Zucht und Ordnung: Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive [1 ed.] 9783428550685, 9783428150687

Die weitgehende soziale Ablehnung und die rechtliche Ächtung von Gewalt gegen Kinder, wie sie etwa in der UN-Kinderrecht

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Zucht und Ordnung: Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive [1 ed.]
 9783428550685, 9783428150687

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Historische Forschungen Band 120

Zucht und Ordnung Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive Herausgegeben von Stefan Grüner Markus Raasch

Duncker & Humblot · Berlin

Zucht und Ordnung

Historische Forschungen Band 120

Zucht und Ordnung Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive

Herausgegeben von Stefan Grüner Markus Raasch

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 978-3-428-15068-7 (Print) ISBN 978-3-428-55068-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-85068-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt Stefan Grüner / Markus Raasch Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Stefan Grüner Gewalt als Erziehungsmittel, Kindesrechte und Kinderschutz. Historische Grundlinien seit der Aufklärung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 I. Gewalt in Schule und Familie Stephanie Kirsch „Schulen“ in Rom und die Kritik an der kindbezogenen Gewalt in der Literatur des ersten nachchristlichen Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Christiane Richard-Elsner Gewalt gegen Kinder im Mittelalter. Züchtigung von Kindern in der Lateinschule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Markus Raasch Erziehung und häusliche Gewalt. Ein Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte des Katholizismus im 19. Jahrhundert   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Sarina Hoff Vom Ende der „Prügelpädagogen“. Der Weg zur Ächtung von körperlichen Schulstrafen in Hessen und Rheinland-Pfalz 1945–1974  . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 II. Heime und Kliniken Rudolf Oswald „Der Stock ist doch wirklich nicht der Erziehung größte Weisheit“. Die Gewaltdebatte in der katholischen Anstaltspädagogik, 1900–1933  . . . . . . . . . 195 Silke Fehlemann / Frank Sparing Wiederkehrende Gewalt. (Kriegs-)Kinder in den psychiatrischen Einrichtungen des Rheinlandes 1945–1954  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Isabel Richter Jugendwerkhöfe in Thüringen. Sozialistische Umerziehung zwischen Anspruch und Realität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

6 Inhalt III. Recht und medizinisch-psychologische Wissenschaften Anne Purschwitz Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes. Das Beispiel Sachsen (1680–1860)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Sace E. Elder Ein gerechtes Maß an Schmerz. Körperliche Züchtigung, die Subjektivität von Kindern und die Grenzen vertretbarer Gewalt im Kaiserreich und der Weimarer Republik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Stefan Grüner Kinder und Trauma. Zur wissenschaftlichen Konzeptionalisierung von kindlicher Kriegs- und Gewalterfahrung seit dem 19. Jahrhundert  . . . . . . . . . 321 IV. Sexuelle Gewalt gegen Kinder Rebecca Heinemann Im Zweifel für das Kind? Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Kaiserreich und in der Weimarer Republik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Dagmar Lieske Von „Gemeingefährlichen“, „Sittlichkeitsverbrechern“ und „Geschändeten“. Die Verfolgung von sexuellem Kindesmissbrauch im Nationalsozialismus  . . 403 Sonja Matter Das „unschuldige“, das „verdorbene“ und das „traumatisierte“ Kind. Die Prekarität des Opferstatus bei sexueller Misshandlung in österreichischen Strafprozessen (1950–1970)   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Michael Mayer Gewalt gegen Kinder und gesellschaftlicher Wandel. Die „Sex Crime Panic“ in den USA in den 1950er Jahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484

Einleitung Von Stefan Grüner / Markus Raasch I. „Leid jedoch, Kindern angetan, ist schlechthin un­ erträglich.“1 (Hans Keilson, 1979)

Folgt man einer im Jahr 2003 veröffentlichten Studie von UNICEF, dann erleiden allein in den OECD-Ländern, also in den derzeit 34 wirtschaftsstärksten Industriestaaten der Erde, jährlich etwa 3.500 Kinder unter 15 Jahren tödliche Verletzungen aufgrund von Misshandlung oder Vernachlässigung.2 Für Deutschland spricht die polizeiliche Kriminalstatistik nur für das Jahr 2017 von 64 getöteten Kindern, die zu mehr als drei Vierteln jünger als sechs Jahre alt waren. Statistisch gesehen kam damit jede Woche mehr als ein Kind durch Tötungsdelikte ums Leben; jeden Tag wurden zudem fast 50 Kinder Opfer von Misshandlung oder sexueller Gewalt.3 Ungeachtet wachsender Kenntnisse über das Ausmaß und die Ursachen von Gewalt gegen Kinder liegen überdies die vermuteten Dunkelziffern nach wie vor hoch. Allein diese wenigen Zahlen sensibilisieren dafür, dass die weitgehende soziale Ablehnung und die rechtliche Ächtung von Gewalt gegen Kinder, wie sie etwa in der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 / 1990 zum Ausdruck kommt, eine zugleich historisch junge wie offenkundig immer noch sehr fragile Errungenschaft moderner Gesellschaften darstellt. Diese Einsicht ist umso bemerkenswerter, als der Themenkreis „Gewalt gegen Kinder“ vor allem seit den 1970er Jahren wachsende Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gefunden hat und intensiv erforscht worden ist. Jene Varianten einer „Formenlehre“ der Gewalt, die in der jüngeren Forschung üblicherweise mit 1  Keilson,

S. 1. bei Kindern durch Misshandlungen und Vernachlässigung in den Industrieländern. Zusammenfassung der internationalen Vergleichsstudie „Child Maltreatment Deaths in Rich Nations“, s. UNICEF-Innocenti Report Card Nr. 5. 3  Bundeskriminalamt, Opfer, S. 12 (Fälle von vollendetem Mord und Totschlag). Die Kriminalstatistik nennt für 2017 4.208 Kinder als Opfer von Misshandlung und 12.850 Kinder als Betroffene in Fällen von vollendetem sexuellen Missbrauch, vgl. Bundeskriminalamt, Straftaten, S. 21, 42. 2  Todesfälle

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Kindern in Verbindung gebracht werden – Vernachlässigung, körperliche und psychische Misshandlung sowie sexueller Missbrauch in Familien und Institutionen, Kinderarbeit oder Kindestötung – haben eine selbst für Experten kaum mehr überschaubare Fülle an juristischer, medizinischer, psychologischer, soziologischer und pädagogischer Literatur angeregt.4 Seit in der US-amerikanischen pädiatrischen Forschung der frühen 1960er Jahre erstmals systematisch das „Battered Child Syndrome“ als Symptomgruppe konstituiert und dabei noch vorsichtig als Ausdruck einer sozialen Problematik in den Blick genommen wurde5, wuchs das verfügbare Wissen über Diagnose, Prävention und Folgen von kindgerichteter Gewalt erheblich an. Wenn in der Fachliteratur die Ursachen von Kindesmisshandlung diskutiert werden, dominieren mittlerweile multidimensionale Erklärungsansätze. Neben der Psychopathologie der Täterinnen und Täter führt die Forschung vor allem soziale Bedingungsfaktoren und biographische Erfahrungen der Erziehungsberechtigten ins Feld, darunter krisengenerierende Lebensbelastungen und Stressoren wie Armut, Arbeitslosigkeit, berufliche Probleme oder soziale Isolation der Familie. Diese können oft in Kombination mit Alkoholund Drogenmissbrauch sowie zurückliegenden eigenen Gewalterfahrungen der Eltern bei der Genese von Gewalthandlungen gegen Kinder wirksam werden. Nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Quellenlage und der fehlenden Meldepflicht sind allerdings selbst für Deutschland so grundlegende Faktoren wie das aktuelle quantitative Ausmaß oder die historische Ent­ wicklungstendenz von kindgerichteter Gewalt umstritten. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann davon ausgegangen werden, dass Körperstrafen als Erziehungsmittel hierzulande im Rückgang begriffen sind, während jedoch Fälle von besonders schweren Misshandlungen keineswegs in vergleichbarem Maße abnehmen.6 Tragfähige Einschätzungen sind auch deshalb schwierig, weil es jüngeren empirischen Studien zufolge insbesondere zwischen den Gewaltformen der Vernachlässigung, der körperlichen Misshandlung und des sexuellen Missbrauchs von Kindern in der Praxis häufig zu Überschneidungen oder zeit­ 4  Stellvertretend sei hier neben den im Weiteren aufgegriffenen Arbeiten eine Auswahl von umfassend angelegten Handbüchern und Sammelbänden genannt: Deegener / Körner; Egle u. a. Immer noch hilfreich und v. a. zum Zeitpunkt der Übersetzung ins Deutsche im Jahr 1978 sowie bis in die 1990er Jahre wichtig für den Transfer von Erkenntnissen der US-amerikanischen Forschung in den deutschsprachigen Raum ist Helfer u. a. (engl. Erstauflage s. Kempe / Helfer). 5  Als frühe Schlüsseltexte fungierten Kempe u. a.; Kempe / Helfer. Vgl. zu den Entstehungszusammenhängen die Beiträge in Krugman / Korbin. 6  Eingehend und differenzierend zu Definitionen, Häufigkeit, Überschneidungen und „Dunkelfeld“ der Gewaltformen sowie zur Symptomatik s. Engfer; Melzer u. a.; Deegener; in knapper Form etwa auch Mertens / Pankofer.

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lichen Verknüpfungen kommt. Unbestritten ist jedoch, dass vor allem das Themenfeld der sexuellen Gewalt gegen Kinder unter anderem aufgrund der spezifischen Täterprofile gesondert zu betrachten ist. Ältere Fehlannahmen und Mythen vom vorwiegend „fremden“ Sexualtäter sind mittlerweile überzeugend entkräftet worden. So deuten neuere Studien für Deutschland darauf hin, dass es – in der Reihenfolge der Häufigkeit – in erster Linie Bekannte im Umkreis der Familie, dann Verwandte und Angehörige wie Onkel, Brüder, Väter oder Cousins und schließlich unbekannte Personen waren, die als Täter auftraten; die Annahme, wonach „nur oder überwiegend Väter ihre Töchter missbrauchen“7, muss daher ebenfalls differenziert werden. Eine sig­ nifikante Geschlechterkomponente wohnt dem Phänomen jedoch durchaus inne: Treten doch, statistisch gesehen, deutlich mehr männliche als weibliche Täter in Erscheinung, während Mädchen sexuelle Gewalt je nach Erhebung ca. vier- bis fünfmal häufiger als Jungen erleiden. Zu nuancieren ist im Übrigen auch die verbreitete Auffassung von der intergenerationellen Weitergabe von Gewalt. Wenngleich eigene Opfererfahrungen im Kindesalter die Wahrscheinlichkeit ansteigen lassen, in künftigen Erziehungsverhältnissen selbst zum Täter oder zur Täterin zu werden, legen jüngere Untersuchungen doch den Schluss nahe, dass es vielen, möglicherweise sogar den meisten Betroffenen gelingt, bei günstigen Bedingungen die Kette der Gewalt in ihrem eigenen Handeln zu unterbrechen.8 Gegenüber solchen grundlegenden, an den Problemlagen moderner Industriegesellschaften orientierten und stark gegenwartsbezogenen Erkenntnissen – die im gegebenen Zusammenhang nur knapp wiedergegeben werden können – besitzen wir für zurückliegende Jahrhunderte allenfalls punktuelles Wissen über soziale Praxis und Rechtfertigungsstrategien oder auch über Ansätze zur Eindämmung von Gewalt gegen Kinder. Dieser offenkundige Mangel an Untersuchungen erstaunt, da bereits seit Jahrzehnten konkurrierende Großentwürfe der historischen Kindheitsforschung vorliegen, die Gewaltszenarien durchaus nicht unbeachtet lassen. Während Philippe Ariès in seiner bis heute einflussreichen Pionierstudie die Geschichte der Kindheit seit dem Mittelalter im Wesentlichen als eine Verlustgeschichte im Zeichen zunehmender Kontrolle und Disziplinierung darstellte9, gelangte Lloyd ­deMause zu einem anders gerichteten Befund.10 Er konstatiert einen langwierigen Prozess des Fortschritts, in dessen Verlauf Gewaltpraktiken verschiedenster Art über Jahrhunderte hinweg dominierten und erst in gegen7  Engfer,

S. 18. Deegener. 9  Ariès (dt.: Geschichte der Kindheit, München 1975). 10  deMause, History (dt.: Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt am Main 1977). 8  Engfer;

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wartsnaher Zeit, also in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zurücktraten. Seither verfüge man über die geeigneten theoretischen Hilfsmittel, um dem jahrhundertelangen „Alptraum“ gequälter Kindheit auf absehbare Zeit ein Ende zu bereiten.11 Gewalt gegen Kinder nimmt in beiden Darstellungen einen deutlich unterschiedlichen Stellenwert ein: Erscheint sie bei Ariès eher beiläufig und vorwiegend im Gewand sexueller Übergriffe, deren Darstellung eine Teilebene des kindbezogenen Mentalitätenwandels illustrieren soll, kommt ihr bei deMause entscheidende Indikatorfunktion zu, um die These vom zivilisatorischen Besserungsprozess zu untermauern. Gemeinsam ist beiden Texten die Annahme einer relativen Indifferenz vormoderner Gesellschaften gegenüber der Kindheit als eigenständiger Lebensphase, aus deren Existenz sich etwa Formen von besonderer Schutzwürdigkeit hätten herleiten lassen. In der historischen Forschung, wo vor allem Ariès’ Thesen Anlass für wissenschaftliche Gegenrede boten12, konnte sich keines der beiden Deutungsmodelle von Kindheit und kindbezogener Gewalt durchsetzen. Eine Überblicksdarstellung zur historischen Dimension von Gewalt gegen Kinder existiert, abgesehen von deMause’s allzu fortschrittsoptimistisch-linear gehaltener Studie, bislang nicht. Neuere Untersuchungen hierzu mit übergreifendem Anspruch finden sich bis heute in Gestalt von informativen, aber eher tentativ gehaltenen Aufsätzen13 oder wenigen Aufsatzsammlungen, die Epochengrenzen nicht immer überschreiten.14 Selbst jüngere, verdienstvolle Überblickswerke zur Geschichte der Kindheit thematisieren „Gewalt gegen Kinder“ zwar, widmen dem Gegenstand aber keine zusammenhängenden Abschnitte oder Deutungen.15 So liegt einschlägiges historisches Wissen jenseits der genannten Arbeiten verstreut in Publikationen etwa zum Wandel von Vorstellungen über gelungene Erziehung und „gute Kindheit“16, zur Rolle von Religion und Kirche17, zur Gewalt in Familie und Schule18, in der Reformpädagogik19 und in der staatlichen Heimerziehung vornehmlich in der 11  deMause,

Evolution, S. 12. Pollock; Shahar; Classen; Jarzebowski / Safley. Dazu auch Frijhoff; Jarzebowski, Gotteskinder. 13  Ten Bensel u. a.; Bange; Fürniss. 14  Krebs / Forster; Brockliss / Montgomery; Mustakallio / Laes. 15  Cunningham (dt.: Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit, Düsseldorf 2006); Fass; Baader u. a.; Winkler. 16  Thematisiert u. a. bei Gebhardt; Dekker; Buchner-Fuhs / Fuhs. 17  s. dazu etwa Wensierski; Schäfer-Walkmann u. a.; Frings / Kaminsky; HähnerRombach; Jaschke; Ries / Beck; Bing-von Häfen u. a. 18  Thematisch einschlägig sind etwa Döbler; Frenz; Hafeneger; Ecarius; MüllerMünch; Kössler. 19  Vgl. u. a. Dudek. 12  Z. B.

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Bundesrepublik und der DDR20, zum Phänomen der Kindstötung seit der Antike21, zur Kinderarbeit22, zu sexueller Gewalt gegen Kinder in verschiedenen Epochen der Geschichte23, zur Entwicklung des Rechts der Kinder24 oder auch zur Geschichte des Kinderschutzes25 vor. International vergleichende Studien fehlen so gut wie völlig.26 Die vergleichsweise zögernde Entdeckung von kindgerichteter Gewalt als Gegenstand der historischen Forschung ist eng verknüpft mit ihrer späten gesellschaftlichen Wahrnehmung und Einschätzung als solcher. Weder die Konstituierung des Gegenstandes „Kindesmisshandlung“ vornehmlich durch JuristInnen, MedizinerInnen und SozialwissenschaftlerInnen seit den 1960er Jahren noch die Thematisierung von familiärer Gewalt seitens der zweiten Frauenbewegung oder der jüngeren Kinderschutzinitiativen seit den 1970ern wurden als Impulse im Fach breiter aufgenommen. In Deutschland brachte erst die durch Opferberichte erzeugte und medial verstärkte Aufmerksamkeit auf die Zustände in der Heimerziehung nach 1945, speziell auch die Fälle systematischen sexuellen Missbrauchs im Landerziehungsheim Odenwaldschule und in kirchlichen Institutionen, die Erforschung des Themas etwa seit der Jahrtausendwende intensiver in Gang. Das neue Interesse folgte nicht nur den Konjunkturen der geisteswissenschaftlichen Auftragsforschung oder der Tendenz zur Psychohistorie, sondern reflektierte die gesellschaftlich breit akzeptierte Ausweitung des Gewaltbegriffs im Laufe der vergangenen vier Jahrzehnte. Demzufolge wird die Anwendung von Gewalt in familiären Zusammenhängen und in Institutionen aus Gründen der erzieherischen Disziplinierung, der Verteidigung männlicher Ehre, zur Befriedigung von Affekten oder sexuellem Verlangen als inakzeptabel eingeschätzt.27 Die Grenzen dessen, was als sanktionswürdiges Leiden und Erleiden von Erwachsenen und Kindern wahrgenommen wird, sind deutlich ausgedehnt worden. Diese gesellschaftliche Bedingtheit historiographischen Erkenntnisbemühens ist wohl als ein wichtiger Grund dafür einzuschätzen, dass die Verknüp20  Z. B. Gatzemann; Hagen; Frölich; Glocke; Henkelmann u. a.; Dreier / Laudien; Eilert; Kraul u. a.; Sieder / Smioski; Bauer; Rudloff. 21  van Dülmen; Jackson, Infanticide; Lichte; Häßler u. a.; Tuor-Kurth; Catalano. 22  Z. B. Kuczynski; Heywood; Horn; Hindman, American History; Kirby; Rahikainen; Boentert; Honeyman; Hindman, World; von der Haar; Lieten / van Nederveen Meerkerk; Rosenberg; Goose / Honeyman. 23  Dazu u. a. Hommen, Sittlichkeitsverbrechen; Hommen, Körperdefinition; Kerchner, Kinderlügen; Jackson, Child Sexual Abuse; Ingram; Kerchner, Sexualdiktatur; Kerchner, Körperpolitik; Robertson; Jarzebowski, Inzest; Loetz; Michelsen; Cottier. 24  Z. B. Zenz; Bussmann; Brokamp; Hennes; von Bock; Engel; Fengler; Hinz. 25  Beispielsweise Lutterbach; Malleier. 26  Vgl. hingegen Engel. 27  Hierzu Hagemann-White, bes. S. 14.

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fung von historischer Kinder- und Gewaltforschung im Grunde erst am Anfang steht. So bietet die von verschiedensten Fächern betriebene, in sich sehr vielgestaltige und von unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und spezifischen „Ausblendungen“ getragene sozialwissenschaftliche und historische Gewaltforschung aktuell keine eindeutigen erkenntnisleitenden Fragenraster, Erfassungskategorien oder spezifischen Methoden, die ohne Adaption auf die historiographische Erfassung von Gewalt gegen Kinder übertragen werden könnten.28 Die wohl wichtigste Einsicht ergibt sich daher unmittelbar aus dem bereits existierenden Forschungskorpus: Als eine Form des sozialen Handelns verstanden, ist Gewalt vor allem in ihrer kindgerichteten Ausprägung nicht lediglich anthropologische Konstante, sondern in hohem Maße kulturell bedingt und damit historisch wandelbar. Die Bestimmung dessen, was als Gewalt (gegen Kinder) zu begreifen ist, stellt sich stets auch als ein Ergebnis gesellschaftlicher Übereinkunft bzw. „sozialer Codierung“ dar.29 Gerade historisch arbeitende Fächer sollten daher die Chance wahrnehmen, Kontexte, Formen und Wandel von kindbezogenen Gewaltkonzepten zum Gegenstand zu machen. Diesbezüglich legitimierende und handlungsleitende „Konstruktionen von Wirklichkeit zu beschreiben“30, ihre Inhalte zu erkunden und die Ursachen und Verlaufsformen des Übergangs vom Akzeptierten zum Geächteten zu verdeutlichen, darf als eine zentrale Aufgabe der modernen Kindheitsforschung bezeichnet werden. Gegenwärtig ist klar, dass sich die Geschichte kindgerichteter Gewalt in allzu eingängigen historischen Verortungen und Entwicklungsmodellen nicht fassen lässt: Offenkundig kann sie weder im Sinne eines quasi-naturhaft gegebenen intergenerationellen Verhaltensmusters noch als Teil einer einsträngigen Erfolgshistorie modernen Kinderschutzes hinreichend beschrieben werden. Die Herausgeber dieses Bandes plädieren außerdem dafür, über der soziologisch, kriminologisch oder kulturwissenschaftlich inspirierten Suche nach Ursachen oder Konstruktionen das historische Faktum des Erleidens von physischem und psychischem Schmerz nicht aus der Geschichte zu eskamotieren, sondern die damit verbundene „Wirklichkeit der Gefühle, der Emotionen, der sinnlichen Erfahrung und der Phantasie“ ebenso ernst zu nehmen wie das körperliche Erleiden der Opfer.31 Kindliches Gewalterleben und dazugehörige Bewältigungsstrategien dürfen nicht ausgeblendet werden, wenn HistorikerInnen Kinder nicht „als reine Objekte der Geschichte“32, sondern als historische Akteure betrachten wollen. 28  Vgl. dazu die Forschungsüberblicke bei Krüger; Honig; Melzer u. a.; Helfferich u. a., S.  7. 29  So mit Bezug auf den von Clifford Geertz geprägten Begriff s. Christ. 30  Steinmetz, S. 249. 31  von Trotha, S.  26 f. 32  Stargardt, S. 21.

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II. Vor diesem Hintergrund versammelt unser Band die Ergebnisse einer Tagung, die vom 13.–15. November 2015 in der Politischen Akademie Tutzing stattgefunden hat. Unter bewusster Auslassung der Ausnahmesituation Krieg33 nimmt er den Themenkreis „Gewalt gegen Kinder“ systematisch und epochenübergreifend in Augenschein, wobei Kontinuitätslinien ebenso interessieren wie Wandlungsprozesse, Ungleichzeitigkeiten und Brüche. Das Augenmerk gilt Alltagserfahrungen ebenso wie dem (Nicht-)Reden über kindgerichtete Gewalt. Um einen substantiellen Beitrag zur Historisierung dieser Fragenkomplexe zu leisten, wird die methodische Metaebene dabei stets mit zu reflektieren sein: Anhand welcher Quellen lässt sich eine Geschichte der Kindesmisshandlung schreiben? Inwiefern bestehen spezifische Konventionen der Tabuisierung, Marginalisierung, Emotionalisierung oder Verstärkung? Welche terminologischen Probleme sind zu lösen? Wo liegen spezifische methodische Herausforderungen? Wo stößt die historiografische Arbeit an ihre Grenzen? Die Begriffsdefinitionen fassen wir bewusst weit. So wird beispielsweise neben „Gewalt“ auch „Kindheit“ als „kulturell variable soziale Konstruktion“ begriffen.34 Um einen epochenübergreifenden Zugriff um­ setzen zu können, sollen unter ihr alle Formen von Minderjährigkeit subsumiert werden. Im Sinne einer erweiterten Hinführung beschäftigt sich Stefan Grüner zunächst mit der Frage nach der diskursiven Rechtfertigung von Gewalt als Erziehungsmittel in Familie und Schule seit der Aufklärungszeit und mit den Ursachen der allmählichen Delegitimierung dieser Gewaltform im Gefolge der Formulierung und Umsetzung von Kindesrechten und Kinderschutz. Ausgehend von der weiten Verbreitung von erzieherisch intendierten Körperstrafen in Deutschland mindestens bis in die 1970er Jahre macht der Verfasser auf die große historische Beharrungskraft eines kulturellen Deutungsmusters aufmerksam, dem zufolge die Praxis der Prügelstrafe gegenüber Kindern so lange akzeptabel war, als dabei „Exzesse“ vermieden wurden. Spätestens um 1900 weithin etabliert, aber in seinen Wurzeln seit der Aufklärungszeit nachweisbar, markierte dieses Paradigma den argumentativen Kern des rechtfertigenden Sprechens über Körperstrafen und steckte zugleich die Grenzen des Sagbaren ab. Erst seit den 1970er Jahren, vor dem Hintergrund eines deutlich gewandelten gesellschaftlichen Referenzrahmens mit stärker individualisierten Kinderbildern und gewandelten Geschlechterrollen, aber auch unter dem Einfluss der Jahrzehnte währenden wissenschaftlichen Konstruktion des Paradigmas „Kindesmisshandlung“, erfuhr diese lange weithin 33  Vgl.

hierzu Denzler u. a. Kindheit, S. 576 f.

34  Jarzebowski,

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konsensuale Form der Verständigung über erzieherische Gewalt eine entscheidende Neujustierung. Sodann differenziert der Band das Thema auf vier Ebenen aus. Im ersten Abschnitt Gewalt in Schule und Familie werden zwei besonders relevante Problemfelder näher vermessen. Lange in ihrer Bedeutung unterschätzt, darf familiale Gewalt wohl als die „bei weitem verbreitetste Form von Gewalt“ gelten, die „ein Mensch im Verlaufe seines Lebens erfährt“.35 Bis ins 20. Jahrhundert galt Ähnliches auch für die Schule, die ob ihrer hohen gesellschaftlichen Bedeutung und ihres teilöffentlichen Charakters einen weiteren „klassischen“ Ort kindlicher Gewalterfahrung bildete und vielfach zum Ankerpunkt für kritische Debatten wurde. Stephanie Kirsch zeigt dies für die römische Antike auf. Sie konturiert anhand ausgewählter literarischer Beispiele (u. a. Martial, Quintilian, Sueton) die Wandlungen in der Sicht auf kindbezogene Gewalt im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Dabei wird deutlich, dass bis dahin der Legitimationsgedanke in der lateinischen Literatur dominierte – und zwar im Hinblick auf Gewalt gegen Kinder durch den Vater wie auch die Lehrperson. Den Hintergrund bildete ein Erziehungssystem, das in erster Linie auf die häusliche Sphäre ausgerichtet war. Als dann jedoch in Abhängigkeit von demografischen Veränderungen die Hauserziehung an Bedeutung verlor und sich der Schulunterricht professionalisierte, wuchs insbesondere in den Oberschichten das allgemeine Interesse an (schul-)pädagogischen Leitfäden; in diesen aber waren gewaltablehnende Stimmen keine Seltenheit. Sie forderten mit Blick auf spätere politische Karrieren eine „richtige“, d. h. altersgemäße Behandlung der Kinder und dementsprechend eine sorgfältige Auswahl der Lehrpersonen. Als Negativbild zeichneten sie den im Elementarbereich tätigen „ludi magister“, der für gewöhnlich nicht-römischer oder sozial niederer Herkunft war und mit Arbeit, Armut und Sklavendasein assoziiert wurde. Kritisiert wurden jedoch auch einige, mit weit größerem symbolischem Kapital ausgestattete, Grammatik- und Rhetoriklehrer. Die Ablehnung kindgerichteter Gewalt figurierte somit als Teil eines schulreformerischen Diskurses, wurde aber keineswegs umfassend verstanden. In einem System, das wesentlich auf Autorität und Ordnung gründete, schien sie grundsätzlich unerlässlich. Auch Christiane Richard-Elsner, die sich dem späten Mittelalter und ­amentlich der Züchtigung von Kindern in der städtischen, vornehmlich n von privilegierten Jungen besuchten Lateinschule zuwendet, akzentuiert die Grautöne und relativiert so die tendenziöse Vorstellung eines ausnehmend gewalttätigen Zeitalters. Unter anderem anhand von Autobiografien und Schulbüchern kann sie deutlich machen, dass Prügelstrafen als alltägliche 35  Schwind

u. a., S. 75; Melzer u. a., S. 958.

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Praxis im Unterricht erlebt und häufig als Leid, je nach Intensität aber auch als Unrecht wahrgenommen wurden. So findet sich in den Quellen die Einschätzung, wonach Züchtigung nicht Ausdruck von Geringschätzung oder Affekthandeln sein, sondern für alle Beteiligten ein vorhersehbares Resultat bestimmter, klar erwiesener Vergehen darstellen sollte. In den lateinischen Dialogsammlungen des Paulus Niavis etwa deutet sich an, dass Körperstrafen insbesondere gegenüber jüngeren Schülern als ein unverzichtbares Mittel betrachtet wurden, um im Unterricht Ordnung zu stiften und Lernerfolg zu ermöglichen. Regelverstöße konnten je nach Schwere aber auch milder sanktioniert werden, und es galt das Ideal des durch persönliche Vorbildhaftigkeit wirksamen Lehrers. Die Wahrnehmung der schulischen Prügelpraxis – auch das zeigt sich in den Quellen – fiel in den Familien und der kommunalen Öffentlichkeit recht uneinheitlich aus. Konnte der elterliche Unmut über körperliche Züchtigungen einerseits so massiv ausfallen, dass Lehrkräfte entlassen wurden, setzten Eltern offenbar andererseits auch auf die Furcht ihrer Kinder vor der harten schulmeisterlichen Bestrafung. Markus Raasch beschäftigt sich mit dem methodisch schwer zu erschließenden Bereich der häuslichen Gewalt und lotet dabei für das 19. Jahrhundert die spezifischen Prägungen des Katholizismus aus. Als Grundlage dienen ihm einschlägige Erziehungsratgeber und Ego-Dokumente besonders glaubenstreuer katholischer Adeliger. Er arbeitet heraus, dass die untersuchten Personen einem neuthomistisch geprägten Erziehungsverständnis anhingen, das sich für empathische Fürsorge stark machte und komplementär Züchtigung bei schwereren Vergehen als erforderliches, aber im Hinblick auf Anlass, Zeitpunkt und Durchführung an klare Vorgaben gebundenes Übel betrachtete. Die soziale Praxis schien weitgehend im Einklang mit den Erziehungsnormen zu stehen, sodass glaubenstreue Katholiken im 19. Jahrhundert keine Sonderstellung beanspruchen konnten. Gleichwohl insistiert der Verfasser auf den „feinen Unterschieden“: So waren die Untersuchten beispielsweise vom Ehr- und Härtenarrativ evangelischer Adeliger, das eine besonders vielgestaltige Gewaltpraxis bedingte, ebenso weit entfernt wie vom bürger­ lichen Ideal der kindgerechten Erziehung. Sarina Hoff fokussiert schließlich die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und macht deutlich, wie vorsichtig mit dem Fortschrittsparadigma umzugehen ist. Die Verfasserin vergleicht für den Zeitraum von 1945 bis 1974 die Diskurse über körperliche Schulstrafen in Hessen und Rheinland-Pfalz, wobei ihr Augenmerk den Aushandlungsprozessen gilt, die zur Ächtung führten. Auf Grundlage der Ministerialakten, der Presseüberlieferung und von Parlamentsprotokollen kann sie herausarbeiten, dass sich in Rheinland-Pfalz seit den 1940er Jahren regional sehr unterschiedliche administrative Praxen ­herausbildeten. Das Kultusministerium verzichtete in der Frage körperlicher Züchtigungen aber grundsätzlich auf ein Eingreifen. In Hessen war demge-

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genüber jede Gewaltanwendung durch den Lehrer seit 1946 offiziell verboten, weil diese die durch nichts zu relativierende Menschenwürde der Schüler verletze und das Bemühen um eine freiheitlich-demokratische Erziehung konterkariere. Als explizite Negativfolie galt die NS-Zeit. An diesem Verbot entzündete sich freilich immer wieder heftige Kritik sowohl von Seiten der Lehrerschaft als auch aus der Öffentlichkeit. Die einschlägigen Argumente kreisten dabei darum, dass Autorität und Ordnung der Schule gewahrt werden müssten. Zumal in den 1950er Jahren, als überkommene Ordnungsvorstellungen u. a. durch das Phänomen der „Halbstarken“ und Jugendproteste im Kontext von Wiederbewaffnung und Atomrüstungsdebatte erschüttert wurden, häuften sich im Ministerium Zweifel am Verbot, vermochten aber nicht tonangebend zu werden. Somit bestanden in Hessen bereits einschlägige Rechtsvorgaben, ehe sich die öffentliche Meinung in den 1960er Jahren veränderte und die körperliche Züchtigung von Schülern in Misskredit geriet. Umgekehrt erfuhr die Rechtslage in Rheinland-Pfalz erst 1970 / 1974 eine Revision, als der öffentliche Druck zu groß geworden war und neben der SPD auch Teile der zeitweise regierenden FDP für ein Verbot eintraten. Dass die prinzipielle Ächtung körperlicher Züchtigung in der Schule gelang, lässt folglich evident werden, wie einschneidend sich der „Wertewandel“36 der 1960er Jahre ausnahm. Gerade die historische Tiefenschau zeigt, dass die Begriffe „Autorität“ und „Ordnung“ stark an Diskursmacht verloren hatten. Der zweite Abschnitt dieses Bandes nimmt Heime und Kliniken exemplarisch in Augenschein. So untersucht Rudolf Oswald für Südbayern den Gewaltdiskurs in der katholischen Anstaltspädagogik zwischen 1900 und 1933 und arbeitet dabei eine zentrale Einsicht heraus: Obgleich sich dieser einer gegenüber Heimverhältnissen zunehmend kritischen Öffentlichkeit zu stellen hatte, war er in großen Teilen von der Überzeugung getragen, dass Züchtigung einen elementaren Bestandteil von Erziehung darstelle. Zugleich zeigt sich eine markante Vielschichtigkeit, denn den intransigenten, an die „Erbsünde des Kindes“ glaubenden Befürwortern einer „Schwarzen Pädagogik“ standen abwägende Stimmen gegenüber, die um die „richtige Erziehung“ zwischen Fürsorge und Härte rangen. Überdies existierten auch für katholische Einrichtungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts reformpädagogische Ansätze, die kindliche Selbstbestimmung postulierten und einer gewaltlosen Erziehung das Wort redeten. Abgesehen von einigen Vorzeigeheimen in München konnte sich diese allerdings nicht durchsetzen. (Katholische) Heim­erziehung blieb elementar mit Gewaltausübung und kindlichem Leid verbunden. Ähnlich fällt der Befund von Silke Fehlemann und Frank Sparing aus. Am Beispiel der „Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie Bonn“ und 36  Sarina

Hoff gibt eine klare Antwort auf Dietz u. a.

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ihrer Geschichte zwischen 1945 und den frühen 1950er Jahren verfolgen sie ein doppeltes Erkenntnisinteresse. Zum einen geht es ihnen um die medizinhistorische Ebene und die Frage der (Dis-)Kontinuitäten zum Nationalsozialismus, zum anderen wollen sie erhellen, wie Kinder und Jugendliche ihren Psychiatriealltag erlebten und welche Rolle dabei Gewalterfahrungen spielten. Als Quellen ziehen die Verfasser Patientenakten nebst Selbstzeugnissen wie Zeichnungen, Briefen oder Tagebucheinträgen heran. Mit ihrer Hilfe können sie bei Personal, Anamnese und Diagnostik signifikante Kontinuitätslinien zum „Dritten Reich“ nachweisen. Auffällig ist, dass die Ärzte Kriegserfahrungen durchweg nicht als Ursache für seelische Störungen anerkannten. Stattdessen häuften sich gerade bei kriegsgeschädigten Kindern Diagnosen wie „charakterlich abartig“, „psychopathisch“ oder „schwererziehbar“, häufig in Kombination mit der Feststellung einer vermeintlichen Intelligenzminderung („schwachsinnig“). Es erscheint offenkundig, dass sich die deutsche Psychiatrie im Betrachtungszeitraum weiterhin an erbbiologischen Krankheitskonzepten orientierte, während die Bedeutung von kriegsbezogenen Gewalterfahrungen für die psychische Verfasstheit von Kindern zur gleichen Zeit vor allem von nicht-deutschen Psychiatern und Psychologen diskutiert wurde. Die Gewalterfahrungen, die Kinder in der Bonner Klinik machen konnten, waren ebenso zahlreich wie mannigfaltig: Sie reichten von der Nachsicht der Klinikärzte gegenüber elterlicher Gewalt und der Stigmatisierung sexueller Missbrauchsopfer über schmerzhafte medizinische Untersuchungen, emotionale Vernachlässigung und strategische Isolation von Familienangehörigen bis zu körperlicher Gewalt durch das oftmals überlastete Pflegepersonal und andere Heimkinder. Ein besonderes Kapitel repressiven staatlichen Handelns rückt Isabel Richter in den Blickpunkt. Sie widmet sich am Beispiel Thüringens der Erziehungspraxis in den etwa 70 Jugendwerkhöfen (JWH) der DDR. In diesen sollten aus vermeintlich schwererziehbaren Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren, die weder im Besitz eines Schulabschlusses noch einer Berufsausbildung waren, „sozialistische Persönlichkeiten“ gemacht werden. Richter illustriert die vier Säulen der Umerziehung in den JWH – die von der Freien Deutschen Jugend (FDJ) getragene politisch-ideologische Erziehung, die Arbeitserziehung, die Erziehung zu Disziplin und Ordnung sowie die Freizeiterziehung – und konstatiert für alle Bereiche beträchtliche Zwangselemente. Die Jugendlichen waren nach militärischem Vorbild einem reglementierten Tagesablauf und rigiden Kontrollregime unterworfen, absolvierten eine vormilitärische Ausbildung und hatten sich an öffentlicher Politagitation zu beteiligen. Sie durften sich prinzipiell die obligatorische Berufs(teil-)ausbildung nicht aussuchen, leisteten Zwangsarbeit für staatliche Betriebe oder private Auftraggeber und wurden entgegen offiziellen Vorgaben schon bei minderschweren Vergehen Opfer von Inhaftierung, körperlicher Züchtigung

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und Kollektivstrafen; pädagogisch-psychologische Betreuung stand nicht zur Verfügung. Fast zwangsläufig gehörte Gewalt durch Mitinsassen in den JWH zum Alltag. Der dritte Abschnitt des Bandes setzt sich unter der Überschrift Recht und medizinisch-psychologische Wissenschaften mit jenen Wissens- und Praxisfeldern auseinander, deren VertreterInnen sich kraft ihrer Funktionen früh in systematischer Weise mit dem Phänomen der kindgerichteten Gewalt und mit Formen des Kinderschutzes beschäftigt haben. Dabei blickt zunächst Anne Purschwitz auf die frühe Neuzeit. Am Beispiel Kursachsens kann sie mithilfe von Gesetzessammlungen und Prozessakten für den Zeitraum zwischen 1680 und 1860 deutlich machen, dass dort über den Betrachtungszeitraum hinweg kaum rechtliche Möglichkeiten zur Sanktionierung von Gewalt gegen Kinder bestanden haben. Auch manifestierte sich kein ausgeprägtes Verständnis hinsichtlich der Schutzwürdigkeit von Kindern, Debatten über die Intensivierung ihres rechtlichen Schutzes wurden nicht geführt. Dennoch stellt sich der aus den Quellen geschöpfte Befund differenzierter dar, als es diese grundsätz­ lichen Einsichten vermuten lassen. Ablesbar an der Zahl einschlägiger Prozesse wurden vornehmlich Fälle von Kindesmord und Abtreibung einer ­gerichtlichen Untersuchung unterzogen. Der effektive Schutz ungeborenen ­Lebens war gesetzlich intendiert, jedoch in praxi kaum umzusetzen, da der Nachweis für einen Schwangerschaftsabbruch nur schwer geführt werden konnte. Ähnliches galt für das Delikt der Kindstötung, das zudem seit B ­ eginn des 19. Jahrhunderts deutlich weniger vor kursächsischen Gerichten verhandelt wurde, während Fälle von Vernachlässigung stärker in den Blick gerieten. Mangelhafte Kleidung und Ernährung von Säuglingen, bei älteren Kindern auch unzulängliche Erziehung und Schulbildung rückten meist aufgrund von Anzeigen aus dem sozialen Umfeld ins Visier der Gerichte. Oft verliefen derartige Prozesse allerdings im Sande, auch weil keine finanziellen Mittel gegeben waren, um Kinder aus problematischen Familienverhältnissen ­herauszuholen. Körperliche Misshandlung durch Lehrer, Dienstherren oder Eltern wurde nur dann vor Gericht verhandelt, wenn ein Übermaß an Gewaltanwendung konstatiert wurde. „Rechtsprechung“ bedeutete demnach für viele Kinder, insbesondere wenn sie aus minder privilegierten Schichten stammten, eine zusätzliche Leid­erfahrung. Obschon intensiver als je zuvor über die Schutzwürdigkeit von Kindern gesprochen wurde,37 sah dies für den Übergang ins 20. Jahrhundert wenig anders aus, was Sace E. Elder deutlich macht. Sie zeichnet die rechtlichen Grenzen vertretbarer Gewalt gegen Kinder in Kaiserreich und Weimarer Republik nach, wobei sie dem kindlichen Erleben besondere Beachtung schenkt. So kann sie anhand der Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches von 37  Prägnant

dazu z. B. Stambolis, S. 17–28.

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1871, von juristischen Kommentaren und Urteilsbegründungen deutlich machen, dass die Rechtsprechung des deutschen Kaiserreichs in Fällen von Kindesmisshandlung grundsätzlich auf die Tatsache des Rechtsbruchs abhob und eine strafrechtliche Bedeutung der Opfererfahrung negierte. Gleichwohl nutzten untergeordnete Instanzen das kindliche Schmerzempfinden – oder das vermeintliche Fehlen desselben – als Maßstab, um die Schwere einer Misshandlung festzustellen. Im frühen 20. Jahrhundert änderte sich zunächst wenig an der Rechtspraxis, obwohl das Strafrecht 1912 den Begriff der Kindesmisshandlung einführte. Das Interesse der Gerichte galt vornehmlich der Intention des Täters und nicht dem inneren Erleben des Opfers. Erst allmählich wirkte sich die zunehmende Diskursmacht von Reformpädagogen, Kinderschutzaktivisten und nicht zuletzt Kinderpsychologen aus. Je mehr sie als Sachverständige wertgeschätzt und zu Gerichtsverfahren herangezogen wurden, desto stärker berücksichtigte die Rechtsprechung die Innerlichkeit des Kindes, wobei der überkommene Begriff des Ehrgefühls als Hilfskonstrukt diente. Die strafrechtliche Anerkennung psychischer Kindesmisshandlung wurde freilich erst – unter politisch völlig anderen Rahmenbedingungen – durch Gesetzesnovellen von 1933 und 1943 festgeschrieben. Stefan Grüner wendet sich demgegenüber der Konzeptionalisierung von kindlichen Gewalterfahrungen in den medizinischen und psychologischen Wissenschaften zu. Anhand der Entwicklung der Traumatheorie und des zeitweise konkurrierenden Hysteriekonzepts verfolgt er den langen wissenschaftsgeschichtlichen Weg, der von frühen Ansätzen zur Erfassung seelischer Störungen bei Erwachsenen infolge traumatisierender Ereignisse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Ausweitung des Traumakonzepts auf Kinder in den 1980er Jahren führte. Die Ursachen für die späte Integration verortet der Verfasser in fachwissenschaftlichen Weichenstellungen wie den Prämissen der Freud’schen Neurosenlehre, mehr noch aber im Wandel von gesellschaftlichen Wertorientierungen, Leitbildern und historischen Erfahrungen. Die Folgen zweier Weltkriege und des Holocaust, die Zunahme kriegerischer Auseinandersetzungen seit den 1980er Jahren und die resultierenden Fluchtbewegungen, aber auch die neue Wertschätzung kindlicher Individualität zählen zu den Faktoren, die einer veränderten wissenschaftlichen Sichtweise den Weg bahnten. Mit der transatlantischen Rezeption des „Posttraumatischen Belastungssyndroms“ (PTBS) in der deutschen Psychiatrie nahm daher nicht nur ein fachlicher Paradigmenwechsel Gestalt an. Obwohl wissenschaftlich keineswegs unumstritten, schreibt das PTBS ein seelisches Störungsbild fest, das die Exogenie der traumatischen Erfahrung in den Vordergrund rückt und die Rolle des Opfers betont. In den Debatten um Gewalt gegen Kinder wuchs dem Traumakonzept in Deutschland somit seit den späten 1980er Jahren die Funktion eines wissenschaftlichen Bezugssystems zu, das den kollektiven Wahrnehmungs- und Bearbeitungsprozess vorantrieb und fokussieren half.

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Das Themenfeld der sexuellen Gewalt gegen Kinder, dem sich der vierte Abschnitt des Bandes widmet, nimmt hinsichtlich der TäterInnengruppen, Tatmotive und Tatzusammenhänge zweifellos eine Sonderstellung ein. Rebecca Heinemann untersucht für das ausgehende 19. und das erste Drittel des 20. Jahrhunderts die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Form von Gewalt gegen Kinder in Deutschland. Ihr Quellenfundament bilden veröffentlichte Gutachten von Juristen, Medizinern oder Psychologen sowie in der Fachliteratur beschriebene Fälle. Markant nimmt sich die von ihr herausgearbeitete Ambivalenz aus: Entsprechend dem bürgerlichen Kindheitsentwurf bestand ein durchaus ausgeprägtes Bewusstsein für die Schutzwürdigkeit des Kindes namentlich in der Frage sexueller Gewalt. Davon zeugen etwa die wachsende Zahl der vor Gericht verhandelten Missbrauchsfälle, der in internationaler Perspektive durchaus ungewöhnliche Umstand, dass Kinder als Zeugen vor Gericht zugelassen wurden, sowie die verhältnismäßige Härte der Urteile. Wirkungsmächtig war allerdings eine aus dem bürgerlichen Tugendverständnis abgeleitete Sichtweise, die im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch weniger die kindlichen Gefühle als eine mögliche „moralisch-sittliche Verwahrlosung“ der Opfer im Blick hatte. Es nimmt daher nicht wunder, dass insbesondere Sexualvergehen gegen Kinder aus unterbürgerlichen Schichten zur Anzeige gebracht wurden. Zahlreiche Stimmen mahnten außerdem das Kampagnenpotential bei Sexualstrafrechtsfällen an und warnten vor der (sozialen) Verurteilung „unbescholtener Bürger“. In Interdependenz dazu suchten Mediziner und Juristen häufig eine Mitschuld bei den Opfern – vor allem, wenn diese schon zuvor sexuelle Kontakte gepflegt hatten. Insbesondere in den 1920er Jahren sezierten die Gerichte kindliche Aussagen denn auch mit wachsendem Misstrauen, ohne weitere Zeugen war eine Verurteilung bald kaum mehr möglich. Zur Vielschichtigkeit des gesellschaftlichen Umgangs mit sexuellem Missbrauch gehörte es aber ebenso, dass diese Praxis einige Kritik erfuhr und ihr, wie im Falle Sachsens, durch die Umsetzung von kindbezogenen Reformen des Strafprozessrechts entgegengesteuert wurde. Der Beitrag von Dagmar Lieske schließt hier fast unmittelbar an. Die Verfasserin betrachtet den Zäsurcharakter der nationalsozialistischen Machtübernahme und untersucht anhand von Polizei- und Gerichtsakten die Verfolgung von sexuellem Kindesmissbrauch zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Rechtslage änderte sich nach 1933 in gravierender Weise: Sie ermöglichte es durch das Instrument „der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher“ sowie des „Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“, Sexualstraftäter dauerhaft in Haft zu nehmen, zu kastrieren und / oder in ein Konzentrationslager einzuweisen. Seit 1937 reichte ein angeblicher verbrecherischer Wille aus, um dieser Maßnahmen teilhaftig zu werden. Sexualstraftaten betrafen dabei nicht nur Missbrauchsfälle im engeren Sinne, sondern auch Exhibitionismus, So-

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domie sowie die Verbreitung unzüchtiger Bilder und Schriften. Lieske betont, dass viele Sexualdelikte nicht geahndet oder lediglich mit milden Strafen belegt wurden. Wenn jedoch eine entsprechende „Neigung“ konstatiert wurde – was vornehmlich bei Tätern aus unterprivilegierten Schichten geschah –, waren „Sexualstraftäter“ einem besonders repressiven Strafregime ausgesetzt. Sie kamen nicht nur schneller in ein Konzentrationslager als andere Vorbestrafte, sondern sahen sich dort auch einer ausgesprochen rigiden Behandlung ausgesetzt; ihre Todesrate fiel relativ hoch aus. Ideelle Grundlage dieser Verfolgungspolitik bildete in erster Linie der Schutz der rassen­ hygienisch determinierten „Volksgemeinschaft“, deren Zukunft unweigerlich von einer im nationalsozialistischen Sinne „reinen“ Jugend abhing und die deshalb wesentlich auf der Vorstellung des entprivatisierten Körpers gründete. Das repressive Vorgehen gegen die Täter ging daher keineswegs mit stärkerer Hinwendung des NS-Staates zu den Opfern von sexueller Gewalt einher, die als potenzielle Gefahr für die Integrität des „Volkskörpers“ erachtet wurden. Sonja Matter verschiebt die Perspektive von der Konstruktion der „Täter“ wieder zur Realität der „Opfer“. Sie beschäftigt sich mit Strafprozessen wegen „Unzucht mit Kindern“, die zwischen 1950 und 1970 am Kreisgericht St. Pölten in Österreich durchgeführt wurden. Dabei verdeutlicht die Verfasserin wichtige Aufbrüche, allerdings auch frappierende Kontinuitäten in der Deutung sexueller Gewalt im Allgemeinen und in der Problematik des Opferstatus bei sexueller Misshandlung im Besonderen. Denn offenkundig hielt sich – in betroffenen Familien wie auch bei den Behörden – bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vorstellung, wonach weibliche Opfer sexueller Gewalt als „sittlich verdorben“ oder als Verführerinnen der angeklagten Männer anzusehen seien. Entgegen der herrschenden Rechtsauffassung trugen die Richter diesem Aspekt wiederholt Rechnung und setzten konse­ quenterweise auch das Strafmaß für den Täter herab. Gleiches galt, wenn Mädchen bereits vor dem Missbrauch sexuell aktiv gewesen waren. Die begutachtenden Psychiater stützten teilweise die Verdorbenheitsthese, rückten vereinzelt aber auch das seelische Erleiden der Opfer in den Vordergrund. Die Stimmen der Opfer wurden durchaus gehört, sie spielten aber für die Urteilsfindung in der Regel nur eine Nebenrolle. Welch enormes politisches Stellvertreterpotential das Thema des sexuellen Missbrauchs besitzt, veranschaulicht schließlich Michael Mayer in seinem Beitrag. Er analysiert die sogenannte „Sex Crime Panic“, die gegen Anfang der 1950er Jahre in den USA im Gefolge zweier brutaler Sexualmorde an Kindern zu beobachten war. Zu ihren Begleiterscheinungen gehörten neben einer hysterischen Presseberichterstattung und einer Serie von „Aufklärungsbüchern“ auch Lynchaktionen gegen vermeintliche Täter. Staat und Politik reagierten in mehreren US-Bundesstaaten mit Polizeirazzien und der Einrich-

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tung von Untersuchungskommissionen oder der Verschärfung des Sexualstrafrechts. Der Beitrag entfaltet die These, wonach der kollektive Umgang mit kindgerichteter Gewalt in den USA in dieser Phase nur aus der Zusammenschau mehrerer umfassender Entwicklungsprozesse zu begreifen ist. Um die historischen und gesellschaftspolitischen Kontexte zu verdeutlichen, greift der Verfasser auf psychiatrische und kriminologische Texte sowie auf Berichte parlamentarischer Untersuchungskommissionen und öffentliche Anhörungen zurück. Ihm zufolge spielten bei der gesellschaftlichen Konstruktion des „Sexualstraftäters“ mehrere Wirkungsebenen eine wichtige Rolle, auf denen sich in verbreiteter zeitgenössischer Wahrnehmung die Bedrohung überkommener Geschlechterrollen und sozialer Ordnung manifestierten. Der Wandel im Verhältnis der Geschlechter seit dem 19. Jahrhundert wurde dabei ebenso wirksam wie veränderte Auffassungen von Sexualität, die neue Gefahren im Hinblick auf die „Verweiblichung“ von Erziehung und die Effe­ minisierung der Gesellschaft zu signalisieren schienen. Die provozierten Ver­ unsicherungen führten zu Abwehrreaktionen, die sich im Rahmen der „Sex Crime Panic“ auf drastische Weise Bahn brachen. Der Umgang mit sexueller Gewalt gegen Kinder wies daher, so der Verfasser, im Betrachtungszeitraum Züge einer Stellvertreterdebatte auf, in der es weniger um den Schutz der Opfer oder um deren Gewalterfahrung ging als darum, im Umbruch befindliche Ordnungsvorstellungen in Sachen Familie, Mutterschaft, Männlichkeit und Sexualität neu zu bestimmen. III. Zum Schluss bleibt den Herausgebern, allen Beteiligten ihren Dank auszusprechen. Insbesondere gilt er den Autorinnen und Autoren, die diesen Band mit ihrem Fachwissen bereichert und ihn überhaupt erst möglich gemacht haben. Auch mehrere Institutionen und Personen haben sich um sein Zustandekommen verdient gemacht. Außerordentlich hilfreich war das engagierte Entgegenkommen seitens der Akademie für Politische Bildung Tutzing und ihres Referenten für Zeitgeschichte, Dr. Michael Mayer. Das Zentrum für Angewandte Geschichte, vertreten durch seinen Direktor, Prof. Dr. Gregor Schöllgen, hat mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss die materielle Grundlage für die vorliegende Publikation gelegt, Prof. Dr. Michael Kißener und Prof. Dr. Thomas Raithel standen in dankenswerter Weise für Diskussionen und hilfreiche Kommentare zur Verfügung. Höchste Anerkennung gebührt Kathrin Kiefer M. A., denn ohne ihren geduldigen Einsatz und ihre umsichtige redaktionelle Arbeit hätte der Band kaum in dieser Form erscheinen können.

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Gewalt als Erziehungsmittel, Kindesrechte und Kinderschutz. Historische Grundlinien seit der Aufklärung* Von Stefan Grüner I. Einleitung Gewalt war und ist in Erziehungsverhältnissen seit Jahrhunderten präsent. Bereits in der Antike lassen sich Belege dafür finden, dass körperliche Gewalt als Mittel zur Disziplinierung und Bestrafung von Kindern eingesetzt wurde; ebenso lassen sich aber auch seit dem Altertum kritische Gegenstimmen und alternative Sichtweisen feststellen, die indes noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nirgendwo mehrheitsfähig wurden.1 Dieser Beitrag möchte historische Entwicklungslinien deutlicher sichtbar machen, die sich aufgrund der recht disparaten Forschungslage bislang erst schemenhaft abzeichnen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der konzeptionellen Rechtfertigung von Gewalt als Instrument der Erziehung in Familie und Schule seit der Aufklärungszeit sowie nach den Wurzeln der Delegitimierung eben dieser Gewaltform im Zeichen der Formulierung und Umsetzung von Kindesrechten und Kinderschutz. Damit rückt die leitende Frage in den Mittelpunkt, wann, wieso und durch wen Gewalt gegen Kinder als „Grenz­ überschreitung“2 empfunden, diskutiert und sanktioniert wurde. Im Grunde stellt sich die Aufgabe, das über Jahrhunderte und bis nahe an die Gegenwart in Erziehungsverhältnissen allzu Selbstverständliche und Unmittelbare auf dem Weg der Historisierung wahrnehmbar zu machen.3

* Für die eingehende Lektüre dieses Textes und für weiterführende Hinweise danke ich herzlich Rebecca Heinemann und Thomas Raithel. 1  An zeitlich übergreifenden Darstellungen zum Thema seien genannt: Pollock; Zenz, Kindesmißhandlung, S. 19–42; für Antike und Mittelalter: Mustakallio / Laes; Ten Bensel u. a.; Bange, Kinder; Fürniss; Brockliss / Montgomery; für die USA: Thomas. Vgl. hierzu auch die Literaturhinweise in der Einleitung dieses Bandes sowie die Beiträge von Stephanie Kirsch und Christiane Richard-Elsner. 2  Schumann, Gewalt. Der Text thematisiert Gewalt in Erziehungsverhältnissen nur am Rande. 3  Dies nach Landwehr, S. 165.

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Dieser Text knüpft damit an einen thematischen Schwerpunkt des vorliegenden Bandes an und greift eine historisch besonders wirkmächtige Form des gewaltförmigen Handelns gegen Kinder heraus. Das historiographisch bislang nur punktuell erschlossene Themenfeld der sexuellen Gewalt gegen Kinder hingegen bedürfte eigener Erörterungen und wird im Folgenden nur in vermittelter Form und im Kontext der Kinderschutzthematik angesprochen.4 Anhand wichtiger Literatur und ausgewählter Quellen, darunter päda­ gogische Schriften, Erziehungsratgeber, Ego-Dokumente, Meinungsumfragen und zeitgenössische familiensoziologische, juristische oder medizinische Studien, soll der Versuch einer themenzentrierten Zusammenschau für (West-)Deutschland geboten werden; dort wo dies bereits möglich ist, werden international und transnational gerichtete Perspektiven integriert. In der jüngeren Forschung stieß die historische Dimension von gewaltaffinen Erziehungsstrafen in Familie und Schule für die Zeit der Moderne bislang kaum auf Interesse. Das gilt sowohl für die Erziehungswissenschaften, die in Deutschland „pädagogische Strafen“ seit etwa vier Jahrzehnten nurmehr selten thematisierten5, als auch für die Historiographie, die sich bislang nahezu ausschließlich für die (Rechts-)Geschichte von Kriminalstrafen interessierte.6 Ansätze zur alltagsgeschichtlichen Eingrenzung von „kleiner Gewalt“ oder zur sozialwissenschaftlichen Bestimmung von Gewalt im „sozialen Nahraum“ haben bisher noch keine systematische historiographische Anwendung für das Feld der erzieherisch gedachten Gewalt gegen Kinder gefunden7; in der historischen Gewaltforschung ist kindgerichtete Gewalt kaum präsent.8 So bestimmen für Deutschland überwiegend ideengeschichtliche Studien, einzelne Quellensammlungen und knapp gehaltene Überblicke den Forschungsstand.9 Auch international hat die Historisierung des Themas erst seit der Jahrtausendwende zunehmend Aufmerksamkeit gefunden und ist bisher noch nicht über Anfänge der Bearbeitung hinausgelangt; allerdings 4  Zu Begriff und Erscheinungsformen von Gewalt gegen Kinder s. die Einleitung dieses Bandes. 5  Richter, Strafen, S. 10 f. 6  Vgl. aus der Fülle der jüngeren Literatur etwa von Hentig; Foucault; Société Jean Bodin pour l’Histoire Comparative des Institutions; Evans; Kubink; Miethe; Schubert; Spierenburg; Boes; Luther; Lusset. 7  s. zu den beiden Begriffen und Gewaltkonzepten Lindenberger / Lüdtke, S. 22–27; Brandstetter. 8  Vgl. etwa den Forschungsüberblick bei Schumann, Gewalt, oder auch die Überblicksdarstellungen bei Heitmeyer / Soeffner oder Beck / Schlichte. 9  An jüngeren Darstellungen, die mindestens einzelne historische Aspekte berücksichtigen, seien genannt: Scheibe; Willmann-Institut; Rohrbach; von Borries; Krebs /  Forster; Kramer / Steffen; Windsch; Hafeneger; Speitkamp, bes. S. 148–150 (Erziehung); Richter, Strafen; Müller-Münch; vgl. seitens der Zeitgeschichtsforschung jüngst Rudloff, bes. S. 266–276; Kössler.



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liegen etwa für Frankreich und die USA bereits erste quellengestützte monographische Darstellungen vor.10 Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Thema Kinderschutz: Neben der kaum mehr überschaubaren Fülle an vorwiegend gegenwartsorientierten sozialwissenschaftlichen, sozialpädagogischen, medizinischen oder psychologischen Publikationen finden sich zumal für Deutschland nur wenige, die den Gegenstand historisch erfassen. Es fällt auf, dass auch hier Schriften zur Geschichte des angloamerikanischen und französischsprachigen Raums am stärksten vertreten sind. International vergleichend angelegte Publikationen rücken ihrerseits überwiegend die Darstellung der Rechtslage in den Vordergrund.11 Dieser Beitrag wird sich in zwei größeren Abschnitten zunächst mit der Verteidigung und der späten Ächtung von Gewalt als erzieherisch intendiertem Instrument in pädagogischen Konzepten seit dem 17. Jahrhundert beschäftigen (II.) und sich dann der Geschichte von Züchtigungsrecht, Kindesrechten und Kinderschutz zuwenden (III.); ein Fazit (IV.) wird schließlich wesentliche Befunde zusammenfassen. II. Pädagogisch intendierte Gewalt in Familie und Schule 1. Erziehungslehren der Aufklärungszeit Die Ambivalenz, die die Aufklärungspublizistik und die zeitgenössisch neu entstehende Pädagogik in grundsätzlicherer Weise prägte, manifestiert sich auch im theoretisierenden und praktischen Umgang mit Strafe. Gemeint ist insbesondere das latente Spannungsverhältnis zwischen dem zeitgenössisch artikulierten Anspruch auf pädagogisch gelenkte Konstruktion eines neuen Menschen in emanzipatorischer, gesellschaftspolitischer Absicht und der zugleich vorzufindenden Tendenz zur sozialen Disziplinierung und gesellschaftlichen Nutzbarmachung des Individuums.12 Die Autoren der Aufklärung wandten sich in ihren Erziehungslehren keineswegs gegen das Prinzip des Strafens in der Erziehung, das als notwendiger Teil jeder pädagogischen 10  Vgl. zum Thema der Erziehungsstrafen etwa für Frankreich seit 1800 Caron; Dessertine; Krop; s. zu Großbritannien u. a. Humphries; Ellis; für die USA bietet auch historische Aspekte Straus; Straus u. a. 11  s. dazu für Deutschland und den deutschsprachigen Raum Wilken; Fegert u. a., Kinderschutzverläufe, S. 18–50; Malleier. Als übergreifend angelegte rechtshistorische Arbeiten seien neben der Pionierstudie von Zenz, Kindesmißhandlung, genannt: Priester; Göbel; historische Perspektiven integriert Liebel. Vgl. zur internationalen Forschung u. a. Hendrick; Vasseur; Skehill; Pleck; Myers; Swain / Hillel; Marissal; Denéchère / Niget; Denéchère / Marcillou; Covey; Crane. Zur Entwicklung der internationalen Rechtslage s. Bitensky; Durrant / Smith. 12  Vgl. dazu etwa Tenorth, Geschichte, S. 78–120, bes. S. 80–82.

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Tätigkeit erachtet wurde. Sie fügten es jedoch gedanklich in neue Ordnungssysteme ein, in denen Strafen ihren Willkürcharakter verlieren und als Teil eines pädagogischen Konzepts berechenbarer, also in diesem Sinne gerechter werden sollten. Wohl am weitesten in der Ablehnung körperlicher Sanktionen gegen Kinder und Heranwachsende ging John Locke (1632– 1704).13 In seinem auch international einflussreichen Traktat „Some Thoughts Concerning Education“ (1693) warnte er davor, Kinder durch unnötig demütigende oder körperliche Strafen zu unehrlichen und „kleinmütigen“ Persönlichkeiten zu erziehen, die aufgrund ihrer erworbenen „unnatürlichen Sittsamkeit“ weder sich noch andere im Leben voranbringen würden: Beating then, and all other sorts of slavish and corporal punishments, are not the discipline fit to be used in the education of those we would have wise, good, and ingenuous men; and therefore very rarely to be applied, and that only in great occasions, and cases of extremity. […]14

Lockes Argumentation bezog sich in erster Linie auf die Ausbildung männlicher Schüler, künftiger „gentlemen“, deren Werdegang er durch die Vermittlung einer auf rationale Lebensbewältigung zielenden Tugendlehre gelenkt sehen wollte. Nur wenn Eltern ihre Kinder als vernunftbegabte Wesen akzeptierten und entsprechend behandelten, nur wenn Wertschätzung und gegebenenfalls das Erzeugen von Scham über das eigene Tun als erzieherische Leitmotive an die Stelle von Belohnung und Strafe traten, so Locke, würden bestimmte Erziehungsziele von den Schülern akzeptiert und nicht nur stumpf übernommen werden. Körperstrafen waren in dieser Sicht nicht ausgeschlossen, aber nur in Ausnahmefällen und sinnvollerweise bei jüngeren Kindern anzuwenden, die möglichst früh an „Willfährigkeit“ und „Fügsamkeit des Willens“15 gewöhnt werden sollten. Generell stellten sie indes ein menschliches und intellektuelles Ärgernis dar in einem Erziehungskonzept, das bereits die Internalisierung und nicht vorwiegend den Oktroi von sozialen Normen in den Vordergrund rückte. Ähnlich explizit vorgetragene Skepsis gegenüber einer harten Strafpädagogik wurde auch im deutschsprachigen Raum des 17. und 18. Jahrhunderts im religiösen und philanthropischen Milieu laut. In der pädagogischen Praxis führte das jedoch keineswegs zum Gewaltverzicht. Für diese Beobachtung steht unter anderem einer der profiliertesten pietistischen Lehrer der Aufklärungszeit, der evangelische Theologe August Hermann Francke (1663–1727), und sein Werk. In den Erziehungseinrichtungen, die er seit 1695 in Glaucha nahe Halle ins Leben rief und nach und nach zu einer „Schulstadt“ erweiterte, verknüpfte er die Armenfürsorge mit Kindererziehung und Vorformen u. a. Schärer; Tarcov. S. 37 (§ 52). 15  Locke, S. 34 (§ 44). 13  s.

14  Locke,



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universitärer Ausbildung. Der Unterricht sollte die Schüler und Schülerinnen zu einer gottgefälligen, von Wahrheitsliebe, Fleiß und Gehorsam getragenen Lebensführung anleiten und vom persönlichen Beispiel der Lehrer getragen sein, die sich den Kindern gegenüber nach Christi Vorbild „nicht murrisch, zornig, oder verdrüßlich und ungeduldig, sondern vielmehr liebreich und freundlich“ zu zeigen hatten.16 Christliche Unterweisung und wissenschaft­ licher Unterricht waren freilich in Franckes Sicht nicht denkbar ohne den Gebrauch der „Ruthe“, zumal dann, „wenn die Kinder schon verzärtelt, alt, und in ihrem eigenen Willen schon verstärcket sind, und so lange, bis sie sich selbsten überwunden haben, und ohne Zwang einer liebreichen Anführung folgen.“17 In Franckes Erziehungssystem waren Strafen im Kontext eines pietistisch geprägten Menschenbildes unverzichtbar, weil die von der Erbsünde gezeichnete, vom Hang zur Bosheit und zur Schwäche geprägte Menschennatur nur so auf den rechten Weg zum christlichen Heil gelenkt werden konnte. Die Vermittlung christlicher Tugenden war schlechterdings nicht umsetzbar, ohne den naturgegebenen Drang von Kindern zu „Lügen, Eigen-Wille und Müßiggang“ rechtzeitig einzuhegen und so „ihren Willen zu brechen“.18 Das Prinzip der Körperstrafen stand damit nicht zur Disposition, wohl aber war dessen Umsetzung mit Bedacht vorzunehmen: Im Übermaß gebraucht, würde körperliche Bestrafung die Kinder „tückisch, lügenhaft und hinterlistig“ werden lassen, den Hass auf Erzieher und Eltern schüren und den Weg zum Evangelium mit Abneigung und Feindseligkeit pflastern. Daher hatten sich Erziehungspersonen selbst zu disziplinieren, nicht im Affekt und ohne vorherige Belehrung zu strafen, Mitleid zu zeigen, die Gesundheit der Kinder ebenso wie ihre individuelle mentale Disposition zu beachten und stets den nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen Vergehen und Strafe im Auge zu behalten.19 Auch waren in Franckes pietistisch fundierter Erziehungslehre Körperstrafen nicht das bevorzugte Instrument. Im Falle von Disziplinpro­ blemen sollten Blicke des Lehrers, Ermahnungen oder das Herausholen der Kinder aus der Klasse dem Schlagen vorgezogen werden, wie ohnehin ein straffer Tagesplan und die strenge Aufsicht über das Alltags- und Leistungsverhalten der Schüler in den Francke’schen Erziehungsanstalten das Mittel der Wahl zur Durchsetzung von Ordnung war. Ungeachtet dessen war der Einsatz von Körperstrafen in der Einrichtung offenkundig weit verbreitet, 16  Francke, Unterricht, S. 50. Franckes Text ging aus Vorlesungsmanuskripten hervor und wurde erstmals 1702 als Erziehungsratgeber für Eltern und Hauslehrer veröffentlicht. Zum Kontext s. Martius, S. 136–154, Zitat S. 140; Menck; Loch; Oberschelp. 17  Francke, Unterricht, S. 50. 18  Francke, Unterricht, S. 36, 38. 19  Francke, Unterricht, S. 50–54, Zitat S. 51.

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davon geben gerade jene Vorschriftensammlungen einen Eindruck, die Francke für seine vorwiegend studentischen Lehrer zur Eindämmung von Exzessen erlassen hat. Ihnen zufolge sollten Kinder nicht auf den Kopf oder ins Gesicht geschlagen, nicht mit umgedrehter Rute oder mit dem Spanischen Rohr geprügelt, nicht mit dem Stock auf Finger, Arme und Beine oder in die flache Hand geschlagen und auch nicht an den Armen oder Haaren gerissen werden. Körperliche Male wie „Striemen, Beulen und Wunden“ waren tunlichst zu vermeiden, Schläge auf die Hände oder auf den Rücken waren jedoch erlaubt.20 Dass es dabei nicht nur um Erziehungsmaximen, sondern auch um das Erscheinungsbild der Einrichtung nach außen hin ging, wurde intern klar thematisiert; entsprechende Überlegungen zeigen sich in Franckes Anordnung, wonach von scharfen Strafen abzusehen war, wenn sich Besucher in den Klassen oder auf dem Schulgelände aufhielten.21 Auch im akademischen Streit der philanthropischen Reformbewegung des späten 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Problematik der richtigen Erziehungsmittel zu einer intensiv diskutierten Leitfrage. In dem Maße, in dem sich pädagogische Schriftsteller und Praktiker mit den Bedürfnissen des Kindes beschäftigten, geriet das Problem der möglichst wirksamen, doch zugleich dem Alter der Zöglinge angemessenen Formen von Belohnung und Strafe zunehmend in den Blick. Wie im Falle von Normabweichungen zu reagieren war, wurde von zahlreichen Autoren grundsätzlich diskutiert, zumeist in Auseinandersetzung mit den Ideen Jean-Jacques Rousseaus (1712– 1778). Dessen kulturkritisch gedachtes Erziehungskonzept, seine Ablehnung der Idee von der grundsätzlichen Verdorbenheit des Menschen und die Zurückweisung einer Pädagogik des Zwanges stießen in der philanthropischen Pädagogik ebenso auf lebhafte Resonanz wie seine Vorstellungen von strafarmer Erziehung. Insbesondere Rousseaus Idealbild des „natürlichen“ Strafens forderte zur Stellungnahme heraus: Es sollte dem Kind den Zusammenhang zwischen der Tat und den sich einstellenden unerfreulichen Folgen unmittelbar vor Augen führen, um so die Einsicht in falsches Verhalten nachhaltig zu fördern. Körperstrafen erfüllten diese Voraussetzung nicht und hatten daher in Rousseaus Erziehungskonzept keinen Platz.22 Bis ins 20. Jahrhundert arbeiteten sich Anhänger und Kritiker an Rous­ seaus pädagogischen Konzepten ab. Bereits die philanthropische Literatur folgte ihm dabei nicht in vollem Maße. Was die Anwendung von Körperstrafen anging, mündeten die Überlegungen dort in aller Regel in eine Position des „im Prinzip nein, aber …“. So stieß sich etwa der Pädagoge Johann 20  Francke,

Instruction, S. 560–573, hier S. 570. Vorbemerkung, S.  250 f. 22  Scheibe, S. 55–84; aus der Fülle der Literatur zu Rousseau sei darüber hinaus genannt: Schäfer; Böhm / Soëtard. 21  Richter,



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Heinrich Campe (1746–1818) am „oft schnöden und barbarischen Betragen mancher Eltern und Erzieher gegen ihre Kleinen“, plädierte mit Nachdruck dafür, Kindern ebenso wie Erwachsenen „ihre unverletzlichen Rechte der Menschheit“ zuzuerkennen und forderte ein elaboriertes System des Belohnens und Strafens. Ziel sollte es sein, die intrinsisch motivierte Besserung der Zöglinge zu bewirken, statt bloß aufgepfropftes Wohlverhalten zu erzeugen. Dazu musste auch nach Campe vor allem ein nachvollziehbarer Konnex zwischen kindlichem Vergehen und Strafe hergestellt werden, außerdem waren materielle Belohnungen im Übermaß ebenso zu vermeiden wie demütigende Beschimpfungen oder Karzerstrafen. Zum „traurigen Nothmittel“ der Rute zu greifen hielt Campe dennoch bei definierten Gelegenheiten für unverzichtbar, so etwa in Fällen eines anhaltenden vorsetzlichen Ungehorsams und einer halsstarrigen Widersetzlichkeit theils bei ganz jungen Kindern, theils bei solchen, von denen man aus völliger Kenntniß ihrer Gemüthsart mit Zuverläßigkeit voraussehen kann, daß sie durch körperliche Schmerzen sich werden beugen lassen.23

Von ähnlicher Ambivalenz war nicht zuletzt die erzieherische Praxis desjenigen Pädagogen gekennzeichnet, der mit seinem Werk zum „Symbol der Aufklärungspädagogik“24 wurde. In Johann Heinrich Pestalozzis (1746–1827) pädagogischem Denken standen die Kategorien Vertrauen und Selbsttätigkeit, die den Erziehungsprozess bestimmen sollten, wie selbstverständlich neben der Forderung nach Gehorsam und Disziplin, der sich die Zöglinge zu unterwerfen hatten. Körperstrafen waren hierbei aus seiner Sicht als generelles ­Erziehungsmittel abzulehnen und blieben denn auch den Lehrern an seinem ­Erziehungsinstitut in Yverdon verboten. Ohrfeigen und Rutenschläge wurden dennoch als äußerstes Instrument der Disziplinierung in Abstimmung mit den Eltern praktiziert, wenn ein Kind „Auflehnung“, „Bosheit“ und „bösen Willen“ zeigte und damit das Vertrauensverhältnis zum Erziehenden unterlief, denn, so Pestalozzi: „Es gibt einen Grad von Unbesonnenheit und bösem Willen, den man selten ohne körperliche Schmerzen unterdrücken kann […]“.25 Die vorgestellten Beispiele stehen für eine allgemeinere Tendenz. Noch in den gelehrten pädagogischen Diskursen der „Sattelzeit“ europäischer Geschichte wurden in Deutschland Körperstrafen gegenüber Kindern vielfach kritisiert, doch nur in seltenen Ausnahmefällen grundsätzlich abgelehnt.26 23  Campe, S. 453, 452, 562, 558. Vgl. zu den philanthropischen Debatten in allgemeinerem Zugriff Biermann. Zu Campe s. auch Heinze, S. 188–191, 326–331. 24  Tenorth, Geschichte, S. 94. 25  Pestalozzi an Syndic Hollard, 20.1.1809, in: Pestalozzi, S. 128–130, hier S. 129 („[…] il y a eu un excès d’étourderie et de mauvaise volonté qu’on peut rarement reprimer sans punition physique“); vgl. Manertz; Tröhler; Stadler. 26  s. dazu etwa die Argumentation bei Möller oder Stephani. Vgl. dazu Heinze /  Heinze, S. 60–62.

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Zwar führten die Skeptiker empirisch geschöpfte Beobachtungen zur psychischen Kindesentwicklung ebenso ins Feld wie Reflexionen zum Schutz der kindlichen Gesundheit oder zur Anwendung von Menschenrechten auch auf die Jüngsten. Als pädagogische ultima ratio blieb die Prügelstrafe indes vor allem aus pragmatischen Gründen akzeptabel. Denn unter der Maßgabe, dass hinsichtlich der Häufigkeit und Intensität Grenzen beachtet wurden, so der verbreitete Argumentationsgang, könne der präventive Gebrauch erzieherischer Gewalt bei kleineren Kindern die spätere Anwendung überflüssig machen; ohnehin seien Kleinkinder rationaler Argumentation noch nicht zugänglich und daher nur für sinnliche Reize empfänglich. Es fällt auf, dass das so umschriebene Rechtfertigungsmuster neben der sich abschwächenden Idee von der Erbsünde als Kernbestand einer argumentativen Legitimation der Prügelstrafe sehr große Langlebigkeit zeigte. Möglicherweise hat gerade der bereits früh diskursiv vertretene, konzeptionell eingehegte Gebrauch von Körperstrafen wesentlich dazu beigetragen, diese als Teil der erzieherischen Praxis bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in akzeptierter Weise fortbestehen zu lassen.27 2. Körperstrafen als Instrument der Erziehung im 19. Jahrhundert Die pädagogische Wirklichkeit in Schulen und Familien war im 19. Jahrhundert nicht durchwegs von brutaler Züchtigung gekennzeichnet, doch waren harte Körperstrafen überaus weit verbreitet. Fassbar wird das Phänomen unter anderem an der einschlägigen Kritik in populärphilosophischen oder sozialmedizinischen Schriften, wie sie etwa der Rostocker Arzt Adolf Friedrich Nolde (1764–1813) im Jahr 1807 formulierte: In vielen hiesigen Familien weiß man die Kinder auch ohne Schläge zum Gehorsam, zur Folgsamkeit und Ordnung zu bringen. […] Gleichwohl denken so nur die Gebildeten und Aufgeklärten unter uns. Bey weitem der größere Theil von Aeltern, und selbst auch einige Lehrer, die sich mit Erziehung und Unterweisung der Kinder beschäfftigen, glauben noch, ohne dieses Mittel nicht fertig werden zu können; und in manchen Familien aus den unkultivirten Klassen gehören noch die Schläge zur Tagesordnung.28

27  s. dazu auch mit weiteren Quellenbeispielen Heinze / Heinze, S. 62–64; Teller, in Auszügen abgedruckt bei Schlumbohm, S. 49–53. 28  Nolde, zit. nach Schlumbohm, S. 227–241, hier S. 240. Zur Kritik an der Erziehungspraxis der bäuerlichen Bevölkerung s. auch Garve, in Auszügen bei Schlumbohm, S. 76 f. In dieser Quellensammlung finden sich weitere Erfahrungsberichte.



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Ob Noldes schichtenbezogene Deutung der erzieherischen Gewaltpraxis in Schulen und Familien zutrifft, muss an dieser Stelle dahingestellt bleiben.29 Es ist vielfach beschrieben worden, in welcher Weise der Weg in die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland unter dem Vorzeichen der „defensiven Modernisierung“ von politischen und rechtlichen, sozialen und ökonomischen Strukturen vonstattenging.30 Die Schul- und Hochschulpolitik in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts wurde davon nachhaltig geprägt. Sie reflektierte und beeinflusste den ambivalenten Wandlungsprozess, in dem sich reformerische Absicht und Stabilisierung des Überkommenen, das Bemühen um Erneuerung und das Einhegen von Veränderungsdynamik überlagerten und trafen. Die Bildungsreformen im Schulwesen, die sich am Beispiel Preußens und Bayerns besonders gut fassen lassen, beschäftigten sich mit dessen normativer Grundlegung und institutioneller Neuordnung, mit der Vereinheitlichung von Zugangsvoraussetzungen, der Abfassung von Lehr­ plänen oder der Professionalisierung der Lehrerausbildung. Die Modernisierungsleistungen, die sich hier anbahnten, waren erheblich, nicht zuletzt hinsichtlich der allmählichen Behauptung eines Eigenrechts schulischer Bildung. Dem standen freilich auch Begrenzungen gegenüber, die vor allem in der Gestaltung des Bildungswesens im Sinne der politischen Indoktrination, der sozialen Disziplinierung und in seiner Tendenz zur Konservierung von gesellschaftlicher Schichtung und schichtenbezogenen Mentalitäten zu suchen sind.31 Besonders die ländlichen Elementarschulen ähnelten noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eher „Bewahranstalten und Disziplinareinrichtungen“ als Orten des strukturierten Unterrichts. Hohe Schülerzahlen, beengte räumliche Verhältnisse und nicht zuletzt Körperstrafen als Erziehungsmittel prägten das Bild. Die gegebenen Rahmenbedingungen, aber auch die vielfach anzutreffende professionelle Frustration der Lehrer und der lange fortbestehende Einfluss des Klerus im Bereich der örtlichen Schulaufsicht machten eine Revision der überkommenen Disziplinierungspraxis auf absehbare Zeit wenig wahrscheinlich.32

29  Vgl. allerdings zur Erziehungspraxis des katholischen Adels den Beitrag von Markus Raasch in diesem Band. D  ie Literatur zum Thema Familie und Kindheit gibt dazu bislang nur sporadisch und punktuell Auskunft, vgl. etwa Bacherler; HardachPinke; Hardach-Pinke / Hardach; Kößler; Weber-Kellermann; Rosenbaum, Formen. 30  Wehler, S. 343–546, zum Folgenden s. Tenorth, Geschichte, S. 121–179. 31  Tenorth, Geschichte, S. 157. 32  Kuhlemann; Meyer, S. 82–89; Caruso, S. 92–158, 240–252, 392–400; Petrat, Schulunterricht, S. 261–265; Petrat, Schulerziehung, S. 88–145; Tenorth, Geschichte, S. 155.

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In den pädagogischen Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts, die das Thema Strafe in der Regel eingehend behandelten, werden die offiziellen Positionen besonders deutlich, die die schulische Praxis bestimmten. Nur wenige Autoren wandten sich gegen den dort regierenden Konsens: Demnach hatten Misshandlung und Gewaltexzesse in der Schule nichts zu suchen, doch war Erziehung „ohne Anwendung von Zwang eine Unmöglichkeit“.33 Ein „maßvoller“ Gebrauch der Rute ohne gezielte Quälereien und Grausamkeiten, so die überwiegende Ansicht, sei nicht mit Misshandlung gleichzusetzen und insbesondere als Voraussetzung eines geordneten Unterrichts unverzichtbar. Kritische Positionen, die sich seit dem letzten Drittel des Jahrhunderts für eine völlige Abschaffung von Körperstrafen in den Schulen einsetzten, blieben demgegenüber in der Minderheit und wurden vorerst allenfalls als ­Außenseitermeinungen wahrgenommen.34 Das galt auch für Texte sozialdemokratischer Autoren, die sich gegen die Prügelstrafe aussprachen.35 Ein ähnliches Bild tritt zutage, wenn man die Gattung der populärpädagogischen Erziehungsratgeber einer Einschätzung zugrunde legt. Auch dort wurde die Prügelstrafe noch im Laufe des 19. Jahrhunderts nur vereinzelt in Frage gestellt, behielt vielmehr in dieser für ein Laienpublikum, aber auch für pro­ fessionelle Erzieher bestimmten Literatur ihren Platz als gezielt genutztes Erziehungsinstrument.36 3. Kontinuitäten und Reformen im 20. Jahrhundert Um die Wende zum 20. Jahrhundert zeigte sich ein differenzierterer Befund. Während die Erziehung zu Gehorsam und zu militärisch inspirierter „Zucht“ in Schulordnungen und amtlichen Stellungnahmen wie selbstverständlich weiter vertreten wurde, bahnte sich ein allmählicher Wandel der Unterrichtsmethoden an, der nicht mehr nur äußerliche Dressur und stupides Memorieren, sondern das didaktisch begleitete Begreifen der Schulkinder in den Vordergrund rückte. In diesem Kontext, aber auch ausgelöst durch Proteste von Eltern und befeuert durch die Kritik der reformpädagogischen Bewegung, gerieten physische Schulstrafen um 1900 zu einem kontrovers diskutierten Thema öffentlicher Debatten.37 Dazu trug nicht zuletzt eine in Deutschland breit rezipierte Buchpublikation der schwedischen Reformpädagogin und Frauenrechtlerin Ellen Key bei: „Das Jahrhundert des 33  Sachse,

S. 127. S. 167–218. 35  Eine Auswahl von einschlägigen Texten findet sich in Lesanovsky, Menschen. 36  Fuchs, S. 58–61, 121–127; Höffer-Mehlmer, Geschichte, S. 79 f. 37  Kuhlemann, S. 244–248; Caruso, S. 359–375; Scheibe, S. 219–253. Vgl. dazu auch den Beitrag von Sace Elder in diesem Band. 34  Scheibe,



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Kindes“38, erstmals 1900 in der Originalsprache veröffentlicht, reflektierte unter anderem die Sichtweisen von Gegnern der Prügelstrafe und provozierte daher den massiven Widerspruch ihrer Verfechter. Das lag vor allem auch daran, dass die Autorin ihre Ideen von erneuerter Kindheit und reformierter Erziehung als Teil einer umfassenderen Vision einer „neuen Gesellschaft“ ohne Krieg, ökonomische Ausbeutung und religiöse Gängelung präsentierte. Kinder sollten künftig als Individuen respektiert und mit umfassenden Rechten ausgestattet sein; dem Recht der zugewandten, gewaltfreien Erziehung kam dabei besondere Bedeutung zu. Körperstrafen stellten sich demgegenüber in den Augen der Autorin als Ausdruck eines „niedrigen Kulturstadium[s]“39 dar. Dass Key eugenische Konzepte vertrat und Erziehungsstrafen keineswegs in toto ablehnte, erregte dabei in Deutschland weniger Aufmerksamkeit als ihre Grundsatzkritik an der zeitgenössischen Schule und die offensive Verteidigung von Kinderrechten.40 Die Befürworter von Körperstrafen bezogen ihre Argumente daher nicht selten auf die schwedische Autorin, wenn reformpädagogische Ansätze generell attackiert werden sollten. So fungierte das Werk Keys etwa für den Augsburger Gymnasiallehrer Josef Hauser als perhorreszierter Gegenentwurf, als es ihm darum ging, Körperstrafen als Teil einer historisch übergreifenden pädagogischen Normalität zu verteidigen.41 Der Jurist und Pädagoge Otto Kiefer argumentierte im Rahmen von psychologisierenden Vermutungen zu den Wirkungen des Prügelns, Kinder nähmen Körperstrafen „nicht so tragisch“ wie es die „modernen Pädagogen (z. B. auch Ellen Key)“ darstellten.42 Überhaupt häuften sich in der veröffentlichten Meinung der einschlägigen Publikationen und Erziehungsratgeber um die Jahrhundertwende einmal mehr die Positionen eines vermeintlich „mittleren Weges“ in der elterlichen und schulischen Strafpraxis: Demnach waren Bestrafungen am besten entlang einer in ihrer Härte abgestuften, dem Lebensalter des Kindes und seinen Vergehen angepassten punitiven Formenlehre vorzunehmen. Je nach Autor reichte das vorgeschlagene Spektrum der Strafen etwa von der mimischen Rüge über den Ausschluss von Vergnügungen oder den Arrest bis hin zur körperlichen Züchtigung, die freilich nur im äußersten Fall anzuwenden war.43

38  Key.

Das Buch erschien erstmals 1902 in deutscher Übersetzung. S. 94. 40  Vgl. zur Deutung etwa die Beiträge in Baader u. a. 41  Hauser, S. 3 f., Zitat S. 3. 42  Kiefer, Psychologie, S. 172. Als Beispiel für ein weiteres Plädoyer zugunsten der Prügelstrafe s. Kiefer, Prügelstrafe. Vgl. zur Biographie von Otto Kiefer Dudek, Züchtigung, S. 81–87. 43  So argumentieren etwa Matthias; Czerny; Kabisch; vgl. hierzu Höffer-Mehlmer, Geschichte, S. 101–122, 129–139; Scheibe, S. 167 ff., 218. 39  Key,

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Umfassend war auch die Palette der argumentativen Rechtfertigungen von Körperstrafen. Sie umfasste die überkommene Auffassung von der Sündhaftigkeit des Menschen ebenso wie den Gedanken, wachsende Unbotmäßigkeit und Kriminalität unter Heranwachsenden effektiv eindämmen, Gehorsam und Disziplin in Familie und Schule durchsetzen oder den drohenden „Bruch mit jeder Autorität“44 abwenden zu müssen. Im Licht dieser Deutungen betrachtet stellt sich der Widerstand gegen die Abschaffung der Prügelstrafe denn auch als Reaktion auf eine Form der Verlustwahrnehmung dar: Darin wurden der beschleunigte sozialökonomische Wandel des ausgehenden 19. Jahrhunderts oder auch die Begleiterscheinungen von Industrialisierung und Urbanisierung mit der drohenden Auflösung von traditionellen Werte­ horizonten, Geschlechter- und Familienordnungen verknüpft. Nur wenige monographisch verdichtete Stellungnahmen lehnten vor dem Hintergrund dieser verbreiteten Argumentationsfigur Gewalt in der Erziehung ab. Hierzu zählten insbesondere jene des Lehrers und katholischen Theologen Heinrich Lhotzky, des evangelischen Pfarrers Friedrich Wilhelm Mader oder des Philosophen und Pazifisten Friedrich Wilhelm Foerster.45 Als in den 1920er Jahren in Deutschland Debatten über die Zukunft von Erziehung und Bildung im neuen demokratischen Staat einsetzten, standen sich die Positionen zur Prügelstrafe in zunehmender Härte gegenüber. Daran hatte die wachsende Zahl von Elternvereinigungen, familienpädagogischen Foren sowie konfessionell oder weltanschaulich orientierten Interessenvertretungen und Zeitschriften auf dem Feld des Bildungswesens ebenso ihren Anteil wie die intensivere Politisierung und Professionalisierung im Umgang mit Erziehungsthemen. Die entschlossene Ablehnung von Körperstrafen an Schulen fand sich während der Zeit der Weimarer Republik unter anderem in Kreisen bürgerlicher Bildungsreformer und Mediziner46 oder im Umfeld des „Bundes Entschiedener Schulreformer“ um den Pädagogen Paul Oestreich.47 Intellektuelle Unterstützung erhielten die Prügelgegner auch aus der entstehenden Kinderpsychologie der Weimarer Zeit. Einer ihrer Mitbegründer, der Philosoph und Psychologe William Stern, hielt Erziehungsstrafen für „unentbehrlich“, wandte sich aber gegen die verbreitete Auffassung, wonach Körperstrafen gerade bei kleinen Kindern anzuwenden waren, da diese subtileren Formen der korrigierenden Einflussnahme noch unzugänglich seien. Abgesehen von kleinen Klapsen in Fällen drohender Lebensgefahr lehnte er Gewalt als Erziehungsmittel ab. Ein starkes Argument hierfür erwuchs bei Stern zu44  Hauser,

S. 3. Foerster; Mader; vgl. hierzu Höffer-Mehlmer, Geschichte, S. 125–129; Dudek, Züchtigung, S. 71–76. 46  Vgl. etwa Liefmann. 47  Oestreich. 45  Lhotzky;



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dem aus der Überlegung, dass harte Strafen gegenüber Kindern unweigerlich die Wahrheitsliebe beeinträchtigen und in „systematische Lügenzüchtung“ münden müssten.48 Vor allem aber im sozialistischen und pazifistischen Milieu wurden kritische Stimmen laut.49 Es war daher wohl auch kein Zufall, dass offenkundig Kinder von Vätern, die sozialdemokratischen Ideen nahestanden, bereits im frühen 20. Jahrhundert mit höherer Wahrscheinlichkeit auf eine gewaltarme Erziehung hoffen konnten.50 Die zeitgenössisch vorgetragenen Argumente waren zum Großteil nicht mehr neu: Körperliche Züchtigung erzeuge in den Kindern „Feigheit, Hinterlist und Trotz“, befördere eine „sklavische Gemütsart“ und gefährde sowohl die Selbstachtung der Opfer als auch die notwendige Vertrauensbasis zwischen Zögling und Erziehenden.51 Nicht nur, aber vor allem auch in der Argumentation sozialdemokratischer Reformer widersprach das Prügeln dem Erziehungsziel der Förderung aufrechter, gerader Persönlichkeiten und beeinflusste die schulische Leistungsfähigkeit der Kinder. Sofern wie in den Arbeiten von Helmut von Bracken oder Otto Rühle die Idee des Klassenkampfs vertreten wurde, sah man in der Prügelstrafe zudem eine „Begleiterscheinung der sozialen Unterdrückung“ und ein strukturelles Hindernis zur Beseitigung der „Klassengesellschaft“.52 Darüber hinaus bemühten sich die Prügelgegner, durch umfangreiche Schülerbefragungen oder Briefaktionen der psychologischen Wirkung von Schulstrafen bei Kindern systematisch nachzuspüren, und warnten vor seelischen Schäden oder möglichen systemkritisch-ideologischen Prägungen der Prügelopfer.53 Für die Täterseite thematisierte man mögliche Zusammenhänge zwischen körperlichen Strafformen und der Neigung zu ­sexuell motivierter Gewalt. Auch umfassendere Lösungsansätze wurden bereits durchdacht, nach denen die Verkleinerung der Klassenstärken und die Reform des Unterrichts Disziplinprobleme vermindern, und auf diese Weise ebenso wie der Ausbau der Kommunikation mit den Eltern schwieriger Schüler die Notwendigkeit von Schulstrafen überhaupt reduzieren sollte.54 48  Stern,

S. 440–456, Zitate S. 441, 455. etwa Borchardt; Rühle; Schulz; von Bracken; hierzu Geuenich, S. 157–161; Andresen. Als einschlägige Publikationen des Verlags „Jungbrunnen“, der der österreichischen Sozialdemokratie nahestand, seien genannt: Jalkotzy; Tesarek. 50  So die Analyse bei Rosenbaum, Arbeiterfamilien, S. 241 f., 249–259, 266. Vgl. dazu auch die vier Familiengeschichten im Anhang der Studie, s. Rosenbaum, Arbeiterfamilien, S. 294–340. Die Autorin stützt ihre Untersuchung auf 30 ausgewertete Interviews mit Personen der Geburtsjahrgänge 1893 bis 1921, die in Arbeiterfamilien aufgewachsen waren. 51  Kutzner, S. 251, 260. 52  von Bracken, S. 105; Rühle, S. 178. 53  So etwa Jalkotzy; Kutzner, S. 257–260; Wagner. 54  Kutzner, S. 252, 265–267. 49  Vgl.

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Parteipolitisch stets eindeutig zuzuordnen waren derartige Haltungen indes keineswegs. So erbrachte eine deutschlandweite Umfrage des Frankfurter In­ stituts für Sozialforschung, die 1929 / 30 unter der Leitung von Erich Fromm und Hilde Weiß durchgeführt wurde, einen differenzierten Befund. Auf die Frage „Glauben Sie, daß man bei der Erziehung der Kinder ganz ohne Prügel auskommt?“ antwortete jeweils eine deutliche Mehrheit der befragten Sozialdemokraten (33 %), Linkssozialisten (50 %) und Kommunisten (35 %) mit „Ja“. Generell bekannten sich Anhänger linker Parteien deutlich häufiger zu einem gewaltfreien Erziehungsstil als die Parteigänger bürgerlicher oder rechtsradikaler Gruppen. Zur Überraschung der Forschenden zeigte sich jedoch ein nicht geringer Anteil von sozialdemokratischen (19 %) und kommunistischen (15 %) Wählern überzeugt davon, dass in der Kindererziehung ohne Prügel nicht auszukommen sei, während umgekehrt immerhin 14 % der Sympathisanten bürgerlicher Parteien und 17 % der befragten Nationalsozialisten den Verzicht auf Körperstrafen favorisierten.55 Auch wenn die letztgenannten Befragtengruppen in absoluten Zahlen nicht groß waren, so deutet sich doch an, dass eine Sozialgeschichte erzieherisch intendierter Gewalt die klassischen Milieu- und Parteizuordnungen nicht unbeachtet lassen, aber auch keineswegs unbesehen als strukturierendes Prinzip übernehmen sollte. Gewalt in schulischen und häuslichen Erziehungsverhältnissen der NSZeit hat bislang wenig Beachtung gefunden. Bekanntlich beeinflusste das wissenschaftliche Interesse an der Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus maßgeblich die Entstehung der internationalen Gewaltforschung nach 1945.56 Dabei standen allerdings politisch und ideologisch motivierte Formen im Vordergrund, wie sie sich in der Kriegspolitik des NS-Regimes und im millionenfachen Massenmord manifestierten. Kinder als Erleidende von Gewalt traten hingegen vornehmlich als Opfer der nationalsozialistischen Rassenund Euthanasiepolitik in den Blick.57 An historiographisch erarbeiteten Einsichten in die Ziele und Mittel nationalsozialistischer Schul- und Familien­ politik mangelt es indes keineswegs. In diesem Kontext wurde vor dem Hintergrund eines erweiterten Gewaltbegriffs zurecht auf die systemische Präsenz von Gewalt in den Institutionen des NS-Erziehungssystems hingewiesen: „Eher latent als manifest“58 gegeben, zeigte sie sich unter anderem in den erzieherischen Leitbildern von Kampf und Militarisierung, im Ausschluss jüdischer Kinder aus dem Bildungssystem, in der ideologischen 55  Fromm, S. 189–192. Die Studie beruht auf 584 erhaltenen Fragebögen, die seitens des Frankfurter Instituts für Sozialforschung verschickt worden waren. 56  Schumann, Gewalt, S. 368 f. 57  Stellvertretend für zahlreiche neuere Studien seien genannt: Kuhlmann; Beddies / Hübener; Zimmermann; Kaelber / Reiter; in breiterem Zugang: Benz / Benz. Zum Thema Kinder im Holocaust s. u. a. Kenkmann. 58  Tenorth, Pädagogik, S. 7–36, hier S. 12.



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Durchdringung von Lehrplänen oder generell in schulischen Interaktionsformen im Zeichen von „Unterwerfung, Lenkung und Kontrolle“.59 Dort wo es Kontinuitäten hinsichtlich schulreformerischer Ideen der Reformpädagogik oder – wie in der Hitlerjugend und im Bund Deutscher Mädel – gruppenpädagogischer Prinzipien der bündischen Jugendbewegung gab, stellten diese sich in erster Linie als Übernahme von Symbolen und ganzheitlichen Erziehungsansprüchen dar oder wirkten allenfalls als begrenzte, ideologisch überformte und politisch instrumentalisierte Formen der „Autonomie“ des Einzelnen in der Gruppe.60 Reformpädagogische Ansätze zur gewaltfreien Erziehung in Schule und Familie jedenfalls fanden offiziell in der Zeit des Nationalsozialismus keine Fortsetzung. Eher zeichnet sich für die schulische Erziehung im NS-Staat die Fortsetzung einer bereits lange etablierten Praxis des Prügelns ab, die in Ego-Dokumenten, Zeitzeugeninterviews und in den wenigen historiographischen Annäherungen an eine Alltagsgeschichte der Kindheit zwischen 1933 und 1945 sichtbar wird. Überwiegend bei Jungen und in den unteren Klassen angewandt, blieben Körperstrafen offenkundig eine weitverbreitete Option zur Sanktionierung von Ungezogenheiten, Fehlverhalten und schulischem Versagen.61 Soweit dies angesichts der defizitären Forschungslage zum Thema schon erkennbar ist, verhielt es sich in deutschen Familien zur Zeit des National­ sozialismus nicht grundsätzlich anders.62 Die Quellengattung der zeitgenössischen Erziehungsratgeber erfasst nicht die „Realität“ von Erziehungspraktiken, doch kann mit ihrer Hilfe zumindest das konzeptionell Sagbare näher eingegrenzt und dessen Verbreitungsgrad indiziengestützt vermutet werden. Das gilt besonders für die Publikationen der Ärztin Johanna Haarer, deren Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ zwischen 1934 und 1945 in Deutschland in über 500.000 Exemplaren verbreitet war und noch in der Bundesrepublik mehrere Neuauflagen erlebte.63 Zwei Jahre nach ihrem Erstlingswerk veröffentlichte die Autorin einen zweiten Band, der sich unter dem Titel „Unsere kleinen Kinder“ mit der häuslichen Erziehung von Kindern im 59  Tenorth, Pädagogik, S. 14; außerdem seien genannt: Keim; Schumann, Childhood. 60  Tenorth, Pädagogik, S. 20–24; Lesanovsky, Traditionen; Dudek, Reformpädagogik. 61  Rosenbaum, Kinderalltag, S. 114 f., 123 f., 211 f., 473 f., 582 f., 597. Die Autorin legt ihrer Untersuchung 48 Interviews mit Frauen und Männern der Geburtsjahrgänge 1923 bis 1927 aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus in Göttingen, Hann. Münden und Volpriehausen zugrunde. 62  Mit Schilderungen aus der familiären Erziehungs- und Strafpraxis s. Rosenbaum, Kinderalltag, S. 210 f., 349–352, 454 f., 561 f. 63  Haarer, Mutter (1934). Das Werk wurde bis 1987 publiziert, ab 1949 freilich in inhaltlich bereinigter Form und unter dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“.

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Alter zwischen zwei und sechs Jahren beschäftigte.64 Getragen von wohlwollender Unterstützung seitens der NS-Propaganda, vermittelt Haarer in „Die deutsche Mutter“ unmittelbar umsetzbares Expertinnenwissen zu Fragen der Säuglingspflege und der Erziehung von Kleinkindern. Bis 1945 blieb dieses eingebettet in ein von Elementen der NS-Ideologie getränktes Paradigma von Kindheit und Familie. Propagiert wird hier die Abkehr von einem individualisierenden Erziehungsstil, die Haarer mit Kritik an der zivilisatorischen „Überfeinerung“ und an den Sichtweisen der Kinderpsychologie der Weimarer Zeit verbindet. Eingehend warnt die Autorin vor zu viel mütterlicher Zuwendung, die sie als „Affenliebe“65 charakterisiert. Stattdessen empfiehlt sie ihren Leserinnen eine Haltung der emotionalen und physischen Distanz zum Kind, um es nicht zu verwöhnen oder zu „verweichlichen“.66 „Einordnung in die Gemeinschaft, Abstreifen aller Wehleidigkeit, Tapferkeit und Mut, Gehorsam und Disziplin“ stehen als Erziehungsziele obenan und sollen das Kind zu einem „nützlichen Gliede der Volksgemeinschaft“67 machen. In diesem Erziehungskonzept rechtfertigen sich „ein paar Schläge zur rechten Zeit“68 aus einem übergeordneten Gedanken: der Notwendigkeit, im Erziehungsprozess konsequent Autorität zu zeigen und die komplette Unterordnung des Kindes zu erreichen. Zentrale Elemente dieses Konzepts waren keineswegs neu oder Teil eines spezifisch nationalsozialistischen Programms, um etwa gezielt kindliche „Bindungslosigkeit“ zu erzeugen.69 Die historische Familienforschung hat deutlich gemacht, dass das Paradigma der erzieherischen Distanz, des reduzierten Körperkontakts und der emotionalen Austerität als Komponenten eines bürgerlichen, keineswegs in allen Elementen zwangsläufig autoritären Erziehungsstils bereits in deutschen Familien des 19. Jahrhunderts anzutreffen war.70 Ähnliches gilt für das Feld der erzieherischen Strafpraxis. Auch hier knüpfte Haarer an Bekanntes an, reflektierte existierende Erziehungs­ traditionen und stärkte damit die Plausibilität ihres Entwurfs: Bestrafungen hatten dem Alter des Kindes angemessen und abgestuft zu sein, sollten nicht im Affekt erfolgen und insbesondere nach dem Prinzip der „natürlichen Strafen“ vorgehen, die das Kind die unmittelbaren Folgen seines Tuns spüren ließen. Der generelle Gebrauch der „Prügelstrafe als Erziehungsmittel“ wurde 64  Haarer, Kinder. Vgl. zu Haarer v. a. Höffer-Mehlmer, Geschichte, S. 190–203; Brockhaus; Rowold. 65  Haarer, Mutter (1934), S. 236. 66  Haarer, Kinder, S. 179. 67  Haarer, Kinder, S. 224; Haarer, Mutter (1934), S. 238. 68  Haarer, Kinder, S. 184. 69  So postuliert bei Chamberlain, S. 168. 70  Vgl. dazu etwa Rosenbaum, Formen, S. 358–361; Klika, S. 203–231.



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hingegen abgelehnt.71 Diese Haltung, wonach Körperstrafen als äußerste Option akzeptabel, im Übermaß gebraucht hingegen als Ausdruck mangelnder Fähigkeiten der Erziehenden einzuschätzen seien, markierte eine in Deutschland etwa seit der Jahrhundertwende diskursiv weithin konsensfähige Position. Nicht zu übersehen ist freilich auch, dass derartige Maximen von der überzeugten Nationalsozialistin Haarer in zugespitzter, ideologisierter Form in den Kontext der NS-Familienpolitik eingefügt wurden. Dort dominierten weitreichende und menschenverachtende Ziele und Methoden. Die kulturkritisch unterfütterte „Wiederherstellung“ der Familie, die Praxis der selektiven Geburtenförderung und die offizielle Rückkehr zur traditionellen Rollenverteilung der Geschlechter zählten ebenso dazu wie die familienpolitische Exklusion von Juden und „Minderwertigen“ im Zeichen von Rassegesetzen und Eheverboten, die eugenisch begründete Praxis der Geburtenverhinderung oder die Ermordung von behinderten Kindern und Jugendlichen.72 Haarers antisemitische und rassistische Grundhaltung, die in den Kriegsauflagen von „Die deutsche Mutter“ immer deutlicher zum Ausdruck kam, gab ihren Erziehungsratschlägen denn auch selektiven und in weitem Sinne gewaltförmigen Charakter. Anzuwenden waren sie nach dem Willen der Autorin nur auf jene Kinder, die als Teil eines „gesunden, geistig und körperlich wertvollen neuen Geschlechtes“ identifiziert wurden und damit das „rassisch Wertvolle“ verkörperten.73 Letztlich blieb allerdings auch der vordergründig gegebene Nutzen der Ratgeberbände für die Beratenen prekär. In ihrem erziehungspraktischen Gehalt offenbar erfolgreich darauf abgestimmt, erfülltes Familienleben zu ermöglichen, unterminierte die gebotene Expertise jene familiäre Privatheit zugleich durch die ideologische Indoktrination der Adressatinnen und den transportierten Anspruch des NS-Regimes auf dominante Teilhabe am Erziehungsergebnis. Inhalte, staatliche Förderung und offenkundig gegebene gesellschaftliche Akzeptanz der Haarer’schen Erziehungsratgeber machen daher einmal mehr auch die strukturelle Ambiguität des Privaten im Nationalsozialismus deutlich.74

71  Haarer,

Kinder, S. 181–187, bes. S. 184 f. dazu u. a. Mühlfeld / Schönweiss; Pine; Schmuhl; Burleigh sowie die unter Anm. 57 genannte Literatur. 73  Haarer, Mutter (1941), S. 7; dazu eingehender auch Rowold, S. 198–200. 74  Zu den jüngeren Debatten um Stellenwert und Struktur des Privaten im Nationalsozialismus vgl. Bavaj, S. 112–134 („Die eigenen vier Wände“) sowie insbesondere das mittlerweile abgeschlossene Forschungsprojekt am Institut für Zeitgeschichte „Das Private im Nationalsozialismus“. 72  Vgl.

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Hinsichtlich der Praxis erzieherisch intendierter Gewalt bieten die ersten Nachkriegsjahrzehnte bis in die 1960er Jahre ein eher diffuses, zwiespältiges Bild. Dazu trägt der nach wie vor defizitäre Forschungsstand zur Geschichte der Familienerziehung nach 1945 bei75, doch zeigen sich hier auch bereits Züge eines historischen Befunds. So fanden sich während der 1950er Jahre in der wissenschaftlichen Pädagogik kaum mehr Stimmen, die Körperstrafen energisch und offensiv verteidigt hätten. An deren Verankerung als Teil einer gängigen Erziehungspraxis änderte sich aber zunächst kaum etwas, zumal die gewaltnahe Praxis durch die Existenz von gesetzlich tolerierten Grauzonen in Schule und Familie gestützt wurde.76 So konnte ein aufmerksamer Beobachter noch gegen Mitte der 1960er Jahre zur Einschätzung gelangen, dass „körperlicher Schmerz als Strafe“ in wenig übersichtlicher Weise in der elterlichen Erziehung und in Heimen verbreitet, aber auch in Schulen durchaus präsent sei.77 Die Argumente von Gegnern und Verfechtern hatten sich seit den 1920er Jahren im Grundsätzlichen nur wenig verändert. Insbesondere gehörte es zum kaum mehr abweisbaren Kernbestand des Sagbaren, Prügelexzesse abzulehnen; umstritten blieben weiterhin die Grenzen des Akzeptablen. Im argumentativen Repertoire der Gegner fanden sich die psychischen und verhaltensprägenden Folgen für Geprügelte und Prügelnde ebenso wie der Verweis auf das historisch zwingende Zurücktreten von Körperstrafen im Prozess der Zivilisation oder Vorschläge, um das leidige Disziplinproblem in der Schule gewaltfrei anzugehen. Demgegenüber rückten die Anhänger des Rohrstocks eben den Erhalt von Ordnung in den Mittelpunkt – sei es nun bezogen auf den schulischen Unterricht oder mit Blick auf die Verteidigung von gesellschaftlichen und politischen Normen etwa gegen die Herausforderung „halbstarker“ Proteste.78 Diejenigen Wissenschaftler, die nach 1945 an die Familienforschung der Vorkriegszeit anzuknüpfen versuchten, nahmen die Strafpraxis noch kaum in den Blick. So konstatierten maßgebliche Vertreter der wiedererstehenden deutschen Soziologie eine bemerkenswerte Überlagerung von „patriarchalischen und autoritären“ Tendenzen mit „partnerschaftlichen und demokratischen“ Einstellungen, schrieben der Nachkriegsfamilie erstaunliche „Regene­ rationsfähigkeit“79 zu und verzeichneten eine Steigerung der weiblichen Au-

75  Schütze,

S. 24–28. Vgl. hingegen zum Thema Schumann, Schläge; Rudloff. dazu den folgenden Abschnitt dieses Textes. 77  Scheibe, S.  351 f. 78  s. dazu mit Beispielen Schumann, S. 37–43. 79  Dazu im Rückblick Wurzbacher, Sozialisationsforschung, S. 225, 227; zum Kontext s. Schmidt. 76  Vgl.



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torität im familiären Rahmen.80 Für die Familie als ganze, aber auch für die Ehegatten- und die Eltern-Kind-Beziehungen wie für den Status der einzelnen Familienmitglieder selbst stellte man eine Zunahme an „Eigenständigkeit“ fest.81 Die Position der Kinder im Kräftefeld der Durchsetzung elterlicher Autorität wurde dabei thematisiert, doch nur selten mit Bezug auf Strafen als Erziehungsmittel untersucht. Dort, wo es geschah, kam etwa eine regional angesiedelte Studie für den Raum Darmstadt in den frühen 1950er Jahren zu einem aufschlussreichen Ergebnis: Von den befragten 247 Elternpaaren hielten 55 % den Gebrauch von Körperstrafen generell oder zumindest in besonderen Fällen für richtig; annähernd vier Fünftel der befragten Schüler der 13. Jahrgangsstufe schilderten entsprechende Erziehungserfahrungen.82 Erst seit den späten 1960er Jahren wuchs in der westdeutschen Gesellschaft die Bereitschaft in nennenswertem Maße, die Anwendung von Erziehungsstrafen grundsätzlich infrage zu stellen oder als Kindesmisshandlung wahrzunehmen. Laut zweier Allensbach-Umfragen nahm zwischen 1965 und 1971 der Anteil derer, die Schläge in der Erziehung ablehnten, von 16 auf 26 % der Befragten zu, während der Anteil der Befürworter von 36 auf 28 % zurückging; relativ konstant hielt sich allerdings nach wie vor die Größenordnung derjenigen, die erzieherische Gewalt als letztes Mittel befürworteten, bei 42 (46) %.83 Auf dem Feld der Ratgeberliteratur häuften sich in diesem Zeitraum Werke, die dem verbreiteten Bedürfnis nach grundlegender Neudefinition von Erziehung im „antiautoritären“ Sinne entgegenkamen. Die Prügelstrafe verschwand dabei aus dem Spektrum der diskutierten Erziehungsmittel.84 Begriffliche Grenzen verschoben sich, und zwar vor allem dort, wo es um klare Kategorienbildung ging: In pädagogischen Lexika erschien die „Prügelstrafe“ seit den frühen 1970er Jahren nicht mehr als aktueller Fachterminus, der der Erläuterung für die Praxis bedurfte, sondern als zu historisierendes Phänomen der Vergangenheit; auch fanden sich nun Querverweise auf den Eintrag „Kindesmisshandlung“.85 Es war zugleich bezeichnend und mitprägend für die Veränderung der Diskurskultur, dass sich die 1966 gegründete, auflagenstarke Monatszeitschrift „Eltern“ nach einigem Schwanken bis 80  Schelsky,

S. 290–346. Leitbilder (1954), S. 241 f.; wichtig auch die ergänzte zweite Auflage der Studie, s. Wurzbacher, Leitbilder (1969), S. 251 f. 82  Baumert, S. 87–89. 83  Noelle u. a., Jahrbuch 1965 / 67, S. 52; Noelle u. a., Jahrbuch 1968 / 73, S. 74. 84  Der erfolgreichste Erziehungsratgeber der Zeit – s. Neill – verkaufte sich in Deutschland im ersten Jahr nach seiner Publikation in über 600.000 Exemplaren; vgl. Höffer-Mehlmer, Geschichte, S. 236–246; Höffer-Mehlmer, Sozialisation. 85  Dudek, Züchtigung, S. 79. 81  Wurzbacher,

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Mitte der 1970er Jahre als Befürworterin einer gewaltfreien Erziehung positionierte.86 Die Ursachen für die gesellschaftliche Sensibilisierung hinsichtlich erzieherisch intendierter Gewalt gegen Kinder und den daran anschließenden allmählichen Normenwandel sind vielschichtig. Folgt man den Ergebnissen der bereits zitierten familiensoziologischen Forschung, dann manifestierten sich schon in den frühen 1950er Jahren Relativierungs- und Veränderungstendenzen in den innerfamiliären Beziehungen. So wurden im Umgang von Eltern mit ihren Kindern neben den traditionellen, befehlsorientierten auch eher partnerschaftlich angelegte Erziehungsstile in nennenswertem Umfang sichtbar. Dahinter stand zum einen in der Regel ein verändertes Bild vom Kind, das bereits stärker in seiner „Freiheit zu eigenbestimmter Entwicklung und Lebensgestaltung“ gesehen und ernst genommen wurde.87 Die jüngere Kinderforschung beschreibt diese Wandlungsvorgänge unter anderem als eine (Neu-)Entdeckung der Individualität und „Vulnerabilität“ des Kindes in wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten der späten 1960er und 1970er Jahre.88 Insbesondere Medizinerinnen und Mediziner, Juristinnen und Juristen nahmen sich des durch gewalttätiges Strafen verletzten Kindes an und bahnten der Identifizierung eines Symptomkomplexes bzw. Tatbestands „Kindesmisshandlung“ den Weg. In den Erziehungswissenschaften und der interessierten Öffentlichkeit diskutierte man nicht mehr nur Strafzwecke oder Strafformen, sondern hinterfragte die Legitimation von Strafen in der Erziehung überhaupt.89 Zum anderen kam der Wandel der Geschlechterrollen zum Tragen. In dem Maße, in dem das überkommene Bild vom patriarchalischen Ernährer an Überzeugungskraft und Verbreitung verlor, konnte ein Leitbild „sanfter ­Vaterschaft“ langsam an Wirkmächtigkeit gewinnen, in dem Körperstrafen keinen oder kaum mehr Platz fanden.90 Auf lange Frist gesehen wirkte wohl auch der Rückgang religiöser Bindungen, die Relativierung des Paradigmas von der sündhaften Kindesnatur sowie der damit verbundene Verlust an ­Legitimation und Motivation zur rabiaten Eindämmung des kindlichen Willens in die gleiche Richtung. Diese gesellschaftlichen Veränderungstendenzen, die ihr Pendant in der voranschreitenden Verwissenschaftlichung der 86  Eschner, S. 186 f., 210–214; hierzu und zu weiteren Indikatoren des Wandels auch Rudloff, S. 270–273. 87  Wurzbacher, Leitbilder (1954), S. 161–217, Zitat S. 196; dazu auch Bücher; Fend, S. 108–115. Für eine umfassendere Sichtweise über drei Generationen hinweg plädiert Ecarius. 88  Baader. 89  Vgl. für die Debattenebene der pädagogischen Lexika Richter, Strafen, S. 85– 141. 90  Rahden, Vati; Rahden, „Stichentscheid“-Urteil; Rahden, Vaterschaft.



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Sozialbeziehungen in Familie und Schule fanden, trugen dazu bei, dass sich zunächst im Rahmen der stärker standardisierten und rechtlich normierten Umgangsweisen in den Schulen seit den 1970er Jahren gewaltarme Formen der Disziplinierung durchsetzen konnten.91 Es darf außerdem angenommen werden, dass die international seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von skandinavischen Ländern ausgehende Tendenz zur normativen Eingrenzung und zum gesetzlichen Verbot von Körperstrafen in der Erziehung nicht nur als Niederschlag eines Mentalitätswandels einzuschätzen ist, sondern ihrerseits wohl auch dazu beigetragen hat, die Delegitimierung dieser Gewaltform zu fördern.92 Eine allzu stringente oder gar unumkehrbare Erfolgsgeschichte sollte ­ieraus freilich nicht abgeleitet werden. Folgt man den Ergebnissen einer h Befragung von 3.000 Eltern durch eine Bielefelder Forschergruppe von Kriminologen, dann favorisierten gegen Mitte der 1990er Jahre im wiedervereinigten Deutschland etwa 18,5 % der Befragten eine Erziehung ihrer Kinder, die ohne Körperstrafen oder sogar negative Sanktionen jeder Art auskam. Etwas mehr als 60 % verteilten Ohrfeigen oder Klapse, während sich nicht weniger als 21 % der Umfrageteilnehmer dazu bekannten, regelmäßig eine „Tracht Prügel“ zu verabreichen.93 Im internationalen Vergleich betrachtet, hatte sich eine „Kultur gewaltfreier Erziehung“94 noch nach der Jahrtausendwende allenfalls im vielzitierten Pionierland Schweden, nicht aber in Deutschland, Österreich, Frankreich oder Spanien durchgesetzt. III. Züchtigungsrecht, Kindesrechte und Kinderschutz seit dem 19. Jahrhundert An der überaus lange wirksamen Verstetigung von Gewalt in Familien und Schulen hatten das kodifizierte und das ungeschriebene Recht sowie die einschlägige Rechtsprechung erheblichen Anteil. Hier wurde gesellschaftlich Akzeptiertes normativ aufgegriffen, umgekehrt blieben hingegen Impulse zur Fortentwicklung der Praxis der Straferziehung bis ins 20. Jahrhundert wenig Überblick s. Fend, S. 142–144; Schütze; Lundgren. Einschätzung der Effektivität von Verboten und des Wechselverhältnisses von Rechtsnormen und Bewusstseinswandel ist in der Forschung umstritten. Einen positiven Zusammenhang postulieren auf der Grundlage eines Fünfländer-Vergleichs (2007) Bussmann u. a.; Bussmann, Vergleich; für den deutschen Fall bereits Bussmann, Kinder. Vor einer zu optimistischen interpretatorischen Gewichtung des schwedischen Verbots warnt hingegen Roberts. 93  Bussmann, Changes, S. 40–42; dazu auch Rudloff, S.  273 f. 94  Bussmann, Vergleich, S. 125. Die zugrundeliegende DFG-Studie beruht auf einer Befragung von insgesamt 5.000 Eltern in Schweden, Deutschland, Österreich, Spanien und Frankreich, die 2007 stattfand. 91  Im

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ausgeprägt. So erfuhr das Züchtigungsrecht von Vätern und Lehrherrn in Deutschland bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kaum eine Veränderung, die wesentlich über den Stand des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 hinausreichte. Im Rahmen des ständischen Rechts, das dort verankert war, legten umfassende familienrechtliche Bestimmungen unter anderem Rechte und Pflichten von Eltern und Kindern fest. Die Eltern waren demnach „berechtigt, zur Bildung der Kinder alle der Gesundheit derselben unschäd­ liche Zwangsmittel zu gebrauchen“. Erst wenn die Erziehungsberechtigten „ihre Kinder grausam mißhandeln“, waren Grenzen erreicht und Vormundschaftsgerichte zum Eingreifen verpflichtet.95 1. Vom Züchtigungsrecht zum Gewaltverbot in der Erziehung Im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 lebte die patriarchalische Tradition im Rahmen des Ehe- und Familienrechts zunächst fort. Dort wurde zwar das Züchtigungsrecht des Ehemannes gegenüber seiner Ehefrau beseitigt, nicht jedoch das väterliche Recht, „angemessene Zuchtmittel gegen das Kind“ zu gebrauchen.96 Obwohl während der Weimarer Republik kontrovers diskutiert, überdauerte dieses bis in die Bundesrepublik und blieb auch noch jenseits der Familienrechtsreform der späten 1950er Jahre, also nach seiner formalen Streichung aus dem Gesetzestext, als Gewohnheitsrecht bestehen. Da nach 1958 eine eindeutige zivilrechtliche Grundlage zur Einschätzung der Praxis körperlicher Züchtigung in der Familie fehlte, ein klares Verbot jedoch nicht ausgesprochen wurde, lebte ein „Schwebezustand der Rechtsunsicherheit“97 fort. Zwar manifestierte sich in der bundesdeutschen Rechtsprechung bereits zwischen den frühen 1950er und den späten 1970er Jahren eine deutliche Tendenz zur Begrenzung und Abschwächung des elterlichen Züchtigungsrechts. Auch untersagte das Sorgerechtsgesetz von 1979 unter anderem entwürdigende Erziehungsmaßnahmen. Auf diese Weise tat der Gesetzgeber einen wichtigen Schritt zur Desavouierung von Körperstrafen; ein Verbot blieb aber nach wie vor aus. Erst mit Inkrafttreten des „Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ vom 2. November 2000 und der Änderung des § 1631 II BGB wurde das Recht der Kinder auf „gewaltfreie Erziehung“ festgeschrieben, das überkommene Züchtigungsrecht der Eltern abgeschafft.98 95  Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, S. 151 f. [Zweyter Titel, zweyter Abschnitt, § 86–§ 91]. 96  Gemeint ist hier § 1631 Abs. 2 BGB vom 18. August 1896. 97  Petri / Lauterbach, S. 94. 98  Vgl. zur Rechtsentwicklung Zenz, Kindesmißhandlung, S.  39–41, 66–154; Priester, bes. S. 55–139; Göbel, S. 55–71 (Zitat S. 56). Bereits im Dezember 1951 war das Recht des Lehrherrn auf Anwendung von Körperstrafen in Ausbildungsverhältnissen durch eine Änderung der Gewerbeordnung abgeschafft worden.



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Auf internationaler Ebene waren die skandinavischen Staaten Schweden (1979), Finnland (1983) und Norwegen (1987) sowie Österreich (1989) mit gesetzlichen Verboten vorangegangen; seit dem Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention von 1990 folgten bis zur Jahrtausendwende unter anderem Dänemark (1997), Lettland (1998) und Kroatien (1999). Bis Ende 2018 wuchs die Zahl der Staaten, die jegliche körperliche Erziehungsstrafen mit Verbot belegten, weltweit auf immerhin 54 an.99 In Deutschland kam damit ein Prozess des jahrzehntelangen Wandels in der Rechtsposition von Kindern zu einem vorläufigen Abschluss, der in seiner Tendenz zur Verrechtlichung des familiären Innenraums, zur Anerkennung von Kindern als Träger von Grundrechten und seit den 1990er Jahren zum deutlichen Ausbau ihres Schutzes vor familiärer Gewalt führte.100 Noch in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hatte Kindesmisshandlung im Sinne einer gegebenenfalls vorliegenden strafbaren Körperverletzung seitens der Eltern nur dann verfolgt werden können, wenn das Kind selbst Strafantrag stellte, die Strafverfolgungsbehörden ein „besonderes öffentliches Interesse“ erkannten oder aber das Kind nachweisbar „gequält“ bzw. „roh mißhandelt“ worden war.101 Keine der damit verknüpften rechtlichen Hürden war einfach zu nehmen gewesen. Vermutlich hätte das Züchtigungsrecht der Eltern als rechtliche Sanktionierung einer weit verbreiteten Erziehungspraxis nicht so hartnäckig überdauern können, wenn es nicht über lange Zeit hinweg sein Pendant in der Realität des schulischen Strafens gefunden hätte. Das Züchtigungsrecht der Lehrer in (West-)Deutschland stellte sich bis in die 1970er Jahre als wenig eindeutig und zudem nach Ländern sowie nach Schularten differenziert dar. Um 1900, als das Thema bereits in den Blick der Öffentlichkeit gerückt war, existierte keine einheitliche reichsrechtliche Regelung. In Preußen, wo im Laufe des 19. Jahrhunderts unterschiedlich harte Verordnungen gegolten hatten, waren die Schulleitungen der Volksschulen seit Januar 1900 verpflichtet, für „eine maßvolle, die gesetzlichen Grenzen streng achtende Handhabung des nur für Ausnahmefälle bestimmten Züchtigungsrechtes seitens der Lehrer“ zu sorgen und Überschreitungen zu ahnden102; erst ab 1928 wurde dort jedoch die körperliche Bestrafung von Mädchen generell und von Kindern im ersten und zweiten Schuljahr per Ministerialerlass „missbilligt“. In baye99  Global Initiative to End all Corporal Punishment of Children, S. 10–13; Bussmann, Vergleich, S. 120. 100  Marthaler, Erziehungsrecht; Marthaler, Kinderrechte. 101  Zenz, Kindesmißhandlung, S. 40; zur vergleichbar schwierigen Rechtslage hinsichtlich der Identifizierung und Ahndung von familiärer Gewalt um 1930 s. Mulert, S.  389 f. 102  Vgl. die Übersicht bei Hauser, S. 31.

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rischen Volksschulen hatten die Lehrer die Möglichkeit, Körperstrafen bei „groben Vergehen“, „hartnäckiger Faulheit“ und „Verführung von Mitschülern“ anzuwenden, durften dazu allerdings nur Stöckchen oder Rute benutzen und maximal sechs Schläge auf Handfläche oder Hinterteil geben. Während in Sachsen Körperstrafen an Volksschulen bei Mädchen und allen Kindern unter acht Jahren verboten und ab 1922 zeitweise an allen Schulen abgeschafft wurden, waren in Württemberg wiederum Schläge mit einem Stäbchen auf die Handfläche und das Gesäß bei allen Kindern über 10 Jahren explizit erlaubt.103 Hinsichtlich der Strafpraxis an höheren Schulen zeigten die Schulverwaltungen tendenziell mehr Zurückhaltung. So galt in Preußen im Gefolge einer ministeriellen Verordnung im Einflussbereich des Provin­ zialschulkollegiums Berlin seit September 1908, dass die Anwendung der „körperlichen Züchtigung als gewöhnliche Strafe mit den Aufgaben der ­höheren Schulen unvereinbar“ sei; ein Verbot wurde jedoch nicht ausgesprochen. Untersagt waren Schläge als Erziehungsmittel hingegen in Hessen ­bereits 1903 in den vier oberen Jahrgangsstufen der neunklassigen und den zwei oberen Stufen der siebenklassigen Mittelschulen; ein generelles Verbot galt bei Schülern über 14 Jahren. Ebenso waren körperliche Strafen seit 1903 in Bayerns Gymnasien und generell in Sachsens höheren Schulen um 1909 nicht mehr zugelassen.104 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die immer noch weit verbreitete gewohnheitsrechtliche Praxis der körperlichen Bestrafung von Schulkindern anhand von Ministerialerlassen, Schulordnungen, Dienstanweisungen oder Gesetzen in systematischerer Weise eingeschränkt. Im Nachkriegsdeutschland gingen dabei Thüringen 1945, Hessen 1946 sowie das Saarland und West-Berlin 1948 mit Verboten in Form von Rechtsverordnungen voran. Ein in Bayern im Jahr 1946 durch Kultusminister Franz Fendt (SPD) erlassenes Verbot wurde im Folgejahr durch seinen Amtskollegen Alois Hundhammer (CSU) wieder aufgehoben. In Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bremen erließen die Landesschulverwaltungen Bestimmungen, die körperliche Bestrafungen von Schulkindern nach Alter, Geschlecht oder Anlass eingrenzten, keineswegs aber abschafften. Bis 1953 traten in Baden-Württemberg, Hamburg und Schleswig-Holstein ähnliche, also lediglich limitierende Regelungen in Kraft. Noch bis in die 1970er Jahre kann daher zurecht von einer „Tendenz zur eingehegten Anwendung“ der körperlichen Züchtigung in westdeutschen Schulen gesprochen werden105, zumal auch die Rechtsprechung uneinheitlich blieb. So erfuhren die Befürworter dieser Strafpraxis ei103  Hauser,

S.  30 f. hierzu u. a. Wentzel; Bezold; Hauser, S. 33–36 (Zitat S. 34); Hennig; Schorn, bes. S. 879 f.; Geißler, S. 436–439. 105  Schumann, Schläge, S. 38 f. 104  Vgl.



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nige Ermunterung durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs, dessen zweiter Senat im Jahr 1957 die Existenz eines gewohnheitsrechtlichen Züchtigungsrechts des Lehrers bekräftigte und als mit dem Grundgesetz vereinbar erachtete. Eine diesbezüglich kritischere Einschätzung des fünften Senats des Bundesgerichtshofs von 1954, die körperliche Züchtigung klar als Körperverletzung benannt hatte, blieb damit Episode.106 Gesetzliche Verbote ergingen erst seit Anfang der 1970er Jahre unter anderem in Schleswig-Holstein (1970), Rheinland-Pfalz (1974), Niedersachsen (1974), Nordrhein-Westfalen (1974) und Baden-Württemberg (1976). Nachdem das Bayerische Oberste Landesgericht 1979 zunächst erneut ein gewohnheitsrechtlich fundiertes Züchtigungsrecht für Volksschulen in Bayern konstatiert hatte, wurde dieses erst 1980 per Landtagsbeschluss abgeschafft.107 2. Entwicklung und Probleme des Kinderschutzes Dass Ideen des Kinderschutzes in Konzepte und Entscheidungen von Staat und Justiz eingingen, hatte zu diesem Zeitpunkt international einen historischen Vorlauf von etwa einhundert Jahren. Moderner Kinderschutz hatte sich in Europa und Nordamerika im 19. Jahrhundert zunächst als vorstaatliche Bewegung organisiert. Seit den 1830er Jahren waren christlich motivierte Philanthropen wie Frédéric-Auguste Demetz in Frankreich, William H. Suringar in den Niederlanden oder Johann Hinrich Wichern in Deutschland unter anderem auf dem Feld der Gründung von Heimen aktiv geworden. In ihrer Arbeit und Zielstellung verknüpfte sich das Bemühen um den Schutz gefährdeter, oftmals bereits straffälliger Kinder, missionarisches Engagement und gelebte Strafvollzugsreform in kaum zu trennender Weise mit Praktiken der repressiven Disziplinierung.108 Vornehmlich in den USA und Großbritannien entstanden Vereine und Gesellschaften, die sich wie die „New York Society for the Prevention of Cruelty to Children“ (1874), die „American Humane Association“ (1887) oder die britische „National Society for the Prevention of Cruelty to Children“ (1889) der Aufklärungsarbeit widmeten, Kinderschutzgesetze anstießen oder in Zusammenarbeit mit staat­lichen Stellen im Bereich der Kinderfürsorge tätig wurden. In Deutschland erlangten vergleichbare Gruppen wie der „Berliner Kinderschutz-Verein“ (1868) oder 106  Göbel,

S. 16–21. für die Rechtslage nach 1945 Bundestags-Drucksache 7 / 3318, 4.3.1975; Jung; zur Lage im Nachkriegsbayern s. Müller, S. 226–230; Vormbaum; Priester, S.  75 f.; Schumann, Legislation; speziell zur Geschichte des Gymnasiums s. GassBolm, S. 443–447. Vorwiegend die Debatten über Gewalt durch Schüler und die damit verbundenen Wandlungen des Gewaltbegriffs seit den 1970er Jahren untersucht Kössler. Vgl. zum Thema auch den Beitrag von Sarina Hoff in diesem Band. 108  Hierzu u. a. Forlivesi u. a.; Cunningham, S. 189–230; Anhorn; Herrmann u. a. 107  Vgl.

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der „Verein zum Schutze der Kinder gegen Ausbeutung und Misshandlung“ (1898) keinen entsprechenden Einfluss.109 Impulse zur Reform des Kinderschutzes gingen hier einher mit der Herausbildung eines zunehmend eigenständigen Arbeitsfeldes der Kinder- und Jugendfürsorge aus der Armenpflege. Als Plattform für Erfahrungsaustausch und Lösungsvorschläge fungierte der 1881 gegründete „Deutsche Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit“, ein Zusammenschluss von Vertretern des öffentlichen und privaten Wohlfahrtswesens.110 In den europäischen Staaten und in den USA entstanden seit dem späten 19. Jahrhundert nationale Fürsorgegesetze, die dem Schutz von Säuglingen oder misshandelten Kindern galten und die bestehende kindbezogene Arbeitsschutzgesetzgebung ergänzten. Aus international vergleichender Per­ spektive betrachtet, zeichnen sich hier signifikante Ähnlichkeiten und Unterschiede ab. Da es darum ging, Eingriffsverfahren des Kinderschutzes zu regeln, die bis dahin in der kommunalen und staatlichen Armenfürsorge oder im Rahmen privater Initiativen eher pragmatisch gehandhabt worden waren, stellte sich die grundsätzliche Aufgabe, zwischen dem Schutz des Nachwuchses und der Erhaltung von Elternrechten abzuwägen. In Deutschland wie in Frankreich bestanden in dieser Hinsicht starke Bedenken, die familiale Autonomie anzutasten. Dass Kinderschutz um die Jahrhundertwende dennoch normativ ausgeweitet wurde, lag denn auch weniger an der wachsenden Einsicht in die Bedeutung von Kinderrechten als am Bestreben, Staat und Gesellschaft vor Verwahrlosung und delinquentem Verhalten der jüngsten Generationen zu schützen.111 In Deutschland entwickelte sich bis nach dem Ersten Weltkrieg ähnlich wie in Frankreich ein differenziertes System von staatlichen Kontrollen und präventiven Maßnahmen des Kinder- und Jugendschutzes. Dabei etablierten sich im (west-)deutschen Kinder- und Jugendschutzrecht zwei konkurrierende 109  Thomas, S. 306–313; Pleck, S. 69–87; zur historischen Einschätzung s. auch Fegert u. a., Kinderschutzverläufe, S. 18–50; Jablonka. Zur Kinderschutzbewegung im deutschsprachigen Raum am Beispiel der Stadt Wien s. Malleier. 110  Vgl. hierzu Sachße, S. 65–72. 111  Vgl. etwa für Deutschland das Verbot der Beschäftigung von Kindern unter 13 Jahren in Fabriken durch das „Arbeiterschutzgesetz“ von 1891, die Regelungen im „Gesetz betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben“ (1903) und die Bestimmungen zur elterlichen Gewalt u nd zum Kinderschutz im Bürgerlichen Gesetzbuch (1900); in Großbritannien trat 1889 der „Act for the Prevention of Cruelty to Children“ in Kraft; in Frankreich baute die Dritte Republik den Kinderschutz durch das „Gesetz über die Kinderarbeit in der Industrie“ (1874), das „Gesetz betreffend den Schutz der in den Wanderberufen beschäftigten Kinder“ (1874), die „Loi Roussel“ betreffend den Säuglingsschutz und das Ammenwesen (1874) sowie das „Gesetz zum Schutz misshandelter oder vernachlässigter Kinder“ (1889) aus. Zur Deutung und zum deutsch-französischen Vergleich s. Engel.



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Prinzipien. Während die entstehende Jugendwohlfahrtspflege – gefasst in die Begrifflichkeit des Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1922 – von einem „Recht des Kindes auf Erziehung“ ausging, die Bedürfnisse des Kindes zum Maßstab erhob und staatliche Hilfestellung für gefährdete Kinder und Jugendliche auch unter der Perspektive des sozialen Ausgleichs anvisierte, rückte das Bürgerliche Gesetzbuch (1900) das Erziehungsrecht der Eltern in den Vordergrund. Demzufolge war das Recht des Staates auf Intervention in familiäre Verhältnisse zwar gegeben, doch an klare Hürden gebunden und nur bei strafrechtlich fassbaren Vergehen etwa im Sinne von nachweisbarem Missbrauch des väterlichen Sorgerechts, bei Vernachlässigung des Kindes oder im Falle „ehrlosen und unsittlichen Verhaltens“112 zulässig. Diese Zweiteilung in ein „kind- und hilfeorientiertes Jugendwohlfahrtsrecht“ und ein „eltern- und sanktionsorientiertes Familienrecht“ prägte neben der Tendenz zur Bürokratisierung und Professionalisierung, neben der limitierenden Finanznot der Gemeinden und der ausgeprägten Tendenz zur Heimunterbringung das Kinder- und Jugendfürsorgewesen in Deutschland bis 1933; als Strukturprinzip blieb sie für die deutschen Rechtsverhältnisse noch in den 1970er / 1980er Jahren dominant. Die Berücksichtigung von Bedürfnissen des Kindes im Kinderschutzrecht kam indes nur langsam und im Wesentlichen erst nach 1945 in Gang.113 Neue Anstöße zum Ausbau des Kinderschutzes stammten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst vor allem aus den USA, aus Großbritannien sowie aus den Niederlanden, und ihr Ursprung lag überwiegend in den Wissenschaften. Zum Teil bereits seit Jahrzehnten hatten Medizin, Entwicklungspsychologie, Sozialisationsforschung, Verhaltensbiologie oder Familienforschung neue Erkenntnisse bereitgestellt, die etwa die Stufen der kindlichen Entwicklung, das Verhältnis von Anlage und Umwelt, die Bedeutung von Interaktion und Milieu, die Dynamik familiärer Beziehungen, aber auch mögliche Gefährdungen von Entwicklungsverläufen besser verstehen ließen.114 Seit den 1950er Jahren geriet in diesem Zusammenhang der bis dahin institutionalisierte Kinderschutz selbst ins Visier wissenschaftlicher Kritik. Wegweisend dafür waren unter anderem die Arbeiten des Entwicklungspsychologen und Psychoanalytikers René A. Spitz, der seit den 1930er Jahren die Psychologie des Säuglingsalters und die Rolle der Mutter-Kind-Beziehung in Feldstudien erforschte. Seine Arbeiten lieferten schockierende Einsichten in die motorischen, emotionalen und kognitiven Entwicklungsrückstände von Kleinkindern, die in Waisen- und Säuglingshäusern liebloser Betreuung und Isolation ausgesetzt waren. Ausgehend von den USA erlangten 112  § 1666

BGB vom 18. August 1896. weist hin: Zenz, Kindesmißhandlung, S. 47–51, 66–68, Zitate S. 49 f.; zum Kontext s. Sachße / Tennstedt, S. 27–38, 99–114; Peukert. 114  Vgl. etwa den Überblick bei Zenz, Kindesmißhandlung, S. 51–54. 113  Darauf

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seine Ergebnisse in den 1950er Jahren einige Breitenwirkung. Das lag auch an ihrer medialen Präsentationsform im Rahmen von mehr als 52 kurzen Dokumentarfilmen, in denen Spitz die festgestellten Deprivationssymptome einem Fachpublikum nahebrachte.115 Neue Fahrt gewann die internationale Kinderschutzbewegung über Expertenkreise hinaus allerdings erst mit der Identifizierung und zunächst fach­ öffentlichen Konstruktion der Symptomgruppe des „geschlagenen Kindes“. Amerikanische Kinderärzte und Psychiater um C. Henry Kempe machten hier in den frühen 1960er Jahren den Anfang. Die Studie, die dem „Battered Child Syndrome“ seinen weithin rezipierten Namen gab, nahm die Ergebnisse einer landesweiten Umfrage bei Strafverfolgungsbehörden und Krankenhäusern als Grundlage für einen Appell an die ärztliche Fachwelt: Angesichts auffällig vieler Fälle von Knochenbrüchen, Hämatomen, Gedeihstörungen oder plötzlichem Kindstod, die aufgrund der Fallgeschichten der Opfer nicht plausibel zu erklären waren, sollte die allgemeine Aufmerksamkeit geschärft werden.116 Die Forschergruppe war nicht die erste, die Misshandlungsfälle beschrieb oder untersuchte. So hatte in den 1850er und 1860er Jahren der Pariser Rechtsmediziner Auguste Ambroise Tardieu über Hunderte von Fällen der Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und -tötung sowie des sexuellen Kindesmissbrauchs publiziert und war mit seiner Arbeit vor allem von Medizinern und Kriminologen rezipiert worden.117 Erst etwa ein Jahrhundert später schafften es die amerikanischen Mediziner, Impulse zu setzen, die längerfristig Wirkung zeigten.118 In der Folge wurden innerhalb weniger Jahre in 20 Bundesstaaten der USA rechtliche Regelungen zur Eindämmung von Kindesmisshandlung verabschiedet, dort und auf Bundesebene Forschungsprojekte angestoßen und öffentliche Mittel für Prävention und Weiterbildung bereitgestellt119; die Medien und selbst die musikalische Populärkultur nahmen sich des Themas an.120 115  Spitz / Cobliner [dt.: Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der MutterKind-Beziehungen im ersten Lebensjahr, Stuttgart 1967]; zum Werk von René Spitz und zu seiner Rezeption in Deutschland s. Landolt, S.  26 f.; Mantell; Hellbrügge, S. 34–51. 116  Als Vortragspapier auf der Jahrestagung der American Academy of Pediatrics im Oktober 1961 vorgestellt, wurde der Text publiziert als Kempe u. a.; Kempe / Helfer (Hrsg.), Child. 117  Vgl. etwa Tardieu; s. dazu u. a. Labbé. 118  Seit längerem ist die Forschungs- und Politikgeschichte der Kindesmisshandlung in den USA selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen geworden; es seien genannt: Pfohl; Nelson; Hacking; Pleck, S. 164–181; Costin u. a.; Krugman /  Korbin. 119  Als wichtige monographische Darstellungen dieses Zeitraums, die im angloamerikanischen Raum entstanden sind, sind neben Kempe / Helfer, Child, v. a. zu nennen: Gil; Kempe / Helfer, Family; Renvoize.



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Als in der Bundesrepublik seit den späten 1960er Jahren die Bereitschaft wuchs, Kindesmisshandlung nicht mehr nur als bedauerliche Entgleisung einzelner, sondern als Ausdruck eines gesellschaftlichen Problems begreifen und in ihren Ursachen verstehen zu wollen, stand die systematische Forschung zum Thema hierzulande noch nahezu am Anfang. Zwar lag erhebliches Erfahrungswissen vor allem seitens der Jugendbehörden vor, doch war dieses bis dahin nur in wenigen Fallberichten aus der Praxis systematischer niedergelegt oder in Aktenauswertungen wissenschaftlich erschlossen worden.121 Die vorliegenden Arbeiten rückten in erster Linie kriminologischstatistische oder medizinisch-psychiatrische Aspekte in den Mittelpunkt.122 Immerhin deutete sich zu diesem Zeitpunkt eine Änderung des gesellschaftlichen Referenzrahmens an, denn seit einigen Jahren war die Prügelstrafe in Schulen und Familien in die Diskussion geraten. In Leserbriefaktionen, publizistischen Auseinandersetzungen, aber auch in Presseberichten, Rundfunkund Fernsehbeiträgen hatten Befürworter ebenso wie eine zunehmende Zahl an Gegnern der körperlichen Züchtigung ihre Positionen deutlich gemacht.123 Frühe Initiativen, den defizitären Wissensstand planvoll zu erweitern, kamen aus der forensischen Medizin, den Sozialwissenschaften, der Sozialpsychologie und der Psychiatrie.124 Annähernd parallel dazu gaben Publizisten oder Autorinnen und Autoren der „außerparlamentarischen Opposition“ provozierende Anstöße, die sich vorwiegend gegen Missstände in der Heim- und Fürsorgeerziehung Westdeutschlands richteten, im Sommer 1969 in studentische „Heimkampagnen“ mündeten und für mehrere Fluchtwellen aus Erziehungseinrichtungen sorgten.125 Systematisch gehaltene wissenschaftliche 120  Davon zeugt etwa der Erfolgstitel der Rolling Stones „Jumpin’ Jack Flash“ (1968 / 69). 121  So etwa in Mende / Kirsch. 122  Ullrich; Stutte sowie die Arbeiten von Nau, darunter Nau, Kindesmißhandlung. Zum Forschungsstand um 1968 s. Mende / Kirsch, S. 1–11. 123  Widerspruch rief u. a. die breit rezipierte Arbeit eines historisch argumentierenden Anhängers von erzieherischen Körperstrafen, des Hamburger Numismatikers und Volkskundlers Walter Hävernick hervor, s. Hävernick; dagegen argumentiert Horn. Vgl. auch die Beiträge der einschlägigen Leserbriefdebatte in der „Neuen Gerichtszeitung“ der Jahre 1964 und 1965, darunter „Strenge und Vertrauensverhältnis“ in: Neue Gerichtszeitung, 1.5.1964; „Die Prügelstrafe hat sich überlebt“, in: Neue Gerichtszeitung, 1.5.1964; „Lehrer sagt ja zum Thema Rohrstock“, in: Neue Gerichtszeitung, 15.5.1964. 124  Vgl. etwa Trube-Becker, Kindesmißhandlung; Horn; Bast u. a.; Petri / Lauterbach. 125  Brosch; Meinhof. Die Premiere des gleichnamigen Fernsehspiels nach dem Drehbuch von Ulrike Meinhof wurde wegen der Beteiligung der Autorin an der Befreiung von Andreas Baader im Mai 1970 abgesetzt, der Film verschwand bis Mitte der 1990er Jahre in den Archiven. Vgl. daneben Ahlheim u. a.; Roth. Zum historischen Kontext s. Köster; Schölzel-Klamp / Köhler-Saretzki.

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Monographien mit umfassenderem Anspruch erschienen in Deutschland zum Thema Kindesmisshandlung indes nicht vor den späten 1970er Jahren, da­ runter die Pionierstudien der Juristin Gisela Zenz, der Rechtsmedizinerin Elisabeth Trube-Becker oder der Entwicklungspsychologin Anette Engfer.126 Bei allen Unterschieden der Fächerkulturen und der persönlichen Forschungsansätze machten diese und andere einschlägig Forschende deutlich, dass es nicht mehr genügen konnte, in Deutschland wie bisher vorwiegend auf dem Feld des Straf- und Familienrechts aktiv zu werden. Nötig sei ein umfassenderer, im Idealfall interdisziplinärer Zugriff auf die Problematik, um endlich „systematisches Unwissen“ über Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen von Kindesmisshandlung zu verringern. Besonders anstößig erschien nicht zuletzt die Tatsache, dass in der Bundesrepublik noch im Übergang zu den 1980er Jahren keine elaborierten therapeutischen Programme oder sozialpolitischen Initiativen existierten, um die Problematik in ihren individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen in den Griff zu bekommen.127 Als positiv bewerteter Referenzraum für solche Einschätzungen fungierte vielfach die USA, deren „mißhandlungsbezogene[r] Kinderschutzpolitik“ deutsche Experten noch um die Jahrtausendwende einen „Erfahrungsvorsprung von fast zwei Jahrzehnten“ attestierten.128 Eine solche Feststellung galt auch und besonders für das lange stark tabuisierte Thema der sexuellen Gewalt gegen Kinder. Obwohl mittlerweile davon ausgegangen werden kann, dass Kinder „seit Menschengedenken […] als Eigentum der Eltern angesehen und in jeder Weise auch sexuell ausgenutzt worden“ sind, obwohl noch für die gegenwartsnahen Epochen kein Zweifel daran bestehen kann, dass sexueller Missbrauch „weltweit verbreitet ist und ohne Rücksicht auf die nationale, völkische und religiöse Zugehörigkeit sowie den sozialen Status einer Familie vorkommt“129, hat sich die Forschung des Themas erst spät in umfassenderer Weise angenommen. Bis in die 1970er Jahre blieb die wissenschaftliche Annäherung an sexuelle Gewalt gegen Kinder auf Ansätze beschränkt oder im jeweiligen Fachzusammenhang randständig. Das gilt für die Frühgeschichte der Psychoanalyse und Freuds Abkehr von der sogenannten „Verführungstheorie“ um 1900130 ebenso wie für die Erforschung der Glaubwürdigkeit von kindlichen Zeugen in Sitt126  Zenz, Kindesmißhandlung; Claaßen / Rauch; Trube-Becker, Vernachlässigung; Trube-Becker, Ausbeutung. Über den zeithistorischen Rahmen ihrer Arbeit berichtet die Autorin in Trube-Becker, Leben; Engfer. 127  Zenz, Einleitung. 128  Fegert u. a., Vorwort, S. X. 129  Trube-Becker, Perspektive, S. 45, 50; ähnlich argumentiert Martin. 130  Hierzu in grundsätzlicher Kritik an Freud Masson [dt.: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie, Hamburg 1984].



