Zonen der Begrenzung: Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne [1. Aufl.] 9783839420447

Die Begriffe »Grenze« bzw. »Grenzraum« verweisen auf vielfältige Bedeutungsebenen. Dieser Band rückt das Spannungsfeld v

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Zonen der Begrenzung: Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne [1. Aufl.]
 9783839420447

Table of contents :
Inhalt
Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne
Writing the History of Cultural Borderlands in Habsburg Central Europe
BE/ENTGRENZTE RÄUME
Grenzen der Bewegungsfreiheit. Die Diskussion um Quarantänen am Beispiel des Osmanischen Reichs und Bulgariens vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu den Balkankriegen (1912/13)
„System an seiner Grenze“ oder Zufall? Österreich-Ungarn als Besatzungsmacht in Rumänien 1916/18
Sie kamen als „enemy aliens“. Kanadas verschlossene Grenzen für jüdische Flüchtlinge
INKLUSION – EXKLUSION – TRANSGRESSION
Überlegungen zu Juden in der allgemeinen Populärkultur
Geteilte Erinnerung? Der Bund jüdischer Frontsoldaten
Freimaurerei oder Das Konzept eines guten Lebens
About The Almost Unlimited Possibilities Of Working With Oral Sources
Landkarten der Territorien des Selbst. Selbstzeugnis und weibliche Identität am Beispiel der Briefe Goldy Parin-Matthèys
Mauer oder Trauer. Ost-West-Grenzmarkierungen im Gedächtnisdiskurs am Beispiel eines Denkmalwechselspiels in Graz und Ljubljana um 1960
Lokal – transnational – europäisch. Gedächtnis im postnationalen Zeitalter
BEGRENZTE ZUGEHÖRIGKEITEN
Mask/Unmask. Überschreitungen von Grenzen rassifizierter Zugehörigkeiten in zwei Erzählungen über Rom_nija
Orientalismus und Nationalismus. Abgrenzungskonzepte in der späten Habsburgermonarchie und in der Republik Österreich
„Grenzdurchschnittene Erinnerungen“ Selbstverortung ethnischer Gruppen in Grenzregionen Südostmitteleuropas
Das (verlorene) Haus an der Grenze. Kulturelle Grenzziehungen und Selbstpositionierungen bei Edith Gräfin Salburg
GRENZSETZUNGEN UND HANDLUNGSSPIELRÄUME
Mechanismen der Gewaltentgrenzung. Analysen von Tätergruppen und Dimensionen von Täterschaft der sogenannten NS-Fliegerlynchjustiz am Beispiel von Graz
„Dieses illegale Schwärzen von Menschen über die Grenze ins Ausland war eben kein Ausflug, keine Ferienreise …“ Der „Judenschlepper“ Josef Schleich – (k)ein Gerechter!?
„Ich bin also ein Opfer des Nationalsozialismus.“ Ein „jüdischer“ Kreisamtsleiter und seine Versuche, die vom NS-System gesetzten Grenzen zu überwinden
Grenzen und Durchlässigkeiten im Hochschulwesen
Autorinnen und Autoren

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Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer (Hg.) Zonen der Begrenzung

Edition Kulturwissenschaft | Band 18

Für Eduard G. Staudinger

Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer (Hg.)

Zonen der Begrenzung Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne

Gedruckt mit Unterstützung von Land Steiermark, Abteilung 3: Wissenschaft und Forschung, Universität Graz und dem Alfred Schachner Gedächtnisfonds

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2044-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer | 9

Writing the History of Cultural Borderlands in Habsburg Central Europe Pieter M. Judson | 17

B E /E NTGRENZTE R ÄUME Grenzen der Bewegungsfreiheit. Die Diskussion um Quarantänen am Beispiel des Osmanischen Reichs und Bulgariens vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu den Balkankriegen (1912/13) Christian Promitzer | 35

„System an seiner Grenze“ oder Zufall? Österreich-Ungarn als Besatzungsmacht in Rumänien 1916/18 Harald Heppner | 51

Sie kamen als „enemy aliens“. Kanadas verschlossene Grenzen für jüdische Flüchtlinge Andrea Strutz | 59

I NKLUSION – E XKLUSION – T RANSGRESSION Überlegungen zu Juden in der allgemeinen Populärkultur Klaus Hödl | 75

Geteilte Erinnerung? Der Bund jüdischer Frontsoldaten Gerald Lamprecht | 87

Freimaurerei oder Das Konzept eines guten Lebens Dieter A. Binder | 105

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About The Almost Unlimited Possibilities Of Working With Oral Sources Karin M. Schmidlechner | 115

Landkarten der Territorien des Selbst. Selbstzeugnis und weibliche Identität am Beispiel der Briefe Goldy Parin-Matthèys Ute Sonnleitner | 129

Mauer oder Trauer. Ost-West-Grenzmarkierungen im Gedächtnisdiskurs am Beispiel eines Denkmalwechselspiels in Graz und Ljubljana um 1960 Monika Stromberger | 141

Lokal – transnational – europäisch. Gedächtnis im postnationalen Zeitalter Heidemarie Uhl | 157

B EGRENZTE Z UGEHÖRIGKEITEN Mask/Unmask. Überschreitungen von Grenzen rassifizierter Zugehörigkeiten in zwei Erzählungen über Rom_nija Stefan Benedik | 173

Orientalismus und Nationalismus. Abgrenzungskonzepte in der späten Habsburgermonarchie und in der Republik Österreich Johannes Feichtinger | 187

„Grenzdurchschnittene Erinnerungen“. Selbstverortung ethnischer Gruppen in Grenzregionen Südostmitteleuropas Klaus-Jürgen Hermanik | 203

Das (verlorene) Haus an der Grenze. Kulturelle Grenzziehungen und Selbstpositionierungen bei Edith Gräfin Salburg Heidrun Zettelbauer | 217

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G RENZSETZUNGEN

UND

H ANDLUNGSSPIELRÄUME

Mechanismen der Gewaltentgrenzung. Analysen von Tätergruppen und Dimensionen von Täterschaft der sogenannten NS-Fliegerlynchjustiz am Beispiel von Graz Nicole-Melanie Goll/Georg Hoffmann | 237

„Dieses illegale Schwärzen von Menschen über die Grenze ins Ausland war eben kein Ausflug, keine Ferienreise …“ Der „Judenschlepper“ Josef Schleich – (k)ein Gerechter!? Heimo Halbrainer | 251

„Ich bin also ein Opfer des Nationalsozialismus.“ Ein „jüdischer“ Kreisamtsleiter und seine Versuche, die vom NS-System gesetzten Grenzen zu überwinden Ursula Mindler | 269

Grenzen und Durchlässigkeiten im Hochschulwesen Helmut Konrad | 287

Autorinnen und Autoren | 295

Zonen der Begrenzung Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer

„Die Grenze ist etwas Zwiefaches und Doppeldeutiges: bisweilen ist sie eine Brücke, um dem anderen entgegenzugehen, bisweilen eine Schranke, um ihn zurückzustoßen. Oft entspringt sie dem Wahn, jemanden oder etwas auf die andere Seite verweisen zu wollen, die Literatur ist unter anderem auch eine Reise auf der Suche nach Entzauberung dieses Mythos der anderen Seite, der Versuch, zu verstehen, daß jeder bald hier und bald dort steht – daß Jedermann, wie in einem mittelalterlichen Mysterienspiel der andere ist.“1

In seinen Grenzbetrachtungen thematisiert der Schriftsteller und Wissenschaftler Claudio Magris, wie sehr sein Leben durch die „Erfahrung der Grenze“ strukturiert ist. Magris wuchs in den 1940er Jahren in Triest/Trieste/Trst auf, einer Stadt, in der „man die Zweideutigkeit der Grenze, ihre positiven und negativen Aspekte […], die offenen oder geschlossenen, starren oder beweglichen, unzeitgemäßen oder niedergerissenen, schutzbietenden oder zerstörerischen Grenzen“ besonders nachhaltig erleben konnte. Im mehrsprachigen und pluri-kulturellen Kontext Triests führte dies, so Magris, häufig „zu einem Gefühl der Unsicherheit, der Nichtzugehörigkeit und des Fremdseins, zu dem widersprüchlichen Gefühl, zugleich im Zentrum und an der Peripherie zu leben“.2 Für Magris liegt gerade in der bewussten Auseinandersetzung mit der Ambivalenz und 1 | Claudio Magris, Auf der anderen Seite. Grenzbetrachtungen, in: Ders., Utopie und Entzauberung. Geschichten, Hoffnungen und Illusionen der Moderne, München 2002, 61. 2 | Ebda., 64.

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Vielschichtigkeit von Grenzziehungen, mit der Gleichzeitigkeit verschiedener Dimensionen von Grenze an einem Ort, mit der doppelten Qualität von Grenze als „Brücke oder Schranke“3 ein zentrales Potential, denn die Grenze „bringt den Dialog in Gang oder unterdrückt ihn“.4 In seinen Grenzbetrachtungen thematisiert er zugleich ein zentrales konstitutives Moment moderner Sinnstiftung und Identitätsbildung, die immer auf Ab- und Ausgrenzung eines ‚Eigenen‘ von einem ‚Anderen‘ fußt: „Jede Abgrenzung hat mit Unsicherheit zu tun und mit dem Bedürfnis nach Sicherheit. Die Grenze ist eine Notwendigkeit, denn ohne sie, oder besser ohne begrenzende Unterscheidung, gibt es keine Identität, keine Form, keine Individualität, ja nicht einmal eine reale Existenz, denn sie würde vom Gestalt- und Unterschiedslosen verschlungen. Die Grenze bedeutet Wirklichkeit, verleiht Umrisse und Gestalt, bestimmt die Besonderheit der Einzelperson wie des Kollektivs, der Existenz wie der Kultur.“5

Anknüpfend an den von Magris skizzierten breiten Grenzbegriff wird auch im Folgenden davon ausgegangen, dass „Grenze“ bzw. „Grenzraum“ auf vielfältige Bedeutungsebenen verweist. Meint der Begriff im engeren Sinn politische, nationale oder geographische Trennlinien, so rückt er weiter gefasst zugleich soziale, ökonomische, kulturelle, gesellschaftliche und identitäre Grenzziehungen und Begrenzungen ins Blickfeld. Löst er einerseits Assoziationen von Eindeutigkeit, Klarheit und Ordnung aus, so verweist er implizit immer auch auf Orte des Überganges, der Transgression, auf Un- und Unterordnungen, Peripherien, Zwischenräume und -zonen. In gewissem Sinn definieren erst Grenzzonen, Peripherien, Zwischen- und Übergangszonen ein wie auch immer geartetes ‚Zentrum‘. Hier werden die Verwerfungen scheinbar holistischer Konzeptionen von personaler wie kollektiver Identität sichtbar, zugleich sind Grenzzonen immer Räume der Transgression, des Übergangs und der Liminalität. Spätestens seit der kulturwissenschaftlichen Wende und im Zuge des spatial turn ist der Grenzbegriff unter geänderten Gesichtspunkten (erneut) ins Interesse der geisteswissenschaftlich-historischen Forschung gerückt.6 Die Auflösung der die Nachkriegszeit prägenden räumlich-politischen Ost-West-Blockbildung, das Ende des Kalten Krieges, der Prozess der Osterweitung im Rahmen der Europäischen Union (EU), die Öffnung innereuropäischer Grenzen durch das Schengen-Abkommen und die damit einhergehende intensivierte Abschottung des EU-Raumes ‚nach außen‘, die globale Expansion von Kapital- und Arbeitsmärkten sowie die neuen räumlich-politischen Verflechtungen der „westlichen Welt“ mit „Ländern des Südens“ – all diese Phänomene und Prozesse haben im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht nur „alte“ territoriale wie kulturelle 3 | Ebda., 63. 4 | Ebda., 62-63. 5 | Ebda., 71. 6 | Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (= rowohlts enzyklopädie 55675), Reinbek bei Hamburg 2006, 284-328.

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Grenzziehungen obsolet werden lassen, sondern zugleich neue Grenzziehungen, neue „räumliche Disparitäten, Raumansprüche und Abgrenzungen“7 hervorgebracht. Doris Bachmann-Medick konstatiert in dem Zusammenhang mit Stephano Boeri vor dem Hintergrund von gegenwärtigen Prozessen der Enträumlichung und Entortung in der Spätmoderne gerade eine Rückkehr des Raumes: „Any careful study of our surroundings indeed reveals a multiplicity of borders, walls, fences, thresholds, signposted areas, security systems and checkpoints, virtual frontiers, specialized zones, protected areas, and areas under control.“8 ‚Raum‘ meint damit vor allem auch die „soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeuten“.9 Entsprechend geht es in aktuellen historischen Analysen, die sich in der Theoriebildung des spatial turn positionieren, sowohl um die Politisierung/Entpolitisierung, Naturalisierung wie Symbolisierung von Raum im weitesten Sinn bzw. mit Henri Lefebvre um die soziale Konstituierung des Räumlichen sowie um die Bedeutung des Räumlichen bei der Herstellung sozialer Beziehungen.10 Erst der Blick auf Grenz- und Übergangszonen lässt (häufig implizite) Strukturen kultureller Identitäten und gesellschaftlicher Ordnungen sichtbar werden. Dies betrifft alle Bereiche der Gesellschaft und Kultur, Politik, Ökonomie, Kommunikation, Migration und daran geknüpfte je spezifische Identitätslagen, wobei sich die jeweiligen Diskurse, Kontexte und Praktiken wechselweise durchdringen. Mit dem Begriff des Raumes kommt unweigerlich auch der Begriff der „Grenze“ ins Blickfeld. Interdisziplinäre Zugänge wie jene der Border Studies11 betrachten „Grenzen“ dabei vor allem als Konventionen, Gebräuche und kulturelle Vorstellungen und rücken Grenzziehungen als soziale Praktiken des Handelns und der Herrschaft, Besitznahme und Exklusion/Inklusion ins Blickfeld. Der Fokus liegt dabei nicht auf Grenzen als widerspruchsfreie, eindeutige und klar zugeordnete Kategorien menschlicher Ordnung, sondern – wie etwa Benjamin Davy formuliert hat – gerade auch auf der Frage von mangelnder Übereinstimmung von Raum- und Grenzkonzeptionen.12 Vor diesem Hintergrund rückt der vorliegende Sammelband dabei gerade Spannungsfelder von einerseits klar definierten Raum- und Grenzkonzepten sowie andererseits brüchigen, fragmentierten und widersprüchlichen sozialen Praktiken ins Blickfeld und fokussiert zugleich auf Konflikte, Reibungsflächen und Übergangszonen in Grenzbereichen. Ziel

7 | Ebda., 287. 8 | Ebda., Zitat 287, auch 288. 9 | Ebda., 289. 10 | Ebda., Zitat 289, 291. Zu den konkreten theoretischen Ansatzpunkten, auf die im Rahmen des spatial turn rekurriert wird, vgl. 292-302. 11 | Vgl. dazu etwa das Mission Statement des Centre for Border Studies an der University of Glamorgan. [border.research.glam.ac.uk/, 5.11.2011]. 12 | Vgl. Benjamin Davy, Borders Studies [www.ruhr-2030.de/grenzen/inhalt_grenzen.htm, 30.5.2011]. – Ders., Wilde Grenzen. Die Städteregion Ruhr 2030 als Möglichkeitsraum, in: Informationen zur Raumentwicklung (2002) 9, 530-531.

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ist es, von den skizzierten theoretischen Ansatzpunkten ausgehend, Fragen von Raumund Grenzkonzepten in exemplarischen Fallstudien auf Mikroebene kritisch zu analysieren. Dabei werden Themenfelder fokussiert, die aus einer historischen Perspektive in der Moderne relevant scheinen: mehrsprachige und pluri-kulturelle Grenzregionen und -zonen, Migrationen, Geschlechterverhältnisse, nationale, religiöse Identitäten, wie auch (nationale/transnationale) Erinnerungskulturen. Gewissermaßen paradigmatisch für das Anliegen des Bandes steht daher als Auftakt Pieter M. Judsons Beitrag Writing the History of Cultural Borderlands in Habsburg Central Europe. Indem er zeigt, dass nationalisierte Sprechweisen über Sprachgrenzen keine sozialen Praktiken abbilden, sondern überhaupt erst herstellen bzw. unter größten Mühen von NationalistInnen versucht wurde, die propagierten Konzepte „Wirklichkeit“ werden zu lassen, plädiert Judson dafür, diskursiv hergestellte Grenzsetzungen – insbesondere so vermeintlich stabile Kategorien wie national-sprachliche Grenzen – im Forschungsprozess nicht zu verlängern, sondern diese gerade mit einer transnationalen Sicht auf Zentraleuropa in der Moderne zu konterkarieren. Sein Plädoyer findet in vielen der nachfolgenden Beiträge des Sammelbands Anwendung, wobei diese zugleich die breite Ausdifferenzierung aktueller (zeit)historisch-kulturgeschichtlicher bzw. -kulturwissenschaftlich orientierter Arbeiten zur Thematik dokumentieren. Dabei werden vor allem vier Dimensionen von Grenzziehungen im Rahmen empirischer Fallstudien vertieft: ein erster Teil Be/Entgrenzte Räume nimmt staatlich-nationale Grenzen in den Fokus und deren gewollte/ungewollte Überschreitung: als Beispiele dienen einerseits Krankheitsepidemien bzw. medizinisch-wissenschaftliche Diskurse über entsprechende Gegenmaßnahmen wie Quarantänen, des Weiteren und vor dem Hintergrund systemtheoretischer Überlegungen der Zerfall des Habsburgerreiches im Spiegel von Repräsentanten der österreich-ungarischen Besatzungsmacht in Rumänien zwischen 1916 und 1918 und schließlich die strukturellen Rahmenbedingungen und individuellen Reflexionen von jüdischen Flüchtlingen, die auf der Flucht vor dem NS-Regime (mitunter auf Umwegen) in Kanada landeten. Der zweite Abschnitt des Buches Inklusion – Exklusion – Transgression spannt einen inhaltlichen Bogen von Juden/Jüdinnen in der Populärkultur, jüdischen Veteranen im Bund jüdischer Frontsoldaten, über Konzepte eines „guten Lebens“ in Kontexten der Freimaurerei, über Geschlecht als Analysekategorie in Ego-Dokumenten – in theoretisch-methodischer Hinsicht, sowie als Beitrag zur Biographie-Forschung – bis hin zu Fragen nationaler/transnationaler Gedächtnislandschaften in Österreich, Slowenien sowie in Europa. Alle Beiträge in diesem Abschnitt sind eingebettet in die Frage von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen in einem weiten Sinn, verstanden als grundlegendes Strukturmuster kultureller Repräsentationen in der Moderne. Der dritte Teil des vorliegenden Sammelbandes rückt wiederum Begrenzte Zugehörigkeiten im Rahmen nationalisierter, rassifizierter und vergeschlechtlichter Kontexte ins Blickfeld. Thematisiert werden verschiedene Ausformungen von diskursiven Ab- und Ausgrenzungskonzepten einerseits sowie Selbstverortungen und Selbstpositionierungen von sozialen Gruppen sowie Individuen andererseits. Alle vier Beiträge in diesem Abschnitt zeigen – am Beispiel von Erzählungen über

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Rom_nija, im Rahmen von wissenschaftlichen Diskursfiguren wie ‚den Orient‘ bzw. ‚die Nation‘, im Rahmen sprachlich-nationaler (imagined) communities in Grenzregionen Südostmitteleuropas sowie in literarischen Imaginationen entlang der Kategorien Nation, „Rasse“ und Geschlecht – gerade die Brüchigkeit und Ambivalenz kultureller Grenzsetzungen auf. Der letzte Abschnitt des Bandes Grenzsetzungen und Handlungsspielräume rückt noch einmal stärker das Moment der konkreten Handlungsmöglichkeiten und -spielräume vor dem Hintergrund diskursiver Grenzsetzungen ins Blickfeld – am Beispiel von Gewalt-entgrenztem Verhalten von NS-TäterInnen im Rahmen der Lynchjustiz an alliierten Fliegern (Fliegermorde) in der Steiermark, im Hinblick auf die konkreten Aktionsfelder und Handlungsmöglichkeiten des „Judenschleppers“ Josef Schleich und schließlich im Rahmen der „Karriere“ eines „jüdischen“ Kreisamtsleiters und seiner Versuche, die vom NS-System gesetzten Grenzen zu überwinden. Um an dieser Stelle nochmals auf Claudio Magris’ einleitend zitierte Bemerkungen zurückzukommen: Nicht nur Magris’ Biographie ist in hohem Maß von der geschilderten „Grenzerfahrung“ geprägt, sondern auch sein literarisches wie wissenschaftliches Werk: „Ohne diese Erfahrung der Grenze wären viele meiner Bücher nicht entstanden“, schreibt er. „Die ganze Donau13 ist ein Buch der Grenze, eine Reise auf der Suche nach der Überwindung und Überschreitung nicht nur der nationalen, sondern auch der kulturellen, linguistischen und psychologischen Grenzen; nicht nur der äußeren, realen Grenzen, sondern auch der Inneren eines Individuums verlaufenden Grenzen […].“14 Dies kann auch als Plädoyer für eine unabdingbare Reflexion über die eigene Positioniertheit als ForscherIn im Rahmen des Forschungsprozesses gedeutet werden, wenn Magris weiter ausführt: „Jenseits der Grenze war also gleichzeitig das Bekannte und das Unbekannte. Ein Unbekanntes, das man wiederentdecken, wieder bekannt machen mußte. Schon als Kind begriff ich, wenn auch undeutlich, daß ich jene Grenze überschreiten mußte, wollte ich wachsen und meine Persönlichkeit entwickeln, daß sie nicht völlig gespalten wäre. Ich mußte sie nicht nur physisch überschreiten, mit Hilfe eines Visums im Paß, sondern vor allem innerlich, indem ich die Welt jenseits der Grenze neu entdeckte und meiner Realität einverleibte.“15

Eine solche in hohem Maß selbstreflexive Positionierung im Prozess des Forschens und Vermittelns legt auch der Zeithistoriker Eduard G. Staudinger in seiner zeithistorisch-kulturgeschichtlichen Thematisierung der Komplexität und Vielschichtigkeit von „Grenze“ und „Grenzräumen“ an den Tag – und dies scheint nicht zuletzt auch bei ihm einer biographisch bedingten Sensibilität für die Thematik geschuldet zu sein. In 13 | Claudio Magris, Donau. Biographie eines Flusses. Übersetzt von Heinz-Georg Held, München 1988. 14 | Magris, Grenzbetrachtungen, 70. 15 | Magris, Grenzbetrachtungen, 62.

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seinen Arbeiten und Forschungsprojekten, in denen er häufig wissenschaftliches Neuland betreten und zeithistorische Grundlagenforschung früh mit kulturgeschichtlichen Analysen verschränkt hat, spielen Fragen der Wahrnehmung, Ausdeutung, Aushandlung sowie die Prozesshaftigkeit verschiedener Phänomene von Grenzziehungen und „-überwindungen“ sowohl in einem territorial-politischen wie kulturellen Sinn eine zentrale Rolle.16 So etwa auch in einem jüngst erschienen Beitrag zur „Grenzlandschaft“ der Südsteiermark, die im „langen 20. Jahrhundert“ zeitweilig auch als Staatsgrenze sowie als „Grenze zwischen Ost und West“ fungierte. Die (historisch mitunter heftig umkämpften) politischen Grenzverläufe in dieser Region dienen Staudinger als Ausgangspunkt, um die Vielschichtigkeit des Begriffes „Grenze“ bzw. „Grenzraum“ grundsätzlich zu thematisieren und den Auswirkungen staatlich-politischer, territorialer Grenzziehungen auf die soziale Praxis im Sinne eines „Lebens an/mit der Grenze“ nachzugehen. Ins Zentrum rückt er dabei nicht nur individuelle wie kollektive Sinnstiftungsprozesse, sondern immer auch Fragen der Grenzüberschreitung, deren Möglichkeiten und Implikationen. Zugleich unternimmt er den Versuch „Grenze“ und „Grenzgebiet“ zu typologisieren und zeichnet Strukturen, kulturelle Repräsentationen und Strategien an „faktisch geschlossenen Grenzen“ ebenso nach, wie Muster der „Koexistenz“, „Interdependenz“, „Integration“, „Pseudo-Integration“ und schließlich Grenzen im „Inneren umgrenzter Territorien“.17 Viele der von ihm skizzierten Deutungsmuster finden sich auch in den vorliegenden Beiträgen wieder. Indem Staudinger den Blick auf kulturelle Imaginationen, Erinnerungs-, Denk- und Argumentationsmuster von Grenzen und Grenzregionen lenkt, ebenso wie auf Prozesse der Kommunikation, Interaktion und Grenzüberschreitung, verfolgt er einen ähnlich breiten Ansatz, wie er auch dem vorliegenden Sammelband zugrunde liegt. 16 | Vgl. etwa exemplarisch: Eduard G. Staudinger, Alltagsgeschichte am Beispiel von Vereinsgeschichte aus der Steiermark (1900-1938), in: Veröffentlichungen des Verbandes österreichischer Geschichtsvereine (VVÖGV) 25 (1985), 258-273. – Ders., Die Südmark. Aspekte der Programmatik und Struktur eines deutschen Schutzvereins in der Steiermark bis 1914, in: Helmut Rumpler/Arnold Suppan (Hg.), Geschichte der Deutschen im Bereich des heutigen Slowenien 1848-1941 (= Schriftenreihe des österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 13), Wien 1988, 130-154. – Ders., Zum Plan eines Gebietstausches zwischen Österreich, Ungarn und Jugoslawien aus dem Jahr 1921, in: VVÖGV 26 (1989), 97-101. – Ders./Siegfried Beer, Grenzziehung per Analogie. Die Miles-Mission in der Steiermark im Jänner 1919. Eine Dokumentation, in: Stefan Karner/Gerald Schöpfer (Hg.), Als Mitteleuropa zerbrach, Graz 1990, 133-152. – Ders., Von der Mehrheit zur Minderheit. Die deutschsprachige Bevölkerung des Abstaller Feldes im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Harald Heppner (Hg.), Slowenen und Deutsche im gemeinsamen Raum. Neue Forschungen zu einem komplexen Thema (= Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission 38), München 2002, 96-110. – Christian Promitzer/Klaus-Jürgen Hermanik/Eduard G. Staudinger (Hg.), (Hidden) Minorities. Language and Ethnic Identity between Central Europe and the Balkans (= Studies on South East Europe 5), Münster 2009. 17 | Eduard G. Staudinger, Aspekte zum Thema „Grenzen – Grenzziehungen“ aus regionalgeschichtlicher Perspektive, in: Dieter A. Binder/Helmut Konrad/Eduard G. Staudinger (Hg.), Die Erzählung der Landschaft, Wien-Köln-Weimar 2010, 9-18, hier v.a. 16-18.

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Als HerausgeberInnen möchten wir den vorliegenden Band Eduard G. Staudinger zum 60. Geburtstag widmen. Eduard ist für uns nicht nur ein sehr enger Freund, sondern auch ein wunderbarer Lehrer, der uns in vielerlei Hinsicht dazu bringt, über Grenzen hinweg zu denken. Dafür möchten wir ihm mit diesem Buch herzlich danken.

Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer Graz, im Dezember 2011

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Writing the History of Cultural Borderlands in Habsburg Central Europe Pieter M. Judson

In recent years, the concept “Borderland” has become popular among scholars as a term used both to describe and to analyze the history of cultural relations in multi-lingual regions of Central and Eastern Europe.1 Such borderlands did not usually mark boundaries between states but rather zones of cultural exchange within large multi-national continental empires such as Austria-Hungary, Russia, or the Ottoman Empire.2 As an analytic concept applied to sites of study in the Western Hemisphere, borderland studies has shifted the focus of historical analysis away from an emphasis on cultural differences in those sites to an investigation of cultural exchange and to the specific, historic terms of such exchanges. By contrast, in Central and Eastern Europe, investigations of borderland regions are still often shaped by national outcomes in the twentieth century that rest on a presumption of original cultural differences within specific territories. Instead of a focus on exchange or on cultural mixing, we are still more likely to encounter claims and counterclaims about ethnic origins and national authenticity in the study of borderlands in Central and Eastern Europe. In the study of the Habsburg Monarchy, the concept of borderlands has largely been shaped by nationalist activists of the nineteenth century. In the absence of nation states, nationalists sought to anchor their cultural and political claims to specific, bounded, geographic territories where they could argue that their national language was in general use.3 Within those regions, nationalists fought to privilege their language for official use in schooling, administration and the judiciary. The imagined boundaries of the

1 | For example: Omer Bartov/Eric D. Weitz (Ed.), Shatterzone of Empires. Ethnicity, Identity, and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands, Indiana 2012. 2 | One recent exception that examines a political borderland between states is: Paulus Adelsgruber/Laurie Cohen/Boerries Kuzmany, Getrennt und doch verbunden: Grenzstädte zwischen Österreich und Russland 1772-1918, Wien 2011. 3 | An excellent and exhaustive analysis of the this phenomenon of territorialization is Peter Haslinger’s recent study of the Bohemian lands, Nation und Territorium in tschechischen politischen Diskurs 1880-1930, Munich 2010.

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territories they claimed became a lot more precise for nationalists after 1880, when the Cisleithanian state began to include questions about people’s language of daily use in its decennial census. Armed with the latest census data about language use, nationalist activists claimed that it was possible both to delineate the precise boundaries between nations, and to assess how those boundaries shifted over time. Given the potential for such shifts, nationalists were especially sensitive to the border regions of the areas they claimed as places where people who spoke one language were likely to come into contact with people who spoke other languages. These regions where one encountered more than one language in daily usage were known as Sprachgrenzen. As a scientific category the Sprachgrenze was already an object of study for statisticians, folklorists, or for state officials who regulated the language of instruction in schools and textbooks in the first half of the nineteenth century. However, for nationalist activists and their political projects after 1848 and especially after 1880, the Sprachgrenzen became potent symbols of national vulnerability and of supposed threats to national survival. Nationalists believed that their nation was weakest at these linguistic borders where neighboring nations might subject it to cultural attack. In fact, local language use and its symbolic significance in such regions were far more complex than nationalists liked to admit. As in other parts of Europe, both West and East, zones of language usage were rarely delineated by clear borders. In many regions of both Austria and Hungary, for example, inhabitants of commercially or administratively oriented towns often used a different language than did inhabitants of the surrounding countryside. Moreover, inhabitants of Sprachgrenze regions often attained a functional competence in more than one language, depending on the situational demands of daily life. The need for such multi-lingual competence resulted in part from the fact that the power relationships of these many languages to each other were not symmetric. Knowledge of some languages, such as German in Styria, Italian in Trieste, or Polish in Galicia, for example, was clearly privileged in state administration, commercial relations, and in secondary education. A functional knowledge of these privileged languages offered possibilities for social mobility to those whose families spoke other regional languages, at least in the period before 1900.4 One turn-of-the-century historian of the Austrian Volksschule noted that already in the 1820s, for example, Slovene-speaking parents had complained to religious and secular authorities that “Krainerisch lernen unsere Kinder zu Hause; in der Schule sollen sie deutsch lernen”. Moreover, in regions of mixed language use it was not uncommon for parents to send children to a neighboring region to receive some education in the other language, whether it be Slovene and German in Carinthia, Carniola and Styria, or Czech and German in mixed language regions of Bohemia, Moravia and Silesia.5 4 | Power relationships embodied in language usage could change. A language like Czech that in the Bohemian Lands had been relatively under privileged in 1867, actually achieved an equal (some would argue privileged) status in Bohemia by the turn of the century. 5 | Cited in Joachim Hösler, Von Krain zu Slowenien. Die Anfänge der nationalen Differenzierungsprozesse in Krain und der Untersteiermark von der Aufklärung bis zur Revolution

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THE

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By the late nineteenth century nationalists treated such practices of bilingualism with fear and suspicion, thanks largely to their passionately held beliefs about the Darwinian character of national struggle that also shaped their views of the Sprachgrenzen regions. They claimed that people on these frontiers had engaged in an ongoing struggle for centuries to preserve their nationality. And although such frontier regions often differed radically from each other in terms of their demographic, social, or economic profiles, the nationalist imagination tended to project similar qualities onto them that made all sites of national conflict into a similar kind of space. The historical evidence from such multi-lingual regions does not suggest that their inhabitants necessarily considered themselves to belong to warring national societies, at least not to the degree that nationalists hoped they would. Rather, the inhabitants of such regions often understood their communities in terms of regional loyalties, religious practice, and social class. The fact of linguistic difference alone did not even mean that their inhabitants viewed their Heimat regions as national or cultural borderlands. The barriers of language did not prevent them from socializing in the same pubs, worshipping in the same churches, and marrying each other. In fact it was the relative unwillingness of local people to make language – or nation – their foremost loyalty, that brought nationalists to focus their efforts so intensively on the full “conversion” of these frontier populations. Nationalists in turn explained local behaviors that contradicted their logic as the outcome of “forced assimilation”, of “de-nationalization”, of bribery exerted by the other nation or simply as the product of rural ignorance. In making claims to real territories, nationalists marked their borderlands with recognizable natural phenomena that inscribed nationalist conflict into the landscape itself. In fact, most nationalist accounts of Sprachgrenze regions in novels, essays, or journalist pieces, began not with descriptions of people, or even with the languages they used, but rather with a consideration of how the natural landscape – rivers, hills, or mountain ranges – had allegedly separated two nations from time immemorial. These descriptions of nature then gave way to a narrative that tried to explain how more recent developments – usually unexpected results of economic modernization and migration

1768 bis 1848, Munich 2006, 142. – On the Bohemian Lands see: Tara Zahra, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands 1900-1948, Ithaca NY 2008, 1-3; 24-27. – Helmut Fielhauer, Kinder- „Wechsel“ und „Böhmisch-Lernen”: Sitte, Wirtschaft und Kulturvermittlung im frühen niederösterreichischen-tschechoslovakischen Grenzbereich, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 81 (1978), 115-148. – Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge MA 2006, 1-3; 47. – See also, generally: Maria Kurz, Der Volksschulstreit in der Südsteiermark und in Kärnten in der Zeit der Dezemberverfassung, phil. Diss. Wien 1986. – Petr Lovoziuk, Karlov/Libinsdorf: A Village in Discourse, a Discourse in a Village. Preliminary Research Report, in: Zděnek Uherek/Jan Grill (Eds.), Fieldwork and Local Communities. Prague Occasional Papers in Ethnology 7 (2005), 146-173. – Peter Mähner, Grenze als Lebenswelt. Gnadlersdorf (Hnanice), ein südmährisches Dorf an der Grenze, in: Peter Haslinger (Hg.), Grenze im Kopf. Beiträge zur Geschichte der Grenze in Ostmitteleuropa, Wien 1999, 67-102.

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– had created a breach in the natural boundaries that had long separated two nations. In the nationalist imagination, such unnatural breaches had also made the frontier into a critical site for nationalist conflict. In the late nineteenth century, given the rise of mass literacy and the increased attention paid to population movement, nationalist activists increasingly projected their fantasies and their anxieties for the future onto this half-imagined idea of the frontier. They worked hard to create a sense of borderland in the particular locations they defined as Sprachgrenzen, often creating in reality the very frontiers they had at first only imagined. They constantly adopted new strategies for their work, raised millions of crowns to build hundreds of minority schoolhouses, libraries, social centers, and monuments that would help to mark frontier territories as their own. They raised more money for propaganda efforts, for nationalist newspapers, for economic improvement schemes, and for welfare programs. German nationalists even funded a colonization scheme in the region between Marburg/Maribor and the Mur/Mura river in order to strengthen their position on this borderland. A haunting paradox drove these remarkable efforts, a paradox that guaranteed that nationalist efforts would never be sufficient and would always have to be intensified. On the one hand, nationalists conceived of frontier people as brave representatives of the nation who fought daily for its survival. On the other hand, however, their knowledge of bilingualism, intermarriage, and regional loyalties caused nationalist activists to worry that these very same people did not share enough of a nationalist outlook. Nationalist writings repeatedly betray fears that these people did not even realize that they lived on a national frontier. In fact, to the great frustration of some activists, people of the frontier often refused to commit themselves fully to one nation or another. They refused to accept that their language-use gave them a distinct cultural identity as members of a nation. Even worse, their very indifference to nation meant that such people, like wartime renegades, often betrayed the national cause. For these reasons the borderland offered national activism enormous possibilties, but also extreme danger. Today, a nationalist view of the world continues to dominate the ways that we write the histories of these multilingual regions in both obvious and subtle ways. In a general sense, the creation of nation states in the region in the twentieth century produced official schools of history to justify the nation-state outcome, linking twentieth-century states to national communities that had allegedly existed as such in earlier periods. But the ongoing power of the nationalist way of thinking about such regions results in part from our inability to see the labor that produced the nationalized world. Too often the teleological concept of the modern nation in Central Europe is presented in such normalizing (indeed naturalizing) terms, that its development hardly demands explanation. Historical accounts of nationhood usually seek to understand why, or under what circumstances the inevitable development happened when it did, rather than explaining why it happened at all. The kind of labor most historians associate with the nationalization of populations is still often referred to as “awakening”. So-called “awakeners” served as catalysts to a development that was waiting to happen. The need to explain the nationalization of populations fully as the product of labor can thus seem

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counterintuitive, especially in multi-lingual frontier regions where national differences must have seemed most “natural”. Even constructivist theory of the last decades that focuses on the making of national communities nevertheless often implies the inevitability of the national outcome.6 Nationalist successes (the general rise of a nationalized public in nineteenth-century Europe) confirm what we expect to find, given how used we are to a nationalist way of seeing the world. But perhaps the successful outcome of this hard work should not be so readily presumed. We might understand the development and character of the nationalization process more fully if we focused instead on the repeated failures of nineteenth-century nationalist activists to build the kinds of enduring national communities they hoped to create. These failures have remained largely invisible in histories of Central and Eastern Europe because we, like the nationalists, accept too easily the idea that the very existence of linguistic difference produced nationalization. If instead we recognized both the hard work and frequent failures of the nationalists, we might develop a more historically insightful understanding of the character of nationalization or of ethnic conflict when it did happen. We might then also see the degree to which nationalist activists, once they obtained state power, produced the necessity of ethnically pure societies, a necessity that has dominated and continues to dominate European developments. To do so, however, requires us to approach the broader histories of Central Europe in a more self-consciously non-national and more transnational way. In my view, a transnational history is not one that simply compares two or more national societies, in the ways that some historians today practice it. For example, a transnational history of the Sprachgrenze region between the Mur/Mura and Drau/Drava rivers would not simply compare “the Germans” and “the Slovenes” by attempting to tell a history from two national perspectives. Rather, a transnational history looks beyond the very concept of nation for its analytic power. Such an approach should avoid making nations into historical subjects or actors altogether, and see the nation instead as the situational outcome of exchanges among many historical actors. Finally, to produce such a history requires us to find new ways to link our understandings of the local to our larger trans-regional historical narratives. Many historians, particularly in Austria today, have produced superb analyses of local society that demonstrate the situational workings of the idea of nation, and that prove the greater importance of other forms of community bonds, such as regionalism or religion. Yet all of us encounter severe difficulties when we attempt to relate these local findings to the broader narratives that structure our historical understanding of Central Europe. In the rest of this article, using examples drawn from Imperial Austrian contexts, I want to offer some specific ideas for how historians might shift their view, how they

6 | Jeremy King, The Nationalization of East Central Europe: Ethnicism, Ethnicity, and Beyond, in: Maria Bucur/Nancy Wingfield (Ed.), Staging the Past: The Politics of Commemoration in Habsburg Central Europe, 1848 to the Present, West Lafayette IN 2001, 112-152.

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might develop more transnational approaches to studying borderlands. I offer three main points of analysis: First, to return to the effort to avoid making nations into historical subjects or actors, I follow the ideas of sociologist Rogers Brubaker. Brubaker warns against viewing groups as the basic units of social life, “as if they were internally homogeneous, externally bounded, even unitary collective actors with common purposes”.7 Groups form and re-form constantly. A view that treats nations as historical actors, however, imagines such groups to be permanent communities. Nation is never an unchanging and enduring community, a real thing in the world. Brubaker suggests, however, that we should consider “nation” as a way to perceive the world, as a lens through which people can understand the world, and not as an actor in the world. If nation offers people a cognitive approach to the world, then it can be adopted or discarded, depending on the situation. The problem for nationalists was that despite their best efforts, even they could not presume that people would always use this particular lens to understand the world. So the task of the historian is not necessarily to investigate nations, but rather to investigate the situations in which people adopted a nationalist lens to understand their world. The question should never be “what did a nation do?” but rather “when, or in what situations, did nation matter?”8 In order to realize this approach, however, it is also necessary to examine the specific nature of nationalist community building work at the local level. A complex appreciation of local context becomes critical in order to understand the range of ways in which local people could interpret their worlds in the first place. How did activists attempt to give nationalist meaning to local phenomena? At the same time as we consider the local, we also need to understand the ways in which regional and Empire-wide legal or institutional structures influenced how nation could be understood or where change could be made. This brings me to my second point: Popular nationalist feeling did not by itself produce nationalist political movements in Austria. Rather, Austria’s particular constitution (1867), its laws, administrative structures and particular governing institutions all created spaces that made a politics organized around nationalism both possible and fruitful. Nationalists took advantage of the structural conditions specific to Imperial Austria to promote their movements at all levels of politics and social life. They built a lasting place for their movements in local and regional institutions through their effective use of Austrian laws, particularly those that regulated communal autonomy, those that guaranteed the rights of association, and those that determined the shape of the school system. Nationalists applied the legal guarantees of linguistic equality in schooling and public life to an ever-expanding number of social situations. In doing so they transformed the idea of linguistic equality at all levels of education, bureaucracy and the judiciary into an

7 | Rogers Brubaker, Ethnicity without Groups, Cambridge MA 2004, 7-27. 8 | Brubaker, Ethnicity without Groups. – See also: Rogers Brubaker, Nationalism Reframed. Nationhood and the national question in the New Europe, New York 1996, 13-22.

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effective program of nationalist activism.9 Gradually, nationalists even found ways to insert concepts of national rights – not simply linguistic rights – into some constitutional, legal, and judicial institutions of an Imperial state that did not generally recognize the existence of nations in law. It is worth remembering that although nationalists after 1918 often described the Austrian Empire as a “prison of nations”, it was only with the creation of self-styled nation states in the region after 1918 that nationalists gained the power to inscribe national identities into law and apply them to people, often against their will. Ironically, one could argue that national identities in the successor states often became prisons for many of the individuals trapped in them. Because the Imperial Austrian state did not recognize any official nations within its borders, it also obviously had nothing to say about the territorial definition of those nations or who belonged to them. The nationalists themselves assumed the task of defining territorial boundaries and membership in their nations, and they usually did so by combining the language used by the people who inhabited a given territory with elements of its national history. Particularly in the western regions of the Austrian Empire, nationalists treated language use as the authentic marker of peoples’ national identity. There certainly are other ways of defining national belonging, including, as in Galicia and Bukovina, by religious practice, or as with Czech nationalists in Bohemia, on the basis of state’s rights. But perhaps because no other elements of local culture marked recognizable differences within these communities in the west, language-use came to define national identity.10 Language use offered nationalists a concrete form of difference that could define national belonging, thanks largely to the nature of Austria’s legal institutions. Because the 1867 fundamental laws called for the equality of all locally used languages in schools and in public life, issues of language use provided local activists with rich possibilities for making political demands. Language use in the local post office, on local street signs, in the local schools all provided endless possibilities for protest and activism. The fundamental laws had not explained just what “equality of language use” in public life should look like or how it should be achieved. This vagueness allowed nationalist to demand bigger and more expansive applications of these guarantees from the courts and the legislatures. The decennial census offered the nationalists yet another tool in popularizing their ideas. In order to provide effective education and bureaucratic service to local society, the Austrian state attempted to measure local language use in the census every ten years. This census asked citizens to report their “language of daily use” and not their “mother tongue” or their “nationality”. The state had no wish to create natio9 | On the laws and judicial rulings that offered nationalists increasing spaces for political activism, see: Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs, 1848-1918, Wien 1986. – Hannelore Burger, Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867-1918, Wien 1995. – For examples of school law and judicial decisions for Lower Styria see: Kurz, Der Volksschulstreit. 10 | Jeremy King argues that in mid-nineteenth-century Bohemia the only group capable of becoming a nation, based on cultural differences, would have been the Jews. King, Nationalization.

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nal identities or categories in law, but it wanted to know about the usage of recognized languages in every region. The nationalists instrumentalized the census immediately. The census offered concrete statistics that simplified social reality by categorizing people in terms of the language they reported. Through official linguistic categories (like “Czech” to include “Moravian” or the exclusion of Yiddish) the census also helped to standardize language use on paper in ways that supported nationalist claims, even where such clarity did not in fact exist. Moreover, the Austrian state allowed citizens to report only one language in the census, whether or not they used more than one language in daily life. This meant that the prevalence and character of different forms of local bilingualism was never measured. This exclusion of bilingualism allowed activists to treat bilingualism when they encountered it, as an exceptional quality rather than as a statistical norm. It also helped them in their claim that the census results reflected national community loyalties. Nationalists purposely confused the measurement of language use with a statistical portrayal of nations, asserting that language use marked an exclusive form of personal identity and not simply a strategy for communication. Many historians make the same mistake, although perhaps not intentionally. They too view language, in the words of Joachim Hösler with regard to Krain, “no longer as a means of communication, but as a status symbol and proof of belonging to a nation”.11 Not surprisingly therefore, every ten years when the government took the census it became a highly political occasion that resembled a political campaign. Rival nationalists accused each other and the government of corrupt practices, of forcing or bribing some people to report the “wrong” language. And there was much corruption in how forms were filled out and counted. Some nationalist organizations even carried out their own private census in order to be able to discredit the results of the government census.12 But to understand the frontier idea fully, it is more important to see beyond the conflict over corruption or intentionally inflated or deflated numbers. For the first time, the census enabled nationalists to map their nations accurately onto particular territories. The census allegedly showed with startling precision exactly where two nations met. Taken over time, the censuses also purported to show exactly how these frontiers changed, in which Sprachgrenzen one nation declined or another nation advanced. The census enabled nationalists to name those places where the nation was imagined to be in greatest danger of losing ground and people to an enemy nation. Nationalist literature after 1880 used military references to refer to these frontiers where members of one nation battled members of another nation, where the front advanced, where bridges must be built, where defensive positions must be strengthened. We must always keep in mind the metaphorical nature of these nationalist claims. They did not necessarily reflect some deeper reality in local society. Moreover, while the nationalists used the census results to popularize their territorial claims, even they 11 | Hösler, Von Krain zu Slowenien, 52. 12 | See individual examples cited in: Emil Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation, Wien 1982.

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did not seriously believe that the frontiers simply constituted settings for two warring nations. Because nationalists were well aware of the deficiencies in the census – the fact that it ignored bilingualism, and the fact that reporting language use did not signify a commitment to nationhood – they worked to take advantage of those very elements. They presumed that in any frontier region there were people who could be persuaded to switch sides. Nationalists often admitted that they were not simply mobilizing members of their own nation. Instead, they competed to convert people who could belong to either side. This made the frontier even more socially unstable in reality than it was in the abstract. People could and did switch sides from one census to another, making it necessary for nationalists to work even harder to maintain their gains or minimize their losses from one census to the next. How did nationalists embed perceptions of cultural difference in the daily situations of village or small-town life? How did they use language to create divisions in communities? What was the labor that sought to transform local perceptions? This brings me to my third point of analysis: how nationalists labored to produce convincing perceptions of nationhood at the local level, and how they connected those local perceptions of nationhood to larger trans-regional ideas of nationhood. The concept of nation requires that the individual view herself as part of a largely abstract interregional community, a community in which one can never meet all of its members.13 Nationalists had to convince local people that they belonged to an important larger community of people that extended well beyond their region. Local and regional newspapers especially played an important role in creating a sense of national membership by framing local news in trans-regional terms. The challenge of making national community real in daily life was far more difficult than many scholars admit because it did not flow easily from the fact of different language usage. As we know from Gary B. Cohen’s pioneering work on Czech- and German-speakers in nineteenth-century Prague, the choice to identify with one language community or another among the lowest classes of society depended on the existence of organized neighborhood social networks. German-speaking workers who moved to predominantly Czech-speaking neighborhoods, for example, usually learned to use the Czech language, thereby “becoming” Czechs in the eyes of nationalists.14 Particularly in rural areas, however, where there was far less organized political life and few regional social networks at all, the task of creating nationalists in local society was indeed ambitious. Until the 1880s, nationalist conflict remained largely a matter for politicians. Debates over language use in the bureaucracy or in school policy took place in the Austrian Parliament, in provincial diets and in newspapers. In the 1880s, however, nationalists developed new strategies to mobilize far more people. In part, this change resulted from 13 | Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origins and Spread of Nationalism. Revised edition, London 1991, 6. 14 | Gary B. Cohen, The Politics of Ethnic Survival: Germans in Prague, 1861-1914, Princeton 1981, 281.

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the gradual addition of new voters to the political system. Franchise reform increasingly gave the right to vote to far more men and culminated with universal manhood suffrage for the parliament in 1907. All parties saw that they would have to mobilize more voters in more regions in order to maintain their political influence. In an age of increasing mass mobilization the idea of nation had to become a more popular lens for viewing the world. One nationalist strategy involved the creation of nationalist protective associations [Schutzvereine]. These associations did not actually aim to protect nations, as their name implied. Instead, they sought to mobilize mass support for nationalist causes and to create real national communities in the first place, especially in the language frontier regions.15 Education was the first policy field where nationalists hoped to nationalize the perceptions of people on the frontier. Since Austrian law promised all people a right to an education in their own language, demands that the government and the courts fulfill this promise offered a fruitful issue to nationalist politicians. Education also gave nationalists the opportunity to transform the attitudes and values of children and win them for the future. In fact, the first popular protective associations founded were the School associations, the German Deutscher Schulverein and the Czech Ustřední matice školská organized in 1880, followed in 1885 by the Slovene Družba Ciril Metod and the Italian Lega Nazionale in 1891. These organizations raised money to found minority language education in communities where too few children spoke the national language to qualify for a state school. In frontier communities the school associations used an apocalyptic rhetoric about the need to “save the thousands of children who are lost to the nation every year”.16 The school associations also built minority school buildings, “frontier fortresses” that became visible local symbols in the landscape of a national community. They organized private Kindergartens to prepare young children for schooling in their proper national language, and they fed poorer children a mid-day meal at school. In multilingual frontier regions such minority schools often competed with state schools for

15 | See, for example the essays in: Peter Haslinger (Hg.), Schutzvereine in Ostmitteleuropa. Vereinswesen, Sprachenkonflikte und Dynamiken nationaler Mobilisierung 1860-1939, Marburg 2009. 16 | On the school associations see: Pieter M. Judson, Exclusive Revolutionaries. Liberal Politics, Social Experience, and National identity in the Austrian Empire, 1848-1914, Ann Arbor MI 1996, 207-215; 229-236. – Judson, Guardians of the Nation, 19-81. – Werner Drobesch, Der deutsche Schulverein 1880-1914. Ideologie, Binnenstruktur und Tätigkeit einer deutschnationalen Kulturorganisation unter besonderer Berücksichtigung Sloweniens, in: Feliks J. Bister/Peter Vodopivec (Hg.), Kulturelle Wechselseitigkeit in Mitteleuropa. Deutsche und slowenische Kultur im slowenischen Raum von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum zweiten Weltkrieg, Ljubljana 1995, 129-154. – Alexandra Špiritová, Ustřední matice školská v letech 1880-1918, in: Paginae historiae 1 (1993), 178-195. – Roman Zaoral, Die tschechischen und deutschen Schulvereine in Böhmen am Ende des 19. Jahrhunderts in Germanoslavica 7 (1995) 2, 107-115. – Andrej Vovko, Mal položi dar… Portret slovenske narodnoobrambne školske organizacije Družba sv. Cirila in Metoda 1885-1918, Ljubljana 1994.

