mit denen Greenpeace im Projekt »Schools for Earth«2 zusammenarbeitet. Ziel ist es, dass Klimabildung den gesamten Lehrplan durchdringt – nicht nur einzelne Fächer wie Geografie oder Biologie, sondern auch im Fach Wirtschaft. Der Schulleiter stellte der Initiative Daten zum Energieverbrauch zur Verfügung und vermittelte entsprechende Kontakte bei der Stadt. Auch eine Lehrerin wurde für eine Unterrichtsstunde wöchentlich abgestellt, damit sie die Schüler:innen unterstützen kann. An der Lübecker Schule gibt es auch eine AG »Greenteam«, die bereits kleinere Projekte wie die Umstellung auf Recyclingpapier oder mehr vegetarisches Essen in der Mensa durchgesetzt hat. Wichtige Impulse bei der Entwicklung von »Wir lernen klimaneutral« kam von der Studierendeninitiative »Public Climate School«3, die Wissen zum Klimawandel vermittelt und Schulen befähigen möchte, selbst aktiv zu werden und nachhaltige Projekte zu entwickeln.

2 www.greenpeace.de/schoolsforearth 3 https://publicclimateschool.de

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In einer anderen Schule in Sachsen gaben Schüler:innen ihrer Mission den Namen »Foucault for Future«4. Eine besondere Herausforderung war hier ebenfalls das Zusammentragen der Daten zu Projektbeginn. Hilfreich waren dabei Instrumente wie der CO2-Schulrechner, den Greenpeace und das Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu) mit Unterstützung von bundesweit 15 Pilotschulen konzipiert haben. Dieser kann kostenlos genutzt werden, um Klimabilanzen in Schulen zu erstellen5. Zu wissen, aus welchen Bereichen die Treibhausgas-Emissionen der Schule stammen und welchen Anteil sie an der CO2-Gesamtbilanz haben, ist eine wichtige Basis, um geeignete Maßnahmen zu ergreifen. So werden im Johanneum in Lübeck Klassenfahrten nicht mehr mit dem Flugzeug gemacht, mehr Schüler:innen kommen mittlerweile mit dem Fahrrad zur Schule und die Schule selbst hat sich auf eine fleischfreie Brotbox verständigt. Jede Klasse erhält zwei »Klimascouts«, die wie Klassensprecher:innen von der Klasse gewählt werden und auch sicherstellen, dass das Projekt bestehen bleibt, wenn die Initiator:innen nicht mehr an der Schule sind. In der Schule in Sachsen, die mit dem CO2-Rechner arbeitet, wurde festgestellt, dass der Bereich Mobilität den größten Teil der Klimabilanz der Schule ausmacht. Hier besteht großer Nachholbedarf. Um diesen Klimafaktor zu ermitteln, mussten die pro Schuljahr zurückgelegten Personenkilometer (Pkm) je nach Verkehrsmittel erfasst werden. Die Schul- bzw. Arbeitswege wurden danach unterschieden, ob sie zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit öffentlichen Verkehrsmitteln (ÖPNV) oder mit dem Auto zurückgelegt werden. Die Schüler:innen einer 9. Klasse befragten an einem Projekttag alle in der Schule anzutreffenden Klassen bzw. Leistungskurse sowie die Lehrer:innen und Mitarbeiter:innen. Für die nicht angetroffenen Personen wurden die Werte hochgerechnet. Die Entfernungen zwischen Schule und Wohnort wurden in vier Kategorien eingeteilt. Um das unterschiedliche Mobilitätsverhalten je nach Jahreszeit (Winterhalbjahr, Sommerhalbjahr) zu unterscheiden, wurde ein »Jahreszeiten-Faktor« einberechnet. Das Ergebnis: Fast zwei Drittel aller Schulwege werden umweltfreundlich zurückgelegt – zu Fuß (5 %), mit dem Fahrrad (10 %) oder mit den Öffentlichen (51,5 %). 33 % der Autofahrer verursachen 58 % der Klimagase in dieser Mobilitätsbilanz. Pro Kopf verursacht jede Person des Gymnasiums eine jährliche CO2-Belastung aus dem Schulbetrieb von 4 www.foucault-for-future.de 5 https://co2-schulrechner.greenpeace.de

Klimabildung in den Schulen – und die Rolle der Mobilität  253 

760 kg. Wird der Anteil für Mobilität herausgerechnet, sind es pro Kopf jährlich 306 kg CO2-Äquivalente. In weiteren Projekttagen sollen aufgrund der Datenbasis Maßnahmen für die Umsetzung einer Klimaneutralitätsstrategie der Schule entwickelt werden. Weiterführende Informationen: Wie eine Schule bis 2035 klimaneutral werden will: https://deutsches-schulportal.de/ schule-im-umfeld/initiative-wir-lernen-klimaneutral-johanneum-luebeck-wie-eineschule-bis-2035-klimaneutrale-schule-werden-will/ Der Weg zur klimaneutralen Schule: https://klimaneutrale-schule.de/ Nachhaltigkeit: Warum wir mehr Umweltbildung brauchen: https://dralexandrahilde brandt.blogspot.com/2022/01/nachhaltigkeit-warum-wir-mehr.html Lernende Gesellschaft: Warum Umweltbildung unverzichtbar ist: https://dralexandrahil debrandt.blogspot.com/2018/09/lernende-gesellschaft-warum.html Alexandra Hildebrandt: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. SpringerGabler Verlag, Berlin, Heidelberg 2020.

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Klimafreundliche Mitarbeitermobilität

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Klimabilanz des Verkehrssektors: Welche Rolle spielt die berufsbedingte Mobilität? Die berufliche Mobilität, der tägliche Weg von und zur Arbeit sowie Wege aus dienstlichen Zwecken, machen in Deutschland einen Großteil des Verkehrs­ aufkommens im Personenverkehr aus. Dass die Arbeit nach der Freizeit der zweithäufigste Wegezweck ist, spiegelt sich auch im Anteil des Berufsverkehrs an der Verkehrsleistung wider. Vor allem werktags verursacht die berufsbedingte Mobilität einen Großteil des Verkehrs. Etwa die Hälfte der Wege, die mit dem Pkw zurückgelegt werden, sind beruflich bedingt. Dies trägt wesentlich zur Klimabilanz des Personenverkehrs und des Verkehrssektors im Allgemeinen bei. Ein Wandel der beruflichen Mobilität ist deshalb ein wesentlicher Baustein einer erfolgreichen Verkehrs- und Energiewende, bestätigen auch die Ergebnisse der von KfW Research beauftragten Studie »Deutschland auf dem Weg zur Klimaneutralität: Welche Chancen und Risiken ergeben sich durch die Digitalisierung?« (2021) des Öko-Instituts und des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) zu den Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und Klimaneutralität: • In Deutschland liegt der Anteil des Pkw am Modal Split (die Verteilung der Verkehrsleistung auf die Verkehrsmittel) bei rund 76 Prozent im Berufsverkehr. • Der ÖPNV mit einem Modal Split von 20 Prozent, das Fahrrad mit drei und der Fußverkehr mit rund einem Prozent haben hingegen eine eher untergeordnete Rolle. • Das raumspezifisch unterschiedlich flächendeckende Angebot des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs trägt zusätzlich zur anhaltenden Dominanz des privaten Pkw im Berufsverkehr bei. • Durch das Arbeiten von zu Hause könnte die Anzahl der Arbeitswege reduziert und der Verkehr punktuell entlastet werden. Vor allem, wenn

Klimafreundliche Mitarbeitermobilität  255 



Arbeitnehmende, die mit dem eigenen Pkw zur Arbeit fahren, vermehrt im Homeoffice arbeiten würden, könnte eine Hauptquelle für Emissionen im Berufsverkehr adressiert werden. (Werden jedoch kurze Arbeitswege substituiert, die mit klimafreundlichen Fortbewegungsmitteln zurückgelegt werden, führt Homeoffice nicht zu einer CO2-Entlastung.) Nur wenn durch mobile Arbeit der Anteil emissionsintensiver Verkehrsmittel, wie dem privaten Pkw am Modal Split langfristig reduziert wird, kann mobile Arbeit zum Klimaschutz beitragen.

Geschäftsreisen und Mitarbeitermobilität »Wir brauchen mehr Diensträder als Dienstautos, mehr Fahrradwege als Autobahnen und wir sollten nicht durch die Pendlerpauschale belohnen, dass Millionen jeden Tag lange Auto fahren und im Stau stehen.« Dr. Eckart von Hirschhausen Geschäftsreisen und Mitarbeitermobilität machen in der Klimabilanz von Unternehmen einen erheblichen Teil der Treibhausgasemissionen aus. Ein betriebliches Mobilitätsmanagement bietet viel Potenzial für eine bessere ökologische Unternehmensbilanz. Zu den mittel- bis langfristigen Maßnahmen von Unternehmen gehören beispielsweise Fahrzeugrichtlinien, die sukzessive Umstellung des Fuhrparks auf verbrauchsärmere Fahrzeuge oder Fahrzeuge mit alternativen Antriebssystemen, Anreize zur Bildung von Fahrgemeinschaften, Jobtickets für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Angebote von E-Bikes und Fährrädern für Arbeitsweg sowie die Einführung des Job-Rad-Modells. Im Folgenden möchten wir einige Beispiele gelungener Maßnahmen von Unternehmen vorstellen. Der Outdoorausrüster VAUDE setzt auf eine geänderte Infrastruktur und Anreize, damit immer mehr Mitarbeitende umweltfreundlich und gesundheitsfördernd mit dem Rad, dem Bus oder in Fahrgemeinschaften zur Arbeit kommen – und belohnen das mit dem »Mobilitätslotto«.Mitarbeitende für das Thema Verkehrswende sensibilisiert. Wöchentlich wird ein Sachpreis (Restaurant-Gutscheine, vegetarische Kochbücher, Fahrradzubehör oder Strommessgeräte für daheim) unter allen Mitarbeitenden verlost, die umweltfreundlich (mit dem (E-)Bike, per Fahrgemeinschaft oder mit dem Bus) zur Arbeit kommen. Sie tragen sich dazu in eine Tabelle ein, mit der die alternativ zum eigenen Auto gependelten Kilometer ermittelt werden. Alle Mitarbeitenden können

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auch gratis die firmeneigenen E-Bikes nutzen. Private E-Bikes können kostenlos auf dem Gelände »betankt« werden. Zum Mobilitätskonzept des Unternehmens, das aus mehreren Bausteinen besteht, gehört »Mit dem Rad zur Arbeit«. Mit einer Fahrradgarage und einer Reparaturwerkstatt (inkl. »Schlauchomat«, Werkzeug, Umkleiden und Duschen) sowie Kursen zu Fahrtechnik und -reparatur wird versucht, den Mitarbeitenden das Radeln zur Arbeit so angenehm wie möglich zu machen. Das steuerliche Dienstwagenprinzip gilt auch für Fahrräder und E-Bikes (»JobRad«). Dadurch konnten zum Beispiel im Jahr 2019 über 80.000 Kilometer mit dem Rad zur Arbeit zurückgelegt werden. Auch viele andere Unternehmen bieten ihren Mitarbeitenden Fahrrad-Leasing mit JobRad an. Erfinder des Konzepts ist Ulrich Prediger, Geschäftsführer und Eigentümer des Unternehmens JobRad in Freiburg. Über die JobRad GmbH in Gundelfingen leasen Unternehmen oder Kommunen eine Fahrradflotte. Wie beim Auto-Leasing erhält der JobRad-Kunde eine passgenau zugeschnittene Fahrradflotte und Rundumbetreuung. Mit einem wegweisenden Gehaltsumwandlungskonzept können Mitarbeitende ihr Fahrrad oder E-Bike über den Arbeitgeber leasen und damit Steuern und CO2 sparen. Durch diese vorteilhafte Versteuerung und günstige Firmenkonditionen ist das Rad deutlich günstiger als ein regulärer Kauf. Der Kaufpreis muss nicht auf einmal bezahlt werden, monatlich wird eine Leasingrate vom Bruttolohn abgezogen (auf den Betrag werden keine Steuern und Sozialabgaben fällig). Versteuert werden muss der nur sogenannte geldwerte Vorteil (seit 2019 nur noch monatlich 0,25 Prozent des Listenpreises) – viele Arbeitgeber übernehmen die Kosten für das JobRad aber komplett. Die ländlich gelegene memo AG in Greußenheim, die vergleichsweise schlecht mit dem öffentlichen Personennahverkehr zu erreichen ist, motiviert ebenfalls ihre Mitarbeitenden zu nachhaltiger Mobilität. 2019 wurden vier Elektroladesäulen in Betrieb genommen. Elektroautos können hier vergünstigt mit Strom aus 100 % regenerativen Energien betankt werden. Da sich in nächster Umgebung des Unternehmensstandorts bisher keine öffentliche Ladesäule befindet, wird dies auch als Anreiz für die Mitarbeitenden gesehen, über die Anschaffung eines Elektrofahrzeugs nachzudenken. Geschäftsreisen werden soweit möglich und sinnvoll mit der Bahn unternommen. Mitarbeitende, die regelmäßig geschäftlich unterwegs sind, erhalten eine BahnCard. Wie bei VAUDE haben auch bei der memo AG Fahrgemeinschaften ein großes

Klimafreundliche Mitarbeitermobilität  257 

Potenzial für Energie- und Emissions-Einsparungen. Außerdem beteiligt sich der Öko-Pionier bereits seit 2013 ebenfalls am Modell JobRad. Desgleichen bietet die Firma Rotpunkt Küchen die Nutzung des JobRads für den Arbeitsweg an. Mittlerweile sind ca. 80 Job-Räder im Umlauf – der E-Bike-Anteil liegt hier bei ca. 95 Prozent. Insgesamt legt das Team jährlich ca. 3.352.800 Kilometer zurück. Auf eine aktive Mitarbeiterbindung setzt auch die Mader GmbH & Co. KG aus Leinfelden-Echterdingen. Im Rahmen des Gesundheitsmanagements wird den Mitarbeitenden die Möglichkeit geboten, über »JobRad« ein neues Fahrrad zu leasen. Das Münchener Unternehmen Company Bike, das 2012 gegründet wurde, ist einer der führenden Dienstleister für Dienstfahrräder. Das Unternehmen versteht sich als Full-Service-Anbieter: Von der Einführung der Firmenfahrräder bis zur Einrichtung eines individualisierten Online-Portals für die Bestellung der Diensträder, der individuellen Beratung durch die geschulten Bike-Berater, einer persönlichen Auslieferung und Übergabe bei den Unternehmen vor Ort und der effizienten Übernahme der Leasingrückläufer kümmert sich Company Bike um die spezifischen Anliegen seiner Kunden. Seit Sommer 2020 bietet die Unternehmensgruppe Krieger + Schramm ihren Mitunternehmerinnen und Mitunternehmern ein Dienstfahrrad in Kooperation mit dem Bikeleasing-Service an. Das Fahrrad kann sich jeder selbst bei einem Händler seiner Wahl aussuchen. Rad oder E-Bike können gleichermaßen privat und beruflich genutzt werden. Der Leasingvertrag wird direkt durch das Unternehmen abgeschlossen. Das Angebot wird sehr gut angenommen. Alle vorgestellten Unternehmen eint, dass die Kooperation mit Leasinganbietern ein Teil ihrer ganzheitlichen Nachhaltigkeitsstrategie ist. So werden alle klimaschädlichen Emissionen in der jährlichen Klimabilanz erfasst. Über Klimaschutzprojekte werden alle Emissionen aus dem Pendelverkehr kompensiert. Dies zeigt auch, wie Digitalisierung und Nachhaltigkeitsmaßnahmen heute immer mehr miteinander verschmelzen, und dass es heute selbstverständlich sein sollte, dass Unternehmen ihre Mobilität umfassend betrachten und dabei neben einer intelligenten Fuhrparkorganisation ergänzende Mobilitätsangebote berücksichtigen sollten. Die Beispiele zeigen aber auch, dass es mehr als nur neue Mobilitätskonzepte braucht – es wird zudem ein neues Verhältnis zu Arbeit und Freizeit benötigt. Mobiles und hybrides Arbeiten, das pandemiebedingt so richtig in Schwung gekommen ist, trägt dieser Forderung Rechnung.

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Weiterführende Informationen: Leitfaden zur nachhaltigen Ausgestaltung von Mobilitätsrichtlinien in Unternehmen: www.MobilityPolicy.de »Deutschland auf dem Weg zur Klimaneutralität: Welche Chancen und Risiken ergeben sich durch die Digitalisierung?« (2021): https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/ Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-Studien-und-Materialien/KfW_Digitali sierung_Klimaschutz.pdf Nachhaltiges Mobilitätsmanagement: Darauf sollten Unternehmen achten: https://dralex andrahildebrandt.blogspot.com/2021/07/nachhaltiges-mobilitatsmanagement.html Klimaschutzmaßnahmen in Unternehmen: Einsparpotenziale und Empfehlungen: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2021/10/klimaschutzmanahmen-in-un ternehmen.html Besser unterwegs: Wie sich Geschäftsreisen nachhaltig gestalten lassen: https://dralexandra hildebrandt.blogspot.com/2018/08/besser-unterwegs-wie-sich.html Bundesweite Kampagne mit Infos, Tipps und eine App: www.mit-dem-rad-zur-arbeit.de Klimafreundliche Mitarbeitermobilität: Das Dienstrad: https://dralexandrahildebrandt. blogspot.com/2020/11/klimafreundliche-mitarbeitermobilitat.html Verkehrskonzepte der Zukunft: Jobrad: https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/ umwelt/arbeitsweg.php Dienstfahrrad-Leasing für Arbeitgeber: https://www.xing.com/news/insiders/articles/ immer-mehr-menschen-satteln-um-job-rad-3544303 Immer mehr Menschen satteln um: Job & Rad https://dralexandrahildebrandt.blogspot. com/2020/10/immer-mehr-menschen-satteln-um-job-rad.html Unternehmen in Bewegung: Warum das Firmenfahrrad im Trend liegt: https://dralexandra hildebrandt.blogspot.com/2020/12/unternehmen-in-bewegung-warum-das.html Nachhaltiges Mobilitätsmanagement: Darauf sollten Unternehmen achten: https://www. xing.com/news/insiders/articles/nachhaltiges-mobilitatsmanagement-darauf-solltenunternehmen-achten-4143466 Bikeleasing. Sportmuffel haben keine Chance. In: Das K + S magazin. Gut planen, klug bauen, schöner wohnen 20/02 (Oktober 2020), S. 11. Alexandra Hildebrandt (Hg.): Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020. Weitere Anbieter von Dienstrad-Konzepten: https://www.mein-dienstrad.de/, https:// www.bikeleasing.de, https://dein-jobbike.de

Betriebliches Mobilitätsmanagement  259 

Förderung der Fahrradnutzung als Beitrag zum Betrieblichen Mobilitätsmanagement Dieter Brübach (B.A.U.M. e.V.) und Natalia Astrin (GIZ) Der Verkehr gehört seit Jahrzehnten zu den wesentlichen Treibern des Klimawandels. In Deutschland trägt der Verkehrssektor mit einem Anteil von etwa 20 % zu den Gesamtemissionen von Treibhausgasen bei und ist damit drittgrößter Verursacher. Um die ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen des Klimawandels zu bewältigen, bedarf es somit unter anderem auch einer nachhaltigen Mobilitätswende. Das Mobilitätsverhalten ist zu einem wesentlichen Teil durch politische Entscheidungen sowie rechtliche und ordnungspolitische Rahmenbedingung­en geprägt. Auch wenn wesentliche Teile des Verkehrssystems und der Verkehrs­ angebote von der öffentlichen Hand gestaltet werden, haben Unternehmen/ Betriebe selbst ebenfalls großen Einfluss auf die Art und Weise, wie ihre Beschäftigten unterwegs sind, sei es auf geschäftlich bedingten Reisen und Wegen, auf Arbeitswegen und sogar bzgl. deren Mobilität im Privatbereich. Mit Betrieblichem Mobilitätsmanagement (BMM) systematisieren und verbessern Unternehmen ihre Mobilität nachhaltig. BMM unterstützt damit verschiedene unternehmerische Ziele: Innovationen in das Unternehmen holen und gleichzeitig Umwelt- und Klimaschutz betreiben. Die Gesundheit der Mitarbeiter fördern und gleichzeitig Kosten einsparen. Als Arbeitgeber attraktiv bleiben. Hierzu tragen die Förderung von Bewegung und Gesundheit der Mitarbeitenden ebenso bei wie die (finanzielle) Unterstützung bei der Gestaltung von Arbeitswegen. Im beruflichen Kontext ist das Thema der Personenmobilität sowohl in Bezug auf Dienstreisen als auch in Hinblick auf den täglichen Arbeitsweg relevant. Das Aufkommen der betriebsbedingten Mobilität wird im Wesentlichen durch den Unternehmensstandort und dessen Rahmenbedingungen, unternehmerische Rahmensetzungen und betrieblich/geschäftliche Erfordernisse der Geschäftstätigkeit bestimmt. Die Studie »Mobilität in Deutschland 2017« hat ermittelt, dass 34 % aller Wege und 42 % aller Personenkilometer berufs-

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bedingt für Arbeitswege und Dienstreisen entstehen und davon ein Anteil von etwa zwei Dritteln auf PKW-Fahrten entfällt.1 Somit kommt Unternehmen in diesem Kontext eine besondere gesellschaftliche Verantwortung zu, da sie für einen nicht unerheblichen Teil der CO2-Emissionen sowie für sonstige negative Umwelteinflüsse dieser Mobilität verantwortlich sind. Häufig finden sich in Unternehmen Richtlinien, in denen Kriterien und Rahmenbedingungen für Dienstwagen oder -reisen und auch für andere Mobilitätsanforderungen festgelegt sind, jedoch weisen diese bisher selten eine hinreichende zukunfts- oder nachhaltigkeitsorientierte Zielsetzung auf. Gezielte und wirksame Anreize für ein nachhaltiges Mobilitätsverhalten der Beschäftigten gibt es nur relativ selten. Überdies ist hier zu berücksichtigen, dass private und berufliche Mobilität eng miteinander verknüpft sind, was bei der Gestaltung neuer Mobilitätskonzepte bedacht werden muss. Der überwiegende Teil der Fahrzeuge in Deutschland wird zunächst gewerblich zugelassen, bevor diese in den Gebrauchtwagenmarkt übergehen. Somit bestimmen Unternehmen maßgeblich die Auswahl und die Verfügbarkeit von Fahrzeugen und Technologien auf dem Markt mit. Betriebliches Mobilitätsmanagement Das betriebliche Mobilitätsmanagement dient dazu, den betriebsbedingten Verkehr effizienter und nachhaltiger sowie das Mobilitätsverhalten von Unternehmen und Beschäftigten zukunftsfähig zu gestalten. Es basiert auf den Prinzipien der Pyramide der nachhaltigen Mobilität, die sich aus den Komponenten Verkehrsvermeidung, Verkehrsverlagerung und Verkehrsverbesserung zusammensetzt. Durch konkrete Anreize und passende Rahmenbedingungen, die auf den jeweiligen Standort, die Beschäftigten und ihre Anforderungen zugeschnitten sind, sollen Veränderungen im Mobilitätsverhalten der Beschäftigten gesteuert werden. Oberstes Ziel ist die Reduktion des CO2-Ausstoßes und die Entlastung der Umwelt. Die Auslöser für die Etablierung eines betrieblichen Mobilitätsmanagements sind vielfältig. Ein Ziel kann beispielsweise sein, Akzente zu setzen, um das Image eines ökologisch orientierten Leitbildes zu transportieren. Andere Anlässe für ein betriebliches Mobilitätsmanagement sind die Einführung eines Umweltmanagementsystems oder die Flottenerneuerung. Sowohl Druck von innerhalb als auch von außerhalb des Unternehmens kann betriebliches Mobi1