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lichkeitsprozessen, wie sie etwa der Psychologe und Kinderforscher William Stern in innovativer Weise seit dem frühen 20. Jahrhundert betrieben hat131, oder auch für die kriminologische Täterforschung der 1920er und 1930er Jahre, die sich in Fällen von Sexualdelikten an Kindern vorwiegend für die Tätermotivation interessierte und regelmäßig dazu neigte, eine Mitverantwortung der Opfer zugrunde zu legen.132 Ausgehend von den USA, wo umfassendere gesetzliche Regelungen gegen sexuellen Missbrauch von Kindern auf der Ebene einzelner Bundesstaaten bereits in den 1930er Jahren verabschiedet worden waren, kam es vier Jahrzehnte später zu einem international folgenreichen Paradigmenwechsel. Nicht mehr vornehmlich die psychische Konstitution männlicher „sex offenders“ wie noch bis in die 1960er Jahre, sondern das familiäre Umfeld der betroffenen Kinder, die Täter aus dem engsten Umkreis und die kindlichen Opfer selbst rückten nun in den Mittelpunkt von Fachstudien, Forschungsprojekten, therapeutischen Lösungsansätzen, Trainingsseminaren und Selbsthilfegruppen. Neben der Aufstockung staatlicher Sozialfonds und der institutionellen Ausweitung des Kinderschutzes wurde bis 1974 in allen US-Bundesstaaten eine gesetzliche Meldepflicht bei Missbrauchsfällen eingeführt („mandatory reporting“), deren Effekte von deutschen Expertinnen und Experten aufmerksam beobachtet wurden.133 In starkem Maße getragen von Vertreterinnen und Vertretern der Fächer Psychologie, Psychiatrie, soziale Arbeit und Medizin, aber auch von einflussreichen Kinderschutzorganisationen, erweiterte sich der Fokus der medialen Aufmerksamkeit und der gesetzgeberischen Tätigkeit in den USA innerhalb weniger Jahre von der Kindesmisshandlung auf den sexuellen Missbrauch von Kindern. Dies geschah im Kontext der Expansion sozialstaatlicher Aktivitäten in der US-amerikanischen Politik seit den 1960er Jahren und der zentralen Rolle der Familie als normativem Referenzpunkt. Wirksam wurde zudem auch hier ein Trend zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“, der sich unter anderem in der Beratungstätigkeit von Sozialexperten im legislativen Prozess manifestierte. Das anwachsende Interesse an psychologischem Wissen in der Öffentlichkeit, aber auch der Aufschwung familienorientierter Therapieformen als Alternativbewegung zur individualisierenden Psychoanalyse stützten und befeuerten den Wandel.134 131  s. zu Stern nunmehr Heinemann. Vgl. auch den Beitrag von Rebecca Heinemann im vorliegenden Band. 132  s. etwa von Hentig / Viernstein. Vgl. dazu Olafson u. a.; Bange, Erforschung. 133  Dazu Zenz, Einleitung, S. 25, 28. 134  Weisberg; Whittier. Als präzise Zwischenbilanz zur Praxis des Kinderschutzes in den USA der 1970er Jahre sei genannt: Kadushin; zur Entwicklung des Sozialsystems s. Mätzke. Als frühes Beispiel für die Übertragung des Traumabegriffs auf das

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Während sich in den USA im Laufe der 1980er Jahre bereits eine begrenzte Rückkehr zu restriktiveren Formen der Sozialpolitik sowie zur Täterund Straforientierung im Kinderschutz abzeichnete135, wuchs in Deutschland mit einigem zeitlichen Versatz die Aufmerksamkeit für das Problem. Erste wissenschaftliche Untersuchungen aus den Reihen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der klinischen Psychologie oder der forensischen Medizin, die sich seit den 1960er Jahren dem Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern auf der Basis von Aktenauswertungen oder Fallstudien angenähert hatten, konnten in der Fachwelt noch keinen Forschungstrend in Gang setzen.136 Es dauerte vielmehr bis in die 1990er Jahre bzw. nach der Jahrtausendwende, bis anhand von sogenannten „Dunkelfeldstudien“ repräsentative Daten zum Thema erhoben oder erste Handbücher veröffentlicht wurden.137 Das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen in der Odenwaldschule, im Berliner Canisius-Kolleg oder im Internat der Benediktinerabtei Ettal im Laufe des Jahres 2010 gab der nacharbeitenden Forschung starke Impulse. Unter anderem angestoßen durch den von der Bundesregierung initiierten „Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ (2010 / 2011) sowie den „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ (2009–2011) nahm die Wissenschaft in systematischerer Weise als bisher betroffene Kinder in Heimen und anderen Institutionen in den Blick.138 Nach langem Vorlauf kann somit im Grunde erst seit der Jahrtausendwende davon gesprochen werden, dass in Deutschland eine „Wissenschafts­ landschaft“139 zur Erforschung von sexueller Gewalt gegen Kinder im Entstehen begriffen ist, um den Kinderschutz auch in dieser Hinsicht auf eine breitere Grundlage zu stellen. Feld der Kindesmisshandlung und in vorsichtiger Abgrenzung von den Kategorien der klassischen Psychoanalyse und ihrem problematischen Verhältnis zur Exogenität des Traumas s. Shengold. Er bezieht sich u. a. auf die Arbeiten von Sándor Ferenczi, dem Schüler und späteren wissenschaftlichen Opponenten Freuds. s. dazu auch den Beitrag von Stefan Grüner im vorliegenden Band. 135  Weisberg, S. 45–57; Mätzke, S.  301 ff. 136  von Stockert; Schönfelder; Maisch; Trube-Becker, Vernachlässigung; TrubeBecker, Ausbeutung. 137  Genannt seien die Studien von Wetzels sowie Bieneck u. a.; Egle u. a., Mißbrauch. 138  s. dazu u. a. die am Deutschen Jugendinstitut München im Rahmen des Projekts „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“ erstellten Expertisen: Bundschuh; Kindler / Schmidt-Ndasi; Zimmermann u. a.; die Expertisen gingen ein in Deutsches Jugendinstitut e. V. Vgl. auch die in der Einleitung dieses Bandes genannte historiographische Literatur. 139  Bange, Erforschung, S. 45; im Rückblick resümierend auch Egle u. a., Vorwort, S.  V f.



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IV. Fazit Am Ende dieses Beitrags steht ein gespaltener, teils ernüchternder Befund. Über die Praxis des Erziehens in Schule und Familie wissen wir für die Neuzeit hinsichtlich der Präsenz gewaltförmiger Methoden nach wie vor sehr wenig. In Deutschland hielt sich eine lang währende Tradition des gewaltaffinen Strafens bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Obwohl seit der Wende zum 20. Jahrhundert von reformorientierten Strömungen in Frage gestellt und bereits in den 1950er Jahren in ihrer nach wie vor dominanten Stellung nicht mehr unumstritten, zählten Körperstrafen in Schulen und Familien bis mindestens in die 1970er Jahre zur weit verbreiteten, schmerzlich erfahrenen Erziehungsrealität von Kindern. Über die regionale, schichtenbzw. geschlechtsspezifische oder konfessionelle Verbreitung des Phänomens in der jüngeren Geschichte sind allerdings noch kaum quellengestützte Aussagen möglich. Deutlicher zeichnet sich die relative Kontinuität eines argumentativen Paradigmas ab, das in seinem Kern kaum verändert seit der Aufklärungspädagogik bis weit ins 20. Jahrhundert überdauerte: Ihm zufolge war ein eingehegter Gebrauch von Körperstrafen gegenüber Kindern insoweit akzeptabel, als dabei „Exzesse“ vermieden wurden. Es darf vermutet werden, dass dieses schlichte Argumentationsmuster lange Zeit die Basis für ein weitgehend konsensuales Sprechen über Körperstrafen bot, das es dezidierten Anhängern wie gemäßigten Skeptikern gleichermaßen erlaubte, Alltagspraxis und theoretisierende Legitimation widerspruchsarm zu verbinden. Etwa seit dem Übergang zum 20. Jahrhundert verfestigte sich auf diese Weise ein diskur­ siver Rahmen, bei dessen Überschreiten sich Debattierende außerhalb der Diskursgemeinschaft gestellt und die eigene Deutungskompetenz gefährdet hätten. Dort wo die Prügelstrafe publizistisch oder wissenschaftlich in diesem Rahmen reflektiert wurde, pflegten ihre Befürworter bevorzugt Deutungsmuster, die ein pessimistisches, oft von der Idee der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur geprägtes Menschenbild, den Gedanken einer zu erhaltenden gesellschaftlichen Ordnung oder einfach pragmatische Aspekte der Unterrichtsarbeit in den Vordergrund rückten. Phasen des intensivierten Nachdenkens und Handelns in Sachen Kinderschutz, die für Deutschland um 1900, in der Zwischenkriegszeit und in den späten 1960er und 1970er Jahren zu verzeichnen sind, gingen dort immer auch mit forcierten Debatten über die Anwendung der Prügelstrafe als Erziehungsmittel einher. Erst in der dritten Verdichtungsphase entfalteten sich die Diskussionen indes im Rahmen eines signifikant veränderten gesellschaft­ lichen Referenzrahmens, der unter anderem im Zeichen eines stärker individualisierenden Kinderbildes und gewandelter Geschlechterrollen stand. Die langwierige Konstitution von „Kindesmisshandlung“ als juristischer Tatbe-

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stand und medizinisches Syndrom, die sich etwa seit der Jahrhundertwende über annähernd sieben Jahrzehnte erstreckte, spiegelte, befeuerte und stabilisierte diesen jüngeren Trend zur wachsenden sozialen Aufmerksamkeit für die Belange kindlichen Aufwachsens und zur Delegitimierung von erzieherischer Gewalt. Die damit verbundene, gestiegene Deutungsmacht der Wissenschaften vom (verletzten) Kind hatte ihre Wurzeln in nationalen Entwicklungen, speiste sich aber seit den 1960er Jahren in hohem Maße auch aus Impulsen und Inhalten der US-amerikanischen Kinderforschung und aus ihrem jahrzehntelangen Erfahrungsvorsprung. Dass es in Summe dieser Entwicklungen in Deutschland bis zur Jahrtausendwende zu einer Rejustierung des öffentlich Sagbaren und des diskursiv gepflegten Konsensus mit dem Ergebnis eines Gewaltverbots in der Erziehung kam, kann nur begrüßt werden, markiert aber allenfalls einen – wichtigen – Zwischenerfolg. V. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten. Zweyter Theil, Berlin 1794. Bezold, Andreas: Das Züchtigungsrecht in der bayerischen Volksschule, München 1906. Borchardt, Julian: Wie sollen wir unsere Kinder ohne Prügel erziehen? Berlin 1919. Bracken, Helmut von: Die Prügelstrafe in der Erziehung. Soziologische, psychologische und pädagogische Untersuchungen, Dresden 1926. Bundestags-Drucksache 7 / 3318, 4.3.1975: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Endres u. a., Drucksache 7 / 2937, betr. Züchtigungsbefugnis, URL: http: /  / dipbt.bundestag.de / doc / btd / 07 / 033 / 0703318. pdf, Aufruf zuletzt am 15.3.2018. Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. August 1896, München 1996. Campe, Johann Heinrich: Ueber das Zweckmäßige und das Unzweckmäßige in den Belohnungen und Strafen, in: Ders. (Hrsg.), Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Zehnter Teil, Wien / Braunschweig 1788, S. 445–568. Czerny, Adalbert: Der Arzt als Erzieher des Kindes, Leipzig / Wien 1908. Foerster, Friedrich Wilhelm: Schule und Charakter. Beiträge zur Pädagogik des Gehorsams und zur Reform der Schuldisziplin, Zürich 1908. Francke, August Hermann: Instruction für die Praeceptores, was sie bey der Disciplin wohl zu beobachten, in: Ders. (Verf.) / Karl Richter (Bearb.), Schriften über Erziehung und Unterricht, Leipzig 1872, S. 560–573.



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I. Gewalt in Schule und Familie

„Schulen“ in Rom und die Kritik an der kindbezogenen Gewalt in der Literatur des ersten nachchristlichen Jahrhunderts Von Stephanie Kirsch I. Einleitung Caedi vero discentis, quamlibet et receptum sit […], minime velim. Dass aber die Lernenden geschlagen werden, wie sehr es auch anerkannt sei […], möchte ich keineswegs.1

Die Worte des römischen Rhetoriklehrers Quintilian, geschrieben gegen Ende des 1. Jh. n. Chr., stellen in ihrer Deutlichkeit ein Novum in der antiken Literatur dar. Zwar hatte es bereits früher Ansätze zu gewaltlosen Alternativen für das kindliche Lernen gegeben,2 so entschieden wie bei Quintilian waren diese jedoch nicht vertreten worden. Dies führte dazu, dass Quintilians Aussage in der Forschung häufig als Einzelmeinung ohne viel Wirkung abgetan3 und Quintilian selbst nur als „Außenseiter“ betrachtet wurde,4 dessen Meinung gesondert analysiert werden konnte und musste. Schaut man sich die zeitgenössische Überlieferung an, kann dieses Forschungsurteil kaum überraschen. So sah der stoische Philosoph Seneca, der Erzieher und Berater des Kaisers Nero, in Schlägen noch ein probates Mittel der Erziehung: […] und manchmal ermahnt er [Anm: gemeint ist der Weise] sie wie Kinder mit Unannehmlichkeit und Strafe, nicht, weil er Unrecht erlitten hat, sondern weil sie

1  Quint. inst. 1.3.14, Übersetzung durch die Autorin. Alle weiteren Übersetzungen folgen den im Literaturverzeichnis genannten Quellenausgaben. 2  Vgl. Plat. leg. 1.643 c–d, vgl. dazu Nightingale, S. 139–143; Christes, Pädagogik, S. 52; vgl. auch Patterson. 3  So etwa Stanley Bonner: „Throughout antiquity from the time of Socrates to that of St Augustine and beyond, across the whole Mediterranean world, from Egypt to Bordeaux and from Carthage to Antioch, corporal punishment was a constant feature of school life. Even though prominent individuals, from time to time protested against it in the strongest terms, it was never widely condemned by public opinion.“ (Bonner, S. 143). 4  So Weeber, S. 114.

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es begangen haben und damit sie es zu tun aufhören. So nämlich werden auch Tiere durch Schläge gezähmt […].5

Bei genauerer Betrachtung widersprechen sich diese beiden Zitate allerdings nicht so klar, wie es zuerst erscheint. In seiner philosophischen Abhandlung über den Weisen bewertet Seneca den Nutzen direkter physischer Gewalt als Mittel der Erziehung bzw. der Besserung von Menschen in einem ganz allgemeinen Sinne: Als mögliches Mittel zur Korrektur unliebsamen Verhaltens ist die Ermahnung in verschiedenen Formen – dies sollte nicht aus dem Auge verloren werden – ein nützliches Mittel. Schläge („verbera“) werden mit zwei spezifischen Empfängergruppen verbunden: Kindern und Tieren. Betrachtet man Quintilians Aussage im Kontext seiner Schrift „institutio oratoria“ (Unterweisung in die Redekunst) und übersetzt etwas freier, ergibt sich auch hier ein stärker eingeschränkter Bereich, für den sein Wunsch nach einer gewaltfreien Erziehung gelten soll. So schreibt er: Dass aber die Schüler beim Lernen [„discentes“] geprügelt werden, wie sehr es auch üblich ist […], möchte ich keineswegs, erstens, weil es häßlich und sklavenmäßig ist und jedenfalls ein Unrecht – was sich ja, wenn man ein anderes Alter einsetzt, von selbst versteht […].6

Die hier genannten „discentes“ sind folglich einer bestimmten Altersgruppe zuzurechnen, die sich mit Blick auf die Gesamtkomposition der „institutio“ leicht entschlüsseln lässt, findet sich die Passage doch zu Anfang seines zwölf Bücher umfassenden Gesamtkonzeptes zur Ausbildung des idealen Redners: Gemeint sind Kinder im Alter vor Beginn des Rhetorikunterrichts,7 deren Behandlung, Lerninhalte und Lehrer das Thema des ersten Buches bilden. Die Aussage bezieht sich folglich auf die Lernstufen des Elementarund Grammatikunterrichts, der, dies macht Quintilian bereits frühzeitig im ersten Buch deutlich, nur Unterricht in einer Gruppe von Schülern sein kann.8 Kurzum: Es sind die Schläge der Lehrer für eine ganz spezielle Zielgruppe, die Quintilian ablehnt. Um eine allgemeine Aussage zum Nutzen der Schläge geht es ihm – anders als Seneca – nur bedingt.9 5  Sen. dial. 2.12.3: „[…] et aliquando illos tamquam pueros malo poenaque admonet, non quia accepit iniuriam, sed quia fecerunt et ut desinant facere. Sic enim et pecora uerbere domantur“. 6  Quint. inst. 1.3.14: „Caedi vero discentes, quamlibet et receptum sit et Chrysippus non improbet, minime velim. Primum quia deforme atque servile est et certe (quod convenit si aetatem mutes) iniuriae […].“ 7  Der Unterricht begann ungefähr zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr. Dies war vom vorherigen Lauf der Erziehung und der kindlichen Begabung abhängig, feste Altersklassenverbände gab es nicht, vgl. Laes, Children, S. 107 f.; Maurice, S. 91; vgl. auch Booth, Education. 8  s. Quint. inst. 1.2.18,20. 9  Tatsächlich legt Quintilian in diesem Teil seiner Schrift viel Wert auf das richtige Verhalten aller an der Erziehung des Kindes beteiligten Personen. Der Kontext



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Was macht aber gerade die Schule in Rom zu einem Ort, an dem Gewaltanwendung gegen Kinder kritisiert werden kann und welche Faktoren spielen hierfür eine Rolle? In der Forschung zur Erziehung in Rom finden sich drei Ansatzpunkte für eine Erklärung, die es im Folgenden zu betrachten gilt. So rückt der verbreiteteste Deutungsansatz für die Gewalt in römischen Schulen die oft prekäre Position der Lehrer im Gefüge der römischen Gesellschaft in den Fokus. Stanley Bonner stellt in seiner 1977 erschienenen Arbeit „Education in Ancient Rome“ heraus, dass die schwierige Position vieler Lehrer, deren Bezahlung vom Wohlwollen der Eltern abhing und die häufig das soziale Stigma der nicht-römischen oder sozial niederen Abkunft trugen, die Anwendung von Körperstrafen im Unterricht begünstigte.10 In jüngerer Zeit hat Christian Laes das sich aus diesem sozialen Gefälle zwischen Lehrer und Schüler ergebende Paradoxon – dass Gewaltanwendung in der römischen Gesellschaft, die normalerweise einem hierarchischen Gefälle folgt, hier kontrahierarchisch ausgeübt wird – einer genaueren Untersuchung unterzogen und herausarbeiten können, dass eine präferierte Lösung die temporäre Projektion der Vaterrolle auf den Lehrer zu sein scheint.11 Das Bild des Lehrers, welches zwischen emotional-verbundenem Lehrmeister und pejorativer Beschimpfung oszilliert, hat zuletzt Lisa Maurice in einer Gesamtbetrachtung der Quellen zu den römischen Lehrern herausgearbeitet.12 Diesen Ansätzen fehlt jedoch zumeist eine diachrone Perspektive, sodass die Entwicklung der Institution Schule in Rom oft nur in Bezug auf die der Passage nach einer längeren Erläuterung der Vorteile des Gruppenunterrichts (inst. 1.2) und im Kontext der richtigen Lehrmethode orientiert an Begabungsunterschieden (inst. 1.3) machen den Bezug zum Lehrer, d. h. einem professionellen Wissensvermittler, offensichtlich. 10  Bonner, S. 142–145; so auch Néraudau, S. 318–323 und Legras, S. 25–34. Zu sozialen Herkunft der Lehrer vgl. die Untersuchung von Christes, Sklaven. In der grundlegenden erziehungsgeschichtlichen Arbeit von Henri-Irénée Marrou, der bereits 1948 in Paris erschienenen „Histoire de l’éducation dans l’Antiquité“, wird die Gewalt in den Schulen eher beschrieben, als in ihren sozialen Kontext eingebettet. So erkennt Marrou zwar einen kontinuierlichen Fortschritt und stellt fest, die römische Schule zeige „moderne Züge“ (Marrou, S. 504), eine weitere Analyse zur Frage der Gewalt fehlt jedoch. Die wenigen Arbeiten, die sich explizit mit dem Thema Gewalt im schulischen Kontext auseinandersetzen, verblieben dann auch häufig bei der Analyse der Züchtigungsmittel oder einer Sammlung der Quellen ohne weitere Interpretation, vgl. Booth, Punishment, letztlich so auch bei Christes, Pädagogik. 11  Zur kindbezogenen Gewalt vgl. Laes, Childbeating, S. 75–89, sowie Laes, Children, S. 137–147. Einen Überblick zur kindbezogenen Gewalt in der antiken Literatur geben Legras; Booth, Punishment, und Christes, Pädagogik. Zur Gewalt in der römischen Gesellschaft als Mittel der performativen Hierarchiekonstruktion vgl. Fagan; generell zur Deutungsproblematik antiker Gewaltdarstellungen in der Literatur vgl. Zimmermann, Deutung, sowie Zimmermann, Gewalt. 12  Vgl. Maurice, S. xiii, 143–210.

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nicht-römische Herkunft der Lehrer oder in Bezug auf die Lerninhalte Erwähnung findet. Während noch Henri-Irénée Marrou die These vertrat, dass die römische Schule nicht viel mehr als die fortlaufende Weiterentwicklung eines hellenistischen Modells sei,13 hat die Forschung der letzten Jahrzehnte die Etablierung der Institution Schule und die Bedeutung ihrer Inhalte für die Reproduktion der sozialen Oberschichten herausgearbeitet.14 Dass diese Entwicklung nicht immer auf Gegenliebe traf, wie das Verbot der lateinischen Rhetoren zu Beginn des 1. Jh. v. Chr. veranschaulicht,15 scheint in Bezug auf die hier untersuchte Frage nach den bedingenden Faktoren für einen Diskurs zur schulischen Gewalt nicht unbedeutend. Zuletzt ergibt eine erneute Auseinandersetzung mit Quintilian und dem Lehrprogramm der „institutio“ aus erziehungshistorisch-theoretischer Per­ spektive fruchtbare Neuansätze, welche die Entwicklung einer Theorie der gewaltfreien Erziehung in einen weiteren sozio-politischen Kontext einbetten. Weniger die früher so stark rezipierten Bildungsinhalte der „insitutio“ als das von Quintilian entwickelte Konzept des Kindes bzw. des Lernenden stehen im Zentrum insbesondere der Arbeiten Martin W. Bloomers. Auf dessen These, dass die Gewalt in der Schule vor allem durch die Notwendigkeit begründet sei, das Individuum zu formen und Gewalt als Handlungsoption zu erlernen, wird an späterer Stelle noch einmal zurückzukommen sein.16 Ausgehend von diesen drei Punkten, d. h. der sozialen Stellung der Lehrer, der Entwicklung der Schule und dem Lehrprogramm Quintilians, sollen im Folgenden einige der in der Forschung meist besprochenen Quellenbeispiele neu betrachtet werden. Anhand dieser ausgewählten literarischen Beispiele aus dem 1. Jh. n. Chr., die über Schulen und Lehrer berichten bzw. die Per­ spektive von Lehrenden widerspiegeln, sollen die sozialen und ideologischen Bedingungen erläutert werden, unter denen sich Lehrer und Schulen in Rom etablierten. Auf diese Weise sollen die verschiedenen Einflüsse, die einen Diskurs zur kindbezogenen Gewalt ermöglichten, verdeutlicht werden. Die 13  Marrou,

S. 17–19. Republik vgl. Corbeill, Traditions, sowie Corbeill, Cicero’s Youth; zum Zusammenhang von Rhetorik und sozialer Reproduktion in der frühen Kaiserzeit vgl. Corbeill, Social Reproducation. Zur Veränderung der Sozialisation durch griechische Einflüsse in republikanischer Zeit vgl. Scholz. Einen Überblick über die Forschung zur Schule bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts bietet Vössing, Geschichte. Neuere Forschung findet sich zugänglich über die Handbücher von Bloomer, Companion; Grubbs u. a., sowie Rawson. 15  Suet. rhet. 25.2, 26.1; Cic. de orat. 3.24.93 f.; Gel. 15.11.2; Tac. dial. 35.1, dazu Corbeill, Traditions, S. 271–273. 16  Für den Bereich der Schule findet sich ein Ansatz bei Bloomer, Punishment, S. 184–187. In Auswahl sei hier auch verwiesen auf Bloomer, Quintilian, sowie Bloomer, School. 14  Zur



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autobiographischen Zeugnisse des Satirikers Horaz aus dem 1. Jh. v. Chr. erweitern diese Betrachtung diachron und perspektivisch. So wird zu Beginn zu klären sein, was überhaupt unter „Schule“ in Rom in dieser Zeit zu verstehen ist (II.) und wer diese besuchte (III.), bevor am Beispiel des für seine strengen Disziplinierungsmethoden bekannten Lehrers Orbilius der Überlieferung kindbezogener Gewalt in der Schule nachgegangen werden soll (IV.) und zuletzt aufzuzeigen sein wird, wie sich Quintilians Erziehungsmodell in dieses Bild einfügt (V.). II. Schulen in Rom – Lernen und Leiden17? Das deutsche Wort Schule leitet sich vom lateinischen Wort „schola“ ab, welches wiederum mit dem altgriechischen σχολή („scholḗ“) verwandt ist. Dieses bezeichnet – wie im Übrigen auch sein lateinisches Pendant – in der Grundbedeutung das Nichtstun, die freie Zeit und erst im übertragenen Sinne den gelehrten Vortrag, das Studium und den Ort, an dem Vorträge gehalten werden.18 Es gibt weder zur Zeit der römischen Republik noch in der uns hier interessierenden frühen Kaiserzeit ein einheitliches, von einer zentralen Stelle gelenktes und koordiniertes Schulsystem.19 Dennoch sind die Inhalte, die von Lehrern an ihre Schüler vermittelt werden und durch sozialen Konsens unter Einfluss griechischer Vorbilder und Lehrer ab der zweiten Hälfte des 3. Jh. v. Chr. entstanden, in drei aufeinander aufbauende Kompetenzbereiche eingeteilt: die „elementa“, d. h. das grundlegende Erlernen von Lesen, Schrei­ ben und Rechnen, die „ars grammatica“, die vor allem sprachliche Analysen und die Lektüre der Dichtung umfasste, sowie die „ars dicendi“, d. h. die Rhetorik.20 Deren Verteilung auf einzelne spezialisierte Lehrer muss man sich je17  So – symptomatisch für die Wahrnehmung der römischen Schule in der Gegenwart – der Titel der letzten populärwissenschaftlichen Publikation zum Thema Schule in Rom, vgl. Weeber. 18  Vgl. Georges s. v. „schola“ sowie LSJ s. v. „σχολή“. 19  Selbst in der Kaiserzeit griffen die Kaiser selten direkt in Fragen der Schuletablierung ein, es gab jedoch vereinzelt Förderungen bestimmter Personen, wie z. B. Quintilian, der einen von kaiserlicher Seite besoldeten Posten als Rhetoriklehrer erhielt (vgl. Suet. Vesp. 18), teilweise gibt es auch vom Kaiser im Rahmen seiner ­„liberalitas“ oder – und dies häufiger – auf lokaler Ebene geförderte Schulen. Diese werden von der lokalen Munizipalaristokratie oder von aus der jeweiligen Stadt stammenden und in die stadtrömische Aristokratie aufgestiegenen Förderern finanziert. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die sogenannte Schulstiftung des jüngeren Plinius, vgl. Plin. epist. 4.13, dazu erläuternd den Aufsatz von Manuwald. Zur Schulförderung s. Vössing, Geschichte, S. 487–491. 20  Dies sind die vom nordafrikanischen Redner Apuleius im 2. Jh. n. Chr. so bezeichneten drei Kelche der Erziehung, s. Apul. flor. 20. Zur Flexibilität des Systems s. auch Vössing, Geschichte, S. 475–477. Informationen zu dieser frühen Zeit erhalten

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doch wenig strikt vorstellen, allein die Trennung zwischen den Bereichen der „elementa“ und „ars grammatica“ auf der einen und der „ars di­cendi“ auf der anderen Seite war bedeutender. Konnte ein Grammatiklehrer („grammaticus“) auch den Bereich des Elementarlehrers („ludi magister“) unterrichten, war ein Grammatiklehrer selten auch Rhetoriklehrer – eine Trennung, die mit der unterschiedlichen sozialen Wertschätzung der einzelnen Lehrertypen und wohl auch ihrer unterschiedlichen Besoldung einherging.21 Die konzeptuelle Abtrennung der unteren Ebene der „elementa“ von den anderen beiden schlug sich zudem sprachlich nieder. Anstatt „schola“ wurde für diesen Bereich das Wort „ludus“ verwendet, das in seiner Grundbedeutung das Spiel und den Zeitvertreib bezeichnet, im übertragenen Sinne dann zur Bezeichnung der öffentlichen Spiele und eben auch für die Schulen verwendet wird. Im Gegensatz zur „schola“ bezieht sich der Begriff nun jedoch vor allem auf den Anfangsbereich, die Elementarstufe der römischen Erziehung, in der im „ludus litterarum“ der „ludi magister“ unterrichtet.22 Was unter diesen Voraussetzungen unter einer Schule zu verstehen ist, wird aus der Biographie eines Grammatikers namens Verrius Flaccus deutlich, dessen Vita der römische Schriftsteller Sueton zu Beginn des 2. Jh. n. Chr. überliefert: M. Verrius Flaccus, ein Freigelassener, erlangte sehr große Berühmtheit durch die Art und Weise, wie er unterrichtete. Denn bei ihm war es üblich, daß Schüler, die gleich weit im Stoff waren, miteinander wetteiferten, damit sie ihre Fähigkeiten anwenden und ausbilden lernten. Es wurde nicht nur das Thema vorgegeben, zu wir jedoch erst ab dem 2. Jh. n. Chr., so berichtet Sueton (gram. 1.2) von den Hauslehrern Livius Andronicus und Ennius, während sich bei Plutarch (mor. 278 e) die Erwähnung einer Elementarschule des Spurius Carvillus findet. Zur Überlieferungsproblematik s. Vössing, Geschichte, S. 459, Anm. 13. 21  Gerade die Oberschicht bevorzugte für das Erlernen der „elementa“ den Privatunterricht, der durchaus auch vom späteren „grammaticus“ der Kinder übernommen worden zu sein scheint. Die Schule eines „ludi magister“ besuchten dagegen diejenigen, die sich einen Privatlehrer nicht leisten konnten, s. Booth, Education, S. 5, 8–10; dem folgend Maurice, S. 1–22, 57 f.; vgl. auch im Folgenden das Beispiel des M. Verrius Flaccus. Für die Spätantike bezeugt die unterschiedliche Wertschätzung der Arbeit der verschiedenen Lehrertypen die sehr unterschiedliche Besoldung, welche im Diokletianischen Höchstpreisedikt von 301 erhalten ist. So erhalten der „ludi magister“ 50 Denare pro Monat und Schüler, der „grammaticus“ 200 Denare und der Rhetor 250 Denare, s. Ed. de pretiis 7.66–73. Dazu Laes, Children, S. 122–137 sowie Vössing, Koedukation, S. 127–128, zur Bezahlung generell s. Maurice, S.143–162. Vom „ludi magister“ als pejorativen Vorwurf vgl. Booth, Image. 22  „Schola“ ist im Großen und Ganzen der weitere Begriff, der alle drei Stufen erfassen kann, so unter Rückbezug auf Augustinus auch Vössing, Koedukation, S. 133. Konzeptuell scheint eine Trennung zwischen dem Erlernen der „elementa“ und den komplexeren Aufgaben der Schüler im Grammatik- und Rhetorikunterricht vollzogen worden zu sein, die Benennung „schola“ scheint jedoch erst im 1. Jh v. Chr. aufgekommen zu sein, s. die Verweise in Georges s.v. „ludus“ sowie Vössing, Geschichte, S. 458.



„Schulen“ in Rom89 dem sie eine Abhandlung schreiben sollten, sondern auch eine Belohnung ausgesetzt, die der Sieger mitnahm. Die Belohnung bestand aus einem alten, schönen und recht seltenen Buch. Deshalb wurde er auch von Augustus als Lehrer für seine Enkelkinder ausgewählt; darauf zog er mit seiner ganzen Schule [„cum tota schola“] in den Palast; doch wohl auch deshalb, damit er keinen weiteren Schüler mehr aufnehme. Er unterrichtete im Atrium des catilinischen Hauses; das gehörte damals zum Palast; er erhielt ein Jahresgehalt von einhunderttausend Sesterzen. Er starb im hohen Alter unter Tiberius. Seine Statue steht in Praeneste im oberen Teil des Tempels der Fortuna, nahe beim Hemicyclium; dort hatte er einen Kalender, den er in die rechte Ordnung gebracht hatte, in eine Wand aus Marmor eingehauen und ihn so der ganzen Stadt zugänglich gemacht.23

Diese kleine Biographie, enthalten in einer Sammlung von 21 kurzen Grammatiker- und 16 Rhetorenviten, ist in mehreren Aspekten aufschlussreich. Der Freigelassene Marcus Verrius Flaccus wurde demnach vom ersten „princeps“ Augustus (30 v.–14 n. Chr.) als Lehrer für seine Enkelkinder und designierten Nachfolger erwählt, weil sein erzieherisches Konzept den „princeps“ überzeugte. Augustus handelte daraufhin auf bezeichnende Weise: Er holte Flaccus in sein Haus auf dem Palatin, wohin dieser „cum tota schola“ umzog, um – so spekuliert Sueton – wohl keine weiteren Schüler mehr aufzunehmen. Die Schule ist also eng mit dem jeweiligen Lehrer verbunden, sowohl örtlich als auch auf den Unterrichtsablauf bezogen. Der Unterricht bei Flaccus stand demnach allen zahlenden Kunden offen, der Umzug in ein Privathaus begrenzt diesen Zugang jedoch. Aus anderer Überlieferung ist zu erschließen, dass Lehrer ihre Unterrichtsräume bevorzugt an öffentlich leicht zugängliche Plätze legten.24 Das Beispiel des Flaccus zeigt aber, wie leicht solche Schulen von zahlenden Interessenten beeinflusst, in geschlossene Unterrichtsgruppen und gegebenenfalls auch zu Privatunterricht umgewandelt werden konnten, da letztlich die Finanzierung des Lehrers den Ausschlag für die Form der Unterrichtsgruppe und den Unterrichtsort 23  Suet. gramm. 17: „M. Verrius Flaccus libertinus docendi genere maxime inclaruit. namque ad exercitanda discentium ingenia aequales inter se committere solebat, proposita non solum materia quam scriberent, sed et praemio quod victor auferret; id erat liber aliquis antiquus, pulcher aut rarior. quare ab Augusto quoque nepotibus eius praeceptor electus, transiit in Palatium cum tota schola, verum ut ne quem amplius posthac discipulum reciperet; docuitque in atrio Catilinae domus, quae pars Palati tunc erat, et centena sestertia in annum accepit. decessit aetatis exactae sub Tiberio. statuam habet Praeneste; in superiore Fort parte circa hemicyclium, in quo fastos a se ordinatos et marmoreo parieti incisos publicarat.“ 24  Dies gilt insbesondere für die Schulräume der einfachen „Ludi magistri“. Die physische Ausgestaltung der Schulräume war sehr variabel und hing nicht im geringen Teil vom Budget des Lehrers bzw. der ihn bezahlenden Eltern ab, die Bandbreite reicht vom Privathaus zu angemieteten Ladenräumen an Straßen oder in der Nähe des jeweiligen Forums, dazu Bloomer, Companion, S. 453–454, sowie Maurice, S. 23–50. Zur möglichen Lage einer einfachen Elementarschule s. z. B. Hor. sat. 1.20.17.

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gab. Augustus handelte mit der Anstellung des Flaccus darüber hinaus sehr traditionell, indem er sich den besten Lehrer für seine Erben sicherte. Tatsächlich war und blieb die Aufsicht über die Erziehung der Kinder und im Speziellen der Söhne von der Republik zur Kaiserzeit Aufgabe des Vaters bzw. des „paterfamilias“, des rechtlichen Familienvorstandes. Lehrer und Unterricht als von der Familie bzw. von der engen Aufsicht des Vaters abgekoppelte außerhäusliche Erziehungsinstanz sind erst eine Entwicklung des späten 2. bzw. 1. Jh. v. Chr. Das römische Ideal, wie es in extremer Form für Cato d. Ä. überliefert ist, sah den Vater als alleinigen Erzieher des Sohnes.25 Hauslehrer lassen sich im Kontext der Eroberung der griechischsprachigen Gebiete und des Aufkommens der lateinischen Literatur ab der zweiten Hälfte des 3. Jh. v. Chr. nachweisen.26 Als Sklaven oder Freigelassene in Rom lebend, war es vielen dieser Hauslehrer ab einem gewissen Zeitpunkt möglich, zu ihrem eigenen Profit oder zum Profit ihres Herren für zahlende Kundschaft zugängliche Schulen zu eröffnen, wenngleich dies nicht immer auf Akzeptanz stieß.27 So erwies sich vor allem der Bereich der lateinischen Rhetorik als Wespennest, gehörte doch gerade dieser Bereich zum notwendigen Wissen, das zur politischen Partizipation als Teil der stadtrömischen Nobilität und damit gegebenenfalls auch zum gesellschaftlichen Aufstieg befähigte. War dieses Wissen ehemals über das Begleiten von Freunden („amici“) des Hauses in Form einer praktischen politischen Lehrzeit, dem sogenannten „tirocinium fori“, erfolgt, bot der bezahlte Rhetorikunterricht in lateinischer Sprache theoretisch all denjenigen eine Chance, die über kein entsprechendes „amicitia“-Netz verfügten.28 Noch 92 v. Chr. wurden daher die lateinischen Rhetoriklehrer durch ein Edikt der Zensoren der Stadt verwiesen.29 Die Etablierung von Schulen im Allgemeinen, aber auch der lateinischen Rhetoren im Speziellen verhinderten 25  Dieser Konflikt findet sich als Motiv auch in einer Anekdote über Cato d. Ä. (234–149 v. Chr.). Cato galt schon im 1. Jh. v. Chr. als Prototyp besonderer römischer Sittenstrenge – also als „exemplum“ römischen Verhaltens. Cato soll, so findet es sich in seiner Biographie bei Plutarch, zwar einen Sklaven besessen haben, den er auch Kinder unterrichten ließ. Für seinen eigenen, freigeborenen Sohn kam aber nur eine Erziehung durch ihn persönlich in Frage, vgl. Plut. Cato 20. 26  Zum Hauslehrer vgl. grundlegend Bonner, S. 20–33; zur Entwicklung der Schule s. Vössing, Geschichte, S. 458–467; zur Rolle des Vaters s. Saller sowie Laes, Childbeating. 27  Christes, Sklaven, S. 175–179, 182–187. 28  Zur Bedeutung des „tirocinium fori“ für die Sozialisation der Senatsaristokratie in republikanischer Zeit und aus frühkaiserzeitlicher Perspektive s. Scholz,  S. 260– 316. Zu Fragen der Begrifflichkeit im Speziellen s. Goldbeck, S. 71–72. 29  Suet. gramm. 26.1–4, sowie Cic. de orat. 3.24.93, Quint. inst 2.4.42 sowie Tac. dial. 31.1 und Gell. 15.11.2; dazu Corbeill, Traditions, S. 272–273, sowie Vössing, Geschichte, S. 465–467.



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diese Maßnahmen und Vorbehalte jedoch weder in Rom noch davon ausgehend im 1. Jh. v. Chr. in den römischen Gebieten Italiens. Der Dichter Horaz (geboren um 65 v. Chr.) berichtet ganz selbstverständlich von Schulen für die Kinder der Oberschicht in seiner Heimatstadt Venusia in Unteritalien, auf die sein Vater ihn aber bewusst nicht geschickt habe, um ihm trotz der höheren Kosten eine bessere Ausbildung bei einem „grammaticus“ in Rom zu ermöglichen.30 Wichtig sind für die hier verfolgte Fragestellung zwei Punkte, die aus den obigen Ausführungen klar hervorgegangen sein sollten: Unterricht bei Lehrern in Schulen außerhalb von Privathaushalten ist spätestens seit dem 1. Jh. v. Chr. in Rom möglich und akzeptiert, wenngleich diese nicht unbedingt der bevorzugte Ort der Erziehung sein mussten. Hauslehrer – gerade auf dem Niveau der „elementa“ – und Formen der personalen Rhetorikerziehung in Form des „tirocinium fori“ blieben weiterhin bestehen.31 Ausschlaggebend waren die Person des Lehrers, seine Qualifikationen und Lehrmethoden, sie standen im Fokus der väterlichen Entscheidung für einen passenden Lehrer.32 Relativierender Faktor für die Auswahl des Lehrers – und dies zeigt sich am Beispiel des Horaz deutlich – waren die finanziellen Möglichkeiten des Vaters bzw. der Familie. Dies führte dazu, dass sich verschiedene Komponenten auf das Verhältnis von Lehrern und Schülern auswirkten, deren Einfluss auf die Ausübung von Gewalt in Unterrichtssituationen vor dem Hintergrund sozialwissenschaftlicher Untersuchungen zu gewaltbegünstigenden Faktoren zu betrachten ist: Lehrer konnte prinzipiell jeder werden, der es wollte. Eine Ausbildung oder gar verpflichtend zu lernende pädagogische Grundlagen gab es nicht. Einziges Korrektiv waren die Väter bzw. die Eltern. Lehrer mit einem guten Ruf und für die Väter ansprechenden Lehrmethoden und -inhalten konnten, wie am Beispiel des Flaccus deutlich wird, auf potente und prestigefördernde Kunden hoffen. Die Kunden, d. h. also die Väter, schafften, so suggeriert es zumindest das oben genannte Beispiel, im besten Falle räumliche Nähe und damit verstärkte soziale Kon­ trolle. Dies, so legen es moderne Untersuchungen nahe, konnte zumindest 30  Hor. sat. 1.6.71–82. Zur geographischen Verbreitung der Schule s. Vössing, Geschichte, S. 467–470. 31  Quint. inst. 1.2 setzt für seine Klientel im Bereich der „elementa“ einen Privatlehrer voraus, erst Grammatik- und Rhetorikunterricht sind wohl auch in der Oberschicht bei Lehrer vermehrt in Schulen absolviert worden, für das 1. Jh. v. Chr. so auch Cicero, s. Cic. Ad Q. fr. 3.3.1,4, sowie zu seinem „tirocinium fori“, s. Cic. Lael.1.1. Belege für Hauslehrer s. auch Booth, Education, S. 1–14; Bonner, S. 20–33. Für die Generation der Senatsaristokratie, die zwischen 100 und 60 v. Chr. geboren wurde, war spätestens ab 78 v. Chr. die Aneignung griechischer Bildungsinhalte unverzichtbar, s. Scholz, S. 161–172; zur Bedeutung des „tirocinium fori“ sei noch einmal verwiesen auf Scholz, S. 260–316. 32  Vössing spricht in diesem Zusammenhang von der selbstständigen Regulierung des Marktes, s. Vössing, Geschichte, S. 476.

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das Maß an ausgeübter normüberschreitender, exzessiver Gewalt eingrenzen.33 Die räumliche Nähe war jedoch kein Ausschlusskriterium für die Suche nach dem passenden Lehrer. Väter, die eine gute Ausbildung und gegebenenfalls Chancen für den sozialen Aufstieg ihrer Kinder wünschten, schickten diese, wie das Beispiel des Horaz zeigt, auch schon in jungen Jahren an den prestigeträchtigeren Lernort, selbst wenn damit die Aufsicht über die Erziehung der Söhne durch die räumliche Distanz abnahm. Eine ähnliche Situation ist auch bei den Söhnen der Nobilität zu sehen, die nach Abschluss der Ausbildung in Rom oft nach Athen geschickt wurden, um am prestigeträchtigen Ort griechische Sprache und Bildung zu lernen, wie es über die Briefe des Cicero für dessen Sohn nachzuverfolgen ist.34 Diese spezifischen Bildungsinhalte, der Unterricht bei prestigeträchtigen Lehrern (sowie an bestimmten Lernorten) und in dieser Zeit geknüpfte soziale Beziehungen waren gerade für die Heranwachsenden aus der Oberschicht die Grundlagen für ein erfolgreiches sozio-politisches Agieren zum Aushandeln ihres sozialen Status im Erwachsenenalter. Waren Schulen in verschiedenen Formen im 1. Jh. v. Chr. nun nachweislich etabliert, finden sich ab der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. und verstärkt im 1. Jh. n. Chr. gerade durch die Satiriker, allen voran Horaz und Martial, zahlreiche literarische Belege für kindbezogene Gewalt in den Schulen Roms.35 III. Schüler und Schülerinnen – ein einheitliches Bild? Um die Verbindung von Lehrern und Gewalt in dieser Zeit zu verstehen, ist es notwendig, dem Bild der Schule des Flaccus, das Sueton in der ersten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. überliefert, das Bild einer Schule gegenüberzustellen, wie es sich in den Epigrammen des Dichters Martial gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. findet: Wozu brauchen wir dich, verfluchter Schulmeister [„ludi magister“], du bei Jungen und Mädchen verhaßte Kreatur? 33  Zu sozialwissenschaftlichen und psychologischen Ansätzen s. Wahl, S.  74 f., 154–157; Baumeister / Bushman, S. 598–618; zur Gewalt in der Schule s. Klewin, S. 1087–1105. Es darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass bei einer generellen, normativen Akzeptanz von bestimmten Formen von Körperstrafen gegenüber Kindern diese natürlich auch durch die Aufsicht des Vaters nicht eingeschränkt werden mussten. Die Präferenz des Augustus für die Lehrmethoden des Flaccus zeigt jedoch, dass nicht-gewalttätige Alternativen zur Motivation der Schüler durchaus ­Anklang fanden. Dazu s. IV. 34  So erkundigt sich Cicero brieflich nach dem Fortgang der Studien und drückt gegenüber seinem Freund Atticus seine Sorgen über diesen aus, z. B. in Cic. Att. 14.16, 13.4; s. Scholz, S. 341–345. 35  Eine Sammlung der Belege findet sich bei Booth, Punishment.



„Schulen“ in Rom93 Noch nicht haben die kammtragenden Hähne die morgendliche Stille zerrissen, schon donnerst du mit wildem Gebrüll und mit Schlägen los. […] Wir, deine Nachbarn, bitten um Schlaf – nicht die ganze Nacht hindurch –: Denn wach zu sein fällt leicht, die ganze Nacht durch wach zu liegen ist schlimm. Schick’ deine Schüler nach Hause! Willst du, du Schwätzer, die Summe, die du bekommst, um zu brüllen, dafür bekommen, daß du den Mund hältst?36

Frühmorgens beginnt hiernach der Schulalltag für Mädchen und Jungen, der – gänzlich zum Missfallen des in der Rolle des Nachbarn auftretenden literarischen Ichs – vom lauten Brüllen des Lehrers und dem Klang der Schläge begleitet ist. Nicht die Kinder sind hier die Störenfriede der Nachtruhe, sondern der Lehrer selbst. Wie auch bei Sueton ist er der Dreh- und Angelpunkt der Beschreibung, die hier in Form eines zugespitzt ironischen Epigramms erfolgt, welches den römischen Lebensalltag karikiert, jedoch eine gänzlich andere Klientel an Schülern imaginiert. Martials Epigramme gelten in der Forschung als guter Einblick in die Lebenswelt Stadtroms im 1. Jh. n. Chr. abseits der in der literarischen Überlieferung sonst so dominanten stadtrömischen Nobilität.37 Anders als in den Satiren des Horaz mit ihren autobiographischen Grundtönen ist diese Beschreibung Martials, zu dessen Förderern u. a. auch Quintilian gehörte, weniger als ein persönlicher Bericht über selbst Erlebtes zu lesen, es wird vielmehr ein Bild entworfen, das mit gängigen Klischees und der Alltagswelt des zeitgenössischen Adressaten spielt.38 Kindbezogene Gewalt taucht in diesem kleinen Alltagssittenbild Roms ganz natürlich verbunden mit einem Lehrer auf, der seine Schüler nur durch verbale und physische Gewalt unter Kontrolle halten kann. Ähnliches findet sich auch in anderen Epigrammen Martials: Der schlagende Lehrer erscheint als topische Gestalt sowohl An-

36  Mart. 9.68.1–4, 9–12: „Quid tibi nobiscum est, ludi scelerate magister,| invisum pueris virginibusque caput?| nondum cristati rupere silentia galli:|murmure iam saevo verberibusque tonas. […] vicini somnum – non tota nocte – rogamus:| nam vigilare leve est, pervigilare grave est.| discipulos dimitte tuos. vis, garrule, quantum| accipis ut clames, accipere ut taceas?“ 37  Zur literarischen Einordnung der Epigramme Martials und weiterführenden Literatur sei hier verwiesen auf von Albrecht, S. 877–888, sowie die Einführung von Holzberg. 38  Gehörten zum Adressatenkreis des Horaz und seines Vorgängers Lucilius zur Entstehungszeit ihrer Werke – im 1. Jh. n. Chr. ist Horaz schon selbst Schullektüre geworden – noch persönlich verbundene Freunde, sind spätestens seit Persius (zur Zeit Neros) und Martials älterem Zeitgenossen Iuvenal die Satiren für ein breites Publikum bestimmt, s. Gian Biago Conte, S. 201–209, sowie besonders S. 242 f. und S.  249 f.

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griffspunkt als auch im gewissen Sinne ­„comic relief“ zu sein, dessen Verhalten zugleich in seiner Übertreibung k ­ omisch wirkt.39 Durch die Formulierung Martials ist die karikierte Schule („ludus“) des Lehrers („ludi magister“) klar als Elementarschule zu erkennen, deren Schüler sowohl Jungen („pueri“) als auch Mädchen („virgines“) sind. Diese Stelle ist in der Forschung vor dem Hintergrund der Frage nach einer allgemeinen Koedukation von Jungen und Mädchen in römischen Schulen vieldiskutiert worden. Tatsächlich existieren für eine Koedukation von Jungen und Mädchen in gemeinsamen Schulen über den Elementarbereich hinaus keine Zeugnisse, wenngleich es aber zahlreiche Belege für gebildete Frauen in der Oberschicht gibt.40 Für die Diskrepanz lassen sich in den verschiedenen Erziehungszielen und Geschlechteridealen für Männer und Frauen finden, wie es bereits Konrad Vössing klar formulierte: So entsprechen die Erziehungsinhalte des Grammatik- und im Speziellen des Rhetorikunterrichts den Erziehungszielen für männliche Kinder, die später einmal in der Öffentlichkeit durch rednerisches und gebildetes Auftreten überzeugen und so Karriere machen sollen. Das römische Erziehungsziel für erwachsene Frauen liegt nicht im öffentlich-politischen Auftreten. Gewisse Bildungsinhalte wie eine ausgewählte Sprache und literarische Kenntnisse werden jedoch im eher privaten Miteinander durchaus geschätzt.41 Es verwundert daher nicht, dass für Mädchen der Oberschicht Privatlehrer belegt sind. Körperliche Gewalt als solche wird in diesem Kontext nicht in der Literatur thematisiert, wohl aber die Gefahr sexueller Beziehungen zwischen Lehrer und Schülerin. In dieser Form findet sich das Thema Mädchenbildung auch in den Grammatikerviten des Sueton, beispielsweise in folgender Episode aus der Vita des Grammatikers Caecilius Epirota, die in den 30er Jahren des 1. Jh. v. Chr. anzusiedeln ist: Q. Caecilius Epirota ist in Tusculum geboren und war ein Freigelassener des römischen Ritters Atticus, an den Cicero einige Briefe adressiert. Als er die Tochter

39  Weitere Beispiele: Mart. 10.62; zum lauten / brüllenden Lehrer s. Mart. 5.84 und 12.57; der aufgeblasene Lehrer als Hassobjekt seiner Schüler s. Mart. 8.3. In der aus dem obigen Beispiel gekürzten Mittelpartie wird der Lärm des Lehrers mit dem Lärm der Kontrahenten im Amphitheater verglichen, Mart. 9.68.5–8: „tam grave percussis incudibus aera resultant,| causidicum medio cum faber aptat equo,| mitior in magno clamor furit amphitheatro,| vincenti parmae cum sua turba favet.“ 40  Die Argumente und Textstellen finden sich gut zusammengefasst bei Vössing, Koedukation, S. 128–130. Auch Quintilian wünscht sich Bildung für die Kindsmutter, um den sprachlichen Ausdruck des Kindes zu fördern, s. Quint. inst. 1.1.6. 41  s. Vössing, Koedukation, S. 131–135. Zur Bedeutung des Rhetorikunterrichts in der Sozialisation der Söhne der römischen Oberschicht s. Corbeill, Social Reproducation, S. 70–81, Connolly, Rhetorical Education, S. 103–115 sowie zur Bedeutung der Rhetorik in der Kaiserzeit vgl. Rutledge.



„Schulen“ in Rom95 seines Schutzherrn, die mit M. Agrippa verheiratet war, unterrichtete, wurde er verdächtigt, mit ihr ein Verhältnis zu haben; er wurde aus dem Haus gejagt.42

Was für Mädchen der Oberschicht nicht zu berichten möglich war, thematisiert Martial für seinen „ludi magister“ ohne Probleme: Auch den Mädchen drohte körperliche Züchtigung in dieser Schule. Allerdings wird in Martials Darstellung der Schule klar, dass es sich hierbei nicht um Schüler aus allzu reichem Hause handeln kann, eher um eine Ansammlung von Kindern, deren Eltern den Lehrer gerade bezahlen können.43 Für Kinder der Oberschicht ist besonders im Elementarbereich wohl noch bis weit in die Kaiserzeit hinein der Privatunterricht bevorzugt worden, so galt der Besuch einer öffentlich zugänglichen Elementarschule, die auch Sklavenkinder besuchen konnten, als nicht besonders ehrenhaft.44 Die Schule und insbesondere die Schule des „ludi magister“, der gerade in den Epigrammen Martials eine innige Verbindung mit Körperstrafen einzugehen scheint, wird somit gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. tatsächlich zu einem Ort, für den kindbezogene Gewalt thematisiert und in gewisser Weise angeprangert werden kann. Die Herkunft und das Geschlecht der unterrichteten Kinder scheint eine Rolle zu spielen. Martial enthält sich in seinen Epigrammen der moralischen Wertung der Handlung und lässt die Schüler in einer eher passiven Rolle verharren,45 sein Fokus ist der Lehrer selbst. IV. Der „plagosus“ Orbilius – Normalfall oder Sonderling? Unter den Grammatikerviten des Sueton findet sich auch die Vita des ­ rbilius Pupillus, der gewissermaßen den pädagogischen Gegenentwurf zu O Verrius Flaccus bildet:

42  Suet. gramm. 16: „Q. Caecilius Epirota, Tusculi natus, libertus Attici equitis Romani, ad quem sunt Ciceronis epistulae, cum filiam patroni nuptam M. Agrippae doceret, suspectus in ea et ob hoc remotus, […].“ Vgl. auch die schillerende Persönlichkeit des Grammatikers Palaemon, Suet. gramm. 23. 43  Um diese ironische Ebene Martials besser zu transportieren, schlägt Vössing für Mart. 8.13.16 ganz treffend die Übersetzung „Gören und Lausebengel“ vor, s. Vössing, Koedukation, S. 133. Kinder aus sozio-ökonomisch schlechter gestellten Schichten besuchten – wenn überhaupt – meist nur die Elementarschule, Grammatikund Rhetorikunterricht waren von ihren Inhalten und ihrer Praxis auf Kinder der Oberschicht zugeschnitten, s. Vössing, Geschichte, S. 478–485; dazu auch Maurice, S.  56 f., 73 f. 44  Wenngleich im Haus Sklavenkinder und die Kinder des Hausherrn gemeinsam erzogen werden konnten. Zum schlechten Ruf der Elementarschule s. Vössing, Koedukation, S. 128; Laes, Children, S. 122–131. 45  Sie „hassen“ den Lehrer, mehr wird ihnen an Handlung nicht zuerkannt, so auch Mart. 8.3.16.

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L. Orbilius Pupillus aus Benevent war nach dem Tode seiner Eltern, die an ein und demselben Tag einem Anschlag ihrer Feinde zum Opfer gefallen waren, ganz auf sich allein gestellt; […] Er war ein strenger Mann, nicht nur gegen die, die sich gegen die Weisheit und ihre Verfechter stellten, über solche Leute zog er bei jeder Gelegenheit her, sondern auch gegen seine Schüler; sogar Horaz bezeichnet ihn treffend als Mann, „der gerne Schläge austeilt“ [„plagosus“], und Domitius Marsus schreibt: „Wenn Orbilius sie mit Rute und Peitsche [„ferula scuticaque“] schlug.“ Nicht einmal angesehene Männer blieben von seiner Verunglimpfung verschont46

Orbilius’ nahezu sprichwörtliche Strenge und seine Neigung, unnachgiebig zu korrigieren, deren Beschreibung von Seiten seines Schülers Horaz uns auch an anderer Stelle überliefert ist,47 beziehen sich dabei nicht allein auf seine Schüler, sondern auch auf Außenstehende, die Orbilius, wenn es ihm angebracht erscheint, belehrt und verunglimpft. Auf diese Weise entsteht für den Leser das Bild eines Sonderlings, der zwar sehr gebildet ist und einen berühmten Schüler wie Horaz hervorgebracht hat, dessen Ruf jedoch aufgrund seines übertriebenen Verhaltens für die Nachwelt im 1. Jh. n. Chr. genauso nachhaltig mit Rute und Peitsche („ferula scuticaque“) wie mit seinen wissenschaftlichen Werken verbunden wird. Seiner Lehrtätigkeit und seiner Forschung schadete dies jedoch nur bedingt, wenngleich ­Orbilius, anders als Flaccus, Zeit seines Lebens arm blieb und nicht in den Genuss kaiserlicher Gunst kam: Seine Lehrtätigkeit brachte ihm mehr Ruhm als Nutzen ein. Denn er war bereits ein sehr alter Mann, als er in einer Schrift eingesteht, daß er arm sei und unter dem Dach wohne. Er hat auch ein Buch mit dem Titel περιάλογος [„periálogos“, der sehr unvernünftige (Vater)] herausgegeben; darin klagt er über die Ungerechtigkeiten, welche die Lehrer durch die Geringschätzung und den Ehrgeiz der Eltern hinzunehmen hätten.48

Warum werden diese Punkte in den Viten überhaupt thematisiert? Betrachtet man die bei Sueton überlieferten Grammatiker, wird deutlich, dass die Auswahl des Autors, der diese Schrift in einem größeren Verbund von Schriften mit antiquarischem Interesse veröffentlichte, auf dem Nachruhm 46  Suet. gramm. 9.1,4–5: „L Orbilius Pupillus Beneventanus, morte parentum, una atque eadem die, inimicorum dolo interemptorum, destitutus, […]. fuit autem naturae acerbae, non modo in antisophistas, quos omni in occasione laceravit, sed etiam in discipulos, ut et Horatius significat ‚plagosum eum‘ appellans, et Domitius Marsus scribens: ‚Si quos Orbilius ferula scuticaque cecidit.‘ ac ne principum quidem virorum insectatione abstinuit.“ 47  Die Referenz für Suetons Horazzitat ist anders als die entsprechende Passage des weitgehend verlorenen Dichters Domitius Marsus erhalten: Hor. epist. 2.2.69 ff. 48  Suet. gramm. 9.2–3: „docuitque maiore fama quam emolumento; namque iam persenex pauperem se et habitare sub tegulis quodam scripto fatetur. librum etiam, cui est titulus περιάλογος, edidit continentem querelas de iniuriis, quas professores neglegentia aut ambitione parentum acciperent.“



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der jeweiligen Grammatiker beruhte.49 Begründet wurde dieser vor allem durch literarische bzw. wissenschaftliche Werke, den Kontakt zu bekannten Persönlichkeiten und bekannten Schülern, auffällige charakterliche Eigenschaften und nicht zuletzt die Überlieferung, etwas als erster getan zu haben.50 Sueton interessiert sich für die Geschichte und Etablierung der Grammatiker in Rom ab dem 2. Jh. v. Chr. und erzählt diese Geschichte anhand der einundzwanzig überlieferten Beispiele.51 Auf den Unterricht und seine Ausgestaltung wird jedoch nur in drei Fällen genauer eingegangen, ein jedes Mal scheinen dies Sonderfälle zu sein. Neben Flaccus und Orbilius gehört hierzu noch Valerius Probus, dessen Unterricht sich eher wie ein Gastmahl unter Freunden gestaltete.52 Neben das topische Bild des schreienden und schlagenden „ludi magister“ bei Martial gesellt sich durch Sueton das Bild recht unterschiedlicher „grammatici“ und – wenngleich kürzer und schlechter erhalten – Rhetoren,53 aus denen zwei aufgrund ihrer Unterrichtsmethoden bzw. im Falle des Orbilius seines generellen Charakters herausstechen. Es sind diese beiden Kontexte, in denen Rute und Peitsche, die „Szepter der Pädagogen“, wie sie Martial nennt, thematisiert werden: Die fransigen, rauhen Riemen aus Skythenleder, mit dem der Marsyas von Celaenae verprügelt wurde, und die unheilvollen Ruten, die Szepter der Pädagogen, sollen pausieren und bis zu den Iden des Oktobers ruhen: Sind Kinder im Sommer gesund, lernen sie genug.54 literarischen Einordnung von Suetons Grammatikerviten vgl. Viljamaa. Orbilius ist hier z. B. auf Q. Remmius Palaemon zu verweisen, der als jugendgefährdend angesehen, aber aufgrund seiner Fähigkeiten gleichzeitig sehr geschätzt wurde, vgl. Suet. gramm. 23. 51  So formuliert es Sueton einleitend selbst, s. Suet. gramm. 1–4. 52  Vgl. Suet. gramm. 24. Das Verhältnis zu Schülern wird oberflächlich noch in anderen Viten thematisiert, so z. B. in einem negativen Kontext in den bereits zitierten Viten des Palaemon (Suet. gramm. 23) und des Caecilius Epirota (Suet. gramm. 16); ein (positiver) Verweis auf besonders vornehme Schüler findet sich bei Suet. gramm. 18. 53  Bei den Rhetoren sind kaum Anmerkungen zur Lehre zu finden, Sueton vermerkt zu Beginn ganz allgemein, dass es keine einheitlichen Vermittlungsregeln gab, sich aber Übungen in bestimmten Formen („controversiae“) durchsetzen und er nun nur die berühmtesten Lehrer nennen wolle, s. Suet. gramm. 25.11–15,19. 54  Mart. 10.62.8–10: „cirrata loris horridis Scythae pellis,| qua vapulavit Marsyas Celaenaeus,|ferulaeque tristes, sceptra paedagogorum […]“; bei der hier dargestellten Situation handelt es sich wohl um den Unterricht von Sklavenkinder, wie die für die Kinder verwendete Beschreibung u.  a. als „capillati“ vermuten lässt, vgl. Mart. 19.62.1–4. Für diesen Hinweis sei Konrad Vössing gedankt, der das Manuskript seines Vortrags „Why Roman pupils didn’t have a long vacation“ freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, jetzt erschienen vgl. Vössing, Roman Pupils. 49  Zur

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Dem Wunschbild der aufmerksamen Zuhörerschaft wird die Strafe gegenübergesetzt, die falsches Verhalten nach sich zieht. Wieder ist es der Lehrer, der im Zentrum des Epigramms steht. Woher dieses Interesse für die Lehrer, ihre Werke und zum Teil ihren Unterricht herrührt, kann wohl über drei Wege hergeleitet werden: Neben dem antiquarisch-geschichtlichen Interesse für die Entwicklung der oberschichtsdefinierenden Bildungsinhalte und der damit verbundenen Übernahme und Adaption griechischer Vorbilder55 ist der Lehrer für den zukünftigen Erfolg der Hauserben verantwortlich und bedarf demzufolge sorgfältiger Auswahl, wie es am Beispiel des Flaccus bereits erläutert worden ist. Da die soziale Herkunft der meisten Lehrer in der Republik wie auch in der frühen Kaiserzeit jedoch weit unter der ihrer Schüler lag – die zitierten Beispiele Flaccus (Freigelassener), Caecilius Epirota (Freigelassener) und Orbilius (verarmte Waise) mögen dies veranschaulichen –, bildete das Machtverhältnis der Lehrer gegenüber den ihnen zum Unterricht überlassenen, zumeist sozial höher stehenden Schülern ein Paradox, wie es bereits Christian Laes anmerkte.56 Für die vorliegende Fragestellung ist vor allem das aus der Herkunft der Lehrers und durch die Entwicklung der Schule unter Einfluss griechischer Gelehrter entstandene Bild des Lehrers aufschlussreich: Lehrer und insbesondere die „ludi magistri“ wurden mit Fremdheit, Armut, Arbeit und sklavischem Status assoziiert. Die Lehrer waren von der rechtzeitigen Bezahlung durch die Eltern ihrer Schützlinge abhängig und standen durch deren Anforderungen an den Erfolg der Kinder, wie es im obigen Beispiel Orbilius beklagt, gleichzeitig unter Erfolgsdruck.57 55  An dieser Stelle sei noch einmal auf Suetons einleitende Worte (gramm. 1–4 sowie 25) sowie die intensive Aufarbeitung der Phasen der Aneignung griechischer Bildungsinhalte durch die römische Oberschicht bei Peter Scholz verwiesen, s. Scholz, S. 127–172, s. dazu auch Corbeill, Traditions, S. 268–275. 56  Eine Untersuchung zur Herkunft der Lehrer auf Basis der suetonischen Viten findet sich bei Christes, Sklaven, S. 165–179. Christian Laes zum paradoxen Machtverhältnis inzwischen Lehrer, Schüler und der Rolle der Väter, s. Laes, Childbeat­ ing,  S. 82–89. Der Lehrer („praeceptor“ / „grammaticus“) als Vater nach Willen der Götter findet sich explizit genannt – und wiederum mit Schlägen assoziiert – in einer satirischen Beschreibung des Lehrerberufes bei Iuvenal, der den Lehrer in dieser Satire in eine Reihe mit anderen missachteten geistigen Tätigkeiten setzte, s. Iuv. 7. 207–243. 57  An dieser Stelle ist noch einmal zu betonen, dass das Bild komplexer ist. Das schlechte Bild des Lehrers wird v. a. – allerdings keineswegs ausschließlich – mit dem Elementarbereich verbunden. Eine Reihe von Aspekten greift dabei ineinander: Neben der Frage der sozialen Herkunft spielen sozio-ökonomische Aspekte eine Rolle, so z. B. die teilweise sehr schlechte finanzielle Lage vieler Lehrer, die aus antiker Sicht sozial abwertende Arbeit für Geld, der Umgang mit einer Klientel aus Sklavenkindern sowie charakterliche Aspekte wie das Zuschaustellen von Gelehrsamkeit, s. zum Lehrerspott Booth, Image, S. 1–9. Karl-Wilhelm Weeber betitelt daher das entsprechende Kapitel seiner populärwissenschaftlichen Abhandlung zur Schule



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Die erfolgreiche Etablierung des Lehrmodells Schule scheint dieses Lehrerbild nicht beeinträchtigt zu haben. Neben der Literatur über Lehrer und Schulen produzierten diese Lehrer jedoch auch Literatur für den Unterricht, woraus sich, wie es Sueton für die Rhetorik am Beispiel der Redeübungen explizit beschreibt,58 gewisse Standardisierungen im Hinblick auf Inhalte und Unterrichtsformen ergaben. Dies gilt besonders für die Rhetorik, deren Bedeutung für die spätere politische Karriere der Schüler ungleich bedeutender war als die Inhalte der vorherigen Lerneinheiten. So finden sich ab den 80er Jahren des 1. Jh. v. Chr. Werke, die sich mit den richtigen Inhalten des Rhetorikunterrichts beschäftigen, angefangen mit dem Rhetorikhandbuch, welches unter dem Namen „Rhetorica ad Herennium“ überliefert ist, und Ciceros Werken. Hierzu gehören allen voran Ciceros Jugendwerk „de inventione“, aber auch seine späteren, die Bedeutung der Rhetorik und ihrer Inhalte reflektierenden Werken „orator“, „de oratore“ sowie der „Brutus“. In diese Reihe ordnet sich fast hundert Jahre später Quintilian ein, wenn er die verschiedenen Ansätze, Lektüreempfehlungen und rhetorischen Theorien in der „institutio oratoria“ zu bündeln sucht. Es gibt also spätestens ab dem ersten Viertel des 1. Jh. v. Chr. erstmals theoretische Literatur von Spezialisten auf dem Gebiet Erziehung in lateinischer Sprache. Im 1. Jh. n. Chr. kommt es in der Folge zur immer stärkeren Vereinheit­lichung der Unterrichtsinhalte und der Entwicklung eines literarischen Lesekanons, der die Überlieferung antiker Literatur bis in die Gegenwart beeinflussen sollte.59 V. Quintilians Sicht auf kindbezogene Gewalt Die Aussagen der „institutio oratoria“ gliedern sich folglich in ein größeres Bild von Literatur über Erziehung ein, die mit der Ausbreitung der Institution Schule in Rom und im römischen Einflussgebiet sowie dem Interesse für Lehrer als Vermittler spezifischer Bildungsinhalte einhergeht. Marcus Fabius Quintilianus, um 35 n. Chr. in Calagurris im heutigen Spanien gebomit dem Zitat „Eine würdelose Schar“, vgl. Weeber, S. 69. Zum Ansehen und der Selbstdarstellung der Lehrer s. Laes, Children, S. 122–137; Vössing, Koedukation, S. 128, Anm. 9; vgl. auch die Darstellung des Redelehrers Agamemnon bei Petron. 1–6,39.5,46,48. Johannes Christes lehnt die Herkunft als grundlegenden Faktor für dieses schlechte Bild ab, da ansonsten der Anteil der bei Sueton zu findenden Sklaven und Freigelassenen viel geringer sein müsse, s. Christes, Sklaven, S. 199, Anm. 69. Zur finanziellen Situation dieser Lehrer s. Christes, Sklaven, S. 192–201. Er geht allerdings an dieser Stelle nur auf die Grammatiker und nicht die Elementarlehrer ein, die bei Sueton keinen Widerhall finden, vgl. auch Christes, Bildung. 58  s. Suet. gramm. 25.11–15,19. 59  Zur Entwicklung und den Tendenzen der Professionalisierung und Kanonisierung der Bildungsinhalte s. Vössing, Geschichte, S. 462–465, 470–475; Corbeill, Social Reproducation, S. 70–76; zum Curriculum s. Bloomer, School, S. 111–138.

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ren, in Rom ausgebildet und ab 68 n. Chr. als Rhetoriklehrer und ab den 90er Jahren des 1. Jh. n. Chr. als Prinzenerzieher tätig, hinterließ mit seiner „institutio oratoria“ eine nicht nur während der römischen Kaiserzeit einflussreiche Schrift. Auch im Mittelalter und der Renaissance war die „institutio“ noch lange Zeit Teil des Rhetorikunterrichts.60 Die Besonderheit der „institutio“ liegt dabei nicht in ihrem zentralen Thema – der Rhetorik –, sondern in der Ergänzung der reinen Rhetoriklehre um ein erzieherisches Vollkonzept, das mit der Erziehung des Kleinkinds anfängt und über die verschiedenen Schulstufen hin zum Auftreten des Rhetors führt. Zwar widmet sich nur das erste der zwölf Bücher der Erziehung der Kinder bis zum Beginn des Rhetorikunterrichts, die Bedeutung dieser Phase wird von Quintilian aber immer wieder betont. Zwei Faktoren seien für den Erfolg der ganzen weiteren Erziehung gerade in der ersten Phase wichtig: 1) die richtige d. h. altersgemäße Behandlung der Kinder, 2) die richtige Auswahl der erziehenden Personen. Adressaten für diese Art der Erziehung sind Eltern der Oberschicht, deren Kinder eine Karriere im politischen Feld anstreben sollen, d. h. männliche Kinder aus senatorischen oder ritterlichen Familien oder gegebenenfalls Kinder von Freigelassenen mit Aufstiegsmöglichkeit. Dies ergibt sich nicht nur aus der Widmung des Werkes an einen befreundeten Senator,61 sondern vor allem auch aus dem letztlich propagierten Erziehungsziel der gesamten „institutio“, wie es im 12. Buch, Cato d. Ä. folgend, formuliert wird: der Ausbildung des „vir bonus dicendi peritus“,62 des moralisch guten Mannes, der zu reden versteht. Die richtige altersgemäße Behandlung der Kinder vor Eintritt in den Rhetorikunterricht (unter 15 Jahren) müsse, so Quintilian, ihre Wesensart („natura“) und ein jeweils individuelles Maß an „ingenium“ berücksichtigen, d. h. ein bestimmtes Talent, das es zu entdecken und gemäß des jeweiligen Alters zu fördern galt.63 Für den Erfolg dieser Erziehung zum „vir bonus“ macht Quintilian alle an der Erziehung Beteiligten, Eltern, Ammen, Sklaven, aber insbesondere auch die Lehrer verantwortlich, so schreibt er: „Ein erfahrener 60  Zu Quintilians Werk, seinem Einfluss und Nachleben vgl. Adamietz; Fernández Lopez. 61  Quint. inst.1 pr. 6; die Eltern müssen jedoch nicht unbedingt die gleiche Ausbildung genossen haben, s. Quint. inst. 1.1.6–7. 62  Quint. inst. 12.1.1, dazu auch Cic. de orat. 3.65, weiterführende Literatur bei Bloomer, School, S. 112. 63  Vgl. auch Quint. inst. 2.28–29. Eine ausführliche Aufarbeitung des Lehrkonzeptes bietet Bloomer, Quintilian, S. 110–129, der dies treffend unter dem Titel „the child as a learning subject“ zusammenfasst.



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Lehrer wird, wenn ihm ein Knabe anvertraut wird, vor allem seine Begabung und Wesensart genau betrachten.“64 Betrachtet man vor diesem Hintergrund Quintilians Ablehnung körperlicher Gewalt, erscheint dies nur konsequent: Dass aber die Schüler beim Lernen geprügelt werden, wie sehr es auch üblich ist und auch die Billigung des Chrysipp hat, möchte ich keineswegs, erstens, weil es häßlich [„deforme“] und sklavenmäßig [„servile“] ist und jedenfalls ein Unrecht [„iniuria“] – was sich ja, wenn man ein anderes Alter einsetzt [„si aetatem mutes“], von selbst versteht; zweitens, weil jemand, der so niedriger Gesinnung ist [„mens inliberalis“], dass Vorwürfe ihn nicht bessern, sich auch gegen Schläge verhärten wird wie die allerschlechtesten Sklaven [„pessima mancipia“]; schließlich, weil diese Züchtigung gar nicht nötig sein wird, wenn eine ständige Aufsicht die Stu­ dien überwacht.65

Gewalt gegen Kinder in ihrer Position als Schüler, das geht hieraus hervor, scheint ein Phänomen zu sein, das speziell für die Altersgruppe vor dem Rhetorikunterricht ein Problem darstellte. Die Gefahr bestehe darin, dass das Kind durch gewaltvolle Einwirkungen nicht sein volles Potenzial entwickeln und damit das Erziehungsziel, den freien, moralisch und technisch perfekten Redner, nicht erreichen könne. Die Aufsicht des Vaters ist – wie dies schon bei dem obigen Beispiel der Fall war – von zentraler Bedeutung, um moralische Verderbtheit und für einen Redner und Politiker verheerende Öffentlichkeitsscheu zu verhindern, wohingegen der Lehrer als problematischer Faktor klar identifiziert wird. Die Gefahr sexualisierter Gewalt erscheint verdeckt ebenso in Quintilians Argumentation wie das Bewusstsein für eine generelle gesellschaftliche Akzeptanz von Prügelstrafen von Seiten der Lehrer: Hinzu kommt, dass aus Schmerz oder Angst den Geprügelten oft häßliche Dinge passieren, die man nicht aussprechen mag und über die sie sich dann schämen; dieser Scham [„pudor“] bricht und lähmt den Mut und treibt sogar dazu, aus Verdruß das Licht des Tages zu scheuen. Wenn gar bei der Auswahl der Aufseher und Lehrer auf deren Moral zu wenig geachtet wurde, schäme ich mich fast zu sagen, zu welchen Schandtaten solche Verbrecher ihr Prügelrecht missbrauchen und wozu manchmal auch andern die Angst unserer armen Kinder Gelegenheit bietet. […] Gegen die schwache und schutzlos dem Unrecht ausgelieferte Jugend darf niemandem zu große Freiheit eingeräumt werden.66 64  Quint. inst. 1.3.1: „Tradito sibi puero docendi peritus ingenium eius in primis naturamque perspiciet.“ 65  Quint. inst. 1.3.14: „Caedi vero discentis, quamlibet id receptum sit et Chrysippus non improbet, minime velim, primum quia deforme atque servile est et certe (quod convenit si aetatem mutes) iniuria: deinde quod, si cui tam est mens inliberalis ut obiurgatione non corrigatur, is etiam ad plagas ut pessima quaeque mancipia durabitur: postremo quod ne opus erit quidem hac castigatione si adsiduus studiorum exactor adstiterit.“ 66  Quint. inst. 1.3.16–17: „Adde quod multa vapulantibus dictu deformia et mox verecundiae futura saepe dolore vel metu acciderunt, qui pudor frangit animum et

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Das Kind in seiner Position als zukünftiger Erwachsener ist auf körper­ licher und moralischer Ebene bedroht, gehört zum perfekten Redner doch, wie Quintilian im weiteren Verlauf des Werkes deutlich macht, sowohl das richtige körperliche Auftreten in Mimik, Gestik, Körperhaltung und Kleidung als auch das richtige Verhalten des „vir bonus“ für die „res publica“.67 Quintilians Erziehungskonzept vereint gegen Ende des 1. Jh. n. Chr., als Schulen aller Art Teil des Alltags waren und das Interesse für die Geschichte der Schulen und berühmter Lehrer genauso literarischen Niederschlag fand wie die Frage nach dem richtigen Bildungsinhalt, ältere Erziehungsprinzipien und Bildungsinhalte in einem Gesamtwerk, das erstmals auch ein einheit­ liches erziehungstheoretisches Gesamtkonzept liefert. Die scheinbar alltäg­ liche Praxis der körperlichen Bestrafung in Schulen und die vorhandene Auseinandersetzung der Väter der Oberschicht mit erfolgreichen alternativen Formen des Unterrichts, wie es am Beispiel des Flaccus verdeutlicht wurde, können als Einfluss auf Quintilians Entscheidung für dieses Gesamtkonzept und für seine expliziten Ausführungen zu Körperstrafen und ihren Gefahren vermutet werden. Dass die Frage nach dem Sinn körperlicher Züchtigung Interesse in der kaiserzeitlichen Oberschicht erregte, suggeriert auch eine weitere Quelle. So erscheint sie kurze Zeit später auch in einer Schrift aus dem Umkreis des griechischen Philosophen und Schriftstellers Plutarch von Chaironeia. Selbst vielleicht wie Plutarch mit guten Kontakten zur römischen Oberschicht ausgestattet, spricht sich der Autor in einem kurzen philosophischen Traktat „de liberis educandis“ über die richtige moralische Erziehung gegen körperliche Züchtigungen aus.68 Befördert wurde dieses Interesse an der richtigen Erziehung wohl auch durch die veränderte Zusammensetzung der Oberschicht der frühen Kaiserzeit, nachdem im Zuge der Unruhen ab dem 2. Jh. v. Chr und besonders in den Auseinandersetzungen des 1. Jh. v. Chr. viele alte Familien ausgelöscht wurden und ab dem 1. Jh. n. Chr. neue Familien, zum Teil aus den Provinzen in Rom, erfolgreich in die Führungselite des Reiches aufsteigen konnten.69 abicit atque ipsius lucis fugam et taedium dictat. Iam si minor in eligendis custodum et praeceptorum moribus fuit cura, pudet dicere in quae probra nefandi homines isto caedendi iure abutantur, quam det aliis quoque nonnumquam occasionem hic miserorum metus. […] in aetatem infirmam et iniuriae obnoxiam nemini debet nimium licere.“ Vgl. ebenfalls Quint. inst. 1.3.15. 67  Quint. inst. 1.2.18, zur Bedeutung des richtigen Auftretens s. Bloomer, Quintilian, S. 130–135; zur Bedeutung des Rhetorikunterrichts als Teil der Charakter- und Männlichkeitskonstruktion vgl. Connolly, Virile Tongues; Corbeill, Social Reproduction. 68  Plut. de lib. educ. 12, zu Kindern und Familie bei Plutarch vgl. Eyben und Albini. Zu Erziehungsidealen bei Plutarch und seiner Adaption platonischer Ideen vgl. Xenophontos. Die Schrift stammt nicht von Plutarch selbst, vgl. dazu Berry; Abbot.



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VI. Fazit Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage, warum gerade im Schulkontext Gewaltanwendung gegen Kinder thematisiert werden darf, so lassen sich ausgehend von den drei zu Beginn thematisierten Forschungsansätzen und mit Rückblick auf die betrachteten Quellen zwei Faktoren identifizieren: 1.  In der diachronen Perspektive lässt sich feststellen, dass die Etablierung der Schule und die Professionalisierung des Unterrichts sowie der Unterrichtsinhalte, die mit einer teilweisen Verlagerung der Erziehung aus dem Haus in eine außerhäusliche oder zumindest nur teils öffentliche Schule (wie im Falle des Flaccus) einhergehen, ein allgemeines Interesse an Leitfäden und generellen Schriften zu diesem Thema zur Folge hatte. Diese Erkenntnis ist in der Forschung nicht neu, hier einen Bezug zur Thematisierung von Gewalt herzustellen, wurde aber bisher auch in den wenigen Arbeiten, die sich explizit dem Thema kindbezogener Gewalt widmen, bisher kaum unternommen.70 2.  Zentral für die Thematisierung von Gewalt ist die Figur des Lehrers. Es sind Kritik am Verhalten und Charakter einer Einzelperson (so im Falle des Orbilius), spöttische Darstellung eines generischen Typen (so bei Martial) oder die Frage nach dem erfolgreichen Erreichen des geforderten Lernziels mit Hilfe des Erziehungspersonals (so bei Quintilian), die G ­ ewalt gegen Schüler zum Thema und Problem werden lassen. Die soziale ­Herkunft vieler Lehrer erleichtert es, diese spöttisch darzustellen und ihr Fehlverhalten zu thematisieren.71 Lisa Maurice, die zuletzt das Bild des Lehrers untersuchte, sieht dieses daher auch von zwei Polen geprägt. Zum einen der sozialen Stigmatisierung des Lehrerberufs, zum anderen dem Ideal einer emotionalen Schüler-Lehrer-Beziehung. Körperliche Gewalt erscheine als Form der Dar-

die grundlegenden Arbeiten von Hopkins und Hammond. bleiben Booth, Christes, Laes und Legras deskriptiv in ihrer Darstellung, Quintilians Einordnung in die Literatur seiner Zeit erfolgt hier nicht. Bezeichnend ist die bereits zitierte Aussage Bonners: „Throughout antiquity, from the time of Socrates to that of St Augustine and beyond, across the whole Mediterranean world, from Egypt to Bordeaux and from Carthage to Antioch, corporal punishment was a constant feature of school life. Even though prominent individuals, from time to time protested against it in the strongest terms, it was never widely condemned by public opinion.“ (Bonner, S. 143). 71  Es ist daher nicht zufällig, dass das Bild des schlagenden Lehrers zuerst im Kontext der Dichtung und hierbei im komisch-satirischen Bereich zu finden ist, wie das Beispiel des Horaz verdeutlicht; so auch bei Iuv. 1.15, aber auch Ov. am. 1.13.17–18. Ein – jedoch etwas anders konstruiertes – hellenistisches Vorbild des Motivs findet sich in der 3. Mime des Herondas, s. Bloomer, School, S. 31–36. 69  Vgl. 70  So

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stellung der schlechten Lehrer, insbesondere der „ludi magistri“.72 Die historische Entwicklung dieses Bildes und die Entstehung eines Diskurses über die schulische Gewalt sollte jedoch in ihrer diachronen Perspektive mehr Betrachtung finden. So wird deutlich, dass Quintilians Aussage, im Kontext seines größeren Lehrkonzeptes betrachtet, durchaus eine Sonderstellung in der römischen Literatur einnimmt, er sich bezüglich der Thematisierung des Problems und der Ablehnung von Körperstrafen zum Zwecke der Erziehung jedoch im literarischen Diskurs seiner Zeit keineswegs in einer Außenseiterposition befindet. Zuletzt ein Ausblick: Die Gründe für die Akzeptanz von Körperstrafen und die Ursachen für ihre Ausführung sind weitaus komplexer und sollen an anderer Stelle genauer dargestellt werden.73 Es sollte aber mit Hinblick auf das eingangs zitierte Seneca-Zitat darauf hingewiesen werden, dass zum Verständnis des Gewaltdiskurses in der römischen Literatur und im Speziellen im Kontext der Erziehung die Funktion von Gewaltausübung in der jeweiligen Gesellschaft mitbedacht werden muss. Martin Bloomer hat unter diesem Aspekt zuletzt angemerkt, dass Gewalt in der Schule zur Formung des Subjekts diene und sozial legitimierte Gewaltanwendung vermittle.74 Hier müssen in Zukunft weitere Forschungen ansetzen. Des Weiteren sollte letztlich ergänzt werden, dass kindliche Gewalt gegen eine erziehende Person ebenfalls als literarisches Motiv erscheint, jedoch als Ausnahmefall als komisches Motiv in einer Komödie des 2. Jh. v. Chr., die selbst die Adaption einer ursprünglich griechischen Komödie ist. So findet sich in der „fabula palliata Bacchides“ des Plautus die Klage eines Lehrers. Dieser wird von seinem Schüler mit dessen Schreibtafel geschlagen, woraufhin der Vater seinen Sohn lobt und – ganz der bisher etablierten Idealbeziehung von Vater und Sohn – verlautet: „Du sollst unter meinem Schutz stehn, bis du selbst dich wehren kannst.“75

72  Maurice, 181–185. Maurice differenziert jedoch zeitlich nicht. Zum Lehrerbild vgl. auch Booth, Image. 73  Die Entwicklung einer Theorie der gewaltfreien Erziehung gehört in einen weiteren Kontext sozio-politischer Entwicklungen, der an dieser Stelle nur andeutungsweise angesprochen werden kann. Eine genauere Analyse und Besprechung wird in der Dissertation der Autorin zur „Gewalt im Sozialisationsprozess antiker Gesellschaften“ erfolgen. Zur Gewalt in der römischen Gesellschaft generell vgl. Fagan; generell zur Deutungsproblematik antiker Gewaltdarstellungen vgl. Zimmermann, Deutung, sowie Zimmermann, Gewalt. 74  Bloomer, Companion, S. 184–187, 197. 75  Angesprochen wird dieser sowohl als „paedagogus“ als auch als „magister“, s. Plaut. Bacch. 440–445. Für die Spätantike ist diese Gewalt von Schülern gegen Lehrer und untereinander besser bezeugt, u. a. weil hier autobiographische Zeugnisse von Lehrern überliefert sind, dazu auch Legras, S. 27–29, sowie ausführlich Davis.



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Gewalt gegen Kinder im Mittelalter. Züchtigung von Kindern in der Lateinschule Von Christiane Richard-Elsner I. Einleitung In Deutschland ist die Anwendung von körperlicher Gewalt gegen Kinder sowohl in der Familie als auch in Bildungseinrichtungen verboten. Körperliche Gewalt, zum Beispiel durch Körperstrafen, ob zu Hause oder in der Schule, bewirke, so die Bundesregierung, „schwere psychosoziale Auffälligkeiten wie Ängstlichkeit, Kontaktarmut, Drogensucht, antisoziale Verhaltensweisen wie Aggressivität oder fehlende Empathie“.1 Zudem würden Kinder auf diese Weise Gewalt als Konfliktlösungsmethode erleben, erlernen und anwenden. Laut UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder ein Recht auf ein Aufwachsen lediglich ohne „gesetzwidrige“ Gewalt („violence“), womit Körperstrafen im Rahmen der jeweiligen nationalen Gesetzgebung nicht per se verboten werden.2 Dies macht deutlich, dass die Sicht auf Gewalt gegen Kinder und die Definition, was das denn eigentlich sei, kulturellen Einflüssen unterliegt. Im vorliegenden Beitrag soll ein Blick auf das Mittelalter, damit also den langen Zeitraum von 500 bis 1500 geworfen werden. Eine Annäherung an die Sicht auf körperliche Gewalt gegen Kinder soll versucht werden. Insbesondere wird dieser Beitrag anhand ausgewählter Quellen untersuchen, wie Körperstrafen in Lateinschulen des ausgehenden Mittelalters bewertet wurden und welches Ausmaß das Züchtigen von Kindern gehabt haben könnte. Zur Beantwortung dieser Fragen soll auf der Grundlage des Forschungsstands die Lebenssituation von Kindern sowie das Ausmaß an Alltagsgewalt im Mittelalter beleuchtet werden, wobei auch auf die oftmals dürftige Quellenlage bezüglich Kindheit im Mittelalter hinzuweisen ist. Zeitgenössische Vorstellungen zu den Themen Kind und Gewalt werden hierbei, soweit sie sich uns erschließen, ebenso angesprochen wie die verwendete Begrifflichkeit. Den weiteren Ausführungen liegt der heute verwendete Gewaltbegriff 1  Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend / Bundesministerium der Justiz, S. 6. 2  Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, S.  66 f.

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zugrunde, konkret soll körperliche Gewalt im Fokus stehen. Ausführungen zu Körperstrafen an Kindern und zur Praxis des Schulbesuchs im Mittelalter runden die hinführenden Teile des Beitrags ab. Anschließend rücken ausgewählte Quellen in den Mittelpunkt, die exem­ plarisch auf Aspekte der Disziplinierung von Kindern besonders durch die Prügelstrafe hin untersucht werden. Dies sind zum einen Auszüge aus Autobiographien von Guibert von Nogent3 und Johannes Butzbach4, zum anderen im ausgehenden Mittelalter verbreitete Schultexte des Schulmeisters Paulus Niavis5 und das ebenfalls beliebte Schulbuch „Es tu scolaris“6 eines anonymen Verfassers. Die Ausführungen in diesem Beitrag beziehen sich, wenn geeignete Aussagen vorliegen, auf den deutschen Sprachraum. II. Quellensituation Schriftquellen des Mittelalters wurden von Schriftkundigen verfasst. Diese waren im Mittelalter im deutschen Sprachraum rar und in der Regel Kleriker. Schriftsprache war meist Latein. Zwar wurde Schrift im Verlauf des Mittelalters in immer mehr Lebenskontexten und zunehmend auch für deutsche Texte eingesetzt. Schriftverwendung war jedoch – auch aufgrund geringerer technischer Möglichkeiten – längst nicht so allgegenwärtig wie in der Moderne. Kinder selbst äußerten sich so gut wie gar nicht schriftlich. Viele Angelegenheiten sie betreffend wurden mündlich geregelt, zum Beispiel der Umgang mit ihnen zu Hause. Das bedeutet, dass wir höchstens indirekt eine Chance haben, Vorstellungen von der Lebenswirklichkeit von Kindern zu entwickeln. Und auch hier können wir mehr Informationen ableiten über Söhne aus gehobenen Schichten, dem Adel oder im späteren Mittelalter aus den gehobenen städtischen Schichten. Der Alltag von Mädchen, armen Kindern und Kindern vom Land erschließt sich uns deutlich schwerer. Als Quellen zur Erforschung der Situation von Kindern im Mittelalter dienen deshalb alle Schriftstücke, die sich – wenn auch häufig nur beiläufig – mit Kindern befassen. Diese reichen, wie die hier verwendete Literatur nur ausschnittweise anzeigen kann, von Rechtstexten, Prozessakten, Biographien, Predigten bis hin zu Erziehungsratgebern – für gehobene Schichten – und Schulbüchern. Auch Bilder und materielle Funde werden berücksichtigt.7 3  Guibertus. 4  Butzbach. 5  Niavis.

6  Anonym.

7  Bereits vor dem Ersten Weltkrieg gab es ein großes Interesse, kindbezogene Dokumente aus dem Mittelalter zu erhalten und zugänglich zu machen. Fehr unter-



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III. Kindheit im Mittelalter Das neuhochdeutsche Wort Kind bezeichnet grob dasselbe wie das mittelhochdeutsche „kint“. Es wird benutzt sowohl für die generationale Abstammung – Kind seiner Eltern ist man somit lebenslang – als auch für den jungen, körperlich nicht ausgewachsenen, gleichzeitig unmündigen und des besonderen Schutzes der Eltern und der übrigen Gesellschaft bedürftigen Menschen, besonders des Menschen vor der Pubertät. Aus Quellen ist deshalb häufig nicht einmal aus dem Kontext zu entnehmen, welche Altersgruppe der Verfasser vor Augen hatte. Eindeutige Begriffe im Lateinischen gibt es noch weniger. Paulus Niavis, dessen Schuldialoge im Weiteren näher untersucht werden sollen, nennt kleinere Schüler „iuvenes“ (junge Menschen) oder „parvuli“ (Kleine) und größere Schüler, die offensichtlich schon in der Pubertät oder auch darüber hinaus sind, umständlich „scholares adhuc particularia frequentantes“ (Schüler, die Partikularschulen besuchen). Die Verwendung dieser Begriffe sowie von „pueri“ (Kinder, Jungen) oder „filii“ (Söhne, eigene Kinder) ist kontextabhängig und nicht immer leicht zu erschließen. Inwieweit Mädchen mitgemeint sind oder welcher Entwicklungszeitraum jeweils angesprochen ist, bleibt oft unklar. Unumstritten in der Mediävistik jedoch ist, dass die Menschen des Mittelalters eine Vorstellung von Kindheit hatten und dass diese der unseren weit mehr ähnelt, als dies in früheren Untersuchungen angenommen wurde. Die auch heute noch sehr populäre Vorstellung, die sich auch noch in Fachliteratur außerhalb der Mediävistik wiederfindet8 und von Philippe Ariès als Erstem formuliert wurde9, die Menschen des Mittelalters hätten jenseits der Kleinkindzeit keine Vorstellung des Unterschiedes von Kindern zu Erwachsenen gehabt und darüber hinaus ihren Kindern keine Elternliebe entgegengebracht, muss als überholt gelten.10 suchte Weistümer hinsichtlich der Rechtsstellung von Kindern, s. Fehr. Boesch sammelte Quellen, v. a. Abbildungen, zum Leben von Kindern zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert, s. Boesch. Arnold behandelte das Kind in der Literatur des Mittelalters, s. Arnold, Litteratur. Nach der vielfach rezipierten und kritisierten Veröffent­ lichung von Ariès 1960 war das Thema Kindheit im Mittelalter wieder in der Mediävistik vertreten. Eine noch immer unerlässliche Quellensammlung ist Arnold, Gesellschaft. Shahar verwertete verschiedenste Quellen, v. a. aus Frankreich, Italien und Großbritannien, s. Shahar. Zur problematischen Quellensituation s. Föller, S. 55. 8  s. Beispiele in Richard-Elsner, S.  443 f. 9  Ariès, S.  44 f. 10  So z. B. Arnold, Gesellschaft, S. 10–12; Richard-Elsner; Schubert, S. 222. Aufgrund der geringen Lebenserwartung waren unter den Einwohnern prozentual sehr viel mehr Kinder anzutreffen als heute. Erfahrungen mit Kindern, mit eigenen oder

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Im gesamten Mittelalter existierte die Vorstellung, dass es unterschiedliche Abschnitte in der Kindheit gebe. Die jeweiligen Einteilungen variierten zwar in der Abgrenzung der Altersstufen, schrieben jedoch unterschiedlichen Lebensaltern charakteristische Eigenschaften und Verhaltensweisen zu. Am bekanntesten war die Einteilung nach Isidor von Sevilla, der um 600 lebte, die das gesamte Mittelalter hindurch rezipiert wurde. Danach stehe am Anfang des Lebens die „infantia“, die Kleinkindzeit. Mit etwa sieben Jahren beginne die „pueritia“, Knaben- oder Kinderzeit, die dann ab zwölf bis 14 Jahren von der „adolescentia“, der Jugendzeit, gefolgt werde. In der Kleinkindzeit seien die Kinder vollständig angewiesen auf Erwachsene, hieß es, in der „pueritia“ könnten die Kinder schon zwischen Gut und Böse unterscheiden, seien laut, bewegten sich viel, lebten ohne Gedanken an die Zukunft, spielten am liebsten mit Gleichaltrigen und seien immer hungrig.11 Vermutlich ab etwa sechs Jahren wurden Kinder im Mittelalter von vielen Erwachsenen als reif genug für die Übernahme von kleineren Aufgaben angesehen. Bauernkindern wurden altersgemäße Pflichten zugeordnet.12 Zu diesem Zeitpunkt begannen viele adelige Jungen ihre Erziehung zum Ritter, oft auch bei fremden Herren. Andere adelige Kinder, die eine geistliche Laufbahn einschlagen sollten, wurden besonders im Frühmittelalter in diesem Alter einem Kloster übergeben.13 Diese Praxis wurde nach den Klosterund Kirchenreformen im 11. Jahrhundert weniger geübt.14 Schulunterricht in der Stadt begann frühestens für Kinder ab fünf bis sieben Jahren, die Lehre bei einem Handwerker meist mit etwa zwölf bis 16 Jahren.15 Ansonsten wurden die Stadtkinder wahrscheinlich im Alter der „pueritia“ im Gewerbe und der Haus- und Gartenwirtschaft ihrer Eltern sozialisiert. Da Erwerbstätigkeit, Anbau für den Eigenbedarf und Produktion für den Markt nicht voneinander zu trennen waren, bedeutete das für Mädchen, dass sie als Hausfrau oder Adelige mit ihrem Mann zusammen die jeweilige Hauswirtschaft führten. Männern und Frauen waren zum Teil unterschiedliche Arbeiten zugeorddenen anderer Menschen, dürften also wesentlich häufiger und kaum zu vermeiden gewesen sein, vgl. Atzbach. 11  Arnold, Gesellschaft, S. 18; Shahar, S. 29–35. 12  Shahar, S. 276–281; Arnold, Gesellschaft, S. 20–23; Opitz, S. 64–67; Fehr, S. 88–92. 13  Shahar, S. 213–217. 14  Johanek, S. 60 f. Die monastischen Reformen forderten eine stärkere Weltabgewandtheit der Mönche. Dies konnte mit der Betreuung von Kindern nur ungenügend vereinbart werden. 15  Dabei ist zu bedenken, dass die Eltern des Lehrkindes – auch Mädchen konnten in einigen Bereichen eine Lehre machen – Lehrgeld bezahlen mussten. Dies ist jedoch eine schlechte Investition, wenn das Kind sich noch in einem Alter befindet, in dem es viele Arbeiten aufgrund fehlender körperlicher oder geistiger Reife nicht durchführen kann.



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net, aber als Arbeitspaar ergänzten sie sich16. Auch im ausgehenden Mittelalter gingen also die meisten Kinder mit Beginn der „pueritia“ nicht zur Schule, sondern wurden ihrem Entwicklungsstand nach in die Arbeit der Erwachsenen eingebunden. Aufgrund der geringen Lebenserwartung war es nicht unüblich, dass Kinder Halbwaisen oder Waisen wurden und dann häufig von Verwandten oder durch Stiefelternteile erzogen wurden. Die Zuwendung konnte dann geringer sein als durch leibliche Eltern, die Arbeitsbelastung höher.17 In vielen Fällen gab es vermutlich neben oder bei den zugeteilten Arbeiten, wie der Erledigung von Wegen, Hilfstätigkeiten in Haus und Garten sowie dem Viehhüten, reichlich Zeit für Spiel. Zu berücksichtigen ist, dass die Zeit zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang zwar Arbeitszeit war, die Arbeitsintensität auch der Erwachsenen aber vermutlich nicht so hoch war wie heute18 und die in der Neuzeit entstehende Trennung zwischen Privatbereich, Erwerbs­ tätigkeit, religiösem und gesellschaftlichem Leben nicht bestand. Barbara Hanawalt wertete englische Unfallberichte auf dem Land aus dem 13. bis 15. Jahrhundert aus. Danach befanden sich Kinder auch zwischen sieben und zwölf Jahren zur Zeit des betrachteten Unfalls häufig im Spiel.19 IV. Gewalt im Mittelalter Die Begriffsfelder von Gewalt im heutigen Sprachgebrauch und von mittelhochdeutsch „gewalt“ sind nicht vollständig deckungsgleich. Deshalb soll im Weiteren auf Gewalt im heutigen Verständnis abgehoben werden. Gewalt und „gewalt“ sind sich von der Bedeutung aber sehr nahe. Sie umfassen zum einen die Bedeutung Gewalt gegen etwas oder jemanden. In dieser Hinsicht verstehen wir heute Gewalt als einen Angriff auf die körperliche Unversehrtheit oder auf materielle oder immaterielle Werte des Opfers, der entweder ertragen werden muss oder Widerstand hervorruft. Diese Bedeutungstendenz haben in lateinischen Texten zum Beispiel „violentia“ oder „vis“, wobei auf die genaue Abgrenzung der Begriffe und die genauen mittelalterlichen Vorstellungen von Gewalt gegen jemanden hier nicht eingegangen werden kann. Zum anderen bedeutet Gewalt im Sinne von lateinisch „potestas“ die Gewalt über etwas oder jemanden. Damit ist legale Gewalt gemeint, also die auf gesellschaftlichen Abmachungen beruhende und (meist) akzeptierte Macht über andere, sei es die der Eltern über ihre Kinder, des Lehrherrn über seinen Lehrling, des Schulmeisters über seine Schüler, des Lehnsherrn über die von 16  Wunder,

S.  242 f. S. 185–190. 18  Isenmann, S. 837. 19  Hanawalt, Ties, S. 273. 17  Shahar,

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ihm abhängigen Bauern oder des Abts über sein Kloster. Im modernen Fall kennen wir Entsprechendes als Staatsgewalt, von der alle Gewalt ausgehen soll. Diese Übereinkunft zur Abtretung von Gewaltrechten erscheint uns sinnvoll, denn sonst müssten wir selbst Gewalt üben gegenüber uns ungerechtfertigt erscheinender Gewalt in der ersten Bedeutung.20 Genau dies war im Mittelalter im deutschen Sprachraum nicht so eindeutig geregelt wie heute. Erstens existierten in ausgeprägterer Form verschiedene Herrschafts- und Rechtsräume nebeneinander. Zweitens musste die Durchsetzung des Rechts oft in die eigenen Hände genommen werden. Denn ein der modernen Polizei vergleichbares Exekutivorgan gab es erst ansatzweise in den spätmittelalterlichen Städten. So konnten die männlichen Stadtbürger zur Verfolgung von Straftätern eingesetzt werden. Städte verpflichteten Bürger, Ratsherren oder von ihnen entlohnte Stadtknechte und Büttel zur Überwachung der Marktordnung, der Ordnung in Wirtshäusern, von Bauvorschriften oder zur Durchsetzung des Strafrechts.21 Im Mittelalter gab es eine Vielzahl von Herren, die den von ihnen Abhängigen gegenüber als Richter fungierten. Die meisten der heute noch bestehenden Städte entstanden im Hochmittelalter. Sie gaben sich eigene Rechtsordnungen, die nur auf dem Territorium der Stadt galten und regelmäßig Gegenstand von Auseinandersetzungen mit dem jeweiligen Stadtherrn waren. Klöster oder Universitäten in der Stadt wiederum unterlagen ihren eigenen Rechtsordnungen.22 In dieser Fülle von Rechtssystemen war das Leben des Einzelnen davon geprägt, sich in den verschiedenen Rechtsräumen mit eigenen, individuellen Interessen zu verorten und wenn nötig durchzusetzen. Dies bedingte eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz von körperlichen Angriffen auf andere als in Territorialstaaten mit ihrem Anspruch eines einheitlichen Rechtsraums. Ein Lehnsherr war verpflichtet, die von ihm Abhängigen mit Waffen zu verteidigen, Städte mussten jederzeit wehrbereit sein. Stadtbürger selbst waren Bestandteil der Stadtverteidigung und mussten im Umgang mit Waffen geübt sein. Fernkaufleute hatten Raubüberfälle einzukalkulieren. Zur Sozialisation von Kindern gehörte damit das Hineinwachsen in Wehrfähigkeit. Waffentragen war selbstverständlich. Dies wurde zwar immer wieder gerade im Stadtbereich verboten, konnte aber nie ganz durchgesetzt werden. Auch Auseinandersetzungen, in denen Frauen wie selbstverständlich ihr langes Messer bei sich trugen und benutzten, sind belegt.23 20  Allgemein zur Problematik des Forschungsthemas Gewalt im Mittelalter s. Braun / Herberichs; Schmieder, Gewaltbewältigung, S. 20–24. 21  Vgl. Schmieder, Stadt, S. 132 f.; Isenmann, S. 448–452, 460–480. 22  Isenmann, S. 199 f., 213–215, 340–342. 23  Isenmann, S.  483 f.; Schubert, S. 194–201.



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Dies bedingte, dass spontane Gewaltausübung im Affekt eine höhere Akzeptanz hatte, als es heute der Fall ist, und zudem ein Ausweis von Stärke und Wehrfähigkeit war. Ehrverletzungen wurden eher mit Waffengewalt ausgetragen, Prügeleien unter Alkoholeinfluss in Wirtshäusern waren keine Seltenheit24. Zu berücksichtigen ist auch, dass durch die geringe Lebens­ erwartung junge Menschen einen hohen Anteil an der Bevölkerung stellten. Und gerade bei jungen Männern ist als anthropologische Konstante mit einer höheren Bereitschaft zu spontaner, körperlich ausgetragener Aggression zu rechnen.25 Fahrende Schüler trugen zum Unruhepotential in der Stadt bei. So wurden Schülern zum Beispiel in einer Schulverordnung im heute niederländischen Zwolle explizit hohe Strafen für das Mitführen von langen ­Messern angedroht.26 Friedenspflicht war gerade in der Enge der Städte ein wichtiges, ständig zu regelndes Thema.27 Dem gegenüber stand der Einfluss der Kirche mit ihren Appellen zu Frieden und Demut, zum Erleiden und Hinnehmen von Gewalt, wie sie in den Beispielen der Passion Christi und der vielen Märtyrer immer wieder bildlich vor Augen geführt wurden. Friedfertigkeit würde beim Jüngsten Gericht einen Platz an der Seite Christi ermöglichen. Auch wird hier auf die Sanktionierung von unchristlichem Verhalten im Diesseits mit harter körperlicher Pein im Jenseits warnend verwiesen.28 Schubert geht jedoch davon aus, dass spontane Gewalt dennoch kein vordringliches Problem im Bewusstsein der Zeitgenossen im Mittelalter war. Die Welt habe kein übergroßes Gewalt­ potential. Weder in Chroniken noch in Predigten wurde Gewalt besonders thematisiert.29 Auch in den weiter unten untersuchten Schultexten, die das Verhalten der Kinder beeinflussen sollten, ist davon keine Rede. V. Gewalt gegen Kinder im Mittelalter Kinder können sich aufgrund ihrer relativen körperlichen Schwäche und ihrer Abhängigkeit von Erwachsenen weniger gegen körperliche Gewalt wehren. Außerdem unterliegen sie weit mehr Sanktionen als Erwachsene. Wie diese müssen sie sich an Regeln halten; darüber hinaus sind sie Reak­ tionen ausgesetzt, wenn Erziehungsziele nicht eingehalten werden. Zum Thema Kinder als Verbrechensopfer im Mittelalter finden sich nur wenige quantitative Befunde. Das Töten von Säuglingen wird trotz der un­ 24  Schubert,

S.  196 f. S.  125 f. 26  Müller, S. 80. 27  Isenmann, S. 159–163. 28  Vgl. z. B. Dinzelbacher, S. 104–108. 29  Schubert, S. 199; s. dazu auch Braun / Herberichs, S. 7. 25  Wahl,

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sicheren Faktenlage in der Forschung häufig behandelt.30 Hanawalt fand indes nur wenige dokumentierte Beispiele. Die Tötung von Säuglingen konnte auf der einen Seite leicht vertuscht werden, auf der anderen Seite sei die Kinder- und die Müttersterblichkeit hoch gewesen, sodass kaum ein Anreiz bestanden hätte, Neugeborene als unerwünscht anzusehen. Auch waren ältere Kinder als Opfer stark unterrepräsentiert. In Fällen, in denen Kinder gewaltsam durch ihre Eltern zu Tode kamen, wurden den Eltern häufig auch an anderer Stelle Verhaltensauffälligkeiten nachgesagt, sodass psychische Erkrankungen zu vermuten sind.31 Es gibt Belege dafür, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder geahndet wurde.32 Dass Kinder als Unbeteiligte häufig Gewalt im öffentlichen Raum erleiden mussten, ist nicht belegt.33 Skoda untersuchte alltägliche Gewalt in nordfranzösischen Städten um 1300. Ihr zufolge ist alltägliche Gewalt auch Bestandteil von Kommunikation, eine Darstellung von Macht, Männlichkeit und Kraft. Sie enthalte zum Beispiel im öffentlichen Raum, im Wirtshaus oder bei öffentlichem Aufruhr spielerische Elemente.34 Vielleicht waren Kinder deshalb nur selten Opfer dieser möglicherweise kalkulierten, performativen Gewaltausübung, weil sie keine gleichwertigen Gegner waren und ehrenwerte Gewalt immer auch zu Gunsten von Schutzbefohlenen ausgeübt wurde. Wie sieht es nun mit Sanktionierungen von Kindern aus? Dass es in der Rechtsprechung des Mittelalters unter anderem Formen von uns sehr grausam anmutenden Körperstrafen gab, ist vielfach belegt.35 Kinder als Straftäter waren aufgrund ihrer geringeren Reife zum Teil nicht strafmündig oder wurden mit deutlich geringeren Strafen belegt als Erwachsene. Die Eltern als Vormünder konnten zu Bußleistungen für Vergehen der Kinder herangezogen 30  Z. B. Shahar, S. 150–165; Arnold nimmt an, dass Forschung zu Kindern im Mittelalter häufig vom Narrativ der dunklen Vergangenheit des Mittelalters und der helleren, kinderfreundlicheren Gegenwart bestimmt war, vgl. Arnold, Gesellschaft, S. 43. Vielleicht wurden auch in unterschiedlichen Teilen Europas und in verschiedenen Abschnitten des Mittelalters unterschiedliche Praktiken angewandt. Uneheliche Geburt war im mittelalterlichen Deutschland und in England nur ein geringer Makel, vgl. Isenmann, S. 733–735; Hanawalt, Crime, S. 156. 31  Hanawalt, Crime, S. 147–157. 32  Skoda, S.  65 f. 33  Fehr, S. 23, S. 298 f. Es gibt Beispiele aus dem Gewohnheitsrecht im länd­lichen Raum dafür, dass körperliche Gewalt von Männern im öffentlichen Raum gegen Frauen zu höheren Strafen führte als gegen Männer. Vermuten kann man, dass spontane Gewalt gegen Kinder im öffentlichen Raum noch stärker geahndet wurde. Skoda weist auf Fälle von Vergewaltigungen kleiner Mädchen in Paris durch Fremde hin, s. Skoda, S.  65 f. 34  Skoda, S. 232–234. 35  Isenmann, S. 510–516.



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werden. Sie konnten aber auch in Gerichtssprüchen beauftragt werden, ihre Kinder für das Vergehen zu verprügeln. Es sind zudem Fälle bekannt, in denen selbst jüngere Kinder einer grausamen Todesstrafe erlagen.36 Welche Aussagen können wir treffen zu Sanktionen im Erziehungsalltag? Die Prügelstrafe für Vergehen, die durch die Eltern sanktioniert wurden, war bekannt und wurde auch ausgeübt. Wie oft, in welcher Form, durch wen und welche Kindergruppen besonders oft verprügelt wurden, ist unklar. Prügel für Kinder als Erziehungsmaßnahme sind im Mittelalter ein häufiges Thema.37 Es existieren einige Schriften, die heute als Erziehungsratgeber bezeichnet werden würden. Sie wurden von Gebildeten, also Geistlichen, für Adelige oder andere höhere Schichten verfasst. Weiterhin wurden in Predigten, zu denen vor allem Stadtbewohner schichtübergreifend im späteren Mittelalter Zugang hatten, Alltags- und Erziehungsthemen behandelt. Grundsätzlich wurden Prügel als Erziehungsmaßnahme befürwortet, allein schon, weil die Bibel hier als Referenz diente. Häufig zitiert werden die Sprüche Salomos: „Wer seine Rute schont, der haßt seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald“ (Spr 13, 24) sowie: „Torheit steckt dem Knaben im Herzen, aber die Rute der Zucht wird sie fern von ihm treiben“ (Spr 22, 15).38 Neben der Bibel und den Kirchenvätern wurden im Mittelalter antike Autoren rezipiert, die ebenfalls größtenteils Prügel als Mittel zur Erziehung befürworteten. Einschränkend muss gesagt werden, dass sowohl die hier betrachteten Schriften aus dem Mittelalter als auch die von den zeitgenössischen Autoren zitierten Autoritäten sich in der Regel auf die Erziehung von „filii“ (Söhne / Kinder) bezogen. Inwieweit Mädchen mitgemeint sind, bleibt häufig unklar. Kritik an der brutalen Erziehung der ins Kloster gegebenen Kinder übte Anselm von Canterbury. Ebenso äußerte sich der im Mittelalter viel gelesene Quintilian, ein antiker Lehrer der römischen Kaiserzeit, skeptisch in Bezug auf die Wirksamkeit von Prügel im Unterricht. Und auch von anderen Autoritäten wurde immer wieder betont, dass Prügeln allein keine Verhaltensänderung schaffe, dass im Gegenteil ein verstockter, kriecherischer Charakter erzeugt werden könne. Vor körperlichen Schäden durch zu viel Prügel wurde gewarnt. So sollte nicht der Kopf geschlagen werden. Starke Prügel im Affekt würden sich negativ auf die Erziehung auswirken.39 Inwieweit die Empfehlungen der Erziehungsratgeber und Pre36  Shahar,

S.  33 f.; Fehr, S. 272–280. und mit vielen Quellen hierzu Arnold, Gesellschaft, S. 79–82, S. 111–128; s. auch Schubert, S. 224; Shahar, S. 203–205. 38  s. Zitate bei Arnold, Gesellschaft, S. 80. 39  Shahar, S. 203–210; Arnold, Gesellschaft, S. 78–87 sowie viele Quellenbeispiele S. 89–186. 37  Umfassend

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digten aufgenommen und in die Praxis umgesetzt wurden, und wenn ja, von welchen Gruppen und in welchem Ausmaß, ist nicht nachvollziehbar. An dieser Stelle soll auf zwei Aspekte aufmerksam gemacht werden. Zum einen wird von den Autoren dieser Erziehungsratgeber häufig auf Missstände in der Erziehung durch Verwöhnen der Kinder hingewiesen.40 Ob dies tatsächlich auf einer allgemeinen Wahrnehmung über den Verfasser oder den geistlichen Stand hinaus beruhte, muss hier offenbleiben. Zum anderen sprach die Notwendigkeit zur Wehrfähigkeit gegen eine allzu rigide Sanktionierung von Kindern. Dette zufolge kollidierte das Wertesystem der frühmittelalterlichen Adeligen an diesem Punkt mit dem der Kirche. Zur Verteidigung oder Erweiterung der Adelsherrschaft gehörte eine entsprechende Selbstdarstellung. Die selbstbewusste Ausübung von körperlicher Gewalt war Erziehungsziel, Lebensrealität und -notwendigkeit. Die systematische Anwendung von Körperstrafen zur Sanktionierung und zur Erzeugung von Demut und Gehorsam, wie sie in den Klöstern gefordert wurde, war damit jedoch schwer zu verbinden.41 So schreibt Dette: Der Kriegeradel stand solch strenger Erziehung, gipfelnd in einer oftmals rigorosen Züchtigung, distanziert gegenüber, wobei die Ablehnung der Schläge als pädagogisches Hilfsmittel möglicherweise mit dem adligen Ehrgefühl zusammenhing, das es einem Adligen verbot, einen körperlichen Angriff zu dulden, sich klaglos und ohne Gegenwehr züchtigen zu lassen.42

Diese Haltung scheint auch im Spätmittelalter zumindest für die Söhne des Hochadels gegolten zu haben. Deutschländer und Müsegades kamen zu dem Schluss, dass zumindest im Hochadel das Prügeln eines Fürstensohnes als unwürdig galt, öffentliche Demütigung jedoch ein Mittel zur Disziplinierung war.43 Es ist also davon auszugehen, dass Gewaltausübung zwar ein Teil der ­ebensrealität im Mittelalter war, von systematischer Gewaltanwendung L Kindern gegenüber jedoch nicht ohne weiteres ausgegangen werden kann. In einem Lebensbereich allerdings, der im Mittelalter eine Minderheit der Kinder betraf, war Prügel mit ziemlicher Sicherheit ein alltägliches Phänomen: in der Schule, besonders in der Lateinschule.

40  Shahar,

S. 13 f.; 275. besonders S. 7 f.; zum Wertekonflikt von Adeligen s. Dinzelbacher, S. 103. 42  Dette, S. 21. 43  Deutschländer, S.  93 f.; Müsegades, S. 173–176. 41  Dette,



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VI. Schule im Mittelalter Das Unterrichtswesen im deutschsprachigen Raum44 entwickelte sich im Mittelalter aus den Klosterschulen. Nach der Völkerwanderungszeit waren nur Geistliche alphabetisiert und auch diese oft nur in geringem Maße. Die karolingische Bildungsreform, angestoßen durch Karl den Großen um 800, systematisierte Bildung in Klosterschulen. Von hier sollte auch der Verwaltungsnachwuchs kommen. Das Schulprogramm und der Lehrstoff wurden bestimmt durch die Anforderungen an Geistliche. Grundlagen waren die Bibel, die Kirchenväter und antike Autoritäten, vermittelt in lateinischer Sprache. Eine wichtige Aufgabe von Schulkindern war der Beitrag zum Chor­ gesang in der Kirche. Das Schulprogramm blieb im Wesentlichen bestehen bis zum Ausgang des Mittelalters. Im Hochmittelalter setzte eine Städtegründungswelle ein, mit der Folge, dass Unterricht nun vor allem in Stadtschulen – den Lateinschulen – stattfand, die immer in Verbindung zu Kirchen standen. Die weitaus meisten Schüler waren Jungen, Hinweise auf Lateinschülerinnen sind selten.45 Schätzungen zufolge konnten im Spätmittelalter etwa zehn bis 30 % der Stadtbevölkerung lesen und schreiben.46 Für andere Zeiträume und für die Landbevölkerung muss mit wesentlich geringeren Alphabetisierungsraten gerechnet werden. Im Laufe des Spätmittelalters wurden Lehrstoffe wie Rechnen und Sachwissen stärker vermittelt, denn auch Kaufleute und andere Berufe entwickelten Bedarf an Schulbildung. Neben den Lateinschulen entstanden im Spätmittelalter deutsche Schulen. Als „Winkelschulen“ wurden sie von Privatpersonen meist in ihrem Haushalt betrieben und vermittelten Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen in der Volkssprache vorwiegend, um interessierte Jungen, Mädchen und Erwachsene berufsbezogene Kenntnisse zu lehren. Schulen waren kostenpflichtig, das Schulgeld war jedoch sozial gestaffelt. Kinder armer Eltern bezahlten häufig gar nichts. Darüber hinaus spendeten Bürger Freitische oder anderes für arme Schüler.47 Diese, die „pauperes“, machten etwa in Nürnberg die Mehrzahl der Schüler aus48. Schulbesuch war also kein Privileg höhergestellter Schichten, die vielfach auf Hauslehrer zurückgriffen. 44  Die in diesem Beitrag getroffenen Aussagen gelten für die christlich geprägte Erziehung, die die überwiegende Mehrheit der Schüler erfuhr. Auf jüdische Erziehung kann hier nicht eingegangen werden. Eine Übersicht zum Schulwesen des Mittelalters findet sich z. B. in Schiffler / Winkeler, S. 7–50. 45  So wurde 1320 der Unterricht für Mädchen und Jungen in Brüssel geregelt, vgl. Müller, S. 5–9. 46  Wendehorst, S. 32. 47  Z. B. Niavis u. a., S.  143. 48  Endres, S. 178.

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Ziel der Schule war es, wie es als häufig auftauchende Floskel formuliert wurde, „litterae et mores“ beziehungsweise „zucht und lernung“ zu vermitteln.49 Die Schüler sollten lesen, schreiben sowie Latein lernen und erzogen werden. Lateinschulen waren Ganztagsschulen. An der Nürnberger Lateinschule am Spital wurde um 1485 morgens und nachmittags je drei Stunden lang unterrichtet, davon jeweils zwei Stunden Lehre und eine Stunde kirch­ licher Dienst50. Für die Jüngeren ging es um Auswendiglernen, Üben auch in Partner­arbeit und Singen. Verständnis für den Stoff und Diskussionen darüber wurden erst von älteren Schülern erwartet. Um Latein zu üben, sollte es untereinander gesprochen werden. Die Fähigkeit dazu sollte auch durch die im Ausgang des Mittelalters entstandenen Gesprächsbüchlein und ihr Angebot an Standardsätzen für die Schulsituation gefördert werden. Der Chemnitzer Schulmeister Niavis stellt dar, dass es daneben unterrichtsfreie Zeiten gab, die explizit zum Spielen zur Verfügung standen.51 So wurden im Abfall einer Lateinschule in Groningen in den Niederlanden mit Fundstücken aus der Zeit um 1500 viele Spielzeuge gefunden52. Lehrer werden bildlich immer mit Rute, zum Teil sogar mit zwei Ruten, dargestellt.53 Das Prügeln der Kinder war unvermeidlicher Bestandteil des Unterrichts. VII. Sanktionspraxis im Unterricht Autobiographien als Egodokumente haben den Anspruch, tatsächlich ­ rlebtes wiederzugeben. Sie stellen einzelne Erlebnisse in einen größeren E Zusammenhang und deuten sie. Hier werden Beispiele zur Züchtigung im Unterricht des Adeligen Guibert von Nogent um 1100 und von Johannes Butzbach um 1500 gegeben. Die meisten Schultexte waren kanonische Texte, oft aus der Antike übernommen, die über die Jahrhunderte hinweg gleichblieben. Schultexte, die die Lebenswirklichkeit der Schüler aufgriffen, waren selten. Eine normative Intention muss unterstellt werden, auch wo sie nicht explizit vom Autor benannt wird. Der Chemnitzer Schulmeister Paulus Niavis behandelt in seinen ab 1485 erschienenen Dialogen für Schüler an vielen Stellen das Thema Züchtigung in der Schule.54 Die Dialoge fungierten in den 49  Baldzuhn,

S.  140 f. S. 179. 51  Niavis u. a., S. 92–103. 52  Willemsen, S. 171–174. 53  s. z. B. Abbildungen dazu in Schiffler / Winkeler, S. 18–43; Holzschnitte zu den unterschiedlichen Ausgaben von „Es tu scolaris“, s. Anonym. 54  Niavis u. a. 50  Endres,



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folgenden Jahren als beliebte Schulbücher. Auf das sich daraus ableitende Verständnis der körperlichen Gewaltanwendung gegen Schulkinder soll hier näher eingegangen werden. Vergleiche mit dem zeitgleich ebenfalls weit verbreiteten, ab den 1480er Jahren nachweisbaren und von einem uns unbekannten Verfasser stammenden beliebten Schulbuch „Es tu scolaris“55 werden den Gegenstand weiter vertiefen. 1. Autobiographien Autobiographien aus dem Hochmittelalter sind selten, ausführliche Lebenserinnerungen liegen von Guibert von Nogent vor. Demnach mussten auch Adelige mit Prügel in ihrer Erziehung rechnen, wenn sie für eine religiöse und gelehrte Laufbahn vorgesehen waren. Guibert von Nogent, aus nordfranzösischem Adel stammend, lebte um 1100 und wurde Benediktiner. In seiner Autobiografie gab er an, dass seine religiöse Mutter ihn als Kind zu einem fast mönchischen Leben unter der Erziehung eines grausamen, unfähigen, aber ihm gleichzeitig zugewandten Hauslehrers bestimmt habe. Guibert schilderte: Unterdessen wurde ich fast täglich von einem grausamen Hagel von Ohrfeigen und Schlägen gesteinigt, da er mich zwingen wollte, etwas zu lernen, was er selbst nicht zu lehren verstand.56 Einmal also zur Abendzeit[…] setzte ich mich meiner Mutter zu Füßen, schwer geprügelt, mehr jedenfalls, als ich verdient hatte. Als sie mich wie gewohnt fragte, ob ich an diesem Tag geschlagen worden sei, und ich, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wolle den Lehrer bloßstellen, die Frage gänzlich verneinte, schob sie – ob ich wollte oder nicht – mein Unterkleid […] nach oben und bemerkte bläuliche Striemen, wobei meine Haut durch die Rutenschläge auf meinem zarten Rücken überall geschwollen war. Sie war von tiefem Schmerz erfüllt[…].57

Die Mutter wollte daraufhin, dass er nie wieder für das Lateinlernen bestraft werde, was sie aber nicht durchsetzen konnte. Aus dem ausgehenden Mittelalter unter dem Einfluss des Humanismus sind uns einige Autobiographien überliefert, so etwa die des Benediktiners Johannes Butzbach. Butzbach lebte um 1500 und stammte aus dem städtischen Handwerkermilieu in Miltenberg. Er schilderte, dass seine wohlhabende, sehr religiöse Pflegemutter ihn in die Schule schickte. Die ersten Wochen wurden mit Brezeln, Mandeln und Rosinen versüßt. Dann wurde er von ihr mit Schlägen in die Schule getrieben. Nach dem Tod der Pflegemutter kam er zurück zu seinen leib­ lichen Eltern, die zu seinem Leidwesen seinen Schulbesuch fortsetzten. Er 55  Anonym.

56  Guibertus, 57  Guibertus,

S. 18, s. Klage über Prügel auf S. 20. S. 22.

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begann zu schwänzen. Als die Eltern dies entdeckten, ließen sie ihn durch den Unterlehrer bestrafen. Butzbach schreibt: Am nächsten Tag schleppte mich meine Mutter zur Schule. Als wir hier eintrafen, sagte die Mutter zum Unterlehrer (denn der Oberlehrer, der für verständiger gehalten wurde, war damals abwesend) „So, da wäre also unser missratenes Söhnchen, das so ungerne zur Schule geht! Ihr sollt ihn mal für sein Schwänzen so richtig bestrafen, wie sich das so gehört!“ […] Der Locatus – so pflegten wir ihn zu nennen – packte mich in einem Wutanfall und liess mich auskleiden und sogleich an einer Säule festbinden. Grausam und unbarmherzig – denn er war ein roher Kerl – liess er mich mit den härtesten Ruten auspeitschen, indem er selbst kräftig mitmachte. Aber meine Mutter, die sich noch nicht weit von der Schule entfernt hatte, hörte mein Geschrei und mein jämmerliches Geheul. Auf der Stelle kehrte sie um und vor der Türe stehend schrie sie mit furchterregender Stimme, dass dieser Schlächter und Scharfrichter mit dem Prügeln aufhören solle. Der aber überhörte diese Einwendungen wie ein Tauber und strengte sich statt dessen an, noch heftiger zuzuschlagen, während alle andern ein Lied singen mussten. Als er nun nicht im entferntesten aufhörte, gegen mich zu wüten, brach meine Mutter mit Gewalt durch die Türe ein. Sowie sie mich aber an die Säule gefesselt und den schrecklichen Schlägen so hilflos ausgesetzt sah und wie sie meinen blutüberströmten Körper wahrnahm, da brach sie ohnmächtig zusammen […].58

Noch am selben Tag wurde der Unterlehrer entlassen und war seitdem als Stadtbüttel tätig. Er bat Johannes Jahre später um Verzeihung.59 Prügel wurden also als alltägliche Praxis im Unterricht erlebt. Sie konnten aber auch durch ihre Heftigkeit aus dem Rahmen des Gewöhnlichen und zähneknirschend Akzeptierten herausfallen und als Unrecht erlebt werden. Körperliche Züchtigungen wurden als Leid erfahren und erinnert, auch noch aus dem großen zeitlichen Abstand, den die Autobiographen zur Zeit des Abfassens ihrer Texte vom Geschehen hatten. 2. Schuldialoge In den untersuchten Schultexten, den „Latina ydeomata“ von Niavis60 und dem Gesprächsbüchlein „Es tu scolaris“61, werden keine Erlebnisse geschildert, sondern fiktive Dialoge aus der Schule geboten. Sie dürften Schul­ situationen mit normativem oder Vorbildcharakter zeigen, jedoch auch in realen Bezügen verwurzelt sein, die den Schülern aus ihrem Alltagserleben geläufig waren. Denn das Ziel der Dialoge war, das Lateinsprechen zu er58  Butzbach,

S.  147 f. S. 149. 60  Niavis u. a. 61  Anonym; der Name leitet sich von der häufig wiederkehrenden formelhaften Frage „Es tu scolaris“ („Bist du Schüler?“) ab. 59  Butzbach,



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leichtern62, und hierzu mussten im Schulalltag tatsächlich benötigte Sätze und Situationen angeboten werden. Vermutlich in seiner Zeit als Chemnitzer Schulmeister zwischen 1485 und 1488 verfasste Paul Schneevogel, latinisiert Paulus Niavis, lateinische Gesprächssammlungen, die „Latina ydeomata“. Paulus Niavis (ca. 1435– ­ ca. 1517) studierte in Ingolstadt und Leipzig und wird dem Frühhumanismus zugerechnet.63 Hier sollen seine Dialoge für kleine Schüler und seine Dialoge für Ältere, die häufig fahrende Schüler waren, betrachtet werden. Vor allem seine Gesprächssammlung für Kinder „Latinum ydeoma pro parvulis“ war als Schultext sehr beliebt. Sie wurde 1489 das erste Mal und bis 1501 fünfzig Mal gedruckt. Weniger nachgefragt zu sein schienen seine Dialoge für ältere Schüler „Latinum ydeoma pro scholaribus adhuc particularia frequentantibus“ mit fünf bekannt gewordenen Drucken. Spätere Humanisten distanzierten sich von Niavis’ Latein, nahmen jedoch die Form auf, pragmatische Lehrtexte in literarischer, unterhaltsamer Form zu präsentieren.64 Durch den Buchdruck wurde im 15. Jahrhundert Lesestoff, darunter auch Schulbücher, deutlich günstiger. Ältere Schultexte, die vermutlich vor allem Lehrern zur Verfügung standen, waren häufig in Reimform verfasst, damit sie leichter auswendig gelernt werden konnten65. Die hier dargestellten Schulsituationen müssen also durchaus nicht nur für das Ende des 15. Jahrhunderts gegolten haben. Die Schülergespräche des Paulus Niavis sind ausschließlich Gespräche, wie sie sich rund um den Schulalltag ergeben. Die unmittelbare Unterrichtssituation wird nicht dargestellt. Das Gesprächsbuch „Es tu scolaris“ liegt uns nur in gedruckten Ausgaben ab 1493 / 94 vor. Der oder die Verfasser sind unbekannt. Schreibt Niavis fortlaufende Dialoge, so handelt es sich bei „Es tu scolaris“ um eine nach Themen geordnete, lateinische Floskel- und Satzsammlung. „Es tu scolaris“ war bis 1500 ein sehr beliebtes Schulbuch.66 Es gibt textliche Übereinstimmungen bei Niavis und in „Es tu scolaris“. Ob diese auf bereits länger bestehenden Traditionen im Schulwesen beruhen oder ein Verfasser die Werke des anderen kannte und kopierte, ist unklar. Im Gegensatz zu Niavis’ Gesprächen für ältere Schüler drehen sich viele Gespräche in den Kinderdialogen um Verfehlungen der Schüler. Ein Beispiel Einleitung in Anonym, S. 2r und Widmung in Niavis u. a., S.  55 f. Lebenslauf von Paulus Niavis s. Kramarczyk; Worstbrock, Sp. 779. 64  Niavis u. a., S.  12–19; Worstbrock, Sp. 779. 65  Henkel, Schultexte, S. 30. 66  Henkel, Es tu scolaris, Sp. 424–425. Später entsprach das in „Es tu scolaris“ aufgeführte Latein nicht mehr den sprachlichen Ansprüchen der Humanisten. 62  Vgl.

63  Zum

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soll im Folgenden aufgeführt werden. In zwei aufeinanderfolgenden Gesprächen wird ein Brötchendiebstahl behandelt. Nun verpetzen die Jungen andere bei den Bakkalaurei. HORTENA67: Ehrenwerter Bakkalaureus, meine Mutter hatte mir heute, als ich in die Schule gehen wollte, ein Brötchen mitgegeben. Ronestus aber, der nahe bei mir sitzt, hat es heimlich weggenommen. Bitte bringt ihn dazu, dass er es mir zurückgibt. BAKKALAUREUS: Ronestus! RONESTUS: Hier bin ich, Herr Bakkalaureus. BAKKALAUREUS: Hortena zeiht dich eines Diebstahls. Was sagst du dazu? RONESTUS: Davon weiß ich nichts, Herr Bakkalaureus. HORTENA: Warum leugnest du, Ronestus? Es ist ziemlich eindeutig, dass du es warst. RONESTUS: Aber ich war es nicht. HORTENA: Ich kann Zeugen bringen, dass du es getan hast. BAKKALAUREUS: Bring die herbei, die es gesehen haben! Dann muss er es dir nicht nur zurückgeben, sondern auch die Härte der Ruten schmecken. HORTENA: Lariscus hat genau gesehen, dass er es genommen hat. Er ist auch, als er es gesehen hatte, zu mir gelaufen und hat es mir verraten. Da suchte ich in meiner Tasche danach und fand es nicht, weil es gestohlen war. BAKKALAUREUS: Hast du das gesehen, Lariscus? LARISCUS: Ja, Herr Bakkalaureus. BAKKALAUREUS: Warum wagst du es, Ronestus, so etwas Schlimmes zu tun? RONESTUS: Bester Bakkalaureus, bitte schenkt denen nicht leichtgläubig Gehör! Lariscus steckt doch mit Hortena in allem unter einer Decke. Gewiss hat er keinen ehrenhaften Grund dafür, dass er das bezeugt, sondern vielmehr aus Hass auf mich, und aus Verdorbenheit. BAKKALAUREUS: Ein Zeuge allein, Hortena, reicht nicht aus. Wenn du noch einen beibringen könntest, würde sein Zeugnis Geltung bekommen. HORTENA: Wenn Surgellus nur die Wahrheit sagt, der wird es ebenso wissen. BAKKALAUREUS: Surgellus, komm einmal schnell! Hast du gesehen, dass Ronestus ihm hier ein Brötchen entwendet hat? SURGELLUS: Nein, hab ich nicht. BAKKALAUREUS: Sag die Wahrheit, oder du bekommst eine Züchtigung. SURGELLUS: Ganz sicher, Bakkalaureus, davon weiß ich nichts. BAKKALAUREUS: Aber ich weiß, dass du eben dieses wohl weißt. 67  Die

Namen sind von Niavis vergebene Fantasienamen.



Gewalt gegen Kinder im Mittelalter125 SURGELLUS: Essen habe ich ihn gesehen. Sonst, wo er das Brötchen hergenommen hat, darüber weiß ich nichts Genaues. BAKKALAUREUS: Ronestus, bist du jetzt überführt? Nicht nur einer schänd­ lichen Tat überführt, sondern auch bei einer Lüge ertappt. RONESTUS: Gar süßer Bakkalaureus, ich will ihm ein anderes kaufen. BAKKALAUREUS: Allerdings! Aber was dir für eine derartige Schandtat gebührt, weiß ich genau. Setz dich erst einmal, bis ich freiere Zeit habe!68 TINIBAL: Ehrenwerter Bakkalaureus, Hortena verschreit mich nicht nur bei allen Scholaren, sondern darüber hinaus auch vor Laien69 als Dieb. Bitte, bitte untersagt ihm, dass er mich die ganze Zeit behelligt! BAKKALAUREUS: Mit welcher Anmaßung, Hortena, erlaubst du dir denn das? HORTENA: Herr Bakkalaureus, ich dachte, ich dürfte mich glücklich preisen, dass er dieses Vergehens überführt wurde und mir auch gezwungenermaßen mein Brötchen ersetzt hat. BAKKALAUREUS: Geschwätz! Hat er dafür etwa keine Genugtuung geleistet und keine Strafe auf sich genommen? HORTENA: Doch, Bakkalaureus. BAKKALAUREUS: Was maßt du dir also an, ihn in jener Sache zu beschuldigen? Custos, bring Ruten und schlepp ihn her! HORTENA: Bester Bakkalaureus, ich will es mir nie mehr zuschulden kommen lassen. Au, au! BAKKALAUREUS: Jetzt sei still und halt deinen Schnabel! HORTENA: Au, au! BAKKALAUREUS: Du hörst nicht auf zu schreien? Ich komme wieder und verdoppele dir deine Strafe.70

In diesen beiden aufgeführten Dialogen sind viele Elemente der von Niavis in seinen Kinderdialogen gezeigten Strafpraxis enthalten. Deshalb soll von ihnen ausgehend und unter Berücksichtigung auch der anderen hier ausgewerteten Quellen der Umgang mit Strafen und Prügel in Lateinschulen dargestellt werden. 3. Strafen für Lateinschüler 1.  Niavis’ Dialoge erinnern häufig an Gerichtsverfahren. Er zeigte sich an Rechtsfragen interessiert und hörte während seines Studiums in Leipzig unter 68  Es wird im Wesentlichen der Übersetzung von Humberg gefolgt, s. Niavis u. a., S. 108–111. 69  Stadtbewohner, die weder Schüler noch Geistliche sind. 70  Niavis u. a., S.  110–113.

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anderem Juravorlesungen. Eines seiner weiteren Werke ist ein Gerichts­ drama.71 In seinen Schülerdialogen wird erst nach einem Gespräch gestraft, in dem die Verfehlungen angeklagt werden und dann durch Geständnis oder das Herbeirufen von Zeugen der Sachverhalt geklärt wird. Dieses Muster findet sich in weiteren Gesprächen. Skizzierte Niavis hier den realen Umgang in Schulen, oder wollte er eine ihm vorbildlich erscheinende Praxis darstellen? Formelhafte Sätze, in denen es darum geht, Verfehlungen abzustreiten oder zuzugeben, finden sich auch in „Es tu scolaris“ unter den Ru­ briken „Verba excusationes de crimine non peracto“ und „Verba excusationes de crimine peracto“72, sodass die bei Niavis dargestellte Praxis zumindest nicht ungewöhnlich erscheint. 2.  In den „Latina Ydeomata“ wird nicht davon ausgegangen, dass kleine Schüler von selbst Verfehlungen zugeben. Im ersten oben angeführten Gespräch verspricht der Beschuldigte erst nach intensiver Zeugenbefragung, dass er Wiedergutmachung leisten wolle und gibt damit indirekt seine Schuld zu. In weiteren Schülergesprächen werden die Missetäter entweder überführt, oder sie geben Entschuldigungen an, die das Verhalten rechtfertigen. Hier wiederum sind die Lehrkräfte bemüht, die Wahrheit zu ergründen. So konfrontiert ein Lehrer den Schüler damit, er selbst habe gehört, wie der Schüler einen Laien beschimpft habe. Selbst dies wird von dem Schüler noch als Irrtum dargestellt. Der Lehrer hätte aus seiner Perspektive nicht sehen können, dass er eigentlich einen Bäckerjungen gemeint habe, der sich über ihn lustig gemacht habe. Dies akzeptiert der Lehrer zwar nicht, schiebt ein endgültiges Urteil jedoch erst einmal auf.73 Wenn der Übeltäter nicht überführt wurde, erfolgt keine Sanktion. Es bleibt für die Lehrkräfte in vielen Gesprächen unklar, ob tatsächlich, wie von den Schülern behauptet, die Eltern die Kinder vom Unterricht fernhielten, zum Beispiel um den Eltern beim Gastmahl zu helfen, oder ob sie schwänzten74. 3.  Den Partikularschülern weisen Niavis’ Dialoge eine andere Perspektive zu: Sie sollten zu vernünftiger Überlegung fähig sein, wenn sie anständig und gebildet sein wollen. Auch sollten sie aus Einsicht die Schulordnung einhalten und dem Rektor gehorchen.75 Für die Lehrer gelte, dass eine sanfte Führung und vorbildhaftes Verhalten besser seien als harte Strafe.76 71  Niavis

u. a., S.  25 f.; Worstbrock, Sp. 783–785. S. 11r. Wörtlich: Rechtfertigungsworte für nicht begangene Vergehen bzw. für begangene Vergehen. 73  Niavis u. a., S.  68–70. 74  Niavis u. a., S.  64 f., 70–73. 75  Niavis u. a., S.  152–157. 76  Niavis u. a., S.  187. 72  Anonym,



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Allerdings wird auch den Partikularschülern gegenüber die Prügelpraxis zur Aufrechterhaltung der Ordnung gerechtfertigt. Mit Cicero wird gesagt: „‚Nicht auf Dauer hält sich ein Lehrer‘, sagt der Redner, ‚wo keine Furcht herrscht‘“.77 Der sich über die Prügel beklagende Schüler muss sich fragen lassen, ob der Gewinn von Tugend und ihr Nutzen nicht die Unannehmlichkeit durch die erlittenen Prügel bei weitem überwiegt. Wer nämlich, der vernünftiger Überlegung fähig ist, glaubt wohl, wegen der geringfügigen Erteilung einer Züchtigung so großen Gewinn verwerfen zu sollen? Ich staune über dich, dass du das nicht richtig begreifst. Ein Kerl bist du jetzt, der beinahe ins Mannesalter kommt, von Gehorsam jedoch willst du nichts wissen, obwohl du doch weißt, dass er auf dein eigenes Bestes hinausläuft. Ist das nicht Wahnsinn und die weitaus schlimmste Stufe von Dummheit, wenn du jetzt meinst, es sei etwas Ungewöhnliches und Neuartiges, was doch vor langen Jahrhunderten von hochverständigen und hochgebildeten Männern eingerichtet worden ist?78

Dann wird der Kontext in den politischen Raum hinein erweitert: „Hast du irgendeinmal gehört, frage ich dich, dass es in einer großen Menge, außer wenn Ruhe und Ordnung herrschen, auch immer große Unordnung geben wird?“79 Um Ruhe und Ordnung in der Schule zu erhalten, gebe es also die Regeln des Schulmeisters. Furcht bewirke, dass diese Regeln eingehalten werden. Wenn die Schüler ungehorsam seien, werde die Ordnung mit Prügel durchgesetzt. Die Prügel seien unangenehm. Aber ohne sie könne man nicht den Schatz der Wissenschaft („thesaurus scientiae“) erlangen, die Süße der Wissenschaft („dulcitudines scientiae“) schmecken.80 Dieses System sei vor langer Zeit von hochkompetenten Autoritäten eingerichtet worden. Der vom Schüler individuell und neuartig empfundene Schmerz wird damit relativiert. Er entpuppt sich als geringe Last im Angesicht des Nutzens von Bildung. Aber Aufsässigkeit verhindert nicht nur einen geordneten Unterricht, sie verhindert auch die Ausbildung von Weisheit. Prügel und Gehorsam sind damit zur Ausprägung eines guten und gebildeten Mannes unerlässlich. 4.  Jugendliche Schüler in den „Latina ydeomata“ nehmen die Prügelpraxis nicht unhinterfragt als gegeben hin. Sie wollen nicht behandelt werden wie Kinder. Hier klingt die schwierige Zeit der Pubertät an, wenn der klagende Schüler sagt: „Ich gebe zu, dass meine Klage nicht völlig berechtigt ist. Du 77  Niavis

u. a., u. a., 79  Niavis u. a., 80  Niavis u. a., 78  Niavis

S. 150 f.; Cicero, Phil. II, 90. S.  152 f. S.  154 f. S.  152 f.

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weißt aber doch genau, in welcher Verfassung jeder jetzt ist und wie gekränkt sich alle in unserem Alter fühlen, wenn man sie mit Ruten züchtigt.“81 Dies kann darauf hindeuten, dass die Demütigung stärker noch als der körperliche Schmerz empfunden wird. Dass Disziplin und Sorge um den Lernfortschritt der Schüler anscheinend nicht an allen Schulen herrschten, zeigt der Fortgang des Dialogs: Der klagende Schüler erwägt, in eine „Bacchantenschule“ zu gehen, wo er nicht allzu sehr belästigt würde, die sein Gesprächspartner jedoch als einen Pfuhl der Laster bezeichnet.82 5.  Prügel erscheinen bei Niavis als das Mittel der Wahl, um die kleinen Schüler zu strafen. Andere Formen der Disziplinierung außer Prügel nehmen einen äußerst geringen Anteil ein. So wird ermahnt und ausgeschimpft, Murmeln werden wegen verbotenen Murmelspiels weggenommen83. Geschieht eine Verfehlung aus Versehen, zum Beispiel indem unabsichtlich die Tinte des Sitznachbarn verschüttet wird, muss nur Wiedergutmachung geleistet werden84. Wie oft werden Schüler täglich geschlagen? Auf die Frage finden sich in „Es tu scolaris“ Antwortvorschläge von ein- bis viermal. Die Auswahlmöglichkeit, gar nicht gemaßregelt zu werden, ist nicht vorgesehen.85 Bei den Sanktionsgründen wird in den „Latina ydeomata“ unterschieden zwischen dem Nichtbeachten von Regeln und nicht ausreichendem Lernfortschritt. 6. Züchtigung für Regelverstöße: Mit Prügel geahndete Regelverstöße über die bereits in den Beispielen angegebenen hinaus sind: Zuspätkommen, vor allem im Wiederholungsfall86, Witzeleien und Schreien im Unterricht und im Chor87, andere zu verletzen sowie die eigene Verletzung zu verschweigen88, Leugnen einer Untat89 sowie Laien, dazu gehören auch die Eltern, von den in der Schule erlittenen Prügeln zu erzählen90, Schüler oder Laien zu beschimpfen91, sich an unerlaubte Orte wie auf den Markt oder vor das Stadttor zu begeben oder im Fluss zu baden92.