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the attendance of the very same children, offering benefits such as clothing, shoes, free books, meals, and gifts at Christmas in order to build attendance and win over more children for the nation. A second kind of protective association worked to improve the economic chances of the national community in these same frontier regions. They provided members of the national community with job training, farm implements, seed or fruit trees, livestock, and with welfare benefits when necessary. At Christmas they too provided the village children with gifts of shoes and clothes. Some of these organizations like the radical German nationalist Südmark even raised money to try to bring so-called “colonists” to frontier regions, in order to strengthen their nation in the census. But this kind of colonization policy was far too ambitious to change the linguistic composition of frontier regions significantly. At best, colonization had a propaganda value that demonstrated the power of nationalist activism.17 Although nationalist associations claimed to save people from being “denationalized”, in fact, they sought to convert people who simply had no national identity at all. The indifference of many people to nationalist commitment gave activists the chance to win over all kinds of people to their cause, not simply those who shared their language. At the same time, however, nationalists often had to admit defeat when some people in rural villages expressed no interest in the idea of nation no matter what language they spoke. This caused great frustration to nationalists, and their publications frequently speak of national renegades, national cowardice, and national betrayal. Despite the optimistic public presentations of their work, their frustration suggests that many people did not respond to nationalist activism, or that they only responded in some situations. Nationalists used other strategies to make perceptions of nationhood real in daily life. Local nationalists portrayed the landscape and architecture of contested regions in terms that recalled their national identity. Nearby mountain peaks or hill-top castles or rivers gained nationalist significance as part of the national landscape. But nationalists also pointed to man-made elements of the landscape as examples of their own nation’s progressive modernity, particularly those that embodied technical knowledge. Street names and monuments commemorating nationalist heroes confronted villagers with reminders of national identity.18 Local celebrations and rituals to mark holidays were 17 | Eduard Staudinger, Die Südmark: Aspekte der Programmatik und Struktur eines deutschen Schutzvereins in der Steiermark bis 1914, in: Helmut Rumpler/Arnold Suppan (Hg.), Geschichte der Deutschen im Bereich des heutigen Slowenien (Zgodovina nemcev na območju današnje Slovenje), 1848-1941, München-Wien 1988, 130-154. – Pieter M. Judson, Versuche um 1900 die Sprachgrenze sichtbar zu machen, in: Moritz Csáky/Peter Stachel (Hg.), Die Verortung von Gedächtnis, Wien 2001, 163-173. – Judson, Guardians of the Nation, 100-140. – On the important gendered divisions within this nationalist labor, see: Heidrun Zettelbauer, “Die Liebe sei Euer Heldentum”. Geschlecht und Nation in völkischen Vereinen der Habsburgermonarchie, Frankfurt am Main 2005. 18 | For examples see: Nancy Wingfield/Cynthia Paces, The Sacred and the Profane: Religion and Nationalism in the Bohemian Lands, 1880-1920, in: Pieter M. Judson/Marsha Rozenblit (Ed.), Constructing Nationalities in East-Central Europe, New York 2005, 107-125.

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also given a nationalist content in order to remind people of their connection to a larger national community. Wherever possible, such festivals attempted to mobilize the entire community, especially the young. Still another nationalist strategy involved framing and shaping the way information was reported in local and regional newspapers. Rising literacy rates in Habsburg Austria produced a considerable growth in newspapers and other publications, many of which conveyed a strongly nationalist point of view to their readers.19 Newspapers interpreted every kind of event in nationalist terms, and left no space for alternative understandings of the news. For example, the nationalist press frequently recounted incidents of physical violence against minority schoolhouses in frontier regions. These schoolhouses allegedly served as targets for popular nationalist anger, and this produced vandalism that was often framed in terms of “schoolhouse dramas” that recounted the vandalism. Nevertheless, it is impossible to judge with certainty how many such incidents were premeditated, resulting from a focused nationalist anger, and how many were simply the products of situational factors such as drunkenness. A well documented attack on the German minority schoolhouse in Lichtenwald/ Sevnica in 1908 serves as an excellent example of the ambiguities surrounding cases that nationalists framed as examples of nationalist violence. It is difficult to untangle the exact motives and feelings of the perpetrators who, in the early hours of September 23, attacked the school with stones. The defendants later testified that they had acted in an inebriated state and were unaware of what they were doing. On the other hand, the Slovene nationalist lawyers brought from Cilli/Celje to defend them, argued in their closing statements that the youths had targeted the school understandably to respond to a recent German nationalist attack on the Slovene Sokol meeting in Pettau/Ptui (an incident that had also produced rioting in Laibach/Ljubljana). However the teacher at the German school, a man named Tomitsch who knew the youths and had chased them that night, testified that he did not think the defendants had been aware of their actions, nor that the attack had been in any way premeditated. Nevertheless, the German nationalist newspapers reported the incident with indignation, describing it as a well-planned Slovene nationalist attack on German Nationalbesitzstand. Slovene nationalist papers meanwhile justified the attack as an understandable action by young nationalist patriots aggrieved by the German treatment of the Sokol in Pettau/Ptui. The truth, of course, was not simple. Incidents like this demonstrate the usefulness of Brubaker’s approach. The drunken perpetrators may indeed have spouted some nationalist slogans, but their vandalism was hardly an expression of specific nationalist rage, despite what the newspapers tried to say about it. It was as if they had assumed a nationalist lens in targeting the school, but not that they themselves were

19 | Gabriele Melischek/Josef Seethaler, Presse und Modernisierung in der Habsburgermonarchie, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Band VIII/2, Wien 2006, 1535-1714.

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committed nationalists. In another situation, or without alcohol, they might have acted quite differently.20 Still another strategy of the nationalist organizations was to harness the enormous potential of the consumer revolution around 1900 by making national identity a guide to all forms of personal consumption. Activists raised funds for nationalist organizations by selling cheap consumer items such as kitchen matches or soap. But their propaganda also demanded that men and women make nationalist choices in all walks of life, from where they shopped for food to what restaurant they visited, from what bank they used to which physician they consulted, from whom they hired as a domestic servant, to the tourist destinations and guidebooks they selected.21 Nationalists made both economic and personal arguments about consumption. The economic argument taught people that even in their smallest consumer actions, they could support the life of the national community. The personal argument discouraged social interaction among people who allegedly belonged to different nations. Such interaction increasingly came to be stigmatized as “mixing”. Even though the national enemy might also be their neighbor, people should learn the importance of difference in social life. How might we measure the success of all this nationalist work? I believe these efforts were not completely totalizing in their nationalizing effects, nor did they always succeed in shaping the views of ordinary people. Sometimes nationalist stories may have convinced local people, but more often the nationalist point of view failed to make consistently committed nationalists out of people. There is a difference between the claims made by nationalists, and their actual ability to shape the perceptions of local peoples as completely as they would have liked. Nationalist symbols and national discourse may have been everywhere. Still, we cannot conclude that people always adopted a nationalist perspective, nor that they saw themselves as part of a larger national community. The nationalists themselves produced most of the evidence we have for such a conclusion. People may have shared nationalist views in some situations but not in other situations. This point is confirmed by those nationalist publications that often complained in frustration about the indifference they encountered among their alleged compatriots on the language frontier. A writer for the German nationalist Südmark complained typically in 1911 of the Germans of Ceršak/Zierberg in Styria that too often “they side with the Slovene enemy against their own people”.22 Meanwhile, in parts of Bohemia, Czech nationalists complained that Czech families continued to send their children to German schools, giving no thought to their national identity. In Southern Styria, parents continued to demand a bi-lingual education for their children, even though the possibilities for such an education largely vanished, thanks to the efforts of the nationalists.23 20 | Judson, Guardians of the Nation, 183-185. – Pieter M. Judson, Remaking Civil rights into National Rights: A Local Trial in Sevnica/Lichtenwald 1908 (unpublished manuscript). 21 | For examples see: Judson, Guardians of the Nation, 141-176. 22 | Mitteilungen des Vereins Südmark 6 (1911) 34. 23 | See examples in: Zahra, Kidnapped Souls, especially 31.

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What actually would have constituted success for the nationalists? They clearly had succeeded in making their point of view into a viable and popular option among many Austrians by 1900. But this alone was hardly their goal. Nationalists sought to create more committed nationalists, and not simply to create a viewpoint that could be adopted or discarded depending on the situation. For this reason, despite what may appear to have been their remarkable successes, nationalists continued to warn against over confidence and to remind their followers of the fragility of their successes. Now let me try briefly to link these points to the issue of politics. Much has been written about the allegedly corrosive effects of the political conflicts created by nationalist activism in Imperial Austria. The need to prove one’s national commitment drove many politicians to adopt more radical political positions, not so much to oppose the national enemy, but to resist challenges from other members of the same national community. Parliamentary boycotts and obstruction in Austria became ritual ways for politicians to display publicly their nationalist commitment as the political business of compromise continued behind the scenes, out of view of the public. But it was the political compromises that had a significant affect on social relations in many multi-lingual frontier regions. The compromises in Moravia (1905), Bukovina (1909) and Galicia (1914) gave nations a legal and institutional status for the first time, at least in these three provinces. Each compromise divided up the electorate, provincial political functions, and educational system by nation, giving each side a permanent guarantee of political power and resources. The compromises did not represent so much a victory of one nationalist group or another, but rather a victory of all nationalists over those who remained indifferent to any nation.24 This was clear from the start thanks to ways that the compromises raised thorny issues about who legally belonged to which nation, and how to make such a determination in the first place. This question became a problem in Moravia when citizens were obliged to list their names either in a Czech or German cadastre. Many citizens did not consider themselves members of either nation, or they wished to change their decision at a later date, or they wished to send their children to different schools. The nationalists increasingly asserted that the question of identity could be determined by objective criteria such as language use or descent. The Imperial courts sought to retain a more liberal approach that allowed citizens largely to make the choice for themselves, but the state’s acquiescence to these compromise agreements meant that it too had ope24 | For Bukovina see: Alon Rachamimov, Diaspora Nationalism’s Pyrrhic Victory: The Controversy regarding the Electoral Reform of 1909 in Bukovina, in: John Micgiel (Ed.), State and Nation Building in East Central Europe: Contemporary Perspectives, New York 1996, 1-16. – Gerald Stourzh, The National Compromise in the Bukovina, in: From Vienna to Chicago and Back, Chicago 2007, 177-189. – On Moravia: Jeremy King, Group Rights in Liberal Austria: The Dilemma of Equality in Proportional Representation, in: Lukáš Fasora/Jiří Hanuš/ Jiří Malíř (Ed.), Moravské vyrovnání z roku 1905 (Der mährische Ausgleich von 1905), Brno 2006, 27-42. – Horst Glassl, Der mährische Ausgleich, München 1967. – Zahra, Kidnapped Souls, 32-48.

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THE

H ISTORY

OF

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ned the door to questions of ascription that might eventually remove the decision from the individual.25 After World War I and the break-up of Austria-Hungary, the governments of the successor states adopted far harsher forms of ascription to determine national identity “objectively”. In Yugoslavia, for example, only citizens who had a German family name could claim German minority status. Czechoslovakia ruled that people who declared the “wrong” nationality on the censuses of 1921 and 1931 were required to pay fines and sometimes served prison sentences.26 These developments made it far more difficult for citizens to decide their own nationality or to change their nationality. This should not surprise us. As I mentioned earlier, in the Central and Eastern European context, the empire had not been the “prison of nations”, but rather it was national identities with the power of the new states behind them, that later served as prisons for the individuals caught within them. This was particularly true for so-called in-between people known as “amphibians” or as “national hermaphrodites” within nationalist discourse.27 These were people who did not fit the national schema or who refused to fit. They were not archaic survivals of a past era, as some historians have argued, but rather a product of the new nationalization process in frontier regions. These people often appeared to cling to both national identities at the same time. But from 1900 through the 1930s these were often people who did not wish to belong to any nation. They were not psychologically disturbed products of national mixing, as the nationalists often claimed, but people for whom choosing one nation or another made little social or economic sense. Or it became a situational question of opportunism. In conclusion I have argued for Brubaker’s claim that the concept of nation should be treated more as a lens for understanding the world rather than as an historical actor or subject. In the case of the Sprachgrenze, it should now be clear why I think that a comparison of two different national societies (Slovene and German, Czech and German, etc.) makes little sense and does not produce a truly transnational history. By placing two national communities at the center of the analysis such a comparison merely legitimates the claims of each to speak for whole populations. Meanwhile the indeterminate person would be considered the exceptional case, one whose existence requires explanation. However, if we place persons of ambiguous or indeterminate national identity 25 | Gerald Stourzh, Ethnic Attribution in Late-Imperial Austria: Good Intentions, Evil Consequences, in: Ritchie Robinson/Edward Timms (Ed.), The Habsburg Legacy. National Identity in Historical Perspective. Austrian Studies 5 (1994), 67-83. 26 | Zahra, Kidnapped Souls, 106-107. – Arnold Suppan, Zur Lage der Deutschen in Slowenien zwischen 1918 und 1938. Demographie – Recht – Gesellschaft – Politik, in: Helmut Rumpler/Arnold Suppan (Hg.), Geschichte der Deutschen im Bereich des heutigen Slowenien (Zgodovina nemcev na območju današnje Slovenje), 1848-1941, München-Wien 1988, 180. 27 | For an excellent analysis that documents official post-war confusion regarding such people, see: Siegfried Beer/Eduard Staudinger, Grenzziehung per Analogie. Die Miles Mission in der Steiermark im Jänner 1919: eine Dokumentation, in: Stefan Karner (Hg.), Als Mitteleuropa zerbrach: zu den Folgen des Umbruchs in Österreich und Jugoslawien nach dem ersten Weltkrieg, Graz 1990.

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at the center of our analysis of frontier life, rather than at the margins of the analysis, if we see in them an alternate model for understanding local village society and not an exotic exception, then the nationalist becomes the exception and we would produce a different type of history. Such a history would document the nationalist transformation of local society, while at the same time allowing us to see the many situations in which frontier people did not view the world through a national lens. This might help us to understand the degree to which nationhood – as opposed to other lenses for viewing the world – played a critical role in mono-lingual settings as well. Such a transnational approach to the so-called language frontier would also help us to recognize the existence of other kinds of cultural commonalities even when our own impulses tell us we should see national differences. It would help us to see the kinds of situations in which commonalities like religious or regional identity became decisive instead of perceived national identities. Finally, a transnational approach helps us to see how the very term “frontier” often imposed an alien interpretation on local social relations. There may have been many different cultures in Habsburg Austria, but they did not necessarily correspond to the cultures defined by nationalist activists. People may have spoken different languages in a town or village, but this did not necessarily mean that they always saw themselves belonging to fundamentally different cultures.28 A transnational approach demonstrates the futility of interpreting Austria’s history as simply the hegemony of one nation over subordinate nations or of the co-existence of allegedly radically different cultures. Most of all, perhaps, a transnational approach reveals the power that nationalist interpretations still hold over those who write about region, even today.

28 | This reflects my strong doubts about the usefulness of applying post-colonial theories of hybridity to a study of Habsburg Austria, which to me rest on highly nationalist assumptions as for example in the problematic claims made by Karl-Markus Gauss, Ins unentdeckte Österreich. Nachrufe und Attacken, Wien 1998, 95. Essays in the volume Habsburg Postcolonial, edited by Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch and Moritz Csáky (Wien 2003) offer more nuanced attempts to use postcolonial models to understand Habsburg society, as well as essays that reject this possibility.

Be/Entgrenzte Räume

Grenzen der Bewegungsfreiheit Die Diskussion um Quarantänen am Beispiel des Osmanischen Reichs und Bulgariens vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu den Balkankriegen (1912/13) Christian Promitzer

1838 etablierte Sultan Mahmud II. Quarantänen als ständige Präventionsmaßnahme gegen Pest im Osmanischen Reich, nachdem dahingehende frühere Versuche gescheitert waren. Diese Wende in der osmanischen Sanitätspolitik, die mit einer breiten Rezeption westlicher Medizin einherging, geschah vor dem Hintergrund massiver Bevölkerungsverluste im europäischen Teil des Reiches, nachdem dort seit der Mitte der 1830er Jahre die Beulenpest (auf Grund ihres in der Region gehäuften Auftretens auch „orientalische Pest“ genannt) ausgebrochen war. Zum damaligen Zeitpunkt waren Quarantänen an der Habsburgischen Militärgrenze und in den christlichen Mittelmeerhäfen bereits lange eingeführt und dienten dem Osmanischen Reich als Vorbilder. Die Quarantänen im osmanischen Herrschaftsbereich sollten überdies als erster Schutzwall gegen die Ausbreitung der Pest und später der Cholera nach Zentral- und Westeuropa dienen. Die australische Historikerin Alison Bashford hat in ihrem Buch über Kolonialismus, Nationalismus und öffentliche Gesundheit betont, dass die lange Geschichte der Sanitätskordons und Quarantänen sowie der damit verbundenen Einschränkung der Bewegungsfreiheit mit der Entstehung bürokratischer Verwaltungsapparate verbunden ist. Bashford hat vor allem den Zusammenhang zwischen Immigration, Quarantänen als Orten der Anhaltung an staatlichen Grenzen und der Entstehung einer australischen Nation beleuchtet.1 Wenn wir jedoch an die bereits erwähnte „Pestfront“ an der Habsburgischen Militärgrenze und an Quarantänen im Mittelmeerraum und im südöstlichen Europa denken, so sind damit meist multiethnisch geprägte dynastische Reiche als die treibenden Kräfte und somit als Vorgeschichte des von Bashford herausgearbei1 | Alison Bashford, Imperial Hygiene: A Critical History of Colonialism, Nationalism and Public Health, Houndsmills-Basingstoke 2004, insb. 115-136.

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teten Konnexes zu sehen.2 Ein Vergleich von Quarantänemaßnahmen zwischen einem derartigen, noch immer von universalen Ansprüchen geprägten Herrschaftsgebilde mit jenen in einem parochial nur auf die Nation ausgerichteten Staat stellt in diesem Zusammenhang neue Erkenntnisse in Aussicht. Im Folgenden soll versucht werden, die Präventionsmaßnahmen gegen Pest und Cholera im späten Osmanischen Reich bis 1878 jenen Bulgariens (einem seiner Nachfolgestaaten) bis hin zu den Balkankriegen von 1912/13 gegenüberzustellen. Der Zeitpunkt des Berliner Kongresses (1878) fällt ungefähr zusammen mit einem Paradigmenwechsel in der Erklärung von Krankheitsentstehung. Je nachdem, welche Ursache für eine Epidemie angenommen wurde, unterschieden sich die Präventionsmaßnahmen voneinander. Anfang des 19. Jahrhunderts war die Kontagionstheorie als Erklärung für die Krankheitsübertragung dominant gewesen. Diese ging davon aus, dass eine Ansteckung von außen käme, indem die einer kranken Personen anhaftenden Giftstoffe in eine Gemeinschaft „eingeschleppt“ würden. Demgemäß galt die Anhaltung verdächtiger Personen in Quarantänen als eine wirksame Prävention. Seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts konkurrierte die Miasmentheorie mit der Kontagionstheorie. Die Miasmentheorie machte giftige Bodenausdünstungen, die ausschließlich von lokalen Gegebenheiten abhängig seien, für den Ausbruch von Krankheiten verantwortlich und forderte anstelle von Quarantänen, die als unwirksam erachtet wurden, sanitäre Reformen (wie etwa die Einführung der Schwemmkanalisation in den Städten und eine hygienische Lebensführung). In den 1870er Jahren wurde die Miasmentheorie ihrerseits von der durch die Erkenntnisse der Bakteriologie abgestützten Keimtheorie verdrängt. Die Ablehnung von Quarantänen durch die Miasmentheorie wurde von den Historikern Erwin Ackerknecht und Peter Baldwin in Zusammenhang mit dem infolge des aufkommenden Industriekapitalismus anwachsenden Welthandel gebracht, da für diesen die Abschaffung jeglicher Handelsbarrieren ein Leitprinzip war.3 Gemäß der Keimtheorie wurde ein gemäßigtes Prinzip der Isolation zur Krankheitsprävention gefordert, das von Baldwin als Neoquarantinismus bezeichnet wurde: Dabei löste die ärztliche Nachkontrolle von verdächtigen Personen in ihren Heimatorten (daher auch die damals gebräuchliche Bezeichnung „revision system“) die strikte Quarantäne ab.4 2 | Erna Lesky, Die österreichische Pestfront an der k.k. Militärgrenze, in: Saeculum 8 (1957), 82-106; Gunther E. Rothenberg, The Austrian Sanitary Cordon and the control of the bubonic plague: 1710-1871, in: Journal of the history of medicine and allied sciences 28 (1973), 15-23; Daniel Panzac, Quarantaines et lazarets: l‘Europe et la peste d‘Orient (XVIIe-XXe siècles), Aix-en-Provence 1986. 3 | Erwin H. Ackerknecht, Antikontagionismus zwischen 1821 und 1867, in: Philipp Sarasin u.a. (Hg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920, Frankfurt am Main 2007, 71-110; Peter Baldwin, Contagion and the state in Europe, 18301930, Cambridge u.a. 1999, 1-36, 143-211; für die zeitlich vorangehende Debatte vgl. Daniela Sechel, Contagion Theories in the Habsburg Monarchy (1770-1830), in: dies. (Hg.), Medicine within and between the Habsburg and Ottoman Empires: 18th and 19th Centuries (= Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich, Internationale Beihefte 2), Bochum 2011, 55-77. 4 | Baldwin, Contagion, 141, 151-164, 184-185.

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Trotz dieser Debatten hielten sowohl das Osmanische Reich als auch Bulgarien nach 1878 weiterhin an den strikten Quarantänen fest und orientierten sich daher implizit noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts an den Prinzipien der Kontagionstheorie. Warum war dies der Fall?

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Bislang wurde in der Forschung kaum berücksichtigt, dass das Osmanische Reich zentraler Austragungsort der mehrere Jahrzehnte dauernden Kontroverse zwischen Kontagionismus und Miasmentheorie war, ehe die Diskussion durch die Erkenntnisse der Bakteriologie und den Sieg der Keimtheorie entschieden wurde. Zu den zentralen Protagonisten der ausgefochtenen ideologischen Kämpfe gehörten weniger Personen, die aus dem Osmanischen Reich stammten – denn dort wurden gerade die ersten Grundlagen für den Aufbau eines modernen Gesundheitssystems errichtet –, sondern es waren zumeist westliche Ärzte, die teilweise selbst eine kürzere oder längere Zeit im Osmanischen Reich verbracht hatten. Eigentlich wäre anzunehmen, dass mit der Durchsetzung der einen oder der anderen ideologischen Schule zugleich auch die Entscheidung für Quarantänen oder sanitäre Reformen fallen würde. Tatsächlich verfügten die Anhänger der Einführung von Quarantänen im Osmanischen Reich von Beginn an über mehr Einfluss. Dies hat damit zu tun, dass westliche Staatsmänner und Mediziner aus geoepidemiologischen Überlegungen heraus den Abbau von Quarantänen in den eigenen Ländern forcierten, weil solche zugleich im Osmanischen Reich eingeführt wurden. Es sollten jedoch vier Jahrzehnte zwischen ersten Versuchen in diese Richtung und ihrer endgültigen Einführung im Osmanischen Reich liegen: Das Habsburger Reich war in der Quarantänefrage daran interessiert, seinen Pestkordon an der Militärgrenze zum Osmanischen Reich zu entlasten. Dies war der Grund dafür, dass ein vom Wiener Hof ernanntes Komitee in den Jahren 1802 bis 1804 eine Reihe von Quarantänevorschriften für das Osmanische Reich ausarbeitete. Die Vorschläge wurden von Baron Ignaz Lorenz von Stürmer (1752-1829) dem österreichischen Gesandten bei der Hohen Pforte Sultan Selim III. präsentiert. Letzterer unterstützte den Plan, doch der Diwan (die Regierung des Sultans) verwarf ihn auf Grund von Einwänden religiöser Natur.5 Der französische Mediziner Guillaume Antoine Olivier (1756-1814) machte muslimische „ideas of fatalism“ für dieses Resultat verantwortlich und empfahl Europäern, die in Istanbul wohnten, sich im Fall eines Pestausbruchs in ihren Häusern einzuschließen. Olivier war ein Anhänger der Kontagionstheorie – seines Erachtens erfolge die Infektion über Kontaktübertragung – und wies die Ansicht zurück, dass faulige Miasmen aus ansteckenden Orten in der Stadt für die lokalen Pestepidemien verantwortlich seien. Deshalb: „The germ must be brought thither from without.“ Die Pestausbrüche im eu5 | Charles Maclean, Results of an investigation, respecting epidemic and pestilential diseases including researches in the Levant, concerning the plague, Bd. 1, London 1817, 457-458.

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ropäischen Teil des Osmanischen Reiches seien seiner Ansicht nach darauf zurückzuführen, dass diese Provinzen – anders als die in Kleinasien und Arabien – auf Grund seiner Nähe und seiner Verbindungen zur Hauptstadt der Pest eher ausgesetzt seien.6 In die entgegengesetzte Richtung argumentierte der britische Arzt Charles Maclean (1788-1824), der von lokalen Ursachen für die Pest in der osmanischen Hauptstadt ausging. Für ihn war die Kontagionstheorie eine Erfindung des Vatikans aus der Mitte des 16. Jahrhunderts.7 1815 praktizierte Maclean als Arzt im griechischen Spital Istanbuls. Da er Quarantänen und restriktive Sanitätsgesetze ablehnte, beschrieb er die Zustände im Osmanischen Reich als vorbildlich: „Under the Turkish dominion […] each individual is left to act, according to his discretion, with respect to the government of himself, and of his family, in times of pestilence. He is not shut up in his house, surrounded by watchmen, shunned by his neighbors, or deserted by his children, if supposed to be infected.”8

Ein entscheidender Ansporn für einen Meinungswandel innerhalb der osmanischen Eliten im Hinblick auf Quarantänen war der Russisch-Osmanische Krieg von 1828/1829. Dieser führte zur Errichtung eines Sanitätskordons an der Südgrenze der Donaufürstentümer Moldau und Walachei und zur Einrichtung der russischen Quarantänestation Sulina an der Donaumündung. Während der Krieg noch im Gange war, befiel eine pestähnliche Krankheit, das sogenannte „Walachische Fieber“ die russischen Soldaten. Während der Kämpfe hatte die Russische Armee aus strategischen Gründen gezögert Quarantänen einzuführen. Erst nach dem Waffenstillstand, als die Todesrate weiter stieg, wurden Isolationsmaßnahmen im russischen Soldatenlager bei Adrianopel (heute Edirne) eingeführt. Dies wiederum motivierte Einheiten der osmanischen Armee, einen Militärkordon um die Stadt zu errichten.9 Angesichts steigender Krankheitsfälle ernannte die osmanische Regierung im Jänner 1830 eine provisorische Sanitätskommission für den Großraum Istanbul. Die Stadt wurde in Sanitärbezirke aufgeteilt, die unter der Kontrolle von jeweils einer im Heilwesen versierten Aufsichtsperson standen. Diese wurden dazu angehalten, an Pest Erkrankte und Personen, die unter Krankheitsverdacht standen, in Listen einzutragen, worauf letztere in ihren Häusern isoliert wurden, während erstere in Dörfern außerhalb der Stadt einquartiert wurden. Je nach Glaubenszugehörigkeit der Patienten gab es je ein Dorf für die „Türken“ (d.h.

6 | Guillaume Antoine Olivier, Travels in the Ottoman Empire, Egypt, and Persia undertaken by order of the government of France, during the first six years of the Republic, London 1801, 157-161. 7 | Maclean, Results, viii, 198-202, 255. 8 | Ebda., 425-428. 9 | Maximilian Heine, Bilder aus der Türkei. Nach eigener Anschauung skizziert, St. Petersburg 1833, 40-41; vgl. Christian Promitzer, Stimulating the Hidden Dispositions of SouthEastern Europe. The Plague in the Russo-Turkish War of 1828-29 and the Introduction of Quarantine on the Lower Danube, in: Sechel, Medicine in and between, 79-107.

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Muslime), Armenier, Juden und orthodoxe Christen (Griechen und Bulgaren).10 Dieser Versuch schien erfolgreicher gewesen zu sein als jener, in den Hafen von Istanbul einlaufende Schiffe unter Quarantäne zu stellen, wie dies 1831 angeordnet wurde, um die Hauptstadt vor der Cholera zu schützen. 1834 wurden Schiffe aus Smyrna (heute Izmir), die in den Hafen von Thessaloniki einliefen, auf Anordnung des lokalen Paschas unter Quarantäne gestellt. 1836, infolge des Ausbruchs einer weiteren Pestepidemie, befahl der Sultan den Provinzgouverneuren auf dem Balkan, Landquarantänen in Bosnien, zwischen den Städten Pirot und Niš im heutigen südöstlichen Serbien, in Sofia und in Makedonien zu errichten. Im folgenden Jahr, als die Pest wiederum im europäischen Teil des Reiches wütete, erließen die Paschas von Rustschuk (heute Ruse in Bulgarien) und Silistria ähnliche Maßnahmen.11 Doch das weitmaschige System dezentralisierter Quarantänen erwies sich als ineffizient im Vergleich zu den streng zentralistisch geführten Quarantäne-Regimes und Sanitätskordons des Habsburger Reiches, der Walachei und Moldaus, die 1831/1832 etabliert worden waren, und zu jenen Serbiens, die 1836 ins Leben gerufen worden waren.12 Der französische Arzt Arsène-François Bulard (1805-1843), der bereits praktische Erfahrungen mit der Pest in Ägypten gesammelt hatte, bot an, ein solches Regime im Osmanischen Reich einzuführen. Bulard war ein Anhänger der „bedingten Kontagion“, d.h. er lehnte die Miasmentheorie ab, glaubte aber nicht, dass jede Berührung einer an Pest erkrankten Person zur Infektion führte.13 Als er im September 1837 in Istanbul eintraf, genoss er die Unterstützung der französischen Regierung und des an Reformen interessierten Außenministers Mustafa Reşid Pascha (1802-1858). Im März 1838 akzeptierte der Diwan Bulards Pläne.14 In einer aufsehenerregenden Erklärung 10 | Rinck, Über die Pest, welche 1829 in dem russischen Militärhospitale zu Adrianopel herrschte, in: Medizinisch-praktische Abhandlungen von deutschen in Russland lebenden Ärzten, Bd. 1 (= Vermischte Abhandlungen aus dem Gebiete der Heilkunde 5), Hamburg 1835, 169-202, 172. 11 | Daniel Panzac, La peste dans l‘empire ottoman 1700-1850 (= Collection Turcica 5), Leuven 1985, 475-479; vgl. Ami Boué, La Turquie d‘Europe, Bd. 3, Paris 1840, 563f; Correspondence relative to the contagion of plague and the quarantine regulations of foreign countries, 1836-1843, London 1843, 264, 267; zur Pestepidemie auf dem Balkan vgl. Nadya ManolovaNikolova, Chumavite vremena (1700-1850), Sofia 2004, 33-36, 54, 58-60, 73-74, 77-78, 81, 85, 91-92. 12 | Carl Ludwig Sigmund, Die Quarantänereform und die Pestfrage. Beobachtungen und Anträge geschrieben nach einer im Auftrage der k. k. österreichischen Staatsverwaltung unternommenen Bereisung der Donauländer, des Orients und Egyptens, Wien 1850, 23; Adolphus Slade, Travels in Germany and Russia, including a steam voyage by the Danube and the Euxine from Vienna to Constantinople, in 1838-39, London 1840, 155. 13 | Arsène-François Bulard, Über die orientalische Pest in Alexandrien, Kairo, Smyrna, Konstantinopel in den Jahren 1833, 1834, 1835, 1836, 1837 und 1838 gesammelten Materialien, Leipzig 1840, 1-9. 14 | Ebda., xx-xxi, xxvi; [Friedrich August] Vetter, Nachrichten neuester Beobachter über die Pest auszugsweise nach dem von Hrn Dr Bulard herausgegebenen Journale la Peste bearbeitet, in: C. W. Hufeland‘s Journal der practischen Heilkunde 86 (1838) 3, 91-108, 96-97.

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verkündete Sultan Mahmud II., dass die medizinische Wissenschaft und seine Liebe für das Volk über den Gesetzen des Korans stünden, der lehre, dass Gegenstände, die von an Pest Erkrankten berührt worden seien, nicht imstande seien, diese zu übertragen. Die Ulema, die muslimischen Religionsgelehrten, hätten dies zu rechtfertigen.15 Ein Sanitätsrat wurde gegründet, und Bulard als dessen provisorischer Direktor eingesetzt. Doch bald wurde er auf Grund von Schwierigkeiten mit der Bürokratie ersetzt, und im Juni 1838 beauftragte die osmanische Regierung Dr. Franz Xaver Minas, den bisherigen Leiter der österreichischen Quarantänestation von Semlin (heute Zemun in Serbien) mit dem weiteren Aufbau der osmanischen Quarantänen. Dies hatte in Kooperation mit dem Sanitätsrat zu geschehen, der in der Zwischenzeit aus einem osmanischen Direktor, fünf europäischen Ärzten und beratenden Delegierten der europäischen Großmächte bestand. Dieses Organ sollte alsbald dreizehn regionale Sanitätsämter in den europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches unter sich haben und vierzig in dessen asiatischen Provinzen.16 Doch auch Minas erfüllte letztlich die in ihn gesetzten Erwartungen nicht und wurde im Jänner 1840 durch den Franzosen Dr. Louis Robert ersetzt, der das osmanische Quarantänesystem auf eine solide Basis stellte.17 Dieses Sesselrücken an der Spitze der neugegründeten Gesundheitsbehörde zeigt, dass die 1838 erfolgte Hinwendung des Diwans zu Quarantänen offensichtlich auf Veranlassung von Frankreich und Österreich wie auch der anderen europäischen Großmächte geschah. Diese wollten, dass die Pest vor Erreichen ihrer Territorien bekämpft werde.18 Infolgedessen wurden die Aufgaben der osmanischen Quarantänen entsprechend ihrer Vorgaben definiert: Anders als im Falle der europäischen Länder, die versuchten die „orientalische Pest“ spätestens an ihren Grenzen einzudämmen, hatte das Osmanische Reich diese Krankheit innerhalb seines eigenen Territoriums zu bekämpfen. Dies hieß, dass es – abgesehen von der wichtigen Aufgabe einen maritimen Schutz gegen den unbotmäßigen Vasallen Ägypten als gefährlichen Herd der Pest in 15 | Vgl. Bulard, Über die orientalische Pest, xxvi-xxix; Correspondence relative to the contagion of plague, 270-271. 16 | Johann Isaac Jacob Sachs, Medicinischer Almanach für das Jahr 1839, Berlin 1839, 336338, 336; L.P.B. d‘Aubignosc, La Turquie nouvelle jugée au point où l‘ont amenée les réformes du sultan Mahmoud, Paris 1839, 232-234; Bulard, Über die orientalische Pest, xxx, 323, 325326; Sigmund, Die Quarantänereform, 31-32; Lorenz Rigler, Die Türkei und deren Bewohner in ihren naturhistorischen, physiologischen und pathologischen Verhältnissen vom Standpunkte Constantinopel‘s geschildert, Bd. 1, Wien 1852, 407-13; Alois Kernbauer, Aspekte der türkisch-österreichischen Beziehungen auf dem Gebiete der Medizin zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Arslan Terzioğlu/Erwin Lucius (Hg.), Türk tıbbının batılılaşması. Verwestlichung der türkischen Medizin, Istanbul 1993, 134-145, 135-137; Daniel Panzac, Tanzimat et santé publique: les débuts du Conseil sanitaire de l’Empire ottoman, in: Hakkı Dursun Yıldız (Hg.), 150. yılında Tanzimat, Ankara 1992, 325-333; Marcel Chahrour, „A civilizing mission“? Austrian medicine and the reform of medical structures in the Ottoman Empire, 1838-1850, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38 (2007), 687-705, 689-90. 17 | Sigmund, Die Quarantänereform, 32; Rigler, Die Türkei, Bd. 1, 407-408. 18 | N. N., De la diplomatie Russe, in: Revue Britannique 2 (1839), 155-170, 168-169.

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der geographischen Nähe aufzubauen – damit konfrontiert war, seine eigenen Provinzen und Städte gegenseitig durch Linien von Militärkordons und Landquarantänen zu schützen und dadurch voneinander abzuschneiden. Die Bevölkerung war gegenüber dieser neuen Institution kritisch eingestellt – wie etwa der lebensbedrohende Protest von fünfhundert muslimischen Frauen gegen den Direktor des neuen Sanitätsamtes im Schwarzmeerhafen Varna im Jahr 1840 zeigt. Außerdem wurde die Wirksamkeit der Quarantänen durch eine laxe Praxis konterkariert, wie die freizügige Handhabung von Gesundheitszertifikaten in den Donauhäfen 1841 zeigen sollte.19 Doch der Prozess war langfristig unumkehrbar: 1843 gab es bereits 110 Sanitätsämter auf dem Territorium des gesamten Osmanischen Reiches, wenngleich deren Zahl nach dem Rückgang der Pest wieder schrumpfte. Im Rückblick ist festzuhalten, dass unter den zeitgenössischen Berichten die positiven überwiegen, denn den Quarantänen wurde eine entscheidende Rolle für den Rückzug der Pest aus weiten Teilen des Reiches in den 1840er Jahren zugeschrieben.20 Wenn man bedenkt, dass diese Jahre von Erwin Ackerknecht als globale Hochblüte der Miasmentheorie und der damit einhergehenden Ablehnung von Quarantänen beschrieben werden, so ist diese Feststellung doch etwas verwunderlich.21 Sie ist jedoch schlüssig, wenn die geoepidemiologische Sichtweise und die dem Osmanischen Reich zugeschriebene Rolle als Schutzwall gegen Epidemien berücksichtigt werden. Beides versprach, dass das Alltagsgeschäft kapitalistischen Welthandels ungestörter verlaufen würde als umgekehrt.22

19 | [Karl Ludwig] Sigmund, Die Quarantäne-Reform, geschrieben nach einer Reise im Orient und in Egypten III, in: Zeitschrift der K.K. Gesellschaft der Ärzte zu Wien 6 (1850) 1, 165-178, 166; Correspondence relative to the contagion of plague, 548. 20 | Bernhard Stern, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei, Bd. 1, Berlin 1903, 275; Neli Bachvarova, Meditsinata i lekarite na balgarskoto vazrazhdane, in: Miladin Apostolov (Hg.), Izmereniya na balgarskata meditsina (= Balgarska vechnost 33), Sofia, 2001, 67-97, 94-5; Rigler, Die Türkei, Bd. 1, 412; Lorenz Rigler, Bemerkungen über die GesundheitsVerhältnisse Constantinopels im Juni 1847, in: Zeitschrift der K.K. Gesellschaft der Ärzte zu Wien 4 (1848) 2, 230-241, 239-40; Sulpice Antoine Fauvel, Rapports sur la question de l’endémicité de la peste en Turquie, in: Recueil des travaux du Comité Consultatif d’Hygiene Publique de France 2 (1873), 99-154, 122-123. 21 | Vgl. Ackerknecht, Antikontagionismus. 22 | Sigmund, Die Quarantänereform; Baldwin, Contagion, 211-236 ; Ronald E. Coons, Steamships and quarantine at Triese, 1837-1848, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 44 (1989) 1, 28-55; Mark Harrison, Disease, diplomacy and international commerce: The origins of international sanitary regulation in the nineteenth century, in: Journal of Global History 1 (2006) 2, 197-217.

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UND DIE OSMANISCHEN

Q UARANTÄNEN

Wie bereits angedeutet, blieb das Osmanische Reich 1831, als die Cholera das erste Mal auch Zentraleuropa erfasste, nicht verschont.23 Als sich die nächste Epidemie im Jahr 1847 verbreitete, ordnete der Oberste Sanitätsrat, wenn auch zögerlich, die Wiedererrichtung der Landquarantänen an. Doch diese schienen keinerlei Wirksamkeit zu haben und so ließ sie der Sanitätsrat wieder aufheben und konzentrierte sich allein auf Seequarantänen.24 Möglicherweise war diese Politik von den europäischen Großmächten veranlasst worden. Auf jeden Fall verharrte der Oberste Sanitätsrat des Osmanischen Reiches in einer subalternen Haltung gegenüber Vorschlägen, die von den europäischen Großmächten kamen. So war es nur konsequent, dass das Osmanische Reich als einer von wenigen Staaten die Sanitätskonvention von 1853 über die Errichtung von Quarantänen im Fall von Cholera umsetzte. Diese war das Ergebnis der ersten Internationalen Sanitätskonferenz des Jahres 1851 in Paris gewesen.25 Im Sommer 1854 kam es zum Ausbruch der Cholera unter französischen und britischen Soldaten, als ihre Schiffe im Krimkrieg im Schwarzmeerhafen Varna anlegten. Dabei zeigte es sich, dass die militärischen Stäbe der beiden westlichen Großmächte mit schlechtem Beispiel vorangingen und die angezeigte Einrichtung von Quarantänen vernachlässigten.26 Letzteres war auch die Ursache dafür, dass sich die Cholera 1865 im Osmanischen Reich ausbreiten und von dort nach Europa vordringen konnte. Die Epidemie erfasste auch die Provinz Ostrumelien (den südöstlichen Teil des heutigen Bulgarien); die Absperrung durch Quarantänen konnte auch nicht verhindern, dass auch das Vilayet Tuna (Donauprovinz) nördlich des Balkan-Gebirges erfasst wurde.27 Die im folgenden 23 | J.A. Buet, Histoire générale du choléra morbus depuis 1817 jusqu’en août 1831. Premier article, in: Journal complementaire des sciences médicales 40 (1831), 337-385, 383; Victor Adolph Riecke, Mittheilungen über die morgenländische Brechruhr, Bd. 3, Stuttgart 1832, 227, 236; August Hirsch, Handbook of Geographical and Historical Pathology, Bd. 1, London 1883, 399; vgl. allg.: Rengin Dramur, Les mesures préventives prises contre le choléra au 19ème siècle dans l’Empire Ottoman, in: 38. Uluslarası Tıp Tarihi Kongresi Bildiri Kitabı, Bd. 2, Ankara 2005, 1329-1335. 24 | Conférence sanitaire internationale No. 14. Seance du 4 Octobre 1851, in: Procès-Verbaux de la Conférence Sanitaire Internationale Ouverte à Paris le 27 juillet 1851, Paris 1852, 3-4. 25 | Nermin Ersoy/Yuksel Gungor/Aslihan Akpinar, International Sanitary Conferences from the Ottoman perspective (1851-1938), in: Hygiea Internationalis 10 (2011) 1, 53–79, 5758; Mihail Ivanov, Holera i merki, in: Meditsina 1 (1895), 30-42; Leon Colin, Quarantaines, in: Amédée Dechambre/Leon Lereboullet/Louis Hahn (Hg.), Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales, Serie 3, Bd. 1, Paris 1874, 3-171, 61-62. 26 | Report to the International Sanitary Conference of a commission from that body, to which were referred the questions relative to the origin, endemicity, transmissibility and propagation of Asiatic choleram, Boston Mass. 1867, 64-65. 27 | Ebda., 69; Antoine Sulpice Fauvel, Le Choléra, étiologie et prophylaxie: Exposé des travaux de la Conférence sanitaire internationale de Constantinople, Paris 1868, 273; Dunav. Vestnik, koyto sadarzhava vatreshni i vanshni novini i sekakvi razsazheniya, 28.7.1865, 43, 4.8.1865, 46, 25.8.1865, 51.

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Jahr in Istanbul abgehaltene Internationale Sanitätskonferenz war hauptsächlich eine Antwort der westlichen Großmächte auf die Epidemie. Die Teilnehmer kamen zur Erkenntnis, dass die Fahrten muslimischer Pilger aus Indien nach Mekka als Ursache für den Choleraausbruch anzusehen seien. Gegen den Protest der Delegierten des Osmanischen Reiches und Persiens wurde ein französischer Vorschlag angenommen, der den Abbruch jedweden Verkehrs mit der Hedschas-Region (jenem Teil der Arabischen Halbinsel, wo die Hauptziele der muslimischen Pilger liegen) und die Einstellung der Pilgerfahrten im Fall der Cholera verlangte.28 Doch die nächste Epidemie im September 1871 zeigte, dass die Verbreitung der Cholera wieder (wie vor 1865) ihren alten Weg nach Europa über das russische Festland nahm. In den osmanischen Häfen wurde deshalb eine zehntägige Seequarantäne für Schiffe, die aus dem Asow’schen Meer kamen, verhängt.29 Zwar konnte dadurch ein Ausbruch in diesem Jahr verhindert werden, doch im Folgejahr erreichte die Cholera auf ihrem Marsch durch Rumänien dennoch den osmanischen Donauhafen Rustschuk.30 Und auch im Frühjahr 1873 wurde die Donauprovinz des Osmanischen Reiches erfasst, obwohl Quarantänen errichtet worden waren. Diesmal kam die Cholera aus Richtung Österreich-Ungarn.31 In der an der Donau liegenden Stadt Lom wurden alle Häuser mit infizierten Personen isoliert. Den orthodoxen Priestern war nicht erlaubt, Begräbnisrituale zu halten, und die Leichen durften nur von infizierten Personen begraben werden.32 Infolge des Bedürfnisses der Bevölkerung, den Handel mit dem linken, rumänischen Donauufer nicht völlig abbrechen zu lassen, wurden die Quarantänen in den anderen osmanischen Donauhäfen nicht so strikt eingehalten und manche Personen umgingen die Quarantänen auch, indem sie von Rumänien aus nach Serbien übersetzten und von dort in die Donauprovinz gelangten. Auf diese Weise konnte die Epidemie hier weiter Fuß fassen und auch nach Ostrumelien vordringen.33 Trotz der vielen Todesfälle waren die vom Donauhandel lebenden Kaufleute gegen die Quarantänen eingestellt, die sie – wie ein Kaufmann aus Rustschuk erklärte – ruiniert hätten, während man lieber ein wenig Pest, Cholera und Gelbfieber aushalten würde.34 Im Oktober 1873 erreichte die Cholera die ostrumelische Stadt Philippopel (das heutige bulgarische Plovdiv). Personen aus der Stadt, die nach Adrianopel und nach Istanbul reisten, egal ob per Zug oder auf anderem Wege, hatten 28 | Valeska Huber, The unification of the globe by disease? The international sanitary conferences on cholera, 1851-1894, in: The Historical Journal 49 (2006) 2, 453-476, 462-463; Ersoy/ Gungor/Akpinar, International Sanitary Conferences, 60-61. 29 | Procès-verbaux de la Conférence sanitaire internationale, ouverte à Vienne le 1 juillet 1874, Wien 1874, 153-154; Dora Tomova, Opis na dokumenti za zdravnoto delo i zdraveopazvaneto, zapazeni v Balgarskiya Istoricheski Arhiv na Narodnata Biblioteka „Kiril i Metodiy”, Sofia 1986, 164-166. 30 | Procès-verbaux de la Conférence sanitaire 1874, 154; Tomova, Opis na dokumenti za zdravnoto delo, 169-71. 31 | Ebda., 176; Procès-verbaux de la Conférence sanitaire 1874, 154. 32 | Tomova, Opis na dokumenti za zdravnoto delo, 178. 33 | Ebda., 177-179; Procès-verbaux de la Conférence sanitaire 1874, 154. 34 | Ebda., 157.

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sich einer Quarantäne zu unterwerfen und Briefe wurden vor dem Versand geräuchert. Nach mehr als einem Monat erlosch die Epidemie und die Quarantänen konnten aufgehoben werden.35 Die osmanische Hauptstadt blieb diesmal verschont, und daher konnte Dr. Bartoletti, ein Anhänger der Kontagionstheorie und osmanischer Delegierter zur Internationalen Sanitätskonferenz des Jahres 1874, die in Wien stattfand, erklären, dass diese Erfahrungen zeigten, dass die Quarantänen ihren Zweck erfüllt hätten.36

P EST, C HOLERA UND Q UARANTÄNEN . B ULGARIENS GEOEPIDEMIOLOGISCHE STELLUNG JAHREN 1878 BIS 1912

IN DEN

Vier Jahre später war die osmanische Herrschaft in weiten Teilen seiner europäischen Provinzen infolge des Russisch-Osmanischen Krieges von 1877/1878 obsolet geworden. 1878 wurde Bulgarien als autonomes Fürstentum gegründet. Als Vasallenstaat des Osmanischen Reiches erbte es dessen Quarantänewesen, das verspätet an den bulgarischen Staat übergeben wurde. 1883 war dies bei den Seequarantänen von Varna der Fall. Im Falle des Schwarzmeerhafens Burgas wurden erst 1892 bulgarische Quarantäneärzte zugelassen, die jedoch auch weiterhin mit ihren dort stationierten osmanischen Kollegen zusammenarbeiten mussten. Diese zogen erst 1909, ein Jahr nach der Erklärung der bulgarischen Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich, ab.37 Burgas war Teil der osmanischen Provinz Ostrumelien. Diese wurde zwar 1885 mit Bulgarien faktisch vereinigt, aber bis zur Unabhängigkeit von 1908 galt der bulgarische Fürst in den Augen des Sultans nur als Gouverneur der weiterhin de iure bestehenden Provinz Ostrumelien. Auf Grund des beim Berliner Kongress von 1878 ausgehandelten Vertrags hatte Bulgarien zudem alle bisherigen Handelsvereinbarungen, Schifffahrtsakte und andere Konventionen zwischen den Großmächten und dem Osmanischen Reich zu übernehmen.38 So verpflichtete ein 1880 verabschiedetes „Gesetz über die Verwaltung der Quarantänen an den Grenzen des Fürstentums Bulgarien“ den bulgarischen Obersten Medizinischen Rat alle diesbezüglichen Maßnahmen des Obersten Sanitätsrates in Is35 | Tomova, Opis na dokumenti za zdravnoto delo, 182-183, 241. 36 | Procès-verbaux de la Conférence sanitaire 1874, 154; vgl. Tomova, Opis na dokumenti za zdravnoto delo, 177. 37 | Für Varna vgl. I. Kapinchevam T. Stoyanova, Prinosat na Ruskite lekari za izgrazhdaneto na obshtestvenoto zdraveopazvane vav Varna sled osvobozhdenieto, in: Natsionalna nauchna konferenciya s mezhdunarodno uchastie na tema „Osvobozhdenieto na Balgariya i parvi stapki v izgrazhdaneto na obshtestvenoto zdraveopazvane”, 23. XI. 2007: Dokladi, Sofia 2008, 28-35, 29; für Burgas vgl. S[toyan] Manolov, Borbata s ekzotichnite bolesti i znachenieto na karantinite, in: Letopisi na Lekarskiya sajuz 9 (1911) 6, 259-282, 274-275. 38 | Protocoles et procès-verbaux de la Conférence sanitaire internationale de Dresde, 11 mars-15 avril 1893, Dresden 1893, 70; Benoit Brunswick, Le traité de Berlin annoté et commenté, Paris 1878, 49-50, 52-53.