Nobis/Kuhnimhof (2018): Mobilität in Deutschland – Ergebnisbericht, S. 61

Betriebliches Mobilitätsmanagement  261 

litätsmanagement erforderlich machen. Innerhalb des betrieblichen Mobilitätsmanagements existieren unterschiedliche Handlungsfelder: Motorisierter Individualverkehr (MIV), Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), Fahrradverkehr, Dienstreisen & Fuhrpark, Arbeits- & Betriebsorganisation sowie Information & Kommunikation. Um die Akzeptanz zu steigern und ein breites Meinungsbild einzuholen, sollten alle Bereiche und Hierarchieebenen eines Unternehmens einbezogen werden. Um eine nachhaltigere Gestaltung der Mobilität zu erreichen, bedarf es gezielter Anreize, die bestehenden Angebote zu nutzen und auf nachhaltigere Verkehrsmittel und Mobilitätsarten umzusteigen. Anspruch des betrieblichen Mobilitätsmanagements muss es somit sein, Alternativen attraktiv zu gestalten, Hemmnisse abzubauen, Transparenz zu schaffen und Fehlanreize zu beseitigen. Betriebliche Anreizsysteme werden in anderen Kontexten heute schon verwendet, um Engagement und kreatives Potenzial anzuregen. Dieses Instrument kann somit auch verwendet werden, um nachhaltige Verhaltensweisen zu fördern. In vielen Fällen ergeben sich Vorteile nicht nur für das Unternehmen, sondern auch für seine Beschäftigten. Somit lässt sich sagen, dass das betriebliche Mobilitätsmanagement vielfältige Chancen und Potenziale bietet, systematische Veränderungen in den Verkehrsprioritäten von Unternehmen und ihren Beschäftigten zu erreichen und Entlastungseffekte zu generieren. Aktuell erfreut sich z. B. das Fahrrad-Leasing großer Beliebtheit, da es mit diesem Modell den Beschäftigten viel leichter fällt, ein hochwertiges Fahrrad oder E-Bike anzuschaffen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber profitieren zusätzlich von Einsparungen bei den Sozialversicherungsbeiträgen. Mittlerweile boomt der Markt, mehr als 1 Million Job-Räder sind bundesweit schon unterwegs. In manchen Belegschaften haben sich über 20 % der Beschäftigten auf diesem Wege ein neues Fahrrad angeschafft. Mit dem schönen Nebeneffekt, dass sie deutlich häufiger mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren und somit etwas für ihre Gesundheit tun. Die Fahrzeughersteller bieten mittlerweile Elektroautos in großer Vielzahl als praktikable Alternative für den Fuhrpark an. Mittels Poolnutzung lässt sich die Auslastung des Fuhrparks steigern oder gar durch Nutzung von Carsharing die Zahl der eigenen Fahrzeuge verkleinern, so dass damit auch die Wirtschaftlichkeit steigt. Aber es geht nicht immer nur um neue Investitionen: Wenn Unternehmen einfach nur das vorhandene Wissen über moderne Mobilitätsformen

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und -angebote bündeln und ihren Beschäftigten (z. B. über das Intranet) zugänglich machen würden, wäre schon viel erreicht. Mit der Teilnahme an Aktionen wie »Mit dem Rad zur Arbeit« oder »Stadtradeln« können Unternehmen ohne eigenen Mitteleinsatz Flagge zeigen und ihre Beschäftigten in sinnvolle Aktivitäten einbinden. Aktionstage mit »Ausprobierelementen«, z. B. dem Probefahren von Elektrofahrrädern, regen zum Umsteigen auf alternative Verkehrsmittel an. Insbesondere für neue Mitarbeitenden sind Informationen zu den Mobilitätsangeboten und -möglichkeiten am neuen Arbeitsplatz wichtig; ein Begrüßungspaket mit z. B. einer Fahrradwegekarte, Sicherheitsweste, Helm und Luftpumpe gibt einen Impuls in die richtige Richtung. Das vielfältige Engagement soll auch dem Klimaschutz und natürlich dem Firmenimage dienen. Durch eine umfassende Förderung der Fahrradnutzung hat es z. B. die Versicherungsgruppe Wertgarantie aus Hannover schon viermal geschafft, fahrradfreundlichster Arbeitgeber in der Region Hannover zu werden. Eine positive Vorbildwirkung ist auch das Motiv für die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), die alle Standorte in Deutschland als ›FAHRRAD-fit Betrieb‹ hat zertifizieren lassen (dazu später mehr). In fast jedem Unternehmen gibt es Anknüpfungspunkte für das Mobilitätsmanagement. Während der Corona-Pandemie notgedrungen umgesetzte Einzelmaßnahmen wie der intensive Einsatz von Telefon- und Videokonferenzen zur Vermeidung von Reisen können Ausgangspunkt und Bestandteil für ein umfassenderes Mobilitätskonzept sein. In Reiserichtlinien kann z. B. geregelt werden, dass vorrangig öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad genutzt werden müssen. Bei der Barmenia Versicherungsgruppe erfolgt die Reisebuchung beispielsweise über ein Tool, das CO2-Emissionen bei Flügen ausweist und die Bahn als Alternative anbietet. Darüber hinaus werden alle Geschäftsreisen in einer CO2-Bilanz erfasst und deren Emissionen über ein zertifiziertes Klimaschutzprojekt kompensiert. Eine wichtige Stellschraube zur Gestaltung der betrieblichen Mobilität ist das Parkraummanagement. Wo kostenlose Parkmöglichkeiten in Hülle und Fülle bereitgestellt werden, drängt sich den Mitarbeitenden die Frage nach Alternativen nicht unbedingt auf. Viele Firmen wenden erhebliche Mittel für die Parkplatzbereitstellung auf – und nur autonutzende Mitarbeitende profitieren davon. Ein erster Schritt für ein geordnetes Parkraummanagement ist das Ausweisen von Stellplätzen an bevorzugten Stellen, die nur Fahrgemeinschaftsfahrzeugen vorbehalten sind. Die Beurteilung der Standortsituation – Anzahl

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der verfügbaren Parkplätze, Anbindung an den öffentlichen Verkehr und die Verkehrsinfrastruktur usw. – kann mit einfachen Mitteln vorgenommen werden. Sehr sinnvoll ist die Durchführung einer Mitarbeitendenbefragung, die das aktuelle Mobilitätsverhalten, aber auch Mobilitätsbedarfe und Vorschläge für Optimierungen zu Tage bringt. Beim Einsatz weiterer standardisierter Instrumente (z. B. Analyse der Arbeitswege der Beschäftigten, Wohnstandortanalyse, Fuhrparkanalyse), können unabhängige Mobilitätsmanagementberater unterstützen. Die Anbindung an vorhandene betriebliche Instrumente (z. B. Gesundheits- und Bewegungsförderung, Klimaschutz-, Umwelt- und Energiemanagement) hilft bei der Entwicklung und Umsetzung neuer Maßnahmen. Auf dem Weg zu nachhaltiger Mobilität können Betriebe viele Förderprogramme und Vergünstigungen nutzen, beispielsweise bezüglich der Anschaffung von Elektrofahrzeugen und der Installation von Ladestationen. Auch zur Anschaffung von Lastenrädern gibt es öffentliche Zuschüsse. In Hinblick auf die Herausforderungen des Umwelt- und Klimaschutzes ist und bleibt die nachhaltigkeitsorientierte Umgestaltung der Mobilität eine der vordringlichsten Aufgaben der kommenden Jahre. Basierend auf den Umfrageergebnissen können einige Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Grundsätzlich sollten die bereits vorhandenen Maßnahmen, Ansätze und Unterstützungsleistungen der Unternehmen offen und transparent gestaltet und der Diskurs unter den Mitarbeitenden bezüglich Verbesserungsmöglichkeiten angeregt werden. Anzustreben ist die Entwicklung eines konsistenten Gesamtkonzeptes und dessen Integration in die bereits bestehenden Managementsysteme, um die Wirkung der bisherigen Einzelmaßnahmen zu verstärken. Zusätzlich bedarf es konkreter Anreize und Impulse. Die Implementierung eines nachhaltigen betrieblichen Mobilitätsmanagements mit dem Ziel der Reduktion der CO2-Emissionen umfasst ein breites Handlungsspektrum und bietet großes Potenzial für eine nachhaltigere Ausrichtung von Unternehmen. Die Erschließung dieses Potenzials bedarf jedoch einer wirkungsvollen Kommunikation und Organisation der Maßnahmen sowie des Engagements aller beteiligten Akteure. Positiv herauszustellen ist, dass sowohl auf Seiten der Unternehmen als auch auf Seiten der Mitarbeitenden bereits eine Sensibilisierung für die Thematik nachhaltiger Mobilität zu erkennen ist. Für Unternehmen bestehen vielfältige Möglichkeiten, Mobilität nachhaltig zu gestalten. Betriebliches Mobilitätsmanagement hilft, individuell passgenaue

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Maßnahmenpläne zu erarbeiten. Ein wichtiger Aspekt sind wie bereits erwähnt mobilitätsbezogene Richtlinien/Vorgaben der Unternehmen. Empfehlungen zur Ausformulierung nachhaltigkeitsorientierter Mobilitätsrichtlinien wurden im Rahmen des B.A.U.M.-Projekts MobilityPolicy zusammengestellt.2 Fahrradförderung im Betrieb Das Fahrrad gilt als kostengünstiges und emissionsfreies Verkehrsmittel. In vielen Betrieben wird dieses Verkehrsmittel trotz seiner zahlreichen Vorteile (Klimaschutz, Gesundheitsförderung, Mitarbeitermotiva­ tion, Kosteneinsparungen) jedoch noch wenig genutzt. Im Rahmen des betrieblichen Mobilitätsmanagements ist die Förderung der Fahrradnutzung daher ein zentraler Ansatz für die Mobilität auf Arbeits- und Dienstwegen. Die Hälfte aller Autofahrten ist kürzer als sechs Kilometer. Hier stellt das Fahrrad eine gute Alternative dar. Für längere Entfernungen und bei schwieriger TopograGebrandete Firmenfahrräder stiften Identifikation mit dem fie bieten sich elektrisch unterstützte FahrräBetrieb (© B.A.U.M. e. V.) der (Pedelecs, E-Bikes) als ideale Alternative an. Fahrräder – und hier besonders Faltfahrräder – können aber auch dazu dienen, in Kombination mit Bus oder Bahn die erste oder letzte Meile auf dem Weg zum bzw. vom (Bus)Bahnhof zum Ziel zu überbrücken. Daher sind Betriebe gut beraten, die Vorteile einer Förderung des Radfahrens zu nutzen. Fahren mehr Mitarbeiter als bisher mit dem Fahrrad zur Arbeit und halten sich durch diese Art der Bewegung fit und gesund, reduziert dies die Ausfallzeiten im Unternehmen. Eine Studie des Niederländischen Verkehrsministeriums hat empirisch nachgewiesen, dass radfahrende Mitarbeiter im Schnitt etwa einen Tag pro Jahr weniger krank sind als Pkw-Pendler.3 Dieser Befund wurde 2014 durch eine Befragung von über 2.300 Berufstätigen in Deutschland

2 www.MobilityPolicy.de 3 Ministerie van Verkeer en Waterstaat, Forschungsinstitut TNO, TNO-Studie: Regelmatig fietsen naar het werk leidt tot lager ziekteverzuim, 2009

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gestützt.4 Da jeder Ausfalltag eines Mitarbeiters den Betrieb 200 € oder mehr kostet, machen sich fittere Mitarbeiter schnell bezahlt – und sind obendrein leistungsfähiger und motivierter. Mobilität lässt sich per Fahrrad besonders kostengünstig wahrnehmen. Die Mitarbeiter können Fahrräder für kurze Besorgungs- oder Geschäftsfahrten nutzen – das spart Auto- oder Taxikosten ein. Große Kosteneinsparpotenziale ergeben sich auch aus dem geringeren Platzbedarf eines Fahrrads. Wo ein Auto abgestellt wird, hätten durchaus sechs bis zehn Fahrräder Platz. Bei einem knappen Flächenangebot auf dem Betriebsgrundstück oder bei Erweiterungsvorhaben kann es aus wirtschaftlicher Perspektive vorteilhaft sein, wenn anstelle neuer Pkw-Stellplätze in die Förderung umweltfreundlicher Verkehrsmittel investiert wird. Auch die betriebliche Klimabilanz wird bei der Fahrradnutzung deutlich verbessert. Durch 5.000 Fahrradkilometer pro Jahr werden bis zu 400 Liter Diesel, 500 € und eine Tonne CO2 eingespart. Großer Beliebtheit erfreut sich bei Beschäftigten, wenn der Arbeitgeber die kostengünstige Bereitstellung von personenindividuellen Fahrrädern via Leasing, gegebenenfalls auch mit Gehaltsumwandlung ermöglicht oder bezuschusst. So trägt dieser Service auch zur Steigerung der Attraktivität als Arbeitgeber bei. In der betrieblichen Praxis hat es sich als hilfreich herausgestellt, wenn die Förderung der Fahrradnutzung organisatorisch unterstützt wird. Mit einem Grundsatzbeschluss kann die Geschäftsführung die Bedeutung des Themas verdeutlichen. Dabei sind ein Ansprechpartner/Fahrradbeauftragte und/oder eine Arbeitsgruppe für alle Fragen rund um das Fahrrad von zentraler Bedeutung. Damit können Maßnahmen beispielsweise in folgenden Bereichen umgesetzt werden: Infrastruktur für das Fahrradfahren Firmenfahrräder sollten bedarfsgerecht in den Fuhrpark aufgenommen werden. Empfehlenswert sind Elektrofahrräder, Faltfahrräder (die leicht auch in Bus/Bahn mitgenommen werden können) und ggf. Lastenfahrräder, mit denen kleinere Transporte bewältigt werden können. Alternativ kann den Mitarbeitern die kostengünstige Nutzung eines individuellen Fahrrads (zum Beispiel nach dem Konzept des Dienstradleasings) ermöglicht werden. 4

Juliane Kemen in Zusammenarbeit mit EcoLibro: Studie »Mobilität & Gesundheit«, 2015

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Komfortable, überdachte und vor allem diebstahlsichere Abstellmöglichkeiten für Fahrräder sind zudem wichtige Bausteine einer fahrradgerechten In­­ frastruktur. Zudem sollten angesichts der zunehmenden Beliebtheit von Elektrofahrrädern Lademöglichkeiten angeboten werden. Zusätzlich sind Duschen, Spinde und Umkleideräume, aber auch Reparaturstationen (oder zumindest Pannensets und Luftpumpe) hilfreiche und leicht realisierbare Angebote für Radfahrer. Anreize zum Radfahren Wettbewerbe und andere (finanzielle) Anreize können Mitarbeiter zum Aufsatteln motivieren. Dabei sollten der Fahrspaß sowie der Bezug zum Thema Gesundheit im Mittelpunkt stehen. Wichtig ist zudem, den Beschäftigten die Fahrradnutzung nahe zu bringen und Möglichkeiten zum Ausprobieren zu schaffen. Dies kann z. B. an einem Fahrradaktionstag geschehen, an dem verschiedene (Elektro-)Fahrräder präsentiert und Probe gefahren werden können. Ergänzend sind ein Fahrradreparaturservice und eine Fahrradcodierung willkommener Teil eines Aktionstags. Auch die wechselnde probeweise Überlassung von E-Bikes für einige Wochen hilft dem Mitarbeiter, die Alltagstauglichkeit zu prüfen. Studien haben gezeigt, dass sich nach der Praxistestphase der überwiegende Teil der Testpersonen für die Anschaffung bzw. regelmäßige Nutzung entschließt.5 Kommunikation Die Möglichkeiten der Fahrradnutzung sollten umfassend kommuniziert werden, beispielsweise dauerhaft auf der Intranet-Seite oder in einem Faltblatt. Sehr hilfreich ist es, neuen Mitarbeitern ein Infopaket auszuhändigen, das z. B. auch eine Radwegkarte und/oder eine Sicherheitsweste beinhaltet. Das Aufhängen einer Fahrradwegekarte, auf der raderfahrene Kollegen ihre bevorzugte Fahrradroute zum Betrieb markieren, hilft anderen sehr, geeignete Routen für den Arbeitsweg zu finden. Wer ein umfassendes Konzept zur Fahrradförderung entwickeln und umsetzen möchte, kann sich von spezialisierten Beratern unterstützen las-

5

Czowalla, L. (2015); Ebike-Pendeln. Wissenschaftliche Begleitforschung – Auswahl vorläufiger Endergebnisse, Institut für Transportation Design (ITD), Hochschule für Bildende Künste Braunschweig

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sen. Zertifizierungen als fahrradfreundlicher Betrieb, wie sie der ADFC oder B.A.U.M. anbieten, geben Hilfestellung bei der Bewertung von Maßnahmen. Praxisbeispiel GIZ: Fahrrad-fit in die Zukunft Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH sieht sich dem Klimaschutz und den Zielen in der Agenda 2030 für eine weltweite gerechte und nachhaltige Entwicklung verpflichtet. Mit dem neuen Nachhaltigkeitsprogramm 2021–25 hat sich die GIZ umfangreiche Ziele gesetzt, z. B. im Bereich Ressourceneffizienz, nachhaltige Mobilität und damit einhergehend auch für die Reduktion ihrer Treibhausgas(THG)-Emissionen. Das seit 2013 in der GIZ verwendete Eco Management and Audit Scheme (EMAS) unterstützt die Anstrengungen im Umweltmanagement und ermöglicht eine kontinuierliche Verbesserung der Umweltleistung durch Vermeidung, Minderung und Kompensation. Damit erreichte die GIZ in Jahr 2020 Klimaneutralität. Dazu beigetragen hat auch ein Konzept zur nachhaltigen Mobilität. Auch wenn es im internationalen Projektalltag kaum möglich ist, kilometerintensive Reisen zu vermeiden, ist der Weg zum Büro ein nicht unerheblicher Faktor, den (fast) jeder selbst beeinflussen kann. Und was eignet sich hier besser als das Fahrrad – ein Fortbewegungsmittel, das sowohl den THG-Fußabdruck senkt als auch die Gesundheit stärkt? Daher gehört die Fahrradförderung in das Nachhaltigkeitsverständnis der GIZ. Seit 2017 erfasst die GIZ in regelmäßigen Abständen über eine statistische Berechnung aus Pendlerbefragungen den Anteil der Radnutzung unter den Mitarbeitenden und analysiert ihr Pendelverhalten zu unterschiedlichen Jahreszeiten. Die Pendlerbefragungen sind auch ein wirksames Instrument, um fahrradspezifische Bedarfe abzufragen und gegebenenfalls das Angebot zu optimieren. Großen Wert legt die GIZ auf eine fahrradfreundliche Infrastruktur: Die GIZ-Büros in Bonn, Eschborn (bei Frankfurt/Main) und Berlin sind mit ausreichend überdachten und offenen Fahrradstellplätzen auf dem Gelände und in den Tiefgaragen ausgestattet. Der Bedarf an Fahrradparkplätzen wird eng und konsequent überwacht und zeitnah nachjustiert, wenn sich Knappheiten abzeichnen – zum Beispiel indem überschüssige Autoparkplätze freigegeben und mit Fahrradständern ausgestattet werden. Exklusive geräumige Parkplätze gibt es jetzt auch für Fahrräder mit Anhängern oder Lastenräder.

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Fahrradstellplätze in der Tiefgarage der GIZ Bonn (© B.A.U.M. e. V.)

Fahrradstellplätze (© GIZ/Volker Lannert) und E-Bike-Akkuladeschränke in der Tiefgarage der GIZ (© GIZ/Natalia Astrin)

Verleihung des B.A.U.M.-Zertifikats ›FAHRRAD-fit-Betrieb‹ in Gold an die GIZ Bonn 2020 (vlnr: Marie Rossetti, Natalia Astrin, Daniel Schröder, Dieter Brübach) (© B.A.U.M. e. V.)

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Werkstation für spontane Reparaturen in der Tiefgarage (© GIZ/Natalia Astrin)

Sollte doch mal eine Panne passiert sein, stehen in den Bonner Tiefgaragen moderne Radservicestationen zur Verfügung. So ist mit ein paar Handgriffen der angeschlagene Drahtesel an der Säule aufgebaut und einem Schlauchwechsel steht nichts mehr im Wege. Ein kleiner Vorrat an üblichen Ersatzteilen steht zur Verfügung und wird nach Bedarf nachgekauft und aufgefüllt. In den letzten Jahren hat sich der Anteil der E-Bikes am Fahrradbestand der Belegschaft signifikant erhöht. Kein Wunder, denn damit können Mitarbeitende immer weitere Wege zurücklegen, ohne dabei auf umweltschonende Verkehrsmittel zu verzichten und fossile Energien zu verbrennen. Die Akkus können kostenfrei und sicher in modernen Ladeschränken aufgeladen werden, deren Strom über die hauseigene Photovoltaikanlage produziert wird. Duschen und Umkleideräume, Spinde und Trocknungsmöglichkeiten sind fast überall vorhanden. Allerdings gibt es auch hier spürbare Unterschiede zwischen der Ausstattung der GIZ-eigenen Räumlichkeiten und der angemieteten Räume. Die gute Nachricht ist: Der Eigentum-Anteil steigt fortwährend und damit auch die Qualität der Fahrradinfrastruktur für zukünftige Beschäftigte. Für dienstliche Fahrten können Mitarbeitende – insbesondere bei der GIZ Bonn – Dienstfahrräder samt Zubehör ausleihen. Gewartet werden diese regelmäßig von einer Partnerwerkstatt, die auch den GIZ-Beschäftigten Rabatte auf Produkte und Dienstleistungen bietet. Doch mit der guten und sicheren Infrastruktur allein ist es nicht getan. Wie jedes Umweltthema muss auch die Fahrradmobilität in die DNA möglichst vieler Mitarbeitenden übergehen, damit die Umweltbelastung durch treibhausgaslastige Verkehrsmittel sinken und sich die gesundheitsstärkende Wirkung

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der regelmäßigen Bewegung an der frischen Luft entfalten kann. Letzterem hat in den vergangenen zwei Jahren die Corona-Pandemie in die Hand gespielt, haben doch viele vormalige Fahrradmuffel entdeckt, wie kontaktarm und ansteckungsfrei man mit dem Fahrrad unterwegs ist. Selbst trotz der zu Pandemiezeiten gesperrten Duschen und Umkleiden blieb die Nutzung des Fahrrads eine sehr beliebte Dienstwegoption. Eine breitflächige Kommunikation der Nachhaltigkeitsthemen ist dem Unternehmen sehr wichtig. Informationen über nachhaltige Aspekte der deutschen Standorte und das Mobilitätsangebot sind ansprechend aufbereitet und an gut sichtbaren Stellen im GIZ-Intranet und an den Bildschirmen in den öffentlichen Sammelräumen platziert. Es finden regelmäßige – derzeit vorwiegend virtuelle – Informationsrunden zu den unterschiedlichen Angeboten statt. Darüber hinaus stellt das Unternehmen ein jährliches Nachhaltigkeitsbudget zur Verfügung, um unterschiedliche Aktionen – z. B. im Rahmen der Deutschen Aktionstage Nachhaltigkeit – zu fördern. Für eine gute Kommunikation bedarf es aber auch persönlicher Ansprechpartner*innen. Drei Fahrrad-Koordinator*innen stärken die moderne umweltund verkehrsgerechte Mobilität an den städtischen EMAS-Standorten in Bonn, Eschborn und Berlin. In Zusammenarbeit mit dem ADFC oder den örtlichen Repaircafés organisieren sie kostenfreie Fahrradchecks und -codierungen für Kolleg*innen und steuern die bundesweiten Fahrradaktionen wie »Mit dem Rad zur Arbeit« oder »Stadtradeln«. Zudem fungieren sie als Ansprechpersonen und erste Anlaufstelle für Wünsche oder Beschwerden aus der Belegschaft. Sie arbeiten eng mit dem Nachhaltigkeitsbüro und dem Facility Management des Unternehmens zusammen, um die Fahrradinfrastruktur fortlaufend zu verbessern. Gleichzeitig engagieren sie sich in den zahlreichen GIZ-Umweltinitiativen, organisieren Leihräder für Praktikant*innen und neue Mitarbeiter*innen, verfassen Rad-Newsletter und veranstalten Interessiertentreffs. Durch die Kooperation mit dem ADFC und den Verantwortlichen in der jeweiligen Stadtverwaltung beteiligen sie sich an gesellschaftlichen Aktivitäten (z. B. war die GIZ Bonn eine Sammelstelle für Unterschriftenbögen im Rahmen der Radentscheide NRW und Bonn) und verleihen der GIZ-Belegschaft eine starke Fahrradstimme in der kommunalen Politik.