81  Niavis

u. a., S.  152 f. u. a., S.  150–157. 83  Niavis u. a., S.  90. 84  Niavis u. a., S.  108. 85  Anonym, S. 11v. 86  Niavis u. a., S. 58, 60, 64. 87  Niavis u. a., S. 86, 88. 88  Niavis u. a., S.  68. 89  Niavis u. a., S. 68, 72. 90  Niavis u. a., S. 104, 86. 91  Niavis u. a., S. 104, 68. 92  Niavis u. a., S. 98, 116, 118. Um das Verbot in – großen – Flüssen zu baden, geht es auch in „Es tu scolaris“, s. Anonym, S. 13r–13v. 82  Niavis



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7.  Züchtigung für nicht ausreichenden Lernfortschritt: Ob Niavis für die kleinen Schüler bereits Einsicht und Interesse am Unterrichtsstoff voraussetzte, wird nicht thematisiert. Für die Schüler des „Es tu scolaris“ jedoch ist Furcht vor Strafe die zentrale Lernmotivation.93 Genauso sieht es im 12. Jahrhundert der Kleriker Philipp von Harvengt94. Niavis sieht Prügel für fehlerhaftes Latein kritisch. Auch er lässt die – untergeordneten – Lehrer dafür prügeln95. Schüler erwägen deshalb, von der Schule abzugehen, wie es schon andere vor ihnen getan hätten. Schon als Intention für das Verfassen der lateinischen Schülerdialoge teilte Niavis in seiner Widmung an den Rat mit: Durch heftige Strafen für nicht ausreichende Lateinfortschritte würden Kinder entmutigt und brächen die Schule ab. Dem wollte Niavis seine lateinischen Schülergespräche entgegensetzen. Sie sollten leichteres Lateinlernen ermöglichen.96 Als Humanist unterstützte er Gelehrsamkeit und Redefähigkeit. Ebenso könnte aber auch die Konkurrenz zu den deutschen Schulen eine Rolle gespielt haben, in denen dieses Problem eben nicht bestand. Weniger Schüler bedeuteten auch weniger Einnahmen für ihn. 8. Der „custos“ (Aufseher) unterstützt die Lehrer beim Sanktionieren. Laut „Es tu scolaris“ ist der „custos“ ein Schüler, der vom Lehrer auf Zeit ausgewählt wird. Dies Amt scheint nicht beliebt zu sein. Der „custos“ muss spitze, lange Ruten und Stöcke für den Schulmeister besorgen und notiert sich Verfehlungen der Schüler, um sie dann an die Lehrer weiterzugeben.97 9.  Niemand soll von erlittener Prügel erfahren. Nicht nur in dem angegebenen Beispiel betreffs des Brötchendiebstahls kommt dies zur Sprache. Die Schüler erwähnen explizit, es sei vom Magister verboten worden, den Eltern von der in der Schule erlittenen Prügel zu berichten. Dies würde dann in der Schule noch schlimmer bestraft.98 Dieses Verbot findet sich bereits in einem Schultext um 1000 und scheint eine lange geübte Praxis zu sein.99 Laut „Es tu scolaris“ soll sogar den Freunden nichts verraten werden.100 Bei Niavis lässt sich dieses strikte Verbot so interpretieren, dass der bestrafte Schüler rehabilitiert war und nicht weiter Demütigung zum Beispiel durch Spott erleiden sollte. Denn als Reaktionen von Außenstehenden war eben nicht nur 93  Anonym,

S. 11v. S. 610. 95  Niavis u. a., S. 54, 88. 96  Niavis u. a., S.  54. 97  Anonym, S. 12r. 98  Niavis u. a., S. 86, 88, 104. 99  Schiffler und Winkeler zitieren hier Specht und weisen darauf hin, dass die geflügelte Redensart „Ich darf nicht aus der Schule schwätzen“ noch lange Bestand hatte, s. Schiffler / Winkeler, S. 37; Specht, S. 170. 100  Anonym, S. 11v. 94  Seifert,

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das Mitleid der Mütter zu erwarten, sondern auch das Auslachen durch Laien auf dem Markt.101 Dieses Verbot erleichterte den Lehrern aber auch die Sanktionspraxis, weil sie sich nicht vor den Eltern oder dem Rat rechtfertigen mussten.102 Wie von Butzbach und Guibert erwähnt, konnte das Mitleid der Angehörigen den Lehrern Ärger einbringen, der bis zur Entlassung reichte. Das bedeutet auch, dass die Prügelpraxis der Schule, obwohl sie den Zeitgenossen bekannt war, nicht nur auf ungeteilte Zustimmung in der Stadt stieß. Deshalb wurden die anderen Schüler angewiesen zu singen, wie im Fall Butzbach gezeigt wurde.103 Eine weitere Methode, Unbeteiligte nicht auf die Prügelpraxis in der Schule aufmerksam zu machen, finden wir in dem Beispiel des Brötchendiebstahls: Schmerzensschreie wurden unter der Androhung weiterer Prügel verboten.104 10. Interventionen von anderen, die Fürsprache der Mutter oder eines Freundes des Schulmeisters und angesehenen Bürgers, werden als Möglichkeiten geschildert, die Strafe zu mildern105. Andere um Einfluss zu bitten, war im Rechtssystem des Mittelalters eine gängige Praxis, die teilweise im Stadtrecht verboten wurde.106 Dem kleinen Schüler wird der Beistand Gottes als wirksam geschildert: Das Gebet in der Kirche vor dem Unterricht sei wichtig, denn „Wer Gott vernachlässigt, der muss in der Schule viele Züchtigungen mit der Rute ausstehen.“107 In „Es tu scolaris“ wird ein Satz angeboten, in dem sich ein Schüler vom „custos“ freikauft, indem er ihm ein besonders großes Brot von seiner Mutter verspricht. Die Intervention hat Erfolg: Seine Verfehlung wird von der Liste getilgt.108

101  Niavis

u. a., S.  104.

102  Schiffler / Winkeler,

S. 37. S. 201. 104  Rücker zitiert aus dem Schultext von Heinrich Stolberger (1449): „Lapillus de scolasticali informatione: Dein weinen kurczyn frist / Wen du von im geslagen bist  /  Daz du icht mit dem wainen dein / Vor dinst czwaierley pein.“ (Rücker, S. 141). Dieses im Schulunterricht verwendete Werk nimmt Bezug auf Chemnitz, wo Stolberger vermutlich vor 1449 Lehrer war. Damit ist es wahrscheinlich, dass Niavis es kannte und diese Praxis zum Usus in der Chemnitzer Lateinschule gehörte. 105  Niavis u. a., S.  118 f. 106  Isenmann, S. 515. 107  Niavis u. a., S.  60 f. 108  Im heutigen Verständnis ist dies Bestechung. Dies könnte aber auch ein Hinweis auf eine Rechtspraxis sein, in der Verhandeln über Strafe und Buße durch Umwandlung der Strafform durchaus gängig war. Diese kam besonders Menschen mit Beziehungen, Verhandlungsgeschick und Wohlstand zugute. 103  Schubert,



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11. Es finden sich Beispiele, in denen erwartet wird, dass Verfehlungen nicht durch die Eltern, sondern durch die Schule bestraft werden. Butzbachs Mutter tritt die Züchtigung an den Lehrer ab. In dem Fall geht es tatsächlich um eine Untat, die mit der Schule zu tun hat. Niavis zufolge droht der Vater aber an, dem Schulmeister vom verbotenen Bad des Kindes im gefährlichen Fluss zu berichten. Diese Drohung versetzt das Kind in Angst und Schrecken109. Dies legt nahe, dass der Schulmeister zumindest zum Teil die ­„potestas“ auch im öffentlichen Raum außerhalb der Schule über seine Schüler hatte. Ebenso kann diese Szene ein Hinweis darauf sein, dass Eltern ihre Kinder üblicherweise nicht in dem Maße schlugen, wie es in der Schule geschah. Gewalttätigkeit außerhalb der Schulstrafen wird in den Kinderdialogen von Niavis nur wenig erwähnt und mit Zorn und Versehen, also mit fehlender Selbstkontrolle, begründet. Ein Schulkind fürchtet Zorn und Prügel seines Vaters, wenn es nicht sofort nach Hause geht, was eine Begründung ist, den Schüler aus der Schule gehen zu lassen.110 Schüler geben an, andere Schüler nur im Zorn oder aus Versehen verletzt zu haben111. Anders sieht es im Fall der Lehrer aus. Prügel sind – im Idealfall – nicht Ausdruck von Jähzorn, persönlicher Aversion oder Geringschätzung, sondern für Lehrer und Schüler planbares Resultat bestimmter Vergehen, die zweifelsfrei nachgewiesen wurden. Möglicherweise präsentierte Niavis in den Schülerdialogen seine Deutung der geeigneten Dosierung von gerechtem und sinnvollem Strafen, wobei er auch eine didaktische Intention in Richtung der Lehrkräfte einfließen ließ, die seine Schriften im Lehrbetrieb einsetzten112. VIII. Körperstrafen für Kinder als Voraussetzung von Bildung Körperliche Gewalt wird in unserer Gesellschaft als mit Kinderrechten nicht vereinbar abgelehnt. Aus der derzeitigen Forschungsliteratur geht nicht hervor, dass die Menschen des Mittelalters sich selbst in einem besonders gewalthaltigen Zeitalter wähnten. Wir müssen davon ausgehen, dass im Mittelalter körperliche Auseinandersetzungen häufiger waren als im heutigen westeuropäischen Leben. Die Wertschätzung und die Darstellung von Körperkraft und Verteidigungsbereitschaft waren umfangreicher. Verteidigung 109  Niavis

u. a., S.  116 f. u. a., S.  78. 111  Niavis u. a., S. 66, 106. Auch bei Müsegades werden nur Fälle aufgeführt, in denen Fürstensöhne von ihrem Vater im Affekt geprügelt werden, s. Müsegades, S.  66 f. 112  Niavis u. a., S.  185–187. 110  Niavis

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und gewaltsame Durchsetzung von Recht waren aufgrund einer Vielzahl unterschiedlicher Rechtsräume Teil des Alltags. Das nötige Selbstbewusstsein, um Gewalt zielgerichtet zur Erreichung von individuellen Zielen einsetzen zu können, musste vorhanden sein. Dies könnte über weite Strecken des Mittelalters mit den Forderungen der Kirche zum klaglosen Aushalten von Gewalt und der Hochschätzung von Demut kollidiert sein. So entsprachen Körperstrafen häufig nicht den Erziehungsvorstellungen des Adels. Sanktionierungen von Kindern durch Prügel sind belegt. Das Ausmaß ist für uns vor allem im Bereich der Familie und in öffentlichen Räumen nicht erkennbar. Die Quellenlage dazu ist sehr dürftig. Dies kann aber ebenso ein Hinweis sein auf eine nicht allzu hohe Gewaltbereitschaft Kindern gegenüber. Beispiele von Gewalt gegen Kinder aus Jähzorn sind vorhanden. Ausgehend von Bibelstellen und von Erziehungsvorstellungen antiker Autoritäten mahnen Geistliche an, Kinder nicht zu verwöhnen. Prügel seien notwendig. Es komme jedoch auf das rechte Maß an, und sie könnten nicht die alleinige Erziehungsgrundlage darstellen. Am besten stellt sich die Quellensituation hinsichtlich der Praxis des Prügels in der Schule dar. Die Rute war das Kennzeichen des Lehrers, was darauf hindeuten könnte, dass sie in anderen Lebensbereichen nicht so häufig zum Einsatz kam. Diese Praxis ist nicht originär mittelalterlich oder christlich, sondern in direkter Linie aus der römischen Antike überliefert. Sumerische Schuldialoge113 lassen vermuten, dass diese Praxis der Schule von Beginn an inhärent war. Prügel wurden in der Schule systematisch zur Erzeugung von Lernbereitschaft und zur Sanktionierung von disziplinarischen Verfehlungen eingesetzt. Der Schulmeister Niavis stellte Ende des 15. Jahrhunderts in den von ihm verfassten Schulbüchern eine Praxis dar, in der Verfehlungen wie in einem Gerichtsverfahren untersucht und dann bei erwiesener Schuld durch Prügel bestraft wurden. Die hier aufgeführten Quellen zeigen aber auch, dass eine „Gewöhnung“ an Prügel offensichtlich nicht stattfand. Wenn es so wäre, dass vor allem Schüler täglicher systematischer Gewalt ausgesetzt waren, gegen die sie sich nicht wehren durften, bedeutete dies erstens, dass Bildung und Aufstieg untrennbar mit demütigenden Gewalterfahrungen verbunden waren, zweitens, dass die Anzahl der so sozialisierten Menschen mit einer höheren Alphabetisierungsrate stieg, drittens, dass dies vor allem Jungen und Männer betraf, und viertens, dass es sich vor allem um Menschen in oder auf dem Weg in höhergestellte Schichten und mit künftigen Leitungsfunktionen handelte, Menschen, die Gewalt über andere hatten, 113  Kunz-Lübcke,

S. 198–200.



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die anhand ihrer Schreibkenntnisse über Deutungshoheit verfügten und geistigen Einfluss ausübten. IX. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Anonym: Es tu scolaris, Freising ca. 1495 / 96, URL: https: /  / www.deutsche-digitalebibliothek.de / searchresults?query=es+tu+scholaris&rows=20&viewType=list&th umbnail-filter=on&isThumbnailFiltered=true, Aufruf zuletzt am 25.9.2016. Butzbach, Johannes: Odeporicon, hrsg., übers. und komm. von Andreas Beriger, Weinheim 1991. Guibertus (Guibert von Nogent): Die Autobiographie, hrsg., übers. und komm. von Walter Berschin / Elmar Wilhelm, Stuttgart 2012. Niavis, Paulus u. a.: Spätmittelalterliche Schülerdialoge, hrsg., übers. und komm. von Oliver Humberg / Andrea Kramarczyk, Chemnitz 2013.

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Erziehung und häusliche Gewalt. Ein Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte des Katholizismus im 19. Jahrhundert Von Markus Raasch I. Einleitung Der Themenkreis „Gewalt gegen Kinder“ findet in der kirchenbezogenen Forschung seit verhältnismäßig kurzer Zeit systematische Beachtung. Als Motoren wirkten die breiten öffentlichen Diskussionen über die Entschädigung ehemaliger Heimkinder und insbesondere hinsichtlich sexuellen Missbrauchs im (katholisch-)kirchlichen Raum, die in den USA erstmals in den 1990er-Jahren geführt wurden und dann die Pontifikate von Benedikt XVI. und Franziskus wesentlich prägten.1 Zwei Sachverhalte springen ins Auge: Zum einen liegt der Aufmerksamkeitsfokus auf dem Handeln von Kirchenrepräsentanten, insbesondere im Kontext Schul- und Heimerziehung, während häusliche Gewalt so gut wie keine Rolle spielt. Zum anderen ist die historiografische Perspektive bisher deutlich unterbelichtet, die wenigen einschlägigen Arbeiten nehmen bevorzugt die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Augenschein.2 Über die soziale Praxis elterlicher Gewalt im 19. Jahrhundert wissen wir wenig3, in der Katholizismusforschung bildet sie eine terra incognita4. Dabei erscheint diese Zeitepoche aus erziehungshistorischer wie konfessionsgeschichtlicher Perspektive besonders interessant. Die Bürgertumsforschung behauptet für sie die Hegemonialisierung eines neuen, auf Rousseau zurückgehenden Erziehungsideals, das Kindheit als besonders 1  Burkett / Bruni; Jenkins; Plante; Homes; Ulonska / Rainer; Perner; Robinson; Goertz / Ulonska; Kappeler; Klemm; Uggowitzer. 2  Ries u. a.; Beck / Ries; Winkler. 3  In den meisten einschlägigen Überblickswerken kommt die häusliche Gewalt bezeichnenderweise nicht vor, vgl. z. B. Martin / Nitschke; Cunningham; Heywood; Gestrich. Ansonsten spielt sie in wichtigen sozialhistorischen Arbeiten lediglich als untergeordneter Aspekt eine Rolle, vgl. z.  B. deMause, S.  93 f.; Hardach-Pinke, S. 190–203; Flecken, S. 81–88; Pollock, S. 173–187; Seyfarth-Stubenrauch, S. 216– 256; Trepp, Männlichkeit, S. 350–356. 4  Allenfalls die Diskursebene wurde mit Blick auf katholische Erziehungsratgeber in Augenschein genommen s. Krieg, S. 102–140.

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schützenswerten Schonraum konstruierte und unter anderem im Aufschwung der Pädagogik und Säuglingspflege, in der Einrichtung von Kinderstuben, in Sachen Kinderliteratur und in der Blüte der Spielzeugindustrie Wirkung entfaltete. Ein Zusammenhang mit der Polarisierung der Geschlechtercharaktere wird ebenfalls hergestellt.5 Darüber hinaus mag die Rede vom „zweiten konfessionellen Zeitalter“6 allzu gewollt provokativ anmuten, es steht aber wohl außer Frage, dass der Topos vom „Zeitalter der Säkularisierung“ „bestenfalls einen modernisierungstheoretischen Dogmatismus mit hoher Empirieresistenz“ spiegelt.7 Verweltlichungsprozesse standen in einem komplexen Spannungsverhältnis mit mannigfaltigen, mindestens ebenso wirkungsmächtigen Erscheinungsformen religiöser Renaissance, die auf Distinktion abzielten und deshalb mit einem signifikanten Auftrieb konfessioneller Kräfte verbunden waren. Gerade kulturalistisch sensible Arbeiten haben hier ein breites empirisches Fundament schaffen können, etwa mit Blick auf Frömmigkeitskulturen, die Rolle der Frau oder auch das Verhältnis der Konfessionen untereinander.8 Nach der lebensweltlichen Bedeutung konfessionellen Denkens für den Intimbereich der vermeintlich so aufgewerteten häuslichen Erziehung und insbesondere nach Gewaltanwendung ist aber bisher nicht gezielt gefragt worden. Hier soll im Folgenden angesetzt und ein erster Feldversuch gewagt werden. Das Augenmerk gilt der elterlichen Gewalt in katholischen Familien des 19. Jahrhunderts, wobei davon ausgegangen wird, dass sich soziales Handeln über das Wechselspiel von strukturellen Prämissen, diskursiv verhandelten Werten und Alltagspraxis konstituiert. Von Interesse sind daher die materiellen Voraussetzungen für erzieherisches Handeln im Sinne der Bourdieuschen Kapitalsortentheorie9 (II.), die ihm zugrundeliegenden ideellen Grundsätze (III.) und die Erziehungspraktiken (IV.). Untersucht werden einschlägige, im Regelfall von Geistlichen verfasste katholische Erziehungsratgeber10 und Egodoku5  Prägnant nachzulesen bei Gunilla Budde, s. Budde, Blütezeit, S. 25–42. Ausführlicher in ihrer Studie von 1994, s. Budde, Weg, S. 149–253; vgl. auch Trepp, Männlichkeit, S. 316–369; für die Dimension Geschlechtsspezifik auch Habermas, S. 365–394. 6  Blaschke, Zeitalter. 7  Graf, S. 62. 8  Zur Rolle der Frau s. zum Beispiel Götz von Olenhusen, Erscheinungen; Götz von Olenhusen, Patriarchat; Sack; Breuer; Götz von Olenhusen, Feminisierung; Meiwes; zur Frömmigkeitskultur s. Mooser; Busch; Stambolis; zum Verhältnis der Konfessionen s. Blaschke, Kaiserreich; Blaschke / Mattioli; Smith; Borutta. 9  Bourdieu. 10  Auf die wichtigsten Werke verweist z. B. Seeger. Zur Verbreitung der Erziehungsratgeber lässt sich wenig sagen, ihre Verfasser waren jedoch häufig im katholischen Milieu sehr prominent. Sinnfälligerweise konnte ich in den Beständen der ­untersuchten Familien mehrere der Erziehungsratgeber finden.



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mente (Korrespondenzen, Tagebücher, Erinnerungen) von 92 adeligen Männern und ihren Familien11. Die Analyse erfolgt dabei im Bewusstsein, dass sich die Praxis häuslicher Gewalt nur bedingt aus den Quellen rekonstruieren lässt, weil ihre Geschichte vor allem eine des (Ver-)Schweigens ist. Die Männer wurden ausgewählt, weil sie ein relativ homogenes Untersuchungssample darstellen und in besonderer Weise als glaubenstreu gelten können. Die vornehmlich in katholisch geprägten Regionen wie (Ober-)Schlesien, (Alt-)Bayern, Südwestdeutschland, Rheinland und Westfalen wohnhaften Männer waren zum größten Teil altadeliger Herkunft und saßen zwischen 1871 und 1890 für die Zen­trumspartei im Reichstag. Sie waren in großer Zahl Michaels­ brüder, Malteser- und Georgi­ritter, kämpften in der päpstlichen Armee, trugen Verantwortung im aufblühenden katholischen Vereinswesen und setzten sich während des „Kulturkampfes“ immer wieder für bedrängte Geistliche ein. Sie imaginierten sich als „Milites christiani“ und hatten die „Entscheidungsschlacht“ der Menschheit12 zwischen „christliche[r] Cultur […] und Barba­ rei“,13 zwischen „Christenthum und moderne[m] Heidenthum“, zwischen der Kirche und den „Mächte[n] der Finsterniß“14 ausgerufen. In ihrem Engagement für die katholische Sache scheuten sie weder Ämterentzug noch Haft15. II. Die standesbezogenen Prämissen Seit jeher wurden adelige Kinder in besonderer Weise als „Garanten der Familienkontinuität“16 betrachtet und waren damit einer Besitzwahrungslogik ausgesetzt, die eine Ungleichbehandlung von Söhnen und Töchtern, aber häufig auch von erst- und nachgeborenen Jungen implizierte. Eine freie Berufswahl gab es nicht. Aus Gründen der Exklusivität oder zum Zweck der Güterzentrierung war häufig lediglich der älteste Sohn heirats- und vor allem erbberechtigt; die nachgeborenen Kinder hatten Verzicht zu üben; eine nichtheiratende Tochter war zum oft kargen Leben im Damenstift oder im „Tantenflügel“ des Familienbesitzes verurteilt17. Wurde einem Fideikommissbe11  Die Materialien habe ich im Kontext meiner Habilitation recherchiert, s. Raasch, Zentrumspartei. 12  von Radziwill, S. 500. 13  Friedrich von Praschma, in: Verhandlungen der Generalversammlung der katholischen Vereine / der Katholiken Deutschlands 1848 bis 1890, hier 1876, S. 66. 14  Zit. nach Schmidt, S. 32; von Radziwill, S. 394, 508. 15  Z. B. Urteil vom 15.11.1873 gegen Ehrenamtsmann Droste-Vischering, in: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, Münster (LNRWM), Landsberg-Velen (Dep.), 23045; Prozessakten, in: Archiwum Państwowe w Opolu, Gräf­ liches Praschmasches Schlossarchiv Falkenberg 111. 16  Conze, S. 290. 17  Kubrova, S. 335–378; zum Kontext s. Singer.

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sitzer kein Sohn geboren, war das Klagen über diese „schmerzliche Tatsache“ noch ein Säkulum später groß.18 Andererseits bekamen nicht wenige Nachgeborene vom Vater zu hören: „Ich kann Dir die Mittel zu einem eigenen Besitz oder einer Pachtung nicht gewähren.“19 Im 19. Jahrhundert verschärften sich die äußeren Zwänge durch den fortschreitenden Abbau von Herrschaftsrechten und die ob des Aufstiegs des Bürgertums eingeschränkten Karrieremöglichkeiten in Militär und Staatsdienst. Auch die Bedingungen auf dem Heiratsmarkt gestalteten sich zumal für weniger wohlhabende Adelige immer schwieriger. Viele adelige Familien hatten große Besitzverluste und massive Finanzprobleme zu beklagen. So wurden verstärkt Nebenlinien ohne Grundbesitz geschaffen; der landferne, grundbesitzlose Adel wuchs; das Adelsproletariat vergrößerte sich wesentlich.20 Die sozioökonomischen Umbrüche ließen in Erziehungsfragen mehr denn je funktionalistisches Denken obwalten. Um die Familien- und Besitzkontinuität zu sichern und zusehends gefährdete Herrschaftspositionen zu wahren, mussten Kinder ihre individuellen Begehrlichkeiten noch nachdrücklicher familiären Erfordernissen unterwerfen und Erziehung sollte sie darauf vorbereiten. Mehr als je zuvor besaß eine Erziehungsinstruktion des Franz Theodor von Fürstenberg aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebensweltliche Relevanz: Wenn einer fünf Töchter, wenn einer sechs Söhne hat, so fraget nicht, daß er gleich alle verheiratet haben möchte. Er würde gern […] den größten Teil seiner selbigen Kinder […] unverheiratet […] sehen; wie will er selbiges aber zuwege bringen, wenn er nicht eine sichere Ruhe, eine sichere Andacht ein eingezogenes (Leben) von Anfang an in seinem Hause, im selbigen seinen Kindern christlich einbaut.21

Ausfluss der äußeren Zwänge war also eine verstärkte Frömmigkeitserziehung, indes auch der Umstand, dass preußische Kleinadelige ihre Söhne – wenn möglich – noch frühzeitiger in Kadettenanstalten schickten, weil das Geld häufig nicht für eine Hauslehrer-Erziehung ausreichte.22 Der Bedarf an Damenstiften manifestierte sich in etwa 90 Einrichtungen, die noch Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet des Deutschen Kaiserreichs bestanden.23 Die zunehmende adelige Gründung von Privatschulen und Mädchenpensionaten, vor allem aber von Familienverbänden und Adelsvereinen zeugte von den Bemühungen um inneradelige Solidarität in schwierigen Zeiten. Deren der Bernstorff, zit. nach Conze, S. 292. von Bernstorff an Gottlieb von Bernstorff, 23.8.1889, zit. nach Conze,

18  Familienchronik

19  Joachim

S. 294. 20  Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 11. 21  Franz Theodor von Fürstenberg, 20.10.1743, zit. nach Reif, Westfälischer Adel, S. 134. 22  Schlumbohm, S. 169. 23  Kubrova, S. 337.



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Tätigkeit bestand mithin unter anderem in der Zahlung von Erziehungsbeihilfen. Auch für die 92 untersuchten katholischen Adelsfamilien spielte die Erbproblematik eine große Rolle. Zudem hatten sie nicht unwesentlich unter dem Untergang der „Germania Sacra“ zu leiden, der unter anderem eine Auffüllung der Domkapitel durch nachgeborene Adelige unmöglich machte. Ihre Kapitalien nahmen sich allerdings dennoch beachtlich aus: Zweifelsohne gab es einige Familien mit beträchtlichen finanziellen Schwierigkeiten24, in Relation mussten die katholischen Adeligen jedoch als ökonomisch ausgesprochen potent angesehen werden. Unter ihnen gab es etliche Vermögensmillionäre und viele wohlsituierte Beamte, die beispielsweise eine beacht­ liche Karriere im diplomatischen Dienst durchlaufen hatten. Einige schlesische Gutsbesitzer waren eng mit der regionalen Montanindustrie verbunden und gehörten zu den reichsten Männern Preußens. Wenngleich der hohe Adel unter den untersuchten Familien deutlich in der Minderheit war (es gab einen Fürsten, einen Prinzen, 32 Grafen, 38 Freiherren und 19 einfache Adelige), fiel deren Sozialkapital durchaus hoch aus. Es fußte vornehmlich auf dem Traditionsreichtum der Familien und offenbarte sich in eng und breit geknüpften Netzwerken – insbesondere mit Standesgenossen und Geistlichen. Häufig bestanden freundschaftliche Bande mit Bischöfen und auch die Kontakte zur Kurie waren derart gut, dass einige Adelige dem Papst in persönlichen Audienzen begegneten25. Die Netzwerke in 24  Ein Beispiel bietet Peter Carl Freiherr von Aretin, der in Niederbayern knapp 1.500 Hektar Land nebst zwei Brauhäusern und einer Mühle besaß. Seine Vermögenslage gestaltete sich zu Beginn der 1880er-Jahre überaus schwierig, die Erträge waren deutlich im Fallen begriffen, der Schuldenstand wuchs. Es schien offenkundig, dass Carl von Aretin „kein Geld hat und in den letzten Jahren sogar vom Kapital gezehrt hat“. Die Söhne führten in Anbetracht dieser Situation heftigste Klage und forderten eine rationalere Wirtschaftsführung: „Die ganze Kunst einer guten Wirtschaft liegt darin, in Allem und Jedem nur seinen Vortheil im Auge zu haben, und das geschieht bei uns leider nicht. Er [Peter Carl] war [..] und ist es heute noch der edel denkende, milde Gutsherr, der Leuten Glauben schenkt. Daß geht heute nicht mehr [..]“ (Ein Sohn von Carl von Aretin an Maximilian Freiherr von Soden, 23.4.1883, in: Verlobungsanzeige, 31.5.1869, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA München), Familienarchiv (FA) Aretin, Carl von 49 / 34). Ein anderes Beispiel ist Hermann von Mallinckrodt. Nach seinem Tod wurde offenkundig, wie hoch verschuldet er war. Die Schuldenmasse, „welche dem Verstorbenen fast ausschließlich bei Übernahme der Güter von seinen Verwandten überkommen war“, betrug ca. 100.000 Taler. Es war lediglich dem Einsatz von vornehmlich westfälischen Standesgenossen zu verdanken, „daß die Summe durch Subskription in den Kreisen des deutschen Adels aufgebracht [wurde], um als eine Familienstiftung den Nachkommen“ Mallinckrodts übergeben werden zu können (An Carl von Aretin, 31.7.1874, in: BayHStA München, FA Aretin, Carl von 49 / 32). 25  Raasch, Männlichkeit, S. 148.

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das bayerische Königshaus erschienen exzellent26 und vereinzelt bestanden auch hervorragende Verbindungen zur preußischen Staatsspitze: Der schlesische Graf Julius Cäsar von Nayhauß-Cormons besaß beispielsweise als ehemaliger Rittmeister des Leib-Husarenregiments „Königin Victoria von Preußen“ eine derart persönliche Bindung zu Wilhelm I., dass dieser die Patenschaft für Nayhauß’ ältesten Sohn übernahm.27 Freundschaftlichen Kontakt pflegten seit den 1850er Jahren Otto von Bismarck und Ignatz Freiherr von Landsberg-Velen zu Steinfurt.28 Karl Friedrich von Savigny wäre um ein Haar preußischer Ministerpräsident geworden.29 Das kulturelle Portfolio der untersuchten Adelsfamilien war trotz aller gegenläufigen Entwicklungen stark durch Herrschaftserfahrungen gekennzeichnet. Immerhin fast zwei Drittel von ihnen firmierten als Gutsbesitzer, etliche verfügten über riesige Ländereien. Es gilt zu bedenken, dass Standesherren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges privilegiert blieben. Der gutsbesitzende Adelige fungierte oftmals als Patronatsherr, in Preußen blieb er bis zur Einführung der neuen preußischen Kreisordnung im Jahr 1872 Ortsobrigkeit samt niederer Polizeigewalt und Aufsicht über das Schulwesen, in den süddeutschen Parlamentskammern war er in markanter Weise überrepräsentiert. Die ländliche Hierarchie blieb auf die adelige Grundbesitzerfamilie zugeschnitten. Die herrschaftliche Stellung des Gutsherren zeigte sich in repräsentativen Wohnhäusern, seiner Funktion als wichtig(st)er Arbeitgeber am Platze, in Anredeformeln („Euer Hochgeboren“), in exponierten Kirchenplätzen und dem Jagdprivileg. Adelige Familienerlebnisse wie Hochzeiten oder Beerdigungen waren zugleich Hochereignisse der Dorfgemeinschaft, bei örtlichen Festen stand die adelige Familie im Fokus: Bei Kirchenfesten wie Fronleichnam oder Erntedank erfüllten die adeligen Kinder zum Beispiel Ehrendienste und streuten Blumen oder trugen das Weihrauchfass. Der Gutsherr und seine Kinder, mitunter in „große[r] Gala mit allen Orden und Ehrenzeichen“, bildeten bei Umzügen den Mittelpunkt, indem sie mit ihrer gesamten Dienerschaft den Kirchenfahnen, dem Kreuz der Gemeinde und den Gemeindegliedern voranschritten.30 Adelige Herrschaft war freilich nicht nur auf das Land bezogen, denn auch in Städten wie Breslau, Münster oder Freiburg besaßen einige Adelige eindrucksvolle Palais, waren sie tragender Teil des gesellschaftlichen Lebens. Oft besuchten sie mit ihrer Familie Feste, Bälle und Konzerte, die Ehefrau in „prachtvoll[er] Robe“, die Töchter in

26  Raasch,

Zentrumspartei, S. 137–139. Nayhauß-Cormons, S. 28. 28  von Poschinger, S. 177. 29  Zu ihm s. Real. 30  Tagebuch (TG) von Franz Graf von Ballestrem, 23.8.1886, 27.6.1886. 27  von



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weißen Kleidern, die Männer in Uniform.31 Adelige Kinder hatten für gewöhnlich kaum Kontakt mit Gleichaltrigen aus anderen sozialen Schichten. III. Grundsätze Als selbsternannte „milites christiani“ sahen sich viele der untersuchten Adeligen einem neuthomistischen Weltbild verpflichtet.32 Der Mensch war für sie göttliches Geschöpf und als solches Person,33 d. h. einmaliges Individuum, aber auch Du- und Wir-Wesen. Kraft seiner Gottähnlichkeit („Imago Dei“) war er zum einen ein „für sich bestehendes vernünftiges Einzelwesen, das sich selbst zum Handeln bestimmen kann“34, zum anderen galt er als zur Gemeinschaftsbildung geboren und zum Einsatz für den Nächsten sowie zur Verantwortung für die Welt berufen. Aus Perspektive glaubenstreuer Katholiken lag sein eigentliches Ziel im Jenseits und das irdische Dasein diente vor allem der Erlangung des nötigen Seelenheils. Daher oblag es dem Christenmenschen, Gottes Auftrag anzunehmen, die dafür nötige persönliche (Willens-)Freiheit des Einzelnen zu schützen und zugleich mit aller Kraft nach dem Glück aller Menschen („bonum commune“) zu streben. Die Gesellschaft wurde dabei organisch und konzentrisch aufgebaut imaginiert; den innersten Ring bildete die Familie: Sie erschien als „die erste und wichtigste Stufe im ganzen gesellschaftlichen Organismus der Menschheit“,35 „die grundlegende Kraft zum beseelten Aufbau aller Gemeinschaften“36, ja „das heilige Gefäß, aus dem die bessere Nachwelt hervorgeht“37. Größter Feind eines intakten Gesellschaftskörpers war für den glaubenstreuen Katholiken in Konsequenz die Absage an ein personalisiertes Menschenbild, also „der Geist des vom Christenthum und seinen Geboten getrennten menschlichen Egoismus. Dieser Egoismus, der sich selbst von Gott trennt, trennt mit Nothwendigkeit auch den Menschen vom Menschen, und muß somit jeden Organismus zerstören“.38 Seinen Urgrund hatte er angeblich im ersten Sündenfall, d. h. durch die „schwere Sünde des Stolzes und des 31  TG

Ballestrem, 11.9.1890. alle Adeligen äußerten sich in dieser Weise. Aber ihr Anteil an Standesund katholischen Vereinen, die entsprechende Lehren hochhielten und verbreiteten, war sehr hoch. Abweichende oder gar ablehnende Haltungen sind bei den untersuchten Adeligen nicht feststellbar. 33  Zum christlichen Menschenbild s. z. B. Grebing, S.  606 ff. 34  Cathrein. 35  von Ketteler, S. 300. 36  Lenhart, S. 27. 37  Seeger, S. 13. 38  Stenografische Berichte des Reichstages, 22. Sitzung, 16.4.1877. 32  Nicht

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Ungehorsams“39 gegen Gott durch Adam und Eva im Paradies: „Man wollte mit eigenen Augen erkennen, wollte durch Erfahrung erproben und erleben, und so hat man zu verkosten bekommen, wie das Böse sich vom Guten unterscheide.“40 Durch das Sakrament der Taufe werden dem Menschen zwar die Sünden vergeben, aber die Verantwortung zum gottgefälligen Leben bleibt bestehen, die Erlösung im Jenseits erscheint keineswegs sicher: Wohl tilgt die heilige Taufe die Erbsünde; die bösen und verkehrten Wurzeln aber, welche die Sünde einsenkt, sind damit noch keineswegs entfernt. Der niedere, vernunftlose Bestandtheil […] ringt mit der Vernunft um die Herrschaft, bringt alle Seelenkräfte in Verwirrung und wendet den Willen so mächtig und gewaltsam von der Tugend ab, daß wir weder das Laster fliehen noch unsere Pflicht erfüllen können, wenn wir nicht täglich ihn bekämpfen.41

Der gemeinschaftszersetzende Egoismus zeigte sich nach Vorstellung glaubenstreuer Katholiken einerseits in den Verfehlungen einzelner. So hätten selbst viele katholische Adelige in der Vergangenheit der „Gottesfurcht“, den damit verbundenen Obligationen und namentlich der selbstlosen Sorge um das Gemeinwohl abgeschworen.42 Andererseits standen die politischen Entwicklungen der Gegenwart im Fokus der Kritik: Vorneweg der moderne Liberalismus beziehungsweise sein staatsrechtliches Derivat, der moderne ­ Konstitutionalismus. Durch ihn obwalteten in katholischen Augen im öffentlichen Leben allerorten „Materialismus und Egoismus“43, da sich „an die Stelle des christlichen Staates […] der vom modernen Liberalismus erfundene Staat [dränge], der Staat ohne Glaube, ohne Religion, […] der alle beherrschende, Alles verschlingende absolute moderne Staat.“44 Erste und zweite Ebene ließen sich freilich nach katholischem Verständnis nicht trennen, da sich gesellschaftliche Fehlentwicklungen als „Aufhäufung und Zusammenballung vieler personaler Sünden“ begreifen ließen45. So insistierten glaubenstreue Katholiken beispielsweise, dass „die sociale Frage […] nicht bloß eine Magenfrage“ sei.46 Eine materielle Besserstellung der Arbeiterschaft wurde als wichtig, aber in keinem Fall als ausreichend erachtet: „alle 39  Gen

3,1–24. S. 18. 41  Leo XIII, Enzyklika Exeunte iam anno, 25.12.1888, zit. nach Krieg, S. 30. 42  Der katholische Adel Westfalens. Gedanken über Gegenwart und Zukunft desselben (Schorlemer-Alst, 1866), in: Archivamt des Landschaftsverbandes WestfalenLippe, Münster (LVWLM), Archiv Herringhausen C 323; Statuten der Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern, München 1876, in: BayHsta München, FA Aretin, Carl von 49 / 31. 43  O. A., Die Deutsche Adelsgenossenschaft, S. 7. 44  Felix von Loë, in: Verhandlungen der Generalversammlung, 1868, S. 91. 45  Rauscher, S.  12 f. 46  Burghard von Schorlemer-Alst, in: Verhandlungen der Generalversammlung, 1885, S. 125. 40  Adrian,



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nur denkbaren wirthschaftlichen und politischen Maßregeln würden eine dauernde und fundamentale Änderung der thatsächlichen socialen Misere nicht zu bewirken vermögen, wenn sie nicht begleitet werden von einer ­moralischen Hebung der Bevölkerung“. Das Bemühen um eine rein positivistische Lösung sozialer Fehlentwicklungen musste nach neuthomistischer ­Auffassung zwangsläufig scheitern und den gesellschaftlichen Verfall weiter vorantreiben, weil es verkannte, dass „der schrankenlose Egoismus“ den ­ „wahre[n] Grund des allgemeinen Unbehagens“ bilde.47 Nachhaltige Ver­ besserung könne demgegenüber nur von der „Wurzel der menschlichen Gesellschaft“48 ausgehen: der Familie. So groß die Herausforderungen der Zeit anmuteten, so zentral war in diesem Sinne eine konsequente Erziehung zur Glaubenstreue – und zwar vor allem innerhalb der Familie, die als „von Gott gegründete, erste und notwendigste Erziehungsanstalt“49 imaginiert wurde. Denn „je tiefere Wurzeln die Tugend in einer Familie gefaßt, je sorgfältiger die Gemüter der Kinder durch Wort und Beispiel der Eltern in den Vorschriften der Religion erzogen wurden, um so reichere Früchte werden auf das Gemeinwesen überströmen“50. Die katholische Lehre war sich folglich der politischen Dimension von Erziehung vollauf bewusst („einen nicht geringen Antheil an den traurigen Zuständen der Gegenwart […] tragen die vielen schlecht erzogenen Kinder“51), entschieden verneinte sie allerdings einen schlichten Utilitarismus oder gar Zwang. Prinzipiell bedeutete Erziehung aus katholischer Sicht „jene Entwicklung und Fortbildung der menschlichen Kräfte, die sich die Natur nicht selber geben kann“.52 Sie hatte die ganzheitliche Aufgabe, „alle physischen, intellectuellen, moralischen und religiösen Fähigkeiten […] des Kindes […] zu pflegen, zu üben, zu entwickeln, zu kräftigen und zu verfeinern.“ Stets sollten alle Ebenen Berücksichtigung finden, denn „wenn eine davon fehlt, so ist das Werk unvollständig; die Natur und die Menschenwürde sind schwer verletzt“.53 Jedoch war der Primat der Religion nicht zu leugnen: Religion „ist die Grundlage und der Mittelpunkt der ganzen sittlichen Erziehung.“54 Sie wirkt dort als „ein Mittel, welches alle anderen Mittel durchdringt, unterstützt, erhellt, behebt.“55 Erziehung konnte in Konsequenz lediglich ein doppeltes Ziel haben: Zunächst ging von Gruben, zit. nach Sitta, S. 67, 80. S. 6. 49  Fugger, S. 30. 50  Leo XIII., zit. nach Cathrein, S.  426 f. 51  Sickinger, S.  4 f. 52  Seeger, S. 13. 53  Dupanloup, S. 2. 54  Cathrein, S. 418. 55  Dupanloup, S. 119. 47  Franz

48  Fugger,

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es um ein irdisches Leben, das dem Gedanken des Gemeinwohls verpflichtet war. Jedes Kind sollte „befähigt werden, später selbstständig geworden, [sein] standesgemäßes Fortkommen in der Welt zu finden“56 und „seinem Vaterlande in den verschiedensten socialen Funktionen, zu denen ihn dasselbe berufen wird, […] dienen [zu können]“. In Interdependenz dazu musste das Interesse auf einer höheren Ebene dem Jenseits gelten. Erziehung hatte „durch die Veredelung und Verklärung des gegenwärtigen Lebens auf das ewige Leben vorzubereiten“.57 Die Erziehung des Kindes sollte früh beginnen, um der menschlichen Veranlagung zu sündhaftem Verhalten entgegenzuwirken: „Geschieht dies nicht, so schießen statt dessen seine Begierden und Leidenschaften, die als Folgen der Erbsünde sich geltend machen, gar üppig ins Kraut“.58 Die natürliche Zwitterhaftigkeit des Kindes hatte den Eltern als Verpflichtung zu gelten: In jedem Kinde steckt sozusagen ein Engel und ein Teufel. Die Anlage zu diesem bringt es in der Erbsünde mit auf die Welt; die Anlage zu einem Engel legt Gott durch die Taufe in dasselbe hinein. Ihr habt die heilige und entscheidende Pflicht, die Anlage für die Hölle auszurotten, die für den Himmel hervorzubilden.59

Hauptverantwortlich für die erste Sozialisationsphase zeichnete im Sinne des bürgerlichen Erziehungsideals die Mutter,60 freilich war ihre Aufgabe deutlich anders akzentuiert: „Nur wenn eine Mutter ihre Kinder fähig macht, für die Zeit und Ewigkeit ihre Bestimmung zu erreichen, hat sie die Pflicht einer guten Erziehung erfüllt“.61 Entsprechend sollte sie laut katholischen Erziehungsratgebern schon die Kleinstkinder „von Zeit zu Zeit vor ein Kruzifix oder Marienbild bringen, um mit ihnen von der Liebe Jesu und Marias zu sprechen und sie in ihrer Weise schon anzuspornen, Jesus und Maria wieder zu lieben.“62 Die Kinder waren morgens und abends mit Weihwasser zu segnen und die Mutter sollte immer wieder kurze Gebete mit dem Kind sprechen.63 Die etwas älteren Kinder hatten das Alte und Neue Testament kennenzulernen und über das Leben der Mutter Gottes und der Heiligen belehrt zu werden. Frühzeitig war der Gottesdienst zu besuchen. Die Kinder sollten zur Wahrhaftigkeit erzogen werden, „weil Gott die Lüge verhaßt ist, weil jede Lüge vor ihm eine Sünde ist“. „Durchtriebene Lügner [schienen] zu allen Schlechtigkeiten fähig: Niemand wird ein Betrü56  Cathrein,

S. 415. S. 2. 58  Huber, S. 91. 59  Becker, S.  131 f. 60  s. dazu z. B. Schütze. 61  Huber, S. 95. 62  Huber, S. 93. 63  Huber, S. 93. 57  Dupanloup,



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ger, ein Dieb oder Meineidiger, wenn er’s Lügen nicht gründlich gelernt hat.“64 Hinzu kamen im Sinne antiegoistischen Denkens das Entsagungspostulat und das Narrativ der vorbereitenden Abhärtung. Katholische Pädagogen mahnten: „Hütet sie vorzüglich vor Allem, was der Weichlichkeit nahe kommt. Nichts bereitet mehr die Leidenschaft des Zorns vor, als eine ver­ zärtelnde und weibische Erziehung.“65 Das Kind sollte Genügsamkeit lernen, damit „sein Wille gestählt und gekräftigt wird, und es so den Lockungen und Reizen leichter wiederstehen kann“.66 Einer der wichtigsten katholischen Erziehungstheoretiker fragte spöttisch: „Was wird aus einem Kinde werden, dem man nie Etwas verweigert, dessen Mutter ihm fortwährend die Thränen abgetrocknet […] hat.“67 Dem Patriarchalismus eines organisch-naturrechtlichen Weltverständnisses entsprechend verstand die katholische Lehre Erziehung als ein Abbild des Gott-Mensch-Verhältnisses. Gottgefällige Erziehung sollte daher auf „Hingebung […] Güte, [und] väterliche[r] Liebe“68 gründen. Als „erste Pflicht der Eltern und zugleich der eigentliche Grund und Inhalt aller übrigen Pflichten“ wurde die Liebe betrachtet69. Liebe war dabei mehrfach dimensioniert und stellte das Gegenteil von „Dressur“70 dar. Zunächst bedeutete sie empathische Fürsorge. Die Eltern sollten „die Fehler ihrer Kinder mit Geduld ertragen“, stets „mit Sanftmut und Ernst“ operieren und „niemals von einem Kinde mehr fordern, als es zu lernen fähig ist“.71 Sie waren aufgefordert, Anteil an den kindlichen Nöten zu nehmen und auch vor Zärtlichkeiten nicht zurückzuschrecken. In zweiter Linie hatte die wachsame Fürsorge zum Tragen zu kommen. Verlangt waren „allseitige und stete Wachsamkeit gegenüber den inneren und äußeren Gefahren, welche […] die Welt und Satan bereiten“.72 Eltern sollten beispielsweise Sorge tragen, „daß die Kinder weder im Hause noch außer dem Hause verführt werden“, und niemals dürften sie „[ihre] Kinder ohne Wahl einer Kameradschaft anvertrauen“.73 Auf einer dritten Ebene machte die Liebe zu den Kindern angeblich gottgefällige Strenge unabdingbar. Schon die Bibel74 habe mithin gelehrt, dass „jene El64  O.

A., Familienglück, S. 56, 34. S. 63. 66  O. A., Familienglück, S. 41. 67  Dupanloup, S. 63. 68  Dupanloup, S. 8. 69  Königsdorfer, S. 7. 70  Glantschnig. 71  Königsdorfer, S. 11, 87. 72  Becker, S. 201. 73  Königsdorfer, S. 49, 57. 74  Gängige Belegstellen sind: „Erspar dem Knaben die Züchtigung nicht; wenn du ihn schlägst mit dem Stock, wird er nicht sterben. Du schlägst ihn mit dem Stock, 65  Dupanloup,

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tern, die ihren Kindern alle Fehler nachsehen und alles Böse ungestraft hingehen lassen, […] es nicht gut [meinen] 1) mit Gott […] 2) mit ihren Kindern […] 3) mit sich selbst“.75 Das Seelenheil von Kindern und Eltern könne in Gefahr geraten und deshalb firmierte eine nachlässige Haltung als „bedenk­ liche Unterlassungssünde“.76 Gehorsamkeit galt in der Konsequenz als zentrale Tugend – zum Wohle des Kindes, der eigenen Familie und der Gesellschaft. So gehorsam sich die Eltern in ihrer Fürsorge gegenüber Gott zeigten, so gehorsam sollten Kinder gegenüber ihren Eltern sein. Der Bischof vom Limburg formulierte prägnant: „Ohne Gehorsam und Unterwürfigkeit [kann] weder ein großes noch ein kleines Gemeinwesen, also auch nicht die Familie bestehen.“77 Katholische Theologen und Pädagogen betonten freilich die Freiheit von unrechtmäßiger Bevormundung, die der katholische Glaube biete: Durch […] christliche Auffassung erhält die Autorität unerschütterliche Festigkeit, weil sie nicht auf dem Flugsande des Volkswillens oder überhaupt menschlicher Willkür, sondern auf dem Felsen des göttlichen Willens ruht und uns als eine Teilnahme an der Herrschaft Gottes über uns entgegentritt. Zugleich wird sie dadurch vor eitler Selbstvergötterung und willkürlichem Despotismus gewahrt.

Gehorsam war für den glaubenstreuen Katholiken dementsprechend essentiell, aber nicht blind: „Die Obrigkeit ist Gott für den Gebrauch ihrer Gewalt Rechenschaft schuldig. Diese Gewalt ist auch keine unumschränkte. […] Wenn die Obrigkeit ihre Macht überschreitet, sind wir ihr an und für sich keinen Gehorsam schuldig“.78 Lediglich Eltern, die in ihrem persönlichen Glauben und ihrem Einsatz für das „bonum commune“ unzweifelhaft waren, konnten daher von ihren Kindern frühzeitig fordern, „schnell und pünktlich und ohne Widerrede [zu] gehorchen“.79 Es gab vor diesem Hintergrund ein klares Disziplinierungsgebot, das drei Funktionen umschrieb: Es sollte erstens die Aufrechterhaltung von Regeln gewährleistet werden; dem Regelbruch musste zweitens zuvorgekommen werden; falls er nicht verhindert werden konnte, musste er drittens eine Strafe nach sich ziehen. Genau wie Fürsorge und Wachsamkeit war also bewahrst aber sein Leben vor der Unterwelt“ (Spr 23,13–14); „Rute und Rüge verleihen Weisheit, ein zügelloser Knabe macht seiner Mutter Schande“ (Spr 29,15); „Züchtige deinen Sohn, so wird er dir Verdruss ersparen und deinem Herzen Freude machen“ (Spr 29,17); „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat“ (Hebr 12,6). 75  Königsdorfer, S. 72. 76  Becker, S. 218. 77  Dominikus, Bischof von Limburg, Fastenhirtenbrief, zit. nach Krieg, S. 119. 78  Cathrein, S. 380. 79  O.  A., Familienglück, S. 27. Cathrein schreibt: „Das wichtigste Mittel der sittlichen und religiösen Erziehung [ist] das gute Beispiel der Eltern“ (Cathrein, S. 418).



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Disziplinierung „in der Erziehung so nothwendig, daß ohne sie gar keine Erziehung möglich ist“, ja Zucht firmierte als „die Beschützerin des Glaubens und der Frömmigkeit“. Freilich griff das Züchtigungsgebot nur unter bestimmten Voraussetzungen: Niemals dürften Eltern vergessen, dass das Kind der Mensch selbst, der Inhaber aller Gaben Gottes“, sei, und „Rohheit und Gemeinheit“ an den Tag legen.80 Daher seien diejenigen Eltern zu tadeln, die „gar nicht strafen“, aber „noch weit mehr“ diejenigen, „welche durch Art und Weise der Bestrafung die ganze Familie verderben“.81 Eltern sollten also berechtigten Bitten des Kindes stets nachkommen, aber sich auch vom Widerwillen des Kindes nichts erzwingen lassen. Anordnungen der Eltern hatten überlegt zu erfolgen und vernünftig zu sein, auf Erklärungen sollte verzichtet werden, Gutes ausdrücklich belohnt, Böses ausdrücklich sanktioniert werden, im Extremfall mit Schweigegeboten, Isolation, Nahrungsentzug oder Züchtigung: „Artet die Unzufriedenheit mit euren Befehlen in offene Starrköpfigkeit und in Widersetzlichkeit aus, wirft das Kind die angebotenen Sachen weg oder sich selbst auf die Erde, stampft es zornig mit den Füßchen, so gebt ihm die Ruthe zu fühlen, oder sperrt es ein“.82 Auch wenn ein Kind wiederholt die Unwahrheit sagte, fluchte oder stahl, sollte es „empfindlich gestraft werden“.83 Züchtigung wurde – durchaus in Anlehnung an die Aufklärungspädagogik84 – folglich als erforderliches Übel betrachtet. Es schien klar: „Diejenige Erziehung, bei welcher sich die Strafe am wenigsten nötig macht, ist entschieden die beste.“85 Gleichwohl stellte Achtung vor Autorität aus Sicht katholischer Erziehungsratgeber das Komplementärelement zur Zuwendung dar: „Welche Autorität auf der Welt kann sich aufrecht erhalten, wenn sie nicht sich Achtung und Furcht zu verschaffen weiß? Es ist nothwendig, daß bei dem Kinde der Beweggrund der Furcht die anderen Beweggründe der Liebe und der Pflicht unterstützt und, wo nötig, ersetzt.“86 Auch hier vertraten Eltern angeblich Gott: So gnädig und barmherzig der liebe Himmelsvater gegen uns Menschen ist, so schlägt er doch die Welt als ein heiliger und gerechter Richter mit einer Zuchtruthe, wenn die Leute gar so bös sind. […] Vater und Mutter vertreten bei ihren Kindern die Stelle Gottes auf Erden: Sie müssen also wie Gott, gegen ihre Kinder auch gerechte Richter seyn, und die Kinder mit der Ruthe strafen, wenn Sie Böses thun.87 80  Dupanloup,

S. 134, 97, 23. S. 218. 82  Huber, S. 131. 83  Clericus, S. 112. 84  Glantschnig, S. 112–117. 85  Strobel, S. 70. 86  Boone, S. 67. 87  Königsdorfer, S. 64. 81  Becker,

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Dabei sollte mit Maß und Vernunft gestraft werden, niemals aus Rache oder im Affekt: „Strafe nur dann, wenn es unbedingt nötig ist, und zwar aus Liebe, nicht im Zorn. Das Kind muß durch die Strafe fühlen, daß wir es lieben und deshalb sein Bestes beabsichtigen.“88 Unter keinen Umständen sollte das Kind „vorschnell auf fremde Anschuldigung hin“ sanktioniert werden, es sollte „gebührende Rücksicht auf seine Eigenart“ genommen werden und die Strafe hatte „im rechten Verhältnis zur Schuld des Kindes“ zu stehen. Zudem empfahl die katholische Erziehungslehre, dem Kind „ausgiebige Gelegenheit [zu gewähren], die Angelegenheit von seinem Standpunkte darstellen zu können“.89 Strafe war als ein „Werk der Barmherzigkeit“ zu verstehen, da „der einzige Zweck der Strafe […] die Besserung des Kindes [sei], ihr ächter Beweggrund soll die Liebe zu ihm sein.“90 Körperliche Züchtigung hatte ultima ratio zu sein91 und erst dann zu erfolgen, wenn alle anderen Sanktionsmöglichkeiten ausgeschöpft waren, stets eingedenk des höheren Zwecks einer christlichen Erziehung und in „Trauer über die Notwendig­ keit“.92 Das Schamgefühl des Kindes durfte ebenso wenig verletzt werden wie sein Körper, weswegen katholische Pädagogen Schläge ins Gesicht, mit der Faust, auf den Kopf, mit Pantoffeln oder Peitschen ablehnten und stattdessen solche „auf den Hintern“ empfahlen.93 Die Züchtigung war „eigentlich nur für Knaben“ vorgesehen94, bei einem Kleinkind95 reichte vermeintlich in der Regel die Rute aus, das ältere Kind bedurfte notfalls des Spanischen Rohrs oder des Riemens. In jedem Fall sollte es ein obligatorisches Bestrafungswerkzeug geben, welches das Kind auch als solches kannte. Kein Kind durfte im Knien bestraft werden, da in dieser Haltung gebetet wurde.96 IV. Erziehung und häusliche Gewalt in praxi Die Kluft zwischen Ideal und Praxis erscheint relativ gering. In den untersuchten Familien konnte eine intensive Frömmigkeitserziehung als obligatorisch gelten. Im Regelfall war „das ganze Familienleben […] durchdrungen 88  Strobel,

S. 70. S. 86, 90, 88. 90  Clericus, S. 192. 91  Sickinger, S. 124. 92  Johann Wurth, 1860, zit. nach Malleier, S. 76. 93  Johann Wurth, 1860, zit. nach Malleier, S. 76. 94  Sickinger, S. 124. 95  Gerade kleinere Kinder hatten nach katholischem Verständnis gezüchtigt zu werden, denn man meinte: „Wenn ihr eure Kinder nicht züchtigt, da sie noch klein sind, werden sie sich größer nimmer züchtigen lassen; sie werden wie an Alter so an Bosheit zunehmen“ (Königsdorfer, S. 75). 96  Krieg, S. 139. 89  Becker,



Erziehung und häusliche Gewalt151

von einer tiefreligiösen Gesinnung“97, der kindliche Geist wurde fortwährend „in den reinsten Grundsätzen des Christentums genährt“.98 Die Eltern legten großen Wert auf eine frühestmögliche Taufe, teilweise noch am Tag der Geburt.99 Während die aufgeklärte Bürgerreligion Tendenzen zur Vernachlässigung von konfessionellen Glaubensinhalten und der Kirchendiszi­ plin offenbarte,100 wuchsen die Adelskinder in strenggläubigen Familien auf, in denen der gemeinschaftliche Kirchgang ebenso üblich war wie das täg­ liche Gebet. Undenkbar erschien die in bürgerlichen Familien üblicher werdende Praxis, dass einzelne Familienangehörige gleichsam stellvertretend den Gottesdienst besuchten.101 Von Vorteil war dabei der Umstand, dass viele adelige Herrenhäuser über Hauskapellen, mitunter sogar eine Schlosskirche verfügten. Viele Adelige gingen – oft samt Familie – auf Wallfahrten, betrieben regelmäßig Exerzitien, waren Herz-Jesu-Jünger. Industrieunternehmer­ familien zögerten nicht, ihrer christlichen Religiosität auch in der Namenswahl ihrer Kohle-, Zink- und Erzgruben Ausdruck zu verleihen (sie hießen z. B. „Gottesgnaden“, „Gottessegen“ oder „Heilige drei Könige“).102 Kindern wurde regelmäßig aus der Bibel vorgelesen, sie bekamen an den für den katholischen Glauben so wichtigen Namenstagen Gebetsbücher geschenkt103. Über allem stand das Versprechen „ein wahrer, frommer Katholik zu bleiben und alles zu thun, um unseren Glauben zu mehren.“104 Beständig mahnten Eltern ihre Kinder zu gottgefälligem Verhalten („Widme der Betrachtung Gottes und göttlicher Dinge ein Viertel Stündchen des Tages, suche Dir da seine Größe und Liebe und Dein Nichts vor Augen des Geistes zu bringen“105) und zur Treue gegenüber Kirche und Papst: „Haltet fest am heiligen römischkatholischen Glauben, in dem allein Heil ist, liebet die Kirche, die Braut Jesu Christi und Eure Mutter, und als sicherer Leitstern in allen Versuchungen, Zweifeln oder sonstigen Gefahren diene Euch das Wort: ‚Ubi Petrus ibi ecclesia‘ “.106 97  Der

Westfale, 15.3.1902, zit. nach LVWLM, Archiv Herringhausen C 220. Ketteler, zit. nach Pfülf, S. 6. 99  Böth, S. 119; Siebertz, S. 8. 100  Schulz, S.  8 ff. 101  Schulz, S. 9. 102  Verzeichnis des herrschaftlichen Bergwerksbesitzes, 1893, in: Archiwum Państwowe w Katowicach, 12 / 709 / 85. 103  Böth, S. 119. 104  Hugo Donnersmarck an Bischof Förster, 8.12.1878, in: Archiwum Archidiecezjalne i Biblioteka Kapitulna we Wroclawiu, I. A 22, A 49. 105  Friedrich Leopold zu Stolberg an seinen Sohn, 30.7.1803, zit. nach Reif, Westfälischer Adel, S. 62. 106  Lebensskizze der Eltern Droste-Vischering, II. Teil, S. 139, in: LVWLM, Archiv Darfeld, Droste-Vischering 104. 98  Bischof

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Als oberstes Kriterium für die Anstellung einer Gouvernante oder eines Hauslehrers, die in den meisten Familien die elterliche Erziehung stellvertretend ausübten und ihre Zöglinge auch auf Reisen begleiteten, war eine tiefe katholische Religiosität festgelegt.107 Selbst die Intervention beim Bischof scheuten Eltern nicht, wenn ein tugendhafter Geistlicher für die Erziehung der Kinder gesucht war.108 Der häusliche Religionsunterricht stand gleichsam selbstverständlich im Zentrum des Ausbildungsplans, wobei Bibelkunde eine große Rolle spielte und der Katechismus auswendig gelernt werden musste.109 Fachwissen und analytische Denkformen wurden weitgehend abgelehnt; christliche Charakter- ging vor Wissenserziehung. Selbst Mathematik­ aufgaben konnten in diesem Sinne mittelbar der Verinnerlichung des Gemeinwohlgedankens dienlich sein („Jemand tut eine Erbschaft von 15.000 RT […] 150 RT verteilt er gleich den Armen […]“).110 Eltern erfreuten sich bei einem Kind „an seinem gediegenen Sinn, seinen festen Grundsätzen, ernsten Lebensansichten, und wahrer innerlicher Religiosität und unerschütterlichem Glauben“.111 Um eine „gründlich religiöse Erziehung“ zu gewährleisten,112 schickten etliche Eltern ihre Kinder darüber hinaus auf eine Erziehungsanstalt der ­Jesuiten oder die Ritterakademie in Bedburg oder Liegnitz113, wo „die reli­ giösen Wahrheiten den Zögling überall umgeben, in direkter und indirekter Form an sein Herz und Ohr anschlagen, [und] durch Unterricht wie durch Gewöhnung sein Eigentum werden [sollten].“114 Viele Mütter und Väter waren glücklich, ihr Kind „in solchen Händen zu wissen, durch deren Vermittlung [sie] am sichersten dem Befehle unseres Heilands ‚lasst die Kleinen zu mir kommen‘ glaub[t]e[n] Genüge leisten zu können“.115 Häufig kam es gleichwohl vor, dass sie vor dem Abschied ihren Kindern noch einmal ins Gewissen redeten: „Versäume nie Dein Morgen- und Abendgebet, letztres 107  Reif,

Westfälischer Adel, S.  336 ff. von Franckenstein an Bischof Leonrod, 20.6.1882, in: Diözesanarchiv Eichstätt, NL Leonrod, private Briefe. 109  Bertha von Ballestrem an ihren Mann Carl Wolfgang, 7.7.1842, zit. nach von Ballestrem, S. 6. 110  Reif, Westfälischer Adel, S. 630. 111  Adolf von Droste-Vischering an Dinette von Plettenberg-Lenhausen, 18.9.1846, zit. nach Reif, Westfälischer Adel, S. 340. 112  Adelskonvikt Lemberg an Schlosskaplan von Carl Wolfgang Ballestrem, 28.1.1843, zit. nach von Ballestrem, S. 7. 113  Zur Geschichte der Ritterakademien, die als klassische Erziehungsinstitution des Adels gelten können s. Mainka; Kaske. 114  Zit. nach Reif, Westfälischer Adel, S. 638. 115  Bertha von Ballestrem an ihren Mann, 8.8.1843, zit. nach von Ballestrem, S.  8 f. 108  Georg



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mit kurzer Gewissensforschung, knieend zu verrichten. Gehe alle 4 Wochen regelmäßig zu den H. Sakramenten, und führe darüber Notiz“.116 Beispielhaft für die ausgeprägte Frömmigkeitserziehung steht der Tagesablauf, den der junge Karl Heinrich Fürst zu Löwenstein auf Reisen zu bewältigen hatte: Er stand um 05:15 Uhr auf und ging mit seiner Tante zunächst in die Roratemesse. Danach standen noch vor dem Frühstück Aufsätze über religiöse Themen auf dem Programm. Von 07:30 bis 08:30 Uhr wurde er in Naturrecht unterrichtet, dann durfte er spazieren gehen oder allein arbeiten. Es folgte abermals das Thema Aufsatz, anschließend das Gabelfrühstück („déjeuner à la fourchette“), ein Spaziergang oder Selbstarbeit, dann Latein und Französisch und zwischendurch das gemeinsame Lesen mit der Tante (vorzugsweise katholische Zeitungen, Memoiren, etc.). Um sieben Uhr abends gab es Diner und anschließend vor dem Zubettgehen stand abermals Lektüre katholischer Zeitungen auf dem Programm.117 Neben der Frömmigkeitserziehung prägten den Alltag der untersuchten Eltern-Kind-Beziehungen in beträchtlichem Maße Intimität, liebevolle Fürsorge und Zärtlichkeit. Zweifelsohne ging die Nähe zum Kind nicht so weit, dass grundsätzlich auf Ammen verzichtet wurde.118 Die meisten Eltern duzten sich aber mit ihren Kindern und auch etliche derjenigen, die es nicht taten, lasen ihnen vor, spielten mit ihnen und vergaben Kose- und Spitz­namen. Sie sorgten sich um kindgerechte Spielsachen (zu den klassischen Puppen, Schellen, Trommeln, Spielkarten, Steckenpferden, Uniformen und Waffen gesellten sich Bauklötze, Ritterburgen, geschnitzte oder gegossene Figuren jeglicher Art, vor allem Zinnsoldaten sowie Bauernhöfe mit Tieren119) und legten Wert auf Kleidung, die vor allem bequem und gesund sein sollte120. Die Geburtstage der Kinder bildeten für die Eltern Hochereignisse, denen sie nur im Ausnahmefall und unter größtem Bedauern nicht beiwohnten.121 Zuwendungsbekundungen kamen häufig vor, Stimmungen und Gefühle wurden relativ offen artikuliert. Löwensteins Vater beispielsweise versicherte seinem vierjährigen Sohn unverblümt: „Ich habe Dich so lieb und denke so viel an Dich“.122 Die Mutter des Franz Graf von Ballestrem beteuerte ihrem „lieben an seinen Sohn Clemens, 5.10.1872, zit. nach Büld, S.  38 f. S. 24. 118  Böth, S. 118. 119  Reif, Westfälischer Adel, S. 591. 120  Franz von Ballestrem an seine Tante Elisabeth, 11.9.1845, zit. nach von Ballestrem, S. 10; Bertha von Ballestrem an ihren Mann Carl Wolfgang, 8.8.1843, zit. nach von Ballestrem, S.  7 f. 121  Franz von und zu Bodman an seinen Sohn Othmar, 10.5.1878, in: Gräflich Bodmansches Archiv, Bodman (GBAB), A 2160. 122  Constantin von Löwenstein an Karl von Löwenstein, 14.7.1838, zit. nach Siebertz, S.10. 116  Schorlemer-Alst 117  Siebertz,

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Herzenssohn“ immer wieder offensiv ihre Zuneigung: „Mein geliebtes Franzel, zwar wollte ich Dir heut eigentlich nicht schreiben, aber ich kann es nicht übers Herz bringen, Dir nicht wenigstens zu sagen, daß ich Dich in Gedanken tausendmal an mein Herz drücke […] der Vater schließt mit mir zugleich Dich in die Arme“.123 Ballestrem scheute sich konsequenterweise seinen Eltern gegenüber nicht, Gefühle kundzutun und Schwächen einzugestehen: „Was für Gefühle ich empfand, als der Vaterle mich verlassen hatte […]. Ich weinte zwar sehr, doch die frohe Hoffnung des baldigen Wieder­ sehens erheiterte mich ein wenig.“124 Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler sparte gegenüber seiner Schwester nicht an Lob für die Mutter: „ein liebevolleres Mutterherz wie das ihrige ist gewiß auf Erden nicht zu finden, und ich fühle es immer in meinem Herzen, wie es ihre große Liebe ist, mit der sie uns alle durchdringt, und wodurch wir so innig unter einander verbunden sind.“125 In Korrespondenzen berichteten Kinder teilweise so ausführlich von ihrem Alltag, dass mitnichten behauptet werden kann, es hätte im Adel kein „entwickeltes emotionales Bezugssystem zwischen Eltern und Kindern“126 gegeben. Vater und Mutter wussten oft „sehr wohl von den täglichen kleineren oder größeren Sorgen ihrer Kinder“127. Die Mutter des späteren Mainzer Bischofs betonte ihrem Sohn Wilderich gegenüber ganz offensiv: Wie kannst Du mein Herzensjunge glauben, daß ich was dagegen hätte, oder es wäre mir nicht recht, wenn Du mir recht schreibst, wie es dir ums Herz ist. […] Du kannst mir keine größere Freude machen als wenn Du mir so schreibst, denn nicht allein Mutter von Euch möchte ich sein, sondern auch eine Euch herzlich liebende Freundin.128

Offenheit im Miteinander wurde großgeschrieben, Eltern wie Kinder bemühten sich zumindest um gegenseitige Seelenerkundung. In ihrem Tagebuch schrieb die Fürstin Amalie von Gallitzin über ihren Sohn: Mit dem Mitri gelangte ich auch nach vielem Ringen […] zu einigen der seligsten Stunden der zutraulichen Ganzheit und Offenheit, die ich in meinem Leben genossen hatte. […] Ineinander verschlungen, sprachen wir vieles von den Freuden der Unschuld und dem Leiden des Lasters. Ich erzählte […] von meinem Leiden bei Hof […], von meiner Heirat usw.129 123  Bertha von Ballestrem an ihren Sohn Franz, 12.7.1843, zit. nach von Balles­ trem, S. 8. 124  Franz Ballestrem an seinen Vater, 5.5.1844, zit. nach von Ballestrem, S.  9 f. 125  Wilhelm Emmanuel von Ketteler an seine Schwester, 30.7.1842, zit. nach Pfülf, S. 7. 126  Weber-Kellermann, S. 111. 127  Schlumbohm, S. 167. 128  Clementine an Wilderich von Ketteler, 14.12.1824, zit. nach Pfülf, S. 7. 129  Tagebuch der Fürstin Gallitzin, zit. nach Reif, Westfälischer Adel, S. 620.



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Zweifelsohne bildete die Mutter das „Zentrum eines emotional bestimmten Familiengeschehens“.130 Während „der passionierte Vater“ der Aufklärung131 in bürgerlichen Familien im Verlaufe des 19. Jahrhunderts allerdings weitgehend verloren ging und häufig als „kühl“ und „distanziert“ geschildert wurde132, tat sich der katholische Adelige auch in praxi als aktiver Vater hervor. Er machte sich Gedanken über kindgerechte Lektüre und Spielmög­ lichkeiten,133 nahm regen Anteil am Zahnwuchs des Kindes, unternahm mit ihm regelmäßig Ausflüge, fuhr Schlitten, badete es und bekochte es.134 Prinzipiell korrespondierte der abwesende Vater intensiv mit seiner Familie und war an den Belangen der Kleinen – unabhängig von ihrem Geschlecht – immer interessiert. Viele Väter waren ihren Kindern der „liebste Papa“135, sodass sie keinesfalls „in einer den Kindern weitgehend verschlossenen Welt [lebten] und […] nur als oberste Instanz auf den Plan“ traten136. Gegenüber den Kindern gaben sich Väter oder sie vertretende Großväter fürsorglichmahnend, wobei sie klar oder latent bestimmte Leistungserwartungen formulierten und mit dementsprechender operanter Konditionierung arbeiten: Zuneigung zu artikulieren war das Eine („Adieu, mein guter Kerl, ich habe Dich recht lieb“), die vorsichtige Rüge das Andere: „Es betrübt mich […] daß Du nicht folgsam bist. Wenn das Bad Dir auch Freude macht, so mußt Du doch gleich heraus, wenn [das Kindermädchen] es Dir sagt.“ Darüber hinaus wurde mittelbar Druck ausgeübt, an vermeintlich positive Eigenschaften appelliert und eine Belohnung für konformes Verhalten, etwa die Teilnahme an einer Jagd, in Aussicht gestellt: „Deine Schrift ist noch nicht so schön, wie die Schrift unserer lieben Ada, aber es wird noch kommen, mein guter Karl, denn du bist ein gutes und fleißiges Kind“; „Hoffentlich wirst Du gute Fortschritte im Französischen mit der guten Tante gemacht haben, und dann werden wir bald unseren Hirsch erlegen können. Vergesse ja nicht da­ rauf, guter Kerl“; „Ich bin überzeugt, daß Du recht brav bist […]“.137 Komplementär zu den verschiedenen Arten der Fürsorge stand jedoch die Strenge. Bezeichnenderweise war der Vater Bischof Kettelers längst gestorben, als „nur immer von ihm als einem strengen Mann erzählt [wurde] in 130  Reif,

Westfälischer Adel, S. 283. Männerwelten, S. 34. 132  Schütze, S. 127. 133  Franz Ballestrem an seine Tante Elisabeth, 11.9.1845, zit. nach von Ballestrem, S. 10; Bertha von Ballestrem an ihren Mann Carl Wolfgang, 8.8.1843, zit. nach von Ballestrem, S.  7 f. 134  von Ballestrem, S. 23. 135  Vgl. die zahlreichen Briefe der Kinder an Friedrich Ludolf Graf von Landsberg-Velen und Gemen, in: LNRWM, Landsberg-Velen (Dep.), 10771, 2010a. 136  Schütze, S. 127. 137  Zit. nach Siebertz, S.  13 f. 131  Trepp,

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Bezug auf die Erziehung seiner Söhne“.138 Als Leitgedanke galt in vielen Familien das Dictum von Félix Dupanloup: „Man verdirbt [die Kinder] ebenso jammervoll durch Unterdrückung als durch Verzärtelung.“139 Christliche Erziehung korrelierte also in praxi mit einer Art Verzichts- und Kargheitspostulat, vor allem in Bezug auf die Söhne. Das Leben sollte „ein sehr einfaches [sein], auf christlicher Grundlage beruhend und von christlichem Geist durchweht, fern von Luxus und Weichlichkeit“.140 Demut, Zurückhaltung und Entsagung spielten demnach im Wertekanon eine große Rolle, Appelle zu „Arbeitsamkeit“ und „Sparsamkeit“ waren obligatorisch141. Vielen Familien ging es darum, einfach in ihrer Lebensweise zu sein und „die Vornehmheit mehr in der inneren Gesinnung als in Aeußerlichkeiten“ zu suchen.142 Im Hausunterricht wurden dementsprechend über lateinische Übersetzungen, unter anderem von Seneca und Epikur, Tugenden wie Größe im Verzicht, Zufriedenheit mit Wenigem und Bescheidenheit als vorbildlich herausgestellt.143 Die Eltern legten großen Wert darauf, dass der Tag für die Kinder in aller Frühe begann und die männlichen Familienmitglieder einfache und bescheidene Kleidung trugen. Etliche Söhne bekamen keine Mütze, einen Überzieher erst mit 18 Jahren; Stiefelschmiere war verboten (die Mutter Bischof Kettelers meinte, sie wolle keine Kinder haben, „an die nicht einmal ein Tropfen Wasser kommen dürfe“144). Selbst kleine Jungen und Mädchen durften nachts nicht die Hände unter die Bettdecke nehmen, um sich zu wärmen. Beim Essen wurden die Kinder daran gewöhnt, „von allen Speisen, welche aufgetragen werden, zu genießen, wenn allerdings auch nur in geringem Maße“. In keinem Fall sollten Kinder „sich herauswählen, was sie gern essen“.145 In Genuss von Tee, Kaffee, Schokolade, Obst oder Wein durften Kinder nicht vor dem 20. Lebensjahr kommen, wobei sich der Konsum auch danach in Grenzen zu halten hatte („wegen der Jüchtereyen und Ergötzlichkeiten sind wir nicht auf die Welt gekommen“). Müßiggang wurde als schweres Laster betrachtet: „Wir sind auf die Welt [ge]kommen, nicht um zu hüpfen und zu tanzen, sondern nach der Lehre unseres Catechismi, um Gott zu ehren, und unserer Seelen Heil zu bewirken.“ Die Vorgaben beispielsweise für Mädchen nahmen sich daher eindeutig aus: „bald bete, betrachte, und lese ich, bald stricke, sticke, nähe, spinne ich mit solcher Wechslung übend mich, den Himmel leicht zu gewinnen“. Selbstverständlich 138  Pfülf,

S. 7.

139  Sickinger,

S. 51. S. 5. 141  Becker, S. 21. 142  von Brackel, S. 234. 143  Reif, Westfälischer Adel, S. 630. 144  Zit. nach Pfülf, S. 8. 145  Sickinger, S. 51. 140  Pfülf,



Erziehung und häusliche Gewalt157

mussten Kinder im Sinne adeliger Repräsentationspflichten das Parlieren, Singen und Tanzen beherrschen; dies war elementarer Bestandteil des Hausunterrichts und wurde etwa auf Kinderbällen, Empfängen oder Festen exerziert. Gleichwohl galt: Ist selbiges vorbei, so betrübt man sich deswegen nicht, ja man ist wohl froh, daß es vorbei ist, man läßt sich deswegen die Zeit nicht lang werden, sondern man gibt sich gleich mit einem ganzen, mit einem guten, mit einem fröhlichen Herzen wiederum zu seinen gewöhnlichen Geschäften.146

„Klagen der Kinder über Unwohlsein“ oder Unzufriedenheit waren so manchen Eltern „nur schwer zugänglich“.147 Verließ der Sohn für längere Zeit das Elternhaus, dann mahnte der Vater ihn eindringlich zu Selbstdisziplin, Maßhalten und Bescheidenheit: Er untersagte unter anderem „unbedingt“ den Besuch von Wirtshäusern „mit Ausnahme von Ausgängen mit Lehrern und Verwandten“ und trug dem Kind auf, nach seinen Anweisungen Buch über Einnahmen und Ausgaben zu führen; auf keinen Fall dürfe es Geld leihen oder selbst verleihen.148 Die Ritter­ akademien erfreuten sich auch deshalb so großer Beliebtheit, weil sie die Zöglinge […] für den Reiz alles moralisch Schönen […] und für Uneigennützigkeit, Mildtätigkeit, Selbstüberwindung, durch Vorführung großer Beispiele aus der Geschichte, durch ausgesuchte Stellen aus der Literatur oder anderen Werken der Kunst und Darstellung erwärm[t]en149.

Das Genügsamkeitsparadigma ging mit einem ausgeprägten Verbots- und Sanktionsregime einher. „Echte Gottesfurcht“ sollte gepaart sein mit „strammer Zucht“.150 Eltern kontrollierten sorgsam die Lektüre ihrer Kinder. Viele ältere Kinder wurden aus Furcht vor Masturbation nachts angebunden.151 Im Sinne katholischer Erziehungsratgeber wurden „leichtfertige Reden […], zu vertraute Verbindungen, zu lang ausgedehnte Unterhaltungen, Weichlichkeit im Spiel […], übertriebene Ausgelassenheit, [und] Hang zu Unmäßigkeit“ streng sanktioniert.152 Hatten die Kinder Aufgaben, zumal im Bereich der Frömmigkeitserziehung, nicht zur Zufriedenheit der Eltern erledigt, wurden sie mit Essensentzug bestraft.153 Mancher Vater, „auf christliche Zucht und Sitte“ haltend, ließ seinen Sohn am Sonntagmittag auf dem Boden essen, 146  Pro memoria des Christian Franz Dietrich von Fürstenberg (1743), zit. nach Schlumbohm, S. 181–183. 147  Pfülf, Ketteler, S. 8. 148  Schorlemer-Alst an seinen Sohn Clemens, 5.10.1872, zit. nach Büld, S.  38 f. 149  Zit. nach Reif, Westfälischer Adel, S. 353. 150  Forschner, S. 2. 151  Pfülf, S. 8; Forschner, S. 3. 152  Dupanloup, S.  136 f. 153  Pfülf, S. 8; Forschner, S. 3.

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„weil er als leichtfertiger Junge nichts aus der Predigt gewußt hatte“.154 Klagen war verpönt und wurde zunächst mit dem Entzug von Nähe, im Wiederholungsfall mit Schlägen gemaßregelt. Dem Vater schuldete man „Zuverlässigkeit und strenge[n] Gehorsam“, ansonsten drohten körperliche Strafen. In einigen Familien wurden Kinder einfach in eine Schüssel mit eiskaltem Wasser gesetzt, wenn sie Wutanfälle bekamen.155 W. E. Ketteler wurde als Kind mit einem Handtuch festgebunden, damit er ruhiggestellt war. Der Vater strafte ihn „oft recht hart“.156 Die Adeligen verkörperten augenscheinlich „eine streng disziplinierende christliche Männlichkeit“,157 d. h. sie gerierten sich als „aufrichtig, aber nicht blind liebender Vater“,158 was immer wieder auch Schläge mit der Rute implizierte. Kindheit und Jugend sollten offenkundig in weiten Teilen „Abhärtung und Abtötung“ bedeuten.159 Es galt das Credo: Der Knabe wird mit allen Keimen der Tugenden, die den christlichen Mann zieren, nur dann heranwachsen, wenn er in strenger Zucht, in Gehorsam, in Enthaltsamkeit, in vielfacher Selbstverleugnung großgezogen ist, und das Beispiel dieses Lebens in Eltern vor Augen gehabt hat, die mit der Würde Stellvertreter Gottes zu sein, auch ein gottgefälliges Leben vereinigen.160

Immer wieder wurde dabei auf den Topos von einer traurigen Notwendigkeit des Strafens rekurriert: „Ihr wißt ja, wie sehr wir Euch lieben und deshalb muß es uns um so mehr schmerzen, wenn Ihr Eure Schuldigkeit nicht thut“.161 Die Kinder scheinen das elterliche Verhalten weithin toleriert zu haben. Zumindest bezeugen die Quellen kaum Missfallen. Lediglich der wiederholte Gebrauch normativ aufgeladener Adjektive wie „hart“, „derb“, „scharf“ oder „furchtbar“ lässt erahnen, mit welchen emotionalen Belastungen die Strafpraxis für manches Kind verbunden war. Dass auch die untersuchten katholischen Adelsfamilien nicht immer als „geradlinige […] weltanschauliche Überzeugungs[täter]“162 agierten und Grautöne nicht kleingeredet werden 154  Dorneich,

S. 15. S. 24. Es handelt sich hierbei um die Familie Waenker von Dankenschweil, die im 19. Jahrhundert erst den Adelstitel erhielt. 156  Zit. nach Pfülf, S. 13. 157  Autobiografie Hermann Stolberg, S. 10, in: LVWLM, Archiv Westheim 272. 158  Friedrich Carl von Loë an seinen Sohn Felix, 28.11.1845, in: Archivamt des Landschaftsverbandes Rheinland, Brauweiler, Archiv Wissen, NL Felix Loë 232 / I. 159  Forschner, S. 2. 160  Ketteler an den Verein zu Ehren der hl. Familie, 25.5.1869, zit. nach Pfülf, S. 10. 161  Bodman an seinen Sohn Othmar, o. D, in: GBAB, A 2160. 162  Goldberg, S. 513. 155  Krebs,



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dürfen, scheint beispielsweise in dem Umstand auf, dass wider die katholische Erziehungslehre nicht nur der Vater schlug. Dies taten neben den vom Vater offiziell statt seiner eingesetzten Gouvernanten und Hauslehrern vor allem auch Verwandte. Keineswegs züchtigten Mütter lediglich „hier und da“ bei „ganz kleinen Kindern“.163 Außerdem hatte kein katholischer Pädagoge Züchtigungen durch ältere männliche Geschwister empfohlen. Jedoch scheinen selbst „derbe Züchtigungen“ durch Brüder vorgekommen zu sein.164 V. Fazit Das Erziehungsverhalten der untersuchten adeligen Familien fußt aus sozioökonomischer Perspektive auf Standeskalkül, das unter schwierigen äußeren Bedingungen auf Besitzwahrung, Machterhalt und die Fortsetzung der „Geschlechterkette“165 abzielte. Da die Adeligen aber über ein beacht­liches ökonomisches, soziales, kulturelles sowie symbolisches Portfolio verfügten und außerdem als exorbitant glaubenstreu gelten können, sollten i­deelle ­Momente und damit ihre tiefe Katholizität besonders gewichtet werden. Dass die konsequente lebensweltliche Ausrichtung auf den Glauben ebenfalls von Bedeutung im adeligen Kampf ums „Obenbleiben“166 war, kann an dieser Stelle vernachlässigt werden.167 Handlungsleitend für die untersuchten Adels­ familien war ein neuthomistisches Weltbild, das sie an einen naturrechtlichorganischen Aufbau der menschlichen Gesellschaft und die nukleotische Funktion der Familie glauben ließ. Erziehung wiederholte die Schöpfung des Menschen durch Gott und sollte dementsprechend eine gottgefällige Person hervorbringen, die sich durch einen konsequenten Einsatz wider den Geist des Egoismus für das Jenseits qualifizierte. Dies implizierte nach außen die Verpflichtung, sich um das Gemeinwohl verdient zu machen, und auf persönlicher Ebene die Maßregel der Genügsamkeit. Als Grundprinzip figurierte eine zugleich empathische, wachsame und disziplinierende Fürsorge. Züchtigung wurde als elementarer Bestandteil der letzteren betrachtet. Sie galt bei schwereren Vergehen als erforderliches Übel und war als Komplementärelement einfühlsamer Liebe an klare Regeln im Hinblick auf Anlass, Zeitpunkt und Durchführung gebunden.

163  Becker,

S. 226. Hermann Stolberg, S. 36, in: LVWLM, Archiv Westheim, NL Hermann Stolberg 272. 165  „Du stehst, mein Kind, in einer langen Reihe, bist das Glied einer Kette, die dich hält und die Du fortschmieden mußt!“ (zit. nach Funk / Malinowski, S.  73 f.). 166  Zum Begriff des „Obenbleibens“ s. Braun. 167  Vgl. dazu z. B. Conrad; Reif, Der katholische Adel. 164  Autobiografie

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Die so schwierig zu rekonstruierende soziale Praxis scheint sich bei den untersuchten Adeligen den ideellen Vorgaben stark anzupassen. Nicht anders als im Reichstag168 nahmen sie ihren Glaubensauftrag offenbar auch in Erziehungsangelegenheiten sehr ernst. Gleichwohl gibt es Indizien für abweichende Verhaltensweisen. Eine zeitgenössische Elitenhaltung, nach der „Lieblosigkeit gegen Kinder […] in allen Ständen vor[kommt], Rohheit aber besonders in den unteren Ständen“169, hält der Wirklichkeit kaum stand. Phänomenologisch scheinen glaubenstreue Katholiken in ihrer Zeit wenig besonders. Es scheint sich zu bestätigen, was Linda A. Pollock vor knapp 35 Jahren im Hinblick auf britische und amerikanische Upper- und Middleclass-Familien des 19. Jahrhunderts konstatierte: Eine beträchtliche Anzahl „used physical punishment and also insisted on total obedience in this period […]. However, clearly the majority of children did not experience such a disci­ pline, although for some this […] severity did amount to cruelty“.170 Indes sollten Nuancierungen bedacht werden. Auf der einen Seite scheint sich zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das evangelische Bürgertum durchaus erfolgreich darum zu bemühen, auf die Prügelstrafe und Surrogate wie Isolation oder Essenentzug zu verzichten.171 Eine „Willkür und Undurchschaubarkeit elterlicher Sanktionen“172 scheint es hier so gut wie gar nicht gegeben zu haben. Auf der anderen Seite fällt auf, dass ein Topos der zeitgenössischen Erinnerungsliteratur für die glaubenstreuen Katholiken kaum eine Rolle zu spielen scheint: der des wegen seines Zorns gefürchteten Vaters.173 Es kann nicht davon gesprochen werden, dass die Prügelerfahrung den Kindern „zur zweiten Natur“ geworden sei174. Schläge auf den Kopf, mit einem Knotenstock, mit der Peitsche und mit körperlichen Schadensfolgen, scheint es nicht gegeben zu haben.175 „Jagdhiebe“ und „Schellen“ gehörten nicht zu den gewöhnlichen Bestrafungsinstrumenten. Anders als beispielsweise im evangelischen Adel Preußens ist zudem selten vom „soldatischen Gehorsam“ die Rede; der Begriff der Ehre spielt lediglich eine untergeordnete Rolle. Die Vorstellung, dass eine gewalttätige Erziehung zur Härte, nicht zuletzt auch gegen sich selbst, als wesentliche Voraussetzung von Herrexplizit s. Raasch, Zentrumspartei, S. 403–414. Wurth, 1863, zit. nach Malleier, S. 75. 170  Pollock, S. 184. 171  Trepp, Männlichkeit, S. 350–356. 172  Flecken, S. 85. Ähnlich s. Schlumbohm, S. 68. 173  Schütze, S. 128. 174  Karl Bücher, geb. 1849, zit. nach Hardach-Pinke, S. 197. Flecken spricht davon, dass körperliche Gewalt „derart die elterliche Erziehungspraxis [bestimmte], daß für die Betroffenen zuweilen Prügel und Erziehung synonyme Begriffe waren“ (Flecken, S. 84). 175  Vgl. die Beispiele in Hardach-Pinke, S.  190 ff.; Flecken, S. 81–88. 168  Dazu

169  Johann



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schaftsfähigkeit und Ehrenhaftigkeit angesehen werden muss, scheint ungleich weniger verbreitet. Selbstzüchtigungen als vermeintlicher Beweis von Charakterstärke sind denn auch empirisch nicht triftig zu machen.176 Eingedenk des deplorablen Forschungsstandes kann am Ende also nur die Hoffnung stehen, dass dieser Aufsatz für Differenzierungen und die Notwendigkeit weiterer Studien sensibilisiert hat. VI. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Ungedruckte Quellen Archivamt des Landschaftsverbandes Rheinland Archivamt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Münster (LVWLM) Archiwum Archidiecezjalne i Biblioteka Kapitulna we Wroclawiu Archiwum Państwowe w Katowicach Archiwum Państwowe w Opolu Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA München) Diözesanarchiv Eichstätt Gräflich Bodmansches Archiv, Bodman (GBAB) Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, Münster (LNRWM) Tagebuch von Franz Graf von Ballestrem (TG Ballestrem) [unveröffentlichte Abschrift des DFG-Editors Helmut Neubach im Besitz des Eichstätter Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte]

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S.  78 f.

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Vom Ende der „Prügelpädagogen“. Der Weg zur Ächtung von körperlichen Schulstrafen in Hessen und Rheinland-Pfalz 1945–1974 Von Sarina Hoff I. Einleitung Gewalt zu Erziehungszwecken in Form von körperlichen Strafen war über lange Zeiträume hinweg nicht nur eine der im Alltag verbreitetsten, sondern auch die wohl am stärksten gesellschaftlich akzeptierte Form von Gewalt gegen Kinder. In den meisten westdeutschen Bundesländern blieben körperliche Bestrafungen wie Ohrfeigen oder Stockschläge bis Ende der 1960er Jahre (zumindest in bestimmten Fällen) auch in Schulen erlaubt, bildeten also zugespitzt gesprochen eine staatlich anerkannte Form von gegen Kinder gerichteter Gewaltanwendung.1 Anfang der 1970er wurden körperliche Schulstrafen in nahezu allen Bundesländern schulrechtlich verboten, gegen Ende des Jahrzehnts erkannten auch die Gerichte die von ihnen bisher an­ genommene gewohnheitsrechtliche Züchtigungsbefugnis von Lehrern nicht mehr an. Der Zeitraum, innerhalb dessen es in der Bundesrepublik zu einer flächendeckenden Ächtung dieser schulischen Strafpraxis kam, erscheint bemerkenswert kurz angesichts dessen, dass sich Kritik an der Praxis körperlicher Schulstrafen, Verbotsforderungen und in einzelnen Ländern auch tatsächlich umgesetzte, jedoch stets mehr oder weniger kurzlebige Verbote sehr lange zurückverfolgen lassen.2 1  Damit soll nicht außer Acht gelassen werden, dass die einschlägigen Bestimmungen in den meisten Bundesländern körperliche Strafen nur als äußerstes Mittel bei außergewöhnlich schweren Vergehen zuließen und größtenteils für Mädchen oder Schüler des 1. / 2. Schuljahres ganz verboten. Dennoch  – und erst recht, wenn man von einer die theoretischen Grenzen vielfach überschreitenden schulischen Praxis ausgeht – war die Tendenz dieser Erlasse eben nicht die einer Abschaffung, sondern die einer „eingehegten Anwendung“, s. Schumann, Strafe, S. 38. 2  Für das 20. Jahrhundert wären etwa die Verbote der 1920er Jahre in Sachsen, Mecklenburg-Schwerin und (kurzzeitig) Thüringen zu nennen, vgl. Geißler, Verbot, insb. S. 204–209. Als beispielhafte Quellen für vollständige Ablehnung körperlicher Strafen aus dem 19. und 20. Jahrhundert etwa (neben vielen anderen) s. Sack sowie diverse Beiträge in Oestreich.

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Um diesen Prozess nachzuzeichnen, stellen insbesondere die Bundesländer Hessen und Rheinland-Pfalz interessante Fallbeispiele dar, denn sie stehen – wie die folgenden Ausführungen zeigen werden – beispielhaft für zwei gegensätzliche Extreme des kultusministeriellen Umgangs mit der Frage ­ ­körperlicher Schulstrafen. Dabei ist das rheinland-pfälzische Beispiel bisher noch nicht Gegenstand historischer Untersuchung gewesen. Überhaupt scheint die Frage körperlicher Strafen eine relativ geringe Rolle in der bundes­deutschen Bildungsgeschichte zu spielen, wird sie doch (trotz ihrer schon für den schulischen Alltag nicht zu unterschätzenden Bedeutung) in einschlägigen Überblicksdarstellungen kaum thematisiert.3 In Form von kürzeren Studien hat das Thema jedoch durchaus wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden, wobei aus jüngerer Zeit vor allem die Arbeiten Torsten Gass-Bolms und Dirk Schumanns hervorzuheben sind.4 Schumann nimmt unter anderem auch das hier untersuchte hessische Fallbeispiel in den Blick, ordnet die Entwicklung dabei aber vor allem in den Kontext der Verrechtlichung des Schulwesens sowie allgemeiner Liberalisierungsprozesse ein. Dieser Beitrag verfolgt demgegenüber einen etwas anderen Ansatz: Im Mittelpunkt steht hier die Frage, mit welchen Begründungen, unter welchen Bedingungen und bis zu welchen Grenzen körperliche Gewalt im Reden über Erziehung (womit öffentliche oder verwaltungsinterne Debatten gleichermaßen gemeint sind wie institutionalisierte Normen, etwa Erlasse) legitimiert werden konnte – und wie sich diese Bedingungen und Grenzen innerhalb des Betrachtungszeitraums verschoben. Analysiert werden vor allem Argumenta­ tionsmuster und sprachliche Legitimierungsstrategien, mit denen Gewalt in der Schulerziehung gerechtfertigt oder aber die Norm körperlicher Gewaltfreiheit durchgesetzt wurde. Es geht hier also nicht nur um die politischen und rechtlichen Entscheidungen, durch die Körperstrafen ihre Legalität genommen wurde, sondern auch und vor allem um die diskursiven Aushandlungsprozesse, durch die sie ihre Legitimität in der öffentlichen Debatte verloren. Dass als Quellengrundlage dieses Beitrags vor allem die Akten der beiden Kultusministerien dienen, ist mit Hinblick auf den ersten Aspekt naheliegend, aber auch in Bezug auf den zweiten zu rechtfertigen: Schließlich bezogen die Kultusverwaltungen auch die öffentliche Debatte zum Thema sowie Reak­ tionen verschiedener Akteure in ihre Überlegungen – und damit auch ihre Überlieferungen – ein. Die Ministerialakten lassen sich, stellenweise ergänzt durch weitere Quellen wie Presse oder Parlamentsprotokolle, durchaus als eine Art Fenster nutzen, aus dem sich ein repräsentativer Blick auf die tieferliegenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesse bietet, die Hintergrund, 3  Vgl. 4  Vgl.

etwa Führ / Furck; Geißler, Schulgeschichte. insbesondere Schumann, Strafe; Gass-Bolm; Schumann, Legislation.



Vom Ende der „Prügelpädagogen“171

Motor und Reibungsfläche auf dem Weg zur Ächtung körperlicher Strafen bildeten. Dass dieser Weg hinsichtlich des Agierens der jeweiligen Kultusverwaltung in Rheinland-Pfalz und Hessen sehr unterschiedlich aussah, werden die folgenden Abschnitte zeigen. II. Unterschiedliche Weichenstellungen in der Nachkriegszeit Das Bundesland Hessen unterschied sich territorial deutlich vom gleichnamigen Vorgänger, umfasste es doch nun mit den Regierungsbezirken Wies­ baden und Kassel ehemals preußische Gebiete. Das linksrheinische Rheinhessen hingegen gehörte fortan dem aus dem nördlichen Teil der französischen Besatzungszone neu hervorgegangenen Land Rheinland-Pfalz an, das außerdem ebenfalls ehemals preußische Gebiete sowie die zuvor bayerische Pfalz in sich vereinigte. Beiden Ländern war also gemeinsam, dass in ihnen unterschiedliche Verwaltungstraditionen aufeinandertrafen – und damit konkret auf unser Thema bezogen: unterschiedliche schulbehördliche Regelungen im Bereich der körperlichen Strafen. Die Annahme ist naheliegend, dass diese Situation es für die jeweiligen Kultusministerien umso nötiger machte, neue einheitliche Vorschriften zu erlassen. Außerdem könnte man für beide Länder einen gewissen Einfluss der jeweiligen Besatzungsmacht auf dieses nicht ganz unwichtige Detail der Schulpolitik erwarten: So hatten gerade die USA eine in Deutschland viel rezipierte Tradition des vollständigen Verzichts auf körperliche Strafen im Zuge demokratischer Pädagogik, und in französischen Schulen waren Körperstrafen seit langem verboten. Beide Annahmen scheinen für Rheinland-Pfalz zunächst zuzutreffen: Tatsächlich verbot die französische Militärregierung im März 1947 „körperliche Züchtigungen irgendwelcher Art“ und forderte die Schulaufsicht auf, bei Verstößen „strenge Strafmaßnahmen“ zu ergreifen.5 Auch wenn diese Anordnung von der französischen Militärregierung nicht intensiv verfolgt wur­ de6 und anscheinend nur für die Pfalz ergangen war,7 ging auch das nach den ersten Landtagswahlen 1947 gegründete Ministerium für Justiz und Kultus 5  Verfügung der Provinzialregierung der Pfalz v. 18.3.1949. Die Verfügung wurde aufgrund eines Abschreibfehlers auf das Jahr 1949 datiert und im kirchlichen Amtsblatt abgedruckt, stammt aber aus dem Jahr 1947, vgl. Provinzialregierung Pfalz an Ministerium für Unterricht und Kultus (im Folgenden kurz: MK), 27.7.1949, in: Landeshauptarchiv Koblenz (LHA Koblenz) 910–1217. 6  Die pfälzische Regierung berichtete im März 1949: „In der Zwischenzeit ist die französische Militärregierung auf diese Angelegenheit nicht mehr zurückgekommen.“ (Provinzialregierung Pfalz an MK, 27.7.1949, in: LHA Koblenz 910–1217). 7  So legen es die Antworten der Regierungspräsidien Koblenz, Montabaur, Trier und Mainz auf eine Anfrage des Kultusministeriums im Oktober 1950 nahe, die bei ihrer Auskunft zu den für den jeweiligen Bezirk geltenden Bestimmungen das franzö-

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unter Adolf Süsterhenn (CDU) offensichtlich zunächst von einem Verbot körperlicher Schulstrafen aus. So antwortete es im Herbst 1947 auf Anfragen nach der rechtlichen Lage im Land, körperliche Züchtigungen seien in seinem Zuständigkeitsbereich verboten.8 Knapp drei Jahre später sahen die Antworten auf solche Anfragen jedoch anders aus: Nun verwies das Ministerium zwar auf das 1949 erlassene Verbot körperlicher Strafen an höheren Schulen, nannte aber keinerlei Regelung für alle anderen Schulformen.9 Zwar erwähnte das pfälzische Regierungspräsidium noch die Anordnung der französischen Militärregierung von 1947, als das Kultusministerium sich nach den in den einzelnen Bezirken geltenden Erlassen erkundigte – davon abgesehen wurde aber das französische Verbot spätestens 1950 offensichtlich ignoriert, ohne dass es zu einer formalen Neuregelung durch das rheinlandpfälzische Kultusministerium gekommen war. Stattdessen verwies man regelmäßig auf hessische und vor allem preußische Erlasse aus der Zeit der Weimarer Republik, so etwa auf die 1928 vom preußischen Kultusminister ausgesprochene Missbilligung von Züchtigungen in den ersten beiden Schuljahren, für Mädchen sowie bei schlechten Leistungen. Allerdings gab es selbst innerhalb des Ministeriums durchaus unterschiedliche Meinungen, inwieweit (und für welche Landesteile) diese Vorschriften noch Gültigkeit besaßen.10 Von den fünf Bezirksregierungen erließen drei nach 1945 keine neuen Richtlinien zum Züchtigungsrecht. Die Bezirksregierung Trier forderte in einer Verfügung vom Mai 1947 die Lehrer auf, körperliche Strafen „möglichst ganz“ zu unterlassen mit der Begründung, körperliche Züchtigung widerspreche „vollends dem humanen und demokratischen Ideal unserer Zeit“, stumpfe „das Empfinden des Kindes ab“ und verstärke durch negative Vorbildwirkung „Anlagen zur Roheit und Gewalttätigkeit“, die nach den Ereignissen der NS-Zeit besonders zu bekämpfen seien.11 Auch der Koblenzer sische Verbot nicht erwähnten, teilweise auch ausdrücklich die Existenz von Anordnungen der Militärregierung verneinten, s. LHA Koblenz 910–1218. 8  Vgl. Redaktion der Zeitschrift „Jugend“ an MK, 17.9.1947, mit handschrift­ lichem Antwortentwurf vom 26.9.1947, in: LHA Koblenz 910–1217, sowie eine weitere Anfrage einer Privatperson, 5.10.1947, in: LHA Koblenz 910–1217. 9  Diese Unterscheidung zwischen den Schulformen ist typisch: In praktisch allen deutschen Ländern waren körperliche Strafen an Gymnasien und Realschulen wesentlich stärker und früher tabuisiert bzw. verboten (so galt etwa in Bayern bereits seit 1903 ein Verbot, vgl. Bundestags-Drucksache 7 / 3318, 4.3.1975). Die Debatten nach 1945 bezogen sich fast ausschließlich auf Volksschulen. Das bedeutet nicht, dass nicht auch in Gymnasien Körperstrafen vorkommen konnten, sie wurden aber in der öffentlichen Diskussion „als Problem höherer Schulen gar nicht gedacht“ (GassBolm, S. 446). 10  Vgl. etwa die verschiedenen Entwürfe einer Antwort auf Fr.-C. Z. an MK, 27.10.1954, in: LHA Koblenz 910–959. 11  Abschrift der Verfügung vom 17.5.1947, in: LHA Koblenz 910–1218.



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Regierungspräsident betonte 1948, wie psychologisch zweifelhaft und erzieherisch ungeeignet körperliche Strafen seien und erlaubte ihre Anwendung „nur bei Verfehlungen schwerer Art“ und nur mit (nachträglicher) schrift­ licher Begründung beim Schulleiter.12 Es dürfte kein Zufall sein, dass es sich bei den zwei Regierungen um ehemals preußische Bezirke handelte, stellten sich doch beide Verfügungen ausdrücklich in die Tradition der dortigen Ministerialerlasse von 1920 und 1928. Auf das gesamte Bundesland bezogen konnte sich diese preußische Tradition zunehmender kultusministerieller Missbilligung und Einschränkung jedoch nicht durchsetzen, das Kultusministerium verzichtete für Volksschulen auf jegliches Eingreifen in dieser Frage. Ganz anders stellt sich die Entwicklung in Hessen dar, wo ein Runderlass des Ministers für Kultus und Unterricht Franz Schramm (CDU) vom 13. Mai 1946 bestimmte: „In allen Schulen Großhessens sind nur Erziehungsmittel zulässig, die auf dem Grundsatz der Menschlichkeit aufbauen!“ Konkretisiert wurde diese allgemeine Formulierung im letzten der acht Punkte des Erlasses: „Alle entehrenden Strafen, insbesondere jede Art körperlicher Züchtigung und Beschimpfung, sind ausdrücklich untersagt.“13 Schramms Nachfolger Erwin Stein (CDU) bestätigte diesen Erlass 1949 und brachte ihn ­dadurch erst richtig ins öffentliche Bewusstsein, denn der ursprüngliche Beschluss war noch nicht im Amtsblatt oder einem ähnlichen Organ veröffentlicht worden. Beim hessischen Verbot von 1946 liegt die Annahme nahe, es sei ebenfalls auf direkte oder indirekte Einwirkung der – hier amerikanischen – Besatzungsmacht zustande gekommen. Tatsächlich wurden entsprechende Vermutungen in der Lehrerpresse geäußert.14 Dem widersprach allerdings Schramm selbst in einem Aufsatz aus dem Jahr 1957, in dem er betonte, der Erlass sei von ihm und den Schulreferenten aller Schularten gemeinsam entwickelt worden, „ohne daß Außenstehende etwas davon hörten oder gar Einfluß darauf nehmen konnten“.15 Auch in den erhaltenen Akten des Kultusministe­ riums zum Thema finden sich kaum Hinweise auf amerikanischen Einfluss: Zwar hatte sich ein Mitarbeiter des Kultusministeriums im März 1946 erkundigt, ob durch die US-Militärregierung bereits ein Verbot ergangen sei, da­ rauf aber keine eindeutige Antwort erhalten.16 Die Besatzungsmacht war also nicht oder höchstens sehr indirekt am Zustandekommen des Verbots beteiligt; die Initiative dazu ging vom hessischen Kultusministerium selbst aus. 12  Abschrift

der Verfügung vom 10.4.1948, in: LHA Koblenz 910–1218. des großhessischen Ministers für Kultus und Unterricht, 13.5.1946. 14  Vgl. Trost. 15  Schramm, S. 546. 16  Notiz vom 2.3.1946, in: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStA Wiesbaden) 504–4210. 13  Erlass

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Schon in der Formulierung des ursprünglichen Erlasses klingt eine Begründung des Verbots an, wurden Körperstrafen doch als „entehrend[e] Strafen“ bezeichnet, die offensichtlich nicht mit dem für Schulstrafen geforderten „Grundsatz der Menschlichkeit“ vereinbar waren. Rückblickend betonte Schramm außerdem, das Verbot sei nötig gewesen, um die in der hessischen Verfassung in Art. 56, Abs. 4 festgelegten Erziehungsziele zu erreichen, das heißt, die Schüler vorzubereiten „zum selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit“.17 Diese Ansicht teilte Schramms Nachfolger als Kultusminister, der Jurist Erwin Stein: Er stellte in seinem Kommentar zur hessischen Verfassung in Bezug auf diesen Artikel ausdrücklich fest: „Dieses Erziehungsziel schließt eine körperliche Züchtigung in den Schulen aus.“18 Sowohl Stein als auch Schramm schienen den Zusammenhang zwischen den genannten Erziehungszielen und dem Verzicht auf Gewalt dabei als selbstverständlich anzunehmen, zumindest verzichteten beide auf eine ausdrückliche Begründung oder nähere Erklärung.19 Die Unvereinbarkeit mit einer demokratischen Erziehung war auch das zentrale Argument, welches das Kultusministerium 1950 anführte, als die Wiederholung des Verbots auf vielfache Kritik von Lehrern und Elternvertretungen stieß. So bezeichnete ein Ministerialdirektor 1950 intern den Erlass als „eine der wichtigsten Maßnahmen auf dem Gebiete zur Schul- bzw. Erziehungsreform“, die dazu angetan sei, „den Untertanen in einen freien Menschen zu wandeln“.20 Ähnlich argumentierte die im Namen des Ministers verfasste Antwort an einen gegen das Verbot protestierenden Elternbeirat und nahm dabei vor allem auf die Erfahrungen der unmittelbaren Vergangenheit Bezug: Um wie viel mehr muß heute nach den Ereignissen, die sich unter dem Nationalsozialismus abgespielt haben, die Schule darauf bedacht sein, daß die neue Erziehung in einem demokratischen Geist geschieht, die Menschenwürde und die Menschenrechte in der Schule gewahrt werden. 17  Stein,

S. 284. S. 284. 19  Dagegen konnte der Bundesgerichtshof in seinem Urteil von 1957 in den Erziehungszielen der hessischen Verfassung keinen Widerspruch zu körperlichen Strafen erkennen, da diese Ziele seit dem späten 18. Jahrhundert in der Erziehung verfolgt würden und man mit ihnen „bis in die jüngste Vergangenheit hinein eine maßvolle körperliche Züchtigung für durchaus vereinbar gefunden“ habe (Urteil des BGH, 2. Strafsenat, 23.10.1957, in: Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen 11, S. 251). 20  Bemerkungen zum Protokoll der 1. Sitzung des Ausschusses für Schulstrafen, 18.10.1950, in: HHStA Wiesbaden 1178, 149. 18  Stein,



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Letztere stelle der Erlass „unter ganz besonderen Schutz“.21 Neben dem Betonen eines demokratischen Neuanfangs und der Abgrenzung von der Zeit des Nationalsozialismus knüpfte das Kultusministerium an die Tradition von Forderungen nach einem Züchtigungsverbot aus der Weimarer Republik an: So verwies das eben zitierte Schreiben an den Elternbeirat auf den Erlass des preußischen Kultusministers von 1920, in dem körperliche Strafen als nicht mehr mit dem Geist der Zeit vereinbar bezeichnet und Lehrer zum Verzicht aufgefordert wurden. Insgesamt beruhte die Begründung des hessischen Verbots also auf zwei Grundannahmen: Die eine war, dass körperliche Strafen die Menschenwürde des Schülers antasteten und mit der Erziehung zu Ehrfurcht, Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit sowie zu Freiheit und demokratischer Gesinnung nicht vereinbar seien. Auffällig ist, dass dieser Zusammenhang von den Befürwortern des Verbots nirgends explizit begründet und wohl als selbstverständlich gewertet wurde – obwohl er das aus Sicht der Verbotsgegner nicht unbedingt war.22 Die zweite Grundlage für die Begründung des Verbots war die Überzeugung, dass die Förderung der genannten Erziehungsideale sowie die (Menschen-)Rechte des einzelnen Schülers Priorität hatten gegenüber dem Interesse der Lehrer an einem letzten (Droh-)Mittel, das die Durchsetzung schulischer Verhaltensnormen und somit Sicherstellung eines geordneten Unterrichts erleichterte. Genau dieses wurde nämlich von Lehrervertretungen immer wieder gefordert. So übersandte etwa der Kreisverband Bergstraße der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft das Ergebnis einer Abstimmung bei seiner Hauptversammlung im Juni 1950: Demnach bejahten von 196 Lehrern nur acht ein bedingungsloses Verbot körperlicher Strafen, 112 erklärten, sie seien „bedingungslos für die Beibehaltung des Rechtes der körperlichen Züchtigung“ und 76 sprachen sich für ein Verbot „erst nach wesentlicher Herabsetzung der Klassenstärke“ aus.23 Ob diese Zahlen in ihrer überdeutlichen Tendenz auf die gesamte hessische Lehrerschaft übertragbar waren, mag dahingestellt bleiben. Dennoch sind sie aufschlussreich: Schon die Formulierung der letzten zur Abstimmung gestellten Option zeigt die wichtige Rolle, welche die häufig noch unzureichenden Unterrichtsbedingun21  MK an Elternbeirat Usingen, 13.12.1950, in: HHStA Wiesbaden 504, 3384, fol. 72. 22  Er wurde z. B. 1956 selbst von einem Mitarbeiter im Ministerium bezweifelt, der anmerkte, dass er persönlich die körperliche Züchtigung nicht für ein „schlechthin ungeeignetes, menschenunwürdiges ‚Erziehungsmittel‘“ halte (handschriftliche Notiz auf Entwurf, in: HHStA Wiesbaden 504, 210, fol. 90 v.). 23  GEW-Kreisverband Bergstraße an MK, 25.6.1950, in: HHStA Wiesbaden 504, 4210, fol. 24.

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gen, wie etwa die genannte Klassengröße, aber auch Raummangel und unzureichende Ausstattung der Schulen, in der Debatte spielten. Auch im Kultusministerium sah man den Hauptgrund für Verstöße gegen das Züchtigungsverbot in den schlechten Unterrichtsbedingungen, die es laut einem Mitarbeiter in manchen Schulen sogar „gewissenhaften Lehrern fast unmöglich machen, ohne körperliche Strafe einen erziehenden Unterricht zu erteilen“.24 Bemerkenswert an der Abstimmung des GEW-Kreisverbands ist allerdings, dass die Zahl derjenigen Lehrer, die ein Züchtigungsverbot selbst bei niedrigeren Klassenfrequenzen noch ablehnten, deutlich größer war als die jener, die körperliche Strafen offensichtlich nur als eine Notmaßnahme bei außergewöhnlich schlechten Unterrichtsbedingungen sahen. Eine ähnliche Verteilung zeigen die Protestschreiben gegen das Verbot, die von mehreren Elternbeiräten bzw. -versammlungen an das Ministerium verfasst wurden: So betonte beispielsweise der Elternbeirat einer Hanauer Schule, dass er den Grundsatz der Menschlichkeit als Maßstab für Erziehungsmittel teile und körperliche Strafen an sich ablehne, die Voraussetzungen für ein völliges Verbot aber noch fehlten.25 Dagegen erscheint in vielen anderen Zuschriften die körperliche Strafe als ein zwar möglichst selten und maßvoll anzuwendendes, aber unabhängig von den äußeren Unterrichtsbedingungen notwendiges und grundsätzlich sinnvolles Erziehungsmittel. So deutete beispielsweise der Elternbeirat Storndorf mit dem Bibelzitat „Wer seine Rute schonet, der hasset seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald“ (Spr 13,24) und der Formulierung, das Verbot körperlicher Strafen sei „mehr als bedenklich für die Schule und das Wohl unserer Kinder“ an, dass Körperstrafen letztlich für das Kind selbst vorteilhaft seien.26 Allerdings war die hier anklingende Ansicht, körperliche Strafen seien, sofern sie maßvoll und nicht im Zorn angewendet würden, sinnvolles und notwendiges Element der Erziehung, offensichtlich nicht mehr ohne Weiteres öffentlich zu äußern: So schränkte sie der Elternbeirat mit dem Hinweis ein, dass diese Strafen nur „sehr selten angewandt“ werden sollten, und versicherte, man wolle „durchaus keiner Erziehung durch Prügel das Wort“ reden. 24  Notiz

vom 16.9.1949, in: HHStA Wiesbaden 504, 113, fol. 74. d. Bezirksschule 4, Hanau, an MK, 9.12.1949, in: HHStA Wiesbaden 504, 3384, fol. 31. 26  Elternbeirat Storndorf an MK, 6.12.1949, in: HHStA Wiesbaden 504, 3384, fol. 35. Ein noch deutlicheres Beispiel für diese Ansicht stammt aus Rheinland-Pfalz: Hier protestierte der Vorsitzende der CDU Pfalz 1947 mit dem Hinweis, dass „bei dem Großteil der Lehrer eine gegenteilige Ansicht […] herrscht“ gegen das französische Züchtigungsverbot und fügte zur Begründung und Bekräftigung das Bibelzitat an: „Entziehe dem Kinde die Züchtigung nicht…“ [die angedeutete Fortsetzung lautet: „wenn du ihn mit der Rute schlägst, wird er nicht sterben. Du schlägst ihn mit der Rute, und du errettest seine Seele vom Tode“, Spr 23,13–14]. 25  Elternbeirat



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III. Hessen in den 1950er Jahren: Zweifel, aber kein Kurswechsel Die Ablehnung, auf die das Verbot in weiten Teilen der Lehrerschaft und Öffentlichkeit stieß, wurde im Kultusministerium natürlich zur Kenntnis genommen. So trat im Oktober 1950 ein „Ausschuss für Schulstrafen“, bestehend aus Lehrern und Rektoren sowie Vertretern der Kirchen, der Eltern und der Ärzteschaft, zusammen, um über den Erlass zu beraten. Hierbei kritisierten mehrere Teilnehmer das Verbot und es wurde beschlossen, in einer Arbeitsgruppe Änderungsvorschläge zum Verbotserlass auszuarbeiten.27 Allerdings führten die Beratungen des Ausschusses zu keiner Veränderung oder auch nur Verunsicherung in der Position des Kultusministeriums. Vielmehr leitete der das Protokoll kommentierende Ministerialdirektor daraus nur die Notwendigkeit ab, verstärkte Überzeugungsarbeit in der Öffentlichkeit zu leisten und das Thema in den Mittelpunkt der Lehrerfortbildung zu rücken. „Die Prügelstrafe darf nicht erlaubt werden, weil die Klassenbesuchsziffer zu groß ist“, stattdessen müssten die Rahmenbedingungen verbessert werden.28 Mitte der 1950er-Jahre stellen sich die Positionen innerhalb des Ministeriums dagegen deutlich uneinheitlicher und unsicherer dar: Bereits 1953 wurde in einer Abteilungsbesprechung festgestellt, dass nach der geltenden Rechtslage „nicht genügend durchgegriffen werden“ könne, und vorgeschlagen, körperliche Strafen in Ausnahmefällen zu erlauben – wenn auch alle Teilnehmer „eine generelle Wiedereinführung des Züchtigungsrechts“ ablehnten.29 Zwar wurde dieser Vorschlag nicht weiter verfolgt, er blieb aber nicht einmalig: In den folgenden Jahren verstärkte sich in der ganzen Bundesrepublik die Debatte über körperliche Schulstrafen in Reaktion auf die beiden Bundesgerichtshofs-Urteile von 1954 und 1957.30 Nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) körperliche Schulstrafen 1954 zunächst grundsätzlich in Frage gestellt hatte, gab er diese Zweifel aber im zweiten Urteil (durch einen anderen Strafsenat) auf und kehrte zu einer recht großzügigen Auslegung des „Züchtigungsrechts“ der Lehrer zurück. Die Diskussionen über diese Urteile (und das des Landgerichts Darmstadt von 1956, dessen Tendenz die des zweiten BGH-Urteils vorwegnahm) machten die Rechtslage bezüglich körperlicher 27  Vgl. Protokoll der 1. Sitzung des Ausschusses für Schulstrafen, 18.10.1950, in: HHStA Wiesbaden 1178, 149. Über die beschlossene Arbeitsgruppe und deren Ergebnisse – sofern sie überhaupt zusammentrat – sind in den Ministeriumsakten keinerlei Informationen enthalten. 28  Bemerkungen zum Protokoll der 1. Sitzung des Ausschusses für Schulstrafen, 18.10.1950, in: HHStA Wiesbaden 1178, 149. 29  Niederschrift über die Besprechung von Abteilung III vom 19.10.1953, in: HHStA Wiesbaden 504, 4210, fol. 53–55. 30  Vgl. Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 6, S. 263–276; Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 11, S. 241–263.

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Strafen auch im hessischen Kultusministerium wieder zum Thema.31 1956 plädierte ein Referent dafür, in bestimmten Fällen „massvolle körperliche Züchtigung um der Autorität der Schule und der Sicherheit der Schüler willen zulassen“ – und zwar als Strafe für „Rohheitsdelikte der Schüler und tätliche oder sonstige Beleidigungen der Lehrer“ sowie für „offene Widersetzlichkeit vor den Klassen“.32 Auch dieser Vorschlag konnte sich nicht durchsetzen: Der Ministerialdirektor Kluge hielt eine Neuregelung, die beispielsweise für männliche Grundschüler körperliche Strafen zuließ, „schon aus praktischen Gründen für völlig unmöglich, abgesehen davon, daß die Öffentlichkeit eine solche Regelung als Rückschritt in den Erziehungsmethoden auffassen würde“. Diese pragmatische und auf Außenwirkung bedachte Begründung bildet einen auffälligen Kontrast zur idealistischen Argumentation, die wenige Jahre zuvor auch ministeriumsintern anzutreffen war. So fasste auch der Ministerialdirektor zusammen, er könne keine Rücknahme des Verbots von 1946 / 49 empfehlen, „gebe allerdings zu, daß die Formulierung des Erlasses vom 13.5.46 nur aus der damaligen politischen und gesellschaftlichen Lage zu verstehen ist“.33 1956 war die politische und gesellschaftliche Lage offensichtlich eine andere: Das Bedürfnis, Demokratie, Menschenwürde und Freiheit als Erziehungsideale zu betonen, um sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit abzugrenzen, war mit zunehmendem zeitlichen Abstand in den Hintergrund getreten. Andererseits hatte das schon einige Jahre zuvor verwendete Argument, die Jugend sei infolge des Krieges zu verroht, um ohne körperliche Strafen erzogen zu werden, an Evidenz gewonnen: Kam es doch 1955 und vor allem 1956 zu Auseinandersetzungen zwischen randalierenden Jugendlichen und Polizei, Vandalismus und leicht ansteigender Jugendkriminalität, die unter dem Stichwort der „Halbstarken“ als ein allgemeines Generationenproblem, als zeittypische „Jugendverwahrlosung“ gedeutet wurden.34 Eine Antwort auf den Eindruck einer zunehmend unkontrollierbaren, der erwachsenen Generation feindlich gegenüberstehenden Jugend konnte die Forderung nach einer strengeren Erziehung inklusive körperlicher Strafen sein.35 31  Ausführlicher hierzu: Schumann, Legislation, S. 211. Zum dem BGH-Urteil 1957 zugrundeliegenden Erziehungsverständnis vgl. Blum. 32  Stellungnahme des Ref. II / 2 zu dem Erlassentwurf vom Juni 1956, in: HHStA Wiesbaden 504, 4210, fol. 88. 33  Vermerk, 7.9.1956, in: HHStA Wiesbaden 504, 4210. 34  So die Denkschrift des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zur Problematik der Halbwüchsigen. Vgl. zum Zusammenhang zwischen „Halbstarken“-Debatte und körperlichen Schulstrafen auch Schumann, Legislation, S.  212 f. 35  Vgl. etwa das Schreiben eines Landgerichtsrats an das hessische Kultusministerium vom 2.2.1956 mit der Forderung, „allen Lehrern wieder ein Züchtigungsrecht



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Insofern ist es bezeichnend, dass in den oben beschriebenen Überlegungen des hessischen Ministeriums ausgerechnet die Sicherung der „Autorität der Schule“ und Beleidigungen der Lehrer als mögliche Gründe für legitime körperliche Strafen genannt wurden. Die Autorität des einzelnen Lehrers, der Schule als Institution und der erwachsenen Generation überhaupt wurde als so bedroht wahrgenommen, dass auch – an sich abgelehnte – Gewalt zu ihrer Verteidigung gerechtfertigt schien. Besonders deutlich wird dieses Gefühl der Bedrohung und das Misstrauen gegenüber der jungen Generation in e­ inem Dokument aus dem rheinland-pfälzischen Kultusministerium: Hier schrieb ein Ministeriumsmitarbeiter, die Schuljugend sei „noch nicht reif“ genug, um „in das Wissen um die öffentliche Diskussion dieser Fragen [der Schuldisziplin und der körperlichen Züchtigung] mithineingezogen“ zu werden: „Selbst wenn Fehler gemacht würden, müßte der Lehrer, der den Fehler begeht, noch in seiner Autorität den Kindern gegenüber gestützt werden.“36 Aus diesem und den oben genannten hessischen Beispiel – viele ähnliche ließen sich anführen – lässt sich auf ein für die Debatten jener Zeit typisches Verständnis von (schulischer) Autorität schließen: Demnach war die Autorität des Lehrers stark vom persönlichen Ansehen abhängig, das durch Anklagen oder Ermahnungen wegen „Fehlern“ bei körperlichen Strafen geschmälert wurde. Sie beruhte zudem auf der Fähigkeit, Anordnungen und Verhaltensregeln im Konfliktfall gegen den Schülerwillen durchsetzen zu können – falls nötig mit Gewalt. Allerdings war dieses Fundament von Autorität offensichtlich brüchig geworden, wurde sie doch im Generationenkonflikt mit den „Halbstarken“ als massiv bedroht empfunden – und aus diesem Gefühl der Bedrohung heraus konnte sie im Zweifelsfall Vorrang vor den Rechten des Schülers erhalten.

zuzugestehen, soweit es die Wahrung der notwendigen Autorität und eine Erziehung zum Guten es erfordert.“ (in: HHStA Wiesbaden 504, 3884). 36  Driesch, V. d.: Thesen zur Behandlung der Frage der Schulzucht und des Züchtigungsrechts in der Volksschule [1954], in: LHA Koblenz 910–9509. Auch in diesen, dem Landesschulbeirat vorgetragenen und dort offensichtlich unwidersprochen gebliebenen, Thesen wurde die Möglichkeit körperlicher Strafen als zur „Stützung der Autorität im Sinne eines ganzheitlichen und natürlichen Erziehungsdenkens“ nötig bezeichnet. Einerseits wurde Autorität also auf die Drohung potentieller Gewaltanwendung gegründet, andererseits wurde aber auch betont, es dürfe keiner „autoritären Erzwingung einer untertanenhaften Schuldisziplin das Wort geredet werden“. Hier zeigt sich, dass trotz der häufigen Betonung der Notwendigkeit von Autorität eine gewisse Unsicherheit und Vagheit bestand, wie dieser Begriff zu definieren und konkret zu füllen war. Ähnlich hat dies auch Schumann für die Debatten über „Ordnung“ in der Schule in den 1950er Jahren beobachtet, vgl. Schumann, Strafe, S. 41 f.

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IV. Rheinland-Pfalz 1969 / 70: Öffentlicher Druck führt zum Verbot Trotz der geschilderten internen Zweifel blieb das hessische Kultusministerium nach außen hin konsequent bei der Linie eines völligen Verbots körperlicher Strafen und rief 1956 den Erlass von 1946 bzw. 1949 unter Androhung von dienststrafrechtlichen Sanktionen in Erinnerung.37 In RheinlandPfalz dagegen kam es zu keiner offiziellen Neuregelung des Kultusministe­ riums, die, so die internen Überlegungen, „nur Unruhe geschaffen“ hätte.38 Dies änderte sich erst ein gutes Jahrzehnt später: Ende September 1969 wurden in einer vorderpfälzischen Lokalzeitung Vorwürfe laut, in verschiedenen Schulen im Speyerer Raum werde „geprügelt“. Die Reaktionen darauf sind zunächst wenig bemerkenswert: Die betroffenen Kollegien und auch der zuständige Schulrat wehrten sich gegen die Vorwürfe und gegen Art und Wortwahl der Berichterstattung, Eltern, Lehrer und ehemalige Schüler äußerten sich teils verteidigend, teils anklagend in Leserbriefen und bei spontan einberufenen Versammlungen. Auffällig ist allerdings, dass sich bereits früh der Vorsitzende des Landeselternbeirats in die Diskussion einschaltete mit der Aussage, er habe nicht nur beim Kultusministerium, sondern auch bei der zuständigen Staatsanwaltschaft um Überprüfung des Falles gebeten.39 Und tatsächlich nahm der lokale Skandal schnell überregionale Bedeutung an: Nicht nur ein Ortsverband der Humanistischen Union argumentierte in offenen Briefen an den Kultusminister gegen körperliche Schulstrafen, auch die SPD-Landtagsfraktion plädierte für deren Verbot und die Jungdemokraten forderten die FDP-Fraktion ebenfalls zu einem Verbotsantrag auf.40 Wenige Tage später verabschiedete zudem der Bundeselternrat bei einer internen Arbeitstagung die Aufforderung an alle Bundesländer, in denen dies noch nicht geschehen war, ein Verbot körperlicher Strafen zu erlassen.41 Auf diesen steigenden öffentlichen Druck musste auch das Kultusministerium reagieren. Hierzu bot sich für Minister Bernhard Vogel (CDU) Ende Oktober Gelegenheit, als er zur Einweihung einer Schule in genau jener 37  Vgl.

Erlass vom 11.6.1956. betr. Züchtigungsrecht, 20.2.1956, in: LHA Koblenz 910–9509. 39  Bohley, Günter: Schulrat Flick: Ich kann es gar nicht glauben, in: Die Rheinpfalz / Speyerer Rundschau, 3.10.1969. 40  Vgl. Humanistische Union, Ortsverband Mannheim-Ludwigshafen: Offener Brief an Kultusminister Dr. Vogel, in: Die Rheinpfalz / Speyerer Rundschau, 17.10.1969; SPD will Prügelstrafe in den Schulen abschaffen, in: Die Rheinpfalz / Speyerer Rundschau, 17.10.1969; Rohrstock soll verschwinden, in: Die Rheinpfalz /  Speyerer Rundschau, 23.10.1969. 41  Abschaffung der Prügelstrafe gefordert, in: Die Rheinpfalz / Speyerer Rundschau, 21.10.1969. 38  Aktennotiz



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Region, in der die Debatte ihren Ausgang genommen hatte, geladen war. In seiner Rede ging Vogel direkt auf die Verbotsforderungen ein und setzte das Thema in den weiteren Kontext von innerer Schulreform und der Frage nach dem Verhältnis zwischen Schule und Öffentlichkeit. Dabei bemühte er sich, die noch erlaubte „körperliche Züchtigung“ vom in den öffentlichen Debatten immer wieder verwendeten Begriff der „Prügelstrafe“ und der damit konnotierten Gewalt abzugrenzen: Er betonte, dass nach aktueller Rechtsprechung „quälerische, gesundheitsschädliche oder das Anstands- und Sittlichkeitsgefühl verletzende Züchtigung“ stets als Überschreitung des Züchtigungsrechts gewertet werde und somit „Prügeln […] an rheinland-pfälzischen Schulen wie in der ganzen Bundesrepublik verboten“ sei. Keine klaren Regelungen gebe es dagegen beim „‚leichten Klaps, dem Griff an die Schulter, dem Knuff des unaufmerksamen Schülers‘ wie es, bemerkenswert betulich, in der Stellungnahme eines bekannten Schulrechtlers heißt“42. Wenn auch Vogel durch das Zitat eine gewisse Distanz zur Formulierung des Schulrechtlers schuf, so ist doch bemerkenswert, dass dies die einzigen konkreten Handlungen waren, die er im Zusammenhang mit der aktuellen Rechtslage nannte – und nicht etwa die ebenfalls prinzipiell noch erlaubten (und, glaubt man der zeitgenössischen Presse, teilweise durchaus noch üblichen) Stockschläge oder Ohrfeigen. Die implizite Botschaft dieser Auswahl war, dass es bei der Frage nach einem Züchtigungsverbot nur noch um die Grauzone zwischen unproblematischen Berührungen und milden Formen körperlicher Gewalt gehe, wogegen klar als solche einzustufende Gewalt schon ausgeschlossen sei. Sie wurde noch dadurch verstärkt, dass der Kultusminister unmittelbar danach kontrastierend auf die brutale, inzwischen überwundene Strafpraxis des Mittelalters und der Frühen Neuzeit einging. Diese Versuche, körperliche Schulstrafen sprachlich vom Konzept der „Gewalt“ zu distanzieren, waren keinesfalls neu, sondern sind typisch für die Debatte nach 1945 (es sei nur daran erinnert, wie sich die Gegner des hessischen Verbots um 1950 immer wieder vom „Prügeln“ distanzierten). Am deutlichsten zeigen sie sich wohl im Wort „Prügelstrafe“: Während dieses noch bis in die 1930er-Jahre auch von Befürwortern körperlicher Strafen als durchaus neutraler Begriff genutzt werden konnte,43 war es nach 1945 vor allem als negative, von den Verteidigern des Züchtigungsrechts als diffamierend empfundene Bezeichnung anzutreffen. Die Annahme liegt nahe, dass es sich hier nicht nur um einen oberflächlichen begrifflichen Wandel, sondern um eine zunehmende Tabuisierung von Gewalt im öffentlichen Sprachge42  Auszug aus der Rede Vogels anlässlich der Einweihung der Schule Römerberg, 25.10.1969, in: LHA Koblenz 910–9509 (dort auch die folgenden Zitate). 43  Vgl. etwa Steffens; als späteres Beispiel: Bayerischer Landtag, 88. Sitzung, S. 433.

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brauch handelt: Gewalt gegen Kinder war in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nur noch zu legitimieren, wenn sie möglichst wenig als solche angesprochen wurde. Während die Abgrenzung von maßvoller körperlicher Strafe gegenüber brutaler Gewalt also nicht grundsätzlich neu war, zeigte sich aber in einem anderen zentralen Bestandteil von Vogels Argumentation eine deutliche Veränderung gegenüber den Debatten der 1950er-Jahre: Unter Verweis auf die „pädagogische Autonomie“ lehnte der Kultusminister eine sofortige Regelung per Erlass ab und forderte: „Es soll weiter diskutiert werden“. Ruft man sich die Forderung des rheinland-pfälzischen Ministeriumsmitarbeiters aus den 1950er Jahren in Erinnerung, laut der die Schüler selbst auf keinen Fall in die Diskussion des Themas involviert werden sollten, ist der Kontrast zur nun gewünschten breiten öffentlichen Debatte – die ja kaum an der Schülerschaft vorbeigehen konnte – bemerkenswert. Auch wenn man berücksichtigt, dass die Aussagen Vogels sicher auch dem taktischen Versuch geschuldet waren, sich nicht zu früh auf eine Position festzulegen, fällt doch auf, dass ein öffentliches Infragestellen der Strafpraxis nicht mehr als potentielle Bedrohung der schulischen Autorität angesprochen wurde. Überhaupt taucht der in den 1950ern nahezu allgegenwärtige Begriff der Autorität des Lehrers nun nicht mehr auf. Stattdessen forderte Vogel, Wege zu finden, wie die bei der Erziehung unvermeidbaren Konflikte „in einer mündigen Gesellschaft, zu der auch der Jugendliche und Heranwachsende gehört, vernünftig ausgetragen werden können“. Diese Beschreibung des Austragens von Konflikten unter – der Formulierung nach – Gleichberechtigten sowie von Mündigkeit als Erziehungsziel lassen wenig Platz für das Konzept einer (auch) durch die Möglichkeit der Gewaltanwendung legitimierten Autorität des Lehrers. So dürfte es kein Zufall sein, dass der Wortstamm „Autorität“ in Vogels Rede nur noch in negativ konnotierter Form zu finden ist – und ausgerechnet gegen die Befürworter eines Verbots eingesetzt wurde: „Wer jedoch vom Kultusminister ein jede Diskussion beendendes Verbot fordert, denkt […] autoritär!“, lautete sein Vorwurf an diejenigen, die doch „an anderer Stelle besonders lautstark für die Freiheit der Schule“ und gegen Reglementierungen „von oben“ einträten. Auf die in der Rede des Kultusministers geforderten Beratungen mit Lehrer- und Elternvertretungen folgte im März 1970 das Verbot körperlicher Strafen an allen Schulformen per Erlass.44 Damit zog Rheinland-Pfalz nicht nur mit Hessen und Berlin, wo bereits seit 1948 ein Verbot galt, gleich, sondern auch mit Hamburg, wo seit 1969 ein Erlass von den Lehrern den Verzicht auf Körperstrafen forderte. Baden-Württemberg, Bayern, Bremen sowie Schleswig-Holstein sollten im Verlauf des Jahres 1970, Niedersachsen und 44  Runderlass

vom 2.3.1970.



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Nordrhein-Westfalen 1971 folgen.45 In diesen Ländern konnten Lehrer nun dienstlich bestraft werden, wenn sie Gewalt zur Erziehung ihrer Schüler anwendeten. Allerdings konnten sie deshalb nicht zwangsläufig auch strafrechtlich wegen Körperverletzung im Amt belangt werden: Nach der seit den 1950er-Jahren geltenden Rechtsprechung waren körperliche Züchtigungen innerhalb gewisser Grenzen durch ein „Gewohnheitsrecht“ der Lehrer gerechtfertigt, das zwar durch Gesetz (oder eine veränderte allgemeine Rechtsauffassung), nicht aber durch einen bloßen Ministerialerlass aufgehoben werden konnte.46 Um die widersprüchliche Situation zu verhindern, dass ein Lehrer dienststrafrechtlich belangt, strafrechtlich aber freigesprochen (und so sein Verhalten gewissermaßen symbolisch legitimiert) werden konnte, forderte bereits im Frühjahr 1970 die SPD-Fraktion im rheinland-pfälzischen Landtag ein gesetzliches Verbot körperlicher Strafen. Die Abgeordnete Lucie Kölsch begann die mündliche Begründung ihres Antrags, indem sie Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes mit der Menschenwürde-Verpflichtung zitierte und anfügte: „Altersgrenzen sind im Grundgesetz nicht gezogen“.47 Des Weiteren führte sie an, dass Körperstrafen von Pädagogen, Medizinern und Psychologen nicht mehr als geeignetes Erziehungsmittel gesehen würden und unzeitgemäß seien. Diese Argumentation für ein Verbot unterscheidet sich kaum von der Begründung des hessischen Kultusministeriums oder der Regierungspräsidien Koblenz und Trier 25 bis 30 Jahre zuvor. Eine Veränderung lässt sich dagegen in der Reaktion auf die Verbotsforderung feststellen: Zwar stieß ein gesetzliches Verbot bei den anderen Landtagsfraktionen und beim Kultusminister 1970 noch auf Ablehnung. Dies wurde aber nicht mehr mit der grundsätzlichen Notwendigkeit körperlicher Strafen zur Aufrechterhaltung der Disziplin begründet, sondern wesentlich stärker situationsbezogen: So war beispielsweise ein FDP-Abgeordneter gegen das Verbot, „weil ich jetzt wirklich nicht möchte, daß, wenn einem Lehrer einmal die Hand ausrutscht, er dafür gleich vor den Kadi gezerrt wird“.48 Die in den Debatten um 1970 45  Vgl.

Bundestags-Drucksache 7 / 3318, 4.3.1975. gleiche Problematik bestand natürlich auch bezüglich des hessischen Verbots. Während beim ursprünglichen Erlass das Kultusministerium noch davon überzeugt war, dass dieser auch strafrechtliche Verfolgung begründen könne, verzichtete es 1956 bewusst auf eine gesetzliche Regelung, auch um bei einer rein disziplinarischen Verfolgung flexibler entschieden zu können, welche Fälle geahndet werden sollten (vgl. MD Kluge: Vermerk, 7.9.1956, in: HHStA Wiesbaden 504, 4210). Eine verbindlichere Bestätigung des Verbots erfolgte hier in der Allgemeinen Schulordnung vom 29.3.1972. 47  Landtag Rheinland-Pfalz: 59. Sitzung, 19.3.1970, in: Stenographische Berichte des Landtags Rheinland-Pfalz, 6. Wahlper. 1967 / 71, S. 2199. 48  Abg. Danz, in: Stenographische Berichte des Landtags Rheinland-Pfalz, 6. Wahlper. 1967 / 71, S. 2201. 46  Die

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häufig anzutreffende Formulierung von der „ausrutschenden Hand“ impliziert, dass körperliche Bestrafungen als Ausnahme, als Verstoß gegen die Norm gesehen wurden – auch wenn sie diesen Verstoß gleichzeitig als verständlich, verzeihlich und weitgehend unproblematisch darstellt. Eine andere Abgeordnete führte zwar an, dass gerade bei neun- bis zwölfjährigen Jungen in manchen Situationen eine Ohrfeige wirksamer sei als Ermahnungen, kam aber trotzdem zum Schluss, es sei für die Schulerziehung „nicht anzustreben, daß die Disziplin auf diese Art und Weise aufrechterhalten wird“.49 Begründet wurde der Verzicht auf ein gesetzliches Verbot stattdessen, auch in der Stellungnahme des Kultusministers, in erster Linie mit der Rücksichtnahme auf die Lehrer. Neben dem Schutz vor gerichtlicher Verfolgung wegen als gering angesehener Verfehlungen ging es dabei auch um das Standesbewusstsein der Pädagogen, die sich durch ein eigenes Gesetz zum Thema als prügelfreudig stigmatisiert fühlen könnten. Der in den 1950er-Jahren nahezu allgegenwärtige Verweis auf die durch solche Einschränkungen bedrohte Autorität des Lehrers taucht auch in diesen Debatten, genau wie in der Rede des Kultusministers ein Jahr zuvor, nicht mehr auf. Eine noch deutlichere Entwicklung zeigt sich beim Blick auf die nächste Behandlung des Themas im Parlament: 1974 rückte die Problematik des strafrechtlich irrelevanten Verbots durch ein Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Zweibrücken, das zugunsten eines Gewohnheitsrechts auf körperliche Strafen entschieden hatte, erneut in den Fokus.50 Nun sprach sich das (weiterhin von Vogel geführte) Kultusministerium, das vier Jahre zuvor noch eine gesetzliche Regelung abgelehnt hatte, selbst dafür aus, in das in Vorbereitung befindliche Landesschulgesetz ein Verbot von körperlichen und Kollektivstrafen einzufügen. Abgesehen vom Hinweis, dass durch eine spätere Rechtsverordnung sichergestellt werden könne, dass Lehrer, denen „einmal in einer besonderen Situation die Hand ausrutscht“ straffrei blieben,51 wurde dieses Verbot in den Landtagsdebatten und der Presseberichterstattung zum Gesetz nicht thematisiert. Dies hängt sicher auch mit den sehr kontroversen Diskussionen über andere Inhalte des Schulgesetzes zusammen, die Aufmerksamkeit absorbierten. Vor allem aber kann es als Indiz gelten, dass 1974 das Verbot körperlicher Schulstrafen zumindest in der parlamentarischen und öffentlichen Debatte weitgehend Konsens geworden war.

49  Abg. Starlinger, in: Stenographische Berichte des Landtags Rheinland-Pfalz, 6. Wahlper. 1967 / 71, S. 2201. 50  OLG Zweibrücken, Urteil vom 12.3.1974. 51  Kultusminister Vogel, Landtag Rheinland-Pfalz: 63. Sitzung, 24.10.1974, in: Stenographische Berichte des Landtags Rheinland-Pfalz, 7. Wahlper. 1971 / 75, S. 2648.



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V. Fazit Um von einer gesellschaftlichen Ächtung körperlicher Strafen zu sprechen, sind zumindest zwei Elemente nötig: Zum einen ihre (zunächst dienst-, dann auch strafrechtliche) Illegalität, zum anderen die, wenn nicht einmütige, so doch klar dominante Ablehnung in der öffentlichen Debatte.52 Während in Hessen das kultusministerielle Verbot dem Wandel der öffentlichen Meinung vorausging, war in Rheinland-Pfalz das Gegenteil der Fall. Das hessische Verbot kam zustande, weil zwei aufeinanderfolgende Kultusminister und deren einflussreichste Mitarbeiter eine idealistisch begründete, gleichermaßen aus dem Wunsch nach Abgrenzung von der NS-Zeit wie aus der pädagogischen und psychologischen Tradition der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gespeiste, grundsätzliche Ablehnung körperlicher Strafen vertraten. Aus dieser Überzeugung heraus setzten sie den Verbots­ erlass auch gegen Proteste aus Lehrer- und Elternschaft durch und verhalfen so einer Position zu rechtlicher Geltung, die für die 1940er- und 1950er-Jahre noch als Minderheitenmeinung angesehen werden muss.53 Vor allem schufen sie Fakten, die ihre eigene Beharrungskraft entfalteten. Dadurch wurde selbst in den 1950er-Jahren das Verbot nicht zurückgenommen, sondern erneut bekräftigt, obwohl im Zuge verschärfter Generationenkonflikte der öffentliche Druck (und auch die Bereitschaft einzelner Ministeriumsmitarbeiter) wuchs, zur Sicherung der als bedroht empfundenen Autorität und Ordnung in der Schule ein gewisses Maß an körperlicher Gewalt zuzulassen. Die vielfachen Forderungen nach Aufhebung des Verbots in Hessen zeigen aber gleichzeitig, dass die Schulverwaltung zwar die dienstrechtliche Illegalität körperlicher Strafen herbeiführen konnte, aber nur begrenzten Einfluss auf deren Legitimität in den Augen von Lehrerschaft und Öffentlichkeit hatte. In Rheinland-Pfalz dagegen war die unbedingte Überzeugung, dass eine demokratische Schulerziehung nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltfrei sein müsse, bei den entscheidenden Akteuren der Kultuspolitik offensichtlich nicht vorhanden. Sie findet sich zwar bei den in preußischer Tradition stehenden Regierungspräsidien Koblenz und Trier, diese konnten sich aber landesweit nicht durchsetzen. Das zumindest für die Pfalz ergangene französische Verbot war zum Scheitern verurteilt, da es als unwillkommener Eingriff 52  Als drittes – und durchaus entscheidendes – Element wäre natürlich das tatsächliche Unterbleiben von körperlichen Strafen in der sozialen Praxis des schulischen Alltags anzuführen. Da hierüber jedoch aufgrund der Quellenlage exakte Aussagen nur schwer möglich sind, blendete dieser Aufsatz diese Frage aus und konzentrierte sich allein auf die rechtlich und diskursiv normative Ebene (deshalb auch „Ächtung“ und nicht etwa „Ende“ körperlicher Strafen). 53  Vgl. Gass-Bolm, S. 445.

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von außen wahrgenommen wurde, andererseits die Umsetzung von den Besatzungsbehörden kaum überwacht werden konnte. So war es in Rheinland-Pfalz der Druck der öffentlichen Meinung, der 1969 schließlich zum Verbotserlass führte. Dass dort die 1970 noch im Landtag gescheiterte gesetzliche Bekräftigung des Verbots 1974 widerspruchslos akzeptiert wurde, zeigt, wie dominant und fast schon selbstverständlich die Ablehnung körperlicher Schulstrafen in der Öffentlichkeit geworden war. Doch was waren die entscheidenden Faktoren, die zu dieser rapiden Veränderung geführt hatten? Aus der Perspektive der hessischen und vor allem der rheinland-pfälzischen Ministerialakten betrachtet relativiert sich zumindest für die Frage der Ächtung körperlicher Schulstrafen die These Dirk Schumanns, die Liberalisierung der Schuldisziplin sei durch juristische Argumente und Denkweisen vorangetrieben worden.54 Dass die im engeren Sinn juristische Auseinandersetzung mit dem Thema hier keine solche antreibende Rolle spielte, lässt sich recht eindeutig feststellen: So erfolgte das hessische Verbot, bevor körper­ liche Strafen überhaupt ein Thema der bundesdeutschen Rechtsprechung geworden waren. Zum Ende des Betrachtungszeitraums war im rheinlandpfälzischen Landtag das gesetzliche Verbot bereits unumstritten, als Gerichte noch entschieden, dass Lehrer gewohnheitsrechtlich zur Züchtigung befugt seien. So bestätigen auch diese beiden Beispiele eher die Ansicht Hans-Jörg Albrechts, dass die Verdrängung der körperlichen Strafe aus der Schule von Pädagogik und Schulverwaltung „gegen den partiellen Widerstand der Rechtsprechung und der Strafrechtsliteratur“ durchgesetzt wurde.55 Aber nicht nur die Justiz als Akteur spielte eher eine bremsende denn eine den Wandel voran­treibende Rolle, auch juristische Argumentations- und Denkweisen lassen sich in den hessischen und rheinland-pfälzischen Debatten, insbesondere bei den Verbotsgegnern, nur selten finden. Auch wenn mit Grundrechten wie etwa dem Schutz der Menschenwürde argumentiert wurde, ging es dabei weniger um Fragen der Auslegung oder Reichweite des Rechts als um dessen ideelle Grundlagen. 54  Schumann, Legislation, S. 193. Sehr plausibel bleibt Schumanns These allerdings für andere Fragen der Schuldisziplin und Leistungbewertung, wo eine in den 1960er-Jahren zunehmende Tendenz zur Verrechtlichung und juristischen Überprüfbarkeit festzustellen ist. Vgl. auch Gass-Bolm, der insbesondere auf den Wegfall der zuvor zur Begründung schwerer Schulstrafen (wie Ausschluss oder Freiheitsentzug) genutzten Rechtsfigur des „besonderen Gewaltverhältnisses“ in den 1970er-Jahren eingeht. Auch er kommt aber zu dem Schluss, dass zwischen deren Ende und dem Verbot körperlicher Strafen kein ursächlicher Zusammenhang bestehe, sondern eher „von zwei parallelen Ausdrucksformen des gesellschaftlichen Wandels“ auszugehen sei, s. Gass-Bolm, S. 463. 55  Albrecht, S. 207.