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tanbul zu übernehmen.39 Damit war gesichert, dass Bulgariens Präventionspolitik bezüglich globaler Epidemien wie Pest und Cholera dem osmanischen System strikter Quarantänen folgte, das schon einige Jahrzehnte zuvor für West- und Zentraleuropa mit der Ablehnung der Kontagionstheorie abgeschafft worden war. Den europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches, der sogenannten „europäischen Türkei“, auf deren Territorium sich nun Bulgarien erstreckte, war hingegen schon von Ludwig Sigmund in sanitärer Hinsicht und in Einklang mit den Handelsinteressen des Kaisertums Österreich um 1850 ein Sonderstatus im Hinblick auf baldigen Abbau der dortigen Quarantänen zugesprochen worden.40 In diesem Zusammenhang ist auch die Kritik des tschechischen Historikers Konstantin Jireček (1854-1918) zu sehen, der das Bildungswesen Bulgariens mit aufbaute. 1883, fünf Jahre nach Staatsgründung, stellte Jireček den Sinn und auch die Handhabung der Quarantänen in Frage.41 Auch innerhalb Bulgariens meldete sich Kritik: Dr. Mihail Ivanov (1864-1924), der sich am Preußischen Institut für Infektionskrankheiten in Bakteriologie spezialisiert hatte, sprach sich – so wie sein Vorbild Robert Koch – im Sinne des moderaten Neoquarantinismus gegen die Anwendung von Landquarantänen und Militärkordons, die nur als ultima ratio eingesetzt werden sollten, aus.42 Ivanovs Hauptkritikpunkt am bulgarischen Quarantänewesen war die Abwesenheit elementarer hygienischer Normen: Die Reisenden wurden in überfüllten Holzschuppen untergebracht und hatten auf Stroh zu schlafen; ihre Nahrung war von schlechter Qualität und sowohl ihr Gepäck als auch ihre Kleidung wurden durch die Desinfektionsmaßnahmen schwer in Mitleidenschaft gezogen, sodass ausländische Reisende Bulgarien als Land, das von „Wilden“ und von „geschwänzten Menschen“ bewohnt sei, betrachten würden.43 Ivanov führte die strikte Handhabung der Quarantänen in Bulgarien auf überholtes Denken zurück. Er erwähnte jedoch nicht die Tatsache, dass Bulgarien ein Transitland für rückkehrende bosnische Mekkapilger war und dass sich unter den muslimischen Minderheiten auch viele alljährlich auf die Hadsch nach Mekka begaben. Nachdem 1890 die Cholera wieder im Hedschas ausgebrochen war, erarbeiteten die europäischen Großmächte auf den Internationalen Sanitätskonferenzen von Venedig (1892), Dresden (1893), Paris (1894) und wiederum Venedig (1897) eine Reihe von Maßnahmen, die bei ihrer Rückkehr allesamt noch in der Hedschas-Region, im Bereich des Suezkanals, sowie in den Häfen von Alexandrien, Beirut und Smyrna zur Anwendung

39 | Manolov, Borbata s ekzotichnite bolesti, 273. 40 | Vgl. Sigmund, Die Quarantänereform, 56, 62. 41 | Konstantin Irechek, Knyazhestvo Balgariya, Plovdiv 1899, 311, 482, 579, 664, 724, 785 (diese Stellen sind in der deutschen Ausgabe der Landschaftsschilderungen von Jirečeks Fürstenthum Bulgarien nicht enthalten). 42 | Mihail Ivanov, Holera i merki, 32-34, 38; ders., Holera i merki. Prodalzhenie, in: Meditsina 1 (1895) 7, 19-32, 19-24, 29-30; vgl. Protocoles et procès-verbaux de la Conférence sanitaire internationale de Rome, inaugurée le 20 mai 1885, Rom 1885, 92; Baldwin, Contagion, 167. 43 | Ivanov, Holera i merki. Prodalzhenie, 25-28.

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kommen sollten.44 Zur selben Zeit kritisierte jedoch der österreichisch-ungarische Delegierte 1894 in Paris, dass die bosnisch-herzegowinischen Pilger auf ihrer Rückkehr durch Bulgarien und Serbien durch zusätzliche Quarantänen und schikanöse Behandlung gequält würden.45 Österreich-Ungarn war selbst nicht zurückhaltend in der Behandlung heimkehrender bosnischer Mekkapilger, die beim Antreten der Heimreise per Schiff, bei ihrer Ankunft in Triest oder – wenn sie den Landweg über Bulgarien und Serbien gewählt hatten – bei ihrer Ankunft in Bosnien von harschen Quarantänemaßnahmen betroffen waren.46 Daraus können wir schließen, dass Österreich-Ungarn die zusätzlichen Quarantänen in den Balkanländern nicht so sehr aus einer humanitären Gesinnung gegenüber den eigenen Mekkapilgern ablehnte, sondern weil durch diese Maßnahmen auch westliche Bahnreisende auf der Strecke von Istanbul nach Wien oder Budapest betroffen sein konnten. In Bulgarien hatte Ivanov einen grundsätzlichen Gegner in Dr. Marin Rusev (18641935), der Ende der 1880er und Anfang der 1890er Jahre im Rahmen des prowestlichen Regimes von Stefan Stambolov das Gesundheitswesen in Bulgarien reformiert hatte, und 1897 auf der Sanitätskonferenz von Venedig als bulgarischer Delegierter die Beibehaltung des strengen Quarantäneregimes – insbesondere im Hinblick auf die Mekkapilger – verteidigte und das System ärztlicher Nachkontrolle in ihrem Fall als undurchführbar ansah.47 Nach einem Regierungswechsel in Bulgarien wurde Rusev 1903 Chef der obersten bulgarischen Sanitätsbehörde. Nun setzte er eine reformierte Regelung in Kraft. Diese nahm eine Trennung zwischen Mekkapilgern und den übrigen Reisenden vor und unterschied zwischen bulgarischen und bosnischen Hadschis: Die Zahl der bulgarischen Grenzübergänge, die Mekkapilger passieren durften, wurde auf drei beschränkt: auf die Schwarzmeerhäfen Varna und Burgas, sowie den von Zugreisenden frequentierten Übergang von Hebibchevo (heute Lyubemets). Alle in Bulgarien eintreffenden Hadschis hatten eine Quarantäne, deren Länge von den bulgarischen Behörden bestimmt wurde, einzuhalten, weiters erfolgte eine strenge medizinische Überprüfung und Desinfektion ihres Gepäcks insbesondere des mitgebrachten Wassers vom Zamzam-Brunnen in Mekka. Bosnischen Hadschis wurde der Transit durch Bulgarien gestattet, doch sie durften weder den Zug verlassen noch mit der bulgarischen Bevölkerung in Kontakt treten.48 Im selben Jahr noch wurden Bulgarien, Griechenland und das Osmanische Reich vom österreichisch-ungarischen Delegierten auf der Internationalen Sanitätskonferenz in Paris für die Beibehaltung ihrer strikten Quarantänere44 | Baldwin, Contagion, 231-232; Ersoy/Gungor/Akpinar, „International Sanitary Conferences“, 65-68. 45 | Conférence sanitaire internationale de Paris, 7 février-3 avril 1894: procès-verbaux, Paris 1894, 72; vgl. Sreten Bošković, Ajša Smailbegović, Zdravstveno obezbjeđenje bosanskohercegovačkih hadžija na putu za Meku krajem prošlog vijeka, in: Acta Historica Medicinae Pharmaciae Veterinae 9 (1971) 1-2, 75-82, 77. 46 | Ebda., 77-78, 80-81. 47 | Conférence sanitaire internationale de Venise, 16 février-19 mars 1897: procès-verbaux, Rome 1897, 92-93. 48 | Zapovedi, in: Izvestiya na Grazhdanskata sanitarna direktsiya 1 (1903) 2, 1.

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gelungen kritisiert, da diese den Orienthandel behindern würden.49 In diesen Jahren begaben sich immer mehr Bulgaren auf saisonale Wanderschaft nach Russland, wo sie sich zumeist als Gärtner verdingten. Da Russland neben dem Osmanischen Reich als Einfallstor für die Cholera galt, wurden auch die Gärtner von den bulgarischen Behörden bei ihrer Rückkehr aus Odessa einer ähnlich rigiden Kontrolle unterzogen wie die muslimischen Mekkapilger. So belief sich der jährliche Durchschnitt der in den Jahren 1907 bis 1909 von Quarantänemaßnahmen erfassten bulgarischen Gärtner auf mehr als 2.700 Personen.50 Diese Maßnahmen konnten nicht verhindern, dass 1910 und 1911 unter Angehörigen der türkischen Minderheit im Lande, die emigrierte Verwandte im Osmanischen Reich besucht hatten, vereinzelt Fälle von Cholera auftraten.51 Auf der Internationalen Sanitätskonferenz von 1912 in Paris forderte der bulgarische Delegierte auf Grund dieser Vorfälle und der Tatsache, dass Bulgarien ein Transitland für den Orienthandel und für muslimische Pilger sei, vergeblich die Aufnahme eines Delegierten seines Landes in den Internationalen Obersten Sanitätsrat in Istanbul.52 Mit dieser Forderung wollte Bulgarien, das sich 1908 vom Osmanischen Reich unabhängig erklärt und auch aus seiner bisherigen Abhängigkeit vom osmanischen Santätsrat gelöst hatte, die früheren Verhältnisse auf den Kopf stellen. Auf jeden Fall waren die bulgarischen Gesundheitsbehörden auch weiterhin nicht bereit, die eigenen rigiden Positionen im Hinblick auf eine Reduzierung der Quarantänen und eine vermehrte Anwendung bakteriologischer Untersuchungen aufzuweichen. Eine solche Revision erfolgte erst im Gefolge der beiden Balkankriege von 1912/13, nachdem mehrere tausend Personen nicht nur an der Front, sondern auch im bulgarischen Hinterland durch die von der Militärpflicht betroffenen fehlenden Ärzte Opfer der Cholera geworden waren.53

S CHLUSSBEMERKUNGEN Der deutsche Medizinhistoriker Martin Dinges hat die Einführung der Quarantänen, mit denen der Beginn des modernen Gesundheitswesens im Osmanischen Reich und seiner Nachfolgestaaten gesetzt wurde, als „nachholende Teilnahme“ an einem ambiva-

49 | Conférence sanitaire internationale de Paris, 10 octobre-3 décembre 1903: procès-verbaux, Paris 1904, 68-69. 50 | Hr[isto] Doktorov, Izlozhenie varhu Karantinata sluzhba v Varnenskiya Karantinen rayon prez 1909 god, Varna 1911, 33. 51 | Baruch Davidoff, Über die Choleraepidemien in Bulgarien während und nach dem Balkan- und Weltkriege. Inaugural-Dissertation, Charlottenburg 1925, 4-6; Conférence sanitaire internationale de Paris, 7 novembre 1911-17 janvier 1912: procès-verbaux, Paris 1912, 619-623. 52 | Ebda., 786-787. 53 | Davidoff, Über die Choleraepidemien, 6-12.

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lenten „europäischen Lernprozess“ bezeichnet.54 Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als die Quarantänen im sich industrialisierenden europäischen Kernbereich bereits wieder im Abbau begriffen waren. Bald darauf wurde die um 1850 noch moderne Miasmentheorie von der Keimtheorie mit einer entsprechenden neuen Doktrin medizinischer Prävention abgelöst. Nachdem das Osmanische Reich gerade erst die Quarantänen eingeführt hatte und Bulgarien als einer seiner Nachfolgestaaten dessen erst wenige Jahrzehnte altes System übernommen hatte, war nicht zu erwarten, dass diese Staaten mit der raschen Abfolge westlicher Präventionsdoktrinen und den damit verbundenen Umwälzungen im Gesundheitssystem Schritt hielten, obwohl es auch Stimmen in diese Richtung gab. Das Osmanische Reich und Bulgarien hielten jedoch nicht nur einfach auf Grund des Beharrungsmomentes an ihren rigiden Quarantänen fest. Von den europäischen Großmächten wurden an die Adresse dieser beiden und auch anderer Staaten der Region widersprüchliche Signale ausgesandt, denn – um Peter Baldwin zu zitieren – die Abkehr von den Quarantänen im Westen fußte auf einer nicht gern ausgesprochenen Vorbedingung: „The attempt to loosen quarantinist measures in the west, to shift from old-fashioned precautions to the revision system and more generally to neoquarantinism, depended in large part in Europe‘s ability to impose more drastic regulations on the Orient than it was – increasingly – willing to tolerate at home“.55

Im Falle Bulgariens kommt ein zusätzlicher Aspekt hinzu: Anders als das muslimisch geprägte Osmanische Reich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstand es sich als Nationalstaat und seine Quarantänen waren an den Staatsgrenzen lokalisiert und nicht innerhalb des eigenen Territoriums. Dies ermöglichte es, die Quarantänen gemeinsam mit Passkontrollen, die auf unterschiedliche Weise in die Bewegungsfreiheit des/der Einzelnen eingriffen, als Instrumente zur Markierung der eigenen nationalen Identität einzusetzen. Während sich dieses Prinzip – wie Alison Bashford gezeigt hat – im Falle der Inselnation Australien gegen ImmigrantInnen richtete, verfolgten die bulgarischen Gesundheitsbehörden mit dessen Hilfe die Stigmatisierung der patriarchal geprägten muslimischen Bevölkerung. Diese wurden – als unwillkommenes Erbe aus der vorangegangenen osmanischen Periode – nicht nur im übertragenen Sinn unter containment gestellt.56 Wären die bosnischen Muslime, für die sich Österreich-Ungarn zuständig fühlte, nicht ebenfalls von den Quarantänen Bulgariens betroffen gewesen, so wären diese kaum vor ein internationales Forum gekommen. Abschließend ist festzuhalten, 54 | Martin Dinges, Pest und Politik in der europäischen Neuzeit, in: Mischa Meider (Hg.), Pest: Die Geschichte eines Menschheitstraumas, Stuttgart 2005, 283-313, 301-304, 307-311. 55 | Peter Baldwin, Contagion, 227. 56 | Zur generellen Behandlung von Muslimen im bulgarischen Nationalstaat vgl. Mary Neuburger, The Orient within: Muslim Minorities and the Negotiation of Nationhood in Modern Bulgaria, Ithaca 2004.

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dass Österreich-Ungarn Bulgarien nicht aus humanitären Erwägungen kritisierte, sondern weil es damit seine eigenen geoepidemiologischen Konzeptionen und Handelsinteressen durchsetzen wollte.

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„System an seiner Grenze“ oder Zufall? Österreich-Ungarn als Besatzungsmacht in Rumänien 1916/18 Harald Heppner

Es ist hier nicht der Ort Reflexionen anzustellen, ob man Österreich-Ungarn im systemtheoretischen Sinn (Niklas Luhmann) als „System“ bezeichnen kann, doch wird im Folgenden davon ausgegangen, dass alle Bestandteile dessen, was diesen Staat ausmachte (der Raum, die Menschen, die Organisation, der Habitus, die Wahrnehmung der Außenwelt und durch die Außenwelt etc.), in hohem Maß aufeinander abgestimmt waren, nach rekonstruierbaren Regeln funktionierten und somit in beschränktem Ausmaß als „System“ bezeichnet werden können. Tatsache ist, dass die Donaumonarchie 1918 untergegangen ist und dieser Vorgang als „Zerfall“ begriffen und bezeichnet worden ist. Dieser Terminus schließt die suggestive Vorstellung ein, ein solches „System“ habe wie ein Organismus „ein Leben“ gehabt, das irgendwann, überraschend oder nicht, zu Ende gegangen sei. Diese Vorstellung wird natürlich hauptsächlich durch retrospektive Einsichten untermauert, um damit im Nachhinein die Gewissheit zu imaginieren, es habe ja nicht anders kommen können, oder gar, es habe so kommen müssen. Der retrospektiven Sicht und Argumentation ist diejenige der Zeitgenossen, d.h. der von solchen Vorgängen unmittelbar Betroffenen, gegenüberzustellen und zu fragen, ob jene geahnt oder gewusst hätten, dass das sie umgebende „System“ aus dem Ruder laufe und im Untergang begriffen sei, oder, ob einige gar danach trachteten, ein solches „System“ zielgerichtet zu Fall zu bringen. Allemal ist auch offen, ob der für das zeitgenössische Individuum erleb- und steuerbare Horizont nicht doch weitaus kleiner einzustufen ist als der „Untergang einer ganzen Epoche“ mit sich bringt. Diese Frage soll im Folgenden anhand eines konkreten Beispiels erörtert werden, wobei hiermit die zusätzliche Frage virulent wird, inwieweit es statthaft sei, nach dem Pars-pro-toto-Prinzip vorzugehen, um zu Antworten über strukturell höhere thematische Felder zu kommen. Bei Anwendung eines solchen Verfahrens kann es Einsichten geben, die sich aus der Untersuchung eines Teilthemas ableiten lassen und die in der Tat dem Verständnis eines größeren Themas dienen; man kann aber auch zur Einsicht

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kommen, dass eine solche Vorgangsweise methodisch-theoretisch unseriös und daher zu verwerfen sei. Das Teilthema im konkreten Fall stellt „Österreich-Ungarn als Besatzungsmacht in Rumänien 1916/18“ dar,1 wogegen die höhere Plattform „Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg“ darstellt. Der analytische Fokus bezieht sich allemal auf die Frage, ob Quellenphänomene des Teilthemas ausreichende Aussagen enthalten, die den Zerfallsprozess Österreich-Ungarns per se widerspiegeln oder nur im Umfeld dieses Themas angesiedelt verstanden werden dürfen, weshalb man aus dem „Kleinen“ nicht auf das „Große“ hochzurechnen habe. Es ist klar, dass die Beantwortung eines solchen Vorhabens, um gesicherte stoffliche und methodisch-theoretische Antworten zu erlauben, wesentlich breiter angelegt sein müsste als dies in der vorliegenden Studie möglich ist; dennoch sei der Versuch unternommen. Im Folgenden werden drei Beispiele aus der Fülle des vorhandenen Quellenmaterials vorgestellt und mit der Frage verknüpft, inwieweit daraus Schlüsse systemgeschichtlicher Relevanz zulässig sind oder nicht.

B EISPIEL 1 Das Armeeoberkommando (AOK) gab am 23. Dezember 1916 unter dem Titel „Eindämmung der Vielschreiberei“ eine Aussendung aus, die u.a. auch an eine k.u.k. Dienststelle in der besetzten Walachei gelangte und wie folgt lautet: „Nach den im Ressort der Nachrichtenabteilung [NA] AOK seit einiger Zeit gemachten Beobachtungen bürgert sich bei nahezu allen zur Mitarbeit in den einschlägigen Materien berufenen Stellen die Gewohnheit der Vielschreiberei ein und hat bereits in der zuletzt abgelaufenen Periode den Geschäftsgang und die Aktenbewegung zu einer solchen Höhe gesteigert, dass der Aufwand an Kraft und Material im direkten Missverhältnis zum Resultat steht. In dieser Hinsicht immer wieder zu Tage tretende Erscheinungen sind: 1.) Die dem AOK (NA) zukommenden Berichte, insbesondere jene politischer, sicherheitlicher und wirtschaftlicher Natur[,] beachten keineswegs immer ihren Zweck, nämlich die Orientierung der Heeresleitung über grosse Fragen in grossen Zügen. Viele Einzelberichte betreffen Materien, deren Gegenstand nicht so wichtig oder dringend ist, dass er nicht ebensogut in knapper Darstellung in einem resümierenden Berichte Verwertung finden könnte oder führen die betreffende Materie in viel zu breiter Form aus. Die resümierenden Berichte verlieren sich oftmals, weitschweifig gehalten, in eine

1 | Einen Überblick zum Thema, aber auch zum Problem enthalten die Beiträge von Harald Heppner, Im Schatten des „großen Bruders“. Österreich-Ungarns Anteil an der Militärverwaltung Rumäniens 1916/18, in: Österreichische Militärische Zeitschrift 45 (2007) 3, 317-322, sowie derselbe, Occupation comme problème organisationnel: L’Autriche-Hongrie en Roumanie 1917/18, in: Historical Yearbook (Bucarest) VI (2009), 3-14.

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Unmenge von für die Heeresleitung belanglosen Details und sogar Wiederholungen von bereits bekannten Nachrichten und trüben dadurch die grossen Zusammenhänge und den Überblick. 2.) Ein und derselbe Bericht wird bei entschiedenem Missbrauch der Vervielfältigungstechnik gleichlautend ohne jede Differenzierung des Wirkungskreises, Interessements und der Kompetenz an mehrere, manchmal sogar wahllos kombinierte Stellen vorgelegt und auf diese Weise z.B. Gegenstände, deren Kenntnis für ein Armeekommando von unverkennbarem Wert ist, auch dem KÜA [Kriegsüberwachungsamt] und AOK (NA) gemeldet, ohne dass diese Stellen daran Interesse haben. 3.) Dasselbe gilt von den immer mehr überhand nehmenden Anfragen um Entscheidung. Die teilweise oder gänzliche Unkenntnis der Kompetenzen, manchmal auch Mangel an Vertrauen zu den Zwischenstellen, verleiten die niederen Exekutivorgane, im Dienstwege an die nächstvorgesetzte Stelle vorgelegte Initiativanträge in Kopie auch direkt an das AOK (NA) zu leiten. Dies bildet dann vielfach den Grund dafür, dass die Zwischenstellen kleine in ihre Kompetenz fallende Angelegenheiten nicht im eigenen Wirkungskreis erledigen, sondern der Entscheidung des AOK vorbehalten. In dieser Hinsicht wird auch oft der Fehler begangen, dass entweder Entscheidungen bei Zentralstellen gesucht werden, deren Kompetenz durch den betreffenden Gegenstand gar nicht tangiert ist, oder ein und dieselbe Angelegenheit zwei oder mehreren Zentralstellen vorgetragen wird, was in jedem Falle zur Aktenverschiebung oder mehrmaligen Videndenwechsel, also wieder zur Vielschreiberei und Verzögerung des Dienstganges führt.“2

Nach der einleitenden Klage über zuviel Post, die in der Zentrale einlange, wird punktweise erläutert, wo das Problem liegt: 1. Den Berichterstattern bzw. Petenten mangle es an Einsicht in die unterschiedliche Wichtigkeit von Themen; 2. der Versand erfolge an zu viele oder an falsche Stellen; 3. Entscheidungen, die auf unterer Ebene gefällt werden könnten, würden nach oben delegiert, was zwangsläufig zu einer Verschleppung von Entscheidungsabläufen führe. Wenn eine leitende Dienststelle derartige Schreiben verfasst und an den Apparat ergehen lässt (und nur eine leitende Dienststelle hat die Vollmacht zu derartigen Schriftstücken), stellt sich die Frage nach den Ursachen: War dies im Frühwinter 1916 ein Zufall oder mehr? Lag dies am momentan unzureichenden Reglement des AOK, weshalb nachgeordnete Behörden falsch handelten, oder lag es an einer generell zutreffenden Überfrachtung von Wünschen und Pflichten, wodurch die unteren Behörden nicht mehr wussten, wie sie sich verhalten sollten? Kann das zitierte Schreiben als Indiz der Überforderung des militärischen Segments des „Systems“ gedeutet werden? Ohne das Handlungsprofil des AOK im Dezember 1916 ausreichend konkretisieren zu können, das zu dem zitierten Schreiben Anlass gab, liegen dem vorliegenden Fall allem Anschein nach mehrere Ursachen zugrunde, die kein Zufall sind. Es handelt sich um den dritten Kriegswinter, der allen Zeitgenossen vor Augen führen musste, 2 | Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Kriegsarchiv (KrA), Armeeoberkommando (AOK), Verbindungsoffiziere, Karton 4004, Akt Nr. 12.

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dass „die Zeiten“ immer schwieriger würden und ein Kriegsende nicht abzusehen war.3 Die Erwartungshaltung stieg daher auf allen Linien – der Staatsführung gegenüber der Kriegsführung, der Kriegsführung gegenüber den Feldherrn, der Feldherrn gegenüber den nachgeordneten Kommandos, jener Kommandos gegenüber deren Soldaten, der Soldaten gegenüber den Zivilisten (im vorliegenden Fall auch der Besatzer gegenüber den „Besatzten“) und vice versa. Folglich liegt auf der Hand, dass das eigentliche Problem nicht die unübersichtlich gewordene Lage selbst war, sondern die kollektiv und fundamental gewordene Hoffnung, die Millionen von Zeitgenossen in ihre jeweilige Zukunft setzten. Da das Armeeoberkommando eine Lösung weder anbieten konnte noch je anbieten hätte können, wurde das Netzwerk gegenseitiger Berichterstattung unwillkürlich immer dichter gestrickt, in der Erwartung, dass die umfassende Wissbegierde und Lösungskompetenz „die da oben“ am ehesten sicherstellen könnten bzw. sollten: Menschen in untergeordneter Position klammerten sich mit ihren Eingaben an das „System“; Menschen in gehobener oder höchster Position waren bemüht, zwischen Lob und Tadel die Stimmung, d.h. die kollektive Disziplin aufrechtzuerhalten, um den militärischen Teil des „Systems“ nicht unsteuerbar werden zu lassen. Da sich an dieser Situation bis Kriegsende nichts änderte und weiterhin Unmengen von Zeit, Papier und Transport für Berichterstattung und Anträge anfielen, eignet sich dieser konkrete Sachverhalt als einer von unzählig denkbaren Prüfsteinen für die zentrale Frage dieser Studie in der Tat. Aus den mahnenden Worten des AOK ist zwar der zwei Jahre später eintretende Zusammenbruch nicht zu entnehmen, doch deuten sie an, dass das „System“ in seinem militärischen Segment schon damals an die Grenzen seiner Steuerungsfähigkeit gelangt war.

B EISPIEL 2 In seinen 2009 veröffentlichten Memoiren berichtet Gustav Gratz auch über sein Mitwirken bei den Friedensverhandlungen in Bukarest im Frühjahr 1918. Darin heißt es u. a.: „Graf Stefan Tisza […] hatte ihm [Außenminister Graf Czernin] noch nach Bukarest einen Brief geschrieben, in welchem er ihm die Verbesserung der ungarischen Grenze warm ans Herz legte. Aber auch die Regierung war der Ansicht, dass das ungarische Parlament einem Frieden, der in der Grenzfrage den allgemeinen Wünschen nicht entspricht, die größten Schwierigkeiten machen werde. Führende ungarische Staatsmänner erklärten, die Grenzforderungen als eine conditio sine qua non des Friedens. Trotzdem war Graf Czernin gleich zu Beginn der Verhandlungen der Ansicht, dass sich die Grenzrektifikationen in der von der ungarischen Regierung gewünschten Ausdehnung nicht verwirklichen lassen werden, ja, dass ihre Verwirklichung in diesem Umfang auch gar 3 | Manfried Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz-Wien-Köln 1994, 376.

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nicht wünschenswert wäre. Er neigte der Ansicht zu, dass eine Grenzlinie, bei welcher Städte und Erdölgebiete an Ungarn fallen würden, in jeder Hinsicht verfehlt wäre. Innenpolitisch, weil dabei die Zahl der nicht magyarischen Bewohner Ungarns vermehrt würde; militärisch, weil dadurch in dem an Rumänien grenzenden Landstreifen an Stelle der verlässlichen Székler, die diese Grenze heute bewachen, unzuverlässige Rumänen wohnen würden, und endlich vom Standpunkt der auswärtigen Politik, weil es sich dabei um krasse Annexionen und um ein Hin- und Herschieben von Völkern handelt, also gerade um das, was Wilson vermieden haben will.“4

Handelte es sich um einen Zufall, dass die ungarische Regierung im Frühjahr 1918 auf die Idee kam, bei den Verhandlungen zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Rumänien könnten auch ungarische territoriale Wünsche zum Zug kommen? Ging es dabei um rational argumentierbare Interessen oder bloß um eine Prestigeaktion? Glaubten die ungarischen Politiker damals wirklich, ihr Begehren „den allgemeinen Wünschen“ entsprechend durchzubringen? Gab es innerhalb Ungarns ein breit angelegtes emotionales Bedürfnis, es im Wege einer Annexion den 1916 Siebenbürgen angreifenden Rumänen „heimzuzahlen“? Eine abgerundete Beantwortung dieser Fragen würde einen enormen Rechercheaufwand erfordern und dennoch nie gänzlich möglich sein; dennoch können Schlussfolgerungen gezogen werden. Es ist für die Zeit der Doppelmonarchie hinlänglich bekannt, dass die politisch führenden Kreise Ungarns immer wieder eine spezifisch auf ungarische Interessen ausgerichtete Politik notfalls auch gegen den österreichischen „Partner“ durchzusetzen versuchten.5 Im Anlassfall war dies allerdings nicht auf eigenständigem Wege möglich, denn obwohl auch ungarische Minister zeitweise bei den Bukarester Verhandlungen anwesend waren, führte Außenminister Czernin die Beratungen weitgehend selbst und war bemüht, alle ungarischen Avancen sowohl aus inhaltlichen als auch aus atmosphärischen Gründen zu unterbinden (siehe Zitat).6 Die Lage im Frühjahr 1918 ist mit jener im Oktober/November desselben Jahres zwar nicht vergleichbar, doch gab es schon damals beträchtliche Anzeichen, dass sich die Lage immer mehr zuspitze.7 Im Falle der angesprochenen Politiker wird man ins Treffen führen können, dass sie selbst zu jener Zeit noch sicher in ihren Sätteln saßen und offenbar nicht hautnah mitbekamen, wie sich die allgemeinen physischen, aber auch psychischen Verhältnisse gewandelt hatten, die gerade in Ungarn wenige Monate später das „System“ in dreifachem Sinn implodieren ließen (Ablöse von Österreich, Zerfall Ungarns, Rätesystem). Gratz, dessen Memoiren auf kontinuierlich geführten

4 | Vince Paál/Gerhard Seewann (Hg.), Augenzeuge dreier Epochen. Memoiren des ungarischen Außenministers Gustav Gratz (1875-1945), München 2009, 176. 5 | István Dioszégi, Das politische und wirtschaftliche Interesse Ungarns an der gemeinsamen Außenpolitik, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Die Habsburgermonarchie im System der Internationalen Beziehungen 1. Teilband, Wien 1989, 374-398. 6 | Elke Bornemann, Der Friede von Bukarest, Frankfurt 1978, passim. 7 | Rauchensteiner, Tod des Doppeladlers, 533 ff.

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Tagebüchern oder anderen detailreichen Aufzeichnungen beruhen müssen, vermittelt trotz seiner ausführlich ausformulierten Erinnerungen keinerlei Betroffenheit, die sich im Bewusstsein der Zeitgenossen angesichts des bevorstehenden Zusammenbruchs ihres Umfeldes eigentlich abzeichnen hätte müssen. Im konkreten Fall enden die Memoiren nicht mit 1918, sondern mit 1945, weshalb man dem Verfasser zugutehalten muss, dass spätere Vorgänge das Bewusstsein überlagert haben, wodurch die Zäsur von 1918 beim Abfassen der Memoiren bereits verblasst war.

B EISPIEL 3 Am 23. Oktober 1918 telegraphierte Graf Demblin, der Konsularische Vertreter der Donaumonarchie in Bukarest, an den k.u.k. Außenminister: „[…] Angesichts des Umstandes, dass infolge der aus Oesterreich hierherlangenden Nachrichten überhaupt [der] Eindruck besteht, dass wir uns in vollster Auflösung befinden, wären gegenständliche Korrespondenzen erwünscht.“8 Erst sechs Tage später erhielt er von Graf Burián die Antwort: „In dem von Ew. [Euer Wohlgeboren] angedeuteten Fall, als Bukarest geräumt werden müsste, Rumänien jedoch weiterhin neutral bliebe, hätten Ew. auf Ihrem Posten zu verbleiben, beziehungsweise, wenn der Sitz der rumänischen Regierung auch in diesem Fall weiterhin Jassy bliebe, sich dorthin zu begeben.“9

Das letzte Telegramm Graf Demblins in die Zentrale nach Wien vom 6. November enthält die Worte: „Unser hiesiges Besatzungskontingent ist in Auflösung begriffen. Die fremdsprachigen Soldaten, vor allem die Ungarn, verlassen einfach ihre Standorte und nur mit größter Mühe wird noch durch ‚Erteilung von Urlauben’ die Form gewahrt. An einen Abschub unserer Staatsangehörigen ist bei den jetzigen Zuständen in Ungarn nicht zu denken, sie sind sicherer hier, und trachte ich für die Unversehrtheit ihrer Personen und ihres Eigentums möglichste Garantie in Form eines Versprechens des Königs zu erlangen.“10

Aus den folgenden Tagen liegt in den Akten kein Schriftwechsel mehr vor, woraus vor dem Hintergrund der damaligen Entwicklung in Rumänien gleichwie in ÖsterreichUngarn zu schließen ist, dass die Tätigkeit Demblins in Bukarest alsbald ein jähes Ende fand. Die wechselseitige Korrespondenz zeigt, dass in der telegraphisch vermittelten 8 | ÖStA, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), Politisches Archiv (PA), Karton 1055, Mappe „Vertreter des kuk. Min. d. Aeussern bei der rumänischen Regierung in Bukarest (Graf Demblin), 222. 9 | Ebenda, 298. 10 | Ebenda, Mappe „Ratifikation des Bukarester Friedens, Juni-Nov. 18“, 293.

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Dienstpost keinerlei persönliche Anmerkungen zur brenzlig gewordenen Lage Platz fanden und beide Seiten – ob nur pro forma oder aus innerer Überzeugung, lässt sich nicht beurteilen – einander indirekt die Fortsetzung geregelter Verhältnisse versicherten. Im vorliegenden Beispiel spiegelt sich die Identifikation von Menschen mit dem „System“ besonders deutlich wider, an das sie amtlich, wohl aber auch mental gebunden waren. Den Zitaten des Beispiels 3 ist zwar zu entnehmen, dass den Korrespondenten die akute Lage bewusst gewesen sein musste, sie daraus aber keine belegbaren weiterführenden Schlüsse zogen.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Versucht man die drei vorgeführten Beispiele zugunsten der zentralen Fragestellung auszuwerten, ergeben sich folgende Gesichtspunkte: 1. Einzelmenschen, die an zentralen Schalthebeln eines „Systems“ sitzen, haben, wie in allen solchen Fällen, in Zeiten der „Not“ zu wenig Zeit bzw. Muße, über die Bedeutung der sie umgebenden und teilweise an sie selbst gebundenen Prozesse zu reflektieren. Daher ist davon auszugehen, dass die mit jenen Personen verbundenen Quellen keine oder nur ganz zufällig Meta-Aussagen erwarten lassen. 2. Einzelmenschen, die an zentralen Schalthebeln eines „Systems“ sitzen, sind sich, wie in allen solchen Fällen, ihrer Verantwortung gegenüber dem „System“ – dies schließt die Erwartungshaltung der „Unteren“, dass die „Oberen“ die Hebel des „Systems“ tatsächlich in der Hand haben, ein – bewusst und verkünden daher in der Regel nicht, dass das „System“ nicht mehr steuerbar sei und daher seinem Ende entgegen gehe, sondern sind entweder tatsächlich zuversichtlich, es zu schaffen, oder schweigen aus Gründen der Stabilität ob ihrer eigenen Unsicherheit. 3. Ungeachtet der brennenden und nach Kriegsende heftig debattierten Frage, wer Schuld an dem Gang der Dinge auf sich geladen habe, ist den betreffenden Führungspersönlichkeiten im vorliegenden Kontext zugute zu halten, dass die Lage vor, aber auch während des Krieges derart an Komplexität gewonnen hatte, dass es auch beim Nichtbegehen von Fehlern schwer gewesen wäre, einen geordneten Ausstieg aus dem Untergang des „Systems“ zu finden. 4. Die Rolle des Monarchen als oberste Instanz des „Systems“ spielt im vorliegenden Fall eine zusätzliche und für die Zusammenhänge ganz wichtige Rolle, denn die führenden Repräsentanten des „Systems“ konnten – tatsächlich oder auch nur in ihrem Unterbewusstsein – damit argumentieren, nicht mehr als Rädchen im „System“ darzustellen, umso mehr, als es während des Krieges laufend zu Umbesetzungen kam. Die Vorstellung, „das Ganze“ repräsentiere letztlich der Kaiser, hat nachweislich eine normative Kraft besessen. 5. Aus Amtspost Signifikantes für ein „System an seiner Grenze“ zu erwarten, ist müßig, denn wie in Punkt 2 angemerkt, widerspräche dies dem Funktionieren bzw. Selbstverständnis eines „Systems“ und dessen Vertretern. Wohl aber kann bei privaten Aufzeichnungen – in zugespitzten Situationen wird plausibler Weise viel Ge-

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dachtes und Gesagtes unaufgezeichnet bleiben – davon ausgegangen werden, dass Passagen über „Systeme an ihrer Grenze“ einfließen – sei es aus therapeutischen Gründen, weil sich die verfassende Person ihre Unsicherheit von der Seele schreiben möchte, sei es aus opportunistischen Gründen, um zu dokumentieren, dass „man selbst nichts gegen das Schicksal tun habe können“. Aus den fünf Punkten ist abzuleiten, dass in Grenzfällen Einzelquellen bei entsprechender Interpretation tatsächlich systemhistorische Signifikanz einnehmen können, wodurch gerechtfertigt erscheint, dass das riesige Thema anhand auch bloß dreier Einzelquellen einer Betrachtung unterzogen werden kann. Um dem Ziel, anhand von vergleichsweise wenig Quellen zu fundamentalen und stichhaltigen Aussagen zu gelangen, näher zu kommen, bedarf es allerdings einer hohen Sachkenntnis über das jeweilige „System“, um beurteilen zu können, zu welchen Zeitpunkten bei welchen Schlüsselstellen welche Personen eingesetzt waren, um anhand deren Zeugnissen zu prüfen, ob sich daraus offene oder verdeckte Aussagen für das „Schicksal des Systems“ generieren lassen.

Sie kamen als „enemy aliens“ Kanadas verschlossene Grenzen für jüdische Flüchtlinge Andrea Strutz

E INLEITUNG Kanada ist ein traditionelles Einwanderungsland, das zwischen seinem Gründungsjahr 1867 und dem Jahr 1930 rund 6,2 Millionen Immigrantinnen und Immigranten, die größtenteils aus Großbritannien, Kontinentaleuropa und den USA stammten, ins Land holte. Demzufolge könnte man vermuten, dass sich Kanada in der Frage der Aufnahme von vor dem NS-Regime flüchtenden Jüdinnen und Juden ebenfalls großzügig zeigen würde, doch genau das Gegenteil war der Fall. Für bedrängte und größtenteils verarmte jüdische Flüchtlinge blieben die Grenzbalken des Landes zwischen 1933 und 1945 weitgehend verschlossen, letztlich fand nur eine Handvoll jüdischer Vertriebener Zuflucht im großen Kanada. Der Beitrag beschäftigt sich mit diesem dunklen Abschnitt der kanadischen Zeitgeschichte und richtet sein Augenmerk auf so genannte „accidental immigrants“1, nämlich auf eine Gruppe von mehreren hundert jüdischen Männern aus Österreich und Deutschland, die nach ihrer geglückten Flucht nach Großbritannien dort bei Kriegsbeginn interniert und 1940 als „enemy aliens“ nach Kanada verschickt worden waren. Ihrer Fluchtgeschichte und ihrem besonderen Schicksal wird an Hand der Erfahrungen und Erinnerungen eines ehemaligen Wieners nachgegangen. In der Zeit der Depression wurde die Zuwanderung nach Kanada durch eine restriktive Immigrationspolitik stark gedrosselt. Ab 1930 sollten überhaupt nur noch jene ins Land gelassen werden, die über genügend Kapital für die Errichtung einer Landwirtschaft verfügten. In der ethnisch selektiven Rangordnung „erwünschter“ Migrantinnen und Migranten stand die Zuwanderung aus Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika an oberster Stelle, „at the bottom were the Jews,

1 | Für diesen Term vgl. Paula Jean Draper, The Accidental Immigrants: Canada and the Interned Refugees: Part I, in: Canadian Jewish Historical Society Journal 1 (1978) 1, 1-38.

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Orientals, and blacks“.2 Jedoch wirkten sich auf die Praxis der Asylpolitik für die Hitlerflüchtlinge nicht nur die schwierigen ökonomischen Bedingungen der 1930er Jahre, sondern auch Antisemitismus und politisches Kalkül aus. Kanada unter Premierminister William L. Mackenzie King, Führer der Liberalen Partei und seit 1935 an der Macht, war nicht bereit, den jüdischen Vertriebenen generell humanitäre Assistenz zu leisten: „Under no circumstances was this country prepared to create a special humanitarian classification for the entry of refugees and to make a distinction between them and the ordinary immigrants.“3 Die flüchtlingsfeindliche Asylpolitik geht insbesondere auf den Leiter der Einwanderungsbehörde Frederick Charles Blair zurück, der als Antisemit galt. Als Direktor der Einwanderungsbehörde bemühte er sich aktiv darum, „alle Lücken zu stopfen, durch die europäischen jüdischen Flüchtlingen möglicherweise die Einwanderung gelingen konnte“.4 In der Zeit der Depression hatte sich Fremdenfeindlichkeit zum Teil in offenen Antisemitismus umgewandelt, ganz besonders in Quebec. In der Provinz, die eine jüdische Bevölkerung von etwa zwei Prozent aufwies, ritten französischsprachige Zeitungen aller politischen Richtungen antisemitische Attacken und sprachen sich dementsprechend auch gegen eine humanitäre Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen aus. Premier King folgte den judenfeindlichen Vorschlägen von Blair bedingungslos, denn er und „sein Kabinett waren besessen von der Vorstellung, dass die Zulassung jüdischer Flüchtlinge Kanada zerstören würde“.5 Das Schicksal der St. Louis im Juni 1939, die mit 907 jüdischen Flüchtlingen an Bord nach der Abweisung durch Kuba und die USA versuchte, in Kanada eine Landeerlaubnis zu bekommen, offenbart die wahre Natur der Flüchtlingspolitik. Die Erlaubnis wurde verweigert, denn King fürchtete, dass im Falle der Aufnahme der Passagiere der St. Louis weitere „Schiffsladungen“ aus Europa folgen würden; dies wollte er in jedem Fall unterbinden. Immigrationsdirektor Blair lieferte eine argumentative Untermauerung dieser Haltung mit der zynischen bürokratischen Begründung, „that these refugees did not qualify under immigration laws for admission and that, in any case, Canada had already done too much for the Jews“.6 Mit der Kriegserklärung Kanadas an Deutschland am 10. September 1939 verschwand dann jegliche Möglichkeit zur Einwanderung für jü-

2 | Irving Abella/Harold Troper, „The line must be drawn somewhere“: Canada and Jewish Refugees 1933-9, in: Canadian Historical Review 60 (1979) 2, 178-209, 182. 3 | Valerie Knowles, Strangers at our Gates. Canadian Immigration and Immigration Policy, 1540-2006, Toronto 2007, 2. überarb. Aufl., 144. 4 | Charles Asher Small, Kanada, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeinschaft in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2008, 187-195, 188. 5 | Ebda., 189. 6 | Abella/Troper, „The line must be drawn somewhere“, 179.

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dische Verfolgte;7 Personen aus einem Feindstaat („enemy aliens“) wurde die Einreise verboten.8 Wie viele jüdische Flüchtlinge Kanada zwischen 1933 und 1945 tatsächlich aufnahm, lässt sich heute nicht mehr genau feststellen. Während die USA etwa 240.000 und Großbritannien 80.000 Flüchtlingen Asyl boten, fanden in Kanada schätzungsweise weniger als 5.000 jüdische Flüchtlinge eine Zuflucht; dies stellt eine erschreckend niedrige Bilanz im Vergleich zu allen anderen Asylländern dar.9

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Wenige Tage nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland am 12. März 1938 feierte Josef Eisinger seinen vierzehnten Geburtstag. Doch fortan sollte sein Leben wesentlich anders als gedacht verlaufen, denn binnen weniger Monate wurde sein gesamtes familiäres, soziales und kulturelles Umfeld vollkommen zerstört. Gemeinsam mit seiner um drei Jahre älteren Schwester Ilse wuchs Josef in der Reisnerstraße im dritten Wiener Bezirk (Landstraße) auf.10 Sein Vater Rudolf war ein hochdekorierter Soldat des Ersten Weltkrieges,11 der von einem starken Zugehörigkeitsgefühl zu Wien und Österreich geprägt war.12 Er hatte sich am Hohen Markt (erster Bezirk) ein Einzelhandelsgeschäft für Parfümerie- und Toilettenwaren und einen Großhandel für Rehleder und Naturschwämme, die er aus Griechenland, den USA und Kuba importierte, aufgebaut. Seine Ehefrau Grete unterstützte ihren Ehemann tatkräftig und führte das Geschäft. Sie hatte darin große Erfahrung, denn vor ihrer Heirat nach Wien (1919) war sie für das elterliche Geschäft in Skotschau in Schlesien (heute

7 | Seltene Ausnahmen gab es für jüdische Flüchtlinge mit Kapital, deren Aufnahme mit der Ansiedlung eines attraktiven Industriezweigs oder mit einem Farmbetrieb verbunden war. 8 | Vgl. Anna Maria Pichler/Gabrielle Tyrnauer, Austrian refugees of World War II, in: Frederick C. Engelmann/Manfred Prokop/ Franz A.J. Szabo (Hg.), A History of the Austrian Migration to Canada, Ottawa 1996, 75-99, 87-91. 9 | Irving Abella/Harold Troper, None is too many. Canada and the Jews of Europe 19331948, Toronto 2002, 3. Aufl., XXII. 10 | Interview mit Josef Eisinger vom 16. Februar 1996 (New York, USA), VC 25, Interviewerin Andrea Strutz; in Folge als „Interview A“ bezeichnet. 11 | Rudolf Eisinger wurde 1883 in Göding (Mähren) geboren. 1891 übersiedelte die Familie aus wirtschaftlichen Gründen nach Zistersdorf (Niederösterreich), wo sein Vater einen Viehhandel betrieb. Zur Geschichte der Eltern vgl. Preserving the Past. The Stories of Rudi and Grete Eisinger and their Families, compiled, written and annotated by Lesley Wyle and Dr. Josef Eisinger, o.O. 2011, 9-41. 12 | Josef beschreibt seinen Vater als „echten“ Wiener, der lange Zeit im österreichischen Militär gedient hatte und fest daran glaubte, dass man in Österreich ein gutes Leben führen könne. Er hatte keinerlei Interesse an der zionistischen Bewegung und hatte bis 1939 auch nie an Auswanderung gedacht.

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Skoczow, Polen) verantwortlich gewesen.13 Über sein Aufwachsen und seine Verbundenheit mit der jüdischen Kultur und Religion berichtete Josef Folgendes: „Die Familie war nicht orthodox, aber Vater war schon religiös und wir hatten einen koscheren Haushalt. Ich selbst habe das nie sehr ernst genommen, aber mein Vater hat so seine eigenen Ideen gehabt, wie das so üblich ist unter Juden. […] Die hohen Feiertage wurden immer gefeiert, [auch] das Fasten zu Jom Kippur. […] Ich [hatte] auch eine Bar Mizwa, das wurde auch von mir ernst genommen, aber nach ein paar Monaten wurde das wieder vergessen. Ich bin heute noch mehr agnostisch als ein strenger Jude.“14

Seine Mutter, die er im Interview als „praktische Frau“ charakterisierte, legte in der Ausbildung ihrer Kinder besonderen Wert auf Fremdsprachen, weshalb Ilse und Josef bereits im Kindergarten Englischunterricht erhielten. Die Volksschule besuchte er in der Strohgasse im dritten Bezirk, danach ging er auf das Akademische Gymnasium im ersten Bezirk. Mit der dritten Schulstufe wechselte er im selben Bezirk in das Realgymnasium (RG) Stubenbastei, da an dieser Schule auch Englisch als Unterrichtsfach angeboten wurde. Josef liebte Fußball und war Anhänger des Sportklubs Admira Wien.15 Bei den Fußballturnieren im Prater oder im Stadtpark, die die Schüler des RG Stubenbastei selbst organisierten, war er immer dabei. In diesem Zusammenhang, so erinnert sich Josef, waren ethnische Herkunft oder religiöse Zugehörigkeit völlig nebensächlich. Auch wenn Josef persönlich im Alltag kaum antisemitische Übergriffe erlebte, so war er sich des latenten Antisemitismus in Wien durchaus bewusst: „Antisemitismus war immer schon ein Teil von Wien, aber man hat ihn nicht so ernst genommen, man hat Witze darüber gemacht. Natürlich haben die Eltern das ernster genommen als ich, ich war ein Bub und hab‘ das nicht besonders gefühlt.“16 Mit dem „Anschluss“ im März 1938 brach für die jüdische Bevölkerung in Österreich ein Terror von ungeheurer Intensität an, sie wurde einer systematischen Entrechtungs-, Beraubungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik ausgesetzt. Die rassistische Grundlage für die gesellschaftliche Isolation, Ausgrenzung und systematische Verfolgung der jüdischen Bevölkerung bildeten die „Nürnberger Rassengesetze“ (1935),17 die im Mai 1938 auch in Österreich eingeführt wurden. Während der NS-Herrschaft wurde durch Entlassungen und Berufsverbote, durch Enteignung bzw. „Arisierung“ sowie durch Terror und Gewalt wie im Novemberpogrom 1938 sowohl die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen als auch die religiöse und kulturelle Infrastruktur der 13 | Vgl. Preserving the Past, 49-66. 14 | Interview A; Josef fühlt sich mit dem Judentum verbunden, das für ihn aber mehr Kulturschatz als Religion darstellt. 15 | Zudem war er ein großer Fan des Fußballklubs Zistersdorf, wo drei Cousins väterlicherseits aktive Fußballer waren. 16 | Interview A. 17 | „Reichsbürgergesetz“ und „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, RGBl. I, 1146.

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jüdischen Bevölkerung in Österreich zerstört. Fokussierte die NS-Politik zunächst auf Beraubung und rasche Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich ab, so änderte sich die NS-„Judenpolitik“ ab 1941 und zielte unter Schaffung von Vernichtungslagern auf die systematische Ermordung und den Genozid an der jüdischen Bevölkerung ab.18 Für Josef und seine Familie nahm das Leben in Wien eine radikale Wendung. Schon sechs Wochen nach dem „Anschluss“ wurde in Wiener Schulen damit begonnen, die jüdischen von den nichtjüdischen Kindern zu trennen.19 Josef wurde Ende April vom RG Stubenbastei verwiesen und dem RG in der Kleinen Sperlgasse im traditionell jüdischen Wohnbezirk Leopoldstadt (zweiter Bezirk) zugeteilt.20 Vier Wochen danach endete seine Schulausbildung endgültig, weshalb er die vierte Klasse Gymnasium auch nie abschließen konnte. Während des Novemberpogroms wurde das elterliche Geschäft am Hohen Markt von Mitgliedern der SA geplündert, und Josefs Vater wurde in dieser Nacht gedemütigt und geschlagen. Die Familie verlor endgültig ihr Einkommen und es wurde offensichtlich, dass ein Leben in Wien unter nationalsozialistischer Herrschaft nicht mehr möglich war. „Man hat sofort daran gedacht, wie konnte man das überleben. Also am Anfang wusste man nicht, dass erst jede Möglichkeit, Geld zu verdienen, verschwinden würde, und von [sic] einem Holocaust, also dem Umbringen von Menschen, weil sie jüdischer Religion waren, hat man überhaupt nicht gedacht […], aber man hat an Auswanderung gedacht, an Emigration, und da hat man eben viele dieser Umschulungskurse aufgenommen. […] Man musste an Auswanderung denken, weil man keine Hoffnung sah, für ein Bleiben in Wien, und man machte, was man für [einen] nützlichen Beruf ansah, versuchte es zu lernen. Vater hat Uhrmacherei gelernt, und ich hab mit einem Elektriker gearbeitet, aber es war nicht besonders nützlich.“21

Da die antijüdischen Maßnahmen in Österreich weit schneller und brutaler durchgeführt wurden, ging die Auswanderung von österreichischen Jüdinnen und Juden in den anderthalb Jahren bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges wesentlich schneller voran als in Deutschland.22 Mit der im August 1938 in Wien errichteten „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ wurde außerdem eine organisatorische Struktur geschaffen, mit der Tempo und Zahl der Vertreibung gesteigert wurden. Die Funktionäre der jüdischen 18 | Vgl. ausführlich Albert Lichtblau, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn, in: Eveline Brugger et al., Geschichte der Juden in Österreich (= Österreichische Geschichte 15), Wien 2006, 447-651, 519-526. 19 | Vgl. Renate Göllner, Schule und Verbrechen. Die Vertreibung jüdischer Schülerinnen und Schüler von Wiens Mittelschulen, Frankfurt am Main 2009, 69. 20 | Mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler des RG Stubenbastei (274 von 634) musste mit 28. April 1938 die Schule verlassen; siehe: http://www.grg1.asn-wien.ac.at/geschichte.htm (8.10.2011). 21 | Interview A. 22 | Vgl. Walter Laqueur, Gesichter des Antisemitismus, Berlin 2008, 135-136.