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Vita Dieter Brübach ist stellvertretender Vorsitzender von B.A.U.M. e. V., dem größten Netzwerk für nachhaltiges Wirtschaften in Deutschland. Seit vielen Jahrzehnten widmet er sich u. a. dem Thema nachhaltige Mobilität und hat hierzu diverse Projekte initiiert und über 150 Mobilitätsmanagementberatungen und Zertifizierungen zum fahrradfreundlichen Betrieb für Betriebe aller Größenordnungen und Branchen durchgeführt. Seit © B.A.U.M. e. V. 2015 ist er Mitglied im Ausschuss zur Erarbeitung einer VDI-Richtlinie Mobilitätsmanagement sowie Gründungsmitglied des Fachverbands für Mobilitätsmanagement (DEPOMM). Er ist zudem Fachbeirat des Studiengangs Mobilitätsmanagement an der Hochschule RheinMain. Co-Autorin Natalia Astrin ist seit 2017 ehrenamtliche Fahrradkoordinatorin bei der GIZ in Bonn. Nach ihrem Studium der Geschichtswissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Ebert-Universität in Bonn hat sie im Rahmen einer wissenschaftlichen Kooperation an Klimaforschungsprojekten mitgearbeitet. Bei der GIZ arbeitet sie seit 2012 in unterschiedlichen Abteilungen, derzeit bei der Unternehmenskommunikation. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt mit ihrer Familie in Bonn.

© GIZ

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Emissionsfreie Zustellung auf der Letzten Meile. Wie gelingt verantwortlicher Versandhandel Claudia Silber Unser Konsumverhalten hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Immer mehr Menschen bestellen im Durchschnitt mehrmals im Monat online. Dementsprechend kennen die Zahlen im E-Commerce seit Jahren nur eine Richtung – nach oben. Dabei soll der Onlinekauf einfach, sicher und schnell sein. Eine Folge dieser Entwicklung ist allerdings die zunehmende ökologische Belastung der Umwelt und die gesundheitliche Belastung der Bewohner*innen vor allem in Ballungsgebieten und Innenstädten. Denn die Letzte Meile – der logistische Fachbegriff für den Transport der bestellten Ware zur Haustür der Kund*innen – ist das Wegstück, das die meisten Verkehrsprobleme und die höchsten Schadstoffemissionen innerhalb der Zustellung verursacht. Muss diese ein weiteres Mal erfolgen, weil Besteller*innen nicht persönlich erreichbar sind, verschärft das das Problem weiter. Hinzu kommt, dass der zeitliche Druck der Paketzusteller*innen immer mehr zunimmt und das in einer Branche, die seit Jahren unter personellen Schwierigkeiten leidet. Alle Beteiligten sind sich einig, dass die Zustellung von Waren grundlegend neu gedacht werden muss. Und seit Beginn des Krieges in der Ukraine kommt ein weiterer Grund hinzu: Die Unabhängigkeit von fossilen Energien und die damit einhergehende Transformation unserer Mobilität und unseres Konsumverhaltens. Eine der Lösungen dafür ist bereits weit über 100 Jahre alt: das Lastenrad. Verschiedene Varianten und Modelle wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts von Handel und Gewerbe eingesetzt. In den letzten Jahren erlebte das Lastenrad eine Renaissance – allerdings aus hochmodernen Materialien und mit leistungsstarken Elektromotoren ausgestattet. Eine Zustellung per ElektroLastenrad schafft für viele Probleme Abhilfe. Werden die Lastenräder mit Strom aus 100 Prozent regenerativen Energien geladen, sind sie emissionsfrei und umweltverträglich unterwegs. Im Vergleich zu herkömmlichen Zustellfahrzeugen benötigen sie knapp fünf Mal weniger Verkehrsraum zum Parken

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und Rangieren. Und da die Fahrer*innen der Lastenräder die Busspur und Fahrradwege benutzen und auch Einbahnstraßen entgegen der Fahrtrichtung befahren dürfen, ist die Zustellung häufig auch schneller als auf herkömmlichem Wege. Bereits seit September 2016 werden Bestellungen von Privat- und Gewerbekund*innen des unterfränkischen Versandhandelsunternehmens memo AG mit Elektrolastenrädern ausgeliefert. Initiator dieser Maßnahme ist der Vorstandsvorsitzende Frank Schmähling, ein Experte für nachhaltige Logistik. Er hat bereits früh erkannt, dass die memo AG als Versandhändler Teil des Pro­ blems ist, aber auch ihren Beitrag zur Lösung leisten kann. Bereits 2016 wurden deshalb die ersten Pakete per Elektrolastenrad an Kund*innen in Berlin zugestellt. Inzwischen findet auch in weiteren deutschen Städten eine Zustellung per Elektrolastenrad statt: Bis 2021 konnte die memo AG insgesamt eine Steigerung um knapp 18 Prozent verzeichnen. Die meisten Radlogistik-Unternehmen, mit denen der nachhaltig ausgerichtete Versandhändler zusammenarbeitet bzw. eine Zusammenarbeit plant, sind Start Ups oder sehr junge Unternehmen. Neben den zusätzlichen Versandkosten, besteht die große Herausforderung darin, den kompletten Versandprozess mit den erforderlichen Schnittstellen zur Übermittlung der Versandinformationen und Kundenbenachrichtigungen organisatorisch und technisch abzuwickeln. Zusätzlich fehlen manchen der Unternehmen gerade in der Anfangsphase die finanziellen Ressourcen für die erforderliche Infrastruktur. Deshalb werden einige von ihnen auch bei der Anschaffung geeigneter Lastenfahrräder unterstützt. Bis heute hat die memo AG bereits mehrere eigene Lastenräder im Einsatz. Trotz aller Herausforderungen und trotz des hohen Aufwands setzt das Unternehmen den Weg der Radlogistik aus Überzeugung konsequent fort. In ihrer »Heimatstadt« Würzburg geht die memo AG noch einen Schritt weiter und beliefert ihre dort ansässigen Kund*innen emissionsfrei am selben Tag. Obwohl das Unternehmen eine Same Day-Belieferung aufgrund der erhöhten Umweltbelastung im Vergleich zur Standardbelieferung ansonsten nicht anbietet, ist es in Würzburg durch die Nähe zum Standort und den Einsatz von Elektrofahrzeugen, die mit 100 Prozent aus regenerativen Energien geladen werden, möglich. Geht eine Bestellung von bei memo lagernden Produkten aus Würzburg bis elf Uhr am Standort Greußenheim ein, werden die Pakete mit einem eigenen Elektrofahrzeug ins 18 Kilometer entfernte Würz-

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burg zur Radboten GmbH transportiert, von wo aus sie noch am selben Tag per Elektrolastenrad an die Kund*innen ausgeliefert werden. Das 2017 gegründete Unternehmen für umweltfreundliche Express-Logistik ist Gründungsmitglied des Radlogistikverbands Deutschland e. V. und setzt sich u. a. als Partner des Bündnisses »Verkehrswende jetzt« für eine nachhaltige Mobilität in der Stadt Würzburg und in der Region ein. Realisiert wurde die emissionsfreie Same-Day-Lieferung der memo AG zusammen mit Studierenden der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. Bereits nach einem Jahr konnte die Anzahl der mit Radlogistik zugestellten Pakete in Würzburg verdoppelt werden.

Das unterfränkische Versandhandelsunternehmen memo AG lässt in immer mehr Städten die Bestellungen der Kund*innen umweltverträglich per Elektrolastenrad zustellen – in Würzburg sogar am gleichen Tag.

In der Zustellung mit Elektrolastenrädern auf der Letzten Meile zu den Kund*innen sieht die memo AG eine sinnvolle und zudem effektive Möglichkeit, um Städte und Ballungsräume von umwelt-, klima- und gesundheitsschädlichen Emissionen zu entlasten. Zusätzlich trägt die Radlogistik auch zum guten Ruf und zur Glaubwürdigkeit des Unternehmens bei: Die Kund*innen zeigen sich angesichts dieses Services begeistert und bleiben dem Unternehmen verbunden.

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City Logistik neu gedacht. Das Lastenrad als Game Changer

Karolin Zientarski Beim Begriff Logistik kommen einem direkt die klassischen Transportmittel in den Sinn, die seit Jahrzehnten in diesem Bereich eingesetzt werden, nämlich kraftstoffbetriebene Transporter und Lastkraftwägen, Güterzüge, Containerschiffe und Frachtflugzeuge. Diese Verkehrsmittel werden sinnvollerweise im nicht-urbanen Raum eingesetzt, doch unsinnigerweise zumeist auch im urbanen Gebiet. Es gibt allerdings ein Transportmittel, das bisher sehr vernachlässigt behandelt wurde, obwohl es gerade in diesem Bereich klare Vorteile vereint: Das Fahr- bzw. Lastenrad, auch Cargobike genannt. Die Fahrradkurierbranche ist zwar keine neue, jedoch ist sie historisch gesehen wohl eher im Expressbereich angesiedelt. Auch wenn die Anfänge sich nicht konkret belegen lassen, da keine belegten Daten öffentlich vorhanden sind, flitzen Fahrradkuriere im klassischen Sinn vermutlich seit Mitte oder Ende des 20. Jahrhunderts durch die Straßen der Städte. Die ersten europäischen Fahrradkurierdienste wie man sie heute kennt, wurden wahrscheinlich in den 1980er-Jahren gegründet, woraufhin in Deutschland zumeist in Großstädten Fahrradkurierunternehmen aus dem Boden schossen. Bereits damals hat man die Vorteile des Transports auf zwei Rädern erkannt und genutzt. Logistik innerhalb der Städte findet also schon längere Zeit auch auf nachhaltige Weise statt, doch leider wird bis heute das Potenzial von Fahrrädern und Cargobikes zumeist nicht vollends ausgeschöpft. Vor allem Deutschland hinkt sehr nach, was nachhaltige City Logistik angeht, insbesondere City Logistik mithilfe von Fahr- und Lastenrädern. Unsere Nachbarstaaten machen uns vor, wie nachhaltige Transporte in und außerhalb von Städten aussehen können. In den Niederlanden, der Fahrradnation schlechthin werden Lastenräder sowohl im privaten als auch im gewerblichen Bereich intensiv genutzt und auch in Dänemark ist der Einsatz von Cargobikes sehr viel üblicher als in der Bundesrepublik. Zudem existieren funktionierende nationale Netzwerke, die eine nachhaltige Logistik ermögli-

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chen, wie etwa Swiss Connect in der Schweiz. Durch diesen Zusammenschluss ist es für Kunden möglich, Waren innerhalb des gesamten Landes nachhaltig von A nach B zu liefern. Der Liefer- und Güterverkehr wächst stetig. Diese Entwicklung trägt dazu bei, dass die Nutzungskonflikte im Straßenraum, besonders in den Städten, immer größer werden. Hier müssen nachhaltige umweltschonende Lösungen entwickelt werden, um die städtische Infrastruktur vor einem Kollaps zu bewahren. Teile des Wirtschaftsverkehrs in urbanen Zentren, die mit Kfz abgewickelt werden, können auf das Lastenrad verlagert werden. Dazu benötigt diese nachhaltige Form der Citylogistik neue Strukturen, vor allem Mikro-Depots in City-Lagen mit Ladeinfrastrukur – eine Herausforderung für Kommunen und Planerinnen und Planer. (BMVI 2022) Definition Lastenrad Lastenräder sind Fahrräder, die mit einer gesonderten Vorrichtung zum Transport von Lasten ausgestattet sind. Sie stellen rechtlich gesehen ein Fahrrad dar, solange die elektrische Unterstützungsleistung 250W Dauernennleis­tung nicht überschreitet und die Maximalgeschwindigkeit bei Fahrrädern mit E-Unterstützung unter 25km/h bleibt. (Assmann u. a. 2019, S. 7) Arten von Lastenrädern Lastenräder lassen sich in verschiedene Klassen unterteilen, welche wesentliche Unterschiede in der Bauweise, Fahrdynamik, Nutzlast und im Nutzvolumen aufweisen. In der Radlogistik werden vorwiegend Lastenräder mit Elektrounterstützung eingesetzt. Weiterhin sind für den logistischen Einsatz bei den Aufbauten insbesondere abschließbare, geschlossene und im Inneren flexibel unterteilbare Kofferbauten mit hohem Volumen (ca. 1,5 Kubikmeter bis 2,2 Kubikmeter) von Relevanz. (Assmann u. a. 2019, S.7) Die grundlegendste Unterscheidung besteht in der Kategorisierung von Lastenrädern in ein- und mehrspurige. Einspurige Lastenräder sind meist schmaler und leichter als mehrspurige. Außerdem besitzen sie weniger Anbauteile und sind darüber hinaus in der Regel mit Teilen und Equipment ausgestattet, das auch bei üblichen Rädern verwendet wird. Mehrspurige Lastenräder besitzen entweder drei Laufräder, also zwei Vorder- oder Hinterräder oder jeweils mindestens zwei Laufräder vorne und hinten oder sogar mehr Achsen. Bei einigen von ihnen, insbesondere den jüngeren

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Modellen, ist eine Neigetechnik eingebaut, die vor allem dazu dienen soll, die Räder in Kurven der Fahrdynamik anzupassen und zu stabilisieren, um somit ein Umkippen zu verhindern. Mehrspurige bzw. größere Modelle besitzen in vielen Bereichen keine fahrradtypischen Anbauteile, sondern orientieren sich diesbezüglich entweder an motorisierten Zweirädern oder haben eigens entwickelte Teile der entsprechenden Hersteller*innen eingebaut. Das ideale Lastenrad Wie das ideale Lastenrad beschaffen sein sollte, lässt sich natürlich pauschal nicht sagen. Die Wahl des Rads hängt beispielsweise von individuellen Faktoren ab, wie etwa dem*r Nutzer*in, der Topografie, der Radinfrastruktur, dem Einsatzbereich und auch der Art der zu transportierenden Waren. Je nach Volumen, Gewicht und sonstigen Besonderheiten wie etwa Temperaturempfindlichkeit, Verderblichkeit oder Fragilität, muss die Ware entsprechend verpackt und behandelt werden. Um darauf einzugehen, gibt es unterschiedliches zusätzliches Equipment, das nützlich oder notwendig ist, wie etwa Transporttaschen, abschließbare, fest installierte Metallboxen, Thermoboxen oder GDP-konforme Vorrichtungen. Lastenräder bieten also viele Arten der Aufbauten und es ist möglich, die Räder der Anwendung entsprechend zu gestalten. Probleme mit Lastenrädern Derzeit zeigt sich ein Trend in die Richtung größer ist besser und es werden zuhauf Lastenräder entwickelt, die viele der Nachteile, die Fahrräder und Autos besitzen, vereinen. Die Vorteile, die das Lastenrad bietet, sind somit weitestgehend dahin, zumindest beim Einsatz in der derzeitig vorherrschenden Situation in den meisten Städten. Zwar sind auch sehr große Lastenräder zumeist auf die Maße und Beschaffenheit der empfohlenen Radwege ausgelegt, allerdings ist die Radinfrastruktur in den wenigsten Städten entsprechend ausgebaut. In vielen deutschen (Groß-) Städten findet man eine sehr verbesserungswürdige Radverkehrssituation vor. Radwege sind teilweise schmaler als einen Meter, Radfahrer*innen teilen ihren Platz mit Fußgänger*innen, Straßenbeläge sind porös oder uneben und das Radwegenetz ist lückenhaft oder sogar flächendeckend gar nicht vorhanden. Die Folge ist, dass Fahr- und Lastenradfahrer*innen nichts anderes übrigbleibt,

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als die Fahrbahnen zu nutzen, die für Personenkraftwagen und Lastkraftwagen gedacht sind. Ist das Rad klein, wendig und leicht genug, um es ohne größere Schwierigkeiten schieben zu können, kann man sich aus einer hinderlichen Situation, wie beispielsweise einem Stau, leicht befreien und spontan einen anderen Weg einschlagen. Besitzt ein Lastenfahrrad eine gewisse Größe und ein entsprechendes Gewicht, lässt es sich nicht ohne Weiteres aus einer solchen Lage entfernen. Der*die Lastenradlogistiker*in steckt somit in der gleichen Lage wie der gesamte restliche motorisierte Verkehr. Der enorme Vorteil, den das Lastenrad hier eigentlich besitzen könnte, fällt somit weg. Auch die Kosten für die Anschaffung eines entsprechend größeren Lastenrads stehen im Gegensatz zu einem kraftstoffbetriebenen Transporter in keinem guten Verhältnis. Meist liegen die Anschaffungspreise für drei-, vieroder mehrrädrige Lastenräder in etwa im gleichen Bereich wie ihre diesel- oder benzinbetriebenen Pendants. Der Aspekt der Nachhaltigkeit kommt hier dann leider nur gering bis gar nicht zum Tragen. Ersatzteile der mehrspurigen Lastenräder kommen meist entweder aus dem Bereich der motorisierten Zweiräder oder sind Herstellerunikate. Die Beschaffung ist demnach in der Regel kostspielig und zügige Nachlieferungen sind aufgrund der zu langsamen Produktion für spezifische Teile oft nicht möglich. Im schlechtesten Fall stehen Lastenräder also über Wochen oder Monate still und warten auf Reparatur und den nächsten Einsatz. Im Bereich der Lastenradherstellung herrscht momentan ein enormer und sehr erfreulicher Boom, Hersteller*innen sprießen aus den Böden, jedoch scheint der Fokus teilweise etwas verloren gegangen zu sein. Einiges wird sich durch den Markt und die (nicht vorhandene) Nachfrage beziehungsweise die negativen Erfahrungen von selbst regeln, anderes muss gewollt verändert werden. Zum einen werden die Hersteller*innen insbesondere ihre mehrspurigen Modelle weiterentwickeln und anpassen müssen, damit sie gegenüber einspurigen Modellen und Elektrotransportern bestehen. Fahrzeuge herzustellen, die so viel kosten wie ein Elektrotransporter, fast genauso groß sind, allerdings sehr viel weniger Ladekapazität besitzen und so langsam unterwegs sind wie ein Fahrrad, werden Schwierigkeiten haben, sich langfristig durchzusetzen. Zum anderen ist es Aufgabe der Politik in vielen Bereichen nachzubessern, beispielsweise in Form von attraktiven gewerblichen Förderungen für die Herstellung und Anschaffung von Lastenrädern und durch den dringend notwendigen

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Ausbau der Radinfrastruktur in den Städten der gesamten Bundesrepublik. Darüber hinaus muss unbedingt ein einheitlicher Schutz der Innenstädte vor Lärm und Schadstoffemissionen vorgenommen werden, indem Lieferungen im urbanen Bereich ausschließlich nachhaltig durchgeführt werden und dieselund benzinbetriebener Lieferverkehr außerhalb der Stadtgrenzen agiert. Insgesamt lässt sich also sagen, dass der Anreiz ein mehrspuriges Lastenrad anzuschaffen leider bei einer direkten Gegenüberstellung mit einem Elektrotransporter sehr gering ist. Die Kosten sind gleich, die Ladekapazität und Geschwindigkeit ist beim Lastenrad geringer und auch der Vorteil nicht im Stau zu stehen, entfällt bei den großen Modellen. (Staatliche) Förderungen und auch Leasingmöglichkeiten sind für Elektrotransporter sehr viel attraktiver oder für Lastenräder überhaupt nicht vorhanden. Hier muss seitens der Politik unbedingt nachgebessert werden. City Hubs Wie bereits erwähnt, werden Transportmittel, die in der Logistik auf längeren Überlandstrecken Waren zwischen Städten transportieren, auch innerhalb der einzelnen Städte eingesetzt, überschreiten somit eine Grenze und begeben sich in Gebiete, in denen sie nicht mehr als optimales Transportmittel gelten, nämlich den urbanen Raum. So kommt es nicht selten zu Situationen, in denen Sattelschlepper mit sehr geringen Transportmengen in Fußgängerzonen und engen Gassen Waren ausliefern, für die ein Fahrzeug in dieser Größe schlichtweg nicht notwendig wäre. Ein Umschlagspunkt zwischen den Stadtgebieten und dem Umland ist sinnvoll, um die Transportfahrzeuge entsprechend so aufzuteilen, dass sie optimal performen können. City Hubs sind Umschlagplätze, die entweder fest oder mobil eingerichtet sein können und die als (kurzweilige) Lager für Waren dienen, die sowohl aus der Stadt nach außerhalb als auch von auswärts in die Innenstädte transportiert werden sollen. Sie befinden sich im Idealfall zwischen dem Stadtkern und der äußeren Grenze des Stadtgebiets. Grundlegend bei der Wahl eines Hubs ist, dass er sowohl von klassischen Transportfahrzeugen vom Umland aus als auch von den kompakteren Fahrzeugen innerhalb der Stadt, insbesondere den Cargobikes, gut erreichbar ist. Die Entfernung und genaue Platzierung der City Hubs kann je nach Stadt variieren.