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Entscheidend für die Akzeptanz oder Ablehnung körperlicher Strafen erscheinen nach den hier untersuchten Quellen vielmehr individuelle oder gesellschaftlich dominante Wertvorstellungen: So lassen die unterschiedlichen Ansichten darüber, ob etwa die Achtung der Menschenwürde oder Erziehungsziele wie Nächstenliebe, Duldsamkeit oder Wahrhaftigkeit mit körperlichen Strafen vereinbar seien, zumindest indirekt auf unterschiedliche inhaltliche Füllungen dieser Wertbegriffe schließen. Noch deutlicher werden in der Debatte die verschiedenen Prioritäten, die (vermeintlich) konkurrierenden Werten zugewiesen wurden. So wurde beispielsweise Gewaltfreiheit in der Erziehung sowohl von Befürworten wie Gegnern körperlicher Schulstrafen als grundsätzlich wünschenswert akzeptiert. Von der Position, dass Gewalt in der Erziehung – bei richtiger, maßvoller und seltener Anwendung – ein sinnvolles, in vielen Fällen notwendiges und sich für das Kind selbst langfristig positiv auswirkendes Erziehungsmittel sein könne, finden sich nach dem Zweiten Weltkrieg zwar noch Spuren, sie konnte jedoch nicht mehr ohne große Einschränkungen öffentlich vertreten werden. Der Verzicht auf (körperliche) Gewalt kann also, folgt man Clyde Kluckhohns klassischer Definition von Werten als „conceptions of the desirable“,56 durchaus als auf beiden Seiten der Debatte geteilter Wert angesehen werden. Unterschiede bestanden jedoch darin, welche Verbindlichkeit diesem „Wünschenswerten“ beigemessen wurde: Für die Gegner körperlicher Strafen hatte die gewaltfreie Schulerziehung einen absoluten, nicht durch pragmatische Überlegungen einzuschränkenden Stellenwert. Diese Bewertung verstärkten sie noch, indem sie das Thema argumentativ stets in den Kontext weiterer Werte und Ideale wie Menschenwürde, Freiheit und demokratischer Gesinnung rückten. Für die Befürworter eines „Züchtigungsrechts“ dagegen war der wünschenswerte Idealzustand der gewaltfreien Erziehung durchaus relativierbar – und zwar durch die Forderung nach einem möglichst störungsfreien, geregelten Unterrichtsablauf. Sie argumentierten wesentlich stärker mit der praktischen Schulsituation und der Sicht des Lehrers auf konkrete, zu l­ösende Disziplinprobleme. Gewaltverzicht in der Erziehung war auf der ­Wertebene, der Ebene des Wünschenswerten, öffentlich kaum in Frage zu stellen – er 56  Kluckhohn, S. 395 (vollständig lautet die Definition: „a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action“. Gerade die hier geforderte handlungsbeeinflussende Rolle stand für die Gewaltfreiheit der Schulerziehung allerdings zur Debatte – und somit, könnte man sagen, ihr Status als „Wert“ im Gegensatz zum unverbindlicheren Ideal). Zum Begriff „Wert“ und dem Umgang mit der sozialwissenschaftlichen These des „Wertewandels“ aus historischer Perspektive vgl. etwa Dietz u. a.

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konnte lediglich durch einen Wechsel der argumentativen Ebene hin zur Frage der alltäglich-praktischen Umsetzbarkeit relativiert werden. In den 1950ern verschob sich das Gewicht der jeweiligen Argumente: Der Verweis auf Ideale wie Menschenwürde und Demokratie verlor an Bedeutung, stattdessen rückten unter dem Eindruck der „Halbstarken“-Debatte bedroht empfundene Vorstellungen von Disziplin und Autorität in den Vordergrund. Diese tauchen nun vermehrt auch in Form abstrakter, von konkreten schulischen Alltagssitiuationen unabhängiger Werte auf, konnten also auch auf der Ebene des Wünschenswerten in Konkurrenz zur Gewaltfreiheit treten. Dass die gesamtgesellschaftliche Bereitschaft stieg, diese unsicher gewordenen Werte im schulischen Kontext auch mit der Androhung von Gewalt zu sichern, zeigen beispielsweise die nun auch im hessischen Kultusministerium laut gewordenen Zweifel an der absoluten Ablehnung körperlicher Strafen. Ein gutes Jahrzehnt später hatte der Begriff der Autorität im Sinne des unbedingten (im Extremfall gewaltsamen) Durchsetzens schulischer Regeln durch den Lehrer seine Legitimation verloren. Er konnte jetzt nicht mehr dazu dienen, das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit einzuschränken, das zudem zunehmend als unverletzlich anerkannt wurde.57 Dass Autorität und, komplementär dazu, Gehorsam zu dieser Zeit als Wertvorstellungen massiv an Zustimmung verloren bzw. verloren hatten, ist natürlich kein überraschender oder neuer Befund.58 Er wird in den rheinland-pfälzischen Debatten um das Verbot körperlicher Strafen allerdings in bemerkenswert deutlicher Weise bestätigt. Da sich die Argumentation gegen körperliche Strafen auffälligerweise gegenüber den 1940er- und 1950er-Jahren kaum verändert hatte, erscheint der Legitimationsverlust von Autorität als der entscheidende Faktor, der die Waagschale der öffentlichen Meinung in Richtung der Züchtigungsgegner neigte. Durch den Wegfall der konkurrierenden Legitimationsmöglichkeit „Autorität“ wurde die Gewaltfreiheit der schulischen 57  Letztere Entwicklung zeigt sich besonders deutlich in der juristischen Debatte: Zwar argumentierten auch in den 1950er-Jahren verschiedene Juristen mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, mit dem Züchtigungen nicht vereinbar seien – aber 1957 konnte der BGH noch entscheiden, diese „vereinzelt geäußerte Ansicht“ sei „nur dazu angetan, den Ernst dieses Grundrechtes in Frage zu stellen“ (Urteil des BGH, 2. Strafsenat, 23.10.1957, in: Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 11, S. 249). Dagegen war in den 1970ern der Verweis auf dieses Grundrecht in der juristischen Debatte wesentlich verbreiteter und blieb weitgehend unwidersprochen, vgl. etwa Jung, S. 91. 58  So war es in der zeitgenössischen Sozialforschung nicht zuletzt die in Umfragen zwischen Mitte der 1960er- und Ende der 1970er-Jahre stark sinkende Zustimmung zu „Gehorsam und Unterordnung“ als wichtigstem Erziehungsziel, die Helmut Klages Postulat des „Wertwandels“ von „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ hin zu „Selbstentfaltungswerten“ zugrundelag, s. Klages, S. 17–20.



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Erziehung, die in früheren Debatten von Verbotsgegnern als wünschenswertes, aber nicht immer umsetzbares Ideal angesprochen worden war, zu einem Wert mit Anspruch auf absolute Verbindlichkeit. Ab den frühen 1970er-Jahren konnte die Missachtung dieser Norm in der Öffentlichkeit zwar noch im Einzelfall entschuldigt, jedoch nicht mehr grundsätzlich gerechtfertigt werden. War somit Schulerziehung von diesen Jahren an gewaltfrei? Sicher nicht. Zum einen bedeutet die Dominanz der Ablehnung von Körperstrafen in der politischen Diskussion nicht, dass diese Position von allen (oder auch nur zwangsläufig der Mehrheit von) Lehrern geteilt, geschweige denn im Schulalltag durchgängig umgesetzt wurde. Abgesehen von einer nicht zu unterschätzenden Dunkelziffer von Verstößen gegen das Verbot körperlicher Strafen bleibt die Frage offen, inwieweit beispielsweise psychische Gewaltformen bestehen blieben oder gar Körperstrafen als Disziplinierungsmethoden ersetzten. Doch dies wäre das Thema einer anderen Untersuchung. VI. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Ungedruckte Quellen Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStA Wiesbaden), Bestände 504 (Hessische Landesregierung: Kultusministerium) und 1178 (Nachlass Erwin Stein) Landeshauptarchiv Koblenz (LHA Koblenz), Bestand 910 (Kultusministerium Rheinland-Pfalz)

Gedruckte Quellen Allgemeine Schulordnung vom 29.3.1972, in: Amtsblatt des hessischen Kultusministeriums 25 (1972), S. 348. Bayerischer Landtag: 88. Sitzung, 31.7.1930, in: Bayerischer Landtag. Stenographischer Bericht 1928–33, Bd 4, S. 433. Bundestags-Drucksache 7 / 3318, 4.3.1975: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Endres u. a., URL: http: /  / dipbt.bundestag. de / doc / btd / 07 / 033 / 0703318.pdf, Aufruf zuletzt am 15.3.2018. Denkschrift des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zur Pro­ blematik der Halbwüchsigen, in: Die bayerische Schule 10 (1957), S. 301–304. Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, Bde. 6, 11. Erlass des großhessischen Ministers für Kultus und Unterricht, 13.5.1946, in: Amtsblatt des hessischen Ministeriums für Unterricht und Kultus 2 (1949), S. 373.

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Erlass vom 11.6.1956, in: Amtsblatt des hessischen Ministeriums für Unterricht und Kultus 9 (1956), S. 333. Jung, Heike: Das Züchtigungsrecht des Lehrers, Berlin 1977. Oestreich, Paul (Hrsg.): Strafanstalt oder Lebensschule. Erlebnisse und Ergebnisse zum Thema „Schulstrafen“, Karlsruhe 1922. OLG Zweibrücken: Urteil vom 12.3.1974, in: Recht der Jugend 23 (1975), S. 28–31. Runderlass vom 2.3.1970, in: Amtsblatt des Ministeriums für Unterricht und Kultus von Rheinland-Pfalz 22 (1970), S. 135. Sack, Eduard: Gegen die Prügel-Pädagogen. Braunschweig 1878. Schramm, Franz: Verbot der körperlichen Züchtigung, in: Pädagogische Provinz 11 (1957), S. 544–547. Steffens, G.: Die Prügelstrafe in der Schule, in: Der Klassenlehrer 5 (1911), S. 230– 231. Stein, Erwin: Art. 56, in: Verfassung des Landes Hessen. Kommentar, hrsg. von ­Georg August Zinn u. a., Bad Homburg von der Höhe / Berlin 1954, S. 284. Stenographische Berichte des Landtags Rheinland-Pfalz, 6. Wahlper. 1967 / 71. Stenographische Berichte des Landtags Rheinland-Pfalz, 7. Wahlper. 1971 / 75. Trost, Hermann: Hinweg mit ihr!, in: Allgemeine deutsche Lehrerzeitung 14 (1962), S. 124–126. Verfügung der Provinzialregierung der Pfalz v. 18.3.1949 [richtig: 1947], in: Amtsblatt für die vereinigte protestantische Kirche der Pfalz 29 (1949), S. 45–46.

Periodika Die Rheinpfalz / Speyerer Rundschau

Literatur Albrecht, Hans-Jörg: Die Entwicklung des Züchtigungsrechts, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 42 (1994), S. 198–207. Blum, Matthias: Macht die Ohrfeige krank? Die körperliche Züchtigung von Kindern im Spiegel der Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs von 1957, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 17 (2011), S. 225–244. Dietz, Bernhard u. a. (Hrsg.): Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014. Führ, Christoph / Furck, Carl-Ludwig: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart, Teilband 1: Bundesrepublik Deutschland, München 1998. Gass-Bolm, Torsten: Das Ende der Schulzucht, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945– 1980, Göttingen 2002, S. 436–466.



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Geißler, Gert: „Es ist selbstverständlich, daß ehrenrührige Zuchtmittel […] zu unterbleiben haben.“ Zum Verbot körperlicher Züchtigung in der SBZ / DDR, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 17 (2011), S. 201–224. Geißler, Gert: Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2011. Klages, Helmut: Wertorientierungen im Wandel, Frankfurt am Main 1984. Kluckhohn, Clyde: Values and Value-Orientations in the Theory of Action, in: Talcott Parsons / Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge 1951, S. 388–433. Schumann, Dirk: Legislation and Liberalization: The Debate About Corporal Punishment in Schools in Postwar West Germany, 1945–1975, in: German History 25 (2007), S. 192–218. Schumann, Dirk: Schläge als Strafe? Erziehungsmethoden nach 1945 und ihr Einfluss auf die „Friedenskultur“ in beiden Deutschlands, in: Jahrbuch für Historische Friedensforschung 9 (2000), S. 34–48.

II. Heime und Kliniken

„Der Stock ist doch wirklich nicht der Erziehung größte Weisheit“. Die Gewaltdebatte in der katholischen Anstaltspädagogik, 1900–1933 Von Rudolf Oswald I. Einleitung Als zu Beginn des Jahres 2010 die zahlreichen Missbrauchsfälle in Internaten und Bildungseinrichtungen, die unter katholischer Trägerschaft standen und stehen, bekannt wurden, geriet auch der Alltag in den kirchlichen Erziehungsheimen der 1950er und 1960er Jahre verstärkt in den Fokus der historischen Forschung. Inzwischen liegen die ersten Arbeiten vor, wobei insbesondere die Anstaltspädagogik der Nachkriegszeit einer kritischen Analyse unterzogen wird. Offenkundig herrschte in vielen von geistlichen Würdenträgern geführten Heimen ein Klima der Angst und Gewalt, exekutiert an Kindern, die oftmals noch nicht dem Vorschulalter entwachsen waren. Bernhard Frings beispielsweise hat in seiner 2012 erschienenen Studie mit dem Titel „Gehorsam, Ordnung, Religion. Konfessionelle Heimerziehung 1945–1975“ auf eindringliche Weise die Realität kirchlicher Anstalten in der Frühphase der Bundesrepublik herausgearbeitet: Strengste Disziplinarmaßnahmen (tagelanges Einsperren in Dunkelkammern), systematisches Herabwürdigen, schließlich die Anwendung von roher Gewalt, um den Willen von Jugendlichen und Kindern zu brechen – all dies war nicht zuletzt in katholischen Erziehungseinrichtungen an der Tagesordnung. Einmal in den Fängen der staatlichen Wohlfahrt, die hinter der rigiden Einweisungspraxis stand, schlossen sich für abertausende Mädchen und Jungen auf Jahre hinaus die Türen der Caritas-, der Jugendfürsorge- oder der Don Bosco-Heime, Heime, auf die die Bezeichnung „Zuchthaus“ wohl eher zugetroffen hätte.1 In diesem Sinne trugen somit auch und gerade die Erziehungsanstalten, die unter katho1  Vgl. Frings; s. auch Frings / Kaminsky. Mit Blick v. a. auf Mädchen als Opfer rigider Fürsorgepraxis wurden erste Forschungsansätze bereits vor 2010 veröffentlicht, s. etwa Gehltomholt / Hering. Publikationen zur Geschichte von JugendfürsorgeOrganisationen hingegen klammerten diesen Aspekt bis zum Zeitpunkt der Enthüllungen völlig aus, vgl. etwa Zahner.

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lischer Führung standen, zum restaurativen und repressiven Charakter der frühen Bundesrepublik bei.2 Angesichts der Tragik vieler der untersuchten Fälle tritt jedoch meist in den Hintergrund, dass die Gewaltexzesse der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte keineswegs aus dem „Nichts“ kamen. Vieles von dem, was nach 1945 in den konfessionell geführten Heimen geschah, war oftmals nur eine Fortsetzung dessen, was dort bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Alltag war. Diese Feststellung betrifft sowohl die Praxis der Disziplinierung als auch deren ideologische Fundierung. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg, vor allem aber in den Jahren der Weimarer Republik, wurden gerade unter katholischen Pädagogen intensive Debatten um das Züchtigungsrecht geführt. Immer wieder fand dabei das Pro­ blem der Gewaltausübung durch Geistliche und Ordensschwestern, meist auf Konferenzen, die auf Landes- sowie auf Reichsebene abgehalten wurden, Eingang in die Diskussionen. In der Regel waren die Ergebnisse freilich alles andere als überraschend: Züchtigung wurde als Mittel der Erziehung nicht nur nicht abgelehnt, sondern ausdrücklich befürwortet.3 Interessanterweise jedoch weist die Geschichte des seitens des Katholizismus geführten Diskurses neben den zu erwartenden Kontinuitäten ebenso Brüche auf. Auch wenn unter den geistlichen Erzieherinnen und Erziehern schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Verfechter der Prügelstrafe absolut in der Mehrheit waren, so gab es gleichwohl Heimleiter, die Gewalt sowie strenge Formen der Disziplinierung ablehnten und Anschluss an zeitgenössische Reformkonzepte suchten. Keineswegs war somit bereits vor 1933 der Weg in den „Anstaltsstaat“ der frühen Bundesrepublik vorgezeichnet. Auch die Alternativen hatten frühzeitig ihre Befürworter gefunden – und in manchen Fällen gingen diese Alternativen durchaus in die Praxis ein. Die vielschichtigen Debatten um die Ausübung physischer Gewalt in katholischen Anstalten, die vor der NS-„Machtergreifung“ geführt wurden, sollen Gegenstand des folgenden Beitrages sein.4 Räumlicher Schwerpunkt 2  Mit Blick auf die vordemokratischen und antiliberalen Strukturen der jungen BRD nach wie vor grundlegend: Kogon; Buchloh. 3  Dass die katholische Anstaltserziehung diesbezüglich keine Ausnahme darstellte, innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses, der mit Blick auf heranwachsende Generationen generell gewaltverherrlichend war, bedarf m. E. keiner weiteren Erläuterung. 4  Die meisten Quellen (Archivgut, Druckschriften, etc.), die den nachfolgenden Ausführungen zugrundeliegen, wurden im Archiv der Katholischen Jugendfürsorge München und Freising e. V. (AKJMF, Adlzreiterstraße / München) eingesehen. Ergänzend wurden Dokumente herangezogen, die im Stadtarchiv München überliefert sind. Veröffentlichungen zu den zitierten Fürsorge-Tagungen sind in gedruckter Form über die Bayerische Staatsbibliothek München zugänglich.



Die Gewaltdebatte in der katholischen Anstaltspädagogik197

der Darstellung ist das Gebiet des heutigen Südbayern, das sich in puncto Heimerziehung bis zum Ersten Weltkrieg in gewissem Sinne als „Entwicklungsland“ präsentiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Bayern in fast allen Fällen, in welchen die eigenen Eltern als pädagogische Instanzen ausgefallen waren oder von den Gerichten Zwangserziehung angeordnet worden war, einer Ersatzfamilie der Vorzug vor dem Heim gegeben. Es galt der Grundsatz des „Bayerischen Zwangserziehungsgesetzes“ von 1902, dass zunächst Möglichkeiten der Familienunterbringung zu prüfen seien. Dieses Postulat wirkte retardierend auf die Gründung pädagogischer Einrichtungen. In München zum Beispiel wurde erst 1909 ein eigenes Erziehungsheim für katholische Knaben eröffnet. Der Weltkrieg, der massenhaft alleinstehende Mütter und Waisenkinder zurückließ, führte schließlich zur Abkehr vom Primat der Familienerziehung. Ein Vorreiter bei der Gründung von neuen Heimen in Südbayern war die Katholische Jugendfürsorge München-Freising.5 Aufgrund der begrenzten Möglichkeiten, im Rahmen eines Sammelbandes eine erschöpfende Geschichte katholischer Anstaltserziehung im Bayern des frühen 20. Jahrhundert zu schreiben, wurde für die Darstellung die induktive Methode des pars pro toto gewählt. II. Debatten um die Disziplin in katholischen Anstalten vor 1914 Am 8. und 9. Oktober 1912 wurde im Katholischen Gesellschaftshaus in der Münchener Brunnstraße eine Konferenz abgehalten, die im Hinblick auf die Heimerziehung in Bayern wegweisend werden sollte. Vertreten auf der Tagung, die den Titel „Kursus für katholische Fürsorge-Anstaltserziehung“ trug,6 war so ziemlich jede Persönlichkeit, die sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg einen Namen in der konfessionell geprägten Pädagogik Süddeutschlands gemacht hatte. Geleitet wurde die Tagung von zwei Vordenkern der Katholischen Jugendfürsorge München und Freising, dem späteren Bischof von Regensburg, Dr. Michael Buchberger, sowie von Johannes Müller, dem ersten Direktor des 1910 in München gegründeten JugendfürsorgeVereins gleichen Namens.7 Unter den Rednern befanden sich unter anderem Oswald, S. 42–47. Ergebnisse der Tagung wurden im Jahr darauf unter dem Titel „Die Fürsorge-Erziehung. Vorträge gehalten auf dem ‚Kursus für katholische Fürsorge-Anstaltserziehung in Bayern‘“ (München 8. / 9.10.1912) veröffentlicht, s.  Buchberger /  Müller. 7  Beide geistlichen Würdenträger fungierten auch als Herausgeber des Tagungsbandes. Johannes Müller wurde nach einem Jahrzehnt jugendfürsorgerischer Tätigkeit in der bayerischen Landeshauptstadt zum Titularbischof des Apostolischen Vikariats (= nach der Reformation nicht mehr existierende Diözese) Schweden ernannt, vgl. Oswald, S. 19. Dr. Michael Buchberger machte 1933 als Bischof von Regensburg v. a. 5  Vgl. 6  Die

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der Direktor des Jugendfürsorge-Heimes Landau-Queichheim in der Pfalz – damals noch ein Teil Bayerns –, der Superior der Anstalt in Ursberg (heutiger Landkreis Günzburg) und ein Lehrer der Anstalt in Algasing (heutiger Landkreis Erding).8 Aus dem Vortrag jenes Lehrers aus Algasing – der Titel lautete „Allgemeine Grundsätze der Anstaltsdisziplin“ – sei im Folgenden etwas ausführ­ licher zitiert:9 [Aber] auch wirkliche Fehler gibt’s zu bekämpfen, so besonders Ungehorsam und Auflehnung, Lügen, Stehlen und Unsittlichkeit. Es ist heutzutage wohl eine allgemeine Klage, daß der Gehorsam abnimmt. Das geht, wenn man ehrlich sein will, selbst hinein bis in die Klöster. Warum sollte dieser Geist des Ungehorsams und der Auflehnung nicht auch im Kinde sich finden? Und ich habe mir schon oft im Stillen gedacht: Würde wohl der göttliche Heiland in unserer Zeit auch noch ein Kind nehmen und sagen: „Wenn ihr nicht werdet wie dieses Kind …“[?]

Nach einigen allgemeinen Ausführungen zur Notwendigkeit von Befehl und Gehorsam, kommt der Anstaltslehrer schließlich auf die – seiner Meinung nach – ultima ratio pädagogischen Wirkens zu sprechen: Wenn aber nun trotz aller Milde und Belehrung sich ein Trotzköpflein zeigt und gleich einem Fieberkranken seine Vernunft und bessere Einsicht auf kurze Zeit verliert, so mache ich solch einem Hitzkopf Steinrotangüberschläge.10 Und die wirken dann unfehlbar und schon mancher ehemaliger Algasinger hat mir dankbar die Hand dafür gedrückt.11

Abgesehen von den Bildern, die beim Lesen jener Zeilen evoziert werden, bedürfen die zitierten Ausführungen noch aus zwei weiteren Gründen einer tiefergehenden Analyse. Erstens: der Algasinger Lehrer führt mit Blick auf alle möglichen oder vermeintlichen „Verfehlungen“ von Kindern eine Hierarchie ein: Am wenigsten schlimm erscheinen ihm mangelhafte Umgangsformen. Dann folgen diejenigen Delikte, die man auch aus heutiger Sicht noch am ehesten als erziehungsbedürftig bezeichnen würde: Lügen und Stehlen. Als am verwerflichsten aber betrachtet der Pädagoge den Ungehorsam, die Auflehnung, das Nichtbefolgen von Anordnungen – und zwar als derart verwerflich, dass er Kinder, die sich ungehorsam verhalten, gar der Gnade Gottes entzogen sehen möchte. Im übertragenen Sinne wird in den Ausführungen von sich reden, als er wegen zustimmender Kommentare zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Gegensatz zu Kardinal Faulhaber geriet, vgl. Oswald, S. 18; Richter. 8  Vgl. Buchberger / Müller. 9  Der Vortrag teilte sich in die Abschnitte „bilden – bessern – behüten“. Die für diesen Beitrag gewählten Auszüge sind dem zweiten Teil entnommen. 10  „Steinrotangüberschläge“ bezeichneten Schläge mit dem Rohrstock – auch: „Spanisches Rohr“ – auf das nackte Gesäß. 11  Schelle, S. 50–53.



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des Lehrers somit die Welt der Erwachsenen als eine von Gott gegebene Ordnung skizziert. Konsequenterweise müssen Verstöße gegen die metaphysisch überhöhte Hierarchie bürgerlichen Zusammenlebens deshalb auch die Verdammnis zur Folge haben. Eine derart dualistische, regelrecht jenseitsfixierte Aufteilung alltäglichen Daseins kann als charakteristisch für die bis in die 1970er Jahre praktizierte „Schwarze Pädagogik“ in konfessionell geführten Heimen bezeichnet werden. Erwünschte Verhaltensweisen wurden in Einklang mit Gott und seinem Wollen imaginiert. Auf Renitenz hingegen warteten Höllenstrafen, mindestens aber der Limbus.12 Einige katholische Theologen gingen soweit, Kinder aufgrund ihres angeborenen Ungehorsams – gemeint waren die kindlichen Trotzphasen – als per se „böse“, sie also als grundsätzlich dem Teufel ver­ fallen zu charakterisieren, wobei selbst die Taufe keine „Reinigung“ der Seele bewirken könne.13 Zweitens schließlich dürfte von Interesse sein, dass der zitierte Algasinger Lehrer zum Zwecke der Ahndung des geradezu als Todsünde deklarierten Vergehens des Ungehorsams im Grunde nur ein Mittel zulässt: die Züchtigung. Zwar spricht er von Milde und Belehrung, wie diese Prinzipien jedoch in der Praxis umgesetzt werden könnten, verschweigt er. Vielmehr empfiehlt er sofort als ultima ratio die berüchtigten Stockschläge. Mit seiner Meinung war der Algasinger Pädagoge auf jener Münchener Tagung nicht allein. Andere Referenten vertraten ähnlich rigide Standpunkte. Auch sie betrachteten Ungehorsam als das schlimmste Vergehen, dessen sich Kinder oder Jugendliche schuldig machen könnten und befürworteten strenge körperliche Züchtigung, um Schutzbefohlenen den „rechten Weg zu Gott“ zu weisen. Ein Stadtpfarrer beispielsweise, der auf der Konferenz sprach, unterteilte Kinder grundsätzlich in „gute“ und „boshafte“. Letztere seien die „Sünder in unseren Anstalten“ und müssten streng diszipliniert werden, wobei man „die körperliche Strafe so einrichten“ müsse, „daß sie schmerzt ohne die Gesundheit zu gefährden“, grundsätzlich aber sei „Humanitätsduselei“ zu vermeiden.14 Ein weiterer Anstaltslehrer schließlich forderte, dass „Böswilligkeit und Mißgunst“ von Kindern mit „Körperstrafe[n] und zeitweilige[r] Absonderung“ geahndet werden müsse.15 12  Der limbus puerorum wurde in vorkonziliarischer Zeit eigentlich als eine Art Vorhölle dargestellt, in die ungetauft verstorbene Kinder gelangten. Diese Kinder seien zwar noch nicht mit Vernunft begabt, gleichwohl aber mit der Erbsünde belastet. Dazu s. Gélis; Schwarz. 13  Zu dieser Debatte s. Stadler, S. 40–51; Riehl, S. 52–60; Kuhn, S. 115–131; Disziplin [Manuskript], München [1920er Jahre], in: AKJMF, Box: Clemaki, Schule 1919, Mappe: Material zur Anstaltsordnung; Gehltomholt / Hering, S.  57 f. 14  Wagner, S. 58, 66. 15  Lohrer, S. 121.

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Wer sich bereits etwas mit der Frühgeschichte katholischer Jugendfürsorge und Heimerziehung beschäftigt hat, für denjenigen fördern die bisher auszugsweise zitierten Stellungnahmen und Beiträge sicherlich kaum neue Erkenntnisse zutage. Das Gebot, Strenge, nicht zuletzt physische Strenge, gegenüber Kindern walten zu lassen – weil ihnen Ungehorsam angeboren sei –, war im Grunde so alt wie die konfessionelle Pädagogik selbst. Kein geringerer als der berühmte Moraltheologe Johann Baptist von Hirscher war es, der in seiner berühmten, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder neu aufgelegten Katechetik von der „Erbsünde des Kindes“ sprach.16 Die offenkundige Dominanz rigiden disziplinarischen Denkens, ein Denken, das auf einseitigen Auslegungen des Alten Testamentes17 sowie auf überkommenen theologischen Debatten des 19. Jahrhunderts gründete, provoziert freilich eine weiterführende Frage. War es angesichts des pädagogischen Mainstreams überhaupt möglich, war es grundsätzlich denkbar, dass sich weniger auf Gewalt basierende Positionen entwickeln konnten, sich formulieren ließen? Diejenigen, die bereit waren, die althergebrachten Ideale in Frage zu stellen, beschritten einen schwierigen und steinigen Weg. Gleichwohl aber wurden Versuche in diese Richtung unternommen – nicht zuletzt auf jener Münchener Tagung zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Im Herbst 1912 sprachen in der bayerischen Hauptstadt nämlich nicht nur Verfechter jener auf Gewalt und Aggression basierender Erziehungsideale, sondern auch katholische Pädagogen, die moderneren Richtungen zugerechnet werden konnten. So finden sich beispielsweise im Vortrag des bereits erwähnten Superiors aus Ursberg – sein Thema war die Person des Erziehers – gemessen an den gängigen Erziehungsprinzipien, geradezu „revolutionär“ anmutende Sätze: Ohne wahre Liebe kann der Erzieher weder Gott noch die Eltern vertreten, noch bei den Kindern irgend etwas ausrichten. Der Mensch ist ebenso erziehungsbedürftig als erziehungsfähig. Die Erziehung ist aber kein Gewaltakt, kein Werk des Zwanges, sondern vollzieht sich in äußerer Leitung und Selbstbestimmung. […] die Freiheit des Menschen (muß) respektiert bleiben, derart, daß der Zögling seiner Freiheit nicht völlig überlassen, daß sie ihm aber auch nicht genommen werden darf. […]18

16  „Ferner, welcher Reichtum des Unkrautes, das überall neben dem Guten früh schon aufschießt! Hat nicht jedes Kind, so zu sagen, seine eigene Erbsünde? Welche Mannigfaltigkeit der Gemüthsarten? Welche Zahllosigkeit von Verirrungen (an sich betrachtet) löblicher und vielversprechender Eigenschaften!“ (von Hirscher, S.  4 f.). 17  Gründend v. a. auf Spr 13,24: „Wer seine Rute schont, haßt seinen Sohn, wer ihn liebhat, nimmt ihn früh in Zucht.“ 18  Gerle, S.  25 f.



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Sicherlich könnte gemutmaßt werden, dass der Ursberger Geistliche vielleicht eine Ausnahmeerscheinung auf jener Tagung war, er somit nur eine Einzel-, eine Außenseitermeinung vertrat. Dem aber war mitnichten so. Vielmehr finden sich auch in den Vorträgen anderer Referenten Positionen, denen das Motiv zugrundelag, katholische Heimerziehung mit progressiven Weltbildern in Einklang zu bringen. Ein Referent, Pater Cyprian Fröhlich, der Generalpräses des Seraphischen Liebeswerkes, wagte es gar, mit Blick auf die Kinder das Wort „Demokratie“ in den Mund zu nehmen: Kinder sind geborene Demokraten, manchmal Freischärler. Kinder haben ein eigenes Freiheitsgefühl, das man nicht unterdrücken darf […] und Zweck der christ­ lichen Pädagogik ist [es], Kinder zum gottwohlgefälligen Gebrauch ihrer Freiheit zu erziehen. […] O stecken Sie die Kinder nicht […] in die Zwangsjacke ständiger […] ängstlicher Aufsicht!19

Der im Oktober 1912 in München abgehaltene „Kursus für katholische Fürsorge-Anstaltserziehung“ war nur einer unter vielen seiner Art. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang wären auch eine Konferenz der „Vereinigung für katholische caritative Erziehungstätigkeit“ – bereits die dritte einer eigenen Reihe – sowie ein zum wiederholten Male durchgeführter „Kurs für Anstaltspädagogik“, die beide im August 1911 in Donauwörth stattfanden.20 Im Gegensatz jedoch zu den in der ehemaligen Reichsstadt anberaumten Veranstaltungen wurden in München konträre Positionen vertreten und gerieten widerstreitende Meinungen über die Ausübung von Gewalt gegenüber Minderjährigen und Kindern aneinander. Der Münchener „Kursus“ belegt somit auf eindrucksvolle Weise, dass sich schon vor dem Ersten Weltkrieg katholische Heimerziehung keineswegs als monolithischer Block darstellt. Im Grunde fand damals im Katholischen Gesellschaftshaus jede zeitgenös­ sische Lehrmeinung ihre Vertreter – von den „Erbsünde“-Theoretikern Hirscher­ scher Prägung mit ihrer unweigerlichen Schlussfolgerung, dass Schläge und Prügel in der Erziehung unumgänglich seien, bis hin zu progressiven Denkern, die sich auf einer Linie mit der Reformpädagogik befanden, deren Rezeption aufgrund von Antimodernisteneid21 und Antiliberalismus der Katholischen Kirche eigentlich verboten gewesen wäre. Dass die Tagung in München stattfand, vor allem aber: dass ergebnisoffen diskutiert wurde, dies darf freilich kaum überraschen, war der Veranstalter doch der Bayerische Landesverband der katholischen Jugendfürsorge-Vereine, dessen starke Münchener Organisation, gegründet 1910, eine Art Avant19  Fröhlich,

S. 79. S. 50–53. 21  Begründet in dem Apostolischen Schreiben Sacrorum antistitum von Papst Pius X., das alle katholischen Geistlichen per Eid auf die antiliberale Linie des Vatikan seit der Enzyklika Syllabus errorum (1864) verpflichtete. 20  Schelle,

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garde unter den konfessionellen Wohltätigkeitsinstitutionen in Süddeutschland darstellte.22 III. Reformansätze katholischer Heimerziehung zur Zeit der Weimarer Republik Der Erste Weltkrieg wirkte auf die innerkatholischen Debatten um die Anstaltspädagogik gleichzeitig hemmend und stimulierend. Hemmend zunächst in dem Sinne, dass die Heilfürsorge Kapazitäten absorbierte, die eigentlich der Erziehungshilfe vorbehalten waren. Eine ineffiziente Kriegswirtschaft hatte zu eklatanten Mängeln an Grundnahrungsmitteln geführt. Die Konsequenzen: Breite Schichten der Bevölkerung wurden krankheitsanfällig, Volksseuchen wie Influenza („Spanische Grippe“), Tuberkulose und Typhus grassierten und stellten ein kaum zu bewältigendes Problem für Militär- und Zivilverwaltungen dar.23 Besonders betroffen von den Volkskrankheiten war die jüngste Generation. Unter Kindern und Jugendlichen nahmen als Folge von Mangelernährung Lungenerkrankungen sowie Missbildungen (Rachitis) sprunghaft zu und erforderten von den Wohlfahrtsinstitutionen ein entschiedenes Handeln. Die Katholische Jugendfürsorge beispielsweise reagierte auf die neuen Herausforderungen mit dem Auf- und Ausbau mehrerer Heil­ zentren am Rand der bayerischen Alpen.24 Stimulierend auf die pädagogischen Debatten wiederum wirkte der Weltkrieg aufgrund der exponentiell gestiegenen Zahl an Waisen und Halbwaisen – ein Umstand, der der Jugendfürsorge und im Speziellen der Heimerziehung in Deutschland einen ungeahnten Aufschwung bescherte. Neuerungen als Konsequenz aus den Kriegseinwirkungen im Jugendrecht, so etwa das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922, die eine Abkehr vom Prinzip der Familienerziehung25 – ein Allgemeinplatz der Jugendfürsorge bis 1914 – begünstigten, führten zu einem dramatischen Ausbau der Heimlandschaft. Bereits bestehende Einrichtungen wurden großzügig erweitert, neue Institutionen wurden gegründet.

22  Vgl. Oswald, S. 7 f. Bereits die Richtlinien sowie die Satzung des Katholischen Jugendfürsorgevereins der Erzdiözese München und Freising enthalten sich jeglicher pejorativer, auf herkömmliche katholische Katechetik rekurrierender Wertung von Kindern und Jugendlichen, vgl. Schiela. 23  Vgl. Feldman, S. 461–463; Pezet, S. 1. 24  Vgl. Oswald, S. 26–34. 25  Die Katholische Jugendfürsorge der Erzdiözese München-Freising nahm auch in dieser Frage eine enorm progressive Haltung ein. Kritik am Primat der Familienunterbringung begleiteten die Debatten innerhalb des Vereins bereits seit seiner Gründung 1910, vgl. Oswald, S. 42–49.



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Da jedoch nach wie vor die gleichen rigiden Erziehungsprinzipien üblich waren wie in der Kaiserzeit, nach wie vor somit Gewalt, Demütigung und Einsperren als etwas „Normales“ und für eine erfolgreiche Pädagogik „Notwendiges“ betrachtet wurden, nahm folglich auch die Zahl der Exzesse in den Heimen sprunghaft zu, wobei die Öffentlichkeit in Deutschland spätestens seit Ende der 1920er derart sensibilisiert war für das, was in manchen Anstalten vor sich ging, dass eine Vielzahl von Fällen den Weg in die Presse fanden. Einige Skandale seien erwähnt. 1928 wurde in Preußen ein „flüchtiger“ Heimzögling von der Polizei erschossen.26 Im Frühjahr des folgenden Jahres meldete alleine die Pfalz vier Anstaltsrevolten und im April 1930 schließlich wurden drei Bedienstete einer evangelischen Erziehungsanstalt in Schleswig-Holstein wegen gefährlicher Körperverletzung zu Gefängnisstrafen verurteilt.27 Das meiste Aufsehen allerdings erregte ein Vorfall, der sich Anfang der 1930er Jahre im Kreis Celle (heute Niedersachsen) ereignete. Aus Protest gegen ständige Misshandlungen und schlechtes Essen revoltierten am Abend des 18. Februar 1930 fünfundzwanzig Jungen des Landeserziehungsheimes Scheuen gegen die Direktion, die ihrerseits mit brachialer Härte reagierte: Alle beteiligten Zöglinge wurden schwer verprügelt, ein Junge so schwer, dass er wenige Wochen später seinen Verletzungen erlag.28 Der von der Presse bald als „Fall Scheuen“ bezeichnete Skandal heizte die emotional ohnehin bereits aufgeladene Debatte um die adäquate Form der Fürsorgeerziehung nochmals an. Während die Befürworter einer Anstalts­ erziehung für Waisen und straffällig gewordene Jugendliche die Revolten auf radikal-politische Kräfte unter den Insassen zurückführten, stand bei den Gegnern rasch die Heimunterbringung als solche am Pranger. Dabei waren einzelnen Kritikpunkte keineswegs aus der Luft gegriffen. Es entsprach der Realität, dass in vielen Erziehungsstätten, ob nun staatlicher, kommunaler oder konfessioneller Trägerschaft unterstehend, Gewalthandlungen an der Tagesordnung waren, dass in zahlreichen „Besserungsanstalten“ bereits geringste Verfehlungen mit Arrest und Kostentzug geahndet wurden. Oftmals existierten ausgefeilte Strafkataloge – in Baden sogar staatlicherseits verordnet –, die noch heute in vielen überlieferten Hausordnungen nachgelesen werden können. „Kulturschande“ – diese auf eine SPD-Abgeordnete des preußischen Landtages zurückgehende Beschreibung brachte die damalige Lebenswirklichkeit in den Heimen weitgehend auf den Punkt.29 Gräser, S. 101. Gräser, S. 105. 28  Vgl. Gräser, S. 104. 29  Vgl. Gräser, S. 105; „Jugend in Obhut“, in: Münchner Zeitung, 16.6.1932; Göttinger, Prof. Heinr. an den Magistrat der Hauptstadt München, 14.1.1919, in: 26  Vgl. 27  Vgl.

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Doch die öffentliche Diskussion fokussierte nicht nur auf offenkundige Missstände in den deutschen Erziehungsanstalten. Nachdem sich die erste Aufregung im Gefolge des Scheuener Skandals gelegt hatte, gerieten zunehmend auch die Strukturen der zeitgenössischen Heimerziehung ins Visier der Presse. Konkret ging es um die mangelnde Professionalisierung der Anstaltsbeschäftigten, um Tagesabläufe sowie um pädagogische Traditionen. In der Tat müssen die fachlichen Fertigkeiten der meisten damaligen sogenannten „Erzieher“ als erbärmlich bezeichnet werden. Oftmals mangelte es dem Heimpersonal bereits an grundlegenden Kenntnissen, um Verhaltensweisen der anvertrauten Kinder und Jugendlichen auch nur annährend erfassen und einordnen zu können. In keinerlei Weise hinreichende Betreuungsschlüssel – in manchen Fällen wurden zwanzig Personen von einem „Aufseher“ überwacht – taten ein Übriges. Die Folge war, dass auf jede nur denkbare Form der Disziplinlosigkeit mit Prügel reagiert wurde. Geradezu unerträg­ liche Zustände herrschten in jenen Anstalten, deren Mitarbeiter sich fast ausschließlich aus weltlichen männlichen Beschäftigten rekrutierten. Gedacht als Versorgungseinrichtungen für demobilisierte Soldaten, dominierte dort ein Betreuertyp, der ohne jede pädagogische Vorbildung seinem brutalen, während des Krieges entmenschlichten Wesen freien Lauf lassen konnte.30 Nicht viel besser verhielt es sich mit den alltäglichen Abläufen in vielen Anstalten. Eingezwängt in eine strikte Tagesordnung, die in der Regel mit militärischem Drill durchgesetzt wurde, blieb den Kindern und Jugendlichen so gut wie keine Möglichkeit der persönlichen Entfaltung, auch nicht des persönlichen Rückzugs. Verstöße wiederum gegen die durch und durch reglementierten Abläufe wurden mit strengen Disziplinarmaßnahmen, mit Arrest und Schlägen geahndet. Sicherlich waren derartige Exzesse das Ergebnis individuellen Versagens vor Ort. Möglich gemacht aber wurden sie dadurch, dass die Gewalt von den Spitzen der meisten kommunalen und konfessionellen Wohlfahrtsorganisationen stets aufs Neue gebilligt wurde. Wenn es eine Mitschuld des institutionellen Überbaus an den Skandalen aus der Zeit der späten Weimarer Republik gab, so bestand sie darin, dass der Prügelstrafe nie eine klare und eindeutige Absage erteilt wurde. Bestenfalls argumentierten die Direktoren und Vorstände, dass Ohrfeigen und Stockschläge noch keinem Heranwachsenden geschadet hätten.31 Staatsarchiv München (StA München), RA 60076; I. Strafordnung für die badischen Fürsorgeerziehungsanstalten, 29.6.1922, in: AKJMF, Box: Clemaki, Schule 1919, Mappe: Material zur Anstaltsordnung; Satzung für die Erziehungsanstalt Piusheim, S.  20 f. 30  Vgl. Gräser, S. 106, 114–117. 31  Vgl. etwa Anstaltskurs: „Der schulentlassene Fürsorgezögling“, München 13.– 15.9.1926. Leitsätze zum Thema: „Praktische Fragen der Anstaltszucht“ von Direktor P. Petto, Birkeneck, in: AKJMF, Box: Clemaki 1918–1938, Schule und Heimerzie-



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Wie verhielt sich die katholische Pädagogik in Bayern angesichts der Skandale, die die Jugendfürsorge gegen Ende der Weimarer Republik erschütterten? Euphemistisch gesprochen pflegten die Mehrheit der Erzieher wie auch die überwiegende Mehrzahl der Einrichtungen ihre eigene, ganz spezielle Kontinuität. Nach wie vor bestanden die grundlegenden Elemente konfessioneller Pädagogik darin, kindliche Trotzphasen als Ungehorsam und Auflehnung gegenüber einer vermeintlich von Gott gegebenen Ordnung aufzufassen, worauf mit den herkömmlichen Mitteln, mit Prügel und Stockschlägen reagiert wurde. Gleichwohl waren sowohl in der Theorie als auch in der Praxis erneut Gegenpositionen zu vernehmen – so etwa 1924 in Freiburg im Breisgau. In jenem Jahr fand in der badischen Stadt ein sogenannter „Führerkursus für katholische caritative Anstaltserziehung“ statt. Zwei Jahre später wurden die auf der Tagung gehaltenen Referate unter dem gleichen Titel publiziert. Herausgeber war ein gewisser Dr. Joseph Beeking, seines Zeichens Privatdozent an der Universität Freiburg im Breisgau, als Auftraggeber firmierte der „Verband der katholischen Waisen- und Fürsorgeerziehungsanstalten Deutsch­ lands“.32 Der Sammelband wurde also von höchster Stelle angestoßen. Unter den Beiträgen finden sich Aufsätze, deren Aussagen zu Fragen von Zucht und Ordnung in katholischen Anstalten durchaus bemerkenswert sind. Karl Gustav Peters beispielsweise, Oberpfarrer in Brauweiler bei Köln, versuchte unverhohlen, die katholische Heimerziehung für die in Deutschland kaum rezipierte Reformpädagogik zu öffnen. Anschließend an eine geharnischte Kritik an den katholischen Erziehungsanstalten zeigt Peters in seinen Ausführungen mögliche Alternativen auf. Dass er damit keine Mehrheitsmeinung vertritt, scheint ihm bewusst zu sein: Und ich bin so kühn, das, was ich hier meine, am Beispiel jener zu illustrieren, von denen uns ein ganzer Abgrund trennt. Der modernsten Richtung der Pädagogik, die mit allen christlichen und erziehlichen Traditionen der Vergangenheit gebrochen hat, müssen wir das eine unbedingt lassen: Sie sieht die Schönheit des Kindes, der kindlichen Ursprünglichkeit, das Große in der Kinderseele. […] Sie sinnt auf neue Methoden, auf Schaffung neuer Entwicklungsgrundlagen und Entwicklungsmöglichkeiten. Sie will dem Kinde Liebe, viel Liebe bringen[.]33

Und weiter mit Blick auf die Umsetzung dieser Prämisse in den Erziehungsheimen: „Die Seele des verwaisten und verlassenen Kindes mit seinem Weh und Wunden verlangt zunächst einmal äußerste Schonung und Bewahrung vor Rohheit und Rauheit.“34 hung, Mappe: [Material zur Anstaltsordnung, Herbst 1926]; Leitstern für die Zöglinge im Knaben-Erziehungsinstitut Algasing, S. 30–41; Schelle, S. 49, 53. 32  Vgl. Beeking. 33  Peters, S.  97 f. 34  Peters, S. 100.

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Liebe statt Argwohn, Zuwendung statt Züchtigung und dies alles am Vorbild einer Erziehung orientiert, die von konfessionellen Traditionalisten noch bis in die 1960er Jahre hinein als Teufelswerk abgetan wurde.35 Auch Katholiken konnten in der Zwischenkriegszeit zur pädagogischen Avantgarde zählen. Angesichts der zitierten „modernistischen“ Sichtweisen auf die Psyche von Kindern konnte es nicht ausbleiben, dass auf der Freiburger Tagung schließlich intensiv über die Frage der Gewaltanwendung diskutiert wurde. Wie kaum anders zu erwarten prallten auch mit Blick auf diesen Punkt konträre Meinungen aufeinander. Einerseits kamen Redner zu Wort, die, in der Kontinuität Hirschers stehend, bestenfalls bereits waren, Auswüchse des Anstaltswesens zu kritisieren.36 Andererseits machten Konzepte die Runde, die jeder Form der Körperstrafe eindeutig und unmissverständlich die Grundlagen entzogen – wie etwa in dem Referat eines Anstaltsdirektors aus Krefeld, das die Rolle des Erziehers in den Mittelpunkt rückte: Vor allem muß er auch die guten Seiten in seinem Zögling suchen. Er darf nicht ruhen, bis er solche gefunden hat; ganz fehlen sie bei keinem einzigen. An diese guten Seiten ansetzen, lobend und ermunternd ausbauen und den Zögling dabei zur Mitarbeit, also zur Selbsterziehung anregen, ist viel freudiger für Erzieher und Zögling und gibt auch mehr Aussicht auf Erfolg, als die nörgelnde Bekämpfung des Bösen, das Beschneiden der schlimmen Anlagen, Neigungen und Gewohnheiten.37

Dass modernes und reformorientiertes Gedankengut im Heimerziehungswesen nicht zwangsläufig auf der Ebene der Theorie verharren musste, zeigt wiederum das Beispiel des 1910 gegründeten Katholischen Jugendfürsorgevereins der Erzdiözese München-Freising. Ursprünglich im Vormundschaftswesen und in der Vermittlung von Pflegekindern beheimatet hatte der Verein – dem Trend der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg folgend – bis Mitte der 1920er mehrere Kinderheime übernommen und ausgebaut: das ClemensMaria-Kinderheim, das Maria-Theresia- sowie das Adelgundenheim – alle im Münchener Süden beziehungsweise Südosten beheimatet.38 Was die Vorstellungen von Disziplin und Ordnung anbelangte, unterschieden sich die 35  Noch 1960 wurde ein katholischer Geistlicher in der Presse – Anlass war eine Tagung, auf der es um Erziehungsfragen ging – folgendermaßen zitiert: „eine tatkräftige Watsch’n ist besser als […] Vertrauen“ (Art. „Ist Autorität heute noch gefragt?“, in: Süddeutsche Zeitung, 6.12.1960). Und noch 1969 wurde es überhaupt der Erwähnung für wert befunden, dass auf den Ferienfreizeitmaßnahmen des Caritasverbandes der Erzdiözese München und Freising keine „Erziehungsmaßnahmen, wie Essensentzug, Einsperren oder gar Schläge gestattet“ seien (Art. „Keine Experimente mit Kindern“, in: Münchner Merkur, 9.7.1969). 36  Vgl. etwa Kasperczyk. 37  Becker, S. 111. 38  Vgl. Oswald, S. 45–50.



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drei Heime der Katholischen Jugendfürsorge dabei zunächst kaum von Einrichtungen anderer konfessioneller oder kommunaler Träger, wie etwa folgende „Strafordnung“ des Clemens-Maria-Kinderheimes, vermutlich zu Beginn der 1920er Jahre aufgestellt, zeigt: Die Strafe ist in einer Erziehungsanstalt nicht Selbstzweck, sondern Erziehungsmittel. Alle Erziehungskräfte im Hause müssen sich daher dessen eingedenk sein, dass die Strafe, im besonderen die körperliche Strafe, zwar ein unentbehrliches, aber das letzte Erziehungsmittel ist.

Nachdem einige Gedanken über die Sinnhaftigkeit des Strafwesens in einer katholischen Anstalt eingestreut werden, wobei als Endzweck postuliert wird, dass die „Kinder […] aus der Art der Vollstreckung der Strafe herausfühlen (sollen), dass man nur ihr Bestes will“, unternimmt der Autor der „Strafordnung“ schließlich den Versuch, die Gewaltanwendung im ClemensMaria-Kinderheim zu verregeln: Die Kinderschwestern dürfen nur kleine Verstösse gegen die Disziplin und Hausordnung bestrafen. Hierüber ist ein Einvernehmen mit Mutter Oberin anzustreben. Sie dürfen die Strafen […] nur bis zu 2 Streichen auf die Hand erteilen. […] Ueber die verhängten Strafen, die von einiger Bedeutung sind, ist Verzeichnis zu führen.39

Innerhalb der Führung des Vereins war man sich jedoch rasch darüber im Klaren, dass derartige „Ordnungen“ in hohem Maße problembehaftet waren. Einerseits waren sie von dem Gedanken durchdrungen, die physische Misshandlung von Kindern mit Hilfe von Ermahnungen, Regeln und „Höchststrafen“ einzudämmen. Andererseits aber konnte alleine aufgrund der Tatsache, dass zum Beispiel „Stockstreiche“ erlaubt waren, eine Eindämmung der Gewalt in der Praxis nicht garantiert werden. Gegen Ende der 1920er Jahre musste auch die Einrichtung, die die zitierte „Strafordnung“ erließ, diese Erfahrung machen, als bekannt wurde, dass im Clemens-Maria-Kinderheim mehrmals härtere Strafen exekutiert worden waren, als jene erlaubten „2 Streiche[…] auf die Hand“.40 Die Debatte über die Stockstreiche wurde über mehrere Jahre hinweg geführt. Schließlich wurde 1931 die betreffende Person, die ihre disziplinarischen Kompetenzen überschritten hatte, aus dem Clemens-Maria-Kinderheim abberufen.41 Für dieses Vorgehen des damaligen Direktors des Katholischen 39  Clemens-Maria-Kinderheim [= Anstaltsordnung, masch. o. Dat.], in: AKJMF, Box: Clemaki, Schule 1919, Mappe: Schwestern, Mutterhaus. 40  Vgl. An Wohlehrwürdige Mutter C. O.S.F., Generaloberin der Franziskanerinnen Erlenbad, P. Aachern (Baden), 1.5.1931, in: AKJMF, Box: Clemaki, Schule 1919, Mappe: Schwestern, Mutterhaus. 41  Vgl. An Wohlehrwürdige Mutter C. O.S.F., Generaloberin der Franziskanerinnen Erlenbad, P. Aachern (Baden), 1.5.1931, in: AKJMF, Box: Clemaki, Schule 1919, Mappe: Schwestern, Mutterhaus. Die Mitarbeiter eines Heimes der Katholischen Jugendfürsorge waren nur in ganz geringer Zahl durch den Verein selbst angestellt. In

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Jugendfürsorge-Vereins, Msgr. Hennerfeind, mögen gewiss auch die aufgedeckten „Fälle“ im Gefolge des Scheuener Skandals ausschlaggebend gewesen sein – somit eine Sorge um das Ansehen des Vereins. Gleichwohl scheinen die progressiven Ansätze, die nicht zuletzt unter katholischen Erziehern bereits seit etwa zwei Jahrzehnten diskutiert wurden, ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. Immerhin begründete eben jener Direktor Hennerfeind sein Einschreiten im Falle des Clemens-Maria-Kinderheims damit, dass „körperliche[…] Züchtigung“ und der „Stock […] doch wirklich nicht der Erziehung größte Weisheit(en)“ seien.42 Innerhalb des Katholischen Jugendfürsorgevereins blieb es nicht bei dieser einmaligen Maßnahme. Kurz nachdem die Vorfälle in jenem Heim im Münchener Süden einer Lösung zugeführt worden waren, vermeldete Hennerfeind an das Münchener Wohlfahrts- und Jugendamt, dass „Vorsorge getroffen“ sei, „dass ähnliches sich nicht mehr wiederholt“.43 Daraufhin wiederum scheint das Verbot physischer Strafen auf das gesamte Anstaltspersonal und auf alle Heime des Vereins ausgeweitet worden zu sein. Jedenfalls wird von ehemaligen Zöglingen berichtet, dass es in den Heimen der Katholischen Jugendfürsorge „keine Schläge“ gab.44 In der Nachkriegszeit schließlich, nach wie vor fungierte Msgr. Hennerfeind als Direktor, wurden in den drei Münchener ­Heimen keine Vorfälle an körperlicher Züchtigung mehr aktenkundig.45 In den 1950ern, in der restaurativen Adenauer-Ära, versank die Heimerziehung in Deutschland erneut in Gewalt und Brutalität. Betroffen waren alle Träger – die kommunalen, die evangelischen, auch die katholischen.46 Aber und vor allem mit Blick auf die katholischen Einrichtungen muss betont werden, dass der Weg in den bundesrepublikanischen Anstaltsstaat alles ­andere als alternativlos war. Gewiss: es gab sie, die Birkenecks, die Piusheime47 – jene gefürchteten, gefängnisartigen Anlagen, in denen Persönlichkeiten gebrochen und Jugendliche an Leib und Seele gequält wurden. Aber der Regel wurde mit einem Orden ein Vertrag über die personelle Bestückung eines Heimes geschlossen. Für den Verein hatte dies den Vorteil, dass lediglich Aufwendungen für Verpflegung und Unterbringung als Personalkosten anfielen. Die Leitung eines Heimes verblieb freilich in den Händen eines Jugendfürsorge-Angestellten. 42  An Wohlehrwürdige Mutter C. O.S.F., Generaloberin der Franziskanerinnen Erlenbad, P. Aachern (Baden), 1.5.1931, in: AKJMF, Box: Clemaki, Schule 1919, Mappe: Schwestern, Mutterhaus. 43  An das Wohlfahrts- und Jugendamt München, 5.5.1931, in: AKJMF, Box: Clemaki, Schule 1919, Mappe: Schwestern, Mutterhaus. 44  Vgl. etwa 100 Jahre Adelgundenheim München-Au, S. 34. 45  Über die Zeit des Nationalsozialismus liegen keine belastbaren Informationen vor, vgl. Oswald, S. 55–58. 46  Dazu v. a. Wensierski; Frings; Frings / Kaminsky; Gehltomholt / Hering; Zahner. 47  Vgl. Oswald, S.  114 f.



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es gab eben auch jene anderen Heime, in welchen aufgeklärte Erzieher schon in der Zwischenkriegszeit reformpädagogische, gleichwohl katholische Konzepte in die Tat umsetzten und die ebenso als Vorbilder hätten dienen können. Angesichts der Aufdeckung zahlloser Gewaltexzesse und Missbrauchsfälle seit 2010 sollte die gegenwärtige Forschung nicht übersehen, dass gewaltfreie Erziehung in der konfessionellen Anstaltspädagogik nicht unbedingt ein Fremdwort sein musste – eine Tatsache, wofür etwa die Katholische Jugendfürsorge der Erzdiözese München und Freising exemplarisch steht. IV. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Ungedruckte Quellen Archiv der Katholischen Jugendfürsorge München und Freising e. V. (AKJMF) Staatsarchiv München (StA München)

Gedruckte Quellen Becker, Franz: Der männliche Jugendliche in der caritativen Erziehungsanstalt unter besonderer Berücksichtigung des Fürsorgezöglings, in: Joseph Beeking (Hrsg.), Katholische caritative Anstaltserziehung. Im Auftrage des Verbandes der katholischen Waisen- und Fürsorgeerziehungsanstalten Deutschlands, Freiburg im Breisgau 1926, S. 103–111. Beeking, Joseph (Hrsg.): Katholische caritative Anstaltserziehung. Im Auftrage des Verbandes der katholischen Waisen- und Fürsorgeerziehungsanstalten Deutschlands, Freiburg im Breisgau 1926. Buchberger, Michael / Müller, Johannes (Hrsg.): Die Fürsorge-Erziehung. Vorträge, gehalten auf dem „Kursus für katholische Fürsorge-Anstaltserziehung in Bayern“, München 1913. Fröhlich, Cyprian: Spiel, Beschäftigung und Erholung in Anstalten, in: Michael Buchberger / Johannes Müller (Hrsg.), Die Fürsorge-Erziehung. Vorträge, gehalten auf dem „Kursus für katholische Fürsorge-Anstaltserziehung in Bayern“, München 1913, S. 75–83. Gerle, o. A.: Die Person des Erziehers, in: Michael Buchberger / Johannes Müller (Hrsg.), Die Fürsorge-Erziehung. Vorträge, gehalten auf dem „Kursus für katholische Fürsorge-Anstaltserziehung in Bayern“, München 1913, S. 23–32. Hirscher, Johann Baptist von: Katechetik. Oder: Der Beruf des Seelsorgers, die ihm anvertraute Jugend im Christenthum zu unterrichten und zu erziehen, Tübingen 1840. Kasperczyk, Paul: Der Schwererziehbare vom Standpunkt des Pädagogen, in: Joseph Beeking (Hrsg.), Katholische caritative Anstaltserziehung. Im Auftrage des Ver-

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Rudolf Oswald

bandes der katholischen Waisen- und Fürsorgeerziehungsanstalten Deutschlands, Freiburg im Breisgau 1926, S. 136–158. Kuhn, Andreas: Pädagogik der Strafe, in: Josef Weber (Hrsg.), Anstaltspädagogik und Jugendfürsorge. Gesamtbericht über die 3. Konferenz der „Vereinigung für katholische caritative Erziehungstätigkeit“ und über den 2. Kurs für Anstaltspädagogik, Donauwörth [1911], S. 115–131. Leitstern für die Zöglinge im Knaben-Erziehungsinstitut Algasing (Obb.), 2. Aufl., München 1918. Lohrer, Max: Lüge und Diebstahl und ihre erzieherische Behandlung, in: Michael Buchberger / Johannes Müller (Hrsg.), Die Fürsorge-Erziehung. Vorträge, gehalten auf dem „Kursus für katholische Fürsorge-Anstaltserziehung in Bayern“, München 1913, S. 109–125. o. A.: 100 Jahre Adelgundenheim München-Au, o. A. [1998]. Peters, Karl Gustav: Das Schulkind in der caritativen Erziehungsanstalt, in: Joseph Beeking (Hrsg.), Katholische caritative Anstaltserziehung. Im Auftrage des Verbandes der katholischen Waisen- und Fürsorgeerziehungsanstalten Deutschlands, Freiburg im Breisgau 1926, S. 89–102. Pezet, Joachim: Rettung von der englischen Krankheit und der Tuberkulose, o. A. Riehl, o. A.: Religionsunterricht und Erziehung zur Religiosität in Zwangs- und Fürsorge-Anstalten, in: Josef Weber (Hrsg.), Anstaltspädagogik und Jugendfürsorge. Gesamtbericht über die 3. Konferenz der „Vereinigung für katholische caritative Erziehungstätigkeit“ und über den 2. Kurs für Anstaltspädagogik, Donauwörth [1911], S. 52–60. Satzung für die Erziehungsanstalt Piusheim, Rosenheim 1916. Schelle, Bernhard: Allgemeine Grundsätze der Anstaltsdisziplin, in: Michael Buchberger / Johannes Müller (Hrsg.), Die Fürsorge-Erziehung. Vorträge, gehalten auf dem „Kursus für katholische Fürsorge-Anstaltserziehung in Bayern“, München 1913, S. 43–56. Schiela, Ludwig: Jugendfürsorge. Richtlinien für katholische Jugendfürsorge-Arbeit für Gefährdete und Gefallene in Stadt und Land, München 1910. Stadler, o. A.: Fürsorgezöglinge und Familienunterbringung, in: Josef Weber (Hrsg.), Anstaltspädagogik und Jugendfürsorge. Gesamtbericht über die 3. Konferenz der „Vereinigung für katholische caritative Erziehungstätigkeit“ und über den 2. Kurs für Anstaltspädagogik, Donauwörth [1911], S. 40–51. Wagner, o. A.: Lohn und Strafe als Erziehungsmittel, in: Michael Buchberger / Johannes Müller (Hrsg.), Die Fürsorge-Erziehung. Vorträge, gehalten auf dem „Kursus für katholische Fürsorge-Anstaltserziehung in Bayern“, München 1913, S. 57–74.

Periodika Münchner Merkur Münchner Zeitung Süddeutsche Zeitung



Die Gewaltdebatte in der katholischen Anstaltspädagogik211

Literatur Buchloh, Stephan: „Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich“. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas, Frankfurt am Main 2002. Feldman, Gerald D.: Kriegswirtschaft und Zwangswirtschaft. Die Diskreditierung des „Sozialismus“ in Deutschland während des Ersten Weltkrieges, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München / Zürich 1994, S. 456–484. Frings, Bernhard: Heimerziehung im Essener Franz-Sales-Haus 1945–1970. Strukturen und Alltag in der „Schwachsinnigen-Fürsorge“, Münster 2012. Frings, Bernhard / Kaminsky, Uwe: Gehorsam, Ordnung, Religion. Konfessionelle Heimerziehung 1945–1975, Münster 2012. Gehltomholt, Eva / Hering, Sabine: Das verwahrloste Mädchen. Diagnostik und Fürsorge in der Jugendhilfe zwischen Kriegsende und Reform (1945–1965), Opladen 2006. Gélis, Jaques: Les Enfants des Limbes. Mort-nés et Parents dans l’Europe Chrétienne, Paris 2006. Gräser, Marcus: Der blockierte Wohlfahrtsstaat. Unterschichtenjugend und Jugendfürsorge in der Weimarer Republik, Göttingen 1995. Kogon, Eugen: Die restaurative Republik. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1996. Oswald, Rudolf: Christliche Tradition und zeitgemäße Hilfe. 100 Jahre Katholische Jugendfürsorge der Erzdiözese München und Freising e. V., München 2010. Richter, Ingrid: Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Zwischen Sittlichkeitsreform und Rassenhygiene, Paderborn u. a. 2001. Schwarz, Johannes Maria: Zwischen Limbus und Gottesschau. Das Schicksal ungetauft sterbender Kinder in der theologischen Diskussion des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein theologiegeschichtliches Panorama, Kisslegg 2006. Wensierski, Peter: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, München 2007. Zahner, Daniela: Jugendfürsorge in Bayern im ersten Nachkriegsjahrzehnt 1945– 1955 / 56, München 2006.

Wiederkehrende Gewalt. (Kriegs-)Kinder in den psychiatrischen Einrichtungen des Rheinlandes 1945–1954 Von Silke Fehlemann / Frank Sparing I. Einleitung Die Generation der „Kriegskinder“ hat in der Geschichtswissenschaft, aber auch in der medialen Debatte der letzten Jahre große Aufmerksamkeit gefunden. Angeregt wurden entsprechende Forschungen unter anderem dadurch, dass viele der im Krieg geborenen Kinder im höheren Alter plötzlich erhebliche psychische Beschwerden bekamen, die unter anderem auf erlittene Traumata aus der Kriegs- und Nachkriegszeit zurückgeführt wurden.1 Nicht nur Psychiater wie Hartmut Radebold machten auf diesen Zusammenhang aufmerksam, zeitgleich ließ die WDR-Journalistin Sabine Bode die Betroffenen selbst zu Wort kommen.2 Eine Reihe von Forschungsprojekten zum Thema Kriegs- und Nachkriegskindheiten machte in der Folge auf die Erfahrungen der Kinder im Krieg und danach aufmerksam.3 Begleitet wurde dies durch kontroverse kulturpolitische Diskussionen zu diesem Thema. So kritisierte etwa der Kulturwissenschaftler Harald Welzer, dass die 68er-Generation sich öffentlich in den Vordergrund spiele, indem sie sich als Kriegsopfer inszeniere.4 Andere bemängelten einen „Einheitsopferbrei“ und warnten vor einer Gleichsetzung der Gewalterfahrungen durch Krieg und Völkermord.5 Diese Kritik kam auch deswegen auf, da zunächst vor allem ältere, bürger­ liche und westdeutsche Männer die Diskussion prägten. 1  Die folgenden Ausführungen stellen Teilergebnisse eines von 2014 bis 2017 am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-­Universität Düsseldorf durchgeführten Projektes dar, das vom Landschaftsverband Rheinland drittmittelfinanziert wurde. Unter dem Arbeitstitel „Lebensverhältnisse ehemaliger Heimkinder in Psychiatrie und Behindertenhilfe seit 1945“ wurden erstmals die psychiatrischen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche im Rheinland nach 1945 in historischer Perspektive untersucht. 2  Radebold; Bode. 3  Z. B. Seegers; Rosenbaum; Stargardt; Denzler u. a. 4  Biess. 5  Sabrow.

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Im Folgenden wird der Blick auf die Nachkriegszeit gelegt und danach gefragt, welche Kinder nach 1945 in Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie gelangten, ob sich Kriegs- und Diktaturerfahrungen in den Erkrankungen und Auffälligkeiten spiegelten und wie die Fachdisziplin auf seelisch versehrte Kinder reagierte. Welche Diagnosen wurden gestellt und welche Maßnahmen getroffen? Im Falle der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind die Nachkriegsjahre von besonderem Interesse, gilt es doch auch zu fragen, welche Kontinuitäten oder Brüche zur „Kindereuthanasie“ im „Dritten Reich“ beim medizinischen Personal sowie in der wissenschaftlichen Diagnostik bestanden haben.6 In einem weiteren, dritten Untersuchungsschritt ist zu klären, ob und in welchen Formen diese Kinder in den psychiatrischen Kliniken und Heimen weitere Gewalterfahrungen zu erleiden hatten. Diese Fragen sollen vor allem anhand der Patientenakten von 60 Kindern, die zwischen 1945 und 1952 in der Bonner Landesklinik für Jugendpsychiatrie für einige Wochen und Monate untersucht, beobachtet und begutachtet wurden, geklärt werden. Die Geschichte der Kindheit nach 1945 hat in allerjüngster Zeit ebenso viel Aufmerksamkeit wie die Psychiatriegeschichte erfahren, und es zeichnen sich einige intensive Forschungsdiskussionen ab.7 Die Frage nach der Stellung der Kinder ist dabei durchaus noch ungelöst. Geht etwa Tara Zahra davon aus, dass in den europäischen Nachkriegsgesellschaften viele nationale Anstrengungen in die Wiederherstellung und Rekonstruktion von Kindheit investiert wurden,8 betonen andere doch eher die krisenhafte Zuspitzung der Lebens­ lagen von Familien in der deutschen „Zusammenbruchsgesell­schaft“.9 Das Thema der „Nachkriegskinder“ in der Psychiatrie befindet sich an der Schnittstelle zwischen Kindheits- und Psychiatriegeschichte. Die Erwachsenenpsychiatrie zwischen 1945 und 1980 ist bereits Gegenstand umfangreicher wissenschaftlicher Forschungs- und Publikationsprojekte gewesen.10 Die unmittelbare Nachkriegszeit gilt dabei als „Zeit der Stille“.11 Insbesonauch Hess / Majerus. u. a.; vgl. auch zusammenfassend Winkler. 8  Zahra. 9  Z. B. Seegers, S. 88–126; vgl. auch Fleermann / Mauer; vgl. allgemein Mayer u. a.; Der Begriff der Zusammenbruchsgesellschaft stammt von Christoph Kleßmann, s. Kleßmann. 10  Vgl. Brink, S. 360–371; Hanrath; Kersting, Anstaltsärzte; Kersting, Psychiatriereform; Faulstich. Als Überblick über aktuelle Forschungen s. Gawlich. Vgl. auch das abgeschlossene Forschungsprojekt am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf „Aufarbeitung und Dokumentation der Geschichte der Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Einrichtungen des Landschaftsverbandes Rheinland seit 1945“. 11  Gawlich. 6  Vgl.

7  Baader



Wiederkehrende Gewalt215

dere Svenja Goltermann hat in ihrer Untersuchung über die deutschen Kriegsheimkehrer den Zusammenhang zwischen Kriegserfahrung und Psy­ chiatriegeschichte dargelegt. Sie bezeichnet die Nachkriegsjahre als Zeit einer „reflexhaften Normalisierung“, in der die psychischen Versehrungen der Wehrmachtssoldaten zunächst weitgehend verdeckt wurden.12 Überblicke über die besondere Fachdisziplin der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie wurden von einer interdisziplinären Forschergruppe um Rolf Castell vorgelegt.13 Neben dieser organisationsgeschichtlichen Studie führt der Sammelband von Fangerau u. a. erstmals sozial-‍, kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie nach 1945 zusammen.14 Die Lebensverhältnisse der Kinder in Heimen und Anstalten haben vor allem die Untersuchungen von Andreas Henkelmann u. a. zu den Landesjugendheimen im Rheinland und von Hans Walter Schmuhl, Ulrike Winkler und Bernhard Frings zu Heimen für Kinder mit geistiger Behinderung thematisiert.15 In diesen Arbeiten standen allerdings nicht die Nachkriegsjahre im Vordergrund, ebenso gibt es noch kaum Forschungen zu den kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken nach 1945. Das Interesse an diesem Thema wächst aber zurzeit rasant, hat doch in den Medien kürzlich eine kritische Debatte um Medikamentenerprobungen an Kindern in derartigen Einrichtungen und Heimen begonnen.16 Dabei ist die alleinige Zuspitzung auf Medikamentenversuche zu bedauern, denn diese Eingriffe waren nur ein Teil der gewaltförmigen Erfahrungen, die Kinder in den Kliniken erlebt haben. Das Thema Gewalt hat eine lange Tradition in der Geschichte der Psychiatrie.17 Die Grenzen zwischen Kontrolle, Therapie und Gewalt sind kaum eindeutig zu ziehen, und das Konzept der strukturellen Gewalt von Johan Galtung lässt sich im Bereich der Psychiatriegeschichte leicht nachvollziehen.18 Doch bietet dieser Ansatz bei aller Radikalität wenig Trennschärfe, schließlich sind dort alle kontrollierenden Handlungen unter einem einheitlichen Gewaltbegriff zusammengefasst. In der jüngeren Gewaltforschung hat man sich wieder stärker auf eine dichte Analyse physischer Gewaltausübung konzentriert und weniger eindeutige Formen wie etwa psychische Gewalt nachgeordnet.19 12  Goltermann,

Gesellschaft. u. a., S. 101 f.; vgl. zum Verhältnis von Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Pädiatrie Topp u. a. 14  Fangerau u. a. 15  Schmuhl / Winkler, Gewalt; Frings; Henkelmann u. a. 16  Ausgelöst wurde diese Debatte durch die Veröffentlichung von Sylvia Wagner, s. Wagner. 17  Finzen; Wienberg. 18  Galtung; vgl. auch Imbusch. 19  Schnell; vgl. auch die Argumente von Beck / Schlichte, S.  37 f. 13  Castell

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Gerade am Beispiel der Psychiatriegeschichte nach 1945 kann aber deutlich werden, wie problematisch eine solche Verengung des Gewaltbegriffes sein kann. Die durch den Krieg seelisch und häufig auch körperlich versehrten Kinder mussten sich einem Begutachtungsprozess unterwerfen und die dort erstellten Diagnosen lösten häufig in ihrer normierenden Wirkung weitere gewaltförmige Prozesse aus, die sowohl körperliche als auch seelische Aspekte beinhalteten.20 So werden im vorliegenden Beitrag anhand der Dokumentation in Patientenakten konkrete Praktiken diagnostischer, therapeutischer und physischer Gewalt identifiziert, die gerade in ihrer Kombination verhängnisvoll wirkten. Im Hinblick auf die Begutachtungsprozesse in den Patientenakten ist dabei zu betonen, dass es ein in vielerlei Hinsicht schwieriges Unterfangen wäre, nachträglich die psychische Verfassung und die Diagnosen der Kinder zu beurteilen. Aus aktueller Perspektive scheinen viele zurückliegende medizinische Zuschreibungen fragwürdig zu sein. So sind gerade die früheren Diagnosen des sogenannten „Schwachsinns“ in die Kritik geraten.21 Es kann hier aus der Rückschau auf die Patientenakten keine Neubegutachtung der Kinder vorgenommen, sondern nur versuchsweise rekonstruiert werden, in welcher Form Belastungen wie etwa Kriegserfahrungen in die historischen Befunde eingeflossen sind. In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive soll die Arbeit der Ärzte historisiert und aus ihrer zeitgenössischen Logik heraus analysiert werden.22 Patientenakten stellen eine besondere Quellengattung dar.23 In dem hier interessierenden Forschungsgebiet füllen sie eine Lücke, denn wir wissen schon einiges über den Lebensalltag in Heimen und in Anstalten für geistig behinderte Menschen.24 Über die diagnostische Praxis und die Zuordnung der Kinder und Jugendlichen in die sehr heterogene Anstalts- und Heimlandschaft ist dagegen noch nicht viel bekannt. Die Analyse dieser speziellen Patientenakten hat zudem den erheblichen Vorteil, dass sich an ihnen ein wesentlicher Ansatz der kulturwissenschaftlich inspirierten Dis / ability Studies überprüfen lässt. In historischer Perspektive lassen sich die Verschiebungen zwischen Norm und „Behinderung“ bzw. Krankheit detailliert nachzeichnen.25 Die hier vorliegenden Patientenakten aus der „Rheinischen 20  Vgl.

auch Goffmann.

21  http: /  / www.fr-online.de / politik / -anerkennung-und-hilfe-weggesperrt-in-die-

psychatrie,1472596,34371522. html. 22  Tanner; Roelcke, Diagnosen. 23  Kramm; Kretschmar; Osten; Radkau. 24  Vgl. etwa Schmuhl / Winkler, Gewalt; Henkelmann u. a. 25  Vgl. dazu die Beiträge in Bösl, History; Schmuhl / Winkler, Welt, S. 15–17; Lingelbach / Schlund.



Wiederkehrende Gewalt217

Landesklinik für Jugendpsychiatrie“ in Bonn enthalten umfangreiche sozial-, wissenschafts- und kulturhistorische Informationen: Sie umfassen ausführ­ liche fachärztliche Gutachten mit Beschreibung der Vorgeschichte und der Lebensverhältnisse der Kinder. Darüber hinaus enthalten die Akten Befunde zu intellektuellen Fähigkeiten der Patienten, wie etwa standardisierte Intelligenztests sowie Pflegeberichte, die das Verhalten der Kinder dokumentieren. Des Weiteren werden die Patienten in diesen Akten nicht nur als gesichtslose Masse zum Objekt der Geschichtswissenschaft, sondern sie können in vielen Fällen „Agency“ zugesprochen bekommen. Schließlich finden sich in den hier vorliegenden Akten auch zahlreiche Selbstzeugnisse, wie Briefe, Zeichnungen, Erlebnisberichte und Lebensläufe, die Wahrnehmungen und Handlungsstrategien der minderjährigen Patienten selbst sichtbar werden lassen. II. Kinder in der Psychiatrie nach 1945 Die chaotischen Verhältnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten zunächst dazu geführt, dass schätzungsweise rund 80.000 bis 100.000 Minderjährige ohne festen Wohnsitz umherzogen. Viele Jugendliche standen vor großen Herausforderungen, ihr tägliches Überleben zu sichern, was nicht immer ohne Gesetzesübertretungen möglich war. Über 20 % der Kinder mussten ohne Vater aufwachsen und knapp 20 % der deutschen Bevölkerung befanden sich nach 1944 auf der Flucht, wobei die Sterblichkeit der Kleinkinder während der Flucht etwa sechsmal so hoch war wie in der übrigen Bevölkerung. Diese Zahlen können nur einen oberflächlichen Eindruck von den Belastungen geben, denen Kinder ausgesetzt waren. Viele Minderjährige hatten Schaden durch den Luftkrieg genommen, ebenso lebten noch Kinder von politisch und rassisch Verfolgten, die die Jahre der Verfolgung und Diktatur als schwere Belastung erlebt haben mussten. Schon allein aufgrund dieser Verhältnisse stieg die Zahl der Fürsorgezöglinge im Rheinland zwischen 1945 und 1952 von 9.200 auf über 12.300 an.26 Zugleich war aber die Zahl der zur Aufnahme von Kindern verfügbaren Plätze in Heilerziehungsheimen durch Zerstörung oder Umnutzung bereits seit dem Krieg deutlich zurückgegangen.27 Den Schwierigkeiten bei der Unterbringung der anwachsenden Zöglingspopulation wurde – anknüpfend an die Praxis gegen Ende der Weimarer Republik – durch vermehrte Überweisungen auffälliger und erziehungsschwieriger Jugendlicher in die Psychiatrie begegnet.

26  Henkelmann

u. a., S.  61 f. über die Arbeitstagung der Direktoren der Rheinischen Landesheilanstalten am 30. / 31.7.1954 im Landeskrankenhaus Marienheide vom 13.9.1954, in: Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (ALVR) 31318. 27  Niederschrift

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In diesem Spannungsfeld befand sich die „Rheinische Landesklinik für Jugendpsychiatrie Bonn“. Diese Klinik bildete einen Sonderfall der psychia­ t­rischen Versorgungslandschaft in Deutschland, war sie doch bereits im August 1926 als erste selbstständige kinder- und jugendpsychiatrische Klinik gegründet worden.28 Ihre Aufgabe bestand darin, erkrankte und / oder sozial auffällige Kinder und Jugendliche aus dem gesamten Rheinland ärztlich zu untersuchen, zu beobachten und aufgrund einer Diagnose zu entscheiden, ob sie jeweils in ein Heim für schwererziehbare Kinder, in eine „Schwachsin­ nigen-Bildungsanstalt“ oder längerfristig in eine psychiatrische Einrichtung überführt werden sollten.29 Die Patientinnen und Patienten blieben zwischen sechs Wochen und sechs Monaten in Bonn. In den späten 1940er und 1950er Jahren wurde die Untersuchung in Bonn zumeist veranlasst, weil die Kinder den Fürsorgebehörden aufgefallen waren. Wesentlich seltener stellten Eltern ihre Kinder in der Bonner Klinik vor. Die Klinik verfügte im Untersuchungszeitraum über 140 Betten für männliche und weibliche Patienten von einem bis 21 Jahren sowie insgesamt 50 Heimplätze in außerhalb gelegenen Heil­ erziehungsanstalten. Ihr war eine Schule mit drei Versuchs- bzw. Hilfsschulklassen angeschlossen.30 Die Landesklinik war am 18. Oktober 1944 bei einem Großangriff auf Bonn schwer beschädigt und vorerst unbewohnbar geworden, sodass die Patienten mehrere Monate in Ausweichunterkünften untergebracht werden mussten. Aufgrund der Kriegsschäden, die nur langsam behoben wurden, und der seit Kriegsende deutlich eingeschränkten Möglichkeiten, Kinder- und Jugendliche auf Belegheime zu verteilen, wurden von der Klinik anfangs drei, später zwei Abteilungen der Heil- und Pflegeanstalt Bonn mit Patienten belegt, die erst nach Fertigstellung eines Erweiterungsbaues Ende 1952 an die Anstalt zurückgegeben wurden.31 Um detailliert den Zusammenhang zwischen Kriegserfahrung und psychiatrischer Diagnose zu erfassen, werden hier 60 Patienten, die im Zeitraum zwischen 1945 und 1952 in der Rheinischen Landesklinik untergebracht 28  Waibel,

S. 12; vgl. auch Orth. der Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie, 1954 (Dr. Hans Aloys Schmitz), in: ALVR 31360. Zu den Belegungsverträgen des Landschaftsverbandes Rheinland mit Heimen und Pflegeanstalten zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit psychiatrischen Diagnosen vgl. ALVR 31289. 30  Daten zur „Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie“, 1953, in: ALVR 31360. Betreut wurden die Kinder und Jugendlichen von fünf Ärzten und drei Volontärärzten, die Pflege wurde je etwa zur Hälfte durch ältere Ordensschwestern und weltliche Pflegerinnen besorgt. Allerdings waren die Ordensschwestern aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters kaum mehr imstande den Anforderungen gerecht zu werden, sodass der Vertrag mit der Kongregation schließlich 1957 gekündigt wurde. Zu den eingesetzten Ordensschwestern vgl. ALVR 13048; ALVR 31406. 31  Vgl. Verwaltungsbericht der Landesheilanstalt Bonn 1952 / 53, in: ALVR 14807, Bl. 107. 29  Bericht



Wiederkehrende Gewalt219

waren, genauer untersucht.32 In dieser Stichprobe finden sich 23 Mädchen und 37 Jungen. Der Altersdurchschnitt liegt bei zwölf Jahren. Das jüngste Kind war fünf Jahre und das älteste 18 Jahre alt. Während die Psychiater in erster Linie mit der Festlegung der Diagnosen befasst waren, wurden die Kinder in der Bonner Klinik durch das Pflegepersonal auf der Station beobachtet. Die Pflegerinnen, vor allem Ordensschwestern, schrieben mehrseitige Pflegeberichte, die in den Patientenakten überliefert sind. Diese Berichte wurden in Auszügen in die ärztlichen Gutachten übernommen, sie dienten dem ärztlichen Personal als Informationsquelle über das tägliche Verhalten der Kinder. Kontinuitäten zur nationalsozialistischen Erb- und Rassenpolitik bestanden nach 1945 in vielfacher Hinsicht. Noch bis Ende 1946 wurde in den Aufnahmebögen angekreuzt, ob das betreffende Kind als „erbkrank oder verdächtig“ gemeldet werden sollte.33 So findet sich beispielsweise in der Akte der im Oktober 1946 aufgenommenen, schwer an Epilepsie erkrankten M. H. ein Kreuz an der entsprechenden Stelle. Andere Kontinuitäten währten noch länger: Bis weit in die fünfziger Jahre hinein wurde in den fachärztlichen Gutachten an prominenter Stelle die Frage erörtert, ob der jeweilige „Schwachsinn“ bei einem Kind auf eine „Sippenbelastung“ zurückzuführen sei. Die Gutachten beschrieben ein „Sippenbild“34 oder dem jugendlichen Patienten wurde vorgeworfen, er zeige, „was von seiner Sippe zu erwarten sei“.35 In den psychiatrischen Kliniken wurden zahlreiche Ärzte weiterbeschäftigt, die schon im Nationalsozialismus praktiziert hatten, und nicht wenige von ihnen waren an Vorbereitung und Durchführung der Krankenmordaktionen beteiligt gewesen.36 Auch für diese Entwicklung bietet die Rheinische Landesklinik in Bonn ein prägnantes Beispiel. Nachdem der Gründer und erste Klinikleiter Dr. Otto Löwenstein vertrieben worden war, hatte der von 1935 bis 1964 als leitender Arzt der Klinik tätige Dr. Hans Aloys Schmitz als Gutachter an der „Euthanasie-Aktion T4“ mitgewirkt und im Rahmen der „Kindereuthanasie“ eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Auf Befehl der britischen Militärregierung war Schmitz am 1. Dezember 1946 entlassen worden, konnte aber bereits am 1. April 1947 seine Tätigkeit als Leiter der „Rheini32  Sie sind Teil einer repräsentativen Stichprobe von 379 Patientenakten, die für den Zeitraum von 1945–1975 untersucht werden. Die hier präsentierten sechzig Akten wurden für die Zeit von 1945–1952 erhoben, vgl. Buchholz, Matthias. 33  Vgl. z. B. M. H. aus Düsseldorf, in: Patientenaktenarchiv der LVR-Klinik Bonn (PaKB). 34  H. D. F. aus Duisburg 1958, in: PaKB. 35  W. G. aus Essen 1958, in: PaKB. 36  Vgl. dazu Klee; vgl. zur Psychiatrie im Nationalsozialismus auch Schmuhl.

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schen Landesklinik für Jugendpsychiatrie“ wiederaufnehmen.37 In den ersten Nachkriegsjahren verhielt sich Schmitz im Hinblick auf Publikationen und Vorträge auf Tagungen der Fachverbände allerdings sehr zurückhaltend und trat erst seit Mitte der 1950er Jahre wieder stärker öffentlich in Erscheinung.38 Bei der Hälfte der Kinder (30 Kinder von 60) aus der Stichprobe für den Zeitraum von 1945 bis 1952 wurden Kriegserlebnisse und -erfahrungen in der Vorgeschichte erwähnt. Diese Beschreibungen lassen einen sehr deut­ lichen Zusammenhang zwischen psychischer Auffälligkeit und den Erfahrungen im Krieg bzw. in der nationalsozialistischen Diktatur vermuten, ohne dass dies explizit in der Rückschau belegt werden könnte. So hatten acht Kinder (13 %) ihren Vater verloren, bei weiteren fünf (8 %) galt der Vater als kriegsvermisst, weitere fünf (8 %) waren durch Fluchterfahrungen erheblich belastet, so hatte z. B. ein Junge seine Mutter auf der Flucht verloren. Ein anderer Junge hatte seine Mutter und seine fünf Geschwister bei einem Bombenangriff verloren, er selbst war einige Tage verschüttet und anschließend zwei Wochen bewusstlos gewesen. Ein weiteres Kind litt seit dem Krieg unter extremem Untergewicht und wurde immer wieder bei Lebensmitteldiebstählen aufgegriffen. Bei einem anderen Patienten waren laut Akte seit 1936 beide Eltern inhaftiert. Über ihren weiteren Verbleib wurde nichts berichtet. Ein anderer Junge hatte angeblich sieben Jahre in einem Lager der Kinderlandverschickung verbracht und dort die Schule nur sehr unregelmäßig besucht.39 Und in einem weiteren Beispiel wurde die elfjährige H. H. beschrieben, die mit angesehen hatte, wie ihre jüdische Mutter auf der Flucht vor der Gestapo aus dem Fenster gesprungen war. Ihr Vater war schwerst­ invalide und H. wurde schließlich von ihren drei Geschwistern getrennt, alle vier Kinder wurden auf unterschiedliche Waisenhäuser verteilt. Als H. schließlich in Bonn aufgenommen wurde, vermerkte der Aufnahmebericht, sie würde alles essen, was sie finden könne.40 Bei drei Jungen zeigen sich die Verbindungen zwischen Bombenangriffen und dem Beginn ihrer Symptomatik ganz deutlich. Der eine, H. F. aus Kamp-Lintfort, entwickelte nach den Angriffen anfallartige Erscheinungen, bei dem zweiten Jungen, H. H. aus Bonn, wurde von den Angehörigen berichtet, dass seine extreme Nervosität während der Luftangriffe 1944 begonnen habe; diese Informatio37  Zu Ariernachweisen, Entnazifizierungsvorgängen etc. der Oberbeamten im Zeitraum 1933–1949 s. ALVR 28597, Bestand S. 38  Castell u. a., S. 162. 39  Solche Informationen wurden häufig durch die Fürsorgerinnen an die Klinik gegeben, es konnten Mutmaßungen oder Gerüchte sein, in vielen Fällen sind sie nicht mehr retrospektiv überprüfbar. 40  Patientenakte H. H. aus Köln 1946 / 47, in: PaKB (Diagnose: Verdacht auf cerebrales Krampfleiden).



Wiederkehrende Gewalt221

nen wurden auch in die Anamnesen aufgenommen. Das gleiche gilt für S. L. aus Sagan: Sein Vater zog ihn in einem „ganz elenden“ Zustand aus Trümmern hervor, danach bekam das Kind nächtliche „Anfälle“ und Albträume, in denen es Erstickungsängste entwickelte. Häufig fiel der Beginn der Erkrankung allerdings nicht mit einem konkreten Ereignis wie einer Verschüttung zusammen, sondern die Symptome traten erst Monate oder sogar Jahre nach den in der Vorgeschichte beschriebenen Kriegs- und Diktaturbelastungen auf. Die Patientenakten zeigen also, dass die betroffenen Kinder sowohl Nachkommen von „ganz gewöhnlichen Deutschen“ als auch von politisch und rassisch verfolgten Eltern waren; außerdem haben viele von ihnen massiv unter Fluchterfahrungen gelitten. Die Lebensgeschichten verdeutlichen die pathologischen Auswirkungen eines totalen Krieges auf Kinder und Jugendliche wie in einem Brennglas. Sie spiegeln darüber hinaus wider, auf welche Weise in der deutschen Zusammenbruchsgesellschaft (Christoph Kleßmann) mit all denjenigen umgegangen wurde, die wahrnehmbare Schädigungen durch die Belastungen von Diktatur, Kriegs- und Nachkriegszeit aufwiesen. Die fachärztlichen Gutachten in den Patientenakten zeigen sehr eindrücklich, dass die medizinischen Experten in Bonn die Auswirkungen von Kriegsgewalt und Diktaturerfahrung auf die Zivilbevölkerung, vor allem auf die Kinder, in den ärztlichen Gutachten weder als mögliche Ursache einer Erkrankung noch als relevant für die Behandlung berücksichtigt haben. Der häufig offensichtliche Zusammenhang zwischen Diktatur- bzw. Kriegsbelastungen und Erkrankung führte allerdings schon zu einer diagnostischen Verunsicherung. Die ärztlichen Befunde blieben in manchen Fällen vage,41 obwohl im Diagnoseschema des sogenannten Würzburger Schlüssels von 1933, das für die psychiatrischen Erkrankungen bis in die 1970er Jahre verwendet wurde, für solche Fälle eigentlich die Befunde der „abnormen Erlebnisreaktion“ und sogar der „traumatischen Neurose“ theoretisch zur Verfügung standen. Während die Zuschreibung der „abnormen Erlebnisreaktion“ ebenfalls auf der Idee beruhte, dass einer solchen Entwicklung eine psychopathische Persönlichkeit zugrundeliegen müsse, zeigt die Geschichte der Diskussion um die traumatische Neurose, dass um die Frage der psychogenen Entstehungsfaktoren schon seit dem 19. Jahrhundert erbittert gerungen wurde.42 Doch auch wenn diese beiden Diagnosen theoretisch zur Verfügung standen, wurden sie in der Bonner Klinik praktisch nicht verwendet. Um herauszufinden, für welche Diagnosen sich die Ärzte in diesen Fällen entschieden haben, haben wir die Patientenakten in zwei Gruppen aufgeteilt. 41  S. L.

aus Sagan 1950, in: PaKB. die Geschichte des Traumabegriffs einzugehen würde hier deutlich zu weit führen, zum Einstieg s. Fischer-Homberger. 42  Auf

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In der ersten Gruppe befinden sich Kinder, bei denen die Diktatur- oder Kriegsschädigung wie etwa Fluchtschäden, ein gefallener Vater oder verfolgte Eltern in der Akte Erwähnung finden, in der zweiten Gruppe wurden die Kinder zusammengefasst, bei denen Kriegserfahrungen in der Vorgeschichte nicht erwähnt wurden. Vergleicht man die Diagnosen der beiden Gruppen, dann zeigt sich, dass die Doppeldiagnosen, die sich sowohl auf den Charakter der Kinder als auch auf die Intelligenz beziehen, bei den kriegsgeschädigten Kindern häufiger waren als bei der Gruppe, in der Kriegserfahrungen nicht in der Vorgeschichte erwähnt wurden. Von den 30 laut biographischer Vorgeschichte erheblich kriegsbetroffenen und diktaturgeschädigten Kindern wurden 15 als „charakterlich abartig“ / „psychopatisch“ / „schwererziehbar“ befunden, darunter befanden sich acht Doppeldiagnosen, also Kinder, die sowohl als „regelwidrig, auffällig“ bzw. „psychopathisch“ als auch als „schwachsinnig“ diagnostiziert wurden. Acht Kinder wurden dagegen ausschließlich als „schwachsinnig“ beurteilt. Bei den verbleibenden sieben Kindern wurden neurologische Krankheitsbilder und Symptome wie organische oder exogene Hirnschäden, Epilepsie, Microcephalie oder Tic-Leiden sowie zweimal unklare „Anfälle“ diagnostiziert. In der anderen Gruppe, bei der in der Anamnese die Kriegsoder Diktaturerfahrungen nicht explizit erwähnt wurden, wurden elf Kinder als „psychopathisch“ oder als „schwererziehbar“ bezeichnet, von denen nur zwei Kinder auch noch zusätzlich als schwachsinnig diagnostiziert wurden. Zwölf Kinder galten als „schwachsinnig“ und sieben litten unter diversen neurologischen Störungen. In der Tendenz finden wir also bei den kriegsgeschädigten Kindern deutlich mehr charakterbezogene Diagnosen und mehr Doppeldiagnosen („psychopathisch und schwachsinnig“) als in der Vergleichsgruppe. Dies bestätigt sich, wenn das Berichtsjahr 1928 / 29 betrachtet wird. Hier waren 285 von 467 Kindern als „schwachsinnig“ diagnostiziert worden, und nur 106 Kinder erhielten „charakterbezogene“ Diagnosen (85 wurden als „psychopathisch“ und 21 als mit „Pubertätsstörungen und Sexualpsychopathie“ belastet ein­ gestuft).43 Diese Zahlen deuten also darauf hin, dass die charakterbezogenen Diagnosen nach dem Krieg erheblich zugenommen hatten, dass diese vermehrt bei stark kriegs- oder NS-geschädigten Kindern gestellt und jene noch zusätzlich mit einer Diagnose der Intelligenzminderung versehen wurden. Kinder, die offenbar psychisch kriegsversehrt waren, wurden so pathologisiert und stigmatisiert. Sowohl die Diagnose „Psychopathie“ als auch „charakterliche ­Regelwidrigkeit / Abartigkeit“ sowie auch der „Schwachsinn“ bildeten hier 43  Waibel,

S. 137.



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„Container-Begriffe“, die unterschiedliche Auffälligkeiten und Störungen bezeichneten. In den Patientenakten der Bonner Klinik kam die Einzeldiagnose „Psychopathie“ bzw. „charakterliche Abartigkeit“ oder „Schwererziehbarkeit“ vor allem dann zum Tragen, wenn die Kinder oder Jugendlichen so aufgeweckt waren, dass unter keinen Umständen ein Intelligenzdefekt anzunehmen war und sich auch keine erheblichen schulischen Lücken bemerkbar machten, jedoch als besonders störend empfundene Verhaltensauffälligkeiten festgestellt wurden. Diese Kinder hatten manchmal schon jahrelange „Heimkarrieren“ hinter sich und wurden schließlich von der öffentlichen Ersatzerziehung infolge von „heftigem Widerstand, Aufsässigkeit und Widerspenstigkeit“ wegen „Unerziehbarkeit“ als „anstaltspflegebedürftige Geisteskranke“ vorgestellt.44 Ein prägnantes Beispiel für einen „Psychopathen“ stellte etwa M. C. aus Bonn dar: Er kam bereits als Kleinkind in ein Kinderheim nach Stolberg, galt dort schon mit vier Jahren als unruhig, störend und trotzig. Noch vorwurfsvoller wurde der Bericht aus dem zweiten Heim, dem Pauline-vonMallinckrodt-Heim in Siegburg-Wolsdorf. Dem siebenjährigen Jungen wurde hier angelastet, dass er Plätzchen „geklaut“ habe. Während des Einmarsches der Alliierten und der sogenannten „Beschusszeit“ wurde er laut Akte immer unruhiger und mochte sich nicht in den Schutzräumen aufhalten. Schließlich habe er sich immer „ungezogener“ aufgeführt und mit Weglaufen und Einnässen gedroht. Alle Gutachten stellten aber fest, dass M. ausreichend intelligent sei. Mit der Diagnose einer „erheblichen charakterlichen Abartigkeit mit Zügen von Überaktivität und Gemütsdürftigkeit“ wurde M. aus Bonn in das Franz-Sales-Haus in Essen überwiesen, einem der größten Belegheime der Rhein-Ruhr-Region.45 Neben „charakterlicher Regelwidrigkeit bzw. Psychopathie“ bildete der „Schwachsinn“ die zweitwichtigste Diagnose. In den Patientenakten der Landesklinik für Jugendpsychiatrie Bonn wurde die Diagnose „Schwachsinn“ vorwiegend in leichte, mittlere und erhebliche Grade differenziert. Mangelndes Schulwissen kombiniert mit angeblicher Faulheit, „Frechheit und Un­ 44  Der Begriff der „Psychopathie“ entstand bereits Ende des 19. Jahrhunderts und geht auf den Psychiater Julius Koch (1891–1893) zurück. Zentrales Kennzeichen blieb die Abweichung von einer nicht näher bezeichneten Norm, wobei die Abgrenzung zu anderen psychiatrischen Krankheitsbildern problematisch blieb. Trotz einer auf die Monographie Kochs folgenden Flut an Publikationen zum Problem der „psychopathischen Minderwertigkeiten“ trugen die Veröffentlichungen kaum zur Präzisierung der Diagnose bei. Die Diagnose „Psychopathie“ ist zwar umstrittenen, aber wesentlich differenzierterem Konzept der „Persönlichkeitsstörungen“ aufgegangen, mit dem aber ein vergleichsweise engerer Personenkreis bezeichnet wird, vgl. Koch; Gröhler, S. 29; Kremer, S.  23 ff. 45  M. C. aus Aachen (später Bonn) 1946, in: PaKB.

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sauberkeit“ konnte die Diagnose „mäßiger Schwachsinn“ nach sich ziehen, ohne dass aus heutiger Sicht eine Intelligenzminderung aus jedem Test eindeutig hervorgeht. Das lag daran, dass die Intelligenztests bis zum Ende der 1950er Jahre auf dem Binet-Simon-Verfahren beruhten, welches das Intelligenzalter des Kindes erfasste. Fielen das tatsächliche Alter und das Intelligenzalter zu sehr auseinander, dann lag die Diagnose „Schwachsinn“ sehr schnell nahe. In den Gutachten wurde dabei bis weit in die 1960er Jahre eingeschränkter Schulbesuch nicht berücksichtigt, vielmehr setzten die Tests sowohl bei den Schreib- als auch bei den Rechenübungen grundsätzlich eine altersgemäße Schullaufbahn voraus.46 Ein Beispiel hierfür ist der 16-jährige K. H. aus Düsseldorf. Dieser war während des Krieges jahrelang in einem Kinderlandverschickungslager untergebracht, in dem kein regelmäßiger Schulbesuch möglich war. Aufgrund seiner Testergebnisse wurde er in Bonn als erheblich schwachsinnig diagnostiziert. Sein geringer Schulbesuch wurde bei den Intelligenztests nicht berücksichtigt. Andere Kinder, die sich schriftlich kaum ausdrücken konnten, malten manchmal beeindruckende Bilder, deren intellektuelle Aussagekraft allerdings in der ärztlichen Beurteilung offenbar ebenfalls nicht beachtet wurde.47 Bei zwei weiteren Kindern aus dem Gesamtsample wurde in den ärztlichen Gutachten die Diagnose Schwachsinn gestellt, obwohl die auf Intelligenztests gestützten Gutachten diese Einschätzung ausschlossen. Hier bildete der Schwachsinn ganz offensichtlich eine Verlegenheitsdiagnose.48 Auf die erkrankten und geschädigten Kinder reagierten die Psychiater in der Praxis also zumeist mit einer medizinischen Diagnostik, die deren Lebensgeschichte in der Anamnese zwar repetierte, aber keinen kausalen ­ Zusammenhang zwischen psychischer Störung und Gewalt- bzw. Kriegs­ erfahrung herstellte. Das ist unter anderem auf das Weiterbestehen und das Festhalten an erbbiologischen Krankheitskonzepten zurückzuführen: Die Auffassung, dass psychische Erkrankungen auf anlagebedingte, erbliche Funktionsstörungen zurückzuführen seien, blieb bei der weit überwiegenden Mehrheit der Psychiater auch nach dem Krieg herrschende Lehrmeinung.49 III. Die Diskussion um den Zusammenhang zwischen Kriegserfahrung und psychischer Erkrankung in den Fachverbänden Die wachsende Zahl verhaltensauffälliger Minderjähriger nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte die führenden Kinder- und Jugendpsychiater aller46  Probst. 47  Z. B.

Patientenakte A. R. aus Teplitzschönau 1951, in: PaKB. B. aus Essen 1949; A.R. aus Teplitzschönau 1951, in: PaKB. 49  Vgl. Roelcke, Konzepte. 48  W.



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dings immer wieder. Ein 1948 von den beiden führenden deutschen Jugendpsychiatern, Werner Villinger und Hermann Stutte, publizierter Aufsatz über „zeitgemäße Aufgaben und Probleme der Jugendfürsorge“ übte bis in die 1960er Jahre hinein maßgeblichen Einfluss auf die Diskussion über den Umgang mit verwahrlosten Jugendlichen aus.50 Darin erklärten sie „die Sichtung, Siebung und Lenkung dieses Strandgutes von jugendlich Verwahrlosten und Dissozialen“ zur ärztlich-psychiatrischen Aufgabe, da statistisch erwiesen sei, dass „ein großer Teil dieser jugendlichen, sozialen Störenfriede und Gesellschaftsfeinde“ krank oder „abnorm“ sei, was überwiegend auf „anlagemäßigen Charakterabartigkeiten und Psychopathien“ beruhe.51 Entsprechend forderten sie ein „nach biologischen Gesichtspunkten differenziertes Fürsorgeerziehungswesen“ mit psychiatrisch geleiteten „Sondererziehungsanstalten“, die mehr auf Verwahrung als auf Erziehung zielen sollten. Werner Villinger räumte zwar 1951 auf der wissenschaftlichen Tagung der „Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie“ (DVJ) in Stuttgart ein, dass der Psychopathiebegriff „vielfach ein Notbehelf“ sei, er könne jedoch keineswegs durch den Begriff „Schwererziehbarkeit“ ersetzt werden, da neuere Beobachtungen ergeben hätten, dass ein „vermutlich gar nicht geringer Teil, der bisher als Psychopathie bzw. psychogene Reaktionen aufgefassten ­Anomalien Folgezustände nach organischen Hirnschädigungen“52 darstellte. Psychopathie sei also alles andere als psychogen oder sozial verursacht.53 Dabei ging es gerade den Psychiatern auch um die Sicherung von Tätigkeitsfeldern. Die Kinder- und Jugendpsychiater wollten ihren Zuständigkeitsbereich gegenüber der wachsenden Zahl der Heilpädagogen und Psychologen einerseits und gegen die Kinderärzte andererseits abstecken, insofern verwiesen sie vermehrt auf neurologische und psychiatrische Ursachen der Krankheiten.54 In der Praxis führten diese Auffassungen dazu, dass verhaltensauffällige Kinder in den Nachkriegsjahren verhältnismäßig leicht als „psycho­ pathisch“ oder „charakterlich abartig“ diagnostiziert wurden. Ähnliches galt für die Diagnose „Schwachsinn“.55 Verstörte Kinder sowie jene, deren Schulbesuch wegen des Krieges nicht regelmäßig oder wenig erfolgreich 50  Villinger / Stutte; Zur Rezeptionsgeschichte s. Blandow, S. 82. Villinger war als „T4“-Gutachter an Tötungstransporten von Kindern im NS beteiligt gewesen, vgl. Harms, S.  418 f. 51  Villinger / Stutte, S.  249 f. 52  Castell u. a., S.  101 f. 53  Vgl. auch Goltermann, Körper, S. 89 ff.; Holtkamp. 54  Castell u. a., S. 102. 55  Zur Diagnosestruktur des „Schwachsinns“ in der Tradition des „moralischen Schwachsinns“ vgl. zusammenfassend Frings, S. 55–61.

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war, wurden schnell als „schwachsinnig“ etikettiert, Kindern, die auffällig auf Kriegserlebnisse reagierten, wurde vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Rahmenbedingungen leicht angeborene „Minderbegabung“ zugeschrieben.56 Das geschah nicht in jedem Fall, aber doch verhältnismäßig oft, das zeigen die konkreten Diagnosepraktiken, dokumentiert in den Bonner Patientenakten. Das Thema „Kriegsbelastungen“ blieb in den Nachkriegsjahren virulent. Der Blick in die psychiatrische Fachliteratur der Jahre zwischen 1949 und 1959 macht deutlich, dass die Häufung psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sowohl zu Verunsicherungen als auch zu erheblichen Abwehrreaktionen unter den Ärzten führte. Innovative Ansätze gingen vor allem vom Ausland aus. So diskutierten etwa niederländische Psychiater in deutschsprachigen Fachpublikationen die Frage, wie Kriegsgewalt auf Kinder wirkte, warum manche Kinder mit heftigen Gewalt- oder Todeserfahrungen anscheinend seelisch gesund blieben, während andere wiederum schwere neurotische Störungen entwickelten.57 Schließlich warnte der deutsche Psychologe und Lehrer Richard Müller im Jahr 1954 nach Beobachtungen an kriegs- und nachkriegsgeschädigten Kindern vor übereilter Diagnostizierung von „Schwachsinn“: Die Dynamik der Persönlichkeitsentwicklung scheint hier nicht nur allgemein verzögert, sondern auch außerordentlich verkompliziert und größtenteils undurchsichtig zu sein. Der ungeschulte Beobachter steht in Gefahr, voreilig auf Minderbegabung oder u. U. sogar auf Debilität zu schließen; in Wahrheit handelt es sich um Entwicklungsgehemmtheit bzw. Pseudodebilität.58

Auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde – gemeinsam mit der Vereinigung für Jugendpsychiatrie 1954 durchgeführt59 – wurde das Thema „Kriegsschäden“ erstmals umfassend diskutiert, so berichtete ein schwedischer Kinderarzt über erhebliche Auswirkungen der Kriegsfolgen auf Kinder und Jugendliche in seinem Land.60 Obwohl Schweden nicht aktiv am Zweiten Weltkrieg beteiligt war, habe die permanente Bedrohung durch den Krieg zu einer erheblichen Zunahme von psychischen Störungen bei Kindern geführt, so seine These.61 Sogar Werner Villinger war zu 56  Goltermann,

Körper, S. 89 ff. Ruyter. Die Gründung der „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ im Jahr 1958 ging schließlich vom niederländischen Arzt Tom Mutters aus, vgl. dazu Stoll, S.  176 f. 58  Müller, S. 36; vgl. auch Schindler. 59  Vgl. zur Kooperation und Konkurrenz dieser beiden Fachgesellschaften Topp u. a., S.  112. 60  Castell u. a., S.  122 f. 61  Castell u. a., S. 123. 57  De



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Zugeständnissen bereit und konstatierte, dass „reaktiv-depressive“ Syndrome bei den erschöpften Eltern zu Beeinträchtigungen der Kinder geführt hätten. So gab er sich im Vergleich zu den unmittelbaren Nachkriegsjahren den Anschein einer gewissen Aufgeschlossenheit.62 Im Grundsatz stellte er aber eine nachhaltige Auswirkung der Kriegserfahrung auf die Psyche und die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Kinder weiterhin in Frage. Er argumentierte, dass die von den Nationalsozialisten propagierte „heroische Lebenshaltung“ einen Rückgang der Hysterien zur Folge gehabt habe, und er könne aus eigener Erfahrung berichten, dass die Kinder in den Luftschutzbunkern auf die Luftangriffe mit dumpfer Resignation reagiert hätten. Nur die Kinder, die den Tod oder die Trennung von der Mutter erleben mussten, hätten zu einer vermehrten Neurosenbildung geneigt, aber auch nur, wenn sie schon vorher auffällig gewesen seien.63 Darüber hinaus verwies er darauf, dass der in den Nachkriegsjahren beobachtete Konzentrationsmangel bei Schulkindern auf Reizüberflutungen der Moderne, wie etwa die Lektüre von Comicheften, zurückzuführen sei.64 Auch seine Kollegen Eckart Foerster sowie die Pädiater Otto Bossert, Karl-Heinz Bleckmann und Gerhard Göllnitz wiesen auf der Tagung von 1954 langfristige psychische Kriegsschäden bei Kindern noch weitgehend zurück.65 Zeitgenössisch bestand in der internationalen Forschung zwar noch kein ausgefeiltes Traumakonzept, aber es existierten doch durchaus flexiblere Vorstellungen von psychischen Kriegsschäden,66 die in Deutschland bis zur Mitte der 1950er Jahre weitgehend ignoriert wurden. Herausgefordert fühlte sich die Zunft der Kinder- und Jugendpsychiater durch innovative internationale Forschungen und auch durch andere Fachspezialisten wie etwa die Psychologen allerdings durchaus, wie die intensive Beschäftigung mit dem Thema auf der bereits zitierten Konferenz von 1954 und die Fachpublika­ tionen jener Jahre demonstrieren.67 Verunsichernd wirkten die Befunde der nach dem Krieg erheblich vermehrten psychischen Auffälligkeiten allemal und ließen sich längerfristig kaum noch ignorieren. Doch bis weit in die 1950er Jahre hinein dominierte im Arkanum der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie die Ansicht, dass der Krieg und die Diktatur keine längerfristigen psychischen Störungen bei Kindern verursacht, sondern lediglich „anlagebedingte Minderwertigkeit“ zum Vorschein gebracht hatten.68 auch den Beitrag von Roelcke, Erbbiologie. u. a., S. 120. 64  Castell u. a., S. 121. 65  Castell u. a., S. 118–126; vgl. dazu auch Bonhoeffer. 66  Vgl. etwa die Arbeiten von Anna Freud mit kriegsgeschädigten Kindern in London, s. Freud. 67  Vgl. dazu ausführlich Castell u. a., S. 90–128. 68  Goltermann, Körper, S. 90. 62  Vgl.

63  Castell

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IV. Alltag und Gewalterfahrungen in der Klinik Viele Patientenakten zeigen den Schlagschatten der Kriegs-, Diktatur- und Zusammenbruchsgesellschaft. So wird die massive Überforderung von allein­ erziehenden oder erkrankten Eltern deutlich, denen es kaum möglich war, den Lebensunterhalt zu erwirtschaften und sich zugleich angemessen um ein Kind zu kümmern. Vaterlose Familien, schwerstkriegsversehrte Väter, erschöpfte und erkrankte Mütter: Nur sehr wenige Kinder in der Bonner Klinik kamen aus stabilen Familien. Die Kinder, die in den Nachkriegsjahren in die Rheinische Klinik eingewiesen wurden, sahen sich zudem vielfältigen Gewalterfahrungen ausgesetzt, die an ganz unterschiedlichen Orten stattfanden, aber auch untereinander verknüpft waren. Besonders typisch ist in dieser Hinsicht der Fall des 14-jährigen H. H. aus Bonn: Nachdem sein gewalttätiger Stiefvater gefallen war und der Junge mehrere Bombenangriffe durchlitten hatte, zeigten sich bei ihm extreme Nervosität und Unruhe; schließlich erkrankte seine Mutter, und der damals dreizehnjährige H. kam in ein Kinderheim der Caritas. Dort wurde er von den anderen Kindern geschlagen. Als er wieder nach Hause durfte, habe die Mutter ihn betteln geschickt, sie habe extrem ungehalten reagiert, wenn er mit leeren Händen zurückgekehrt sei, hieß es. Der Junge zittere ununterbrochen am ganzen Leib. Er wurde schließlich längerfristig in einer Außenstelle der Rheinischen Landesklinik untergebracht, dem Pauline-von-MallinckrodtHeim in Siegburg-Wolsdorf. H. H. war von so vielen unterschiedlichen Formen von Gewalt betroffen, dass diese sich wie ein Netz über sein Leben gelegt hatten. Sie beinhalteten Kriegsgewalt durch Bombenangriffe, häus­ liche Gewalt durch den Stiefvater, institutionelle Gewalt im Heim sowie körperliche Gewalt durch andere Heimkinder. Dabei waren die Kinder vor allem Opfer, manchmal wurden sie aber auch selbst zu Tätern. Ältere Jugendliche verübten sexuelle Übergriffe auf Jüngere, begannen Prügeleien oder fielen durch Tierquälerei auf.69 Viele Mädchen hatten sexuelle Gewalt in vielfacher Hinsicht erlebt, wobei die Mädchen fast immer doppelt stigmatisiert wurden. Elf- bis zwölfjährige Mädchen kamen defloriert in die Bonner Landesklinik, bei einigen Patientinnen war es offensichtlich, dass sie durch ihren Vater, Bruder oder Großvater sexuell missbraucht worden waren. Nicht wenige waren auch von fremden Männern vergewaltigt worden. Doch bis weit in die 1970er Jahre hinein wurden Mädchen für sexuelle und körperliche Gewalterfahrungen selbst verantwortlich gemacht.70 So wurden C. W., I. P. und M. G. nach jahrelangen 69  M.

B. aus Elberfeld, in: PaKB. Zuschreibungen als „sittlich verwahrlost“ waren dabei keineswegs unüblich, vgl. Gehltomholt / Hering, S.  123 f. 70  Derartige



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Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen in den fachärztlichen Gutachten wegen „unsittlichen Verhaltens“ massiv verurteilt.71 Die Jungen der untersuchten Beispielgruppe wurden in den 1950er Jahren schon gar nicht als Opfer sexueller Gewalt wahrgenommen, auch wenn bei einigen Jungen vermutet wurde, dass sie eine sexuelle Beziehung zu ihrer Mutter gehabt hätten.72 Stattdessen wurden selbst kleine Jungen als Täter präsentiert. So warfen Ärzte einem elfjährigen Patienten vor, er habe sich seiner Stiefschwester gegenüber unsittlich verhalten, indem er sich vor ihr entblößt habe.73 Während erfahrene Kriegsgewalt in unserem Untersuchungszeitraum nur noch in ihren Auswirkungen zu erfassen war, blieb häusliche Gewalt an der Tagesordnung. Bis zum Ende der 1950er Jahre wurde diese in den Akten allerdings nur ausdrücklich thematisiert, wenn Eltern „unmäßig“ geprügelt hatten, so im Fall der 18-jährigen M. G. aus Köln.74 In den ärztlichen Gutachten wurde auch notiert, wenn die Kinder ungewöhnliche Narben hatten. Weiter danach gefragt wurde allerdings nicht. Ein weiterer Aspekt, der durch die Analyse der Patientenakten allerdings nur ausnahmsweise erfasst werden kann, ist die Wirkung der jeweiligen ­Diagnose in den Familien. So ist in einem Fall ein Brief einer Mutter überliefert, in dem sie beschreibt, wie die Eltern sich gegenseitig die Verantwortung dafür zuwiesen, dass der Junge „so dumm“ sei. Dabei bleibt es auch in diesem Fall offen, ob der häufig schlagende Vater nicht möglicherweise zum Hirnschaden des Jungen erheblich beigetragen hatte. Als das Kind schließlich in Bonn untergebracht war, agierte der Vater seine gewalttätigen Neigungen offenbar an der Mutter aus.75 Auch wenn die familiären Verhältnisse in der Anamnese fast immer kurz beschrieben wurden, bedeutete das in den ersten Jahren nach Kriegsende allerdings nicht, dass den Familien eine besondere Wirkmächtigkeit zugeschrieben wurde. Emotionale Bindungen der Kinder an ihre Eltern wurden kaum berücksichtigt, weder während der Behandlung noch bei einer Verlegung in Belegeinrichtungen. Im Gegenteil: Den Kontakt zur eigenen Familie zu erschweren gehörte sowohl in der Rheinischen Landesklinik als auch in den Belegheimen zum Programm. Die Isolation der Kinder und Jugendlichen war offenbar erwünscht. Besuche der Eltern wurden nicht unterstützt und 71  C. W. aus Bonn 1951, in: PaKB; I. P. aus Rheinhausen 1951, in: PaKB; M. G. aus Bonn 1951, in: PaKB. 72  So etwa W. B. aus Düren, in: PaKB; J. L. aus Bonn 1948, in: PaKB. 73  G. K. aus Bonn 1949 / 50, in: PaKB. 74  M. G. aus Bonn 1951, in: PaKB. 75  W. B. aus Essen-Steele 1951, in: PaKB.

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vom Klinikpersonal bestenfalls hingenommen. Der Kontakt der Patienten mit Personen außerhalb der Klinik war streng reglementiert und nur äußerst eingeschränkt möglich. Es finden sich zahlreiche Briefe von Angehörigen, die um Nachricht über ihre Kinder baten, die sie Wochen oder sogar Monate nicht mehr gesehen hatten. Da die Kinder fast alle aus wirtschaftlich ­schwachen Verhältnissen kamen, spielte die Frage des Fahrtgeldes eine große Rolle. Die Distanz zum Elternhaus wurde nämlich noch dadurch vergrößert, dass die Ärzte die Kinder oft für eine Anschlussunterbringung empfahlen, die in weiter Entfernung vom Wohnort der Familie lag. Die Distanz zwischen Wohnort und Heim betrug üblicherweise zwischen fünfzig und hundert Kilometern. Noch in den 1950er Jahren wurden Geschwisterkinder konsequent in getrennten Heimen oder Anstalten untergebracht. Da Besuche der Eltern oder anderer Verwandter weder angeregt noch gefördert wurden, waren die Patien­ ten dem Wohlwollen des Klinikpersonals völlig ausgeliefert. Sie mussten eine spezielle Anstaltskleidung tragen und konnten die überfüllten Krankensäle kaum verlassen. In Fällen, in denen den Kindern (zugelassene) Medikamente verabreicht wurden, sind die Eltern nicht um Einwilligung gebeten worden.76 Das galt jedoch nicht hinsichtlich der Untersuchungsmethode der Enzephalographie; hierfür wurde zumeist das Einverständnis der Erziehungsberechtigten eingeholt.77 Der Eingriff der Pneumenzephalographie, der den Eltern der Kinder als Durchleuchtung des Gehirns erläutert wurde, war tatsächlich sehr schmerzhaft und mit großen Risiken für die Betroffenen verbunden. Den Kindern ging es nach dem Eingriff häufig sehr schlecht, viele klagten über Kopfschmerzen und / oder weinten den ganzen darauffolgenden Tag.78 Andere litten noch mehrere Tage danach unter Fieber. Wenn man berücksichtigt, dass die meisten Kinder aus sozial schwachen und benachteiligten Familien stammten, dann wird schnell deutlich, wie durch diese Praxis familiäre Bindungen zusätzlich zerrüttet wurden. Insgesamt kam bis weit in die 1960er Jahre ein sehr großer Anteil der Kinder aus einem problematischen sozialen Milieu. Kinder aus der unteren und oberen Mittelschicht waren sehr selten. Insofern erfüllte die Rheinische Landesklinik nicht nur eine medizinische, sondern auch eine soziale Funktion. Doch die Gewalterfahrungen brachen mit dem Beginn des Aufenthalts in der Klinik nicht ab. Die psychiatrischen Anstalten blieben in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch immer Orte des „Hungersterbens“, da die nationalsozialistischen Erlasse zur Schlechterstellung der Insassen mit Lebensmitteln zunächst in Kraft geblieben waren und die Patienten außer76  Z. B.

bei K. B. aus Köln; vgl. seine Patientenakte, in: PaKB. S. 179–181; vgl. auch Borck. 78  Beispiel: H. W. F aus Kamp-Lintfort 1950, in: PaKB. 77  Klinda,



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dem keine Möglichkeit hatten, ihre Ernährung durch Tausch oder Aneignung aufzubessern.79 Die Arbeitshaltung der Schwestern und Pfleger spiegelt sich in den Pflegeund Stationsberichten wider. Insbesondere den Ordensschwestern wurde ein extrem hohes Maß an Opferbereitschaft abverlangt. Eine 70- bis 80-StundenWoche war nichts Ungewöhnliches, wobei die Unterbringung nahe dem Arbeitsplatz eine grenzenlose Verfügbarkeit der Pflegekräfte sicherte.80 Insofern stand in den Pflegeberichten fast immer die Arbeitsbelastung durch das jeweilige Kind im Vordergrund. Und tatsächlich befanden sich wohl sehr häufig Kinder auf den Stationen, deren ausreichende Versorgung eine eigene Pflegekraft erfordert hätte. Viele Patienten litten unter extremer Unruhe, unter Einnässen und Einkoten, in der drangvollen Enge der Stationssäle waren tätliche Auseinandersetzungen mit Mitpatienten an der Tagesordnung. Sämtliche Türen in der Klinik waren nur mit Schlüsseln oder Türdrückern zu öffnen81, und Bedienstete konnten für durch ungenügend beaufsichtigte Kranke verursachte Schäden haftbar gemacht werden.82 In einem Interview beschreibt H. V., der 1946 in die Rheinische Landesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Bonn aufgenommen wurde, seine Zeit in der Bonner Klinik: Ich war ganz normal, ein ganz normales Kind, ne. Aber dass die mich da reingetan hat, das war der, wie die Hölle. Das war so was Grausames, das können Sie sich gar nicht vorstellen, was das war. Mit zwölf Jahren plötzlich, was man noch nie kennengelernt hat […]: keine Türklinken, die großen Fenster – kennen sie die Landesklinik? […] keine Klinken, nur ein Drücker hat jeder der da angestellt war […] in diesem Raum liefen – ich würde mal sagen zwanzig bis dreißig Patienten rum – aber alles in Anstaltskleidung und da kippte einer um, kriegte ’nen Anfall, ja, ich wusste nicht was das ist, und sowas alles und wirklich so richtig die daneben waren, ne, also. […] ich habe garantiert drei Tage in einer Ecke geheult. Und keiner hat sich darum gekümmert. […] wie können die einem Menschen so was, der so an der Seele leidet, so alleine lassen und gar nicht mal ein bisschen, ein Wort mit dem wechseln oder so. […] also Bonn war das schlimmste.83

Auch wenn berücksichtigt werden muss, dass im Jahr 1946 noch ans ­ haotische grenzende Zustände geherrscht haben dürften, finden sich auch in C den späteren Akten immer wieder Hinweise auf starke „Heimwehreaktionen“ und auf vorsichtige Fragen der Kinder, wann sie denn nach Hause dürften. 79  Faulstich,

S. 702–713; Sparing. S.  17 f. 81  „Anweisung für den Dienst in der Rhein. Landesklinik für Jugendpsychiatrie“, in: ALVR 31254. 82  Hausordnung der Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie, in: ALVR 31254. 83  Interview von Frank Sparing mit Herrmann V. in Kürten am 16.7.2013. 80  Kreutzer,

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Ein Junge erklärte dem untersuchenden Arzt, er habe sich gewünscht, dass sich durch die Untersuchung in der Klinik etwas für ihn verbessern würde, doch nun wolle er so schnell wie möglich aus Bonn weg. Er äußerte die Hoffnung, dass man, wenn man freiwillig gekommen sei, schließlich auch auf eigenen Wunsch wieder gehen dürfe.84 Die Frage, ob Kleidung und körperlicher Zustand des Kindes einen ordentlichen Eindruck erweckten, stellte einen wichtigen Aspekt in den Pflegeberichten dar. Darüber hinaus bildete die Frage der Arbeitsbereitschaft und -fähigkeit der Kinder und Jugendlichen, also ihre Bereitschaft zur Mitarbeit auf der Station, einen weiteren wichtigen Faktor.85 So forderten verschiedene Gutachten, dass „Schwachsinnige abgerichtet“ und an regelmäßige ­ Arbeit gewöhnt werden müssten.86 Am Beispiel der Pflegeberichte über die 18-jährige M. G. wird der stark wertende Tonfall deutlich: M[…] sucht sich die Arbeit aus, was ihr gefällt will sie haben, oder sie eignet es an sich. Mit mehreren Kindern arbeiten lehnt sie es sofort ab, übernimmt nur ausgesuchte Arbeiten und Aufträge, es darf ihr auch niemand etwas sagen, Tadel und Zurückweisung kann sie nicht ertragen, wirft alles hin, „machen Sie doch die Arbeit allein“ wird dann ordinär und faul, arbeitet überhaupt nur nach Laune, kann ordentlich, zuverlässig arbeiten, kann an manchen Tagen unermüdlich sein, besonders wenn man sie lobt.87

Die sogenannte Arbeitstherapie war streng geschlechtsspezifisch aufgeteilt. Für die weiblichen Patienten waren Hilfsleistungen in der Küche, der Waschküche, der Gemüseküche und im Nähzimmer vorgesehen, während männ­ liche Patienten für Aufräumarbeiten und bei der Gartenarbeit eingesetzt wurden.88 Eingerichtete Spiel- und Bastelräume waren lediglich für die männlichen Patienten vorhanden, um sie für eine spätere Handwerksarbeit oder auf Hilfstätigkeiten vorzubereiten.89 Eine weniger offensichtliche Form der Gewalt waren Geschlechterregime, die die Kinder bestimmten Normvorstellungen unterwarfen. Vor allem die Abweichung von hegemonialen Männlichkeitsbildern wurde pathologisiert, wie etwa im Falle von R. K. und von H. K. sowie dem 15-jährigen A. R. Sie wurden als weich, scheu und von fast „mädchenhaftem Wesen“ beschrieben, 84  Akte

H. B. aus Duisburg 1948, in: PaKB. zur Bedeutung der Arbeitsfähigkeit Bösl, Politiken. 86  W. G. aus Essen 1958, in: PaKB. 87  M. G. aus Bonn 1951, in: PaKB. 88  Bericht der „Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie“, 1954 (Dr. HansAloys Schmitz), in: ALVR 31360. 89  „Anweisung für den Dienst in der Rhein. Landesklinik für Jugendpsychiatrie“, in: ALVR 31254. 85  Vgl.



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diese Attribute wurden in den Zuschreibungen zu zentralen Aspekten ihres Krankheitsbildes.90 Mit der Überführung aus Bonn in die sich anschließenden Heime oder Anstalten waren diese ganz unterschiedlichen Gewalterfahrungen allerdings keinesfalls abgeschlossen. Im Fall der hier vorgestellten Kinder und Jugendlichen sah ihre weitere Entwicklung folgendermaßen aus: Von den 60 Kindern wurden zwölf nach Hause entlassen und zwei wurden von den Eltern vorzeitig aus der Klinik abgeholt. Zwei Kinder entwichen aus der Klinik, wir erfahren nichts über ihr weiteres Schicksal. Direkt im Anschluss an die Begutachtung in der Klinik wurden 33 Kinder in ein Heim bzw. eine Anstalt oder eine psychiatrische Klinik überführt. Elf Kinder wurden mit der Empfehlung eines bestimmten Heimes zunächst nach Hause entlassen, d. h. sie sollten noch wenige Tage auf einen Heimplatz warten und durften für diese Zeit zu ihren Familien. Wie die Studien von Bernhard Frings, Andreas Henkelmann, Hans Walter Schmuhl und Ulrike Winkler an zahlreichen Beispielen zeigen, waren in Einrichtungen, die der Bonner Klinik folgten, wie z. B. dem Franz-SalesHaus, Isolation, Beschämung und auch Schläge an der Tagesordnung, wobei nur Fälle außergewöhnlicher Brutalität seitens des Pflegepersonals sanktioniert wurden.91 Selbst wenn die Gewaltausübung des pflegenden Personals gewissen Regeln unterlag, waren Versuche der Einhegung häufig wenig erfolgreich. Die Patientengeschichten der „Kriegs-“ und „Nachkriegskinder“ machen deutlich, wie schwierig eine Eingrenzung von Gewalterfahrungen auf rein körperliche Aspekte ist. Kriegsgewalt war kein singuläres Phänomen, sondern zog weitere Gewaltpraktiken nach sich. Familiäre und gesellschaftliche Destabilisierung brachte für viele dieser Kinder weitere physische und psychische Gewalterfahrungen. Erst zum Ende der 1950er Jahre zeigten sich erste Versuche, die Versorgung psychiatrisch erkrankter und geistig behinderter Kinder zu reformieren.92

90  Patientenakte H. B. aus Herne, in: PaKB; H. B. aus Mönchen-Gladbach, in: PaKB; H. K. aus Overath, in: PaKB; R. K. aus Wuppertal Barmen, in: PaKB; A. R. aus Lengsdorf, in: PaKB. 91  Frings, S. 135–142. 92  Wie z. B. die Gründung der Lebenshilfe für das behinderte Kind 1858; vgl. dazu Stoll, S. 176–178; vgl. weiterführend die Beispiele in Panse, S. 119–142, 259– 276.

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V. Fazit Verstörende Kriegs- und Fluchterfahrungen, Verfolgungen von Familien unter der NS-Diktatur sowie Instabilität und Not nach Kriegsende verursachten einen erheblichen Zustrom an Kindern mit psychischen Versehrungen und geistigen Behinderungen in die Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, welche sich nach 1945 zügig wieder füllten. Es waren also unterschiedliche Erfahrungen, die das Leben dieser Kinder prägen konnten. Dabei zeigte sich in den Nachkriegsjahren eine erhebliche Verunsicherung im Umgang mit diesen „versehrten“ Kindern. Der lange Schatten der Erbund Rassenbiologie wirkte nach und verzögerte offenbar eine ressourcenorientierte Sicht, wie sie in anderen Staaten bereits während des Krieges begonnen hatte.93 Ein großer Teil der Ärzte – ausgebildet oder assimiliert unter den nationalsozialistischen Paradigmen der Erb- und Rassenpflege – behielt nach 1945 die Überzeugung von der angeborenen biologisch festgelegten „Minderwertigkeit“ von Menschen zunächst bei. Das zeigte sich auch in personellen Kontinuitäten. Bonn war hier ein typisches Beispiel. Der Leiter der Klinik, der an den Krankenmorden während des Zweiten Weltkriegs beteiligt war, wurde 1946 für einige Monate suspendiert und anschließend 1947 wieder als Klinikleiter eingesetzt. Offensichtlich durch Kriegs- oder Diktaturerfahrungen verursachte oder beeinflusste Erkrankungen passten nicht in die wissenschaftliche Sichtweise jener Ärzte. Dieses Ignorieren einer Beziehung zwischen Kriegserfahrung und psychischer Versehrung kann als „gewolltes Nicht-Wissen“ verstanden werden.94 Auch wenn in diesen Jahren ein Prozeß der Verunsicherung losgetreten wurde, wollte und konnte die Mehrheit der Mediziner vor ihrem zeitgenössischen Hintergrund die Verbindung zwischen Kriegserfahrungen und psychischer Erkrankung der Kinder nicht sehen. So fanden sich in diesen Patientenakten entweder diagnostische und therapeutische Ungenauigkeiten und Leerstellen, oder die Ärzte beurteilten Kinder, die erheblich unter dem Krieg oder dem Nationalsozialismus zu leiden gehabt hatten und nun massive Störungen zeigten, vermehrt als „psychopathisch“ oder „charakterlich abartig“. Manche aus heutiger Sicht offensichtlich traumatisierte Kinder wurden auch als schwachsinnig diagnostiziert. Ihre Störungen und Auffälligkeiten wurden somit als unveränderlich stigmatisiert. Ein ausgesprochen defizitärer Blick auf die Kinder findet sich sowohl in den ärztlichen Gutachten als auch in den Stationsberichten des Pflegepersonals. 93  Vgl. etwa die eingangs erwähnten Arbeiten von Anna Freud mit den kriegsgeschädigten Kindern in London. 94  Neuere Ansätze machen diesen Begriff des „gewollten Nicht-Wissens“ produktiv s. Hertwig / Engel; vgl. auch https: /  / tu-dresden.de / gsw / phil / ige / nnge / forschung /  gewolltes_nichtwissen.



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Zudem wurde deutlich, dass die Kinder Opfer unterschiedlicher Kriegs- und Diktaturerfahrungen waren: In den Akten fanden sich Berichte über Kinder politisch und rassisch Verfolgter, über „displaced children“ und Kriegswaisen, durch Luftangriffe Verschüttete oder jene, die auf der Flucht ihre Eltern verloren hatten. Doch gleichgültig aus welchem Grund sie in Bonn weilten, ihre Erfahrungen wurden kaum als krankheitsrelevant berücksichtigt. Mit der Trennung von ihren Familien, mit der Aufnahme und längerfristigen Begutachtung in die Klinik setzten sich für die kriegs- und NS-geschädigten Kinder oftmals gewaltförmige Erfahrungen weiter fort. Extreme räumliche Enge, überlastetes Pflegepersonal, emotionale Vernachlässigung, Stigmatisierungen, prügelnde Mitpatienten und schmerzhafte medizinische Untersuchungen waren alltägliche Erfahrungen in der Landesklinik. Bis weit in die fünfziger Jahre hinein lassen sich nur wenige Anhaltspunkte für ein Umdenken oder eine reformorientierte Sicht der Mediziner und der Behörden finden. Erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre kam es schrittweise zu einer Erweiterung der Perspektive, die weitgehend aus dem Ausland inspiriert wurde. VI. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Ungedruckte Quellen Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (ALVR) Patientenaktenarchiv der LVR-Klinik Bonn (PaKB) Interview von Frank Sparing mit Herrmann V. in Kürten am 16.7.2013 https: /  / tu-dresden.de / gsw / phil / ige / nnge / forschung / gewolltes_nichtwissen http: /  / www.fr-online.de / politik / -anerkennung-und-hilfe-weggesperrt-in-die-psycha ­trie,1472596,34371522.html

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Jugendwerkhöfe in Thüringen. Sozialistische Umerziehung zwischen Anspruch und Realität Von Isabel Richter I. Einleitung Der Sozialismus war die ideologische Grundlage der DDR-Diktatur. Nach dieser Weltanschauung sollen die Individualinteressen der Bürger hinter denen der Gemeinschaft zurücktreten, Besitz gemeinschaftlich geteilt und soziale Unterschiede aufgehoben werden. In der Folge würden dann Kriminalität und Gewalt verschwinden. Damit sich der Sozialismus als Staatsideologie in der DDR durchsetzen und gleichzeitig in der Bevölkerung etablieren konnte, sollte aus jedem Bürger eine „sozialistische Persönlichkeit“ werden. Ihre Eigenschaften orientierten sich an der marxistisch-leninistischen Ideologie und wurden in den Bildungseinrichtungen der DDR jedem heranwachsenden Bürger anerzogen. Kinder und Jugendliche, denen es nicht gelang, die Verhaltenswerte zu übernehmen, gefährdeten die Herausbildung der sozialistischen Gesellschaft. Sie wurden als „schwererziehbar“ eingestuft und durch Einweisung in ein Spezialheim von der Gesellschaft isoliert. Die Jugendwerkhöfe (JWH) zählten zu diesen Spezialheimen, in denen Jugendliche im Sinne der „Gemein­ schaftserziehung“1 zu „einwandfreien sozialistischen Persönlichkeiten“ und „zu bewussten Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik“2 umerzogen werden sollten. Die Forderung des Sowjetpädagogen Anton S. Maka­ renkos3„Es genügt uns nicht, einen Menschen einfach zu bessern, wir müssen 1  Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStA Weimar), Bezirksgericht Erfurt 1–294, Bl. 6. 2  Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe vom 22.4.1965, § 1, zit. nach Sengbusch, S. 1825 f.; Bundesarchiv Berlin (BArch Berlin), DR 2 / 12293. 3  Anton Semjonowitsch Makarenko war ein russischer Pädagoge. Seine Erfahrungen sammelte er als Leiter der Gorki-Kolonie. Dort versuchte er mit Hilfe der Kollektiverziehung und paramilitärischer Methoden straffällige Jugendliche zu disziplinieren und ihnen nach und nach bestimmte Aufgabenbereiche bis hin zur Selbstverwaltung zu übertragen. Die Erkenntnisse aus dieser Arbeit hielt er in seiner Monografie „Ein pädagogisches Poem. Der Weg ins Leben“ fest. Makarenko gilt als Vater der Kollektiver-

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ihn umerziehen […]“4 stand als Leitgedanke über der Erziehungspraxis in den mehr als 70 Jugendwerkhöfen der DDR. Die Jugendwerkhöfe der DDR waren Einrichtungen der Volksbildung5 für Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren ohne Schulabschluss oder Berufsausbildung.6 Ihre Anzahl variierte äußerst stark zwischen 23 und 73 Einrichtungen.7 Im Raum Thüringen existierten bis 1961 fünf Einrichtungen: der JWH „Phillip Müller“ in Friedrichswerth,8 mit zwei Außenstellen in Höngeda und Hörselgau, der JWH „Ehre der Arbeit“ in Hummelshain, der JWH „Rudolf Harbig“ in Römhild, der JWH „Neues Leben“ in Bad Klosterlausnitz bzw. ab 1955 in Wolfersdorf, und der JWH „Geschwister Scholl“ in Bad Köstritz.9 Die Zahl der thüringischen Einrichtungen verringerte sich zunächst mit dem Mauerbau 1961, als der grenznahe Jugendwerkhof in Römhild mit einer Kapazität von 120 Plätzen geschlossen wurde.10 Mit der Eröffnung der Jugendwerkhöfe Sömmerda, Gebesee, Höngeda11 und Cretzschwitz12 erhöhte sich die Anzahl auf acht Einrichtungen nach 1962. Alle Thüringer Werkhöfe galten als offene Einrichtungen.13 Die Abgeschlossenheit der Heime ergab sich durch das Erziehungssystem, die Einschränkungen der persönlichen Freiheit und die Unterdrückung des Individuums, die strengen Verhaltens­

ziehung und seine Theorien waren Grundlage der DDR-Heimerziehung. Zimmermann, S. 55–57. 4  Zit. nach BArch Berlin, DR 2 / 4750, Bl. 271. 5  BArch Berlin, DR 2 / 12293, unpag. 6  Vgl. Niermann, S.  205 f. 7  BArch Berlin, DR 2 / 12293, unpag.; vgl. Krausz, S. 36. 8  ThHStA Weimar, Land Thüringen 1286, Bl. 238. 9  BArch Berlin, DR 2 / 6218, unpag. 10  BArch Berlin, DR  2 / 23479, unpag.; Thüringisches Staatsarchiv Meiningen (ThStA Meiningen), Bezirkstag / Rat des Bezirkes Suhl 4538, unpag. 11  Die Jugendwerkhöfe Sömmerda (Kapazität 1963:42) und Gebesee (Kapazität 1963:175) sind ab 1963 nachweisbar, hingegen der Jugendwerkhof Höngeda (Kapazität 1963:30) bis mindestens 1963 Außenstelle des Jugendwerkhofes Friedrichswerth war. Erst ab den siebziger Jahren wird er in den Quellen als eigenständige Einrichtung bezeichnet; BArch Berlin, DR  2 / 23479, unpag.; BArch Berlin, DR  2 / 12188, unpag.; ThHStA Weimar, Bezirktag und Rat des Bezirkes Erfurt, Abt. Volksbildung 1823, Bl. 41. 12  Der Jugendwerkhof Cretzschwitz war zunächst Außenstelle des Jugendwerkhofes Bad Köstritz. Ab 1971 ist der Jugendwerkhof erstmals eigenständig nachweisbar und verfügte 1981 über 46 Plätze; Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt (ThStA Rudolstadt), Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 6924, unpag.; ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera, unpag. 13  BArch Berlin, DR 2 / 12293, unpag.



Jugendwerkhöfe in Thüringen243

regeln und die permanenten Kontrollen sowie einem äußerst harten Bestrafungssystem mit Disziplinierungen und körperlicher Züchtigung.14 Die Umerziehung in den Jugendwerkhöfen findet erst seit wenigen Jahren wissenschaftliche Berücksichtigung. Die Forschungsgrundlage bildeten sozialpädagogische Untersuchungen von Julius Hoffmann und Bernd Seidenstücker zur Heimerziehung und Jugendhilfe in der DDR in den achtziger Jahren.15 Nach der deutschen Wiedervereinigung ermöglichte der verbesserte Quellenzugang eine Intensivierung der Forschungsarbeiten.16 An dieser Stelle sollen exemplarisch Martin Hannemann und Dietrich Sengbusch genannt werden, die sich im Rahmen der Enquete-Kommission17 auf die strukturellen Rahmenbedingungen der Heimerziehung und Jugendhilfe konzentrierten. Verena Zimmermann und Christian Sachse knüpfen an die genannten Studien Kaczmarek, S. 128. Seidenstücker / Münder. 16  Bernhardt / Kuhn; Hannemann; Sengbusch; Krause. 17  Vom Deutschen Bundestag eingesetzte Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, 1992–1994. 14  Vgl.

15  Hoffmann;

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an und verorten die Jugendwerkhöfe im Jugendhilfesystem der DDR unter Berücksichtigung der bisweilen gewaltvollen Disziplinierung Kinder und Jugendlicher. Die Umerziehungspraxis in den Jugendwerkhöfen untersuchten Gerhard Jörns und Bernd Noack aus sozialpädagogischer Sicht. Anknüpfend an die Studien von Verena Zimmermann betrachteten Ute Jahn und Daniel Krausz die Stellung der Jugendwerkhöfe im Umerziehungssystem. Einzelnen Thüringer Jugendwerkhöfen widmete sich erstmalig Rahel Marie Vogel mit der Untersuchung der Umerziehungs- und Gewaltpraxis in den Einrichtungen Hummelshain und Wolfersdorf. Mit besonderem Fokus auf die Diskrepanz zwischen sozialistischer Umerziehungstheorie und tatsächlicher Erziehungspraxis gibt die Autorin dieses Aufsatzes in der Publikation „Jugendwerkhöfe in Thüringen“ auch einen umfassenden Überblick über die existierenden Einrichtungen in Thüringen.18 Die Quellenlage für die Jugendwerkhöfe ist mitunter sehr schlecht. Durch unterschiedliche Aufbewahrungszeiten und den strukturellen Veränderungen während des Wiedervereinigungsprozesses 1998 / 1990 wurde ein Großteil der Akten vernichtet oder gilt als verschollen. Auf der Grundlage einer umfangreichen Recherche in den Thüringer Archiven und dem Bundesarchiv verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, einen Überblick über die verschiedenen Einrichtungen in Thüringen zu geben. Darauf basierend sollen die fragwürdigen Umerziehungsmethoden analysiert und die Stellung der Jugendwerkhöfe im Apparat der staatlich organisierten Umerziehung in der DDR herausgearbeitet werden. Der Frage nach der gegen Jugendliche ausgeübten Gewalt wird in direktem Zusammenhang mit der Analyse der Umerziehungspraktiken beantwortet. II. Die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit 1. Sozialistisch konform oder schwererziehbar? Nach marxistischem Weltbild ist mit der Gründung eines sozialistischen Staates die Entwicklung einer neuen Gesellschaft untrennbar verbunden. Vollzogen wird dieser Wandel durch die Schaffung eines neuen Menschentypus: der „allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“. Für die pädagogische Arbeit in den Bildungseinrichtungen der DDR bedeutete die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit, […] alle jungen Menschen zu Staatsbürgern zu erziehen, die den Ideen des Sozialismus treu ergeben sind, als Patrioten und Interna18  Schmidt.



Jugendwerkhöfe in Thüringen245 tionalisten denken und handeln, den Sozialismus stärken und gegen alle Feinde zuverlässig schützen19.

Die sozialistische Erziehung beruhte auf der zuversichtlichen Annahme, dass alle Menschen durch intensive pädagogische Einflussnahme erziehbar wären. Dabei kam es darauf an, Kinder und Jugendliche so früh wie möglich mit den sozialistischen Theorien zu konfrontieren und ihnen das Leitbild einer „allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“ nahe zu bringen: [Sie] zeichnet sich durch aktive und bewusste Tätigkeit für die Erhaltung des Friedens und den Aufbau des Sozialismus durch die Aneignung der marxistischen Weltanschauung, durch das Streben nach allseitiger Bildung und einem fachlichen Wissen und Können, durch die Ausbildung ihrer körperlichen und geistigen Tätigkeiten, durch die Aneignung und Verwirklichung der Grundsätze der sozialistischen Moral, durch eine optimistische Lebensauffassung, durch schöpferische Selbständigkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neuen aus.20

Die Inhalte der sozialistischen Erziehung wurden durch die SED festgelegt und waren folglich ideologisch bzw. parteilich beeinflusst. Als Verhaltensrichtlinien dienten die „Zehn Gebote der sozialistischen Ethik und Moral“21, die Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED 1958 verkündete. Diese Verhaltenstheorien wurden als Wert- und Moralvorstellungen absolut gesetzt und Abweichungen davon als „schwererziehbar“ bezeichnet. Der Begriff „Schwererziehbarkeit“ leitet sich aus den Theorien des Sowjet­ pädagogen Anton S. Makarenko ab.22 Auf deren Grundlage definierte das SED-Regime die „Schwererziehbarkeit“ weitläufig als ein von der sozialistischen Norm abweichendes Verhalten. Hierunter zählten sowohl Disziplinschwierigkeiten wie Fernbleiben vom Unterricht oder Herumtreiberei, die Zugehörigkeit zu Jugendgruppen (Hippies, Punks, Skinheads) als auch kriminelle Handlungen wie Diebstahl, Einbrüche oder Republikflucht.23 Eine strikte Abgrenzung zwischen „Schwererziehbarkeit“ und Kriminalität gab es nicht. Oft sahen die zuständigen Behörden sogar einen direkten Zusammenhang. Nach sozialistischer Theorie war die „Schwererziehbarkeit“ keine von Geburt an anlagebedingte oder schicksalhafte Bestimmung, sondern durch gezielte pädagogische Einwirkung korrigierbar. Diese fand als Umerziehung üblicherweise im Heim statt.

19  § 1

Gesetz über die Teilnahme der Jugend (Jugendgesetz). S. 298. 21  Jahn, S. 8. 22  Vgl. Vogel, S. 23. 23  BArch Berlin, DR 2 / 12200. 20  Kosing,

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Isabel Richter 10 Gebote der sozialistischen Ethik und Moral

1. Du sollst Dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder einsetzen. 2. Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen. 3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen. 4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen. 5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen. 6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren. 7. Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistung streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen. 8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen. 9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten. 10. Du sollst Solidarität mit den um nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.

2. Kollektiverziehung  – pädagogisches Konzept oder Doktrin? Die Kollektiverziehung war nicht nur „das pädagogische Konzept der DDR-Jugendhilfe“24, sondern auch das „Herzstück der DDR-Heimerzie­ hung“.25 Die kollektiven Erziehungstheorien des Sowjetpädagogen Anton S. Makarenkos bildeten die einheitliche Grundlage für die gesamte Pädagogik und Umerziehungspraktik der DDR. Im Kern beruht die Kollektiverziehung auf einer gemeinschaftlichen, nicht individuellen Erziehung, die durch eine strikte Hierarchie und Disziplinierung, einen streng reglementierten Alltag, Selbsterziehung sowie die Harmonisierung der Interessen des Individuums mit denen des Kollektivs und die Unterordnung des Einzelnen unter die Gemeinschaft durchgesetzt wird. In der Abgeschlossenheit der Jugendwerkhöfe konnte die Kollektiverziehung in nahezu störungsfreier Atmosphäre praktiziert werden. Eine eigenständige Heim- oder Sonderpädagogik gab es in der DDR indessen nicht. 24  Mannschatz,

Jugendhilfe, S. 101. S. 45.