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Gemeinde wurden gezwungen, sich administrativ und finanziell am Massenexodus zu beteiligen. Am Sitz der „Zentralstelle“ im ehemaligen Palais Rothschild in Wien wurden alle für die „Auswanderung“ relevanten Behörden (Steuer-, Polizei- und Meldebehörden, Passamt, Vermögensverkehrsstelle, Jüdische Gemeinde, Palästina-Amt etc.) konzentriert, um den Ablauf des Auswanderungsvorganges zu rationalisieren und zu beschleunigen.23 Zugleich wurde es immer schwieriger, die notwendigen Visa für eine Ausreise zu beschaffen, „da sämtliche Länder bereits ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge geschlossen bzw. deren Aufnahme mit einem Quotensystem limitiert hatten“,24 doch darauf nahm die nationalsozialistische Vertreibungspolitik keine Rücksicht. Etwa 201.000 Menschen galten laut NS-Diktion in Österreich als Jüdinnen und Juden. Sie suchten verzweifelt nach Ausreisemöglichkeiten; innerhalb von drei Jahren wurden zwei Drittel verjagt, im Oktober 1941 betrug der Exodus an jüdischen Vertriebenen 130.000.25 Wie vielen anderen, gelang es auch der Familie Eisinger nicht, Visen für eine gemeinsame Ausreise zu bekommen, weshalb sie sich trennen musste. Noch im Sommer 1938 organisierte Rudolf Eisinger mit Unterstützung eines britischen Geschäftspartners eine Möglichkeit für seine 17-jährige Tochter Ilse als Au-pair-Mädchen nach England zu reisen.26 Josef verließ Wien im März 1939 mit einem Kindertransport nach London. Deutlich ist Josef der bittere Abschied von den Eltern noch erinnerlich. Zwar durften sie zum Westbahnhof mitkommen, wurden jedoch von Polizei und Gestapo eindringlich davor gewarnt, eine Szene zu machen oder gar zu weinen. Im Gegenteil, die verzweifelten Eltern sollten „lustig“ dabei zuschauen, wie ihre Kinder in den Zug einstiegen und mit dem Lied „Muß i denn zum Städtele hinaus“ in die Ungewissheit abfuhren. Durch Kindertransporte, die zwischen Dezember 1938 und August 1939 mit Hilfe der Israelitischen Kultusgemeinde Wien durchgeführt wurden, konnten 2.821 Kinder aus Österreich gerettet werden. Die meisten wurden nach Großbritannien gebracht (2.315), weitere Ziele waren Belgien (164), Frankreich (109), die Niederlande (98), Schweden

23 | Vgl. Gabriele Anderl/Dirk Rupnow, Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 20/1), Wien-München 2004, 125-130. 24 | Helga Embacher, „Plötzlich war man vogelfrei.“ Flucht und Vertreibung europäischer Juden, in: Sylvia Hahn/Andrea Komlosy/Ilse Reiter (Hg.), Ausweisung – Abschiebung – Vertreibung in Europa 16.-20. Jahrhundert (= Querschnitte 20), Innsbruck-Wien-Bozen 2006, 219-240, 225. 25 | Die Asylsuche ging über die ganze Welt: Großbritannien (31.050), USA (29.860), Palästina (15.200), Shanghai/China (6.220), Schweiz (5.800), Frankreich (4850), Belgien (4.670), Argentinien (1.690), Australien (970), Bolivien (940), Südafrika (332), Indien (250), Philippinen (180); vgl. Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938-1945 (= Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zur Geschichte der NS-Gewaltverbrechen 5), Wien 1999, 17, 28 und 65-71. 26 | Für Ilses Zeit in Großbritannien siehe Lesley Wyle, Mit Gombrich am „Hellschreiber“, in: aufbau. Das jüdische Monatsmagazin 76 (2010) 6, 17-19.

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(80), die Vereinigten Staaten (50) und die Schweiz (5).27 Insgesamt wurden etwa 10.000 Kinder aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei durch solche Kindertransporte gerettet.28 Doch als Josef in London ankam, stellte sich heraus, dass niemand vor Ort war, der für ihn eine Garantieerklärung abgegeben hatte. So blieb er für ein paar Wochen in London, bis das Jewish Aid Committee eine Bleibe für ihn in der Nähe von Leeds, Yorkshire finden konnte. Josef kam auf eine abgelegene Farm, wo er als Feldarbeiter und Stallbursche arbeitete. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Bauernhof waren sehr primitiv: Es gab keinen Traktor, die Felder wurden noch mit Pferden gepflügt, Strom gab es nur in einem einzigen Zimmer des Wohnhauses, und Wasser kam aus einer Pumpe im Hof. Um abends lesen zu können, kaufte Josef eine Öllampe, außerdem begann er ein Tagebuch zu schreiben; damit wollte er dem Verlust der Muttersprache ein wenig entgegenwirken. Auch seine Gefühle von Einsamkeit und Heimatlosigkeit schrieb er in diesem Tagebuch nieder, denn auf der kleinen Farm gab es niemanden, dem er sich anvertrauen hätte können. „Die Sprache war nicht die größte Schwierigkeit, es war eher das fremde Leben, das fremde Essen. […] Diese Bauern in Yorkshire waren von ganz anderen Verhältnissen [… es gab] wenig Verständnis für eine Lebensart, die ich gewohnt war. […] Das Essen war fremd und das ist eines der wichtigsten Sachen, die man sein Leben lang behält. [Ich] hab immer noch Wiener Spezialitäten lieber als alles andere Essen, obwohl ich alles Essen gern hab‘.“29

Josef versuchte mit seiner Schwester, den Eltern und weiteren bereits geflohenen Verwandten brieflich (zum Teil über das Rote Kreuz) in Kontakt zu bleiben. Die Eltern verließen Wien erst im Spätherbst 1939, um mit einem der letzen „illegalen“ Transporte donauabwärts nach Palästina zu fliehen. Doch bereits in Bratislava (Preßburg) wurde ihre Flucht unterbrochen, denn dort mussten sie neun Monate ausharren, bevor der Transport, der aus vier Schiffen mit 3.500 Passagieren bestand, überhaupt starten

27 | Vgl. Gerda Hofreiter, Allein in der Fremde. Kindertransporte von Österreich nach Frankreich, Großbritannien und in die USA 1938-1941, Innsbruck-Wien-Bozen 2010, 40. 28 | Vgl. Embacher, „Plötzlich war man vogelfrei.“, 226. 29 | Interview A.

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konnte. Nach einer langen und gefährlichen Odyssee voller Entbehrungen die Donau stromabwärts gelangten sie schließlich im November 1940 nach Palästina.30 Nach mehreren Monaten in Yorkshire konnte Josef mit Ende des Jahres 1939 an die Küste nach Brighton übersiedeln, denn seine Schwester hatte ihm einen Job als Abwäscher in einem Hotel verschafft. Doch kurze Zeit später begannen sich die Kriegsereignisse deutlich auf Josefs weiteren Weg auszuwirken. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hielten sich in Großbritannien etwa 70.000 jüdische Flüchtlinge aus Kontinentaleuropa auf,31 deren Lage und Status sich nun entschieden änderte. Die Politik der „halboffenen Türe“ wurde ausgesetzt, Großbritannien für eine Einwanderung gesperrt und zuvor erteile Visa verloren ihre Gültigkeit.32 Bereits im Land befindliche Personen aus den Reichsgebieten, auch die jüdischen Flüchtlinge, wurden hinsichtlich ihrer Loyalität und der Einstellung gegenüber Nazi-Deutschland überprüft. Personen, die die Nationalität eines Landes besaßen, mit dem Großbritannien im Kriegszustand war, wurden zu „enemy aliens“ erklärt. In Tribunalen („alien tribunals“) legten die britischen Behörden auch den Status der ausländischen Bevölkerung neu fest: Die Zuteilung der Kategorie „A“ bedeutete, dass die Person als illoyal eingestuft wurde, sie ein hohes Sicherheitsrisiko darstellte und sofort interniert wurde. Personen der Kategorie „B“ wurden unter Polizeiüberwachung gestellt und ihre Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt. Die Kategorie „C“ erhielten Personen, die als zuverlässig galten, darunter fielen die vielen jüdischen Flüchtlinge. Diese Tribunale registrierten schätzungsweise 84.000 Personen, wobei der Großteil (rund 64.200) unter die Kategorie „C“ fiel; davon galten etwa 55.400 als „refugee from Nazi oppression“. Weniger als ein Prozent der untersuchten Personen wurde als Kategorie „A“ klassifiziert.33 Nach dem deutschen Angriff auf Holland, Belgien und Luxemburg am 10. Mai 1940 schuf die britische Regierung aus Furcht vor einer deutschen Invasion Schutzzonen entlang der Ost- und Südküste und inhaftierte „sämtliche männlichen ‚feind30 | Beinahe wäre ihre Flucht noch gescheitert, denn ihr Schiff, die „Milos”, durfte im Hafen von Haifa nicht anlegen. Die britische Regierung wollte die Landung illegaler Transporte unterbinden und die Passagiere in eine britische Kolonie bringen. Während die Passagiere auf das dafür bereit gestellte Schiff „Patria“ umsteigen mussten, gab es eine Explosion – die paramilitärische Haganah wollte damit die Deportation der Flüchtlinge verhindern –, woraufhin die „Patria“ sank und 267 Passagiere ertranken. Doch das Ehepaar Eisinger gehörte zu den Überlebenden, die auf Druck der Öffentlichkeit nun doch nach Palästina einreisen durften; vgl. Gabriele Anderl, Emigration und Vertreibung, in: Erika Weinzierl/Otto Kulka (Hg.), Vertreibung und Neubeginn. Israelitische Bürger österreichischer Herkunft, Wien 1992, 169-337, 256-308. 31 | Vgl. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Österreicher im Exil. Großbritannien 1938-1945. Eine Dokumentation, Bearbeitung: Wolfgang Muchitsch mit einem Geleitwort von Herbert Steiner, Wien 1992, 7. 32 | Vgl. Gabriele Anderl, Flucht und Vertreibung 1938-1945, in: Traude Horvath/Gerda Neyer (Hg.), Auswanderungen aus Österreich. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Wien-Köln-Weimar 1996, 235-275, 238. Großbritannien erteilte Visa für jüdische Flüchtlinge zumeist nur für zwei Jahre mit der Auflage weiterzuwandern. 33 | Vgl. Österreicher im Exil, 53-54.

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lichen Ausländer‘ aller Kategorien zwischen 16 und 60 Jahren (rund 2000) in diesem Gebiet“.34 Nach der Kapitulation der Niederlande, der Niederlage Belgiens und dem Verlauf der Truppenkämpfe in Frankreich nahm die Angst vor „subversiven deutschen Tätigkeiten“ und einer „Fünften Kolonne“ im Land weiter zu, weshalb die Internierungsmaßnahmen ausgedehnt wurden. Diese Maßnahme traf nun auch Josef, er wurde an seinem Arbeitsplatz im Hotel von Polizeibeamten abgeholt: „Zwei Polizisten sind gekommen, sie waren sehr höflich, ich musste zur Polizeistation [mitkommen]. Ich habe meinen Rock angezogen und war froh, vom Geschirrwaschen wegzukommen. [Dann] haben sie zu mir gesagt: ‚Vielleicht nehmen Sie sich lieber eine Zahnbürste mit!‘, ich hatte ja gar nicht daran gedacht, dass man mich [dort]behalten würde.“35 Josef wurde kurz auf einem Pferderennplatz angehalten und dann nach Huyton, einer Vorstadt von Liverpool, überstellt, wo an die 5.000 „feindliche Ausländer“ in einer beinahe fertig gestellten Sozialsiedlung bzw. einem Zeltlager untergebracht wurden. Wenig später wurde er auf die Isle of Man transferiert, dem wohl bekanntesten britischen Internierungscamp, wo etwa 14.000 Personen festgehalten wurden. Am Höhepunkt der Internierung, im Juli 1940, befanden sich etwa 27.000 österreichische und deutsche „enemy aliens“, darunter auch etwa 4.000 Frauen mit mehreren hundert Kindern, in den britischen Internierungslagern.36

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Doch die Angst der Briten, unter den Internierten könnten sich faschistische Saboteure befinden, hielt an, weshalb die Regierung zeitgleich mit der Verhaftungswelle im Juni 1940 mit ihren Dominions Australien und Kanada über eine Aufnahme von deutschen Kriegsgefangenen und Internierten der Kategorie „A“ in Verhandlung trat. Kanada erklärte sich in Folge bereit, 4.000 als hochriskant eingestufte männliche Zivilinternierte und 3.000 Kriegsgefangene aufzunehmen. Doch in der Realität gab es gar nicht so viele Männer der Kategorie „A“, weshalb die britischen Behörden die kanadische Quote mit männlichen Internierten der Kategorien „B“ und „C“ (zivilinternierte Italiener und jüdische Vertriebene) auffüllten. Mehr oder weniger zufällig wurde Josef einem Schiff nach Kanada zugeteilt und verließ am 4. Juli 1940 Großbritannien mit dem polnischen Passagierdampfer Sobieski.37 An Bord der Sobieski befanden sich 982 Internierte der Kategorie „B“ und „C“ sowie 548 deutsche Kriegsgefangene.38 Um auf dem Schiff das Zusammentreffen von 34 | Ebda., 54. 35 | Interview A. 36 | Vgl. Österreicher im Exil, 55-59. 37 | Josef erinnert sich, dass die jungen Männer im Camp zwei Reihen bilden mussten, eine ging auf Schiffe nach Australien, die andere auf jene nach Kanada; Interview mit Josef Eisinger vom 6. August 2010, New York, dig. file. Nr. 1, Interviewerin Andrea Strutz. 38 | Vgl. Eric Koch, Deemed Suspect. A Wartime Blunder, Toronto et al. 1980, 46.

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jüdischen Flüchtlingen mit deutschen Kriegsgefangenen zu verhindern, wurde es mit einem Stacheldrahtzaun in zwei Bereiche geteilt. Die Sobieski, die am 15. Juli 1940 in Quebec ankam, war das vierte und letzte Schiff, das von Großbritannien nach Kanada übersetzte. Josef erinnert sich noch daran, wie unvorbereitet die kanadische Armee auf die „Fracht“ war, denn die Ankömmlinge wurden mit Maschinengewehren und Leibesvisitationen begrüßt. Laut der Erstinformation hatte die kanadische Regierung gefährliche Nazis erwartet, die Nachricht aus dem Innenministerium, dass sich auch Zivilinternierte der Kategorien „B“ und „C“ auf den Schiffen befinden würden, war anscheinend nicht angekommen.39 Der Untersuchung von Eric Koch zufolge, selbst ein jüdischer Internierter aus Deutschland, kamen innerhalb von zwei Wochen (zwischen dem 29. Juni und dem 15. Juli 1940) 6.675 „enemy aliens“ nach Kanada. Die Gruppe setzte sich aus 1.868 deutschen Kriegsgefangenen, 2.112 deutschen Zivilinternierten der Kategorie „A“ sowie 2.290 der Kategorien „B“ und „C“ und 405 italienischen Zivilinternierten zusammen, die auf insgesamt acht, rasch errichtete, zum Teil miserabel ausgestatte Barackenlager in den Provinzen Ontario, Québec und New Brunswick verteilt wurden.40 Josef kam zuerst nach Camp „T“, wo sich bereits Internierte der Kategorie „A“ und deutsche Kriegsgefangene aufhielten; zu Beginn sperrten die Kanadier ohne weitere Überlegungen Nazis, Antifaschisten und jüdische Flüchtlinge gemeinsam in Lager, wo es sofort zu politischen Auseinandersetzungen als auch antisemitischen und gewalttätigen Übergriffen kam. „Am Schiff selbst waren wir getrennt, aber in Kanada, die Kanadier hatten keine Ahnung, wer da kam. […] Im ersten Lager ist dann ein Krieg ausgebrochen zwischen den Nazis und den Flüchtlingen, und nach ein, zwei Tagen haben die Kanadier dann doch bemerkt, dass da was nicht stimmt, und dann wurde ein Stacheldraht in den zwei Hälften des Lagers angebracht, die dann die Flüchtlinge und das Militär und Nazitruppen trennten.“41

Etwa einen Monat später wurde Josef in die abgelegenen Wälder von New Brunswick nahe Little River verlegt (Lager „B“), wo insgesamt etwa 700 Kriegsgefangene und Zivilinternierte versammelt wurden. Hinter dem Stacheldraht kam es immer wieder zu politischen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Nazisympathisanten und es gab offene Feinseligkeit gegenüber Juden. „Es war oft politischer Zwist im Lager, Seeleute, die hauptsächlich Kommunisten waren, und dann gab es auch unter den Zivilisten [einige], die Nazisympathisanten waren. Da gab es oft Faustkämpfe, auch Hun-

39 | Vgl. Genevieve Susemihl, „… and it became my home.“ Die Assimilation und Integration der deutsch-jüdischen Hitlerflüchtlinge in New York und Toronto, Münster 2004, 210. 40 | Vgl. Koch, Deemed Suspect, 262-263. 41 | Interview A.

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gerstreiks. Im Allgemeinen wussten die Kanadier nicht, was sie mit diesen Leuten anfangen sollten, sie hatten keine Ahnung von den Verhältnissen innerhalb des Lagers.“42 Im Oktober 1940 entschlossen sich die kanadischen Behörden (endlich) dazu, die unterschiedlichen Gruppen von Insassen zu trennen. Daraufhin wurden jüdische Flüchtlinge und nichtjüdische Antifaschisten, die sich erfolgreich dagegen gewehrt hatten, in ein Nazi-Lager überstellt zu werden, nach Quebec in das Lager „N“ nahe Sherbrooke verlegt (736 Personen).43 Obgleich Josef im jungen Alter von 16 Jahren in Kanada erneut in ein Lager eingesperrt wurde, sind seine Erinnerungen an diese Zeit überaus positiv gefärbt, auch hat er keinerlei „hard feelings“ gegenüber den kanadischen Behörden wegen ihres Verhaltens gegenüber den jüdischen Flüchtlingen. So verbesserte sich für ihn zum Beispiel die Ernährungssituation in Kanada, denn dort gab es im Unterschied zu Großbritannien für alle Internierten ausreichend zu essen. Es gab obligatorische Arbeitsprogramme wie Küchendienst, Tätigkeiten in der Wäscherei oder auch Forstarbeit. Josef entschied sich, als Holzfäller zu arbeiten: „Man musste zumindest Küchendienst leisten, aber die jungen Leute […] haben sich gefreut in den Wald zu können, auch mit Bewachung. Das war viel besser als in einem mit Draht umzäunten Lager zu bleiben, und mir hat die Arbeit Spaß gemacht, aber ich kann nicht sagen, dass sie allen Spaß gemacht hat.“44 Unterweisung in der Forstarbeit erhielten die jungen Männer vom Wachpersonal, das aus Veteranen des Ersten Weltkriegs bestand; pro Tag wurden sie dafür mit 20 kanadischen Cents entlohnt, was für die anstrengende Arbeit natürlich ein äußerst geringer Betrag war. Ironie des Schicksals ist es, dass Josef ausgerechnet durch die Internierung die Möglichkeit erhielt, seine in Wien unterbrochene Schulausbildung fortzusetzen. Der Unterricht in den von den Internierten selbst etablierten camp schools – in den Lagern gab es zahlreiche hervorragende Wissenschaftler und Universitätsprofessoren –,45 legte den Grundstein für Josefs spätere Universitätskarriere als Physiker. „Ja, es war Krieg und Krieg ist nicht logisch, für mich war die Internierung eigentlich eine Besserung, denn ich kam zum ersten Mal mit gleichaltrigen jungen Menschen zusammen. Viele kamen aus Schulen und das erweckte wieder mein Interesse am Schulwesen und tatsächlich waren in diesen Lagern ausgezeichnete Schulen, wo große Lehrer

42 | Ebda. 43 | Das Lager bestand aus zwei großen Schuppen und befand sich in einem erbärmlichen Zustand: undichte Dächer, zerbrochene Fenster, ungenügende sanitäre Anlagen, keine Betten. Die Insassen protestierten und führten einen Kampf über Monate, um die Verhältnisse zu verbessern; vgl. Susemihl, „… and it became my home“, 214-218; Koch, Deemed Suspect, 126-131. 44 | Interview A. 45 | Vgl. Koch, Deemed Suspect, 146-153.

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A NDREA S TRUTZ und Wissenschaftler Vorlesungen hielten. […] Als Student bekam man einen halben Tag frei, brauchte nur einen halben Tag im Wald arbeiten und die andere Hälfte hatte man Klassen und konnte studieren. Ein Komitee hat arrangiert, dass man die kanadischen Mittelschulprüfungen machen konnte. Da habe ich meine Schulung [sic] wieder fortgesetzt, das hat mir ermöglicht, später auf die Universität Toronto zu gehen.“46

Die Etablierung der Lagerschulen wurde von Flüchtlingsorganisationen und jüdischen Hilfsvereinen organisatorisch und durch Sachmittel (v.a. Lehrmittel und Bücher) unterstützt. Bildung, insbesondere technisches Wissen, wurde bewusst als Exit-Strategie von und für die Internierten eingesetzt. Durch den exzellenten Unterricht im Lager konnten Josef und seine ebenfalls aus Wien stammenden Freunde, Joe Kates und Walter Kohn, bis zum September 1941 trotz der schwierigen Bedingungen im Lager die Matura ablegen.47 Mit dem Wintersemester 1941 erhielten etwa 100 internierte Studenten die Erlaubnis, ihre Ausbildung an kanadischen Schulen und Universitäten fortzusetzen, vorausgesetzt sie hatten einen Sponsor. Da sich für Josef und Walter ein Sponsor gemeldet hatte, wurden sie im Dezember 1941 bzw. Jänner 1942 entlassen. Das jüdische Ehepaar Herta und Bruno Mendel, das 1936 nach Kanada emigriert war,48 hatte sich dazu bereit erklärt, die beiden bei sich aufzunehmen und ihnen ein Studium zu ermöglichen. Die jungen Männer schrieben sich an der Toronto Universität für Physik- und Mathematik-Kurse ein, unterbrachen aber ihr Studium nach einem Jahr, um zur kanadischen Armee zu gehen, die nun auch Männer ohne kanadische Staatsbürgerschaft aufnahm. Josef Eisinger und Walter Kohn rüsteten 1945 als Korporäle bei derselben Einheit ab und kehrten an die Universität Toronto zurück, wo sie ihre Undergraduate-Studien abschlossen.49 Daran anschließend absolvierte Josef Eisinger ein Masterstudium in Physik, während Walter Kohn sich der angewandten Mathematik zuwandte.50 Das Dissertationsstudium führte Josef mittels eines dreijährigen Stipendiums (teaching fellowship) 1948 an das Massachusetts Institute of Technology (Harvard University, USA), wo er 1951 im Bereich der Atomphysik promovierte. Danach kehrte er wieder nach Toronto zurück. Kurze Zeit später, nach fast 15 Jahren der Trennung, ließ sich auch eine Zusammenführung der Familie in Kanada realisieren: Josefs Schwester war bereits 1948 von Großbritannien nach Kanada gekommen und die Eltern verließen Israel im Jahr 1953, um zu ihren Kindern nach Toronto zu übersiedeln. Doch sehr bald

46 | Interview A. 47 | Die drei jungen Männer befreundeten sich im Lager und lernten gemeinsam für die Prüfungen (Junior und Senior Matriculation), die an der McGill Universität in Montreal abgelegt werden mussten. Sie bestanden diese mit ausgezeichneten Noten. 48 | Bruno Mendel war Biochemiker und ab 1937 an der Universität Toronto tätig. 49 | Vgl. Preserving the Past, 101. 50 | Zur Lebensgeschichte von Walter Kohn, der im Jahr 1998 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wurde, siehe http://nobelprize.org/nobel_prizes/chemistry/laureates/1998/ kohn-autobio.html (10.5.2011).

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war es Josef, der Toronto aus beruflichen Gründen dauerhaft in Richtung USA verlassen würde. Seine Karriere als Physiker und Biophysiker führte ihn zuerst an die Rice University in Houston, Texas und brachte ihn 1956 nach New York, wo er viele Jahre in den Bell Laboratories (Murray Hill, New Jersey) tätig war. In den 1980er Jahren wurde er an die Mount Sinai School of Medicine in New York berufen, wo er als Professor am Department of Physiology and Biophysics wirkte. Seit seiner Emeritierung widmet sich Josef Eisinger verstärkt historisch-biografischen Themen, so untersucht er gemeinsam mit seiner Frau das Leben und Wirken des Komponisten Johannes Brahms; seine allerneueste Publikation beschäftigt sich mit Albert Einstein, präziser formuliert mit dessen Forschungsreisen zwischen 1922 und 1933, dem Zeitpunkt von Einsteins endgültiger Emigration in die USA.51

S CHLUSSBEMERKUNG Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938 nahm das Leben von Josef Eisinger (wie auch das der gesamten jüdischen Bevölkerung Österreichs) eine irreversible Wendung: Seine Kindheit war vorüber, sein soziales und kulturelles Umfeld wurde ausgelöscht. Hinauswurf und Entwurzelung blieben das ganze Leben über wirksam, dies wird beispielsweise in seinem (verlorenen) Zugehörigkeitsgefühl deutlich, denn er fühlt sich bis heute heimatlos. „In vielen Dingen fühle ich mich in Amerika zu Hause, aber Amerika ist doch auf der anderen Seite ein fremdes Land geblieben, ich bin nicht hier aufgewachsen oder zur Schule gegangen. […] Österreich ist in bestimmten Dingen meine Heimat geblieben, aber ich kann mich nicht mehr als Österreicher bezeichnen. Also man ist zwischen zwei Sesseln und findet seinen Weg so von Tag zu Tag.“52

Die angedeutete Verbundenheit mit seiner ehemaligen Heimat bewegt sich auf einer kulturellen, emotional-sentimentalen und kulinarischen Ebene, die sich zum Beispiel über den regelmäßigen Gebrauch der deutschen Sprache, dem Anhören von klassischer Musik und Liedern aus seiner Kindheit und ganz besonders über das Kochen ausgedrückt: „Essen besonders, wenn wir Gäste haben, koche ich oft was Wienerisches, Schnitzel oder Palatschinken, aber Beuschel kann ich nicht kriegen.“53 Obwohl Josefs junge Erwachsenenjahre außergewöhnlich stark von Isolation, Internierung und Ausgrenzung geprägt waren, konnte er diese traumatischen Erfahrungen bewältigen und diesen Lebensabschnitt in seine Biographie integrieren. Und Kanada 51 | Siehe Josef Eisinger, Einstein on the Road, Amherst, N.Y. 2011; Johannes Brahms: Life and Letters. Selected and annotated by Styra Avins, Translated by Josef Eisinger and Styra Avins, New York 2001. 52 | Interview A. 53 | Ebda.

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bot dafür gute Rahmenbedingungen: „Ich bin gerne in Kanada geblieben, […] die Kanadier waren im Großen und Ganzen sehr gut zu mir, haben mir ermöglicht, zur Uni zu gehen und einen Beruf zu lernen, den ich jetzt ausübe, als Physiker.“54 In diesem Kontext stellt auch der Unterricht in den Lagerschulen gewissermaßen eine Brücke zu Europa und der verlorenen Heimat dar; das dort vermittelte Wissen war europäisches Bildungs- und Kulturgut, das mit der vertriebenen Intelligenz in die Neue Welt („brain drain“) mit gewandert war. Für etliche jüdische Internierte war die Ausbildung in den kanadischen Internierungslagern auch wesentliche Grundlage für ihre herausragenden Karrieren in der Emigration (z.B. in den Medien, der Wissenschaft oder der Technik). Die Historiker Irving Abella und Harold Troper veröffentlichten im Jahr 1983 eine Untersuchung über Kanadas Umgang mit jüdischen Flüchtlingen zwischen 1933 und 1948. Die Studie mit dem Titel „None is too many“ rief in Kanada, das nach 1945 auf gesellschaftspolitischer und kultureller Ebene einen enormen Transformationsprozess durchlief und sich seit den frühen 1970er Jahren als multikulturelles und tolerantes Land definiert, einen gesellschaftlichen Aufschrei hervor. Erst zu diesem Zeitpunkt erhielt auch die breite Öffentlichkeit umfassende Kenntnis von der restriktiven, unmenschlichen Asylpolitik und der Gleichgültigkeit, die kanadische Behörden in der Zeit des Nationalsozialismus gegenüber jüdischen Flüchtlingen praktiziert hatten. Die historische Aufarbeitung der jüngsten Geschichte des Landes zeitigte auch Folgen auf politischer Ebene: Das historische Wissen floss in die Gestaltung der modernen kanadischen Flüchtlingspolitik ein, sie wird heute als eine überaus liberale „open door policy“ praktiziert.

54 | Ebda.

Inklusion – Exklusion – Transgression

Überlegungen zu Juden 1 in der allgemeinen Populärkultur2 Klaus Hödl

Im vorliegenden Text werden einige Gedanken zu Forschungen über Juden in der allgemeinen Populärkultur,3 konkret in Wien um 1900, vorgestellt. Der Anlass dafür liegt im Umstand, dass entsprechende Studien ein weitgehendes Desiderat darstellen und eine zukünftige Beschäftigung mit diesem Thema folgenreiche Auswirkungen auf methodische Ansätze und Narrative in den Jüdischen Studien haben könnte. So wie in keiner wissenschaftlichen Disziplin neue Erkenntnisse zum vorhandenen Wissensstand lediglich addiert werden, sondern immer auch auf das gesamte Forschungsfeld und das darin vorherrschende Paradigma Einfluss haben, so könnte auch eine Auseinandersetzung mit Juden in der Populärkultur helfen, das verbreitete Verständnis von jüdischen und nichtjüdischen Beziehungen zu überdenken. Eine Arbeit über Juden in der allgemeinen Populärkultur, so eine zentrale These der folgenden Ausführungen, vermag die Schwächen von Assimilation/Akkulturation als analytischem Instrumentarium bzw. die Vorteile von Performanz als methodischem Ansatz in den Jüdischen Studien zu veranschaulichen und ermöglicht dadurch neue Sichtweisen auf die jüdische Geschichte.

1 | Im vorliegenden Beitrag impliziert der Begriff Jude sowohl den (männlichen) Juden als auch die Jüdin. Im Falle einer geschlechtsspezifischen Beschreibung wird das eigens ausgewiesen. Das gilt auch für andere Begriffe, die nur in ihrer männlichen Form vorkommen. 2 | Die Arbeit wurde durch den Fonds zur wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanziell unterstützt: P23325-G18. 3 | Im Deutschen werden die beiden Begriffe der Populär- und Popularkultur oftmals undifferenziert verwendet. Im Folgenden soll an die Unterscheidung von Kaspar Maase angeknüpft werden, der popular „für Phänomene verwendet, die man den Unterschichten zuordnete“, während populär eine „breite Beliebigkeit quer durch die Klassen“ bezeichnet. Siehe Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt am Main4 2007, 23.

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Z UR H ISTORIOGRAPHIE ÜBER J UDEN IM W IENER FIN - DE -S IÈCLE Die Geschichtsschreibung über Juden im 19. und 20. Jahrhundert wird im deutschen Sprachraum, vor allem aber in Österreich, von einer recht einseitigen Perspektive bestimmt. Es geht vornehmlich um die Darstellung von ‚Verbürgerlichungsprozessen‘ der Juden und deren Anpassung an gleichfalls als ‚bürgerlich‘ verstandene, gesellschaftlich vorherrschende kulturelle Standards, die auch unter den Begriff der Hochkultur4 subsumiert werden können. Dieses Narrativ kommt beispielhaft in Steven Bellers Publikation Wien und die Juden zum Ausdruck, in der der Autor ausschließlich deren Akkulturation an und vor allem Beitrag zur Hochkultur darstellt.5 Bellers Buch hat zu neuen Erkenntnissen geführt und gilt deswegen berechtigterweise als Standardwerk. Zur Populärkultur gibt es in dem Werk allerdings keine Ausführungen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Juden keinen Bezug zu dieser gehabt hätten.6 Die allermeisten anderen Veröffentlichungen zur Geschichte der österreichischen Juden beziehen sich, sofern sie kulturelle Aktivitäten überhaupt anschneiden, ebenfalls lediglich auf die Sphäre der Hochkultur oder orientieren sich an einem Narrativ, das die Anpassung der Juden an diese nachzeichnet.7 Demgegenüber gibt es nur vereinzelte Arbeiten über Juden in der allgemeinen Wiener Populärkultur. Sie beziehen sich fast ausnahmslos auf den Bereich der Musik. Wie eine Durchsicht der Bibliographien von gedruckten Arbeiten und Dissertationen zur Geschichte der Wiener Juden zeigt, werden sie außer in themenspezifischen, d.h. musikwissenschaftlichen Untersuchungen allerdings kaum rezipiert und haben auf das historiographisch vermittelte Bild von Juden fast keinen merkbaren Einfluss. Zu diesen leider vernachlässigten, aber immens aufschlussreichen Werken zählen vor allem die Texte von Philip V. Bohlman.8 Einzelne weitere Aufsätze können in diesem Zusammenhang ebenfalls genannt werden.9 Zum Thema Theater hat Georg Wacks eine beeindruckende Studie über die Budapester Orpheumgesellschaft herausgebracht.10 4 | John Storey, Inventing Popular Culture, Malden/MA 22008, 32-47. 5 | Steven Beller, Wien und die Juden 1867-1938, Wien 1993. 6 | Über diesbezügliche Auswirkungen von Bellers Publikation, siehe die Ausführungen zu Michael Rogin im Abschnitt Dritte These: Korrekturen von falschen Annahmen. 7 | Siehe beispielsweise Robert S. Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, Oxford 1990. – Marsha L. Rozenblit, Juden in Wien 1867-1914. Assimilation und Identität, Wien 1989. 8 | Siehe vor allem: Philip V. Bohlman, An Endgame’s “Dramatis Personae”: Jewish Popular Music in the Public Spaces of the Habsburg Monarchy, in: Leon Botstein/Werner Hanak (Ed.), Vienna. Jews and the City of Music 1870-1938, Hofheim 2004, 93-105. – Philip V. Bohlman, Jüdische Volksmusik. Eine mitteleuropäische Geistesgeschichte, Wien 2005. 9 | Gertraud Pressler, Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung, in: Musicologica Austriaca 17 (1998), 63-82. 10 | Georg Wacks, Die Budapester Orpheumgesellschaft. Ein Varieté in Wien 1889-1919, Wien 2002.

Ü BERLEGUNGEN

ZU J UDEN IN DER ALLGEMEINEN

P OPULÄRKULTUR

Das weitgehende Fehlen entsprechender Forschungen und Veröffentlichungen hat wahrscheinlich wenig mit dem Umstand zu tun, dass Juden im populärkulturellen Bereich kaum tätig gewesen wären. Wie einzelne Hinweise in unterschiedlichen Publikationen11 andeuten, waren sie sehr wohl an seiner Gestaltung beteiligt, ohne bisher jedoch Gegenstand einer eingehenden kulturwissenschaftlich-historischen Untersuchung geworden zu sein. In diesem Sinne fehlen zusammenhängende Arbeiten über jüdische Volkssänger in Wien, über Juden im Zirkus, im populären Unterhaltungssektor wie den Singspielhallen, auf den Vorstadtbühnen, in den aufkommenden Massenzeitungen, in performativen Sportarten, in Kuriosenkabinetten oder Ausstellungen. Für Deutschland sieht der Forschungsstand auf den ersten Blick ähnlich aus. Zwar gibt es eine beeindruckende Monographie von Marline Otte aus dem Jahr 2006,12 aber daneben setzen sich nur wenige andere Publikationen auch nur ansatzweise mit Juden in der Populärkultur auseinander.13 Aus diesem Anlass haben das Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz und das Institut für die Geschichte der Juden in Deutschland in Hamburg im Mai 2011 im Jüdischen Museum Berlin eine Konferenz mit dem Titel Nicht nur Bildung, nicht nur Bürger: Juden in der Populärkultur veranstaltet. Entgegen den Erwartungen der Veranstalter rief der dafür herausgegebene Call for Paper eine Vielzahl von Einsendungen hervor. Forschungen über Juden in der Unterhaltungskultur stellen demnach kein so großes Desiderat dar, wie aus dem weitgehenden Fehlen entsprechender Publikationen geschlossen werden könnte. Allerdings, und dies ist ebenso bezeichnend, werden diese Arbeiten, zumeist Dissertationen, größtenteils nicht in den universitär verankerten Jüdischen Studien verfasst, sondern in Disziplinen wie der Geschichte oder Literaturwissenschaft; und dabei werden sie von Fragestellungen geleitet, die für Jüdische Studien oftmals nur von nachgereihter Relevanz sind. So entsprechen beispielsweise Untersuchungen zur Populärkultur, deren Bezug zu Juden lediglich in der Hervorhebung derjenigen Personen besteht, die ihrer ‚Herkunft‘ nach jüdisch waren, in keinster Weise dem Verständnis von Jude-Sein in den Jüdischen Studien. Darin mag der Hauptgrund für die Vernachlässigung solcher Arbeiten durch die Vertreter der Jüdischen Studien liegen. Aber warum sind Juden in der allgemeinen Populärkultur von den Jüdischen Studien bislang kaum behandelt worden? Gibt es dafür wissenschaftsstrukturelle Gründe? Hat sich in den Jüdischen Studien ein Paradigma festgesetzt, das eine Behandlung der Populärkultur erschwert und werden Projekte deswegen vielleicht erst gar nicht for11 | Siehe: Elisabeth Th. Fritz/Helmut Kretschmer (Hg.), Wien. Musikgeschichte. Teil 1: Volksmusik und Wienerlied, Wien 2006. – Jeffrey Veidlinger, Jewish Public Culture in late Russian Empire, Bloomington 2009. – Jon Stratton, Jews, race, and popular music, Farnham 2009. – Michael C. Steinlauf, Focusing on Jewish popular culture in Poland and its afterlife, Oxford 2003. 12 | Marline Otte, Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890-1933, New York 2006. 13 | Dazu zählt beispielsweise: David Brenner, German-Jewish Popular Culture before the Holocaust: Kafka‘s kitsch, London 2006. – Christine Haug/Franziska Mayer/Madleen Podewski (Ed.), Populäres Judentum. Medien, Debatten, Lesestoffe, Tübingen 2009.

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muliert bzw. von den Vertretern dieses Paradigmas in der Begutachtungsphase abgelehnt? Erfahrungen anlässlich der Konferenz Kultur und Identität, die im Oktober 2011 im Centrum Judaicum in Berlin stattfand, könnten als Bestätigung solcher Annahmen gedeutet werden: Bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Tagung verstieg sich der Historiker Michael Wolffsohn von der Universität der Bundeswehr in München zur Aussage, dass jüdische Kultur in Deutschland ausschließlich bürgerliche Bildungskultur gewesen sei. Seine Stellungnahme mag auf ein Unwissen über andere kulturelle Artikulationen der Juden zurückzuführen sein, das wiederum mit weithin fehlenden Publikationen darüber entschuldigt werden kann. Oder Wolffsohn vertritt aus einem Eigeninteresse heraus einen forschungsmäßigen Status Quo. Falsch ist seine Aussage allemal. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht weiter, dass Wolffsohn auch von jüdischen Assimilanten und Hyperassimilanten spricht. Wie bereits angedeutet, besteht zwischen den bislang dominanten Forschungen über jüdische Bildungskultur und dem Assimilations- bzw. Akkulturationsnarrativ ein enger Zusammenhang. Mit einer Erforschung von Juden in der Populärkultur könnte dieser jedoch aufgebrochen werden. Damit wäre auch eine Perspektive auf das jüdisch-nichtjüdische Beziehungsgeflecht möglich, die es jenseits einseitiger Anpassungsbemühungen, d.h. in den allermeisten Fällen der Juden an Nichtjuden, zeigt.

Z UM KULTURBEGRIFF

UND WEITERFÜHRENDE

THESEN

Ein wesentliches Problem in den Arbeiten über Juden in der Populärkultur ist die Unschärfe des Kulturbegriffes. Was Populärkultur genau umfasst und wie sie sich von anderen kulturellen Feldern abhebt, ist weithin vage.14 Eine Gegenüberstellung von Populärkultur mit Hochkultur, wie häufig vorgenommen, verfängt nicht wirklich, nicht zuletzt wegen der dabei zugrunde liegenden binären Kategorisierung, die als Analyseinstrument fragwürdig ist. In diesem Sinne muss auch zwischen Juden in der allgemeinen Wiener Populärkultur und der innerjüdischen populären Unterhaltungskultur unterschieden werden. Zu Letzterer gehören beispielsweise äußerst performativ gehaltene Auftritte von Cantoren im Gottesdienst,15 Purimshpile oder Aktivitäten eines pajatz, eines jüdischen Spaßmachers. Zusammen mit Darbietungen des jiddischen Theaters16 und Aufführungen jüdi-

14 | Siehe: Holt N. Parker, Toward a Definition of Popular Culture. In: History and Theory 50 (2011), 147-170. 15 | Ganz allgemein siehe: D(avid) Pinsky, Dos idishe drama, New York 1909, 3-5. (Jidd.). – Zu Wien siehe: Klaus Hödl, Looking Beyond Borders: Performative Approaches to Jewish Historiography, in: Journal of Jewish Identities 1 (2008), 54-57. – „Die Wahrheit“ 38, 28. 9. 1906, 7. 16 | Brigitte Dalinger, „Verloschene Sterne“. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien, Wien 1998, 43.

Ü BERLEGUNGEN

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scher Volksmusik17 wurden sie bisweilen auch von Nichtjuden rezipiert. Die Grenzen zwischen diesen kulturellen Sphären waren im Allgemeinen aber doch zu undurchlässig, als dass jüdische als Teil der allgemeinen populären Unterhaltung aufgefasst werden könnte. Der Fokus des vorliegenden Textes liegt demnach auf allgemeinen populärkulturellen Prozessen, die von Juden und Nichtjuden gemeinsam gestaltet wurden. Dieses Miteinander war möglich, weil die Wiener Populärkultur stark von den Zuwanderungen unterschiedlicher ethnischer Gruppen und deren vielfältigen kulturellen Artikulationen geprägt war.18 Aufgrund der reichhaltigen, vor allem mündlichen und performativen Traditionen der Migranten/-innen bildete die Populärkultur ein ausgesprochen dynamisches kulturelles Feld, das sich viel eher Festschreibungs- und Fixierungsversuchen entzog als beispielsweise die Hochkultur19 und allen Menschen offen stand. Der Zugang der für Wien maßgeblichen Gruppe der jüdischen Zuwanderer/-innen aus Galizien zur allgemeinen Wiener Populärkultur wurde zudem durch den Umstand erleichtert, dass sie mit anderen Migranten/-innen eine Reihe alltagskultureller Gemeinsamkeiten aufwiesen und in der Folge populärkulturelle Codes und Symbole schnell erfassten, ohne sie erst mühsam adoptieren und mit ihrem eigenen kulturellen Horizont abstimmen zu müssen. Diese kulturellen Übereinstimmungen resultierten u.a. aus einem Miteinander von Juden und Nichtjuden in ihren Herkunftsländern, wie aus neueren Studien über die Siedlungsstruktur in galizischen Schtetln gefolgert werden kann. Danach gab es ein enges Zusammenleben von Juden und Nichtjuden,20 woraus vielfache Begegnungen und Interaktionen resultierten, die, auch wenn sie nicht immer von Wohlwollen und Sympathie getragen waren, doch zur Ausbildung eines gegenseitigen kulturellen Verständnisses und zu kultureller Übereinkunft führten.21 Daraus könnte gefolgert werden, dass Juden primär als Migranten an der allgemeinen Populärkultur teilhatten und ihre Identität als Juden demgegenüber zweitrangig war. Jüdisch-Sein, so ließe sich auch formulieren, war für viele Juden in Wien um 1900 eine identitäre Option neben anderen. Eine Beschäftigung mit Juden in der Populärkultur zeigt demnach den fluiden Charakter von Identität. Aus dieser kulturellen Konstellation lassen sich vier ganz konkrete Thesen ableiten, die im Folgenden jeweils auch mit konkreten Untersuchungsschritten verbunden werden.

17 | Bohlman, Volksmusik, 37. 18 | Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/Main 1999, 38-67. 19 | Paul Connerton, How Societies Remember, Cambridge11 2004, 90. 20 | Israel Bartal, Imagined Geography. The Shtetl, Myth, and Reality, in: Steven T. Katz (Ed.), The Shtetl. New Evaluations, New York 2007, 184. 21 | Darauf weist nicht zuletzt die Entwicklung der Klezmermusik hin, deren Komponenten aus einer Vielzahl musikalischer Traditionen unterschiedlicher ethnischer Gruppen stammen. Siehe: Henry Sapoznik, The Compleat Klezmer, New York2 1988, 6-7.

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Erste These: Juden waren Teil der Wiener Populärkultur Wie bereits ausgeführt, scheinen die vielfachen und umfangreichen Studien über Juden in der Hochkultur den Blick auf deren Rolle in der Populärkultur verstellt zu haben. Verschiedene Hinweise in Zeitungen oder Büchern bekunden jedoch, dass sie im letztgenannten Bereich sehr wohl tätig waren, und zwar als Produzenten, Organisatoren wie auch Konsumenten. Juden waren unter den Volkssängern zu finden, worauf Josef Müller22 oder die Gesellschaft Hirsch23 hinweisen, führten Varietés und traten dort auf, und leiteten zumindest zeitweise den immens populären Vergnügungspark Venedig in Wien oder den Tierpark am Schüttel, wo die bei der Wiener Bevölkerung beliebten ‚exotischen Ausstellungen‘ stattfanden.24 Diese wenigen Referenzen erlauben bereits die Formulierung der These, dass Juden in einem viel stärkeren als bisher bekannten Maße die allgemeine Populärkultur mitgestalteten. Etwaige Fragen, die im Zusammenhang mit der ersten These aufgeworfen und bei weiteren Untersuchungen beantwortet werden könnten, lauten beispielsweise, in welchen anderen als den gerade erwähnten Bereichen der Populärkultur Juden anzutreffen waren, wo sie mitwirkten und vor allem auch, wie sie die einzelnen Sphären mitgestalteten. Warum waren sie in den einzelnen Feldern anzutreffen? Welche eigenen kulturellen Traditionen spielten dabei eine Rolle? Wie sahen jüdische Identitätsfacetten bei den einzelnen Akteuren aus und welchen impact hatten sie auf ihre kulturellen Tätigkeiten? Gab es einzelne Bereiche, in denen Juden verstärkt, und andere, in denen sie deutlich weniger präsent waren, wie beispielsweise in der Hochkultur auf den Gebieten der Architektur und Malerei?25

Zweite These: Akkulturation als Ansatz kann Forschungen beeinträchtigen Eine zweite These lautet, dass das Nachzeichnen der kulturellen Teilnahme von Juden an der allgemeinen Populärkultur mit dem Akkulturationsnarrativ, das in der jüdischen Historiographie nach wie vor dominant scheint, nicht oder nur sehr eingeschränkt vorgenommen werden kann. Es mag sogar sein, dass darin ein Grund für die forschungsmäßige Vernachlässigung dieses Themas liegt. Akkulturation bezeichnet einen weitgehend als einseitig verstandenen Anpassungsprozess einer (zumeist minoritären) Gruppe an eine sogenannte Mehrheitsgesellschaft.26 Die Beteiligung von Juden

22 | Josef Koller, Das Wiener Volkssängertum in alter und neuer Zeit. Nacherzähltes und Selbsterlebtes, Wien 1931, 92. 23 | Siehe: „Illustrirtes Wiener Extrablatt“ 76, 17.3.1896, 4. 24 | Werner Michael Schwarz, Anthropologische Spektakel . Zur Schaustellung „exotischer“ Menschen, Wien 1870-1910, Wien 2001, 147-164. 25 | James Shedel, Art and Society, Palo Alto 1981, 61. 26 | Steven E. Aschheim, German History and German Jewry: Boundaries, Junctions and Interdependence, in: Leo Baeck Institute Year Book XLIII (1998), 315. – Andreas Gotzmann,

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an der allgemeinen Populärkultur stellt allerdings einen Akt der Mitgestaltung statt der Adaptation dar. Juden wie auch Nichtjuden haben diese konstituiert und geprägt. In diesem Sinne muss das kulturelle Miteinander, das in der gemeinsamen Generierung von Populärkultur seinen Ausdruck fand, statt einer einseitigen jüdischen Anpassung untersucht werden. Dafür bedarf es allerdings eines neuen analytischen Instrumentariums, das der Begriff der Performanz darstellen könnte. Performanz als methodischer Ansatz untersucht Praktiken. Die Generierung von kultureller Bedeutung geschieht im Rahmen einer Interaktion, sodass mindestens zwei Akteure anwesend sein müssen.27 Anders als bei einem Text ist die konstituierte Bedeutung nur von kurzer Validität. Performanz als analytisches Instrumentarium eignet sich in besonderem Maße für die Untersuchung von Populärkultur, weil diese in starkem Maße von oralen Traditionen getragen ist. Das heißt, dass kulturelle Bedeutung nicht festgeschrieben, sondern auf das Spektakuläre und Eventhafte ausgerichtet ist, die ebenfalls nur eine temporäre Bedeutung konstituieren und vor allem im Miteinander und Interaktionalen – im konkreten Fall: von Juden und Nichtjuden – Ausdruck finden. Ein illustratives Beispiel für einen performativen Zugang zur Populärkultur stellt der Umgang mit dem Begriff Alt-Wien dar, der um 1900 weit verbreitet war und von Juden wie auch Nichtjuden – in performativer Weise – konstituiert wurde. Alt-Wien evozierte vergangene, vorgeblich bessere Lebensbedingungen, die manchmal bis ins Mittelalter, vornehmlich aber in die Zeit des Biedermeier projiziert wurden.28 Er war ein Tropus, über den eine Vielzahl von Publikationen und Veranstaltungen verbreitet wurde, ohne dass seine Bedeutung festgelegt werden hätte können.29 Er besaß eine temporäre Signifikanz, die im Gebrauch des Begriffes generiert wurde und für die Dauer seiner Verwendung Gültigkeit besaß. Ein anschauliches Beispiel bietet ein Umzug zu Ehren des österreichischen Kaisers im Jahre 1908, an der auch einige „Alt-Wiener Gruppen“ teilnahmen und vom Publikum am Straßenrand besonders enthusiastisch begrüßt wur-

Zwischen Nation und Religion: Die deutschen Juden auf der Suche nach einer bürgerlichen Konfessionalität, in: Andreas Gotzmann/Rainer Liedtke/Till van Rahden (Hg.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 63), Tübingen 2001, 242. 27 | Erika Fischer-Lichte, Theater als Modell für eine performative Kultur. Zum performative turn in der europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts (Universitätsreden 46), Saarbrücken 2000. – Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004. – Peggy Phelan, Unmarked. The Politics of Performance, London2 1996. 28 | Siehe beispielsweise: Richard Kralik/Hans Schlitter, Wien. Geschichte der Kaiserstadt und ihrer Kultur, Wien 1912, 736. 29 | Wolfang Kos/Christian Rapp (Hg.), Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war (Sonderausstellung des Wien-Museums 316), Wien 2005. – Monika Sommer/Heidemarie Uhl (Hg.), Mythos Alt-Wien. Spannungsfelder urbaner Identitäten (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 9), Innsbruck 2009.