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Wesentlich für die Konzeptgestaltung ist, dass bei mehre­ren Logistikdienstleistern die Festlegung getroffen wird, ob der Umschlagsknoten kooperativ oder singulär sein soll. (Assmann u. a. 2019, S.15) Bei der Logistikkooperation bestehen diese zwei in Bezug auf Organisation und Akzeptanz grundsätzlich unterschiedlichen Formen. Sie sind deswegen planerisch und begrifflich strikt zu unterscheiden. Bei der kooperativen Nutzung teilen sich Kurier-/Express-/ Paket-Dienste eine Fläche. Die Güterflüsse, Transport- und Umschlagsmittel, Mitarbeiter*innen sowie Informationsflüsse bleiben strikt getrennt. Im Grundkonzept liefern Logistikunter­nehmen ihre Sendungen am Umschlagsknoten ab und ein Zustellunternehmen stellt sie für alle Logistikunterneh­men konsolidiert an die Endkund*innen zu. (Assmann u. a. 2019, S.22) Im Idealfall werden besagte Umschlagsknoten sowohl aus wirtschaftlichen Gründen als auch aus Platzmangel von mehreren verschiedenen Logistikanbieter*innen, die sich auf dem Markt befinden, gemeinsam genutzt, auch besitzt nicht jede*r Akteur*in seinen*ihren eigenen Hub. Dies ist allerdings nicht immer möglich, beziehungsweise kann unter Umständen zu Schwierigkeiten führen. Hilfreich kann hierbei die Einbeziehung der kommunalen Politik sein, die sich zum Beispiel selbstständig um die Auswahl, Verwaltung und Bereitstellung von City Hubs kümmert. Die größte Herausforderung zeigt sich beim Auffinden geeigneter Flächen. Schwierigkeiten bestehen hierbei insbesondere durch die Knappheit an geeigneten Flächen, die hohen Flächenkosten besonders innerhalb der Städte, die Anforderungen, die die Flächen erfüllen müssen, und auch die fehlende Tradition im Bereich City Logistik im modernen Sinn. Hätte die sinnvolle Aufteilung von Transportmitteln in der Logistik an den Toren der Städte auch in der Vergangenheit nicht Halt gemacht, wären bereits Umschlagplätze vorhanden, die weiter genutzt werden könnten. Da wir uns allerdings nun am Anfang einer innovativen City Logistik befinden, muss diese vom ersten Baustein an vollkommen neu aufgezogen werden. Zwar sind teilweise brach liegende Flächen in Städten vorhanden, die sich für eine Nutzung eignen, jedoch können diese leider aus verschiedenen Gründen, wie etwa dem vorhandenen Baurecht, nicht ohne größeren Aufwand zu Umschlagplätzen umgewandelt werden. Bei der Festlegung des Standortes eines City Hubs, sind insbesondere folgende Anforderungen zu prüfen: • Ist die entsprechend notwendige Radinfrastruktur vorhanden? • Ist entsprechende Verkehrsinfrastruktur für Lkw vorhanden?

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• •

Sind Stromanschlüsse und Ladesäulen entsprechend der Nutzung vorhanden? Gibt es Sanitär- und Sozialräume? (Assmann u. a. 2019, S. 16)

Da der maximale ideale Zustellbereich um Lastenradumschlagplätze wenige Kilometer beträgt, sind je nach Größe der Stadt und Sendungsmenge mehrere Hubs innerhalb einer Stadt sinnvoll. Das Einzugsgebiet von lastenradbasierten Lieferungen sollte erfahrungsgemäß keinesfalls acht Kilometer überschreiten, idealerweise werden Strecken von zwei bis fünf Kilometern nicht überschritten. Umso geringer die Distanz zwischen dem Knoten und dem Schwerpunktareal der Stopps ist, umso effizienter und damit wirtschaftlicher ist ein Lastenradkon­ zept. Jedoch muss auch bei Lagen innerhalb eines Quar­tiers die Zugänglichkeit mit Vans und Lkw und allgemein eine gute Erreichbarkeit mit wenig Stau gesichert sein. (Assmann u. a. 2019, S. 25) Eine Möglichkeit, die Attraktivität von City Hubs zu steigern und diese in das Stadtbild zu integrieren, ist die kombinierte Nutzung der Umschlagknoten für andere Bereiche. Mögliche Nutzungen könnten beispielsweise sein: • Fahrradwerkstätten • Fahrradverleihstationen • Foodsharing-Stationen • Stellplätze (für Elektromobilität) • Ladestationen • Paketstationen (Assmann u. a. 2019, S.22) Urbane Radlogistik: Last Mile und First Mile auf dem Lastenrad Es stellt sich die Frage, weshalb gerade Lastenräder trotz ihrer geringeren Lademenge im Gegensatz zu Transportern oder größeren Lastkraftwägen stattdessen vorrangig in der urbanen Logistik eingesetzt werden sollten. Tatsächlich steckt beispielsweise gerade in der geringeren Ladekapazität einer der Vorteile. Dadurch, dass kleinere Mengen transportiert werden, ist weder eine starke Motorisierung notwendig noch muss das Fahrzeug die Größe der Transportmittel außerhalb urbaner Räume besitzen. Diese Tatsache führt dazu, dass Lastenräder kompakt und enorm wendig gebaut werden können, sowie sich aufgrund der fehlenden Verbrennungsmotoren nahezu geräuschlos durch ihre

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Umgebung bewegen. Sie besitzen entweder keinen oder einen elektrischen Motor, der bezüglich des Geräuschpegels nicht ansatzweise mit dem eines kraftstoffbetriebenen Pendants zu vergleichen ist. Eine Lärmbelästigung ist so gut wie nicht oder tatsächlich nicht vorhanden. Außerdem ist es bei einem idealen Einsatz der Lastenräder durch die hohe Stoppdichte und dem geringen Einsatzradius nicht notwendig große Mengen zu transportieren. City Logistik per Lastenrad funktioniert nicht nach dem altgebräuchlichen Travelling Salesman-Prinzip, bei dem Logistikdienstleister*innen zu Beginn der Schicht ihre Transporter beladen und bis Feierabend eine einzige (feste) Tour zurücklegen. Zustellung per Lastenrad bedeutet eine sehr viel häufigere Rückkehr zum Hub, kürzere Touren und weniger Ladungsmenge. Die Kurier*innen kehren mehrmals während einer Schicht immer wieder zu den Umschlagsplätzen zurück, laden ab und beladen neu. Des Weiteren finden durch den fehlenden Kraftstoffverbrauch so gut wie keine Schadstoffemission statt und die insbesondere seit kürzerer Zeit explodierenden Benzin- und Dieselkosten werden bei der Verwendung von Lastenrädern vollkommen eingespart. Trotz der relativ geringen Größe ist es möglich per Cargobike bei einer Lieferung Lasten bis ca. 300 kg oder mehr zu befördern. Bei einigen besteht die Option zusätzlich einen Lasten-Anhänger mit dem Rad zu verbinden, um somit die potenzielle Ladekapazität zu erhöhen. Hier gibt es sogar Modelle, die die Möglichkeit besitzen Europaletten zu transportieren. Der Umschlag zwischen Lastenrad und entsprechend weiteren Transportmitteln kann also unkompliziert und der etablierten Norm entsprechend durchgeführt werden. Eines der größten Vorteile, den Lastenräder der Logistik bieten, ist die fast auf die Minute genaue Planung der Fahrzeit. Wieso ist das so? Ganz einfach. Mit Fahr- und Lastenrädern haben Staus und sonstige zeitraubende Verkehrssituationen, die den Fahrfluss verlangsamen, wie Unfälle oder Baustellen, auf die Lieferzeit deshalb keinen Einfluss, da man mit Lastenrädern die Möglichkeit besitzt, diese Hindernisse einfach zu umfahren. Allerdings ist dies nur der Fall, wenn das Rad aufgrund der Größe und des Gewichts beziehungsweise der Geschwindigkeit nicht die Straße nutzen muss, sondern auf dem Radweg fahren und bestenfalls auch geschoben werden kann. Darüber hinaus entfällt natürlich auch die Parkplatzsuche bzw. die Suche eines kurzweiligen Verladeortes. Gerade in der Innenstadt sind die Straßen oft sehr eng, Platz für alle Verkehrsteilnehmer ist nicht ausreichend vorhanden,

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ganz abgesehen von Flächen, die zum Aus- und Beladen dienen. Städte sind momentan sehr engagiert vor allem ausreichend Platz für den notwendigen, fehlenden Wohnraum zu finden, wie die Kapazität bezüglich Abstellflächen aussieht, kann man sich daher vorstellen. Fahrer*innen von Transportern oder Lkws sehen keine andere Möglichkeit als aufgrund des Platzmangels auf Radoder Gehwege auszuweichen und blockieren aufgrund ihrer Größe somit diese Bereiche. Die andere Möglichkeit besteht darin, einen weiter entfernten Platz vom Ausladeort zu finden, jedoch ist der Zeitdruck, unter dem Lieferant*innen arbeiten, oft so hoch, dass diese Option nicht gewählt wird. Lastenräder sind zum einen kleiner, zum anderen darf man mit ihnen auf Flächen halten, die für Autos nicht zugänglich, ja sogar verboten sind. Somit hat man mit Cargobikes die Möglichkeit bei so gut wie jeder Auslieferung (bis auf wenige Ausnahmen, bei denen der Platz beispielsweise auch für Lastenräder nicht ausreichend ist), direkt am Zielort zu halten, um aus- und einzuladen. Das Problem der Politik Bisher tut sich die Politik leider in vielen Bereichen der Logistik und des Klimaschutzes schwer und so geht in der Bundesrepublik der Wechsel zu einer lastenradbasierten Zustellung innerhalb der Städte eher schleppend voran. Ohne politische Entscheidungen und Regelungen ist jedoch die Umstellung nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Städte müssen systematisch und flächendeckend bezüglich des Lieferverkehrs separiert werden und zu gewissen Zeiten und in bestimmten Bereichen sollten ausschließlich nicht kraftstoffbetriebene Transportmittel eingesetzt werden. Um die gesamte Logistik effizienter zu gestalten, müssen benzin- und dieselbetriebene Fahrzeuge an den Toren zu Städten Halt machen und Waren auf die Akteure*innen der nachhaltigen City Logistik umschlagen. Ohne solche oder ähnliche Regelungen, wird es keinen bzw. erst in vielen Jahren einen Grund geben nicht mit Transportern oder Sattelschleppern Städte zu beliefern. Erst wenn jeglicher Raum weiter von Immobilien eingenommen und dadurch knapp wird, dies dazu führt, dass urbane Verkehrsinfrastruktur an Fläche einbüßt und schlichtweg nicht mehr ausreichend Platz für große mehrspurige Logistikfahrzeuge besteht, werden diese allmählich aus den Städten verschwinden. Bei der Umstellung der Logistik spielt allerdings nicht nur die Effizienz eine Rolle, sondern natürlich auch der Klimaschutz. Die EU insgesamt und auch Deutschland separat haben sich zu diesem Thema gewisse Ziele gesetzt, um

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den Klimawandel doch noch verhindern oder wenigstens eindämmen zu können. Auf dem Weg zur europäischen Klimaneutralität im Jahr 2050 bedarf es ehrgeiziger Zwischenziele: Zum Abschluss der deutschen Ratspräsidentschaft haben sich die Staats- und Regierungschefs im Dezember 2020 auf ein deutlich höheres Klimaziel geeinigt: Bis zum Jahr 2030 soll der Ausstoß von Treibhausgasen um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 sinken. Zuvor wurden mindestens 40 Prozent Minderung bis 2030 angestrebt. Deutschland will schon 2045 klimaneutral sein. Mit der  Änderung des Bundesklimaschutzgesetzes passt die Bundesregierung die deutschen Klimaschutzziele bereits an das höhere EU-Ziel an: Bis 2030 sollen die Treibhausgasemissionen in Deutschland um mindestens 65 Prozent sinken und bis 2040 um 88 Prozent. Das Ziel der Treibhausgasneutralität bereits bis 2045 wird ebenfalls im Gesetz verankert. Mit dem Sofortprogramm 2022 will die Bundesregierung verschiede Sektoren bei der Umsetzung der neuen Klimaschutzziele zusätzlich unterstützen. (Bundesregierung 2022) Eine Veränderung wird also definitiv kommen und hierzu wird mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch die Umstellung der Logistik innerhalb der Städte auf eine nachhaltige Alternative zählen. Ob die Zeit zur Umsetzung ausreicht, um den Klimawandel zu verhindern, ist nicht gewiss, jedoch ist zügiges Handeln allen Beteiligten bekannt. Der Druck aufgrund der Dringlichkeit zur Veränderung ist also so enorm hoch, dass sicherlich in Kürze grundlegende Veränderungen in Richtung einer nachhaltigen Logistik durchgeführt werden. Ausblick und Einsatzpotenziale City Logistik muss gleichauf mit den weiteren Akteure*innen auf dem Markt der gesamten Logistik, die außerhalb urbaner Räume agieren, unbedingt ein grundlegender Baustein im Geflecht des Supply Chain Managements werden. Logistik innerhalb von Städten ist als Raum zu verstehen, in dem, wie bereits außerhalb praktiziert und etabliert, das jeweilige Transportmittel sinnvoll an der richtigen Stelle eingesetzt wird. Es geht nicht darum jede Lieferung, die bisher noch mit Transportern und Lastkraftwägen befördert wird, durch Lastenräder zu ersetzen, sondern an der Stelle Lastenräder einzusetzen, an der es sinnvoll ist. Auch Assmann u. a. äußern sich hierzu folgendermaßen: »Das Lastenrad ist nicht die Universallösung. Es wird immer Güter oder Orte / Kunden in der Stadt geben, für die das Lastenrad nicht wirtschaftlich sinnvoll eingesetzt werden kann«. (Assmann u. a. 2019, S.12)

City Logistik neu gedacht. Das Lastenrad als Game Changer  285 

Jedes Verkehrsmittel hat seine Berechtigung und sollte sinnvoll an der Stelle eingesetzt werden, an der es bestmöglich performen kann. Der zeitgleiche Transport von einer gesamten Küche ist beispielsweise mit dem Cargo Bike umständlicher und sehr wahrscheinlich auch zeitaufwändiger (und daher natürlich auch unwirtschaftlich) als mit einem kraftstoffbetriebenen motorisierten Fahrzeug. Auf der anderen Seite ist es vollkommen unsinnig, wenn sich ein Sattelschlepper beladen mit fünf Packstücken auf einer Europalette durch enge Gassen quält, um die Drogerie in einer Fußgängerzone zu beliefern. Zu Nachhaltigkeit zählt neben Ökologie unter anderem auch Wirtschaftlichkeit und Effizienz. Nur wenn auch diese Aspekte gegeben sind, ist eine nachhaltige Logistik überhaupt gerechtfertigt. Man kommt nicht umhin das Lastenrad als Schlüsselfaktor einer multimodalen Logistik bzw. Supply Chain einzusetzen, wenn man sinnvoll, nachhaltig und zukunftsfähig agieren möchte. Insbesondere in Deutschland ist in diesem Bereich reichlich Luft nach oben. Die Akteure*innen in der Logistik profitieren alle davon, miteinander zu arbeiten und nicht gegeneinander. Der*die Logistiker*in, der*die seinen*ihren Sattelschlepper durch die Fußgängerzone leitet, muss lernen, eben solche Arten von Touren an diejenigen abzugeben, die mit Lastenrädern arbeiten. Genauso kommen diese wiederum nicht umhin, einzusehen, dass Lastenräder für gewisse Transportmengen sowie längere Strecken, insbesondere außerhalb von Städten, nicht das ideale Transportmittel darstellen und effizienter von größeren Fahrzeugen geliefert werden. Wird das vorhandene Geschäft sinnvoll an alle Beteiligten aufgeteilt, erhält jede*r ein Stück vom Kuchen. Eine solche Aufteilung und Regelung müsste jedoch von politischer Seite initiiert und verwaltet werden. Zwei Testprojekte, die vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt durchgeführt wurden, hatten zum Ziel die tatsächliche Nutzung von Lastenrädern im gewerblichen Bereich zu untersuchen und den Testenden näher zu bringen. Das erste Forschungsprojekt namens Ich ersetze ein Auto lief inklusive Testphase von 2012 bis 2014 und kam zu folgendem Ergebnis: Der breit angelegte Flottenversuch gab acht Kurierzentralen deutschlandweit die Möglichkeit, elektrifizierte Lastenräder zu nutzen. Die 40 zweirädrigen eBullitts und der dreirädrige CargoCruiser wurden zum festen Bestandteil der Logistik der beteiligten Unternehmen. In der 21-monatigen Projektlaufzeit beförderten die Kuriere mit den Elektro-Lastenrädern ca. 127.000 Sendungen –

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dies sind rund 8 % aller Aufträge der beteiligten Firmen. Dabei legten die Kuriere mit den Fahrzeugen eine Strecke von etwa einer halben Million Kilometer zurück. Einige Spitzenreiter nutzten das Projektfahrzeug für 400 Aufträge monatlich. Aufgrund der Dominanz von kleinen Gutgrößen und kurzen Auftragsdistanzen im städtischen Kuriermarkt sind Elektro-Lastenräder prädestiniert, Pkw-Fahrten zu ersetzen und dadurch klimafreundlich im Kuriermarkt zu wirken. Rund 42 Prozent der von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren durchgeführten Aufträge und 19 Prozent der daraus resultierenden Fahrleistung könnten mit Elektro-Lastenrädern substituiert werden. Bereits während der Projektlaufzeit konnte eine Verbesserung des umweltfreundlichen Anteils am Fahrleistungs-Modal-Split von rund 2 Prozent erreicht werden, resultierend in ca. 53–56 t direkter CO2-Einsparung. Das Projekt erzielte bundesweit eine große Sichtbarkeit. Die Wirkung der Fahrräder wurde so – über die begrenzte unmittelbar umgesetzte CO2-Emissionsreduktion hinaus – vervielfacht. (Gruber, Johannes 2015) Das folgende Projekt hieß Ich entlaste Städte. Diesmal waren über einhundert Lastenräder im Einsatz. Das Ergebnis wurde diesmal noch konkreter. 98 Prozent der Fahrten wären von den Teilnehmenden erneut mit dem Lastenrad zurückgelegt worden und 32 Prozent der Teilnehmer*innen schafften sich nach Testende tatsächlich ein Lastenrad an. (DLR 2022) Das Lastenrad bietet einen enormen Mehrwert für City Logistik Systeme und kann richtig eingesetzt ein Game Changer für die gesamte Logistik darstellen. Die Möglichkeiten und Ressourcen sind da, sie müssen nur auch genutzt werden. Literatur: Assmann, T., Müller, F., Bobeth, S. & Baum, L. (2019): Planung von Lastenradumschlagsknoten. Magdeburg: Otto-von-Guericke-Universität. Bundesministerium für Digitales und Verkehr, Lastenradverkehr: Artikel 05.05.2022, https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Artikel/StV/Radverkehr/lastenradverkehr. html. Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR,) Institut für Verkehrsforschung: Ergebnisse des größten Lastenradtests Europas, Umweltfreundlich und effizient: Lastenräder im dienstlichen und gewerblichen Einsatz, 20.05.2022, Berlin: tippingpoints GmbH, https://www.lastenradtest.de/ergebnisse/.

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Die Bundesregierung. Energie und Klimaschutz: Pressemitteilung 26.05.2022, https:// www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/mehr-klimaschutz-inder-eu-1790042. Gruber, Johannes (2015), Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR,) Institut für Verkehrsforschung: Ich ersetze ein Auto (Schlussbericht), Elektro-Lastenräder für den klimafreundlichen Einsatz im Kuriermarkt. Berlin-Adlershof: tippingpoints GmbH https://www.lastenradtest.de/wordpress/wp-content/uploads/2017/07/Ich-er setze-ein-Auto_Schlussbericht.pdf.

Vita Karolin Zientarski (geb. Issing) wurde 1985 in Würzburg geboren. Sie absolvierte erfolgreich ihr Studium für gymnasiales Lehramt in Englisch, Spanisch und Philosophie. Danach lebte und arbeitete sie mehr als zwei Jahre in Andalusien und Neuseeland. Seit 2014 arbeitete sie an der Universität in Würzburg und nebenbei als angestellte Fahrradkurierin. Dort lernte sie Oliver Zientarski kennen, der ebenfalls als Fahrradkurier tätig war, und gründete 2017 mit ihm zusammen das Fahrradkurier© privat unternehmen Radboten GmbH, in dem sie bis heute als geschäftsführende Gesellschafterin tätig ist. Das Würzburger Unternehmen gewann 2020 den Preis als Local Hero und entwickelte den lokal tätigen, doch deutschlandweit bekannten Liefer- und Zustelldienst Wülivery.

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Kreislaufwirtschaft statt Wegwerfprodukt: Das Schwalbe Recycling System Frank Bohle Strategisch verankert: Verantwortung bei Schwalbe Das Fahrrad steht als Produkt für eine emissionsfreie Mobilität. Das bringt von Natur aus ein gutes Image mit sich. Doch ist das schon genug? Wir bei Schwalbe fassen unsere unternehmerische Verantwortung deutlich weiter als wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Verantwortung zu übernehmen ist für uns keine Option, sondern ein Selbstverständnis. So haben wir es in unserer CSR (Corporate Social Responsibility)-Vision erst kürzlich festgehalten. Die Geschichte dahinter leitet uns im Familienunternehmen schon seit vielen Jahrzehnten. Mein Vater, Ralf Bohle – Gründer der Marke Schwalbe und Namensgeber der dahinterstehenden Ralf Bohle GmbH – hat schon vor rund 50 Jahren den Maßstab gesetzt. Sein Anspruch war es, qualitativ hochwertige Fahrradreifen mit möglichst langer Lebensdauer und Haltbarkeit zu produzieren. Besonders langlebige Produkte sind für uns der erste Schritt der Verantwortung. Wir haben das Schwalbe-Engagement in vier Säulen zusammengefasst: Darin werden unsere Projekte in Produkte, das Unternehmen, die Lieferkette und den sozialen Bereich unterteilt. Bei den Produkten sind neben dem Schwalbe Recycling beispielsweise die Material- und Produkt-Innovation, die wir intensiv verfolgen, zu nennen. Wir haben mit dem Aerothan-Schlauch ein nachhaltiges High-End-Produkt aus TPU-Material entwickelt oder mit dem GreenGuard einen Pannenschutz im Programm, der zu einem Drittel aus recyceltem Material besteht. Unter der Säule Unternehmen geht es um unsere Mitarbeitenden oder den Bau unserer Unternehmenszentrale, bei dem rund 70 Prozent kreislauffähige Materialien verwendet wurden. Unter Lieferkette möchten wir die Verbesserung der Lebensstandards durch fair gehandelten Naturkautschuk und höhere Löhne sowie bessere Arbeitsbedingungen oder eine nachhaltige Logistik erreichen. Im Bereich Soziales engagieren wir uns für Menschen mit Handicap, unterstützen soziale Projekte, beispielsweise zur Bekämpfung von Kinderarmut, oder fördern den Sport.