25  Zimmermann,



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Bei der Umsetzung der kollektiven Erziehungstheorien in den Jugendwerkhöfen der DDR kam es bereits in den frühen 1950er Jahren zu erheb­ lichen Defiziten. Für die meisten DDR-Pädagogen waren Makarenkos Theorien eher ein „Leitbild als ein dogmatisches Modell“.26 Außerdem konnte weder die Komplexität der Makarenko’schen Theorie von den verantwort­ lichen Stellen an die Erzieher verständlich weitergegeben werden noch war die Qualifikation vieler Pädagogen ausreichend, um den Umfang des pädagogischen Konzeptes zu erfassen und ganzheitlich umzusetzen. In der Praxis vermischte sich daher die Kollektiverziehung oft mit den bewährten Methoden der Erzieher, die auf persönlichen Erfahrungen und auf Rudimenten der Reformpädagogik beruhten. Es handelte sich schließlich nur noch um eine mechanische Übernahme und „regelrechte diskursive Rituale, die wie Glaubensartikel zitiert und beschworen wurden, die als sinnentleerte Formeln das konkrete Handeln jedoch zunehmend nicht orientieren konnten“27. Nach dem Ende der DDR räumte der Nestor der DDR-Heimerziehung, Eberhard Mannschatz, sogar Fehler in der Umsetzung der Kollektiverziehung ein: „Der Irrtum bestand in der Auffassung, dass die Interessen des Kollektivs höher stehen als die Interessen des Einzelnen. Erst später habe ich erkannt, dass ich diesbezüglich Makarenko ‚falsch gelesen‘ hatte“.28 In den Jugendwerkhöfen führte Mannschatz’ grundsätzlicher Irrtum zur Unterdrückung des Individuums und legitimierte das rigorose Bestrafungssystem. III. Die vier Säulen der Umerziehung 1. Säule I: Politisch-ideologische Erziehung Die politisch-ideologische Erziehung war das „Kernstück der sozialistischen Bildungskonzeption“. Sie hatte die vorrangige Aufgabe, die Jugendlichen „mit den Lehren des Marxismus-Leninismus“ vertraut zu machen und ihnen einen „festen [sozialistischen] Klassenstandpunkt“ zu vermitteln.29 Die oft durch ihr nicht ideologie-konformes Verhalten auffallenden Jugendlichen sollten durch die politisch-ideologische Erziehung zurück auf den „wahren sozialistischen Weg“ gebracht werden. Seit der Einrichtung der ersten Jugendwerkhöfe 1948 dominierte die politische Erziehung in den heimeigenen Schulen. Nach dem Bau der Mauer wurde mit der Einführung des obligatorischen staatspolitischen Unterrichts 26  Mannschatz,

Kollektiverziehung, S. 554–559. nach Krause, S. 65. 28  Mannschatz, Jugendhilfe, S. 103. 29  Jörns, S. 99; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 25, Bl.  41 f. 27  Zit.

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die politische Bildungsarbeit intensiviert. Die Festlegung ihrer Aufgaben und Ziele folgte wenig später im „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“.30 Die Palette der politischen Erziehungsmaßnahmen blieb zwischen 1948 und 1990 fast unverändert. Die bewährte Mischung aus Selbststudium und Wissenskontrolle sowie öffentlichkeitswirksamer Politarbeit wurde in allen Jugendwerkhöfen praktiziert.31 Eine beliebte Methode waren die regelmäßigen Zeitungsschauen, woraufhin die Jugendlichen das Selbstgelesene in Problemdiskussionen erörtert mussten32 und die Erzieher die politische Einstellung der Jugendlichen gezielt beeinflussen konnten. Das tägliche Schauen der DDR-Abendnachrichten, der Aktuellen Kamera, unterstützte dieses Prinzip.33 Zur Festigung des politischen Standpunkts dienten das regelmäßige Anfertigen von Wandzeitungen, die Mitarbeit im Agitationskollektiv, die Planung und Organisation von Versammlungen oder Wortmeldungen während der politischen Diskussionen.34 Die Jugendwerkhöfe erhielten darüber hinaus Beinamen von ausgewählten Persönlichkeiten wie Philipp Müller (in Friedrichswerth) oder den Geschwistern Scholl (in Köstritz) und im Sinne der sozialistischen Kampfparolen Bezeichnungen wie „Ehre der Arbeit“ (in Hummelshain), „Junge Garde“ (in Cretzschwitz) und „Neues Leben“ (in Wolfersdorf). Regelmäßig stattfindende Arbeitseinsätze, getarnt als politische Kampfkampagnen, trugen zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls bei. Aus dem Jugendwerkhof Bad Klosterlausnitz beteiligten sich Jugendliche am Bau einer Stalin-Gedenkstätte in Stadtroda. Hierfür wurden von den Zöglingen35 200 Arbeitsstunden vermeindlich freiwillig abgeleistet. Derartige öffentlichkeitswirksame Einsätze dienten auch dem Abbau von Vorurteilen gegenüber den Einrichtungen. Die meisten Jugendwerkhöfe verfügten über öffentlich zugängliche Schaukästen, in denen über das Leben der Jugendlichen im Heim informiert wurde. Regelmäßige Kulturveranstaltungen, zu denen auch 30  Zimmermann,

S. 314; Jörns, S. 102. S.  38 f. 32  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 25, Bl.  47, 173–181; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 26, Bl. 1–129. 33  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 7, Bl. 67. 34  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 7, Bl. 67; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 25, Bl. 47, 173–18; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 26, Bl. 1–129; Zimmermann, S. 315. 35  Bezeichnung für Heiminsassen in DDR-Kinder- und Jugendheimen, wird analog zum Begriff „Jugendliche“ verwendet. 31  Autorenkollektiv,



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die umliegenden Bewohner eingeladen waren, standen ebenso auf der Tagesordnung wie Bastelausstellungen, Tage der offenen Tür oder die Teilnahme der Jugendlichen an kulturellen Veranstaltungen oder den obligatorischen politischen Demonstrationen im Ort.36 Im Jugendwerkhof war die politische Erziehung fast allgegenwärtig. Die politisch-ideologischen Gruppenstunden wurden sogar während der Freizeit abgehalten. Es gab Themenlesungen zur „Entwicklung der Jugend in der DDR“ oder zur Novemberrevolution 1918. Außerdem besprachen die Jugendlichen in Personenporträts das Leben sozialistischer „Persönlichkeiten“ wie Ernst Thälmann. Eine Gruppenstunde beschäftigte sich beispielsweise nur damit, die von Walter Ulbricht herausgegebenen „Zehn Gebote der sozialistischen Ethik und Moral“ anhand von Liedern nachzuweisen. Für eine nicht zu eintönige Gestaltung der Gruppenstunden lud man beispielsweise Arbeiterveteranen ein, die über ihr Leben sprachen.37 Der staatliche Steuermechanismus und Träger der politischen Erziehung in den Werkhöfen war die Jugendorganisation „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ). Die Arbeit der FDJ umfasste alle Lebens- und Arbeitsbereiche der Heiminsassen und überwachte bzw. bestimmte vorrangig die „öffentliche Meinung im Kollektiv“.38 Obwohl den Jugendlichen durch die Mitgliedschaft in der FDJ mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten eingeräumt werden sollten, war die Teilnahme an wichtigen Entscheidungsfindungen nicht möglich. Die zentralen Angelegenheiten zur Ausbildung, Freizeit oder Bestrafung wurden von den Erziehern und der Heimleitung entschieden. Die FDJ war vor allem ein Organ, das die Disziplin hierarchisch von oben nach unten durchsetzte und gleichzeitig der Heimleitung berichterstattungspflichtig war. Unter Berücksichtigung des permanenten Personalmangels nahmen die FDJ-Mitglieder eine wichtige Kontroll- und Überwachungsfunktion im Jugendwerkhof ein. Die stetige ideologische Bevormundung und der enorme politische Anpassungsdruck förderten häufig „politische Provokationen“ der Jugendlichen. Darunter verstand man verbale Äußerungen gegen den Sozialismus, „Schwärmereien für den Westen“ oder die Ausbildung von Formen der Hippie-, Skinhead- oder Punkbewegung.39 Im Gruppenbuch der Brigade „Georg Schuhmann“ des Jugendwerkhofes Wolfersdorf finden sich Zeichnungen mit Hakenkreuzen und Sprüchen wie „Wir sind die Weltmacht“ oder „Sieg heil“. Der Höhepunkt des jugendlichen Protests in Wolfersdorf zeigte sich 1963: Nach Provokationen einzelner Jugendlicher wurde das Portrait Walter Ul36  ThStA

Meiningen, Bezirkstag / Rat des Bezirkes Suhl 4538, unpag. Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 25, Bl. 173–181. 38  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 25, Bl. 7. 39  Zimmermann, S. 329. 37  ThStA

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brichts wiederholt beschädigt. Die Jugendlichen sprachen sich öffentlich gegen die „Partei- und Staatsführung aus und vertraten die Meinung, lieber ein Hakenkreuz zu tragen und Faschisten zu sein, bevor sie FDJ-Mitglieder oder Kommunisten würden“. In den Jugendwerkhöfen wurden abweichende politische Meinungen hart bestraft, im äußersten Fall mit der Überweisung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau oder in ein Jugendgefängnis.40 2. Säule II: Arbeitserziehung a) Arbeitserziehung als Form der Persönlichkeitsentwicklung In Anlehnung an die Theorien Karl Marx’ war der Sowjetpädagoge Anton S. Makarenko davon überzeugt, dass Bildung nicht allein ausreiche, um zur „sozialistischen Persönlichkeit“ zu erziehen. Erst die Erziehung zur Arbeit und die Vermittlung proletarischer Werte komplimentiere die moralische Umerziehung.41 Demnach galt die Arbeitserziehung als ein Mittel, die vermeintlich „schwererziehbaren“ Jugendlichen zu disziplinieren und ihnen eine nützliche Position in der Gesellschaft zuzuweisen. Mit Hilfe der Arbeitserziehung könne zudem den Arbeits- oder Schulbummelanten eine positive Einstellung zur Arbeit anerzogen werden.42 In den meisten Jugendwerkhöfen der DDR gab es drei Möglichkeiten, die Aus- bzw. Schulbildung in heimeigenen Werkstätten und (Berufs-)Schulen zu absolvieren: die Berufsausbildung in einem Teilgebiet (Dreher, Hauswirtschaft, Beikoch, etc.), das Nachholen des Schulabschlusses der achten oder zehnten Klasse oder den gleichzeitigen Teilberufs- und Schulabschluss. Die Jugendwerkhöfe waren in der öffentlichen Darstellung Einrichtungen zum Erwerb eines Facharbeiterabschlusses (dreijährige Berufsausbildung). Die Thüringer Heime boten aber lediglich Teilausbildungen (eineinhalb Jahre Ausbildungszeit) an, die unzureichend für den Arbeitsmarkt qualifizierten. Um eine vollständige dreijährige Ausbildung zum Facharbeiter zu sichern, erließ die staatliche Führung erst 1987 die „Vereinbarung zur Gewährleistung einer qualifizierten Berufsausbildung Jugendlicher in Jugendwerkhöfen“. Für deren Umsetzung war es kurz vor Ende der DDR freilich zu spät. Die Jugendlichen konnten ihren Ausbildungsberuf nicht auswählen. Er wurde von der Zentralen Einweisungsstelle in Eilenburg oder dem Direktor 40  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 20; ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 7239, Bl. 294; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 26, Bl. 71 f. 41  Zimmermann, S. 291. 42  Gatzemann, S. 61.



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des Jugendwerkhofes festgelegt.43 Nur einzelne Jugendliche, sogenannte „Selbststeller“ (Jugendliche, die sich selbst einwiesen), hatten freie Berufswahl.44 Die angebotenen Berufe waren nicht besonders reizvoll, da sie wenig Aussicht auf ein gutes Einkommen oder eine Qualifizierungs- und Fortbildungsmöglichkeit boten. In der Konsequenz fehlte vielen Jugendlichen die Motivation, die Ausbildung erfolgreich abzuschließen.45 b) Arbeitskräfte für die Wirtschaft Die Arbeitserziehung war ein unverzichtbares Element für die Aufrechterhaltung der Heimorganisation.46 Vor allem in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren wurden verstärkt handwerkliche Berufe ausgebildet. Anfallende Arbeiten und Reparaturen an den Gebäuden konnten von den Zöglingen selbst erledigt werden. Die Einbindung der Mädchen in den Heimbetrieb war bis in die siebziger Jahre besonders intensiv. Sie arbeiteten in der Küche, machten den Hausputz oder nähten in der Schneiderstube. Für die Sicherung der Grundversorgung wurden im Jugendwerkhof Römhild sogar mehrere Kühe, Pferde und Schweine gehalten. Zur Bewirtschaftung der Tiere und der Felder gab es praktischerweise eine entsprechende landwirtschaftliche Ausbildung. Da viele der Jugendlichen aus Städten kamen, hielt sich das Interesse an landwirtschaftlicher Arbeit in Grenzen. Der eigentliche Sinn des Heimaufenthaltes – die Umerziehung – war bei diesen Zöglingen von Anfang an in Frage gestellt.47 Zur Stärkung der Eigenwirtschaftlichkeit stellte das Ministerium für Volksbildung in den Jugendwerkhöfen ab Mitte der Fünfzigerjahre die handwerkliche auf industrielle Produktion um.48 Die Regierung verfolgte damit das Ziel, die Refinanzierung der Heime zu erhöhen und errichtete auf Wunsch der Industrie Jugendwerkhöfe in der Nähe von Großbetrieben. Die Jugendlichen aus dem JWH Sömmerda arbeiteten etwa im ansässigen Volkseigenen Betrieb (VEB) Dachziegelwerk. Als dort 1970 eine automatische Fertigung die Produktion sicherte und für die „Bedienung dieser Anlage nur wenige hochqualifizierte Facharbeiter benötigt“ wurden, schloss man den hier ansässigen Jugendwerkhof.49 Als weiteres Beispiel kann der Jugendwerkhof Hum43  BArch

Berlin, DR 2 / 12293. der Beratungsinitiative. 45  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 26, 53. 46  Sachse, Heim, unpag. 47  ThHStA Weimar, Land Thüringen 1279, Bl. 13–14; ThHStA Weimar, Land Thüringen 1256, Bl. 44. 48  BArch Berlin, DR 2 / 3560. 49  BArch Berlin, DR 2 / 12188, 1970. 44  Interviews

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melshain angeführt werden. Täglich arbeiteten Jugendliche im Stahl- und Walzwerk Maxhütte in Unterwellenborn. Eine Vielzahl von Betrieben schloss für den gezielten Einsatz der Jugendlichen Kooperationen mit Jugendwerkhöfen ab. Die Heiminsassen aus der Einrichtung in Wolfersdorf halfen etwa bei Schacht- und Erdarbeiten an der Autobahnraststätte Teufelstalschenke oder arbeiteten während der Sommerferien täglich in der Produktion des nahe gelegenen Betonwerkes oder im Fischereibetrieb.50 Sogar für Jugendwerkhof-Mitarbeiter übernahmen die Zöglinge verschiedene Arbeiten. Die Ausbaumaurerlehrlinge unterstützten den Direktor beim Bau seines Einfamilienhauses. Außerdem wurde zwischen einer Erzieherin und dem Jugendwerkhof ein Vertrag geschlossen, bei dem die Jugendlichen Rohrverlege-, Maurer- und Betonarbeiten für den Hausneubau übernahmen.51 Die Kooperationsverträge des Jugendwerkhofes waren zwar rechtlich in Ordnung, aber moralisch bedenklich. Sie erhöhten nur selten die Qualität der Ausbildung oder die Zahl der Ausbildungsplätze. Der Großteil der Jugendlichen arbeitete als billige Arbeitskraft für staatliche Betriebe und private Auftraggeber.52 Aus heutiger Sicht verwundert es nicht, dass ein ehemaliger Zögling des Jugendwerkhofes Wolfersdorf die berufspraktische Ausbildung als eine Art Verleih seiner Arbeitskraft ansah. Im Produktionsgeschehen und insbesondere in die Schichtarbeit der umliegenden Betriebe waren die Jugendlichen fest eingeplant. Der VEB Keramische Werke Hermsdorf, Betriebsteil Bürgel, ließ sich die Teilnahme der Jugendlichen an Sonderschichten sogar vertraglich zusichern. Aus dem Bericht eines Jugendlichen geht außerdem hervor, dass das Kennenlernen verschiedener Arbeitsbereiche etwa in den Möbelwerken Stadtroda zweitrangig war und allein die Arbeitskraft im Vordergrund stand: „Sobald wir nur die Grundfähigkeiten erlernt hatten und mit den Maschinen umgehen konnten, mussten wir in Schichten arbeiten. Es gab ein Zweischichtsystem, die spätere Schicht war um 18 oder 19 Uhr zu Ende. Wir waren voll ins Taktband eingegliedert.“53 Das Wolfersdorfer Heim profitierte enorm von den Kooperationen. Die Arbeit der Zöglinge innerhalb und außerhalb des Heimes brachte der Einrichtung 1972 Einnahmen in Höhe von 265.000 Mark allein durch die Tischler-, Maurer- und Malerarbeiten sowie die Metallproduktion. Von den Kera50  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 39, Bl. 191, 256–267, 275, 285, 379. 51  Interviews der Beratungsinitiative; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 39, Bl. 401. 52  BArch Berlin, DR 2 / 5576, Bl. 114–115. 53  Interviews der Beratungsinitiative.



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mischen Werken erhielt der Jugendwerkhof sogar eine Geldprämie für die Erfüllung der festgelegten Aufgaben.54 Die Entlohnung der Jugendlichen übernahm der Jugendwerkhof. Vor der Festlegung einer einheitlichen Entlohnung 1957 betrug der Arbeitslohn der Jugendlichen in Thüringen zwei bis vier Mark wöchentlich.55 Ein Teil des Lohnes wurde zur Refinanzierung der Einrichtungen einbehalten. Die Regierung erkannte spät, dass die Jugendlichen für ihre Arbeit auch eine angemessene Entlohnung erwarteten. Mit Einführung einer Vierprozentprämie für besondere Leistungen versuchte der Bezirk Erfurt 1973, die „materielle Interessiertheit“ der Jugendlichen zu erhöhen. Obwohl in der sozialistischen Theorie das Besitzdenken des Individuums durch den Gemeinschaftsbesitz (volkseigen) ersetzt wurde, versuchte gerade die staatliche Führung, mit Lohnprämien die pädagogische Arbeit und damit den „Umerziehungsprozess zu einer […] persönlichkeitsverändernden Wirkung zu bringen“56. Trotz der Bemühungen blieb die Vergütung im Jugendwerkhof weit unter den Normallöhnen. Laut einer Zeugenaussage habe in den siebziger Jahren der Wochenlohn im Jugendwerkhof Wolfersdorf gerade für zwei Schachteln Zigaretten gereicht.57 3. Säule III: Erziehung zu Disziplin und Ordnung a) Bewusste Disziplin und „geordneter Heimrhythmus“58 Die Disziplin wurde als ein wesentliches Kernelement zur Festigung des „kollektiven Gedankens“ verstanden. Nur mit ihr konnte es gelingen, jeg­ liche Individualbestrebungen dem „gesellschaftlichen Nutzen“ unterzuord­ nen:59 „Nichts ist im pädagogischen Kollektiv gefährlicher als Individualismus und Hader. Nichts ist widerlicher und schädlicher als das.“60 Die Erzieher griffen hierfür tief in die persönliche Freiheit der Jugendlichen ein und bestraften das Tragen von modischem Schmuck oder trendbewusster Kleidung.61 Das Erscheinungsbild eines ordentlichen sozialistischen Menschen 54  ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 7050; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 39, Bl. 31. 55  Zimmermann, S. 296; s. ThHStA Weimar, Land Thüringen, 1291. 56  ThHStA Weimar, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Erfurt 13906 (Altregistratur). 57  Interviews der Beratungsinitiative. 58  BArch Berlin, DR 2 / 4750, Bl. 275. 59  Makarenko, S. 135. 60  BArch Berlin, DR 2 / 4750, Bl. 281. 61  Zimmermann, S. 335.

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wurde vor allem von kleinbürgerlichen Vorstellungen geprägt. Die Erzieher duldeten Mädchen nur mit zusammengebundenen Haaren, lehnten lange Haare für Jungen grundsätzlich ab und bevorzugten einen dezenten, schmuckarmen Kleidungsstil. Diese Vorstellung projizierte sich auch auf das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen, von denen man einen kameradschaft­ lichen Umgang erwartete. Hierzu wurde im Jugendwerkhof Wolfersdorf aus der Brigade „R. Henniger“ negativ bemerkt: Die Verbindung zu den Mädchen ist in dieser Brigade sehr stark ausgeprägt. Wo sich eine Gelegenheit bietet, zu den Mädchen zu gelangen, wird sie genutzt […]. Seitenlange Briefe werden früh morgens entgegengenommen und sind dann Gesprächsstoff während des ganzen Tages.62

Zur Unterbindung solcher Beziehungen wurde auch die externe Post der Jugendlichen abgefangen und im schlimmsten Falle zurückbehalten. Eine „verbindliche Tageseinteilung“ setzte im Jugendwerkhof Disziplinierung und Ordnung durch. Diese für alle gültige Ordnung zw[a]ng die Zöglinge, sich an ganz bestimmte, zeitlich festgelegte Handlungen zu gewöhnen. Das beg[a]nn mit dem regelmäßigen Wecken, Frühstücken, äußert[e] sich in der festgesetzten Mittagszeit und endet[e] mit dem Zeitpunkt der Nachtruhe.63

Aus zwei Tagesabläufen des Jugendwerkhofes Wolfersdorf wird exemplarisch deutlich, dass fast jede Minute der Jugendlichen geplant wurde. „Kein Leerlauf“ durfte die „Zöglinge verleiten […] in eine andere Richtung, als die vom Erzieher gewollte, auszubrechen“64. Im Tagesablaufplan des Jahres 1971 stand der Jugendliche vom Dienst Montag bis Freitag um 5.30 Uhr auf, um 15 Minuten später die Brigade zu wecken. Danach folgte ein gemeinsamer Frühsport sowie Duschen und Zähneputzen. Kaum eine Stunde nach dem Aufstehen wurde die Brigade nach ihrer Schnelligkeit und dem Zustand der Schlafräume bewertet. Den Jugendlichen blieben anschließend 20 Minuten zum Frühstücken, bevor um 7.00 Uhr die Arbeits- bzw. Schulzeit begann. Alle Wege wurden gruppenweise erledigt und es ging ein Antreten der Gruppe vor dem Erzieher voraus. Nach Arbeitsschluss (16.00 Uhr) holten die Erzieher die Jugendlichen von den Werkstätten ab und begleiteten sie in die Gemeinschaftsräume. Für alle Jugendlichen fand einmal wöchentlich die vormilitärische Ausbildung statt. Danach folgte die gelenkte Freizeitgestaltung in Form von Diskussionen, Appellen oder Arbeitsgemeinschaften. Die Nachtruhe begann um 21.30 Uhr. Die Jugendlichen hatten einen straff durchorganisierten 16-stündigen Tag. In der Nacht folgten regelmäßig Kontrollen der Schlafräume. Die Wochenenden waren ebenfalls mit Arbeitszirkeln, 62  ThStA

Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 3, Bl. 89. Berlin, DR 2 / 4750, Bl. 297. 64  Zit. nach Zimmermann, S. 332. 63  BArch



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Gruppensport und politisch orientierten Veranstaltungen organisiert. Für die Erledigung von Arztbesuchen oder das Lesen bzw. Schreiben von Briefen stand lediglich eine Stunde pro Woche zur Verfügung.65 Fester Bestandteil des Wochenplanes war die vormilitärische Ausbildung. Alle männlichen Jugendlichen hatten laut Wochenablaufplan des Jugendwerkhofes Wolfersdorf immer am Donnerstagnachmittag eine zweistündige GST-Ausbildung (Gesellschaft für Sport und Technik). Zur „Erhöhung der Wehrbereitschaft“ bildeten ehemalige NVA-Angehörige (Nationale Volksarmee) die Jungen mit militärischen Methoden aus. Das Schießen mit Waffen gehörte ebenfalls dazu. Während die Jungen die GST-Ausbildung absolvierten, wurden die Mädchen in der DRK-Ausbildung (Deutsches Rotes Kreuz) geschult. Obwohl die DRK-Ausbildung namentlich ihren Schwerpunkt in lebensrettenden Übungen hatte, unterschied sie sich kaum von der GSTAusbildung. Innerhalb des Heimes konnten sich die Jugendlichen der vormilitärischen Ausbildung nicht entziehen. Sie war ein wesentlicher Bestandteil der Umerziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“.66 Die Einhaltung der Disziplin und Ordnung konnte von den Erziehern mit verschiedenen Methoden gesichert und überprüft werden. Im Jugendwerkhof Wolfersdorf etwa führten die Erzieher Gruppenbücher, in denen sie den Ablauf verschiedener Aktivitäten, die Stimmung in der Gruppe oder Auffälligkeiten notierten.67 Außerdem wurden besonders vorbildliche Jugendliche ausgewählt, um bestimmte Aufgaben zu übernehmen. In Anlehnung an das Militär kontrollierte der Jugendliche vom Dienst (JvD) die „Einhaltung des Wochenplanes und des Tagesablaufes“, der Lernaktivleiter die Lerngruppen und der Hygieneverantwortliche die Einhaltung der Körperhygiene.68 b) Lob und Tadel Lob und Tadel stellten wichtige Elemente für den Umerziehungsprozess dar. Die Belobigungen waren oft mit Geldprämien verbunden. Daneben würdigte man das Verhalten der Jugendlichen in den Tagesauswertungen vor der 65  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 31, Bl. 1–195; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 3, Bl. 169, 171, 173; Vogel, S. 59; s. auch ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 7, Bl. 61–63, 65. 66  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 25, Bl. 43; Zimmermann, S. 325; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 22, Bl. 20; Interview mit Manfred May. 67  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 27, 21. 68  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 7, Bl. 79; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 26.

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Gruppe bzw. Brigade, sie bekamen Urkunden oder gesonderte Urlaubs- und Einkaufsgenehmigungen.69 Sowohl für das Belohnungs- als auch das Strafsystem gab es einheitliche Richtlinien. Im Sinne der Kollektiverziehung musste jedem Jugendlichen mitgeteilt werden, warum er bestraft wurde. Jegliche körperliche Gewalt wurde strikt abgelehnt. Die Strafen sollten vom Kollektiv ausgehen und immer mit einem Gespräch zwischen Erzieher und Jugendlichem verbunden sein.70 Die Realität hingegen unterschied sich sehr von den theoretischen Vorstellungen: Gespräche fanden in der Regel nicht statt. Zu den offiziellen Methoden zählten Urlaubs- oder Taschengeldentzug, Ausschluss von heiminternen Tanzveranstaltungen, „Freizeitsachenentzug“ (während der Freizeit musste Arbeitskleidung getragen werden)71 oder die Isolierung von der Gruppe72. Hierfür standen in den meisten Jugendwerkhöfen Arrestzellen zur Verfügung.73 Die Arrestierung selbst war mit Erlaubnis des Direktors in allen Jugendwerkhöfen bis zu drei Tagen möglich. Mit Genehmigung der zuständigen Bezirksstelle konnte die Arrestierung auf bis zu zwölf Tage ausgedehnt werden. Die fünf Arrestzellen im Jugendwerkhof Wolfersdorf waren nach einer Zeugenaussage mit einem am Tag hochklappbaren Bett, einem gemauerten Tisch und einem Hocker ausgestattet. Das Fenster bestand aus blickdichten Glasbausteinen. Mit dieser Ausstattung entsprachen die Zellen den Vorgaben der Arrestordnung.74 Bevor ein Jugendlicher in die Arrestzelle gesperrt wurde, ging eine gründliche Durchsuchung nach spitzen Gegenständen vo­ raus.75 Laut Arrestordnung sollte jede Gefahr von den Jugendlichen abgewendet werden, sich selbst Schaden zuzufügen. In der Zelle befanden sich deshalb außer den spärlichen Möbeln kein Lichtschalter, keine Türklinke, keine seilähnlichen Gegenstände, keine von der Decke herabhängende Lampe 69  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 14, Bl.  16; ThStA Meiningen, Bezirkstag / Rat des Bezirkes Suhl 4538, unpag.; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 25, Bl. 51; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 24, Bl. 93; BArch Berlin, DR 2 / 28162. 70  Makarenko, S. 48–50. 71  Kaczmarek, S. 128. 72  Zimmermann, S. 336. 73  Zimmermann, S. 336; Sachse, Heim, unpag.; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 3, Bl. 89; Interviews der Beratungsinitiative. 74  Ordnung über die zeitweilige Isolierung von Minderjährigen aus disziplinarischen Gründen in den Spezialheimen der Jugendhilfe, 1.12.1967, zit. nach Sengbusch, S. 1832–1835. 75  Zimmermann, S. 341; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 41, 1964–1970, Bl. 2.



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und für das Essen wurden weder Messer noch Gabel, sondern nur ein Löffel gereicht. In Wolfersdorf konnte das vergitterte Fenster nicht einmal geöffnet werden. Einzig ein kleiner Spalt brachte frische Luft in die Zelle. Die Bettsachen wurden über den Tag herausgenommen und das Bett hochgeklappt, damit der Jugendliche keine Möglichkeit hatte, sich hinzulegen. Einmal in der Zelle kam der Betroffene nur zum Waschen und Leeren des Fäkalien­ eimers heraus. Eine Arrestierung kam einem Aufenthalt in einem Gefängnis gleich. Aufgrund der katastrophalen Situation in den Arrestzellen waren Vorfälle wie Essensverweigerung keine Seltenheit.76 Laut Arrestordnung boten „besonders schwerwiegend[e] und wiederholt[e] Verstöß[e] gegen die Heimordnung, wiederholt[e] Arbeitsverweigerung, Aufwiegelung anderer Minderjähriger und wiederholt[e] Fluchtversuch[e]“77 einen offiziellen Grund zur Isolierung. In einem Arrestbuch des Jugendwerkhofes Wolfersdorf werden jedoch die tatsächlichen Isolierungsgründe genannt. Es genügte lediglich „Fluchtgedanken“ zu haben, sich unerlaubt vom Ausbildungsplatz zu entfernen, wiederholt zu rauchen, verspätet aus dem Urlaub zurückzukehren, sich „rumzutreiben“ oder einfach nur als „kollektivhemmend“ eingeschätzt zu werden. Mehrfach wurden Jugendliche zum „Nachdenken“, wegen „ungenügender Leistungen“, vor ihrer Überweisung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau oder einfach über Silvester isoliert.78 Die genannten Gründe lassen viel Interpretationsspielraum und verweisen auf eine niedrige Toleranzschwelle der pädagogischen Mitarbeiter. Dies lässt den Schluss zu, dass einige Erzieher willkürlich störende Jugendliche von der Gruppe isolierten. In manchen Fällen kam das Bestrafungssystem an seine Grenzen und Erzieher griffen auf inoffizielle Strafmaßnahmen zurück. Die Jugendlichen waren in den Augen einiger Pädagogen „Verbrecher“, bei denen jegliche Erziehungsversuche scheiterten. In der Praxis äußerte sich dies in Form von Beleidigungen, einem kasernenartigen Ton, „anerkannt[er] und gerechtfer­ tigt[er]“ Prügel79, übermäßiger Bestrafung und im „Missbrauch […] der 76  Zimmermann, S. 341; Ordnung über die zeitweilige Isolierung von Minderjährigen aus disziplinarischen Gründen in den Spezialheimen der Jugendhilfe, 1.12.1967, zit. nach Sengbusch, S. 1832 f.; Interviews der Beratungsinitiative; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 41, Bl. 154. 77  Ordnung über die zeitweilige Isolierung von Minderjährigen aus disziplinarischen Gründen in den Spezialheimen der Jugendhilfe, 1.12.1967, zit. nach Sengbusch, S. 1832. 78  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 30, Bl. 4–9, 95; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 14, Bl. 19; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 41, Bl. 2. 79  ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 7239, Bl. 294; ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 17066, unpag.

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­ rrestierung und Isolierung von Jugendlichen“80. Nach Aussage eines eheA maligen Zöglings aus dem Jugendwerkhof Wolfersdorf waren viele Ausbilder gleichzeitig für die vormilitärische Ausbildung verantwortlich. Deutlich spürbar wurde dieser Umstand bei der Auswahl der Erziehungsmaßnahmen: „Da Erzieher knapp waren, brachte man zu uns die ausgedienten Armeeleute, die nun dachten, weil er mal Oberfeldwebel oder Hauptmann war, dass das nun bei unseren Jugendlichen Eindruck macht, dass sie denn auch strammstehen auf Befehl.“81 Ein ehemaliger Zögling bestätigt hierzu: Solche Erzieher „hatten richtig Freude am Quälen.“82 c) Selbstjustiz und Widerstand Wenngleich die Jugendlichen individuell und einzeln bestraft wurden, blieb man den Prinzipien der Kollektiverziehung treu und ordnete bei Einzelvergehen Strafen für das gesamte Kollektiv an. In der Konsequenz standen die kollektiven Erziehungsmethoden im direkten Zusammenhang mit Selbstjustiz, da sich der Unmut der Gruppe später gegen den Schuldigen entlud. Dabei kam es unter den Zöglingen zu schwerer Körperverletzung oder sogar zum Totschlag.83 Seitens der Erzieher wurde die Selbstjustiz geduldet oder, im schlimmsten Fall, angeordnet.84 Aus dem Jugendwerkhof Gebesee ist der Fall eines Erziehers bekannt, der auf einen geflohenen Jugendlichen mit einem Stuhlbein einprügelte, bevor er ihn und seine Komplizen mit den Worten in die Gruppe zurückbrachte: „Ich bin fertig, jetzt könnt ihr sie haben.“85 In den Jugendwerkhöfen wurden die Gruppen nicht altersspezifisch zusammengesetzt. Daher mussten sich jüngere häufig älteren Jugendlichen unterordnen. Ein Zögling aus dem Jugendwerkhof Gebesee schilderte die Gründe seiner Flucht wie folgt: „Ich wurde dort sehr oft durch ältere Zöglinge verprügelt. Es ging immer darum, dass sie Geld, Zigaretten und auch Bekleidungsstücke haben wollten. Wenn man die geforderten Gegenstände nicht freiwillig herausrückte, gab es eben Prügel.“ Im Jugendwerkhof Wolfersdorf beging 1963 ein Jugendlicher sogar Selbstmord, „weil er die dauernden Repressalien von Seiten der Brigademitglieder nicht mehr ertragen 80  ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 4013; ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 17918; ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 7239, Bl. 294–295; ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 17066. 81  Jörns, S. 205. 82  Interviews der Beratungsinitiative. 83  Zimmermann, S. 345. 84  Interview mit Manfred May. 85  Zit. nach Zimmermann, S. 346.



Jugendwerkhöfe in Thüringen259

konnte“. Von staatlicher Seite hieß es dazu nur: „Die Erzieher haben es nicht verstanden, positive Jugendliche vor der Brutalität anderer Heimzöglinge zu schützen.“86 In den Jugendwerkhöfen der DDR herrschte ein System strikter Unterordnung. Seitens der Erzieher wurde oft weggeschaut. Hilfestellungen für die Gruppen in Form eines Psychologen gab es in keiner Einrichtung. Obwohl sich unter den Jugendlichen sowohl Gewalttäter als auch Gewaltopfer befanden, verzichtete man von staatlicher Seite auf eine umfangreiche medizinische und psychologische Betreuung der Zöglinge und überließ die schwierige Klientel sich selbst. Die Jugendlichen wehrten sich gegen die strengen Erziehungsformen mit Aufständen, provokativen Äußerungen, Arbeitsverweigerung, Drohungen gegen Erzieher oder Terrorisierung schwächerer Jugendlicher. Als einzige Möglichkeit, den ständigen Repressalien anderer Zöglinge und der permanenten Gängelei der Erzieher zu entgehen, sahen einige Jugendliche nur die Flucht aus dem Heim (sog. Entweichung). Der Bericht des Bezirks Gera bestätigte, „dass sich in den Jugendwerkhöfen […] Mängel in der Erziehungsarbeit zeigten, die sich begünstigend auf Entweichungen auswirk[t]en.“ Besonders die Atmosphäre der Heime strahlte kein „Wohlbehagen“ aus und bot den Jugendlichen keine familienähnliche Umgebung. Obwohl die Jugendwerkhöfe (mit Ausnahme des Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau) offene Einrichtungen waren, wurde die Entweichung vom Heimgelände mit Arrest bestraft. Besonders drastisch ist der Fall zweier Zöglinge aus dem Jugendwerkhof Gebesee. Als sie nach ihrer Flucht wieder in das Heim zurückgebracht wurden, schlug sie ein Erzieher und verbot ihnen, einen Arzt aufzusuchen. Er sperrte sie stattdessen in einen Raum, damit niemand ihre Verletzungen sehen konnte.87 Von Fluchtversuchen konnten die sogenannten „Dauerentweichler“ auch durch harte Strafen nicht abgehalten werden. Aus dem Jugendwerkhof Römhild ist ein Zögling bekannt, der bis zu 40 Mal die Einrichtung verlassen hatte.88 Nicht selten kam es vor, dass sich mehrere Jugendliche zur Flucht zusammenschlossen. Besonders nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze 1989 entwichen einige Jugendliche mit dem Ziel, die DDR gemeinsam zu verlassen.89 nach Zimmermann, S. 346. Berlin, DR  2 / 51132; ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 17425. 88  Zimmermann, S. 349. 89  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 11, Bl. 47, 69– 73, 95–97. 86  Zit.

87  BArch

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Einige Jugendliche begingen während der Flucht Straftaten, um sich Lebensmittel oder Fortbewegungsmöglichkeiten zu organisieren. Zur Vermeidung derartiger Vergehen führte der Jugendwerkhof Wolfersdorf 1963 ein öffentliches Verfahren durch, bei dem ein geflüchteter Jugendlicher angeklagt wurde. Durch die Zahlung von Prämien für „fluchtfreie Tage“ versuchte die Heimleitung zudem, die einzelnen Gruppen zu motivieren, „Entweichungen“ zu vermeiden. Das DDR-Regime schuf zur gleichen Zeit ein „wirkungsvolles Fahndungssystem“, das „Dauerausreißer“ verurteilte und führte überdies ein strenges „Regime in den Jugendwerkhöfen auf Grundlage einer Heimordnung“ ein.90 Die Verbesserung der Lebenssituation in den Einrichtungen, das Herstellen einer geborgenen Atmosphäre und die Minderung der hohen moralisch-ideologischen Anforderungen an die Jugendlichen wurden indessen nicht in Betracht gezogen. 4. Säule IV: Freizeiterziehung Die gelenkte Freizeitgestaltung bildete die vierte Säule der Umerziehung. Keine Langeweile sollte die Jugendlichen ablenken oder sie in ihre vorherigen Lebensgewohnheiten zurückfallen lassen. „Ihren bisherigen Lebensinteressen müssen positive entgegengesetzt werden“, hieß es dazu aus dem Jugendwerkhof Wolfersdorf.91 Innerhalb der Freizeiterziehung war es für die Jugendlichen möglich, an verschiedenen Arbeitsgemeinschaften teilzunehmen, während der „Club­ arbeit“ über bestimmte Themen zu diskutieren oder sich künstlerisch in der „kulturellen Arbeit mit Musik, Kunst und Literatur zu beschäftigen. Es gab Arbeitsgemeinschaften für Handarbeiten, Fußball, Militärischen Mehrkampf, Laienspiel, Singeclub oder Luftgewehrschießen.“92 Die Jugendlichen hatten die Möglichkeit, die jeweilige Arbeitsgemeinschaft nach ihren Interessen zu wählen. Die Freizeit wurde von der politisch-ideologischen Erziehung intensiv beeinflusst. Die Erzieher wählten Bücher, Musikstücke oder die zu betrachtende Kunst nach sozialistischen Gesichtspunkten aus. An politischen Feiertagen wie dem Jahrestag der ehemaligen DDR gestalteten die Jugendlichen in Wolfersdorf Wandzeitungen. Während des Vietnamkrieges fand ein „Vietnam­ basar“ statt, auf dem die Zöglinge zur Unterstützung des kommunistischen Landesteils selbst hergestellte Waren verkauften.93 90  ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 17918; ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf  25, Bl. 47; BArch Berlin, DR  2 /  5850, Bl. 9. 91  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 25, Bl. 41. 92  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 6.



Jugendwerkhöfe in Thüringen261

Aus unterschiedlichen Berichten des Jugendwerkhofes Wolfersdorf zur Bildungs- und Erziehungssituation geht hervor, dass die Freizeitarbeit an den Wochenenden erhebliche Defizite aufwies.94 Der Ablauf der Nachmittage sei monoton und nicht an die Wünsche der Jugendlichen angepasst. Die Jugendlichen hatten nur wenige Mitentscheidungsmöglichkeiten über die Gestaltung ihrer Freizeit. Dazu heißt es in einer Schul- und Lehrjahresanalyse: „Untersuchungen beweisen, dass die Ursachen hierfür in erster Linie Ideenarmut und teilweise Bequemlichkeit einzelner Erzieher [waren]“95. Für die Jugendhilfe bestand sogar ein direkter Zusammenhang zwischen unzureichender Freizeitgestaltung in den Jugendwerkhöfen und den hohen Fluchtzahlen.96 Die Methoden der Freizeiterziehung blieben dennoch bis zum Ende der DDR unverändert. 5. Erfolge in der Umerziehung? Laut der „Anordnung über die Durchführung der Aufgaben in den Jugendwerkhöfen“ war die Entlassung abhängig vom Stand der Berufs- oder Schulbildung und vom „Umerziehungserfolg“. Falls Letztgenannter vorlag, konnten die Jugendlichen ohne Schulabschluss oder Ausbildung entlassen werden. Über den Zeitpunkt der Entlassung entschieden der Direktor des Jugendwerkhofes und die Abteilung Volksbildung beim Heimatkreis des Jugend­ lichen. Vor der Entlassung sollten laut Verordnung der zukünftige Arbeitsplatz und eine Unterbringung geregelt werden.97 Konnte ein Jugendlicher die Ausbildung im Jugendwerkhof nicht beenden oder nur eine Teilausbildung absolvieren, musste deren Fortsetzung in einem externen Betrieb gewährleistet werden.98 Die Realität bot ein divergentes Bild. Vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren verließen viele Jugendliche die Werkhöfe ohne Berufsausbildung. Betroffen hiervon waren einerseits Mädchen, denen bis in die siebziger Jahre kein geregeltes Ausbildungsverhältnis im Jugendwerkhof garantiert werden konnte und andererseits Jugendliche, die ihre Volljährigkeit erreicht hatten. Die Fortführung der Ausbildung bereitete große Schwierigkeiten. Nur selten fanden die Behörden einen Betrieb, der die Fortsetzung der 93  ThStA

295.

94  ThStA

Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 25, Bl. 27, 53,

Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 3, 7. Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 7, Bl. 11–13. 96  BArch Berlin, DR 2 / 12329. 97  BArch Berlin, DR 2 / 5576, Bl. 71. 98  Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe vom 22.4.1965, § 4, zit. nach Sengbusch, S. 1827. 95  ThStA

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begonnenen Teilausbildung ermöglichte. Gründe hierfür waren neben der ungenügenden Qualifikation der Zöglinge die Unattraktivität der Jugendwerkhof-Berufe. Viele Jugendliche mussten in bis zu 15 Firmen vorstellig werden, bis sie eine Zusage erhielten. Die meisten Betriebe sahen die Anstellung eines Jugendlichen als besonderes Entgegenkommen dem Heim gegenüber an.99 Die Ausgangsposition für ein selbstständiges Leben war für die Mehrheit der entlassenen Jugendlichen insgesamt ungenügend. Nach einer Analyse des Ministeriums für Volksbildung waren viele Zöglinge nach ihrer Entlassung sich selbst überlassen.100 Außerdem konnte Jugendlichen aus problematischen Elternhäusern nicht in allen Fällen eine eigene Wohnung zur Verfügung gestellt werden. Ohne jegliche Planung wurden „gefährdete junge Bürger“ konzentriert in „bestimmten Straßenzügen und Häusern“ untergebracht.101 Der Bezirk Gera versuchte aus diesem Grund schon 1963 der Entlassung „größere Bedeutung und Sorgfalt“ zukommen zu lassen. Zukünftig müsse mehr Wert auf die „Erziehungsperspektiven“ als nur allein auf den „Arbeitskräftebedarf“ gelegt werden.102 Bei diesem Versuch ist es jedoch geblieben. Es gab keine pädagogische oder gar psychologische Versorgung der ehemaligen Jugendwerkhof-Insassen. Die Jugendlichen wurden oft in zerrüttete Familien entlassen oder fielen aufgrund fehlender Nachbetreuung in dieselben Verhaltensmuster zurück. Ein aus dem Jugendwerkhof Wolfersdorf entlassener Jugendlicher schrieb an den Werkhofleiter, dass man ihn nach seiner Entlassung zu seiner alkoholabhängigen Mutter zurückschickte.103 Von anderen Jugendlichen ist bekannt, dass sie erneut straffällig wurden. Ein weiterer ehemaliger Heiminsasse bat sogar darum, im Wolfersdorfer Heim als Heizer angestellt zu werden, um nicht erneut eine Straftat zu begehen. Das Ersuchen des Jugendlichen wurde abgelehnt.104 An den ehemaligen Jugendwerkhof-Insassen haftete immer das Stigma des „schwererziehbaren“ Heimkindes. Aus diesem Grund fand ein Großteil der Jugendlichen – trotz seines verfassungsmäßigen Rechts auf Arbeit – keine regelmäßige Beschäftigung.

99  BArch

Berlin, DR 2 / 12293. Berlin, DR 2 / 12108. 101  BArch Berlin, DR 2 / 12293. 102  ThStA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 17928. 103  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 4, Bl. 311. 104  ThStA Rudolstadt, Jugendwerkhof „Neues Leben“ Wolfersdorf 4, Bl. 23, 31, 53, 69, 77, 87, 311. 100  BArch



Jugendwerkhöfe in Thüringen263

IV. Fazit Die Etablierung des totalitären DDR-Regimes basierte auf der Durchsetzung des sozialistischen Wertesystems, das durch den Begriff der „sozialistischen Persönlichkeit“ definiert wurde. Es vereinte die Grundsätze der Arbeiterbewegung aus dem frühen 20. Jahrhundert mit den konservativen Moralvorstellungen der späten vierziger und fünfziger Jahre und konservierte diese zugleich bis zur Auflösung der DDR 1990. Mit der Definition der „sozialistischen Persönlichkeit“ entstand eine allumfassende Ethik und Moral, die der zentrale Garant für die Existenz des sozialistischen Staates war. Divergente Einstellungen mussten geradezu zwangsläufig kritisiert und durch Umerziehungsmaßnahmen verändert werden. Die Jugendwerkhöfe waren hierbei staatliche Umerziehungsanstalten zur Durchsetzung eines einheitlichen Menschentypus und ein Garant für das Erreichen des „real existierenden Sozia­ lismus“. In diesem engen ideologischen Korsett wies die DDR-Jugendhilfe vermeidlich „schwererziehbare“ Jugendliche in Jugendwerkhöfe ein. Die Kollektiverziehung galt dabei als pädagogisches Allheilmittel und deren Infragestellung wäre einer Kritik am sozialistischen System gleichgekommen. In der Folge setzte sich in der Heimerziehung eine unreflektierte paradigmatische Anwendung der komplexen kollektiven Erziehungstheorien durch. In der Jugendwerkhofrealität war die Entscheidungsbeteiligung der Jugendlichen äußerst gering. Die Zöglinge wurden durch eine stringente Überwachung gelenkt und mit Hilfe eines umfangreichen Bestrafungssystems gesteuert. Viele Erzieher schreckten nicht vor körperlicher Züchtigung zurück und sahen Prügel als legitimes Mittel, die jugendlichen „Verbrecher“105 zu bestrafen. Das harte und übermäßige Bestrafungsregime, die ständigen Kontrollen und der militärische Erziehungsstil förderten innerhalb des Jugendkollektivs Selbstjustiz, Gewalt, Unselbständigkeit und Abhängigkeiten voneinander.106 Das System der Kollektiverziehung ermöglichte keine Individualentwicklung. Es erwartete von den Jugendlichen einerseits ihre persönliche Freiheit zugunsten der Gemeinschaftsinteressen zurückzustellen und andererseits sich den sozialistischen Moralvorstellungen unterzuordnen. Abweichendem Verhalten oder gar politischen Meinungen wurde mit aller Vehemenz entgegengearbeitet und mit einem vergleichsweise hohen Strafmaß belegt. Die Um­ erziehung galt erst dann als geglückt, wenn die politische Einstellung der Jugendlichen den Anforderungen entsprach.107 105  ThStA

Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 7239, Bl. 297. S. 186. 107  Vogel, S. 88. 106  Jörns,

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Aufgrund der fehlenden Öffentlichkeit in der DDR wurde diese Umerziehungspraxis nicht kritisch diskutiert. Innerhalb der Bevölkerung gab es durch die sozialistische Propaganda und die traditionell-kleinbürgerlichen Gesellschaftsnormen kaum einen Zweifel an der Richtigkeit der Umerziehungsmaßnahmen im Jugendwerkhof. Die unüberwindbare Diskrepanz zwischen den Ansprüchen an die sozialistische Umerziehung und der tatsächlichen Erziehungsrealität in den Jugendwerkhöfen wurde weder in noch außerhalb der Heime wahrgenommen. Die Erziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ gilt als gescheitert und aus demokratischer Sicht mit den „wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung […] unverein­ bar“108. V. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Ungedruckte Quellen Bundesarchiv Berlin (BArch Berlin) Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStA Weimar) Thüringisches Staatsarchiv Meiningen (ThStA Meiningen) Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt (ThStA Rudolstadt) Interview mit Manfred May, Beratungsinitiative der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, 4.3.2011 Interviews der Beratungsinitiative im Rahmen von Rehabilitationsanträgen ehemaliger Zöglinge des Jugendwerkhofes Wolfersdorf

Gedruckte Quellen Autorenkollektiv: Jugendwerkhof „Philipp Müller“ Friedrichswerth. Vom feudalistischen Adelsschloß zur sozialistischen Erziehungs- und Bildungsstätte. Abriß der Geschichte. Betriebsgeschichtliche Darstellung der 40-jährigen Geschichte der Einrichtung, o. A. 1987. Gesetz über die Teilnahme der Jugend an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und über ihre allseitige Förderung in der Deutschen Demokratischen Republik vom 28.1.1974 (Jugendgesetz), URL: http: /  / www.verfassungen. de / de / ddr / jugendgesetz74.htm, Aufruf zuletzt am 25.4.2011. Jörns, Gerhard (Hrsg.): … freiwillige Heimerziehungsfälle – Herr D. (Bäcker, Erzieher, stellvertretender Heimleiter), in: Einweisung nach Torgau. Texte und Dokumente zur autoritären Jugendfürsorge in der DDR, Berlin 2002, S. 200–205. 108  Popp / Winter,

S. 48–51.



Jugendwerkhöfe in Thüringen265

Makarenko, Anton S.: Werke. Allgemeine Fragen der pädagogischen Theorie, Erziehung in der sowjetischen Schule, Bd. 5, Berlin 1961. Mannschatz, Eberhard: Jugendhilfe in der DDR. Autobiographische Skizzen aus meinem Berufsleben, Berlin 2002. Mannschatz, Eberhard: Vom Wesen der Kollektiverziehung, in: Jugendhilfe 12 (1957), S. 554–559.

Literatur Bernhardt, Christoph / Kuhn, Gerd: Keiner darf zurückgelassen werden! Aspekte der Jugendhilfepraxis in der DDR 1959–1989, Münster 1998. Gatzemann, Andreas: Der Jugendwerkhof Torgau. Das Ende der Erziehung, Münster 2009. Hannemann, Martin: Heimerziehung in der DDR, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Bd. 3: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR, Baden-Baden 1995, S. 1207–1222. Hoffmann, Julius: Jugendhilfe in der DDR, München 1981. Jahn, Ute: Jugendwerkhöfe und sozialistische Erziehung in der DDR, Erfurt 2010. Jörns, Gerhard: Der Jugendwerkhof im Jugendhilfesystem der DDR, Göttingen 1995. Kaczmarek, Sandra: Dir werd’ ich schon helfen! Zur Erziehung in den Jugendwerkhöfen der DDR, in: Gerhard Barkleit / Tina Kwiatkowski-Celofiga (Hrsg.), Verfolgte Schüler – gebrochene Biographien, Dresden 2008, S. 121–135. Kosing, Alfred: Wörterbuch der Philosophie, Westberlin 1985. Krause, Hans-Ullrich: Fazit einer Utopie. Heimerziehung in der DDR, eine Rekon­ struktion, Freiburg im Breisgau 2004. Krausz, Daniel: Jugendwerkhöfe in der DDR. Der geschlossene Jugendwerkhof Torgau, Hamburg 2010. Niermann, Johannes / Niermann, Monika: Wörterbuch der DDR-Pädagogik, Heidelberg 1974. Noack, Bernd: Stellung und Arbeitsweise der Jugendwerkhöfe im Jugendhilfesystem der DDR, Würzburg 2000. Popp, Maximilian / Winter, Steffen: Opfer zweiter Klasse, in: Der Spiegel 8 (2011), S. 48–51, URL: http: /  / www.spiegel.de / spiegel / print / d-77108500.html, Aufruf zuletzt am 1.7.2011. Sachse, Christian: Der letzte Schliff. Jugendhilfe der DDR im Dienst der Disziplinierung von Kindern und Jugendlichen (1945–1989), Schwerin 2010. Sachse, Christian: Heim ist Heim? Unterschiede der Lebenssituation in den einzelnen Heimtypen. Vortrag auf dem Kongress „Zu bedingungsloser Unterwerfung unter

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die staatliche Autorität“. DDR-Kinderheime und ihre Folgen für die Kinder und Jugendlichen, Erfurt 17.11.2010. Sachse, Christian: Ziel Umerziehung. Spezialheime der DDR-Jugendhilfe 1945–1989 in Sachsen, Leipzig 2013. Schmidt, Isabel: Jugendwerkhöfe in Thüringen. Sozialistische Umerziehung zwischen Anspruch und Realität, Erfurt 2014. Seidenstücker, Bernd / Münder, Johannes: Jugendhilfe in der DDR. Perspektiven einer Jugendhilfe in Deutschland, Münster 1990. Sengbusch, Dietrich: Das System der Jugendwerkhöfe in der DDR, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Bd. 3: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR, Baden-Baden 1995, S. 1825–1843. Vogel, Rahel M.: Auf dem Weg zum neuen Menschen. Umerziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ in den Jugendwerkhöfen Hummelshain und Wolfersdorf (1961–1989), Frankfurt am Main 2010. Zimmermann, Verena: Den neuen Menschen schaffen, Köln 2004.

III. Recht und medizinisch-psychologische Wissenschaften

Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes. Das Beispiel Sachsen (1680–1860) Von Anne Purschwitz I. Einleitung Die Sicht auf Kinder, Kindheit und Kindsein in der Frühen Neuzeit ist noch immer geprägt durch die Studien von Philippe Ariès und Lloyd deMause, aufgrund der schwierigen Quellenlage gelingt es hingegen nur ­ selten, ein mentalitäts- und alltagsgeschichtliches Bild unter Einbeziehung der subjektiven Erfahrungen des alltäglichen Lebens zu zeichnen.1 Trotz der „Entdeckung der Kindheit“ als spezifischer Lebensphase während der Aufklärung betont die historische Forschung, dass Kindheit in der Frühen Neuzeit und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein ein Risiko darstellte;2 Kindsein bedeutete demnach unterschiedlichsten Gefahren ausgeliefert zu sein, denen die jeweils Betroffenen keine Schutzmechanismen entgegensetzen konnten.3 Übergriffe gehörten zum Alltag und führten zu keinen besonderen Reaktionen durch Eltern oder das erweiterte soziale Umfeld, bzw. wurden sie gerade von diesen verübt und lagen ursächlich in der patriarchalen Struktur des Hauses begründet,4 wodurch sie häufig kein Vergehen darstellten. Die damit in engem Zusammenhang stehende Frage nach „violentia“ und „potestas“, den Formen und Grenzen von Gewalt,5 dominiert nicht nur die Erforschung der Geschlechterbeziehungen der Frühen Neuzeit,6 deckt aber gerade im Hinblick auf Kinder und Kindheit bei Weitem nicht alle Facetten ab.7 Denn insbesondere die kindliche Lebensweise kann nur im Kontext von „Familie, Generation, Geschlecht, Ökonomie und Herrschaft gedacht 1  van

Dülmen, Einleitung, S. 7; Lüdtke, S. 9–27. dazu z. B. Richter, S. 41–109; Meumann; den Sammelband von Buchholz; Jungjohann. 3  Jungjohann. 4  Lindenberger / Lüdtke. 5  Vgl. Christadler. 6  Hohkamp, Grausamkeit; Nolde; Jarzebowski; Schmidt-Voges, Haus; Beck; Schmidt-Voges, Ehestand. 7  Vgl. Loetz, S. 12–19. 2  Vgl.

270

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werden“8, diese zugrunde liegenden Strukturen beinhalteten in gleichem Maß Gefahren und Schutz und ermöglichten Kindern Individualität, Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein zu entwickeln, boten Freiräume trotz Unterordnung.9 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welchen Formen von Gewalt Kinder ausgesetzt waren, anhand welcher Quellen sie rekonstruiert werden können und was sie über den reinen Tatsachenbestand hinaus für Interpretationsmöglichkeiten für Kindheit und Kindsein bieten. Das Fehlen einer breiten Quellengrundlage, aufgrund der allgemeinere Aussagen über Art, Häufigkeit, Form und Umgang mit Gewalt gegen Kinder gemacht werden könnten, erschwert eine Annäherung.10 Material findet sich vor allem in Form von Gerichtsakten, die meist nur besonders schwere Fälle betreffen,11 denn Gewalt gegen Kinder lag oft jenseits des strafrechtlich Relevanten – eine Unterscheidung zwischen physischer, psychischer, kultureller oder struktureller Gewalt ist vor diesem Hintergrund kaum möglich. Dennoch decken die sächsischen Straf- und Zivilprozessakten, in denen Fälle von Gewalt gegen Kinder vor unterschiedlichen gerichtlichen Instanzen verhandelt wurden, ein umfangreiches Spektrum, wenn auch in unterschiedlicher Dichte, ab. Dominierend sind Prozesse zu Kindsmorden, während häusliche Gewalt nur in Ausnahmefällen dokumentiert wurde. Viel größer als die Anzahl überlieferter Prozesse ist wahrscheinlich die Dunkelziffer, was auch daran erkennbar wird, dass ca. ein Drittel der untersuchten Fälle nur über Umwege an die Gerichte herangetragen wurde und nicht direkt auf Klagen beruhte. Zeitgleich finden sich zahlreiche Anzeigen auch vermeintlich „harmloser“ Übergriffe, die durchaus davon zeugen, dass besonders Eltern ein Sensorium für ihre ­Kinder hatten / haben konnten. Die Akten bieten neben der Möglichkeit einer quantitativen Auswertung, der Frage nach Häufigkeiten einzelner Delikte, nach Strafen (sowohl den normativ vorgegebenen wie den verhängten) die Chance, Kinder sichtbar werden zu lassen und der Frage nach den Definitionen von „Kind“ und „Gewalt“ wie auch den Aufgaben, Strukturen und Funktionen von Familie und sozialem Umfeld, beginnend in der Frühen Neuzeit, nachzugehen. Mit Blick auf die Sanktionspraxis können Überlegungen zur Relevanz unterschiedlicher Gewaltausprägungen12, zur Gewaltakzeptanz13 und zur Schutzwürdigkeit des Kindes in der Frühen Neuzeit ansetzen, die dabei auch das soziale Umfeld berücksichtigen und die Frage in den Mittelpunkt stellen, wann Kinder als schutzwürdig angesehen wurden. 8  Döbler,

S. 304. Dülmen, Haus, S. 101–106. 10  Vgl. Luef, S. 102. 11  Vgl. Hacke, S.  329 ff. 12  Vgl. Loetz, S. 10. 13  Vgl. Wittke, S. 311. 9  van



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes271

Im Fokus bisheriger Untersuchungen, auf Grundlage von Prozessakten, steht vor allem der Kindsmord,14 der seit Mitte des 16. Jahrhunderts systematisch verfolgt und geahndet wurde, doch erfahren Kinder in diesen Betrachtungen nur eine indirekte Berücksichtigung. Helmut Langer beispielsweise kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis: „Die hohen, zur Abschreckung verhängten Strafen, die Kindsmördern zugemessen wurden, lassen erkennen, daß Kapitalverbrechen an Kindern besonders verabscheut und ­ ­geächtet wurden“15, diese Auffassung mag für das Delikt des Kindsmords schlüssig erscheinen, weitet man die Deliktkategorien, in denen Gewalt gegen Kinder sichtbar wurde, aus, liegt eher der Schluss nahe, dass nur dem Kind im Mutterleib und dem Neugeborenen ein durchaus beeindruckender Schutz zukam. Zwar brauchten ältere Kinder weniger Schutz als Säuglinge und Kleinkinder – aber gerade die hohe Kindersterblichkeit in den ersten sechs Jahren belegt, dass ein solcher noch immer nötig war.16 Im Unterschied zum Neonatizid gelangte der Infantizid jedoch nur selten vor Gericht und wurde deutlich milder bestraft. Hinzu kommen zahlreiche Unfälle von Kindern mit Todesfolge oder fahrlässige Tötungen, die meist keine Ermittlungen nach sich zogen, auch wenn die Vermutung naheliegt, dass etliche Unglücke, denen Kinder zum Opfer fielen, auf Vernachlässigung oder fehlende Sorgfalt bei der Beaufsichtigung zurückgeführt werden können.17 Auch Formen von „sexualisierter Gewalt“18 gegen Kinder rücken zunehmend in den Fokus, wobei intensiv die Frage von Gewalt, Sanktionen und Schutzwürdigkeit des Kindes Betrachtung erfährt.19 II. Prozessakten als Quellen und die sächsische Prozesspraxis Die in Prozessakten auffindbaren Dokumente spiegeln, auch abseits von normativen Vorgaben, die sich durchaus wandelnden, politischen und moralischen Werte einer Gesellschaft wider.20 Richter verfügten über relativ weitreichende Entscheidungsfreiräume, was durch Urteilsbegründungen und verhängtes Strafmaß verdeutlicht wird. Andererseits lassen die Häufigkeiten, mit denen Kinder in den Akten sichtbar werden, und die Verknüpfung mit unterschiedlichen Deliktkategorien Rückschlüsse auf das Ausmaß von Gez. B. Labouvie; Meumann; Michalik; Schläfke u. a.; Ulbricht. S. 92. 16  Z. B. lag die Sterblichkeit von Kindern zwischen null und sechs Jahren in den Jahren 1834–1849 in Sachsen bei fast 50 %, vgl. Engel, S. 54. 17  Vgl. dazu Shorter. 18  Ausführlicher zum Begriff „sexualisierte Gewalt“ s. Loetz, S. 27–31. 19  Vgl. dazu Jarzebowski; Loetz. 20  Hacke, S. 325. 14  Vgl.

15  Langer,

272

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walt und das Verständnis von legitimer und illegitimer Gewaltanwendung zu. Zu den Delikten, in denen sich Gewalt gegen Kinder zeigt, gehören: Abtreibung, Kindsmord (Neonatizid), Kindsaussetzung, Kindstötung (Infantizid), Inzest, Missbrauch und Vergewaltigung. Eine klare Dominanz kann im Hinblick auf den Kindsmord ausgemacht werden, wobei diese hauptsächlich auf normativen Vorgaben beruht. Divergierend dazu finden sich vereinzelt Hinweise in gänzlich anders gelagerten Akten, so wird z. B. im Rahmen einer Verleumdungsklage eine versuchte Abtreibung verhandelt und innerhalb einer Untersuchung zu einem Diebstahl ein Fall von Inzest. In der Bearbeitung der Akten erfahren vor allem Zeugenaussagen und Aussagen der Angeklagten Berücksichtigung, ebenso Strafmaß, Verteidigungsschriften und Anzeigen.21 Ergänzt wird dieser Quellenbestand um Prozessordnungen und Strafgesetzbücher, obrigkeitliche Mandate und Reskripte. Im Vordergrund steht die Frage, wie die Gerichte, eingebettet in einen spezifischen Kontext von Herr­ schaft,22 versuchten Wahrheit zu ermitteln, welche Anstrengungen sie darauf verwandten, wann sie aufhörten zu insistieren und auf welcher Grundlage die Richter später zu ihrem Urteil gelangten. Prozessakten erfassen dabei vorrangig „Abnormitäten“ – doch gerade Konflikte und ihre Lösungen bilden einen integralen Bestandteil von Gesellschaften.23 „Denn durch die Analyse von Normübertretungen und Abweichungen kann das sichtbar gemacht werden, was sonst als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt und nicht dokumentiert wurde.“24 Eine häufig an diese Quellengattung herangetragene Kritik betont den Zwangskontext der Justiz, dieser würde zu massiven Brechungen führen, was letzten Endes Aussagen hervorrufe, die nicht die Wirklichkeit abbildeten, sondern vielmehr das sozial und gesellschaftlich „Erwünschte“. Dennoch wird insbesondere den Zeugen in der Kriminalitätsforschung eine relativ hohe Glaubwürdigkeit attestiert,25 denn bei Falschaussagen drohten göttliche und weltliche Strafen. Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist die Zuverlässigkeit der Verschriftlichung der Verhöre. Dabei muss zwischen dem summarischen und dem artikulierten Verhör unterschieden werden. Bei der summarischen Zusammenfassung einer Aussage erfolgte durch die Wiedergabe in indirekter Rede eine Übertragung in das Kanzleideutsch, verbunden mit der „Glättung“ mundartlicher Formulierungen – zu beobachten ist jedoch, dass gerade bei 21  Bisher haben sich rund 500 Akten als relevant herauskristallisiert, von denen 50 inhaltlich vollständig erschlossen sind. 22  Jarzebowski. 23  Vgl. Langer, S. 72. 24  Lutz, S. 27. 25  Vgl. Fuchs.



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes273

Aussagen von Kindern markante Formulierungen erhalten blieben.26 Das artikulierte Verhör, wie auch Aufzeichnungen zu Konfrontationen, stellen im Unterschied dazu eine wortwörtliche Mitschrift aller Fragen und Antworten dar. Prozessakten bieten die Chance, vor allem Unter- und Mittelschichten sichtbar werden zu lassen und somit Personen, die in der Frühen Neuzeit kaum Spuren hinterlassen haben27 – auch wenn alle sozialen Schichten gerichtsnotorisch werden konnten, stellt sich doch ein deutliches Übergewicht bei diesen beiden Gruppen heraus.28 Das Strafrecht in Sachsen unterschied sich kaum von anderen deutschen Staaten, seine Grundlage bildete die „Constitutio Criminalis Carolina“ von 1532. Im Jahre 1572 kam es durch den Kurfürsten August von Sachsen zu ersten umfassenden Ergänzungen. Unterschiedliche Mandate, Reskripte und Erweiterungen wurden über zwei Jahrhunderte fortgeführt und seit 1724 im Codex Augusteus gesammelt, 1818 abgelöst durch die regelmäßig erscheinenden Gesetz- und Verordnungsblätter. Im Hinblick auf den Kindsmord ist das Mandat vom 14. Oktober 1744 von Friedrich August III. von Relevanz.29 Bei allen anderen Delikten, von denen Kinder betroffen sein konnten, erfolgten weder im Strafmaß noch in den Ausführungsbestimmungen wesentliche Änderungen. Erst 1838 beendete das „Criminalgesetzbuch für das Königreich Sachsen“ die bisherige Praxis von Einzelerlassen und Ergänzungen und versuchte, ähnlich dem Preußischen Landrecht, zu einer modernisierten und zweifelsfreien Strafrechtsordnung zu gelangen. Die Strafgerichtsbarkeit selbst beruhte auf dem Inquisitionsprozess, bei dem ein obrigkeitlicher Beamter, ex officio, die Anklage führte. Ziel war es, die „Wahrheit“, möglichst in Form eines Geständnisses (auch durch Folter) der Angeklagten, zu ermitteln. Da Sachbeweisen keine Gültigkeit zukam, konnten ausschließlich Zeugenaussagen für die Ermittlungen verwandt werden. Diese Praxis der Prozessführung machte in Sachsen 1770 dem reformierten Strafprozess Platz.30 Wichtigste Neuerung war die Abschaffung der Folter als Beweismittel und die Trennung in anklagende und entscheidende Instanz, ebenso stand nicht länger das Geständnis im Vordergrund, wodurch 26  So findet sich in der summarischen Zusammenfassung der Aussage von Marie Julie Emilie Hering, 3¾ Jahre alt, konstant die kindliche Formulierung „Sperling“ als Bezeichnung für das männliche Glied, s. Patrimonialgericht Volkmarsdorf (1843), Acta wider Johann Christian Zahn wegen Unzucht mit Kindern, in: StA Leipzig, Rittergut Volkmarsdorf 20567, Nr. 204, pag. 7v–9r. 27  Lutz, S. 26. 28  Im Hinblick auf den Adel basiert sein nahezu vollständiges Fehlen in Gerichtsakten auf dem, in Sachsen erst 1831 abgeschafften, privilegierten Gerichtsstand. 29  August III. 30  Sachsen war damit der erste Staat im deutschen Sprachraum, der den Inquisi­ tionsprozess abschaffte.

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richterliche Entscheidungen einen größeren Freiraum erhielten, ergänzt um eine freie Beweiswürdigung.31 1. Begriffsdefinitionen Die folgenden Definitionsversuche von „Kind“ und „Gewalt“ sind an normativen Vorgaben orientiert und werden gegebenenfalls um Interpretationen in der gerichtlichen Praxis erweitert, d. h. es steht im Vordergrund, wen das Gesetz und daran anschließend die Gerichte als Kind definierten und was als sanktionswürdige Gewalt aufgefasst wurde. Das Verständnis vom Kind basierte auf der Abgrenzung zu Erwachsenen; Kinder waren gekennzeichnet durch einen Zustand rechtlicher Passivität und wirtschaftlicher Unselbstständigkeit. Während jedoch die wirtschaftliche Unselbstständigkeit in der Praxis meist bis zum Heraustreten aus der elterlichen Hausgemeinschaft andauerte bzw. je nach Bezugsebene (Ehe, Berufswahl etc.) unterschiedliche Altersgrenzen für das Ende des Kindseins entstanden, etablierten juristische Texte eine relativ strikte Grenze, die entweder mit dem 12. oder 14. Lebensjahr gesetzt wurde. Erst ab diesem Alter galten Kinder als gerichtsmündig, sodass ihnen zuvor keine Möglichkeit offenstand, sich als Kläger an Gerichte zu wenden, wenn sie nicht von Eltern oder Vormund vertreten wurden. Im Unterschied zu dieser klaren juristischen Auffassung vom „Kind“, in der nur noch die Stufe der unter Siebenjährigen eine Beachtung erfährt, da Kinder bis zu diesem Alter als grundlegend nur sehr eingeschränkt glaubwürdig galten,32 kennt die Gerichtspraxis innerhalb der Gruppe der Kinder durchaus weitere Differenzierungen. In den Akten finden sich mehrheitlich zusätzliche Attribute, die eine stärkere Unterteilung nahelegen, so „kleines Kind“, „unmündiges Kind“ oder „unreifer Knabe“. Andererseits werden auch Jugendliche über 14 Jahren noch als Kinder bezeichnet, was darauf hinweist, dass die normativen Vorgaben sich nicht bedingungslos in den sprachlichen Umschreibungen von Kindern und Jugendlichen in der Praxis wiederfinden. Im Hinblick auf Gewalt muss konstatiert werden, dass sie erst greifbar wird, wenn gegen die nur unzureichend definierten gesellschaftlichen Normen verstoßen wurde. Nur aus der Konsequenz, die Gewalt nach sich zog, lässt sich rekonstruieren, wie weit welche Form von Gewalt in der Gesellschaft und durch die Gesetzgebung Toleranz erfuhr – mehrheitlich rückte sie in den Fokus, wenn die öffentlich-soziale Ordnung gefährdet wurde und

31  Vgl. 32  Zur

dazu Ignor, S. 60–82, 129–137, 231–258. zeitgenössischen Debatte s. z. B. Mittermaier, S.  316 f.



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes275

Grenzüberschreitungen geahndet werden mussten.33 Gewalt fiel, solange sie nicht den Tod zur Folge hatte, in die Verbrechen wider die Gesundheit und wurde, wenn keine dauerhaft nachteiligen Folgen für die Gesundheit des Betroffenen eintraten, mit einer Geldstrafe geahndet.34 Im Fall von bleibenden Schäden erfolgte eine Hierarchisierung der Verletzungen: als besonders schwerwiegend galten der Verlust der Sprache, des Gehörs und der Zeugungsfähigkeit, ebenso die Lähmung von Gliedmaßen, erst bei relativ schweren Schädigungen erhöhten sich die Strafen. Dabei unterschied die normative Ebene nicht zwischen den jeweils Betroffenen, so finden sich keine expliziten Hinweise auf Gewalt gegen Kinder. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass häusliche Gewalt und ihre Folgen in der Frühen Neuzeit und weit darüber hinaus kein Vergehen darstellte und von Strafen ausgenommen wurden.35 2. Lebenswirklichkeit und Beziehungskonzepte Wie gestaltete sich das Alltagsleben von Kindern innerhalb ihrer Familien, der dörflichen oder städtischen Gemeinschaft, die das Zentrum ihrer Lebenswirklichkeit darstellten? Lebenswirklichkeit bedeutet hier nicht den Versuch einer Rekonstruktion, sondern vielmehr den Blick auf Kinder, ausgehend von ihrer Verortung in familiäre und gemeinschaftliche Strukturen, zu richten, zu denen auch Gewalterfahrungen gehörten, die jedoch nicht zwingend dem Umfeld des Hauses entspringen mussten. Über Konflikte zwischen Kindern und Eltern in der Frühen Neuzeit ist deutlich weniger bekannt als beispielsweise zwischen Gesinde und Dienstherren. Meist wurden Differenzen zwischen ihnen erst in fortgeschrittenem Alter offensichtlich, so wenn es um die Fragen von Ehe, Erbe oder Berufswahl ging. Es finden sich nur sehr wenige Akten, in denen Kinder öffentlich Klage gegen ihre Eltern führten, was unter anderem auch damit begründet werden muss, dass sich Kinder in einem massiven Abhängigkeitsverhältnis befanden. Die Eltern-Kind-Beziehung selbst war, nach Münch, durch vier Verhaltensweisen gekennzeichnet: die Sonne der Liebe, das Salz der Unterweisung, den Regen der Verheißung und den Wind der Züchtigung.36 Kinder waren sowohl durch die göttliche Ordnung wie auch durch weltliche Regelungen verpflichtet, ihre Eltern zu lieben, zu ehren und ihnen Gehorsam zu erweisen. Der Erziehung kam dabei, vor allem in religiöser Hinsicht, schon früh eine entscheidende Bedeutung zu – denn vorrangig sollten Kinder zur dazu Loetz, S. 9–19. 1838, Art. 132. 35  Vgl. Hohkamp, Gewalt, S. 280; Schwerhoff, S. 132–134. 36  Münch, S. 181. 33  Ausführlich

34  Criminalgesetzbuch

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Gottesliebe angehalten werden, um aus ihnen sittliche Menschen zu bilden.37 Diese Auffassung beschränkte sich keineswegs nur auf bürgerliche Schichten und war in allen gesellschaftlichen Gruppierungen auch mit legitimen Züchtigungen zur Erreichung der erzieherischen Ziele verbunden. Erst Ende des 18. Jahrhunderts intensivierte sich die Debatte um Strafen und Belohnungen innerhalb der familiären Erziehung, verbunden mit einer theoretisch zunehmenden Verdrängung körperlicher Strafen. Züchtigungen sollten nicht das Gefühl von Ehre und Mut ersticken und in körperlicher Hinsicht nur bei anhaltendem, vorsätzlichem Ungehorsam, Jähzorn oder Rachsucht Anwendung finden.38 Diese „bürgerliche“ Kontroverse39 erreichte die Unterschichten und die nicht lesefähige Bevölkerung erst mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung und stellte andererseits keineswegs eine unwidersprochene Mehrheitsmeinung dar, vielmehr brachte sie auch Stimmen hervor, die deutlich und ausdrücklich für eine körperliche Züchtigung von Kindern durch ihre Eltern eintraten: „Körperliche Züchtigungen sind in dem Kindesalter um so viel nothwendiger, als sich zu dieser Zeit durch vernünftige Vorstellungen fast nichts ausrichten läßt.“40 Weder aus der Debatte noch aus bisherigen Untersuchungen zu Familie bzw. Eltern-Kind-Beziehungen lassen sich pauschalisierende Aussagen ableiten, denn das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern war von zahlreichen Variablen abhängig.41 Zu diesen zählten unter anderem der soziale Status der Familie, die Art des Arbeitszusammenhangs oder die Kinderanzahl. Neben ihrer Einbindung in häusliche Strukturen verfügten Kinder über vielfältige Kontakte. Für die Betrachtung von Gewalt nimmt die Beziehung zwischen Kind und Lehrer eine herausgehobene Stellung ein. In Sachsen wurde der Schulbesuch bereits relativ früh etabliert, auch wenn es erst mit dem Volksschulgesetz von 1835 zu einer verbindlichen achtjährigen Schulpflicht kam.42 Die Hauptaufgabe der Schule wurde in der Erziehung zu Gehorsam, Ordnung und Religiosität gesehen,43 die Frage nach der Legitimität und dem Umfang der Züchtigung in der Schule war dabei schon früh umstritten. Spätestens mit Beginn des 19. Jahrhunderts intensivierten sich die Überlegungen zu einer Abschaffung körperlicher Züchtigung in Schulen – denn ein „gesittetes Zeitalter“ bräuchte auch „gesittete Strafen“.44 AndererEhrenpreis. M—-r, S. 43–94. 39  s. auch Ranke, S. 54–71; Fecht, S. 5–31. 40  Anonymus, S.  18 f. 41  Für das Folgende vgl. van Dülmen, Haus, S. 105. 42  Vgl. Moderow, S. 43–125. 43  s.  z. B. Himmelstein. 44  Fecht, S. 31–53. 37  Vgl. 38  Vgl.



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes277

seits kam dem Lehrer als Miterzieher der Kinder ein gewisses Strafmaß zu,45 wobei sich die körperliche Züchtigung auf bestimmte Vergehen beschränken und das geistige und leibliche Wohl der Schüler berücksichtigen sollte. In den sächsischen Schulordnungen von 1724 und 1773 finden sich jedoch keine näheren Bestimmungen zu Strafen, deren Umfang oder Art; erst die Schulordnung von 1835 beinhaltete auch Regelungen zur Disziplinar-Verfassung und verfügte eine Hierarchisierung der möglichen Sanktionsgewalten des Lehrers, verbunden mit der Festschreibung: „Der Lehrer darf die Strafbefugnis nicht ungebührlich überschreiten, …“46 – ohne dass diese „Überschrei­tungen“ näher definiert wurden. Eine konsequentere Einschränkung erfolgte erst durch das Schulgesetz von 1873, in dem das Übertreten der Strafbefugnis disziplinarische Sanktionen für den Lehrer nach sich zog.47 Strafen, auch in Form von Schlägen und Prügel, blieben jedoch eine Alltagserfahrung in den Schulen, wenn auch die Bereitschaft von Eltern, „unverhältnismäßige Züchtigungen“ zur Anzeige zu bringen, in den Jahren nach 1820 deutlich zunahm. Eine dritte Ebene der Lebenswirklichkeit frühneuzeitlicher Kinder bildete die Nachbarschaft, in die sie aufgrund ihres relativ weitreichenden Aktionsradius meist gut integriert waren. Der Schutz und das „Behüten“ der Kinder stellte nicht nur eine Aufgabe der Eltern, sondern auch des weiteren sozialen Umfeldes dar.48 Häufig spricht die Forschung in diesem Zusammenhang von einer „immerwährenden dörflichen Wachsamkeit“49 und gerade dieser Funktion kommt im Hinblick auf Gewalt gegen Kinder eine entscheidende Bedeutung zu. Hinsichtlich des Einschreitens bei Gewalttätigkeiten in Bezug auf Frauen existieren unterschiedliche Befunde,50 in denen die Überzeugung dominiert, dass Frauen, waren sie übermäßiger Gewalt ausgesetzt, Unterstützung erhielten. Für Kinder kann diese Feststellung an Hand der Gerichtsakten nicht bestätigt werden, zumal sie weit weniger offensiv Hilfe einfordern konnten. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass häufige physische Gewaltausbrüche ausschließlich im Verborgenen stattfanden, doch nur, weil die Nachbarschaft informiert war, führte dies nicht zwangsläufig zur Einbezie-

das Folgende vgl. Freyer, S. 25. August I., S. 366. 47  So drohte bei harter und unangemessener Behandlung ein Verbesserungsverfahren und bei mehrfachem Überschreiten der Strafbefugnis die Dienstentlassung, vgl. Walter, S. 197–200. 48  Jarzebowski, S. 86. 49  Müller-Wirthmann, S. 101. 50  So betont Sylvia Möhle in ihrer Untersuchung für Göttingen ein seltenes Eingreifen, s. Möhle, während Hans-Christoph Rublack der Nachbarschaft ein „waches Ohr“ attestiert, s. Rublack. 45  Für

46  Friedrich

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hung der Obrigkeit51 – mehrheitlich bestand die erste Möglichkeit im Umgang mit Gewalt in der Information des Pfarrers – gleichzeitig konnten gerade Gerede und Tratsch durchaus korrigierende Funktionen zukommen.52 3. Kinder vor Gericht Als grundlegende Problematik aller Prozesse, in denen Kinder involviert waren, muss die Tatsache betrachtet werden, dass sie zwar auch unter zwölf Jahren aussagen durften, ihren Ausführungen aber deutlich weniger Gewicht verliehen wurde. Diese erhebliche Skepsis gegenüber den Aussagen von Kindern führte zu zahlreichen Verhören, Konfrontationen und Befragungen, um Widersprüche oder Lügen aufzudecken. So wurden Kinder vor sächsischen Gerichten zwar wie Erwachsene behandelt, ihre Aussagen jedoch keineswegs ähnlich ernst genommen.53 Kinder als Betroffene von Gewalt erscheinen direkt in Prozessen zu Kindsmord, Misshandlungen und Missbrauch, indirekt in Untersuchungsakten zu Leichenfunden und Unfällen – summiert man diese Delikte, erhält man ein annäherndes Bild vom Umfang der vor den Gerichten verhandelten Fälle von Gewalt gegen Kinder in unterschiedlichsten Ausprägungen (Abb. 1). In der absoluten Mehrzahl aller Prozesse treten sie als „Opfer“ in Erscheinung. In zahlreichen Verhören mussten sie das Geschehen minutiös und präzise schildern, wobei sie nur selten dieser Aufgabe nicht gewachsen schienen, da ihre Ausführungen meist durchaus detailliert waren. Problematisch innerhalb kindlicher Aussagen ist das Verständnis und die Beschreibung von Zeit. In vielen Darstellungen weisen sie ein sehr naturalistisches Zeitverständnis auf, dass vor strengen Richtern nur selten Bestand hatte und dessen unkonkrete Angaben häufig als Widerspruch gewertet wurden. Die mehrfachen Befragungen oder die Wiederholung der immer gleichen Fragen wirkte bereits bei Erwachsenen verunsichernd – umso stärker bei Kindern, so kam es innerhalb der Aussagen durchaus zu Korrekturen oder Relativierungen – wenn auch keines der befragten Kinder von seiner ursprünglichen Anschuldigung bzw. Geschehensbeschreibung Abstand nahm. Aber das Divergieren in Details war für manchen Richter und vor allem für die Verteidiger bereits ausreichend, um Aussagen als unwahr zu klassifizieren. Somit verschärfte 51  Ein solch weitreichender Schritt wurde wahrscheinlich nur unternommen, wenn die öffentliche Ordnung massiv gefährdet war und vorangegangene Vermittlungsversuche keinen Erfolg gehabt hatten, vgl. Münch, S. 197. 52  Lutz, S. 357. 53  Im Unterschied dazu konstatiert Loetz für Zürich, dass sich der Umgang mit Kindern vor Gericht nicht von Erwachsenen unterschied, diese jedoch auch ähnlich ernst genommen wurden, vgl. Loetz, S. 96.



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes279 Gewalt gegen Kinder in sächsischen Prozessakten Gewalt direkt

Gewalt indirekt

Gewalt gegen Kinder gesamt

250

Anzahl der Prozesse

200

150

100

50

0

Abb. 1: Anzahl der vor sächsischen Gerichten verhandelten Fälle von Gewalt gegen Kinder

sich die Problematik der eingeschränkten Glaubwürdigkeit in der Praxis des ständigen Wiederholens und erneuter Befragungen, besonders bei sehr jungen Kindern. Ihr Status als „Opfer“ von Gewalt erfuhr vor Gericht keine Berücksichtigung. Im Unterschied dazu treten Kinder als Täter bzw. als Ausübende von Gewalt nur selten in Erscheinung. Konflikte auch zwischen Kindern gab es dabei zweifelslos, denn: „daß Kinder die körperliche Gewalt, ähnlich den Erwachsenen, als geradezu selbstverständliches Mittel des Konfliktaustrags anwandten, kann kaum bezweifelt werden“54, doch wurden diese von Eltern, Lehrern oder Pfarrern beigelegt ohne gerichtsnotorisch zu werden. Bei Kindern unter 12 bzw. 14 Jahren trat die elterliche Strafgewalt an Stelle der öffentlichen, so finden sich nur vereinzelte Beispiele, in denen Kinder zu einer Bestrafung durch Eltern oder Lehrer verurteilt wurden.55

54  Langer,

S. 91. mussten in Penig 1821 vier Schuljungen wegen Misshandlung eines Kameraden mit Stockschlägen durch den Lehrer bestraft werden, vgl. Konsistorium Leipzig (1761–1832), Acta die Schulanstalten und Angelegenheiten zu Penig und den Besuch der Gefangenen durch die Geistlichen daselbst betrf., in: StA Leipzig, Konsistorium Leipzig 20021, Nr. 377, pag. 61r–82r. 55  Z. B.

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Eine dritte und ganz anders geartete Ebene von Kindern vor Gericht soll ebenfalls kurz Erwähnung finden – Kinder fungierten häufig als Streitfaktor und treten in dieser Hinsicht als Zeugen und Aussagende vor Gericht in Erscheinung. Auch in der Frühen Neuzeit beinhaltete Kindererziehung immer ein Konfliktpotenzial (z. B. über das Schlagen der Kinder oder den Umfang der mütterlichen Fürsorge)56 – und auch von Männern wurde Kindererziehung als eine wichtige Aufgabe verstanden. Es muss vermutet werden, dass Akten zu Ehekonflikten und Scheidungen eine weitere Möglichkeit bieten, Gewalt gegen Kinder sichtbar zu machen, sodass sich die Anzahl der Delikte deutlich erhöhen könnte. Da diese Prozesse jedoch nicht die Frage nach der obrigkeitlichen Sanktion von Gewalt gegen Kinder thematisieren, erfahren sie hier keine Berücksichtigung. 4. Prozesse und Lebenswirklichkeit Im folgenden Abschnitt soll einerseits durch die Darstellung der vor Gericht verhandelten Gewaltdelikte gegen Kinder ein Eindruck von der Lebenswirklichkeit und der Präsenz von Gewalt entstehen und andererseits die Frage nach Sanktionen für die unterschiedlichen Delikte und das daraus ableitbare Verständnis von der Schutzwürdigkeit des Kindes thematisiert werden. a) Abtreibung Der Versuch einer Abtreibung ging häufig dem Kindsmord voraus und findet sich in entsprechend vielen Fällen mit der Anklage des Kindsmords verknüpft. Wie bei zahlreichen anderen Delikten bestand die Problematik des aufgrund mangelnder medizinischer Untersuchungsmöglichkeiten nur schwer zu erbringenden Nachweises – Abtreibungen konnten meist nur geahndet werden, wenn sie sehr augenscheinlich in die öffentliche Wahrnehmung gelangten. Dabei war es für die Verurteilung einer versuchten Abtreibung nicht notwendig, eine Schwangerschaft zu beweisen, allein der Glaube schwanger zu sein und der Versuch, eine solche Schwangerschaft zu beenden, konnten zu einer Verurteilung führen.57 Der Vorwurf der Abtreibung, als Ehrverletzung verstanden, findet sich zudem oft in Zivilprozessakten, in denen Verleumdungen zur Anzeige kamen. 56  Lutz,

S. 278. Fleischer wurde noch 1849 wegen einer versuchten Abtreibung, ohne eindeutigen Beweis für eine Schwangerschaft, zur Übernahme der Prozesskosten verurteilt, vgl. Amt Leipzig (1849–1850), Acta wider Marie Sophie Göring aus Knautkleeberg und Consorten, in: StA Leipzig, Amt Leipzig 20009, Nr. 4405. 57  Dorothee



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes281 Anzahl der Prozesse zu Abtreibungen Abtreibungen

davon in Kombination mit Anklage Kindsmord

70 60 50 40 30 20 10 0

Abb. 2: Anzahl der vor sächsischen Gerichten verhandelten Fälle wegen (versuchter) Abtreibung

Bei diesem Delikt eröffnet die Strafgesetzgebung einen tiefen Einblick in das obrigkeitliche Verständnis von Kind und dessen Schutzwürdigkeit. Bereits das Ungeborene galt als schützenswert, wobei in späteren Rechtskodi­ fikationen zunehmend noch zwischen der ersten und zweiten Hälfte der Schwangerschaft unterschieden wurde. Diese Auffassung zeigte sich an unterschiedlichsten Verordnungen für Schwangere bzw. für das Verhalten während der Schwangerschaft.58 Ähnlich offensichtlich wird die Schutzwürdigkeit des noch Ungeborenen in Erlassen zur Anzeigepflicht von Schwangerschaften und dem Verbot heimlicher Geburten. Alle diese Maßnahmen machten es sich zum Ziel, Kindsmorde zu verhüten und die Risiken für das Kind während der Geburt zu minimieren. Andererseits konnte gerade die Einhaltung dieser unterschiedlichen Verordnungen nur unzureichend kontrolliert und sanktioniert werden, sodass von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden muss. Erfolgte vor Gericht eine Verhandlung wegen Kindsmord und versuchter Abtreibung, führte ein vorangegangener Abbruchsversuch zu einer Erhöhung der Strafe. Bei Prozessen, die einen versuchten oder vorgeblich erfolgreichen Schwangerschaftsabbruch untersuchten, war es hingegen so gut wie unmöglich, einen eindeutigen Nachweis zu erbringen, sodass auch die Strafen eher symbolisch bleiben mussten und nicht über drei Tage Ge58  Vgl.

dazu z. B. Saucerotte; Grigg / Hahnemann.

282

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fängnis und die Übernahme der Prozesskosten hinausgingen. Ein effektiver Schutz ungeborener Kinder war somit zwar intendiert, in der praktischen Umsetzung aber nicht realisierbar. Im Unterschied dazu wird deutlich, dass nach dem Ende des Inquisitionsverfahrens 1770 die Anzahl der vor sächsischen Gerichten verhandelten Fälle deutlich zunahm; da nun nicht mehr zwingend ein Geständnis erforderlich war, erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit durch Indizien und Zeugenaussagen zu einer Verurteilung zu gelangen (Abb. 2). b) Kindsmord Für Kindsmord, definiert als die Tötung eines lebensfähigen Neugeborenen durch die Mutter, nachdem sie Schwangerschaft und Geburt verheimlicht hatte, drohte der Angeklagten die Todesstrafe.59 Seit dem 16. Jahrhundert stiegen die unter dieser Definition verhandelten Fälle deutlich an, was nicht heißt, dass dieses Phänomen zuvor nur marginal existiert hätte, sondern es offenbart sich hier ein deutlich gewandeltes Bewusstsein von der Schutz­ würdigkeit Neugeborener,60 denn bereits im Mittelalter hatte das Delikt als Verwandtenmord unter strengen Strafen gestanden, wurde aber anscheinend nicht konsequent verfolgt. Ein erneuter Wandel im Hinblick auf den Kindsmord setzte zu Ende des 18. Jahrhunderts ein. Die juristische und moralische Grundhaltung änderte sich, sodass auch die Situation der Mutter Berücksichtigung erfuhr, eine Mitschuld des Vaters in Erwägung gezogen und neue Erkenntnisse aus Medizin und Psychologie aufgenommen wurden. Die während der Aufklärung intensiv geführte Debatte zog in nahezu allen deutschen Staaten Gesetzesänderungen nach sich. In den sächsischen Akten wird bereits um 1780 und nochmals um 1820 ein deutlicher Rückgang der für Kindsmord verhängten Todesstrafen ersichtlich und somit lange bevor die gesetzlichen Rahmenbedingungen die Todesstrafe für dieses Delikt beseitigten. Es offenbart sich, dass in vielen Fällen die Richter die eigentlich angeordneten Strafen unberücksichtigt ließen und in ihren Urteilsbegründungen mildernde Umstände einen Niederschlag fanden. Nur besonders brutale Fälle, Mehrfachtäterinnen und eindeutig Geständige (ohne Anzeichen von Reue) wurden mit den disponierten Strafen bedacht. Andererseits stand die Ermittlung eines Kindsmords, analog zur Abtreibung, immer wieder vor medizinischen Grenzen. Meist begannen die Untersuchungen mit dem Fund einer Kindsleiche, nur in wenigen Fällen erfolgte eine Anzeige aus der Nachbarschaft oder dem familiären Umfeld. Häufig war zwischen Fund und Tat bereits eine geraume Zeit verstrichen, sodass sich die Ermittlung potentieller Täterinnen schwierig 59  Constitutio 60  Im

Criminalis Carolina, Art. CXXXJ. Unterschied dazu Münch, S. 215.



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes283 Kindsmord

Anzahl der Prozesse

60 50 40 30 20 10 0

Abb. 3: Anzahl der an sächsischen Gerichten verhandelten Kindsmordfälle

gestaltete. Vor allem ledige Frauen wiesen eine hohe Mobilität auf, sodass zur Identifikation der Täterin die gesamte weibliche Bevölkerung der Umgegend unter einen Generalverdacht geriet. In diesem Stadium der Untersuchung kam der Nachbarschaft eine entscheidende Funktion zu, da sie intensiv nach Beobachtungen und Verdachtsmomenten befragt wurde.61 Im Prozess musste, wenn kein Geständnis erfolgte, nachgewiesen werden, dass die betreffenden Frauen ihre Kinder absichtlich getötet hatten und das Kind lebend zur Welt gekommen war. Mehrheitlich konnte, weder das Eine noch das Andere zweifelsfrei erfolgen, ein fehlendes Geständnis bot einer Kinds­ mörderin somit bis ca. 1770 die Chance, mit einer Haftstrafe beschieden zu werden. Für Sachsen ist seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein deutlicher Rückgang der verhandelten Kindsmordfälle zu beobachten, was dem allgemeinen Trend entsprach und vor allem gesellschaftlichen Strukturveränderungen geschuldet war (Abb. 3). Zeitgleich stiegen die Fälle der vor Gericht verhandelten Vernachlässigungen, worunter auch das „Unversorgt lassen“ von Neugeborenen verstanden wurde – dabei entschied allein die anklagende Instanz darüber, welcher Vorwurf erhoben und untersucht werden sollte, sodass unter Umständen in diesem Bereich eine zunehmende Sensibilisierung für die Zwangslage der Frauen vermutet werden kann, mit dem Rückschluss, dass der Kindsmord bei weitem nicht so stark zurückging, nun jedoch nicht länger in dieser Delikt­kategorie verhandelt wurde. 61  Die Anzeigepflicht für uneheliche Schwangerschaften erstreckte sich auch auf alle Personen im Umfeld der Betroffenen, vgl. August III., Art. 4.

284

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c) Aussetzung Aussetzungen standen wie Kindsmord und Abtreibung unter detaillierten gesetzlichen Sanktionen. Doch entgegen der hohen Repräsentativität innerhalb der normativen Vorgaben finden sich in Sachsen in knapp 200 Jahren bisher nur 16 Fälle von vor Gericht verhandelten Aussetzungen. Mehrheitlich handelte es sich dabei bereits um ältere Kinder, deren Eltern in keinem Fall ermittelt werden konnten. Die überlieferten Akten thematisieren aus diesem Grund nicht die Bestrafung des Delikts, sondern vielmehr Fragen der Unterbringung, Versorgung und Kostenübernahme für die aufgefundenen Kinder. Rechnet man die unaufgeklärten Funde von Kindsleichen hinzu, ergeben sich 34 Fälle. Alle anderen Funde von Kindsleichen wurden als Kindsmorde und nicht als Kindsaussetzungen vor Gericht verhandelt. d) Vernachlässigung oder verhüllter Kindsmord? Säuglinge und Kleinkinder waren stark gefährdet, Seuchen, Infektionen, mangelnder Hygiene, Unter- bzw. falscher Ernährung oder allgemeinen Notlagen zum Opfer zu fallen. Nach Shorter verstärkte sich diese Gefahr bei unehelichen Kindern, wofür er den Begriff des „verhüllten Kindsmords“ verwendet.62 Im Unterschied zur These des verhüllten Kindsmords findet sich in der Forschung ebenso die Überzeugung, dass das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern keineswegs lieblos war. Van Dülmen betont, dass Eltern in der Regel alles Mögliche taten, um das Leben ihrer Kinder zu erhalten und auch vor den Kosten für Ärzte oder eine Wallfahrt nicht zurückschreckten.63 Wenn auch der Tod als regulierende Konstante durchaus in Kauf genommen wurde, spricht sich van Dülmen ausdrücklich gegen eine bewusste Vernachlässigung aus, denn in einem solchen Fall hätten Mütter ihre Ehre aufs Spiel gesetzt.64 Die Risiken einer Vernachlässigung wurden bereits zeitgenössisch erkannt und sowohl in medizinischen als auch gesellschaftlichen Diskursen thema­ tisiert. Zu den beobachteten Vernachlässigungen zählten in körperlicher ­Hinsicht beispielsweise schlechte Nahrung, Einschläfern mit Opium, Most oder Branntwein, das Liegenlassen in Schmutz und Nässe oder falsches Wickeln. Betroffen davon waren meist Säuglinge. Im Hinblick auf ältere Kinder rückte die intellektuelle bzw. sittlich-religiöse Vernachlässigung in den Vordergrund, verstanden als Mangel an Erziehung und Schulbildung oder die Hinführung zu Laster und Genusssucht.65 62  Shorter,

S. 511–522. Dülmen, Haus, S. 88. 64  van Dülmen, Haus, S. 96. 63  van



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes285

Die gravierendste Form der Vernachlässigung stellte dabei die mangelhafte Versorgung Neugeborener während oder kurz nach der Geburt dar. Sie betraf vor allem das fehlende Abbinden der Nabelschnur, Unterkühlung oder ein auf den Boden liegen bzw. fallen lassen. In den meisten Fällen hatten diese „Unterlassungen“ den Tod des Neugeborenen zur Folge und wurden je nach Ankläger als Kindsmord, fahrlässige Tötung, fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge oder Vernachlässigung verhandelt. Mit Blick in die Akten ergibt sich, dass Vernachlässigungen nur selten verhandelt wurden, ihre Anzahl zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch steigt. Anzeigen erfolgten mehrheitlich aus der Nachbarschaft und dem nahen sozialen Umfeld mit dem Verweis auf „unmenschliche Behandlung“ (Schläge), Verwahrlosung (mangelhafte Kleidung, Ernährung) oder wenn Kinder durch ihr Verhalten auf eine „unzureichende Erziehung“ schließen ließen. Die dadurch initiierten Prozesse verliefen in allen Fällen straffrei bzw. wurde maximal eine Ermahnung zur Einhaltung der Aufsichts- und Erziehungspflicht ausgesprochen – selbst wenn das Kindeswohl offensichtlich gefährdet war.66 Im Hinblick auf die Frage des verhüllten Kindsmords rückten zudem grundlegend andere Personengruppen in den Fokus der Ermittlungen, denn dieser konnte nicht mehr nur der Mutter zur Last gelegt werden. Insbesondere Großmütter wurden wegen fehlender Versorgung von Neugeborenen mit Todesfolge zu Haftstrafen verurteilt, die jedoch nur selten ein Jahr überstiegen. Bei älteren Kindern führte eine Vernachlässigung zwar nicht mehr zwangsweise zum Tod, aber dennoch erkannte auch die Obrigkeit die Gefahr für das Leben und vor allem die sittliche Entwicklung des Kindes. In diesen Fällen wurde es häufig notwendig, über alternative Unterbringungsmöglichkeiten nachzudenken, da die betreffenden Kinder sich „in demselben Verhältnis“ befänden „als wenn ihr natürlicher Vater wirklich gestorben wäre“67. Da die Frage der Kostenübernahme aber häufig zum Streit zwischen verschiedenen Ebenen und Zuständigkeiten führte, verblieben die Kinder mehrheitlich in den bestehenden Verhältnissen und das Interesse der Nachbarschaft und 65  Vgl. Völter, S. 14–27. Das Gesetz von 1838 enthielt einen Passus, der die Unterdrückung der Geisteskräfte eines Kindes als eine Form der Vernachlässigung unter Strafe stellt, vgl. Criminalgesetzbuch 1838, Art. 137. 66  So im Fall einer Mutter, die ihre drei kleinen Kinder bei offenem Feuer mehrere Stunden allein in der Stube gelassen hatte und die nur durch das Eingreifen einer Nachbarin vor größeren Schäden bewahrt werden konnten, vgl. Der Ritter-Guths Polckenberg Gerichts-Protokolle vom Jahre 1773 bis 1790, in: StA Leipzig, Rittergut Polckenberg 20519, Nr. 5, pag. 80v–83r. 67  Gutachten von Johann Daniel Rorst und Albrecht Jahn vom 21.12.1827, in: Kreis-Amt Leipzig (1828–1830), Acta den entlaßenen Grenzaufseher Joseph Dworyack zu Markranstädt betr., in: StA Leipzig, Amt Leipzig 20009, Nr. 4409, pag. 3r–7r, hier pag. 6r.

286

Anne Purschwitz Unfälle und Vernachlässigungen Unfälle

Vernachlässigung

25

Anzahl der Prozesse

20

15

10

5

0

‐5

Abb. 4: Anzahl der behördlich untersuchten Unfälle und Vernachlässigungen von Kindern

der zuständigen Behörden ließ wieder nach. Die Schutzwürdigkeit von Kindern endete somit unmittelbar, wenn damit materielle Anforderungen an die Obrigkeit bzw. die Gemeinde verbunden waren. Neben dem allgemein relativ hohen Unfallrisiko für Kinder in der Frühen Neuzeit68 vergrößerte insbesondere eine mangelnde Aufsicht diese Gefahr nochmals. Auffallend häufig wurden Kinder Opfer von Verbrennungen, Stürzen oder Ertrinken. Werden Unfälle generell als eine Form von Gewalt gegen Kinder verstanden, wenn auch nur indirekt, machen sie 11 % der erhobenen Gewaltdelikte aus. Eine solche Zuschreibung erhebt dabei durchaus Berechtigung, da es sich bei diesen Fällen ausschließlich um behördlich untersuchte Delikte handelt, d. h. in diesen Fällen bestand bereits ein Anfangsverdacht, dass sie durch mangelnde Sorgfalt verursacht worden sein könnten – auch hier muss von einer deutlich höheren Dunkelziffer ausgegangen werden. Überwiegend verliefen die damit einhergehenden Untersuchungen jedoch ergebnislos und es kam maximal zu Geldstrafen oder Rügen. Beachtenswert ist, dass der Anteil der Unfälle über den gesamten Zeitraum hinweg, trotz zunehmender Sicherheitsvorschriften z. B. zum Abdecken von Gräben, kon­ stant blieb (Abb. 4). 68  Shorter,

S.  514 f.



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes287

e) Inzest und Missbrauch Jeder Gang zum Gericht beinhaltete die Überlegung, ob sich ein solcher Schritt lohne, besondere Relevanz entwickelte diese Abwägung bei dem Delikt des sexuellen Missbrauchs.69 Eine Anzeige gab der Öffentlichkeit preis, dass die sexuelle Ehre verletzt worden war, offensichtlich auch aus diesem Grund dominieren in den Unterlagen Anzeigen durch Außenstehende (Nachbarn, Dienstherren), nur in 20 % der Fälle ging eine Anzeige von den Eltern der betreffenden Kinder aus. Im Umkehrschluss kann aus dieser Beobachtung geschlossen werden, dass zahlreiche Delikte nicht vor Gericht gelangten, gleichzeitig schwiegen Kinder häufig auch aus Angst vor ihren direkten Bezugspersonen. Diese Angst scheint dabei durchaus berechtigt gewesen zu sein, denn so resultierte aus dem Geständnis des Johann Wilhelm Sauer über den Missbrauch durch seine Mutter gegenüber seinem leiblichen Vater eine gehörige Tracht Prügel.70 Kinder offenbarten sich eher entfernteren Personen, diese trugen die entsprechenden Informationen dann an die Eltern weiter. Eine Anzeige war über diesen Umweg jedoch noch nicht gesichert, als symp­ tomatisch für das Verhalten der Eltern kann folgende Aussage gelten: „Ich selbst habe von meiner Tochter dergleichen nicht gehört, ich mag es von ihr auch nicht hören.“71 Unterstützung durch die Eltern darf somit nicht als Voraussetzung angesehen werden, zumal der Vorwurf falscher Beschuldigungen auf die Eltern zurückfiel und die eingeschränkte Glaubwürdigkeit von Kindern einen solchen nicht unwahrscheinlich erscheinen ließ; ergänzt um die Problematik von Eltern als Ausübenden von Gewalt. In Folge dieses „Risikos“ erfolgte der Gang vor Gericht häufig erst nach mehrfachen Übergriffen bzw. wenn in der Nachbarschaft zunehmend publik wurde, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelte. In den Akten finden sich zahlreiche Fälle, deren Verfolgung und Häufigkeit im Laufe der Zeit zunahmen, was wahrscheinlich nicht auf eine erhöhte Zahl der Übergriffe zurückgeführt werden kann, sondern eher auf eine zunehmende Bereitschaft Justiz zu nutzen, in diesem Zusammenhang dann verbunden mit einem Rückgang der Dunkelziffern. Claudia Jarzebowski kommt in ihrer Untersuchung zu dem Schluss, dass sexuelle Gewalt gegen jüngere Kinder eher entschlossen zur Anzeige gedas Folgende vgl. Loetz, S. 94. des Johann Wilhelm Sauer, 3.10.1851, in: Justizamt Rochlitz (1851– 1857), Acta in Untersuchungs-Sachen wider Christianen Rosinen verwith. Sauer in Geringswalde wegen Incests, in: StA Leipzig, Amt Rochlitz 20017, Nr. 1420, pag. 20r–24v, hier pag. 21r. 71  Aussage Johann Christian Mäding, 14.8.1843, in: Patrimonialgericht Volkmarsdorf (1843): Acta wider Johann Christian Zahn wegen Unzucht mit Kindern, in: StA Leipzig, Rittergut Volkmarsdorf 20567, Nr. 204, pag. 19–20v, hier pag. 20r–20v. 69  Für

70  Aussage

288

Anne Purschwitz Inzest, Missbrauch und 'unsittliches Verhalten' gegenüber Kindern Inzest / Missbrauch

davon durch Lehrer

35

Anzahl der Prozesse

30 25 20 15 10 5 0

Abb. 5: Missbrauch von Kindern

bracht wurde, während bei älteren Mädchen, bei denen bereits Ehre und sexuelle Reinheit in Betracht gezogen werden mussten, vielfältigere Faktoren Berücksichtigung erfuhren.72 Dieser Befund bestätigt sich auch für die sächsischen Kriminalakten: kein betroffenes Kind ist zu Beginn des Missbrauchs älter als zehn Jahre. Gleichzeitig rücken Lehrer seit 1820 immer stärker in den Fokus von Ermittlungen wegen Unzucht und unsittlichem Verhalten. An den damit verbundenen Untersuchungen wird ersichtlich, dass die Schutzwürdigkeit von Kindern in staatlichen, aber auch kirchlichen Institutionen zunehmend als wichtig erachtet wurde, während der private Raum des Hauses im Verhältnis dazu vor Eingriffen von außen deutlich länger geschützt erscheint, doch auch hier steigen die vor Gericht verhandelten Fälle zeitgleich an und geben damit ein generell erhöhtes Sensorium zu erkennen (Abb. 5). Unverkennbar ist zudem, dass sexuelle Gewalt gegen Jungen sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in den normativen Vorgaben weitgehend tabuisiert wurde.73 In den bisher erhobenen Akten findet sich nur ein Jarzebowski, S.  90 f. Gesetzbuch von 1838 findet sich im Art. 158 ein Abschnitt zu „Widernatürlicher Unzucht“, die auch „Mannspersonen“ benennt, gleichfalls schließt auch Art. 161 (Unzucht mit Kindern unter vierzehn Jahren) die „widernatürliche Unzucht“ mit ein, ohne sie jedoch zu konkretisieren. 72  Vgl. 73  Im



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes289

Fall sexuellen Missbrauchs eines Jungen durch seine Mutter und zwei Dokumentationen zu Missbräuchen von Lehrern an einer Knabenschule. Die gesetzlichen Regelungen zu Strafen waren im sächsischen Fall sehr unbestimmt, bei Inzest existierte zudem die Problematik, dass alle Involvierten mit Strafen bedroht wurden; unzweifelhaft führte dies dazu, dass zahlreiche Delikte nicht zur Anzeige kamen. Die gerichtlichen Untersuchungen belegen gerade hier, dass die Glaubwürdigkeit der betroffenen Kinder in allen Fällen angezweifelt wurde. Wohl deshalb bewegen sich die verhängten Strafen am unteren Spektrum der Möglichkeiten, so finden sich zwei Fälle (1746 und 1783), in denen ein Staupenschlag verfügt, während Delikte aus den Jahren 1768, 1827 und 1847 mit drei bis fünf Jahren Gefängnis geahndet wurden. In fünf weiteren Fällen im Untersuchungszeitraum wurden die Kinder als so unglaubwürdig eingeschätzt, dass es zu keinen Verurteilungen kam. Im Hinblick auf die zunehmend unter Beobachtung stehenden Lehrer beschränkten sich die Strafen auf Entlassungen und Unterrichtsverbote, Verurteilungen zu Haftstrafen sind nicht dokumentiert. f) Misshandlung Misshandlungen erfolgten wie die meisten Gewaltdelikte gegen Kinder mehrheitlich durch nahestehende Personen (Eltern, Dienstherr, Lehrer), wobei betont werden muss, dass körperliche Gewalt gegen Kinder keineswegs eine männliche Domäne war. Psychische Misshandlungen durch Schelten oder Drohen werden dabei nach Betrachtung der Prozessakten im Hinblick auf Kinder nicht als Gewalt verstanden, obwohl Ehrverletzungen und Beleidigungen in der Welt der Erwachsenen einen massiven Angriff darstellten.74 Körperliche Züchtigung war legal, solange sie ein gewisses Maß nicht überstieg und Schläge auf empfindliche Körperteile ausgenommen blieben. „Der Weg zur öffentlich-gerichtlichen Anklage war dann möglich, wenn dem Gezüchtigten Wunden und Knochenbrüche zugefügt wurden oder er dabei getötet wurde.“75 Prozesse von Kindesmisshandlungen nehmen im Laufe des 19. Jahrhunderts deutlich zu, was auf ein erhöhtes Sensorium hinzudeuten scheint, dabei betrafen zahlreiche Fälle übermäßige körperliche Züchtigungen durch Lehrer, während Eltern bzw. Stiefeltern nur selten angeklagt wurden (Abb. 6). Generell belegen die Prozessakten die Problematik, dass es schwer zu beurteilen war, in welchem Umfang physische Gewalt noch legitim war bzw. was über das als legitim verstandene Maß hinausging – die Grenzen hierbei erscheinen fließend, ein entscheidendes Beurteilungskrite74  Vgl.

dazu z. B. Schreiner. S. 78.

75  Langer,

290

Anne Purschwitz Misshandlungen 80 70

Anzahl der Prozesse

60 50 40 30 20 10 0

Abb. 6: Vor Gericht verhandelte Fälle von Kindsmisshandlungen

rium war beispielsweise der Leumund in der Nachbarschaft. Bei Analyse der ergangenen Urteile und des verhängten Strafmaßes wird offensichtlich, dass obwohl die Taten gerichtsnotorisch wurden, sie kaum Sanktionen nach sich zogen. Selbst bei dauerhaften Schädigungen konnte nur selten zweifelsfrei herausgefunden werden, ob dies eine direkte Folge körperlicher Misshandlungen war. Bei physischer Gewalt durch Lehrer führten die Eltern die Klage, ohne dass die betreffenden Kinder zu den Vorkommnissen vernommen wurden; anscheinend rechtfertigte die „Marginalität“ des Ereignisses keine umfangreichen Nachforschungen, sodass eine indirekte Wiedergabe der Kinder durch ihre Eltern der direkten Verteidigung der Beschuldigten entgegenstand und meist keine eindrückliche Wirkung entfalten konnte. In nur 50 % der untersuchten Delikte erfolgte überhaupt eine Verurteilung, davon in 80 % zu einer Geldstrafe bis maximal 14-tägiger Haft. Dieses Ergebnis kann als ein Hinweis auf die „Normalität“ von Gewalt verstanden werden; zwar verteidigten Eltern ihre Kinder gegen Gewalt, gingen aber anscheinend nur selten den Weg vor Gericht. Die Mehrheit der dokumentierten Fälle gelangte über anderweitige Anzeigen zu einer Untersuchung, wobei die passiv involvierten Eltern angaben, ihren Kindern entweder zunächst nicht geglaubt zu haben oder sie hatten sich direkt an den Verursacher oder den örtlichen Pfarrer gewandt. In keinem verhandelten Fall wurde das Recht auf Züchtigung grundlegend in Frage gestellt, nur sollte die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Diese „kleine Gewalt“ gehörte offensicht-



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes291

lich für alle Beteiligten zum Alltag, ohne dass sie hinterfragt worden wäre. Trotz dieser ersichtlichen Toleranz gegenüber Gewaltanwendungen gegen Kinder finden sich Einzelfälle, in denen eine Misshandlung oder ein Missbrauch an Kindern angezeigt wurde, die Bestrafung auf diesen ursprüng­ lichen Tatbestand jedoch nicht mehr eingeht und ein „Stellvertreterdelikt“ zur Verurteilung kommt. Eine Bestrafung im Hinblick auf das angezeigte Delikt erschien wahrscheinlich nicht erfolgversprechend, da aber in allen Unter­suchungen der allgemeine Lebenswandel in den Fokus rückte, ließ sich in diesem Bereich häufig etwas ausmachen, das zumindest symbolisch geahndet werden konnte und die Möglichkeit bot, dem Angeklagten (als zusätzliche Strafe) die Prozesskosten aufzubürden.76 g) Gewalt vor und durch Gerichte Kinder wurden trotz ihrer detaillierten und genauen Schilderungen vor Gericht nur selten ernst genommen. Die Konfrontation mit den Angeschuldigten wie auch zahlreiche Verhöre und wiederholte Schilderungen des Geschehens nahmen keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten von Kindern. Zwar waren in der Mehrheit der Fälle die Eltern anwesend, aber es finden sich keine Belege dafür, dass diese schützend eingriffen bzw. bei einem zu rigorosen Vorgehen der Richter intervenierten. Kinder konnten vor Gericht keinen besonderen Schutz für sich beanspruchen, sie unterlagen der gleichen Behandlung wie Erwachsene, mussten sich im Unterschied zu diesen aber deutlich häufiger gegen den Vorwurf der Lüge verteidigen und in durchaus einschüchternden Situationen ihre Aussagen aufrechterhalten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der kindlichen Leidensfähigkeit vor Gericht bzw. ob die gerichtliche Untersuchung nicht eine neue Form von Gewalt gegen Kinder darstellte. Wenn es zu einem Prozess kam, mussten Kinder einen Befragungsmarathon über sich ergehen lassen; zugleich war insbesondere den Angeklagten und ihren Verteidigern die schwächere Position von Kindern bewusst und sie versuchten die geringe Glaubwürdigkeit von Kindern zu ihren Gunsten zu nutzen. Gelang es ihnen die Glaubhaftigkeit des Kindes zu erschüttern und waren keine weiteren Zeugen vorhanden, garantierte diese Konstellation mit relativer Sicherheit einen Freispruch. Gleichzeitig wurde häufig versucht, Gegenbeschuldigungen zu erheben. So hätten die betreffenden Kinder Geschenke angenommen oder in sexuelle Handlungen bewusst eingewilligt – diese Vorwürfe verstärkten sich vor dem 76  Z. B. im Fall des Schullehrers Kern, der der übermäßigen Züchtigung angeklagt ist, letztendlich jedoch aufgrund seines unsittlichen Lebenswandels ermahnt und zu einer Geldstrafe verurteilt wird, vgl. Patrimonialgericht Prießnitz (1844–1845), Acta gegen den Schullehrer Hrn. Carl Friedrich Kern, in Schönau, in: StA Leipzig, Rittergut Prießnitz 20523, Nr. 10.

292

Anne Purschwitz

Hintergrund der ihnen attestierten fehlenden sittlichen und moralischen Reife.77 Werden zudem die sozialen Hierarchien in Betracht gezogen, verschärft sich diese Problematik nochmals; ein gut beleumundeter Lehrer, dem ein Tagelöhnerkind vorwarf, es unrechtmäßig gezüchtigt zu haben, musste vor Gerichten im 18. und 19. Jahrhundert kaum Konsequenzen befürchten. Eventuell liegt in dieser Behandlung von Kindern vor Gericht ein weiterer Grund, warum zahlreiche Delikte nicht zur Anzeige gebracht wurden. 5. Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes Vor dem Hintergrund eines allgemeinen Züchtigungsrechts, der Theorie des Ganzen Hauses und dem darin beinhalteten Schutz des Privaten, verbunden mit der hierarchischen Gliederung der Hausgemeinschaft und der Stellung des Hausvaters, erschien insbesondere die körperliche Züchtigung von Kindern als ein legitimer und teilweise notwendiger Akt. Von der Forderung nach körperlicher Unversehrtheit des Kindes war die frühneuzeitliche Gesellschaft weit entfernt. Vor Gericht kamen somit nur diejenigen Fälle, in denen das „legitime Maß“ in unzulässiger Weise oder häufig überschritten wurde. Besonders aussagekräftig dafür sind Anzeigen aus der Nachbarschaft, da hier offensichtlich wird, wann Gewalt als illegitim und gesellschaftlich nicht mehr tragbar verstanden wurde. Im Hinblick auf Kinder war dies nur in Ausnahmen der Fall. Die Dominanz des Hausvaters, dem Respekt und Gehorsam entgegengebracht werden musste, überschattete die Stellung von Kindern. Solange er ihnen nichts zumutete, was unsittlich, rechtswidrig oder gegen die Religion verstieß,78 blieb Familie „ein Staat im Kleinen, in welchem der Vater als Regent und Gesetzgeber erscheint, die Mutter als Hohe Priesterin auftritt, und die übrigen Familienmitglieder als Bürger dieses Staates betrachtet werden können. In dieser unbeschränkten Monarchie, […] lernt das Kind gehorchen79.“

Für die „alltägliche“ Gewalt, der auch Kinder vor allem innerhalb ihrer eigenen Familien ausgesetzt waren, nutzen Lindenberger und Lüdtke den Begriff der „kleinen Gewalt“80 und definieren diese als prägend für die Frühe Neuzeit, sie sei regelkonform, ritualisiert und formalisiert gewesen und gehörte strukturierend zum „großen Ganzen“ des Hauses und der Gemeinschaft. Pölitz, S. 191–209. Sonderfall stellten Eltern dar, die ihre Kinder zum Betteln anhielten, in diesen Fällen erfolgte meist eine zügige Intervention der Gerichte. Als Folge wurden die Eltern (zusammen mit ihren Kindern) des Landes verwiesen. 79  Köhler, S.  5 f. 80  Für das Folgende vgl. Lindenberger / Lüdtke, S. 22–26. 77  Vgl.

78  Einen



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes293

Diese Gewalt kann in den überlieferten Prozessakten nur in Ansätzen sichtbar gemacht werden. Dabei zeigt Sachsen, dass die Schwelle zur Justiznutzung niedriger war als in anderen Territorien81 und sie in den Jahren nach 1770 und nochmals nach 1820 weiter sank, unabhängig davon, dass die gesetzlichen Grundlagen sich in diesem Zeitraum nicht änderten. Im Unterschied dazu bedingte die Einführung des überarbeiteten und modernisierten Criminalgesetzbuches im Jahr 1838 keine neuerliche Intensivierung der Justiz­nutzung. Zeitgenössisch wurde, wie auch durch andere Untersuchungen bestätigt,82 keine Diskussion über gesetzliche Regelungen zum Schutz von Kindern geführt. Kinder konnten in den Jahren zwischen 1680 und 1860 keine Fürsprecher finden, die einen intensivierten Schutz thematisiert hätten, obwohl seit Beginn der Aufklärung über Umfang und Maß des Züchtigungsrechts debattiert wurde.83 Nur für die Delikte Kindsmord und Abtreibung waren durchaus sehr massive Strafen vorgesehen, anscheinend galten Ungeborene und Neugeborene als besonders schutzbedürftig, ohne dass die entsprechenden Maßnahmen präventive Wirksamkeit entfalteten. Sobald Kinder laufen und sprechen konnten, wurden sie weit weniger durch normative Regelungen beschirmt. Gleichzeitig genossen sie, vorausgesetzt die Familienstrukturen und -mechanismen waren weitgehend intakt, bis zu einem Alter von sieben Jahren und teilweise auch darüber hinaus eine relativ geschützte Kindheit mit wenigen Eingriffen und Beschränkungen. Innerhalb der familiären Strukturen verschwanden sie jedoch relativ schnell aus der obrigkeitlichen Wahrnehmung und gerade hier konnte die Schutzfunktion des Hauses zu einer Gefahr werden. Das sächsische Strafrecht bot nur sehr wenige Möglichkeiten, Gewalt gegen Kinder effektiv zu sanktionieren. In diesem Mangel an Möglichkeiten spiegelt sich zum einen die Selbstverständlichkeit von Gewalt sowohl als eine Form von Kommunikation84 als auch ihre Legitimität85 wider, die dennoch für jeden Kontext situativ ausgehandelt werden musste86, und andererseits ein durchaus undifferenziertes Verständnis von Kindern und ihrer Schutzbedürftigkeit. Nur ein geringer Teil der Anklagen mündete in einer Verurteilung und dennoch erweisen die Urteile, dass keine bedingungslose Straffreiheit herrschte, und gegebenenfalls die Richter ihren relativ weitreiz. B. im Vergleich zu Zürich, s. Loetz, S. 171–189. S. 88. 83  Vgl. dazu z. B. die Schriften Pestalozzis, s. Pestalozzi, Christoph; Pestalozzi, Lienhard. 84  Vgl. van Dülmen, Haus, S. 102. 85  Vgl. die Studien von Luef, S.  99 ff.; Döbler, S. 311. 86  Vgl. Christadler, S. 235. 81  So

82  Loetz,

294

Anne Purschwitz

chenden Entscheidungsspielraum nutzten, um „Stellvertreterdelikte“ zu bestrafen. So zeigt die Rechtspraxis unter den Voraussetzungen eines wenig ausgeprägten normativen Schutzes von insbesondere älteren Kindern in Einzelfällen durchaus Erfindungsreichtum um Strafen (wenn auch nur symbolische) auszusprechen. Eine deutlichere Änderung kann im Hinblick auf den Schutz in Schulen beobachtet werden, so hatte der „unkontrolliert prügelnde“ Lehrer zunehmend mit Strafen zu rechnen. Die Schutzwürdigkeit des Kindes nahm zumindest im öffentlichen Raum seit 1820 permanent zu. Trotz dieser, für Kinder positiven, Entwicklungen spiegeln sich innerhalb der gerichtlichen Praxis zahlreiche Ambivalenzen wider. So zog beispielsweise der Missbrauch von Kindern teilweise geringere Strafen nach sich als die „Notzucht“ einer erwachsenen Frau. Ebenso fand die frühneuzeitliche Gesellschaft nur selten Wege, Kinder aus Gefahrensituationen herauszunehmen, selbst wenn sie offensichtlich gewalttätigen Eltern ausgeliefert waren, denn bereits die zahlreichen Waisenkinder forderten die kommunalen Armenkassen heraus und ließen nur wenige Möglichkeiten für Prävention. Dennoch lassen sich Belege ausmachen, dass Not und Elend insbesondere von Kindern Mitleid erregten und auch unkonventionelle Versuche zum Schutz von Kindern unternommen wurden. Doch gerade aus dem Fehlen umfangreicher Prozesse von vor allem häuslicher Gewalt gegen Kinder darf nicht der Schluss gezogen werden, dass es diese Gewalt nicht gegeben habe – vielmehr sieht man sich mit der Frage konfrontiert, warum die unterschiedlichen Ausprägungen von Gewalt gegen Kinder offensichtlich einer fühlbaren Ungleichbehandlung unterlagen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Maß der Schutzwürdigkeit des Kindes innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung jeweils situativ, im Rahmen von elterlicher Liebe und Misshandlungen, Spiel und Arbeit, schulischer Erziehung und Prägungen durch das soziale Umfeld, neu bestimmt werden musste.87 III. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Ungedruckte Quellen Amt Leipzig (1849–1850), Acta wider Marie Sophie Göring aus Knautkleeberg und Consorten, in: StA Leipzig, Amt Leipzig 20009, Nr. 4405.

87  Vgl.

Döbler, S. 320.



Gewalt als Phänomen oder die Schutzwürdigkeit des Kindes295

Der Ritter-Guths Polckenberg Gerichts-Protokolle vom Jahre 1773 bis 1790, in: StA Leipzig, Rittergut Polckenberg 20519, Nr. 5. Justizamt Rochlitz (1851–1857), Acta in Untersuchungs-Sachen wider Christianen Rosinen verwith. Sauer in Geringswalde wegen Incests, in: StA Leipzig, Amt Rochlitz 20017, Nr. 1420. Konsistorium Leipzig (1761–1832), Acta die Schulanstalten und Angelegenheiten zu Penig und den Besuch der Gefangenen durch die Geistlichen daselbst betrf., in: StA Leipzig, Konsistorium Leipzig 20021, Nr. 377. Kreis-Amt Leipzig (1828–1830), Acta den entlaßenen Grenzaufseher Joseph Dworyack zu Markranstädt betr., in: StA Leipzig, Amt Leipzig 20009, Nr. 4409. Patrimonialgericht Prießnitz (1844–1845), Acta gegen den Schullehrer Hrn. Carl Friedrich Kern, in Schönau, in: StA Leipzig,Rittergut Prießnitz 20523, Nr. 10. Patrimonialgericht Volkmarsdorf (1843): Acta wider Johann Christian Zahn wegen Unzucht mit Kindern, in: StA Leipzig, Rittergut Volkmarsdorf 20567, Nr. 204.

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296

Anne Purschwitz

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Anne Purschwitz

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Ein gerechtes Maß an Schmerz. Körperliche Züchtigung, die Subjektivität von Kindern und die Grenzen vertretbarer Gewalt im Kaiserreich und der Weimarer Republik1 Von Sace E. Elder I. Einleitung Im Mai 1899, zum Zeitpunkt des kontroversen Falls eines Schülers aus Schöneberg, der starb, nachdem er von seinem Lehrer verprügelt worden war, veröffentlichte die Berliner Morgenpost einen ausführlichen Artikel unter dem Pseudonym „Pädagogos“. Der Autor behauptete, dass „alle einsichtigen Erzieher, alle Eltern, die Erfahrungen haben, ja die Erfahrung aller Völker, aller Zeiten“ sich einig seien, dass Prügeln nötig sei. Jedoch müsse die Prügelstrafe „mit Weisheit“ angewendet werden, nie mit Wut, sondern immer mit Liebe und im Einklang mit den besonderen Umständen des Kindes. Strafe, so der Autor, solle schmerzhaft sein. Sogar so schmerzhaft, dass sie bis zu zwei Tage andauernde Hautrötungen verursachen könne; solange es kein Blut gebe, sei kein ernsthafter Schaden entstanden. Jedoch müsse eine berichtigende Absicht dahinterstehen: „Die Strafe ist eine bittere Arznei, und diese darf nicht gegeben werden, wenn man nicht Heilung des Kranken davon erhofft.“2 Strafe sei eine physische Einwirkung auf den Körper mit dem Ziel, die Seele zu ändern. Wie sagt schon das alte Sprichwort: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Für Wissenschaftler, die sich für die Geschichte der Züchtigung von Kindern interessieren, wirft die Reflexion über die Unterscheidung zwischen Züchtigung und Misshandlung eine besonders wichtige Frage auf: Wenn körperliche Züchtigung lehrreichen Schmerz hervorrufen sollte, der dem Kind eine „Lektion erteilte“, welche Rolle spielte dann die subjektive 1  Dieser Artikel basiert auf dem in Kürze erscheinenden Buchprojekt „Cruel, Brutal, or Malicious: Child Abuse and the Limits of Parental Authority in Germany, 1898–1945.“ Die Autorin dankt dem Council on Faculty Research der Eastern Illinois University für die Unterstützung dieses Projektes. Übersetzt wurde der Artikel von Carina Schumann. 2  Pädagogos, S. 3.

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Schmerzerfahrung des Kindes bei der Festlegung der Grenzen zulässiger Bestrafung? „Pädagogos“ stellte sich diese Frage nicht. Dennoch wurde sie in den darauffolgenden Jahrzehnten immer wieder aufgeworfen, denn Juristen, Verfechter des Kinderschutzes, Gesetzgeber, Kinderpsychologen, Erzieher und Eltern hatten Schwierigkeiten, neue Konzepte von Kindheit mit den traditionellen Bestrafungsmethoden in Einklang zu bringen. Die „Schöneberg-Affäre“ führte zu einer langen öffentlichen Diskussion über Gefahren und Wirksamkeit körperlicher Züchtigung und veranlasste den preußischen Kultusminister Robert Julius Bosse, (kurzlebige) Einschränkungen für körperliche Züchtigung an Schulen einzuführen.3 Im gleichen Jahr begann der „Verein zum Schutz der Kinder vor Ausnutzung und Mißhandlung“ die deutsche Kampagne gegen Kindesmisshandlung. Auch wenn die beiden Ereignisse nur indirekt zusammenhingen, zeigte sich an ihnen eine zunehmende Besorgnis der Öffentlichkeit im Hinblick auf das angespannte Verhältnis zwischen erforderlicher Erziehung und den Gefahren unverhältnismäßiger Gewalt. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts führte dieses Spannungsverhältnis, wenn es auch nie aufgelöst wurde, zu wesentlichen Änderungen im Strafrecht und in der institutionellen Praxis.4 In den 1920er Jahren erwogen sowohl der preußische Kultusminister als auch die „Deutsche Zen­ trale für Jugendwohlfahrt“ die gänzliche Abschaffung körperlicher Züchtigung und diskutierten Vorschläge zu Änderungen im Strafrecht, um die Seele von Kindern zu schützen. Beide Entwicklungen erforderten ein Umdenken hinsichtlich der Auswirkungen von Schmerz auf das kindliche Wohlbefinden und seine geschützten Interessen. In diesem Aufsatz untersuche ich das Problem des Schmerzes, indem ich die rechtlichen Grenzen vertretbarer Gewalt gegen Kinder im Kaiserreich und der Weimarer Republik beschreibe. Obwohl Schmerz ein wesentlicher Bestandteil der Praxis und des Zwecks körperlicher Züchtigung war, konnte er gemäß den Bestimmungen des Strafgesetzbuches von 1871 kein Bestandteil der Rechtsprechung zu Kindesmisshandlung sein. Wie der Rechtshistoriker Wilfried Küper gezeigt hat, änderte sich an dieser Tatsache auch durch die Änderungen im Strafrecht von 1912 und 1933, in denen Begriffsbestimmungen von Kindesmisshandlung eingeführt und ausgeweitet wurden, kaum etwas.5 Obwohl das Gesetz an sich seine enge Ausrichtung an den geschützten physischen Interessen des Individuums beibehielt6 (was nicht überra3  V.,

O.; Bosse, S. / o. A., S. 672–673; Tews, S. 166–167. Sace: Criminalization of Physical Abuse in Wilhelmine Germany, in: Richard Wetzell (Hrsg.), Criminal Justice in Modern Europe, 1870–1970 (in Vorbereitung). 5  Küper. 6  Küper, S. 247–250. 4  Elder,



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schend ist, da Gesetzbücher bekanntlich schwer zu ändern sind), begann die Rechtskultur jedoch, die geschützten rechtlichen Interessen von Kindern neu zu interpretieren, um deren Innenleben miteinzubeziehen. Verfechter des Kinderschutzes, Experten für das Wohlfahrtswesen und Psychologen nahmen immer mehr Einfluss auf Gesetzesreformen und Strafverfolgungen und bewirkten, dass die professionelle Rechtsgemeinschaft darüber nachzudenken begann, wie sie die Innerlichkeit des Kindes schützen und die subjektiven Erfahrungen des Kindes verstehen konnte. So hatten Sachverständige, die nicht den Rechtsberufen angehörten, aber mit den Gesetzen in Kontakt kamen und sie und das Justizsystem prägten, einen Einfluss darauf, wie das Leiden des Kindes die Grenzen der Erwachsenenautorität über den Körper des Kindes bestimmte. Das Konzept der Rechtskultur von Lawrence Friedman und anderen liefert einen nützlichen Rahmen, um professionelle und volkstümliche Haltungen und Annahmen über Recht und Gerechtigkeit zu untersuchen.7 Es regt dazu an, das Gesetz und die Gesellschaft als vernetzte Systeme zu verstehen, die sich gegenseitig beeinflussen. Friedman schreibt: „Changes in society […] alter the way people think and feel, and this in turn creates a new network or web of norms, ideas, attitudes, and opinions. These elements of legal culture act as an intervening variable between social innovation and legal change.“8 Indem ich das Gesetz als Produkt eines Systems kultureller Werte betrachte, werde ich zeigen, dass wandelnde Vorstellungen vom Kind als psychologischem Wesen eine Ausweitung der geschützten Interessen förderten, die sein subjektives Ich miteinbezogen. Im Folgenden werde ich zunächst das Problem des Schmerzes in den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts über das Kind untersuchen und zeigen, dass die subjektiven Erfahrungen von Opfern bei der Entscheidung über die Ungesetzlichkeit einer Handlung in Gesetz und Rechtsprechung nicht berücksichtigt wurden. Ich beziehe mich dabei auf die führenden Kommentare zum Strafgesetzbuch aus der damaligen Zeit, die im Hinblick auf die Auslegung des Gesetzes Streitigkeiten und Übereinstimmungen widerspiegeln. Dann wende ich mich der Rolle des kindlichen Schmerzes bei den Urteilen zu Gesetzesverstößen bezüglich des Züchtigungsrechts zu, die der Kriminal­ senat des Reichsgerichts gefällt hat. Das Reichsgericht bestimmte die vorherrschende Rechtsprechung der damaligen Zeit. Anhand der Entscheidungen der untergeordneten Instanzen, die vom Reichsgericht geprüft wurden, wird deutlich, wie Gerichte in ganz Deutschland im straf- und zivilrechtlichen Bereich urteilten. Diese Quellen dienen als Nachweis dafür, dass die ge7  Friedman, 8  Friedman,

Culture; Friedman, Justice; Yngvesson, S. 47; Robertson, S. 3. Law, S. 1583–1584 [Herv. i. O.].

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schützten Interessen des Kindes durch die Änderungen im Strafrecht von 1912 nur eingeschränkte Beachtung fanden. Anschließend betrachte ich die Konstruktion von seelischer Misshandlung, die von Protektionisten und reformorientierten Rechtswissenschaftlern erarbeitet wurde. In deren juristischen Kommentaren, Dissertationen und Reformschriften plädierten sie für die Kriminalisierung von Erziehungsmaßnahmen, die übermäßige Angst, Scham oder Traurigkeit des Kindes zum Ziel hatten. Das neue Konzept des seelischen Missbrauchs, das 1933 Einzug ins Strafrecht fand, rückte die Inner­lichkeit des Kindes wieder in den Mittelpunkt. Es begünstigte dadurch radikale Kritik an dem Zweck und der Wirksamkeit körperlicher Züchtigung, die man sowohl in Literatur zu Kinderwohlfahrt als auch in den Arbeiten von Reformpädagogen findet. Auf diese Weise wurde durch die Veränderungen in der Rechtskultur des frühen 20. Jahrhunderts der Grundstein für die abolitionistischen Normen des späten 20. Jahrhunderts gelegt.9 Wissenschaftliche Arbeiten über die körperliche Züchtigung von Kindern im frühen 20. Jahrhundert gibt es erst seit wenigen Jahren. Dabei haben Werke von Erziehungswissenschaftlern wie Benno Hafeneger, der über Gewalt in Bildungssystemen geforscht hat, zum Ziel, die ständige Präsenz physischen und sexuellen Missbrauchs in der Reformpädagogik und in Bildungseinrichtungen aufzuzeigen.10 Meike Sophia Baader und Florian Eßer haben kritische Abhandlungen über körperliche Züchtigung aus der Frühphase der Kindheitswissenschaften untersucht und festgestellt, dass diese Abhandlungen in ihrer Wirkung bestenfalls begrenzt waren und wenig dazu beitrugen, die Hegemonie von Erwachsenen über die Körper von Kindern abzuschaffen.11 Was in diesen Untersuchungen fehlt, ist die Rolle des Gesetzes, das die Erwachsenenautorität über Kinder bestimmte und begrenzte, und seine Verschränkung mit sich wandelnden Konzepten von Kindheit und ­pädagogischer Praxis.12 Das Verständnis der rechtlich-kulturellen Veränderungen kann uns helfen, sowohl die positiven als auch die negativen Kontinuitäten dieser Reformbewegung bis in die NS-Zeit besser nachzuvollziehen. Darüber hinaus neigt die Forschung dazu, sich auf die Täter anstatt auf das Objekt der rechtlichen Gewalt zu konzentrieren. Insbesondere Historiker untersuchen moderne Bedenken über die brutalisierenden Auswirkungen körperlicher Züchtigung und konzentrieren sich dabei vor allem auf die 9  Zur Liberalisierung körperlicher Züchtigung an Schulen in der Nachkriegszeit s. Schumann, Parents; Schumann, Legislation. 10  Hafeneger. 11  Baader, Bewegungen; Eßer, Kindheit. 12  In seiner Studie zu elterlicher Autorität im Bürgerlichen Gesetzbuch untersucht Andreas Göbel nur kurz die frühe Geschichte des BGB und konzentriert sich stattdessen auf die Abschaffung des Züchtigungsrechts im späten 20. Jahrhundert, s. Göbel.



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­ exualisierung der Gewalt in einschlägigen wilhelminischen und Weimarer S Diskursen.13 Selbstverständlich bezogen sich die Sorgen vieler zeitgenössischer Beobachter auf die psychosexuellen Auswirkungen von Gewalt auf den Ausübenden und den Zeugen der Gewalt. Ich möchte bemerken, dass der Fall körperlicher Züchtigung gemäß dem deutschen Recht Elaine Scarrys Beobachtung bestätigt, dass Sprachen, die sich auf die dem Körper zuge­ fügten Schäden sowie auf die Person, die diese hervorrief, konzentrieren, „the conflation of power with pain“14, die Verschmelzung von Macht und Schmerz, zulassen – in diesem Fall die Macht von Erwachsenen über Körper von Kindern. Durch die Obsession zeitgenössischer Wissenschaftler im Hinblick auf die Brutalisierung der Täter, die wir Historiker oft teilen, übersehen wir leicht, wie das Objekt der Macht durch ihren Diskurs ausgelöscht wird. Diese Diskurse waren in der Tat sehr wirksam. Sie spielten eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Vorschriften über körperliche Züchtigung. Allerdings sollten wir andere, ebenso wichtige Aspekte der Auseinandersetzungen über Kindesmisshandlung und körperliche Züchtigung nicht aus den Augen verlieren. Dazu gehören die körperliche Unversehrtheit von Kindern, die rechtliche Grundlage für das Züchtigungsrecht, die Frage, ob physische Bestrafung negative oder positive Auswirkungen auf die Jugendkriminalität hatte und die besten Vorgehensweisen oder Praktiken für eine angemessene Kindesentwicklung.15 Die Fokussierung von Diskursteilnehmern auf die Interessen von Kindern führte zu wichtigen Veränderungen in Gesetzestexten und Vorschriften. II. Schmerz und Leid in Gesetz und Rechtsprechung Die Fähigkeit von Kindern, Schmerz zu empfinden, war selbstverständlich Teil der modernen Vorstellung von Kindern als verletzliche, empfindliche Wesen. Als Antwort auf die Wahrnehmung des kindlichen Schmerzes und das Bestreben, die Wehrlosen vor unnötigem Leiden zu schützen, entwickelten sich organisierte Anti-Gewalt-Bewegungen.16 Dennoch erschuf die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts auch „evolutionary hierarchies of suffering“, die davon ausgingen, dass Empfindlichkeit von einer fortgeschrittenen kulturellen und moralischen Entwicklung abhänge.17 Man war davon überzeugt, dass die Fähigkeit zu fühlen beziehungsweise körperlich oder emotional zu 13  Hagner;

Dudek; Evans; Oelkers. S. 18. 15  Elder, Punishment. 16  Baader, Perspektive; Pearson; Flegel; Behlmer; Pleck; Gordon; Cravens; Fuchs. 17  Bending, S. 4. 14  Scarry,

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empfinden bei Kindern, kolonisierten Eingeborenen, Kriminellen und anderen sozialen Abweichlern weniger stark ausgeprägt war und dass sie deshalb den Gehorsam gegenüber Autoritäten durch Einwirkungen auf den Körper erlernen mussten.18 Dies erklärt auch, warum Kinder leiden mussten um zu lernen; warum Schmerz nötig war, damit Kinder Disziplin internalisierten. Deutsche Protektionisten, allen voran die Mitglieder des Vereins zum Schutz der Kinder, teilten diese Grundannahme und verteidigten körperliche Züchtigung zunächst tatsächlich als nötig, auch wenn sie einen besseren Schutz gegen den Missbrauch des Züchtigungsrechts forderten.19 Eine der grundlegenden Reformen, für die sich der Verein zum Schutz der Kinder und andere Verfechter des Kinderschutzes einsetzten, waren strengere strafrechtliche Sanktionen gegen Kindesmisshandlung. Im Strafgesetzbuch von 1871 stellte physischer Zwang, der über das Recht, körperliche Züch­ tigung anzuwenden, hinausging, eine Straftat dar. In der Regel fielen ­solche Handlungen unter den Paragraphen 223 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB), in dem es hieß: „Wer vorsätzlich einen Anderen körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit beschädigt, wird wegen Körperverletzung mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark bestraft.“ Das RStGB sah zudem höhere Strafen vor, wenn die Körperverletzung mittels einer Waffe erfolgte (§ 223a) oder sie zur Folge hatte, dass der Verletzte ein Glied seines Körpers oder seine Sinnesorgane verlor (§ 224). Für Lehrer und gesetzliche Betreuer bargen Überschreitungen ihres Rechts auf körperliche Züchtigung die Gefahr einer Zivilklage oder einer strafrechtlichen Verfolgung, insbesondere wegen Körperverletzung im Amte (§ 340) und fahrlässiger Körperverletzung (§ 230). Expertenmeinungen zum RStGB gingen bezüglich der Frage auseinander, ob körperliche Misshandlung oder schwere Körperverletzung nur dann vorlag, wenn die Beeinträchtigung des Wohlbefindens einer Person wahrnehmbar war. War es nötig, dass das Objekt der Straftat die Verletzung seiner oder ihrer rechtlichen Interessen fühlte? Justus von Olshausen beispielsweise betrachtete in seinem Kommentar zum Strafgesetzbuch das Hervorrufen eines physischen Missbehagens als ausreichendes Element des Verbrechens.20 Der Strafrechtler Reinhard Frank beharrte darauf, dass das notwendige Element des Verbrechens eine Beeinträchtigung des physischen Wohlbefindens des Objekts der Straftat war: „Die Erregung von Schreck oder Ekel kann sich nur dann als Mißhandlung darstellen, wenn sie in der That das körperliche Wohlbefinden beeinträchtigt. Dies trifft zu, wenn die heftige Erregung der Emp18  Evans,

S. 114–119; Schwirck. S. 9. 20  von Olshausen, S. 797. 19  Sprengel,



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findungsnerven einen Schmerz verursacht.“21 Die meisten Kommentare folgten der Rechtsprechung des Reichsgerichts aus dem Jahr 1889, als es entschied, dass das Gesetz nicht erfordere, dass das Objekt der Straftat (d. h. das Opfer) Schmerz empfand, damit eine Misshandlung vorlag. „Hätte danach der Gesetzgeber anordnen wollen“, so das Argument des Kriminalsenats, „daß allein bei der körperlichen Mißhandlung das zugefügte Übel als solches vom Objekte empfunden werden müsse, so wäre einer solchen Intention doch irgendwie Ausdruck gegeben. Das ist aber nicht der Fall.“22 Und genauso wie auch ein bewusstloses Opfer physischer Gewalt trotzdem physisch misshandelt wurde, konnte auch ein Kind, das keinen physischen Schmerz erlitt, dennoch das Objekt einer Misshandlung sein. Allerdings folgten offenbar nicht alle Gerichte und Richter dem vom Reichsgericht festgelegten Ausschluss der subjektiven Erfahrung des Verbrechensobjekts. Deutlich wird dies an dem Freispruch eines Lehrers durch das Landgericht Bayreuth im Jahr 1894. Der Lehrer wurde wegen Körperverletzung angeklagt, weil er einen Schüler als Erziehungsmaßnahme zweimal ins Gesicht geschlagen und damit entgegen der lokalen Schulrichtlinien gehandelt hatte. Der Richter des Landgerichts entschied, dass seine Handlung „keinen besonderen Schmerz verursacht“ hatte und deshalb keine Straftat vorlag. Offensichtlich ging das Gericht davon aus, dass die Abwesenheit eines gewissen Maßes an Schmerz den Lehrer von einem kriminellen Vergehen freisprach. Wie das Reichsgericht bei seiner Entscheidung betonte, konnte die Behauptung des Landgerichts bezüglich der Empfindungen des Kindes „nicht anders verstanden werden, als daß sie [= die Züchtigungen] zwar keinen Schmerz von besonderer Erheblichkeit, aber doch immerhin Schmerz verursachten“.23 Folglich hob das Reichsgericht die Entscheidung des Landgerichts auf. Es bestand darauf, dass die Grenzen der Autorität des Lehrers nicht vom empfundenen Schmerz festlegt wurden, sondern der Verstoß des Lehrers darin bestand, dass er sich über die Vorschriften der lokalen Autoritäten bezüglich der schulischen Disziplinierungsmaßnahmen hinweggesetzt hatte.24 Der Fall Bayreuth legt nahe, dass untergeordnete Instanzen Schmerz – oder das vermeintliche Fehlen desselben – oft als Maßstab benutzten, um die Schwere einer Misshandlung festzustellen; in diesem Fall um zu zeigen, dass der Angeklagte nicht gegen das Gesetz verstoßen hatte. Bei Entscheidungen über Körperverletzungsdelikte orientierte sich das Reichsgericht im späten 19. Jahrhundert durchgehend an der Richtlinie, dass die Grenzen körperlicher Züchtigung durch externe Vor21  Frank,

S. 279.

22  Entscheidungen

des Reichsgerichts in Strafsachen (RGSt) 19 (1889), S. 136. 26 (1895), S. 148. 24  RGSt 26 (1895), S. 148–150. 23  RGSt

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schriften anstatt durch die subjektive Erfahrung des Kindes bestimmt wurden.25 Diese Interpretation, wonach der Schmerz des Opfers kein wesentliches Element der Straftat war, blieb die vorherrschende Rechtsprechung; dies galt sogar noch nach Inkrafttreten des Paragraphen 223a Abs. 2 RStGB im Jahr 1912, der die „grausame“ und „boshafte“ Misshandlung von Schutzbefohlenen unter Strafe stellte. Verfechter des Kinderschutzes begrüßten, dass das Reichsstrafgesetz nun konkrete Bestimmungen gegen Kindesmisshandlung beinhaltete. Allerdings wurden die Einschränkungen des neuen Paragraphen schnell deutlich: 1916 entschied das Reichsgericht in seinem ersten Urteil mit Bezug auf § 223a Abs. 2, dass die Intensität und Dauer des vom Kind empfundenen Schmerzes irrelevant seien, wenn die Handlung, durch die der Schmerz verursacht wurde, angemessen gewesen war, um das Verhalten des Kindes zu berichtigen. Um die „Angemessenheit“ der erzieherischen Handlung zu bewerten, musste der Richter laut Reichsgericht den physischen und moralischen Zustand des Kindes, d. h. seinen Gesundheitszustand und die „allgemeine sittliche Verdorbenheit“ des Kindes, berücksichtigen, um zu entscheiden, ob der Zweck die Mittel heilige. In diesem Sinne bestimmten der moralische Zustand des Kindes sowie die Motivation des Täters die Grenzen vertretbarer Gewalt.26 Die Auslöschung der subjektiven Erfahrung des Kindes stand in Einklang mit einem deutschen Strafrechtssystem, das sich auf die Intention des Täters und die körperliche Unversehrtheit des Opfers konzentrierte. Dies bedeutete auch, dass Vergehen gegen das Züchtigungsrecht verfolgt werden konnten, ohne dass das Kind seine Erfahrung schildern musste oder Annahmen von Erwachsenen über die subjektive Erfahrung des Kindes gemacht werden mussten. Dennoch lohnt es sich, die Auslöschung der Subjektivität des Kindes in der vorherrschenden Rechtsprechung und den ausschließlichen Fokus auf die subjektive Intention des erwachsenen Täters zu betrachten. Das Ausmaß, in dem dies der Fall war, zeigt sich an der 1924 getroffenen Entscheidung des Reichsgerichts, bei der es um die Frage nach der „Boshaftigkeit“ in § 223a Abs. 2 ging. „Boshaft“, so entschied das Reichsgericht, war eine Handlung mit der Intention, Schmerz zu verursachen. In diesem Sinne war der Schmerz des Opfers laut diesem Paragraphen nicht deshalb entscheidend, weil das Objekt der Gewalt Schmerz empfand, sondern weil der Täter den Schmerz willentlich hervorrief. Darin kommt zum Ausdruck, daß er bezweckte, dem Kinde einen ungerechtfertigten Schmerz zu bereiten, und daß er in dieser Behandlung seine Befriedigung gefunden hat. In einer solchen Handlungsweise konnte ohne Rechtsirrtum das Tatbe25  s. auch 26  RGSt

RGSt 29 (1897), S. 66–69; RGSt 30 (1897), S. 126–128. 49 (1916), S. 389–391.