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den.30 Im speziellen Fall, so lässt sich festhalten, generierten die Prozessionsteilnehmer zusammen mit den Zuschauern/-innen die Bedeutung von Alt-Wien, die allerdings nur für den Zeitpunkt des Umzugs gültig war. Die Signifikanz wurde weder festgesetzt noch für die Zukunft normiert. Aufgrund der fließenden Bedeutung von Alt-Wien, der Offenheit dieses kulturellen Codes, konnten auch Juden an seinen Bestimmungsversuchen teilnehmen, schufen architektonische Embleme von Alt-Wien,31 veranstalteten Feste mit dem Motto Alt-Wien32 u.a.m. Sie konstituierten damit im Verein mit Nichtjuden seine Bedeutung, ohne diese festschreiben zu können. Alt-Wien war für die Populärkultur ein zentraler Vorstellungsraum, stellte eine imaginierte Sphäre beim Heurigen dar, wo die Volkssänger ihre Auftritte hatten, und wurde durch viele Operetten evoziert, die – anders als die Oper – nicht zur Hochkultur gehörten und deren Komponisten vielfach Juden waren.33 Alt-Wien war aus der Populärkultur nicht wegzudenken und bildet folglich ein besonders anschauliches Beispiel für ihre Gestaltung durch Juden und Nichtjuden. Eine Partizipation der Juden ist aber mit dem Ansatz der Akkulturation nicht zu untersuchen, eben weil sie sich nicht ‚angepasst‘ haben. Im konkreten Fall von Alt-Wien ist das besonders naheliegend, da das ‚alte‘, historische Wien bis auf kurze Phasen äußerst judenfeindlich eingestellt und Juden die meiste Zeit über der Aufenthalt in der Stadt verboten war. Juden konnten sich dadurch an kein vorgefundenes Verständnis von Alt-Wien anpassen, sondern mussten dieses in einer ihrem eigenen kulturellen Gedächtnis gemäßen Weise interpretieren und verstehen. Mit dem Aufgreifen von Performanz als analytisches Instrumentarium wird eine Alternative zum Akkulturationsbegriff aufgezeigt, die sich nicht nur für eine Arbeit über Juden in der Populärkultur, sondern für Jüdische Studien ganz allgemein als wichtig erweisen kann.

Dritte These: Korrektur von falschen Annahmen In der jüngeren Vergangenheit haben einige Autor/-innen eine Beschäftigung mit Juden in der Populärkultur eingefordert. Obwohl sie die jüdische Geschichte Deutschlands im Sinn hatten, können sie auch auf Österreich bezogen werden. Dazu zählt bei-

30 | Elisabeth Großegger, Das „phantastische Bild eines alten Wien ..., das nie existiert hat und doch die eigentliche Wahrheit wäre.“ Die Konstruktion von Alt-Wien auf der Bühne, in: Sommer/Uhl, Mythos Alt-Wien, 101. 31 | Arkus Kristan, Oskar Marmorek 1863-1909. Architekt und Zionist, Wien 1996, 178. 32 | „Illustrirtes Wiener Extrablatt“ 33, 2. 2. 1905, 15. 33 | Camilla Crittenden, Johann Strauss and Vienna. Operetta and the Politics of Popular Culture, Cambridge 2000.

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spielsweise eine Stellungnahme von John M. Efron in der letzten Ausgabe des Leo Baeck Institute Year Book.34 Eine Auseinandersetzung mit der Populärkultur scheint auch wegen der mit ihr verbundenen Hinterfragung, vielleicht sogar Korrektur von ‚festgefahrenen‘ Konzepten über Juden wichtig zu sein. Darauf weist der amerikanische Literaturwissenschaftler Jonathan Hess in seiner erst vor wenigen Monaten erschienenen Publikation über Fortsetzungsromane in deutsch-jüdischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts hin.35 Er meint, dass daran ersichtlich werde, dass Juden sehr wohl einen Bezug zur Populärkultur gehabt hätten, auch wenn dies bisweilen ignoriert worden sei. Aus der Untersuchung jüdischer Printmedien wie der Allgemeinen Zeitung des Judentums oder des Israelit folgert er, dass Juden sich nicht nur mit den Schriften von Goethe, Schiller und Kant auseinandergesetzt, sondern auch eine gemeinhin als qualitativ minderwertig bezeichnete Literatur rezipiert hätten. Die Nichtbeachtung dieses Umstandes perpetuiere die vorherrschende – und offensichtlich nur partiell richtige – Vorstellung, dass Juden sich allein mit dem bürgerlichen kulturellen Kanon identifizierten.36 Die Arbeiten von George L. Mosse37 über den Bildungseifer der Juden erzählen in diesem Sinne nur einen begrenzten Ausschnitt jüdischen Lebens. Sie sind nicht falsch, aber vermitteln lediglich einen einzelnen Aspekt jüdischen kulturellen Verhaltens und stellen dadurch eine ungenaue und unvollständige Skizze jüdischer Lebenswelten dar. Ein ähnliches Beispiel lässt sich für Österreich anführen. Aus dem Fehlen von Arbeiten über Juden in der Populärkultur wird bisweilen der Schluss gezogen, dass es sie auf diesem Gebiet gar nicht gegeben hätte. Eine solche Folgerung lässt sich bei Michael Rogin in seinem Buch über osteuropäische jüdische MigrantInnen in den USA und deren impact auf die amerikanische Filmindustrie finden.38 Er meint auch, dass darin ein Grund für die unterschiedliche Ausprägung des Antisemitismus liege. Das angebliche Fehlen der Juden in der Wiener Populärkultur habe sie von der großen Masse des

34 | John M. Efron schreibt: “One area of German Jewish historiography that cries out for more attention (…) is to study popular culture. Intellectual history has been a dominant trend in German Jewish history, […] little attention has been paid to the quotidian character of German Jewish life and especially in the recreational habits of the community.” Vgl. John M. Efron, New Directions in Future Research, in: Leo Baeck Institute Year Book LIV (2009), 4. Obwohl Efron strenggenommen den Blick auf die (inner-)jüdische Popularkultur und nicht auf die jüdisch-nichtjüdische Interaktion richtet, plädiert er wie die vorliegenden Ausführungen für eine Hinwendung zur Populärkultur. 35 | Jonathan M. Hess, Middlebrow Literature and the Making of German-Jewish Identity, Stanford 2010. 36 | Jonathan M. Hess, Beyond Subversion: German Jewry and the Poetics of Middlebrow Culture, in: The German Quarterly 82 (2009) 3, 319. 37 | George L. Mosse, German Jews beyond Judaism, Bloomington 1985. 38 | Michael Rogin, Blackface, White Noise. Jewish Immigrants in the Hollywood Melting Pot, Berkeley2 1998.

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Volkes entfremdet, was die Entwicklung von Feindseligkeit gegen Erstere erleichtert habe.39 Weiterführende Fragestellungen beziehen sich auf eine etwaige Revidierung verbreiteter Annahmen über Juden. Dazu zählen nicht nur die beiden angeschnittenen Aspekte des jüdischen Bildungsstrebens und des Antisemitismus, sondern auch die Freizeitgestaltung. Die in der Forschung vorherrschende Auffassung über das Alltagsverhalten von Juden lautet, dass die Begegnungen mit Nichtjuden sehr begrenzt gewesen seien und sich im Wesentlichen auf das Berufsleben beschränkt hätten.40 Juden als Konsumenten von Populärkultur waren aber einer Vielzahl von Begegnungen mit Nichtjuden ausgesetzt, durch die sie gemeinsame Erfahrungen durchliefen und somit auch gemeinsam Realität konstituierten.41 In diesem Sinne musste das Miteinander viel ausgeprägter und von größeren Auswirkungen auf das Zusammenleben gewesen sein als bisher angenommen wurde. Aber welche Beispiele lassen sich dafür finden? Gibt es Hinweise, dass Juden und Nichtjuden etwa im Prater, wo es eine Vielzahl populärkultureller Attraktionen gab, die gleichen Gasthäuser besuchten und miteinander verkehrten? Es ist bekannt, dass populärkulturelle Veranstaltungen zwar von Wienern/-innen aller sozialen Schichten besucht wurden, dies aber, jeweils nach sozialem Status getrennt, an unterschiedlichen Tagen.42 Lassen sich Belege für ein solch zeitlich separiertes Freizeitverhalten auch im Hinblick auf Juden und Nichtjuden ausmachen? Gibt es Referenzen auf die Ausbildung einer Art – zumindest temporärer, performativer – Gemeinschaft durch das gemeinsame Erleben populärwissenschaftlicher Veranstaltungen? Und wenn es so ist: Resultierten daraus auch längerfristige Folgen für das jüdisch-nichtjüdische Verhältnis?

39 | Michael Rogin schreibt dazu: „In the period when assimilating, vulnerable Central European Jews were transforming high culture, assimilating American Jews were turning to popular culture. […] Their turn to dynastic high culture not only cut urban European Jews off from surrounding national minorities, but it isolated them within the center to which they sought access as well […], high culture set Jews apart. […] [I]n the United States, Ostjuden […] assimilated en masse. They did so by helping to create mass culture for, and participating alongside, the same nationality groups that were turning on European Jewry.“ Rogin, Blackface, 59, 65. 40 | Diese Konstellation wurde eindrucksvoll von Gershom Sholem und Walter Benjamin beschrieben. Gershom Sholem, Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt am Main 1994, 30. – Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in: Gesammelte Schriften 4/1, Frankfurt am Main 1972, 287. 41 | Vanessa R. Schwartz, Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin de Siècle Paris, Berkeley 1999. 42 | Charlotte Maria Toth, „Gemma schaun, gemma schaun ...“ Vergnügen als Verpflichtung? Untersuchung zu den Freizeiträumen und Freizeitaktivitäten des Wiener Bürgertums in den Jahren 1890-1910, phil. Dipl.arb. Wien 1986, 60.

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Vierte These: Es gibt keinen Antisemitismus wegen eines mangelnden Interesses von Juden an der Populärkultur Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass Rogins These, wonach der Antisemitismus in Wien so stark gewesen sei, weil Juden nicht in der Populärkultur verankert gewesen seien und deswegen eine Entfremdung zwischen ihnen und ‚einfachen‘ Menschen geherrscht habe, unrichtig ist. Gleichwohl stellt sich die Frage, warum trotz ihrer Präsenz in der Populärkultur und den damit verbundenen vielfältigen Kontakten mit Nichtjuden, die antijüdische Feindseligkeit nicht abgenommen hat. Wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Präsenz von Juden in der Populärkultur zu häufigeren Begegnungen zwischen ihnen und Nichtjuden geführt hat und es naheliegend scheint, dass der Ausbau von Kontakten zu einem gegenseitigen Verständnis zwischen ihnen beigetragen und Konflikte zwischen ihnen reduziert hat, dann hätte Wien nicht die einzige Großstadt Zentral- und Westeuropas sein dürfen, die mit Karl Lueger einen Antisemiten zum Bürgermeister gewählt hat.43 Eine mögliche Erklärung für den verstärkten Antisemitismus seit den 1880er Jahren44 könnte gerade in der Zunahme von jüdisch-nichtjüdischen Interaktionsorten liegen, die das Verhältnis von Juden und Nichtjuden nur kurzfristig entspannt hat. Gleichzeitig hat sie nämlich auch gewohnte Unterscheidungen zwischen ihnen obsolet werden lassen. Der Antisemitismus könnte somit als Reaktion auf die dadurch bedingte Abnahme von Differenzen gelten. Allgemein waren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Bestrebungen beobachtbar, durch eine Neustrukturierung von Zeit und Ort (meist soziale) Distinktionslinien, die sich aufzulösen schienen, wieder hervorzuheben.45 Die Stärkung einer (imaginierten) Differenz zwischen Juden und Nichtjuden könnte Teil dieser Entwicklung gewesen sein. Dies könnte eine Erklärung für den Übergang vom religiösen Antijudaismus zum Rassenantisemitismus liefern, der aufgrund der schwindenden äußerlichen Erkennbarkeit von Juden Unterschiede zwischen ihnen und Nichtjuden in den Körper projizierte.46 Mit der Zunahme von jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen sowie von Antisemitismus gab es zwei scheinbar einander widersprechende Entwicklungen. Wie kann deren Divergenz erklärt werden? Und welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Partizipation von Juden an der Populärkultur und dem Antisemitismus in Wien im ausgehenden 19. Jahrhundert?

43 | George E. Berkley, Vienna and Its Jews. The Tragedy of Success, 1880s-1980s, Boston 1988, 99. 44 | Peter Pulzer, The Rise of Political Anti-Semitism in Germany & Austria, Cambridge2 1988, 122-183. 45 | Triendl-Zadoff, Mirjam, Nächstes Jahr in Marienbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne (= Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 6), Göttingen 2007, 83-84. 46 | Sander L. Gilman, The Jew’s Body, New York 1991. – John M. Efron, Medicine and the German Jews. A History, New Haven 2001.

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FAZIT Die obigen Ausführungen veranschaulichen, dass Untersuchungen zu Juden in der allgemeinen Populärkultur nicht nur forschungsmäßiges Neuland darstellen, sondern dass sie vor allem auch aufgrund der dabei zu erwartenden Auswirkungen auf vorherrschende Narrative in den Jüdischen Studien unabdingbar scheinen. In diesem Zusammenhang wurden vier Thesen formuliert, die entsprechende Arbeiten leiten und strukturieren können. Damit könnte aus dem immer noch vorherrschenden Paradigma in den Jüdischen Studien in Zentraleuropa, vornehmlich die ‚kulturellen Beiträge‘ der Juden zur allgemeinen Hochkultur zu untersuchen, ausgebrochen und ein alternatives Narrativ, das jüdisch-nichtjüdische Interaktionen und deren gemeinsames Gestalten kultureller Prozesse betont, etabliert werden.

Geteilte Erinnerung? Der Bund jüdischer Frontsoldaten Gerald Lamprecht

Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, ihre Manifestationen im öffentlichen Raum durch Kriegerdenkmäler und deren Entstehungszusammenhang sind Teil der kollektiven Identitätsbildung im Österreich der Zwischenkriegszeit. Die Frage, wem wird wie, wann, wo und durch wen gedacht, markiert Inklusion und Exklusion in oder aus dem sich konfliktreich formierenden kollektiven Gedächtnis der österreichischen Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit. Denn Kriegerdenkmäler dienen immer der Identitätsstiftung der Überlebenden, die dem Sterben im Krieg zumeist einen nationalen, gesellschafts- und systemrelevanten Sinn verleihen wollen. Dabei tritt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen Millionen Toten das individuelle Totengedenken in den Hintergrund. „Die Gefallenen bleiben in militärischen Formationen integriert und dienen, im übertragenen Sinn[,] als Fundamente politischer Systeme.“1 Besonders in Form des Denkmals für den „Unbekannten Soldaten“ erlangt das Kriegergedenken seine höchste nationale Aufladung, wird in ihm doch das kollektive Opfer der Mitglieder der Nation für die Nation zelebriert. Durch Zuschreibungen an den „Unbekannten Soldaten“ werden Eigenschaften der Nation umrissen. Betrachtet man dies im österreichischen Kontext, so ist der „Unbekannte Soldat“ zwar namenlos, jedoch nicht konfessionslos. Denn symbolträchtig wurde er in Gestalt des „Toten Kriegers“ in der Krypta, einer in den „strengen Linien der frühchristlichen Zeit gehaltenen Kapelle“, im 1934 eingeweihten österreichischen Heldendenkmal im Äußeren Burgtor, der nationalen Erinnerungsstätte für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, positioniert.2 Flankiert wurde dieses „Weihemal“ durch Heldenbücher, die die Namen

1 | Thomas Kahler, „Gefallen auf dem Feld der Ehre…“. Kriegerdenkmäler für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges in Österreich unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in Salzburg bis 1938, in: Stefan Riesenfellner (Hg.), Steinernes Bewußtsein I. Die öffentliche Repräsentation staatlicher und nationaler Identität Österreichs in seinen Denkmälern, WienKöln-Weimar 1998, 366-367. 2 | Das österreichische Heldendenkmal in Wien. Ein Führer durch Raum und Zeit, Wien o.J.

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möglichst aller Österreicher verzeichneten, „welche im Weltkrieg ihr Leben geopfert haben; nach Ländern und Gemeinden geordnet, künden diese Bücher auch späteren Generationen das Hohe Lied vom Heldenmut des österreichischen Soldaten“.3 In einer Verstärkung der katholischen Aufladung sollte zudem in der Krypta zu Ehren der Gefallenen jeden Tag eine heilige Messe gelesen werden. Für die Errichter des österreichischen Heldendenkmals war der österreichische Kriegsheld somit katholisch und in einem weiteren Schritt eng mit der Geschichte des Habsburgerreiches verbunden, denn „ein Ehrenmal sollte errichtet werden, das den lebenden und toten Helden des Weltkrieges galt; das aber auch ein Denkmal der Jahrhunderte alten ruhmreichen Armee sei, ein Denkmal der tausend Schlachten, in denen die Söhne Österreichs gefochten hatten, ein Denkmal der Siege, die unser einstiges Vaterland groß und mächtig gemacht, ein Denkmal der ungezählten Heldentaten, mit denen Altösterreichs Waffenruhm gewahrt und begründet wurde.“4 Das österreichische, nationale Gedenken an die Opfer des Krieges in Form des Heldendenkmals, das noch zu Zeiten der Republik entworfen und dann im austrofaschistischen Ständestaat eingeweiht wurde, verwies somit auf zumindest zwei Charakteristika österreichischen Nationsverständnisses im ständestaatlichen Sinne: die habsburgische und die christlich-katholische Tradition.5 Vor allem Letzteres stellte eine Exklusion oder zumindest Randstellung aller akatholischen Gruppen dar. Ihnen wurde „entsprechend der Krypta […] im Südtrakt des Denkmals eine Halle […], die für die feierliche[n] Aufbahrungen, dann auch für die Kulthandlungen akatholischer Konfessionen bestimmt ist“,6 als Gedenkort zugewiesen. Dieser nicht nur auf die Ebene des Symbolischen beschränkten Randstellung traten schon während7 und vor allem nach dem Ende des Ersten Weltkrieges jüdische Akteur/ innen entgegen. Sie forderten nicht zuletzt auf Basis ihres Kriegsdienstes eine Position innerhalb der sich formierenden nationalen österreichischen Identität und damit auch 3 | Ebda. 4 | Vereinigung zur Errichtung eines österreichischen Heldendenkmales (Hg.), Gedenkschrift anläßlich der Weihe des österreichischen Heldendenkmals am 9. September 1934, Wien 1934, 44-45. 5 | Zum Heldendenkmal vgl. weiters: ebda.; Peter Stachel, Mythos Heldenplatz, Wien 2002, 99-102. 6 | Das österreichische Heldendenkmal in Wien. Ein Führer durch Raum und Zeit. 7 | Für die Zeit während des Ersten Weltkrieges ist auf die Zeitschrift „Jüdisches Archiv“, die vom dem Zionismus nahe stehenden Komitee „Jüdisches Kriegsarchiv“ herausgegeben wurde, zu verweisen. Diese wurde erstaunlicherweise 1920 unverändert in Buchform neu verlegt. Vgl. Eleonore Lappin, Zwischen den Fronten: Das Wiener Jüdische Archiv. Mitteilungen des Komitees Jüdisches Kriegsarchiv 1915-1917, in: Eleonore Lappin/Michael Nagel (Hg.), Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte I: Dokumente, Darstellungen, Wechselbeziehungen (= Die jüdische Presse – Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum 6), Bremen 2008, 229-246. (Vielen Dank an Eleonore Lappin-Eppel für den Hinweis der Neuauflage.)

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innerhalb der Gesellschaft ein. Neben Einzelpersonen und den Israelitischen Kultusgemeinden waren es vor allem einzelne jüdische Vereine, die sich dieser Aufgabe widmeten. Für die 1930er Jahre ist die Auseinandersetzung um die jüdische Beteiligung am Ersten Weltkrieg vor allem mit dem „Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs“ (BJF) verbunden.

D ER E RSTE WELTKRIEG

IDENTITÄTSPOLITISCHEN

UND SEINE FOLGEN

Das Ende des Ersten Weltkrieges und die damit verbundene Neuordnung Europas durch die Ausrufung und Etablierung von Nationalstaaten hatte weitreichende Folgen für das Zusammenleben und die identitäre Verortung der unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen Zentraleuropas und im besonderen Maße in den Nachfolgestaaten der supranationalen, multiethnischen Habsburgermonarchie.8 Vor allem Jüdinnen und Juden, die in der Monarchie sowohl in der Eigen- wie in der Fremdwahrnehmung von vielen gleichsam als das „Staatsvolk“9 wahrgenommen wurden10, waren nun gezwungen, sich mit zentralen Fragen über ihre Position innerhalb der entstehenden, sich hegemonial als deutsch verstehenden, österreichischen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Der von vielen als Krise wahrgenommene Bruch von 1918 war mit fundamentalen Fragen nach der/den jüdische/n Identität/en sowohl für den Einzelnen als auch für die jüdische Gemeinschaft als Kollektiv verbunden. Vor allem die Position gegenüber dem Staat wie auch die Verortung gegenüber der nichtjüdischen Bevölkerung musste neu überdacht werden. Denn nach Marsha Rozenblit war die von ihr für die jüdische Bevölkerung in der ausgehenden Habsburgermonarchie konstatierte dreigeteilte Identität („tripartite identity“)11, die in einem österreichischen Staatspatriotismus, einer 8 | Vgl. David Rechter, The Jews of Vienna and the First World War, London-Portland-Oregon 2001, 187; Marsha L. Rozenblit, Reconstructing a National Identity. The Jews of Habsburg Austria During World War I, New York 2001, 162-172. 9 | Rabbiner Joseph Samuel Bloch spricht in seinem 1886 publizierten Text „Der nationale Zwist und die Juden in Österreich“ von den Juden als „Österreicher[…] sans phrase, d.h. ohne ein zweites nationales Adjektiv, welches das erste einschränkt. Wenn eine specifisch österreichische Nationalität construiert werden könnte, so würden die Juden ihren Grundstock bilden.“ Joseph Samuel Bloch, Der nationale Zwist und die Juden in Oestereich, Wien 1886, 41. 10 | Silvia Cresti, German and Austrian Jews’ Concept of Culture, Nation and Volk, in: Rainer Liedtke/David Rechter (Hg.), Towards Normality? Acculturation and Modern German Jewry, Tübingen 2003, 287-288. Bekannt in diesem Zusammenhang ist die Szene aus Franz Theodor Czokors 1936 erschienenem Theaterstück „3. November 1918“, in der der am Grab eines Kameraden stehende jüdische Arzt „Erde aus – Österreich“ in das Grab schüttet, während die übrigen Beteiligten „tschechische“, „slowenische“, „Kärntner“, „ungarische“ und „polnische“ Erde in das Grab werfen. Franz Theodor Czokor, 3. November 1918. Ende der Armee Österreich-Ungarns. Vier Akte, Wien 1949, 61-64. 11 | „In Habsburg Austria, Jews had long been accustomed to a comfortable tripartite identity that enabled them to assert patriotic loyalty to the state, to share the culture of one or another

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Übernahme der jeweiligen Sprache und Kultur der Völker der Monarchie sowie einer ethnischen jüdischen Identität bestand12 , nicht über das Jahr 1918 hinaus erhaltbar. Mit dem Ende der Monarchie gerieten eingeübte Identitätskonzepte – vor allem das ab der Mitte des 19. Jahrhunderts von Teilen der österreichischen Jüdinnen und Juden verfolgte, auf einem transnationalen Liberalismus fußende Akkulturations- und Verbürgerlichungsnarrativ – als dominierender Lebensentwurf, der bereits im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ein erstes Mal erschüttert wurde,13 ins Wanken und drohten in sich zusammenzubrechen. Ursache dafür war die auf essentialistischen und vermehrt auf biologistisch-rassistischen Kriterien basierende Nationsvorstellung sowie der diesen Konzepten eingeschriebene Antisemitismus, der sowohl in der Ersten Republik als auch im austrofaschistischen Ständestaat eine enorme Radikalisierung sowie eine die gesamte Gesellschaft durchdringende Dimension annahm.14 Antisemitismus und Deutschnationalismus markierten „die Juden“ als das gleichsam „Andere“ und bedingten somit einen Wandel jüdischen Selbstverständnisses wie auch eine Neupositionierung der jüdischen Bevölkerung gegenüber dem Staat „Deutsch-Österreich“ und der nichtjüdischen Gesellschaft. Marsha Rozenblit hält diesbezüglich fest: „The „The new political logic dictated a German national identity, but in fact more Jews turned to Jewish ethnicity and even Jewish nationalism than ever before.“15 Harriet Pass Freidenreich konstatiert in ihrer Studie „Jewish Politics in Vienna 1918-1938“ für die Zwischenkriegszeit zudem, dass sich die jüdische Bevölkerung nun zunehmend aus der Öffentlichof the Monarchy`s nationalities, and still to feel themselves to be part of the Jewish people. Jewish identity could range from the traditional religious position, that the Jews were a nation in exile awaiting redemption; to liberal one, which argued in public that Jewish identity was just religious, even while acknowledging privately the significant ethnic dimension in Jewishness; to a Zionist or diaspora nationalist identity, with its insistence that the Jews should form a modern secular nation. This tripartite identity, however, depended on the existence of the supranational, multinational state that did not promote its own ethnic national identity, but insisted rather on old-fashioned dynastic and territorial loyalty.“ Rozenblit, Reconstructing a National Identity, 162. 12 | Marsha Rozenblit, From Habsburg Jews to Austrian Jews: The Jews of Vienna, 1918-1938, in: Eleonore Lappin (Hg.), Jüdische Gemeinden. Kontinuitäten und Brüche, Berlin-Wien 2002, 105-130, hier 110f.; Rozenblit, Reconstructing a National Identity. 13 | Vgl. u.a. Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs (= Anton Gindely Reihe zur Geschichte der Donaumonarchie und Mitteleuropas 4), Wien-KölnWeimar 1999, 171f; Gerald Lamprecht, „Allein der Antisemitismus ist heute nicht mehr eine bloße Idee…“. Strategien gegen den Antisemitismus in Österreich, in: Ulrich Wyrwa/Fritz Bauer Institut (Hg.), Einspruch und Abwehr. Die Reaktionen auf die Entstehung des Antisemitismus (1879-1914) (= Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust), Frankfurt am Main-New York 2010, 153-179. 14 | Vgl. allg. u.a.: Herbert Rütgen, Antisemitismus in allen Lagern: publizistische Dokumente zur Ersten Republik Österreich 1918–1938, Graz 1989; Bruce Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993, 116-177. 15 | Rozenblit, From Habsburg Jews to Austrian Jews, 120.

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keit, dem öffentlichen Raum zurückzog und es zu einer gesteigerten Hinwendung zu den jüdischen Gemeinden wie auch zur Familie als Ort jüdischer Vergemeinschaftung gekommen sei.16 Ein weiterer Weg, der ebenso von vielen Jüdinnen und Juden beschritten wurde, bestand jedoch auch in der Abwendung vom Judentum in Form von Konversion oder Austritt aus der jüdischen Gemeinschaft, sei es auf Grund antisemitischen Drucks oder auf Grund ideologischer, religionsskeptischer Überzeugungen im Lager der Sozialisten. So traten allein in Wien zwischen 1919 und 1937 annähernd 17.000 Personen aus der jüdischen Gemeinde aus, wobei der Höhepunkt der Austritte mit jenem antisemitischer Auswüchse zusammenfiel.17 Einen Bedeutungsgewinn hatten in dieser Phase identitärer Unsicherheiten zweifelsfrei einzelne jüdische Vereine zu verzeichnen. Waren diese ab 1867 zunächst gegründet worden, um wichtige soziale, kulturelle und religiöse Aufgaben für die jüdischen Gemeinschaften zu übernehmen, so wurden die Vereine in der Zwischenkriegszeit verstärkt zu den zentralen Orten jüdischer Vergemeinschaftung. Zudem konnten sich innerhalb der vielfältigen jüdischen Vereine die verschiedenen jüdischen Identitäten konstituieren und bestätigen.18 Die jüdische Vereinslandschaft spiegelte somit wider, dass die österreichische jüdische Bevölkerung eine äußerst heterogene Gruppe war, die sich durch ihre soziale Schichtung, kulturellen Gepflogenheiten, religiösen Orientierungen sowie ihre jeweilige Herkunft und letztlich auch durch ihre politische Orientierung unterschied. Wurden die Israelitischen Kultusgemeinden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zumeist von Honoratioren geleitet, so traten mit der sich verschärfenden identitären Krise an ihre Stelle vermehrt weltanschaulich ausgerichtete Parteien/Gruppen. Neben den orthodoxen Gruppierungen, die als einzige explizit religiös geprägt waren, traten bei den Wahlen zum Vorstand der Kultusgemeinden sozialdemokratische, zionistische und liberale Gruppierungen gegeneinander an. Letztere, vertreten durch die „Union österreichischer Juden“, war bis in die 1930er Jahre in Wien stimmenstärkste Fraktion, ehe sie von den Zionisten abgelöst wurde.19 All diese Gruppierungen boten der jüdischen Bevölkerung Österreichs unterschiedliche Identitätsangebote an und verfolgten zudem je eigene – sich konkurrierende – Ideen im öffentlichen Auftreten gegen den Antisemitismus. So vertrauten die Liberalen wie schon seit Jahrzehnten auf den Kampf gegen die Diskriminierung, die Macht der bürgerlichen Rechte und den Schutz des Staates, während die jüdischen Nationalisten wie auch die orthodoxen Gruppen die Lösung in einer Abkehr von der Akkulturation und der Stärkung des jü-

16 | Harriet Pass Freidenreich, Jewish Politics in Vienna 1918-1938 (= The Modern Jewish Experience), Bloomington-Indianapolis 1991. 17 | Die Austritte nahmen von 1919 bis 1935 stetig ab. Vgl. ebda., 17. 18 | Vgl. dazu u.a. Evelyn Adunka/Gerald Lamprecht/Georg Traska (Hg.), Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 18), Innsbruck-Wien-München 2011. 19 | Vgl. Albert Lichtblau, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn – österreichisch-jüdische Geschichte 1848 bis zur Gegenwart, in: Eveline Brugger et. al. (Hg.), Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, 494.

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dischen nationalen Selbstbewusstseins sahen. Die Sozialisten wiederum erwarteten ein Ende antisemitischer Aggression nach der Beseitigung sozialer Ungleichheit.20 Übereinstimmung gab es bei allen Gruppierungen einzig im konkreten Vorgehen, indem auf das Mittel der Petition und Intervention nach dem Muster der Shtadlan gesetzt wurde. Führende Vertreter der jüdischen Gemeinde sowie angesehene jüdische Persönlichkeiten sollten bei staatlichen und kommunalen Stellen sowie führenden Persönlichkeiten intervenieren und ein schützendes Eingreifen des Staates, das dieser meist verweigerte, erreichen.21 Auch wenn die geschilderten Identitätsdiskurse, die um die Begriffe „Volk“, „Stamm“, „Nation“, „Religion“ und „Konfession“ kreisten, als innerjüdische zu betrachten sind, dürfen darüber hinaus die vielfältigen jüdisch-nichtjüdischen Ausverhandlungsprozesse um österreichische jüdische Identität nicht außer Acht gelassen werden. Vor allem ein Blick auf die Kontroversen um die Kriegserinnerung belegt dies eindringlich. Denn aus dem Kriegsdienst für das Habsburgerreich leiteten jüdische Veteranen ebenso wie Angehörige von Kriegsopfern, allgemein die jüdische Bevölkerung Österreichs, die Forderung nach Positionierung innerhalb der Gesellschaft ab. Es ging um die Anerkennung der jüdischen Kriegsopfer sowohl im symbolischen als auch im materiellen Sinne, was ihnen jedoch von verschiedensten nichtjüdischen Gruppierungen, wie beispielsweise der 1920 gegründeten „Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreichs“ abgesprochen wurde. Diese verfolgte in ihren Statuten die „Vertretung der moralischen Interessen der ehemalige Frontkämpfer“, „Ehrung der gefallenen Kameraden und Helden der Front“, „Pflege der in Kampfesnot erprobten Kameradschaft aller Frontkämpfer“, „Pflege der Liebe zur Heimat und zum deutschen Volke“ sowie die „Ausschaltung der Klassengegensätze im deutschen Volke“.22 Und entsprechend des letzten Punktes konnte nur „jeder gewesene Frontkämpfer deutscharischer Abstammung ohne Rücksicht auf seine politische Gesinnung mit Ausnahme von Sozialdemokraten und Kommunisten“23 Mitglied werden. Neben der „Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreich“ etablierten sich jedoch noch weitere Veteranenvereinigungen und das für die Kriegsgräberfürsorge bedeutende „Österreichische Schwarze Kreuz“. Letzteres schloss die jüdischen Soldaten nicht explizit aus, doch es sah es auch nicht als seine Aufgabe an, sich um deren Belange zu kümmern.24 20 | Pass Freidenreich, Jewish Politics in Vienna 1918-1938, 2. 21 | Ebda., 180f. 22 | §2 der Statuten von 1920. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), A32-5442/1922. 23 | §5 der Statuten von 1920. Ebda. 24 | In einem Aufruf aus dem Jahr 1919 heißt es, dass das Schwarze Kreuz „die pietätvollen Bestrebungen der Gemeinden, Soldatenfriedhöfe, Denkmale oder Erinnerungstafeln für die im Weltkrieg gefallenen Helden zu errichten“ fördert. Weiters: „Mögen sich alle Volksgenossen, ohne Unterschied des Bekenntnisses und der Partei, einig zusammenschließen, damit diese sittlichen Ziele erreicht werden.“ Thomas Reichl, Das Kriegsgräberwesen ÖsterreichUngarns im Weltkrieg und die Obsorge in der Republik Österreich. Das Wirken des Österreichischen Schwarzen Kreuzes in der Zwischenkriegszeit, phil. Diss. Wien 2007, 285-286.

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Die Randstellung oder der Ausschluss der jüdischen Soldaten und ihrer Angehörigen aus der Gemeinschaft der Helden und Kriegsopfer führte innerhalb der jüdischen Bevölkerung schon früh zur Organisation in eigenen Hilfsvereinen. Zu nennen ist hier beispielsweise der 1919 gegründete „Verband der jüdischen Kriegsbeschädigten, Invaliden, Witwen und Waisen“25, der in seiner als „Kampfschrift“ konzipierten Zeitschrift „Schutzwehr“ 1926 zunächst resignierend und schließlich kämpferisch festhielt: „Unter den Kriegsopfern der ganzen Welt sind die jüdischen am übelsten daran. Nicht nur, daß sie in den verschiedenen Staatenverbänden, denen sie angehören, gegeneinander die Waffen führen mußten, sondern auch die geringe oder gänzlich fehlende Fürsorge dieser ‚Wahlvaterländer‘ für ihre Mitstreiter ist ein bohrendes Schmerzgefühl, das mit der Erinnerung an den Krieg und seine Schrecken für die jüdischen Kriegsopfer verbunden ist. Täuschen wir uns nicht: der Umsturz und der Einzug der ‚republikanischen Freiheit‘ hat in den unterlegenen Staaten ebensowenig das Ende des Antisemitismus zur Folge gehabt, wie etwa das stolze Gefühl des Sieges in den Staaten der Entente. […] Bleibt ihnen [den jüdischen Kriegsopfern, Anm. G.L) anderes übrig, als, statt ewig vergeblich um Liebe und Rücksicht zu werben, einmal nachdrücklich zu fordern, ihr Recht zu erkämpfen? Für sie, die für das undankbare Vaterland die Waffen zu führen wußten, und für ihre unglücklichen Witwen und Waisen gibt es jetzt keine andere Kampfesmöglichkeit, als: die Flucht in die Öffentlichkeit!“26

D ER B UND JÜDISCHER FRONTSOLDATEN – S OLDATENGEDENKEN UND JÜDISCHE I DENTITÄT In den 1920er Jahren waren es vor allem der „Verband der jüdischen Kriegsbeschädigten, Invaliden, Witwen und Waisen“ sowie die Israelitischen Kultusgemeinden, die sich sowohl den materiellen wie auch den erinnerungspolitischen Interessen der jüdischen Soldaten zuwandten.27 In den 1930er Jahren war es dann der „Bund jüdischer Frontsoldaten“28 , der sich sowohl in die innerjüdischen wie auch jüdisch-nichtjüdi25 | Zum Verband vgl. u.a. WStLA, A32-1807/1929. 26 | Was wir wollen, in: „Schutzwehr“ der jüdischen Kriegsopfer 1 (1926) 1, 1. 27 | Zu nennen sind hier vor allem auch die Bemühungen um die Errichtung eines jüdischen Kriegerdenkmals am Wiener Zentralfriedhof, die von der IKG massiv mitgetragen wurden. Vgl. u.a. die Berichte der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien in den Jahren 1912 bis 1936 sowie zum Heldendenkmal: Central Archives for the History of the Jewish People. Archiv der IKG Wien A/W 1176 a-d. 28 | Trotz seiner großen Mitgliederzahl erfuhr der BJF in der Literatur bislang nur wenig Beachtung. Vgl. u.a. die Arbeiten von: Martin Senekowitsch, Gleichberechtigte in einer großen Armee. Zur Geschichte des Bundes Jüdischer Frontsoldaten 1932-1938, Wien 1994; Michael Berger, Eisernes Kreuz – Doppeladler – Davidstern. Juden in deutschen Armeen. Der Militärdienst jüdischer Soldaten durch zwei Jahrhunderte, Berlin 2010, 151-168.

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schen Diskurse um Identität und gesellschaftliche Verortung einmengte. Er wurde 1932 von ehemaligen jüdischen Soldaten der k.u.k. Armee nach dem Vorbild29 des 1919 in Berlin ins Leben gerufenen „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“30 gegründet. Unter Bezugnahme auf den jüdischen Kriegsdienst und die Tradition der k.u.k. Armee sah er es als seine zentrale Aufgabe an, gegen „die ständigen Verleumdungen und täglichen Besudelungen jüdischen Namens und jüdischer Ehre“31 zu protestieren und sich zur Wehr zu setzen. Doch der BJF war nicht bloß Abwehrverein, sondern mit all seinen Untergruppierungen und vielfältigen Aktivitäten ging er über die Aspekte der Abwehr hinaus und beteiligte sich intensiv an den Auseinandersetzungen um die Frage nach dem Ort der jüdischen Bevölkerung im jungen Nationalstaat; um die Frage nach einer österreichischen jüdischen Identität in Übereinstimmung oder Abgrenzung zu den verschiedenen anderen jüdischen Vereinigungen und Parteien. Als konkreter Anlass für seine Konstituierung kann zum einen die beschriebene innere Gespaltenheit der jüdischen Bevölkerung und zum anderen der sich radikalisierende Antisemitismus durch den Aufstieg der Nationalsozialisten in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren gesehen werden. Der BJF erklärte sich in Richtung jüdischer Gemeinde als streng unparteilich und richtete sein Ziel neben der Abwehr des Antisemitismus auch auf die Einigung und Stärkung des Judentums sowie ein offensives Auftreten im Kampf um Anerkennung in der Gesellschaft. Diese Ziele teilte er unter anderem mit der jüdischen Sport- und Turnbewegung, wobei die „Hakoah“ Ausdruck für das Bemühen um eine positiv gelebte, moderne jüdische Identität war. Den Fans und dem Publikum sollte durch den sportlichen Erfolg und das neue, öffentliche Selbstbewusstsein eine positive Identifikationsmöglichkeit angeboten werden.32 Der BJF hingegen verwies in seinem Kampf gegen den Antisemitismus und die damit verbundene drohende Entrechtung und gesellschaftliche Isolierung der Jüdinnen und Juden auf den heldenhaften Kampf der jüdischen Soldaten für das Vaterland im Ersten Weltkrieg: „War das vergossene jüdische Blut weniger wert, als das Blut der Nichtjuden? Nein! Es war gleiches Herzblut, das vergossen, gleiches Herzblut, das von jüdischen und nichtjüdischen Müttern geweint wurde. Und daher bitten wir nicht um Gleichberechtigung, wir bitten nicht um das gleiche Recht, wir fordern!“,

29 | Vgl. Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz 8 (1933) 1, 4. 30 | Zum Reichsbund jüdischer Frontsoldaten vgl. u.a. Berger, Eisernes Kreuz – Doppeladler – Davidstern, 123-150; Ulrich Dunkler, Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919-1938. Geschichte eines jüdischen Abwehrvereins, Düsseldorf 1977. 31 | Aufruf zur Gründungsversammlung des Bundes Jüdischer Frontsoldaten im Juli 1932, in: Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, Wien o.J., 18. 32 | Vgl. zur Hakoah aus den zahlreichen Publikationen u.a.: Susanne Helene Betz et. al (Hg.), „… mehr als ein Sportverein“. 100 Jahre Hakoah Wien 1909-2009, Innsbruck-Wien-Bozen 2009.

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verkündete der Bundesführer des BJF, Hauptmann a.D. Sigmund Edler von Friedmann, in seiner Ansprache zum Generalappell am 5. Mai 1935.33 In seinen Statuten hielt der BJF als Vereinsziele zudem fest: „Pflege traditioneller Kameradschaft unter den jüdischen Frontsoldaten sowie sonstigen jüdischen Kriegsteilnehmern, weiters mit nicht-jüdischen Frontsoldaten und sonstigen Kriegsteilnehmern“, „Schutz und Wahrung der Ehre und des Ansehens der jüdischen Staatsbürger Österreichs […], „moralische und materielle Förderung sämtlicher jüdischer Institutionen“, „moralische und materielle Unterstützung in Not geratener jüdischer Frontsoldaten und deren Familien, weiters deren Witwen und Waisen“, „ständige Fürsorge für Gräber jüdischer Frontsoldaten“, „Förderung und Unterstützung aller Bestrebungen zur Hebung der Wehrfähigkeit der jüdischen Staatsbürger Österreichs, Ertüchtigung der jüdischen Jugend und tatkräftige Förderung aller sportlichen Unternehmungen im Judentum Österreichs“.34 Im Zentrum seiner Arbeit stand bei der thematischen Breite der Statuten vor allem der Kampf um die Umsetzung der in der Verfassung garantierten bürgerlichen Rechte, der „Kampf gegen die Diskriminierungen des Judentums, [der] Kampf für die Ehre und das Ansehen des Judentums, [der] Kampf um die Gleichberechtigung, [sowie der] Kampf um die Einigung des österreichischen Judentums!“35 Fokussiert kam das auch im erstmals 1934 formulierten Gelöbnis zum Ausdruck: „Ich gelobe Treue zu Österreich! Treue zum Judentum! Treue zum BJF Österreichs!“36 Standen in den Gründungsstatuten noch die soldatischen Traditionen und das Frontkämpfertum im Vordergrund, so kam es mit der Ausformulierung der Ziele im Programm des BJF von 1933 zu einer merklichen Schwerpunktverschiebung.37 Es wurde „das unverbrüchliche Bekenntnis zum Vaterlande Oesterreich, das unverbrüchliche Bekenntnis zum aufrechten Judentum“ proklamiert und zugleich versprochen, „sich überall dort einzusetzen, wo jüdische Ehre, jüdisches Ansehen und jüdisches Leben in Gefahr“ seien. Weiters wurde das „Hochhalten der Tradition der alten österreichischen Armee“ gefordert sowie die Einigung im Judentum verlangt. Zudem beinhaltete das Programm die Förderung des Aufbauwerks in Palästina.38 Zur Umsetzung dieser Ziele wurden verschiedene Aktivitäten initiiert: aktiver Veranstaltungsschutz, Appelle, Heldengedenkfeiern sowie gesellschaftliche Veranstaltungen und soziale Tätigkeiten für die Mitglieder, weiters Interventionen bei staatlichen Stellen und Persönlichkeiten wie auch Protestversammlungen.39 Ebenso betrieb man gezielte Öffentlichkeitsarbeit. Unmittelbar nach der Vereinsgründung begann man da33 | Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, 54. 34 | Statuten des BJF 1932. WStLA, A32.1932-6959/1932. 35 | Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, 4. 36 | Vgl. Russisches Staatliches Militärarchiv/Sonderarchiv Moskau , 672-1-274. 37 | In den Statuten von 1936 wurde unter anderem die Schaffung eines jüdischen Heldenmuseums festgehalten. WStLA, A32.1932-6959/1932. 38 | Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, 28. 39 | Eine dieser Protestversammlungen wurde beispielsweise am 30. Jänner 1933 im Festsaal des Hotels Continental in Wien anlässlich des antisemitischen Hirtenbriefs des Linzer Bi-

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mit einzelne Bezirks- und Ortsgruppen ins Leben zu rufen, sowie im Herbst 1932 mit der „Jüdischen Front“ ein eigenes Publikationsorgan zu schaffen. 1933 folgte die Gründung einer eigenen Frauengruppe des Bundes, deren Tätigkeitsgebiete das „Wohlfahrtswerk“, „Erziehung und Kultur“, „Bevorzugung des heimischen Wirtschaft“, „Abwehr und Propaganda“, „Sport“, „Spiel“ und „Geselligkeit“ waren.40 Und schließlich folgte 1934 noch die Gründung einer eigenen militärisch organisierten Jugendorganisation, des „Jungbunds“.41 In ihm sollten „junge Juden zu wertvollen jüdischen Menschen erzogen und zu selbstbewußten Charakteren herangebildet werden; [sie sollten] lernen die Heimat zu lieben und in ihrem Volke ein so hohes Ideal zu sehen, daß sie für diese beiden zu jedem Einsatz bereit sind.“ Ein „gesunder Sinn für Kameradschaft und ein richtiges Empfinden für harte Manneszucht und Disziplin“ sollte ihnen vom BJF vermittelt werden und „Kameradschaft“ sollte über dem „Parteiegoismus“ stehen.42 Weiters kam es noch im selben Jahr zur Initiierung einer über den BJF hinausgehenden Jugendorganisation, der „Jungjüdischen Front“.43 Dieser Verein war der Zusammenschluss von sieben durchwegs rechtszionistisch orientierten Jugendorganisationen: „Jungbund“ des BJF, „Jüdischer Wehrsport und Schützenverein ‚Haganah‘“, „Jugendgruppe der Judenstaatspartei“, „Verein zur Förderung der Palästinawanderung ‚Hechaluz Holeumi‘“, „Brith Haknaim ‚Bund junger Juden‘“, „Brith Trumpeldor“ sowie „Zionistischer Jugenbund Menorah“.44 „Einheitliche Erziehung […] zu aufrechten und vaterlandstreuen Staatsbürgern des Bundestaates Österreich“, die „körperliche Ausbildung und Ertüchtigung“ sowie die „Pflege und Verbreitung jüdischen Kulturgutes und Jugenderziehung in sittlich religiösem Sinne“ waren neben der „Förderung des jüdischen Aufbauwerkes in Palästina“ sowie des „Schutzes und [der] Wahrung der Ehre und des Ansehens der jüdischen Staatsbürger Österreichs, insbesondere der jüdischen Jugend, deren Leben, Existenz und der verfassungsmäßig gewährleisteten Gleichberechtigung“ die Ziele der „Jungjüdischen Front“.45 1936 folgte noch die Gründung der „Jüdischen Front unter Führung des Bundes Jüdischer Frontsoldaten Österreichs“, eines Vereins, der sich mit Maßnahmen zum „Schutze und zur Wahrung der Ehre und des Ansehens der in Österreich wohnhaften Juden“ beschäftigte und vor allem die innerjüdische Einigung zum Ziel hatte.46

schof Johannes Gföllner abgehalten. Vgl. Gegen den Linzer Hirtenbrief. Große Massenprotestversammlung des Bundes Jüdischer Frontsoldaten, in: Die Stimme, 2.2.1933, 7. 40 | Was wollen die Frauen beim B.J.F?, in: Jüdische Front, 10.2.1934, 3. 41 | Der Jungbund galt als explizite militärische Formation, deren Mitglieder bis zu 33 Jahre alt waren. Unser Jungbund, in: Jüdische Front, 15.10.1934, 6. 42 | Ebda. 43 | Vgl. ÖStA, AdR, BKA Zl. 167210/1934. 44 | Ebda. 45 | Statuten der „Jungjüdischen Front“. Vgl. ÖStA, AdR, BKA Zl. 167210/1934. 46 | ÖStA, AdR, BKA Zl. 325.305; ÖStA, AdR PDW/VB 1812713; Zur Situation der österreichischen Judenheit, in: Jüdische Front 5 (1.4.1936) 7, 3; Einheitsfront, in: Jüdische Front, 1.5.1936, 3.

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Abb. 1: Abteilung des Jungbundes

Quelle: Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, Wien o.J., 58. Der BJF war somit eine weit verzweigte Organisation, die sich um die gesamte jüdische Bevölkerung kümmerte und zugleich auch in der Öffentlichkeit als Verteidiger des Judentums auftrat. Dabei war er auch bereit als paramilitärische Organisation mit Gewalt gegen Antisemiten vorzugehen. So unter anderem Anfang Oktober 1932, als die Nationalsozialisten anlässlich ihres Gauparteitages in Wien, der mit dem jüdischen Neujahr zusammenfiel, eine Wiener Synagoge wie auch die Sophiensäle in Wien stürmen wollten. Mitglieder des BJF lieferten sich dabei bis zum Eintreffen der Exekutive Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Schlägern.47 Weiters verrichteten sie auch in „engstem Einvernehmen mit der vaterländischen Front“ während des Juli-Putsches der Nationalsozialisten 1934 in allen Wiener Bezirken Bereitschaftsdienst und in Linz, Innsbruck und Lackenbach kamen Mitglieder des BJF sogar zum „Dienst an der Waffe“.48 Der BJF war somit neben einzelnen jüdischen Studentenverbindungen

47 | Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, 20-21; Das Ende der Demonstrationstage. Ruhiger Verlauf des gestrigen nationalsozialistischen Aufmarsches, aber unerhörte Exzesse in der Leopoldstadt, in: Neue Freie Presse, 3.10.1932, 2; Nationalsozialistische Tempelschänder, in: Die Stimme, 6.10.1932, 1-2. 48 | Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, 37.