Kreislaufwirtschaft statt Wegwerfprodukt: ›Schwalbe‹ Recycling System  289 

Der Fokus meines Beitrags liegt auf einem unserer absoluten Herzensthemen, der Kreislaufwirtschaft. Mit dem Schwalbe Recycling haben wir ein Vorzeigesystem etabliert, das es jeder Kundin, jedem Kunden und allen Händler:innen ermöglicht mitzumachen und einen Teil zum aktiven Umweltschutz und zur Ressourcenschonung beizutragen. Jeder alte Schlauch, der nicht mehr gebraucht oder genutzt werden kann, wird wiederverwertet und in Form von Sekundärrohstoffen in neuen Schläuchen eingesetzt. Für den geschlossenen Produktkreislauf und die stimmige Prozessgestaltung des Schwalbe Recyclingsystems hat die Ralf Bohle GmbH im Dezember 2020 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis Design in der Kategorie »Vorreiter« erhalten. Wir sind Pioniere, und das nicht nur beim Schlauchrecycling – mittlerweile haben wir auch beim deutlich komplizierteren Reifenrecycling einen Durchbruch erzielt! Als erster Fahrradreifenhersteller weltweit. Bis dahin war es aber ein weiter Weg, denn erste Versuche hat Schwalbe bereits im Jahr 1993 gestartet – damals unter ganz anderen Voraussetzungen. Schwalbe Recycling-Historie: Erste Downcycling-Versuche in den 90er-Jahren Grundsätzlich kann man bei der Kunststoff- bzw. Gummiverwertung drei verschiedene Arten unterscheiden. Die bei Reifen allgemein bisher vorherrschende thermische Verwertung kann man schnell abhaken – die Reifen werden verbrannt, die Rohstoffe sind verloren, zudem entsteht klimaschädliches CO2. Die zweite Möglichkeit ist die werkstoffliche Verwertung. Die alten Reifen werden mechanisch aufbereitet, das hergestellte Granulat ist wieder einsetzbar. Am Ende kommt ein neues Produkt heraus, das allerdings nicht das gleiche Performance-Niveau wie das alte hat, es ist minderwertiger. Hier spricht man von Downcycling – aus unseren alten Fahrradreifen sind Ende der neunziger Jahre Gummimatten hergestellt worden. Auf die dritte Recyclingmöglichkeit gehe ich später noch ein. Vor rund 25 Jahren war man vom heutigen technischen Fortschritt noch weit entfernt. Die Nachfrage kam damals direkt aus dem Markt. Am Recycling interessierte Händler fanden nur bei uns Gehör, daher war die Herstellung der Gummimatten aus Fahrradreifen eine große Sache. Mit Abgabe der alten Reifen konnten im Gegenzug auch Gummimatten bestellt werden. Diese waren äußerst beliebt, gerade in den Werkstattbereichen, und extrem widerstandsfähig. Doch bis die Gummimatten dann im Fachhandel lagen, war es ein weiter Weg. Regelmäßig sind Probleme aufgetreten.

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Diese hatten auch damit zu tun, dass ein Fahrradreifen deutlich komplexer aufgebaut ist als ein Fahrradschlauch. Der Kern des Reifens besteht in der Regel aus einem Drahtbündel oder alternativ einem Aramid-Kern, die Karkasse aus Polyamid (Nylon) und die Gummimischung hat ebenfalls mehrere Bestandteile: Neben Natur- und Synthesekautschuk sind dort unter anderem Füllstoffe, Additive und Weichmacher enthalten. Einen Fahrradreifen in seine Bestandteile zu zerlegen, ist also enorm herausfordernd. Dazu später mehr, bei unserem Recyclingprojekt vor über 20 Jahren ging es um die rein mechanische Aufbereitung. Neben der Tatsache, dass es europaweit kaum Unternehmen gab, bei denen so etwas möglich war, führte die Zerkleinerung der alten Fahrradreifen zu ständigen Problemen an der Anlagentechnik. Die Maschinen waren mit den komplexen Reifen überfordert. Hinzu kam der immense logistische Aufwand hinter dem Projekt. Die alten Reifen mussten zu mehreren Dienstleistern in ganz Europa transportiert werden, bis das Gummigranulat fertig war, mit dem die Bodenmatten hergestellt werden konnten. Unsere Motivation damals war es, einen besseren Weg zu finden als die Reifen einfach zu verbrennen. Daher war das Downcycling ein wertvoller Schritt. Unser großes Ziel war aber natürlich auch schon damals, langfristig den Produktkreislauf zu schließen und aus alten Reifen und alten Schläuchen am Ende wieder neue Reifen und neue Schläuche herzustellen. Das Projekt wurde im Jahr 2014 schließlich offiziell eingestellt mit dem klaren Hintergedanken, den Recyclingprozess neu zu denken. Die grundsätzliche Bereitschaft bei den FachhändlerInnen, an einem Recyclingprogramm teilzunehmen, war damals schon überall zu spüren. Die Mitmachquote war ein Antrieb für uns, das Projekt zwar einzustellen, die Forschung für einen alternativen, besseren Recyclingprozess im Sinne der Kreislaufwirtschaft aber intensiv weiterzuverfolgen. Seit 2013 arbeiten wir mit dem EPEA-Institut (Teil von Drees & Sommer) und Professor Michael Braungart zusammen, dem Entwickler des Cradle-toCradle-Prinzips: Danach versuchen wir unsere Produktkreisläufe zu schließen, ohne das Abfall entsteht. Wie in der Natur sollen alle Substanzen in Kreisläufen erhalten bleiben. Die Expertise und Beratung durch EPEA spielt auch bei den Projekten des Schlauch- und Reifenrecyclings eine zentrale Rolle.

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Das Erfolgsprojekt Schlauchrecycling Offiziell ist das Schwalbe Schlauchrecycling dann im Jahr 2015 gestartet, auch hier ist die Vorgeschichte deutlich älter. Erste Fahrradschläuche wurden im Rahmen des Reifenrecyclings zuvor schon parallel gesammelt. Das Schwalbe Recyclingwerk am Produktionsstandort in Indonesien besteht seit 2002. Die gesammelten Schläuche wurden schon damals nach dem Recycling in der Produktion genutzt – ebenso wie viele andere alte Latexprodukte, Dichtungen oder altes Butyl. Auf dem Niveau und dem Qualitätslevel von heute, wo bereits 20 % eines jeden Schwalbe-Standardschlauchs aus recyceltem Altschlauch bestehen und insgesamt 80 % Energie im Vergleich zur Herstellung neuen Butyls eingespart werden, war man damals aber noch nicht. Dafür war enorme Forschungs- und Entwicklungsarbeit mit etlichen Versuchsreihen notwendig, in die wir massiv investiert haben. Gehen wir aber nochmal einen Schritt zurück. Grundsätzlich lassen sich Schläuche im Vergleich zu Reifen recht »einfach« recyceln, denn sie bestehen nur aus einer einzigen Kautschukart, nämlich Butyl. Dadurch ist es möglich, einen Schlauch zu devulkanisieren. Dabei wird der ursprüngliche Prozess zur Produktion eines Schlauchs, die Vulkanisation, umgekehrt. Der eigentliche Prozess ist gar nicht allzu kompliziert, die Schwierigkeit besteht darin, am Ende so hochwertiges Material herauszubekommen, dass man es bei der Produktion neuer Schläuche wieder einsetzen kann. In Kooperation mit unserem Produktionspartner, dem südkoreanischen Familienunternehmen Hung-A, haben wir zahlreiche Versuche durchgeführt und den Prozess technisch nach und nach selbst entwickelt bis zur tatsächlichen Marktreife. Die Schwierigkeit bei der technischen Entwicklung bestand vor allem in der Qualitätssicherung. Wir haben auf der Eingangsseite eine lediglich bedingt definierte Recyclingmasse. Das liegt daran, dass wir uns ganz bewusst dafür entschieden haben, Schläuche ALLER Hersteller anzunehmen und nicht nur unsere eigenen, bei denen wir genau wissen, was »drin« ist. Das liegt daran, dass wir mit unserem Recycling alle Fahrradfahrer ansprechen möchten und in unseren Augen auch alle Altschläuche wertvolle Rohstoffquellen sind. Auf der Ausgangsseite wird aber eine gewisse Qualität eines Sekundärrohstoffs benötigt, die dem Anspruch genügt, sie wieder in die neue Gummimatrix einsetzen zu können. Im Schritt dazwischen passieren chemische Reaktionen, die von Umgebungsparametern wie Druck, Temperatur, Verweilzeit und Feuchtigkeit beeinflusst werden. Im Ergebnis muss man das Zusammenspiel aller Prozess­

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parameter ideal abstimmen, sodass der Output unseren Qualitätsansprüchen für die neue Produktion genügt. Letztendlich haben wir es geschafft, eine eigene Art der Devulkanisation zu entwickeln, um das Qualitätsniveau herzustellen. Das war ein Meilenstein! Im nächsten Schritt wurde die Logistik entwickelt. Der Grundgedanke war dabei: Es allen so einfach zu machen wie möglich, die Einstiegshürde musste niedrig sein. Jede/r HändlerIn kann bis heute die alten Schläuche in jedem Paket bzw. Abfallkarton sammeln, der in Werkstatt oder Laden herumsteht. Da im Handel ohnehin viele Kartons durch Lieferungen anderer Produkte oft »herumliegen«, spart dieses Konzept auch Abfall. Wenn der Karton voll ist, wird ein Retourenlabel gedruckt – der Karton wird vom Versanddienstleister abgeholt und auf Kosten von Schwalbe in unsere Zentrale nach Reichshof geschickt. Viel Überzeugungsarbeit ist bei allen, die mit dem Thema Recycling schonmal in Berührung gekommen sind oder ein Grundverständnis für Nachhaltigkeit mitbringen, gar nicht notwendig. Die Teilnahme ist kostenlos, verursacht wenig Aufwand und hat für Umwelt und Gesellschaft einen riesigen Mehrwert. Genau diese Aspekte des Recyclingprogramms lassen sich gegenüber Endkunden hervorragend vermarkten. Mittels einer Händlersuche werden auf unserer Webseite www.schwalbe.com/haendlersuche alle teilnehmenden FachhändlerInnen aufgelistet. Im Jahr 2015 ist unser Schlauchrecyclingprogramm in Deutschland gestartet. Auch damals bestand schon das Ziel, möglichst viele Länder anzuschließen und es dadurch FahrradfahrerInnen zu ermöglichen, ihren alten Schlauch im Handel abzugeben und nicht wegwerfen zu müssen. Zunächst sind die Niederlande, Belgien und Großbritannien in das Programm integriert worden. Im Jahr 2021 kam die Schweiz hinzu. Die Blaupause ist dabei ein Logistikkonstrukt mit zentralem Sammelpunkt bzw. einem Recyclinghof. Die konzeptionelle Arbeit und Entwicklung dafür ist weit fortgeschritten, wir verfolgen das klare Ziel, in den nächsten Jahren unser Schlauchrecyclingprogramm in Europa großflächig auszurollen. Nach den Investitionen in die Entwicklung und die Anlaufphase lohnt sich das nun auch wirtschaftlich. Wir möchten noch mehr Recyclingmaterial erhalten. Der Abfallschlauch ist für uns ein wertvoller Rohstoff, der eine wichtige Rolle in der Produktion von neuen Schläuchen spielt. Allein im Jahr 2021 haben wir bei Schwalbe über eine Million Altschläuche gesammelt. Unsere Prognosen gehen dahin, dass wir in fünf Jahren voraussichtlich bei über zwei Millionen gesammelten Schläuchen pro Jahr landen.

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JAHR

Rückblick auf die Zahl der über den Fachhandel eingesammelten und recycelten Schwalbe-Schläuche.

Jeder Schwalbe-Schlauch ist weiterhin zu 100 Prozent recycelbar. Umgekehrt besteht bereits heute jeder unserer Standard-Schläuche aus 20 Prozent altem, recyceltem Schlauchmaterial. Weiterhin muss jeder Schlauch langlebig sein und alle unsere Qualitätsansprüche erfüllen. Der Schlauch besitzt für Endkunden eine starke Sicherheitsfunktion, Qualitätsabstriche sind daher ein No-Go. Gleichzeitig würde ein minderwertiges Produkt längerfristig zu einem höheren CO2-Fußabdruck führen.

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Vom Piloten zum Vorzeigeprojekt: Das Schwalbe Reifenrecycling Die Bedeutung des Reifenrecyclings für uns ist hoffentlich deutlich geworden. Um das Thema Reifenrecycling voranzutreiben, haben wir 2018 einen eigenen Recyclingmanager eingestellt, der das Thema und dessen technische Entwicklung vorantreibt. Wie können wir unser Ziel, die geschlossene Kreislaufwirtschaft, erreichen? Hier kommt nun die bereits angesprochene dritte Möglichkeit des Gummirecyclings ins Spiel: die rohstoffliche Verwertung bzw. das chemische Recycling. Hierbei wird die Gummistruktur unter Sauerstoffausschluss thermochemisch behandelt, sodass die makromolekulare Struktur des Verbundstoffes zerstört wird. Es entsteht dabei unter anderem ein Sekundärrohstoff, der als Füll- und Verstärkerstoff in gleichwertige neue Produkte wieder eingebaut werden kann. Der Fachbegriff für diesen Prozess lautet »Pyrolyse«. Das klingt in der Theorie einfach, ist in der Praxis aber hochkompliziert. Dahinter steckt wieder der vom Schlauchrecycling bekannte Grundgedanke: Vorne kommt bei der Pyrolyse ein weitestgehend undefinierter Mix hinein und hinten soll das rauskommen, was man für die Herstellung neuer Produkte, also neuer Fahrradreifen und -schläuche einsetzen kann. Eines der Produkte ist der sogenannte Pyrolysekoks, ein schwarzer, kohlenstoffhaltiger Feststoff, der als Füll- und Verstärkerstoff in neuen Gummimischungen eingesetzt werden kann. Das Problem schon in den neunziger Jahren war, dass es kein Unternehmen gab, dass einen solchen mehrstufigen Prozess im großen Maßstab betreibt. Daher ist auch bei uns sehr viel Arbeit zunächst auf Theorieebene entstanden, zunächst im Labormaßstab, später dann mittels Upscaling auf halbtechnischen und schließlich den Industriemaßstab. Das war möglich, weil im Jahr 2019 der Kontakt zum Unternehmen Pyrum Innovations AG entstanden ist – das Unternehmen, das einen weltweit patentierten Pyrolyseprozess im größeren Maßstab umgesetzt hat. Den ersten Meilenstein hatten wir nach einem halben Jahr erreicht. Erstmals hatten wir es geschafft, einen Fahrradreifen mechanisch überhaupt erst einmal so zu zerkleinern, dass das entstehende Gummigranulat den Anforderungen der nachgelagerten Pyrolyse gerecht wird. Man muss wissen, dass es diesen Prozess zwar im großen Maßstab für PKW- und LKW-Reifen gibt, nicht aber für die filigran aufgebauten und extrem schwer zu zerlegenden Fahrradreifen. Die Anlagen sind dafür in der Regel völlig überdimensioniert.

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Der zweite Meilenstein wurde ebenfalls innerhalb des ersten Jahres vollendet – die ersten Pyrolyseversuche im Labormaßstab wurden erfolgreich abgeschlossen. Wir haben durch diese Experimente also festgestellt: Hier kommt etwas Gutes raus, der Prozess funktioniert. Diese Erkenntnisse haben wir genutzt und schließlich eine Forschungskooperation gemeinsam mit Pyrum und der TH Köln gegründet, um unsere Bemühungen zu intensivieren und weiterzuforschen. Den dritten Meilenstein haben wir dann gemeinsam gemeistert: Die Annahmen aus den Laborversuchen konnten rechnerisch hochskaliert werden für die großtechnische Anlage – Pyrum war in der Lage, Fahrradreifen zu recyceln. Das war ein Riesenschritt für uns. Die Bemühungen haben sich ausgezahlt: Es scheint auch im Großen zu funktionieren, auch wenn sicherlich noch einige Detailfragen zu klären sind. Dadurch sind wir dann den nächsten Schritt gegangen und haben zusätzlich ein Logistikkonzept entworfen und aufgebaut, um das Reifenrecycling auch in der Praxis umsetzen zu können und den nötigen Input (Altreifen) zusammenzutragen. In unserem Pilotprojekt haben wir mit einer dreistelligen Zahl an HändlerInnen geschaut, wie es in der Praxis funktioniert, Stellschrauben verbessert und Feedback gesammelt. Die Qualität des Pyrolysekoks, dessen Optimierung und der Wiedereinsatz sind bis heute Gegenstand der Forschung. Das betrifft den Recyclingprozess selbst, aber auch Schwalbe als Anwender. Die Fragen gehen so weit, dass wir überlegen, wie wir unser Produktdesign im Sinne der Nachhaltigkeit anpassen können. Aktuell – Stand April 2022 – wird der Koks, der bei der Pyrolyse der alten Fahrradreifen herauskommt, in verschiedenen Gummianwendungen beigemischt, somit sinnvoll verwendet und landet so wieder in normalen Produkten, beispielsweise in der Bereifung für Nutzfahrzeuge. Und worauf wir ganz besonders stolz sind: Der erste Fahrradreifen, der ausschließlich Pyrolysekoks und keinen industriellen Koks mehr verwendet, geht in Produktion und wird 2023 vorgestellt. Ausblick Den Kreislauf für unsere beiden Hauptprodukte Schlauch und Reifen tatsächlich zu schließen, ist ein Meilenstein. Als Familienunternehmen haben wir daran seit Jahrzehnten gearbeitet: Aber unser großes (Zwischen-) Ziel ist erreicht. Das Schwalbe Recycling wird in Zukunft für unser Unternehmen eines der zentralen Projekte bleiben – die Arbeit geht weiter.

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Vita Frank Bohle ist seit 2009 geschäftsführender Gesellschafter der Ralf Bohle GmbH, Europas führendem Fahrradreifenhersteller mit der Marke Schwalbe. Der Diplom-Volkswirt, geboren am 5. Februar 1962 in Berg­ neustadt, stieg im Jahr 1990 in das Unternehmen seines Vaters ein. Nach Trainee-Jahren im niederländischen   Vertriebstochterunternehmen baute er die italienische Vertriebstochter auf. Anschließend leitete er fast fünf Jahre die Abteilung Marketing und Kommunikation, bevor er © Schwalbe 1999 zum Geschäftsführer Ver­trieb/Marketing und Mitgesellschafter berufen wurde. Er engagiert sich in Branchenverbänden und als Fahrradlobbyist in Berlin und Brüssel. Frank Bohle ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.

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Die Kultur der Reparatur

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Das Reparieren und die Weiterverwendung von Gegenständen ist ein wichtiges Fundament für ein nachhaltigeres Leben und die Eindämmung des Klimawandels. Die Kultur der Reparatur trägt dazu bei, dass sich Menschen wieder mehr zutrauen, selbst aktiv werden und Verantwortung übernehmen. Zudem wird damit der gesteigerten Geschwindigkeit von Produktzyklen entgegengewirkt. Dieser Ansatz geht weit über die etablierten Formen des DIY oder des früheren Heimwerkens hinaus. Reparieren bezieht sich heute nicht mehr nur auf Dinge des alltäglichen Lebens, sondern auch auf andere relevante Bereiche und Sachverhalte. Reparieren hat mit Ermächtigung zu tun, denn wer etwas reparieren möchte, muss zuvor die Funktionsweise verstanden haben. Wir müssen wieder lernen, mit Dingen umzugehen, die eine eigene Wirklichkeit besitzen. Nach dem Gerätekauf ist heute schon bald wieder vieles veraltet oder defekt (sog. »geplante Obsoleszenz«). In immer kürzeren Abständen geben Maschinen, Gerätschaften und Alltagsprodukte ihren Geist auf, weil sie ein eingebautes Verfallsdatum haben, das Konsumenten zwingt, sofort neue zu kaufen. Zugleich wird mit ständig wechselnden materiellen Gütern das Vakuum an Sinn gefüllt. Doch seit einigen Jahren gibt es eine neue kulturkritische Haltung: Statt kaputt zu machen, was einen kaputt macht, wird es repariert. Ein ganzheitlich ausgerichteter Nachhaltigkeitsansatz, der die Reparierbarkeit von Produkten einschließt, muss vieles berücksichtigen: ressourcen­ schonende Herstellung und die verwendeten Materialien, sozialverträgliche Arbeitsbedingungen in der Produktion, fairer Handel und fairer Preis, energieeffizienter Verbrauch bei Herstellung, Lieferung und im Betrieb, sparsame und recyclingfähige Verpackung, möglichst geringe oder gar keine gesundheitliche Belastung des Verbrauchers während der Nutzung und letztendlich die Recyclingfähigkeit bzw. die problemlose Rückführung des Produkts in natürliche Kreisläufe, Praxistauglichkeit, Langlebigkeit, Qualität und

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Reparaturfähig­keit (Quelle: Beschaffungskriterien der memo AG auf https:// www.memoworld.de/sortiment/beschaffungskriterien/). Reduktionen, Reparaturen und Recycling, die alle mit dem Ende der »geplanten Obsoleszenz« verbunden sind, schaffen neue Beschäftigungsarten und können glücklich machen, weil es sinnvolle Themen und Aufgaben sind, die zugleich mit den großen Fragen des Lebens zusammenhängen: Was ist mir wichtig? Was bleibt am Ende? Was soll weitergegeben werden? Was hält das eigene Leben und die Gesellschaft im Inneren zusammen? Unterschiedlichste Formen des kollaborativen Produzierens, Reparierens und Teilens entstehen heute jenseits von Markt und Staat. Sie fordern den industriellen Kapitalismus heraus – und überschreiten ihn zuweilen auch. Anfang 2014 begann das Netzwerk REPARATUR-INITIATIVEN mit seiner Arbeit. Seitdem treffen sich an hunderten Orten Menschen, um in Repair-Cafés, Elektroniksprechstunden, Reparier-Bars oder Ganz-Mach-Läden kaputte Alltagsgegenstände wieder funktionstüchtig zu machen. Auch der Runde Tisch Reparatur ist ein breit aufgestelltes Netzwerk aus den Bereichen Handwerk, Umwelt- und Verbraucherschutz, Wissenschaft, Beratung und ehrenamtlicher Reparatur. Von der Bundesregierung fordern sie, das herstellerunabhängige Recht auf Reparatur zu stärken und reparaturfördernde Maßnahmen umzusetzen. Reparieren muss für Bürger:innen einfacher und für unabhängige Reparaturdienstleister rentabler werden. Zentral dafür ist ein gemeinsames europäisches Vorgehen. Was es braucht: • produktgruppenübergreifende Reparaturanforderungen, die reparaturfreundliches Produktdesign vorschreiben • deutschlandweite Angebote, die es ermöglichen, Erfahrungen mit Reparaturen zu sammeln • Reparatur-, Miet- und Second-Hand-Angebote. Um Aufmerksamkeit für das Reparieren als handwerkliche Kompetenz und für die Reparaturcafés zu schaffen, hatte der Reparaturaktivist Michel Heftrich 2019 den Plan gefasst, unter dem Motto »Mit Reparatur zur Kreislaufwirtschaft« 5000 km mit einem dreirädrigen E-Lastenraddurch Europa zu fahren. Zu seinem Plan gehörte, in einem Vierteljahr mindestens 50 Reparatur-Initiativen zu besuchen, mit ihnen gemeinsam zu reparieren und die Aufmerksamkeit

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für das Reparieren als handwerkliche Kompetenz und für die Reparaturcafés zu schaffen. Sein Ansatz ähnelt der traditionellen Walz der Handwerkszünfte: Hier begeben sich Handwerksgesellen auf Wanderschaft und arbeiten unterwegs in Werkstätten mit, um neue Arbeitspraktiken und fremde Orte kennenzulernen. Leider musste die Tour aufgrund der Corona-Krise verschoben werden. Die Kultur der Reparatur basiert auf Kenntnissen, auf Können, auf analytischem Denken, auf Lebensklugheit, Wertschätzung und Achtsamkeit. Wie wir uns gegenüber materiellen Dingen verhalten, sagt auch etwas über uns als Menschen aus. In früheren Zeiten war es normal, defekte Gegenstände zu reparieren. Sie wegzuwerfen hat sich erst in den letzten Jahrzehnten etabliert. In Deutschland gibt es bisher nur eine ›Kreislaufwirtschaft‹, die das »richtige Wegwerfen« im Blick hat. Das Recht auf Reparatur stärkt und fördert allerdings eine echte Circular Economy, die den Erhalt von Ressourcen und Produkten in den Mittelpunkt stellt. Der Name Kreislaufwirtschaft ist also dem veränderten Ansatz geschuldet, Abfälle als Ressource und als Wertstoffe zu sehen, sie entsprechend zu sortieren, zu behandeln, Recyclingmaterialien zu gewinnen und diese wieder in die Stoffkreisläufe einzuspeisen (Quelle: Politikmonitor Nachhaltigkeit 3/2021). Neuere deutschsprachige Studien verwenden stattdessen häufig den englischen Begriff »Circular Economy«. Dieser meint »echte« Kreislaufwirtschaft unter Einbezug des Produktdesigns, der Produktentwicklung und der Sekundärrohstoffmärkte. Viele Reparaturwerkstätten stehen heute aber auch vor der Frage, ob sie aufgeben oder weitermachen sollen. Häufig sind Ersatzteile kaum verfügbar oder überteuert, oder es fehlen Nachwuchskräfte. Laut Koalitionsvertrag möchte die Bundesregierung die Reparierbarkeit von Produkten und den Zugang zu Ersatzteilen und Reparaturanleitungen verbessern sowie verpflichtende Update-Zeiträume für digitale Produkte einführen. Dies sind wichtige Maßnahmen, um die Lebensdauer von Produkten zu verlängern. Wer repariert, bewahrt Erinnerungen, baut sie um und setzt Dinge wieder in Gang in einer reparaturbedürftigen Welt, die durch handwerkliche Intelligenz wieder begreifbar wird. Und wer selber eine kleine private Upcycling-Werkstatt gründet, kann mit kreativen Ideen und handwerklichem Geschick schöne und praktische Produkte herstellen.