Ein gerechtes Maß an Schmerz307 standsmerkmal der boshaften Gesinnung im Sinne von § 223a Abs. 2 RStGB gefunden werden.27

Der Schmerz des Kindes war nur insofern entscheidend, als er die Motivation für das Handeln des Täters darstellte. Die Änderungen im Strafgesetzbuch von 1912 bekräftigten die Unerheblichkeit der Kindeswahrnehmung, indem sie die Intention des Täters und den objektiven Gesundheitszustand des Kindes statt dessen subjektive Erfahrung fokussierten. Diese Einschränkung wurde indes zunehmend als untragbar angesehen, da Entwicklungspsychologen, Pädagogen und Verfechter des Kinderschutzes auf die Gefahren von Kindesmisshandlungen verwiesen. In den 1920er Jahren, als neue Bemühungen das Strafrecht zu reformieren die Möglichkeit eröffneten, das Thema Kindesmisshandlung weiter auszuarbeiten, machten sich Kinderschutzaktivisten und reformorientierte Rechtsexperten für die Beachtung psychischer Misshandlung stark.28 III. Zucht und Seele Das Konzept der psychischen Misshandlung hat seine Wurzeln im frühen 19. Jahrhundert. 1832 schlug der renommierte Strafrechtswissenschaftler Paul Johann Anselm von Feuerbach während der Kaspar-Hauser-Affäre eine neue Verbrechenskategorie vor – das Verbrechen am Seelenleben.29 Wie viele seiner Zeitgenossen glaubte Feuerbach, dass der Intellekt das prägende Merkmal des Menschseins sei. Anders als die anderen Rechtsexperten seiner Zeit schlug er jedoch vor, dass diese Rationalität eher seelisch als geistig sei. Feuerbachs „Verbrechen am Seelenleben“ kann als Teil dessen angesehen werden, was Carolyn Steedman als die Entstehung des modernen, inneren Ichs durch die kulturelle Konstruktion von Kindheit bezeichnet hat. Während des 19. Jahrhunderts, so schreibt sie, wurde die Vorstellung vom Kind sowohl dazu benutzt, an die Vergangenheit zu erinnern als auch dazu, die Vergangenheit auszudrücken, die jedes individuelle Leben beinhaltete: „What 27  RGSt

58 (1924), S. 336. Zentrale für freie Jugendwohlfahrt / Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, Schutz; Deutsche Zentrale für freie Jugendwohlfahrt / Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, Kindermißhandlung. 29  Feuerbach; Kitchen. Kaspar Hauser war ein 15-jähriges Findelkind, das 1828 auf der Straße in Nürnberg auftauchte. Als offensichtliches Opfer einer ungeheuerlichen Vernachlässigung und Misshandlung konnte er kaum sprechen und laufen. Ermittler versuchten einige Jahre lang Hauser und die Täter zu identifizieren. Seine Geschichte wurde zu einem europäischen Cause célèbre. Feuerbach interessierte sich eine Zeit lang sehr für Hauser und war der Überzeugung, dass Hauser seine Kindheit eingebüßt hatte und er durch die Misshandlungen nicht fähig gewesen war, sich zu einem autonomen und freien Subjekt zu entwickeln. 28  Deutsche

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was turned inside in the course of individual development was that which was also latent: the child was the story waiting to be told.“30 Aus dieser Perspektive betrachtet war Hauser daran gehindert worden, sich zu einem autonomen und freien Subjekt zu entwickeln, das sein eigenes Leben in die Hand nehmen konnte. In seinem Buch über den Fall Hauser schlug Feuerbach deshalb eine neue Definition von Misshandlung vor, wobei er Kaspars Misshandlung mit dem Raub eines Lebensabschnitts verglich; einem Raub, der den Beginn der Kindheit zu einer „Unzeit“, einer versäumten Zeit ohne produktive Bedeutung macht.31 Ein solches Verbrechen gehe weit über das Verursachen von Schmerz und Qualen hinaus; Hausers Geiselnehmer hätten ihm eine fundamentale menschliche Erfahrung vorenthalten: seine Kindheit. Feuerbachs „Verbrechen am Seelenleben“ fand in Rechtskreisen zunächst nur wenig Beachtung. Dies änderte sich erst im späten 19. Jahrhundert, zur selben Zeit, als die Praxis, über das Ich zu schreiben, im Genre der Autobiografie aufkam.32 1889 erweckte Richard Schmidt Feuerbachs Argument in „Der Gerichtssaal“, der führenden juristischen Fachzeitschrift, wieder zum Leben. Schmidts Aufsatz zeigte das zentrale Problem mit der Kriminalisierung von seelischem Missbrauch auf: Laut deutschem Rechtssystem war das seelische Leben jenseits der Vernunftfähigkeit kein geschütztes rechtliches Interesse.33 Einflussreicher war Frieda Duensing, die in ihrem Buch „Verletzung der Fürsorgepflicht gegenüber Minderjährigen“ von 1903 auf die Zäsur im Gesetz hinwies. Duensing beschreibt einen Fall, der sich später in protektionistischen Kreisen als erfundene Geschichte verbreitete: Ein Vater tötete das Kaninchen seines kleinen Sohnes und zwang ihn, in der Nacht mit dem toten Körper des geliebten Haustieres in einem Zimmer zu schlafen, um ihm eine Lektion zu erteilen.34 Zweifellos war diese Handlung als grausame 30  Steedman,

S.11. S. 59. Feuerbach selbst hatte Hauser bereits den Rücken gekehrt und ihn als Schurken und Scharlatan verunglimpft, kurz bevor Hauser 1833 unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. 1833, nur fünf Jahre nach seinem plötzlichen Auftauchen in Nürnberg und nachdem Feuerbach ihn als Scharlatan verunglimpft hatte, tauchte Hauser mit Stichwunden in der Brust bei Behörden auf. Ermittler konnten nicht mit Sicherheit sagen, ob eine fremde Person versucht hatte, Hauser zu ermorden, wie er behauptete, oder ob er sich, wie die Behörden vermuteten, die Wunden selbst zugefügt hatte. Jedenfalls verstarb Hauser wenige Tage später, s. Kitchen, S.112–132. 32  s. Küper, S. 237–242. Das Gesetzbuch von Sachsen von 1838 und 1855 hatte Schäden an der geistigen Verfassung unter Strafe gestellt, dabei allerdings Feuerbachs Verbrechen gegen das Seelenleben nicht berücksichtigt, s. Küper, S. 179; zur Autobiographie s. Brian: Kinderland, S. 223–250. 33  Schmidt. 34  Duensing, S. 41–42. Diese Geschichte wurde in den darauffolgenden Jahrzehnten häufig weitererzählt, s. z. B. Bericht der 7. Kommission zur Beratung des Ent31  Feuerbach,



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Qual ohne erzieherische Rechtfertigung einzuordnen. Dennoch gab das Gesetz keinen Anlass zur Strafverfolgung des Vaters: Die Erzeugung seelischer Leiden durch einen Angriff auf die Psyche kann nur dann unter den Begriff Körperverletzung fallen, wenn die seelischen Leiden ins Körperliche hinübergreifend Umfang und Charakter einer Krankheit im medizinischen Sinne annehmen. Die Erzeugung aller andern Leiden durch Angriff auf die Pysche, die psychische Mißhandlung kann nicht unter den Begriff der Körperverletzung fallen.35

Das Leid, das für Duensing sowohl körperlich als auch seelisch sein konnte, sollte ihrer Einschätzung nach ein grundlegendes Element des Verbrechens der Misshandlung darstellen. In seinem Kommentar zu den Änderungen des Kriminalstrafrechts im Jahr 1909 bemerkte August Finger, es sei „peinlich“, dass die vorgeschlagenen Änderungen Strafen gegen das „böshafte Quälen“ von Tieren enthielten, aber bei Kindern lediglich körperliche Verletzungen, die von einer „grausame[n] Behandlung“ durch den sorgeberechtigten Erwachsenen hervorgerufen wurden, unter Strafe stellten.36 Die Argumente dafür, das Seelenleben des Kindes als geschütztes Interesse anzusehen, fielen mit dem Aufkommen der Entwicklungspsychologie zusammen, die postulierte, das Kind sei eine zerbrechliche und unvollständige Seele und ein sich noch entwickelnder Körper. Vordenker der deutschen Entwicklungspsychologie im späten 19. Jahrhundert wie William Thierry Preyer, William Stern und Clara Stern stützten ihre Entwicklungstheorien auf die genaue Beobachtung ihrer eigenen Kinder und brachten diese durch „Baby-Biografien“ zum Ausdruck, welche die bürgerliche Baby- und frühe Kindheitserfahrung vereinheitlichten.37 Preyers „Die Seele des Kindes“ (1882) und das mehrbändige Werk „Monographien der Entwicklung der Kinderseele“ (1907) von den Sterns stellten ein tief psychologisches Kind dar, dessen normative Entwicklung stufenweise erfolgte. Diese Stufen standen in Verbindung mit dem sozialen Milieu, d. h. das Umfeld des Kindes prägte den „natürlichen“ Prozess der intellektuellen Entwicklung des Kindes.38 Die Betonung der exogenen Faktoren bei der menschlichen Entwicklung erhöhte den Druck auf Eltern, ein Umfeld zu schaffen, in dem Kinder zu idealen Erwachsenen heranwachsen konnten.

wurfs eines Gesetzes, betreffend Änderung des Strafgesetzbuchs; Fortsetzung und Schluss der ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend Änderung des Strafgesetzbuchs; Harmsen, S. 5; Mulert, Seelische Kindermißhandlung, S. 434–435. 35  Duensing, S. 60. 36  Finger, S. 349. 37  Brian, Family. 38  Brian, Kinderland, S. 113–130; Eßer, Hybrid, S. 67–97; Gebhardt, S. 40–41.

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Ein Bereich, in dem man diesen Einfluss sehen kann, ist das andere für den Kinderschutz wichtige geschützte rechtliche Interesse: die Ehre. Eine Verletzung der Ehre ist natürlich nicht gleichzusetzen mit körperlichem Schmerz. Allerdings verwies sie auf ein inneres Selbstbild und soziales Wohlbefinden. Im 19. Jahrhundert wurde Ehre als eine Art kulturelles Kapital angesehen, ein von der Gesellschaft anerkannter Besitz, der dem Menschen Status und sozialen Wert verlieh.39 Rechtsgelehrte waren sich einig, dass Kinder Ehre besaßen, die beleidigt oder beschädigt werden konnte, wie festgelegt in § 185 des RStGB (Beleidigung). Uneinig waren sie sich jedoch über das Alter, in dem Kinder dieses gesetzlich geschützte Interesse erlangten, und darüber, wie sie es erlangten, obwohl das Reichsgericht entschied, dass selbst sehr junge Kinder, die sich eines Affronts gar nicht bewusst waren, das Opfer einer Ehrenkränkung sein konnten.40 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das „Ehrgefühl“ eine zusätzliche Bedeutung erlangt, nämlich die des Selbstwerts oder der Selbstachtung. Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James prägte den Begriff „self-esteem“ (Selbstwertgefühl) erstmals im Jahr 1892, um die Eigenschaft der Selbstachtung zu beschreiben, die es Individuen erlaubte, in der sozialen Welt unabhängig und kreativ zu handeln. Das Selbstwertgefühl wurde zwar erst in den 1950er Jahren zu einem institutionalisierten Ziel von Schulbildung, aber in den 1920er und 1930er Jahren hatten Psychologen die Vorstellung des Selbst und die Notwendigkeit des Selbstwertgefühls des Kindes für seinen persönlichen Erfolg bereits bekannt gemacht.41 Schon lange vor dem Ersten Weltkrieg beinhalteten Studien zu den erschreckend hohen Selbstmordraten deutscher Kinder Untersuchungen über Verletzungen des Selbstwertgefühls eines Kindes.42 Der Pädagoge Kaspar Bodenstein warnte 1899, dass das Ehrgefühl (im Gegensatz zum Ehrgeiz) des Kindes sorgfältig gepflegt werden müsse, um eine ordnungsgemäße psychologische Entwicklung zu gewährleisten. Das Ehrgefühl ist das gesellschaftliche Selbstgefühl. […] Das Ehrgefühl ist die Erweiterung des Selbstgefühls; es ist das Gefühl, das sich in uns regt, wenn jene Selbstschätzung auch von der uns umgebenden Gesellschaft, also von anderen Personen anerkannt oder nicht anerkannt wird.43

Übermäßige körperliche Züchtigung untergrabe die Entwicklung eines gesunden Ehrgefühls des Kindes; stattdessen solle eine gesunde Entwicklung 39  Kesper-Biermann

u. a.; Speitkamp; Frevert; McAleer. S. 25. 41  Stearns, S.107. 42  Eulenburg; Baartman. 43  Bodenstein, S. 6. 40  Itin,



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durch moderates Belohnen und Lob gefördert werden, das zu einem starken Selbstverständnis führt, ohne Ehrgeiz hervorzurufen.44 Solche Mahnungen zur normativen Entwicklung des Ehrgefühls hatten einen nachweisbaren Einfluss auf Rechtsgelehrte. Der Jurist Erich Wulffen, Autor der weitverbreiteten Werke „Der Sexualverbrecher“ (1910) und „Das Weib als Sexualverbrecherin“ (1923), zitierte Bodenstein ausführlich in ­seinem 1913 erschienenen Buch über die „Entartung“ von Kindern.45 Laut Wulffen kann eine unangemessene Pflege des Ehrgefühls bei Kindern zu von der Norm abweichendem Verhalten führen.46 Raissa-Rosa Itin erklärte 1913 in ihrer Dissertation an der Universität Heidelberg, dass junge Leute wegen Verletzungen ihrer Ehre Selbstmord begingen. Indem sie die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts über die Empfindungsunfähigkeit des Kindes umkehrte, argumentierte Itin, dass Kinder „weit intensiver“ fühlten als Erwachsene und dass sie weniger „Hemmungskraft“ besäßen.47 Das Ehrgefühl des Kindes sei demzufolge mehr als eine bürgerliche Anpassung an die aristokratische Ehrkultur. Vielmehr sei sie eine tief psychologische Eigenschaft, die sowohl angeboren als auch erlernt worden sei und eine sorgfältige Pflege erfordere. Verfechter des Kinderschutzes argumentierten, dass der Paragraph zur Beleidigung (§ 185 RStGB) genauso wenig ausreichend sei, um die Interessen des Kindes zu schützen, wie die Änderung des Paragraphen zur Körperverletzung von 1912.48 Die neuen pädagogischen und psychologischen Modelle zur Kindesentwicklung kippten die Unterscheidung zwischen Ehre und körperlicher Unversehrtheit, und Protektionisten benutzten diese Modelle, um sich für neue strafrechtliche Bestimmungen stark zu machen. Als Justizminister Oskar Hergt im September 1927 jedoch den Vorschlag der Regierung auf ein reformiertes Strafgesetzbuch präsentierte, änderte der neue Paragraph zur Kindesmisshandlung (§ 265 des Antrags) diese Betonung der körper­ lichen Interessen des Kindes nicht wesentlich. In dem Antrag hieß es: „Wer [eine junge oder wehrlose Person unter seiner Obhut] grausam oder in der Absicht, sie zu quälen, oder durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen, eine Körperverletzung begeht, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.“ Der Antrag sah auch Strafen für besonders schwerwiegende Fälle vor.49 Jugendschützer und Experten für Jugendkriminalität begrüßten die Aufnahme des „Quälens“ in den Antrag, bestanden aber 44  Bodenstein,

S. 25. S.134–136. 46  Wulffen, S. 132. 47  Itin, S. 28. 48  Itin, S. 28. 49  Entwurf eines allgemeinen Strafgesetzbuch, 1927. 45  Wulffen,

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dennoch darauf, dass der Antrag des Justizministeriums nicht weit genug gehe. Anknüpfend an Frieda Duensings Gesetzesvorschriften für seelische Misshandlung schlugen die „Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe“ und die „Deutsche Zentrale für Jugendwohlfahrt“ eine alternative Formulierung vor, die jeden als Gesetzesübertreter definierte, der ein Kind „roh mißhandelt oder körperlich oder in anderer Weise quält oder durch böswillige Vernachlässigung an der Gesundheit schädigt“.50 Die Forderung der Protektionisten nach der Kriminalisierung von seelischer Misshandlung ging mit einem zunehmend umsichtigen Umgang mit körperlicher Züchtigung einher. Die „Deutsche Zentrale für freie Jugendwohlfahrt“ zum Beispiel beschloss 1928, die hohe Anzahl an gemeldeten Fällen von Kindesmisshandlung durch Erzieher anzuzeigen, und verlangte alternative Methoden, die „die Persönlichkeit des werdenden Menschen“ miteinbezogen.51 Im gleichen Jahr, gerade als die Reform des Strafrechts in Gang gesetzt worden wäre, erließ der Kultusminister von Preußen eine neue Bestimmung zur Regelung und Begrenzung von Strafmaßnahmen in der Schule. Die Vorsitzende des „Vereins zum Schutz der Kinder“, Magdalene Mulert, schrieb in dem Rundbrief ihrer Organisation, dass die Bestimmungen keinerlei Auswirkung auf die Praxis von körperlicher Züchtigung haben würden. Auf den Punkt gebracht warnte sie: „Körperliche Züchtigung als roher Eingriff in die Kindesseele, der Ewigkeitswerte vernichtet, ist die Form unter der dieses Erziehungsmittel weitaus am häufigsten auftritt.“52 In ihrer Gedankenführung kehrte sie frühere Argumente um, in denen Jugendkriminalität körperliche Züchtigung rechtfertigte. Kinder aus „ein[em] unglückliche[n] häusliche[n] Milieu“ könnten vollkommen zerbrechen, wenn sie in der Schule geschlagen würden, und dann zu einer Last für die Gesellschaft werden.53 Laut Mulert litten die Kinder, die der „Verein zum Schutz der Kinder“ unter seine Obhut genommen hatte, „überwiegend an schweren seelischen Störungen, hervorgerufen durch Angstzustände infolge von körperlichen Züchtigungen“.54 Demzufolge sei es das Beste, die Prügelstrafe vollständig 50  Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe / Deutsche Zentrale für freie Jugendwohlfahrt, S. 5. Es gab prominente Rechtsgelehrte, die die Kriminalisierung von seelischer Misshandlung ablehnten. Gustav Radbruch z. B. sagte, dass kein Richter in der Position sei, über die psychologische Entwicklung von Kindern zu entscheiden; es sei deshalb besser, sich auf feststellbare körperliche Merkmale zu konzentrieren, die ein Richter selbst beobachten könne, s. Radbruch; von Levetzow, S. 61–73. 51  Entschließung der Zentrale für freie Jugendwohlfahrt zur Prügelstrafe, in: Mitteilungen des deutschen Kinderschutz-Verbands e. V., N. F. 1 (1929), S. 5. 52  Mulert, Prügelstrafe und Mißhandlung, S. 31. 53  Mulert, Prügelstrafe und Mißhandlung, S. 31. 54  Mulert, Prügelstrafe und Mißhandlung, S. 32.



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abzuschaffen. Diese Kritik an körperlicher Bestrafung war eine Überraschung für die früheren Vorsitzenden der Organisation, die zwar der Ansicht waren, dass schlechten Eltern und untauglichen Lehrern kein Züchtigungsrecht gewährt werden solle, aber die generelle Notwendigkeit dieser Praxis kaum in Frage stellten.55 Zwar wich Mulert an anderen Stellen von einer solch deutlichen Forderung nach Abschaffung der Prügelstrafe zurück56, aber sie bestand durchgängig darauf, dass körperliche Züchtigung eine ernstzunehmende Gefahr für das Wohlbefinden von Kindern darstellte, und damit auch für den Rest der Gesellschaft.57 In der Zwischenzeit, mitten in den politischen Krisen der späten 1920er Jahre, verzögerten sich die Debatten des Reichstags bezüglich der Strafrechtsreform, und es waren die Nationalsozialisten, die im Mai 1933 eine Änderung des Paragraphen als „Notmaßnahme“ beschlossen. Der abgeänderte § 223b RStGB, der der einige Jahre zuvor von der „Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe“ und der „Deutschen Zen­ trale für Jugendwohlfahrt“ vorgeschlagenen Formulierung sehr ähnlich war, stellte nun eine grausame und brutale Behandlung, Qual und boshafte Vernachlässigung unter Strafe. Das Gesetz ermöglichte es den Gerichten jedoch immer noch, ihre Entscheidungen auf Schäden für das körperliche Wohl des Kindes zu beschränken. Tatsächlich passte § 223b RStGB nie sehr gut in die Paragraphen zur Körperverletzung. Aus diesem Grund beschloss das NSRegime 1943 eine erneute Revision des Gesetzbuches (§ 170b RStGB), die Schäden im Hinblick auf die körperliche oder seelische Gesundheit einer geschützten Person unter Strafe stellte. Es ist in der Tat interessant, dass den Nationalsozialisten gelang, woran die Weimarer Republik gescheitert war: strafrechtlichen Schutz für Kinder zu veranlassen. IV. Fazit Obwohl diese Reformen die Wahrnehmung des Opfers nicht als Element des Verbrechens berücksichtigten, stellten sie, wie Wilfried Küper argumentiert hat, keine Rückkehr zum Status quo ante dar.58 Wie das Vorangegangene gezeigt hat, gründete sich die Kriminalisierung von Kindesmisshandlung im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts auf eine (Re-)Konstruktion 55  von

Oertzen. Prügelstrafe und Kindermißhandlung. Der Artikel war eine fast wört­ liche Wiederveröffentlichung des im Oktober 1928 erschienenen Artikels, wobei jedoch die offenkundigen Forderungen nach der vollständigen Abschaffung entfernt wurden. 57  Mulert, Züchtigung. 58  Küper, S.  254 f. 56  Mulert,

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des Kindes als Rechtsobjekt und Rechtssubjekt, wenn auch nicht im Gesetz, so doch in der Rechtskultur. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit eines Rechtssubjekts, d. h. einer Person, die geschützte rechtliche Interessen besitzt, wurde eingeschränkt durch das (zunehmend in Frage gestellte) Züchtigungsrecht der Eltern. Gleichzeitig erforderte das Verwischen der Grenzen zwischen dem körperlichen Wohlbefinden des Kindes und seiner seelischen Gesundheit, juristisch ausgedrückt als Ehrgefühl, eine Ausweitung der im deutschen Gesetz und der deutschen Rechtsprechung so lange fest verankerten Trennung zwischen Körper und Seele. Wir sehen hier den Einfluss der Kinderpsychologie und Reformpädagogik auf das Strafrecht, wobei das Strafgesetz den Erkenntnissen der Sozialwissenschaft wie so oft eher langsam folgte. Diese Restrukturierung der Interessen des Kindes geschah nur partiell und unvollständig, zum Teil, weil die neuen Vorstellungen über Kindesentwicklung geprägt waren von Bedenken über eine mögliche pathologische Entwicklung, die sich in für die Gesellschaft bedrohlicher Jugendkriminalität äußern konnte. In der Tat bekundeten einige Rechtsgelehrte und Teile der Öffentlichkeit erneutes Interesse, die körperliche Züchtigung zu rechtfertigen, genau zu dem Zeitpunkt, als Jugendwohlfahrtsinstitutionen in der Ex­ tremsituation des Krieges und am Ende der Weimarer Republik in der Krise steckten.59 Wie Erich Wulffens Bedenken hinsichtlich „entarteter“ Kinder verdeutlicht, wurde das Projekt, Kinder vor seelischer Misshandlung zu bewahren, nicht weniger aus der Notwendigkeit vorangebracht, die Gesellschaft vor „asozialen“ Individuen zu schützen als auch durch die liberale Vorstellung von dem Individuum als Wesen, dem Rechte zustehen.60 Körperliche Bestrafung und der Schmerz des Kindes waren demzufolge gleichzeitig die Krankheit und das Heilmittel und blieben noch für Jahrzehnte ein umstrittener Bestandteil der deutschen Gesellschaft, wenn auch nun mit einer unbestimmteren Grundlage. Eine letzte Beobachtung: Die Anerkennung des inneren Ichs des Kindes war in einigen Punkten nicht befreiend. Im Gegenteil, sie erforderte zunehmende Fürsorge und Aufsicht auf Seiten der Eltern, was zu dem führte, was Miriam Gebhardt in den 1930er Jahren in ihrer Untersuchung über Elternratgeber als „das kontrollierte Kind“ bezeichnete, und was Peter Stearns später im amerikanischen Kontext „anxious parenting“ (ängstliche Erziehung) genannt hat.61 Der Sinn des Elternseins änderte sich von dem Zufügen von Schmerz zum Behandeln desselben. Johanna Haarer, eine der führenden Er59  Harvey;

Dickinson; Peukert, Jugend; Peukert, Grenzen. Spannung zwischen dem „liberal-individualistischen“ und dem „organischstatischen Modell“ von Kinderwohlfahrt s. Dickinson, Politics. 61  Gebhardt, S. 69; Stearns, Parents, S. 1–12. 60  Zur



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ziehungswissenschaftlerinnen der NS-Zeit, empfahl, Kindern beizubringen, Schmerzen auszuhalten, anstatt sie dem Kind zuzufügen, um ihm anständiges Verhalten beizubringen.62 Der neue Schwerpunkt auf der Innerlichkeit des Kindes und die Beachtung des kindlichen Schmerzes führten also nicht zur Ermächtigung des Kindes, d. h. zu einem rechtlichen oder sozialen Subjekt, das seinen eigenen Erfahrungen Gehör verschaffen konnte. Im Gegenteil, das Kind des 20. Jahrhunderts war noch abhängiger als zuvor.63 Und diese Abhängigkeit brachte eine Reihe anderer Probleme mit sich. V. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Bericht der 7. Kommission zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes, betreffend Änderung des Strafgesetzbuchs, in: Verhandlungen des Reichstages 275 (1911), S. 2073. Bodenstein, Kaspar: Das Ehrgefühl der Kinder, Langensalza 1899. Bosse, S. / o. A.: Strafverfolgung eines Lehrers wegen Überschreitung des zulässigen Malses der körperlichen Züchtigung, in: Gesundheit und Erziehung 12 (1899), S. 672–673. Deutsche Zentrale für freie Jugendwohlfahrt / Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen: Kindermißhandlung. Vorschläge zur Strafrechtsreform, Berlin 1928. Deutsche Zentrale für freie Jugendwohlfahrt / Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen: Schutz der Jugend, Berlin 1927. Duensing, Frieda: Verletzung der Fürsorgepflicht gegenüber Minderjähriger. Ein Versuch zu ihrer strafgesetzlichen Behandlung, München 1903. Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 19. Entschließung der Zentrale für freie Jugendwohlfahrt zur Prügelstrafe, in: Mitteilungen des deutschen Kinderschutz-Verbands e. V., N. F. 1 (1929), S. 5. Entwurf eines allgemeinen Strafgesetzbuch, 1927, in: Verhandlungen des deutschen Reichstags 417 (1927), S. 32, URL: http: /  / www.reichstagsprotokolle.de / Blatt2_ w3_bsb00000099_00577.html, Aufruf zuletzt am 27.2.2014. Eulenburg, Albert: Schülerselbstmorde. Vortrag gehalten in der gemeinnützigen Gesellschaft zu Leipzig am 16.3.1909, Leipzig 1909. Feuerbach, Paul Johann Anselm: Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen, Ansbach 1832.

62  Gebhardt, 63  Stearns,

S. 123. Childhood, S. 158–161.

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Kinder und Trauma. Zur wissenschaftlichen Konzeptionalisierung von kindlicher Kriegs- und Gewalterfahrung seit dem 19. Jahrhundert Von Stefan Grüner I. Einleitung „Man überlebt nicht alles, was man überlebt.“1 (Ilse Aichinger, 1997)

Seit die American Psychiatric Association im Jahr 1980 die Kategorie der sogenannten „Posttraumatic Stress Disorder“ (PTSD) in ihren weltweit anerkannten Katalog mentaler Störungen aufgenommen hat, entwickelte diese sich zur wohl „am schnellsten anwachsenden und einflussreichsten Diagnose in der amerikanischen Psychiatrie“. In den USA vorwiegend aus der Auseinandersetzung mit den kriegsbedingten psychischen Beeinträchtigungen von Veteranen des Vietnamkriegs entstanden, erfuhr die „posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) seither auch in Europa erhebliche wissenschaftliche Beachtung und mediale Aufmerksamkeit.2 Diese breite Akzeptanz des Traumakonzepts markiert den vorläufigen Stand einer wissenschaftlichen Debatte, die ihren Anfang im 19. Jahrhundert nahm und bis heute weitest reichende Folgen hatte. Sie beeinflusste vorherrschende Körperbilder, prägte die Neufassung des Gewaltbegriffs in den Humanwissenschaften und trug dazu bei, Formen der psychischen Verwundung und des Schmerzes von Menschen besser verstehen zu lernen, die sich nach gängigen Definitionen von psychischem Trauma infolge „plötzlicher oder anhaltender bedrohlicher, extrem ängstigender oder auswegloser Ereignisse“3 einstellten – die seelischen Folgen also einer Diskrepanzerfahrung zwischen extremer Bedrohung und dem Gefühl „schutzloser Preisgabe“, welche eine „dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“4. Die Durchsetzung des 1  Aichinger,

S. 56. S. 3. 3  Eckart / Seidler, S. 7. 4  Fischer / Riedesser, S. 84. 2  Lerner / Micale,

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Traumakonzepts entfaltete somit Konsequenzen, die deutlich über die Fachdiskurse der damit befassten Disziplinen hinausreichen. Der vorliegende Beitrag wird den Entwicklungslinien dieser international geführten Debatten anhand wichtiger medizinischer, psychologischer und psychiatrischer Forschungsbeiträge nachgehen und erstmals das besondere Augenmerk auf den Stellenwert von Kindern darin richten. Dabei sind insbesondere zwei historisch miteinander verknüpfte wissenschaftliche Paradigmenwechsel, deren sachliche Verbindung und zeitliche Staffelung näher zu betrachten. Gemeint ist zum einen der Wandel vom somatisch zum psychisch konnotierten und schließlich soziologisch untermauerten Traumabegriff5, zum anderen dessen generationelle Erweiterung über die Fokussierung auf erwachsene Gewaltopfer hinaus: Die konzeptionelle Integration von Kindern war eng mit einem Umbau von gesellschaftlich und fachwissenschaftlich wirksamen Deutungsmustern von kindlichem Seelenleben verknüpft, die sich in einem jahrzehntelangen Prozess von der vorherrschenden Annahme defizitärer kindlicher Sensibilität bis hin zum Postulat der besonderen psychischen Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit von Kindern wandelten. In seinem zeitlichen Verlauf erstreckte sich dieser doppelte Paradigmenwandel vom 19. Jahrhundert bis an die Schwelle des neuen Jahrtausends. Kindern billigte die medizinisch-psychologische Fachwelt dabei erst nach 1945, breiter akzeptiert seit den 1980er Jahren hinreichend ausgereifte kognitive und psychische Voraussetzungen für die Ausbildung posttraumatischer Störungen zu. Die individualpsychologischen wie die generationell wirksamen Zusammenhänge, die dieser Einsicht zugrundeliegen, werden seither immer deut­ licher sichtbar. So wuchs im Grunde erst während der letzten Jahrzehnte in den medizinischen und psychologischen Fächern, in den Geisteswissenschaften und in der medialen Öffentlichkeit die Sensibilität für die vielfach lebenslangen, generationenübergreifenden Folgen von Belastungen und Traumata im Kindesalter. Ilse Aichinger, die als Kind, Jugendliche und junge Erwachsene wegen ihrer jüdischen Herkunft jahrelange Verfolgung und ­Lebensgefahr erdulden und 1942 den Abtransport der geliebten Großmutter miterleben musste, kann wie manch andere ihrer Generation für Versuche des künstlerischen Umgehens mit dem kaum Darstellbaren stehen – für den Versuch auch, seelische Verwundungen jenseits aller wissenschaftlichen Abstraktion literarisch auf den Begriff zu bringen. Es waren dann aber doch auch fachwissenschaftlich geführte Debatten, die neben Filmen, Literatur und bildender Kunst dem Traumakonzept zu breiter Akzeptanz bis hin zum Eingang in die Umgangssprache verholfen haben, indem sie unter anderem die Erfahrungen von Veteranen des Vietnamkriegs, von Überlebenden der Shoah und 5  Dazu immer noch umfassend die Pionierstudie von Esther Fischer-Homberger, s. Fischer-Homberger, Neurose.



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ihrer Nachkommen, von „Kriegskindern“ des Zweiten Weltkriegs oder von Opfern erzwungener Migration seit 1945 thematisierten. Im Ansatz bahnten sie damit auch erweiterten Sichtweisen unter anderem auf die europäischen Nachkriegsgesellschaften den Weg, die in der Historiographie mit Gewinn aufgegriffen werden konnten (und weiterhin könnten): so etwa hinsichtlich der „intergenerationellen Verwerfungen“ der Nachkriegsjahrzehnte oder latenter Formen von gesellschaftlicher Fragilität, die hinter den spätestens seit den 1950er Jahren äußerlich stabilisierten Lebensverhältnissen fortbestanden.6 Angesichts dieses sachlich-chronologischen Hintergrunds liegt es nahe, den Betrachtungszeitraum zum Thema nicht auf das kalendarische 20. Jahrhundert zu beschränken. Dieser Beitrag legt daher ein „langes“ Jahrhundert zugrunde, wie es etwa dem Epochenkonzept der „klassischen Moderne“7 entspricht. So gesehen kam es seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nicht nur zur Durchsetzung der industriewirtschaftlichen „Hochmoderne“, sondern annähernd gleichzeitig auch zum Beginn der systematischen Erforschung ihrer Auswirkungen auf die menschliche Psyche.8 Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht der deutschsprachige Raum. Da die Geschichte des Traumakonzepts jedoch zweifellos nur im internationalen Rahmen zu begreifen ist, richten sich vergleichende und kontextualisierende Seitenblicke insbesondere nach Frankreich und in die USA. Eine systematische Vergleichs- und Transfergeschichte wird hier indes nicht angestrebt und muss künftigen Arbeiten vorbehalten bleiben. Impulse und Beiträge zur Beschreibung der psychischen Folgen von Gewalterfahrungen kamen seit den 1860er Jahren aus der Körpermedizin, insbesondere der Neurologie, aus der Psychiatrie sowie der Psychoanalyse; heute finden zudem neurobiologische Ansätze starke Beachtung. Im Grunde jedoch erst seit den 1980er Jahren hat sich das Fachgebiet „Psychotraumatologie“ etabliert. Die Publikation gewichtiger Lehr- und Handbücher, die Gründung von gelehrten Gesellschaften und Zeitschriften oder auch die Einrichtung klinischer Arbeitseinheiten und Ambulanzen zeugen von der Durchsetzung eines neuen Paradigmas und markieren den Anspruch auf wissenschaftliches Gehör und therapeutische Wirksamkeit.9 Noch zurückhaltender als die klinischen Fächer haben sich die Medizinund Psychiatriegeschichte sowie die allgemeine Historiographie dem Themenfeld angenähert. Abgesehen von einzelnen Vorläuferstudien hat die Er6  Radebold

u. a., S. 9. Herbert; dazu auch Raphael. 8  Lerner / Micale, S.  10 f. 9  Vgl. etwa Fischer / Riedesser; Seidler, Lehrbuch; Seidler u. a. 7  Peukert;

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forschung der Geschichte des Traumakonzepts erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts an Fahrt aufgenommen. Seither entstanden zahlreiche Arbeiten vorwiegend medizinhistorischer Provenienz, die sich mit Blick auf die medizinische Ideen- und Institutionengeschichte mit der Anwendung von Traumakonzepten und deren Vorläufern auf Erwachsene beschäftigen.10 Die Frage, inwieweit Kinder als Traumaopfer in der medizinisch-psychologischen Forschung konzeptionell erfasst wurden, hat die (medizin-)historische Forschung jedoch bislang nur vereinzelt in systematischer Weise und dabei vorwiegend mit Blick auf die Geschichte des Holocaust gestellt.11 Dies gilt auch für die Literatur- und Kunstwissenschaften, sofern man sich mit den künstlerischen Repräsentationsformen von psychischen Kriegsfolgen beschäftigte. In der Philosophie und Kulturtheorie bzw. in den Film- oder Musikwissenschaften findet sich der Traumabegriff hingegen vorwiegend als universal gedachtes Deutungsmuster von Geschichte thematisiert; gelegentlich erscheint er auch als entgrenzte Metapher unterschiedlichsten Inhalts oder gar als Schlüsselbegriff der Moderne, insbesondere für ihre als beklemmend, unbeherrschbar und das menschliche Belastungsvermögen überfordernd empfundenen Dimensionen.12 Dieser Text begibt sich an eine Schnittstelle der medizinisch-psychologischen Wissenschaftsgeschichte und der Kinderforschung, berührt damit aber auch Aspekte der Verbreitung von psychologischem Wissen in westlichen Industriegesellschaften13 oder des Wandels von Gefühlskulturen.14 Dazu wird im Folgenden zunächst der Wandel des diagnostischen Konzepts „Trauma“ von der physischen zur psychischen Kategorie (II.), dann die ambivalente Rolle Sigmund Freuds in der Frühgeschichte der – kindbezogenen – Traumatheorie darzustellen sein (III.). Der ideologisch getönte Verlust und der Wiedergewinn psychotraumatologischen Wissens im Zeitalter der beiden Weltkriege und des Holocaust wird in den Abschnitten IV. und V. näher zu beleuchten sein, um schließlich die wachsende Anerkennung des „verletzbaren Individuums“ im Zeichen der Ausweitung des Traumabegriffs seit den späten 1960er Jahren (VI.) und die späte Einbindung kindgerichteter 10  Seidler, Wege; Trimble; Healy; van der Kolk u. a., History; Sachsse u. a.; Fischer-Homberger, Medizingeschichte; Leys; Bohleber, Entwicklung; Micale / Lerner; dem wachsenden Interesse entspricht es, dass eine bereits 1975 erschienene, wegweisende Untersuchung knapp drei Jahrzehnte später in Neuauflage publiziert wurde, s.  Fischer-Homberger, Neurose; Seidler / Eckart; Lasiuk / Hegadoren; van der Kolk; Kloocke u. a., Ereignisse; Heim / Bühler. 11  Vgl. etwa Zalashik. 12  Vgl. etwa Reinhäckel; Caruth; Bronfen u. a. 13  Vgl. zu diesem neuen Forschungsfeld v. a. Maasen u. a.; Tändler / Jensen, Anpassung; Tändler. 14  Im Überblick s. Plamper.



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Gewalt (VII.) in den Blick zu nehmen. Ein Fazit (VIII.) wird die erarbeiteten Befunde bündeln. II. Vom physischen zum psychischen Traumabegriff Bis in die Gegenwart besteht in der medizinisch-psychologischen Forschung keine einheitliche Traumatheorie. Vielmehr koexistiert eine Anzahl von theoretischen Zugängen und therapeutischen Ansätzen, deren Vielfalt die Komplexität traumatisierender Prozesse und die Probleme der Begriffs- und Theoriebildung ebenso bezeichnet wie die wissenschaftsgeschichtlichen Pfad­ abhängigkeiten, die sich im Verlauf von etwas mehr als 150 Jahren „Traumaforschung“ herausbildeten. Unter anderem ist nach wie vor umstritten, ob Erinnerungen an traumatisierende Erlebnisse durch das menschliche Bewusstsein in besonderer Weise verarbeitet werden. Das betrifft vor allem den Fragenkreis, ob es ein „traumatisches Gedächtnis“ gibt, in dem die Erinnerungsbildung vornehmlich in Form von Empfindungen, Gerüchen, Geräuschen oder Bildern stattfindet, welcher Wahrheitsgehalt solchen Formen der stark affektbesetzten Enkodierung und damit der Erinnerungsarbeit von Traumaopfern zuzuschreiben ist und welche Folgerungen für therapeutische Ansätze daraus zu ziehen sind. In relativer Häufigkeit finden sich in jüngeren theoretischen Ansätzen jedoch drei Gruppen von Symptomen beschrieben, die wohl den Kern eines aktuell weithin akzeptierten, empirisch geschöpften – in historischer Betrachtung gleichwohl als Ergebnis einer gesellschaftlich beeinflussten wissenschaftlichen Übereinkunft erkennbaren, in diesem Sinne also konstruierten – Traumakonzepts bezeichnen: die Wiederkehr von fragmentierten, verstörenden Erinnerungen, Alpträumen oder „Flashbacks“, deren Auftreten den Patienten ein erhebliches Maß an kognitiver und emo­ tionaler Energie abverlangt und davon zeugt, dass es den Betroffenen nicht möglich ist, das traumatische Erleben mit Bedeutung zu belegen und so zu integrieren; sogenannte „dissoziative“ Symptome, also Formen der Abspaltung des Bewusstseins vom Körper, der emotionalen Taubheit oder des „eingefrorenen“ Raum-Zeit-Gefühls, die es den Betroffenen erlauben, dem bedrohlichen Geschehen gewissermaßen „von außen“ zuzusehen, was freilich um den Preis einer grundlegenden Veränderung der eigenen Selbst- und Fremdwahrnehmung geschieht; schließlich Symptome der Übererregbarkeit wie Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten oder hohe Reizbarkeit, in denen sich das Gefühl fortdauernder Bedrohung manifestiert und zu verstetigen droht.15 An der Vielzahl von seelischen und körperlichen Folgen 15  Vgl. dazu im jüngeren Überblick etwa Brewin / Holmes, bes. S. 345; Bohleber, Entwicklung, S. 825–833. Vgl. zu den Symptombeschreibungen etwa Frommberger u. a.; Frommberger.

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psychischer Traumata, an dem erheblichen Leidensdruck und an der massiven Einschränkung von Lebenschancen auf Seiten der Betroffenen, die hier nur angedeutet werden können, kann jenseits aller gelehrten Auseinandersetzungen kein Zweifel bestehen. Die Vorläufer des modernen Traumakonzepts sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu suchen. Bei seiner frühen Entfaltung spielte das wissenschaftliche Interesse an psychischen Erkrankungen von Kindern allerdings keine zentrale Rolle, vielmehr standen allgemein- und rechtsmedizinische Nutzanwendungen im Vordergrund, die vornehmlich auf erwachsene Patienten zielten. In diesem Zusammenhang kam es zur allmählichen Erweiterung des Traumabegriffs von der ursprünglichen Bezeichnung einer sichtbaren körperlichen Wunde hin zur psychischen Verletzung. So finden sich seit den 1860er Jahren in der angloamerikanischen, französischen und deutschen medizinischen Literatur vermehrt Fälle thematisiert, in denen Menschen zu Leidtragenden von physischer Gewalteinwirkung oder mentaler Erschütterung geworden waren, ohne dass die erheblichen somatischen und psychischen Folgewirkungen in einem unmittelbar nachvollziehbaren kausalen Verhältnis zu den sichtbaren Verletzungen gestanden hätten. Es waren zunächst vor allem die Opfer von Eisenbahn- und Arbeitsunfällen, die das Interesse von Neurologen auf sich zogen. Anknüpfend an zahlreiche Fälle von Schmerzen und Lähmungen schwer definierbarer Herkunft, von Mattigkeit, Ängstlichkeit, Schlaf-, Konzentrations- und Wahrnehmungsstörungen, Reizbarkeit oder verschiedensten Formen körperlicher und geistiger Beeinträchtigung bei unfallgeschädigten Zugreisenden beschrieb der englische Chirurg John Erichsen (1818–1896) die Symptomatik der „Spinal concussion“ und erntete damit nicht nur fachwissenschaftliche Unterstützung. In den international geführten Debatten stieß sich ein Teil der ärztlichen Kollegenschaft an Erichsens Annahme, wonach chronisch wirksame, entzündliche Prozesse im Rückenmark als Ursache der oft als „Railway Spine“ bezeichneten Symptomgruppe zu identifizieren seien. Neben anderen formulierte der Berliner Neurologe Hermann Oppenheim (1857–1919) eine alternative Deutung: Er hielt eine „durch Erschütterung hervorgerufene Funktionsstörung im Bereich des zentralen Nervensystems“ für wahrscheinlicher, betonte die Rolle des psychischen Schocks und postulierte ein neues, eigenständiges Erkrankungsbild der „traumatischen Neurose“.16 Mit diesem Diagnosevorschlag deutete sich bereits ein wissenschaftsgeschichtlicher Pfad an, der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von der rein körperlichen Verortung des Traumakonzepts wegführte. Indem Oppenheim bei der kausalen Herleitung des Krankheitsbildes die Annahme von „grobanatomische[n]“ oder auch nur „mikroskopisch nachweisbare[n] Veränderun­ 16  Erichsen;

Oppenheim, Neurose, S. 86.



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gen“17 ablehnte, leistete er einen wichtigen Beitrag dazu, die potentiell psychogene Natur körperlicher und seelischer Störungen in den Bereich des wissenschaftlich Sagbaren zu rücken. In dieser Hinsicht stand er nicht allein. Wie Oppenheim wies der einflussreiche französische Neurologe und Ärzt­ liche Direktor der Pariser Klinik „Hôpital de la Salpêtrière“, Jean-Martin Charcot (1825–1893), seit Mitte der 1880er Jahre darauf hin, dass körper­ liche Verletzungen offenkundig gar nicht nötig waren, um psychische Folgeerscheinungen äußerer Gewalteinwirkung zu erzeugen. Seiner Meinung nach lagen vielmehr autosuggestive Vorgänge in den Patienten an der Wurzel einschlägiger seelischer Krankheitszeichen. Diese ordnete er in den großen Formenkreis der Hysterie ein: Unfallbedingte Schockerlebnisse reichten aus, um bei den Betroffenen selbsthypnotische Zustände zu erzeugen, in deren Verlauf angstbeladene, pathogene Ideen entstehen und körperliche Symptome bis hin zu Lähmungserscheinungen provoziert werden konnten.18 Da noch um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Medizin keine klare Differenzierung zwischen organischen Nervenerkrankungen und Neurosen möglich war, blieb sowohl das Verhältnis zwischen psychischen und somatischen Störungen als auch die Einordnung der beobachteten Erkrankungen in den zeitgenössisch anerkannten Diagnosekanon heftig umstritten. Insbesondere die systematische Abgrenzung des jüngeren Konzepts der „traumatischen Neurose“ von der Symptomatik der „Hysterie“, wie sie Oppenheim anstrebte, konnte sich vor 1914 und auch noch während des Ersten Weltkriegs nicht durchsetzen.19 Auf die Implikationen dieses Scheiterns wird weiter unten einzugehen sein. Um die Wende zum 20. Jahrhundert jedenfalls waren traumatisch bedingte psychische Störungen mit Blick auf erwachsene Patienten bereits seit Jahrzehnten ein Thema vorwiegend der neurologischen Forschung, wo man sich um empirische Erfassung und theoretische Eingrenzung bemühte. Zugleich war im Laufe des 19. Jahrhunderts unter psychiatrisch orientierten Medizinern das Interesse an mentalen Erkrankungen im Kindesalter deutlich angewachsen. Im Verlauf eines jahrelangen Erkenntnisprozesses setzte sich die Einsicht durch, dass die entstehenden Diagnosekategorien einer Psychopathologie des Erwachsenen, also des mittleren Lebensalters, keineswegs unmittelbar auf vorangegangene Lebensphasen übertragen wer17  Oppenheim, Neurose, S. 125–127. Zum Werk Oppenheims s. Mennel u. a., S. 1–27; Kohl; Pech; Fischer-Homberger, Neurose, S. 11–36. 18  Zu Charcot s. u. a. Micale, Medicine. Zum beschriebenen Gesamtzusammenhang s. Caplan; Harrington; Fischer-Homberger, Medizingeschichte. Zur Begriffsgeschichte explizit s. Fischer-Homberger, Haut. 19  Lerner, Neurosis; zum gelehrten Streit über die traumatische Hysterie s. auch Lerner, Men, S. 27–39.

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den konnten. International verdichteten sich in der zweiten Jahrhunderthälfte die Bemühungen, eine altersspezifische Diagnostik zu entwickeln. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg gewann auf diese Weise die Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters in Deutschland zunehmend an Kontur, gelangte aber wie die allgemeine Psychiatrie, von deren Entwicklung sie eng abhing, noch nicht zu einer klaren Systematik der Krankheitsbilder. Im Vordergrund des fachlichen Interesses standen zunächst schwerere seelische Erkrankungen und Störungen wie Schwachsinn, Epilepsie, Psychosen oder auch sozial auffälliges Verhalten; das Feld der kindlichen Neurosen wurden vorwiegend unter dem Paradigma der „Hysterie“ thematisiert und konstruiert.20 Im Erkenntniszusammenhang dieses Beitrags sind vor allem die letztgenannten Ansätze von Bedeutung. Hier wurden sporadisch bereits Symptomkomplexe bei Kindern beschrieben, die nach aktueller Terminologie wohl als „akute Belastungsreaktionen“ oder psychosomatische Störungen zu diagnostizieren wären. Dass dabei vorwiegend das recht unspezifische und mittlerweile überholte Hysteriesyndrom als Bezugssystem diente, stellte im ausgehenden 19. Jahrhundert durchaus eine wissenschaftliche Innovation dar. Seit der Antike als psychische Störung beschrieben, die auf eine somatische Erkrankung der Gebärmutter zurückzuführen und daher in besonderer Weise bei Frauen anzutreffen sei, erfuhr das Hysterie-Konzept in den 1880er Jahren eine kontrovers diskutierte Erweiterung auf männliche Erwachsene und auch auf Kinder. Einige Protagonisten der neuen Sichtweise ließen sich dabei von der Annahme leiten, wonach die Beobachtung von Kindern vermehrt zu Aufschluss über die allgemeine Hysteriegenese führen könnte. Im Effekt führte das dazu, dass in den Fallbetrachtungen der Einfluss der individuellen Lebensgeschichte der jungen Patientinnen und Patienten, ihre familiäre Umgebung oder das gegebene soziale Milieu systematischer einbezogen wurden. So machte etwa Friedrich Jolly, seit 1875 Ordinarius an der Reichsuniversität Straßburg und ab 1890 Leiter der psychiatrischen Klinik der Charité in ­Berlin, soziale Faktoren wie Armut und materielle Entbehrung, aber auch allzu betagte oder emotional instabile Eltern für „hysterische“ Reaktionen bei Kindern mitverantwortlich.21

20  Zu den ersten umfassend angelegten Lehrbüchern der Kinderpsychiatrie zählten Emminghaus; Ziehen. 21  Zum historischen Hintergrund und zur psychiatrischen Kasuistik des 19. Jahrhunderts, bezogen auf Kinder und Jugendliche, s. Nissen, S. 128–185, bes. 164–169, S. 217 f. (Jolly), S. 270–275 (Henoch, Bruns). Speziell zum Themenkreis der Hysterie bei Kindern s. Briquet; Smidt; Jolly; Sachs; Bruns; Bézy. Aus medizinhistorischer Sicht hierzu Kloë; Kloë / Kindt; Barbas. Aus der umfangreichen Literatur zur Ideenund Medizingeschichte der Hysterie seien herausgegriffen Weickmann; Bronfen; Micale, Disease; Micale, Men; Edelman.



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Auch der Doyen der internationalen medizinischen Hysterieforschung vor der Jahrhundertwende, Charcot, beschäftigte sich seit den 1870er Jahren und ab 1882 von seinem Pariser Lehrstuhl für „Maladies du système nerveux“ aus in breitem Ansatz mit klinischen Fallstudien zu diesem Themenfeld. Sowohl in eigenen Publikationen wie in Arbeiten aus seinem akademischen Umfeld finden sich neben Untersuchungen zu weiblichen und zunehmend männlichen Erwachsenen auch zahlreiche Fälle von „traumatischer Hysterie“ im Kindesalter. Es gelang dem bis dahin erfolgreichen Neurologen Charcot freilich nicht, das diffuse Erscheinungsbild von Symptomen wie Lähmungserscheinungen, Krämpfen, halbseitigen Sensibilitätsstörungen oder psychischen Ausnahmezuständen einer eindeutigen, materiell fassbaren Ursachenkette und damit Pathogenese zuzuordnen. Ein Wirkmechanismus, der oft bei Patientinnen und Patienten unter Hypnose zu beobachten war, ließ ihn vermuten, dass Vorstellungen und Suggestionen eine größere pathogene Rolle spielten als gedacht. Charcot und einige seine Schüler neigten daher dazu, psychischen und exogenen Faktoren mehr Stellenwert zuzugestehen: Die Mediziner der Pariser „Salpêtrière-Schule“ brachten die bei Kindern beobachteten Symptome in erster Linie mit ererbten Dispositionen, in zweiter Instanz aber auch mit den Folgen von erlittenen emotionalen oder physischen Schocks, schulischer Überlastung, körperlicher Misshandlung oder emotionaler Überforderung in Zusammenhang. Für eine systematischere Erfassung der Folgen von Gewalterfahrungen bei Kindern wurde das Konzept der kindlichen Hysterie jedoch nach 1900 kaum mehr verfolgt und erlangte zumal in Deutschland nur geringe Bedeutung.22 Tastende Begrifflichkeit und oftmals „irritierende Sprachverwirrung“23 kennzeichneten neben zunehmender taxologischer Schärfe, wachsendem wissenschaftlichen Anspruch und einer intensiv gepflegten Publikationskultur medizinischer Fallbeispiele den Entwicklungsgang der Kinderpsychiatrie und der psychologischen „Traumaforschung“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Allmählich wuchs in der medizinischen Fachwelt das Verständnis für die Psychogenie, also die seelische Begründung psychischer Erkrankungen auch und gerade im Kindesalter. Kinder wurden zum Subjekt systematischerer klinischer Forschung, und eine psychologisierende Erweiterung des Traumakonzepts war auch jenseits der Arbeiten von Jolly und Charcot etwa im Werk des lange vergessenen Pierre Janet (1859–1947) bereits erkennbar.

22  Charcot hat kein umfassendes theoretisches Werk hinterlassen, sondern seine Beobachtungen vorwiegend in kommentierten Fallstudien und daraus resultierenden Vorlesungen formuliert. Einschlägig ist hier u. a. Charcot, Leçons; Charcot, Vorlesungen. s. hierzu Micale, Idea, bes. S. 382–393; Evans; Micale, Salpêtrière; Bannour; Goetz u. a.; Didi-Huberman; Teyssou. 23  Nissen, S. 151.

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Von einer kindbezogenen Theorie psychischer Traumafolgen war man indes um 1900 noch weit entfernt. III. Sigmund Freud, die kindliche Psyche und die Anfänge der Traumatheorie Der Anteil Sigmund Freuds an der Konturierung der modernen Traumapsychologie auch mit Blick auf Kinder ist heute unumstritten, zeigt aber außerordentlich ambivalente Züge. Freud interessierte sich nicht in erster Linie für die Erforschung der Kindheit als Lebensphase oder die therapeutische Arbeit mit Kindern. Über seine gesamte wissenschaftliche Laufbahn hinweg äußerte er sich jedoch immer wieder zur Psychologie des Kindesalters, förderte entsprechende Arbeiten in seiner Umgebung und lieferte der entstehenden Kinder- und Jugendpsychiatrie mit seinen Ideen zur Psychoanalyse wichtige Grundlagen. Kinder als Gewaltopfer waren zudem indirekt bereits in Freuds Frühwerk präsent, denn im Kern entstand die Psychoanalyse aus Debatten über Charakteristika traumatischer Verletzungen im Kindes- und Jugendalter.24 Im Jahr 1885 hatte Freud an der „Salpêtrière“ bei Charcot hospitiert, hatte daraus laut eigenem Bekunden einige Inspiration bezogen und nach der Rückkehr zunächst in Zusammenarbeit mit seinem Wiener Kollegen Josef Breuer die Konzepte des Pariser Neurologen umgebaut und allmählich in ein eigenes Gedankensystem integriert. Seine intellektuelle und therapeutische Arbeit spielte sich vorerst noch im Rahmen der internationalen HysterieDebatten ab. Bis um die Mitte der 1890er Jahre wurde indes ein mit der französischen Psychopathologie konkurrierendes Modell sichtbar, in dessen Mittelpunkt die Hypothese eines die Psyche wesentlich konstituierenden Gegeneinanders von Wunsch und Abwehr, von innerem Konflikt und Abwehrneurose stand. Darüber hinaus nahm er an, in der menschlichen Sexualität eine entscheidende, unbewusst wirkende Triebkraft entdeckt zu haben. Traumatische Hysterien hatten demzufolge ihre Ursprünge nicht in Eisenbahnkollisionen oder Arbeitsunfällen, sondern in psychischen Schocks, die sexueller Natur waren und in der individuellen Biographie lange zurückliegen konnten. Freud war der Thematik nach seiner Rückkehr aus Paris seit 1886 als Facharzt für neurologische Erkrankungen von Kindern am Wiener „Ersten öffentlichen Kinder-Krankeninstitut“ und daneben in seiner eigenen neurologischen Praxis begegnet. Dort hatten erwachsene Patientinnen und Patienten, 24  Hinsichtlich der Bedeutung für die Traumatheorie in systematischer und quellennaher Weise dargestellt bei May-Tolzmann, Wiederentdeckung, bes. S. 49–56; allgemeiner auch May-Tolzmann, Arbeit.



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die im zeitgenössischen Verständnis hysterische Symptome zeigten, über ­sexuelle „Verführungserlebnisse“ in ihrer nachpubertären Lebensphase berichtet. Freud entwickelte dazu die Auffassung, dass erlittene sexuelle Gewalt im Kindesalter an der Wurzel der sehr viel später aufgetretenen seelischen Störungen liegen musste. In einem Vortrag von 1896 nannte er „fremde[…] Individuen“, aber auch „Kindermädchen, Kindsfrau, Gouvernante, Lehrer, leider auch allzuhäufig ein naher Verwandter“, sowie andere Kinder als Täterinnen und Täter; noch 1897 rückte Freud den vermutlichen realen Inzest durch Väter in den Vordergrund. In seiner Sicht war das Missbrauchserlebnis durch die nachfolgenden sexuellen Erfahrungen der Betroffenen reaktiviert worden und hatte auf diese Weise eine verstörende, traumatisierende Dimension erhalten. Dass die Frauen und Männer das Erlebte anscheinend ins Unbewusste verdrängt hatten, bot so gesehen den Schlüssel zum Verständnis der hysterischen Symptomatik und zugleich den wichtigsten Ansatzpunkt für das therapeutische Gespräch.25 Obwohl nach wie vor umstritten ist, warum Freud nach einigen Jahren veränderte Schwerpunkte in seinem wissenschaftlichen Werk setzte oder sich sogar von seiner – in der älteren Forschung allzu euphemistisch als „Verführungstheorie“ bezeichneten – Konzeption abwandte, ist doch gesichert, dass er seinen frühen Schlussfolgerungen zunehmend misstraute. Ab etwa 1897 / 98 vertrat er die Ansicht, wonach die Erzählungen seiner Patientinnen als Berichte über lediglich fiktive sexuelle Gewalt zu interpretieren seien. In einem oft zitierten Brief benannte Freud eine Reihe von Gründen für seinen Meinungswandel: Methodische Bedenken angesichts der Aufgabe, Realität und Phantasie in den Berichten seiner Patientinnen voneinander zu trennen, ausbleibende therapeutische Erfolge, aber auch das erschreckend große, in ­seinen Augen jedoch unwahrscheinliche Ausmaß von sexuellem Missbrauch in den Familien rückte er hier in den Vordergrund.26 Dass darüber hinaus seine Sorge um die möglicherweise ausbleibende Akzeptanz des eigenen Werks in der Öffentlichkeit mitwirkte, darf vermutet werden; sein „Anspruch auf Entdeckerruhm“27 bei der Entwicklung einer neuen Neurosenlehre mag ebenso eine Rolle gespielt haben. In der Folge jedenfalls richtete Freud sein Hauptaugenmerk auf die Erkundung innerseelischer Vorgänge und die Ausarbeitung seiner Theorien der 25  Freud, Ätiologie, S. 444. Hierzu und zum Folgenden s. Makari, S. 109–155; Lohmann / Pfeiffer, S.  428 f.; Bohleber, Entwicklung, S. 798–802; Bohleber, Trauma; van der Kolk u. a., History, S. 53–56. Zu den Entwicklungsstadien der Freud’schen „Verführungstheorie“ und unter Betonung von Elementen der Kontinuität sowie mit Blick auf Freuds Selbsterfahrung hinsichtlich der Interaktion von Therapeut und Pa­ tienten s. Blass / Simon. 26  Freud an Wilhelm Fließ, 21.9.1897, in: Masson, Briefe, S. 283–286. 27  Fischer-Homberger, Medizingeschichte, S. 276.

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kindlichen Sexualität und des „Ödipuskonflikts“. Nicht Schwierigkeiten bei der psychischen Verarbeitung externer Widerfahrnisse also, sondern die Verdrängung von tabuisierten sexuellen und gewalttätigen Wünschen seit der Phase des ödipalen Konflikts rund um das fünfte Lebensjahr des Kindes lagen demzufolge an der Wurzel jener psychischen Störungen, die auch Freud mit der Kategorie der „traumatischen Neurose“ verknüpfte. Zwar hat sich der fortwährend zweifelnde Freud bis zu seinem Lebensende immer wieder mit der Traumathematik beschäftigt, und insbesondere das Phänomen der Kriegsneurose zwang ihn nach 1914 zur Stellungnahme.28 Doch auch wenn er Schritte der Annäherung an ein stärker exogenes Erklärungsmuster tat, hat er das Endogeniekonzept nie aufgegeben. Kategorien wie „Reizschutz“, „narzisstische Libido“ oder „Todestrieb“, die er in die Diskussion brachte, um seine Triebtheorie traumatischer Leiden zu verteidigen, deuten in diese Richtung, wurden jedoch in der Fachwelt bis heute nur in Teilen akzeptiert. Vor allem darf nicht übersehen werden, dass Freud in seinem Umfeld und darüber hinaus Ansätze zur Konzeptionalisierung exogener Traumatisierung entmutigt, diskreditiert oder wissenschaftlich bekämpft hat, so etwa im Falle der Theoriegebäude des ungarischen Psychoanalytikers Sándor Ferenczi (1873– 1933) oder des französischen Psychiaters Pierre Janet.29 Dass das Phänomen des Traumas bereits in Freuds eigenen Arbeiten als Forschungsgegenstand zurücktrat, hatte weitreichende wissenschafts- und allgemeingeschichtliche Folgen, denn es trug dazu bei, dass das Traumakonzept in der entstehenden Psychoanalyse über viele Jahre hinweg nur untergeordnete Beachtung fand. Die Ursachen lassen sich aus dem Dargelegten ableiten: Traditionelle psychoanalytische Ansätze interpretierten alle von außen an das Subjekt herantretenden Einflüsse und Erlebnisse vor dem Hintergrund einer im Individuum verorteten, vorwiegend sexuell bestimmten inneren Wunschwelt. Es lag daher nahe, im Rahmen einer elaborierten Triebtheorie eher nach dem „Wunschansatz“ im jeweils vom Patienten Berichteten zu fragen, als die körperlichen und seelischen Wirkungen von Extrembelastungen in den Blick zu nehmen.30 Darüber hinaus trugen die erkenntnistheoretische Grundannahme vom Konstruktcharakter der Realität, die sich aus der 28  Zu Freuds Konzeptionalisierungsversuchen der Kriegsneurose s. Fischer-Hom­ berger, Neurose, S. 151–159; Bohleber, Entwicklung, S. 800–802. 29  In kritischer Perspektive u. a. Fischer-Homberger, Medizingeschichte, S. 275– 287; Fischer-Homberger, Haut, S. 74 f.; Bohleber, Entwicklung, S. 798–802; Fischer, S. 17–20; Simon; Masson, Suppression; Grundsatzkritik an Freuds Methoden und Thesen üben Israëls / Schatzman; Israëls. Mit Sympathie für Freuds Sichtweise hingegen Nitzschke. Von einer „Vertiefung“ der Freud’schen Theorie des kindlichen Traumas über die Jahre hinweg sprechen Baranger u. a., S. 115. Zu Freuds Kritik an Janet s. Fischer-Homberger, Freud. S. zu Ferenczi auch Abschnitt IV dieses Beitrags. 30  Seidler, Wege, S. 29.



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Kognitionspsychologie ihren Weg in die psychoanalytische Theorie gebahnt hatte, ebenso wie die Beharrungskraft des einmal etablierten Wissenschaftsparadigmas „Ödipuskomplex“ das ihre dazu bei, dass es der Mehrheit der Psychoanalytiker noch nach 1945 über lange Jahre hinweg schwerfiel, die traumatisierende Realität von Gewalterfahrungen – auch bei Kindern – methodisch anzuerkennen und in der therapeutischen Praxis aufzugreifen.31 IV. Krieg und kindliches Seelenleben während und nach dem Ersten Weltkrieg Im Ersten Weltkrieg erhielt die wissenschaftlich verfolgte Frage nach den psychischen Folgen massiver Gewalteinwirkung neue Impulse. Das massenhafte Auftreten von sogenannten „Kriegszitterern“ oder „Shell Shock“-Opfern in den Armeen der kriegführenden Mächte führte zu intensiven Debatten der damit befassten Fachleute und zu Varianten von Therapieversuchen, die seitens der historischen Forschung für Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die USA, Österreich-Ungarn, Italien und Russland intensiver untersucht worden sind.32 Dabei wurde deutlich, dass Mediziner und Neuropsychiater nirgendwo auf das zu beobachtende Ausmaß von „Kriegsneurosen“ unter den Soldaten vorbereitet waren. Sofern der Anspruch bestand, wissenschaftlich fundiert vorzugehen, knüpfte man daher vielfach an Forschungen aus der Vorkriegszeit zu den Themenkreisen „Hysterie“ und „traumatische Neurose“ an. Ältere Fragestellungen erhielten im neuen Kontext besonderes Gewicht, so das Problem, in welcher Weise der Anteil exogener und endogener Faktoren beim Zustandekommen einer psychischen Störung zu gewichten war, oder verstärkt auch die Frage nach den Grenzen zwischen Krankheit, Suggestibilität und „Simulation“ von seelischen Leiden. In Deutschland zeigte sich hier eine klare Tendenz insofern, als exogene Faktoren als Teil eines möglichen Ursachenfeldes kriegsbedingter psychischer Leiden von der herrschenden Meinungsströmung unter den Psychiatern als peripher oder gar als vernachlässigenswert abgetan wurden. Zudem blieben einschlägige Forschungen und Therapieansätze im Wesentlichen auf Erwachsene bezogen. So setzte sich in der psychiatrischen Elite des Kaiserreichs seit Herbst 1916 die Lehrmeinung durch, wonach es vor allem pathogene Anlagen in den betroffenen Soldaten selbst waren, die an der Wurzel der Krankheit lagen. Die vielfältigen und länger anhaltenden, körperlichen und psychischen 31  Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Traumaforschung s. Fischer; B ­ ohleber, Trauma; Bohleber, Entwicklung. 32  Vgl. z. B. Riedesser / Verderber; Lerner, Men; Hofer; Eckart, Kriegsgewalt; Hofer u. a.; Hermes; Eckart, Medizin.

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Symptome, die Soldaten nach Kampfhandlungen zeigten, darunter heftiges Zittern, spastische Lähmungen, Sprach- und Hörstörungen sowie psychische Zusammenbrüche, Angstzustände, Depressionen und Aggressivität, wurden von tonangebenden Experten um den Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Berliner Charité, Karl Bonhoeffer (1868–1948), als Folgen von Mangelernährung, Erschöpfung und Infektionskrankheiten bzw. als Ausdruck von psychopathischer Konstitution oder Nervenschwäche interpretiert und überwiegend unter dem Rubrum der hysterischen Störung diagnostiziert. Im öffentlichen psychiatrischen Diskurs der Kriegs- und noch der Nachkriegszeit findet sich die Genese traumatischer Erkrankungen daher vielfach stärker mit Faktoren wie fehlendem Patriotismus, mangelndem Willen zum Kriegsdienst oder der unterstellten Hoffnung der Betroffenen auf eine staatliche Kriegsrente verknüpft als mit den psychisch überwältigenden, grauenhaften Eindrücken des Frontalltags. Alternative Deutungen wie jene des Neurologen Hermann Oppenheim oder des Psychotherapeuten Arthur Kronfeld (1886– 1941) blieben demgegenüber deutlich in der Minderheit und repräsentierten nicht die akademische „Lehrmeinung“.33 Alternativen fanden sich auch in der französischen und russischen Kriegspsychiatrie, wo mindestens ein Teil der Psychiater dazu überging, neue Krankheitsbilder jenseits des klassischen Hysteriekonzepts zu definieren und dazu neigte, „Kriegsangst“ oder „erworbene Feigheit“ der sogenannten „Invaliden der Tapferkeit“ in erweiterte Konzepte von Männlichkeit und Nation einzufügen bzw. aus den Zwängen des militärischen Umfelds und der gesellschaftlichen Verhältnisse heraus abzuleiten.34 Wie die jüngere Forschung indes deutlich gemacht hat, war der Einsatz von kalten Wassergüssen, Isolation oder Elektroschocks zur Behandlung traumatisierter Soldaten in der Militärpsychiatrie Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Österreichs durchaus verbreitet; die Elektrotherapie wurde mindestens zeitweise als therapeutischer Königsweg geschätzt.35 Kinder wurden nach 1914 in Deutschland von Pädagogen wie von der medizinisch-psychologischen Fachwelt als vorwiegend indirekt Betroffene 33  Bonhoeffer, Reaktionstypen; Bonhoeffer, Beurteilung. Vgl. hingegen Oppenheim, Krieg. In der psychiatrischen Praxis konnten Kliniken durchaus auch die Rolle eines „Schutzraums“ für erkrankte Militärangehörige einnehmen, s. Hermes, S. 466. Zu Kronfeld und weiteren Anhängern der psychotherapeutischen Bewegung s. Neuner, S. 135–163. 34  Hierzu aus emotionsgeschichtlicher Perspektive Michl / Plamper, S. 231, 242 (Zitate); in medizinhistorischem Zugang Riedesser / Verderber, S. 23–42; Lembach; Fischer-Homberger, Neurose, S. 136–151; Hermes, S. 269–342; Neuner, S. 91–135. 35  Le Naour; Tatu / Bogousslavsky, Folie; in internationaler Perspektive Tatu / Bogousslavsky, Hysteria; Darmon; Michl / Plamper, S. 224–233, 243  f. International systematisch vergleichende Untersuchungen zum Thema liegen bislang nur in überschaubarer Zahl vor.



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des Kriegsgeschehens auf mannigfache Weise thematisiert. Das Interesse galt Fragen der schulischen und vormilitärischen Erziehung36, der Elitenbildung unter dem Leitmotiv „Auslese der Tüchtigen“37, dem Umgang mit Kriegswaisen unter sozialpolitischer wie individualpsychologischer Perspektive38 oder besonders auch dem körperlichen Wohlergehen von Säuglingen und Kindern angesichts defizitärer Nahrungsversorgung und abwesender Ernährer39. Gelegentlich rückten Säuglinge in den Mittelpunkt von pädiatrischen Studien, in deren Verhalten Mediziner kriegsbedingte „Nervosität“ diagnostizierten.40 Insgesamt lag das Augenmerk dabei aber vor allem auf dem Wohlergehen von Familien und Müttern; die kindliche Wahrnehmung des Krieges und deren mögliche Folgen fanden demgegenüber nur selten Beachtung. Wo sie in den Blick rückten, konzentrierten sich die Analysen auf Spekulationen über die psychischen Folgen von temporärer bzw. dauerhafter Vaterlosigkeit41, zielten auf allgemeine Einschätzungen und Bewertungen des Kriegs durch Schulkinder42, auf die Vermittlung von Pflicht- und Akzeptanzwerten43 oder auf kriegsbedingte Wertorientierungen von Jungen, die sich in der Berufswahl äußerten.44 Durchwegs stellten die Autorinnen und Autoren dabei ostentativen Patriotismus zur Schau, vermengt mit Vorannahmen zum überlegenen „Nationalcharakter“ der Deutschen oder zur vermuteten bzw. als erstrebenswert erachteten sozialpsychologischen und „erzieherischen“ Wirkung des Krieges. Von größerem wissenschaftlichen Anspruch getragen war eine Sammlung von Aufsatztexten und weiteren Materialien, die auf Initiative der Ortsgruppe Breslau des „Bundes für Schulreform“ seit Frühjahr 1915 von Lehrerinnen und Lehrern zusammengestellt worden war. In kommentierter Form wurden Texte, Zeichnungen, Briefe, Tagebücher, Gedichte oder Verhaltensaufzeichnungen im Sommer des Jahres als Teil der Berliner Ausstellung „Schule und Krieg“ gezeigt und wenig später in Auswahl publiziert. Als Initiator der Publikation fungierte der Hochschullehrer und Leiter der Psychologischen Abteilung des Philosophischen Seminars an der Universität Breslau, William

36  Gaudig;

Fischer, Schule; Fischer, Aufgabe; Fischer, Schulbahnentwicklung. Tews; Petersen. 38  Vgl. etwa Landsberg; Sellmann. 39  Landé. 40  Kettner; vgl. dazu Stambolis, S. 64–69; Müller-Brettel, S. 30. 41  Sellmann; Landsberg. 42  Plecher; Nagy. 43  Zurhellen-Pfleiderer. 44  Kammel. 37  Hartnacke;

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Stern (1871–1938).45 Der renommierte Psychologe und Kinderforscher, der im Begriff stand, sein Arbeitsfeld um Studien zur „Jugendkunde“ zu erweitern, zeigte sich in dieser Veröffentlichung durchaus empfänglich für Formen der Kriegsbegeisterung, wie sie in den Kriegsgedichten etwa der eigenen Kinder zum Ausdruck kam. Eine geplante Publikation zum Thema „Das seelische Verhalten dreier Geschwister zum Kriege“, die auf Beobachtungen des Ehepaars Stern am eigenen Nachwuchs beruhen sollte, kam dann aber über das Manuskriptstadium nicht hinaus.46 Insgesamt litten alle vorgelegten Untersuchungen, Quellensammlungen und Fallstudien daran, dass die gewählten Untersuchungsgruppen überschaubar klein oder in Einzelfällen nicht einmal näher bezeichnet waren47. Beobachtungen zur kindlichen Entwicklung unter den Bedingungen des Krieges fanden sich darin überwiegend in nationalistisch-propagandistisch geprägte Argumentationsmuster eingekleidet und wurden in der Regel entsprechend der ideologisierten Erwartungshaltung der erwachsenen Autorinnen und Autoren bewertet. Zweifellos lassen sich eine Reihe von interessanten Einsichten identifizieren, so zur Umsetzung der Kriegssituation im kindlichen Spiel oder zur Reproduktion von Geschlechterrollen48, zur Vermengung von Projektionen und Personifikationen in der kindlichen Wahrnehmung oder zur Empathiefähigkeit von Kindern49. Sie wurden allerdings in der Regel ohne weiterreichende theoretische Durchdringung präsentiert, und die Erfassung von Formen psychischer Verletzungen und Verletzbarkeit von Kindern lag außerhalb des Erkenntnishorizonts dieser Studien. Auch noch in den 1920er und 1930er Jahren haben der Traumabegriff und die damit verbundenen Fragestellungen in Deutschland kaum Eingang in die medizinische, pädagogische oder psychologische Kinderforschung gefunden. Die Ursachen sind vielfältig und wohl aus dem Zusammenspiel von wissenschaftsgeschichtlichen mit mentalitätshistorischen Faktoren zu erklären. In der medizinischen Traumatheorie hatte sich im Kriegsverlauf die Idee der Psychogenität der Kriegsneurose ebenso durchgesetzt wie die Annahme, wonach in der Mehrheit der Fälle keine echte Krankheit, sondern eine „willensund wunschabhängige Reaktion“ der Betroffenen vorlag.50 Die Theoriedebat45  Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht; Stern, Seelenleben. Zur Sammlung Sterns und zur Berliner Ausstellung s. Lück / Rothe. Grundlegend zur Biographie und zum wissenschaftlichen Werk von William Stern s. Heinemann; s. auch Dudek. 46  Stern, Kriegsgedichte, S. 45; Stern, Vorwort, S. VI. 47  So im Falle von Max Reiniger, s. Reiniger. 48  Mann, bes. S. 60–82; Rothe. Der Band stützt sich auf die Interpretation von Kinderzeichnungen. 49  Schulze. 50  Fischer-Homberger, Neurose, S. 136–160, bes. S. 143 f., Zitat S. 136; Lerner, Men.



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ten, die nach 1918 in Deutschland geführt wurden, folgten denn auch in erster Linie der Frage, wie die „simulierte“ Kriegsneurose von „echter“ Erkrankung zu unterscheiden sei. Quasi im Nebeneffekt eröffneten sie damit auch Wege zur Legitimation brutaler Therapieformen etwa anhand von Elektroschocks, wie sie unter anderem der Mediziner Fritz Kaufmann empfahl und an psychisch kranken Soldaten und Veteranen durchführte.51 Wo aber die Haupttendenz von Forschungen zum Themenfeld psychotraumatischer Verletzungen auf die Begrenzung des Kreises der Betroffenen zielte, lagen die Chancen denkbar ungünstig, eine generationelle Ausweitung auch nur in Betracht zu ziehen. Dies galt umso mehr, als es im Deutschland des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit vermutlich nur wenige Kinder gab, die als Opfer unmittelbar kriegsbedingter Gewalt zu identifizieren gewesen wären.52 Innerhalb der jungen „Kindespsychologie“, die nach Einschätzung eines ihrer Protagonisten, William Stern, noch in den 1920er Jahren „einen der spätesten Sprossen am Baum der menschlichen Erkenntnis“53 darstellte, standen vor allem Fragen des „normalen“ Entwicklungsverlaufs bei der Entstehung des kindlichen Intellekts, der Sprache und der Emotionen im Vordergrund.54 Die im Übergang zum 20. Jahrhundert entstehende Kinder- und Jugendpsychiatrie hingegen wandte sich vorerst bevorzugt der Kategorie der erblich bedingten „Psychopathie“ zu, die als Leitdiagnose bei der Konsolidierung der neuen Subdisziplin wirksam wurde.55 Freuds psychoanalytischer Ansatz, der sich in der deutschen Psychologie vor 1945 nicht durchsetzen konnte, stieß in den USA bereits in den 1920er Jahren auf breite Resonanz und dominierte in der US-amerikanischen Kinderpsychiatrie bis in die 1950er und 1960er Jahre – und mit ihm die oben bereits diskutierten Vorannahmen.56 Fälle von traumatischen Störungen bei 51  Zur Geschichte psychisch versehrter Weltkriegssoldaten und -veteranen in Deutschland nach 1918 s. Lerner, Men; Crouthamel, War; Crouthamel, Veteranen; Rauh; Neuner. 52  Audoin-Rouzeau. 53  Zur Forschungs- und Methodenlage in der Kinderpsychologie gegen Anfang der 1920er Jahre s. Stern, Psychologie, S. 1–37, Zitate S. 1. 54  Als empirisch arbeitender Psychologe und Kinderforscher kritisierte Stern die Kinderanalyse, da er sich an „zahlreichen Fehldeutungen, Übertreibungen und unzulässigen Verallgemeinerungen“ störte; vgl. dazu Stern, Psychologie, S. 9–11, 422 f., Zitat S. 10; Stern, Anwendung. 55  Nissen, S. 230–234, 358–395; zum institutionellen Rahmen und zu prägenden Personen des Fachs s. Castell u. a.; zur These s. bes. Kölch, bes. S. 15–110. 56  Einschlägig zur Rezeptionsgeschichte Freuds in Europa und Nordamerika s. Bayer / Lohmann; Quindeau; Schott / Tölle, S.  133 f.; Hale; Saller. Kritisch hinsichtlich der Folgen der langjährigen Dominanz von psychoanalytischen Ansätzen in der Kinderpsychiatrie Chess, S. 2.

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Kindern aufgrund von Krieg, Verfolgung, körperlicher Gewalt in Erziehungsverhältnissen oder sexuellem Missbrauch wurden nach der Freud’schen Re­ orientierung um die Jahrhundertwende vom Mainstream der US-amerikanischen und internationalen psychoanalytischen Bewegung erst in den 1970er Jahren systematischer aufgegriffen.57 Die Beschäftigung Anna Freuds mit englischen „Kriegskindern“ des Zweiten Weltkriegs bildete hiervon eine wesentliche Ausnahme.58 Im Grunde schafften es nur einzelne Psychoanalytiker wie Sándor Ferenczi, sich aus dem vorgegebenen Paradigma zu lösen und alternative Deutungen zu entwickeln. Ferenczi beschäftigte sich intensiv mit dem Problem von Übertragung und Gegenübertragung im Therapeuten-Patienten-Verhältnis und plädierte daher für ein autoritätskritisches Überdenken der klassischen, von Distanz und Neutralität geprägten „analytischen Situation“ zwischen Arzt und PatientInnen, um Vertrauen zu stiften. Er nahm die Missbrauchserinnerungen seiner Patientinnen und Patienten nicht nur ernst, sondern bezog sie aktiv in die therapeutische Arbeit und Theoriebildung ein. So kam er zu dem Schluss, dass das Trauma, speziell das Sexualtrauma, als krankmachendes Agens nicht hoch genug angeschlagen werden kann […]. Auch Kinder angesehener, von puritanischem Geist beseelter Familien fallen viel öfter, als man es zu ahnen wagte, wirklichen Vergewaltigungen zum Opfer. Entweder sind es die Eltern selbst, die für ihre Unbefriedigtheit auf diese pathologische Art Ersatz suchen, oder aber Vertrauenspersonen, wie Verwandte (Onkel, Tanten, Großeltern), Hauslehrer, Dienstpersonal, die Unwissenheit und Unschuld der Kinder missbrauchen. Der naheliegende Einwand, es handle sich um Sexualphantasien des Kindes selbst, also um hysterische Lügen, wird leider entkräftet durch die Unzahl von Bekenntnissen dieser Art, von Sichvergehen an Kindern, seitens Patienten, die sich in Analyse befinden.59

Ergänzend zu dieser Analyse berichtete Ferenczi aus der eigenen therapeutischen Praxis heraus in modern anmutender Weise über Symptomatik und Schutzreaktionen traumatisierter Kinder, beschrieb Formen der „Persönlichkeitsspaltung“, die Identifikation mit dem Angreifer oder die Verinnerlichung von Schuldgefühlen. Unverhohlen kritisierte er vor diesem Hintergrund die „nicht genügend tiefe Erforschung des exogenen Moments“ in der Freud’schen Neurosenlehre.60

57  Vgl. als Beispiel etwa Shengold (der Autor bezieht sich u. a. auf die Arbeiten von Sándor Ferenczi); hierzu allgemein Simon. 58  Vgl. zur Praxis der Kinderanalyse in Wien, London, Berlin und der Schweiz, getragen u. a. von Anna Freud, Hermine von Hug-Hellmuth und Melanie Klein, Oberborbeck; Segal; Frank; Aichhorn. 59  Ferenczi, S. 306, 307 f. 60  Ferenczi, S. 303, 311.



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Als Ferenczi zu Anfang der 1930er Jahre mit seinen Einsichten an die Fachöffentlichkeit trat, traf er auf massive Zurückweisung, die sich aus ­methodischen wie vermutlich auch aus inhaltlichen Gründen speiste. Freud selbst lehnte die Thesen seines frühen Weggefährten ab und versuchte, einzelne Publikationen zu verhindern. So fand sich Ferenczi gegen Ende seines Lebens in der psychoanalytischen Fachwelt weitgehend isoliert; seine ver­ öffentlichten Ausführungen zum kindlichen Trauma blieben Fragment. Dies und die Tatsache seines frühen Todes im Jahr 1933 trug denn auch entscheidend dazu bei, dass Ferenczis wissenschaftliches Werk erst wieder seit den 1980er Jahren breitere Würdigung gefunden hat.61 V. Zweiter Weltkrieg und Holocaust als Impulsgeber der Traumaforschung Um 1945 war also die Einsicht, wonach traumatische Erfahrungen während der Kindheit mit großer Wahrscheinlichkeit in psychische Erkrankungen des Erwachsenenalters münden, keineswegs neu. Sigmund Freud, Pierre ­Janet oder Sándor Ferenczi hatten sie in unterschiedlichen Werkzusammenhängen und historischen Kontexten auf je eigene Art formuliert – ohne dass daraus zunächst nachhaltige Impulse für eine systematische Erforschung der Folgen von kindlicher Gewalterfahrung erwachsen wären. Erst der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegsjahrzehnte brachten eine grundsätzliche, nunmehr qualitativ zu nennende Neuorientierung. Sie manifestierte sich ähnlich wie schon ein Vierteljahrhundert zuvor im erkennbaren Interesse der internationalen medizinisch-psychologischen Forschung an den Wirkungen des Krieges hinsichtlich der mentalen Gesundheit der Bevölkerung. Dass dabei neben Erwachsenen62 zunehmend auch Kinder in den Fokus gerieten, hatte zweifellos mit der auf neue Art „totalen“ Signatur von gesellschaftlicher Mobilisierung und Kampfhandlungen im Zweiten Weltkrieg zu tun, die auch Kinder in bis dahin unerhörtem Maße zu Leidtragenden machten.63 Bereits in den 1940er Jahren entstanden Studien unter anderem in Frankreich, Großbritannien und Finnland, die sich bei unterschiedlichen Beobachtungsgruppen und -größen, methodischen Zugängen und Fragenschwerpunkten im Wesentlichen mit den Folgen von Vertreibung, Bombenangriffen oder 61  Vgl. aus der Literatur, die der Wiederentdeckung Ferenczis gewidmet ist, u. a. Rudnytsky; Rand / Torok; Haynal; Rentoul; Will; Bonomi; Bokanowsky; Bohleber, Entwicklung, S.  802 f.; Fischer-Homberger, Medizingeschichte, S. 286 f. 62  So etwa Kardiner. Am Beispiel amerikanischer Veteranen des Ersten Weltkriegs beschreibt er die Symptomatik traumatischer Neurosen und macht Therapievorschläge, von deren Relevanz auch für die Zivilbevölkerung er sich überzeugt zeigt, s. Kardiner, S. V–VI. 63  Daniel; Kundrus; Ziemann.

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kriegsbedingter Trennung von Familien mit Blick auf das Verhalten von Kindern beschäftigten. Ohne dass die Autorinnen und Autoren in der Regel explizit auf ein Traumakonzept zurückgriffen, wurden „neurotische Verhaltensweisen“, Alpträume und Schlafstörungen, reduzierte Emotionalität, Konzentrationsschwierigkeiten, schulische Leistungseinbrüche, Vermeidungsverhalten oder Delinquenz als Reaktionsformen von betroffenen Kindern beschrieben. Dabei machte man klare Unterschiede im Verhalten von Erwachsenen und Kindern ausfindig, beobachtete aber auch bereits den Einfluss des Lebensalters oder betonte die Folgen von unterschiedlicher Stressresistenz bei Müttern für die Entwicklung ihrer Kinder.64 Im Londoner Exil beschäftigte sich Anna Freud seit 1940 zusammen mit ihrer Kollegin Dorothy Burlingham über Jahre hinweg in einem neu gegründeten, aus Spenden finanzierten Kinderheim, den „Hampstead War Nurseries“, mit englischen Kindern, schließlich auch mit überlebenden Waisen aus dem Konzentrationslager Theresienstadt. Ausgehend von einem klassischen psychoanalytischen Ansatz, doch kombiniert mit intensiven individuellen Beobachtungen, gelangten Anna Freud und ihre Mitarbeiterinnen zu ähnlich grundlegenden Einschätzungen. So machten sie unter anderem darauf aufmerksam, welch zentrale Rolle die Familie – im Positiven wie im Negativen – spielte, wenn es um das Kriegserleben von Kindern ging. Offenkundig reagierten die untersuchten Drei- bis Sechsjährigen in psychischer Hinsicht intensiver auf die Trennung von ihren Familien als auf die unmittelbare Gefährdungssituation durch die deutschen Luftangriffe auf London, während zugleich die – ruhigen oder ängstlichen – Reaktionen der erwachsenen Bezugspersonen die Kriegswahrnehmung der Kinder wesentlich beeinflussen konnten. Obwohl noch keineswegs in den Kategorien der jüngeren Traumaforschung formuliert, bieten Freuds und Burlinghams Untersuchungen daher zweifellos wichtige empirische Bausteine für eine Psychotraumatologie des Kindesalters.65 Dass dieses Forschungs- und Therapiefeld seit den späten 1960er und frühen 1970er Jahren als relevant erkannt wurde und allmählich Gestalt annahm, war also einmal mehr den Folgen eines Weltkriegs zuzuschreiben, deren Rezeption und Aufarbeitung freilich durch die vielschichtigen Wirkungen des 64  Vgl. etwa Mercier / Despert; Bodman; Bradner; Despert; Carey-Trefzer, S. 543. In den Texten finden sich zahlreiche weitere Literaturangaben. Zum Thema s. Landolt, Psychotraumatologie, S. 22. 65  Freud / Burlingham, Children; Freud / Burlingham, Infants; Freud / Dann (zugleich die erste systematische Untersuchung zu sog. „Child Survivors“, vgl. dazu unten); die Schriften finden sich in deutscher Übersetzung zusammengefasst in Freud / Burlingham, Kinder. Vgl. zu den Monatsberichten bzw. zu weiteren Studien, die bis 1945 aus den Hampstead Nurseries hervorgingen Freud, Monatsberichte Teil  I / A; Freud, Monatsberichte Teil  I / B. Knapp zur Thematik s. Aichhorn; zu den Langzeitfolgen der Evakuierungen s. Foster u. a.; zum historischen Rahmen s. Inglis; Welshman.



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sozialen Wandels Jahrzehnte später in den westlichen Gesellschaften ergänzt und katalytisch verstärkt wurde. So zynisch es klingen mag: Die Beschäftigung mit den Opfern des Holocaust brachte der Traumaforschung einen als qualitativ zu bezeichnenden Zuwachs an Erkenntnis und wissenschaftlicher Akzeptanz. Für die grundsätzlichere Auseinandersetzung mit der alltäglichen oder akzidentellen Gewalt, der sich Kinder in Kriegs- wie in Friedenszeiten ausgesetzt sahen, erwies sich die westdeutsche Gesellschaft allerdings erst hinreichend aufnahmebereit, als die zunächst noch vorherrschenden autoritären Auffassungen von Gesellschaft und Erziehung an Rückhalt verloren. Dieser umfassendere Mentalitätenwandel markiert den Rahmen, innerhalb dessen die Fortschritte der kinderbezogenen Traumaforschung überhaupt zustande kommen und mit breiterer Rezeption rechnen konnten. Das gilt auch für jene Forschenden, die nach 1945, oft selbst geprägt von Verfolgung und Exil, auf diesem Feld als wissenschaftliche Pioniere auftraten. Hans Keilson (1909–2011) war nicht der erste oder einzige Arzt und Psychologe, der sich bereits in den 1940er Jahren der Überlebenden von NSKonzentrationslagern und NS-Terror annahm.66 Keilson war nach einem Studium der Medizin in Berlin im Jahr 1936 aus Deutschland in die Niederlande geflohen und hatte dort zeitweise im Untergrund gelebt. Nach dem Krieg gehörte er zu den Gründern und Mitarbeitern der niederländischen Hilfsorganisation „Le Esrath Hajeled“; diese widmete sich der Betreuung jüdischer Kinder, die die deutsche Besatzung in Verstecken oder in Lagerhaft überlebt hatten. Da sein deutscher Abschluss in den Niederlanden nicht anerkannt wurde, wiederholte er das Medizinstudium, spezialisierte sich als Facharzt für Psychiatrie und arbeitete zunächst an der Amsterdamer „Child Guidance Clinic“, wo er mit den therapeutischen Ansätzen von Anna Freud in Berührung kam und eine kinderanalytische Ausbildung absolvierte. Seine Tätigkeit an der kinderpsychiatrischen Klinik der Universität Amsterdam bildete schließlich ab 1967 den Rahmen für die Abfassung einer Promotionsstudie zu Traumatisierungsphänomenen bei jüdischen Kriegswaisen, die er im Jahr 1979 – im Alter von mittlerweile 70 Jahren – zum Abschluss brachte. Als Langzeitstudie angelegt, stützte sich die noch heute lesenswerte und relevante Arbeit auf die Untersuchung von 204 ausgewählten Kindern, deren psychische und lebensweltliche Entwicklungsgeschichte bis zur Volljährigkeit verfolgt wurde.67 Keilson nahm seine Nachkriegsstudien an Kindern zu einem Zeitpunkt auf, da die medizinisch-psychologische Forschung zu den mentalen Folgen des Holocaust vor allem mit Blick auf erwachsene Überlebende bereits in 66  Vgl. etwa Friedman, Effects; Friedman, Aspects; s. dazu auch die bibliographische Zusammenstellung bei Eitinger / Krell. 67  Keilson, Traumatisierung; einen biographischen Abriss bietet Kaufhold.

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Gang gekommen war, aber noch vor gravierenden Problemen stand. Seit den 1950er und 1960er Jahren entstanden vor allem in Westeuropa, Nordamerika und Israel Arbeiten, die zumeist aus Wiedergutmachungsprozessen hervorgingen und deutlich machten, dass seelische Störungen in den Reihen der Holocaust-Überlebenden sehr häufig auftraten. Die Symptome waren vielfach erst nach einer Zeit der längeren Latenz sichtbar geworden und flauten dann keineswegs rasch ab, sondern verschärften sich über die Jahre hinweg. Da zunächst keine unmittelbar passende Klassifikation für die Symptomgruppe verfügbar war, wurde die Benennung als „Konzentrationslager- oder Überlebensschuld-Syndrom“ vorgeschlagen, welche schließlich bis Anfang der 1980er Jahre im Konzept der „posttraumatischen Belastungsstörung“ aufging.68 Kinder als Opfer von Krieg, Verfolgung und Holocaust waren in diesen Arbeiten zunächst kaum und vielfach allenfalls indirekt anhand der hypermnesischen, also überstarken und quälenden Erinnerungen von erwachsenen Überlebenden vertreten bzw. traten bereits als Betroffene der zweiten Generation in den Blick.69 Therapeutische Konzepte wiesen noch stark tentativen Charakter auf, da sich die erwachsenen Patientinnen und Patienten den bekannten psychotherapeutischen Methoden gegenüber als kaum zugänglich erwiesen.70 In der westdeutschen Psychiatrie sah man sich vor allem seit dem Inkrafttreten des Bundesentschädigungsgesetzes von 1956 zu gutachterlichen Stellungnahmen aufgefordert und knüpfte bei der forensischen Beurteilung von Holocaustopfern mehrheitlich zunächst an die herrschende Lehre der Vorkriegszeit an. Sofern diagnostizierte Symptome dem Komplex der „traumatischen Neurose“ zugeordnet wurden, stellten beratende Ärzte der Entschädigungsinstanzen den tatsächlichen „Krankheitswert“ vielfach in Frage, legten das Paradigma der „Begehrungsvorstellungen“ zugrunde und rückten die Betroffenen damit in die Nähe der Simulation von Krankheitsbildern. In der gutachterlichen Praxis dominierte die Sichtweise des Heidelberger Psychiaters Kurt Schneider: Demnach konnten massive seelische Erschütterungen durchaus zeitweise psychische Störungen hervorrufen; diese würden aber in 68  Vgl. als frühe Arbeiten dazu u.  a. Hermann; Eitinger; Trautmann; Krystal, Massive Psychic Trauma; Grubrich-Simitis; Bettelheim. Genannt seien daneben v. a. die Arbeiten des deutschstämmigen Psychiaters William G. Niederland, der in den 1960er Jahren als Gutachter in Wiedergutmachungsfällen für das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in New York tätig war und den Begriff des „Survivor Syndrome“ prägte, s. u. a. Niederland, Problem; Niederland, Disorders; Niederland, Observations; zusammenfassend in Niederland, Folgen. Eindringlich zur westdeutschen Gutachterpraxis nach 1945 Brunner, Gesetze; Frei u. a. 69  Vgl. etwa Kogan. 70  s. etwa Niederland, Syndrome, S. 416, 422 f.; zur generellen Einschätzung der Literatur bis Anfang der 1980er Jahre s. Eitinger / Krell, S. 3–7.



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überschaubarer Zeit nach Ende der Belastungen wieder verschwinden. Sofern sie fortdauerten, sei von einer vorweg gegebenen psychopathischen Persönlichkeitsstruktur auszugehen. Diese Sichtweise, die die Psychogenie von seelischen Störungen weitgehend ausschloss und Teil eines umfassenderen Begriffs von psychischer Erkrankung war, hat in der deutschen Psychiatrie sehr nachhaltige Wirkungen entfaltet.71 Eine vergleichbare Deutung findet sich im Übrigen auch noch in der ersten Auflage des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-I)“ der American Psychiatric Association von 1952 vertreten.72 Erst gegen Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre setzten sich in Westdeutschland einzelne Psychiater kritisch mit der überkommenen Mehrheitsmeinung auseinander. So betonte eine Forschergruppe um den Heidelberger Neurologen und Psychiater Walter Ritter von Baeyer ausdrücklich die psychopathologischen Langzeitwirkungen von Terror und Verfolgung. Die ­ Gruppe benannte „das Faktum überdauernder psychischer Fehlhaltungen im Gefolge von Extrembelastungen“ und forderte die rechtliche Anerkennung. Lediglich „die (seltenen) tendenziös geprägten, wunschbedingten Fehlhaltungen“ seien „nach der ‚klassischen‘ Lehre“, also jener von den traumatischen Neurosen, einzuschätzen. Diese Lehre aber lehnte man als wissenschaftlich unzureichend und in der praktizierten pauschalen Anwendung auch als verfehlt ab.73 Damit ergab sich das paradox anmutende Phänomen, dass der Traumabegriff nach 1945 im deutschsprachigen Raum zunächst geringes wissenschaftliches Ansehen gerade in den Reihen von Psychiatern genoss, die aktiv nach einem neuen, tragfähigen theoretischen Rahmen für die Erfassung seelischer Belastungsstörungen suchten. Walter Ritter von Baeyer, Heinz Häfner und Karl Peter Kisker stellten der „klassischen Lehre“ eine empirisch breit untermauerte Studie entgegen, die in methodischer Hinsicht undogmatisch Werk Schneiders s. Schneider; Preussler. S. 689. 73  Vgl. als frühe Studien zum psychiatrischen Status von Holocaust-Überlebenden Venzlaff; von Baeyer u. a., S. 25, 373. Zum vorsichtigen Neuansatz der Arbeit wurde programmatisch formuliert: „Nicht jede Psychogenie, nicht jede an traumatische Erlebnisse anknüpfende Fehlentwicklung ist zweck- und wunschgesteuert. Nicht jede Soziogenie abweichender Erlebnis- und Verhaltensweisen erschöpft sich im Angebot von Entschädigungs- und Sicherungsleistungen von seiten der Gesellschaft. […] Es ist bezeichnend, daß die Entlarvung der traumatischen Neurose als zweckrationales Geschehen in einer Zeit geschah, in der sich die sozialen Sicherungssysteme entwickelten und auch in schlimmen Lagen intakt blieben. Ob die damaligen Feststellungen für andere Zeiten und Situationen leib-seelischer Extrembelastungen Gültigkeit behalten, in denen sich große Bevölkerungsteile aller Sicherungen und Hilfen beraubt sehen, für Zeiten, die für viele einen radikalen Zusammenbruch aller haltgebenden Instanzen herbeiführen – das muß ernstlich gefragt und unvoreingenommen geprüft werden“ (von Baeyer u. a., S. 26). 71  Zum

72  Wilson,

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vorging. Eine geschlossene Traumatheorie vertraten die Autoren darin nicht, traumatische Belastungsphänomene avant la lettre wurden jedoch eingehend vorgestellt und diskutiert. Auch hatten Kinder als Verfolgungsopfer in der Untersuchung durchaus ihren Platz. So hoben die Autoren bereits einige zentrale Bedingungsfaktoren kindlicher Traumagenese hervor, darunter die Bedeutung der Altersstufe, in der die betroffenen Kinder mit den Verfolgungsbelastungen konfrontiert waren, die verschärfende Wirkung der Trennung von der Familie oder auch die möglichen positiven Effekte einer Rückkehr in die schützende Familienkonstellation.74 Systematisch angelegte Studien wie diese blieben indes noch bis in die späten 1970er Jahre seltene Ausnahmen. In den zeitgenössisch dominierenden deutschsprachigen Lehrbüchern der Psychiatrie wurden die Ergebnisse der Studien von Ulrich Venzlaff oder von Baeyer / Häfner / Kisker bezeichnenderweise nicht erwähnt.75 Vor diesem fachlichen Hintergrund ging Keilson methodisch einen etwas anderen Weg. Er bezog sich auf die Traumatheorie Hermann Oppenheims, verknüpfte diese mit zeitgenössisch verfügbaren Forschungen zur Psycho­ genese und Soziogenese von traumatischen Störungen bei Holocaust-Über­ lebenden, wie er sie unter anderem bei William G. Niederland oder von Baeyer / Häfner / Kisker vorfand. Zugleich bettete er das Ganze in eine psychoanalytisch inspirierte Entwicklungspsychologie der Kindheit ein, die sich an Arbeiten von Anna Freud, Jean Piaget, Erik H. Erikson oder René A. Spitz inspirierte. Damit vertrat Keilson unmissverständlich ein ExogenieKonzept traumatischer Störungen: Er stellte sich gegen die konzeptionelle Verknüpfung „traumatischer Neurosen“ mit materiellen „Begehrungsvorstellungen“ auf Seiten der Betroffenen, wie dies noch in der deutschen Vorkriegspsychiatrie weit verbreitet war. Um die gegebenen Elemente einer Traumatheorie auf Kinder anwenden zu können, postulierte er Zusammenhänge zwischen Lebensalter und Belastungsreaktionen, machte die Trennung der Kinder von ihrer Mutter als Schlüsselfaktum aus und entwickelte in ­Anlehnung an Masud Khans Begriff des „kumulativen Traumas“76 die Vorstellung von der „sequentiellen Traumatisierung“. Demnach waren die untersuchten Kinder einer dreifach zu differenzierenden Abfolge von belastenden, zeithistorisch verortbaren Perioden ausgesetzt: Sie reichten von der Besetzung der Niederlande durch deutsche Truppen sowie der beginnenden Verfolgung der jüdischen Bevölkerungsgruppe über Deportation, Lagerhaft oder Abtauchen in die Illegalität bis hin zur Rückkehr in die soziale „Normalität“ und in ein neues Erziehungsmilieu nach Kriegsende.77 74  von Baeyer u. a., S. 224–252. Vgl. hier auch die Diskussion weiterer psychiatrischer Literatur zu Verfolgten im Kindes- und Jugendlichenalter. 75  Kloocke u. a., Nachkriegszeit, S. e12. 76  Khan.



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Indem Keilson auf die je eigenen Traumatisierungspotenziale dieser Zeitabschnitte aufmerksam machte, verdeutlichte er nachdrücklich die soziogenetische, exogene Dimension von Traumatisierung. Er emanzipierte sich damit nicht nur von problematischen Ansätzen in der älteren Psychoanalyse. Zugleich rückte er am zeithistorisch konkreten Beispiel den prozesshaften Charakter des Traumatisierungsgeschehens in den Mittelpunkt und demons­ trierte die Bedeutung auch des Lebensabschnitts nach dem Ende des eigent­ lichen Gewaltgeschehens für die betroffenen Kinder. Ob es gelang, die „Traumatisierungskette zu brechen“, hing eben auch in hohem Maße von der Art und Weise ab, wie die Waisenkinder im neuen Pflegemilieu unterstützt und „aufgefangen“ wurden – ganz abgesehen davon, dass die individuelle Entwicklung der Opfer auf lange Frist davon beeinflusst wurde, ob und wann es zur gesellschaftlichen Anerkennung des erlittenen Traumas kam.78 Solche und andere Einsichten sind bis heute grundlegend. Ganz zu Recht begreift das junge Fachgebiet der Kinderpsychotraumatologie daher Hans Keilson als einen ihrer frühen Vorläufer und Ideengeber.79 Als Keilsons Studie abgeschlossen und publiziert wurde, indizierte sie das zeitgenössisch wachsende Interesse an einer Opfergruppe, die bis dahin fast 30 Jahre lang im Schatten gestanden hatte. „Child survivors“, also Menschen, die den Holocaust noch im Kindesalter erlebt und überlebt hatten, wurden erst im Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren als eigene Opfer­ kategorie wahrgenommen und definiert. Einschlägige Forschungsprojekte oder Einzelarbeiten, die vor allem von Psychologen und Psychiatern in den USA und in Israel initiiert und durchgeführt wurden, trugen daher zur weiteren Differenzierung der Holocaustforschung bei, bereicherten aber auch die internationale Kinderforschung und den wissenschaftlichen Traumadiskurs: Sah man sich doch gezwungen, das Konzept der psychotraumatischen Verletzung generell, aber auch speziell mit Blick auf die kindliche Psyche weiter zu differenzieren und theoretisch schärfer zu fassen. Da mehr als bisher ganze Lebensläufe von Betroffenen in den Blick gerieten, wuchs die Einsicht, dass Kinder von traumatisierenden Erlebnissen in anderer Weise erfasst werden als Erwachsene – eine Einsicht, die zunehmend auch aus kinderpsychiatrischen Forschungsansätzen jenseits der Holocaust-Problematik bezogen bzw. auf diese übertragen wurde.80 77  Keilson, Traumatisierung. Vgl. auch etwa Keilson, Sprache; Keilson, Psycho­ therapie; Keilson, Entwicklung. 78  Keilson, Traumatisierung, S.  429 f. 79  Landolt, Psychotraumatologie, S. 27–29. 80  Vgl. hierzu etwa Solnit / Kris; Krystal, Affects; Robinson. Als Überblick zur Rezeptionsgeschichte der „Child Survivors“ s. Zalashik; dort auch weitere Literatur zu dieser Opfergruppe, darunter Marks; Valent; Kohen.

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VI. Die Ausweitung des Traumakonzepts auf neue Opfergruppen In den 1970er Jahren setzte sich das Traumakonzept als umfassendes Diagnoseinstrument zunächst für betroffene Erwachsene im nordamerikanischen medizinisch-psychologischen Fachdiskurs durch. Bereits im Zuge der Konzeptualisierung des „Konzentrationslager-Syndroms“ oder auch des nahezu parallel dazu entworfenen Begriffs des „massive psychic trauma“ hatten einzelne Mediziner in den späten 1960er Jahren unterschiedliche Varianten ausformuliert.81 Es folgten Beschreibungen des „war sailors syndrome“ oder insbesondere des „Vietnam veterans syndrome“82. Schließlich traten mit Frauen und Kindern weitere, bis dahin kaum beachtete Opfergruppen „ziviler“ Gewalt in den Blick, deren Symptomatik Ähnlichkeiten mit traumatischen Kriegsneurosen aufwies und im „rape trauma syndrome“, im „battered woman syndrome“ oder – seit den frühen 1980er Jahren – im „abused child syndrome“ gefasst wurde.83 Damit war eine entscheidende Schwelle überschritten. Der Traumabegriff als Bezugssystem für die Erfassung der individuellen Folgen von psychisch überwältigenden Ereignissen fand hier zum ersten Mal Anwendung auch auf Gewaltphänomene jenseits von Krieg und Verfolgung sowie in Familien. Wenn in der Folge das theoretische und klinische Wissen um Traumaphänomene geradezu „explosionsartig“84 zunahm, dann lag ein wesentlicher Grund dafür in der Tatsache, dass die vielgestaltigen, aber doch in wesentlichen Elementen konvergierenden Befunde durch die Einführung eines neuen definitorischen Bezugssystems aktiv in den Bereich des Sag- und Denkbaren gerückt wurden. Diese selbstverständlich nicht „monologisch“ planvoll, wohl aber kollektiv vollzogene Konstruktion einer übergreifenden diagnostischen Kategorie ging zwangsläufig einher mit analytischen Individualisierungsverlusten. In den Augen der Kritiker des PTSD-Konzepts drohte und droht stets die tatsächlich keineswegs zu vernachlässigende Gefahr, an der Individualität der Betroffenen vorbeizugehen, allzu große Zahlen an positiv diagnostizierten Patienten zu erzeugen und damit dem „inhärenten Expansionszwang“ eines nach ökonomischen Kriterien funktionierenden Gesundheitssystems zu erliegen.85 81  Krystal,

Massive Psychic Trauma. den Pionierstudien zum Vietnam-Trauma zählen u. a. Horowitz / Solomon; Figley oder Lifton, Home. Als Ergebnis einer Studie an 1,7 Millionen Vietnam-Veteranen von grundlegender Bedeutung s. Kulka u. a.; daneben sei genannt Shay. 83  Burgess / Holstrom; Walker; Roy; Gelles / Straus; Kempe / Kempe; Herman; Fischer-Homberger, Medizingeschichte, S. 289–293. 84  Van der Kolk u. a., Geschichte, S. 87. Vgl. auch die statistische Auswertung der Zunahme von Publikationen zum Thema PTSD bei Saigh. 85  Dörner, S. 335; Stoffels; McHugh / Treisman. Von anderer Warte aus formuliert Nathalie Zajde ihre Kritik am universalen Anspruch des Konzepts, das die jüdische 82  Zu



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Dieser schwierige Balanceakt zwischen der notwendigen Würdigung der Opfer und der Konstruktion einer überzogenen „Allerweltsdiagnose“ begleitet das Konzept seit seiner konzeptionellen Verdichtung in den 1970er Jahren. Die Impulse dazu kamen wiederum aus Nordamerika, getragen von Therapeuten und Betroffenen, schließlich von Politikern und Medien. Orientiert an einer Arbeitsgruppe um die New Yorker Psychiater Chaim Shatan und Robert J. Lifton entstanden seit Anfang der 1970er Jahre in den USA landesweit Therapeutenzirkel, die Vietnam-Heimkehrern die Möglichkeit boten, in Arbeitsgruppen über ihre Kriegserfahrungen zu sprechen; zugleich machte man sich das Sammeln, Auswerten und Kategorisieren der verfügbaren Befunde zur Aufgabe. Es ist nicht zu übersehen, dass das Engagement der involvierten Experten in vielen Fällen ebenso fachlich wie politisch motiviert war. Lifton etwa gab sich öffentlich als Gegner des Krieges in Vietnam zu erkennen, kritisierte die US-Militärpsychiatrie und suchte nach Möglichkeiten, um den betroffenen Heimkehrern gangbare Wege aus Schuldgefühlen und Zorn, emotionaler Abstumpfung oder Selbstbetäubung im Suchtverhalten zu ermöglichen.86 Der Bewegung kam entgegen, dass sich im Laufe der 1970er Jahre die Haltung der amerikanischen Gesellschaft zum Krieg in Vietnam grundlegend wandelte, und dass damit in der Veterans Administration und vor allem in der Fachwissenschaft die Unterstützung für die Kodifizierung eines als wiederkehrend wahrgenommenen Musters von psychischen Krankheitssymptomen deutlich anwuchs. Als die American Psychiatric Association gegen Ende des Jahrzehnts eine Neustrukturierung ihrer diagnostischen Nomenklatur in Angriff nahm, hatte das Traumakonzept auch medial unabweisbare Schwungkraft erhalten. In Gestalt der „posttraumatischen Belastungsstörung“ wurde es – wie bereits gesehen – im Jahr 1980 in ihr psychiatrisches Klassifikationssystem aufgenommen.87 Mit der revidierten Version des Handbuchs stand zum ersten Mal in der Geschichte der US-amerikanischen Psychiatrie eine vereinheitlichte nosologische, also auf systematische Einteilung psychischer Erkrankungen zielende Begrifflichkeit zur Verfügung. Im Unterschied zu den vorangegangenen Auflagen wurden die diagnostischen Kategorien nun durch detailliertere Kriterien bestimmt. Die Herausgeber formulierten dazu den Anspruch, eine „diagnostische Metasprache“ bereitzustellen, die auf einem phänomenologisch Identität von Traumaopfern nicht berücksichtige und generell seine westliche Herkunft offenbare, s. Zajde, S. 22–26. 86  Lifton, Home. Wichtig für die Geschichte des Traumakonzepts ist auch Liftons Arbeit zu den Überlebenden des Atombombenabwurfs von Hiroshima, s. Lifton, Death; Shatan. 87  American Psychiatric Association, DSM-III, S. 236–238. Dazu Wilson; Young, S. 89–117; Hagopian.

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orientierten Zugang basierte und daher jenseits und oberhalb theoretischer Deutungsunterschiede stehen sollte.88 Selbstverständlich aber enthielt auch DSM-III wissenschaftliche Vorannahmen, darunter insbesondere die manifeste Abkehr von der psychoanalytischen Konzeptualisierung der traumatischen Neurose in der Nachfolge Freuds, die noch in der ersten Auflage des Handbuchs präsent gewesen war. Anders als 1952 wurde fast drei Jahrzehnte später die Möglichkeit von längerfristig wirksamen traumatischen Symptomen ebenso ausdrücklich anerkannt wie das Prinzip der Exogenie. Vorläufig blieb PTSD allerdings ein in erster Linie auf Erwachsene bezogenes Konzept: Kinder wurden in der Handbuch-Auflage von 1980 lediglich als potentiell Betroffene genannt und fanden erst in den Ausgaben von 1987 (DSMIII-R) und 1994 (DSM-IV) nähere Berücksichtigung.89 Die Herausgeber reagierten damit auf Einsichten aus einer wachsenden Zahl von Traumastudien, die seit Beginn der 1980er Jahre Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt gerückt hatten.90 Erst in dieser historischen Situation, ziemlich genau ein Jahrhundert, nachdem Hermann Oppenheim in den 1880er Jahren ein psychisches Erkrankungsbild der „traumatischen Neurose“ abgegrenzt hatte, setzte sich das Traumakonzept als Beschreibung von seelischen Störungen auch bei Kindern durch. Dies geschah zunächst in den USA, bevor das Konzept als erweiterter intellektueller Rücktransfer und mit zeitlicher Verzögerung in Deutschland aufgegriffen wurde. Dabei traf sich die Aufwertung eines medizinisch-psychologischen Paradigmas mit der (Wieder-)Entdeckung von Kindern und Kindheit im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs. VII. Die (Neu-)Entdeckung von Kindheit und kindgerichteter Gewalt Das neue Interesse an Opfergruppen im Kindesalter stellt sich im Rückblick auch als eine von zahlreichen Ausdrucksformen der umfassenderen gesellschaftlichen Hinwendung zur Lebensphase Kindheit dar, die mindestens in Teilen der westlichen Welt seit den späten 1960er und frühen 1970er 88  Young,

S. 94. Psychiatric Association, DSM-III, S. 237 („The disorder can occur at any age, including during childhood“); American Psychiatric Association, DSMIII-R; Amercian Psychiatric Association, DSM-IV; Wilson, S. 689–693; Young, S. 288; Landolt, Psychotraumatologie, S. 24–26. 90  Vgl. stellvertretend zur Forschungsliteratur bis Mitte der 1990er Jahre Terr, Children; Terr, Effects; als Zusammenfassung jahrelanger therapeutischer Erfahrungen und Überlegungen s. Terr, Childhood; daneben Pynoos / Nader. Wichtig sind da­ rüber hinaus die Studien von William Yule, zusammenfassend etwa Yule. Eine statistische Auswertung von einschlägigen Zeitschriftenartikeln seit 1980 bietet Saigh; zur inhaltlichen Dimension s. Saigh u. a. 89  American



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Jahren zu beobachten war. Sozial- und mentalitätsgeschichtlich gefasst stand sie im Zusammenhang eines tiefergreifenden Wandels der „bürgerlichen Kernfamilie“, der im gleichen Zeitraum virulent wurde: Vor dem Hintergrund des sozialökonomischen Strukturwandels, der Ausweitung von Bildungschancen und der Neudefinition von Geschlechterrollen veränderten sich verbreitete Vorstellungen von elterlicher Arbeitsteilung in den Familien und von angemessenen Hierarchien zwischen den Generationen. Dass dieser Prozess allein in den Kategorien der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung nicht hinreichend zu erfassen ist und historiographisch vielfach erst noch differenzierend analysiert werden muss, ist zurecht betont worden.91 Insbesondere scheint in Deutschland die oft beschworene „Pluralität der Lebensformen“ trotz eines Bedeutungsrückgangs der traditionellen Ehe mit Kindern zwischen den 1970er und 1990er Jahren kaum zugenommen zu haben.92 Das überkommende Familienmodell rund um den „male breadwinner“ erfuhr jedoch zweifellos zunehmend Kritik. Die Idee vom männlichen Haushaltsvorstand, der als Ernährer und rechtlicher Alleinvertreter konzipiert war, wurde dabei nicht nur sozial infrage gestellt, sondern sukzessive auch normativ revidiert. Flankiert vom sozialpolitischen Engagement des Staates sowie von Reformen des Jugendhilferechts und des Erziehungs- und Ausbildungssystems ließen in der Bundesrepublik mehrere Reformen des Ehe- und Familienrechts das ältere Leitmotiv der asymmetrisch gedachten „Hausfrauenehe“ hinter sich (1976 / 77), regelten den Status von unehelichen Kindern und ihren Müttern neu (1969 bzw. 1998), ersetzten den Begriff der „elterlichen Gewalt“ durch den der „elterlichen Sorge“ (1979 / 80) und legten – zwei Jahrzehnte später – das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung fest (2000). Im vorstaatlichen Raum entfalteten sich Formen einer „Kinderkultur“, die im Laufe der 1970er Jahre ihren Ausdruck etwa in der „Kinder­ ladenbewegung“ fanden.93 Den Sozial- und Humanwissenschaften fiel in diesen Entwicklungszusammenhängen die Rolle von Referenzsystemen und Impulsgebern zu; auch die Geschichtswissenschaft reflektierte das gewachsene Interesse.94 Die sich seit den 1980er Jahren formierende sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung ergänzte ältere Deutungen von Kindheit als Entwicklungs- und Vorbereitungsphase für das Erwachsenenleben um eine 91  Rödder; Großbölting; vgl. dazu künftig auch die im Rahmen des Mainzer DFG-Projekts „Werte und Wertewandel in Moderne und Postmoderne“ entstehende Studie von Christopher Neumaier: Der Wandel familialer und familiärer Werte in Deutschland, 1880–1990. 92  Wagner u. a., S. 71. 93  Baader, Erziehung; Baader, Schaufensterscheiben. Zu den Zusammenhängen im Überblick s. Baader, Kindheit. 94  s. etwa Ariès. Die Arbeit wurde u. a. auch in der Frauen- und Kinderladenbewegung breit rezipiert; Kuczynski.

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Perspektive, die Kinder als Personen und Akteure ihrer eigenen Lebenswelten ernstnahm.95 Die Betonung von Kinderrechten und der aktive Schutz von Kindern erhielten in diesem historischen Kontext neue gesellschaftliche Aufmerksamkeit; das Phänomen der kindgerichteten Gewalt rückte in Westdeutschland ins Blickfeld von Öffentlichkeit und systematischer Forschung. Frühe Impulse im Sinne seiner Beschreibung und Eingrenzung als eines gesellschaftlichen Problems kamen hier zu Beginn der 1970er Jahre vor allem aus den Sozial- und Rechtswissenschaften. Sie wurden angetrieben von der zutreffenden Beobachtung, dass systematisch angelegte wissenschaftliche Arbeiten zum Thema in Deutschland noch weitgehend fehlten oder von der Einschätzung, wonach das Bemühen um rechtlichen Schutz von Kindern gegen „körperliche Mißhandlung“ de facto immer noch durch schlichte „Hilflosigkeit“ der Helfenden gebremst wurde.96 Tatsächlich waren die wichtigsten systematisch angelegten Studien oder medizinischen Erfassungskategorien wie das „Battered Child Syndrome“ (1962) im englischsprachigen Raum entstanden und in Deutschland noch kaum rezipiert worden.97 Mehr noch, korrespondierte die Vorreiterschaft der nordamerikanischen Forschung dort mit einem fortgeschrittenen praktischen Kinderschutz: Dieser wurde in den USA 1974 per Bundesgesetz in einem Vorgang der nachholenden Modernisierung grundlegend neu geregelt und hatte die Gründung von Forschungseinrichtungen und wissenschaftlichen Diskussionsforen sowie die Formierung von zahlreichen vorstaatlichen Initiativen zur Folge.98 Die Kategorie „Trauma“ spielte in den kindbezogenen Debatten seit den späten 1960er Jahren in der Bundesrepublik zunächst nicht die Rolle eines Leitbegriffs. Viel eher standen Fragen nach der Machtverteilung zwischen den Generationen, nach kindlicher Sexualität oder nach den Bedingungen von sozialem Lernen im Vordergrund.99 Auch in die Argumentation derer, die sich das Vorantreiben eines modernisierten Kinderschutzes auf die Fahnen geschrieben hatten, ging das Konzept zunächst noch nicht ein.100 Dies lag hierzu etwa Qvortrup u. a. etwa Bast u. a., S. 9–12; Zenz, S. 13 (Zitate). 97  Vgl. bes. Kempe u. a.; Kempe / Helfer; Gil; Renvoize. Zum zeitgenössischen Forschungsstand in Deutschland s. Mende / Kirsch. 98  Vgl. zu Inhalt und Kritik des „Child Abuse Prevention and Treatment Act“ (Public Law 93–247) von Januar 1974: Smith / Fong, S. 114–117; Stein. Per Gesetz wurde u. a. das „National Center on Child Abuse and Neglect“ (1974) ins Leben gerufen, das die Verteilung von Geldern an die Bundesstaaten überwachte, ein staatliches Meldesystem vorantrieb sowie Forschungs- und Weiterbildungsprogramme koordinierte. 99  Baader, Kindheit, S. 446. 100  Vgl. etwa die Beiträge in Bast u. a. oder in Enzensberger / Michel. Diese Ausgabe des „Kursbuchs“ ist dem Thema Kindheit gewidmet. 95  Vgl. 96  Vgl.



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wohl vor allem daran, dass sich in der westdeutschen Psychiatrie bis dahin kein allgemein anerkanntes, geschlossenes und über Fachkreise hinaus deutlich sichtbares Krankheitsbild „Trauma“ etablieren konnte. Zwar festigten sich in den 1970er Jahren gegenüber der zunächst noch bestehenden begrifflichen Vielfalt die Konzepte der „abnormen Erlebnisreaktion“ oder des „erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels“, wenn es darum ging, längerdauernde psychotraumatische Störungen diagnostisch zu fassen. Insgesamt ging jedoch die begriffliche Unschärfe in Westdeutschland mit einem wenig ausgeprägten Interesse an traumabezogenen Forschungsarbeiten einher. Erst seit den späten 1980er Jahren wurde das Traumakonzept in deutschen Lehr­ büchern der Psychiatrie in Form des „posttraumatischen Stresssyndroms“ aufgegriffen und setzte sich dort als Ergebnis eines transatlantischen Rezeptionsprozesses bis zur Mitte der 1990er Jahre als „posttraumatische Belastungsstörung“ nach DSM-III durch.101 Seither haben auf dem neu erschlossenen Feld der Psychotraumatologie des Kindesalters vor allem US-amerikanische, britische und schweizerische Forscherinnen und Forscher als Avantgarde gewirkt und zusammen mit anderen den empirisch geschöpften Wissensstand erweitert. Traumatisierte Kinder wurden dabei insbesondere nach Gewalteinwirkung in Form von Entführungen, Schießereien, Krieg und sexuellem Missbrauch oder auch nach Umweltkatastrophen, Unfällen und Fluchterfahrungen untersucht.102 Im Ergebnis zeichnet sich ab, dass auch Kinder länger wirksame posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln können, deren Verlauf oft von einem scheinbar widerstreitenden Nebeneinander der Symptome gekennzeichnet ist: Formen des Nacherlebens belastender Erfahrungen in Gestalt von Alpträumen oder „Flashbacks“ finden sich ebenso wie Verhaltensstrategien, die darauf zielen, die wiederkehrenden schmerzhaften Erinnerungen an das Erlebte zu vermeiden. Während diese Symptomatik ebenso wie die begleitende körperliche Hypererregung auch bei Erwachsenen zu beobachten ist, erwies sich das sogenannte „traumatische Spiel“ als ein Spezifikum von Belastungsreaktionen im Kindesalter. Die Wirksamkeit der Faktoren Geschlecht und Alter für die Ausprägung von traumatischen Störungen bei Kindern zeichnet sich dabei noch wenig deutlich ab, klarer ist, dass offenkundig die Schwere und Dauer der traumatisierenden Ereignisse verschärfend, die Verankerung des Kindes in einem stabilen familiären Umfeld hingegen mildernd wirken kann. Von größter Bedeutung scheint die subjektive Einschätzung des Erlittenen durch die Kinder zu sein.103 Zudem macht eine wachsende Zahl von Fallunter­ 101  Kloocke

u. a., Nachkriegszeit; Kloocke u. a., Psychose. dazu aus der Fülle der Publikationen Green u. a.; Yule u. a.; Lennertz; Landolt u. a.; weitere Literatur bei Landolt, Psychotraumatologie, S. 25, 170–196. 103  Landolt, Bewältigung, bes. S. 73–81. 102  Vgl.

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suchungen geltend, dass auch bereits sehr junge Kinder im Alter von unter vier Jahren Symptome posttraumatischer Störungen entwickeln können.104 Bei der Anerkennung des Traumakonzepts nach DSM-III handelte es sich nicht lediglich um die „Neuetikettierung“ eines quasi naturhaft vorzufindenden, über die Jahrhunderte hinweg konstanten Krankheitsbildes. Gewiss legen es die Symptombeschreibungen und ihre Teilidentitäten, die die medizinisch-psychologische Forschung seit über 150 Jahren erarbeitet hat, nahe, weiterhin von einem Kernbestand an menschlichen Seelenreaktionen auf lebensbedrohlich-überwältigende Erfahrungen zu sprechen. Dessen nähere ­ inhaltliche Bestimmung, Abgrenzung und Deutung erweist sich jedoch vor dem Hintergrund des hier Entfalteten als ebenso sozial und kulturell bedingt wie als historisch wandelbar. Der Übergang zur neuen Erfassungskategorie in der „geltenden Lehre“ stellte so für die westdeutsche Psychiatrie eine veritable Paradigmenverschiebung dar, die sich mit einem grundsätzlichen Per­ spektivenwechsel und der Bereitschaft verknüpfte, den beobachteten Krankheitssymptomen veränderte individualbiographische Bedeutung und höhere gesellschaftliche Relevanz zuzuweisen. Konkret betont ja das Traumakonzept vor allem die Rolle des erwachsenen oder kindlichen Opfers: In dem Maße, in dem seitens der psychiatrischen Lehrmeinung das Prinzip der Exogenie des Traumas akzeptiert oder überhaupt erst ein korrespondierendes Krankheitsbild zugestanden wurde, reduzierte sich für die betroffenen Patienten das Stigma, das seelischen Störungen üblicherweise anhaftet. Außenstehenden wurde es weniger leicht möglich, eine mental bedingte Mitverantwortung der Opfer hinsichtlich der an ihnen begangenen Gewalttat zu behaupten. Darüber hinaus brachte insbesondere die Einführung der Diagnosekategorie „Posttraumatisches Belastungssyndrom“ international eine intensive psychologische, psychiatrische und neurobiologische Forschungstätigkeit in Gang. Sie bahnte damit neue Wege für die Identifizierung von überindividuell wiederkehrenden Symptommustern, für die differenziertere Theoriebildung und Therapie oder auch für die Vertretung von Traumaopfern vor Gericht. In den in Westdeutschland vergleichsweise spät einsetzenden Debatten um Gewalt gegen Kinder wuchs so dem Traumabegriff seit den späten 1980er Jahren die Rolle eines wichtigen Katalysators zu, der den kollektiven Wahrnehmungsund Bearbeitungsprozess gleichermaßen aufnahm, wie er ihn mit vorantrieb und fokussieren half. VIII. Traumakonzept und Kinder: ein doppelter Paradigmenwechsel In der historischen Zusammenschau stellt sich die Geschichte des Traumakonzepts seit dem 19. Jahrhundert als eine Abfolge von Phasen gesteiger104  Terr,

Early Memories; Coates.



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ter Aufmerksamkeit und relativen Desinteresses dar, als ein Prozess des Gewinns, der Einbuße und der erweiterten Wiedereroberung wissenschaftlicher Erkenntnis, der sich nicht allein aus den kollektiv erzeugten Konjunkturen und Zufällen fachimmanenter Debatten herleiten lässt. Folgt man der Einsicht, wonach sich die Inhalte öffentlicher Traumadiskurse eben in hohem Maße auch an gesellschaftlichen Wertorientierungen und Leitbildern, „politischen Ängsten und Sensibilitäten“105 bemessen, dann fällt besonders auf, wie spät Kinder einbezogen wurden. Zweifellos weist die Entwicklung der Kindertraumatologie wichtige Berührungspunkte mit ähnlich gerichteten Forschungen an Erwachsenen auf, doch kennt sie zugleich ihre eigene Chronologie. Obwohl insbesondere die Tatsache, wonach traumatische Erfahrungen der Kindheit in psychische Erkrankungen des Erwachsenenalters münden können, schon bei Freud, Janet oder Ferenczi thematisiert wurde, konzen­ trierte sich die einschlägige internationale Forschung zwischen den 1890er und 1970er Jahren überwiegend auf Erwachsene. Die lange wirksame Unterschätzung des exogenen (Kindheits-)Traumas in der Freud’schen Neurosenlehre und in der Psychoanalyse trug zu dieser Entwicklung bei. Erst die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts und die Folgen zweier Weltkriege, die große Zahl von internationalen und innerstaatlichen kriegerischen Auseinandersetzungen seit den 1980er Jahren, aber auch das neu erwachsene Interesse an Kindern als schützenswerten Individuen bereiteten einer veränderten wissenschaftlichen Wahrnehmung den Weg. In Deutschland fand der damit verbundene, eingangs dieses Beitrags benannte doppelte Paradigmenwechsel eine spezifische Ausprägung. Die Formierung eines exogen gedachten Konzepts des psychischen Traumas wurde hier im Gefolge der kollektiven Zurückweisung der Oppenheim’schen Traumatheorie durch führende Psychiater und Neurologen seit dem frühen 20. Jahrhundert über Jahrzehnte hinweg entscheidend gehemmt. Auch das geistige Erbe von Nationalismus und Nationalsozialismus hinterließ seine Spuren. Pointiert gefasst dominierte bis in die 1960er Jahre die akademische Lehrmeinung, wonach psychische Beschwerden nach traumatischen Erlebnissen in erster Linie individueller Veranlagung zuzuschreiben seien. Erst ein Generationswechsel in den Reihen der psychiatrischen Fachgemeinde und die wachsende Bereitschaft, die individualpsychologisch relevanten Folgen von NS-Terror und -Verfolgung zur Kenntnis zu nehmen, bahnten einer Neubewertung den Weg. Diese kam seit den 1990er Jahren in der transatlantischen Rezeption des „Posttraumatischen Belastungssyndroms“ als nunmehr dominierendem traumabezogenen Referenzsystem in der deutschen psychia­ trischen Lehrbuchliteratur zum Ausdruck. 105  Brunner, Traumatisierung, S. 19; Brunner, Gewalt. Kinder und Kinderpolitik werden hier nicht näher behandelt.

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Die Erweiterung des psychischen Traumakonzepts auf Kinder ging in Deutschland zeitlich und sachlich annähernd mit der Durchsetzung des PTBS-Konzepts einher. Von der Ebene der Fachdebatten her betrachtet knüpfte sich dieser Prozess an überzeugende empirische Belege dafür, dass auch junge Kinder prinzipiell imstande sind, lebensbedrohliche, quälende Situationen als solche zu empfinden, sie zu erinnern und Formen ihrer symbolischen Repräsentation auszubilden. Die damit indizierte gewachsene Bereitschaft, Kindern als Opfer von Naturkatastrophen, „man-made disasters“ und Gewalt mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, wäre aber kaum denkbar gewesen ohne einen Wandel von kollektiven Werthorizonten und Krisenwahrnehmungen – also etwa ohne das gesellschaftlich angewachsene Inte­ resse an psychologischem Wissen, am Opferschutz und an der Tugend des empathischen Umgehens mit menschlichem Leid.106 Die späte Durchsetzung einer systematisch betriebenen Psychotraumatologie des Kindesalters steht als Indikator und Katalysator gleichermaßen für die (Wieder-)Entdeckung der Realität von gewalterzeugtem Leid bei Kindern. Es bleibt zu hoffen, dass die neugewonnene Aufmerksamkeit im veränderten historischen Kontext bessere Chancen auf Verstetigung haben wird als dies in der Vergangenheit der Fall war. IX. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Aichinger, Ilse: Eiskristalle, Frankfurt am Main 1997. American Psychiatric Association (Hrsg.): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Third Edition). DSM-III, Washington 1980. Amercian Psychiatric Association (Hrsg.): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Third Edition Revised). DSM-III-R, Washington 1987. American Psychiatric Association (Hrsg.): The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Fourth Edition). DSM-IV. Washington 1994. Ariès, Philippe: L’enfant et la vie familiale sous l’Ancien régime, Paris 1960 (dt.: Geschichte der Kindheit, München 1975). Baeyer, Walter Ritter von u. a.: Psychiatrie der Verfolgten. Psychopathologische und gutachtliche Erfahrungen an Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung und vergleichbarer Extrembelastungen, Berlin / Heidelberg 1964. 106  Vgl. etwa Tändler / Jensen, Forschungsperspektive, S. 21 f. (Trauma). Zur „Umwertung der sozialen Rolle des Opfers“ und zur Genese des Opferschutzgesetzes von 1986 s. Hassemer / Reemtsma, S. 30–46, bes. S. 35 (Zitat); Herrmann oder auch die Beiträge in Barton / Kölbel. Die Emotionsgeschichte von Empathie und Mitleid thematisiert Frevert, Emotions, S. 149–204; Frevert, Gefühle, S. 44–74.



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IV. Sexuelle Gewalt gegen Kinder

Im Zweifel für das Kind? Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Kaiserreich und in der Weimarer Republik Von Rebecca Heinemann I. Einleitung Kinder sind Menschen in Entwicklung mit höherer Vulnerabilität, die im Vergleich zu Erwachsenen über geringere psychische und physische Ressourcen verfügen, mit denen sie Grenzverletzungen begegnen können.1 Sexualkontakte mit Kindern zählen zu den am meisten geächteten Verhaltensweisen unter den Straftatbeständen. Das geltende deutsche Strafrecht bestimmt den absoluten Schutz von Kindern unter 14 Jahren vor sexuellen Handlungen jeder Art.2 Die gesellschaftliche Sensibilität gegenüber sexueller Gewalt gegen Kinder3 hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten erheblich erhöht. Seit dem 2010 bekannt gewordenen massenhaften Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in pädagogischen und kirchlichen Institutionen ist die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber diesem Phänomen nochmals gestiegen. Im wissenschaftlichen Bereich wurde seit 2010 eine Vielzahl von medizinischen, psychologischen und pädagogischen Publikationen angestoßen, die sich mit den Ursachen und Folgen von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht primär im familialen, sondern in pädagogischen Kontexten sowie mit 1  Studien jüngeren Datums weisen nach, dass die Häufigkeit von Vergewaltigungen in der verletzlichen Phase der Kindheit und des Jugendalters besonders groß ist. Zwei Drittel aller Vergewaltigungen ereignen sich demnach in der Kindheit und Jugend, vgl. Clôitre u. a., S. 24. 2  Vgl. Laubenthal, S. 171, 174. 3  In Deutschland ist der Begriff des „sexuellen Missbrauchs“ in Anlehnung an den englischen Sprachgebrauch („child abuse“, „sexual abuse“) am geläufigsten, vgl. Görgen u. a., S. 28. Das deutsche Recht spricht seit der Strafrechtsreform von 1974 von „sexuellem Missbrauch von Kindern“, vgl. Brockmann, S. 155. In dem hier untersuchten Zeitraum des Kaiserreichs und der Weimarer Republik waren neben dem Begriff des „Mißbrauchs“ die sprachlichen Umschreibungen „Unzucht mit Kindern“ oder „Verbrechen gegen die Sittlichkeit“ an Kindern gebräuchlich. Für eine Diskussion dieser Begriffe vgl. Wipplinger / Amann, S. 13 ff. Im Folgenden wird die Bezeichnung „sexuelle Gewalt gegen Kinder“ der Formulierung „Missbrauch“ vorgezogen.

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Präventionsmaßnahmen befassen.4 Dem Gegenstand sind auch in historischer Hinsicht überwiegend erziehungswissenschaftliche Arbeiten gewidmet, die die Zusammenhänge von Erziehung, Macht, Gewalt, Sexualität und die strukturellen Ursachen sexueller Gewalt in pädagogischen Beziehungen diskutieren. Dabei steht auch das Bemühen um die historische Aufklärung des Verhältnisses zwischen Reformpädagogik und sexualisierter Gewalt in Erziehungsverhältnissen im Fokus; nach der Aufdeckung der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule, die sich bis dahin des Rufs einer „mustergültigen“ reformpädagogischen Schule erfreute, wurde dies als besonders dringlich angesehen.5 Abgesehen von vereinzelten Arbeiten6 hat das Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder in der Geschichtswissenschaft bislang noch keine intensive Behandlung gefunden. Hier wäre insbesondere eine systematische Bearbeitung für das 19. Jahrhundert lohnend, als der Thematik international erstmals wissenschaftliche Beachtung zu Teil wurde: In diesem Zeitraum entstanden die ersten medizinischen Untersuchungen von Fällen sexueller Gewalt gegen Kinder. Zu nennen sind insbesondere die Arbeiten des Pariser Gerichtsmediziners Auguste Ambroise Tardieu, der sich als einer der ersten Ärzte intensiv mit misshandelten und sexuell missbrauchten Kindern befasste, eine Vielzahl von Fällen dokumentierte und eine zentrale Studie über die Symptome sexueller Kindesmisshandlung publizierte.7 Den bekannten deutschen Gerichtsmediziner Johann Ludwig Casper bewogen die „Beobachtung sehr zahlreicher Fälle“8 und die in der medizinischen Literatur fortgesetzten „(irrigen) Behauptungen“9 dazu, die Ärzteschaft und die interessierte Öffentlichkeit über die körperlichen Anzeichen sexueller Gewalt gegen Kinder aufzuklären. Von 136 von Casper untersuchten Fällen sexueller Gewalt waren 73 % der Opfer Kinder unter zwölf Jahren.10 Ende des 19. Jahrhunderts prägte außerdem der Psychiater und Rechtsmediziner Richard von Krafft-Ebing den Begriff der „paedophilia erotica“.11

4  Vgl. Andresen / Heitmeyer; Thole u. a.; Strobel-Eisele / Roth; Gollnick; Thole; Klein. 5  Vgl. Kappeler; Seichter; Miller / Oelkers. In diesem Kontext werden besonders der Begriff des „pädagogischen Bezugs“ und das Konzept des „pädagogischen Eros“, das die Gefahr der Entgrenzung der pädagogischen Beziehung in sich birgt, problematisiert. 6  Vgl. Hommen; Jarzebowski; Kerchner, Kinderlügen; Loetz. 7  Tardieus Arbeit über die Symptome sexuellen Kindesmissbrauchs ist 1860 ins Deutsche übersetzt worden, s. Tardieu; vgl. Labbé; Roche u. a. 8  Casper, Nothzucht, S. 21. 9  Casper, Nothzucht, S. 22. 10  Vgl. Casper, Handbuch, S. 131 f. 11  Baader, Enttabuisierung, S. 28.



Im Zweifel für das Kind?375

Im Blickpunkt steht im Folgenden der gesellschaftliche Umgang mit dem Phänomen sexueller Gewalt gegen Kinder im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Mit der Schwerpunktsetzung auf die medizinischen, psychologischen und juristischen Diskurse werden zentrale Dimensionen der Thematik behandelt. Die verstärkt nach der Jahrhundertwende belegten Auseinandersetzungen von Medizinern, Psychologen und Juristen sowie die vor Gericht verhandelten Sexualdelikte, die ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit erlangten und von der Presse breit kommentiert wurden, geben Auskunft über gesellschaftliche Wahrnehmungen und die Beurteilung sexueller Gewalt gegen Kinder in diesem Zeitraum. In einem ersten Schritt werden die gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen herausgearbeitet und dabei bestimmt, welches Bild vom Kind und welche Vorstellungen über Kindheitsverläufe auch für die Diskurse über sexuelle Gewalt maßgeblich waren. Für die Zeit nach der Jahrhundertwende erlangte zudem die Frage besondere Relevanz, wie die als Belastungszeugen aussagenden Kinder und Jugendlichen von den Zeitgenossen, vor allem von den zuständigen Psychologen, Medizinern und Juristen, beurteilt wurden. Die weitaus größte Zahl „jugendlicher Zeugen“12 wurde in den 1920er und frühen 1930er Jahren im Zusammenhang mit Sexualdelikten vernommen.13 Einschlägige Quellen, zuvörderst veröffentlichte Gutachten und in der Fachliteratur beschriebene Fälle, ermöglichen nicht nur Aufschlüsse darüber, inwieweit den aussagenden „kindlichen Zeugen“ Glauben geschenkt wurde, sondern erlauben wichtige Einblicke in Wertvorstellungen über Kinder und Jugendliche, deren Entwicklung und ­Sexualität. II. Kinderschutz und rechtliche Bestimmungen gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder im Kaiserreich In mehreren europäischen Staaten und in den USA verstärkten sich im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert die Bemühungen um die Institutionalisierung eines wirksamen Kinderschutzes. Das moderne Konzept des Kindesmissbrauchs ist im Kontext der zeitgenössischen Debatten um das Kindeswohl und die Kindeswohlgefährdung entstanden.14 Das erklärte Ziel der internationalen Bewegungen, Kinder vor wirtschaftlicher Ausbeutung (Kinderarbeit) und körperlicher und seelischer Misshandlung zu bewahren, schloss dabei auch den Schutz vor sexueller Gewalt ein.15 Der Erlass ent12  Die zeitgenössische Formulierung meinte Jugendliche bis 16 Jahren (d. h. bis zur Erreichung der Eidesmündigkeit). 13  Vgl. Henne-Laufer, S. 21. 14  Vgl. Cunningham, S. 213. 15  Vgl. Hommen, S.  53 ff.

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sprechender rechtlicher Bestimmungen indiziert, dass der Kinderschutz als neues staatliches Aufgabenfeld aufgefasst wurde. Der Begriff des „Kindswohls“ wurde in Deutschland erstmals im BGB von 1900 verankert.16 1912 wurde Kindesmisshandlung und -vernachlässigung mit schwerer Körperverletzung gleichgesetzt.17 Dem vorangegangen waren Initiativen privater Kinderschutzvereine, die das öffentliche Bewusstsein für die Gefährdung von Kindern weckten, Einrichtungen für betroffene Kinder gründeten und den Druck auf den Gesetzgeber zu erhöhen suchten.18 Für diese Ziele engagierte sich in Deutschland der „Verein zum Schutze der Kinder gegen Ausnutzung und Mißhandlung“, der 1898, zwei Jahrzehnte nach der Entstehung entsprechender Vorläuferorganisationen in den USA und Großbritannien, in Berlin ins Leben gerufen wurde.19 Eine wichtige Trägergruppe des Kinderschutzes im Kaiserreich waren Angehörige der bürgerlichen Frauenbewegung, die in der Fürsorge ein wichtiges Betätigungsfeld im Rahmen der zu Beginn des 20. Jahrhunderts expandierenden sozialen Arbeit erblickten.20 Sie setzten sich nachdrücklich für den Schutz von Frauen und Kindern vor sexueller Ausbeutung ein. So trat der Bund deutscher Frauenvereine konkret für die Anhebung des in dem für den sexuellen Missbrauch von Kindern relevanten § 176 Abs. 3 RStGB (s. u.) vorgesehenen Schutzalters von 14 auf 16 Jahre ein.21 Die Sozialdemokratin Adele Schreiber verfasste in dem von ihr herausgegebenen Sammelwerk „Das Buch vom Kinde“ einen Beitrag über den „Kindermißbrauch“22, der unter anderem sexuelle Gewalt gegen Kinder behandelt. Auch in das „Enzyklopädische Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge“ von 1911 wurde sexuelle Gewalt gegen Kinder in Form eines separaten Artikels aufgenommen.23 Die Kinderschutzbewegung, die die besondere Vulnerabilität des in Entwicklung befindlichen Kindes akzentuierte, vertrat mit dem seit Görgen u. a., S. 29. galt die körperliche Bestrafung von Kindern noch lange als legitimes „Erziehungsmittel“. 18  Vgl. mit Schwerpunkt auf die Habsburgermonarchie Malleier. 19  Vgl. Schreiber, S. 72, 77; Delitsch, S. 57 f. Der Verein unterhielt bald Niederlassungen u. a. in Hamburg, Chemnitz, Leipzig, Dresden und Melden und verfügte allein in Berlin über 200 Meldestellen. In Berlin-Zehlendorf unterhielt er ein Haus „Kinderschutz“ mit Plätzen für 84 Kinder. Dem Verein gehörten ehrenamtliche Mitarbeiter an, deren Tätigkeit von den Behörden und der Bevölkerung allerdings häufig behindert wurde. In der Weimarer Republik engagierten sich die Psychologin Hildegard Hetzer (1899–1991) und die Gerichtsmedizinerin Elisabeth Nau (1900–1975) in der Vereinsarbeit, vgl. Brachmann, S. 5. 20  Vgl. Baader, History, S. 18 f.; Baader, Bewegungen, S. 165. 21  Vgl. Jellinek, Frauenforderungen, S. 80; vgl. außerdem Jellinek, Petition. 22  Vgl. Baader, History, S. 18 f.; Baader, Bewegungen, S. 165. 23  Vgl. Ullmann. 16  Vgl.