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die einzige jüdische Organisation in der Zwischenkriegszeit, die sich auch tätlich gegen antisemitische Angriffe zur Wehr setzte. Berücksichtigt man neben den genannten Organisationen auch die verschiedenen Sektionen innerhalb des BJF sowie die innere Organisation dieser, so kann man feststellen, dass der BJF seinem Anspruch nach aber wesentlich mehr als eine reine Abwehrorganisation gegen Antisemitismus darstellte. Vielmehr versuchte er eine alle Jüdinnen und Juden integrierende Organisation mit entsprechenden Identitätsangeboten zu sein, die für einen Platz innerhalb der österreichischen Gesellschaft kämpfte. Ein Anspruch, dem man auch dahingehend gerecht zu werden schien, da die Mitgliederzahlen ständig anstiegen und sich unter dem Dach des BJF ansonsten oppositionell gegenüberstehende Gruppen im Kriegergedenken geeint fanden. So erreichte man 1935 mit allen Untergruppierungen für ganz Österreich eine Mitgliederzahl von rund 20.000.49 Seinen Charakter als Traditionsverein mit paramilitärischen Strukturen unterstrich der BJF zum einen durch das Kreieren eines eigenen Abzeichens und einer eigenen Uniform sowie zum anderen durch regelmäßig stattfindende Appelle, Aufmärsche und die Initiierung von Erinnerungszeichen, wie beispielsweise der Gedenktafel zu Ehren der jüdischen Soldaten in Eisenstadt, die im Juni 1934 eingeweiht wurde.50

D ER BJF

UND

A SPEKTE

JÜDISCHER I DENTITÄTEN

Der „Bund jüdischer Frontsoldaten“ war abseits der aktiven Abwehr antisemitischer Angriffe bestrebt Identitätsangebote bereit zu stellen sowie eine Verortung der österreichischen Jüdinnen und Juden sowohl in der Ersten Republik wie auch im austrofaschistischen Ständestaat vorzunehmen. Sein Ausgangspunkt war der Kriegsdienst und das Kriegserlebnis während des Ersten Weltkrieges sowie der Bezug zur Tradition der k.u.k. Armee. Diese galt als eine der drei Säulen – Herrscherhaus, Bürokratie und Armee51 – habsburgischen supranationalen Selbstverständnisses und kann in diesem Zusammenhang als Brücke zur für viele Jüdinnen und Juden positiv besetzten Monarchie und der damit verknüpften Vorstellung einer österreichisch-jüdischen Identität gewertet wer49 | Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, 58. 50 | Vgl. Neue Eisenstädter Zeitung, 1.7.1934, 5. 51 | Im Dienst in der Armee und im Krieg sahen viele Juden die Möglichkeit ihre Loyalität zum Staat wie auch zum Judentum – durch die Befreiung der russischen Glaubensgenossen aus der zaristischen Unterdrückung und die Flüchtlingsfürsorge – unter Beweis zu stellen. Ein Bemühen, dem die k.u.k. Armee dadurch Rechnung trug, indem man trotz des zunehmenden Antisemitismus im Gegensatz zur Deutschen Armee im Jahr 1916 keine „Judenzählung“ durchführte. Vgl. u.a. Jacob Rosenthal, „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen (= Campus Judaica 24), Frankfurt am Main-New York 2007; Erwin A. Schmidl, Juden in der k. (u.) k. Armee 1788-1928 (= Studia Judaica Austriaca XI), Eisenstadt 1988, 82-86; Beatrix Hoffmann-Holter, „Abreisendmachung“. Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914 bis 1923, Wien-Köln-Weimar 1995.

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Abb. 2: Abzeichen des BJS (1932)

Quelle: WStLA, A32.1932-6959/1932. den. Denn „wer in der alten ruhmreichen kaiserlichen Armee seinen Posten ausfüllte, der kam vorwärts, wurde belohnt, wurde ausgezeichnet, ohne daß nach der Konfession gefragt wurde“52 , kann man in der Festschrift anlässlich des dreijährigen Bestehens des BJF lesen. Militärdienst und die in gewisser Weise beschönigte Erinnerung daran sollten somit auch als Anleitung für die gegenwärtige Situation dienen. Mit dieser Argumentation befanden sich die Mitglieder des BJF in einer Tradition, die bereits während des Weltkrieges und unmittelbar danach einsetzte, als von unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen die Erinnerung an den „Heldentod“ jüdischer Soldaten mit einer Anerkennung der gesellschaftlichen Rechte durch den neuen Staat verknüpft wurde. So hielt beispielsweise der Klagenfurter Rabbiner Ignaz Hauser anlässlich der Einweihung einer Gedenktafel für die im Weltkrieg gefallenen Soldaten am Klagenfurter jüdischen Friedhof im August 1926 fest: „Und seid nun geweiht, ihr Denkmäler von Stein, zu Zeugen einer großen Zeit für ein nach uns kommendes Geschlecht; seid geweiht als geheiligte Wahrzeichen unseres Ortes; seid geweiht auf ewige Zeit im Namen jüdischer Ehre, jüdischen Rechts und jüdischer Vaterlandstreue [Her. i.O.]“.53 Ähnliche Argumentationslinien finden sich aber auch bei der Einweihung des großen jüdischen Heldendenkmals am Wiener Zentralfriedhof am 19. Oktober 1929. Rabbiner Dr. Julius Max Bach54 stellte in seiner Ansprache mit dem Titel: „Das einzig wahre Kriegsziel ist der Friede“, wie drei Jahre zuvor Rabbiner Hauser in Klagenfurt, das Sterben der jüdischen Soldaten in den Kontext der Vaterlandstreue sowie einer „Ehrenrettung“ des Judentums: 52 | Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, 28. 53 | Klagenfurt, in: Die Wahrheit, 17.9.1926, 12. 54 | Rabbiner Bach war bis 1938 Rabbiner im so genannten „Huber-Tempel“ in der Hubergasse 8 in Wien. Vgl. Pierre Geneé/Bob Martens/Barbara Schedl, Jüdische Andachtsstätten in Wien vor dem Jahre 1938, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift (Dezember 2003) 59, 34.

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G ERALD L AMPRECHT „Ist der Vater gestorben, tritt der Sohn hin vor den heiligen Schrein und nach altehrwürdiger Sitte spricht er das Kaddisch-Gebet. Es ist kein Totengebet, sondern die Betonung der Unendlichkeit der Kette derer, die am Glauben festhalten, der Kette der Pflichtharmonie. Und dieses Gebet sagen wir in Dankbarkeit ihnen, die gestorben sind für den Schutz der Heimat, für die Ehre des Vaterlandes, nicht zuletzt zur Ehrenrettung des Judentums, in dessen Sinne sie den anderen gleich, Gut und Blut geopfert.“55

Einem Bericht der jüdischen Wochenschrift „Die Wahrheit“ folgend, betonten alle gehaltenen Reden den „Geist der Kameradschaftlichkeit, der alle verband, die auf dem Felde der Ehre ihren Mann stellten, der alles Trennende überbrückte und keinen Unterschied sozialer oder konfessioneller Natur aufkommen ließ“. Weiters wurde festgehalten, dass die jüdischen Gefallenen auch „die beste Widerlegung der häßlichen Angriffe und Verdächtigungen, die von gewissen Schürern der Zwietracht herrühren und die gegen die jüdischen Bürger die völlig unberechtigte Anklage erheben, daß sie in den Schicksalsjahren für Staat und Volk nicht den anderen gleich ihre Pflicht erfüllt hätten“56 , seien. Diese Pflichterfüllung wurde jedoch nicht nur in Bezug auf Österreich-Ungarn hervorgehoben, sondern auf alle im Weltkrieg gekämpft habenden jüdischen Soldaten erweitert. So wurde im Zuge der Errichtung des Heldendenkmals nicht nur jener jüdischen Soldaten gedacht, die in der k.u.k. Armee gedient hatten, sondern auch all jener, die als russische Kriegsgefangene verstorben und auf dem Wiener Zentralfriedhof beerdigt worden waren. Man betonte also neben dem Österreichpatriotismus auch allgemein das jüdische Kriegsopfer für „ein“ Vaterland, in Opposition zu antisemitischen Verleumdungen einer jüdischen Vaterlandslosigkeit und Feigheit. Jüdische Heldendenkmal sowie eine Reihe weiterer Erinnerungszeichen für die jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges, die in den folgenden Jahren errichtet wurden, zielten somit gegen antisemitische Angriffe und artikulierten zugleich ein Anrecht auf jüdische Identität und jüdische Existenz innerhalb der österreichischen Gesellschaft. Die Bezugnahme auf die militärische Tradition der k.u.k. Armee, die ab den späten 1920er Jahren über den Bereich der Veteranenverbände hinaus in der Kreation eines Habsburgermythos beobachtbar ist, bedeutete auch eine Rückbesinnung auf die Habsburgermonarchie.57 So sind im BJF legitimistische Tendenzen feststellbar. Diese wurden beispielsweise anlässlich eines Zerwürfnisses im Jahr 1934 sichtbar, als der erste Bundesführer des BJF Generalmajor Emil Sommer in der Generalversammlung seine 55 | Rabbiner Prof. Dr. J. M. Bach, Das einzig wahre Kriegsziel ist der Friede, in: Die Wahrheit, 18.10.1929, 4. 56 | Das Kriegerdenkmal für tausend gefallene Juden, in: Ebda., 5. 57 | Vgl. zum Habsburgmythos am Beispiel der Literatur das Standardwerk von Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Wien 2000 (deutsche Erstausgabe 1966), 285-361.

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Abb. 3: Uniform des BJF (1936)

Quelle: WStLA, A32.1932-6959/1932. Wahl als Bundesführer nicht annahm, da von ihm gestellte Bedingungen nach neuen Statuten nicht angenommen wurden. Seine Forderungen dürften vor allem Durchgriffsrechte des Bundesführers aber auch die Positionierung gegenüber dem Staat betroffen haben.58 GM Emil Sommer gründete nach seinem Ausscheiden aus dem BJF Mitte 1934 den Verein „Legitimistische jüdische Frontkämpfer“, dessen Zweck die 58 | Die Legitimistischen jüdischen Frontkämpfer waren nach dem Führerprinzip organisiert, das einen Führer auf Lebenszeit bestellte, während der BJF demokratische Strukturen hatte. Vgl. Statuten der Legitimistischen Jüdischen Frontkämpfer und des BJF. ÖStA, ADR BKA Zl. 150.385/1934; WStLA,A32.1932.6959/1932. Vgl. u.a. Was geht beim „Bund jüdischer Frontsoldaten“ vor, in: Die Stimme, 9.3.1934, 7.

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„Verbreitung des völkerverbindenden österreichischen Gedankens und der Erinnerung an die großen Traditionen der Heimat und des Hauses Österreich, im Kreise der österreichischen Judenheit“ war.59 Mit dem Abgang GM Sommers war der BJF jedoch nicht frei von legitimistischen Sympathien, doch die proklamierte strikte Überparteilichkeit führte dazu, dass der BJF darauf verzichten musste, „an innerpolitischen Bewegungen teilzunehmen, es sein denn im Rahmen der Vaterländischen Front und der Frontmiliz“60 Diese eindeutige Positionierung des BJF gegenüber dem austrofaschistischen Ständestaat und der Vaterländischen Front (VF) war bereits unmittelbar nach deren Gründung am 20. Mai 1933 erfolgt und ist sicherlich in unmittelbarem Zusammenhang mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland zu sehen. Denn die Bundesführung des BJF beschloss bereits in seiner Sitzung am 28. Mai 1933 korporativ der VF beizutreten und argumentierte: „Die Bundesführung erwarte, daß sich in der VF. alle, die ein selbständiges, freies Oesterreich wünschen, vereinigen und dadurch auch dem Antisemitismus entsprechend entgegentreten werden könne.“61 Damit bezog der BJF im Gegensatz zu den einzelnen jüdischen Gemeinden und Vereinen eine klare Position für den austrofaschistischen Ständestaat, obwohl dieser selbst zwar den Antisemitismus nicht zur ideologischen Basis erhoben hatte, doch sich auch nicht gegen ihn aussprach. So wurde in der Tradition der Christlich-Sozialen zwar der rassistische Antisemitismus als unchristlich abgelehnt, viele Vertreter des Ständestaates artikulierten jedoch einen religiös und kulturell motivierten Antisemitismus. Ihr Ziel war es, den vermeintlich „schädlichen“ Einfluss des „Judentums“ auf die Gesellschaft zu eliminieren.62 In Bezug auf die Positionierung der jüdischen Bevölkerung zum Staat Österreich verfolgte der BJF eine eindeutige und stringente Linie des Österreichpatriotismus mit den dazugehörigen Folgen in Bezug auf die rechtliche Position der Jüdinnen und Juden. Weniger klar war er dahingegen im Bereich der innerjüdischen Identitätsdiskurse. Er verfolgte nationaljüdische Ideen, was sowohl in der „Jungjüdischen Front“ wie auch der Förderung des Aufbauwerkes in Palästina mehrfach zum Ausdruck kam ebenso wie Konzepte der Konfessionalisierung, die auf ein Identitätskonzept der „Österreicher jüdischen Glaubens“ abzielte. Argumentiert wurde dieser scheinbare Gegensatz wie folgt: „Auch dann, wenn österreichische Juden – ob Zionisten oder nicht – in der jüdischen Besiedlung Palästinas das gemeinsame jüdische Land entstehen sehen und einem jüdi-

59 | Statuten des „Legitimistischen Jüdischen Frontkämpfer“. ÖStA, ADR BKA Zl. 150.385/1934. 60 | Monarchie und Legitimismus, in: Jüdische Front, 1.3.1937, 1. 61 | Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, Wien o.J., 24. 62 | Vgl. dazu: Pass Freidenreich, Jewish Politics in Vienna 1918-1938, 187f.; Sylvia Maderegger, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934-1938 (= Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Salzburg), Wien-Salzburg 1973, 115f.

G ETEILTE E RINNERUNG ? schen Palästina Liebe und Verbundenheit bekennen, auch dann haben die Juden dasselbe Recht wie die Deutschen, welche in aller Welt zerstreut leben, das Land, in welchem sie leben und wirken, die Scholle, welche sie mit ihrem Blute verteidigt haben, als Vaterland zu erkennen und zu lieben. […] Wir bekennen uns zum Vaterland, wir jüdischen Frontsoldaten, als Juden und als Österreicher, wie wir sind und wie wir bleiben wollen, und wir fordern für uns das Recht, unser Bekenntnis frei und klar auszusprechen.“63

C ONCLUSIO Der Erste Weltkrieg ist als weitreichende Zäsur der österreichischen jüdischen Geschichte zu verstehen. Und nicht zuletzt wurde auf Grund der permanenten Krise jüdischen Lebens im neuen Staat der Zerfall der Habsburgermonarchie von vielen Jüdinnen und Juden mit großer Wehmut wahrgenommen. Im nicht selten verklärten und nostalgischen Rückblick wurden die Monarchie und hier im Besonderen die Regierungszeit von Kaiser Franz Josef I. zum einen als Zeit des unvergleichlichen sozialen, kulturellen und politischen Aufstiegs und Fortschrittes für die jüdische Bevölkerung und zum anderen Monarchie und Herrscherhaus als Garanten gegen die antisemitische Verfolgung und Diskriminierung hoch stilisiert. Im Dienst für die k.u.k. Armee sowie dem Sterben für das Habsburgerreich im Ersten Weltkrieg sahen viele Jüdinnen und Juden den Beweis für ihre Vaterlandstreue erbracht und sie leiteten unter anderem auch daraus ihre Positionierung im neuen Staat Österreich ab. Auf jüdischer Seite war es ab 1932 vor allem der „Bund jüdischer Frontsoldaten“, der sich auf dem Kriegserlebnis aufbauend für die jüdischen Interessen einsetzte. Er wollte in Anlehnung an Konzepte der Kameradschaft und Gemeinschaft ein Sammelbecken für alle Jüdinnen und Juden Österreichs sein. In manchen Ansprachen wurde auch eine „Volksgemeinschaft“ beschworen.64 Der BJF sprach sich gegen Parteienzwist und für die Bildung einer Einheitsfront aus und traf sich letztlich bei der Wahl seiner Konzepte mit nichtjüdischen rechtskonservativen, nationalistischen Gruppierungen in Deutschland und Österreich. Doch während der BJF den Antisemitismus bekämpfte, war er für letztere Gruppen konstitutiv. Betrachtet man noch weiter seine ideologische Ausrichtung, so ist zu bemerken, dass der BJF in manchen Belangen als widersprüchlich anzusehen ist. Er positionierte sich als konservativ, stand zugleich dem Legitimismus nahe und setzte alles daran, dass der austrofaschistische Ständestaat, trotz seines Antisemitismus, Erfolg hatte. Patriotismus und Heimatverbundenheit standen im Zentrum des Diskurses und Judentum wurde als eine von mehreren Konfessionen im Staat gesehen, auch wenn der BJF den Zionismus förderte. Über all dem stand jedoch immer die Forderung der Einhaltung der verfassungsmäßig garantierten staatsbürgerlichen Rechte. Das Feld der Ausverhandlung österreichisch-jüdischer Identität durch den BJF war vorrangig jenes der Erinnerungsdiskurse rund um den Ersten Weltkrieg. Und auch 63 | Das Recht der Juden auf ein Vaterland, in: Jüdische Front, 15.1.1934, 1. 64 | Front im Aufbau, in: Jüdische Front, 1.3.1936, 3.

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wenn eine Analyse der Denkmalsetzungen und ihrer Ausgestaltungen zeigt, dass jüdische Soldatenerinnerung weitgehend getrennt von der nichtjüdischen erfolgte, so verweisen jedoch die Erinnerungsakte selbst auf ein komplexeres Bild. Denn im Zuge der Einweihungsfeierlichkeiten sowohl von jüdischen als auch von nichtjüdischen Denkmälern waren häufig jüdische und nichtjüdische Veteranenorganisationen zugegen und erwiesen sich somit wechselseitig ihre Anerkennung, womit im doppelten Sinne des Wortes von einer „geteilten“ Erinnerung gesprochen werden kann.

Freimaurerei oder Das Konzept eines guten Lebens Dieter A. Binder

Nicht unschlüssig hat Arthur E. Imhof in seinem Band „Ars Vivendi“ darauf hingewiesen, dass „die Menschen seit jeher Strategien entwickelt hätten, um trotz permanenter Unsicherheit physisch und psychisch bestehen zu können“.1 So schlossen sie sich „in physischer Hinsicht“ zu Gemeinschaften unterschiedlichster Art zusammen, während sie zur „psychischen Stabilität“ „Jenseits-, Ewigkeits-, Paradieses-Vorstellungen“ entwickelten. Auf die Freimaurerei trifft das „physische“ Argument der geschlossenen Gesellschaft zu, sie ist aber dezidiert keine metaphysische Strategie. Die strikte Grenzziehung der Freimaurerei gegenüber dem Anspruch des Absolutismus brachte die Logen in Widerspruch zum Staat und zur Informationsgesellschaft heutigen Zuschnitts, deren permanente Grenzüberschreitung das Private an sich in Frage stellt. Geht man von der Hypothese aus, dass der Utilitarismus eine „Ökonomisierung des Glücks“ anstrebt, und übernimmt man dessen Maximen, so betritt man den Diskurs der Nutzentheorie, wie er von Jeremy Bentham und John Stuart Mill im 18. Jahrhundert in England systematisiert worden ist.2 Die sittliche Wertigkeit menschlichen Handelns korreliert mit deren Nützlichkeit, die Frage nach den Motiven und der Gesinnung wird nicht gestellt. Der Nutzen einer Handlung wird an der Größe des Glücks gemessen, die diese hervorruft. Je größer der Nutzen, desto größer das Glück, umso besser ist die Handlung. „Unter ,Glück‘ (happiness) wird dabei Lust (pleasure) und das Freisein von Unlust (pain), unter ,Unglück‘ (unhappiness) Unlust und das Fehlen von Lust verstanden.“3 Im Gegensatz zum egoistischen Ansatz Epikurs zielt der Utilitarismus auf einen universalistischen Hedonismus, denn gut ist eine Handlung erst dann, wenn die Lustbilanz für alle daran beteiligten Personen optimal ausfällt. Benthams Sicht moniert 1 | Arthur M. Imhof, Ars Vivendi. Von der Kunst, das Paradies auf Erden zu finden, WienKöln-Weimar 1992, 12. 2 | Ich folge hier der knappen Zusammenfassung von Dagmar Fenner, Das gute Leben, Berlin-New York 2007, 44f. 3 | John Stuart Mill, Utilitarismus, Stuttgart 1991, 13.

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das „Prinzip des Nützlichen“ in gleicherweise wie das „Prinzip des Glücks“, sie billigt „jede Handlung in dem Maß […], wie ihr die Tendenz innezuwohnen scheint, das Glück der Gruppe, deren Interesse in Frage steht, zu vermehren oder zu vermindern“.4 Ursula Wolf hat in einer schönen Zusammenschau deutlich gemacht, dass man den deutschen Begriff „Glück“ besser in seiner philosophiehistorischen Grundierung als „eudaimonia“, als gute (eu) Weise des Lebens (daimonia) liest. „Nach der ,eudaimonia‘ fragen, bedeutet also fragen, was es heißt, auf gute Weise zu leben.“5 Holmer Steinfath hält im Kontext dieser Frage die „mangelnde Orientierungslosigkeit unserer Gefühle und Wünsche“ fest, die zur Annahme von Lebenskonzeptionen führen, um unsere „Gefühle und Wünsche mehr oder minder gut kompensieren“.6 „Lebenskonzeptionen haben jedoch auch noch eine andere wichtige Funktion: Indem sie uns nicht nur für andere, sondern auch für uns selbst transparenter machen, indem sie unserem Leben eine gewisse einheitliche Struktur verleihen, werden wir uns selbst verständlicher. Sie befriedigen damit ein intellektuelles (vielleicht auch ästhetisches) Bedürfnis nach Selbstverständigung. Hinzu kommt schließlich, dass eine Lebenskonzeption zu haben und sie erfolgreich oder mit Aussicht auf Erfolg zu verfolgen auch ein Zuwachs an Kontrolle über unser Leben bedeutet, den wir im allgemeinen um seiner selbst willen so schätzen wie wir sein Gegenteil, das Ausgeliefertsein an den Zufall, fürchten.“7

Entscheidend für das individuelle Glücksgefühl sind in diesem Zusammenhang die Überwindung eines allzu statischen Charakters von Lebenskonzeptionen und deren „Offenheit für Kritik und neue Erfahrungen“ und „damit für die Integration neuer Wünsche und Ziele“.8 Martin Joseph Prandstetters Rede „Über die Liebe und die Kunst des Lebens“9 skizziert das Thema: „Leben ist der große Grundtrieb der thierischen Natur. Wenn das Schicksal einen Unglücklichen an die Galeere, den anderen im unterirdischen Kerker an ewige Ketten schmiedet, und die Zeit, die jede Wunde heilt, auch ihres Schmerzes Meister geworden ist, dann macht die Liebe zum Leben ihr Gemüth wieder heiter, und jener freut sich 4 | Jeremy Bentham, Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung, in: Otfried Höffe (Hg.), Einführung in die utilitaristische Ethik, Tübingen 1992, 55–83, hier 56. 5 | Ursula Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek bei Hamburg 1999, 68. 6 | Holmer Steinfath, Selbstbejahung, Selbstreflexion und Sinnbedürfnis, in: Holmer Steinfath (Hg.), Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen, Frankfurt am Main 1998, 73-93, hier 76-78. 7 | Ebda., 78. 8 | Ebda., 81. 9 | [Martin Joseph] P[randstette]r, Ueber die Liebe und die Kunst des Lebens, in: Journal fuer Freymaurer 4, 3 (5787=1787), 167-172.

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beym Anblick der aufgehenden Sonne, dieser bey einer zahm gemachten Spinne seines Lebens. Den Mann, der uns glauben machen will, daß ihm nichts natürlicher sey, als der Gedanke: Er könne das Leben verlassen, wenn er wolle; der wohlüberdacht und gelassen sich den Tod geben zu können lügt, oder wähnt – werft ihn in den Strom, und seht, wie die Natur sich an dem Frevler rächt, wie er mit dem Tode ringet, und sich zum Leben emporarbeiten wird. Diese in uns glühende Liebe zum Leben, meine Brüder, ist eine segensvolle Eigenschaft der Natur; lassen Sie uns sie nicht verkennen, ihr nicht trotzen, sondern eingestehen, daß der Tod nicht ohne Schrecken sey. Daher sorget die aufgeklartere Vernunft weiser Menschen immer dafür, daß das Gefühl, statt die Schrecken des Todes für geringfügig zu halten, sich dieselben in ihrer ganzen Größe vertraut mache, aber durch Erfahrung und Bearbeitung der Geistesfähigkeiten ausgebildet, sich über sie erhebe, und selbst die Anschauung ihrer zum Genuß dieses Lebens nütze. Die Nothwendigkeit des wechselseitigen Wohlwollens unter den Menschen, die gutherzige Aufopferung eigenen Vortheils für das Wohl des Bruders, zuverlässige Freundschaft, und das Glück uneigennütziger Geselligkeit; die Flüchtigkeit der Zeit, die Unwiderbringlichkeit verlohrener Stunden, das Verdienst einer nützlichen Tätigkeit sind nicht selten Lehren, die wir der Todesstunde unserer Freunde schuldig sind, und die Erinnerung an die Thränen, über den Sarg unserer Mitbrüder geweint, ist nicht selten die Mutter edler Handlungen, indem gewöhnlich nur die Resultate unserer Empfindungen den inneren Trieb zum Leben leiten. Über die Theorie dieser Leitung sind so viele Bücher mit der prächtigen Aufschrift: Die Kunst zu leben oder die Kunst glücklich zu seyn, bekannt, und diese darinnen so mathematisch und leicht gelehrt, daß man unter der billigen Voraussetzung, daß es jedem Menschen um sein eigen Glück ernstlich zu thun sey, glauben sollte, der Schmerz und das Leben sey von nun an von dieser Erde verwiesen. Dennoch ist diese Kunst, glücklich zu leben, nur das Antheil Weniger, weil der Trieb zum Leben allein durch praktische Ausübung jener Lehren gebildet werden muß. Euch, ihr heiliger Tempel der Freimaurerey, betrachte ich als die praktischen Schulen dieser Bildung; Euch, ihr Stifter unseres ehrwürdigen Ordens, als die weisen Lehrer und Verbreiter einer Kunst, die in dem Tumulte so ungeheuer angewachsener Gesellschaften, in dem Durcheinander so verschiedener politischer Interessen, in dem lauten Wirrwarr herrschender, und mit sich selbst kämpfender Thorheiten arm an Zöglingen, unnütz, und sogar größtentheils unbekannt geworden war.“10

Prandstetter, geboren 1760 in Wien und 1798 als Häftling in der Festung Muncács im damaligen Königreich Ungarn verstorben – er war im Zuge der Jakobinerhysterie 1794 verhaftet und schließlich zu dreißig Jahren Festungshaft verurteilt worden11 –, ist als direkter Zeitgenosse von Bentham (1748-1832) anzusprechen. Skeptisch gegenüber der Religion 10 | Ebda., 167-170. In diesem Zitat wie auch in den folgenden Zitaten werden Rechtschreibung und Grammatik wie im Original wiedergegeben. 11 | Günter K. Kodek, Brüder, reicht die Hand zum Bunde. Die Mitglieder der Wiener Freimaurer-Logen 1742-1848, Wien 2011, 184f.

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D IETER A. B INDER – „Die Religion selbst, die sich zu allen Zeiten bestrebte die Gefühle der Menschen zu beherrschen, weil, wer diese einmal für sich hat, mit der Gefangennehmung des Geistes leichter fertig wird, würde vergeblich versucht haben, den Gedanken an den Tod tröstend zu machen, wenn sie sich nicht mit Hülfe der Einbildungskraft bemüht hätte, mit ihm die Hoffnung eines ewigen Lebens zu vereinigen.“12 –,

verknüpft Prandstetter die instinktive, „thierische“ Vitalität mit der „aufgeklärteren Vernunft weiser Menschen“, um sich der „Kunst zu leben oder […] glücklich zu seyn“ anzunähern. Dezidiert wendet er sich dabei gegen die Vorstellung, dass dies „mathematisch und leicht gelehrt“ und gleichsam egoistisch umgesetzt werden könnte. Für ihn steht die „Nothwendigkeit des wechselseitigen Wohlwollens, die gutherzige Aufopferung des eigenen Vortheils für das Wohl des Bruders, zuverlässige Freundschaft, und das Glück uneigennütziger Geselligkeit“ im Zentrum eines geglückten Lebens, das den „Trieb zum Leben allein durch praktische Ausübung jener Lehren“ sublimiert. Die „Königliche Kunst“ liest Prandstetter als Erziehungsmodell für ein geglücktes Leben, da diese „die uns angebohrne Liebe zum Leben zur Tugend adelt“, indem sie „unser Leben, zu einem wahren Gut macht“. Die Veredelung des Menschen wird als gruppendynamischer Prozess dargestellt, der dem Einzelnen jene Angebote macht, aus denen er frei wählen kann: „Unser Orden ladet den guten Menschen aus dem Schwalle jener Zerstreuungen in eine dem Geiste so behagliche Einsamkeit, und die Gesellschaft guter Männer, und hält von ihm Falschheit und Bosheit, samt ihrem Schwarm von Anhängern, entfernt. Hier lehrt er ihn Ordnung, damit er die Bahn seiner Bestimmung nie mit einer anderen vertausche, und dadurch die Harmonie des Ganzen störe, dessen Glied er ist, damit er auf seinem angetrettenen Wege gemach fortschreite, und Schritt vor Schritt die Früchte nütze, die sich seiner pflückenden Hand anbiethen werden. Hier lehrt er ihn Redlichkeit, damit kein Fluch seiner Mitmenschen auf ihm liege, und der Genius der Seelenruhe ihn begleite, ohne welcher kein Glück ist. Hier lehret er ihn Fleiß, damit er jedes Hindernis besiege, und auf dem Guten beharre. Und dieses alles lehret er ihn nicht im Tone der Moralisten, sondern auf die ihm eigene Art durch Erfahrung und Beyspiele, und läßt es jenen über die Wirkungen durch die künstliche Schlußfolgen zu erklären, die er hervorbringt, indem er unmittelbar zu dem Herzen spricht.“13

Der „angetrettene Weg“ erinnert an die Reisen und ihre Unterbrechungen im Zuge der Initiation, „Fleiß“ und Beharrlichkeit gemahnen an die gradspezifische Schlagfolge des Hammers. Akkurat und ohne Umschweife lehnt Prandstetter den „Ton des Moralisten“ ab und verweigert die unreflektierte Übernahme. An die Stelle eines Lehrgebäudes treten die „Erfahrung“ und das „Beispiel“.

12 | P[randstette]r, Liebe, 167. 13 | Ebda., 170f.

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Ausdrücklich misst Prandstetter den Lehrling an den Bestimmungen der „Alten Pflichten“: „Ist der Lehrling nun redlich, ein ordentlicher und thätiger Mann, dann ist der Grund zu einem glücklichen Leben gelegt, er hat seinen rauhen Stein glatt gearbeitet, und der Orden hat höhere Stufen für ihn; er führt ihn in das Gebiet der Wissenschaften und der Künste, ermahnt ihn zum Genuß jeglicher Freude, und giebt ihm Weisheit und Fröhlichkeit zu seinen Gespielinnen.“14

Im Gesellgrad spricht Prandstetter vermehrt die Emotionalität an, die zur Basis für das Erleben des Meistergrades wird: „Heil dem Gesellen, der seinen Weg zu diesem Glücke mit Muth verfolget, und nicht unterläßt durch Bebauung der Fähigkeiten seines Geistes die Bildung seiner Gefühle zu unterstützen, welcher er seinen Fleiß als Lehrling weihte; denn, wenn wir seinem Geiste Stärke genug zutrauen, um die Festigkeit seines Gefühls selbst durch die Schrecken des Todes zu prüfen, und er als ein würdiger Mitbruder unserer Erwartung entspricht, dann freuen wir uns seiner […], umarmen ihn in dem engeren Kreise unseres Bundes, und grüssen ihn mit dem Nahmen Meister.“15

Gottlieb Edler von Leon, Prandstetter in der „Wahren Eintracht“ brüderlich verbunden, schließt mit seinem Beitrag über die „Bildung des Geistes“ direkt an diese Überlegungen an. „Worinn erkennen wir wohl den ächten Freymaurer? […] Dieser zeigt sich allein in einer stäten und fertigen Ausübung aller hier unter diesen Sinnbildern [des Tapis, der Verf.] verkleideten Tugenden. Wir erkennen ihn bloß in Handlungen, die alle nach dem schönen Ebenmaße eines wohlgeordneten aufgeklärten Verstandes, und eines nach Tugend und Ehre handelnden Herzens eingerichtet sind, dadurch jede derselben […] ein schöner wohlgeglätteter Kubikstein zur Wiederherstellung jenes heiligen Tempels wird, den wir zum Lohn unserer Mühe hienieden einst in dem himmlischen Jerusalem vor dem Angesichte unseres ewigen Baumeisters bewohnen sollen.“16

Leon verweist auf die individuelle Verantwortung für das Gelingen:

14 | Ebda., 171. 15 | Ebda., 171f. 16 | [Gottlieb Edler von] L[eo]n, Rede von der Bildung des Geistes in Absicht auf unsere Handlungen, in: Journal für Freymaurer 4, 3 (5787=1787), 173-180, hier 174f.

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D IETER A. B INDER „Die Mitteln also, wodurch wir dieses schöne Ebenmaß in unseren Handlungen; von denen unsere Glückseligkeit so sehr abhängt, erhalten: ist eine frühe Aufklärung unseres Geistes, und damit verbundene Bildung unseres Herzens.“17

Der persönliche Erziehungsauftrag ist die Voraussetzung für die „Moral, die eigentlich all unsere Kräfte und Neigungen auf den Zielpunkt […] unsere gegenseitige Glückseligkeit“ verweist. Neben dem Geist wird der Körper dabei als Voraussetzung einer gesunden Entwicklung beschrieben – „Eine frühe Entwicklung, oder späte Vernachlässigung unserer geistigen und körperlichen Kräfte ist unfehlbare Ursache unseres Wohls und Wehs hiernieden.“18 –,

womit Leon direkt an die „Alten Pflichten” anknüpft. „You must also consult your Health, by not continuing together too late, or too long from home, after Lodge Hours are past; and by avoiding of Gluttony or Drunkenness, that your Families be not neglected or injured, nor you disabled from working.“19

Ausgestattet mit der „Richtschnur einer weisen Vernunftlehre“20 wird der Einzelne in die Lage versetzt, sich vor der „Untreue des Schicksals“ in Sicherheit zu bringen, da er nicht mehr dem „blinde[n] Glück“ ausgeliefert ist: „Kurz, durch sie müssen wir das dauerhafte Glück erlangen, dessen Besitz von uns selbst abhängt, und wodurch wir dasjenige gern entbehren, was die blinde Willkühr des Schicksals hienieden so abwechselnd macht.“21

Der individuelle Erziehungsauftrag, dessen Vervollkommnung innerhalb der Bruderschaft definiert Freimaurerei im Kontext des vorbildhaften glücklichen Lebens: „Durch die Moral von dem wahren Endzwecke unsers Daseyns – nämlich dem Genusse wahrer dauerhafter Glückseligkeit – in der Erkenntnis unserer Pflichten unterrichtet, durch die Vernunftlehre von den schädlichen Irrthümern des Geistes und der Neigungen des Herzens gereinigt, durch nützliche Kenntnisse zur Ausübung im Guten fähig

17 | Ebda., 175. 18 | Ebda. 19 | The Constitutions of the Free-Masons, London 1723, VI, 5. „Ihr müsst auch auf eure Gesundheit Rücksicht nehmen, die Zusammenkünfte nicht zu lange ausdehnen oder nach Schluss der Loge noch zu lange von zu Hause wegbleiben, nicht unmäßig essen und trinken, damit ihr eure Angehörigen nicht vernachlässigt oder schädigt und euch selbst arbeitsunfähig macht.“ 20 | L[eo]n, Rede, 177. 21 | Ebda., 177f.

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und thätig gemacht, und gegen den Umstand des Schicksals geschützt, werden wir alsdann unter der Maske eines jeden Standes, unabhängig von den Abwechselungen des Glücks, nur allein selbstständig durch den Adel unseres Geistes und Herzens, tugendhafte, erleuchtete, nützliche und glückliche Weltbürger – das heißt wahre Freymaurer – seyn.“22

Leons Instruktion zielt auf die Herausbildung eines Habitus, oder, im Sinne von Bourdieus Interpretation – „Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken.“23 –, beschreibt Leon Praktiken, die den Lebensstil einer Gruppe idealtypisch formen. Leons Instruktion anlässlich der Beförderung von Lehrlingen zu Gesellen definiert abschließend die innere Notwendigkeit der Erziehung zu Tugend, Aufklärung, Utilitarismus und Glück, „denn nur alsdann werden wir am Ende unserer Lebenszeit […] zu uns selbst sagen können: daß wir gelebt haben“.24 Das geglückte Leben wird losgelöst von äußeren, nicht steuerbaren Einflüssen, die der Staat repräsentiert, während die „Loge“ als Alternative zum Staat an die Stelle der Staatsräson das Konzept des guten Lebens stellt. Dieses ist nicht ein hedonistischer Sonnengesang, sondern wird von klar definierten Idealen einer erträumten bürgerlichen Welt zugeordnet: Tugend, Gerechtigkeit, Menschenliebe, Freundschaft und Gleichheit. Damit wird die „politische Kehrseite der Aufklärung“25 zum Geheimnis der Logen, innerhalb deren Arkanum eine Einübung in eine demokratisch geformte, glückhafte Gesellschaft im Widerspruch zum tyrannischen Staat möglich ist. „Die Freimaurer praktizieren sie im Verborgenen als Avantgarde einer kommenden Welt und im Vertrauen einer allmählichen Selbstdurchsetzung.“26

Was für Reinhard Koselleck im politischen Kontext der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung die „Pathogenese der bürgerlichen Welt“ ist, ist für Jan Assmann „ein doppelter Boden“ im „Kommunikationsraum der Gesellschaft“, eine „Doppelstruktur im Sinne der religio oder philosophia duplex“,27 deren Spuren er vor allem in den Mysterien-Studien des „Journals für Freymmaurer“ nachgeht.28 Im bewussten Widerspruch zu Assmanns These wird die Freimaurerei in diesem Beitrag dezidiert nicht als „religio duplex“ gesehen, sondern als Lebenskonzept, dessen 22 | Ebda., 179. 23 | Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1993, 101. 24 | L[eo]n, Rede, 180. 25 | Reinhard Koselleck, Kritik und Krise, Freiburg 1959, 56. 26 | Jan Assmann, Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung, Berlin 2010, 119. 27 | Ebda., 75. 28 | Ebda., 243-350.

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allgemeiner Anspruch weder auf religiösen Vorstellungen aufbaut, noch mit religiösen Vorstellungen in Konkurrenz steht. Koselleck hat den an den soziokulturellen und politischen Rahmenbedingungen des 18. Jahrhunderts gemessenen Normenkatalog der „Königlichen Kunst“, im Widerspruch zur Herrschaftspraxis als freimaurerisches Geheimnis, letztlich als Staat im Staate gelesen: „Tugend, Gerechtigkeit, tätiger Menschenliebe, Freundschaft und Gleichheit“ sind wegen ihres utopischen Charakters als Avantgardismus einer kommenden Gesellschaft interpretiert worden.29 Dies erscheint, gemessen an der Realität absolutistischer Staaten, legitim, hinkt aber schon, wenn man sich auf den Entstehungszeitraum und die englische Gesellschaft konzentriert. In den Ballungsräumen freimaurerischer Tätigkeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lassen sich außerdem genügend Beispiele finden, die zeigen, dass der Anspruch auf eine umfassende Brüderlichkeit durch sozial orientierte Rekrutierungsmechanismen dezent eingebremst wurde, ein Vorgang, der mit der Ablöse deistischer Positionen durch die Wiederkehr des Theismus in der englischen, in Teilen der deutschen und skandinavischen Maurerei in enger Verbindung mit dem jeweiligen Herrscherhaus – aus dem reformierten „Notbischof “ wurde im Ausklingen der Aufklärung der geborene Großmeister – korrespondiert.30 Losgelöst von derartigen Konstruktionen muss die Freimaurerei auf das individuelle Erziehungsmodell zurückgeführt werden. Und dies tat 1753 das „Gentleman‘s Magazine“ mit der Publikation eines Briefes, den John Locke an Thomas Earl of Pembroke 1696 geschrieben haben soll, dessen Kernstück das sogenannte Leland-Locke-Manuskript darstellt und der Katechismus-Charakter besitzt. „Auf die Frage, ob Maurer bessere Menschen seien, antwortet der Katechismus, dass einige Maurer gewiss sogar weniger tugendhaft als andere Männer seien, in nahezu allen Fällen aber wären sie weitaus schlechtere Menschen, stünden sie nicht unter dem Einfluss der Freimaurerei. Die Maurer lernten einander für ihre Tugendhaftigkeit und Treue auf besondere Weise zu schätzen und diese gegenseitige Anerkennung wachse stetig mit der fortschreitenden Vervollkommnung des Einzelnen.“31

Lockes angebliche Autorenschaft muss als Immunisierungsstrategie abgetan werden, denn der Brief diente einer Positionierungsdiskussion im Wettstreit der konkurrierenden englischen Großlogen. Aus seinem Inhalt und dessen mitgelieferter Kommentierung wird das individuell anzustrebende Ziel klar definiert. Die „Königliche Kunst“ ermöglicht dem Individuum jene Fertigkeit zu erwerben, um „gude and parfyghte“ zu werden „withouten the holpygnes of fere and hope“, um „gut und perfekt“ zu werden,

29 | Ebda., 119. 30 | Dieter A. Binder, Die diskrete Gesellschaft, Innsbruck 2004, 51f. 31 | Kristine Hasselmann, Die Rituale der Freimaurer. Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2009, 37.

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„ohne die Mittel der Angst und Hoffnung“,32 also aus einem alltäglichen, von Angst und Hoffnung gerüttelten Leben, zu einem guten Leben zu gelangen. Dieser englische Ansatz lässt sich somit mit dem Appell Prandstetters und Leons verknüpfen. Die Überwindung der Angst und der Hoffnung wären also Prämissen, die nicht nur angesichts des Todes,33 sondern auch angesichts eines autonomen und damit geglückten Lebens eingefordert werden. Aus Benthams Sicht moniert das „Prinzip des Nützlichen“ in gleicher Weise wie das „Prinzip des Glücks“; der Utilitarismus billigt „jede Handlung in dem Maß […], wie ihr die Tendenz innezuwohnen scheint, das Glück der Gruppe, deren Interesse in Frage steht, zu vermehren oder zu vermindern“.34 Freimaurerei ist ein soziales Gefüge, innerhalb dessen das Individuum das „Prinzip des Nützlichen“ mit dem „Prinzip des Glücks“ zu verknüpfen mag. Der Mensch als soziales Wesen bedarf dazu der Gemeinschaft, denn selbst das Modell des Eremiten kommt ohne diese nicht aus. Dieser Interaktion von Individuum und Gemeinschaft ist der Gesellgrad innerhalb der freimaurerischen Initiation gewidmet. Wenn sich ein Mensch, geprägt von seinen Erfahrungen, entschließt, „Tugend, Gerechtigkeit, tätiger Menschenliebe, Freundschaft und Gleichheit“ als Ingredienzien eines geglückten Lebens innerhalb einer sozialen Gemeinschaft, in diesem Falle der Freimaurerei, zu leben, so kann er davon ausgehen, auf Menschen zu stoßen, die vergleichbare „Existenzbedingungen und Konditionierungen“ aufweisen.35 Die Aufnahmebedingungen und -voraussetzungen schaffen in Verbindung mit den charakteristischen Selektionsmechanismen der Ballotage ein „Milieu“, innerhalb dessen das Individuum den angestrebten Habitus zu leben vermag, wobei das Individuum „so weit wie möglich vorangepasst ist“ und somit „eine relativ konstante Welt von Situationen“ vorfindet, „die geeignet sind, seine Dispositionen […] zu verstärken“.36 Ausdrücklich hält die Freimaurerei fest, dass die Selbsterziehung, das Erlebnis der Gemeinschaft nicht Selbstzweck, sondern Auftrag für die Lebensgestaltung und den Umgang mit der Gesellschaft an sich ist. So entzieht sie sich dem Vorwurf, durch eine imaginierte Realität Weltflucht zu betreiben. Das „Prinzip des Glücks“ verknüpft mit dem „Prinzip des Nützlichen“ dient der Gemeinschaft insgesamt, die Loge ist dazu nur ein Übungsfeld, denn in ihr vermag man den individuellen Ansatz zu verstärken. Bourdieu verweist nicht ohne Ironie auf die „empirisch belegte Tatsache, dass man über

32 | Ancient Manuscript on the subject of Freemasonry, in: Gentleman’s Magazine, XXIII vom September 1753, 420, zit. n. Hasselmann, Rituale, 37. 33 | Vgl. Dieter A. Binder, Der Tod im Ritual. Interpretationen zu einem komplexen Thema freimaurerischer Initiation, in: Ingeborg Fiala-Fürst/Jaromír Czmero (Hg.), Amici Amico III. Festschrift für Ludvik E. Václavek, Olomouc 2011, 89-102. 34 | Bentham, Einführung, 56. 35 | Bourdieu, Sinn, 112. 36 | Ebda., 114.

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Politik am liebsten mit Menschen diskutiert, die ohnehin gleicher Meinung sind“.37 Die freimaurerische „Erziehung“ vermag, losgelöst von einer theologischen Sinnstiftung, die Handhabung des „Erkenne Dich selbst!“ zu stärken, um die eigene Situation besser verstehen zu können. Denn die Ars Vivendi, die Kunst des Lebens, „besteht“ – so Imhof – „darin, das, was wir auf Grund unseres individuellen Lebenslaufes […] zufällig zu sehen bekommen, in einem festgefügten Rahmen einordnen und verankern zu können und ihm auf diese Weise zu einer Bedeutung zu verhelfen, die uns erfüllt“.38

37 | Ebda. 38 | Imhof, Ars Vivendi, 219.

About The Almost Unlimited Possibilities Of Working With Oral Sources 1 Karin M. Schmidlechner

I NTRODUCTION Already in the first half of the nineteenth century the French historian Jules Michelet described the memories of ordinary people as ‘living documents‘, realizing that the written histories about the events of his lifetime did not correspond with his own recollections. Therefore, he was interested in the memories of those who had lived through the previous decades being sure that through memories he would get information about the past that was not accessible through conventional documentary records.2 Michelet’s recognition of the value of oral history disappeared during the mid- to late 19th century, as the writing of history became a university-trained professional discipline. At that time the focus of the historians turned towards political history, based upon the written records deposited in national archives, which records became the source of historical research. Most historians rejected the value of remembered experiences which for most of them were perceived as largely irrelevant to political history.3 Michelet’s belief in the value of ‘living documents’ re-emerged only with the emergence of the new social history in the 1960s and 1970s. Its representatives wanted to expand the scope of historical inquiry beyond chronological narratives and the actions of leading individuals.4 Getting interested in the lives of ‘ordinary’5 people, oral historians focused

1 | A former version of this paper was published as Karin M. Schmidlechner, Oral history: considerations on a never ending story, in: Ulrike Tischler (ed.), From “milieu de mémoire” to “lieu de mémoire”. The cultural memory of Istanbul in the 20th century, München 2006, 124-139. 2 | Anna Green, Oral History and History, in: Anna Green/Megan Hutching (ed.), Remembering. Writing Oral History, Auckland 2004, 1-8, 1. 3 | Green, Oral History and History, 1. 4 | See: Jeremy Black/Donald Mac Raild. Cited in: Green, Oral History and History, 2. 5 | Green, Oral History and History, 2.

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on their memories. Thereby it is important to mention that in these days oral history was not only a new methodology but also a movement with political aims, which was directed at helping particular members of underprivileged groups of the society to get insights about their past. According to this aim some professional historians, among them Sherna Berger Gluck, did not want to limit the use of oral history on professionals: “Oral history is not, or should it be, the province of experts. On the contrary, some of the best work today is being done by individuals and groups outside ‘the groves of academe’ and often by those without any formal training in history or journalism. Anyone who can listen [...] can do oral history.”6 Gluck who had formulated this opinion in 1977 did not change it until recently. In 1998 she wrote: “I remain committed to the idea that oral history can be both a scholarly and an activist enterprise, that it can advance our knowledge but also empower people and contribute to social change.“7 It were in particular the voices of those excluded from mainstream political history, among them women, the working class and ethnic minorities in which the oral historians were interested in.8 Because they initially concentrated on conventional ‚particular facts‘,9 this period is described as ‘oral history in the reconstructive mode’.10 These professionally orthodox objectives of the new social historians, however, did not provide oral history against a strong resistance among the conventional historical guild11, partly provoked probably also by the above cited opinion. In spite of that resistance the collection of oral testimony expanded rapidly between 1975 and 1985.12 In the late 1980s responding in part to this criticism from their empiricist colleagues, many oral historians turned their attention to the narrative forms and creative dimensions of oral narratives13 and began to investigate the contextual, psychological and linguistic dimensions of remembering. Later this was called ‘oral history in the interpretive mode’,14 meaning that the construction of ‘historical memory’15 was more important than the search for facts. In this phase oral historians were becoming less defensive about their sources. They were arguing “that the ‘peculiarities of oral history’ 6 | Sherna Berger Gluck, What’s So Special about Women? Women’s Oral History, in: Susan H. Armitage et al. (ed.), Women’s Oral History. The Frontiers Reader. Lincoln-London 2002, 3-26, 7f. 7 | Susan H. Armitage/Sherna Berger Gluck, Reflections on Women’s Oral History. An Exchange, in: Armitage et al. (ed.), Women’s Oral History, 75-86, 77. 8 | Green, Oral History and History, 2. 9 | Paul Thompson. Cited in: Ibid. 10 | Michael Roper. Cited in: Ibid. 11 | Green, Oral History and History, 2. 12 | Ronald J. Grele, Movement without aim. Methodological and theoretical problems in oral history, in: Robert Perks/Alistair Thomson (ed.), The Oral History Reader, London 1998, 38-52, 38. 13 | Anna Green, Individual Remembering and ‘Collective Memory’: Theoretical presuppositions and contemporary debates, in: Oral History 32 (2004) 2, 35-43, 35. 14 | Roper. Cited in: Green, Oral History and History, 3. 15 | Michael Fritsch. Cited in: Ibid.

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might be a resource rather than a problem because by listening to the myths, fantasies, errors and contradictions of memory, and paying heed to the subtleties of language and narrative form, one might better understand the subjective meanings of historical experience”.16 Now the subjectivity of individual memory was seen as a positive resource for the study of history. “This meant, among other things, taking the final step away from whatever semblance remained of the ‘myth of objectivity’. Instead, the focus shifted to subjectivity, to how memory was constructed, to the implications of our narrators’ and our various and shifting positionalities, to an appreciation of the interview as a linguistic and performative event, and finally, to the treatment of the oral history (narrative) as a text.”17

With the emergence of cultural history, the focus also moved away from the individual and towards the wider social and cultural context within which remembering takes place.18 Through oral testimonies, it seemed to be possible to explore the many ways in which individuals construct frameworks of meaning. Since then, oral historians have become increasingly aware of the theoretical questions and approaches modelled by European scholars.19 Additionally the growing interdisciplinary of oral history contributed to considerably more theorizing as Gluck states for that time, “Indeed, this critical stance, inspired and reinforced by the postmodernist spell under which many of us fell, as well as the focus on reflexivity encouraged by the ‚new anthropology‘ led to more theorizing both about the interview process and the resultant product. And although oral narratives still were being presented as transparent by some practitioners, increasingly the later generations treated them as representations, or cultural constructions, that were influenced by many factors.”20

Thereby valuable insights into the cultural construction of memory and the social construction of remembering have been developed. Present day oral historians – some of them demanding that the sophisticated theoretical awareness about memory and subjectivity which especially characterizes recent work should not displace or discredit the earlier and political claims of oral history21 – seek to link remembered individual 16 | Alistair Thomson, Moving Stories: Oral History and Migration Studies, in: Oral History 27 (1999) 1, 24-37, 33. 17 | Sherna B. Gluck/Donald A. Ritchie/Bret Eynon, Reflections on Oral History in the New Millennium: Roundtable Comments. From First Generation Oral Historians to Fourth and Beyond, in: Oral History Review 26 (1999) 2, 1-28, 4. 18 | Green, Individual Remembering, 35. 19 | Raising questions about narrative, identity and historical memory Ronald Grele and others have deepened the thinking about the nature of oral memoirs. Gluck/Ritchie/Eynon, Reflections, 25. 20 | Ibid., 1. 21 | Thomson, Moving Stories, 34.