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Weiterführende Informationen: Auf der Plattform www.reparatur-initiativen.de lassen sich Reparaturdaten selbst einpflegen, damit bald eine gemeinsame Statistik des ehrenamtlichen Reparierens entsteht und wächst. Gemeinsam mit den Partnerinstitutionen Runder Tisch Reparatur und Open Repair Alliance werden hier die Reparaturergebnisse im Netzwerk erfasst, damit das zivilgesellschaftliche Reparieren auch zahlenmäßig sichtbar wird und eine stärkere Stimme bekommt. Runder Tisch Reparatur: www.runder-tisch-reparatur.de Anleitungen zum Selberreparieren: www.kaputt.de Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Circular Thinking 21.0: Wie wir die Welt wieder rund machen. Amazon Media EU S.à r.l. 2017. Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.): Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis. Transcript-Verlag, Bielefeld 2016. Repairs for Future: www.repairs-for-future.eu Reparatur-Initiativen: www.reparatur-initiativen.de Repair Café: www.repaircafé.de Rückenwind Berlin e. V.: https://rueckenwind.berlin/ iFixit – Das kostenlose Reparaturhandbuch: https://de.ifixit.com/ iRentit – Ausrüstung mieten: https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/produkte/ iRentit-ausruestung-mieten.php Alexandra Hildebrandt: Repairs for Future: Warum wir handwerkliche Intelligenz brauchen: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2020/10/repairs-for-future-warum -wir.html Alexandra Hildebrandt: Recht auf Reparatur statt Kaufen für die Müllhalde: https://dralex andrahildebrandt.blogspot.com/2018/11/recht-auf-reparatur-statt-kaufen-fur.html Alexandra Hildebrandt: Gesellschaft in Reparatur. Was wir können sollten, um sie wieder ganz zu machen: https://dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2018/05/gesellschaftin-reparatur-was-wir.html Alexandra Hildebrandt: Was man über das Recht auf Reparatur wissen sollte: https:// dralexandrahildebrandt.blogspot.com/2018/09/was-man-uber-das-recht-auf-reparatur. html Matthew Crawford: Die Wiedergewinnung des Wirklichen – Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung. Ullstein Verlag, Berlin 2016.

Die Kultur der Reparatur  301 

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Nachhaltigkeit begreifen: Was wir gegen die dummen Dinge im Zeitalter der Digitalisierung tun können. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2021. Stefan Schridde: Murks? Nein danke! Was wir tun können, damit die Dinge besser werden. Oekom Verlag München.

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Ein Stück Freiheit: Fahrräder für Geflüchtete

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Noch nie in der jüngeren Geschichte befanden sich so viele Menschen gleichzeitig auf der Flucht. Die Flüchtlingshilfe-Organisation der Vereinten Natio­ nen UNHCR schätzte die Anzahl der Menschen, die ihre Heimat aus verschiedenen Gründen verlassen mussten, Mitte 2021 auf über 84 Millionen, mit weiter steigender Tendenz.1 Viele Geflüchtete, deren Leben vom Warten geprägt ist, haben das Gefühl, gelähmt und vom Alltag abgeschnitten zu sein. Die Gegenwart schwebt zwischen dem Leben, das sie geführt haben, und dem, das sie an einem sicheren Ort zu führen hoffen. Viele von ihnen möchten etwas tun, weil ihre Zeit nicht vergeudet werden soll. Die Art, wie wir Geflüchtete behandeln, ist ein Spiegel unserer Kultur. Echte Anteilnahme hat nicht nur mit emotionaler Bindung zu tun, sondern auch mit konkretem Handeln und Maßnahmen, die den Geflüchteten Beweglichkeit verschaffen. Das Fahrrad spielt dabei eine wichtige Rolle – vor allem bei den Menschen, die noch in Sammel­ unterkünften leben oder gerade ihren eigenen Hausstand gründen und vom ÖPNV ausgeschlossen sind, weil sie sich ihn nicht leisten können und in vielen Kommunen nicht kostenfrei nutzen dürfen. Das Fahrrad macht sie mobiler und ermöglicht ihnen auch, mehr am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Fahrradwerkstätten mit und für Geflüchtete schaffen Beschäftigung und das Gefühl von Freiheit. Im Folgenden werden einige vorgestellt. SocialRide ist eine soziale Fahrradwerkstatt in München für und mit Geflüchteten, die hier die Möglichkeit erhalten, sich selbst Mobilität zu verschaffen. Auch Fahrradprojekte werden mit Know-how und Material unterstützt. Meistens sind die Fahrräder Spenden von privaten Personen. Zusammengearbeitet wird aber auch mit Studentenwohnheimen, Wohnanlagen und anderen größeren Einrichtungen. Ersatzteile werden mit verschiedenen Fördergeldern finanziert. Nach dem Motto »Pimp My Bike« werden nur die Kosten 1 https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/PDF/UNHCR/ MidYearTrends_Report_2021.pdf

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für die Ersatzteile des Fahrrads bezahlt und zusätzlich ein Betrag, der anzeigt, wie viel einem selbst das Fahrrad bzw. die Arbeit daran wert ist – dieser Betrag fließt dann in die Finanzierung neuer Ersatzteile für Geflüchtete. https://social ride.de Auch der Arbeitskreis Fahrrad in Bamberg sammelt gespendete Fahrräder, Kinderräder und Roller, zudem auch Helme, Kindersitze, Ersatzteile und Werkzeug. Auch hier werden Räder repariert und bei Bedarf an Flüchtlinge abgegeben. Zudem werden Flüchtlinge in Workshops geschult und mit Werkzeug ausgestattet. https://freundstattfremd.de/arbeitskreise/arbeitskreis-fahrrad/ Der Verein zur Förderung des Patenprojektes München e. V. fördert seit 2014 gemeinsam mit der Bürgerstiftung München die Fahrrad-Workshops für Geflüchtete der offenen Werkstatt WerkBox3. Die Teilnehmer können dort unter Anleitung eines Zweiradmechanikers ein eigenes, verkehrstüchtiges Fahrrad bauen. Menschen mit Migrationshintergrund können kostenlos an dem Projekt teilnehmen. Für die »Fahrräder für Flüchtlinge«-Aktion benötigt die WerkBox3 immer wieder Fahrräder. Wer eines spenden möchte oder sich für die Kurse interessiert, findet alle Informationen auf der Website von WerkBox3. www.werkbox3.de Ziel von Rückenwind – Bikes for Refugees ist es ebenfalls, Flüchtlinge mobiler machen. Der gemeinnützige Verein betreibt in Berlin eine Fahrradwerkstatt, in der Menschen mit und ohne Fluchterfahrung zusammenarbeiten. Um ein gutes Ankommen und die Möglichkeit sich unabhängig in der Stadt zu bewegen zu fördern, wird Newcomern angeboten, sich hier ein Fahrrad auszusuchen und zu reparieren. Dabei werden sie vom Team unterstützt und motiviert, sich regelmäßig hier zu engagieren, falls ihnen das Instandsetzen Freude bereitet hat. Die Fahrräder, die vergeben werden, sind Teil eines Recyclingprozesses: Ein altes Rad wird vom Verein gespendet und ins eigene Lager gebracht. Das Fahrrad wird ausgewählt und mit Ersatzteilen von anderen alten Fahrrädern bestückt. Das Fahrrad wird fertig repariert und wieder durch die Stadt gefahren. Zudem wird wöchentlich für alle Berliner:innen die Selbsthilfewerkstatt geöffnet. Durch diese Arbeit fungiert das Team als Trittbrett für Menschen mit und ohne Fluchterfahrung in den Arbeitsmarkt. Durch die gemeinsamen, praktischen Erfolgserlebnisse ist eine diverse Community entstanden. In den Sommermonaten werden offene Fahrradtouren und ganzjährig Aktionen in der Gemeinschaft veranstaltet. https://rueckenwind.berlin

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Der Verein Westwind Hamburg e. V. wurde 2015 gegründet, als alleine in Deutschland über eine Million Menschen Schutz vor Krieg, Terror und Gewalt suchten. Da die Unterkünfte der Geflüchteten oft weit abgelegen waren, entstand die Idee, ihnen schnell, unbürokratisch und kostengünstig Fahrräder zur Verfügung zu stellen und ihnen damit Teilhabe am Leben in der Stadt zu ermöglichen. Bis heute haben rund 30 ehrenamtliche Helfer in zwei Werkstätten mehr als 2.000 gespendete Räder verkehrssicher und wieder fit gemacht und an Bedürftige mit und ohne Migrationshintergrund übergeben. https:// www.westwind-hamburg.de Die Beispiele zeigen nicht nur, wie wichtig es ist, Menschen in Not zu unterstützen und sie im wahrsten Sinne des Wortes wieder beweglich zu machen, sondern sie haben auch einen ganz wichtigen nachhaltigen Aspekt: Altes wird nicht vernichtet, sondern repariert. Damit wird nicht nur den Geflüchteten, sondern auch ausgedienten Rädern ein neues Leben geschenkt.

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Verkehrskonzepte der Zukunft – 10 Thesen

Stefan Carsten Der Strukturwandel der Wirtschaft, sich verändernde gesellschaftliche Anforderungen in Bezug auf Mobilität und vor allem das Streben nach einer nachhaltigen und gesunden Zukunft führen zu einer Neubewertung von Stadtraum und althergebrachten Verkehrsstrukturen. Die Straße für Autos wird immer stärker zum negativen Standortfaktor; neue Mobilitätsräume hingegen, also Räume, die einen Zugang zur Mobilität bieten, zum Standortfaktor im positiven Sinne. Eine neue Perspektive auf die Mobilität im Wandel begreift Städte im Aufbruch: Schließlich befinden wir uns nicht mehr im Zeitalter der Industrie, sondern im Zeitalter des Wissens, der Kreativität und der Konnektivität. In diesem Sinne werden sich Städte dramatisch verändern müssen – um im internationalen Wettbewerb nicht abgehängt werden – und damit auch die Mobilität. Wo heute noch Autos parken, stehen zukünftig Fahrräder, E-Scooter oder einfach nur eine Bank zum Ausruhen. Wo heute noch Autos im Stau stehen, ist zukünftig Platz für Mikromobilität und endlich wieder Einzelhändler, deren Umsätze steigen. Tankstellen werden verschwinden. Stattdessen werden Mobilitätsstationen, Schnellladesäulen oder Kulturprojekte in diese Orte einziehen. Und der ländliche Raum profitiert vor allem von autonomer Mobilität, das Teil eines modernen ÖPNV-Angebotes ist und weit mehr als nur Busse und Bahnen anbietet. Wer zukünftig in den ÖPNV steigt, nutzt auch die Dienste von privaten Akteuren und integriert somit Fahrräder, Mopeds oder Carsharing-Dienste in das persönliche Mobilitätsportfolio. Denn Mobilität bedeutet übersetzt eben nicht nur Beweglichkeit, sondern Auswahl und Alternativen, um unabhängig und flexibel am Verkehr teilzunehmen. Die alten Abhängigkeiten mit dem eigenen Auto vor der Tür gehören somit zur Vergangenheit. Zehn Thesen zur Zukunft der Mobilität skizzieren nicht nur diesen Transformationsprozess, sondern zeigen auch neue Räume der Mobilität auf. Den Reigen eröffnen die drei zentralen Paradigmen zur Zukunft der Mobilität.

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Diese drei Paradigmen integrieren die heute denkbaren verkehrlichen lokalen Strategien – mit Ausnahme von Drohnen natürlich.

1. Active Lifestyles – Aktive und gesunde Mobilität in neuen Räumen Active Lifestyles ist dank der Corona-Pandemie zum zeitgenössischen Leitbild vieler Städte avanciert. Das Paradigma ist auf Aktivität und Gesundheit ausgerichtet. Vor allem das Fahrrad – aber auch Fußgänger – stehen im Mittelpunkt. Elektroantriebe sorgen dafür, dass sogar Städte wie zum Beispiel Zürich, die dafür topografisch eigentlich nicht geeignet sind, plötzlich von Radfahrerinnen und Radfahrern entdeckt werden. Eine Stadt, deren Raum aktive und sichere Mobilität fördert – sowohl zu Fuß als auch mit dem Fahrrad – ist sozial erfolgreicher und wohlhabender, die Städter sind gesünder und glücklicher, der Einzelhandel floriert (Rajé, Saffrey 2016). Während jeder gefahrene Kilometer mit dem Auto die Volkswirtschaft 0,11 € kostet, gewinnt sie bei jedem gefahrenen Kilometer mit dem Fahrrad 0,18 € und beim zu Fuß gehen 0,37 €. Addiert man diese Werte für die Europäische Union, dann ergeben sich Kosten von 500 Milliarden Euro für das Auto und einen Nutzen von 24 Milliarden, bzw. 66 Milliarden pro Jahr für Fahrrad bzw. Fuß (Gößling 2016). Die Zukunft wird auf der Basis von elektromotorischer Unterstützung viele neue Fahrradkonzepte hervorbringen: 2-, 3- und sogar 4-rädrige Varianten. Alles und noch viel mehr ist vorstellbar. Die ersten Cross-over-Konzepte der Fahrradbranche sind schon alt, aber ebenso erfolgreich und etabliert. Das Cargobike gibt es mittlerweile schon fast 100 Jahre – und dank E-Antrieb ist es heute begehrter denn je. In den Städten ist es mittlerweile zum Statussymbol aufgestiegen, als ein Konzept, das man unabhängig von der eigentlich angedachten Nutzung haben will. Cargobikes symbolisieren Freiheit und Unabhängigkeit, sie ermöglichen einen Lebensstil, der urban wie suburban funktioniert. Gleichzeitig bieten Cargobikes gerade im städtischen Bereich echte Vorteile gegenüber dem Auto. Die Hälfte aller Autofahrten ist kürzer als fünf Kilometer, und der Streckenvergleich zeigt, dass E-Bikes im Stadtverkehr bis zu einer Entfernung von etwa siebeneinhalb Kilometern das schnellste Verkehrsmittel sind (vgl. Umweltbundesamt 2020). Cargobikes haben ein enormes Potenzial, sowohl für professionelle Nutzer (Unternehmen) als auch für private Nutzer (Haushalte). Untersuchungen zeigen, dass Lastenfahrräder in Zukunft eine Schlüsselrolle in der städtischen Logistik spielen werden, indem sie LKW-Transporter bei 32 Prozent der Lieferfahrten und bei 50 Prozent der

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Dienstfahrten ersetzen. Deswegen gehen Prognosen davon aus, dass rund 2 Millionen Cargobikes im Jahr 2030 verkauft werden. Und auch der Fahrradmarkt boomt. In Europa werden im Jahr 2030 rund 30 Millionen Fahrräder jährlich gekauft – womit der Fahrradabsatz insgesamt auf mehr als das Doppelte der derzeit in der EU pro Jahr zugelassenen Pkw ansteigt. Besonders starken Anteil am Wachstum werden E-Bikes haben: von 3,7 Millionen verkauften Rädern im Jahr 2019 auf 17 Millionen im Jahr 2030 (Cycling Industries Europe 2020).

2. Seamless Mobility – Nahtlose Verknüpfung aller zur Verfügung stehender Angebote Seamless Mobility beschreibt die nahtlose Integration und Vernetzung von Anbietern und Fahrzeugen. Voraussetzung dafür ist die ubiquitäre Verfügbarkeit von Daten und Informationen. Das zugrunde liegende Leitbild ist eine situativ-optimierte Mobilität: die Möglichkeit, an jedem Ort und zu jeder Zeit das optimale Mobilitätsangebot nutzen zu können. Rückgrat und wesentlicher Integrator dieses Paradigmas ist der öffentliche Personennahverkehr. Dieser wird sich jedoch weiter entwickeln müssen – in vielerlei Hinsicht, um tradierte Praktiken über Bord zu werfen: Sharing von Fahrrädern, E-Scootern und Mopeds, neue Prinzipien des Ridepooling und Ridehailing1 auf der Basis neuer digitaler Prinzipien. Fahrkartenautomaten werden nicht mehr Teil dieser Zukunft sein. Vielmehr bestimmt das Miteinander von privaten und öffentlichen Akteuren, von physischen wie digitalen, von kollektiven und individuellen Prinzipien Seamless Mobility. Die Abrechnung erfolgt am Ende des Monats. Aufgrund des weiteren Zuzugs in die urbanen Stadtregionen müssen bis 2030 mindestens 30 Prozent mehr Fahrgäste befördert werden als vor Corona. Es müssen also nicht nur die Fahrgäste davon überzeugt werden, wieder den ÖPNV zu nutzen, sondern auch mit voller Kraft der Ausbau der Infrastruktur und Dienste weiter vorangetrieben werden, um all die zusätzlichen Kundinnen und Kunden auch gut an das Ziel zu bringen. Das geht nur, wenn der ÖPNV 1 Beim Ridepooling handelt es sich um die Bündelung von Fahrtanfragen. Typischerweise kommt dieses Prinzip bei On-Demand-Verkehren zum Einsatz. Anstatt Fahrgäste einzeln zu befördern, werden beim Ridepooling Fahrten mit ähnlichen Routen zusammengelegt. Ridehailing (engl. hail, dt. herbeirufen) bezeichnet beispielsweise die Nutzung eines Taxis oder eines anderen Fahrdienstes, wie Uber oder FreeNow.

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sich zukünftig vor allem als Mobilitätsplattform versteht, digitale Dienste etabliert, so wie durch die Integration von ÖV und Ridehailing bereits vereinzelt geschehen. Das Fahrrad wird ein wichtiger Bestandteil der zukünftigen ÖPNV-Strategie. Die Integration von Fahrrädern in das Dienstangebot gehört ebenso dazu, wie die Bereitstellung attraktiver und sicherer Abstellmöglichkeiten (so wie die Fahrradparkhäuser in den Niederlanden) als auch die besseren Mitnahmemöglichkeiten in den Fahrzeugen (räumlich und tariflich). Aber der ÖPNV wird sich immer stärker privaten Angeboten öffnen. Wichtige Akteure sind demgemäß eine Kombination aus international agierenden Mobilitätsanbietern aus den Bereichen Ridehailing und Ridepooling, Sharing und Mikromobilität, Buchungsplattformen, Energie-, sowie Karten- und Geodienste. Finanz- und Bezahldienste komplementieren die Ökosysteme. Das Ausbreiten und Ineinandergreifen sämtlicher Dienste lässt sich unter anderem an der Kooperation von Google Maps mit der Deutschen Bahn ablesen: Neue Features ermöglichen die Liveauskunft über Zugverbindungen und erleichtern den Kauf von Bahntickets direkt über die App (Deutsche Bahn 2021).

3. Next Automobility – elektrische, autonome und geteilte Individualmobilität Next Automobility beschreibt die Fortsetzung der automobilen Kultur unter neuen Vorzeichen: elektrisch, autonom und vernetzt, aber noch immer individuell. Der Wandel in Richtung Elektrifizierung und Vernetzung ist bereits unwiderruflich auf den Weg gebracht. Beide werden sich mit hoher Diffusion in die Märkte ergießen. Die Batterie als Antriebsmodell hat gewonnen, der Verbrennungsmotor wird einem schnellen Ende entgegenblicken. Und auch die Autonomisierung wird schneller in den Städten präsent sein, als von vielen erwartet. Das vollautomatisierte Fahren, das noch einen Sicherheitsfahrer mit an Bord hat oder fernüberwacht wird, wird voraussichtlich noch im Jahr 2022 in Deutschland eingeführt (in München wird das erste RoboCab in Kooperation von SIXT, MOBILEYE und MOOVIT nutzbar sein). Was bedeutet diese Entwicklung für die Debatte einer autofreien (Innen)Stadt? Chance und Risiko zugleich. Werden autonome Kapseln für den ÖPNV in diesen Räumen frei fahren dürfen? Natürlich. Und wenn die gleichen Kapseln für private Zwecke genutzt werden? Ein klares Jein, denn schließlich könnten diese Kapsel anschließend wieder öffentlich genutzt werden. Diese Fragen begleiten die Forderungen nach autofreien Räumen noch viel zu selten, dabei ist die Zukunft in diesem Sinne bereits ausgebreitet. Die Digitalisierung von physischen

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Infrastrukturen ist für Städte und Kommunen eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt noch steuernd eingreifen zu können. Autos werden heute vor allem gewerblich gekauft und genutzt. Darüber hinaus geht der Trend zu immer flexibleren Finanzierungs- und Nutzungsmodellen. Das Auto-Abo, Leasing, Miete und immer differenziertere Sharing-Optionen treiben den Markt in eine neue Richtung. Vor allem Carsharing entkommt seiner selbst definierten Nischenrolle endlich und diffundiert in immer kleinere Städte und Dörfer. In Zukunft ist das Auto also auch nur noch ein Teil einer integrierten Mobilität.

4. Von einer industriellen Automobilzu einer wissensbasierten Mobilitätskultur Während die mobile Gesellschaft sich über die Jahre und Jahrzehnte stetig verändert hat, ist eines immer gleichgeblieben: Straßen. Wir kaufen übers Internet Waren und Lebensmittel, wir bilden uns ein Leben lang weiter und versuchen uns gesünder und nachhaltiger zu ernähren, führen Konferenzen in vielen Teilen der Welt und dies nahezu parallel. Aber gleichzeitig ist die Nachfrage nach immer größer werdenden Autos auf den immer gleichen Straßen ein wesentlicher Teil der verkehrlichen Realität. Aber die Verkehrswende realisiert sich immer stärker, weil sich Städte und ihre Räume verändern und immer mehr Akteure begreifen, dass vor der Verkehrswende die Mobilitätswende kommen muss. Und vor der Mobilitätswende die Raumwende. »Einige Städte haben schon früh verstanden, dass es neue Anforderungen zu erfüllen gilt, um sich erfolgreich für die Zukunft aufzustellen – ökonomisch, sozial und ökologisch. Das ist nicht nur eine Frage des Stadtmarketings, sondern auch der baulichen Gestaltung der Städte selbst, die sich in einem ständigen Attraktivitätswettbewerb um Bewohnerinnen und Bewohner, Touristinnen und Touristen sowie um Ansiedlungen von Unternehmen befinden.« (Reckwitz 2018) Straßen sind die Repräsentanten einer industriellen Gesellschaft. Sie sind gebaut worden, um die Industrie mit Arbeitskräften und mit Rohstoffen zu versorgen. Parkplätze schafften die Voraussetzung für eine effiziente Logistik in diesem Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell – für Menschen und Maschinen. Der männliche Vollzeitbeschäftigte pendelte in diesem System morgens zur Arbeit und kehrte abends zu seiner Familie zurück. Straßen sind die historische Gegenwart unserer Zeit und unserer Räume.