17  Allerdings



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dem ausgehenden 19. Jahrhundert etablierten Konzept des „vulnerablen Kindes“ eines der zeitgenössisch einflussreichsten Deutungsmuster der Kindheit.24 Es konnte an das von der zeitgleich sich formierenden empirischen Kinderforschung25 vertretene Paradigma anschließen, welches die Idee der Entwicklungskindheit ins Zentrum rückte. Im Rahmen jenes neuen Wissenszweigs wurden diese Vorstellungen von den an der wissenschaftlichen Erforschung des Kindes interessierten Psychologen, Medizinern, Lehrern und anderen praktischen Pädagogen, Vertretern der Fürsorge sowie Juristen popularisiert.26 Den Rahmen für die strafrechtliche Verfolgung sexueller Gewalt gegen Kinder bildete das Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) von 1871, das auch die Grundlage des in der Weimarer Republik geltenden Strafrechts war.27 Regelungen zum Schutz von Mädchen hatte erstmals das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) von 1794 enthalten28 – eigene Gesetze gegen „Unzucht an Kindern“ gab es im deutschsprachigen Raum vor 1800 noch nicht.29 Nach §§ 1052–1054 ALR waren Vergewaltigung („Notzucht“) von Mädchen unter zwölf Jahren sowie „Notzucht“ an Mädchen und Frauen über zwölf Jahren mit hohem Freiheitsentzug zu ahnden.30 Das Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs differenzierte erstmals zwischen der an Frauen begangenen Vergewaltigung (§ 176 Abs. 1) und den an Kindern („Personen unter vierzehn Jahren“) begangenen „unzüchtigen Handlungen“ (§ 176 Abs. 3)31, die mit hohen Zuchthausstrafen von bis zu zehn Jahren bestraft werden konnten.32 Der Schutz bezog sich nicht nur auf Mädchen, sondern erstmals auch auf Jungen, die in älteren Gesetzestexten nicht berücksichtigt waren.33 Die Formulierung „unzüchtige Handlungen“ beschränkte sich nicht auf die Vergewaltigung im Baader, History; Baader, Perspektive. Dudek, Jugend; Depaepe; Eßer; Heinemann. 26  Den Zusammenhang zwischen Kinderforschung und Kinderschutzbewegung belegt Malleier, s. Malleier, S.  103 f. 27  Vgl. Brüggemann, S.  294 ff.; Brockmann, S.  151 ff. 28  Vgl. Brockmann, S.  153 f. 29  Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde in den Strafgesetzbüchern einzelner Länder wie z. B. Bayern der sexuelle Missbrauch von Kindern unter Strafe gestellt. Eine Übersicht über die in der ersten Jahrhunderthälfte erlassenen Landesgesetze bietet Aaron, S.  4 ff. 30  Vgl. auch Jarzebowski, S. 87. 31  Im genauen Wortlaut bestimmte der relevante § 176 Abs. 3 die Bestrafung eines Täters mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus, der „mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlung verleitet“. 32  § 176 I Abs. 3 blieb bis zur Neuregelung des Tatbestands des sexuellen Missbrauchs an Kindern (November 1973) über 100 Jahre unverändert. 33  Vgl. Brüggemann, S. 293; zeitgenössisch: Mittermaier, S. 115. 24  Vgl. 25  Vgl.

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engeren Sinne, sondern umschloss auch sexuelle Übergriffe in Form „unsitt­ licher Berührungen“ oder Exhibitionismus.34 Es genügte, „daß die jugendliche Person berührt und in Mitbeteiligung gezogen“ wurde35. Außerdem konnte nach § 174 RStGB der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen durch ­Autoritätspersonen (Ärzte, Lehrer, Erzieher und Priester)36 mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus bestraft werden. In anderen Staaten, so im angloamerikanischen Raum, war diese Form sexueller Gewalt nicht oder kaum berücksichtigt. Ein weiterer relevanter Strafrechtsparagraph war § 182 RStGB, der die Verführung eines („unbescholtenen“) Mädchens unter 16 Jahren unter Strafe stellte. Die zeitgenössische kommentierende juristische Literatur macht dabei deutlich, dass die strafrechtliche Verfolgung sexueller Gewalt gegen Kinder dem Gedanken des individuellen Anspruchs des Opfers auf Schutz entsprach. Der Schutz der Person und nicht etwa eine abstrakte kollektive „Sittlichkeit“ galt als zu schützendes Rechtsgut.37 Demzufolge wurde das Kind juristisch eindeutig als Opfer sexueller Gewalt angesehen.38 Als Rechtsgüter wurden in der juristischen Literatur die „Geschlechtsehre“, „geschlechtliche Unversehrtheit“, Freiheit und „geistige Unreife“39 des in Entwicklung befindlichen jungen Menschen genannt.40 III. Das Ideal der bürgerlichen Kindheit und dessen Verletzung Leitbild für die Anstrengungen zur Effektivierung des Kinderschutzes war der bürgerliche Kindheitsentwurf: Dieser war von dem ideengeschichtlich betrachtet erstmals von Aufklärungspädagogen formulierten Gedanken geprägt, wonach Kindheit eine eigenständige, bedeutsame und schützenswerte Lebensphase darstellte und als ein von der Erwachsenenwelt getrennter Schutzraum und pädagogisches Moratorium zu gestalten war. Für die gesell34  Vgl. Ullmann, S. 47. Der Ahndung sexueller Gewalt waren noch im 18. Jahrhundert enge juristische Grenzen gesetzt. Diese wurde bestraft, wenn der Geschlechtsverkehr vollzogen worden war, gegen den das Kind keinen Widerstand leisten konnte, vgl. Jarzebowski, S. 98. 35  Vgl. Aaron, S. 40. 36  Bereits das „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten“ stellte den Stellungsmissbrauch durch „Erzieher, Prediger und andere Lehrer, die Personen schänden, welche ihrer Erziehung und besonderem Unterricht anvertraut sind“ (Mittermaier, S. 129). 37  Vgl. Brüggemann, S. 295; Brockmann, S. 170, 173. Anders: Hommen, S. 59. 38  Vgl. Brockmann, S. 170 f. Demgegenüber scheint im Mittelalter mitunter nicht nur der Täter, sondern auch das missbrauchte Kind bestraft worden zu sein. 39  Aaron, S. 7. 40  In der Gegenwart steht das erstmals in den 1950er Jahren diskutierte Recht des Kindes auf „sexuelle Selbstbestimmung“ und dessen Recht auf ungestörte (sexuelle) Entwicklung im Vordergrund.



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schaftliche Thematisierung von Kindheit war eine spezifische Ambivalenz charakteristisch. Kindheit stand im Spannungsfeld einer Konzeption, die das einzelne Kind und dessen individuell zu fördernde Entwicklung im Blick hatte, und den hohen gesellschaftlichen Erwartungen, die an Kindheit im Kaiserreich gestellt wurden. Wie kaum ein anderes Sinnbild avancierte das Kind im späten 19. Jahrhundert zum Hoffnungsträger, der einerseits gesellschaftlichen Fortschritt verbürgte und andererseits einen Ausweg aus einer höchst ambivalent erfahrenen Moderne wies. Das Kind wurde aufgrund seiner stärkeren Nähe zur „Natur“ zum Gegenbild einer zunehmend fragwürdig gewordenen Zivilisation. Entsprechende auf die Kindheitsidee der Romantik zurückgreifende Imaginationen, denen zufolge das Kind aufgrund seiner „Ursprünglichkeit“ dem Erwachsenen gar überlegen war41, korrespondierten mit der Vorstellung von der kindlichen „Unschuld“ und „Reinheit“, die sich begleitet vom Bedeutungsverlust des über Jahrhunderte wirkmächtigen Erbsünde-Theorems seit der Aufklärung durchgesetzt hatte und konstitutiv für die bürgerliche Kindheitsidee geworden war42. Gesellschaftliche Projektionen gipfelten im Kaiserreich in der Mythisierung des „heiligen Kindes“.43 So betonte der Gießener Strafrechtler Wolfgang Mittermaier den „Gedanke[n] der Notwendigkeit absoluter Heilighaltung der Kinder“44. Mit der ideellen Überhöhung von Kindheit korrelierte gleichzeitig ein spezifisches Krisenbewusstsein, das die negativen Konsequenzen einer nicht „kindgerechten“ Nutzung dieser Lebensphase, von mangelnder Erziehung sowie von Vernachlässigung und (sexueller) Gewalt akzentuierte.45 Als die andere Seite der Medaille der Idee einer gesunden, „gelungenen“ oder „glücklichen“ Kindheit existierte seit der Jahrhundertwende das Motiv der „versehrten“ Kindheit46. Hierbei gerieten insbesondere Kindheiten in Arbeiterfamilien in den Blick, die aufgrund der ganz andersgearteten Lebensbe­dingungen ein Gegenmodell zur idealisierten bürgerlichen Kindheit darstellten. Beengte Wohnverhältnisse, das Zusammenleben der Familie mit Schlafburschen auf engstem Raum, die angenommene „Frühreife“ und vorzeitige sexuelle Erfahrungen der Kinder waren Faktoren, die in den Augen zeitgenössischer BeobBaader, Idee; Baader, Erwachsene. Cunningham, S.  95 ff. 43  Vgl. Weisser. 44  Mittermaier, S. 120. 45  Das heißt nicht, dass zu früherer Zeit kein gesellschaftliches Unrechtsbewusstsein für sexuelle Gewalt gegen Kinder vorhanden war. Im Unterschied zur älteren Kindheitsforschung (v. a. deMause) hat dies für das 18. Jahrhundert eindringlich Claudia Jarzebowski herausgearbeitet, vgl. Jarzebowski, S. 85. Im Mittelalter wurde „Unzucht“ mit Kindern von der Kirche scharf verurteilt, vgl. Lutterbach, Bußbücher; Lutterbach, Christentum, S. 47 ff. 46  Vgl. Ewers; Berg, S. 508. 41  Vgl. 42  Vgl.

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achter sexuelle „Verwahrlosung“ und Gewalt begünstigten. S ­ exuelle Gewalt gegen Kinder war – nach Ansicht der Mehrheit der zeitgenössischen Mediziner und Juristen – in erster Linie auf proletarische und ländliche Schichten begrenzt.47 Neben der Projektion auf die unteren Gesellschaftsschichten bestand die starke Tendenz zur Psychopathologisierung der Täter, die – wie der bekannte Strafverteidiger Johannes Werthauer hervorhob – „fast ausnahms­ los“48 „geisteskrank“ oder „geistesschwach“ seien. Andere Beobachter gingen hingegen davon aus, dass an Kindern begangene Sexualdelikte in allen sozialen Schichten vorkamen. So konstatierte der J­urist und Sexualkriminologe Erich Wulffen, dass mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern „auch in den höheren Gesellschaftskreisen zahlreich“49 zu rechnen sei. Die für andere Straftaten festzustellende Korrelation von „‚Besitz und Bildung‘“50 bestehe bei Sexualvergehen „in viel geringerem Maße“, bemerkte der erfahrene Sachverständige und Leiter des einflussreichen psychologischen Instituts des Leipziger Lehrervereins, Max Döring. Adele Schreiber gab zu bedenken, dass die Aufdeckung besonders schwer sei, „weil die Schuldigen es oft verstehen, nach außen hin den Mantel strenger Sitte und Ehrenhaftigkeit zu tragen“51. Ein Gerichtsmediziner der Universität Königsberg nannte als wichtige Erklärung der Tatsache, dass von Sexualstrafprozessen, in denen sexuelle Gewalt gegen Kinder verhandelt wurde, vorwiegend Kinder aus Arbeiter- oder Handwerkerfamilien, sehr viel seltener aber Kinder aus bürgerlichen Familien betroffen waren, dass die Angehörigen die mit e­ inem solchen Verfahren verbundenen zahlreichen und schmerzhaften Vernehmungen der Kinder52 – und man darf hinzufügen: einen Skandal für die Familie – scheuten. IV. Das gefährdete und das „verführerische“ Kind „Unzucht mit Kindern“ wurde um die Jahrhundertwende in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert und von der entstehenden Boulevardpresse skandali47  Vgl. auch Hommen, S. 209; vgl. zeitgenössisch z. B. die Darstellung des Berliner Gerichtsmediziners Fritz Leppmann, s. Leppmann. 48  Vgl. Werthauer, S. 60. Johannes Werthauer trat im Kaiserreich und in der Weimarer Republik für eine Reform des Sexualstrafrechts ein. Er gehörte dem Umfeld von Magnus Hirschfeld an, den er in Gerichtsverfahren des Öfteren als Gutachter bestellte, vgl. Kühl, S. 751. Hirschfeld selbst vertrat diese Position, so in einem Gutachten aus dem Jahr 1930, in dem er unterstrich, dass sexueller Missbrauch in Familien (Inzest) „fast nur bei verblödeten, degenerierten, infantilen, dem Alkohol ergebenen Individuen im Armeleutemilieu“ vorkäme (veröffentlicht in der Zeitschrift für Kinderforschung 39 / 4 [1932], S. 330). 49  Wulffen, S. 385. 50  Döring, S. 1029. 51  So Schreiber, S. 73. 52  Vgl. Goroncy, S. 4.



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siert.53 Statistisch betrachtet stieg die Zahl der vor Gericht verhandelten Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder nach 1900 an. In Deutschland, Österreich und anderen europäischen Ländern könne ein „geradezu rapider“54 Anstieg dieser Fälle beobachtet werden. Gegenüber 1897 mit 3085 Verurteilungen wurden im Jahr 1904 4.378 Personen registriert, die wegen „unzüchtiger Handlungen an Kindern“ verurteilt wurden.55 Unter den in der Reichsstatistik aufgeführten „Sittlichkeitsverbrechen“ war sexuelle Gewalt gegen Kinder am häufigsten.56 Der registrierte Anstieg der Verurteilungen betraf in erster Linie sexuelle Gewalt gegen Mädchen unter 14 Jahren, die durch erwachsene Männer verübt wurde.57 Die statistisch nicht erfassten, nicht zur Anzeige gebrachten Fälle seien als „ziemlich hoch“58 einzuschätzen, so Wulffen. Der Berliner Arzt, Psychiater und Sexualwissenschaftler Albert Moll (1862–1939) kommentierte den statistischen Anstieg der Verurteilungen nicht als Indiz für eine absolute Zunahme der an Kindern begangenen Sexualdelikte, sondern als Zeichen eines gesellschaftlichen Gefährdungsbewusstseins und verstärkter Sensibilität für sexuelle Gewalt gegen Kinder wie auch der erhöhten Bereitschaft, entsprechende Verdachtsfälle anzuzeigen. Für die Zeit der Weimarer Republik konstatierte der Psychologe William Stern (1871–1939) eine in der Bevölkerung beobachtbare „stärkere Anzeigetendenz und Anklagetendenz“59. Max Döring schätzte Sexualvergehen gegen Kinder als „sehr häufig“60 ein. Es sei von einer hohen Dunkelziffer und von der Tatsache auszugehen, dass lediglich ein kleiner Bruchteil der an Kindern begangenen Sexualdelikte an die Öffentlichkeit gelangte. Eine der Hürden, die Eltern daran hinderten, einen Verdachtsfall anzuzeigen, war der gesellschaftliche Umgang mit Sexualität als eines tabuisierten Bereichs, von dem insbesondere „unschuldige“ Kinder fernzuhalten seien. 53  Vgl. Kerchner, Jahrhundertwende, S. 7. Für besonderes Aufsehen hatte der in Berlin geführte Pädophilie-Prozess gegen den Bankier August Sternberg gesorgt. Eine ausführliche Schilderung dieses Falles bietet die Darstellung des Gerichtsreporters Hugo Friedländer, s. Friedländer. 54  Ullmann, S. 47. 55  Vgl. Mittermaier, S. 115. Die hier wiedergegebene Übersicht zeigt einen kontinuierlichen Anstieg der wegen § 176 Abs. 3 verurteilten Personen. Das Strafmaß lag bei drei bis zwölf Monaten bis über zwei Jahre Gefängnis, wobei auch hohe Zuchthausstrafen verhängt wurden. Allerdings weist Mittermaier auch auf die Zunahme von Fällen hin, in denen mildernde Umstände geltend gemacht wurden. Seit 1897 wiesen die Kriminalstatistiken des Deutschen Reiches „unzüchtige Handlungen an Kindern“ gesondert aus. 56  Vgl. Himmelreich, S. 8. 57  Vgl. Wulffen, S. 381; Ullmann, S. 48. 58  Wulffen, S. 382. 59  Stern, Vorverfahren, S. 10. 60  Döring, S. 1029.

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Als Folgen sexueller Gewalt gegen Kinder wurden von ärztlicher Seite die mit der Verletzung der körperlichen Integrität und „geschlechtlichen Unversehrtheit“ verbundene soziale und gesundheitliche Gefährdung des Kindes thematisiert. Dass das sexuell ausgebeutete Kind häufiger als das unversehrte Kind der Prostitution und dem Verbrechen anheimfiel, wurde in diesem Kontext oft beschrieben.61 Alle Bestrebungen des Gesetzgebers müssten daher dem Ziel dienen, „die Jugend gegen sittliche Verderbnis zu schützen“62. Körperliche Schäden63, äußerlich sichtbare und medizinisch diagnostizierbare Begleiterscheinungen des sexuellen Kontakts mit dem Täter, körperliche Verletzungen sowie die Infektion mit Geschlechtskrankheiten (Tripper, Syphilis)64 wurden häufig erwähnt. Angaben über potentielle langfristige psychische Folgen sexueller Gewalt gegen Kinder finden sich in den untersuchten Quellen demgegenüber weitaus seltener. Casper beschreibt einen Fall, in dem der gerichtsärztliche Befund den sexuellen Missbrauch eines siebenjährigen Mädchens zwar bestätigte, gleichzeitig aber bemerkte, „dass […] nachtheilige Folgen für die Gesundheit des Kindes höchstwahrscheinlich nicht zu besorgen seien“65. Gleichwohl gab es bereits im medizinischen Schrifttum des 19. Jahrhunderts Hinweise auf mögliche traumatisierende Folgen sexueller Gewalt66, im 20. Jahrhundert auch bei Kindern67, die depressiv mit Rückzug reagierten und auch Suizidgedanken äußerten. Auch wurde der (vollzogene) Suizid von Kindern nach sexuellem Missbrauch beobachtet.68 Eine Beobachtung war außerdem, dass Erwachsene, die in der Kindheit sexuelle Gewalt erlebt hat-

z. B. Moll, S. 205; Wulffen, S. 382. S. 119. 63  „Bis zu ihrem zwölften Lebensjahre werden die Kinder geschützt um ihrer körperlichen Unreife willen. In diesem Lebensalter sind es besonders körperliche Schäden, die die Unzucht nach sich zieht, und an die der Gesetzgeber wohl in erster Linie dachte.“ (Aaron, 6 f.). 64  Eine Ansteckung des Kindes mit einer Geschlechtskrankheit hatte in der Regel ein höheres Strafmaß zur Folge. In diesen Fällen verhängten die Gerichte Zuchthaus- anstelle von Gefängnisstrafen, vgl. Leppmann, S. 306. 65  Casper, Nothzucht, S. 35. 66  Dies erwähnt Brockmann, S. 171 f. Einschränkend ist aber hinzuzufügen, dass das von Brockmann in diesem Zusammenhang zitierte Werk des Gerichtsmediziners Ludwig Julius Caspar Mende sich auf die seelischen Folgen sexueller Gewalt an erwachsenen Frauen bezieht, s. Mende. 67  „Inwiefern die Hysterie der Kinder […] mit peinlichen Erlebnissen sexueller Natur zusammenhängt, ist nicht erwiesen, doch wird von seiten mancher Neurologen angenommen, daß ein solcher Zusammenhang fast regelmäßig besteht.“ (Ullmann, S.  49 f.). 68  Vgl. Klimmer, S. 60. 61  Vgl.

62  Mittermaier,



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ten, „nicht selten“69 später selbst zu Tätern wurden. Zeitgenössische Untersuchungen über psychische Folgen sexueller Gewalt gegen Kinder waren indes eher rar. Falls diese behandelt wurden, kamen die Autoren zu widersprüchlichen Ergebnissen: So bilanzierte eine Studie aus dem Jahr 1926, dass in der Kindheit erlittene sexuelle Gewalt im Erwachsenenalter keine nachhaltigen Wirkungen hätte. Allerdings unterlegte der Autor dies u. a. mit der wenig überzeugenden Begründung, dass ein Großteil der untersuchten Frauen die in der Kindheit erlebten Taten überhaupt nicht erinnerten, beim anderen Teil die Erinnerung erheblich verblasst war.70 Als zentrales Fazit wurde hervorgehoben, „daß die Erwachsenen im allgemeinen durch das sexuelle Trauma in der Kindheit in ihrem psychischen Gleichgewicht nicht alteriert zu werden pflegen“71. Auch für die spätere Sexualität der Frauen sei die Tat „bedeutungslos geblieben“72. Ein Grund hierfür, so lautete eine weitverbreitete Meinung, sei, dass das Kind anders als der erwachsene Mensch die Tat noch nicht „verstehen“73 könne. Zu einer ganz anderen Einschätzung kam der Mannheimer Kinderarzt Julius Moses (1869–1945)74, der die in seiner Studie aus dem Jahr 1932 detailliert beschriebenen seelischen Folgen nach erlebter sexueller Gewalt durch ein Kind „den posttraumatischen Folgezuständen“75 zuordnete. Insgesamt betrachtet ist aber auffällig, dass die meisten Autoren die subjektiven Erfahrungen und Wahrnehmungen sexueller Gewalt durch die betroffenen Kinder, deren Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefert69  Ullmann,

S. 48. Goroncy, S. 7. Die am gerichtsmedizinischen Institut der Universität Göttingen entstandene Studie stützt sich auf die Untersuchung von rund 25 Frauen im Alter zwischen 20 und 32 Jahren, die in der Kindheit sexuelle Gewalt erlebt hatten, deren körperliche Folgen vom Institut zu jener Zeit festgestellt wurden. Jahre später sind sie vom Verfasser brieflich kontaktiert und zu der subjektiven Erinnerung und Wertung der Tat, ihrem Sexualleben und ihrer körperlichen und psychischen Verfasstheit befragt worden. Die Untersuchung führt allerdings auch interessante Hinweise über das Verhalten anderer untersuchter Frauen an, z. B. die Beobachtung, dass einige Frauen „Worte der Entschuldigung und des Verstehens“ (Goroncy, S. 8) für den Täter fanden und diesen zu exkulpieren suchten. 71  Goroncy, S. 13. 72  Goroncy, S. 14. 73  „Allgemeine seelische Erschütterungen im Anschluß an das Sittlichkeitsverbrechen sind in meinen Fällen nicht beobachtet. Sie sind erfahrungsgemäß auch bei Kindern sehr viel seltener zu beobachten als nach der Vergewaltigung Erwachsener. Das erklärt sich psychologisch […] aus der mangelnden Einsicht des Kindes, das oft keinen Widerstand leistet, weil es gewohnt ist, sich dem Willen Erwachsener zu beugen.“ (Goroncy, S. 9). 74  Vgl. Moses. Als Untersuchungsgrundlage dieser Arbeit dienten Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder, die der Mannheimer Beratungsstelle des städtischen Jugendamts gemeldet worden waren. 75  Moses, S. 542. 70  Vgl.

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seins, Ängste, Schmerzen und Traumata76 weitestgehend ausblenden. Insgesamt überwog eine Erwachsenensicht, die die negativen Folgen sexueller Gewalt nicht im Hier und Jetzt des Kindes, sondern in dessen Zukunft beschreibt. Die spätere moralische oder gesundheitliche Gefährdung des missbrauchten Kindes stand dabei im Vordergrund. Neben der Empörung über sexuelle Gewalt gegen Kinder formierte sich nach der Jahrhundertwende Widerstand gegen das geltende Sexualstrafrecht und die Praxis deutscher Gerichte, die in den Augen der Kritiker zur Verurteilung auch „unschuldiger“ Männer führten.77 Dies betraf solche Fälle, in denen das Phänomen sexueller Gewalt gegen Kinder in das bürgerliche Lager eingebrochen war und die sozialen Hierarchien zu verletzen drohte.78 Der Berliner Arzt Max Marcuse berichtete von einem Fall, in dem zwei 14- und 15-jährige Mädchen, die mehr als zwei Jahre der Prostitution nachgegangen waren, 36 Männer in Untersuchungshaft brachten, die von einem Breslauer Gericht nach § 176 Abs. 3 RStGB79 angeklagt wurden. Dieser von der Lokalpresse ausgebreitete Fall hatte starken Unmut unter der Bevölkerung ausgelöst, der sich gegen die Mädchen richtete, die „unbescholtene Bürger“80, unter denen sich verheiratete Männer in angesehenen Stellungen befanden, ins Gefängnis brachten. Zwei der Beschuldigten hatten sich durch Suizid der Untersuchungshaft entzogen. In diesem Zusammenhang wurde die Forderung laut, den Schutz des § 176 Abs. 3 „nur reinen, unverdorbenen Kindern zugute kommen“ zu lassen. In erster Linie warnte nach 1900 die Berufsgruppe der Lehrer vor ungerechtfertigten Anklagen gegen Kollegen, die sexueller Übergriffe auf Schüler beschuldigt wurden. Derartige Anklagen und entsprechende Gerichtsprozesse hatten nach der Jahrhundertwende zugenommen und zu einer Frontstellung gegen „gefährliche Zeugen“ geführt. Die meisten gegen Lehrer angestrengten Prozesse bezogen sich auf Anklagen wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts sowie „Vergehen gegen die Sittlichkeit“. Lehrer warnten davor, dass „ein böswilliges und verdorbenes Kind“81 viele Motive haben konnte (z. B. Rache), falsche Beschuldigungen gegen einen Standeskollegen vorzubringen. Viele kritisierten, „daß den Kinderaussagen von den untersuchenden Behörden vielfach zu große Vertrauensseligkeit entgegen­ gebracht“82 werde, und führten Fälle aus der eigenen Praxis an, die die „Un76  Vgl. den Beitrag von Sonja Matter in diesem Band, die darauf hinweist, dass unter Ärzten erst seit den 1960er Jahren ein verstärktes Bewusstsein über Traumatisierungsfolgen infolge sexueller Gewalt gegen Kinder festgestellt werden könne. 77  Vgl. z. B. Werthauer, S.  61 f. 78  Vgl. auch Kerchner, Jahrhundertwende, S. 19. 79  Das Schutzalter legte das Gesetz auf 14 Jahre fest. 80  Marcuse, S. 188, auch für das folgende Zitat. 81  Zit. nach Dudek, Mißbrauch, S. 134. 82  Michel, S. 5.



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zulänglichkeit der Kinderaussage“83 erhärten sollten.84 Auch von ärztlicher Seite wurde die Gefahr von Fehlurteilen aufgrund von falschen Aussagen von Kindern problematisiert. Dem auch als forensischer Gutachter tätigen Albert Moll folgend verließ „nur selten bei solcher Anklage [eines sexuellen Übergriffs auf ein Kind] der Angeklagte ohne Verurteilung den Gerichtssaal“85. Die zeitgenössischen Diskurse über sexuelle Gewalt gegen Kinder im Kaiserreich veranschaulichen einen ambivalenten gesellschaftlichen Umgang mit der „kindlichen Unschuld“ und machen zudem deutlich, dass durch das Thema die traditionellen Hierarchien zwischen den Generationen, den Geschlechtern und den sozialen Schichten herausgefordert waren. So existierten neben Mitgefühl für die Opfer, Empörung und der Forderung nach konsequenter Strafverfolgung auf der einen Seite auch „Verständnis“ für die Täter (sofern diese aus dem bürgerlichen Lager kamen), deren Rechtfertigung und Wegsehen. Dass dabei auch die Opfer zu „Tätern“ gemacht wurden, zeigt der in den Diskursen präsente Gedanke, dass ein Kind einen sexuellen Übergriff auch selbst herausfordere. In erster Linie Mediziner bedienten den Topos des verführerischen Kindes und lieferten hierfür eine pseudowissenschaftliche Erklärungsgrundlage.86 In Frage gestellt wurden dadurch insbesondere die sexuellen Gewalterfahrungen sogenannter „frühreifer“ Mädchen aus dem Arbeitermilieu, die Opfer eines sexuellen Übergriffs oder kontinuierlicher sexueller Gewalt geworden waren. Einschlägige ärztliche Gutachten lassen „[e]ine eindeutige Parteinahme für das Kind“87 weitestgehend vermissen. Es gäbe Mädchen, die „aufgrund ihres eigenen frühzeitig entwickelten Geschlechtstriebes dem Attentäter auf halber Strecke oder noch weiter entgegenkommen“88, meinte etwa Moll. Mit dem Hinweis auf die „Verdorbenheit“ und sexuelle Erfahrenheit eines Mädchens89 übernahmen Mediziner eine Tätersicht und relativierten den Opferstatus insbesondere von Mädchen.90 Gefährdete Kinder und „gefähr­ 83  Michel,

S. 48. auch Müller. 85  Moll, S. 208. 86  Vgl. auch Hommen, S. 94. 87  Malleier, S. 115. Zeitgenössische ärztliche Berichte geben den Eindruck einer „Verhörsituation“, bei der die missbrauchten Mädchen am Ende „gestanden“, Objekt sexueller Übergriffe geworden zu sein, vgl. Malleier, S. 118. 88  Moll, S. 106. 89  Diese Sicht drückte auch das geltende Strafrecht aus, das nach § 182 RStGB ein „unbescholtenes Mädchen“ unter 16 Jahren vor Verführung schützte. Die Streichung dieses Wortlauts forderte der Bund deutscher Frauenvereine, vgl. Jellinek, Frauenforderungen, S. 81. 90  „Wenn ein solches Mädchen auch noch jene versteckte Lüsternheit besitzt, […] dann verwischt sich für den männlichen Teil das Gefühl der Straffälligkeit beim geschlechtlichen Umgang mit diesen halbreifen Kindern doch wohl in manchen Fällen.“ (Leppmann, S. 302). 84  Vgl.

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liche“ Zeuginnen waren in ihren Augen in erster Linie Mädchen aus der Arbeiterschicht.91 V. Ein neuer Blick auf das Kind als Zeuge: Ergebnisse der zeitgenössischen Aussagepsychologie Nach der Jahrhundertwende wurde die juristische Bewertung von kindlichen Zeugenaussagen in zeitgenössisch sogenannten „Sittlichkeitsprozessen“ hochaktuell. Dies betraf die Fälle, in denen die Zeugenaussage eines Kindes, das selbst Opfer eines sexuellen Übergriffs oder kontinuierlicher sexueller Gewalt geworden war, ausschlaggebend für die Verurteilung eines Ange­ klagten war. Das Kind war damit einziger Zeuge in dem Verfahren (Opferzeuge).92 Die deutsche Strafprozessordnung kannte seit 1871 keine Altersbeschränkung für Zeugen93; im Unterschied zum Deutschen Reich erkannte das britische Rechtssystem die Aussage von Kindern vor Gericht nicht an.94 Im Kontext der britischen Kinderschutzbewegung wurde ein − letztlich jedoch erfolgloser − Versuch unternommen, um unter anderem die Aussagen von Kindern in Gerichtsprozessen, in denen Fälle sexueller Gewalt in der Familie verhandelt wurden, verwenden zu können. Für Deutschland sind im ausgehenden 19. Jahrhundert mehrere Fälle dokumentiert, in denen die Aussagen kleiner Kinder zur Überführung und gerichtlichen Verurteilung von Sexualstraftätern führten.95 Für die Beurteilung kindlicher Zeugenaussagen gewannen im Kaiserreich und verstärkt in der Weimarer Republik die Erkenntnisse der nach 1900 entstandenen Aussagepsychologie, einem Teilgebiet der Forensik, an Bedeutung.96 Eine ihrer zentralen Ergebnisse lässt sich auf die Formel bringen, dass die „fehlerfreie Aussage […] nicht die Regel, sondern die Ausnahme“ (Stern) war, wobei hier nicht die absichtliche Lüge, sondern die unbewusste 91  Vgl.

auch Kerchner, Jahrhundertwende, S. 30. wurde eine weit geringere Zahl von Hör- und Augenzeugen ange-

92  Daneben

nommen. 93  Zur rechtlichen Stellung des Zeugen in Deutschland vgl. Flachsbart, S. 13, 16. 94  Vgl. Hommen, S. 93. 95  Vgl. z. B. Ein Beitrag zur Würdigung der Aussage eines Kindes, das in einem Strafverfahren wegen eines Verbrechens nach § 176 Abs. 3 des Strafgesetzbuches als Zeuge vernommen wurde, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 12 (1903), S. 25–37; Schwabe. 96  Wichtige Impulse gingen von Frankreich aus, wo der Psychologe Alfred Binet wichtige Untersuchungen an Schulkindern vornahm und den Faktor der „Suggestibilität“ in den Vordergrund rückte. Für die USA sind die Forschungen des DeutschAmerikaners Hugo Münsterberg zu nennen, vgl. Binet; Münsterberg.



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„Aussagefälschung“ gemeint war. Zwischen der Aussagepsychologie, die sich auf die Untersuchung der Aussagen von Kindern und weniger auf die von Erwachsenen konzentrierte, und der empirischen Kinderforschung, die sich mit dem Vorstellungsleben und Erinnerungsvermögen des Kindes befasste und deren Spezifika und Unterschiedlichkeit gegenüber den entsprechenden Funktionen des erwachsenen Menschen betonte, bestanden teilweise enge Verbindungen.97 Zentrale Ergebnisse experimenteller Aussageversuche98 waren die hohe Suggestibilität und das relativ geringe Erinnerungsvermögen kleiner Kinder. Diese Erkenntnisse, die vor allem die Juristenwelt alarmierten, erlangten relativ schnell eine hohe Relevanz für die Rechtspraxis. Aussagepsychologen wiesen auf die Wahrscheinlichkeit von Fehlurteilen mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Angeklagten hin, wenn kind­ liche Zeugenaussagen als vollgültige Beweismittel akzeptiert wurden. Der Psychologe Karl Marbe, neben Stern ein weiterer exponierter Vertreter der Aussagepsychologie in Deutschland, plädierte für eine Reform der Strafprozessordnung, die der angenommenen „Unzuverlässigkeit der kindlichen Aussagen“99 Rechnung trug. Diese Forderungen gingen soweit, die Verurteilung eines Angeklagten zu verhindern, wenn diese sich ausschließlich auf die Aussage eines Kindes gründete.100 Psychologen erhielten in der Kontroverse, 97  Das bekannteste Beispiel für diese Verbindung bietet die Arbeit Sterns, der einer der wichtigsten „Pioniere“ sowohl der empirischen Kinderforschung als auch der Aussagepsychologie in Deutschland war. William Stern (1871–1938), ursprünglich von der experimentellen Psychologie herkommend, hatte sich seit der Jahrhundertwende intensiv mit Fragen der Kinderpsychologie befasst. Durch seine empirischen Kinderstudien trieb er die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Deutschland entstehende wissenschaftliche Kinderforschung maßgeblich voran. Stern zufolge beruhte die geringe Glaubwürdigkeit kindlicher Aussagen entgegen zahlreicher Missverständnisse keineswegs darauf, dass die Kinder besonders häufig „logen“. Insbesondere dem kleinen Kind fehle das Bewusstsein für die Lüge, und in den allermeisten Fällen meine es subjektiv, die Wahrheit zu sagen. Die Ergebnisse der Aussageuntersuchungen an Kindern sollten nach Stern nicht nur Konsequenzen für die juristische Praxis haben. Dass das Kind „ein qualitativ andersartiger Mensch“ (Stern, Kinderaussagen, S. 52) als der Erwachsene war, sollte auch in der pädagogischen Praxis zur Folge haben, dass auf dessen eigene Stimmungen, Ausdrucks- und Erinnerungsfähigkeit und Fähigkeiten in hohem Maß Rücksicht zu nehmen war. Die geringe Erinnerungsfähigkeit kleiner Kinder musste Stern zufolge die pädagogische Konsequenz haben, dass die oft vorschnell als mutwillige „Lüge“ gebrandmarkte und bestrafte Aussage des Kindes vom Erzieher dem individuellen Entwicklungsstand des Educandus gemäß psychologisch richtig eingeschätzt wurde. 98  Z. B. wurden Aussageversuche mit Schulkindern durchgeführt, denen bildliche Darstellungen mit einem hohen Komplexitätsgrad gezeigt wurden. Die Kinder sollten anschließend zunächst in einem freien Bericht und dann in einem „Verhör“ über das Erinnerte aussagen. 99  Marbe, S. 381. 100  Vgl. Undeutsch, S. 133.

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wie mit den Aussagen von Kindern in Sexualstrafprozessen umzugehen sei, eine entscheidende Bedeutung auch durch ihre Tätigkeit als gerichtliche Sachverständige, die durch ihre Gutachten das Urteil beeinflussten. Bereits im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende kam es zu mehreren Wiederaufnahmeverfahren, in denen vordem wegen eines an Kindern und Jugend­ lichen begangenen Sexualdeliktes verurteilte Männer mangels Beweises freigesprochen wurden.101 VI. Die Beurteilung von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Weimarer Republik Die Forderung, dass den Aussagen von Kindern mit größter Zurückhaltung zu begegnen sei, hatte die weitreichende Konsequenz, dass die Rechtsprechung der Weimarer Republik den Aussagen von Kindern weitaus kritischer begegnete als dies noch zwei Jahrzehnte vorher der Fall gewesen war.102 Der Nestor der bundesrepublikanischen Gerichtspsychologie, Udo Undeutsch, konstatierte, dass die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen der Weimarer Zeit sowie weite Teile der Richterschaft die Positionen der zeitgenössischen Aussagepsychologie dahingehend auslegten, „daß die Bekundungen von kindlichen und jugendlichen Zeugen in Sittlichkeitsprozessen öfter unglaubhaft als glaubhaft seien“103. Die Gerichte schreckten häufig vor einem Urteil zurück, das sich ausschließlich auf die Aussagen von Kindern oder z. B. die beschriebenen Fälle bei Stern, Behandlung. in weiten Teilen berechtigte Kritik an der Aussagepsychologie übersieht in einer verkürzten Perspektive, dass deren Vertreter keineswegs die These vertraten, dass die Aussagen von Kindern generell [Herv. d. A.] unzuverlässig und unglaubwürdig seien: Zudem klassifizierten Aussagepsychologen nicht unterschiedliche Formen von „Lügen“, wie Brigitte Kerchner behauptet, sondern befassten sich mit den unterschiedlichen Ausprägungen der Erinnerungsfähigkeit. In diesem Zusammenhang scheint der Pauschalvorwurf, Mediziner und (Aussage-‍)Psychologen hätten „Schützenhilfe“ zur Entlastung potentieller Sexualstraftäter geleistet (vgl. Kerchner, Jahrhundertwende, S. 19), überzogen. Stern und Döring führten auch Fallbeispiele an, die die Glaubwürdigkeit von Kindern belegten. Zudem stellte Döring fest, dass „normale“ Kinder „in den meisten Fällen sehr wohl in der Lage seien, die Wahrheit als solche zu beurteilen und sie auch zu sagen“ (Döring, S. 1029). Auch vor Gericht würden solche Aussagen „in sehr vielen Fällen“ (Döring, S. 1029) gemacht. Entsprechende Geständnisse von Angeklagten, die sehr viel häufiger vorkämen als öffentlich [Herv. d. A.] bekannt sei, seien der beredte Beweis hierfür. 103  Undeutsch, S. 139. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg bahnte sich eine andere Bewertung kindlicher Zeugenaussagen in Sexualstrafprozessen an. Die Aussagen wurden nun mehrheitlich als glaubhaft erachtet, sofern es sich um Einzelzeugen, nicht um Gruppenzeugen handelte. Im Jahr 1954 stützten Undeutsch folgend die Gutachten überwiegend die Glaubwürdigkeit der Aussagen von Kindern und bestärkten die Gerichte dadurch, weiter aufzuklären, was in nicht wenigen Fällen neue Überführungsmomente zur Folge hatte, vgl. Undeutsch, S. 139 f., S. 143. 101  Vgl. 102  Die



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Jugendlichen stützen konnte.104 Die Rechtspraxis der 1920er Jahre führte zur Verfestigung der Annahme von der „Unglaubwürdigkeit“ von Kinderaussagen. Zu kritisieren sind dabei nicht die Ergebnisse der frühen Aussage­ psychologie an sich,105 sondern deren Übertragung in den Gerichtssaal. Die experimentell festgestellten Aussagen von Kindern kamen unter gänzlich anderen, erschwerten Bedingungen zustande, die nicht vergleichbar mit der Situation eines sexuellen Angriffs auf ein Kind waren, den dieses vor Gericht bezeugte.106 Aus heutiger Sicht fragwürdig sind zudem die von den herangezogenen Sachverständigen erstellten persönlichen „Glaubwürdigkeitsgutachten“107, die nicht nur Aufschluss über die Glaubwürdigkeit der konkreten Aussage, sondern die generelle „Glaubwürdigkeit“ des Zeugen geben sollten. Als Indiz für die „Unglaubwürdigkeit“ einer Zeugin wurde beispielsweise deren „umfangreiches Sexualwissen“108 gewertet. Auch die von Lehrern (!) bewertete Aufmerksamkeit und Zuverlässigkeit der Schüler konnte in das Gutachten einfließen. Dass ein Mädchen oft gedankenversunken in der Schulbank saß und aufschreckte, wenn der Lehrer sie aufrief, war „verdächtig“ und wurde mit der Bemerkung kommentiert: „Läßt u. a. sexuelles Binnenleben vermu­ ten“109. Auch „ein starkes Selbstbewußtsein“110 war ein Zug, der „ein starkes Mißtrauen“ gegenüber den Aussagen von Schülern angebracht erscheinen ließ. Dass die psychologischen Gutachter fast immer auf Veranlassung der Verteidigung geladen wurden111, rückte ihre Tätigkeit in ein negatives Licht und Placzek, S. 407. suggestive Befragungen von Kindern bedingte Aussageverfälschungen wurden in den 1980er Jahren erneut verstärkt diskutiert: Dem vorangegangen waren aufsehenerregende Verfahren über sexuelle Gewalt gegen Kinder, zunächst in den USA, wo zahlreiche Kinder MitarbeiterInnen von Horten der Misshandlung und des sexuellen Missbrauchs beschuldigt hatten, die dann letztlich von diesen Vorwürfen freigesprochen wurden. Ähnliche Verfahren, die es u. a. in den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland (sog. Montessori-Prozess am Landgericht Münster und sog. Wormser „Kinderschänder“-Prozess am Landgericht Mainz) gab, führten zu einer erneuten verstärkten Debatte über die suggestive Beeinflussbarkeit von Kindern, wobei frühe einschlägige aussagepsychologische Untersuchungen (z. B. Binet, Stern) einbezogen wurden, vgl. Köhnken, S. 51. 106  Vgl. zu dieser Kritik Undeutsch, S. 140. 107  In der Gegenwart werden nur noch fallbezogene Gutachten erbracht. 108  Döring, S. 1035. 109  Döring, S. 1035. 110  Döring, S. 1036, auch für das folgende Zitat. 111  Stern problematisierte die Gefahr, dass die Aussagepsychologie hierdurch diskreditiert wurde, vgl. Stern, Behandlung, S. 70. Heute geschieht dies in der Regel durch die Gerichte, und zwar ausnahmslos in all den Fällen, in denen sich keine au104  Vgl.

105  Durch

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führte außerdem dazu, dass die Sachverständigen nur einen kleinen, nicht repräsentativen Ausschnitt aller verhandelten Fälle zu sehen bekamen.112 Dass geschickte Rechtsanwälte den Allgemeinplatz von der „Unglaubwürdigkeit“ der Zeugenaussagen von Kindern für ihre Verteidigungsstrategie auszunutzen wussten113 und deren Verhöre in eine „Seelenquälerei“114 des kindlichen oder jugendlichen Belastungszeugen ausarteten, wurde von den Gerichtsmedizinern Victor Müller-Heß und Elisabeth Nau scharf kritisiert. Sie zählten zu den Experten, die gegen Ende der Weimarer Republik vor der pauschalen Diskreditierung kindlicher Zeugenaussagen warnten. Vor der neuen Geringschätzung der Aussagen nichterwachsener Zeugen könne „im Interesse des Schutzes der Jugend und der Rechtspflege nicht eindringlich genug gewarnt werden“115. Sie berge die Gefahr, dass gefährliche Täter straffrei ausgingen. Dass die Annahme von der „Unglaubwürdigkeit“ der Kinderaussage „zu einem nichtssagenden Schlagwort geworden“116 war, kritisierte 1932 auch der bekannte Berliner Psychiater Siegfried Placzek. Ebenso warnte Paul Plaut (1894–1969) vor dem exkulpierenden „Schlagwort von der blühenden Kinderphantasie“117, von dem offensichtlich nicht selten auch von Täterseite Gebrauch gemacht wurde. Eine Schlagseite erfuhren die Debatten über sexuelle Gewalt gegen Kinder in der Weimarer Republik u. a. durch die Konzentration auf jene Fälle, in denen Lehrer angeklagt waren.118 Auch Aussagepsychologen waren vor allem mit diesen Sonderfällen befasst119, bei denen vor allem die gruppenpsychologischen Bedingungen, unter denen die Zeugen standen, zu berücksichtigen sind.120 Dass ein Großteil der öffentlichen Aufmerksamkeit den Fällen ßer den Zeugenaussagen belastenden Anhaltspunkte für die Tat ergeben haben, vgl. Undeutsch, S. 143. 112  Vgl. Undeutsch, S. 142. 113  Vgl. auch Dudek, Mißbrauch, S. 141. 114  Müller-Heß / Nau, S. 50. 115  Müller-Heß / Nau, S. 50. 116  Placzek, S.  405 f. 117  Plaut, Aussage, S. 9. 118  Hintergrund war die massive Gegenwehr der Lehrerverbände gegen den zu Beginn der 1920er Jahre von Seiten des Weimarer Staates unternommenen Versuch, den Amts- und Stellungsmissbrauch massiv zu erweitern und die Höchststrafe zu verdoppeln. Die – letztlich politisch nicht realisierte – Verschärfung des Sexualstrafrechts löste eine hitzige öffentliche Debatte aus, an der an führender Stelle liberale Rechtsreformer beteiligt waren, die die Änderung grundsätzlich als „Sexualdiktatur“ ablehnten, vgl. Kerchner, Macht, S. 143 f. 1929 legte der Strafrechtsausschuss des Reichstags einen weiteren Entwurf für ein neues Strafrechtsgesetzbuch vor, der unter der Überschrift „Unzuchts-Delikte“ zehn neue Tatbestände und 39 Verschärfungen vorsah, vgl. Kühl, S. 753. 119  Vgl. Plaut, Psychologie, S. 37; Undeutsch, S. 143.



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galt, in denen Lehrer wegen sexueller Vergehen gegen Schüler beschuldigt wurden, lenkte zudem von dem Ort ab, an dem ein Großteil der Delikte passierte: der Familie.121 Die aus den Prozessen gegen Lehrer gezogenen Rückschlüsse auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen in anderen Sexualstrafprozessen waren falsch und für die Opfer verhängnisvoll. Ins Zentrum der Debatten rückten in den 1920er Jahren die Zeugenaussagen Jugendlicher. Die Beurteilung der Aussagen von Jugendlichen in Sexualstrafprozessen der 1920er Jahre ist im Kontext der jungen Jugendpsychologie sowie des neuen Stellenwerts zu betrachten, den Sexualität im Jugendalter erhalten hatte. Die wahrgenommene allgemeine gesellschaftliche Verunsicherung über das Phänomen „Jugend“ war nach dem Ersten Weltkrieg – befördert auch durch die während der Kriegszeit geführten Verwahrlosungsdiskurse – eine Triebkraft für die wissenschaftliche Erforschung des Jugend­ alters. Diese erfolgte an den Universitäten der Weimarer Republik zeitversetzt nach der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Gang gesetzten Kinderforschung und führte zu ersten Gesamtdarstellungen über diese Lebensphase.122 Die zeitgenössische Entwicklungspsychologie arbeitete als Charakteristika der Jugendphase die Ambivalenz der Persönlichkeitsentwicklung, die charakteristische Introversion sowie ein gesteigertes Binnen- und Fantasieleben des heranwachsenden Menschen heraus. Hinzu kam das erwachte Interesse an sexuellen Fragen und die in diesem Zusammenhang behauptete Neigung des Jugendlichen, an sich „harmlose“ Handlungen anderer (auch im Nachhinein) zu „sexualisieren“.123 Aus diesem Grund mahnten Psychologen und Psy­ chiater an, den Aussagen Jugendlicher mit größter Vorsicht zu begegnen. Die beanspruchte Deutungshoheit von Psychologen und Medizinern wirkte sich auch in diesem Fall auf die juristische Praxis aus und hatte zur Folge, dass die Glaubwürdigkeit jugendlicher Personen, die in „Sittlichkeitsprozessen“ aussagten, häufig in Zweifel gezogen bzw. besonders kritisch geprüft wur-

Arntzen, S.  100 ff. Drittel der Täter aller in Berlin registrierten „Sittlichkeitsdelikte“ waren die Eltern, Stiefeltern oder Partner eines Elternteils, vgl. die Übersicht bei Meyer, S. 57. 122  Vgl. z. B. Bühler; Spranger. 123  „Die Unausgeglichenheit der Gesamtpersönlichkeit, die noch unzulängliche Anpassung der Psyche an die Welt der Erwachsenen führen gerade in diesem Lebensalter leicht zu schiefen und unrichtigen Beurteilungen von Eindrücken und Erlebnissen, besonders wenn sexuelle Momente eine Rolle spielen. Das an und für sich in dieser Zeit schon etwas gesteigerte Innenleben beschäftigt sich dann gerne mit sexuellen Fragen, indem es ungenügende oder falsche Vorstellungen von dem Wesen des Sexuallebens ergänzt. Ist das Interesse einmal in diese Richtung gelenkt und erwachen die ersten sexuellen Regungen, dann können die schon lange Zeit zurückliegenden Erlebnisse oder ganz harmlose Handlungen anderer nachträglich erotisiert und sexualisiert werden.“ (Müller-Heß / Nau, S. 61). 120  Vgl. 121  Ein

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de.124 Ein Beispiel bietet die Beurteilung der Zeugenaussagen von Schülern in dem zeitgenössisch stark beachteten Prozess gegen Kurt Lüder Freiherr von Lützow, dem Schulleiter eines Landerziehungsheims, der wegen brutaler Misshandlung seiner männlichen Schüler angeklagt war, wobei er offenkundig seine sadistischen Neigungen ausgelebt hatte.125 Zur Überraschung vieler Beobachter endete dieses Verfahren 1926 mit einem Freispruch. Eine ausschlaggebende Rolle für die Entscheidung des Gerichts spielten neben der allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz körperlicher Gewalt gegen Kinder und Jugendliche die Sachverständigengutachten, die die Glaubwürdigkeit der als Zeugen aussagenden Schüler in Zweifel zogen.126 VII. Neue Konzepte zur Verbesserung des Kindesschutzes in der Weimarer Republik Ein gegenüber der Vorkriegszeit neuer Aspekt waren die von psychologischer und fürsorgerischer Seite in der Weimarer Zeit unternommenen Anstrengungen, den Kinderschutz bei Sexualdelikten zu verbessern. Die Ursachen sexueller Gewalt (insbesondere im familiären Umfeld) aufzuklären und Kinder entsprechend zu schützen, wurde als zentrales Aufgabenfeld der Ju124  Belastende Aussagen von pubertierenden Mädchen galten dabei grundsätzlich als weniger glaubhaft als die von Jungen. Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber den Aussagen pubertierender Mädchen illustriert der Fall „Gertrud F.“ In dem in der „Zeitschrift für Kinderforschung“ dokumentierten Verfahren gegen einen Vater, einem Beamten, der seine 1913 geborene Tochter Gertrud im Zeitraum zwischen 1925 bis 1929 wiederholt sexuell missbraucht haben sollte, seien sich alle Zeugen darüber bewusst gewesen, „daß man derartigen Erzählungen von Mädchen in den Pubertätsjahren mit Vorsicht gegenübertreten muß“ (aus der ersten Urteilsbegründung des Gerichts, abgedruckt, in: Zeitschrift für Kinderforschung 38 [1932], S. 316). Die in zweiter Instanz herangezogenen Gutachten, die u. a. von Magnus Hirschfeld und Paul Plaut stammten, kamen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Hirschfeld vertrat die Ansicht, dass der Aussage Gertruds gegen den Vater kein Glauben geschenkt werden könne, wohl aber der des Vaters, einem „völlig geistig gesunden [!]“ Beamten (aus dem Gutachten Hirschfelds, in: Zeitschrift für Kinderforschung 38 [1932], S. 374). Demgegenüber charakterisierte das Gutachten Plauts das Mädchen als „ruhig, verschlossen, schamhaft, stark religiös, anständig, solide, ernst, streng und wahrheitsliebend“ (aus dem Gutachten Plauts, in: Zeitschrift für Kinderforschung 38 [1932], S. 321). Das Gericht verurteilte letztlich den Vater von Gertrud auch in zweiter In­ stanz, und zwar zu einem Jahr und sechs Monaten Zuchthaus. 125  Der Prozess und dessen Hintergründe sind dokumentiert bei Dudek, Mißbrauch; Kerchner, Macht. 126  So wertete der Psychiater Otto Mönkemöller, dessen Gutachten für das Gericht besonderes Gewicht besaß, diese als „Erinnerungstäuschungen“. Dagegen hatte Albert Moll die Aussagen der Schüler als mehrheitlich „nicht ohne weiteres unglaubwürdig“ bezeichnet und Lützow sadistische Neigungen attestiert. Ähnlich lauteten auch die Gutachten von Placzek und Störmer, vgl. Dudek, Mißbrauch, S. 123 ff.



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gendfürsorge definiert. An den neuen Jugendämtern wurden eigene Beratungsstellen eingerichtet, bei denen Verdachtsfälle sexueller Gewalt gegen Kinder gemeldet werden konnten.127 Vertreter der Jugendfürsorge betonten, dass das Kind nicht nur „ein Mittel zum Zwecke der Wahrheitsfindung [war], sondern auch selbst ein Recht auf besonderen Schutz“128 besaß. Der Akzentuierung der besonderen Schutzwürdigkeit des Kindes stand die Perspektive gegenüber, die das Kind anstelle des Täters als Ursache sexueller Übergriffe fokussierte. Aus der Sicht der Berliner Fürsorgerin Charlotte Meyer begünstigte der „Mangel“ an Erziehung einen sexuellen Angriff auf das Kind, das aufgrund dessen dem Angreifer nicht den entschiedenen „Widerstand“ entgegen setzen (!) konnte.129 Ein großer Teil der bekannt gewordenen Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder war dem Bonner Strafrechtler Max Grünhut folgend die Konsequenz eines „dauernd erziehungswidrigen Lebenszusammen­ hang[s] des Kindes“.130 Aufklärung vor allem der Mädchen über die gravierenden Folgen einer Vergewaltigung (Geschlechtskrankheiten, ungewollte Schwangerschaft) sei als Präventionsmaßnahme besonders gefragt. Nur so könnten sie vor „leichtsinnigen Erlebnissen“131 geschützt werden. Der Mediziner Rudolf Klimmer empfahl als Präventionsmaßnahme den frühen „Umgang des Knaben mit anständigen Mädchen“ zu fördern. „Die belasteten und minderwertigen Mädchen sind von Anfang an besser zu überwachen und zu versorgen (Kindergärten).“132 Nicht weiter verwundern wird, dass die mit dem Phänomen sexueller Gewalt gegen Kinder befassten Experten sich auf Unterschichtsfamilien konzentrierten. Dabei unterschieden sie hauptsächlich zwei Gruppen: psychopathologische, als „minderwertig“ (und unglaubwürdig) abqualifizierte Kinder sowie körperlich und geistig gesunde Kinder. Als „idealer“ Zeuge galt das „normale und gut erzogene Kind“133. Bemühungen zur Verbesserung des Kinderschutzes in Fällen sexueller Gewalt gegen Kinder umfassten neben den Aktivitäten der Jugendfürsorge die vorwiegend von Psychologen erarbeiteten rechtspolitischen Vorschläge, die auf eine möglichst opferfreundliche Gestaltung des Strafverfahrens zielten. Vor allem William Stern drängte darauf, den Kinderschutz in der Prozessordnung zu verankern, um kindliche Opferzeugen besonders zu schützen. 127  Vgl. die bei Moses beschriebenen Fälle, s. Moses. Entsprechende Akten der Jugendämter müssten von der Forschung noch untersucht werden, um weiteren Aufschluss über den Umgang der Weimarer Gesellschaft mit dem Phänomen sexueller Gewalt gegen Kinder zu erhalten. 128  Meyer, S. 50. 129  Vgl. z. B. Meyer, S.  52 ff. 130  Vgl. Grünhut, S. 6. 131  Goroncy, S. 10. 132  Klimmer, S. 64. 133  Müller-Heß / Nau, S. 70.

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Diese Kinder sollten nur von einem psychologisch geschulten Richter in einem behutsamen Gespräch befragt werden, um ihnen die schmerzhaften Formalien einer Befragung134 in der Hauptverhandlung zu ersparen. In jedem Fall waren wiederholte Befragungen zu vermeiden, die das Kind dazu zwangen, sich die Ereignisse immer wieder in Erinnerung zu rufen und die traumatischen Erlebnisse in einem neuen Kontext zu durchleben. In diesem Zusammenhang arbeitete Stern detaillierte Vorschläge zur Änderung der strafprozessualen Rahmenbedingungen aus.135 Sachsen war das einzige Land, in dem von Juristen, den beiden psychologischen Instituten des Landes und dem Sächsischen Lehrerverein vorbereitete Reformen (ansatzweise) realisiert wurden.136 Die sächsische Regelung sah die Erstvernehmung durch einen kinderpsychologisch geschulten Staatsanwalt in Kooperation mit einem psychologischen Sachverständigen137 vor. Aufgrund der Überlastung der Staatsanwälte wurde auf Initiative des psychologischen Instituts des Leipziger Lehrervereins ein ehrenamtlicher „Kriminalhelferdienst“ aus erfahrenen Kriminalkommissaren und LehrerInnen eingerichtet. Die Vernehmung war damit der Polizei weitgehend entzogen worden. Das Kind sollte ferner nicht in einem Gerichts- oder Polizeigebäude befragt werden, sondern in der Schule oder zu Hause. Die Vernehmung sollte mit einem „freien Bericht“ des Kindes, nicht mit einem „Verhör“ des Kindes beginnen. Suggestivfragen waren zu vermeiden.138 VIII. Fazit Die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs war um 1900 für sexuelle Gewalt gegen Kinder sensibilisiert. Die seit 1871 geltenden Strafgesetze, die erstmals zwischen Sexualstraftaten an Erwachsenen (erwachsenen Frauen) und Kindern differenzierten, waren die Grundlage für die Strafverfolgung. Dabei zeigen die hier behandelten Fälle aus der Rechtspraxis, die insgesamt noch intensiver untersucht werden sollte, dass die Gerichte gegen Sexual134  Über die schmerzhafte Prozedur einer solchen Zeugenbefragung gibt Tanja Hommen Aufschluss, s. Hommen, sowie zeitgenössisch Paul Plaut, der angibt, bei den Vernehmungen eines vergewaltigten Mädchens allein 754 an das Kind gerichtete Fragen und Antworten notiert zu haben, vgl. das Gutachten Plauts zum „Fall Gertrud F.“, in: Zeitschrift für Kinderforschung 32 (1929), S. 434. 135  Vgl. z. B. Stern, Vernehmung. Stern knüpfte dabei an bereits in der Vorkriegszeit erhobene Forderungen an, vgl. Heinemann, S.  74 f. 136  Vgl. Döring, S. 1030. 137  In Sachsen musste in allen Fällen, in denen der Beschuldigte die Tat leugnete, ein Sachverständiger verpflichtend hinzugezogen werden, lag also nicht im Ermessen der Staatsanwaltschaft. 138  Vgl. Döring, S. 1031.



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straftäter, die wegen sexueller Delikte gegen Kinder angeklagt waren, in der Regel konsequent vorgingen. Bestimmte gesellschaftliche Gruppen, darunter vornehmlich Vertreterinnen der Frauenbewegung und der entstehenden Fürsorge, engagierten sich für einen effektiveren Kinder- und Jugendschutz. Die Wilhelminische Gesellschaft reagierte mit Erschrecken, Abscheu und ‒ Abwehr auf das verstärkt nach der Jahrhundertwende diskutierte Phänomen sexueller Gewalt gegen Kinder. Anzunehmen ist eine hohe Dunkelziffer an teilweise nicht erkannten oder verschwiegenen Fällen, deren schwierige Aufklärung zusätzlich insofern erschwert wurde, als Sexualität ein gesellschaftlich tabuisierter Bereich war, von dem vor allem Kinder strikt fernzuhalten waren. Es ist davon auszugehen, dass vor allem Sexualdelikte gegen Kinder aus bürgerlichen Familien überhaupt nicht zur Anklage kamen und unentdeckt blieben. Die Quellen behandeln ganz überwiegend Sexualvergehen gegen Kinder aus unterbürgerlichen Schichten, Arbeiter- und Handwerkerkinder oder Kinder aus Bauernfamilien. Der für die bürgerliche Kindheitsidee konstitutive Gedanke des unschuldigen, reinen Kindes hatte neben der daraus gefolgerten besonderen Schutzwürdigkeit des Kindes die negative Konsequenz, dass das Phänomen sexueller Gewalt gegen Kinder abgespalten und auf die unteren Gesellschaftsschichten projiziert wurde. Die im Bürgertum vorherrschende Tabuisierung sexueller Gewalt gegen Kinder wurde noch verstärkt durch die Vorstellung, dass das Kind, in erster Linie sexuell misshandelte Mädchen, die auch realiter die größte Opfergruppe darstellten, seine „Geschlechtsehre“ verlieren würde. Besonders deutlich wird dies an gängigen zeitgenössischen Begriffen wie „Kinderschändung“ oder „Kinderschänder“. Das Wissen über die psychischen Folgen sexueller Gewalt gegen Kinder war im Kaiserreich und in der Weimarer Republik äußerst gering. Die vorliegenden zeitgenössischen Untersuchungen fokussierten in der Regel die somatischen Folgen (Infektionen, Verwundungen). Für die Zeit der Weimarer Republik ist ein widersprüchlicher Umgang mit sexueller Gewalt gegen Kinder zu konstatieren. Dass der von der zeitgenössischen Aussagepsychologie angemahnte „vorsichtige“ Umgang mit den Aussagen von Kindern bereitwillig übernommen wurde, führte zu einer Delegitimation der Gerichtsaussagen von Kindern und deren Gewalterfahrungen und -wahrnehmungen. Nicht zuletzt bildete die sich verfestigende Annahme von der „Unglaubwürdigkeit der Kinderaussage“ eine zentrale Argumentationsfigur in der Strategie von Strafverteidigern. Der Einnahme einer Tätersicht durch gutachtende Ärzte und Psychologen stand die vor allem gegen Ende der Weimarer Republik deutlich artikulierte Kritik an dem zum Schlagwort verkommenen Satz von der „Unzuverlässigkeit der Kinderaussage“ gegenüber. Auf die Verbesserung des Kinderschutzes im Strafverfahren zielten die von Psychologen wie William Stern erarbeiteten rechtspolitischen Vorschläge, die eine „kindgemäße“ Gestaltung der Strafprozessordnung forderten.

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Zu bedenken ist, dass bestimmte Muster, wie z. B. die verbreitete, Täter exkulpierende Annahme, das Kind könne selbst zumindest eine Mit-„Schuld“ an der Tat tragen, bis in die jüngste Vergangenheit wirksam blieben. Erst in den letzten Jahren ist eine klare und unmissverständliche Benennung des Täters und des „Opfers“ festzustellen. Zu problematisieren ist ferner, dass die Nichtwahrnehmung sexueller Gewalt gegen Kinder weitere Missbrauchsfälle begünstigt (hat)139 und die Gefahr der schutzlosen Auslieferung anderer Kinder an einen Täter erhöht (hat).140 Dass das Leiden von Kindern in vielen Fällen ignoriert, verschwiegen oder bagatellisiert und das Unrecht der Tat nicht öffentlich anerkannt wurde, hat bis in die Gegenwart verheerende Folgen für die Opfer. IX. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Gedruckte Quellen Aaron, Albert: Unzüchtige Handlungen mit Kindern (§ 176 Ziffer 3 RStGB), Gießen 1910. Binet, Alfred: La Suggestibilité, Paris 1900. Bühler, Charlotte: Das Seelenleben des Jugendlichen, Jena 1922. Casper, Johann Ludwig: Practisches Handbuch der gerichtlichen Medizin, Berlin 1860. Casper, Johann Ludwig: Über Nothzucht und Pädasterie und deren Ermittlung Seitens des Gerichtsarztes. Nach eigenen Beobachtungen, in: Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin 1 (1852), S. 21–78. Delitsch, o. A.: Der Verein zum Schutz der Kinder vor Ausnutzung und Mißhandlung in Berlin, in: Zeitschrift für Kinderforschung 14 (1909), S. 57–58. Döring, Max: Zur Vernehmung und Begutachtung Jugendlicher in Sexualprozessen, in: Pädagogische Warte. Zeitschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Lehrerfortbildung, Konferenzwesen, Tagesfragen und pädagogische Kritik 32 (1925), S. 1028–1037.

139  „Bei Sexualstraftätern und -täterinnen muss davon ausgegangen werden, dass sie entweder ihr Opfer erneut missbrauchen, dass es schon jetzt weitere Opfer gibt oder dass weitere Opfer gesucht werden, wenn nicht durch ein Strafverfahren und weitere Maßnahmen eine deutliche Zäsur gesetzt wird.“ (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, S. 26). 140  Einer neueren Studie zufolge planen Täter den Schutz durch eine Täterlobby, das sind alle Personen, die den sexuellen Missbrauch negieren und nicht als Straftat bewerten, mit ein, vgl. Roth, S. 95.



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Friedländer, Hugo: Der Prozeß gegen den Bankier Sternberg wegen Sittlichkeitsverbrechen, in: Ders., Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung. Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Jüngstvergangenheit; nach eigenen Erlebnissen, Bd. 2, Berlin 1911, S. 221–305. Goroncy, Curt: Untersuchungen an in der Kindheit genotzüchtigten weiblichen Personen, in: Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 7 (1926), S. 1–23. Grünhut, Max: Einleitung, in: Grete Henne-Laufer u. a. (Hrsg.), Jugendliche als Zeugen. Drei Aufsätze, Eberswalde 1932, S. 3–8. Henne-Laufer, Grete: Die Vernehmung jugendlicher Zeugen, in: Dies. u. a. (Hrsg.), Jugendliche als Zeugen. Drei Aufsätze, Eberswalde 1932, S. 9–33. Himmelreich, Borwin: Die Kinderschändung, Dresden 1932. Jellinek, Camilla: Frauenforderungen zur deutschen Strafrechtsreform, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 5 (1909), S. 71–92. Jellinek, Camilla: Petition des Bundes Deutscher Frauenvereine zur Reform des Strafgesetzbuches und der Strafprozeßordnung. Als Anhang: Gegenüberstellung der geltenden Gesetzesparagraphen und der vom Bund deutscher Frauenvereine erbetenen Änderungen, Mannheim / Leipzig 1909. Klimmer, Rudolf: Gerichtsärztliche Beurteilung der Sittlichkeitsverbrechen an Kindern, Leipzig 1930. Leppmann, Fritz: Die Sittlichkeitsverbrecher, in: Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen 19 (1905), S. 277–318. Marbe, Karl: Kinderaussagen in einem Sittlichkeitsprozeß, in: Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen 1 (1913), S. 375–396. Marcuse, Max: Männer als Opfer von Kindern, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 56 (1913 / 14), S. 188–189. Mende, Ludwig Julius Caspar: Ausführliches Handbuch der gerichtlichen Medizin für Gesetzgeber, Rechtsgelehrte, Aerzte und Wundärzte, Vierter Theil, Leipzig 1826. Meyer, Charlotte: Aufgaben der Jugendfürsorge, in: Grete Henner-Laufer u. a. (Hrsg), Jugendliche als Zeugen. Drei Aufsätze, Eberswalde 1932, S. 49–62. Michel, O. H.: Die Zeugnisfähigkeit der Kinder vor Gericht. Ein Beitrag zur Aus­ sagepsychologie, Langensalza 1907. Mittermaier, Wolfgang: Verbrechen wider die Sittlichkeit. Entführung. Gewerbsmäßige Unzucht, in: Karl Birkmeyer (Hrsg.), Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts. Vorarbeiten zur Deutschen Strafrechtsreform, Bd. 4: Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit. Beleidigung. Personenstandsdelikte, Berlin 1906, S. 1–126. Moll, Albert: Das Sexualleben eines Kindes, Berlin 1909. Moses, Julius: Psychische Auswirkungen sexueller Angriffe bei jungen Mädchen, in: Zeitschrift für Kinderforschung 40 (1932), S. 542–570. Müller, F. A.: Lehrer und Strafgesetz. Ein Ratgeber für deutsche Lehrer, Berlin u. a. 1906.

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Periodika Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik Zeitschrift für Kinderforschung



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Von „Gemeingefährlichen“, „Sittlichkeitsverbrechern“ und „Geschändeten“. Die Verfolgung von sexuellem Kindesmissbrauch im Nationalsozialismus Von Dagmar Lieske I. Einleitung Am 12. Januar 1943 verurteilte das Landgericht Rostock den 53-jährigen Strandbahnschaffner Heinrich G. wegen „unsittlicher Handlungen“ zu einer Zuchthausstrafe von einem Jahr und sechs Monaten Haft; zudem wurden ihm die „bürgerlichen Ehrenrechte“ für drei Jahre aberkannt.1 Laut Gericht hatte er die 13-jährige Tochter einer ihm bekannten Familie an zwei Tagen hintereinander „unzüchtig berührt“.2 In der Urteilsschrift wird der Tathergang wie folgt geschildert: Das Mädchen habe bei dem Angeklagten seinerzeit ein Kaninchen umtauschen wollen, dabei habe Heinrich G. sie in seinen Hühnerstall geführt, „fest an sich gedrückt“ und „beischlafähnliche Bewegungen“ vollzogen.3 Diese Handlungen habe er am darauffolgenden Tag wiederholt und ihr zusätzlich „einen Kuss in den Nacken“ gegeben. Da G. einschlägig vorbestraft war, sah das Gericht von „mildernden Umständen“ ab – er hatte bereits 1937 eine Haftstrafe wegen „unzüchtiger Handlungen“ an zwei 14-jährigen Mädchen erhalten.4 G. verbüßte seine Freiheitsstrafe 1943 bis 1944 in der Haftanstalt Dreibergen-Bützow (heute: Justizvollzugsanstalt Bützow) in Mecklenburg-Vorpommern. Noch vor Ablauf der Haftzeit im Juli 1944 wendete sich die Schweriner Kriminalpolizei mit der Aufforderung, einen Führungsbericht über den Gefangenen zu erstellen, an den Vorstand des damaligen Zuchthauses. Es sei geplant, gegen G. „im Anschluß an die Strafhaft die polizeiliche Vorbeugehaft anzuordnen“, so der Wortlaut in 1  Urteil des Landgerichts Rostock, 12.1.1943, in: Landeshauptarchiv (LA Schwerin) 5,12–6–9, Nr. 1214. 2  Urteil des Landgerichts Rostock, 12.1.1943, in: LA Schwerin Nr. 1214. 3  Urteil des Landgerichts Rostock, 12.1.1943, in: LA Schwerin Nr. 1214. 4  Urteil des Landgerichts Rostock, 12.1.1943, in: LA Schwerin Nr. 1214.

Schwerin 5,12–6–9, 5,12–6–9, 5,12–6–9,

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dem Schreiben vom 20. Mai 1944.5 Die hier angedrohte „polizeiliche Vorbeugehaft“ wurde Ende 1933 eingeführt. Sie ermöglichte es der Kriminalpolizei, Personen dauerhaft in Konzentrationslager einzuweisen – so auch G., der direkt nach seiner Entlassung aus der Justizhaft an die Schweriner Kriminalpolizei übergeben wurde. Diese ließ ihn wenig später im August 1944 in das Konzentrationslager Ravensbrück bringen. Ausschlaggebend für die ­Anordnung von Vorbeugehaft waren in erster Linie die jeweiligen Vorstrafen, häufig aber auch der allgemeine Lebenswandel bzw. die soziale Situation. Im Fall von G. begründete die Kriminalpolizei die Vorbeugehaft mit seiner ­Einstufung als „Gemeingefährlicher“.6 Aus der Tatsache, dass der Rostocker entsprechend vorbestraft war, schlossen die Beamten, dass „mit Rückfall unbedingt gerechnet werden“ müsse.7 Gleichwohl bezeichneten sie ihn in ihrer Verfügung als „noch besserungsfähig“.8 Dies nützte G. jedoch nichts mehr. Sechs Wochen nach seiner Einlieferung in das Konzentrationslager Ravensbrück wurde er in die Lohheide transportiert, wo die Schutzstaffel (SS) seit April 1943 direkt neben einem Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht das Konzentrationslager Bergen-Belsen betrieb. Zunächst als „jüdisches Austauschlager“9 konzipiert, erhielt Bergen-Belsen ab Frühjahr 1944 auch die Funktion einer Art Auffanglager für kranke und geschwächte Häftlinge.10 Die meisten dieser Häftlinge befanden sich bereits seit Jahren in Konzentrationslagerhaft und waren von den jeweiligen Kommandanturen als „arbeitsunfähig“ eingestuft worden. Dementsprechend hoch war dort die Todesrate. Auch G. überlebte das Lager in der Heide nicht, er starb am ­ 15. November 1944 an angeblicher „Kreislaufschwäche“.11 Ob der Rostocker tatsächlich krank war, lässt sich aufgrund der spärlichen Quellenlage nicht mehr rekonstruieren. Wie in allen Konzentrationslagern wurde jedoch auch in Bergen-Belsen auf den Totenscheinen in der Regel nicht die eigentliche, sondern eine fingierte Todesursache vermerkt. 5  Schreiben der Kriminalpolizeistelle Schwerin an den Vorstand des Zuchthauses Dreibergen-Bützow, 20.5.1944, in: LA Schwerin 5,12–6–9, Nr. 1214. 6  Anordnung der polizeilichen Vorbeugehaft der Kriminalpolizeistelle Schwerin, 27.6.1944, in: LA Schwerin 5,12–6–9, Nr. 1214. 7  Anordnung der polizeilichen Vorbeugehaft der Kriminalpolizeistelle Schwerin, 27.6.1944, in: LA Schwerin 5,12–6–9, Nr. 1214. 8  Anordnung der polizeilichen Vorbeugehaft der Kriminalpolizeistelle Schwerin, 27.6.1944, in: LA Schwerin 5,12–6–9, Nr. 1214. 9  In diesem Lagerteil wurden Juden verschiedener Nationalitäten festgehalten, die gegen im Ausland inhaftierte Deutsche oder Devisen „ausgetauscht“ werden sollten. 10  Vgl. zur Geschichte von Bergen-Belsen Knoch / Rahe; Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten; Kolb; speziell zu der Situation der als „Kriminelle“ Verfolgten in Bergen-Belsen, zu denen auch G. gezählt wurde, s. Rahe / Seybold. 11  Sterbezweitbuch des Standesamtes Bergen-Belsen.



Die Verfolgung von Kindesmissbrauch im Nationalsozialismus405

Ähnlich wie G. erging es zwischen 1933 und 1945 einer bislang unbekannten Anzahl von Personen, die von Polizeibehörden und Gerichten zu „Berufsverbrechern“, „Sittlichkeitsverbrechern“, „Gemeingefährlichen“ und /  oder „Gewohnheitsverbrechern“ erklärt worden waren. Denn neben die reguläre Strafverfolgung traten nach der nationalsozialistischen Machtübernahme verschiedene weitere staatlich angeordnete Zwangsmaßnahmen. Diese reichten von dauerhafter Verwahrung in Haft- und anderen Anstalten über Kastrationen bis hin zur Einweisung in ein Konzentrationslager. Die Grundlage dafür bildeten im Wesentlichen zwei Instrumente, die Ende 1933 geschaffen wurden: Die bereits erwähnte polizeiliche Vorbeugehaft sowie das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ (im Folgenden abgekürzt als „Gewohnheitsverbrechergesetz“). Letzteres ermöglichte eine gerichtlich verfügte, dauerhafte Sicherungsverwahrung. Formale Voraussetzung war in erster Linie ein gewisses Maß an Vorstrafen sowie die von Polizei- und Justizbehörden ausgestellte Gefahrenprognose. Im Vordergrund stand dabei nicht die Resozialisierung des Inhaftierten, sondern vielmehr der „Schutz“ der zur „Volksgemeinschaft“12 erklärten Gesellschaft vor dem „Verbrecher“.13 Der folgende Artikel liefert zunächst einen Überblick zum Forschungsstand über die bislang wenig bekannte Verfolgung von (Sexual-)Straftätern im Nationalsozialismus und diskutiert die Quellenproblematik. Anschließend werden Hintergründe und Prämissen der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ kurz dargestellt und dabei aufgezeigt, dass relativ schnell ein besonderes Augenmerk auf Verstöße gegen das Sexualstrafrecht gelegt wurde. Neben der Frage, welche Täterbilder sich aus den Akten herausfiltern lassen und wie die Kastrationen, eine dauerhafte Verwahrung und / oder KZHaft begründet wurden, werden auch die in den Quellen zutage tretenden Sichtweisen auf die von sexuellem Missbrauch Betroffenen thematisiert. Die verwendeten Gerichts- und Polizeiakten sind von sehr unterschiedlichem Umfang.14 Häufig enthalten sie weitere Dokumente wie z. B. medizinischpsychiatrische Gutachten, Beurteilungen der Beschuldigten und der Betroffezum Konzept der Volksgemeinschaft Wildt. Bezeichnung „Verbrecher“ wird an dieser Stelle nicht in Anführungszeichen gesetzt, weil die betroffenen Personen keine Straftaten begangen hätten. Die Bandbreite zwischen den Taten derjenigen, die als „Berufs“-, „Sittlichkeits“- und / oder „Gewohnheitsverbrecher“ eingestuft wurden, war im Nationalsozialismus jedoch so groß, dass es geboten scheint, die vereinheitlichende Bezeichnung „Verbrecher“ zumindest zu problematisieren. 14  Für diesen Artikel wurden Gerichtsakten aus dem Staatsarchiv Hamburg (StA Hamburg), Bestand 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, dem Landesarchiv Berlin (LA Berlin), Bestand A Rep. 358–02 Staatsanwaltschaft Landgericht, dem Landes­ archiv Schwerin sowie Kriminalpolizeiakten aus dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland (LNRWR), Bestand BR 1111, einbezogen. 12  Vgl. 13  Die

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nen durch verschiedene Behörden oder Unterlagen von Konzentrationslagerverwaltungen, die das engmaschige Interagieren der verschiedenen Institu­ tionen im Nationalsozialismus verdeutlichen. II. Forschungsstand „Kriminelle“ im Allgemeinen und Sexualstraftäter im Besonderen sind jahrzehntelang weder in der Forschung noch in der Öffentlichkeit als Opfer eines spezifischen nationalsozialistischen Unrechts wahrgenommen worden. Wolfgang Ayaß bezeichnete die „Kriminellen“ deshalb noch 2009 als „bislang am schlechtesten erforschte Häftlingsgruppe.“15 Vergegenwärtigt man sich, dass sie nicht nur dauerhaft in Gefängnissen und Zuchthäusern ver­ schwanden,16 sondern auch zu mehreren Zehntausenden als „Berufsver­ brecher“, „Sittlichkeitsverbrecher“ und / oder „Gemeingefährliche“ in den Konzentrationslagern landeten, erstaunt dies zunächst.17 Ein Grund für die ­mangelnde Beschäftigung mit diesen „Unbequemen Opfern“, wie ich sie an anderer Stelle genannt habe, dürfte wohl darin zu suchen sein, dass die nationalsozialistische Kriminalpolitik bis weit in die 1960er Jahre in erster Linie als Fortsetzung regulärer Kriminalitätsbekämpfung mit anderen Mitteln galt.18 Gänzlich unerforscht blieb die Thematik jedoch auch zu diesem Zeitpunkt nicht. Schon 1961 publizierte Joachim Hellmer einen Band über die Sicherungsverwahrung im Nationalsozialismus.19 Auf Hellmers Buch folgten seit den 1980er Jahren weitere Studien. Zu nennen sind hier etwa die justizgeschichtlichen Publikationen von Karl-Leo Terhorst20 und Gerhard Werle21. Patrick Wagner hat 1996 einen grundlegenden Band über die kriminalpolizeilichen Konzepte und Praxen der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ vorgelegt22; 2010 folgte Thomas Roth mit einer detaillierten Untersuchung der nationalsozialistischen Verbrechensbekämpfung durch Polizei und Justiz in Köln.23 Erst jüngst erschien der Band „The Corrigible and 15  Ayaß,

S. 25. zum Justizvollzug im Nationalsozialismus z. B. Fülberth; de Pasquale; Wachsmann. 17  Für das Konzentrationslager Sachsenhausen konnte ich bislang insgesamt 9.181 Personen ermitteln, die als „Berufsverbrecher“ und / oder Sicherungsverwahrte in dem Lager geführt wurden. Mindestens 2.599 aus dieser Gruppe überlebten das KZ-System nicht, vgl. Lieske. 18  Wagner, Resozialisierung. 19  Hellmer. 20  Terhorst. Terhorst hat in dem Band einige der polizeilichen Erlasse erstmals zugängig gemacht und kommentiert. 21  Werle. 22  Wagner. 16  Vgl.



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the Incorrigible“ des amerikanischen Historikers Greg Eghigian über den Umgang mit Straftätern im Deutschland des 20. Jahrhunderts.24 Ferner haben sich die Autorin dieses Textes25 sowie Julia Hörath26 und Sylvia Köchl27 intensiv mit der Einweisung von sogenannten „Berufsverbrechern“ in die Konzentrationslager befasst. In diesem ohnehin nur unzureichend bearbeiteten Themenfeld ist die Untersuchung von sexuellem Kindesmissbrauch im Nationalsozialismus entsprechend randständig.28 Danny Michelsen konstatiert angesichts der überschaubaren Literatur zu dem Thema zu Recht ein „relative[s] Desinteresse, das insbesondere die deutschsprachige Geschichtswissenschaft der Erforschung der gesellschaftlichen Problematisierung der Pädosexualität insbesondere vor ihrer rechtlichen Sanktionierung und medizinischen Katalogisierung ab dem 19. Jahrhundert“ entgegenbringe.29 Allerdings handelt auch er in seiner Überblicksdarstellung die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft lediglich in einer Fußnote ab.30 Ähnlich vage bleiben weitere Publikationen über die Geschichte des sexuellen Kindesmissbrauchs im 20. Jahrhundert. So konstatierte etwa Dirk Bange 2002, über die Zeit des Nationalsozialismus gebe es „nur wenig verlässliche Informationen bezüglich des sexuellen Miss­ brauchs“.31 Vergleichsweise gut erforscht ist hingegen die Verfolgung von Homosexuellen zwischen 1933 und 1945 – vereinzelt werden hier auch Beispiele von Verurteilungen auf Basis des § 176 thematisiert.32 Häufig wird jedoch übersehen, dass unter der Bezeichnung „Sittlichkeitsverbrecher“ auch Männer subsumiert wurden, die z. B. wegen Vergewaltigung von Frauen und sexuellem Kindesmissbrauch an Mädchen vorbestraft waren. Die bislang ausführlichste Untersuchung zu diesem historischen Zeitabschnitt hat Brigitte Kerchner 2005 vorgelegt.33 Sie befasst sich in ihrem Aufsatz mit der Kon­ struktion des „Kinderschänders“ in den Zwischenkriegsjahren (1918–1939) und legt dabei unter anderem dar, wie schon in der Weimarer Zeit Diskus­ 23  Roth,

Ausgrenzung.

24  Eghigian. 25  Lieske.

26  Hörath, 27  Köchl.

Konzentrationslagern.

28  Eine Ausnahme bildet der kurze Kommentar von Hans-Christian Lassen in einem Sammelband zu Strafurteilen im nationalsozialistischen Hamburg, vgl. Lassen. 29  Michelsen, S. 48. 30  Michelsen, S. 43, Anm. 139. 31  Bange / Körner, S. 138. 32  Aufgrund der Fülle der Literatur seien hier stellvertretend folgende Bände genannt: Schwartz; Pretzel / Roßbach; KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Speziell zur Verfolgung wegen Pädosexualität s. Sternweiler, Pfadfinderführer; Knoll. 33  Kerchner.

408

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sionen über staatlich angeordnete Kastrationen von „Kinderschändern“ an Bedeutung gewannen. Allerdings behandelt Kerchner weniger konkrete Fallbeispiele, vielmehr skizziert sie die jeweiligen zeitgenössischen Diskurse im Kontext von „Körperpolitik“. III. Begrifflichkeiten und Quellenproblematik Da es sich bei der Erforschung von sexuellem Kindesmissbrauch um einen extrem emotional aufgeladenen Untersuchungsgegenstand handelt, ist eine (selbst-)kritische und wiederholte Forschungsreflektion bei einem solchen Thema unabdingbar. Dazu gehören neben einem sensiblen Sprachgebrauch auch die genaue Beschreibung und Definition der Phänomene sowie eine besonders sorgfältige Quellenanalyse. In der öffentlichen Wahrnehmung werden zudem bis heute häufig sexueller Kindesmissbrauch und Pädophilie miteinander vermischt – sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche muss aber nicht zwangsläufig eine spezifische sexuelle Präferenz zugrundeliegen.34 Sexualwissenschaftler gehen vielmehr davon aus, dass mindestens die Hälfte aller sexuellen Übergriffe auf Menschen unter 14 Jahren nicht auf ein als solches diagnostiziertes pädophiles Begehren zurückzuführen sind, sondern auf sogenannte „Ersatzhandlungen“35 von Personen, die ihre Sexualität aus unterschiedlichen Gründen nicht mit Gleichaltrigen bzw. Erwachsenen ausleben können. Laut aktueller Definition des International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) bezeichnet Pädophilie die „sexuelle Präferenz für Kinder, Jungen oder Mädchen oder Kinder beiderlei Geschlechts, die sich meist in der Vorpubertät oder in einem frühen Stadium der Pubertät befinden.“36 In diesem Kontext sollte auch betont werden, dass nicht jeder Mensch mit pädophilen Neigungen sexuellen Missbrauch begeht. Die Quellenproblematik ist bei dem hier vorgestellten Thema immanent. Zwar weist Sabine Andresen auf die enorme Bedeutung einer Einbindung von Missbrauchsopfern als Zeugen in die wissenschaftliche Aufarbeitung 34  Vgl. z. B. Ahlers / Schaefer; Beier u. a. In Teilen der Literatur wird der Begriff „Pädophilie“ als solcher kritisch gesehen. So verwendet Claudia Bundschuh bewusst „Pädosexualität“, da ihrer Ansicht nach „Pädophilie“, was wortwörtlich „Liebe zu Kindern“ bedeutet, verharmlosend wirke, vgl. dazu Bundschuh, S. 25. Zur Begriffsdebatte s. auch Becker, Diskurse. 35  Vgl. z. B. den Internetauftritt des Präventionsprojekts „Kein Täter werden“ der Berliner Charité. Das Projekt bietet Menschen mit pädophilen Neigungen therapeutische Hilfe an, s. http: /  / www.kein-taeter-werden.de (Aufruf zuletzt am 14.6.2019). 36  Beim ICD handelt es sich um das Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation für Krankheiten. Pädophilie wird hier unter Code F65.4 gelistet, vgl. http: /  / www.icd-code.de / icd / code / F65.-.html (Aufruf zuletzt am 14.6.2019).



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hin;37 für die Zeitspanne zwischen 1933 und 1945 dürfte es heute jedoch nur noch in absoluten Ausnahmefällen möglich sein, Zeitzeugen hinzuzuziehen. Informationen müssen deshalb überwiegend aus polizeilichen und gericht­ lichen Akten gewonnen werden, die in erster Linie die Dokumentations- und Sichtweise der staatlichen Behörden widerspiegeln. Diese Problematik ist in der Erforschung des Nationalsozialismus nicht neu, gleichwohl birgt sie gerade beim vorliegenden Thema die Gefahr einer unausgewogenen Wahrnehmung – zumal die Opfer von Missbrauch in den Quellen vielfach erneut stigmatisiert werden. Unergiebig ist die Arbeit mit diesen Unterlagen jedoch deshalb keineswegs: Die Akten verweisen auf eine große Bandbreite im Hinblick auf die Art der Fälle wie auch der Täter und Opfer.38 Grundsätzlich lassen sich die gesichteten Fälle in zwei große Gruppen teilen: Zum einen diejenigen, bei denen die Gerichte zum Schluss kamen, dass es sich um Taten handelte, die auf eine sexuelle „Neigung“ zurückgingen. Diese zogen meist neben der regulären Strafverfolgung weitere Maßnahmen wie Zwangskastration, KZ-Haft und / oder dauerhafte Verwahrung mit sich. Dem stehen aber auch zahlreiche Akten gegenüber, aus denen hervorgeht, dass Angeklagte, deren Taten von den Ermittlungsbehörden zu „Ersatzhandlungen“ erklärt wurden, vergleichsweise geringe Strafen erhielten. Nicht selten wurde dabei die verhandelte sexuelle Gewalt von den Gerichten bagatellisiert und / oder den Betroffenen eine Mitschuld gegeben. Im Folgenden steht die erste Gruppe im Vordergrund, um die spezifisch nationalsozialistische Komponente in der Ahndung von sexuellem Kindesmissbrauch aufzuzeigen, die als „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ definiert wurde. IV. „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ nach der Machtübernahme 1. Polizeiliche Vorbeugehaft In seinem Buch „Nationalsozialistischer Kampf gegen das Verbrechertum“ erklärte Kurt Daluege,39 was aus seiner Sicht die Konzentrationslagerhaft gegen „Kriminelle“40 rechtfertige: 37  Andresen.

38  Auch die aktuelle Forschung zu diesem Thema betont, dass es weder „das“ typische Opfer noch „den“ Täter gebe, vgl. z. B. Sigusch, Kindesmissbrauch; Bundschuh; Becker, Dämonisierung. 39  Kurt Daluege, geb. am 15.9.1897 in Kreuzburg (Oberschlesien), † 23.10.1946 in Prag, war eines der führenden Mitglieder des Polizeiapparats im NS-Regime. Daluege fungierte u. a. als Chef der Ordnungspolizei im nationalsozialistischen Deutschen Reich und als Stellvertreter Heinrich Himmlers im Polizeibereich. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er als „Reichsprotektor“ für „Böhmen und Mähren“ ein-

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„Der nationalsozialistische Staat hat die staatsfeindliche Propaganda und die kommunistische Agitation durch wirksame Anwendung der politischen Schutzhaft gebrochen. Ich vermochte keinen Grund zu erkennen, warum man nicht auch die Berufsverbrecher, und gerade die Berufsverbrecher, die doch tatsächlich den Abschaum der Menschheit darstellen, mit der Waffe der Schutzhaft bekämpfen sollte, ihrer Haft zum Schutze der Bevölkerung vor ihnen.“41

Als diese Zeilen 1936 erschienen, war die als Vorbeugehaft bezeichnete „Schutzhaft“ gegen „Berufsverbrecher“ bereits fester Bestandteil der nationalsozialistischen Verfolgungspraxis. Denn schon wenige Monate nach der Machtübernahme war am 13. November 1933 in Preußen der erste Erlass zur „Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher“ ergangen.42 Formal gestützt auf den § 1 der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 sah er die Vollstreckung von sogenannter Vorbeugehaft gegen Personen vor, „welche der Kriminalpolizei als Berufsverbrecher bekannt sind, die ausschließlich oder zum größten Teil vom Erlöse aus Straftaten leben“.43 Während die Schutzhaft der Gestapo oblag, war für die Vorbeugehaft die Kriminalpolizei zuständig. Sowohl die Schutzhaft als auch die Vorbeugehaft galten grundsätzlich unbefristet und wurden in den Konzentrationslagern vollzogen, unterschieden sich jedoch in ihrer Zielsetzung: Schutzhaft war das wesentliche Mittel zur Zerschlagung des politischen Widerstandes, die Einführung von Vorbeugehaft basierte hingegen auf der Vorstellung, Kriminalität sei mit der zeitlich unbegrenzten Inhaftierung von vorbestraften „Berufsverbrechern“ aus der Gesellschaft grundsätzlich einzudämmen. Diese Annahme war indes keine Neuerfindung der Nationalsozialisten: Bereits im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik fand das Konzept des unverbesserlichen Straftäters, der im Sinne einer Kriminalprävention dauerhaft gesellschaftlich isoliert werden müsse, auch unter liberalen Zeitgenossen immer wieder Befürworter.44 Die erstmals 1926 publizierte Schrift „Der Berufsverbrecher“ von Robert gesetzt und war für das brutale Vorgehen gegen Partisanen und Zivilisten verantwortlich. Er wurde 1946 von einem Prager Volksgericht zum Tode verurteilt und am 23.10.1946 hingerichtet. 40  Der Begriff „Kriminelle“ beinhaltet ebenso wie der des „Verbrechers“ eine negativ konnotierte Zuschreibung, die die Person auf eine Tat reduziert, und wird deshalb hier ebenfalls in Anführungszeichen gesetzt. 41  Daluege, S. 33. 42  Der Preußische Minister des Inneren, Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher vom 13.11.1933, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I. HA Rep. 84 a, Justizministerium, Nr. 8203, Bl. 229–231. 43  Der Preußische Minister des Inneren, Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher vom 13.11.1933, in: GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Justizministerium, Nr. 8203, Bl. 230. 44  Lieske, S. 53–73.



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Heindl45, nach Thomas Roth „einer der einflussreichsten Kriminalpolitiker des 20. Jahrhunderts“46, wurde gleich sechs Mal aufgelegt.47 Heindl ging von mehreren Tausend „Berufsverbrechern“ aus und forderte deren Verwahrung als Maßnahme zur Eindämmung der gesamten Kriminalität. Obwohl sich Kriminologen nach der Machtübernahme explizit und wiederholt auf Heindls Schrift beriefen, war die Abgrenzung zur Weimarer Republik gleichzeitig essentieller Bestandteil der Propaganda der neuen Ordnungsmacht. So wurde die Einführung der Vorbeugehaft 1933 einerseits mit der Notwendigkeit begründet, die Bevölkerung vor Verbrechen zu schützen, gleichzeitig aber auch mit vermeintlich sozialpolitischen Erwägungen. Schließlich habe sich der „korrupte marxistische Staat“ (gemeint ist die Weimarer Republik) von den „Berufsverbrechern“ zu einem „großen Geldaufwand an sachlichen und persönlichen Ausgaben für Polizei-, Gerichtsund Gefängniswesen“ zwingen lassen und damit Steuergelder „vergeudet“, behauptete Daluege.48 Auch in dem preußischen Erlass von 1933 hieß es, „die Kriminalität auf den unpolitischen Verbrechensgebieten“ sei nach der Machtübernahme zwar gesunken, dennoch zeige „die Statistik, daß die Berufsverbrecher auch heute noch in nicht unerheblichem Maße tätig“ seien.49 Der von diesen verursachte Schaden sei „für die Bevölkerung empfindlich fühlbar […] – ganz besonders für den ärmeren Teil der Bevölkerung, dem die Entwendung auch nur eines Teiles seiner geringen Habe oft einen unersetzlichen Verlust“ bedeute.50 Für die Anwendung der Vorbeugehaft galten zunächst relativ klare Richt­ linien. Grundsätzlich war sie jedoch keineswegs an ein aktuelles Ermittlungsoder Strafverfahren gebunden, vielmehr reichten zunächst drei Vorstrafen von je mindestens sechs Monaten aus, um jemanden zum „Berufsverbrecher“ zu erklären und ihn oder sie unbefristet in ein Konzentrationslager einzuweisen.51 Gleichwohl enthielt schon der erste Erlass eine „Ausnahmeregelung“, 45  Heindl. 46  Roth,

Ideologie, S. 67. S. 56. 48  Daluege, S. 12. 49  Der Preußische Minister des Inneren, Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher vom 13.11.1933, in: GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Justizministerium, Nr. 8203, Bl. 229. 50  Der Preußische Minister des Inneren, Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher vom 13.11.1933, in: GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Justizministerium, Nr. 8203, Bl. 229. 51  Die Anzahl der Festzunehmenden war Ende 1933 in Preußen noch auf 165 Personen begrenzt worden, die Zahl wurde jedoch bereits mit dem zweiten preußischen Erlass von Februar 1934 erhöht. Wenig bekannt ist zudem über die Anzahl von Personen, die in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft in den anderen Ländern in Vorbeugehaft genommen wurden, vgl. Hörath, Terrorinstrumente. 47  Langhammer,

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die sich ein paar Jahre später in dem reichsweit gültigen „Grunderlaß Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“52 wiederfinden sollte. Sie besagte, dass auch gegen diejenigen Vorbeugehaft angeordnet werden könne, die, „ohne vorbestrafte Berufsverbrecher zu sein, künftig einen auf Mord, Raub, Einbruchdiebstahl oder Brandstiftung abzielenden verbrecherischen Willen durch Handlungen offenbaren, welche die Voraussetzungen eines bestimmten strafbaren Tatbestandes noch nicht erfüllen, den Begeher aber als eine Gefahr für die öffent­ liche Sicherheit kennzeichnen“53.

Damit war von Beginn an Tür und Tor für eine willkürliche Praxis der Kriminalpolizei geöffnet. Meist wurden diese Personen als „Gemeingefähr­ liche“ eingestuft.54 Unter ihnen befand sich auch der eingangs genannte Heinrich G. Terhorst hat darauf hingewiesen, dass diese Ausnahmeregelung sich explizit auf „jugendgefährdende Delikte“ bezog.55 Für Sexualdelikte galten ohnehin insgesamt bald schärfere Bedingungen als für andere Straftaten: So war bereits im zweiten preußischen Erlass zur polizeilichen Vorbeugehaft vom 10. Februar 1934 festgelegt worden, dass gegen „Berufsverbrecher“, die in der Vergangenheit auf Basis des Sexualstrafrechts verurteilt worden waren, eine Vorstrafe (statt der üblichen drei) ausreichte, um sie in ein Konzentrationslager einzuweisen. Zudem wurden die relevanten Sexualstraftatbestände um die § 183 (Exhibitionismus) sowie 1935 um § 175b (Sodomie) und § 184 (Verbreitung unzüchtiger Bilder und Schriften) erweitert.56 2. Gewohnheitsverbrechergesetz und Kastrationen Fast zeitgleich mit der Einführung der Vorbeugehaft erging am 24. November 1933 das Gewohnheitsverbrechergesetz.57 Es beinhaltete zunächst eine generelle Verschärfung des bestehenden Strafrechts: Nach § 20a wurde das Strafmaß gegen sogenannte „Gewohnheitsverbrecher“ auf fünf Jahre 52  Bis Dezember 1937 war die Vorbeugehaft noch Ländersache und konnte auf teilweise unterschiedlichen Bestimmungen basieren. Infolge der 1936 einsetzenden Zentralisierung des Polizeiapparates regelte ab dem 14.12.1937 schließlich ein Grunderlass die Vorbeugehaft einheitlich für alle deutschen Länder, der ab 1938 auch auf annektierte und besetzte Gebiete übertragen wurde, vgl. zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ in den besetzten und okkupierten Gebieten Lieske, S. 120–140. 53  Der Preußische Minister des Inneren, Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher vom 13.11.1933, in: GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Justizministerium, Nr. 8203, Bl. 230. 54  Terhorst, S. 136–139. 55  Terhorst, S. 136. 56  Terhorst, S. 87. 57  Das Gesetz kann online aufgerufen werden, s. Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher.



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Zuchthaus bei Vergehen und 15 Jahre Zuchthaus bei Verbrechen erhöht.58 Nach § 42e war erstmals die sogenannte Sicherungsverwahrung von „gefährlichen Gewohnheitsverbrechern“ möglich.59 Dieser dauerhafte Freiheitsentzug konnte auch dann verfügt werden, wenn die Verurteilung des Betroffenen bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 1934 erfolgt war. Ende des Jahres 1934 befanden sich schon 3.723 Personen in Sicherungsverwahrung, in 2.376 Fällen war diese nachträglich verhängt worden.60 Konkret bedeutete dieses Vorgehen, dass ein Großteil dieser Personen noch Strafen aus der Zeit der Weimarer Republik absaß und nun nicht in Freiheit gelangte, sondern in Sicherungsverwahrung kam und damit in einer Haftanstalt verblieb.61 Nachdem im Herbst 1942 Heinrich Himmler und der Reichsjustizminister Otto von Thierack eine Übereinkunft zur Überstellung der „asozialen Elemente“ aus dem Strafvollzug getroffen hatten, gaben die Haftanstalten ab 1943 Tausende von Sicherungsverwahrten und andere Häftlinge „zur Vernichtung durch Arbeit“ an die Konzentrationslager ab.62 Da die Sterberate unter den Sicherungsverwahrten in den verschiedenen Konzentrationslagern besonders hoch war, wird die Aktion mittlerweile im Kontext der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik diskutiert.63 Das Gewohnheitsverbrechergesetz enthielt aber noch eine weitere Neuerung im deutschen Strafrecht, die im Kontext von sexuellem Kindesmissbrauch von Bedeutung ist: So wurde mit § 42k die staatlich angeordnete Kastration von Männern ab 21 Jahren eingeführt, wenn diese dem Gericht als „gefährliche Sittlichkeitsverbrecher“ galten und entsprechende Vorstrafen vorlagen.64 Die Einführung der zwangsweisen Kastrationen kann als Zugeständnis an diejenigen Juristen und Beamten des Reichsinnenministeriums interpretiert werden, die forderten, Kriminalität als Sterilisationsgrund in das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) einzubeziehen – ein Vorstoß, den Reichsjustizminister Franz Gürtner zunächst abgelehnt hatte.65 In der Begründung zum Gewohnheitsverbrechergesetz heißt es deshalb, 58  Gesetz

gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher, S. 995. noch heute angewendete Sicherungsverwahrung (§ 66 Strafgesetzbuch) geht auf das Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933 zurück und war in den letzten Jahren wiederholt Anlass von öffentlichen Debatten, vgl. z. B. Alex. 60  Müller, S. 54. 61  Vgl. z. B. den Fall von Heinrich R., der zwischen 1914 und 1932 sieben Mal wegen sexuellem Missbrauch an Jungen unter 14 Jahren verurteilt worden war und gegen den 1935 „nachträglich“ Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, s. LA Berlin, A Rep. 358–02, Nr. 63226. 62  Vgl. Möller; de Pasquale; Wachsmann. 63  Morsch / Perz, S. XIX. 64  Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher, S. 997. 65  Müller, S. 37; Bock. 59  Die

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„die Entmannung von Sittlichkeitsverbrechern“ verfolge im Gegensatz zum GzVeN keine „eugenische[n] Zwecke“, sondern vielmehr „den Zweck, die Allgemeinheit vor weiteren Sittlichkeitsverbrechen des Täters durch Vernichtung oder Schwächung seines entarteten Triebes zu sichern“.66 Homosexuelle Handlungen waren dabei explizit nicht als Kastrationsgrund vorgesehen, da davon ausgegangen wurde, dass der Eingriff zu keiner grundsätzlichen Änderung der angenommenen sexuellen „Neigung“ führe: „In den meisten Fällen ist der Eingriff an Homosexuellen zum Zwecke der Heilung ihrer perversen Triebrichtung wirkungslos geblieben“, so das Reichsjustizministerium.67 Allerdings kam es bei Vorstrafen auf Basis der § 176, Abs. 3 (Unzucht mit Kindern), § 177 (Vergewaltigung) und § 183 (Exhibitionismus) durchaus zur Kastration von Männern, die überwiegend oder ausschließlich gleichgeschlechtlich verkehrten. Das führte in manchen Fällen dazu, dass die Gerichte sich dazu genötigt sahen, ausführlich zu erklären, dass es sich bei der Verfügung einer Zwangskastration keineswegs um eine Maßnahme gegen die homosexuellen Neigungen des Betroffenen handele, sondern um ein Mittel zur Strafprävention.68 Insgesamt wurden zwischen 1934 bis 1945 mindestens 2.400 Männer auf Basis des Gewohnheitsverbrechergesetzes kastriert.69 Eine bislang unbekannte Anzahl von Männern, die als Homosexuelle verfolgt wurden – die Forschung geht von 800–1.000 Personen aus – stimmte zudem ab 1935 auf Basis des GzVeN einer Entfernung der Hoden zu. Die Einwilligung zu dem operativen Eingriff erfolgte jedoch meist unter Androhung einer weiteren Verfolgung wie z. B. Haft in einem Konzentrationslager, sodass der Begriff der „Freiwilligkeit“ hier nicht zutrifft.70 Auch wenn „spektakuläre“ Fälle wie der des Hannoveraner Serienmörders Fritz Haarmann, der zwischen 1918 und 1924 mindestens 24 Jungen und junge Männer ermordete, bereits in der Weimarer Republik quer durch alle politischen Lager zur Befürwortung einer Zwangssterilisation und Kastration von Sexualstraftätern führten,71 avancierten diese Eingriffe erst nach der Machtübernahme zu einem festen Bestandteil der Kriminalpolitik und kamen in einem bis dahin unbekannten Umfang zur Anwendung. Gleichzeitig wur66  Reichsjustizministerium, Begründung zu dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, in: GStA PK I. HA Rep. 84 a, Justizministerium, Nr. 8203, Bl. 100. 67  Reichsjustizministerium, Begründung zu dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, in: GStA PK I. HA Rep. 84 a, Justizministerium, Nr. 8203, Bl. 100. 68  Vgl. z. B. den Fall von Heinrich R., in: LA Berlin, A Rep. 358–02, Nr. 63226. 69  Jens Kolata geht sogar von insgesamt 3.000 kastrierten Männern aus, s. Kolata, S. 564. 70  Vgl. zu den Bestimmungen im Einzelnen Grau, S. 173–176, 108–110. 71  Kompisch; Siebenpfeiffer, S. 214–247; Knutzen.



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den Kastrationen als vermeintliches Mittel zur Kriminalprävention aber auch im Nationalsozialismus kritisch diskutiert.72 So zweifelten Gerichte die Effektivität einer Kastration immer wieder an. Daraus folgte als Konsequenz indes nicht etwa der Verzicht auf solche Maßnahmen. Vielmehr wurde betont, dass eine „Entmannung“ alleine nicht ausreichend sei, um zukünftige Straftaten zu verhindern. Auf diese Weise kam es mitunter zu absurden Konstruktionen, bei denen ein Gericht einerseits die Kastrationen anordnete, um den „Trieb“ des Betroffenen einzudämmen, zugleich aber die mögliche Erfolglosigkeit dieses Eingriffs als Begründung für die zusätzliche Anordnung einer dauerhaften Verwahrung hinzuzog. „Entmannungen“ erfolgten daher häufig in Kombination mit der Anordnung einer Verwahrung. Die in den Bestimmungen für das Gewohnheitsverbrechergesetz formulierte Erklärung, eine Kastration ermög­ liche es, „die Allgemeinheit vor weiteren Sittlichkeitsverbrechen des Täters durch Vernichtung oder Schwächung seines entarteten Triebes zu sichern“, wurde damit faktisch ad absurdum geführt.73 Als Beispiel sei hier der Fall des Paul H. skizziert: Im Dezember 1937 verfügte das Berliner Landgericht gegen den 26-jährigen Arbeiter neben der Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe von insgesamt acht Jahren zusätzlich seine Kastration sowie die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt. Letzteres wurde zum einen mit dem jungen ­Alter des Angeklagten begründet, zum anderen aber mit der eventuellen Erfolglosigkeit der Kastration. Die Verurteilung von Paul H. basierte auf „Notzucht“ (Vergewaltigung) in einem Fall, sechsfach versuchter „Notzucht“, begangen an erwachsenen Frauen, sowie „unzüchtigen Handlungen“ an einem 10-jährigen Mädchen.74 Paul H. wurde zwar kastriert, kam aber nicht mehr in dauerhafte Verwahrung – er verstarb bereits im Juli 1945 in Berlin. 3. Konzentrationslager Mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch an mehreren minderjährigen Mädchen nahm die Hamburger Kriminalpolizei am 25. März 1938 den in Altona geborenen Wilhelm Sch. fest.75 Eine Nachbarin hatte zuvor ausgesagt, der 72  Vgl. zur nationalsozialistischen Fachdebatte über Kastrationen als „präventives“ Mittel auch Dupont. 73  Reichsjustizministerium, Begründung zu dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, in: GStA PK I. HA Rep. 84 a, Justizministerium, Nr. 8203, Bl. 100. 74  Reichsjustizministerium, Begründung zu dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, in: GStA PK I. HA Rep. 84 a, Justizministerium, Nr. 8203, Bl. 100. 75  Strafakte Wilhelm Sch., in: StA Hamburg, 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, Strafsachen, Nr. 6033 / 38. Dieser Fall wird auch in meiner Dissertation behandelt, s. Lieske, S. 156–158.

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58-Jährige pflege seit einiger Zeit ein „sexuelles Verhältnis“ mit einem nun 15-jährigen Mädchen. In ihrer Aussage gab die Nachbarin Folgendes zu Protokoll: „Weil nun Herr Sch. unverheiratet ist und diese Hildegard K. auch manchmal abends bis etwa 11 Uhr bei ihm ist, und weil doch schon Gerüchte über ihn im Umlauf sind, glaube ich, dass da etwas nicht stimmt. Ich erstatte heute die Anzeige, weil ich gestern Abend gesehen habe, wie Sch. und Hildegard K. sich vor unserem Hause auf den Mund küssten. Sch. hat in der Gegend keinen guten Ruf.“76

In den folgenden Wochen folgten verschiedene Befragungen des Verdächtigten, der bereits 1900 wegen „unzüchtiger Handlungen, begangen an Kindern unter 14 Jahren“ verurteilt worden war.77 Die Polizei vernahm mehrere Mädchen im Alter von sieben bis 15 Jahren aus der Nachbarschaft von Wilhelm Sch., die bestätigten, dass er sexuelle Handlungen mit bzw. an ihnen durchgeführt habe. Sch., der dies zunächst leugnete, legte einen Tag nach seiner Festnahme ein umfassendes Geständnis ab. Zwei Monate später verurteilte ihn das Hamburger Landgericht wegen „drei fortgesetzten Verbrechen nach § 176 und wegen fortgesetzter tätlicher Beleidigung“ zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus sowie der „Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte“ für drei Jahre.78 In der Urteilsbegründung heißt es, der Angeklagte habe „durch seine üble Tat“ bewiesen, „daß er außerhalb des Kreises der anständigen Volksgenossen steht“.79 Genau wie in dem Fall von Heinrich G. wurde Sch. direkt nach der Haftverbüßung an die Kriminalpolizei übergeben.80 Diese verhängte gegen ihn Vorbeugehaft, die ab dem 9. November 1940 im Konzentrationslager Sachsenhausen vollstreckt wurde. Am 5. Juni 1941 ließ ihn die SS von dort im Rahmen der „Sonderbehandlung 14f13“81 in die Heilund Pflegeanstalt Sonnenstein / Pirna bringen, wo Wilhelm Sch. wenig später

76  Anzeige der Emma G. vom 18.3.1938, Strafakte Wilhelm Sch., in: StA Hamburg, 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, Strafsachen, Nr. 6033 / 38. 77  Anklageschrift des Oberstaatsanwalts beim Landgericht Hamburg, 10.5.1938, Strafakte Wilhelm Sch., in: StA Hamburg, 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, Strafsachen, Nr. 6033 / 38. 78  Urteil des Landgerichts Hamburg, 25.5.1938, Strafakte Wilhelm Sch., in: StA Hamburg, 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, Strafsachen, Nr. 6033 / 38. 79  Urteil des Landgerichts Hamburg, 25.5.1938, Strafakte Wilhelm Sch., in: StA Hamburg, 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, Strafsachen, Nr. 6033 / 38. 80  Übergabenote der Haftanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel, 25.9.1940, Strafakte Wilhelm Sch., in: StA Hamburg, 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, Strafsachen, Nr. 6033 / 38. 81  So die zeitgenössische Bezeichnung für die Aktion, die sich aus verschiedenen Aktenzeichen der Verwaltung der Konzentrationslager zusammensetzte: Die Ziffer „14“ stand für den Inspekteur der Konzentrationslager, der Buchstabe „f“ für Todesfälle und die Ziffer „13“ für die Todesart.



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ermordet wurde.82 Bei der Aktion „14f13“ handelte es sich um eine in verschiedenen Konzentrationslagern durchgeführte Ermordung von kranken und missliebigen KZ-Häftlingen, die in engem Zusammenhang mit der als „Euthanasie“ bezeichneten Ermordung von Insassen in Heil- und Pflegeanstalten sowie forensischen Patienten stand.83 Es deutet Einiges darauf hin, dass Personen, die wie Heinrich G. und Wilhelm Sch. in der Vergangenheit wegen sexuellem Kindesmissbrauch oder anderer Sexualdelikte bzw. -verbrechen verurteilt worden waren, nicht nur schneller in einem Konzentrationslager landeten als andere Vorbestrafte, sondern dort zusätzlich einem besonderen Verfolgungsdruck ausgesetzt waren. Die SS vermerkte z. B. im Konzentrationslager Sachsenhausen nur bei denjenigen, die zuvor nach § 176, Abs. 3 und § 175 (Homosexuelle Handlungen) verurteilt worden waren, die entsprechenden Paragraphen aus dem Strafgesetz auf ihren Listen.84 Offenbar erschien der Lagerverwaltung in diesen Fällen eine gesonderte Erwähnung der jeweiligen Vorstrafe wichtig. Daraus könnte gefolgert werden, dass auf diese Häftlinge ein spezielles Augenmerk gelegt wurde. Darauf verweisen auch weitere Quellen: So waren Personen wie Wilhelm Sch. im KZ Sachsenhausen in besonders hoher Anzahl von den Selektionen im Rahmen von „14f13“ betroffen.85 Häufig kamen sie zudem direkt nach ihrer Ankunft in die sogenannte Strafkompanie, einen abgetrennten Bereich in der Nähe des Appellplatzes, wo viele KZ-Insassen zu Tode gequält wurden.86 Von 207 Häftlingen, die die SS als „Berufsverbrecher“ mit Hinweis auf „Sittlichkeitsdelikte“ (ohne Homosexualität) führte, überlebten nachweislich 95 das Lager nicht.87 Im Durchschnitt waren die Verstorbenen bzw. Ermordeten zum Todeszeitpunkt ca. 48–52 Jahre alt, die hohe Sterberate in dieser Gruppe lässt sich deshalb nicht alleine auf ihr Alter zurückführen. Vergleichbar hoch war die Anzahl der Toten unter den als „Homosexuelle“ kategorisierten „kriminellen“ Häftlingen im KZ Sachsenhausen: 82  Auf den Listen befinden sich die Namen von 269 Personen, hinter denen die jeweiligen Haftgruppenkürzel vermerkt sind, sodass es möglich ist, den Anteil der jeweiligen Haftgruppe zu ermitteln. Mit den drei „Kommando-S“-Transporten in die Anstalt Sonnenstein / Pirna wurden insgesamt 30 von 121 „Berufsverbrechern“ aus dem KZ Sachsenhausen ermordet, die zusätzlich als „Sittlichkeitsverbrecher“ geführt wurden, s. Transportlisten „Kommando S“, FSB-Archiv Moskau, N-19092 / Tom 83, Bl. 6–10, zit. nach Archiv Sachsenhausen (AS), JSU 1 / 83, Bl. 6–10. 83  Vgl. dazu Ley; Roebel. 84  In der Regel wurden „kriminelle“ Vorbeugehäftlinge alle als „Berufsverbrecher“ geführt, in den Lagern meist abgekürzt als „BV“. Bei den hier genannten Fällen listete z. B. die Lagerleitung die Betroffenen als „BV § 176“. 85  Lieske, S. 256–268. 86  Vgl. zur Strafkompanie z. B. Kohlhagen. 87  Lieske, S. 158.

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Von 497 „Berufsverbrechern“, die zusätzlich als „Homosexuelle“88 geführt wurden, verstarben mindestens 211, also 42 %, in Lagerhaft.89 Aussagen von SS-Funktionären lassen ebenfalls vermuten, dass diejenigen, die nach dem Sexualstrafrecht verurteilt worden waren, im KZ Sachsenhausen einer besonderen „Behandlung“ unterlagen. So beschreibt etwa der spätere Kommandant des KZ-Komplexes Auschwitz Rudolf Höß90 die Hinrichtung eines „Sittlichkeitsverbrechers“, der nach Höß ein achtjähriges Mädchen vergewaltigt und erwürgt hatte, wie folgt: „Ich sehe ihn, heute noch, aus dem Wagen steigen beim Eingang zum Industriehof.91 Zynisch grinsend, ein wüst aussehender, verkommener älterer Kerl, der typische Asoziale. Bei diesen Berufsverbrechern hatte der RFSS [Reichsführer SS] keine Frist befohlen. Als ich ihm seine Erschießung eröffnete, wurde er ganz gelbblaß und fing an zu heulen und zu jammern und zu toben. Dann schrie er nach Begnadigung – ein widerliches Bild. Auch ihn mußte ich an den Pfahl fesseln lassen. Ob diese Amoralischen Angst vor dem ‚Jenseits‘ haben? Anders kann ich mir ihr Verhalten nicht erklären.“92

V. „Geschändete Jugend“ Das zuvor beschriebene Vorgehen gegen Personen, die wegen sexuellem Kindesmissbrauch verurteilt worden waren, lässt keineswegs den Rückschluss zu, dass die Belange der Missbrauchsopfer im Zentrum der nationalsozialistischen Kriminalpolitik gestanden hätten. Hier lag der Fokus häufig weniger auf den Auswirkungen, die die Tat auf die Individuen hatte, sondern vielmehr auf der angenommenen grundsätzlichen Gefahr des Täters 88  Auch hier handelt es sich um einen problematischen Begriff, da nicht für jeden Häftling, der als „homosexuell“ eingestuft wurde, eine entsprechende Selbstwahrnehmung bzw. sexuelle Präferenz für Männer belegbar ist. Um diese Schwierigkeit zu verdeutlichen, wird „homosexuell“ hier in Anführungszeichen gesetzt. 89  Andreas Sternweiler schätzt die Zahl der Homosexuellen im KZ Sachsenhausen auf insgesamt 1.000–1.200, 600 verstarben bzw. wurden getötet, vgl. Sternweiler, Einleitung, S. 14. 90  Rudolf Höß, geb. 1900, trat bereits 1922 der NSDAP bei. Ab 1934 war er in verschiedenen Funktion im KZ-System tätig, u. a. als Adjutant des Lagerkommandanten und als Schutzhaftlagerführer im KZ Sachsenhausen. 1940 wurde er als Kommandant mit dem Aufbau des KZ-Komplex Auschwitz beauftragt. Im März 1946 verhaftete die britische Militärpolizei Höß und übergab ihn den polnischen Behörden. Vor seiner Hinrichtung am 16.4.1947 auf dem Gelände des ehemaligen KZ Auschwitz verfasste er autobiographische Aufzeichnungen, die von Martin Broszat erstmals 1958 herausgegeben wurden, s. Broszat. 91  Der Industriehof war ein abgetrennter Teil im KZ Sachsenhausen, der seit Beginn des Zweiten Weltkrieges zur Ermordung von KZ-Häftlingen und anderen Personen genutzt wurde, vgl. Morsch. 92  Broszat, S. 79.



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für die „Volksgemeinschaft“. Da der Jugend als solcher in der nationalsozialistischen Ideologie eine zentrale Rolle zugedacht wurde, erschienen Sexualverbrechen gegen diese als „Angriff“ auf die gesamte Gesellschaft. Ein Artikel aus der Zeitschrift „Neues Volk“ verdeutlicht dies. In dem vom rassenpolitischen Amt der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) herausgegebenen Blatt erklärte Dr. Rodenfels 1939 die nationalsozialistischen Prämissen der Verbrechensbekämpfung. Es werde, so Rodenfels, „besonders streng gegen Sittenstrolche und Sexualverbrecher vorgegangen“, da „bei dieser Art von Verbrechen in den meisten Fällen nicht eine einzelne Person, sondern Teile der Gemeinschaft, vor allem die Jugend geschädigt werden.“93 Diese Position findet sich auch in den Gerichts- und Polizeiakten wieder. Im Fall des in der Einleitung dieses Artikels zitierten Rostocker Strandbahnschaffners Heinrich G. hatte die Schweriner Kriminalpolizei seine Einweisung in ein Konzentrationslager unter anderem damit begründet, dass er ein „gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher“ sei, der „eine ständige Gefahr für die heranwachsende weibliche Jugend“ darstelle. Seine „Belassung auf freiem Fuße“ könne deshalb „während der Kriegszeit nicht verantwortet werden“.94 Auch der Elektriker Karl F. überlebte das KZ-System nicht.95 Er war im April 1943 wegen Missbrauchs eines fünfjährigen Mädchens zu einer Strafe von einem Jahr Zuchthaus verurteilt worden. Im Anschluss an die verbüßte Haftstrafe hatte ihn die Kriminalpolizei im August 1944 als „gemeingefährlichen Sittlichkeitsverbrecher und Jugendverderber“ in Vorbeugehaft genommen.96 Die Begründung für die Maßnahme fiel wie folgt aus: „F. bildet auf Grund dieser von ihm begangenen schweren Straftat und wegen der Möglichkeit der Wiederholung ähnlicher strafbarer Handlungen eine so große Gefahr für die Allgemeinheit, daß seine Belassung auf freiem Fuße nicht verantwortet werden kann. Im Hinblick auf den Wert, den der nationalsozialistische Staat auf die Reinhaltung der Jugend legt, ist der Genannte wegen seiner kriminellen Veranlagung auf diesem Gebiet als gemeingefährlich zu bezeichnen.“97

Interessant ist hier die Vermischung von Kindheit und Jugend – wurden die Opfer eher als Jugendliche denn als Kinder wahrgenommen, konnte ih93  Rodenfels,

S. 25. der polizeilichen Vorbeugehaft der Kriminalpolizeistelle Schwerin, 27.6.1944, in: LA Schwerin 5,12–6–9, Nr. 1214. 95  F. verstarb im November 1944 im KZ Neuengamme, vgl. Schreiben der ­Kommandantur des KZ Neuengamme vom 4.1.1945, Vorbeugehaftakte Karl F., in: ­LNRWR, BR 1111, Nr. 91, Bl. 72. Vgl. zu dem Fall auch Lieske, S. 286–289. 96  Schreiben der Essener Kriminalpolizei an die Duisburger Kriminalpolizei vom 18.7.1944, Vorbeugehaftakte Karl F., in: LNRWR, BR 1111, Nr. 91, Bl. 44. 97  Vorbeugehaftverfügung vom 12.8.1944, Vorbeugehaftakte Karl F., in: LNRWR, BR 1111, Nr. 91, Bl. 53. 94  Anordnung

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nen ein gewisses Maß an Sexualität unterstellt werden, während das Kind selbst als asexuell galt.98 Die Betroffenen wurden meist – auch mehrfach99 – als Zeugen herangezogen, ihre Glaubwürdigkeit dabei aber häufig in Frage gestellt. Hier wäre noch genauer zu untersuchen, inwiefern das jeweilige Alter und / oder Geschlecht für die Bewertung als Zeugen ausschlaggebend war. In einigen Städten war in Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch die in den 1920er Jahren gegründete Weibliche Kriminalpolizei (WKP) für die Befragungen zuständig.100 Daraus kann nun nicht problemlos gefolgert werden, dass die weiblichen Beamtinnen grundsätzlich sensibler auf die Kinder und Jugend­ lichen eingegangen wären – gleichwohl lässt sich die Komponente Geschlecht hier nicht leugnen: Es ist anzunehmen, dass es zumindest für Mädchen einfacher gewesen sein dürfte, sich gegenüber einer Polizistin als einem Polizisten zu öffnen und das Geschehene zu schildern. Gleichzeitig war die WKP im Nationalsozialismus aber Teil eines repressiven Polizeiapparates, der sich auch und explizit gegen Kinder und Jugendliche richten konnte. Ab Juli 1939 war die WKP der „Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität“ zugeordnet worden, die deviante Jugendliche überwachte und der ab 1940 auch die Jugendkonzentrationslager Moringen und Uckermark unterstanden.101 Schon in der Weimarer Republik wurden viele der Mädchen und Jungen, die sexuelle Gewalt erfahren hatten,102 von den staatlichen Behörden mit Skepsis betrachtet und Diskussionen über eine Sterilisation von Opfern geführt, denen aufgrund ihrer Missbrauchserfahrung eine angeblich zu frühzeitige und zu freie sexuelle Entwicklung unterstellt wurde.103 Als nach der Machtübernahme Zwangssterilisationen in einem bis dahin unbekannten Ausmaß zu einem Eckpfeiler der staatlichen Biopolitik avancierten, konnte ein solcher körperlicher Eingriff gegen diese Jugendlichen auf Weisung etwa von Wohlfahrtsämtern angeordnet werden. Dies betraf vor allem junge Mädchen auf der Schwelle zur Pubertät, die aus den unteren sozialen Schichten stammten. Weibliche Zeuginnen aus den sozialen Unterschichten wurden 98  Die Anerkennung der Existenz kindlicher Sexualität wird bis heute immer wieder in Frage gestellt, vgl. Sager. 99  Mehrfache Befragungen von Kindern und Jugendlichen, die sexuellem Missbrauch ausgesetzt worden sind, können zu einer Retraumatisierung führen und sollen deshalb heute, wenn möglich, vermieden werden, vgl. Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindemissbrauchs, S. 55. 100  Zur Geschichte der WKP Blum; Götting. 101  Limbächer u. a.; Guse. 102  Die Jungen mussten zudem fürchten, zusätzlich als „Homosexuelle“ verfolgt zu werden, wenn sie z. B. in die einschlägigen polizeilichen Karteien aufgenommen wurden. 103  Kerchner, S. 256–261.



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häufig negativ dargestellt. So beschrieb das Berliner Landgericht z. B. zwei in Fürsorgeerziehung befindliche Mädchen im Alter von 13 und 14 Jahren im Kontext eines Verfahrens auf Basis des § 176 Abs. 3 wiederholt als „verwahrlost“. Die beiden waren von den Männern Valentin W., zum Zeitpunkt der Anklage 1943 63 Jahre alt, und Emil H., 51 Jahre alt, mehrfach sexuell missbraucht worden.104 In einem Bericht der WKP, der auf Auskünften des zuständigen Jugendamtes fußte, heißt es über eins der Mädchen, sie sei ein „frühreifes Kind“, das scheinbar „in sexueller Hinsicht“ manches erlebt habe.105 Beide, zum ersten Tatzeitpunkt zehn Jahre alt, waren 1939 von dem Angeklagten Emil H. auf der Straße angesprochen worden, der ihnen Lebensmittel besorgt, Geld gegeben, sie dann in sein Auto gelockt und in die Wohnung von W. gebracht hatte. Dort veranlassten die Männer die Mädchen, so das Gericht, ihre Unterhosen auszuziehen, fassten sie an ihren Geschlechtsteilen an, entblößten sich und rieben ihre eigenen Geschlechtsteile an diesen.106 Die Mädchen hatten dafür Geld erhalten und waren nach diesem ersten Vorfall noch mehrfach auf Aufforderung des W. in seine Wohnung gekommen. W. erhielt zwei Jahre und sechs Monate Haft und kam anschließend vermutlich in ein Konzentrationslager.107 H. wurde zu einem Jahr und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt. W.s Anwalt ging in Revision und baute seine Argumentation auf der angeblichen „Verwahrlosung“ der Mädchen und ihrer angeblichen Unglaubwürdigkeit auf. Das Berufungsverfahren wurde jedoch eingestellt – das Gericht stufte die Missbrauchsopfer als glaubwürdige Zeuginnen ein, „wenn auch die beiden Mädchen verwahrlost sind, so haben sie doch keinen unglaubwürdigen Eindruck gemacht“, heißt es in dem Urteil des Berliner Landgerichts.108 Auch das Mädchen, das offenbar seit ihrem 13. Lebensjahr, also über Jahre hinweg von Wilhelm Sch. sexuell missbraucht worden war, galt den Behörden als verwahrlost.109 Sie sei zudem „hochgradig beschränkt“, so die Hamburger Kriminalpolizei. In einem Kommentar zu ihrer Aussage heißt es, 104  Urteil des Berliner Landgerichts vom 1.11.1943, in: LA Berlin, A Rep. 358– 02, Nr. 51612. 105  Vermerk der Weiblichen Kriminalpolizei auf der Anzeige der Staatlichen Kriminalpolizei Berlin vom 8.8.1943 gegen Emil H., in: LA Berlin, A Rep. 358–02, Nr. 51612. 106  Urteil des Berliner Landgerichts vom 1.11.1943, in: LA Berlin, A Rep. 358– 02, Nr. 51612. 107  In der Gerichtsakte liegt ein Schreiben der Justizhaftanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel, das die Übergabe des Gefangenen an die Kriminalpolizei dokumentiert, s. LA Berlin, A Rep. 358–02, Nr. 51612. 108  Schreiben der Justizhaftanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel, in: LA Berlin, A Rep. 358–02, Nr. 51612. 109  Vgl. Urteil des Landgerichts Hamburg, 25.5.1938, Strafakte Wilhelm Sch., in: StA Hamburg, 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, Strafsachen, Nr. 6033 / 38.

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„über Einzelheiten genaue Angaben zu machen, fällt ihr sehr schwer. Sie schweift ständig in altkluge Reden allgemeiner Art ab“.110 Sie sei ferner ein „hübsches, aber schlecht gepflegtes Mädchen“, deren Vater und Stiefmutter „schwachsinnig“ wären.111 Das Mädchen hatte indes ausgesagt, Sch. habe sie unter Druck gesetzt, mit niemandem über das Geschehen zu sprechen, da ihr ansonsten die Einweisung in eine Anstalt drohe.112 Vergegenwärtigt man sich, dass „Verwahrlosung“ im Nationalsozialismus als ein Grund dafür diente, um die polizeiliche Vorbeugehaft auf Personen ab 16 Jahren auszudehnen, wird deutlich, dass diese Androhung keinesfalls völlig unrealistisch war.113 VI. Fazit Die Regulation von Körper und Sexualität war ein wichtiger Eckpfeiler nationalsozialistischer Biopolitik, wenngleich Dagmar Herzog darauf hingewiesen hat, dass sich die Sexualitätsgeschichte der NS-Zeit keineswegs auf rein repressive Aspekte beschränken lässt.114 Gelebte Sexualität galt innerhalb der „Volksgemeinschaft“ einerseits durchaus über den reinen Fortpflanzungszweck hinaus als erstrebenswerter Aspekt des Lebens, von der damaligen „Norm“ abweichende Sexualitäten hatten darin jedoch keinen Platz. Dies zeigt nicht zuletzt die intensive Verfolgung von mann-männlicher Sexualität. Mit der 1933 durch die Sturmabteilung (SA) erfolgten Zerstörung des von Magnus Hirschfeld in der Weimarer Republik aufgebauten Instituts für Sexualwissenschaften115 kam dieser neue Forschungszweig zwar nicht gänzlich zum Erliegen, verengte sich aber auf medizinisch-psychiatrische sowie biopolitische Fragestellungen. Über Phänomene wie Pädophilie und sexuellen Kindesmissbrauch wurde fortan kaum mehr geforscht und das, obwohl – wie Florian Mildenberger bemerkt – z. B. Organisationen wie die Hitlerjugend durchaus Anknüpfungspunkte zu einer Auseinandersetzung mit Pädosexualität geboten hätten.116 110  Kommentar zur polizeilichen Vernehmung, 25.3.1938, Strafakte Wilhelm Sch., in: StA Hamburg, 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, Strafsachen, Nr. 6033 /  38. 111  Kommentar zur polizeilichen Vernehmung, 25.3.1938, Strafakte Wilhelm Sch., in: StA Hamburg, 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, Strafsachen, Nr. 6033 /  38. Im Gerichtsurteil wird sie ebenfalls als „schwachsinnig“ bezeichnet, vgl. Urteil des Landgerichts Hamburg, 25.5.1938, Strafakte Wilhelm Sch., in: StA Hamburg, 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, Strafsachen, Nr. 6033 / 38. 112  Zeugenaussage, 25.3.1938, Strafakte Wilhelm Schulze, in: StA Hamburg, 213–11 Staatsanwaltschaft Landgericht, Strafsachen, Nr. 6033 / 38. 113  Vgl. Götte; Willing. 114  Herzog, S. 16. 115  Dose; Sigusch, Geschichte.



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Zwar bestanden Psychotherapie und Psychoanalyse auch im Nationalsozialismus, therapeutische Konzepte bei Sexualstraftaten beschränkten sich aber meist auf körperliche Eingriffe und die Verwahrung in einer Haft- oder Heilund Pflegeanstalt. Mediziner und Kriminologen übertrafen sich entsprechend bei der wohlwollenden Evaluation dieser neuen drastischen Maßnahmen.117 Diese kamen insbesondere dann zur Anwendung, wenn die Taten auf eine sexuelle „Neigung“ oder „Perversion“ zurückgeführt wurden. In vielen anderen Fällen wurde sexuelle Gewalt vergleichsweise gering bestraft. Zu betonen bleibt auch, dass dieses repressive staatliche Vorgehen gegen einige Täter keineswegs mit einer intensiven und sensibilisierten Zuwendung zu den Betroffenen einherging. Kinder und Jugendliche galten nicht nur als „schützenswert“, sondern gleichzeitig als Gefahrenquelle für die Ordnung der „Volksgemeinschaft“ – auch oder gerade dann, wenn sie (sexuelle) Gewalt erfahren hatten. Dies verdeutlicht auch der im 19. Jahrhundert in Deutschland auftauchende Begriff des „Kinderschänders“, der in den frühen 1930er Jahren zum Rechtsbegriff wurde.118 Dem Begriff ist eine Herabsetzung des Opfers inhärent, denn das Kind erscheint als „beschmutzt“, als seiner angeblichen Reinheit beraubt. Heute ist die Bezeichnung des „Kinderschänders“ zwar aus der Fachwelt verschwunden, findet aber z. B. in populistischen Berichterstattungen über Missbrauchsfälle119 sowie in der rechtsextremen Szene im Kontext von politischen Kampagnen weiterhin häufig Verwendung.120 Der zu leistende Drahtseilakt bei dem hier behandelten Thema besteht deshalb darin, die Geschichte sexueller Gewalt aufzuarbeiten und gleichzeitig anzuerkennen, dass die Täter ihrerseits während des Nationalsozialismus zu Opfern einer in seiner Dimension spezifischen nationalsozialistischen Kriminalpolitik geworden sind. Dies ist zum einen aus menschenrechtlichen Erwägungen bedeutsam, die in gleichem Maße für vorbestrafte Sexualstraf­ täter wie für alle anderen zu gelten haben. Zum anderen ist es gerade aufgrund der noch heute häufig populistisch geführten Debatten wichtig zu betonen, dass eine intensive Strafverfolgung bzw. Verschärfung des Strafrechts noch lange nicht zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Leid und der möglichen Traumatisierung der Betroffenen führte und führt. Nicht selten diente und dient die Forderung nach einem „starken Staat“ oder 116  Mildenberger,

S. 33–36. z. B. Puvogel; Rattenhuber. 118  Vgl. Kerchner, S. 247–249. 119  So finden sich z. B. in der BILD-Zeitung regelmäßig Titel wie „10 Jahre Knast für Kinderschänder“, s. http: /  / www.bild.de / regional / ruhrgebiet / sicherungsverwah rung / urteil-kinderschaender-46674288.bild.html (Aufruf zuletzt am 14.6.2019). 120  Vgl. Claus / Virchow. Zu diesem Thema hat die Berliner Amadeo Antonio Stiftung mehrere Texte publiziert, s. http: /  / www.kein-raum-fuer-missbrauch.de / aktuel les / nein-zu-rechtsextremismus (Aufruf zuletzt am 14.6.2019). 117  Vgl.

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gar einer „Todesstrafe für Kinderschänder“, wie sie in rechtsextremen Kreisen seit Mitte der 1990er Jahre wieder populär geworden ist,121 in erster Linie eigenen politischen Zielen und Zwecken. Nur so lässt sich erklären, dass im Umgang mit Sexualstraftätern häufig Repressionen eingefordert werden, während die Geschichten der Betroffenen gleichzeitig ungehört bleiben. Sexueller Kindesmissbrauch im Nationalsozialismus ist ein Forschungsdesiderat. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sowohl polizeiliche und juristische Praxen als auch in der NS-Zeit dominante Debatten und Vorstellungen über Missbrauchsopfer und Täter bis weit in die Nachkriegszeit und die Neugründung der beiden deutschen Staaten hineinreichten. Mentalitäts- und kulturgeschichtliche Kontinuitäten in den Bereichen Sexualität, Kindheit und Familie sind bislang verschiedentlich untersucht worden.122 Ergiebig wäre sicherlich auch die weitere Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch in Institutionen. So betont z. B. Claus Koch Kontinuitäten im Hinblick auf die Heimerziehung von der Zeit des Nationalsozialismus bis in die 1960er Jahre und thematisiert dabei auch, dass „Verwahrlosung“ in den verschiedenen politischen Systemen lange als ein vermeintliches Merkmal von Kindern in Fürsorgeeinrichtungen galt.123 Die systematische Erforschung von sexuellem Kindesmissbrauch im Nationalsozialismus könnte hier anknüpfen. VII. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Ungedruckte Quellen Archiv Sachsenhausen (AS) Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) Landesarchiv Berlin (LA Berlin) Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland (LNRWR) Landesarchiv Schwerin (LA Schwerin) Staatsarchiv Hamburg (StA Hamburg) Sterbezweitbuch des Standesamtes Bergen-Belsen, 1.1.3.1. / 3400850 / ITS Digital ­Archive, Bad Arolsen 121  Zu der Kampagne, die u.  a. eine Seite auf Facebook betreibt, vgl. Valjent. Nach Protesten wurde der erste Kampagnenauftritt „Todesstrafe für Kinderschänder“ von Facebook gelöscht, mittlerweile existieren aber neue Gruppierungen unter diesem Titel bei Facebook. 122  Vgl. z. B. zur Geschichte der Sexualität Steinbacher; Herzog. 123  Koch, S. 236.



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Das „unschuldige“, das „verdorbene“ und das „traumatisierte“ Kind. Die Prekarität des Opferstatus bei sexueller Misshandlung in österreichischen Strafprozessen (1950–1970) Von Sonja Matter I. Einleitung Die historische Forschung weist auf eine spezifische Ambivalenz hin, die den Umgang mit sexuellen Misshandlungen an Kindern in der modernen westlichen Welt bis weit ins 20. Jahrhundert prägte: Einerseits galt sexuelle Gewalt an Minderjährigen gerade deshalb als eine der moralisch verwerflichsten Straftaten, da sie sich gegen „unschuldige“ und „unwissende“ Kinder richtete. Andererseits war aber der Opferstatus von Kindern, die sexuell misshandelt wurden, äußerst prekär: Sie galten vielfach als „moralisch korrumpiert“ oder „verdorben“. Damit wurde letztlich die Frage aufgeworfen, ob die Misshandelten überhaupt noch als Kinder im eigentlichen Sinne gelten konnten.1 Im Laufe des 20. Jahrhunderts veränderten sich diese Deutungen des Opferstatus: Vorstellungen, wonach sexuelle Misshandlung zu einer psychologischen Traumatisierung führen kann, ermöglichten es, die Leiderfahrungen von Opfern sexueller Gewalt anders zu fassen und Konzeptionen von Kindheit, Sexualität, „Unschuld“ und „Reinheit“ neu zu verhandeln.2 Wegleitend für die politische Thematisierung von sexueller Gewalt an Kindern war insbesondere die neue Frauenbewegung, die seit den ausgehenden

1  Vgl. Bailey, S. 191–210; Jackson, Youth. Zum „Opferbegriff“ wandten Gewaltforscher und -forscherinnen kritisch ein, dass er gegenüber den gewaltbetroffenen Menschen vielfach eine stigmatisierende Wirkung habe, da er sie – insbesondere gegenüber den Tätern und Täterinnen – in eine unterlegene und passive Position platziere. Postuliert wurde, nicht von „victim“ sondern von „survivor“ zu sprechen, vgl. dazu u. a. Kelly. Im Folgenden wird, obwohl diesen kritischen Reflektionen grundsätzlich zugestimmt wird, gleichwohl auf den Begriff des „Opfers“ Bezug genommen, um auf die höchst vulnerable Position von Kindern, die sexuelle Gewalt erlebt hatten, hinzuweisen und die Frage gleichzeitig offenzulassen, inwieweit sich die Betroffenen selbst als „Überlebende“ bezeichnen würden. 2  Vgl. dazu u. a. Bange / Körner; Amann / Wipplinger.

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1970er Jahren dezidiert auf die Verbreitung und Problematik der sexuellen Gewalt an Kindern hinwies.3 Als traditionell wichtige Orte, an denen sexuelle Gewalt an Kindern gedeutet wurde, fungierten Strafgerichte. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gingen verschiedene europäische Staaten dazu über, den Straftatbestand der „Unzucht mit Kindern“ nicht mehr lediglich als eine qualifizierte Form der „Notzucht“ zu sanktionieren, sondern als eigenes Delikt zu fassen.4 Auch das österreichische Strafgesetz (StG) von 1803 sanktionierte erstmals in § 112 explizit die „Schändung“ an Personen unter 14 Jahren. Obwohl das Gesetz allgemein von „Person“ sprach, konnte nach der herrschenden Lehrmeinung nur ein unmündiges Mädchen Opfer des Verbrechens sein.5 Das revidierte österreichische Strafgesetz von 1852 fasste den Straftatbestand der „Unzucht mit Kindern“ schließlich weiter: Es setzte für Knaben und Mädchen ein Schutzalter von 14 Jahren fest (§§ 127, 128 StG). Indes bestanden geschlechtsspezifische Unterschiede auch im Strafrecht von 1852 fort: So waren zwar neu auch minderjährige Knaben vor „Unzuchtshandlungen“ geschützt (§ 128 StG). Wenn es aber zwischen einem minderjährigen Knaben und einer strafmündigen Frau zu einem vaginalen Geschlechtsverkehr gekommen war, blieb die Frau straffrei. Das Strafrecht sanktionierte nur sexuelle Übergriffe von Frauen an unter 14-jährigen Knaben, sofern sie nicht der „Vorbereitung“ eines Geschlechtsverkehrs dienten.6 Demgegenüber ahndete das Strafgesetz Männer, die mit einem unmündigen Mädchen einen Geschlechtsverkehr durchgeführt hatten, mit einer Kerkerstrafe von fünf bis zehn Jahren, die unter bestimmten Voraussetzungen bis auf 20 Jahre ausgedehnt werden konnte (§§ 126, 127 StG 1852). Schließlich bestimmte das österreichische Strafrecht, dass „gleichgeschlechtliche Unzucht“ mit Minderjährigen unter Umständen nicht als „Schändung“ nach § 128 anzusehen sei, sondern als „Unzucht wider die Natur“ nach § 129 Ib StG.7 Zwar konnten unmündige Mädchen und Knaben, die Opfer von gleichgeschlechtlicher „Unzucht“ geworden waren, mit der Einführung des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) von 1928 nicht mehr wegen Homosexualität

3  Vgl.

dazu Rush; Godenzi; Swain; Klatt u. a., S. 233–238. Gewalt, S. 110  f.; Hommen, Sittlichkeitsverbrechen, S. 28; Russ,

4  Kirchknopf,

S. 65. 5  Russ, S. 78. 6  Vgl. Kaniak, S. 259; Kirchknopf, Gewalt, S. 117  f. Erläuternde Bemerkungen zum Vorentwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches vom September 1909 und zum Vorentwurf des Einführungsgesetzes, S. 231. 7  Die konkrete Praxis schwankte im Laufe des 20. Jahrhunderts beträchtlich, da der Oberste Gerichtshof (OGH) den § 128 StG diesbezüglich wechselhaft auslegte; vgl. dazu auch Kirchknopf, Verfolgung, S.  73 f.; Weingand.



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strafrechtlich verfolgt werden.8 Gleichwohl implizierte dieser differenzierende Umgang, dass Kindern, die von sexueller Gewalt im homosexuellen Kontext betroffen waren, ein anderer – umstrittenerer – Opferstatus zugewiesen wurde, als Unmündigen, die sexuelle Gewalt im heterosexuellen Kontext erlebt hatten. Das Strafrecht stellte somit einen groben Rahmen dar, auf den sich die rechtlichen Deutungen von sexueller Gewalt an Kindern zu beziehen hatten. Die generell-abstrakt gefassten Gesetzesnormen mussten aber in der praktischen Anwendung genauer ausgelegt und gedeutet werden.9 Die Rechtswissenschaft und Judikatur spielten hier eine zentrale Rolle. In Österreich, wo ein Strafrecht des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre in Kraft blieb, kamen dem Obersten Gerichtshof (OGH) und der Rechtswissenschaft eine wichtige Funktion zu, die Gesetzesnormen an gewandelte Auffassungen anzupassen.10 Die erstinstanzlichen Strafgerichte orientierten sich in ihrer Rechtsanwendung an den Urteilen des OGH und an der wissenschaftlichen Kommentierung des Strafrechts. Gleichwohl blieb, so die hier vertretene These, in jedem Strafrechtsfall zu sexueller Gewalt an Kindern den involvierten Akteuren und Akteurinnen beträchtlicher Deutungsspielraum, um die Geschehnisse zu interpretieren. Was der „Fall“ war, ließ sich nicht mittels bestimmter juristischer Auslegungsmethoden quasi zwangsläufig beurteilen. Vielmehr präsentierten sich die Gerichtsverhandlungen als Aushandlungsprozesse, in denen die Beteiligten unterschiedliche Deutungen von illegitimer Gewalt einerseits und legitimen sexuellen Handlungen andererseits darlegten.11 Freilich waren die involvierten Akteure und Akteurinnen in diesem Prozess in ganz unterschiedlichen Machtpositionen situiert: Den Aussagen von Kindern, Angeklagten, Zeugen und Zeuginnen, den Untersuchungsbehörden oder psychiatrischen Experten kam unterschiedliches Gewicht zu.12 Die Strafgerichtsakten, die als schriftliches Zeugnis übermittelt und der historischen Analyse zugänglich sind, weisen auf diese je unterschiedlichen Machtpositionen hin. Die Fallakten zeugen aber auch von der Vielstimmigkeit, die den Untersuchungs- und Beurteilungsprozess prägte.13

8  Mit der Einführung des JGG wurde der § 237 StG 1852 aufgehoben. Dieser hatte vorgesehen, dass Handlungen von Kindern vom angehenden elften bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs unter bestimmten Umständen bestraft werden konnten. 9  Vgl. u. a. Kley-Struller. 10  Foregger / Serini, Österreichisches Strafgesetz, S. XV–XVIII, 109–112. 11  Vgl. u. a. Schwerhoff. 12  Vgl. Griesebner / Mommertz. 13  Zur Bedeutung von Gerichtsakten für die historische Untersuchung zu Verletzungen des Schutzalters s. auch Robertson, Crimes; Odem, Delinquent.