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experience with the broader economic and political currents of history. This is to be seen in the context that oral testimonies continue to contain valuable information about aspects of the past inaccessible through other, written sources.

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Years ago Grele noticed “evidence of skepticism about and doubt and distrust of oral history among professional historians”22 and concluded, “In short, what the profession is saying is that oral history is not a respected practice of history. “23 Although both popular and scholarly historical studies have increasingly dealt with oral history as a methodology able to expose ignored topics and present diversified perspectives on the past, “there lingers some suspicion that oral sources may be inappropriate for the discipline”.24 This resistance among the professional historical guild lasted from the beginning on. Memories were considered as unreliable, subjective, and unverifiable.25 Even oral historians themselves were concerned about the reliability and validity of memory as a historical source, among them Gluck who states, “As with any source, questions about the validity of the material must be raised. Despite their awareness of the obvious bias of contemporary newspaper reports, historians traditionally have relied on journalistic accounts as primary sources. The same criteria should be used to access the validity of any source, written or oral: How does it ‘fit’ with what we know about the subject? The usual questions about the reliability of memory [...] must also be raised.”26

In that sense already the early oral history handbooks offered strategies for making memory a more reliable source of evidence for historical reconstruction.27 One of the scientists who are most responsible for the doubts on the reliability of the individual memory is Maurice Halbwachs who – decades ago – developed the concept of the social context of collective memory, which was neglected for a long time.28 His fundamental contribution to the study of social memory is the establishment of the connection between a social group and collective memory. His assertion that every group develops a memory of its own past that highlights its unique identity is still the

22 | Grele, Movement without aim, 38. 23 | Ibid., 39. 24 | Joan Sangster, Telling our stories. Feminist debates and the use of oral history, in: Perks/ Thomson (ed.), The Oral History Reader, 87-100, 87. 25 | Green, Oral History and History, 2. 26 | Gluck, “What’s So Special…”, 6. 27 | Thomson, Moving Stories, 33. 28 | Barbara A. Misztal, Theories of Social Remembering, Berkshire 2003, 50.

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starting point for all research in the field.29 For him collective memory is carried and supported by a group, while an individual memory can be understood only by connecting “the individual to the various groups of which he is simultaneously a member”.30 And individual remembrance is seen as “the intersection of collective influences”.31 Such a conceptualization of individual memory changes as the individual’s affiliation changes. In other words, memories adapt to our present connections, belongings and positions and therefore only we can be sure of the accuracy of memory when it is supported by others’ remembrances. Only in the group context are we able to “reconstruct a body of remembrances”32 and more accurately describe past events. 33 Halbwachs’ ideas were the base for many important theories on memory of the representatives of the new cultural sciences34 among them Aleida Assmann who talks about different forms of memory, individual and social memory on the one hand and political and cultural memory on the other. She states that while “[...] individual and social memory cling to and abide with human beings and their embodied interaction; political and cultural memory [...] are based on the more durable carriers of symbols and material representations”.35 In her opinion social and political memory are intertwined and studied by those, who are interested in the ways in which historical events are perceived and remembered by individuals within their own life-span looking at individuals in specific historical situations and thereby investigating how memories are established and communicated.36 Memory and how it is created has been and still is a central issue not only for cultural scientists but also for oral historians trying to deal with it in adequate ways for her causes. Samuel Hynes defines memory as “the mental faculty by which we preserve or recover our pasts, and also the events recorded. That means that all forms of historical understanding – even those that do not engage the faculty of personal memory at all are increasingly classified as memory”.37 In the last years many historians were more interested in the ways in which individual recollection fit cultural scripts than in the ways in which individuals view the world. Consequently, memory has become detached from the individual.38 Oral history 29 | Misztal, Theories, 51. 30 | Maurice Halbwachs. Cited in: Ibid., 53. 31 | Ibid. 32 | Ibid. 33 | Ibid. 34 | See: Harald Welzer (ed.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 1981; Welzer (ed.), Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002. 35 | Aleida Assmann, Four Formats of Memory: From Individual to Collective Construction of the Past, in: Christian Emden/David Midgley (ed.), Cultural Memory and Historical Consciousness in the German-Speaking World Since 1500, Bern 2004, 19-38, 25. 36 | Ibid., 25. 37 | Samuel Hynes. Cited in: Green, Individual Remembering, 37. 38 | Ibid., 36-37.

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was converging with collective memory studies, within which individual memory was either subsumed under ‚collective memory‘39, or assigned to the realm of the passive unconscious which means that it is not considered a significant value anymore. While some historians argued that individual memory is unimportant because it lacks active agency, others claimed that it is extremely important that the value of individual remembering and the richness of individual consciousness should not be ignored.40 Many considerations on that topic demonstrate also that the process of remembering itself is very complex mainly due to the fact that “brains do not store literal snapshots of the past that can be called up upon demand”.41 Individual memories are partial and fragmented, and in the process of reassembling them for others, people decide what to include or exclude. They also seek to make meaningful connections between the present and the past. “To make sense of the past, people draw upon the vocabulary and metaphors of their time and culture, generating complex codes of meaning that can be opaque to later generations or cultural outsiders.”42 Portelli writes that it is important to be aware of the fact that memory is not a passive depository of facts, but an active process of creation of meanings. Thus, the specific utility of oral sources for the historian consists not so much in their ability to preserve the past as in the very changes wrought by memory. These changes reveal the narrators’ effort to make sense of the past and to give a form to their lives, and set the interview and the narrative in their historical context.43 “Changes, which may have subsequently taken place in the narrators’ personal subjective consciousness or in their socio-economic standing, may affect, if not the actual recounting of prior events, at least the valuation and the ‘coloring’ of the story [...]. In these cases, the most precious information may lie in what the informants hide, and in the fact that they do hide it, rather than in what they tell.”44

Within their culture, oral narrators have often certain aids to memory. Many stories are told repeatedly, or discussed with members of the community. It is also possible that formalized narrative is able to help preserve a textual version of an event. Sometimes narrators are capable of reconstructing there past attitudes even when they no longer coincide with present ones. “If the interview is conducted skillfully and its purposes are clear to the narrators, it is not impossible for them to make a distinction between pre-

39 | Ibid., 36. 40 | Ibid., 36-37. 41 | Daniel L. Schachter. Cited in: Anna Green, “Unpacking the Stories”, in: Green/Hutching (ed.), Remembering, 9-24, 11. 42 | Anna Green, “Unpacking the Stories”, 11. 43 | Alessandro Portelli, What makes oral history different, in: Perks/Thomson (ed.), The Oral History Reader, 63-74, 69. 44 | Ibid.

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sent and past self, and to objectify the past self as other than the present one.”45 It is also interesting to experience that some narrators seem to have arrested their consciousness at climatic moments of their personal experience and are completely caught by the totality of the historical event of which they were part.46 According to Grele the critics against the oral history method can be classified into three categories: interviewing, research standards for preparation, and questions of historical methodology. In general, he demands that the oral historian “should be able to deal with the first set of these criticisms rather easily, for there is an already existent body of knowledge concerning interviewing and questioning techniques available”.47 To the also often-mentioned claim “that oral history interviewees are not statistically representative by the population at large or any particular segment of it”,48 Grele responses that interviewees are selected, not because they present some abstract statistical norm, but because they typify historical processes. Thus, the question to be asked concerns the historian’s concept of a historical process and the relevance of the information garnered to that particular process. Also the problems which are centering on research standards can be met by “insisting that the highest standards of research and training be expected of oral historians”.49 These are problems “faced by all historians and the same canons of practices should apply. Sources should be checked, documentation provided, evidence weight carefully. In this sense, oral history interviewing does not represent any major deviation from the methodology of other forms of historical research”.50 For Grele in particular questions of methodology have to be taken seriously “because there are real issues to be faced by the practitioners of oral history“.51 A very strong prejudice hereby concerns the general primacy of written testimony to oral testimony. “Oral history, runs the typical argument, cannot rank with an authentic diary, with a contemporary stock report, or with an eyewitness account transcribed on the day of event. But, we are told, it is probably to be ranked above contemporary hearsay evidence.”52 This criticism – so Grele – does not only “ignore the problem of accuracy faced by historians who use written testimony it also ignores a growing literature of the analysis of oral testimony for historical purposes”.53 The acceptance of the dominant prejudice, which sees factual credibility as a monopoly of written documents, is also opposed by one of the profoundest oral historians, Alessandro Portelli. In his opinion written sources very often are only the uncontrolled transmissions of unidentified oral sources. “The passage from these oral ‘ur-sources’ to 45 | Ibid. 46 | Ibid., 70. 47 | Grele, Movement without aim, 40. 48 | Ibid. 49 | Ibid. 50 | Ibid. 51 | Ibid. 52 | Ibid. 53 | Ibid.

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the written document is often the result of processes which have no scientific credibility and are frequently heavy with class bias.”54 As an example Portelli mentions trial records in which not the words actually spoken by the witnesses, but a summary dictated by the judge to the clerk goes on record. “Yet many historians who turn up their noses at oral sources accept these legal transcripts with no questions asked.”55 In some cases, Portelli continues, oral testimony can be more full and accurate than written testimony. “Orality and writing, for many centuries now, have not existed separately: if many written sources are based on orality, modern orality itself is saturated with writing. [...] In fact, one should not forget that oral informants might also be literate. [...] Many informants read books and newspapers, listen to the radio and TV, hear sermons and political speeches, and keep diaries, letters, clippings, and photograph albums.”56

Thus criticism of oral testimony often miss their mark because they fail to realize that to seriously critique any form, it is necessary to understand precisely what is one about to evaluate.57 In general, oral historians hold the view that the usefulness of any source depends upon the information one is looking for, or the question one seeks to answer. Thompson argues that the reliability of memory depends partly on whether the question being asked interests the informant.58 In the same way the insistence that oral source are distant from events, and therefore undergo the distortion of fault memory exists for many written documents, which are usually written some time after the event to which they refer, and often by nonparticipants. In contrary to written sources, oral sources compensate chronological distance with a much closer personal involvement.59 According to Sangster another very important argument against the credibility of oral history is the opinion that oral sources are not objective and these considerations still worry the profession – even those historians using oral history.60 Portelli states that this argument actually applies to every source, “though the holiness of writing often leads us to forget it”.61 The inherent non-objectivity of oral sources lies in specific intrinsic characteristics, the most important being that they are artificial, variable, and partial.62 Oral sources, Portelli continues, are credible but with a different credibility,

54 | Portelli, What makes oral history different, 68. 55 | Ibid. 56 | Ibid., 69. 57 | Grele, Movement without aim, 41. 58 | Paul Thompson. Cited in: Green, Oral History and History, 2. 59 | Portelli, What makes oral history different, 68f. 60 | Sangster, Telling our stories, 87-100, 87. 61 | Portelli, What makes oral history different, 68. 62 | Ibid., 70.

A BOUT T HE A LMOST U NLIMITED P OSSIBILITIES O F W ORKING W ITH O RAL S OURCES “The importance of oral testimony may lie not in its adherence to fact, but rather in its departure from it, as imagination, symbolism and desire emerge. Therefore, there are no ‘false’ oral sources. Once we have checked their factual credibility with all the established criteria of philological criticism and factual verification which are required by all types of sources anyway, the diversity of oral history consists in the fact that ‘wrong’ statements are still psychologically ‘true’ and that this truth may be equally as important as factually reliable accounts.”63

Another often mentioned reason for the opinion that oral sources are not objective is the fact that documents of oral history are always the result of a relationship, of a shared project in which both the interviewer and the interviewee are involved together. Oral history is only a potential resource until the researcher calls it into existence. The content of oral sources depends largely on what the interviewer puts into it in terms of questions, dialogue, and personal relationship. Therefore it is never the same twice. Even the same interviewer gets different versions from the same narrator at different times and interviews with the same person may be continued indefinitely because it is impossible to exhaust the entire memory of a single informant.64 In this context, Strobel mentions problems faced by oral historians in an unfamiliar culture where they have to deal with certain particular difficulties and benefits like language, customs, taboos, and assumptions. Since all of them affect the validity and perceptiveness of our oral history interviews, she demands that cultural differences between the interviewer and subject should be an issue and that the interviewer must not violate that culture’s behavior norms.65 Cultural differences may also affect the content of interviews as well as the process of establishing a relationship with the subject. “One’s position as an outsider, while it lends ambiguity to behavioral expectations, can make certain people and information accessible. As a neutral party you may become a confidante; or, people with conflicting views may seek you out to insure that each side gets your ear.”66 Portelli does not consider “the inherent incompleteness of oral sources”67 a disadvantage or a reason that oral sources are not objective. The fact that written documents are fixed, a stable text which can only be interpreted, and that their content is independent of the researcher does not mean that they are complete. Incompleteness does not only affect oral sources but all other sources as well.

63 | Ibid., 71. 64 | Ibid. 65 | Margaret Strobel, Doing Oral History as an Outsider, in: Armitage et al. (ed.), Women’s Oral History, 43-50, 44f. 66 | Ibid. 67 | Portelli, What makes oral history different, 71.

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It is interesting to note that until recently the question about the importance of oral history seems to be still relevant as can be seen in conference sessions asking about “the use of oral sources”.68 This is something that would be rather unthinkable for written sources.69 In general, though, there is probably no doubt about the fact that oral sources are important for getting information about the past which other sources cannot deliver, in particular concerning the “richness and variety of individual consciousness”. 70 Besides of that the reasons for working with this method are almost unlimited. A very important one has been formulated by the anthropologist Renato Rosaldo who wrote years ago that „no analysis of human action is complete unless it attends to people’s own notions of what they are doing”.71 Oral historians record life stories that articulate the meanings of experience and suggest ways of living. With these stories, they “cannot only capture priceless evidence about prior experience and lived histories. The stories themselves also represent the constantly evolving ways in which people make their lives through stories”.72 Biographical, narrative interviews also offer an insight into the process of social construction and constitution.73 Through individual life histories, oral historians can better understand the impact of historical transformations on a broad range of individual lives, and illuminate the dynamic roles of ordinary people in making history.74 In this sense, one can characterize narrative biographical interviews as expressions of the interchange between the individual and society.75 Rina Benmayor and Andor Skotnes argue that a personal life story “allows understanding of how moving matrices of social forces impact and shape individuals, and how individuals, in turn respond, act and produce change in the larger social arena”.76 In following Portelli who emphasizes their reciprocal relationship thereby a “deep thematic focus’ of oral history is the attempt to link individual experience to the broader formation of history”.77 Oral history also provides insights into the meaning of the individual’s experiences. It delivers information about not only what happened, but also how it was understood and experienced by the narrator. This work of remembering and explaining is an act of 68 | Sangster, Telling our stories, 87. 69 | Grele, Movement without aim, 41. 70 | Green, Individual Remembering, 43. 71 | Renato Rosaldo. Cited in: Dorothy Louise Zinn, The Senegalese Immigrants in Bari: What Happens When the Africans Peer Back, in: Rina Benmayor/Andor Skotnes (ed.), International Yearbook of Oral History and Life Stories, edition III, Oxford 1994, 53-68, 53. 72 | Thomson, Moving Stories, 36. 73 | Encarnación Gutiérrez Rodriguez. Cited in: Karin M. Schmidlechner/James W. Miller, Die Liebe war stärker als das Heimweh. Heiratsmigration in die USA nach 1945 (= Grazer Gender Studies 8), Graz 2003, 20. 74 | Green, Oral History and History, 3. 75 | Thomas Keller. Cited in: Schmidlechner/Miller, Liebe, 9-13. 76 | Rina Benmayor/Andor Skotnes. Cited in: Thomson, Moving Stories, 28. 77 | Alessandro Portelli.Cited in: Green, Oral History and History, 3.

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performance in the construction of an intelligible subject.78 Few other sources provide such fertile material in this regard. In that way, oral histories can provide a more balanced record of the past.79 Though the individual stories provide a body of research material in which the process of individuation can be traced they also consist of collective memories, experiences and allegories of particular times and places.80 Although the oral history method is a relevant tool for many topics there are some for which it is extremely important. In particular for the migration issues oral histories have played a major role, and not only because the use of them provides researchers with the opportunity to explain history in the words of participants.81 There is in general no doubt about the importance of individual immigrants’ impressions of the immigrant experience. More important, immigration theory is based on the idea of the participants’ perceptions as a motivation for migration. Hence, there is often no substitute for the actual words of the persons involved in the migration story.82 According to Philipe Joutard, “modern migrations [...] could scarcely be studied nowadays without firsthand accounts from the emigrants”.83 Thomson states that oral evidence provides an essential record of the hidden history of migration.84 The use of the oral life history of the immigrants themselves is one means by which this gap can be filled.85 While “other sources reveal the creation, implementation and contestation of migration and ‘ethnic affairs’ policy, or the statistical patterns of movement, settlement, employment and welfare”86 , individual testimony offers unique “glimpses into the lived interior of migration processes”.87 Current research has shown how complex the process of migration really is and how these policies and patterns influence the lives and relationships of individual migrants, families and communities.88 Oral historians also illuminate aspects of the migrant experience, which might otherwise be disregarded. Thereby they have been “carving theory out of […] complex personal histories and experiences”89, challenging “mono-causal, linear and economistic theories and reshaping the ways in which migration is understood”.90 78 | Thomas Keller. Cited in: Schmidlechner/Miller, Liebe, 9-13. 79 | Green, „Unpacking the Stories“, 12. 80 | Thomas Keller. Cited in: Schmidlechner/Miller, Liebe, 9-13. 81 | Donna Gabaccia. Cited in: Schmidlechner/Miller, Liebe, 17. 82 | Jenel Virden. Cited in: Schmidlechner/Miller, Liebe, 17. 83 | Philipe Joutard. Cited in: Thomson, Moving Stories, 26. 84 | Thomson, Moving Stories, 26. 85 | Zinn, The Senegalese Immigrants in Bari, 53. 86 | Thomson, Moving Stories, 26. 87 | Rina Benmayor/Andor Skotnes, Some Reflections on Migration and Identity, in: Benmayor/Skotnes (ed.), International Yearbook, 1-18, 14. 88 | Anita Prettenthaler-Ziegerhofer/Karin M. Schmidlechner/Ute Sonnleitner, “Haustochter gesucht”. Steirische Arbeitsmigrantinnen in der Schweiz (= Grazer Gender Studies 13), Graz 2010. 89 | Thomson, Moving Stories, 28. 90 | Ibid.

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For Thomson personal testimony also shows “the complex weave of factors and influences, which contribute to migration, and the processes of information exchange and negotiation within families and social networks”.91 As an example he mentions migrant narratives which “evoke the ‘cultural imaginaries’ about prospective destinations and explain how these imaginaries are produced, disseminated, received and used”.92 In the same way, oral history is a very important tool for women and gender histo93 ry. Since its beginnings it has been considered as a method “that could create alternative sources”.94 This view came in particular from “recognition that traditional sources have often neglected the lives of women, and that oral history offered a means of integrating women into historical scholarship, even contesting the reigning definitions of social, economic and political importance that obscured women’s lives”.95 There is and has always been a close relationship between oral history and feminist scholarship. For both the initial stage in the 1970s was dominated by the idea of rescuing a hidden history. Both movements have converged in the development of methodology and interpretation, both came very quickly to recognize personal feeling as an important focus of investigation96 and finally both have also been affected by the realization that focusing exclusively on the dominated makes a full understanding of their subordination impossible. While oral historians have dealt with the question if memories are gendered from very early on, psychologists of memory have paid little attention to gender until recently, suggesting that no general differences have been found between women and men in terms of either accuracy or the vividness of their memories.97 In spite of the fact that already 20 years ago Natalie Zemon Davis has demanded that women historians should “be interested in the history of both women and men”,98 not many feminists or oral historians have approached the issue of gender and memory, and cross-gender studies remain rare though this could be very helpful to understand how the memories of women and men have been reframed and reshaped, as well as the meanings of femininity and masculinity.99

91 | Ibid. 92 | Ibid. 93 | Sangster, Telling our stories, 86. 94 | Gluck, “What’s So Special…”, 3. 95 | Sangster, Telling our stories, 87. 96 | Selma Leydesdorff/Luisa Passerini/Paul Thompson, Introduction, in: Selma Leydesdorff/ Luisa Passerini/Paul Thompson (ed.), International Yearbook of Oral History and Life Stories, edition VI., Oxford 1996, 1-16, 5. 97 | Leydesdorff/Passerini/Thompson, Introduction, 3. 98 | Natalie Zemon Davis. Cited in: Ibid., 7. 99 | Ibid., 8.

A BOUT T HE A LMOST U NLIMITED P OSSIBILITIES O F W ORKING W ITH O RAL S OURCES

C ONCLUSION In conclusion it can be said that working with oral sources is not more problematic than working with other sources. For all of them one has to consider limitations which need to be examined. Finally, it should be taken into consideration that no research is complete unless it has exhausted oral as well as other sources. While historical work using oral sources is unfinished because of the nature of the sources, historical work excluding oral sources is incomplete by definition.100

100 | Portelli, What makes oral history different, 71.

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Landkarten der Territorien des Selbst Selbstzeugnis und weibliche Identität am Beispiel der Briefe Goldy Parin-Matthèys 1 Ute Sonnleitner

Grenzen zu überschreiten stellte im Wort- wie auch im übertragenen Sinn zeitlebens ein zentrales Thema Goldy Parin-Matthèys dar. Die – subversive – Überwindung gesellschaftlicher Vorgaben bildete ein von ihr selbst definiertes Leitmotiv, die „Zusammenhänge zwischen Kultur und Psyche aufzudecken“ und solcherart Begrenzungen und Einschränkungen jedweder Art aufzuheben war der „rote Faden“ in ihrem Leben.2 Dennoch stand natürlich auch sie immer wieder vor Schranken – deren Öffnung Goldy, auch dank ihrer Fähigkeit freundschaftliche Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, fast immer gelang. Im Folgenden wird der Versuch unternommen den – überwunden geglaubten – Grenzen Goldy Parin-Matthèys nachzuspüren, ihre Relevanz für, beziehungsweise ihre Wahrnehmung durch Goldy selbst zu hinterfragen. „Wenn einer in der Familie schreibt, ist das genug“ und „ich bin zu faul zum schreiben“3, so lautete die Begründung Goldy Parin-Matthèys wenn sie auf ihre Unlust, Selbstverfasstes zur Veröffentlichung zu bringen, angesprochen wurde. Trotz intensiver 1 | Die intensive Beschäftigung mit Leben und Wirken Goldy Parin-Matthèys nahm im Jahr 2004 mit dem Beginn der Recherche zur Diplomarbeit der Verfasserin ihren Anfang. Die Hinweise Eduard Staudingers, seine befürwortende Haltung gegenüber dem Projekt, hatten entscheidenden Einfluss auf dessen Umsetzung, wofür ich nochmals meinen größten Dank ausspreche. 2 | Paul Parin/Goldy Parin-Matthèy, Subjekt im Widerspruch (Erstausgabe 1986), Frankfurt am Main 1988,258. 3 | Brief Paul Parin 8.10.2004. – Sämtliche im Text angeführten Briefe befinden sich im Original oder in Kopie im Besitz der Verfasserin. Goldy Parin-Matthèy spielte damit auf die rege Schreib- und Veröffentlichungstätigkeit Paul Parins an. Vor allem die von ihm in späteren Jahren herausgegebenen Erzählungen entstanden stets in intensivstem Austausch mit Goldy. Sie hatte die Möglichkeit, Veränderungen zu erwirken, sah ihr wichtige Themen behandelt und fühlte sich daher der „Verpflichtung“ enthoben, bestimmte, gesellschaftspolitisch relevante, oft brisante Fragestellungen selbst ansprechen zu müssen. Paul Parin, Karakul – Er-

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wissenschaftlicher Betätigung, starkem Interesse an wissenschaftlichen wie literarischen Schriften und einer durchaus vorhandenen Begabung für das Verfassen von Texten, schrieb sie Zeit ihres Lebens äußerst ungern und ließ sich nur in Ausnahmefällen dazu bewegen, ihre Überlegungen zu Papier zu bringen.4 Werden nun Erzählungen über das eigene Leben als „Landkarten der Territorien des Selbst“5 verstanden, so könnte Goldy Parin-Matthèys Weigerung für die „Öffentlichkeit“ zu schreiben, ihre Unlust über sich zu berichten, unter diesen Vorzeichen als Ausdruck ihrer grundsätzlichen Ablehnung sich auf festgefügte Grenzen zu beschränken, interpretiert werden. Denn im Falle Goldys ist keineswegs eine gänzliche ‚Abwendung von der Schrift‘ festzustellen. Vielmehr schrieb sie über Themen, die von immanenter Wichtigkeit für sie waren – eine Beschreibung gemeinsamer Jugenderfahrungen zum Geburtstag ihrer lebenslang engsten Freundin Maria Biljan-Bilger oder an den Bruder gerichtete Briefe seien als Beispiele genannt. In ihnen spiegelt sich die einzig jemals von ihr akzeptierte „Heimat“ wider – die enge Freundschaft zu den ihr wichtigen Menschen. Goldy Parin-Matthèy prägte für diese Beziehungen den Begriff der „Brüdergemeinde“.6 Gemeinschaften verschiedenster Menschen, Männer wie Frauen (als „Bruderin“) deren Zusammenhalt aus der Übereinstimmung erwuchs, für die Erreichung eines bestimmten Zieles einzutreten. Eine der „Glücksbedingungen ihres Lebens“ – wie Goldy Parin-Matthèy formulierte – war es, stets die Einbindung in eine „Brüdergemeinde“ erfahren zu haben.7 Tatsächlich war ihr gesamtes Leben von der Existenz derartiger Gemeinschaften geprägt, deren unhierarchisches Miteinander sie zumeist zentral miterlebte und -gestaltete. Zwei männliche Bezugspersonen stellten dabei nahezu unverzichtbare Begleiter dar: während Goldy ab den 1940er Jahren das – von BeobachterInnen, wie von ihnen selbst als solches beschriebene – symbiotische Zusammenleben mit Paul Parin verband8, wurden Kindheit und Jugend durch ihren Bruder August, genannt Gustl, Matthèy-Guenet bestimmt. Die überaus enge geschwisterliche Beziehung fand durch den frühen Tod des Bruders im Jahr 1960 ein tragisches Ende. Das Ableben Gustls bedeutete für Goldy eine kaum

zählungen, Hamburg 1993, 152-165; Siehe dazu auch Ute Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy 1911-1997, phil. Diplomarbeit, Graz 2005, 125-126. 4 | Bigna Rambert, „Macht doch net so a Gschiss“ – Abschied von Goldy Parin-Matthey, in: WERKBLATT – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik (1996) 37, 9-12, 10; Ursula Rütten, Im unwegsamen Gelände – Paul Parin: erzähltes Leben, Hamburg 1996, 18, 21-22. 5 | Mechal Sobel, Schwarz und Weiß: Innere Fremdbilder, in: Gabriele Jancke/Claudia Ulbrich (Hg.), Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung (= Querelles 10), Göttingen 2005, 145-172, 148. 6 | Zur zentralen Bedeutung von „Gemeinschaften Gleicher“ / zur „Communitas“, insbesondere in ‚Übergangszeiten‘ (nach Turner geteilt in liminale wie liminoide) siehe auch: Andreas Kraft, „nur eine Stimme, ein Seufzer“. Die Identität der Dichterin Nelly Sachs und der Holocaust, Frankfurt am Main 2010, 22-26. 7 | Parin/ Parin-Matthèy, Subjekt, 256. 8 | Rütten, Im unwegsamen Gelände, 9.

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vorstellbare Belastung, ein bereits in den Jahren zuvor einsetzender Umbruch gelangte nunmehr zu seiner schicksalshaft erzwungenen vollständigen Umsetzung. Bereits die 1950er Jahre stellten eine Übergangszeit dar. Berufliche Neuorientierung, weltpolitische Veränderungen und private Neuordnung flossen ineinander und brachten einerseits gänzlich Neues hervor, verfestigten gleichzeitig andererseits endgültig altbekannte Strukturen und Muster. Der Fortgang des Bruders nach Indonesien und sein früher Tod waren Teil der geschilderten Phase des Umbruchs. Die in Teilen erhalten gebliebene Korrespondenz der Geschwister, Teil des Nachlasses Paul Parins und nunmehr erstmals zugänglich,9 gewährt Einblicke und Interpretationen, die bislang in dieser Form nicht möglich waren. Die Untersuchung dieser Briefe erlaubt es, an Hand der Analyse der Beziehung der Geschwister Goldy und Gustl Matthèy Goldys „innere Territorien“ zu ergründen. Die ausgebildete und praktizierende Psychoanalytikerin nahm oftmals im Rahmen ihrer Berichte an den Bruder „Selbstanalysen“ vor, ging teilweise schonungslos auf eigene – von ihr als solche empfundene – Fehler ein. Trotz aller Selbstkritik und präzisen Überlegungen blieb ein Aspekt ihres Daseins konsequent ausgespart: die Tatsache ihres Frauseins.10 Dies erscheint nun aus der Perspektive der vorangestellten Überlegungen interessant, waren es doch gerade Diskriminierungen entlang des Geschlechts – konkret etwa gesellschaftliche Festlegungen und Rollenzuschreibung als „Frau“–, die Goldy bereits äußerst früh in ihrem Leben mit massiven Einschränkungen konfrontierten. Ihr Bruder nahm dabei eine zentrale Rolle ein. Als Grundlage der Untersuchung von deren Manifestation an Hand der Briefe Goldys werden vorweg bedeutende Abschnitte ihres gemeinsamen Lebens und der Geschwisterbeziehung vorgestellt.

L EBENSSTATIONEN 11 Goldy Parin-Matthèy12 kam 1911 als erstes Kind von August und Franziska MatthèyGuenet in Graz zur Welt. Die Geburt ihres Bruders August im Jahr 1913 bedeutete ei9 | Nach dem Tod des Psychoanalytikers ging der Nachlass auf Prof. Johannes Reichmayr über. Der aktuelle Aufbewahrungsort ist die Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, in deren Räumlichkeiten auch das „Studio Paul Parin“ eingerichtet wurde. Ich danke Johannes Reichmayr herzlich für die Möglichkeit in die Unterlagen Goldy Parin-Matthèys Einsicht zu nehmen und die Briefe zur Abfassung dieses Textes verwenden zu dürfen. 10 | Es existieren spätere Überlegungen zu ihrer Mutter, deren Verhalten und dessen Rückwirkungen auf ihr Leben. Parin/Parin-Matthèy, Subjekt, 256. 11 | Zu biographischen Angaben siehe: Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy; Franz Josef Schober, Goldy Parin-Matthèy – (k)eine Grazerin. Ein Beitrag zur Geschichte des „anderen“ Graz, in: Blätter für Heimatkunde 77 (2003) 2, 49-74; Johannes Reichmayr, Goldy Parin-Matthèy (Elisabeth Charlotte, Liselot), in: Brigitta Keintzel/Ilse Korotin (Hg.), Wissenschafterinnen in und aus Österreich – Leben-Werk-Wirken, Wien-Köln-Weimar 2002, 549-554. 12 | Goldys Taufname war „Elisabeth Charlotte“. Den Spitznamen „Goldy“ erhielt sie in ihrer Kindheit, während ihrer Jugendzeit „konkurrierte“ dieser Name mit der Abkürzung „Liese-

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nen ersten (vielleicht sogar „den“ entscheidenden) Bruch in ihrem Leben – wie sie Jahre später in einem Interview festhielt,13 denn Goldy verlor ihre Position als „Liebling“ der Familie, insbesondere die Mutter war fortan ausschließlich auf den „Goldsohn“ fokussiert. Ein weiterer Einschnitt erfolgte zu Beginn der 1920er Jahre. Goldys Vater sah sich gezwungen auf Grund geschäftlicher Schwierigkeiten das bislang von ihm geführte Familienunternehmen zu veräußern.14 Fehlspekulationen und Inflation führten zum Verlust der dabei lukrierten Gelder und in weiterer Folge zur vollständigen Verarmung der Familie. Während der Vater, laut Goldys Erinnerung, „wie ausgeschaltet“ blieb, sorgte die Mutter für den Unterhalt der Familie, indem sie Arbeit als Putzfrau annahm. Goldy Parin-Matthèy empfand diese Phase ihres Lebens als weichenstellend: das großbürgerlich erzogene Mädchen war nunmehr mit täglichen Sorgen der Lebenserhaltung konfrontiert. Eine Erfahrung, die sie als sehr positiv wahrnahm und mit der sie lediglich eine negative Erinnerung in Zusammenhang brachte – nach Absolvierung ihrer Ausbildung zur Keramikerin an der Grazer Ortweinschule war es Goldys Wunsch gewesen Medizin zu studieren.15 Wegen der angespannten Familienfinanzen war es ihren Eltern jedoch nur möglich, einem Kind ein Studium zu finanzieren – dies war „selbstverständlich“ der Bruder. Auch von Seiten Goldys wurde diese Entscheidung zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens in Frage gestellt. Sie ging sofort daran, sich neu zu orientieren, nahm diverse „Jobs“ an und erlernte mehrere medizinische Hilfsberufe (Röntgenassistentin, Laborantin). Erstaunlicherweise hegte Goldy trotz der zahllosen Zurücksetzungen, die sie auf Grund von Gustls Bevorzugung innerhalb der Familie erfuhr, ihm gegenüber keinerlei Groll, ganz im Gegenteil verband die Geschwister von frühester Kindheit an eine äußerst enge Beziehung. „Goldicka“ fand in „Gusticek“16 einen idealen Verbündeten gegenüber einer Großteils als feindlich empfundenen Erwachsenenwelt. Diese ersten Erfahrungen der Solidarität in der gemeinsamen Rebellion mit ihrem

lot“. Im Spanischen Bürgerkrieg war „Liselotte“ ihr „nom de guerre“. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes – Archiv der österreichischen SpanienkämpferInnen, E.19711, Goldy/Liselotte Matthèy-Guenet. 13 | Parin/Parin-Matthèy, Subjekt, 257; 168-170; Interview mit Goldy Parin-Matthèy und Paul Parin. In: „Menschenbilder – Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy“; Aufzeichnung aus der Sendereihe von Ö1 vom 9.4. 1989. Universalmuseum Joanneum, Multimediale Sammlungen, Bild- und Tonarchiv, Tonband 1399. 14 | Es handelte sich dabei um die „chromolithographische Kunstanstalt Matthèy-Guenet“, die von Goldys Großvater in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet worden war. 15 | Die Ausbildung zu nutzen und als Keramikerin tätig zu werden, kam für Goldy nicht in Frage. Vor allem der Vergleich mit Maria Biljan-Bilger, die sie als „echte“ Künstlerin empfand, hielt sie davon ab. Auch war es ihr wichtig mit Hilfe ihres Berufes aktiv etwas „bewegen“ / helfen zu können. Goldy Parin-Matthèy, Meine Freundin Maria, in: Friedrich Kurrent (Hg.), Maria Biljan-Bilger, Keramik - Plastik - Textil, Salzburg 1987, 19-21, 19; Parin/ParinMatthèy, Subjekt, 253. 16 | Mit diesen Namen beginnen die Briefe der Geschwister und erfolgen die wechselseitigen Anreden. Siehe etwa Brief Gustl an Mutter, ohne Datum.

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Bruder17, diese „Urbrüdergemeinde“, legte den Grundstein für Goldys Rezeption aller weiteren derartigen Gemeinschaften und markierte gleichzeitig den Ausgangspunkt ihres „Klasssensprungs“. Paul Parin erklärte die Tatsache, dass eine Vielzahl „linker“ Intellektueller familiäre Wurzeln im Großbürgertum aufwies, mit dem Phänomen des „Klassensprungs“, der aus einer Kombination bürgerlich-liberaler Erziehung und der Enttäuschung über eine als unwürdig empfundene Erwachsenenwelt entstünde.18 Goldy und Gustl Matthèy fanden aneinander den notwendigen Halt, um den Schritt einer radikalen Abkehr von bürgerlichen Werten zu vollziehen.19 Die Einbindung in einen Kreis von Gleichgesinnten bot ab den späten 1920er Jahren zusätzlichen Halt. Mit dem Kreis in der Grazer Morellenfeldgasse war die erste konkrete „Brüdergemeinde“ entstanden.20 Die Zusammenkünfte von KünstlerInnen, Intellektuellen, FreundInnen, um nächtelang zu diskutieren und zu feiern, waren den Matthèy-Kindern eine Insel im „Sumpf “ der politisch braun-schwarzen Steiermark.21 Gemeinsame Aktionen gegen die faschistischen Tendenzen prägten die 1930er Jahre, ihre antifaschistische Überzeugung führte Goldy schließlich 1937 in den Spanischen Bürgerkrieg und 1944 zu den PartisanInnen Titos. Auch Gustl beteiligte sich an der Aktion in Jugoslawien. Der Aufenthalt bei den PartisanInnen stellte die letzte Möglichkeit für Goldy dar, sich aktiv am politischen Kampf zu beteiligen und bedeutete auch das Ende der gemeinschaftlich mit dem Bruder unternommenen Aktionen. Während Goldy in der Psychoanalyse neue Wege des subversiven Kampfes zu gehen suchte, übernahm Gustl 1954 das Angebot, im Auftrag der indonesischen Regierung in Borneo als Mediziner tätig zu werden.22 Seine Abreise erfolgte zum selben Zeitpunkt wie Goldys Aufbruch zu ihrer ersten Afrikareise – gemeinsam unternommen mit Paul Parin (Goldys Ehemann den sie nach ihrer Rückkehr aus Spanien 1939 als Bekannten ihres Bruders in der Schweiz kennen gelernt hatte23) und Fritz Morgenthaler.24 Damit setzte auch ein reger Briefverkehr zwischen den Geschwistern ein, dessen Untersuchung in der Folge im Zentrum stehen soll. 17 | Rambert, „Macht doch net...“, 10. 18 | Paul Parin, Der Traum von Ségou – Neue Erzählungen (3. Auflage), Hamburg 2001, 113114. Sämtliche Erwachsenen ihrer Kinderwelt stellten „Enttäuschungen“ dar. Der unbeteiligte Vater, die nur auf den Sohn fokussierte Mutter, eine Reihe von Verwandten, die den fianziellen Untergang nur beobachteten, ohne zu helfen, sowie Onkel und Cousinen, die sich dem Nationalsozialismus gegenüber äußerst aufgeschlossen zeigten. 19 | Parin/Parin-Matthèy, Subjekt, 256; Parin, Eine Sonnenuhr, 165. 20 | Schober, Goldy Parin-Matthèy, 67-68. 21 | „Ist der spanische Bürgerkrieg Geschichte?“ – Interview mit Goldy Parin-Matthèy, Freier Zürcher Sender LORA, 7.8.1986. Universalmuseum Joanneum, Multimediale Sammlungen, Bild- und Tonarchiv, Tonband 1399. 22 | Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy, 102-104. 23 | Goldy war Schweizer Staatsbürgerin. Ihre Vorfahren waren aus der Schweiz eingewandert. Schober, Goldy Parin-Matthèy, 50-51. 24 | Afrika, die dortigen Forschungsaufenthalte und die im Zuge dessen entscheidend weiterentwickelte Methode der Ethnopsychoanalyse als eigenständige Forschungsrichtung wurden zur entscheidenden Station der zweiten Lebenshälfte Goldy Parin-Matthèys. Paul Parin/Fritz

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„M EIN LIEBER , LIEBER G USTICEK , D SCHUNGELSCHNAUZENTIER , LIEBES .“25 D IE B RIEFE G OLDY PARIN -M ATTHÈYS AN

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Das zur Rede stehende Quellenmaterial entstammt dem Nachlass Paul Parins, ist Teil eines als Kryptonachlass zu verstehenden Konvolutes diverser Archivalien aus dem Besitz Goldy Parin-Matthèys. Neben zahlreichen Photos (Jugoslawien, Afrika), Notizen (Versuch des Erlernens diverser Sprachen) und Dokumenten (Ein-/Ausreisegenehmigungen; Schriftverkehr mit Behörden) fand sich in den Unterlagen zu Gustl Matthèy auch eine Reihe von Briefen Goldys an den Bruder. Leider scheint Goldy dessen Antwortschreiben nicht aufbewahrt zu haben, womit keine Analyse eines vollständigen Briefverkehrs möglich ist und in diesem Fall der Blickwinkel „des Mannes“ notwendigerweise ausgespart werden muss. Nichts desto trotz ermöglichen auch die Briefe Goldys an den Bruder erhellende Einblicke. Die etwa 2526 erhalten gebliebenen Exemplare bilden einerseits eine Besonderheit, da, wie Goldy selbst in einem der Schreiben vermerkte, Gustl „der erste Mensch in ihrem Leben“ war, der regelmäßig mit Briefen bedacht wurde, und sie bekräftigte dies, indem sie weiter schrieb: „Alle noch so guten Freunde kriegten nie einen Brief von mir.“27 Andererseits legen bereits diese wenigen Zeilen ein beredtes Zeugnis von dem Verhältnis Goldy Parin-Matthèys zu ihrem Bruder ab. In den Schreiben an ihn wurde die sonst enorm geradlinig, zielorientiert, „straight“ agierende Frau „weich“. Goldy verweigerte jegliche „Gefühlsduselei“, lehnte, insbesondere wenn ihre eigene Person davon betroffen war, überschwängliche Zuneigungsbekundungen welcher Art auch immer mit den legendär gewordenen Worten „machts doch net so a Gschiss“ strikt ab. Die Briefe an Gustl aber offenbaren eine vollkommen andere Seite im Wesen Goldy Matthèys. In vielfach ausführlicher Form und äußerst gefühlsbetont wendet sie sich an den Bruder, der bis zum Zeitpunkt seines Aufbruchs nach Borneo immer auch Freund und eng(st)er Vertrauter gewesen war. Die intensive Expressivität gipfelt in der Briefabschlussformel „in zärtlichster Liebe“, die – einmalig verwendet dennoch – die Fülle und den Umfang von Goldys Empfinden widerspiegelt.28 Wird nun der Versuch unternommen, die Briefe und Goldys Haltung im alltäglichen Leben miteinander in Bezug zu setzen, so sind zwei Aspekte und deren Morgenthaler/Goldy Parin-Matthèy, Die Weißen denken zuviel: psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika (Wiederauflage, 1. Auflage 1963), Hamburg 1993; Dies., Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst: Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika (2. Auflage, 1. Auflage 1978), Frankfurt am Main 1991. 25 | Zitat: Brief 28.3.1955 – Goldy gratuliert darin dem Bruder zum Geburtstag. 26 | Eine genaue Zahlenangabe ist nicht möglich. Die Briefe wurden ungeordnet aufbewahrt und sind teilweise nicht vollständig erhalten. So fehlen einige Anfangsseiten (Datumsangabe!), wodurch eine zeitliche Zuordnung nur grob, an Hand biographischer Hinweise möglich ist. – Die Zitation der Briefe wird daher im Folgenden je nach Gegebenheit mit Datumsangabe oder markanten Schlagworten erfolgen. 27 | Brief „Erster Mensch“. 28 | Brief „Henri Tanner“.

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wechselseitige Beeinflussung zu berücksichtigen. Als erster Punkt ist die innige Beziehung zwischen den Geschwistern Matthèy anzuführen, die in der seit frühester Jugend gemeinsam unternommenen Rebellion gegen als ungerecht empfundene Autoritäten Begründung findet. Dies allein würde jedoch in keinem Fall die Besonderheit der Briefe und ihres Inhaltes erklären. Das Medium Brief selbst stellt vielmehr den zweiten Erklärungsansatz dar. Das Niederschreiben als bereits begrifflich „Distanz generierender Vorgang“ und die enorme räumliche Entfernung zum Empfänger bieten gewissermaßen eine „Entlastungsfunktion“.29 Die Zwischenschaltung eines „Trägermediums“ erlaubt es, Gefühle zuzulassen, deren Wirkmächtigkeit im Falle Goldys auch überwunden geglaubte Sozialisationsinstanzen ans Tageslicht befördert. Goldy Parin-Matthèy war keine Feministin, beziehungsweise bezeichnete sich nicht als solche, da sie Kategorisierungen und Festschreibungen der eigenen Person ablehnte.30 Doch war ihr seit ihrer Kindheit, dem Zeitpunkt der Verarmung der Familie und den daraus sich entwickelnden familiären Veränderungen (Mutter geht putzen, Vater bleibt zu Hause), die Konstrukthaftigkeit gesellschaftlicher Rollenzuschreibungen bewusst. Ihre Ablehnung gegenüber vorgefertigten gesellschaftlichen Strukturen behielt sie ihr Leben lang bei. In der Beziehung zwischen den Geschlechtern plädierte sie vehement für ein gleichberechtigtes Miteinander und lehnte sich vielfach dagegen auf, als „Frau“ wahrgenommen, beziehungsweise auf die „Weiblichkeit“ reduziert zu werden. Kollegen in Jugoslawien nahmen ganz selbstverständlich an, sie werde als einzige der Equipe angehörende Frau Knöpfe annähen. Goldy quittierte dieses Ansinnen mit vollständiger Nichtbeachtung – sowohl der fehlenden Knöpfe, als auch der – ehemaligen – Knopfträger.31 Ebenso wurden von ihr männliche Vorgesetzte keineswegs als unumstößliche Autoritäten akzeptiert. So meinte ihr Lehranalytiker Prof. Brun, Frauen hätten „liebreizend zu sein, zu heiraten und Kinder zu haben“32 , was zu intensiven Auseinandersetzungen führte, die Goldy noch in den 1980er Jahren in lebhafter Erinnerung waren: „‚Ihr Ideal ist die Förster-Christel’, habe ich zu ihm gesagt, ‚da können Sie lange warten, bis ich so werde.’“33 Das Zusammenleben mit Paul Parin wiederum verlief nach genau jenen Idealvorstellungen der Gleichberechtigung, des Miteinanders und der gegenseitigen Unterstützung, wie Goldy sie stets „für beide Seiten des Himmels“ postulierte und die auch

29 | Christa Hämmerle/Edith Saurer, Frauenbriefe? – Männerbriefe? Überlegungen zu einer Briefgeschichte jenseits von Geschlechterdichotomien, in: Christa Hämmerle/Edith Saurer (Hg.), Briefkulturen und Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute (= L‘Homme Schriften 7), Wien-Köln-Weimar 2003, 7-33, 14, 26; vgl. auch: Kraft, Stimme, 33. 30 | Dem entspricht auch ihre lebenslange Ablehnung gegenüber einer fixen Parteizugehörigkeit. In politischen Fragen bezeichnete sie sich als „moralische Anarchistin“. Vgl. LORA; Paul Parin, Es ist Krieg und wir gehen hin. Bei den jugoslawischen Partisanen, Berlin 1991, 32-33. 31 | Ebda. 32 | Parin/Parin-Matthèy, Subjekt, 256. 33 | Ebda.

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ihre Definition der „Brüdergemeinde“ darstellte.34 Das unhierarchische, gleichberechtigte Zusammenspiel verschiedenster Charaktere schloss selbstverständlich Frauen mit ein, deren Teilhabe wurde jedoch – auch von ihnen selbst – unter besonderen Gesichtspunkten betrachtet. Die Frauen wurden als die schönen, emotionalen Zentren der Gruppe wahrgenommen und beschrieben und in einen als „typisch weiblich“ erachteten Konnex des Sorgens und Helfens gestellt. Diesen – vor allem werden die allgemeinen gesellschaftlichen Vorstellungen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts in Betracht gezogen – subtilen Mechanismen standen im Falle von Goldys „Ur-Brüdergemeinde“ mit ihrem Bruder sehr reale Zurücksetzungen gegenüber. Die bereits an vorangegangener Stelle besprochenen Bevorzugungen des Bruders durch die Eltern („Goldsohn“, Medizinstudium) fanden in einem vielfach rücksichtslosen Verhalten des Bruders Ergänzung,35 gegen das sich Goldy, die ansonsten jegliche Ungerechtigkeit zu bekämpfen suchte, nicht im geringsten zur Wehr setzte. Das im Umgang mit dem Bruder stark veränderte Verhalten fand in den Briefen an ihn deutliche Bestätigung. Darin kommen in Bezug auf Geschlechterrollen von Seiten Goldys erstaunliche Ansichten zu Tage: Gustl hatte vor seiner Abreise nach Indonesien geheiratet, seine Frau Alice blieb in Zürich, wo sie arbeitete und in einen Kreis von FreundInnen eingebunden war. Zwischen den Ehepartnern entspann sich ein langwieriges Für und Wider, ob Alice nachreisen sollte. In die Erwägungen war auch Goldy intensiv mit eingebunden, wobei sie es als Pflicht von Alice empfand „als seine Frau“ nach Borneo zu reisen, um Gustl zu unterstützen – worunter sie konkret ausformuliert die Organisation und Führung des Haushalts verstand.36 Das hier zum Tragen kommende „klassische bürgerliche“ Hausfrauenverständnis trifft sich – im Trägermedium Brief – in interessanter Übereinstimmung mit der Annahme, wonach die „Briefform“ das Schreiben „der bürgerlichen Frau“ bestimmte.37 Bei aller berechtigten Kritik an dieser Interpretation38 bietet sie doch einen überlegenswerten Erklärungsansatz für Gustls Sonderstellung als alleiniger Empfänger von Goldys Briefen. Das tief verwurzelte Weiblichkeitskonzept, das gerade 34 | Der Begriff der „Brüdergemeinde“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch zumeist mit christlichen Freikirchen verbunden. Goldy Parin-Matthèy jedoch leitete ihn von Freuds Idee der „Bruderhorde“ ab. Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy, 6-7, 110-117. 35 | Goldy musste einen Wienaufenthalt abbrechen, da sie glaubte die Mutter sei erkrankt und bedürfe ihrer Pflege, obwohl Gustl in Graz war, also auch er Pflegeleistungen übernehmen hätte können. Gustl bestand auch gegen den Willen Goldys und Paul Parins darauf, die Mutter nach dem Tod des Vaters nach Zürich zu holen. Um deren Versorgung und Pflege hatten sich in weiterer Folge selbstverständlich Goldy und Paul zu kümmern. Parin Brief 3.11.2004; Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy, 84-85. 36 | Brief 28.3.1955; Brief 25.4.1955; Brief „Antiserum“. 37 | Vgl. Hämmerle/Saurer, Frauenbriefe?; Konstanze Fliedl/Karl Wagner, Briefe zur Literatur, in: Hämmerle/ Saurer (Hg.), Briefkulturen und Geschlecht, 35-53, 37-39. 38 | Diese bezieht sich vornehmlich auf eine Gleichsetzung des Mediums Brief mit „Weiblichkeit“ – wobei eine Verbindung der privaten Korrespondenz mit weiblichen Lebenswelten seit Ende des 20. Jahrhunderts auch von feministischen WissenschaftlerInnen zunehmend dekonstruiert wird. Hämmerle/Saurer, Frauenbriefe?, 9.