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Mobilitätsräume sind dagegen die gegenwärtige Zukunft: Die Phasen der Immobilität, hervorgerufen durch die Corona-Lockdowns, wurden in jeglicher Beziehung zu einem Augenöffner. Als der Himmel plötzlich frei von Kondensstreifen, die Luft von Abgasen befreit und sauberer denn je war und als der Lärm der Stadt auf ein Minimum reduziert wurde, zeigte sich noch einmal deutlich, wie stark die urbane Lebensqualität mit ihrer Mobilität verknüpft ist, und welche Bedeutung der öffentliche Raum in diesem Transformationsprozess einnimmt. Der Wirtschaftsstandort Deutschland leidet unter der Automobilität: Rückgänge im Einzelhandel, eine Gesellschaft im Stau, Luft- und Lärmverschmutzung sind nur einige Aspekte, die eine autoabhängige Gesellschaft verschuldet hat. Die lebenswertesten Städte dieser Welt (allen voran Auckland, aber auch Wien oder Zürich) und auch die smartesten Städte (Singapur, Zürich und Oslo) finden sich überall, nur nicht in Deutschland, die in keinem der genannten Rankings unter den Top 10 zu finden ist (Economist 2021, IMD 2021). Bis zu 60 Prozent des öffentlichen Raums werden von Autos genutzt, egal ob bewegt oder geparkt (Agora Verkehrswende 2018). Ein Auto steht durchschnittlich 23 Stunden am Tag. Anders gesagt: ein privates Auto besetzt die Hälfte des öffentlichen Raumes in einer Stadt. Und dass, obwohl dieser Raum längst für eine zukunftsfähige Entwicklung benötigt wird. Doch die Umwidmung ist in vollem Gange. Die Stadt Heidelberg positioniert sich auch im internationalen Diskurs sehr pointiert als die Stadt, in der Autos nicht willkommen sind. Damit schafft sie die Grundlage für Investitionen und wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit. Andere Städte bauen noch Stadtautobahnen.

5. Road Diet – Straßen für Autos weichen Mobilitätsräumen Heute wissen wir, wenn Straßen gebaut werden, folgen nur noch mehr Autos. Und mit ihnen die negativen Folgewirkungen. Heute leben etwa 4,5 Milliarden Menschen in Städten – 60 Prozent der Weltbevölkerung. Im Jahr 2050 werden mehr als 70 Prozent der Bevölkerung in Städten leben. Doch die Lebensqualität ist katastrophal. Rund neun Millionen Menschen sterben jedes Jahr durch die schlechte Luftqualität in Städten. Der Verkehrssektor ist für 30 Prozent der gesamten CO2-Emissionen in der Europäischen Union verantwortlich (davon hat der Straßenverkehr einen Anteil von über 70 Prozent). Während in allen anderen Wirtschaftssektoren die Emissionen im Vergleich zum Jahr 1990 gesenkt werden konnten, steigen sie im Verkehrssektor. Auch Lärm hat einen signifikanten Einfluss auf die Lebensqualität in Städten. Allein in Europa

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sind mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, d. h. über 100 Millionen Menschen, krankmachendem Lärm von über 55 Dezibel ausgesetzt. Dies ist die Schwelle, die eine gesunde Umwelt von einer ungesunden Umwelt trennt. Verkehrslärm verursacht zwischen 80–85 Dezibel. Lärm verkürzt die Lebenserwartung um durchschnittlich 3–4 Jahre. Davon betroffen sind vor allem die gesellschaftlichen Gruppen, die sich ihren Wohnort nicht aussuchen können. Deswegen bauen Städte ihren Straßenraum zurück, zugunsten von FußgängerInnen, RadfahrerInnen und dem ÖPNV. Der öffentliche Raum wird neu aufgeteilt und alle profitieren dann – sogar die AutofahrerInnen, die trotzdem noch immer mit dem Auto fahren wollen oder müssen. Sie sind in der Regel schneller unterwegs. Denn nicht nur die Räume werden attraktiver, sondern auch das Autofahren, wie unzählige Beispiele auf der ganzen Welt zeigen. Immer mehr Städte passen ihre Verkehrsstrategie an die neuen Bedingungen an. Allein in Berlin werden aktuell 3.000 Kilometer Radwege geplant und umgebaut. Nicht immer auf ehemaligen Autostraßen – aber immer öfters.

6. Unparking – Wegfall von Parkplätzen ermöglicht neue Nutzungen Einer der symbolträchtigsten und gleichzeitig einflussreichsten Räume für eine nachhaltige Mobilität- und Stadtentwicklung ist der Parkraum. Parkplätze sind zudem die vielleicht ineffizienteste Nutzung des öffentlichen Raumes – es sei denn Parkraumgebühren fließen direkt dem öffentlichen Verkehrsangebot zu – wie in Wien. So werden allein in Paris 50 Prozent des öffentlichen Raumes von privaten Autos okkupiert. Ein Anteil, der die Verwaltung dazu veranlasst hat, radikal gegenzusteuern. 70.000 öffentliche Parkplätze werden aktuell entfernt und/oder umgewidmet, zum Beispiel durch Umwandlung von Auto- zu Fahrrad- oder sonstigen Mikromobilitäts-Stellplätzen, durch die Neugestaltung von  Grün- und öffentlichem Raum  oder durch ein konsequentes  Parking-as-a-Service-Angebot. In Bestandsquartieren wie in Neubauten werden immer häufiger zur Verfügung stehende Parkplätze als Teil eines digitalen Quartier-Ökosystems angeboten. Der US-amerikanische IT-Anbieter Reef Technology vermarktet bereits mehr als zwei Millionen Parkplätze an über 5.000 Standorten. Ein Quartier wird damit zum effizienten Serviceangebot – und die Ressource Parkraum kann losgelöst von der Immobilie gemakelt werden. Der Anreiz für die Bewohnerinnen und Bewohner: Je weniger geparkt wird, desto kostengünstiger. Der Vorteil für die Stadtgesellschaft: attraktive Lebensumfelder.

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Analysen zum Unparking zeigen das hohe Potenzial von Maßnahmen für den öffentlichen Raum, die durch innovative Mobilitätskonzepte zu erreichen sind. In Singapur nimmt das Parkraum-Angebot eine Fläche von 15,8 km2 ein (entspricht 2,2 Prozent der Gesamtfläche Singapurs).  Diese Zahlen basieren auf 676.000 Autos und  1.370.000 Parkplätzen.  Jede Person, die ein  privates Auto  nutzt, benötigt  also  Parkplätze an jedem  der Ziele neben einem reservierten Platz zu Hause. In Zukunft soll dieser Bedarf auf 2,2 km2 (0,3 %) reduziert werden. Die Annahme dahinter lautet: Unter den Bedingungen von OnDemand-Mobility  holen und bringen Autos die Passagiere genau am Startund Zielort all ihrer Fahrten ab und suchen sich dann woanders einen Parkplatz. Dafür braucht es 89.000 Fahrzeuge und 189.000 Parkplätze – 87 Prozent (bzw. 86 Prozent) weniger als heute (vgl. MIT Senseable City Lab).

7. One-Minute City Mehr als 80 Prozent aller Wege starten und enden an der eigenen Haustür. Werden hier innovative und klimafreundliche Verkehrsmittel angeboten (optimalerweise schon beim Einzug), beinhaltet dies ein doppeltes Versprechen: höhere Attraktivität von Wohnquartieren und nachhaltige Mobilität. Dies gilt sowohl in Neubaugebieten als auch in der Altstadt. Eines der größten Siedlungsprojekte Europas entsteht gerade im Kopenhagener Vorort, in Nordhavn. In den kommenden vier Jahrzehnten wird sich das Hafengebiet zu einem urbanen Quartier mit 40.000 Einwohnerinnen und Einwohnern und 40.000 Arbeitsplätzen entwickeln. In der neuen Stadt der kurzen Wege werden Geschäfte, Institutionen, Arbeitsplätze, kulturelle Einrichtungen und öffentliche Transportmittel innerhalb von wenigen Minuten von jedem beliebigen Ort im Bezirk aus erreichbar sein. Es wird bis zu 1.900 Parkplätze für Autos geben, hauptsächlich in größeren Parkzonen. Das Parken am Straßenrand ist auf maximal 10 Prozent der Parkplätze beschränkt und für Kurzzeitparken reserviert, der restliche Parkraum steht Fahrrädern zur Verfügung. Autonome Shuttle pendeln im Quartier, verbinden öffentliche Angebote und private Ziele – und erhöhen damit den Druck, Parkräume in öffentliche Räume umzuwandeln.  Straßenräume sind heute vor allem Barrieren. Sie definieren Nachbarschaften und können oftmals nur durch technische Hilfsmittel passiert werden. In Schweden erwacht deswegen die One-Minute-City zum Leben. Die One-Minute-City wird durch den Raum vor der eigenen Haustür beschrieben. Dies ist

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die unmittelbare Umgebung, die vielleicht durch einen 1-minütigen Spaziergang definiert wird, durch die ersten 15 Meter. Durch Befragungen der Bewohnerinnen und Bewohner entscheiden die Menschen vor Ort, was ihnen in ihrem räumlichen Umfeld wichtig ist: eine Bank zum Ausruhen oder für Gespräche, ein Spielplatz oder ein Mobility Hub mit Scootern und Fahrrädern. Diese Bedürfnisse werden als Stadtmöbel direkt auf die Straße oder auf den Parkplatz gestellt. Weg von PKW-dominierten Räumen hin zu artenreichen und sozial vielfältigen Räumen. So wird Parkplatz für Parkplatz neugestaltet. Natürlich spielt Mobilität in dieser Umgestaltung eine besondere Rolle, denn Verkehrsmittel werden nur dann wirklich erfahrbar, wenn sie vor Ort verfügbar sind.

8. Mobility Hubs – Zugang zur Mobilität an jeder Ecke Mobility Hubs sind eine wichtige Strategie für die Organisation des Zugangs zur Mobilität. Ein Mobility Hub ist ein Ort, an dem die Menschen von einem Verkehrsmittel auf ein anderes umsteigen können. Sie werden es den Nutzerin­ nen und Nutzern ermöglichen, auf effiziente Weise zwischen verschiedenen Ausgangs- und Zielorten zu reisen, ohne dass sie lange Wege zum Umsteigen zurücklegen müssen – dies ist die Voraussetzung für eine nahtlose, integrierte Mobilität – vor allem auf der letzten Meile vom ÖV-Halt bis nach Hause oder zur Arbeit. Deswegen reicht es auch nicht, wenn Mobility Hubs am Bahnhof oder an der U-Bahn installiert werden. Letztlich ist jeder ÖV-Halt ein potenzieller Mobility Hub – und jede Tankstelle sowieso. Die Mobility Hubs befinden sich in der Nähe von stark frequentierten ÖPNV-Stationen, in autoarmen Wohngebieten und in den Vororten, um den Nutzerinnen und Nutzern einen einfachen Wechsel zwischen den Mobilitätsmodi zu ermöglichen und ihnen einen sicheren Parkplatz und die Verfügbarkeit von Fahrzeugen zu bieten. Bei den meisten Angeboten handelt es sich um tief integrierte Mobilitätsformen, die über eine App angezeigt, gebucht und bezahlt werden können(in Berlin leistet das beispielsweise die App Jelbi). Mobility Hubs bündeln nicht nur Mobilitätsangebote. Sie dienen auch dazu, die chaotische Platzierung von Rollern, Mopeds oder Fahrrädern auf dem Bürgersteig zu überwinden. Mobility Hubs sind aber nicht nur bemalte Straßenfläche. In Zukunft werden hier neue Architekturen und Räume entstehen, die weit mehr als nur Mobilität bieten. Hier befinden sich die neuen sozialen Treffpunkte, die lokale Ladestruktur, das Informationszentrum für Mobilität, der geteilte Arbeitsort.

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Erst dann entfalten Mobility Hubs ihre gesellschaftliche Wirkung und inte­ grieren Mobilität als wichtige Anforderung, die von Tankstellen heute nur unzureichend erfüllt werden.

9. Tschüss, Tankstelle! Mit dem Wandel der Antriebe gibt es einen Wandel der Versorgungsinfrastrukturen: von zentralen zu dezentralen. Aktuell gibt es mehr als 14.000 Tankstellen in Deutschland (BFT 2021). Diese Anzahl wird sich schon bald drastisch reduzieren: Auch wenn die Angaben über Ladepunkte in Deutschland von Quelle zu Quelle stark variieren, gibt es zwischen 20–50.000 Ladepunkte – bei einem kalkulierten Bedarf von etwa 800.000 frei zugänglichen Ladepunkten im öffentlichen Raum bis zum Jahr 2030 (Nationale Leitstelle Ladeinfrastruktur 2020). Zum Synonym des Wandels sind die Tankstellen geworden. Sie befinden sich im Zentrum des Sturms, der sich über allen Akteuren der fossilen Ära zusammenbraut. Wenn sich die Anforderungen an die energetischen Bedingungen und die Anforderungen an die Mobilität in Zukunft dramatisch verändern, müssen Tankstellen sich verändern, sonst werden sie irrelevant oder im besten Fall zu von Unkraut bewachsenen und von Tieren und der Natur zurückgewonnenen Räumen mitten in der Stadt. Die Transformationspfade lassen sich in vier Zukunftsoptionen zusammenfassen (Zukunftsinstitut 2021): a. »Tankstelle 2.0«: Verlängerung der heutigen wirtschaftlichen Basis. Viele Tankstellen versuchen das aktuelle Geschäftsmodell so lange es geht in die Zukunft zu verlängern. Der Verkauf fossiler Kraftstoffe in Ergänzung zu den profitablen Angeboten des täglichen Bedarfs sowie Autowäsche. Aus dem Werkstattgeschäft ziehen sich diese Tankstellen zurück, da in Zukunft kaum noch private Fahrzeuge im Umlauf sind und die gewerblichen vertraglich an die Werkstätten der Flottenbetreiber gebunden sind. b. »Ladehof«: Radikaler Umbau von fossilen Antrieben auf das gesamte post-fossile Antriebsportfolio. Neben Ladepunkten etablieren sich diese Tankstellen auch für Wasserstoffinfrastrukturen aber nur im ländlichen Raum, bzw. entlang der Autobahntrassen. Ladehöfe der Antriebswende werden vor allem für gewerbliche Akteure sehr wichtig, da hier die technischen Bedingungen und Kapazitäten für schnelles Laden und Betanken mit Wasserstoff vorhanden sein werden. Carsharing-, Mietwagen- oder Lieferflotten finden hier ihr energetisches Zuhause.

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c. »Neue Geschäfte«: Nur rund 20 Prozent ihres Gewinns erwirtschaften Tankstellenbetreiber mit Kraftstoffen. Viel wichtiger sind die ergänzenden Geschäftsfelder. Waschanlagen, Angebote der Nahversorgung, Bankautomaten oder Bistros. In Zukunft werden Tankstellen vor allem auch als Zwischenlager für Kurierdienste immer wichtiger, dank des immer größer werdenden Anteils des Onlinehandels. So bleibt die soziale Funktion der Tankstelle erhalten, während auch Diesel- und Benzin-Oldtimer hier noch immer ihren Kraftstoff finden werden. d. »Mobility-Hub«: Radikale Erneuerung des Geschäftsmodells. Das, was diese Tankstellen aus heutiger Perspektive einzig und allein attraktiv macht, ist ihre Lage. Als Tankstellen sind diese Orte nicht mehr erkennbar. Sie sind zu Mobilitätszentren geworden, also Orten mit einer hohen Kundenfrequenz, die ein Angebot von verschiedenen Mobilitätsangeboten bündeln, ergänzt und erweitert mit Angeboten und Informationen rund um das Thema Mobilität (und Energie). Hier gibt es Möglichkeiten zum Tauschen von Batterien (Mopeds, E-Scooter und vielleicht sogar für Autos), Sharing-, Miet- und Abo-Optionen. Im besten Fall kombiniert mit U-Bahn- / Bus- und/oder Fernreiseoptionen.

10. Curbside Management Die Digitalisierung und Vernetzung von Infrastrukturen hinken den Ansprüchen an die vernetzte, intelligente Mobilität hinterher. Die Bürgersteigkante (Curbside) wird eines der Kernelemente in einer vernetzten Mobilitätsgesellschaft sein. Das Curbside-Management differenziert zeitliche, räumliche und funktionale Nutzungen und wird eine wichtige Geldquelle für klamme Kommunen. Durch Corona ist diese Bedeutung hervorgehoben worden, als Food Deliveries zusätzlichen Platz für An- und Abholung benötigten. Die Notwendigkeit für eine Veränderung ist dabei offenkundig. Während heute die Fahrerin oder der Fahrer eines Autos sein Geld in den Parkautomaten steckt (oder Park-Apps etc. nutzt), gibt es in Zukunft keine Menschen mehr hinter dem Steuer. Und auch das Steuer ist verschwunden. Stattdessen konkurrieren zahllose Dienste-Anbieter um Kundinnen und Kunden und um Platz an der Bordsteinkante, wo diese abgesetzt oder aufgenommen werden müssen. Der Raum zwischen Bürgersteigen und Straßen wird also entweder zu einem Schlachtfeld oder zu einem intelligenten Slot-Management. Die traditionelle Nutzung von Bordsteinkanten in Städten – Busse, Taxis, Frachtlieferungen,

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Fahrradwege und Parkplätze – konkurriert nun mit Ridesharing, Essenslieferungen, Carsharing und anderen neuen Transportarten und -dienstleistungen. Es braucht also Technologien, die die Verkehrs- und Umweltziele einer Kommune in wirtschaftlichen Wert und Preismodellen übersetzt, damit der Platz an den Bordsteinen den verschiedenen Nutzerinnen und Nutzern priorisiert zugewiesen werden kann. Literatur: Agora Verkehrswende, 2018: Öffentlicher Raum ist mehr wert. Ein Rechtsgutachten zu den Handlungsspielräumen in Kommunen. 2. Auflage  bft – Bundesverband Freier Tankstellen und unabhängiger deutscher Mineralölhändler e. V., 2021: Entwicklung der Tankstellenanzahl in Deutschland.. Cycling Industries Europe, 2020: New European Cycling Industry Forecast Shows Huge Growth in Bike and E-Bike Sales. In: cyclingindustries.com, 2.12.2020 Deutsche Bahn, 2021: Google und DB zeigen Live-Auskünfte zu Zügen und vereinfachen Ticketbuchung. www.deutschebahn.com/de/presse/pressestart_zentrales_uebersicht/Google-und-DB-zeigen-Live-Auskuenfte-zu-Zuegen-und-vereinfachen-Ticketbuchung-6868356, Zugriff: 13.7.2021 Economist, 2021: The Global Liveability Index 2021. Zugriff: www.eiu.com/n/campaigns/global-liveability-index-2021 Gößling, Stefan, 2016: Kostenvergleich Auto-Fahrrad, Deutschland: Berechnungsannahmen. International Institute for Management Development, 2021: The Smart City Ranking 2021. https://www.imd.org/smart-city-observatory Jelbi, 2022: Deine Mobilitäts-App für Berlins Öffentliche und Sharing-Angebote. www. jelbi.de MIT Senseable City Lab, 2021: Unparking. senseable.mit.edu/unparking/ Nationale Leitstelle Ladeinfrastruktur (Hrsg.), 2020: Ladeinfrastruktur nach 2025/2030. Studie im Auftrag des BMVI. Rajé, Fiona; Saffrey, Andrew, 2016: The Value of Cycling. Reckwitz, Andreas, 2018: Die Gesellschaft der Singularitäten. Umweltbundesamt, 2020: Mobilität privater Haushalte. In: umweltbundesamt.de, 8.6.2020 Zukunftsinstitut (Hrsg.), 2021: Mobility Report 2022.

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Vita Dr. Stefan Carsten ist Zukunftsforscher und Stadtgeograph. Er war Projektleiter in der Zukunftsforschung der Daimler AG in Berlin und konzipierte dort neue Mobilitätsdienste wie car2go und moovel. Aktuell ist im Beirat des Bundesverkehrsministeriums für »Strategische Leitlinien des ÖPNVs in Deutschland«, der IAA Mobility in München und des Reallabors Radbahn in Berlin. Seit 2019 veröffentlicht er in Kooperation mit dem Zukunftsinstitut den Mobility Report. Seine Projekt- und Koopera© Tabea Mathern tionspartner finden sich in der gesamten Mobilitätsbranche. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt und arbeitet in Berlin.