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Die unterschiedlichen und sich wandelnden Deutungen von sexueller Gewalt an Kindern, wie sie vor Gericht präsentiert wurden, stehen im vorliegenden Beitrag im Mittelpunkt. Mit dieser Forschungsfrage fokussiert die Untersuchung auf Überschneidungen zwischen einer Strafrechtsgeschichte einerseits und einer Geschichte der Kindheit andererseits. Insbesondere für die Vormoderne14 und ebenso für das ausgehende 19. und frühe 20. Jahrhundert finden sich verschiedene Arbeiten, die einer solchen Forschungsperspektive folgen. Tanja Hommen und Brigitte Kerchner untersuchen beispielweise für das deutsche Kaiserreich beziehungsweise die Weimarer Republik Strafprozesse zu sexuellen Kindesmisshandlungen.15 Dagmar Lieske liefert erste Forschungsergebnisse zur nationalsozialistischen Verfolgung von sogenannten „Kinderschändern“.16 In den Arbeiten von Louise Jackson, Mary H. Odem oder Tamara Myers steht im Weiteren die Rechts­praxis zu Verletzungen des Schutzalters im Mittelpunkt, wie sie in englischen beziehungsweise USamerikanischen und kanadischen Strafgerichten im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert dominierten.17 Einzig Stephen Robertson, der New Yorker Strafgerichtsakten zu Verletzungen des Schutz­alters analysiert, weitet seine Untersuchung bis ins Jahr 1960 aus.18 Wie diese historischen Studien verdeutlichen, waren gesetzliche Bestimmungen zum Schutzalter nicht absolut, vielmehr war deren Interpretation in der Rechtsanwendung durch Kategorien wie „Geschlecht“, „Alter“, „Klasse“ und „Ethnie“ geprägt, was wiederum die Deutung des Opfer- und Täterstatus in den je spezifischen Fällen strukturierte. Der vorliegende Beitrag schließt an diese Forschungsarbeiten an und untersucht unter Anwendung einer intersektionalen Perspektive am Beispiel eines österreichischen Strafgerichts, wie der Status von Kindern, die sexuelle Gewalt erlebt hatten, in den 1950er und 1960er Jahre interpretiert wurde – Forschungsergebnisse, die es durch weitere historische Fallstudien in anderen Ländern transnational zu vergleichen und zu erweitern gilt.19 Untersucht werden Strafgerichtsakten des erstinstanzlichen Kreisgerichts St. Pölten in Niederösterreich. Dabei handelt es sich um einen außergewöhnlichen Quellenbestand, hat doch das Landesarchiv Niederösterreich für den Untersuchungszeitraum die Strafakten dieses Gerichts zum größten Teil aufbewahrt, während zahlreiche andere Archive nur eine spezifische Auswahl von Fällen sexueller Kindesmisshandlung überliefern. Anhand der Stichjahre 1950, 1960 und 1970 werden 200 Fälle untersucht, in denen das Kreisgeu. a. Naphy; Loetz, S. 88–99; Martin. Sittlichkeitsverbrechen; Hommen, Körperdefinition; Kerchner, Macht. 16  Vgl. Beitrag in diesem Band. 17  Jackson, Abuse; Jackson, Youth; Odem, Deliquent; Myers, S. 7–10. 18  Robertson, Crimes; Robertson, Age. 19  Vgl. zur intersektionellen Perspektive Knapp. 14  Vgl.

15  Hommen,



Das „unschuldige“, das „verdorbene“ und das „traumatisierte“ Kind435

richt St. Pölten Verletzungen des Schutzalters ahndete. Das dominante Merkmal dieser Fälle war das Geschlecht der Täterschaft: Mit der Ausnahme von vier Fällen waren alle Angeklagten männlich. Des Weiteren präsentieren sich die Fälle als sehr heterogen: Das Gericht hatte sich mit Vätern zu befassen, die ihre unmündigen Töchter sexuell misshandelten, mit Nachbarn, die gegen Kinder und Jugendliche ihres sozialen Umfeldes gewalttätig vorgegangen waren oder hatte Fälle zu beurteilen, in denen Jugendliche Kinder sexuell misshandelten, die teilweise nur wenige Jahre jünger waren als sie selbst – um nur einige Beispiele von Verletzungen des Schutzalters zu nennen. Verschiedene Täter wandten physische Gewalt an, andere drohten den Kindern – teilweise massiv. Allerdings gingen die unmündigen Jugendlichen nicht in allen Fällen von Verletzungen des Schutzalters davon aus, dass sie Opfer einer Gewalttat geworden waren: Verschiedene 13-jährige Mädchen gaben beispielsweise vor Gericht an, sie hätten der sexuellen Beziehung zum Angeklagten freiwillig zugestimmt.20 Im Folgenden wird untersucht, wie verschiedene Akteure und Akteurinnen bei Verletzungen des Schutzalters den Opferstatus von Kindern und Jugendlichen deuteten. Welches „Gut“ wurde verletzt? War es die Reinheit, die physische oder psychische Integrität der Kinder und Jugendlichen, die durch die Straftat verletzt wurde? Zur Situierung der erstinstanzlichen Gerichtsprozesse werden sowohl die Positionen der österreichischen Rechtswissenschaft und Judikatur beleuchtet wie auch das Wissen zur sexuellen Gewalt an Kindern thematisiert, wie es die Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie in den 1950er und 1960er Jahren produzierte. II. Sexualität, Unzucht und moralische „Verdorbenheit“ Im Unterschied zur Vormoderne war der heterosexuelle Geschlechtsverkehr zwischen mündigen Menschen außerhalb der Ehe – die „Unzucht“ – im österreichischen Strafgesetz von 1852 nicht mehr strafbar.21 Sanktioniert wurde nur noch der Ehebruch (§§ 502, 503 StG 1852). Allerdings ließ die juristische Kommentierung der Sittlichkeitsdelikte keinen Zweifel offen, wonach sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe geeignet waren, Menschen „moralisch zu korrumpieren“ und „sittlich zu verderben“. Dies galt selbstredend nicht für Frauen und Männer im selben Maße: Primär war der Verlust der „Geschlechtsehre“ ein Problem, das Frauen betraf. Demgegenüber stand es Männern durchaus zu, gewisse heterosexuelle „Abenteuer“ einzugehen, 20  Den Bestimmungen zum Schutzalter konnte entsprechend gegenüber Unmündigen nicht nur eine schützende, sondern auch eine disziplinierende Funktion zukommen, vgl. dazu u. a. Odem, Rape. 21  Zum historischen Wandel des Unzuchtbegriffs s. die Beiträge in Künzel.

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ohne ihre Ehre zu verlieren – eine Unterscheidungspraxis, die Frauenrecht­ lerinnen bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem Begriff der „Doppelmoral“ kritisierten.22 Wie die juristischen Experten betonten, sollte es bei der Beurteilung von Verletzungen des Schutzalters indes keine Rolle spielen, ob die Minderjährigen „verdorben“ waren oder nicht. Der renommierte österreichische Strafrechtsprofessor Gustav Kaniak argumentierte beispielsweise, dass der Tatbestand der „Schändung“ wie auch der „Notzucht“ gegeben war, unabhängig davon, ob Minderjährige „sittlich verdorben“ waren oder in die „Unzuchtshandlungen“ eingewilligt hatten.23 Und auch der OGH hielt mehrfach fest, dass sexuelle Kontakte mit Kindern unter 14 Jahren prinzipiell strafbar waren. Dabei sei die Frage „belanglos“, ob das Kind „sittlich verdorben“ sei.24 Die Urteile bezogen sich in der Regel auf unmündige Mädchen. Die Gefahr, dass minderjährige Knaben und Jugendliche „sittlich verdorben“ werden konnten, diskutierte die Rechtswissenschaft in erster Linie im Zusammenhang mit der Prostitution. Am 24. Mai 1885 wurde ein Gesetz erlassen, das weibliche Prostituierte bestrafte, wenn sie „jugendliche Personen“ – also Knaben unter 18 Jahren – „verführten“.25 Die Vorstellung, wonach unmündige Kinder und Jugendliche durch sexuelle Kontakte „sittlich verdorben“ würden, war auch bei Akteuren und Akteurinnen präsent, die in den Untersuchungsjahren 1950, 1960 und 1970 in Strafgerichtsprozessen des Kreisgerichts St. Pölten aussagten. So hielt etwa eine Pflegemutter eines siebenjährigen Mädchens, das von einem 71-jährigen Nachbarn sexuell misshandelt worden war, vor Gericht fest: „Das Kind ist durch das Vorgehen des Beschuldigten ganz verdorben und können wir ihr jetzt nicht abgewöhnen, dass sie an ihrem eigenen Geschlechtsteil herum­ kratzt.“26 Auch die Haltung, man solle mit den Kindern möglichst nicht über sexuelle Misshandlungen sprechen, um sie nicht noch weiter „moralisch zu korrumpieren“, vertraten verschiedene Eltern. So hatte im Jahre 1960 ein Jugendlicher mehrere Mädchen und Jungen sexuell misshandelt. Die Mutter eines misshandelten Mädchens sprach ein älteres, zehnjähriges Mädchen, das ebenfalls Opfer der Misshandlungen geworden war, auf die Vorfälle an. Wie die Zeugin vor Gericht angab, habe sie das Mädchen jedoch nicht genau über 22  Vgl. dazu die Beiträge in der Zeitschrift „Women’s History Review“ 17 / 2 (2008) zum Thema „Gender, Religion and Politics. Josephine Butler’s Campains in International Perspective (1875–1959)“; Kretschmar; Jusek. 23  Kaniak, S. 263 f.; vgl. Stooss, S. 294; Gamp, S. 108. 24  Russ, S. 99. 25  Rittler, S. 313. 26  Zeugenvernehmung, Kreisgericht St. Pölten, 23.1.1950, in: Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA) Vr 14 / 50.



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die Ereignisse ausgefragt, „damit das Kind nicht noch mehr verdorben“ werde.27 Auch die Behörden, die zwischen 1950 und 1970 in die Untersuchung von Misshandlungsfällen involviert waren, vertraten vielfach die Vorstellung, wonach sexuelle Kontakte Kinder „verderben“ würden. Diese Überzeugung wirkte sich direkt auf den Verlauf des Strafprozesses aus: Erstens stellte sich für die Richter und Richterinnen die Frage, ob Unmündige, die durch die erlebte sexuelle Gewalt „verdorben“ waren, überhaupt noch glaubwürdige Aussagen machen konnten. Zwar hatte der OGH 1948 bestimmt, dass es für die Bewertung der Glaubwürdigkeit belanglos sei, ob „das Mädchen sittlich verdorben“ war.28 Das Kreisgericht folgte diesem Urteil jedoch nicht strikt: Kinder konnten, so die Ansicht, durch sexuelle Übergriffe unter Umständen soweit „korrumpiert“ werden, dass man ihnen nicht mehr ohne weiteres Glauben schenken konnte. Beispielhaft ist das Urteil zu einem Fall aus dem Jahre 1950. Ein elfjähriges Mädchen wurde vom Lebenspartner seiner Großmutter mehrfach sexuell misshandelt. Das Kreisgericht hielt in seinem Urteil fest, das Mädchen sei, „obwohl erst 11 Jahre alt, als ein vollkommen verdorbenes und in der Sphäre des Geschlechtslebens gänzlich aufgeklärtes Kind“ zu bezeichnen. Das Gericht kam allerdings zum Schluss, dass trotz der festgestellten „Verdorbenheit“ des Mädchens „durchaus keine Veranlassung“ bestehe, „an der Wahrheit ihrer Aussage, die sich im Wesentlichen ja mit der des Angeklagten deckt, zu zweifeln.“29 Zweitens nahm das Kreisgericht St. Pölten die „Verdorbenheit“ eines Kindes mehrfach als expliziten Anlass, das Strafmaß für den Täter herabzusetzen: Entgegen der rechtswissenschaftlichen Lehrmeinung, maß das erstinstanzliche Kreisgericht St. Pölten der Frage, ob die Kinder „sittlich verdorben“ seien, in ihrer Urteilsfindung sehr wohl Gewicht bei. Dies wird in einem der schwersten Misshandlungsfälle deutlich, die das Gericht im Jahre 1970 zu beurteilen hatte. Ein Gendarmeriekommandoposten einer Gemeinde in Niederösterreich erhielt „durch vertrauliche Anzeige“ davon Kenntnis, dass es zu sexuellen Übergriffen gegenüber Minderjährigen gekommen war.30 Im Zuge der Ermittlungen stellten die Untersuchungsbehörden fest, dass meh27  Gendarmeriekommandoposten,

Niederschrift, 21.6.1960, in: NÖLA Vr 861 / 80. vom 11.9.1948, SSt. XIX 155, in: Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes, S. 233–243, hier S. 234. Damit distanzierte sich der OGH von einer früheren Erkenntnis aus dem Jahre 1901, die argumentierte, dem Zeugnis eines „sittlich verkommenen Mädchens“ könne nicht vertraut werden, s. Russ, S. 99; Kirchknopf, Gewalt, S. 120. 29  Urteil Kreisgericht als Schöffengericht, St. Pölten, 17.1.1951, in: NÖLA Vr 1500 / 50. 30  Gendarmeriekommandoposten, Strafanzeige, 11.11.1969, in: NÖLA Vr 1411 /  70. 28  Erkenntnis

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rere Personen die Schwestern Ruth P.31 und Elisabeth P. sexuell misshandelt hatten, die zum damaligen Zeitpunkt 12 bzw. 13 Jahre alt waren.32 Die Untersuchungsbehörden führten aus, dass die Mädchen in problematischen Verhältnissen aufwuchsen. Der Vater, ein Hilfsarbeiter, würde nur unzureichend für die Familie sorgen, es herrschten „sehr triste und desolate Zustände“. Auch die Mutter würde sich kaum um die Kinder kümmern, diese würden „ganz wild aufwachsen“ und sich bis Mitternacht mit Burschen herumtreiben.33 Dieser familiäre Hintergrund weckte bei Untersuchungsbehörden den Verdacht, dass es sich im vorliegenden Fall um „verdorbene“ Mädchen handelte. Die ausgedehnten Ermittlungen ergaben, dass Ruth P. in ihrem Leben bereits mehrfach sexuell misshandelt worden war; erstmals wurde sie, wie das Mädchen zu Protokoll gab, im Alter von neun Jahren von einem Erwachsenen vergewaltigt.34 Die genaueren Untersuchungen des Gerichts bezogen sich indes auf Übergriffe, die wenige Monate zurücklagen. Im ersten Fall waren mehrere Jugendliche und Erwachsene involviert. Elisabeth P. gab zu Protokoll, dass ihnen eines Abends vier bekannte Burschen gefolgt seien. Einer der Gruppe habe ein Luftdruckgewehr bei sich gehabt und „immer hinter unseren Füssen in den Boden hineingeschossen“. Ein Schuss habe sie schließlich getroffen, wodurch sie „ein kleines Loch in der Wade gehabt“ und geblutet habe. Daraufhin wollte sie wegrennen. Die Burschen holten sie und ihre Schwester jedoch ein, zerrten die Mädchen in eine leerstehende Molkerei und misshandelten sie.35 Wenige Tage nach diesem Übergriff übten mehrere Jugendliche und Erwachsene ein weiteres Mal sexuelle Gewalt gegenüber Ruth P. aus. Das Mädchen hatte zunächst auf einer Wiese mit dem 16-jährigen Walter O. einen Geschlechtsverkehr und ging nachfolgend mit ihm in eine Privatwohnung, wo es zu schweren Formen sexueller Übergriffe kam. Die Absprache jeglicher Persönlichkeitsrechte und gänzliche Objektivierung, die die Angeklagten gegenüber dem Mädchen vornahmen, kam in der Wortwahl einer Täterin, die das Mädchen zwar selbst nicht berührte, aber die Jugendlichen und Männer aufgefordert hatte, das Mädchen zu vergewaltigen, deutlich zum Ausdruck. So sprach die Angeklagte im Untersuchungsprozess meist nicht 31  Die

Namen sind anonymisiert. den Anklagen wurden mehrere Fallakten angelegt, s. NÖLA Vr 1411 / 70, Vr 397 / 70, Vr 407 / 70, Vr 495 / 70, Vr 662 / 70. 33  Gendarmeriekommandoposten, Strafanzeige, 11.11.1969, in: NÖLA Vr 1411 /  70. 34  Gendarmeriekommandoposten, Amtsvermerk, 3.10.1969, in: NÖLA Vr 1411 /  70. 35  Gendarmeriekommandoposten, Niederschrift, 22.10.1969, in: NÖLA Vr 495 /  70. 32  Zu



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vom „Mädchen“ oder von Ruth, sondern bezog sich mehrheitlich auf „das Mensch“, wie das Protokoll festhielt: „Auch da wurde wieder mit dem Mensch herumgerauft, wobei ihr von Erwin K., Josef S., ich glaube auch mein Mann hat sie beim Schädel gehalten, die Hose ausgezogen wurde.“36 Das Kreisgericht erkannte die Personen, die in unterschiedlichen Formen an den Übergriffen beteiligt waren, wegen „Notzucht“ (§ 127 StG) und / oder „Schändung“ (§ 128 StG) schuldig. Je nach Alter und Form der Beteiligung fiel das Strafmaß unterschiedlich hoch aus. Die angebliche „Verdorbenheit“ der beiden Mädchen wirkte aber generell strafmildernd. So kam das Gericht beispielsweise beim 24-jährigen Leopold E. – in dessen Wohnung die schwe­ ren Übergriffe an Ruth P. stattgefunden hatten – zum Schluss, dass Leopold E.’s „Geständnis“, der Umstand, dass er zur „Notzucht und zur Schändungshandlung nur Beihilfe geleistet“ habe sowie die „Verdorbenheit des Mädchens“ sich mildernd auf das Strafmaß auswirke. Er wurde zu einer zehnmonatigen Kerkerstrafe, verschärft durch zwei Fasttage monatlich, verurteilt.37 Dass die „Verdorbenheit“ der Mädchen teilweise als Mitschuld an den Verbrechen interpretiert wurde, zeigt das Urteil zum angeklagten 16-jährigen Walter O. besonders deutlich. So stellte das Gericht fest, dass Walter O. – obwohl er genau wusste, dass Ruth P. noch nicht 14 Jahre alt war – mehrmals einen Geschlechtsverkehr mit ihr durchgeführt habe. Das Verhalten des Mädchens schien dem Gericht aber ebenso bedeutsam: „Das Mädchen, welches sittlich bereits völlig verdorben ist, war mit allen diesen Handlungen einverstanden und hat sich den Burschen und Männern geradezu aufgedrängt.“ Als strafmildernd erachtete das Gericht das volle Geständnis und den bisher untadelhaften Wandel von Walter O. sowie „die sehr leichte Gelegenheit seitens des Mädchens.“ Das Gericht verurteilte den Angeklagten nach dem JGG zu vier Monaten strengem Arrest, wobei die Vollziehung der Strafe für eine Probezeit von drei Jahren vorläufig aufgeschoben wurde.38 Bezeichnend für dieses Urteil ist eine Haltung, die das Kreisgericht St. Pölten in zahlreichen Fällen von Verletzungen des Schutzalters einnahm, in denen unmündige, aber bereits sich in der Pubertät befindende Mädchen involviert waren. Zeigten die Mädchen Formen einer „sexual agency“ – also sexuelle Begehrensformen, die sich von einer kindlichen Sexualität unterschieden – sprach das Gericht ihnen vielfach keinen umfassenden Schutz 36  Gendarmeriekommandoposten,

70.

Niederschrift, 4.10.1969, in: NÖLA Vr 1411 / 

37  Urteil des Kreisgericht St. Pölten als Schöffengericht, 5.10.1970, in: NÖLA Vr 1411 / 70. 38  Urteil Kreisgericht St. Pölten als Jugendschöffengericht, 26.5.1970, in: NÖLA Vr 407 / 70.

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mehr vor sexuellen Übergriffen zu, obwohl dies das Strafrecht eigentlich verlangte.39 In der Praxis des erstinstanzlichen Strafgerichtes wurde das Schutzalter von 14 Jahren nicht als eine scharfe Demarkationslinie verstanden. Dies wirkte sich nicht zuletzt auf die Beurteilung von physischer Gewalt und von Machtmissbrauch aus, denen zahlreiche unmündige, adoleszente Mädchen ausgesetzt waren. War ihre Position teilweise ambivalent, indem sie sich nicht durchgehend mit aller Kraft gegen die sexuellen Übergriffe wehrten – wie dies von erwachsenen Frauen erwartet wurde, die sich gegen eine „Notzucht“ (§ 125 StB) zu verteidigen suchten – sondern willigten sie teilweise in die sexuellen Kontakte ein, dann klammerte das Gericht Aspekte der Gewalt und des Machtmissbrauchs vielfach aus. Physische Gewaltanwendungen, Drohungen oder die Ausnutzung von Autoritätsverhältnissen wurden im Urteil nicht reflektiert, auch wenn dies im Untersuchungsprozess zweifelsfrei festgestellt und in den Akten auch dokumentiert worden war. Im Fall von Ruth P. war das Verschweigen der massiven Gewaltformen besonders drastisch. So erwähnte das Gericht in seinem Urteil nicht, dass Walter O. bei gewaltsamen Übergriffen am Mädchen mitbeteiligt war, obwohl er im Untersuchungsprozess seine gewalttätigen Handlungen selbst zugab und ausführte, wie er, zusammen mit anderen Angeklagten, das Mädchen gewaltsam festgehalten hatte. Schließlich war auch die Feststellung des Gerichts problematisch, wonach Ruth P. mit den sexuellen Kontakten mit Walter O. „einverstanden“ gewesen sei: Da das Mädchen unter dem Schutzalter von 14 Jahren war, hatte es nach den gesetzlichen Bestimmungen einen Entwicklungsstand noch nicht erreicht, in dem es hinsichtlich seiner Sexualität selbstbestimmte Entscheidung treffen konnte. Der Kernaspekt der Regelungen zu einem „age of consent“ lag gerade darin, dass sich Kinder und Jugendliche unter dem Schutzalter in einer anderen Rechts- und Schutzposition situierten als mündige Personen und entsprechend für ihr Verhalten nicht im gleichen Maße hätten verantwortlich gemacht werden dürfen.40

39  Dass Strafgerichte in ihrer Beurteilung unterschiedliche Maßstäbe anwandten, je nachdem ob pubertäre oder vorpubertäre Mädchen in Fällen von Verletzungen des Schutzalters involviert waren, belegt auch die historische Untersuchung von Stephen Robertson: Besonders nach Mitte des 20. Jahrhunderts zeigten sich Richter wenig geneigt, pubertäre Mädchen als „schutzbedürftige Kinder“ einzustufen, sondern betrachteten sie als „sexuelle Subjekte“ und sprachen ihnen einen erhöhten Schutzbedarf ab – und dies durchaus entgegen den geltenden gesetzlichen Bestimmungen, s. Robertson, Crimes, S. 179–202. 40  Vgl. dazu auch Waites.



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III. Sexuelle Gewalt an Kindern: Die psychiatrische Begutachtung Das Kreisgericht St. Pölten relativierte sowohl für Ruth wie auch Elisabeth P. ein Recht auf Schutz vor sexuellen Übergriffen: Als „verdorben“ erschienen sie dem dominant männlich besetzten Gericht weniger als Opfer, sondern als Verführerinnen der angeklagten Männer. Diese Position nahmen teilweise auch die psychiatrischen Sachverständigen ein, die als Experten in Strafprozessen beigezogen wurden. Der 15½-jährige Hubert P. beispielsweise hatte sich an der Gruppenvergewaltigung von Elisabeth P. beteiligt, was er in der Befragung zugegeben hatte. Dass das Gericht ihn trotzdem freisprach, hing wesentlich mit dem Gutachten zusammen, das der zuständige Gerichtspsychiater ausgestellt hatte, der die „Verführungsthese“ bestätigte und diese mit der These einer männlichen Pubertätskrise kombinierte. Demnach erlebten Knaben in der Pubertät eine Phase ungestümer, weitgehend unkontrollierbarer Sexualität.41 Der psychiatrische Experte führte in seinem Gutachten aus, Hubert P. habe zum Zeitpunkt der Tat bereits „sehr unter dem Geschlechtstrieb zu leiden“, jedoch bisher noch keine sexuellen Kontakte gehabt. In dieser Situation sei er auf die „zwar altersmäßig jungen, aber sexuell sicher nicht mehr unerfahrenen und schwer depravierten herumzigeunernden Mädchen“ gestoßen, „die sich als willkommene Objekte für einschlägige Abenteuer“ angeboten hätten. Resümierend hielt der Gerichtspsychiater fest: „Nunmehr erprobte er – wenn auch im Wesentlichen vergeblich – seine junge Männlichkeit erstmals am heterosexuellen Partner.“42 Nicht nur die Anklagten sprachen demnach den als „verdorben“ geltenden Mädchen vielfach einen Subjektstatus ab. Auch der psychiatrische Experte hinterfragte die Objektivierung, durch die den Mädchen fundamentale Rechte versagt wurden, nicht, sondern übernahm diese vielmehr in seiner Begutachtung. Mit der Bezeichnung der „verwahrlosten“ und „sexuell depravierten“ Kinder und Jugendlichen verwendete die Psychiatrie eine wissenschaftliche Sprache, die stigmatisierend wirkte und geeignet war, das Recht von Kindern und Jugendlichen, vor sexuellen Übergriffen geschützt zu werden, auszublenden.43 Frappant erscheint, dass der Gerichtspsychiater – ebenso wie die Untersuchungs- und Gerichtsbehörden – die massiven physisch-gewalttätigen Übergriffe weder erwähnte noch in ihrer Bedeutung reflektierte. Vielmehr schien gewalttätiges Verhalten als Ausdruck einer „männlichen Pubertätskrise“ nicht weiter erörterungsbedürftig. dazu auch Tramer, S. 104. wegen § 127, 468 StG, Ob. San.-Rat. Dr. med. univ. P., 30.4.1971, in: NÖLA Vr 495 / 70. 43  Die Abkehr vom Begriff der „Verwahrlosung“ erfolgte erst Mitte der 1970er Jahre, s. Gehltomholt / Hering, S. 53; vgl. im Weiteren auch Sieder / Smioski, S. 30–34. 41  Vgl.

42  Sachverständigengutachten

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Mit dem Hinweis auf die „Verdorbenheit“ wurden sexuelle Übergriffe an Kindern in erster Linie als eine Zerstörung ihrer „Reinheit“ und „Unschuld“ verstanden. Auch in der Adaption moderner entwicklungspsychologischer Diskurse blieben diese Deutungen wichtig. Wie der einflussreiche Strafrechtler Theodor Rittler in seinem Kommentar von 1926 beispielsweise argumentierte, musste die „Unzucht mit Kindern“ sanktioniert werden, da sie einen „störenden Einfluss auf die psychische Entwicklung des Kindes durch dessen vorzeitige Einführung in das Geschlechtsleben“ habe.44 Während er im Weiteren durchaus anerkannte, dass die „Notzucht“ und „Schändung“ „nachteilige Folgen […] für den Körper“ der Kinder haben könne, sprach er die „seelische“ oder „psychische“ Schädigung nicht explizit an, die Kinder durch sexuelle Misshandlungen erlitten.45 Die Vorstellung, sexuelle Gewalt würde für Kinder „seelische“ oder „psychische“ Verletzung bedeuten, setzte sich im Kontext des Strafrechts nur langsam durch. Im vorliegenden Untersuchungssample bezog sich das Kreisgericht St. Pölten erstmals 1960 auf den Begriff des Traumas und verwies damit auf das psychische Leiden, das Kinder durch sexuelle Gewalt vielfach erfuhren. Der Begriff wurde über die Gerichtspsychiatrie eingeführt: Der zuständige psychiatrische Experte attestierte bei verschiedenen Kindern, dass sie durch die erlebte sexuelle Gewalt ein psychisches Trauma erlitten hatten.46 Auf welche wissenschaftlichen Konzeptionen von Trauma er sich dabei stützte, geht aus den Akten nicht eindeutig hervor. Zwar bezog der zuständige Gerichtspsychiater sich mehrfach auf Sigmund Freud, wenn er die psychosexuelle Entwicklung von Kindern reflektierte. Doch hinsichtlich der sexuellen Gewalt an Kindern veränderte Freud bekanntlich seine Position: 1896 hatte er in einem Aufsatz über die „Ätiologie der Hysterie“ auf der Basis von mehreren Fallanalysen nachzuweisen versucht, dass Hysterie durch „Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung“ im Kindes- oder Jugendalter ausgelöst würde.47 Wenig später distanzierte Freud sich von dieser Annahme: Er argumentierte nun, dass die gesammelten Berichte über sexuelle Übergriffe von Seiten der Väter „unwahr seien, und ich lernte so verstehen, dass die hysterischen Symptome sich von Phantasien, nicht von realen Begebenheiten ableiten.“48 Grundsätzlich anders bewertete der Freud-Schüler Sándor Ferenczi die Pro­ blematik. In einem 1933 publizierten Aufsatz hielt er fest, „dass das Trauma, speziell das Sexualtrauma, als krankmachender Agens nicht hoch genug ange44  Rittler,

S. 368. S. 368. 46  Vgl. z. B. Gutachten wegen §§ 8, 125, 127 und 128 StG, Dr. med. univ. P., Gerichtssachverständiger, 21.6.1961, in: NÖLA Vr 876 / 60. 47  Freud, S. 71. 48  Freud, zit. nach Michelsen, S. 39. 45  Rittler,



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schlagen werden kann“. Zudem war er überzeugt, dass sexuelle Gewalt an Kindern weit verbreitet war: „Auch Kinder angesehener, von puritanischem Geist beseelter Familien fallen viel öfter, als man es zu ahnen wagte, wirk­ lichen Vergewaltigungen zum Opfer.“49 Wie die Expertise der Gerichtspsychiatrie des Kreisgerichts St. Pölten deutlich macht, waren Definitionen von „Sexualtrauma“ in den 1950er und 1960er Jahren wenig gefestigt. Der über mehrere Jahre zuständige Gerichtspsychiater des Kreisgerichts St. Pölten bezog sich auf Deutungsansätze, die sich weiterhin in traditionelle Dichotomien einschrieben: Kinder konnten durch sexuelle Gewalt „verwahrlost“ – und damit zu gefährlichen Verführerinnen werden. Sie konnten durch die erlebte Gewalt aber auch zu traumatisierten und damit eindeutigen Opfern werden. Als ein solches anerkannte der Gerichtspsychiater die 13-jährige Eva M., die von ihrem Stiefvater vergewaltigt worden war. Dieser hielt in seinem Gutachten fest, das Mädchen mache „einen beträchtlich infantil-retardierten Eindruck“. Obwohl bereits 13 Jahre alt, erschien ihm das Mädchen weniger als eine heranwachsende Frau, sondern als ein sexuell „unschuldiges“ Kind. Nachdem der Gerichtspsychiater Hinweise auf ihre Intelligenz gesammelt hatte, leitete er das Gespräch auf die sexuellen Übergriffe, die das Mädchen erlebt hatte: Es wird dann ohne jede Überleitung gefragt, ob sie jetzt, nach diesen Vorfällen, böse auf ihren Papa sei. Aus ihrem rasch erfolgenden, leisen und tonlosen „ja“ kann man den ganzen, abgrundtiefen Jammer dieses Mädchens unmittelbar erleben! Ohne dass ein weiteres Wort fällt, beginnen über ihr hilflos-kindliches, nunmehr grenzenlos trauriges Gesicht die Tränen zu fließen, ganz still und leise, ohne Dramatik, ohne jedes Theater – es ist, als ob sie gar nicht da wäre, zumindest vergessen hätte, in welcher Umgebung sie sich befinde. Wenn man sie dann ganz vorsichtig zu fragen beginnt, warum sie jetzt weine, was sie habe, da sagt sie nur, wieder ebenso still, aber gleichzeitig abschließend: „eh nix“. Man kann sehen, dass sie genau fühlt, wie sie in Wirklichkeit mit all dem allein ist und bleiben muss.

Resümierend hielt der Psychiater in seinem Gutachten fest, dass an der Glaubwürdigkeit des Mädchens keine Zweifel bestehen würden. Zudem hob er explizit hervor, dass das Mädchen durch die Vergewaltigung nicht „verdorben“ worden sei. Er betonte, dass das Mädchen durch die Erfahrung weder „sexuell aufgerüttelt“ noch ihre „sexuellen Phantasien aufgestachelt“ worden sei. Vielmehr hätten sich „in ihr lediglich das Gefühl des Missbrauchtwordenseins, verbunden mit einer tiefen Traurigkeit darüber“ festgesetzt.50 Der Gerichtspsychiater rückte damit das seelische Leiden des unmündigen Mädchens in den Mittelpunkt. 49  Ferenczi,

S. 307; vgl. dazu Bohlberger; Jones / Wessely, S. 164–175. wegen §§ 125, 128 StG, Dr. med. univ. P., Gerichtssachverständiger, 9.12.1960, in: NÖLA Vr 1108 / 60. 50  Gutachten

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IV. Die Verneinung von Traumatisierungsfolgen bei sexuellen Übergriffen an Kindern im Kontext der „sexuellen Revolution“ In der Perspektive der Gerichtspsychiatrie waren sexuelle Übergriffe an Kindern und Jugendlichen fallspezifisch zu beurteilen. Eine vertiefte Reflexion zu den Folgen von sexuellen Übergriffen im Kindesalter findet sich allerdings in den psychiatrischen Gutachten, die das Kreisgericht St. Pölten bei Fällen von Verletzungen des Schutzalters in Auftrag gegeben hatte, nicht. Tatsächlich bestanden im Untersuchungszeitraum weiterhin erhebliche Forschungslücken hinsichtlich der gesundheitlichen Folgen von sexueller Misshandlung.51 Dies wurde am 8. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung von 1964 mehrfach hervorgehoben – einer der wichtigsten sexualwissenschaftlichen Kommunikationsplattformen im deutschsprachigen Raum.52 Am 8. Kongress in Karlsruhe wurden zwei miteinander verknüpfte Themen diskutiert: Der erste Teil fand unter dem Titel „Das sexuell gefährdete Kind“, der zweite unter dem Titel „Die Pädophilie und ihre strafrecht­ liche Problematik“ statt. Zu beiden Themenbereichen referierten führende Experten und Expertinnen vor allem aus der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz. Prominent vertreten war die Psychiatrie, Psychologie ebenso wie die Sexual- und Rechtswissenschaft. Im ersten Teil der Konferenz widmeten sich die Referierenden vor allem der Frage, welche psychischen Auswirkungen sexuelle Übergriffe im Kindesalter nach sich zogen. Wie die Psychologin und Gerichtsgutachterin Elisabeth Müller-Luckmann argumentierte, würden wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Frage noch fehlen: Seit Jahren versuche ich vergeblich, eine Dissertation über die Spätfolgen von Sexualdelikten (an Kindern) anzuregen, jedoch schrecken die meist jungen Psychologinnen, die für eine solche Arbeit in Betracht kommen, vor den überaus großen inneren und äußeren Schwierigkeiten zurück, die sich der Lösung einer solchen Aufgabe in den Weg stellen – und das ist wohl ganz begreiflich.53

Trotz dieser konstatierten Forschungsdefizite gaben verschiedene der Versammelten eine Einschätzung hinsichtlich der psychischen Schädlichkeit von sexuellen Übergriffen im Kindesalter ab.54 Einzelne Referenten wie der Psychiater J. Gerchow argumentierten, die traumatischen Folgen von sexuellen Kindesmisshandlungen würden generell überschätzt. Die „im Kindesalter 51  Zur

ner.

Geschichte des Konzepts des Traumas s. u. a. Goltermann; McNally; Ler-

dazu Sigusch, S. 413–429. S. 100. 54  Vgl. dazu auch Herzog, Traumatisierung, S. 41–44. 52  Vgl.

53  Müller-Luckmann,



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erlebten sexuellen Aggressionen“ würden „viel seltener zu manifesten psychischen Störungen führen, als im allgemeinen angenommen wird“.55 Auch nahmen Referierende auf die Thesen des amerikanischen Sexualwissenschaftlers Alfred C. Kinsey Bezug, wonach die negativen Folgen eines Sexualdeliktes an Kindern weniger in der Tat selbst als in den Reaktionen der Umwelt darauf begründet seien.56 1964 vertrat jedoch die Mehrheit der Vortragenden die Überzeugung, wonach Kinder durch sexuelle Übergriffe in ihrer psychischen Gesundheit nachhaltig beeinträchtigt würden und die Pädophilen für ihre Handlungen sanktioniert werden müssten – sei dies nun durch Gefängnisstrafe oder Verwahrung.57 Während verschiedene Experten und Expertinnen die Überzeugung äußerten, dass sexuelle Übergriffe zu einer „Verwahrlosung“ und „sexuellen Deprivation“ führen konnten, kritisierten andere den gesellschaftlichen Umgang mit „verwahrlosten“ Minderjährigen und die strafrechtliche Praxis, Opfer von sexueller Gewalt zu Mitverantwortlichen der Straftat zu machen – vielfach ohne jedoch den stark stigmatisierenden Begriff an sich abzulehnen.58 Wie Adolf Friedemann, Direktor des Instituts für Psychologie in Biel hervorhob, musste die festgestellte sexuelle „Verwahrlosung“ bei Kindern vielfach als „direkte Folge sexueller Traumatisierung“ aufgefasst werden. Die Strategie der Strafverteidiger von Sexualverbrechern zu behaupten, das Opfer sei bereits so „verwahrlost“ gewesen, dass nicht der Erwachsene, sondern das Kind an der Verführung schuld sei, müsse abgelehnt werden.59 Während 1964 am Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung noch mehrere Experten und Expertinnen von einer psychischen Schädlichkeit sexueller Übergriffe an Kindern ausgingen, mehrten sich in den nachfolgenden Jahren Stimmen, die Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern als unproblematisch bezeichneten. Wie Franz Walter unlängst mit Fokus auf die Bundesrepublik Deutschland aufgezeigt hat, ist die Diskussion um Pädosexualität, wie sie seit den ausgehenden 1960er Jahren seitens linker und liberaler Akteure und Akteurinnen in der Auseinandersetzung um die strafrechtlichen Bestimmungen zum Schutzalter geführt wurde, im Kontext einer postulierten „sexuellen Befreiung“ zu situieren.60 Obwohl auch in den ausgehenden 1960er und 1970er Jahren wissenschaftliche For55  Gerhow.

56  Müller-Luckmann,

S. 101. Weiteren wurden unterschiedliche therapeutische und chirurgische Maßnahmen zur „Behandlung“ von Pädophilen diskutiert, vgl. Stockert. 58  Zur wissenschaftlichen Definition der „Verwahrlosung“ bis in die 1970er Jahre s. Gehltomholt / Hering, S. 51–63. 59  Friedemann, S. 14. 60  Walter, S. 115; vgl. im Weiteren auch Herzog, Fascism, S. 159–162; Klecha, S. 64–72; Sager, S. 125–138; Baader. 57  Des

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schungen zu den Folgen sexueller Übergriffe an Kindern weitgehend fehlten – und dies in zahlreichen Publikationen zum Thema auch regelmäßig moniert wurde – hielten zahlreiche Linkslibertäre, die sich punktuell Schriften von Alfred C. Kinsey, Sigmund Freud, Theodor W. Adorno oder Wilhelm Reich zu Gemüte geführt und an der restriktiven Sexualmoral der beiden Nachkriegsjahrzehnte gelitten hatten, es für plausibel, dass auch Kinder schon früh ihre sexuellen Empfindungen entdeckten und von sexuellen Erfahrungen mit sexualmündigen Menschen profitieren würden.61 Auch arrivierte Sexualwissenschaftler wie Eberhard Schorsch, langjähriger Leiter des Instituts für Sexualforschung an der Universität Hamburg, brachten solche Positionen in die Debatten zu einem neuen deutschen Sexualstrafrecht ein. Schorsch hielt 1970 fest: „Ein gesundes Kind in einer intakten Umgebung verarbeitet nicht-gewalttätige sexuelle Erlebnisse mit Erwachsenen ohne negative Dauerfolgen.“62 Auch in Österreich nahmen seit den ausgehenden 1960er Jahren verschiedene Wissenschaftler die These auf, wonach Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern nicht zwangsläufig schädlich sei und man entsprechend eine rigorose Kriminalisierung der Pädophilie kritisch überdenken müsse. Zu den prominentesten, wenn auch umstrittensten Vertretern solcher Ansichten gehörte Ernest Bornemann, der unter anderem 1979 die österreichische Gesellschaft für Sexualforschung gegründet hatte und dieser bis 1985 vorstand. Durch seine Präsenz in verschiedenen Massenmedien avancierte er zu einem der bekanntesten „Sexexperten“.63 Auch Bornemann vertrat seit den ausgehenden 1960er Jahren die These, wonach sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und „Älteren“ weder „psychische Störungen“ noch „sexuelle Schäden“ hervorbringen würden, „wenn die Initiative vom Kind ausgegangen war und wenn die Älteren weder Gewalt noch psychischen Druck auf das Kind ausgeübt hatten.“64 Doch nicht nur polarisierende Sexualwissenschaftler wie Bornemann vertraten in Österreich die These, wonach das Strafrecht Sex mit Minderjährigen zu harsch bestrafe. Auch Wissenschaftler wie Walter Hauptmann, der an der Universität Salzburg eine Professur für Kriminal- und Rechtspsychologie besetzte, relativierten das Postulat, wonach es ein „age of consent“ gebe und sexuellen Kontakten mit unmündigen Kindern immer etwas Gewalttätiges innewohne, da Kinder – im Unterschied zu Erwachsenen – noch nicht in der Lage seien, sexuellen Kontakten zuzustimmen. Zwar 61  Walter, S. 115; vgl. im Weiteren auch Michelsen, S. 45–47; grundsätzlich zu den Ambivalenzen der 1968er Bewegung s. Herzog, Sexuelle Revolution, S. 348 f. 62  1989 setzte sich Eberhard Schorsch selbstkritisch mit seiner Stellungnahme auseinander und distanzierte sich von seinen früheren Positionen, vgl. Walter, S. 115, 128 f. 63  Siegfried, S. 369–379. 64  Bornemann, S. VIII [Herv. i. O.].



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ging Hauptmann in seiner Publikation von 1975 nicht so weit zu verlangen, dass strafrechtliche Bestimmungen zum Schutzalter aufzugeben seien.65 Doch bezweifelte er die „Sozialschädlichkeit“ der Pädophilie und kritisierte, dass die Pädophilen zu den „Hexen des 20. Jahrhunderts“ apostrophiert würden. Er war weit davon entfernt, das Machtungleichgewicht zwischen Erwachsenen und Kindern hinsichtlich ihrer Sexualität kritisch zu reflektieren.66 V. Alter, Geschlecht und Klasse: Die soziale Positionierung des Opfers Die Strafgerichtsprozesse rezipierten die gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Debatten zu sexuellen Übergriffen an Kindern und Jugendlichen nicht linear. Vielmehr waren in der strafrechtlichen Auseinandersetzung, wie am Beispiel des Kreisgerichts St. Pölten aufgezeigt werden kann, unterschiedliche Diskurse und Deutungsrahmen wirksam. So herrschten traditionelle Vorstellungen, die von einer moralisch-sittlichen „Verdorbenheit“ sexuell misshandelter Kinder ausgingen, bis in die 1970er Jahre vor – ungeachtet der Tatsache, dass psychiatrische und psychologische Experten und Expertinnen diese Stigmatisierungspraxis mehrfach kritisiert hatten. Des Weiteren hielten aber, insbesondere über die psychiatrische Expertise, neue Ansätze Einzug in die Gerichtspraxis, die die psychischen Traumatisierungen der Kinder ernster nahmen. In den Urteilen des Oberlandesgerichtes Wien, an welches die erstinstanzlichen Urteile des Kreisgerichts St. Pölten weitergezogen werden konnten, finden sich, so vermehrt im Untersuchungsjahr von 1970, explizite Reflexionen zu den „seelischen Leiden“, die Kinder durch sexuelle Übergriffe erlebten. Besonders angezeigt erschien es dem Oberlandesgericht Wien, dann von „seelischen Leiden“ auszugehen, wenn es sich bei den Misshandelten um vorpubertäre Kinder handelte, die dem Bild eines „unschuldigen“ und „unwissenden“ Kindes am klarsten entsprachen.67 Unabhängig aber davon, wie das Verhältnis von Täter bzw. Täterin und Opfer war, zeigte sich das Kreisgericht St. Pölten sehr zurückhaltend, die Angeklagten zu pathologisieren und sie als unzurechnungsfähig einzustufen. Nur bei schwerwiegenden und medizinisch-psychiatrisch eindeutig festgestellten Krankheiten – wie etwa massiven psychisch-mentalen Gesundheitsbeeinträchtigungen infolge von schweren Kriegsverletzungen – ging das Gericht von einer mangelnden Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten aus.68 Schließlich findet sich weder in den Urteilen des Kreisgerichts St. Pölten 65  Hauptmann,

S. 7. S. 66. 67  Vgl. Urteil Oberlandesgericht Wien, 30.4.1971, in: NÖLA Vr 2134 / 70. 68  Vgl. Urteil Kreisgericht St. Pölten, 30.5.1950, in: NÖLA Vr 80 / 50. 66  Hauptmann,

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noch in den Urteilen des Oberlandesgerichts Wien die – von verschiedenen Experten und Expertinnen der Rechts- und Sexualwissenschaft seit den ausgehenden 1960er Jahren vertretene – Ansicht, wonach Sexualität zwischen Erwachsenen und vorpubertären Kindern nicht zwingend problematisch sei und die Bestimmungen zum Schutzalter als Zeichen einer repressiven Sexualmoral gelesen werden müssten. Insbesondere wenn der Altersabstand zwischen den Angeklagten und den Opfern beträchtlich war, ließen die Gerichte keine Zweifel daran, dass die Delikte als in höchstem Maße verwerflich einzustufen seien.69 Allerdings ging die Forderung nach einem Abbau des disziplinierenden Sexualstrafrechts und nach sexueller Liberalisierung nicht spurlos an den Strafgerichten vorbei. 1970 kritisierte das Oberlandesgericht Wien in einem Urteil beispielsweise die Praxis, adoleszente Jungen, die sexuelle Kontakte mit unmündigen, adoleszenten Mädchen eingegangen waren, rigoros zu kriminalisieren.70 Diese liberale Haltung gegenüber der Sexualität von Adoleszenten bezog sich indes strikt auf heterosexuelle Beziehungen. Das Kreisgericht St. Pölten ahndete auch im Jahre 1970 – ein Jahr vor der Entkriminalisierung der Homosexualität zwischen Erwachsenen – jegliche Formen homosexueller Kontakte noch scharf.71 In der Deutung sexueller Übergriffe an Minderjährigen findet sich in den Urteilen des Kreisgerichts St. Pölten somit keine eindeutige Haltung. Vielmehr stellte das Gericht relationale Bezüge zur sozialen Positionierung des Opfers her, um die erfahrene sexuelle Misshandlung und die Verletzung des Schutzalters zu deuten. Besonders wichtig war die Frage nach dem Geschlecht und dem Alter des Opfers, ebenfalls eine Rolle spielte die familiäre Herkunft und das individuelle Verhalten der unmündigen Kinder und Jugendlichen wie auch ihre Beziehung zum Täter bzw. zur Täterin. Zwar gestand das Strafrecht im Prinzip allen Kindern unter 14 Jahren einen Schutz vor jeglichen Formen sexueller Kontakte / Übergriffe zu. In der Praxis des Gerichts war die „Schutzwürdigkeit“ der sexualunmündigen Kinder aber durchaus verhandelbar. Welcher wissenschaftliche Ansatz und welcher traditionelle Deutungsrahmen in der Beurteilung der sexuellen Gewalt in einem Fall zur Anwendung kamen, hing stark von der sozialen Situierung der Beteiligten ab – einer Situierung, die sich maßgeblich durch die intersektionale Überschneidung von Alter-, Geschlecht- und Klassenzugehörigkeit bestimmte und entsprechend ungleich ausgestaltet war.72 Im Untersuchungs- und Gerichtsprozess hatten auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine Stimme – neben den Tätern und Täterinnen, ver69  Vgl.

NÖLA Vr 792 / 70, Vr 2134 / 70. Oberlandesgericht Wien, 23.2.1971, in: NÖLA Vr 1325 / 70. 71  Vgl. z. B. NÖLA Vr 475 / 70. 72  Vgl. im Weiteren auch Knapp; Winker / Degele. 70  Urteil



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schiedenen Zeugen und psychiatrischen Experten wurden auch sie befragt und ihre Aussagen protokolliert. Die Frage, welchen Stellenwert die Strafgerichte den Aussagen der Kinder zumessen sollten, diskutierten Experten und Expertinnen aus unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern seit dem frühen 20. Jahrhundert immer wieder intensiv und kontrovers. Zahlreiche unter ihnen vertraten die Ansicht, die Aussagen der Kinder seien für die Urteilsfindung nicht verwertbar, da Kinder per se keine glaubwürdige Auskunft geben könnten.73 Gegen solche Ansichten wandten sich im Untersuchungszeitraum Psychologinnen wie Elisabeth Müller-Luckmann und Hedwig Wallis, die verlangten, die Erfahrungen der Kinder ernst zu nehmen und die Prozessbedingungen zu verbessern, sodass Kinder ihre Erlebnisse schildern konnten und im Befragungsprozess nicht – zusätzlich zur erlebten Gewalt – ein weiteres Mal traumatisiert würden.74 Prozessbedingungen, die „die Menschenwürde auch des kindlichen und jugendlichen Zeugen“75 schützten, waren in zahlreichen Strafgerichten in den 1950er und 1960er Jahren indes nicht gegeben. Tatsächlich lesen sich zahlreiche Protokolle des Kreisgerichts St. Pölten, in denen die Befragungen der Kinder festgehalten wurden, als Zeugnis einer weiteren Gewaltanwendung, die die Kinder im Untersuchungsprozess erlitten. Vielfach musste die Befragung abgebrochen werden, da die Kinder nur noch weinten oder gänzlich verstummten. Verschiedene Kinder konnten ihre Aussage, wonach sie sexuell misshandelt worden waren, in der Hauptverhandlung nicht wiederholen, da der angeklagte Täter mit ihnen in einem Raum saß.76 Neben diesen für minderjährige Zeugen und Zeuginnen höchst problematischen Prozessbedingungen bestanden allerdings im Untersuchungsprozess auch Momente, in denen Kinder und Jugendliche ihre Deutungen der Geschehnisse aussprechen konnten. Insbesondere bei den ersten Befragungen auf den Gendarmeriekommandoposten versuchten sie nicht zuletzt mit Hinweis auf ihre Emotionen den Untersuchungsbehörden verständlich zu machen, wie sie das Delikt der Verletzung des Schutzalters deuteten. Das Spektrum der geschilderten Emotionen war breit: Sie reichten von sehr negativen Gefühlen wie Angst und Ekel bis hin zu ganz anderen Emotionen, die besonders adoleszente Mädchen im Rahmen von Liebesbeziehungen äußerten. Sie sprachen vor Gericht über Gefühle der Zuneigung, welche sie gegenüber den Angeklagten empfanden.77 Kerchner, Jahrhundertwende. Wallis. 75  Wallis, S. 119. 76  Vgl. u. a. NÖLA Vr 798 / 50, Vr 1566 / 50, Vr 1599 / 60. 77  Vgl. z. B. NÖLA Vr 1263 / 60, Vr 1289 / 60, Vr 1689 / 60, Vr 2022 / 70. Zur Geschichte der Emotionen s. auch Frevert; Plamper. 73  Vgl.

74  Müller-Luckmann;

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Die Schilderungen der Emotionen, mit denen Kinder und Jugendliche ihre Erlebnisse versuchten verständlich zu machen, wurden in der Urteilsbegründung fallweise miteinbezogen. Bestätigten die emotionalen Äußerungen eines Kindes das Bild, das sich die Richtenden über den jeweiligen Fall gemacht hatten, so zogen sie die Aussagen der Kinder und Jugendlichen als sinnstiftend in ihre Deutung der Geschehnisse und in die Formulierung der Urteile mit ein. Präsentierte sich ein Kind vor Gericht als „unschuldig“ und in sexuellen Belangen als „unwissend“, nahmen Untersuchungs- und Gerichtsbehörden die Aussage des Kindes, es hätte sich vor dem Täter gefürchtet und Angst erlitten, durchaus ernst und gingen in solchen Fällen vielfach davon aus, dass die Kinder seelischen Schaden erlitten hatten. Waren die Hinweise auf emotionales Empfinden indes nicht deckungsgleich mit den dominierenden Interpretationen, wie sie die Strafbehörden über die Ereignisse vertraten, war es für die Kinder und Jugendlichen kaum möglich, sich vor Gericht Gehör zu verschaffen.78 Auch die als „verdorben“ und „verwahrlost“ eingestuften Kinder und Jugendlichen wie Ruth und Elisabeth P. verwiesen mit Nachdruck auf ihre negativen Emotionen, die sie während der Übergriffe empfanden und versuchten dem Gericht mit dem Hinweis auf körperliche Verletzungen ihren Status als Opfer von Gewalt verständlich zu machen. Das Gericht ignorierte diese Äußerungen indes nur zu häufig und stufte sie für die Deutung des Falles als unerheblich ein.79 In dieser Praxis zeigten sich ausgeprägte Kontinuitätslinien: So betonen verschiedene historische Studien zu sexueller Gewalt an Kindern, dass Strafgerichte im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert den als „verwahrlost“ oder „frühreif“ geltenden Kinder den gesetzlich vorgesehenen Schutzanspruch verweigerten.80 Trotz des intensivierten Diskurses um Kinderrechte bestand diese Rechtspraxis bis weit ins 20. Jahrhundert fort. VI. Fazit In den frühen 1970er Jahren rang sich der österreichische Gesetzgeber nach jahrzehntelanger Vorbereitungsarbeit dazu durch, das österreichische Strafrecht von 1852 zu revidieren. Mit der sogenannten „kleinen Strafrechtsreform“ von 1971 und der Totalrevision des Strafrechts von 1974 wurden wichtige Schritte zu einer Neuordnung des Sexualstrafrechts unternommen. Verschiedene geschlechtsspezifische Differenzierungsmaßnahmen, die das 78  Grundlegend zu den Grenzen einer objektiven und methodisch fundierten Rechtsprechung s. Gadamer, S. 271. 79  Vgl. z. B. Urteil Kreisgericht St. Pölten als Jugendschöffengericht, 26.5.1970, in: NÖLA Vr 407 / 70; Urteil des Kreisgericht St. Pölten als Schöffengericht, 5.10.1970, in: NÖLA Vr 1411 / 70. 80  Vgl. z. B. Jackson, Youth; Töngi; Hommen, Körperdefinition, S. 590–597.



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StG von 1852 hinsichtlich der Bestimmungen zum Schutzalter kannte, gab das neue Strafrecht auf: So machten sich Frauen nun strafbar, die Geschlechtsverkehr mit einem unmündigen Knaben hatten.81 Neu ahndete das Strafrecht sexuelle Übergriffe an Unmündigen immer als Verletzungen des Schutzalters – auch wenn sie im homosexuellen Kontext stattfanden. Gleichzeitig führte das Strafrecht neue Differenzierungsansätze ein. So beendete das österreichische Strafrechtsänderungsgesetz von 1971 zwar die Verfolgung homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen, führte jedoch einen neuen Straftatbestand ein: Die „gleichgeschlechtliche Unzucht mit Jugend­ lichen“ pönalisierte homosexuelle Handlungen Erwachsener mit männlichen Jugendlichen, die zwar das 14., nicht aber das 18. Lebensjahr vollendet hatten.82 Des Weiteren bestimmte das neue Strafrecht, dass Täter beziehungsweise Täterinnen dann nicht mehr wegen Verletzungen des Schutzalters bestraft werden konnten, wenn sie nicht mehr als zwei Jahre älter als die unmündigen Opfer waren und sie das Opfer nicht schwerwiegend verletzt hatten (§ 207 StG 1975). Diese Bestimmungen ermöglichten, dass adoleszente Mädchen und Jungen in ihrer Sexualität mehr Freiräume erhielten. Gleichzeitig sanktionierten die neuen Gesetzesbestimmungen sexuelle Gewalt an Unmündigen, die seitens sehr junger Täter und Täterinnen erfolgte, weniger scharf: In diesen Fällen wurde sexuelle Gewalt an Kindern – außer sie qualifizierte sich als „schwere Körperverletzung“ – nur noch als „fahrlässige Körperverletzung“ (§ 88 StG 1975) oder als „Gefährdung der körperlichen Sicherheit“ (§ 89 StG 1975) geahndet, nicht aber als „Unzucht mit Unmün­ digen“.83 Das revidierte Strafrecht stellte damit für die Gerichte einen neuen Deutungsrahmen bereit, anhand dessen sie Verletzungen des Schutzalters zu beurteilen hatten. Wie die Auswertung der Strafgerichtsakten des Kreisgerichts St. Pölten aus den Jahren 1950, 1960 und 1970 aufzeigte, war der gesetzliche Rahmen zwar ein wichtiger, aber nicht eindeutiger Anhaltspunkt, wie Verletzungen des Schutzalters zu deuten waren. Zwar erkannte das Kreisgericht St. Pölten in den ausgewählten Stichjahren die Mehrheit der Angeklagten als schuldig. Gleichwohl konnte sich nur eine ausgewählte Gruppe von Kindern vor Gericht eindeutig als schutzbedürftige Opfer positionieren. Moderne Strafgerichte fungierten, wie auch andere historische Studien aufzeigen, in ihrem Bestreben, nicht nur die Opfer zu schützen, sondern auch spezifische gesellschaftliche Ordnungsverhältnisse herzustellen, nicht als privilegierte Orte, wo sich Forderungen eines verbesserten Kinderschutzes entfalteten. Vielmehr schrieben sich gesellschaftliche Machtverhältnisse entlang der Ka81  Foregger / Serini,

Strafgesetzbuch, S. 280.

83  Foregger / Serini,

Strafgesetzbuch StGB, S. 281 f.

82  Birke / Kraml.

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tegorien von Geschlecht, Alter und Klasse auch in die Strafprozesse zu Verletzungen des Schutzalters ein.84 Die als „verdorben“ oder „verwahrlost“ eingestuften Kinder und Jugendlichen erfuhren seitens der Untersuchungsbehörden und richtenden Personen vielfach wenig Mitgefühl für ihre Gewalt­ erfah­rungen. Obwohl sie versuchten, ihre Opferposition verständlich zu machen, erhielten die sexuell misshandelten Kinder und Jugendlichen wenig Gehör. Die Anerkennung des erfahrenen Leidens blieb Kindern und Jugendlichen bestimmter sozialer Positionierungen vorbehalten. VII. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Ungedruckte Quellen Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA)

Gedruckte Quellen Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Strafsachen und Disziplinarangelegenheiten, veröffentlicht von seinen Mitgliedern unter Mitwirkung der Generalprokuratur, Bd. 19, Wien 1950. Erläuternde Bemerkungen zum Vorentwurf eines österreichischen Strafgesetzbuches vom September 1909 und zum Vorentwurf des Einführungsgesetzes, Wien 1910. Ferenczi, Sándor: Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind, in: Ders., Schriften zur Psychoanalyse, Bd. II, Frankfurt am Main 1972, S. 303–313. Foregger, Egmont / Serini, Eugen: Das österreichische Strafgesetz (Österreichisches Strafgesetz 1945) samt den wichtigsten Novellen und Nebengesetzen, Wien 1966. Foregger, Egmont / Serini, Eugen: Strafgesetzbuch StGB samt den wichtigsten Nebengesetzen, Wien 1975. Freud, Sigmund: Zur Ätiologie der Hysterie, in: Ders., Schriften zur Krankheitslehre und Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1997, S. 53–84. Friedemann, Adolf: Spätschäden bei Kindern und Jugendlichen, in: F. G. v. Stockert (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind. Vorträge gehalten auf dem 8. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 25. bis 27. Mai in Karlsruhe, 1. Teil, Stuttgart 1965, S. 8–26. Gamp, Friedrich: Lehrbuch des österreichischen Strafrechtes, Wien / Leipzig 1931. Gerhow, J.: Die Inzestsituation, in: F. G. v. Stockert (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind. Vorträge gehalten auf dem 8. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 25. bis 27. Mai in Karlsruhe, 1. Teil, Stuttgart 1965, S. 38–50. 84  Vgl.

u. a. Töngi; Odem, Delinquent; Künzel.



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Hauptmann, Walter: Gewaltlose Unzucht mit Kindern. Kriminalpolitische und sozialpsychologische Aspekte, München 1975. Kaniak, Gustav: Das österreichische Strafgesetz samt den einschlägigen strafrecht­ lichen Nebengesetzen, 6. Aufl., Wien 1969. Müller-Luckmann, Elisabeth: Über die Wahrhaftigkeit kindlicher und jugendlicher Zeugen in der Hauptverhandlung, in: F. G. v. Stockert (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind. Vorträge gehalten auf dem 8. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 25. bis 27. Mai in Karlsruhe, 1. Teil, Stuttgart 1965, S. 100– 108. Rittler, Theodor: Grundriss des österreichischen Strafrechts von Heinrich Lammasch, 5. Aufl., Wien 1926. Stockert, F. G. v. (Hrsg.): Pädophilie und ihre strafrechtliche Problematik. Vorträge gehalten auf dem 8. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 25. bis 27. Mai 1964 in Karlsruhe, 2. Teil, Stuttgart 1965. Stooss, Carl: Lehrbuch des Österreichischen Strafrechts, Wien / Leipzig 1910. Tramer, Moritz: Lehrbuch der allgemeinen Kinderpsychiatrie einschliesslich der allgemeinen Psychiatrie der Pubertät und Adoleszenz, Zürich 1942. Wallis, Hedwig: Die Behandlung der kindlichen und jugendlichen Opfer von Sittlichkeitsdelikten, in: F. G. v. Stockert (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind. Vorträge gehalten auf dem 8. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 25. bis 27. Mai in Karlsruhe, 1. Teil, Stuttgart 1965, S. 116–123.

Literatur Amann, Gabriele / Wipplinger, Rudolf (Hrsg.): Sexueller Missbrauch. Überblick zur Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch, 3. Aufl., Tübingen 2005. Baader, Meike Sophia: Blinde Flecken in der Debatte über sexualisierte Gewalt. Pädagogischer Eros und Sexuelle Revolution in geschlechter-, generationen- und kindheitshistorischer Perspektive, in: Werner Thole u. a. (Hrsg.), Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik, Opladen u. a. 2012, S. 84–99. Bailey, Beth: The Vexed History of Children and Sex, in: Paula S. Fass (Hrsg.), The Routledge History of Childhood in the Western World, London / New York 2012, S. 191–210. Bange, Dirk / Körner, Wilhelm (Hrsg.): Handwörterbuch Sexueller Missbrauch, Göttingen u. a. 2002. Birke, Roman / Kraml, Barbra: Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion. Homosexualitäten zwischen Verfolgung und Normalisierung in Österreich 1971, in: zeitgeschichte 43 / 2 (2016), S. 85–100. Bohlberger, Werner: Die Traumatheorie in der Psychoanalyse, in: Günter H. Seidler u. a. (Hrsg.), Handbuch der Psychotraumatologie, Stuttgart 2011, S. 107–117. Bornemann, Ernest: Das Geschlechtsleben des Kindes. Beiträge zur Kinderanalyse und Sexualpädagogik, München u. a. 1985.

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Gewalt gegen Kinder und gesellschaftlicher Wandel. Die „Sex Crime Panic“ in den USA in den 1950er Jahren Von Michael Mayer I. Einleitung Am 14. November 1949 ging Linda Joyce Glucoft, sechs Jahre alt und wohnhaft in Los Angeles, zu einer Freundin in der Nachbarschaft zum Spielen. Der Großvater ihrer Spielkameradin, Fred Stroble, belästigte sie dabei sexuell. Als sie zu schreien begann, erdrosselte er sie mit einer Krawatte. Ihren leblosen Körper versteckte er auf einer nahe gelegenen Mülldeponie. Nur wenige Tage später ermordete ein angetrunkener Farmarbeiter ein 17 Monate altes Baby in der Nähe von Fresno in Kalifornien. Noch in der gleichen Woche, die schließlich als „week of horror“ bezeichnet werden sollte, fand die Polizei von Idaho den leblosen Körper der sieben Jahre alten Glenda Brisbois in einem Bewässerungskanal. Sie war Tage zuvor zuletzt gesehen worden, als sie eine dunkelblaue Limousine bestieg.1 Diese schrecklichen Morde fanden großen Widerhall in der Presse. So schrieb etwa das Wochenmagazin „Collier’s“ vom „Terror in our Cities“.2 Die Zeitschrift „Sir!“ konstatierte eine „Psychopathic Sex Menace“. Dabei nahm die Berichterstattung über die Verbrechen rasch einen hysterischen Charakter an. So war etwa in einem Artikel des „Bridgeport Sunday Herald“ die Rede von einer lokalen „Sex Crime Wave“. Die Überschrift auf der Titelseite lautete dabei: „North Haven Wild as Terror Escapes“. Der eigentliche Artikel war jedoch weit weniger spektakulär. Die „Sex Crimes“ beschränkten sich auf einen „peeping Tom“, einen Voyeur, der des Nachts in fremde Fenster lugte und nun verhaftet worden war. In einem anderen Fall hatte ein Mann zwei Mädchen auf einem Flur in einer New Yorker Schule angetroffen. Nach Aussage von Zeugen bestand sein Verhalten in Folgendem: „He just spoke to them“. Nichtsdestotrotz bezog die Polizei daraufhin die Schule in ihre Patrouillen ein, zweimal täglich erschienen nun Beamte im Schulgebäude.3 Jenkins, S.  54 f. City, S. 21. 3  So die Medienauswertung bei Levy. Auf S. 5 schreibt er, Zeitungsleser „are mistaking waves of news for waves of crime“ (Levy, S. 5). 1  Vgl.

2  Whitman,

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Die Presseberichterstattung hatte ihren Höhepunkt zwischen Ende 1949 und Frühjahr 1951, doch noch bis etwa 1955 gab es immer wieder Zeiten mit vermehrter medialer Aufmerksamkeit.4 Die Schlagzeilen mobilisierten besorgte Eltern, die in den Straßen ihrer Städte auf Streife gingen. Mütter agierten als „block mothers“ und eskortierten die Kinder der Nachbarschaft zur Schule. Unterstützt wurden sie nicht nur von den örtlichen Medien, sondern auch von den Kirchen sowie den Frauen- und Elternorganisationen, die sich an die Spitze der Bewegung stellten. Angeheizt wurden die Sorgen in der Bevölkerung von Journalisten wie Howard Whitman, der verkündete: „Children in alarming numbers have been the victims of molesters, exhibi­ tionists, perverts, and paedophiles. The sex hoodlum, hanging around schools with comic books and bubble gum to lure his victim, has imbued parents with a stark new fear.“5 Eine Serie von Büchern klärte Eltern vor allem seit 1950 über deren drängendste Frage auf: „How to Protect Your Child from the Sex Criminal“?6 Zugleich zeigte die „Aufklärungskampagne“ Wirkung: In Connecticut versuchte eine aufgeheizte Menschenmenge 1950 einen angeblichen Sexualstraftäter zu lynchen.7 Die Veteranenorganisation „American Legion“ wiederum forderte lebenslange Haftstrafen ohne vorzeitige Entlassung für alle Sexualstraftäter.8 Obgleich die Kriminalitätsrate in Hinblick auf Verbrechen gegen Kinder nahezu unverändert geblieben war9, reagierten staatliche Organe auf den Druck von Medien, gesellschaftlichen Organisationen und Bevölkerung. Die Polizei etwa führte massive Razzien gegen stadtbekannte Homosexuelle, Voyeure, Exhibitionisten und Nonkonformisten durch, um angesichts des Drucks besorgter Bürger Handlungsfähigkeit zu beweisen.10 Zugleich richteten die Behörden in zehn verschiedenen Bundesstaaten Untersuchungskommissionen ein, die dem Phänomen des Sexualstraftäters nachgehen und Empfehlungen für die Politik erarbeiten sollten. Diesen gelang es zumeist erfolgreich, eine Verschärfung der bestehenden Gesetzgebung gegenüber Sexualstraftätern durchzusetzen. Zwischen 1950 und 1955 erließen zudem 16 Bundesstaaten neue oder modifizierte Gesetze für Sexualstraftäter.11 4  Vgl. die Auswertung von „New York Times“ und „Reader’s Guide to Periodical Literature“ bei Denno, S. 1356–1366. 5  Whitman, Terror, S.  7 f. 6  Vgl. z. B. Biggs. 7  Vgl. New York Times, 24.1.1950, S. 22. 8  Vgl. New York Times, 4.2.1950, S. 6. 9  Vgl. z. B. Zahlen für Kalifornien: Assembly of the State of California, Final Report, S. 242. 10  Vgl. Jenkins, S.  64 f. 11  Vgl. die Aufstellung im Anhang von Denno, S. 1387–1390.



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Den Anfang machte dabei ein bereits Ende November 1949 in Kalifornien eingerichtetes „Subcommittee on Sex Crimes“.12 Die öffentlichen Anhörungen dieser Kommissionen in den einzelnen Bundesstaaten sorgten in der Folge dafür, dass das Thema „Sex Crimes“ auf der Agenda verblieb und sowohl in den Medien als auch in der Öffentlichkeit debattiert wurde. So befragte etwa die in New Jersey eingesetzte „Commission on the Habitual Sex Offender“ 750 Experten aus den Bereichen Polizei, Justiz, Verwaltung, Medizin und Kirchen, die in Atlantic City und Newark öffentlichkeitswirksam Rede und Antwort standen.13 Die Kommission zur Untersuchung des „Deviated Criminal Sex Offender“ beeinflusste dabei den Fortgang der „Sex Crime Panic“ am deutlichsten. Diese Kommission wurde von Michigans Gouverneur G. Mennen Williams Ende November 1949 zur Kanalisierung der öffentlichen Empörung, die ihn in Form von Briefen und Petitionen von Bürgern und Verbänden erreichte, eingerichtet. In den kommenden beiden Jahren gelang es der Kommission, sich mittels Expertenanhörungen und Pressekonferenzen in der Öffentlichkeit als Meinungsführer in der Frage von Sexualverbrechen zu präsentieren. Zugleich mobilisierte die Kommission Verbände und Vereine, darunter die offiziellen Organisationen von Juristen und Mediziner, aber auch die „Parent-Teacher Association“, um Unterstützung für die von ihr im Parlament des Bundesstaates in Lansing vorgeschlagene Gesetzgebung zu erwirken. Während des parlamentarischen Verfahrens organisierte die Kommission Kampagnen zur Verfassung von Bittbriefen und Petitionen an die „State Assembly“, um den Gesetzgebungsprozess in ihrem Sinne zu beeinflussen. Damit gelang es den Psychiatern und Psychologen, die jene Kommission dominierten, mit Hilfe der öffentlichen Unterstützung Sexualverbrechen als Symptom einer pathologischen Störung zu definieren, die mit medizinischen und nicht juristischen Mitteln zu bekämpfen seien. Auch konnte sie in der Folge erwirken, dass Gelder für die Errichtung psychiatrischer Einrichtungen von der Regierung bereitgestellt wurden.14 Erst nach Ende der wichtigsten Anhörungen ebbte das öffentliche Interesse an Sexualverbrechen Mitte der 1950er Jahre weitgehend ab, die „Sex Crime Panic“ hatte an Zugkraft verloren. In diesem Aufsatz wird der Themenkreis „Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive“ nicht primär auf die Frage des sexuellen Missbrauchs Assembly of the State of California, Preliminary Report, S. 64. Tappan, Report. 14  Vgl. Report of the Governor’s Study Commission on the Deviated Criminal Sex Offender. Auf S. 120 hieß es, wenn eine Person „was found to be a criminal sexual psychopathic person, he should be committed to the State Hospital Commission to be confined in an appropriate State institution until he had, fully and permanently recovered from such psychopathy.“ (Report of the Governor’s Study Commission on the Deviated Criminal Sex Offender, S. 120); vgl. auch Chauncey, S.  165 f. 12  Vgl. 13  Vgl.

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bezogen. Vielmehr soll insbesondere die historische Kontextualisierung im Mittelpunkt stehen. Dabei wird von der Hypothese ausgegangen, dass der Umgang mit dem Topos „Gewalt gegen Kinder“ während der „Sex Crime Panic“ eng mit einem langjährigen Transformationsprozess in den USA verwoben war. Sexualstraftäter, die Kinder missbrauchten, so die hier zugrundeliegende Annahme, bedrohten nicht nur Kinder, sondern darüber hinaus auch festgefügte Geschlechterrollen und die soziale Ordnung insgesamt. Die Perzeption von „Gewalt gegen Kinder“ war dabei durch verschiedene zentrale politische und gesellschaftliche Entwicklungen seit der Jahrhundertwende geprägt, die in der „Sex Crime Panic“ der 1950er Jahre kulminierten und auf den ersten Blick nur mittelbar mit der Frage von „Gewalt gegen Kinder“ zusammenhingen: Von Bedeutung für die „Sex Crime Panic“ waren vor ­allem der Wandel im Geschlechterverhältnis, insbesondere die Veränderung von Weiblichkeit und Männlichkeit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und damit einhergehend die Umbrüche in der Geschichte der Sexualität seit den 1920er Jahren. Daneben aber war die „Sex Crime Panic“ auch beeinflusst durch die sich verändernde Perzeption von männlicher und weiblicher Homosexualität und die Neuerungen in der Psychiatrie sowie der Kriminalistik, die zur „Entdeckung“ und polizeilichen Verfolgung des psychisch kranken Sexualstraftäters führten. Zentraler, kurzfristig wirkender Faktor war zusätzlich noch die radikalisierende Wirkung des sich verschärfenden Kalten Krieges in den USA seit 1947. Auf die genannten politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen wird im Folgenden genauer einzugehen sein. Im ersten Abschnitt dieses Artikels wird aus diesem Grunde untersucht, weshalb es nach der Jahrhundertwende zu einer „Entdeckung“ des Sexualstraftäters kam. Dieser Befund wird dann in längerfristige gesellschaftliche Trends zur Wandlung von Geschlechterverhältnis und Sexualität in den USA eingeordnet, die für eine Interpretation der „Sex Crime Panic“ von ausschlaggebender Bedeutung sind. Im dritten Teil wiederum wird dargelegt, welche gesellschaftspolitischen Wirkungen die „Sex Crime Panic“ hatte und warum diese kaum dem Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt dienten. Untersucht werden in diesem Beitrag einerseits die gesellschaftlichen und politischen Diskurse, andererseits das Handeln staatlicher und nichtstaat­ licher Akteure (vor allem Polizei, Gerichte und Psychiater) in Hinblick auf vermeintliche oder reale sexuelle Gewalt gegen Kinder in den USA zu Beginn der 1950er Jahre. Im Fokus steht dabei die Instrumentalisierung des Topos „Gewalt gegen Kinder“ für politische und gesellschaftliche Zwecke. Als Quellen dienen insbesondere psychiatrische und kriminologische Aufsätze zwischen den 1930er und den 1960er Jahren sowie Berichte von parlamentarischen Untersuchungskommissionen und öffentlichen Anhörungen auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene. Zugleich wird auf die Forschungslitera-



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tur aus unterschiedlichen Feldern rekurriert, die sich vielfach nicht direkt mit der „Sex Crime Panic“ befasst. So werden die Ergebnisse von Arbeiten zur Veränderung der Rolle von Frauen in der Gesellschaft mit Werken zur Geschichte der Homosexualität im Kalten Krieg und Untersuchungen zur Entwicklung von Psychiatrie und Kriminologie auf die „Sex Crime Panic“ bezogen und in einen Interpretationszusammenhang gebracht. Die Debatte um Sexualverbrechen an Kindern seit 1949 wird in der Forschungsliteratur vielfach als „Moral Panic“ interpretiert, d. h. als Folge eines „process of arousing social concern over an issue – usually the work of moral entrepreneurs and the mass media“.15 Daneben wird die „Sex Crime Panic“ als Teil von generellen homophoben Verfolgungsmaßnahmen im Kontext des sich radikalisierenden Kalten Kriegs angesehen, manchmal wird sie indes auch schlichtweg im Rahmen der Geschichte des Kindesmissbrauchs dargestellt.16 An dieser Stelle aber sollen diese eher begrenzteren Sichten auf die Debatte um Gewalt gegen Kinder in den Kontext längerfristiger gesellschaftlicher Trends in den USA gestellt werden, wobei Fragen von ­ ­Geschlechterverhältnis, Homophobie, Entwicklungen in Psychiatrie und Kriminologie, aber auch öffentliche Diskurse und Medienberichterstattung in einen Interaktionszusammenhang gebracht werden. Ziel ist es insgesamt, die „Sex Crime Panic“ in ihrer katalytischen Wirkung in Hinblick auf gesellschaftliche Transformationen zu interpretieren. II. Die „Entdeckung“ des Sexualstraftäters Ende des 19. Jahrhunderts kam in der amerikanischen medizinischen Forschung der Begriff der „sexual perversion“ auf. Damit waren alle Handlungen gemeint, die nicht der Fortpflanzung dienten. Hierunter fiel eindeutig kriminelles bzw. psychopathisches Verhalten, so beispielsweise Kindesmissbrauch, aber auch einvernehmliche Sexualakte unter Erwachsenen, wie z. B. der unter Strafe stehende Oralverkehr. Sämtliche derartige Handlungen galten 15  Lemma „Moral Panic“, in: Scott, S. 492. Vgl. zur Interpretation der „Sex Crime Panic“ als „Moral Panic“ Jenkins; Laws, S. 11–22. John Gerassi hingegen interpretiert den 1955 im Kontext der „Sex Crime Panic“ aufgeflogenen Skandal um einen „Homosexuellenring“ von Männern und Jugendlichen in der Stadt Boise als Mischung aus „Moral Panic“ und Homophobie, s. Gerassi. 16  Fred Fejes präsentiert ein konkretes Beispiel einer Medienkampagne im Kontext der „Sex Crime Panic“, die er allein als homophob motiviert ansieht, s. Fejes. Deborah Denno hingegen präsentiert die „Sex Crime Panic“ als Ausdruck eines veränderten Umgangs des Rechtssystems mit Devianz, s. Denno, S. 1344–1378. Estelle B. Freedman wiederum interpretiert die „Sex Crime Panic“ im Kontext der Veränderung von Psychiatrie und Kriminologie, s. Freedman, Response. Zur Geschichte des Kindesmissbrauchs vgl. etwa Costin u. a., S. 82–106.

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als abartiges Verhalten, das auf medizinische oder biologische Defekte hinzuweisen und die Gesellschaft insgesamt zu bedrohen schien.17 Polizei und Gerichte begannen sich deshalb nach der Jahrhundertwende immer intensiver mit derartigen „Vergehen“ zu befassen, um die Gesellschaft zu schützen.18 1904 prägte der deutsche Psychiater Emil Kraepelin den Begriff der „psychopathischen Persönlichkeit“ und ordnete die von ihm beobachteten Personen verschiedenen Gruppen zu, so die „Erregbaren“, die „Haltlosen“, die „Triebmenschen“ oder die „Verschrobenen“.19 Der Terminus „psychopathische Persönlichkeit“ wurde sehr rasch auch in den USA übernommen, z. B. für „Kriminelle mit Persönlichkeitsstörungen“, für „Vagabunden“, „Lügner“, „Bettler“ und „Prostituierte“. Im Verlauf der 1930er Jahre kam es nach und nach zu einem Bedeutungswandel des Begriffs des Psychopathen, bis sich dieser schließlich auf „männliche gewalttätige Kriminelle“ bezog.20 Zuvor hatte man vor allem weibliche Prostituierte bzw. „hypersexual women“ als Psychopathen bezeichnet, so etwa im Rahmen einer Kampagne von John D. Rockefeller, Jr. zur Bekämpfung der Prostitution.21 Wenig später wurde der männliche Psychopath zusätzlich noch sexualisiert und direkt mit Sexualverbrechen assoziiert. Neben Pädophilen galten nun zum Beispiel bekennende Homosexuelle, Exhibitionisten, Sadisten, Masochisten und Voyeure als Psychopathen. Der Grund für die nunmehrige Sexualisierung der lange tolerierten „Vergehen“ lag darin, dass sich die Kriminologie seit den 1930er Jahren immer intensiver für sexuelle Abnormitäten und Sexualverbrechen zu interessieren begann. Dies hatte auch mit der Popularisierung der Theorien von Sigmund Freud zu tun, vor allem mit seinem Konzept der Psychosexualität und den von ihm wahrgenommenen Widersprüchen zwischen der menschlichen Natur mit ihren Trieben und Sehnsüchten auf der einen Seite und der Zivilisation, die zu einer Verdrängung dieser sexuellen Triebe führe, auf der anderen Seite.22 Insbesondere mit der Flucht von deutschen Wissenschaftlern in die USA seit 1933 wurden Freuds psychoanalytische Theorien, aber auch die Werke des Sexualforschers Magnus Hirschfeld oder des Psy­ chiaters Richard von Krafft-Ebing dort immer stärker rezipiert.23 Die amerikaz. B. den Beitrag von Morgan. Duggan, S.  164 f. 19  Vgl. Burgmair u. a., S. 175. 20  Vgl. Freedman, Rape, S. 188. 21  Vgl. die Studie über kriminelle Frauen im „New York State Reformatory for Women“ in Bedford Hills, das von Rockefeller finanziert wurde, s. Spaulding; vgl. auch Freedman, Prison. 22  Vgl. Nitzschke, S. 97–131. 23  Vgl. z.  B. das Werk des deutschen Psychiaters Eugen Kahn, eines Schülers von Emil Kraepelin, der seit 1931 an der Universität Yale beschäftigt war, s. Kahn, v. a. S. 102–113. Auch etwa die bekannte Studie von Katharine Bement Davis und 17  Vgl. 18  Vgl.



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nischen Kriminologen gingen nunmehr davon aus, dass Menschen stark triebgesteuert seien, weshalb die Gefahr, dass es zu sexuell abartigen Handlungen kommen könnte, scheinbar zunahm. Zugleich expandierte die wissenschaft­ liche Psychiatrie in den USA. Nunmehr wurden Psychiater vermehrt als Gutachter bei Gerichtsprozessen eingesetzt, während sie bislang vor allem für psychiatrische Anstalten zuständig gewesen waren. Damit einher gingen neue Forschungen, die im Verlauf der 1930er Jahre eine immer ausgefeiltere Theorie von Sexualverbrechen entstehen ließen.24 Bereits in den Jahren zwischen 1937 und 1939 war es deshalb zu einer ersten „Sex Crime Panic“ gekommen.25 Auslöser waren gleichfalls verschiedene Verbrechen an Kindern, über die ausführlich in den Medien berichtet wurde. Der Staat wandte sich nun intensiv dem „sexuellen Psychopathen“ zu: Zwischen 1937 und 1939 wurden bereits in fünf Bundesstaaten Gesetze gegen Sexualstraftäter erlassen, zwischen 1947 und 1958 – im Kontext der zweiten „Sex Crime Panic“ – folgten weitere 24 Bundesstaaten und der „District of Columbia“. Damit zeigt sich, dass der Staat mit gesetzlichen Mitteln auf ein neues Phänomen zu reagieren suchte. Laut Gesetz handelte es sich bei einem Sexualstraftäter um eine Person, deren „utter lack of power to control his sexual impulses“ dazu führe, dass diese Person „objects of his uncontrolled and uncontrollable desires“ angriffe.26 Es wurden dabei völlig unterschiedliche Verbrechen in einem Gesetz zusammengefasst, so Vergewaltigung, einvernehmlicher homosexueller Geschlechtsverkehr, Kindesmissbrauch oder unsittliches Verhalten mit Minderjährigen. Die Gesetze beruhten auf der Annahme, dass selbst ein minderes Vergehen wie Exhibitionismus auf einen unkontrollierbaren Sexualstraftäter hindeute, der langfristig sexuelle Gewalt gegen seine Mitmenschen anwenden würde und vor dem die Gesellschaft geschützt werden müsse. Daneben unterschieden die Gesetze nicht zwischen gewalttätigem und nicht-gewalttätigem Verhalten bzw. einvernehmlichen und nicht-einvernehmlichen Akten. Die Betroffenen wurden aufgrund von psychiatrischen Gutachten auf unbegrenzte Dauer in psychiatrische Anstalten eingeliefert. Erst wenn die dortigen Psychiater sie für geheilt erklärten, wurden sie wieder entlassen.27 Robert Latou Dickinson baute auf den Werken von Hirschfeld, Krafft-Ebing und anderen auf, s. Davis / Dickinson. 24  Vgl. Freedman, Response, S. 83–97. 25  Zur ersten „Sex Crime Wave“ vgl. Jenkins, S. 49–52. 26  In dieser Formulierung z. B. in den Gesetzen von Kalifornien, Massachusetts, Nebraska und Vermont, vgl. Laws, S. 51–71. 27  Im Bundesstaat New York verfügten Richter seit 1950 über den Ermessensspielraum, Gewalt gegen Kinder mit zeitlich unbegrenzten Strafen zu belegen, vgl. New York’s New Indeterminate Sentence Law for Sex Offenders. Zur Umsetzung dieser und ähnlicher Gesetze in Hinblick auf die zeitlich unbegrenzte Verwahrung

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Hierbei zeigte sich das gerade während des Zweiten Weltkrieges deutlich gesteigerte Ansehen von Psychiatern, die mehr und mehr als Experten für gesellschaftliche Entwicklungen angesehen wurden, aber auch für die Pro­ bleme der nach dem Weltkrieg in ihre Heimat zurückkehrenden Soldaten mit vermeintlichen oder realen psychopathischen Störungen scheinbar Lösungen parat hatten.28 Neben der Reintegration der Soldaten stellte auch der sich verschärfende Kalte Krieg die amerikanische Gesellschaft vor besondere Herausforderungen. Die Abwehr der vermeintlichen kommunistischen Infiltration zwang vorgeblich dazu, Nonkonformität und abweichendes Verhalten weit mehr als bisher zu sanktionieren. Die nationale Sicherheit, so glaubte man, hänge davon ab, inwieweit es gelänge, politische, soziale, aber auch sexuelle Stabilität zu schaffen.29 Senator Kenneth Wherry erklärte am 25. April 1950 sogar im Senat: „Can [you] think of a person who could be more dangerous to the United States of America than a pervert?“30 Psychiater konnten dabei die gesteigerte politische und mediale Aufmerksamkeit dazu nutzen, staatliche Gelder für wissenschaftliche Studien über Sexualstraftäter einzuwerben. Die „Langley Porter Psychiatric Clinic“ der „University of California“ etwa wurde nach 1949 mit staatlichen Mitteln unterstützt, die ihr kurz zuvor noch verweigert worden waren. Ebenso wurde z. B. in Folge der „New Jersey Sex Offender Acts“ von 1949 und 1950 in Menlo Park ein „Diagnostic Center“ zur Erforschung jugendlicher und erwachsener Sexualstraftäter neu eingerichtet. Daneben wurden in vielen Bundesstaaten nun neben den bereits bestehenden psychiatrischen Anstalten besondere Einrichtungen für psychopathische Kriminelle errichtet, so etwa in Kalifornien das für zehn Millionen Dollar erbaute „Atascadero State Hospital“, das drei Wochen nach dem Mord an Linda Joyce Glucoft genehmigt wurde, nachdem die Gelder nur kurze Zeit zuvor erst einmal nicht bewilligt worden waren.31 Die „Sex Crime Panic“ hatte hier also einen wichtigen katalytischen Effekt. Doch nicht nur Psychiater nutzten die „Moral Panic“, um an Subventionen zu gelangen und öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren. Auch staatliche Institutionen instrumentalisierten das medienwirksame Thema „Gewalt gegen Kinder“. Bereits zu Beginn der ersten „Sex Crime Panic“ rief FBI-Chef J. Edgar Hoover 1937 einen „War on the Sex Criminal“ aus und erklärte: vgl. Braude. Vgl. allgemein zu den Gesetzen gegen Sexualstraftäter Tappan, Laws; Swanson. 28  Vgl. Green. 29  Zum verstärkten Zwang nach sexueller Konformität in der Nachkriegszeit vgl. D’Emilio, v. a. S. 9–125. 30  Congressional Record, S. 5699. 31  Vgl. Freedman, Response, S. 99.



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„The sex fiend, most loathsome of all the vast army of crime, has become a sinister threat to the safety of American childhood and womanhood.“32 Hoover tat dies aber nicht aus Liebe zu unschuldigen Kindern. Vielmehr hatte das FBI ganz handfeste Gründe, die entstandene Panik weiter zu schüren: Seit Mitte der 1930er Jahre war die Entführungswelle der 1920er Jahre – der prominenteste Fall war dabei die Entführung des Babys von Charles Lindbergh – im Abklingen begriffen. Ähnlich verhielt es sich mit spektakulären Bankrauben. Das FBI drohte also arbeitslos zu werden. Zudem war die Konkurrenz des „Federal Bureau of Narcotics“ erdrückend, das von einer landesweiten Drogenpanik seit 1936 profitieren konnte. Das FBI wollte also die „Sex Crime Panic“ für sich nutzen; doch änderte sich dies bereits kurz darauf wieder. Ab 1938 gab es den „Nazi Spy Scare“, nun suchte man überall deutsche Agenten zu enttarnen.33 Nach dem Krieg aber kehrte Hoover zu seinem Thema zurück. 1947, also zwei Jahre vor Beginn der „Sex Crime Panic“, schrieb er im „American Magazine“ unter dem Titel „How safe is your daughter?“: „The most rapidly increasing type of crime is that perpetrated by degenerate sex offenders. It is taking its toll at the rate of a criminal assault every forty-three minutes, day and night, in the United States.“34 Diese Zahlen basierten auf den in den USA gemeldeten Fällen von Vergewaltigung, insgesamt 16.180 im Jahre 1948. Darunter fiel aber auch der einvernehmliche Geschlechtsverkehr von Minderjährigen: Wenn z. B. ein 17-jähriger Junge mit seiner 16-jährigen Freundin Sex hatte, wurde dies als Vergewaltigung gewertet. In New York beispielsweise galten in den 1930er und 1940er Jahren 82 % der registrierten „Vergewaltigungen“ als einvernehmlich.35 Die Grenzen zwischen echten und vermeintlichen Fällen von Pädophilie waren somit undeutlich gezogen, zugleich war auch das Strafmaß willkürlich. In Wyoming und Indiana galt z. B. Geschlechtsverkehr mit einem Mädchen unter 21 Jahren als Notzucht und wurde mit mehreren Monaten Gefängnis bestraft. Wenn der Mann das Mädchen aber nur befriedigte, jedoch keinen Geschlechtsverkehr mit ihr hatte, galt die Tat als „sodomy“ und wurde mit bis zu fünf Jahren Gefängnis in Wyoming und 14 Jahren in Indiana bestraft. In Kalifornien wiederum war eine 15-jährige Haft für Fälle von „oral perversion“ vorgesehen.36 FBI-Chef Hoover ließ sich jedoch von derartigen Widersprüchen nicht beirren. Kurz vor Beginn der „Sex Crime Panic“ erklärte er 1947: „The sex York Herald Tribune, 26.9.1937, zit. nach Brode, S. 42. Jenkins, S. 55. 34  Hoover, S. 32. 35  Vgl. Schoenfield, S. 6. 36  Vgl. die Ausführungen des Richters Morris Ploscowe, der sich für eine Liberalisierung des Sexualstrafrechts aussprach, s. Ploscowe, S. 200–202. 32  New 33  Vgl.

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criminal has replaced the kidnapper as a threat to the peace of mind of the parents of America.“37 Hoover nutzte zugleich die sensationsgetriebene Presseberichterstattung insofern aus, als er eine „harsh legislation“38 gegen Sexualstraftäter vorantrieb, um dem FBI mehr Einfluss zu verschaffen. Damit wurde Hoover zu einem der Wegbereiter der „Sex Crime Panic“ ab 1949, in dessen Verlauf die medial potenzierten Verbrechen gegen Kinder auf bereits verunsicherte Amerikaner trafen und gerade deshalb so wirkungsmächtig wurden. Hoovers Vorgehen stieß jedoch auch auf Kritik. So schrieb etwa der „Assistant District Attorney of New York County“ Sheldon S. Levy: „What Mr. Hoover fails to realize is that, in the long run, such stringent sex crime legislation will serve no effectual purpose and will not result in either lessening the pressure of his job or of public opinion.“39 Insgesamt schufen also Veränderungen in der Psychiatrie und der Kriminalistik die Voraussetzungen für Massenphänomene wie die „Sex Crime Panic“. Dadurch gerieten echte oder vermeintliche Sexualstraftäter verstärkt in den Blick, was in der Folge von Strafverfolgungsbehörden für eigene Zwecke missbraucht wurde und in einer sensationsgetriebenen Presseberichterstattung resultierte. Der Höhepunkt der Debatte zum Ende der 1940er Jahre korrespondierte dabei keineswegs mit einer tatsächlichen vermehrten Anzahl von Fällen von Gewalt gegen Kinder. Im Gegenteil waren die Verhaftungszahlen von Sexualstraftätern seit 1945 eher zurückgegangen und stiegen erst wieder in Folge der „Sex Crime Panic“ 1949 an.40 Doch lässt sich die „Sex Crime Panic“ nicht allein im Kontext kurz- und mittelfristiger Entwicklungen der Psychiatrie und Kriminalistik bzw. der Instrumentalisierungsversuche staatlicher und nicht-staatlicher Akteure, hier vor allem der Medien, inter­ pretieren. In welche längerfristigen gesellschaftlichen Veränderungen ist also die „Sex Crime Panic“ einzuordnen? III. Der Topos „Gewalt gegen Kinder“ und die Wandlungen im Geschlechterverhältnis sowie die Veränderung von Sexualität in den USA seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Als Hintergrundfolie für die „Sex Crime Panic“ lassen sich zwei längerfristige Trends ausmachen, die prägend waren für die gesellschaftlichen Diskurse zur Gewalt gegen Kinder und den staatlichen Umgang mit diesem Phänomen: die Wandlungen im Geschlechterverhältnis einerseits und die Veränderung von Sexualität andererseits. nach Johnson, S. 56. die kritische Analyse bei Levy, S. 7. 39  Levy, S. 7. 40  Vgl. Swanson; Bowman, Review; Terry, S. 33. 37  Zit. 38  So



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Von zentraler Bedeutung für den Umgang mit dem Topos „Gewalt gegen Kinder“ war die verstärkte Durchlässigkeit der Grenzen zwischen den Geschlechtern. Seit Ende des 19. Jahrhunderts waren Geschlechterrollen immer weniger eindeutig. Frauen drängten an die Universitäten und die Berufstätigkeit auch bürgerlicher Frauen nahm immer weiter zu. In der Zeit der Großen Depression ab 1929 kam es teilweise sogar zu einer Inversion der Geschlechterrollen. Vielfach mussten Frauen ihren arbeitslosen Gatten beim Broterwerb ersetzen. Die weibliche Konkurrenz führte dabei dazu, dass sich viele Männer in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Männlichkeit angegriffen fühlten. Dieser Trend wurde noch dadurch verstärkt, dass Frauen während des Zweiten Weltkrieges, aber auch während des Korea-Krieges, vielfach berufstätig wurden, um die in den Krieg eingezogenen Männer zu ersetzen. Der männliche Alleinverdiener als unbestrittenes Oberhaupt der Familie war somit nicht mehr das alleinig existierende Modell.41 Zudem wurde Erziehung weiblicher. Die gestärkte Rolle der immer selbstbewussteren Mutter als Erzieherin, vor allem aber die vermehrte Anstellung von weiblichen Lehrern führte dazu, dass Männer in Sorge waren, dass Mütter und Lehrerinnen durch ihre Erziehung die Knaben verweiblichen würden. Man befürchtete also eine Auflösung der traditionellen Geschlechterrollen durch eine Effeminisierung der Jungen. Der bekannte amerikanische Psychiater James McKeen Cattell kritisierte schon 1909 die „vast horde of female teachers“, die sowohl die Schulen als auch die Familien unterminieren würden.42 Das weibliche Wirken schien damit grundlegend die bisher dominierende Rolle der Männer in der Gesellschaft zu bedrohen. Nicht ohne Grund hatten deshalb die 1910 gegründeten „Boy Scouts“ einen derartigen Zulauf. In den Pfadfinderlagern, so die Hoffnung, waren die Jungen dem weiblichen Einfluss entzogen und stärkten in der Natur ihre männlichen Fähigkeiten.43 Zugleich vermutete man, dass das Wirken der vermeintlich dominanten Mütter und Lehrerinnen zur Folge hätte, dass Jungen sich oftmals vom weiblichen Geschlecht als Sexualpartner abwenden würden. Analog nahm man für Mädchen an, dass diese sich wegen ihrer „unmännlichen“ Väter und „herrischen“ Mütter dem eigenen Geschlecht zuwenden und keine „normale Sexualität“ entwickeln würden. Schuld an Homosexualität, so die Zeitdiagnose, seien somit „verweiblichte“ Männer und „vermännlichte“ Frauen.44 Die Untersuchungen von Alfred Kinsey über das Sexualverhalten des Mannes und der Frau, die 1948 bzw. 1953 publiziert wurden, verstärkten diese Befürchtungen. Diese rasch populär gewordenen Studien hatten zum ErgebHartmann. Cattell, S. 92. 43  Vgl. Jordan, v. a. S. 121–152. 44  Vgl. z. B. West, v. a. S. 146–151. 41  Vgl.

42  McKeen

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nis, dass ein Großteil der Männer und Frauen in ihrer Jugend homoerotische Erfahrungen gemacht hatten. Ein Drittel der Befragten gab sogar an, auch im Erwachsenenalter ausschließlich oder teilweise homosexuell orientiert zu sein.45 Männlichkeit oder Weiblichkeit schien also nicht mehr so klar definiert zu sein, wie bislang angenommen. Auch der unscheinbare Familienvater oder die Mutter von nebenan könnten, so fürchtete man, homosexuellen Neigungen erliegen. Dabei schienen falsche Erziehung, Homosexualität und Pädophilie in einem direkten Zusammenhang zu stehen: Der durch seine dominante Mutter „verweichlichte“ und „verweiblichte“ Junge oder das gleichermaßen „vermännlichte“ Mädchen, so die Annahme, würde „abartige“ sexuelle Neigungen entwickeln. Dies würde dazu führen, dass er oder sie andere Kinder mit diesen Neigungen gleichsam anstecken würde. Dabei ist zu beachten, dass man Ende der 1940er Jahre noch davon ausging, dass Homosexualität nicht erblich sei, sondern dass Jungen oder Mädchen durch jugendliche oder erwachsene homosexuelle Männer oder Frauen missbraucht und damit gleichsam zu neuen „Schwulen“ und „Lesben“ „herangezüchtet“ würden. In einer Anhörung im amerikanischen Senat hieß es deshalb noch 1955: „One boy tends to infect a dozen other boys“.46 Homosexuelle wurden somit als sexuell Perverse und notorische „Kinderschänder“ betrachtet, die eine Gefahr für die eigenen Kinder darstellten.47 Der „Special Assistant Attorney General of California“, Eugene D. Williams, erklärte hierzu: The sex pervert, in his more innocuous form, is too frequently regarded as merely a „queer“ individual who never hurts anyone but himself. All too often we lose sight of the fact that the homosexual is an inveterate seducer of the young of both sexes, and is ever seeking for younger victims.48

Der Grund hierfür wurde darin gesehen, dass Homosexuelle in ihrer Persönlichkeitsentwicklung nicht über ein kindliches Stadium hinausgekommen seien, weshalb sie sich scheinbar in besonderer Weise von Kindern und Jugendlichen angezogen fühlten. So schrieb etwa der bekannte Psychiater Hervey M. Cleckley: 45  Vgl. Kinsey u.  a., Male, S. 163–175, 259–296, 315–317, 357–363, 383  f., 455–464, v. a. S. 610–666; vgl. ebenso Kinsey u. a., Female, S. 446–501. 46  Aussage von Robert A. Elmore, Vorsitzender des „Chattanooga-Hamilton County Comic Books Board“, vor dem Senatsausschuss zur „Juvenile Delinquency“, s. United States Senate, 84th Congress, First Session, Pursuant to S. Res. 62, 10.– 12.8.1955, S. 143. 47  Vgl. etwa Biggs, S. 19–30. Kritisch hingegen der Chief Psychotherapist des Saint Elizabeths Hospital in Washington, D.C., Benjamin Karpman, s. Karpman, S. 184 f. Doch selbst in aufgeklärten Schriften wie von Alfred Kinsey findet sich der Topos der Ansteckung durch Homosexuelle, vgl. Kinsey u. a., Female, S. 21. 48  Zit. nach De River, S. XIV.



Gewalt gegen Kinder und gesellschaftlicher Wandel469 The adult homosexual, however, is in a stage of arrested psycho-sexual development; he is not far above the child level – a matter not only of theory but one attested by empirical evidences. […] The impulse to seduce is, like homosexuality itself, characteristic of arrested development. The normal child’s danger is in seduction from occasional contacts with homosexual adults.49

Insgesamt kulminierten im Kontext der „Sex Crime Panic“ die beschriebenen gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Damit drängten sich folgende Fragen auf: Wie musste Männlichkeit definiert werden? Wie musste diese beschaffen sein, um zu verhindern, dass Kinder durch andere Kinder oder Erwachsene sexuell missbraucht würden? Welche Rolle sollten Frauen in Zukunft in Ehe und Familie annehmen, um zu verhindern, dass „verweichlichte“ Jungen und „vermännlichte“ Mädchen herangezogen würden, die im Verlauf ihres Lebens andere Kinder sexuell missbrauchen würden? Im folgenden Kapitel wird untersucht, welche Antwort die amerikanische Gesellschaft auf diese Fragen fand. Der zweite langfristig bedeutende Trend, der sich auf die Perzeption des Topos „Gewalt gegen Kinder“ während der „Sex Crime Panic“ auswirkte, war eine Tendenz zur Neudefinition von Sexualität: Während des Viktorianischen Zeitalters im 19. Jahrhundert wurde als Sexualideal die weibliche Reinheit propagiert. Frauen sollten keinerlei sexuelle Bedürfnisse besitzen, sondern sich durch ihre „innere Leidenschaftslosigkeit“ auszeichnen. Hierdurch sollten Frauen die angeblich ungehemmte männliche Lust beschränken und männliche sexuelle Begierden innerhalb der Ehe zum alleinigen Zweck der Vermehrung kanalisieren. Dieses Ideal geriet nach der Jahrhundertwende ins Wanken. Frauen begannen vermehrt darauf zu pochen, dass sie eigene sexuelle Empfindungen besaßen.50 Ebenso legte die entstehende Psychoanalyse Wert darauf, dass allen Menschen sexuelle Triebe angeboren seien, also auch Frauen. Sigmund Freud etwa klärte darüber auf, welch schädliche Folgen die Unterdrückung dieser Triebe haben könnte.51 Seit den 1920er Jahren wurde deshalb intensiv über das Recht der Frau auf sexuelle Befriedigung diskutiert.52 Daneben wurde Sexualität immer weniger auf die reine Fortpflanzungsaktivität beschränkt. Auch andere Praktiken der Sexualität verbreiteten sich mehr und mehr, etwa oraler Sex, der ursprünglich strafbar war.53 Im Kontext der „Sex Crime Panic“ gewann deshalb die Frage an Aktualität, welche Formen von Sexualität als normal und welche als abartig gelten sollten. Ebenso 49  Cleckley,

S. 20. Simmons; Theriot. 51  Vgl. Quindeau. 52  Vgl. Spurlock. 53  Vgl. z. B. die Ergebnisse bei Kinsey u. a., Male, S. 245–253. 50  Vgl.

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wurde diskutiert, welche Rolle dabei die von Pädophilen propagierte Sexualität mit Kindern einnehmen sollte. In dieser Phase der Neuausrichtung von Geschlechterrollen, Sexualität und damit auch verbunden der Stellung von Familien in der Gesellschaft hatte die „Sex Crime Panic“ eine wichtige Adjustierungsfunktion. Somit ging es letztlich gar nicht um den Schutz der Kinder vor Sexualtätern. Es ging vielmehr darum, ins Wanken geratene soziale Normen neu zu definieren. Warum aber rückte gerade Gewalt gegen Kinder in den Mittelpunkt der Debatte, wenn es doch eigentlich eher um Sexualität und Geschlechterverhältnisse ging? Dadurch, dass inzwischen die Berechtigung weiblicher Sexualität allgemein anerkannt wurde, entsprachen Frauen nicht mehr – wie noch im Viktorianischen Zeitalter – dem Ideal der völligen Reinheit und Leidenschaftslosigkeit. Als einzig kraftvolles Symbol für völlige Unschuld verblieb somit nur noch das Kind. Diese Verlagerung hatte sich schon im deutschen Film „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ von 1931 gezeigt. Dieser Film war auch in den USA sehr verbreitet. 1950 – bezeichnenderweise auf dem Höhepunkt der „Sex Crime Panic“ – wurde ein amerikanisches Remake gedreht. Vorbild für den Film war eigentlich ein Frauenmörder, Peter Kürten, bekannt als der „Vampir von Düsseldorf“. Doch schien die Unschuld von Frauen, auch wenn sie Opfer von Sexualverbrechen wurden, seit den Debatten um weibliche Sexualität in den 1920er Jahren nicht mehr völlig außer Frage zu stehen. Aus diesem Grunde wählte Drehbuchschreiber und Regisseur Fritz Lang für seinen Film als Opfer ein Mädchen, das durch seine Unschuld viel besser den erwünschten Effekt erzielen konnte als eine Frau. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Symbolkraft von Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung sogar noch weiter gesunken und konnte kaum mehr instrumentalisiert werden, um auf völlige sexuelle Unschuld zu verweisen. Frauen wurden nämlich aufgrund der ihnen nunmehr zugestandenen Sexualität erstmals sogar nicht mehr nur als Opfer, sondern auch als Täter im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern benannt.54 Letztlich schienen aber selbst die betroffenen Kinder nicht mehr völlig dem Bild des unschuldigen Opfers zu entsprechen, das eines uneingeschränkten Schutzes würdig sei: In einer Studie der „Langley Porter Psychiatric Clinic der University of California“ über Kindesmissbrauch wurden 1952 die zumeist weiblichen Opfer keineswegs als asexuell dargestellt, vielmehr hieß es, sie seien „seductive“, „flirtatious“ und sexuell frühreif. Aus diesem Grunde auch benannte man diese Gruppe „participating victims“.55 Damit 54  Earl R. Biggs etwa identifizierte 1950 die weibliche Homosexuelle als Pädophile, die sich Mädchen zum Opfer suche, s. Biggs, S. 20. 55  Vgl. die Studie unter der Leitung des Direktors der Klinik Karl Bowman, s. Langley Porter Neuropsychiatric Institute, S. 5 ff., v. a. S. 57–59.



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entfiel einerseits die Notwendigkeit, unschuldige Opfer wirkungsvoll zu beschützen. Andererseits wurde durch die Etikettierung der Mädchen als teilweise Täter die weibliche Sexualität mit „wissenschaftlichen Mitteln“ gebrandmarkt und das Idealbild der asexuellen Frau erneuert, die nach derartigen Vorstellungen nicht zum Opfer sexueller Übergriffe geworden wäre. Der Topos „Gewalt gegen Kinder“ wurde also auch dazu instrumentalisiert, weibliche Sexualität an ihrer freien Entfaltung zu hindern, da nur „sittsame“ Mädchen und Frauen, die ihre Sexualität nicht auslebten, sicher sein konnten, nicht „schuldhaft“ Opfer von sexuellem Missbrauch oder Vergewaltigungen zu werden.56 Doch trotz dieser Entwicklung blieben Kinder immer noch das überzeugendste Symbol der Unschuld, das verwendet werden konnte, um einen gesellschaftlichen Konsens in der Frage von Sexualität und Geschlechterverhältnis zu erzwingen. Sexualstraftäter, die Kinder missbrauchten, bedrohten nicht nur die sexuelle Unschuld der Kinder, sondern darüber hinaus auch die bestehenden Geschlechterrollen und die soziale Ordnung insgesamt. Somit ließ sich Gewalt gegen Kinder wohlfeil instrumentalisieren, um damit genügend Druck zu erzeugen, um gesellschaftliche Veränderungen zu bremsen oder zu kanalisieren. Wie aber sah das Ergebnis des Prozesses der Neu­ definition von Familie, Geschlechterverhältnis und Sexualität im Kontext der „Sex Crime Panic“ aus? IV. Die gesellschaftspolitischen Wirkungen der „Sex Crime Panic“ Die „Sex Crime Panic“ hatte einen wichtigen Anteil an der Neuausrichtung der Geschlechterrollen und der Redefinition von Sexualität. Sie muss deshalb einerseits als Teil eines Trends interpretiert werden, Frauen wieder verstärkt auf ihre traditionelle Rolle als Ehefrau und Mutter zu beschränken: Nachdem Frauen während des Zweiten Weltkrieges vielfach männliche Rollen im Beruf übernommen hatten, sollte die weibliche Berufstätigkeit nach 1945 wieder zurückgedrängt werden.57 In der medizinischen und sozialpsychologischen Literatur setzte sich dabei die Lehrmeinung durch, dass die psychischen Probleme eines Menschen ihre Ursache darin hätten, dass dieser Mensch von seiner Mutter vernachlässigt worden sei.58 Mütter also, die sich nicht in ihre traditionelle Rolle als ergebene Ehefrau und aufopferungs56  Erst die zweite Frauenbewegung in den USA seit den 1970er Jahren brandmarkte diese Form der Unterdrückung weiblicher Sexualität, vgl. sehr früh bereits LeGrand. 57  Vgl. Hartmann. 58  Vgl. die einflussreiche Studie von Myrdal / Klein.

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volle Mutter fügten, seien unnatürlicherweise dominant und würden poten­ tielle Sexualstraftäter heranziehen.59 Zugleich wollte man auch die Opfer von Sexualstraftätern den berufstätigen Müttern anlasten: Dadurch dass Frauen ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkämen, würden ihre unschuldigen Kinder von Fremden auf der Straße angesprochen und schließlich sexuell missbraucht.60 Diese Redefinition der weiblichen Rolle in Familie und Gesellschaft war eine Folge der Verschärfung des Kalten Krieges. Die amerikanische Gesellschaft wollte sich gegen eine vermeintliche kommunistische Infiltrierung schützen, indem die tradi­ tionelle Familie gestärkt wurde. Denn nur eine gesunde Familie, so die Hoffnung, könne die Grundlage für eine starke und abwehrbereite Gesellschaft darstellen, die jeglichen Einflüsterungsversuchen der Sowjetunion widerstehen könne.61 Die Idealisierung der Familien hatte dabei zur Folge, dass damit der Mythos des Sexualstraftäters als der „unheimliche Fremde“, der Kinder auf der Straße ansprach, gestärkt wurde. Das FBI förderte in den 1950er Jahren sogar ein Programm, um die Öffentlichkeit vor dem „Stranger Danger“ zu warnen.62 Die Haupttätergruppe der Sexualstraftäter lag und liegt aber im engen Familien- und Bekanntenkreis.63 Somit wurde verhindert, dass die eigentlich wichtigsten Täter in den Blick gerieten. Gewalt gegen Kinder wurde also instrumentalisiert, um ein gewünschtes Familienbild zu propagieren. Daneben spielte die „Sex Crime Panic“ bei den Bemühungen der 1940er und 1950er Jahre eine Rolle, Männlichkeit erneut deutlich zu bestimmen. Aus diesem Grunde rückte die Frage der Homosexualität in den Mittelpunkt der Debatte. In den Medien wurde beispielsweise während der „Sex Crime Panic“ vorwiegend über Sexualverbrechen an kleinen Jungen berichtet und Homosexuelle dabei als notorische Kinderschänder dargestellt.64 Damit fand eine deutliche Verschiebung des Bildes von Homosexuellen im Vergleich zur Zwischenkriegszeit statt. Bis Ende der 1930er Jahre nämlich wurde männliche Homosexualität zumeist als kaum bedrohlich angesehen: Männer, die scheinbar ihre Männlichkeit aufgaben und sich dem schwachen die Fallstudien in Ostrovsky, v. a. S. 145. z. B. den Final Report of the Assembly Interim Committee on the Judicial System and Judicial Process, der sich einer Studie von „child victims of adult sex offenders“ widmet, s. Assembly of the State of California, Final Report, S. 59 ff., v. a. S.  91 f. 61  Vgl. May. 62  Vgl. Terry, S. 33. 63  Vgl. Rickard, S.  23 f. 64  Vgl. zur Berichterstattung den Final Report of the Subcommittee on Sex Crimes, s. California Legislative Assembly, Interim Committee on Judicial Systems and Judicial Process, v. a. S. 120. Vgl. zur Homosexualität Biggs, S.  30 f. 59  Vgl. 60  Vgl.



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weiblichen Geschlecht annäherten, so die „Sissy“, also die „Tunte“, solche Männer wurden belächelt und besaßen eher komödiantischen Charakter. Dies zeigte sich z. B. in der Komödie „The Gay Divorce“ von 1934 mit Fred Astaire und Ginger Rogers. In diesem Film spielte Everett Horton den effeminierten Freund von Fred Astaire, der eine Vorliebe für Puppen besaß und auf den Spitznamen Tante Egbert hörte. Weibliche Homosexuelle galten hingegen als gefährlich. Sogenannte „butch-women“, also „Mannsweiber“, schienen eine Bedrohung für Männer und Frauen darzustellen. In den Medien kursierte das Bild der liebeshungrigen und sexgierigen weiblichen Homosexuellen, die in Folge ihrer krankhaften Leidenschaft alles tun würde, um die begehrte Frau zu besitzen. Nach 1945 änderten sich diese Perzeptionen. Weibliche Homosexualität geriet relativ aus dem Blick.65 Dafür wurden männliche Homosexualität und sexuelle Perversion immer mehr als deckungsgleich betrachtet. Dies zeigte sich auch im staatlichen Handeln. Wann immer es während der „Sex Crime Panic“ zu einem abscheulichen Verbrechen an Kindern kam, reagierte die Polizei mit der Verhaftung der stadtbekannten Homosexuellen, Voyeure, Exhibitionisten und sexuellen Nonkonformisten. Hierzu bediente sie sich oftmals neu gegründeter „Moral“ oder „Vice Squads“, d. h. Einheiten innerhalb der regulären Polizei, die gezielt für die Verfolgung von Sittlichkeitsverbrechen zuständig waren. Mit Anordnung vom 4. Dezember 1949 – bezeichnenderweise zwei Wochen nach der „week of horror“, dem Beginn der „Sex Crime Panic“ – wurde z. B. in Philadelphia eine „Moral Squad“ geschaffen, die im Folgejahr monatlich 200 Homosexuelle verhaftete.66 Durch den gestiegenen Fahndungsdruck nahmen auch die Verurteilungen für Sexualverbrechen zu und lieferten damit scheinbar den Nachweis über eine „Sex Crime Wave“ – selbst wenn es sich in Wahrheit in der überwiegenden Zahl der Fälle um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr unter Erwachsenen handelte, der nunmehr verstärkt verfolgt wurde.67 Der gesellschaftliche Druck, die ins Wanken geratene Männlichkeit wieder erneut trennscharf zu bestimmen, führte also dazu, dass sexuell abweichendes Verhalten nunmehr massiv verfolgt und bestraft wurde. So stiegen etwa in New York die Verhaftungen von Homosexuellen aufgrund von „abartigem Verhalten“ („degeneracy“), die in den 1930er Jahren etwa 500 bis 600 betrugen, kurzfristig auf beinahe 3000 zum Beginn der „Sex Crime Panic“ an, um dann im Verlauf der 1950er Jahre auf etwa 1500 jährlich abzufallen. Erst im Eaklor, S. 69. die Aussage von Leutnant Andrew J. Waters, Leiter der „Moral Squads“ im „Philadelphia Police Department“, 14.4.1954, s. United States Senate, 83rd Congress, Second Session, Pursuant to S. Res. 89, 14.–15.4.1954, S. 29 f. 67  Vgl. Eskridge, S. 94–108. 65  Vgl. 66  Vgl.

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Zuge eines allgemeinen Liberalisierungsprozesses sowie dem sich abschwächenden Kalten Krieg nahmen die Verhaftungszahlen in den 1960er Jahren langsam ab.68 Doch noch bis 2003 war der einvernehmliche Geschlechtsverkehr von erwachsenen Homosexuellen in einzelnen Bundesstaaten der USA verboten, auch wenn dieser Tatbestand seit den 1970er Jahren immer weniger geahndet wurde.69 Ähnlich zeigte sich dies bei der Anwendung der Gesetze für sexuelle ­ sychopathen: Die überwiegende Zahl der teilweise langjährig in psychiatriP sche Anstalten eingelieferten Menschen waren Personen, die kleinerer homosexuell motivierter „Vergehen“ angeklagt wurden.70 Sie hatten sich beispielsweise im Umfeld von öffentlichen Toiletten aufgehalten, um dort Männer oder Frauen kennenzulernen, um mit diesen homosexuelle Beziehungen zu führen, oder sie waren von „agents provocateurs“ der Polizei zu homosexuellen Handlungen verleitet worden. Zumeist wurden die Betroffenen ohne zeitliche Begrenzung in psychiatrischen Anstalten verwahrt. Vielfach wurden dabei auch „therapeutische Maßnahmen“ ergriffen: Kastrationen oder Sterilisationen, Lobotomien (dabei wurden die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen durchtrennt), Elektroschocks oder Insulininjektionen. Man versuchte z. B. männliche Homosexuelle in ihrer Sexualität umzupolen, indem man ihnen Schmerzen zufügte und dabei Bilder von Männern zeigte oder aber indem man entspannende Musik spielte und Bilder von Frauen zeigte. Den Patienten wurde auch beispielsweise so lange Flüssigkeit vorenthalten, bis sie heterosexuelle Phantasien entwickelten.71 Die Gesetze für sexuelle Psychopathen wurden insgesamt beinahe ausschließlich für kleinere Sexualvergehen verwendet. Die gefährlichen Sexualstraftäter, die sich an Kindern vergingen, wurden eher mittels anderer Gesetze wie „normale Kriminelle“ abgeurteilt, kamen vielfach nicht in psychiatrische Behandlung, sondern wurden in gewöhnliche Gefängnisse eingewiesen. Nach Ablauf ihrer Haftzeit wurden sie in der Regel entlassen, ohne dass sie sich einer Therapie hatten unterziehen müssen. In Kalifornien etwa wurden Anfang der 1950er Jahre nur 35 % der verurteilten Sexualstraftäter in Psychia­ Eskridge, S. 97, 136–165. 26.6.2003 entschied der „Supreme Court“ im Fall Lawrence v. Texas, dass die zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Gesetze in 14 Bundesstaaten nicht verfassungskonform seien, s. United States Reports. Cases Adjudged in the Supreme Court. 70  In einem 1941 veröffentlichten Bericht einer vom New Yorker Bürgermeister Fiorello LaGuardia eingesetzten Untersuchungskommission zur „Challenge of Sex Offenders“ zeigte sich eine ähnliche Entwicklung schon während der ersten „Sex Crime Panic“ Ende der 1930er Jahre, s. Mayor’s Committee for the Study of Sex Offenses in the City of New York. Report, v. a. S. 11–14. 71  Vgl. Thompson; Eskridge, S. 96. 68  Vgl. 69  Am



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trien eingeliefert, 54 % kamen in Haftanstalten, während 11 % den Jugendämtern übergeben wurden. Betrachtet man hingegen die Hautfarbe der Täter, so wird deutlich, dass weiße Männer, die für sexuelle Handlungen mit Kindern verurteilt wurden, vorwiegend in psychiatrische Anstalten eingewiesen wurden. Schwarze Männer hingegen wurden in der überwiegenden Zahl in Gefängnissen untergebracht oder sogar mit der Todesstrafe bedroht.72 Somit galten weiße Sexualstraftäter eher als behandlungsbedürftig, schwarze hingegen beinahe ausschließlich als gefährliche Gewalttäter. Die „Sex Crime Panic“ führte also insgesamt dazu, dass Homosexualität deutlicher als bisher als nicht akzeptable Form von Sexualität deklariert wurde. Damit wurde Männlichkeit so definiert, dass diese ausschließlich heterosexual bestimmt sei, selbst einvernehmliche homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen wurden nicht toleriert. Zudem trug die „Sex Crime Panic“ dazu bei festzulegen, welche Formen von Sexualität als normal und welche als abartig zu gelten hatten. Noch um die Jahrhundertwende galten jegliche Sexualpraktiken, die nicht ausschließlich der Fortpflanzung dienten, als pervers. In den 1920er Jahren konnte etwa außerehelicher Geschlechtsverkehr mit Gefängnisstrafen belegt werden, auch wenn dies immer seltener der Fall war. Doch selbst 1948 wurden in Boston noch 242 Personen wegen Ehebruchs verhaftet.73 Im Kontext der „Sex Crime Panic“ wurden nunmehr bereits verbreitete sexuelle Verhaltensweisen als gesellschaftlich akzeptabel definiert: vorehelicher bzw. außerehelicher Geschlechtsverkehr oder einvernehmliche heterosexuelle Sexualpraktiken unter Erwachsenen wie Oralverkehr.74 Diese neue Toleranz war eine Folge dessen, dass in der Nachkriegszeit intensiver über zuvor tabuisierte Sexualpraktiken diskutiert wurde. Sexualexperten mussten dabei auf sexuelle Verhaltensweisen eingehen, um sozial erwünschte Praktiken zu benennen und sozial unerwünschte Handlungen zu verdammen. Zugleich wurde während der „Sex Crime Panic“ offener als zuvor die Notwendigkeit betont, Sexual­ erziehung für Kinder in Schulen anzubieten, um diese vor möglichen Sexualstraftätern zu schützen.75 Damit hatte diese Literatur sowie die Medienberichterstattung über die „Sex Crime Panic“ eine ähnliche ungewollte Aufklä72  Vgl. Bowman, Report, S. 13, 28; California Legislative Assembly, Interim Committee on Judicial Systems and Judicial Procress, S. 43–45; vgl. auch Savitz / Lief. 73  Vgl. Jenkins, S. 22. 74  Vgl. Kinsey u. a., Male, S. 339–351. 75  Vgl. z. B. das vom „Committee on Education“ der „Governor’s Study Commission on the Deviated Criminal Sex Offender“ des „State of Michigan“ herausgegebene Citizen’s Handbook of Sexual Abnormalities and the Mental Hygiene, s.  Governor’s Study Commission on the Deviated Criminal Sex Offender. Ähnlich auch Karpman, S. 197.

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rungswirkung wie die Antimasturbationsliteratur des 19. Jahrhunderts.76 Ebenso führte auch die berühmte Kinsey-Studie über das Sexualverhalten der Amerikaner dazu, dass deutlich wurde, dass zwischen dem sexuellen Verhalten der Menschen und den sozialen Normen eine deutliche Lücke klaffte. Es war schlichtweg nicht mehr möglich, einvernehmliche heterosexuelle Verhaltensweisen unter Erwachsenen zu sanktionieren. Nicht ohne Grund wurde verstärkt gefordert, die Strafbarkeit von vorehelichem oder außerehelichem Sex abzuschaffen.77 Daneben wurde eine deutliche Grenze gezogen, um zu definieren, was nicht erlaubt war: Sexuelle Beziehungen mit Minderjährigen einerseits und homosexuelle Praktiken andererseits, selbst wenn diese einvernehmlich und unter Erwachsenen stattfanden. Dies führte im Positiven etwa dazu, dass Kinderprostitution weniger geduldet wurde als bisher und dass Pädophilie nicht mehr als Kavaliersdelikt galt. Hierbei handelte es sich um einen wichtigen Bruch in der amerikanischen Rechtstradition: Seit der britischen Kolonialzeit galt nämlich allein der Missbrauch von Kindern unter zehn Jahren als Verbrechen. Bei älteren Kindern wurde dies als minderes Delikt angesehen. Insgesamt ging es dabei weniger um den Schutz der Kinder als um finanzielle Belange. So war z. B. ein junges Mädchen nach einer Vergewaltigung kaum mehr zu verheiraten. Aus diesem Grunde wurde z. B. in North Carolina ein sexueller Übergriff auf ein Mädchen unter 16 Jahren nur dann als Vergewaltigung gewertet, wenn sie noch Jungfrau war. In West Virginia wiederum galt der Missbrauch an einem Mädchen unter 16 Jahren nur dann als Vergewaltigung, wenn sie für ihren „previous chaste character“ bekannt war.78 Im Gefolge der „Sex Crime Panic“ aber wurde Gewalt gegen Kinder nun mehr als zuvor sozial geächtet. Doch zeigten sich auch weiterhin Kontinuitäten der alten Rechtstradition: Noch 1961 wurde ein 60-jähriger Mann, der sich an einem neunjährigen Mädchen vergangen hatte, von der Vergewaltigung freigesprochen, da das Mädchen zugegeben hatte, zuvor Sex mit einem Teenager gehabt zu haben.79 Die Folge der „Sex Crime Panic“ war aber trotz der sozialen Ächtung der Verbrechen keineswegs eine massive Verfolgung von Sexualstraftätern. Vielmehr befassten sich Polizei und Strafverfolgungsbehörden vor allem mit dem 76  Vgl. z. B. Horowitz, v.  a. S. 401. Sheldon S. Levy kommt zu dem Ergebnis, dass die „Sex Crime Wave“ das bisher tabuisierte Thema Sex zu einem Teil der Medienberichterstattung gemacht hätte, s. Levy, S. 6. 77  Vgl. z. B. Eustace Chesser, der kaum auf abweichende Verhaltensweisen eingeht, sondern sich auf das breite Spektrum der „normalen“ Sexualität stützt, s. Chesser. Vgl. auch eine Studie mit 100 Collegestudenten zur Frage von vorehelichem Sex, s. Ehrmann. 78  Vgl. Eckman; Ploscowe, S. 150. 79  Vgl. Jenkins, S. 26.



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Aufspüren von Homosexuellen, die einvernehmlich unter Erwachsenen sexuelle Beziehungen unterhielten. Damit wird deutlich, dass die „Sex Crime Panic“ zwar vordergründig dem lobenswerten Ziel verpflichtet war, unschuldige Kinder vor Verbrechen zu schützen. In der Praxis aber stand das Wohl der Kinder nicht im Mittelpunkt, ja, es wurde sogar die Haupttätergruppe in den Familien aus ideologischen Motiven heraus geschützt. Die „Sex Crime Panic“ hatte nämlich primär nur wenig mit Gewalt gegen Kinder zu tun: Es ging darum, einer durch Modernisierung, Liberalisierung und Kalten Krieg verunsicherten und in Bewegung geratenen Gesellschaft neue Orientierung zu verschaffen. Doch zeigte sich aber auch eine langfristig positive Wirkung der von der Regierung eingesetzten Untersuchungskommissionen zu Sexualstraftätern. Diese kamen nach Anhörung von Experten letztlich zu dem Schluss, dass von keinem rasanten Anstieg von Sexualverbrechen die Rede sein könne und sich die sexuellen Psychopathen keineswegs zu einer größeren Bedrohung für die Bevölkerung auswachsen würden.80 Langsam konnten sich diese kritischeren Stimmen durchsetzen, sodass Michigan 1968 als erster Bundesstaat die vage Kategorie des „criminal sexual psychopath“ abschaffte, um konkretere Bestimmungen zur Verurteilung von Sexualstraf­tätern zu erlassen.81 V. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Gedruckte Quellen Assembly of the State of California (Hrsg.): Final Report of the Assembly Interim Committee on the Judicial System and Judicial Process, Berkeley 1949. Assembly of the State of California (Hrsg.): Preliminary Report of the Subcommittee on Sex Crimes, Berkeley 1950. Biggs, Earl R.: How to Protect Your Child from the Sex Criminal. Rules and Suggestions for the Protection of Children from Sexual Molestation, Assault and Murder, Madison 1950. Bowman, Karl: California Sexual Deviation Research Report to the Assembly, Sacramento 1953. Bowman, Karl: Review of Sex Legislation and Control of Sex Offenders in the Unit­ ed States of America, in: International Review of Criminal Policy 4 (1953), S. 20–39. 80  So die zumeist übereinstimmenden Schlussfolgerungen der unterschiedlichen Untersuchungsberichte. 81  Vgl. Michigan Compiled Laws, S. 281; vgl. auch Reform of the Federal Criminal Laws, S. 835.

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Autorinnen und Autoren Sace E. Elder, Prof. Dr., ist Professorin für Women’s, Gender and Sexuality Studies an der Eastern Illinois University. Silke Fehlemann, PD Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich 1285 „Invektivität – Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ an der Technischen Universität Dresden. Stefan Grüner, PD Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte und war zuvor Lehrstuhlvertreter u. a. an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Rebecca Heinemann, PD Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pädagogik der Universität Augsburg. Sarina Hoff ist Doktorandin am Arbeitsbereich Neueste Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Stephanie Kirsch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Alte Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dagmar Lieske, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sonja Matter, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neueste Allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Bern. Michael Mayer, Dr., ist wissenschaftlicher Assistent an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Rudolf Oswald, Dr., ist Lehrbeauftragter an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt und Fellow am Institut für Fankultur in Würzburg. Anne Purschwitz, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Markus Raasch, PD Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Christiane Richard-Elsner ist Doktorandin am Lehrstuhl für Geschichte und Gegenwart Alteuropas an der Fernuniversität Hagen. Isabel Richter, Dr., ist Historikerin und war zuletzt am Hennebergischen Museum Kloster Veßra tätig. Frank Sparing, Dr., ist Historiker und Autor mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus.

Personen- und Ortsregister Adorno, Theodor W.  446 Agrippa, Marcus Vipsanius  95 Ägypten  83, 103, Aichinger, Ilse  321, 322 Albrecht, Hans-Jörg  186 Algasing  198, 199 Alpen  202 Altona  415 Amsterdam  341 Andresen, Sabine  408 Anselm von Canterbury  117, 307 Antiochia  83, 103 Apuleius  87 Aretin, Peter Carl Freiherr von  141 Ariès, Philippe  9, 10, 111, 269 Arnold, Klaus  111, 116, Astaire, Fred  473 Athen  92 Atlantic City  459 Atticus  92, 94 Augustinus  88 Auschwitz  418 Ayaß, Wolfgang  406 Baader, Meike Sophia  302 Baden  203 Baden-Württemberg  50, 54, 55, 182 Bad Klosterlausnitz  242, 248 Bad Köstritz  242, 248 Baeyer, Walter Ritter von  343, 344 Ballestrem, Franz Graf von  153, 154 Bange, Dirk  407 Bayern  16, 39, 54, 55, 139, 172, 182, 197, 198, 205 Bayreuth  305 Bedford Hills  462

Beeking, Joseph  205 Benedikt XVI.  137 Bergen-Belsen  404 Bergstraße  175 Berlin  54, 55, 62, 182, 299, 326, 328, 334–336, 338, 341, 376, 380, 381, 384, 390, 391, 393, 408, 415, 421, 423 Berlin-Zehlendorf  376 Biel  445 Binet, Alfred  224, 386, 389 Bismarck, Otto von  142 Bleckmann, Karl-Heinz  227 Bloomer, Martin W.  86, 104, Bode, Sabine  213 Bodenstein, Kaspar  310, 311 Boesch, Hans  111 Böhmen  409 Boise  461 Bonhoeffer, Karl  334 Bonn  16, 17, 214, 217–221, 223, 224, 226, 228, 229, 231–235, 393 Bonner, Stanley  83, 85 Booth, Alan  103 Bordeaux  83, 103 Bornemann, Ernest  446 Bosse, Robert Julius  300 Bossert, Otto  227 Boston  475 Bowman, Karl  470 Bracken, Helmut von  43 Brauweiler  205 Bremen  54, 182 Breslau  142, 335, 384 Breuer, Josef  330 Brisbois, Glenda  457



Personen- und Ortsregister485

Buchberger, Michael  197 Burlingham, Dorothy  340 Butzbach, Johannes  120–122, 130 Bützow  403

Duensing, Frieda  308, 309, 312 Dülmen, Richard van  284 Dupanloup, Félix  156 Düsseldorf  213, 214, 224, 470

Calagurris  99 Campe, Johann Heinrich  37 Casper, Johann Ludwig  374, 382 Castell, Rolf  215 Catilina, Lucius Sergius  89 Cato der Ältere  90, 100 Cattell, James McKeen  467 Celle  203 Charcot, Jean-Martin  327, 329, 330 Chemnitz  120, 123, 130, 376 Chesser, Eustace  476 Christes, Johannes  99, 103 Cicero  92, 94, 95, 99, 127 Cleckley, Hervey M.  468 Connecticut  458 Cretzschwitz  242, 248

Eghigian, Greg  407 Elder, Sace E.  18, 40 Engfer, Anette  60 Ennius  88 Epikur  156 Epirota, Quintus Caecilius  94, 95, 97, 98 Erding  198 Erfurt  253 Erichsen, John  326 Erikson, Erik H.  344 Essen  223 Eßer, Florian  302 Ettal  62 Europa  37, 55, 56, 116, 214, 307, 321, 323, 337, 375, 381, 432

Daluege, Kurt  409, 411 Dänemark  53 Darmstadt  49, 177 Davis, Katharine Bementt  462 deMause, Lloyd  9, 10, 379 Demetz, Frédéric-Auguste  55 Denno, Deborah  461 Dette, Christoph  118 Deutschland  7–9, 11, 13, 19, 20, 32, 33, 37, 39–42, 44, 45, 47, 49, 51–58, 60, 62–64, 109, 116, 171, 202, 203, 205, 208, 218, 227, 301, 313, 328, 329, 333, 334, 336, 337, 341, 342, 348–350, 353, 354, 373, 376, 381, 386, 387, 389, 407, 423, 444, 445 Deutschländer, Gerrit  118 Dickinson, Robert Latou  463 Donauwörth  201 Döring, Max  380, 381, 388 Dreibergen-Bützow  403 Dresden  376

Fangerau, Heiner  215 Faulhaber, Michael Kardinal von  198 Fehlemann, Silke  16 Fejes, Fred  461 Fendt, Franz  54 Ferenczi, Sándor  62, 332, 338, 339, 353, 442 Feuerbach, Paul Johann Anselm von  307, 308 Finger, August  309 Finnland  53, 339 Flaccus, Marcus Verrius  88–92, 95–98, 102, 103 Flecken, Margarete  160 Fleischer, Dorothee  280 Foerster, Eckart  227 Foerster, Friedrich Wilhelm  42 Francke, August Hermann  34–36 Frank, Reinhard  304 Frankreich  33, 51, 55, 56, 111, 323, 332–334, 339

486

Personen- und Ortsregister

Freedman, Estelle B.  461 Freiburg im Breisgau  142, 205, 206 Freising  196, 197, 202, 206, 209 Fresno  457 Freud, Anna  227, 234, 338, 340, 341, 344 Freud, Sigmund  60, 330–332, 339, 353, 442, 446, 462, 469 Friedemann, Adolf  445 Friedländer, Hugo  381 Friedman, Lawrence  301 Friedrichswerth  242, 248 Frings, Bernhard  195, 215, 233 Fröhlich, Cyprian  201 Fromm, Erich  44 Fürstenberg, Franz Theodor von  140 Gallitzin, Amalie von  154 Galtung, Johan  215 Gass-Bolm, Torsten  170, 186 Gebesee  242, 258, 259 Gebhardt, Miriam  314 Gera  259, 262 Gerchow, J.  444 Glaucha  34 Glucoft, Linda Joyce  457, 464 Göbel, Andreas  302 Göllnitz, Gerhard  227 Göttingen  45, 277, 383 Groningen  120 Großbritannien  33, 55–57, 111, 333, 334, 339, 376, 389 Grüner, Stefan  13, 19, 62 Grünhut, Max  393 Guibert von Nogent  110, 120, 121, 130 Günzburg  198 Gürtner, Franz  413 Haarer, Johanna  45–47, 314 Haarmann, Fritz  414 Hafeneger, Benno  302 Häfner, Heinz  343, 344 Halle  34

Hamburg  54, 59, 182, 376, 405, 407, 415, 416, 421, 446 Hanau  176 Hanawalt, Barbara  113, 116 Hannemann, Martin  243 Hauptmann, Walter  446, 447 Hauser, Josef  41 Hauser, Kaspar  307, 308 Heidelberg  311, 343, 343 Heindl, Robert  411 Heinemann, Rebecca  20, 31, 61 Hellmer, Joachim  406 Henkelmann, Andreas  215, 233 Hennerfeind, Alois  208 Hergt, Oskar  311 Hering, Marie Julie Emilie  273 Hermsdorf  252 Herzog, Dagmar  422 Hessen  15, 16, 54, 169–171, 173, 177, 182, 185 Hetzer, Hildegard  376 Himmler, Heinrich  409, 413 Hirscher, Johann Baptist von  200, 201, 206 Hirschfeld, Magnus  380, 392, 422, 462, 463 Hoff, Sarina  15, 16, 55 Hoffmann, Julius  243 Hommen, Tanja  394, 434 Höngeda  242 Hoover, J. Edgar  464–466 Hörath, Julia  407 Horaz  87, 91–93, 96, 103 Hörselgau  242 Hortena  124, 125 Horton, Everett  473 Höß, Rudolf  428 Hummelshain  242, 244, 248 Hundhammer, Alois  54 Idaho  457 Illinois  299 Indiana  465 Ingolstadt  123



Personen- und Ortsregister487

Isidor von Sevilla  112 Israel  342, 345 Italien  91, 111, 333 Itin, Raissa-Rosa  311 Iuvenal  93, 98 Jackson, Louise  434 Jahn, Albrecht  285 Jahn, Ute  244 James, William  310 Janet, Pierre  329, 332, 339, 353 Jarzebowski, Claudia  287, 379 Jolly, Friedrich  328, 329 Jörns, Gerhard  244 Kahn, Eugen  462 Kalifornien  457–459, 463–465, 473 Kamp-Lintfort  220 Kaniak, Gustav  436 Karl der Große  119 Karlsruhe  444 Karpman, Benjamin  468 Karthago  83, 103 Kassel  171 Keilson, Hans  7, 341, 344, 345 Kempe, C. Henry  58 Kerchner, Brigitte  388, 407, 408, 434 Kern, Carl Friedrich  291 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von  154–156, 158 Key, Ellen  40, 41 Khan, Masud  344 Kiefer, Kathrin  22 Kiefer, Otto  41 Kinsey, Alfred C.  445, 446, 467, 468, 476 Kirsch, Stephanie  14, 31 Kisker, Karl Peter  343, 344 Kißener, Michael  22 Kleßmann, Christoph  214, 221 Klimmer, Rudolf  393 Kluckhohn, Clyde  187 Koblenz  171, 172, 183, 185

Koch, Claus  424 Koch, Julius  223 Köchl, Sylvia  407 Köln  205, 229, 406 Kölsch, Lucie  183 Königsberg  380 Kraepelin, Emil  462 Krafft-Ebing, Richard von  374, 462, 463 Krausz, Daniel  244 Krefeld  206 Kreuzburg  409 Kroatien  53 Kronfeld, Arthur  334 Küper, Wilfried  300, 313 Kursachsen  18 Kürten, Peter  470 Laes, Christian  85, 98, 103 LaGuardia, Fiorello  474 Landau-Queichheim  198 Landsberg-Velen zu Steinfurt, Ignatz Freiherr von  142 Lang, Fritz  470 Langer, Helmut  271 Lansing  459 Lariscus  124 Lassen, Hans-Christian  407 Legras, Bernard  103 Leipzig  123, 125, 376 Leppmann, Fritz  380 Lettland  53 Levy, Sheldon S.  457, 466, 476 Lhotzky, Heinrich  42 Lieske, Dagmar  20, 21, 434 Lifton, Robert J.  347 Limburg  148 Lindbergh, Charles  465 Lindenberger, Thomas  292 Livius Andronicus  88 Locke, John  34 Loetz, Francisca  278 Lohheide  404

488

Personen- und Ortsregister

London  234, 338, 340 Los Angeles  457 Löwenstein, Karl Heinrich Fürst zu  153 Löwenstein, Otto  219 Lucilius  93 Lüdtke, Alf  292 Lützow, Kurt Lüder Freiherr von  392 Mader, Friedrich Wilhelm  42 Mähren  409 Mainz  154, 171, 349, 389 Makarenko, Anton S.  241, 245–247, 250 Mallinckrodt, Hermann von  141 Mallinckrodt, Pauline von  223, 228 Mannschatz, Eberhard  247 Marbe, Karl  387 Marcuse, Max  384 Marrou, Henri-Irénée  85, 86 Marsus, Domitius  96 Marsyas von Celaenae  97 Martial  14, 92–95, 97, 103 Marx, Karl  250 Massachusetts  463 Matter, Sonja  21, 384 Maurice, Lisa  85, 103, 104 Mayer, Michael  21, 22 Mecklenburg-Schwerin  169 Mecklenburg-Vorpommern  403 Melden  376 Mende, Ludwig Julius Caspar  382 Meyer, Charlotte  393 Michelsen, Danny  407 Michigan  475, 477 Mildenberger, Florian  422 Miltenberg  121 Mittermaier, Wolfgang  379, 381 Möhle, Sylvia  277 Moll, Albert  381, 385, 392 Mönkemöller, Otto  392 Montabaur  171 Moses, Julius  383, 393

Mulert, Magdalene  312, 313 Müller, Johannes  197 Müller, Philipp  242, 248 Müller, Richard  226 Müller-Heß, Victor  390 Müller-Luckmann, Elisabeth  444, 449 Münch, Paul  275 München  16, 62, 141, 196, 197, 199–202, 206, 208, 209 Münster  142, 389 Münsterberg, Hugo  386 Mutters, Tom  226 Myers, Tamara  434 Nau, Elisabeth  59, 376, 390 Nayhauß-Cormons, Graf Julius Cäsar von  142 Nebraska  463 Nero  83, 93 New Jersey  459, 464 New York  55, 342, 347, 434, 457, 458, 462, 463, 465, 466, 473, 474 Newark  459 Niavis, Paulus  15, 110, 111, 120, 122–126, 128–132 Niederbayern  141 Niederland, William G.  342, 344 Niederlande  55, 57, 115, 120, 226, 341, 344, 389 Niederösterreich  434, 437 Niedersachsen  54, 55, 182, 203 Noack, Bernd  244 Nolde, Adolf Friedrich  38, 39 Nordamerika  55, 337, 342, 346, 347, 350 Nordrhein-Westfalen  54, 55, 183 North Carolina  476 Norwegen  53 Nürnberg  119, 120, 307, 308 Oberschlesien  139, 409 Odem, Mary H.  434 Oestreich, Paul  42 Olshausen, Justus von  304



Personen- und Ortsregister489

Oppenheim, Hermann  326, 327, 334, 344, 348, 353 Orbilius (Lucius Orbilius Pupillus)  87, 95–98, 103 Österreich  21, 43, 51, 53, 334, 381, 431–437, 444, 446, 450, 451 Österreich-Ungarn  333 Oswald, Rudolf  16 Pädagogos (Pseudonym)  299, 300 Palaemon, Quintus Remmius  95, 97 Paris  58, 85, 116, 327, 329, 330, 374 Penig  279 Persius  93 Pestalozzi, Johann Heinrich  37, 293 Peters, Karl Gustav  205 Pfalz  176, 198, 203 Philadelphia  473 Philipp von Harvengt  129 Piaget, Jean  344 Pirna  416, 417 Pius X.  201 Placzek, Siegfried  390, 392 Plaut, Paul  390, 392, 394 Plautus  104 Plinius d. Jüngere  87 Ploscowe, Morris  465 Plutarch  88, 90, 102 Pollock, Linda A.  160 Praeneste  89 Prag  409 Preußen  39, 53, 54, 141, 142, 160, 203, 312, 410, 411 Preyer, William Thierry  309 Probus, Marcus Valerius  97 Purschwitz, Anne  18 Quintilian  14, 83, 84, 86, 87, 93, 94, 99–104, 117 Raasch, Markus  15, 39 Radebold, Hartmut  213 Ravensbrück  404

Regensburg  197 Reich, Wilhelm  446 Rheinland  16, 139, 213–218, 228, 229 Rheinland-Pfalz  15, 16, 55, 169–171, 176, 180, 182, 185, 186 Rhein-Ruhr-Region  223 Richard-Elsner, Christiane  14, 31 Richter, Isabel  17 Rittler, Theodor  442 Robertson, Stephen  434, 440 Rockefeller, John D.  462 Rodenfels, H.  419 Rogers, Ginger  473 Rolling Stones  59 Rom  14, 83, 85–94, 97–100, 102, 104, 117, 132, 151 Römhild  242, 251, 259 Ronestus  124, 125 Rorst, Johann Daniel  285 Rostock  38, 403, 404, 419 Roth, Thomas  406, 411 Rousseau, Jean-Jacques  36, 137 Rublack, Hans-Christoph  277 Rücker, Sandy  130 Rühle, Otto  43 Russland  333 Saarland  54 Sachse, Christian  243 Sachsen  6, 18, 20, 54, 169, 269–271, 273, 276–279, 281–284, 288, 289, 293, 308, 394 Sachsen, August von  273 Sachsenhausen  406, 416–418 Sagan  221 Salomo  117 Salzburg  446 Sauer, Johann Wilhelm  287 Savigny, Karl Friedrich von  142 Scarry, Elaine  303 Scheuen  203, 204, 208 Schlesien  139 Schleswig-Holstein  54, 55, 182, 203

490

Personen- und Ortsregister

Schmidt, Richard  308 Schmitz, Hans Aloys  219 Schmuhl, Hans Walter  215, 233 Schneevogel, Paul  123 Schneider, Kurt  342 Scholz, Peter  98 Schorsch, Eberhard  446 Schramm, Franz  173, 174 Schreiber, Adele  376, 380 Schumann, Dirk  170, 179, 186 Schweden  40, 41, 51, 53, 197, 226 Schweiz  351, 444 Seidenstücker, Bernd  243 Seneca  83, 84, 104, 156 Sengbusch, Dietrich  243 Shahar, Shulamith  111 Shatan, Chaim  347 Shorter, Edward  284 Siegburg-Wolsdorf  223, 228 Skoda, Hannah  116 Socrates  83, 103 Sömmerda  242, 251 Spanien  51, 99 Sparing, Frank  16 Speyer  180 Spitz, René A.  57, 58, 344 Spurius, Carvillus  88 Stadtroda  248, 252 St. Augustine  83, 103 Stearns, Peter  314 Steedman, Carolyn  307 Stein, Erwin  173, 174 Stern, Clara  309, 336 Stern, William  42, 61, 309, 335–337, 381, 386–389, 393–395 Sternberg, August  381 Sternweiler, Andreas  418 Stolberg  223 Stolberger, Heinrich  130 Storndorf  176 St. Pölten  21, 434–437, 439, 441–444, 447, 448, 450, 451

Straßburg  328 Stroble, Fred  457 Stutte, Hermann  225 Stuttgart  225 Südbayern  16, 197 Süddeutschland  142, 197, 202 Südwestdeutschland  139 Sueton  14, 88, 89, 92–99 Surgellus  124, 125 Suringar, William H.  55 Süsterhenn, Adolf  172 Tardieu, Auguste Ambroise  58, 374 Terhorst, Karl-Leo  406, 412 Thälmann, Ernst  249 Thierack, Otto von  413 Thüringen  17, 54, 169, 241–244, 250, 253 Tiberius  89 Tinibal  125 Torgau  250, 257, 259 Trier  171, 172, 183, 185 Trube-Becker, Elisabeth  60 Tusculum  94 Tutzing  13, 22 Ulbricht, Walter  245, 249, 250 Undeutsch, Udo  388 Unteritalien  91 Unterwellenborn  252 Ursberg  198, 200, 201 USA  8, 21, 22, 31, 33, 55–58, 60–62, 64, 137, 160, 171, 173, 310, 314, 321, 323, 333, 337–339, 345, 347, 348, 350, 351, 375, 376, 386, 389, 407, 434, 445, 457, 460–472, 474, 476 Venusia  91 Venzlaff, Ulrich  344 Vermont  463 Vietnam  260, 321, 322, 346, 347 Villinger, Werner  225, 226 Vogel, Bernhard  180–182, 184



Personen- und Ortsregister491

Vogel, Rahel Marie  244 Vössing, Konrad  86, 91, 94, 95, 97 Wagner, Patrick  406 Wagner, Sylvia  215 Wallis, Hedwig  449 Walter, Franz  445 Washington, D.C.  468 Weeber, Karl-Wilhelm  98 Weiß, Hilde  44 Welzer, Harald  213 Werle, Gerhard  406 Werthauer, Johannes  380 West-Berlin  54 Westdeutschland  32, 49, 53, 54, 56, 59, 169, 213, 341–343, 350–352 Westeuropa  131, 342 Westfalen  139, 141 West Virginia  476 Wherry, Kenneth  464 Whitman, Howard  458

Wichern, Johann Hinrich  55 Wien  56, 330, 338, 447, 448 Wiesbaden  171 Wilhelm I.  142 Wilhelm II.  303, 395 Williams, Eugene D.  468 Williams, G. Mennen  459 Winkler, Ulrike  215, 233 Wolfersdorf  242, 244, 248, 249, 252–258, 260–262 Wulffen, Erich  311, 314, 380, 381 Württemberg  54 Wyoming  465 Yverdon  37 Zahra, Tara  214 Zenz, Gisela  60 Zimmermann, Verena  243, 244 Zürich  278, 293 Zweibrücken  184