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Gute Verbindung: Die wichtigsten Netzwerke für eine nachhaltige Verkehrswende Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber Inzwischen gibt es bundesweit immer mehr Bündnisse, die für eine nachhaltige Verkehrswende eintreten und sich für einen weiteren Ausbau der Infrastruktur, der Vernetzung der Systeme und einer damit verbundenen Flexibilisierung in der Wahl der Verkehrsmittel sowie den Umstieg auf umweltverträgliche Verkehrsmittel einsetzen. Was diese Initiativen, Kooperationen und Netzwerke im Innersten zusammenhält, ist eine gemeinsame Sicht auf das Leben und die Gesellschaft sowie die Überzeugung, dass sie im Kleinen selbst die Kraft der Veränderung sind, die sie sich im Großen wünschen. Der Begriff »Netzwerken« kommt aus dem Fischereiwesen. Wie die Fischer, so knüpfen alle Beteiligten von Kooperationen an einem gemeinsamen Netz. Es kann dazu beitragen, die begrenzten Möglichkeiten des Einzelnen auszuweiten und gemeinsam neue soziale Antworten zu finden. Je nachhaltiger sich ein Netzwerk zusammenfügt und moderiert wird, desto größer sind die Chancen, staatliche Regulationskonzepte zur nachhaltigen Entwicklung zu ergänzen und allen Beteiligten nachhaltige Vorteile zu bieten. Zusammen sind alle besser als jeder einzelne. Allgemeine Informationen zu Fahrrad-Initiativen finden sich hier: https://www.fahrrad-initiativen.de Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club e. V. (ADFC) Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club e. V. ist die größte Interessenvertretung für Radfahrer:innen weltweit. Der Verkehrsclub hat seinen Sitz in Berlin. Er ist parteipolitisch neutral, aber parteilich, wenn es um die Interessen Rad fahrender Menschen geht. Mit Kampagnen, Fachveranstaltungen und Lobbyarbeit werden auch politische Entscheider:innen informiert. Mit Projekten wie dem ADFC-Fahrradklima-Test wird öffentliche Aufmerksamkeit für fehlende Fahrradfreundlichkeit und notwendige Verbesserungen der Radfahrbedingungen geschaffen. Zudem wird in allen Fragen rund ums Fahrrad beraten, es werden Fahrradchecks und Codieraktionen veranstaltet, Selbsthilfewerkstätten betreut und rund ums Rad

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informiert (Technik, Recht und Service genauso wie über Politik und Tourismus). Zudem werden Radtouren veranstaltet und Menschen zusammengebracht, die gern Rad fahren: http://touren-termine.adfc.de. Mit Radkarten wird bei der Orientierung geholfen, und es wird sich für gute Wegweiser und für einladende Radwege eingesetzt: http://www.adfc-radtourismus.de. Im Mitgliedsbeitrag ist die ADFC-Pannenhilfe enthalten. Außerdem ist jedes ADFC-Mitglied, das mit dem Rad, im öffentlichen Personenverkehr (in Verbindung mit dem Fahrrad­ transport) oder zu Fuß unterwegs ist, durch eine Haftpflicht- und Rechtsschutzversicherung geschützt. Zudem erhalten ADFC-Mitglieder:innen günstige Konditionen bei Kooperationspartnern und bei Abschluss einer Fahrradversicherung. https://www.adfc.de Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e. V. (ADAC) Lange Zeit war der Name Programm und es mag an dieser Stelle etwas wundern, wenn es doch um Netzwerke für eine nachhaltige Verkehrswende geht. Der ADAC galt als die Instanz, die vor allem Autofahrer:innen eine Stimme verlieh und Maßnahmen wie ein Tempolimit in Frage gestellt hat. Nun ist die Mobilitätswende aber auch bei den ›Gelben Engeln‹ angekommen: Mitglieder:innen, die mit einer Fahrradpanne liegen bleiben, erhalten kostenlos Hilfe. https://www.adac.de/der-adac/verein/corporate-news/fahrrad-pannenhilfe/ AKTIONfahrRad.de AKTIONfahrRAD ist eine Initiative, die gemeinsam mit Partnern Aktionen entwickelt, um jungen Menschen nachhaltig die Liebe zum Fahrrad näherzubringen. Als gemeinnützige Gesellschaft bildet sie die Plattform, auf der Schulen, Vereine und Familien zusammenkommen, um das Fahrrad und die Verkehrserziehung in den Fokus zu rücken. Sie fördert den Nachwuchs, stellt Schulen Räder zur Verfügung, engagiert sich für Schul- und Hochschulprojekte und unterstützt bundesweit die Aus- und Weiterbildung von Lehrer:innen, damit das Radfahren attraktiver und sicherer wird. https://www.aktionfahrrad.de Arbeitsgemeinschaft Fahrrad- und Fußgängerfreundlicher Kommunen in Baden-Württemberg e. V. (AGFK-BW) Die AGFK-BW ist ein Zusammenschluss von mehr als 90 Kommunen, die das Ziel haben, den Fuß- und Fahrradverkehr im Land systematisch zu fördern

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und eine neue Kultur nachhaltiger Mobilität – zu Fuß oder mit dem Fahrrad – zu etablieren. Dazu bedarf es eines umfassenden Ansatzes der Fuß- und Radverkehrsförderung, der deutlich über die Verbesserung der baulichen Infrastruktur hinausgeht. Auch Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit sowie Dienstleistungsangebote stehen auf der Agenda der AGFK-BW, um den Anteil des Fuß- und Fahrradverkehrs am Gesamtverkehr zu erhöhen. Koordiniert wird das Netzwerk von der Geschäftsstelle bei der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg (NVBW) in Stuttgart, die die Mitarbeiter in den Verwaltungen der Mitgliedskommunen spürbar entlastet. https://www.agfk-bw.de Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen (AGFS  –  NRW) Die AGFS – NRW ist ein in Krefeld ansässiger Zusammenschluss von Gemeinden und Kreisen, die sich für verbesserte Bedingungen für den nichtmotorisierten Individualverkehr einsetzen. Er war die erste institutionalisierte Form der Zusammenarbeit von Kommunen in Deutschland für die Förderung des Fahrradverkehrs bzw. der Nahmobilität. Sie hat Vorbildcharakter für ähnliche Zusammenschlüsse, die sich auch in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen gegründet haben. Der Verein wurde 1993 als Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Städte von 13 Mitgliedern in Nordrhein-Westfalen gegründet. Seit 2007 vertritt die AGFS das Konzept der Nahmobilität. Seit 2012 steht deshalb der Fußgänger- neben dem Fahrradverkehr gleichrangig im neuen Namen der AGFS. https://www.agfs-nrw.de B.A.U.M. e. V. Der Bundesdeutsche Arbeitskreis für Umweltbewusstes Management (B.A.U.M.) e. V. ist ein gemeinnütziges Unternehmensnetzwerk für nachhaltiges Wirtschaften. Satzungsgemäßer Zweck des Vereins ist es, Unterstützung bei der Einführung und Fortentwicklung einer umweltbewussten und nachhaltigen Unternehmensführung und bei der Förderung von praktischen Umweltschutzmaßnahmen zu bieten sowie für die Bereitstellung bzw. Vermittlung wirtschaftsökologischer Informationen zu sorgen. https://www.baumev.de

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BICICLI BICICLI versteht sich als »Gesellschaft für Urbane Mobilität« – mit fahrradbasiertem Fokus. Diese Gesellschaft wird »Cycling Society« genannt und wirkt für die städtische wie betriebliche Neue Mobilität. BICICLI entwickelt luftigere und leisere Quartiere durch flexiblere Mobilitätsangebote für Unternehmen, Immobilienentwickler und für die Wohnungswirtschaft. Privatpersonen, Selbstständigen, Unternehmen und Quartieren werden ganzheitliche Lösungen der Mobilitätsmittel (Rad, eScooter, eRoller, eCar), Mobilitätsstationen bzw. Mobilitätsinfrastruktur (Park-, Lade- und Digital-Infrastruktur für Reservierung, Schließung, Tracking) mit Service aus einer Hand geboten. Als deutschlandweiter Spezialist für Radflotten- und Dienstrad-Programme wird den Kund:innen Beratung, Beschaffung, Finanzierung, Versicherung, Wartung und Fuhrpark-Management – auf Wunsch vor Ort und in einer Monatsrate – angeboten. Dazu wird in über 20 Städten mit über 300 Werkstätten u. a. des Verbundes Service & Fahrrad e. V. (VSF) sowie mit den marktführenden Leasing- und Versicherungsgesellschaften zusammengearbeitet. https://bicicli.de BIKEBRAINPOOL Der BIKEBRAINPOOL ist ein Kreis engagierter und namhafter Vertreter*innen der Fahrradbranche, die über Wettbewerbs- und Verbandsgrenzen hinweg am gemeinsamen Ziel arbeiten, das Fahrradfahren durch die Vernetzung mit branchenübergreifenden Akteuren, Startups und Kreativen zu fördern. Gegründet 1996 von Ulrike Saade versteht sich der BIKEBRAINPOOL als Trendscout und Ideenschmiede. https://www.bikebrainpool.de Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF) Der Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF) in Hamburg ist ein Zusammenschluss innovativer Unternehmen aller Bereiche der Fahrradwirtschaft: Dienstleister, Hersteller, Händler, Start-ups der Digitalisierung und Zulieferer. Der Schwerpunkt liegt im Bereich der Dienstleistungen. Gemeinsames Ziel ist die nachhaltige Mobilitätswende. Mit der Kampagne # BleibinBewegung sollen Menschen mit Videoclips und Bildern rund um das Thema Fahrrad zu einer nachhaltigen Mobilität und der Nutzung des Fahrrads als Verkehrsmittel motiviert werden. Die Stadt Hamburg mit der erst 2020 ins Leben gerufe-

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nen Behörde für Verkehr und Mobilitätswende (BVM) und das Online- und Außenwerbeunternehmen Ströer Media unterstützen die Kampagne. https://zukunft-fahrrad.org/ Bündnis »Verkehrswende jetzt!« Hinter dem Bündnis »Verkehrswende jetzt« für die Region Würzburg steht ein wachsendes Team von engagierten Bürger:innen, Verbänden, Vereinen, Parteien und Firmen aus Würzburg und Umgebung, das sich für nachhaltige Mobilität und echte Verkehrsmittelfreiheit einsetzt. Zu den Zielen für die Verkehrswende in Würzburg und Umgebung gehören: Reduzierung des motorisierten Verkehrs, Ausbau des ÖPNV und der Radinfrastruktur, die Stärkung des Fußverkehrs und die Erhöhung der Lebensqualität. https://www.verkehrswende-wuerzburg.de Changing Cities Changing Cities ist eine unabhängige Bewegung für lebenswerte Städte. Sie setzt sich für eine faire Verteilung des öffentlichen Raums und für sicheres Radfahren ein und möchte zeigen, dass eine klare Stimme der Zivilgesellschaft positive Politik machen kann. Das Ziel ist die Verkehrswende in Deutschland. Mit etwa 150 Ehrenamtlichen und einem kleinen Büroteam konnten bereits erste Erfolge erzielt werden: mit dem Volksentscheid Fahrrad Berlin (erstes Projekt) und als Impulsgeber für das neue Berliner Mobilitätsgesetz. Es stellt sicher, dass bis 2030 jährlich 51 Mio. € in den Ausbau der Radinfrastruktur und zur Förderung des Radverkehrs investiert werden. https://changing-cities.org/ Confederation of the European Bicycle Industry (CONEBI) CONEBI ist der Dachverband der europäischen Fahrrad-, Pedelec-, Teile- und Zubehörindustrie. Zu den Mitgliedern zählen Verbände in 15 Ländern Europas. Er vertritt die Branche gegenüber EU- und internationalen Behörden. CONEBI ist außerdem Gründungsmitglied der Industry4Europe-Allianz, des EU Cooperative, Connected and Autonomous Mobility Partnerships und der World Bicycle Industry Association WBIA, die die Arbeit der Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation unterstützt. https://www.conebi.eu/

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»FahrRad! Fürs Klima auf Tour« Der ökologische Verkehrsclub VCD ruft seit 2006 mit seiner Kampagne »FahrRad!« Jugendgruppen, Schulklassen und Familien mit Kindern im Alter von 10 bis 18 Jahren auf, sich daran zu beteiligen und die auf Schul- und Freizeitwegen erradelten Kilometer auf dem Online-Portal einzutragen. Außerdem gibt es Mitmachaktionen und Quizfragen. Für die Kombination aus richtigen Antworten und gesammelten Fahrradkilometern können als Hauptgewinn 500 € für die Gruppenkasse, eine Fahrradabstellanlage, Radtaschen und weiteres Equipment für kommende Radausflüge gewonnen werden. Lehrkräfte und Jugendgruppenleiter:innen finden auf der Homepage zudem Unterrichtsmaterialien und Aktionsideen aus den Bereichen Fahrrad, Klimaschutz und Mobilitätsbildung. www.klima-tour.de FUSS e. V. bzw. Umkehr e. V. Seit 1985 vertritt der Fachverband FUSS e. V. die Interessen der Fußgänger:innen in Deutschland. Bei allen Fragen zum Fußverkehr finden sich hier Ansprechpartner:innen für Verwaltung, Politik und Öffentlichkeit. Es werden Stellungnahmen erarbeitet und Änderungen für Gesetze und Richtlinien vorgeschlagen. Weil Gehen als wichtigster Baustein nachhaltiger Mobilität nicht isoliert betrachtet werden kann, wird dabei mit Verbänden zusammengearbeitet, die sich mit Rad-, Bus- und Bahnverkehr befassen. Als Lobby setzt sich der Verband für die Belange von Fußgänger:innen ein, etwa in der Straßenverkehrsordnung, in Planungsrichtlinien und im Bußgeldkatalog. Als Bürgerinitiative wird dezentral in Ortsgruppen an besseren Bedingungen für das Gehen gearbeitet. Als Teil der Zivilgesellschaft werden Medien informiert und Vor-Ort-Aktionen durchgeführt. www.fuss-ev.de Europäischer Radfahrerverband (ECF) Der ECF ist der Dachverband europäischer Radverkehrs-Organisationen mit Sitz in Brüssel. Er wurde 1983 von 12 Fahrradfahrer-Vereinigungen gegründet. Inzwischen hat er etwa Mitgliedsorganisationen, die mehr als eine halbe Million europäische Bürger in rund 40 Ländern vertreten. Ziel ist die Ermöglichung der Entfaltung des vollen Potentials des Radfahrens, um so nachhaltige Mobilität und öffentliches Wohlergehen zu fördern. Um dies zu erreichen, nimmt

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der ECF Einfluss auf die Einstellungen zum Radverkehr sowie die Politik und Budgetvergabe auf europäischer Ebene. Der ECF fördert und organisiert den Austausch von Informationen und Expertise zu Verkehrspolitik und Strategien mit Bezug zum Fahrrad. Er unterstützt auch generell die Arbeit der Zusammenschlüsse von Radfahrenden. Der ECF besitzt das Markenrecht für EuroVelo (ein Netz von Radfernwegen, die den gesamten europäischen Kontinent miteinander verbinden und vereinen) und koordiniert dessen Entwicklung auf europäischer Ebene. Auf nationaler Ebene kümmern sich die Nationalen EuroVelo-Koordinationszentren und -Koordinatoren (NECC/Cs) um Organisation, Entwicklung und Betrieb der Routen. Der ECF versucht sicherzustellen, dass in jedem europäischen Land ein EuroVelo-Koordinationszentrum oder -Koordinator vorhanden ist. https://de.eurovelo.com/ecf Initiative Dialog Mikromobilität In der Initiative »Dialog Mikromobilität« engagieren sich Verbände, Unternehmen und Expert:innen verschiedener Branchen, um der nachhaltigen, multimodalen Mobilität den Stellenwert zu verschaffen, der ihr vor dem Hintergrund von fortschreitendem Klimawandel, der Steigerung von Lebensqualität in den Städten und dem berechtigten Anliegen nach urbaner Flächengerechtigkeit gebührt. Sie setzt sich für ein Ende der Grabenkämpfe der unterschiedlichen Interessengruppen ein. https://dialog-mikromobilitaet.de Initiative Volksentscheid Berlin autofrei Der »Volksentscheid Berlin autofrei« setzt sich für eine gesunde, sichere und klima­schonende Stadt mit mehr Platz für alle ein sowie für eine wirksame und sozial gerechte Verkehrswende. Um eine Reduzierung des Autoverkehrs auf die notwendigen Fahrten zu erreichen, hat die Initiative im Jahr 2021 das »Berliner Gesetz für gemeinwohlorientierte Straßennutzung« ausgearbeitet, über das alle Berliner:innen in einem Volksentscheid abstimmen sollen. https://volksentscheid-berlin-autofrei.de RADKOMM e. V. Der gemeinnützige RADKOMM e. V. ist eine Gruppe von engagierten Radaktivist:innen, die gemeinsam in Köln und darüber hinaus die Mobilitätswende

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wollen. Die RADKOMM ist aber auch ein Kongress rund um urbane Mobilität der Zukunft. Seit 2015 findet die RADKOMM im Juni statt und ist mittlerweile der größte Mobilitäts-Think-Tank in NRW. Erfunden wurde RADKOMM 2015 von der Kölner Wählergruppe DEINE FREUNDE. Im April 2017 gründete die RADKOMM das Aktionsbündnis »Aufbruch Fahrrad«. Mit dem ADFC NRW konnte im Herbst 2017 ein wichtiger Partner gewonnen werden. Seitdem bilden beide die Steuerungsgruppe für »Aufbruch Fahrrad«. Ziel des RADKOMM-Kongresses ist auch, Entscheider:innen aus Politik und Verkehrsplanung mit Aktivist:innen und interessierten Bürger:innen an einen Tisch zu bringen. Das Aktionsbündnis wächst kontinuierlich. https://www.radkomm.de https://www.aufbruch-fahrrad.de Radlogistik Verband Deutschland e. V. (RLVD) Der Radlogistik Verband Deutschland e. V. wurde im September 2018 in Berlin gegründet. Er ist die deutsche Sektion der European Cycle Logistics Federation (ECLF) und setzt sich für den Einsatz moderner Cargobikes und Lastenanhänger in der Logistik, für urbane Lebensqualität und effiziente multimodale Logistiksysteme ein und vertritt die Interessen kleiner und mittelständischer Unternehmen, die Pioniere der Radlogistik sind. http://www.rlvd.bike http://www.cargobike.jetzt https://www.eclf.bike/ Ride for Freedom Der zweifache Guinness-Weltrekordhalter im Radsport, Gordon Miller, macht mit dem gemeinnützigen britischen Sozialunternehmen »Ride for Freedom« auf ein großes Problem im Sport aufmerksam machen: moderne Sklaverei und Kinderhandel. Für seine weltweiten Ride For Freedom-Cycling Touren erhält der Radsportler unter anderem Unterstützung von Sport- und Fußballvereinen, Nichtregierungsorganisationen sowie von Unternehmen wie dem Softwareanbieter iPoint-systems, dessen Lösungen helfen, den Schutz der Menschenrechte in Betrieben und Lieferketten sicherzustellen und durch Transparenz und Kontrolle Risiken wie unzureichende Arbeitsbedingungen zu erkennen und zu verhindern. Gordon Miller sammelt auch Spenden für das Pilotprogramm »Freewheel«, das Ride for Freedom ins Leben rief. Es soll Überlebenden

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der modernen Sklaverei ermöglichen, Rad zu fahren, um ihre körperliche und geistige Gesundheit zu fördern. Die Teilnehmenden erhalten ein Fahrrad und Zubehör, das ihre Sicherheit gewährleistet. Sie erhalten außerdem ein Radfahrund Verkehrstraining. Das Projekt wird derzeit nur in London durchgeführt, in den nächsten Jahren sollen jedoch weitere Hubs in anderen Städten folgen. https://rideforfreedom.org.uk STADTRADELN STADTRADELN ist eine Kampagne des Klima-Bündnis, ein Netzwerk europäischer Kommunen in Partnerschaft mit indigenen Völkern, das lokale Antworten auf den globalen Klimawandel entwickelt und den Radverkehr im öffentlichen Diskurs präsenter machen möchte. Beim STADTRADELN-Wettbewerb geht es darum, 21 Tage lang möglichst viele Alltagswege klimafreundlich mit dem Fahrrad zurückzulegen. Um auf die Bedürfnisse der Radfahrenden aufmerksam zu machen, richtet sich das STADTRADELN auch an die Kommunalpolitiker:innen. Damit die Kommunalverwaltung es leichter hat, die Radinfrastruktur gezielt zu verbessern, kann sie über die Bürgerbeteiligungsplattform RADar! direkt auf das Wissen ihrer Bürger:innen als Radexpert:innen des Alltags zurückgreifen. Die beim STADTRADELN per App getrackten Strecken werden anonymisiert von der Technischen Universität Dresden ausgewertet. Die Erkenntnisse können den Kommunen bereitgestellt werden. https://www.stadtradeln.de The Bike Project Die Mission dieser englischen Wohltätigkeitsorganisation ist es, gebrauchte Fahrräder zu nehmen, sie in unserer Werkstatt zu reparieren und sie Flüchtlingen zu geben. Es werden auch Gruppenfahrradtrainings für Flüchtlingsfrauen in London und Birmingham durchgeführt. Die Lektionen befähigen und inspirieren Frauen, die Freiheit ihres eigenen Fahrrads zu spüren – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Neben den karitativen Aktivitäten verkauft die Organisation einen Teil ihrer generalüberholten Fahrräder über den eigenen Online-Fahrradshop. Jeder verdiente Cent fließt direkt in die Wohltätigkeitsorganisation zurück. https://thebikeproject.co.uk/

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Velokonzept Velokonzept ist eine Agentur fürs Fahrrad in Deutschland, die Beratung, Konzeption und Eventorganisation aus einer Hand bietet. Als Erfinder:innen der VELO-Fahrradfestivals werden die Trends und Neuheiten der Fahrradbranche auf großen Publikumsevents für alle erlebbar gemacht. www.velokonzept.de Verband des Deutschen Zweiradhandels e. V. (VDZ) Der Verband des deutschen Zweiradhandels e. V. (VDZ) ist der Branchenfachverband für den deutschen Zweiradhandel und damit die Interessenvertretung gegenüber Politik, Behörden, Industrie und Öffentlichkeit. Sitz des Verbandes ist Bielefeld. https://www.sazbike.de/verband-des-deutschen-zweiradhandels-vdz-2536242.html Verein »radeln und helfen« e. V. Ziel des Vereins ist es, möglichst vielen Kindern zu helfen. Deshalb wird nicht nur zusammen Rad gefahren, sondern damit auch »Kilometergeld« gesammelt, das Kindern in Not zugutekommt. https://www.radelnundhelfen.de Der ökologische Verkehrsclub (VCD) Der ökologische Verkehrsclub Deutschland e.  V. ist ein gemeinnütziger Umweltverband, der sich für eine umweltverträgliche, sichere und gesunde Mobilität einsetzt. Seit 1986 kämpft der VCD für ein gerechtes und zukunftsfähiges Miteinander aller Menschen auf der Straße. Dafür arbeitet er vor Ort mit zwölf Landesverbänden und rund 140 Kreisverbänden und Ortsgruppen zusammen und ist bundes- und europaweit vernetzt. https://www.vcd.org Verbund Service und Fahrrad e. V. (VSF) Der VSF ist ein unabhängiger Fachverband der Fahrradbranche, der mehr als 300 Händler, Hersteller und Dienstleister vertritt. Entwickelt werden innovative Konzepte für den unternehmerischen Erfolg seiner Mitglieder:innen. Das Engagement des VSF umfasst: einen attraktiven Fahrradfachhandel, gute Produkte, die das Radfahren bereichern, die faire Zusammenarbeit zwischen den Marktteilnehmer:innen, Vernetzung und Erfahrungsaustausch in der Branche,

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intelligente Fahrrad- und Mobilitätskonzepte, qualifizierte Fort- und Weiterbildung und Lobbyarbeit pro Fahrrad. https://www.vsf.de World Bicycle Relief World Bicycle Relief ist eine internationale Hilfsorganisation in der Entwicklungszusammenarbeit, die Menschen in ländlichen Gebieten und Regionen mit Fahrrädern eine größere Mobilität ermöglicht. Durch Spenden finanziert, wird das sogenannte Buffalo-Fahrrad von der Organisation hergestellt und verteilt. So werden Menschen in Afrika mobil. Bis heute hat World Bicycle Relief fast eine halbe Million Buffalo-Fahrräder an Schüler:innen, Krankenpfleger:innen und Kleinstunternehmer:innen übergeben. World Bicycle Relief hat zudem über 2.000 Mechaniker:innen ausgebildet. https://www.worldbicyclerelief.org/ Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft eG (ZEG) 1966 schließen sich sechs Betriebe zur Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG) zusammen. Aus diesem Verbund ist Europas größtes Netzwerk unabhängiger Fahrrad-Fachhändler entstanden. https://www.zeg.de Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) Der Zweirad-Industrie-Verband ist die nationale Interessenvertretung und Dienstleister der deutschen und internationalen Fahrrad-, E-Bike-, Komponenten- und Zubehörindustrie. Als Branchenverband vertritt er rund 100 Mitgliedsunternehmen gegenüber Gesetzgebern, Regierungen, Behörden, Medien, Institutionen und Organisationen. Er repräsentiert mit seinen Mitgliedsunternehmen ca. 70 Prozent der deutschen Fahrradproduktion. Als Mitglied des europäischen Verbands CONEBI (Confederation of the Euopean Bicycle Industry) vertritt der ZIV seine Mitglieder auch auf europäischer Ebene. https://www.ziv-zweirad.de VELOFestivals Für Rad-Fans, Bike Nerds oder Einsteiger:innen – die Website informiert über die neuesten Messen, Trends und Innovationen in Sachen Fahrrad. https://velofestivals.com/