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in Zusammenhang mit dem Bruder zum Ausdruck gelangte, äußerte sich nunmehr in der als „passend“ anerzogenen und unbewusst erinnerten Form des Briefeschreibens. Jener „klassischen Weiblichkeit“ ist auch die Sphäre des sich Sorgens und Kümmerns zuzuordnen, innerhalb derer sich die – als Konstanten jedes Briefes zu bezeichnenden – Passagen bewegen, die die Gesundheit des Bruders thematisieren. Gustl hatte während der Zeit auf Borneo einige schwere Erkrankungen zu überstehen39 und so wird sein „Body“, wenn nicht bereits als zentraler Inhalt in breiter Form besprochen, als eine beinahe stehende Form des Briefabschlusses zur Rede gebracht. Die starke Bezugnahme auf Körperlichkeit, wie sie hier zu beobachten ist, kommt auch in anderem Zusammenhang klar zum Ausdruck. Goldy nahm dabei eine allem Anschein nach unter den Freunden und Freundinnen seit längerem bestehende Tradition auf, einander als Tiergestalten zu charakterisieren. Sie beschreibt ein Erlebnis in einem afrikanischen Zoo: „Da waren wir alle zusammen in einem Zoogebäude: Der schwarze Urwaldpanther, nicht so globig [recte: klobig] wie ein Tiger, hochbeiniger und schlanker und wir alle schrien: das ist Gusticek. Dann war ein Steppenfuchs mit Schnauz und lebendigen braunen Augen, dem Paul vom Gesicht abgeschnitten, und dann ein Tiger a chat [sic], mit Tupfen und dicken breiten, gekreuzten Pfoten, genau wie ihn Fritz als sein Ebenbild zeichnet und dann war da noch eine Buschkatz mit ganz kleinem Kopf und hektischen Bewegungen, ein wenig dumm, immer hin- und her springend und sich windend, die sah mir also schon sehr ähnlich.“40 Die halb ernste Bezugnahme auf persönliche „Totemtiere“ kann als Ausdruck der Vertrautheit gewertet werden, die gleichzeitig dazu diente unangenehme Inhalte zu „verschleiern“. Wenn etwa die „Wild-/Buschkatze“ Goldy in der ruhigen Zürcher Umgebung unruhig und gereizt wurde, stellte dies eine logische, geradezu notwendige Entwicklung dar. Auch fiel es leichter, dem „Panther“ Gustl aufzutragen auf „sein Fell“ zu achten, es „glänzend“ zu erhalten, als dem ungeduldigen Bruder diese Empfehlung mitzuteilen. Dass nun Gustl als Panther imaginiert wurde, während in Goldy – von ihr selbst, wie auch von den Freunden - die (Busch-)Katze als ihr tierisches Ebenbild gesehen wurde, ermöglicht wiederum interessante Rückschlüsse auf die Geschlechterordnung der Geschwister. So wird „die Katze“ als eine Verkörperung des „Weiblichen“ empfunden. Gustls Panther bringt zum einen unterschwellig die Verwandtschaft (als Großkatze) zum Ausdruck. Zum anderen zeugen Goldys Beschreibungen des Panthers, dessen Schönheit, Anmut und vor allem Kraft von einer unermesslichen Bewunderung des männlich konnotierten Tieres. Die Form des Briefes ermöglichte den ungehemmten Gefühlsausdruck, wie er im persönlichen Gespräch, vor allem aber in der Alltagssituation, der die Anwesenheit zu Grunde gelegen hätte, nie zu Stande gekommen wäre.41 39 | Gustl erkrankte an Malaria und einer schweren Lungenkrankheit. 40 | Brief 28.3.1955. 41 | Bernold/Gehmacher stellen fest, dass „Briefe als Träger intimer Botschaften und Geheimnisse, die nicht öffentlich geworden sind, funktionieren (können)“. Monika Bernold/ Johanna Gehmacher, „Mittwochsmonologe“ – ein Freundinnenbriefwechsel um 1900, in: Hämmerle/ Saurer (Hg.), Briefkulturen und Geschlecht, 113-131, 121; Kraft, Stimme, 33.

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Die große räumliche Entfernung indes wird in Goldys Briefen niemals als Belastung dargestellt. Die Interpretation liegt nahe, dass die nie stattfindende Erwähnung des Fernseins des Bruders als Selbstschutz verstanden werden kann.42 Indem die Distanz zu der engsten Vertrauensperson nicht ausgesprochen wurde, war ihre Vehemenz nicht präsent. Zwar werden die Besonderheiten des fernen Landes, die exotischen Erlebnisse des Bruders, nie jedoch dessen Rückkehr thematisiert. Selbst in den schlimmsten, bedrohlichsten Phasen seiner Krankheiten, wurde die Möglichkeit einer Heimreise nur einmal und in sehr kurzer Form angesprochen.43 Sehr viel vehementer wird dagegen der Wunsch artikuliert, ebenso aufregende und vielfältige Abenteuer wie Gustl zu erleben. Ein mögliches Treffen der Geschwister in Form eines Besuches Goldys in Indonesien wurde wiederum ebenfalls nur einmal in Erwägung gezogen – in Zusammenhang mit der Organisierung einer eigenen medizinischen „Mission“ in Nordindien.44 Neuerlich wird die Ambivalenz des geschwisterlichen Verhältnisses spürbar. Neben den Versuch durch Nicht-Erwähnung den Schmerz über die Trennung zu verdrängen, tritt der Wunsch es dem Bruder gleich zu tun, zu reisen, Abenteuer zu erleben. Auch in diesem Zusammenhang werden durchaus nachvollziehbare Neidgefühle kaum ausformuliert. Vielmehr waren diese nur dann an- und aussprechbar, wenn sie in der Umschreibung der eigenen Reisesehnsucht zum Thema werden konnten. Zürich und die Schweizer Gesellschaft wurden als „be- und eingrenzend“ erlebt. Die Überwindung des empfundenen Hindernisses wurde durch die ausgedehnten Afrikareisen zu erreichen gesucht. Die während dieser Fahrten an Gustl gerichteten Briefe waren von einer ansonsten nicht gekannten Ausführlichkeit bestimmt. Detailgenau und in schillernden Farben erfolgte die Schilderung der Wüstenfahrten, Treffen mit Tuareg, politischen Beobachtungen und später der miterlebten außergewöhnliche Riten und spannenden Erkenntnisse der Forschungsunternehmungen. Dabei wird deutlich, dass die wunderbaren Erlebnisse mit dem Bruder geteilt werden sollten, gleichzeitig wurde die eigene „Potenz“ Abenteuer zu erleben aufgezeigt. Die nie ausgelebte Konkurrenz wurde solcherart in geradezu homöopathischen Dosen kompensiert.45 Einer der letzten Briefe, geschrieben in Sangha am 11. März 1960, drückt Goldys Freude darüber aus, dass Gustl eine Stelle in Äthiopien erhalten hatte – denn die Organisation eines Treffens war leicht zu argumentieren, ließ es sich doch bestens mit einer Reise verbinden. 42 | Gleichzeitig darf vermutet werden, dass der Fortgang des Bruders zu einem gewissem Ausmaß auch eine Befreiung war – die sich selbst einzugestehen natürlich ebensowenig möglich war, wie die Einschränkungen, die durch den Bruder erfahren wurden. 43 | Goldy meint in dem Brief, angesichts der Krankheit möchte sie Gustl zur Heimkehr bewegen, relativiert aber sofort, indem sie schreibt, er wisse am besten, was er brauche, außerdem seien auch der Zürcher Trott und die Hektik äußerst ungesund (Erwähnung von Herzinfarkten von bekannten Ärzten). Brief „Henri Tanner“. 44 | Brief 2.6.1956; Goldy erlebte ihr Zürcher Dasein als langweilig, fühlte sich mit knapp fünfzig Jahren eindeutig zu jung, um „zur Ruhe zu kommen“ und war deshalb gemeinsam mit Paul Parin auf der steten Suche nach Gründen, ins Ausland zu reisen, dort aktiv tätig zu werden. Die angesprochene Hilfsaktion kam nicht zu Stande. 45 | Brief 22.12.1954; 3.1.1955; 6.1.1955; 12.1.1955; 4.1.1960; 19.2.1960; 5.4.1960.

L ANDKARTEN

DER

T ERRITORIEN

DES

S ELBST

Zu einer Umsetzung der Pläne sollte es jedoch nicht mehr kommen, Gustl Matthèy kam wenige Monate später in Äthiopien ums Leben.46 Der schwere Schlag, den der Verlust des Bruders für Goldy bedeutete, musste eine Neuordnung der „Landkarte“ und ihrer „Territorien“ herbeiführen. Diese erfolgte jedoch nicht in einem Überdenken von Rollenstrukturen – vielmehr ist Goldy Parin-Matthèys endgültige Hinwendung zur Psychoanalyse in diesem Sinn zu verstehen.47

R ESÜMEE Es zeigt sich einmal mehr, dass „die eine“ geradlinig und stets nach demselben Muster handelnde Persönlichkeit einer Person nicht existiert, vielmehr ein situationsgebundenes Agieren und Reagieren gegeben ist. Der Rahmen, innerhalb dessen sich diese Bewegung vollzieht, kann dabei äußerst weit gesteckt sein. Die Haltung Goldy ParinMatthèys zu „Weiblichkeit“ belegt dies auf eindrückliche Weise, wobei dem Medium des Briefes eine zentrale Rolle zukommt. Die Briefe an den Bruder in ihrer Direktheit und Offenheit spiegeln das innige tiefe Verhältnis zwischen den Geschwistern. Geschrieben von einer Psychoanalytikerin ist ein hoher Grad an Reflexion präsent, gleichzeitig eine ungehemmte Expressivität. In der Analyse persönlicher Eigenschaften und Vorgehensweisen selbstkritisch und schonungslos hat Goldy Parin-Matthèy die von außen gesetzten Grenzen ihrer Freiheit nicht erkennen wollen und können.48 Einschränkungen erlebte sie in erster Linie durch ihren Bruder, durch die Bevorzugung, die er erfuhr, aber auch durch konkret von ihm gesetzte Handlungen. Gleichzeitig kann Gustl mit Sicherheit als zentralste Persönlichkeit in Goldys erster Lebenshälfte bezeichnet werden. Sein prägender Einfluss fand in einer tiefen Zuneigung und Liebe von Seiten Goldys seinen offenkundigen Ausdruck und er genoß in jeglicher Hinsicht einen Sonderstatus. Ein „Sturz“ seiner Person erschien Zeit ihres Lebens unmöglich. In einer geradezu typischen psychischen Entlastungshaltung waren es stets andere Bezugspunkte oder Menschen, die Goldy in ihren Überlegungen als entscheidende „(Belastungs-)Faktoren“ wahrnahm. Erst die Kenntnis des Quellenmaterials der Briefe und 46 | Die Umstände seines Todes konnten nie geklärt werden, was eine zusätzliche Belastung für Goldy und seine Freunde bedeutete. 47 | Goldy hatte lange Zeit damit gehadert das von ihr zuvor betriebene hämatologische Labor aufzugeben. Vgl. Parin/Parin-Matthèy, Subjekt, 255. In den Briefen an Gustl wird beständig eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Dasein als Psychoanalytikerin zum Ausdruck gebracht. 48 | Siehe dazu die Überlegungen Prokops zu Liebe/Identität/Selbstaufgabe: Ulrike Prokop, Die Funktion der Literatur für die Selbstthematisierung von Weiblichkeit im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hg.), Identitäten, Erinnerung, Geschichte, Identität, Frankfurt am Main 1999, 166-180. Vergleiche auch Berghold, der ausführt, dass es eben gerade die besonders unangenehmen Aspekte sind, denen sich auch erfahrene AnalytikerInnen in einer Ich-Analyse entziehen. Josef Berghold, Feindbilder und Verständigung. Grundfragen der politischen Psychologie, Wiesbaden 2007.

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die dadurch durchführbare Analyse einer Innenperspektive – durch das an den Bruder gerichtete Selbstzeugnis, das die geschwisterliche Beziehung beleuchtet – sowie einer Außensicht, ermöglicht es, den Schluss zu ziehen, dass die frühen „Brüdergemeinden“ der Goldy Parin-Matthèy sowohl Befreiung und Halt, als auch Eingrenzung und SelbstBeschränkung darstellten. Der „Klassensprung“ bedeutete zwar eine Weiterentwicklung des bürgerlichen Mädchens, hatte jedoch nicht dessen Verschwinden zur Folge. Tief verwurzelte Geschlechterbilder blieben aufrecht, kamen teilweise auf subtile Weise zum Vorschein, waren insbesondere im Vorbild aller „Brüdergemeinden“, in der Beziehung zu „Gusticek“ präsent und kamen in den Briefen an ihn zu Tage. Buschkatz‘ und Panther waren und blieben ihren Territorien treu.

Mauer oder Trauer Ost-West-Grenzmarkierungen im Gedächtnisdiskurs am Beispiel eines Denkmalwechselspiels in Graz und Ljubljana um 1960 Monika Stromberger

Die Analyse des Kampfes um „interpretative Autorität“ als Teil des Gedächtnisdiskurses zeigt eine spezifische Qualität, wenn es sich um politisch (formal) neutrale Staaten handelt, die in von einer problematischen gemeinsamen Vergangenheit belasteten Nachbarschaft liegen wie Österreich und Slowenien/Jugoslawien. Welche Rolle spielen „Ost“ und „West“ in Hinblick auf die Beziehungen der beiden Staaten zueinander? Ist hier in der Nachkriegszeit die gemeinsame Vergangenheit das zentrale Element der diskursiven Grenzziehung? Welche Funktion haben das kulturelle Gedächtnis und seine sichtbaren Zeichen, Denkmäler, in diesem Zusammenhang – Barriere oder Brücke? Welche Rolle spielt der Journalismus in der Konstruktion von Grenzen im Kopf? Diese Abhandlung bietet Antworten auf diese Fragen. Die Einleitung fokussiert auf den Einfluss von Zeitungsberichten auf die Wahrnehmung der Vergangenheit und der Grenzziehungen zwischen Ländern/Ideologien/Erinnerungen und auf den Diskurs über kollektives Gedächtnis von Ländern im „Dazwischen“, der Grauzone im bipolaren Weltbild der Nachkriegszeit. Den Hauptteil dominieren zwei Forschungsfelder: Erstens die Wahrnehmung von „Ost“ und „West“ in Österreich und Slowenien/Jugoslawien in Hinblick auf die Position des jeweils anderen, speziell in Bezug auf die durchlässiger werdenden (politischen) Grenzen; der Schwerpunkt liegt hierbei auf den 1950er und frühen 1960erJahren. Zweitens werden jene Bilder beschrieben, die in der Presse anlässlich der Errichtung von zwei Denkmälern 1961 und 1962 generiert worden sind – als konkretes Beispiel für Gedächtnispolitik in einer Phase, da Abgrenzungen von- und zueiander immer mit dem Blick auf die sich global verschärfende Dichotomie zweier Gesellschaftssysteme argumentiert worden sind. Darüber hinaus werden einige weitere Beispiele für die Wahrnehmung von „Ost“ und „West“ bzw. die Veränderung der und Gegenbilder zu dieser Bipolarität präsentiert – analog zur Veränderung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten.

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Dies ist ein wichtiger argumentativer Exkurs, um den Hintergrund und die Relevanz der Ereignisse 1961/62 im Kontext einer breiteren Geschichte der Beziehungen beider Staaten zu verstehen. Auf der Ebene der (wechselseitigen) Wahrnehmung und der Konstruktion von Bildern gibt es eine (zeitlich und phänomenologisch) andere Dynamik als im politischen und ökonomischen Kontext: Während letztere sich kontinuierlich bessern und eine frühe „Politik der Entspannung“ zwischen den beiden Staaten zu neuen Dialogen führt, sind konfliktreiche Diskurse über die gemeinsame Vergangenheit und das Bild des „Anderen“ als Feind jenseits ideologischer Grenzen bis heute nicht ganz verschwunden. Die folgende Analyse präsentiert also verschiedene Aspekte von image construction in Hinblick auf Gedächtnisdiskurse am Beispiel zweier Denkmäler.

VON G RENZE

UND

G EDÄCHTNIS

IN DER

P RESSE

Die Relevanz der Presse bei der Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern ist ebenso evident wie hoch, insbesondere in einem Zeitabschnitt, da audiovisuelle Medien die Öffentlichkeit noch nicht mit ihren wirkmächtigeren images dominierten. Man ist an Benedict Andersons Ansätze hinsichtlich seiner „imagined communities“ erinnert, Ansätze, in denen der Autor die Entwicklung der modernen Nation unter anderem als die Entwicklung der Gemeinschaft der Zeitungslesenden definiert.1 Die Grenzen der Nation sind markiert durch die Reichweite ihrer Massenmedien. In Bezug auf soziale Prozesse ist deren Rolle doppelt konnotiert: sowohl als Akteurinnen und Katalysatorinnen von Veränderungen als auch als deren Rezipientinnen und Kritikerinnen. „In so far as ideologies are tied into and arise out of social and material practices and give expression and articulation to them, the media inevitably have a political effect on social reproduction. – The ideological work of media language includes particular ways of representing the world, particular constructions of social identities and social relations.“2

Betreffend die Konstruktion vom „Selbst“ und dem „Anderen“3 gelten Mediendiskurse als „zentraler Ort der Formierung subjektiver Haltungen und kultureller Positionen einer Gesellschaft“4 . So (re)produzieren sie die Bedeutung von Ereignissen, und dies

1 | Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, erw. Aufl., Berlin 1998, insbes. 48-52. 2 | Oktar Lütfiye, The ideological organisation of representational processes in the presentation of us and them, in: Discourse & Society 12 (2001) 3, 313-346, 320. 3 | Bernd Matouschek/Ruth Wodak/Franz Januschek, Notwendige Maßnahmen gegen Fremde? Genese und Formen von rassistischen Diskursen der Differenz, Wien 1995, 60. 4 | Zit. n.: Bernd Scheffer, Medien und Fremdenfeindlichkeit. Alltägliche Paradoxien, Dilemmata, Absurditäten und Zynismen, in: Ernst Hess-Lüttich/Christoph Siegrist/Stefan

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gilt umso mehr für die Moderne, in der Identitätskonstruktionen auf einer „Politik der Symbole“5 basieren und einer Dissemination durch diskursive Massenreproduktion bedürfen. Gedenkfeiern wiederum sind umfassend konnotierte Ereignisse, die solche Politiken repräsentieren. Gedächtniskultur insgesamt ist ein wichtiges Forschungsfeld, wenn es um wechselseitige Beziehungen einzelner Staaten geht – speziell wenn eine integrative Perspektive auf die Zeit des Kalten Krieges und der dieser zugeschriebenen, globalen ideologischen Trennung fokussiert wird, die die Wahrnehmung der Zeit bis 1989 noch heute prägt.6 In diesem Zusammenhang stellt die Presse eine wichtige Plattform dar, um kollektive Gedächtnisphänomene zu diskutieren und einen Blick auf „Kontinuität der Kultur“7 und damit eine integrative Interpretation der Vergangenheit zu ermöglichen: „Journalismus als eine Art Gedächtnisarbeit“.8 Insbesondere in der Periode des Wandels der Wahrnehmung der traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der neuen Tendenzen in der Auseinandersetzung mit Problemen des Kalten Krieges (in den 1960er Jahren) verursachen die Debatten zwischen dem kommunikativen und dem kollektiven Gedächtnis normative Konflikte hinsichtlich der Interpretation der Vergangenheit.9 Einerseits erlaubt die politische Annäherung zwischen ideologischen Feinden keine wechselseitige Dämonisierung mehr – sogar in den sozialistischen Gesellschaften selbst nimmt die Bedeutung des Widerstands gegen die faschistischen Regimes zugunsten der Relevanz der neuen, „revolutionären“ Zukunftsentwürfe ab. Auf der anderen Seite gibt es ungelöste Probleme zwischen den früheren GegnerInnen hinsichtlich der Wertigkeit des Widerstands, der Integration von Opfern der NS-Verfolgung in die Gesellschaft und der Akzeptanz der Verantwortlichkeit für die NS-Verbrechen – Probleme, die noch immer Teil des kulturellen und sogar kom-

Würfel (Hg.), Fremdverstehen in Sprache, Literatur und Medien (= Cross-Cultural Communication 4), Frankfurt am Main et al. 1996, 339-374, 355. 5 | Vgl. Murray Edelman, The Symbolic Uses of Politics, 2. Aufl., Chicago 1985; Reinhard Kannonier/Helmut Konrad, Eliten, Konflikte und Symbole, in: Christian Gerbel et al. (Hg.), Urbane Eliten und kultureller Wandel. Bologna-Linz-Leipzig-Ljubljana (= Studien zu Gesellschafts- und Kulturgeschichte 9), Wien 1996, 7-16, 11-12. 6 | Vgl. z.B. Gregor Thum, „Europa“ im Ostblock. Weiße Flecken in der Geschichte der europäischen Integration, in: zeithistorische forschungen 1 (2004) 3 – online journal: http:// www.zeithistorische-forschungen.de/portal/alias__zeithistorische forschungen/lang__en/ tabID__ 40208270/, ohne S. [Stand 8.9.2011]. 7 | Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart-Weimar 2003, 156-185, 157. 8 | Barbie Zelizer, Journalism’s Memory Work, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.), Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin-New York 2008, 379-388, 380. 9 | Vgl. dazu u.a.: Jan Assmann, Communicative and Cultural Memory, in: Erll/Nünning (Hg.), Cultural Memory Studies, 109-118.

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munikativen Gedächtnisses sind.10 Der Ausweg aus diesem Dilemma war (und ist) die Idee kollektiver Trauer: Die Möglichkeit einer transnationalen und trans-ideologischen Annäherung über das kollektive Gedenken an die Toten beider Seiten. Diese Ausführungen basieren also auf der These, dass kollektive europäische Identität sich auf gemeinsames Gedenken an traumatische Erfahrungen gründen lässt – dies bedeutet: die Wahrnehmung von Europa ohne Teilung in Ost- und Westsphäre und Verteidigung der Grenzen dazwischen.11 In diesem Sinne kann die Errichtung von Denkmälern als ambivalente Annäherung an transnationale Rituale der Erinnerung gesehen werden, in welchen zwar einerseits Erinnerungen an Siege ehemalige FeindInnen ausschließen oder Opposition konstruieren können,12 Trauer andererseits jedoch neue Formen von Kommunikation und kulturellem Austausch ermöglicht. Dieser Zugang zeigt die Probleme in der Konstituierung neuer Beziehungen zwischen vormaligen FeindInnen aufgrund der Präsenz der Vergangenheit und ihrer durch ideologische Prämissen und Vorurteile gefärbten Interpretation auf: Der Kampf um „interpretative Autorität“ als Teil des Erinnerungsdiskurses13 wirkt sich wohl auf die (politische) Absicht, neue Zukunftsperspektiven zu entwerfen, aus, reduziert aber Gedenkrituale umgekehrt nicht auf das Ergebnis genuiner Machtpolitik.14

Ö STERREICH

UND S LOWENIEN /J UGOSLAWIEN EINE SCHWIERIGE B EZIEHUNGSGESCHICHTE



Die österreichische Nachkriegszeit ist charakterisiert durch die Politik der Nicht-Integration (in die entstehenden Blöcke), durch militärische Neutralität und die kulturelle und ökonomische Orientierung am „Westen“ Europas. Im österreichischen kulturellen Gedächtnis symbolisiert der „Osten“ eine Gefahr oder einen Feind – teilweise Folge einer langen Traditionspflege, die sich auf Erzählungen über die so genannten „Tür10 | Ein Beispiel: Hans Breitegger, Tito-Truppen wüteten auch im Grenzland, in: Kleine Zeitung. Ausgabe Ennstal, 7.3.2009. – Anlässlich des Fundes eines Massengrabs im steirischen Teil Sloweniens (Opfer kommunistischer „Säuberungsaktionen“ nach 1945) schrieb der Autor: „Die Details der Nachkriegsverbrechen im Bergwerk bei Laško, Slowenien, erinnern an den größten Massenmord in der Steiermark.“ – Dies ist nur einer von vielen Artikeln im Frühjahr 2009, die ähnliche Bilder konstruieren. 11 | Bernd Giesen, Europäische Identität und transnationale Öffentlichkeit. Eine historische Perspektive, in: Hartmut Kaelble/Martin Kirsch/Alexander Schmidt-Gernig (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main-New York 2002, 67-84, 67 12 | Ebda., 79-80 13 | Vgl. z.B. Heidemarie Uhl, Kultur, Politik, Palimpsest. Thesen zu Gedächtnis und Gesellschaft, in: Johannes Feichtinger et al. (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherung, Innsbruck-Wien-Bozen 2006, 31. 14 | Vgl. Jay Winter, Sites of Memory and the Shadow of War, in: Erll/Nünning (Hg.), Cultural Memory Studies, 61-75, 70.

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kenkriege“ beruft, teilweise Erbe der vorherrschenden politischen Programme und diskursiven Konstruktionen der Ersten Republik, teilweise Konsequenz der nationalsozialistischen Propaganda. Nach 1945 charakterisierte diese antikommunistische Tendenz – und der Kommunismus war hier untrennbar mit dem „Osten“ verbunden – nicht nur die Konservativen in der ÖVP. Auch die Sozialistische Partei versuchte, sich von austromarxistischen Wurzeln im Allgemeinen, von der KPÖ im Besonderen zu distanzieren. Dies hatte unter anderem Auswirkungen auf die Gedächtnispolitik der Parteien, die sich zunehmend auf Distanz zur als kommunistisch definierten Widerstandsbewegung und den Verbänden ehemaliger KZ-InsassInnen begaben (die Integration ehemaliger NationalsozialistInnen in das System der Republik trug dazu das Ihre bei). Was die Wahrnehmung des Nachbarn betrifft, so sind zwei – obgleich einander beeinflussende – Prozesse zu unterscheiden: die Entwicklung des ökonomisch-politischen und jene des kulturellen Feldes. Nach der formellen Deklaration des Kriegsendes im Jahr 1951 durch die jugoslawische Föderation bzw. als Konsequenz ihrer Akzeptanz des Österreichischen Staatsvertrages 1955 wurden die bilateralen Beziehungen neu definiert. In den 1960er Jahren wurde dieser Prozess im Rahmen der neuen Bemühungen Österreichs, die Beziehungen zu den Ländern des kommunistischen „Ostens“ zu verbessern, weiter intensiviert. Jenseits dieser ökonomisch motivierten Strategie herrschte in Hinblick auf die Wahrnehmung der anderen Seite jedoch Kontinuität. Dies gilt auch für die Konstruktion von Bildern in der – hier gegenständlichen – steirischen öffentlichen Sphäre: eine Mischung aus dem überkommenen „österreichischen“ Antislawismus und Antikommunismus gepaart mit einer negativen Perzeption aufgrund der rezenten „steirischen“ Vergangenheit: die Grenzziehung und der Verlust der so genannten Untersteiermark (Slovenska Štajerska) 1918, die als kommunistisch definierte Widerstandsbewegung im Grenzraum („Partisanen“) und die Auseinandersetzung um die deutschsprachige Minderheit in Slowenien. Deshalb wurde bis in die 1960er Jahre Jugoslawien (und damit Slowenien) in Hinblick auf diskursive Grenzkonstruktionen als „Gegner“, als „das Andere“ wahrgenommen. Für die Konservativen stellte die Föderation sogar den „Osten“ selbst mit allen erwähnten Implikationen dar. Allerdings sahen sogar die SozialistInnen eine Gefahr in Jugoslawien, sofern dieses zum „östlichen Block“ driften würde, insbesondere nach der Verbesserung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Balkanstaat. Damit befand sich die SPÖ in der „guten“ Gesellschaft anderer Mitglieder der Sozialistischen Internationale. Die slowenischen Historiker Mitja Ferenc und Božo Repe beenden ihre Analyse dieser ambivalenten Situation mit einer pointierten Anmerkung: „Unabhängig davon [der wachsenden Offenheit auf beiden Seiten – Anm. M.S.] stellte die Südgrenze für Österreich eine große Belastung dar, nicht nur im militärischen Sinne, sondern auch psychologisch (die letzte Kanone, die auf Slowenien gerich-

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M ONIKA S TROMBERGER tet war, wurde erst 2002 symbolisch beseitigt, d.h. zehn Jahre nach der slowenischen Unabhängigkeit).“15

Die jugoslawische Haltung war nicht immer eindeutig. Ab dem Zeitpunkt des Bruches mit Stalin 1948 bis in die Mitte der 1950er Jahre gab es Tendenzen der politischen Öffnung der Föderation, intern gab es heftige Diskussionen zwischen ihren BefürworterInnen und GegnerInnen. Danach kam dieser Prozess für ungefähr zehn Jahre zum Stillstand, ehe sich Mitte der 1960er Jahre die Lage wieder zum Positiven veränderte, indem Restriktionen aufgehoben oder abgeschwächt wurden.16 Die neu gestalteten kulturellen Beziehungen zu den Nachbarstaaten waren direkt beeinflusst von der Wahrnehmung des „Anderen“ und durch ideologisch motiviertes Misstrauen in Hinblick auf die Gefahr einer „Infektion“ durch „fremde kulturelle Einflüsse“. Nach einer kurzen Unterbrechung aufgrund der Diskussionen um die slowenische Minderheit in Kärnten wurden die kulturellen Kontakte zu Österreich in den 1960er Jahren wieder intensiviert.17 Was die Wahrnehmung der österreichischen Position im ideologischen Umfeld des Kalten Krieges betrifft, so war es für Jugoslawien „ein Ort in Europa, nicht im Westen oder Osten“,18 wie im Zuge der Berichte über den Österreichischen Staatsvertrag ausgeführt wurde – ein Ereignis, das in Slowenien ein großes Medienecho auslöste: „Österreich ist frei und unabhängig“.19 Dies korrespondiert sehr gut mit der jugoslawischen Selbstpräsentation, formuliert in der Rede des wichtigsten Repräsentanten der Föderation, (Josip Broz) Tito, im Jahr 1950, publiziert im österreichischen Journal Jugoslawien heute: „Wir sind das einzige neutrale und unabhängige Land, das überhaupt keine Verpflichtungen dem Osten oder Westen gegenüber hat.“20 Dies bringt deutlich zum Ausdruck, dass – unabhängig von allen politischen Problemen mit dem Nachbarn – die eigene Position auf die österreichische Situation gespiegelt wurde, um neue Kooperationen mit einem „unabhängigen und freien Staat“ unter dem (explizit so definierten) Aspekt, Frieden zu sichern

15 | Tone Ferenc/Božo Repe, Jugoslawien/Slowenien und Österreich zwischen Ost und West, 1955-1991, in: Dušan Nećak et al. (Hg.), Slovensko-avstrijski odnosi v 20. stoletju. Slowenischösterreichische Beziehungen im 20. Jahrhundert (= Historia 8), Ljubljana 2004, 489-498, 493. 16 | Vgl. u.a. Božo Repe, Refleksija treh največih jugoslovanskih povojnih znotrajpartijskih obračunov (“Informbiroja”, “Đilasovščine” in partijskega “Liberalizma”) v Sloveniji, in: Časopis za zgodovino in narodopisje 70/35. N.V. (1999) 1-2, 239-253; Aleš Gabrič, Sprememba kulturpolitične usmeritve po informbirojevskem sporu, in: Prispevki za novejšo zgodovino 38 (1998) 1-2, 137-150; Jože Pirjevec, Jugoslavija in zahodni zavezniki: 1945-1955, in: Aleš Gabrič (Hg.), Jugoslavija v hladni vojni. Teze za razpravo na znanstvenemu posvetu, Ljubljana, 8.-9. maj 2000, Ljubljana 2000, 15-18. 17 | Vgl. Aleš Gabrič, Kulturelle Zusammenarbeit zwischen Slowenien und Österreich nach 1945. In: Nećak et al. (Hg.), Slovensko-avstrijski odnosi, 585-610, 591-595. 18 | Avstrija je mesto v Evropi, ne pa na Zahodu ali Vzhodu, in: Ljubljanski Dnevnik, 2.6.1955. 19 | Avstrija je svobodna in neodvisna, in: Slovenski Poročevalec, 16.5.1955. 20 | Jugoslawien heute, 9.6.1950.

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und gute nachbarschaftliche Bedingungen herzustellen, zu initiieren.21 In diesem Sinne wurde die jugoslawisch-österreichische Grenze schließlich bis in die 1970er Jahre die „offenste Grenze zwischen einem sozialistischen und kapitalistischen Staat überhaupt“22 (häufig als „grüne Grenze“ bezeichnet). Die frühen 1960er Jahre leiteten diese neue Periode ein, wobei sich die wechselseitige Wahrnehmung langsam differenzierte, teilweise als Ursache der Veränderungen, teilweise als ihre Konsequenz. Neue Paradigmen stellten die „Grenzen im Kopf “ und die Unterscheidung zwischen „Ost“ und „West“ in Frage, die Idee eines „Dazwischen“ entstand23 – wobei dies ein langer, langsamer Prozess mit vielen Rückschlägen sein sollte – wie zuvor beschrieben: Erst 2002 wurde der Nachbar Slowenien nicht mehr als militärischer Gegner definiert. Die Entwicklung der „Österreichisch-Jugoslawischen Gesellschaft“ reflektiert die Veränderungen der neuen Beziehungen. Die „Gesellschaft zur Pflege kultureller und wirtschaftlicher Beziehungen mit Jugoslawien“ – so die offizielle Bezeichnung – wurde im April 1946 in Wien von bekannten PolitikerInnen und Intellektuellen gegründet wie etwa Franz Theodor Csokor, Victor Matejka oder Paula Preradović.24 Sprachkurse und sportliche Wettbewerbe zählten zu den ersten Aktivitäten des Vereins, wechselseitiger kultureller Austausch war sein Masterplan. Der Cominform-Konflikt (1948) hinterließ Spuren auch in diesem Bereich. Die KPÖ zog sich zurück mit der zeitgenössisch häufig strapazierten Phrase, dass sie kein „faschistisches Jugoslawien“ unterstützen wollte.25 Unabhängig davon war die Gesellschaft sehr rege. Im Jahr 1950 wurde beispielsweise ein großes Kulturfestival in Graz mit KünstlerInnen aus Ljubljana organisiert. Weitere Ereignisse folgten, allerdings nur auf Basis von Kooperationen zwischen einzelnen Institutionen; formale Abkommen auf staatlicher Ebene sollten erst im Laufe der 1970er Jahre ratifiziert werden.26 Im Jahr 1961 initiierte nun diese „Österreichisch-Jugoslawische Gesellschaft“ die Renovierung eines Denkmals am Grazer Zentralfriedhof. Als eher bescheidene Version war dieses im Jahr 1946 für „Freiheitskämpfer gegen die Nationalsozialisten“ errichtet worden. Das neue Mahnmal sollte nun den ermordeten WiderstandskämpferInnen und Opfern des NS-Regimes – namentlich „1228 Jugoslawen, 900 Österreicher, die anderen Tschechen, Polen, Russen, Ungarn, Franzosen, Italiener, Deutsche, Juden und 21 | Pozdravljamo neodvisno Avstrija, in: Ljudska Pravica, 14.5.1955. 22 | Ferenc/Repe, Jugoslawien/Slowenien und Österreich, 492. 23 | Vgl. zu dieser Idee auch: Helmut Konrad/Monika Stromberger, „In der Mitte am Rand“. Zwischeneuropa, in: Dies. (Hg.), Die Welt im 20. Jahrhundert nach 1945 (= Die Welt 10002000), Wien 2010, 196-219. 24 | Vgl. N.N., Neue Gesellschaft gegründet, in: Österreichische Zeitung. Zeitung der RA für die Bevölkerung Österreichs, 19.4.1946. 25 | Ernst Fischer, KPÖ, siehe: Generalversammlung der Gesellschaft Österreich-Jugoslawien, in: Jugoslawien heute, 24.3.1950. 26 | Werner Weilguni, Österreichisch-jugoslawische Kulturbeziehungen 1945-1989 (= Schriftenreihe des Ost- und Südosteuropa-Instituts 17), Wien 1990, 25-26; vgl. auch Gabrič, Kulturelle Zusammenarbeit.

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Engländer“27 – gewidmet sein. Die Kosten von rund einer Million Schilling wurden von der „Gesellschaft“ und von der Jugoslawischen Föderation getragen. Ausführender Künstler war der slowenische Architekt Boris Kobe. Rund um die Enthüllung des „Internationalen Mahnmals“ wurden die genannten politischen Bruchlinien und ideologischen Konflikte in Österreich im Allgemeinen, der Steiermark im Besonderen sichtbar.28 Die Wiedererrichtung war ein symbolisches Ereignis in Hinblick auf die Rekonstruktion vom „Selbst“ und dem „Anderen“ in dieser Periode des Kampfes um die interpretative Vorherrschaft über das kulturelle Gedächtnis. Diskursive Trennlinien ließen sich keineswegs entlang politischer Parteigrenzen festmachen. Obwohl der Hauptinitiator der Neugestaltung, der Vizepräsident der Österreichisch-Jugoslawischen Gesellschaft Fritz Matzner, ein Sozialist war, der sich – selbst Widerstandskämpfer – im Gebiet der jugoslawischen Partisanen vor der NS-Verfolgung in Sicherheit bringen hatte können, ging die steirische SPÖ auf rhetorische Distanz zu diesem Vorhaben. Die steirische ÖVP lehnte das Mahnmal rundweg ab. Landeshauptmann Josef Krainer deklarierte es als „private Angelegenheit der Österreichisch-Jugoslawischen Gesellschaft“. Allerdings war er sich der internationalen Aufmerksamkeit, die das Denkmal auf sich zog, bewusst, und so ergänzte er bei derselben Gelegenheit, dass er Einseitigkeit in der Wahrnehmung vermeiden wolle. Er plädiere „nur“ für eine wechselseitige Akzeptanz der Opferrolle.29 Wenig überraschend war es einzig die KPÖ, die diese Wiedererrichtung in repräsentativer Form explizit begrüßte – unter Betonung der ÖsterreicherInnen und der „Mitglieder anderer Nationen“ unter den Opfern.30 Auch den KommunistInnen schien es notwendig (in Hinblick auf ihre Distanzierung nach 1948) zu unterstreichen, dass hier nicht „exklusiv“ der jugoslawischen Partisanen zu gedenken sei. Dieser Konflikt wurde bei der Enthüllung des Denkmals teilweise sichtbar. Im Angesicht von rund 5.000 österreichischen und internationalen Gästen wies Karl Brunner, Landtagspräsident (ÖVP) und selbst in der NS-Zeit inhaftiert, Österreichs Verantwortung für die NS-Verbrechen zurück. Als Konsequenz widmete er das Mahnmal „allen Opfern des Krieges“.31 Der Kampf um die „richtige“ Interpretation der jüngsten Vergangenheit entbrannte rund um dieses Ereignis, und in der Presse wurden den ZeitgenossInnen vertraute Bilder von Jugoslawien abgerufen.

27 | „Hütet Freiheit und Frieden…“, in: Kleine Zeitung, 28.10.1961. 28 | Vgl. Heidemarie Uhl, Transformationen des österreichischen Gedächtnisses. Geschichtspolitik und Denkmalkultur in der Zweiten Republik, in: http://www.oeaw.ac.at/kkt/ mitarbeit/uhl/uhl2, ohne S. [Stand 16.9.2011]. 29 | Zit. n.: Heidemarie Uhl, Gedächtnisraum Graz. Zeitgeschichtliche Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum nach 1945, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 25 (1994), 625-641, 634-639; siehe auch: „Hütet Freiheit und Frieden…“. 30 | Uhl, Gedächtnisraum Graz, 634. 31 | Ebda., 636-637.

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Im Lichte der oben skizzierten neuen Bemühungen um friedliche Nachbarschaft versuchte Jugoslawien, den Konflikt zu lösen, indem ein „Gegendenkmal“ auf dem zentralen Friedhof Žale in Ljubljana erlaubt wurde – enthüllt exakt ein Jahr später. Die Österreichische Bundesregierung und die Landtage teilten sich die Kosten von 1,3 Millionen Schilling. Der ausführende Künstler kam aus Graz: der Bildhauer Wolfgang Skala, bekannt für sein Freiheitsmonument im Grazer Stadtpark (1960).32 Wenig überraschend wurden beide Gedenkstätten auf Friedhöfen errichtet und enthüllt an jenem Tag, der in beiden Gesellschaften dem Gedenken der Toten gilt. Was Ljubljana betrifft, so ist hinzuzufügen, dass das Monument für die „toten Österreicher […]“ – weder der Begriff „Opfer“ noch der des „Soldaten“ kommt also zu diesem Zeitpunkt vor – auf jenem Teil des Friedhofs errichtet worden ist, in dem ähnliche Gedenkstätten für gefallene Deutsche und Italiener stehen.

B ILDERLANDSCHAFTEN : K ONSTRUKTIONEN UM DIE D ENKMÄLER 1961/62

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Das Denkmal in Graz heißt offiziell „Internationales Mahnmal“, um seine zentrale Bedeutung zu definieren: einen Markstein in der internationalen Gedächtnislandschaft. Als Brücke angelegt, auf deren Innenseite die Namen der Opfer stehen, wird es ergänzt durch eine Stele mit der Aufschrift „Hütet Freiheit und Frieden – denn wir starben für sie“ in elf Sprachen. Sowohl in Österreich als auch in Jugoslawien war die Brücke nach 1945 ein sehr populäres Symbol. In Reden während der Enthüllungszeremonie und in einigen Zeitungskommentaren wurde das Monument selbst als Brücke interpretiert, die mehr als nur gemeinsames Gedenken symbolisiert: erstens einen Meilenstein der neuen Beziehungen zwischen den Nachbarstaaten; zweitens ein Zeichen der Beziehung zwischen „allen Völkern“, die sich im Kampf gegen den faschistischen Feind getroffen hätten. Letzteres war schon der Schwerpunkt der Darstellung bei der ersten Errichtung 1946 gewesen: eine Art Kampfallianz gegen Faschismus.33 Allerdings war diese Allianzidee implizit Folge einer latenten Angst vor einer neuen „deutschen Gefahr“, wie sie noch in den 1950er Jahren besonders in Jugoslawien stark präsent war. Nicht zuletzt sollte das Mahnmal als Symbol für die Vermittlungsrolle stehen, die sich beide Staaten im Kalten Krieg zuschrieben: als Brücke zwischen den Blöcken. Insbesondere die jugoslawische bzw. slowenische Seite betonte die Bedeutung des Memorials nicht nur als Gedenkstein für das „größte slowenische Massengrab, das der Faschismus neben den Lagern, Gefängnissen und Fronten des Zweiten Weltkrieges in ganz Europa, eingerichtet hatte“, sondern auch als ein Zeichen für „die enge Verbindung der Schicksale unter faschistischer Herrschaft und den gemeinsamen Kampf für Freiheit“. Dies waren die Worte von Franc Leskošek-Luka, Repräsentant der „Vereini32 | Oesterreicher-Denkmal in Laibach, in: Tagespost, 3.11.1962. 33 | Vgl. Uhl, Transformationen.

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Abb. 1: Das Internationale Mahnmal in Graz

Quelle: Heimo Halbrainer

gung der Verbände der Kämpfer Jugoslawiens“ und damit einer zentralen Figur der Gedächtnispolitik der Föderation.34 In seiner Rede stellte er implizit die Teilung Europas angesichts der Opfer des Nationalsozialismus in Frage und attestierte dem existierenden Blocksystem Unfähigkeit bei der Lösung anstehender Probleme. Als Beleg dafür erwähnte er die atomare Bedrohung, die gerade von diesem System ausginge, und forderte die Zusammenarbeit gegen diese ein – die „atomare Bedrohung“ als eine neue Feindkonstruktion, um ein kollektives Identifikationsangebot für neutrale Staaten zu kreieren. Der österreichische Repräsentant, Bruno Pittermann (SPÖ) – als Vizekanzler der höchste Vertreter der Republik bei der Zeremonie –, übernahm ebenso das Bild einer 34 | Most miru in sodelovanja, in: Večer, 2.11.1961; siehe auch: S. Fras, Čuvajte svobodo in mir kajti zanju smo dali življenje, in: Delo, 3.11.1961.

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Brücke auf Basis des „gemeinsamen Schicksals“ die jüngste Vergangenheit betreffend, doch er verlangte sehr subtil und diplomatisch demokratische Zusammenarbeit gegen „jede Art von Repression“.35 Weniger enigmatisch gab sich Josef Krainer, der in der gemeinsamen Vergangenheit keine Brücke finden konnte, aber einen „Graben“, da er an die Geschichte der deutschsprachigen Minderheit in Slowenien erinnerte. Genau deswegen fordere er wechselseitiges Gedenken ein.36 Mehr noch als Pittermann etablierte er eine rhetorische Grenze zwischen dem demokratischen Selbst und dem ideologischen Anderen und nahm sogar ein unterentwickeltes Bewusstsein auf der anderen Seite wahr: „Und ich bin überzeugt, […] daß dieser Sinn, in dem dieses Denkmal errichtet wurde, früher oder später auch auf unsere engere Nachbarschaft übergreifen wird.“37 In dieser Zeit war Jugoslawien für die Konservativen ein Teil des „Ostens“. Was dies für sie bedeutete, kommt in einem Artikel der Kleinen Zeitung anlässlich der Enthüllung gut zum Ausdruck. Der Schreiber fragte: „Wurde und wird aber in Jugoslawien die Freiheit wirklich gehütet?“, und legte den Finger auf die gleichsam klassische Beschreibung kommunistischer Repression: Reiseeinschränkungen, politische Verfolgung, Präsenz der Sicherheitspolizei, die Opfer der Revolution nach 1945. Und er beendete seine Ausführungen mit einer Anspielung auf Berlin: „Der Grazer Theaterchor wird bei der Enthüllungsfeier am 1. November den Gefangenenchor aus ‚Nabucco‘ singen. Gerade jenen Chor, der jetzt täglich durch Lautsprecherwagen übertragen vom Westsektor Berlins aus gegen die von den Kommunisten errichtete Mauer brandet…“ 38

Unter Weiterverfolgung dieser Argumentationslinie berichtete die Kleine Zeitung nach der Feier, dass sich zwei Besucher aus Ljubljana den „offiziellen Freiheitshütern“ entzogen hätten, zumindest einer hätte also „jene Freiheit, die er meinte“ gewählt. Dies wäre „für Jugoslawien doppelt peinlich, da man gerade für diese Fahrt nach Graz die Teilnehmer besonders gesiebt“ hätte.39 Das Internationale Mahnmal in Graz war sogar für die österreichischen Zeitungen wichtiger als sein Gegenpart in Ljubljana. Skala kreierte auf dem Friedhof Žale einen großen, schwarzen Block mit der Aufschrift „Dem Völkerfrieden 1941-1945, den toten Österreichern“,40 vor dieses Monument platzierte er die Bronzefigur eines Jünglings mit einem zerbrochenen Schwert über dem Kopf.

35 | Offizielle Totengedenkfeiern in Graz, in: Neue Zeit, 27.10.1961. 36 | Zit. n.: Mahnmal: Krainer nimmt Stellung, in: Kleine Zeitung, 27.10.1961. 37 | Zit. n.: ebda. 38 | „Hütet Freiheit und Frieden…“. 39 | Mahnmal-Besucher wählte Freiheit, in: Kleine Zeitung, 4.11.1961 [Her. i.O]. 40 | Inzwischen steht dort „Dem Völkerfrieden. Zum Gedenken an die gefallenen Kameraden beider Weltkriege“ in Deutsch und Slowenisch.

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Abb. 2: Das Denkmal für die gefallenen Österreicher in Ljubljana

Quelle: Monika Stromberger

Zumindest dieses Setting war Anlass für kritische Bemerkungen in den Zeitungen. Die Jungenfigur hätte auf den Block gesetzt gehört, wurde angemerkt. Das wäre nicht geschehen, so unterstellten Journalisten, weil das zu dominant für die jugoslawische Administration gewesen wäre, „obwohl dies, wie auch Slowenen nach der Eröffnungsfeier erklärten, eine bessere Wirkung gehabt hätte“.41 Ein anderer Kritikpunkt war das Fehlen eines Kreuzes – für die Kleine Zeitung ein Indiz, dass die Differenz zwischen „denen“ (den säkularen KommunistInnen) und „uns“ (den KatholikInnen) demonstriert werden sollte. 42 Für die konservative Tagespost war das nur eine Frage der Schlampigkeit: „Das Kreuz wurde vergessen“, es könnte sonst, so der Autor des Artikels, keinen anderen Grund geben, weil ein Kreuz kein Widerspruch zu slowenischen Bräuchen wäre.43 Obwohl von geringerer Brisanz gibt es einige interessante Aspekte in den Berichten um das zweite Denkmal in Bezug auf Wahrnehmung und Bildkonstruktionen. Ein solcher Aspekt ist die Idee, dass dieses Memorial ein Symbol sein könnte für eine Art von Ge41 | Oesterreicher-Denkmal in Laibach. 42 | Gedenkstätte in Laibach enthüllt, in: Kleine Zeitung, 3.11.1962. – Die Gestaltungsfreiheit des Künstlers war kein Thema. Die unweit vom Österreicher-Denkmal stehende deutsche Gedenkstätte wird von Kreuzen dominiert. 43 | Oesterreicher-Denkmal in Laibach.

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walt, „die die Absicht hat, schwächere, kleinere Völker zu versklaven“.44 Das könnte als Anspielung auf die Dominanz der Supermächte gedeutet werden oder konkret auf die Kuba-Krise, ebenso auf die Rolle von „kleinen Nationen“ wie Österreich und Jugoslawien in dieser Konstellation. Ein anderer interessanter Punkt ist, dass in den österreichischen Zeitungen häufig „Slowenien“ als Akteur auf der anderen Seite wahrgenommen wurde, nicht „Jugoslawien“, und dass hier zwischen beiden differenziert wurde. Die sozialistische Neue Zeit betonte zum Beispiel, dass Slowenien das einzige Land Jugoslawiens wäre, das den ersten November als Totengedenktag45 feierte, und zitierte bei dieser Gelegenheit – und als Beleg – den Bürgermeister von Ljubljana, Marjan Tepina.46 Ein weiteres Indiz dafür ist die oben erwähnte Bemerkung zu den gemeinsamen Bräuchen von Österreich und (dem ursprünglich dominant katholischen) Slowenien. Jugoslawien gegenüber unterstrich die konservative Presse jedenfalls weiterhin ihre skeptische Distanz. Selbst nach der Errichtung des Gegendenkmals konnte die Kleine Zeitung kaum glauben, dass man dieses in Jugoslawien approbiert hätte. Allerdings wurde konzediert, dass dieses Ereignis eine „weitere Förderung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern“ sein würde.47 Die Tagespost führte pointiert aus, wo sie Jugoslawien situiert sah: „Als erstes Denkmal in einem osteuropäischen Land wurde ein Denkmal für Österreichs gefallene Soldaten des Zweiten Weltkrieges in Jugoslawien enthüllt, namentlich in Ljubljana.“48

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Die Ereignisse rund um die beschriebenen Denkmalsetzungen repräsentieren eine Übergangszeit. Neue Ideen und Bilder setzten an, die Diskurse zwischen „Ost“ und „West“ zu transzendieren: der „Südosten“ als neue Kategorie, Alpe-Adria-Kooperationen oder das Konzept Zentraleuropa. Insbesondere Jugoslawien profitierte nun vom Bild des „Südostens“ – als Abgrenzung zum „Osten“: Es bedeutete ein „Dazwischen“, nicht die „kalte Sowjetatmosphäre“ hinter dem Eisernen Vorhang, sondern eine nicht bedrohliche Form des Kommunismus, seine „sonnige Seite“ (zu verstehen hinsichtlich des wachsenden Tourismus an der Adriatischen Küste).

44 | Spominska svečanost na pokopališču padlih Avstrijcev, in: Delo, 2.11.1962. – S.a.: Spominska Svečanost na pokopališču padlih Avstrijcev, in: Večer, 2.11.1962. Eine kurze Beschreibung wurde publiziert in: „Za mir med narodi”. Komemoracije padlih v Sloveniji, in: Primorski dnevnik, 2.11.1962. 45 | Nach katholischem katholischem Ritus gilt der Allerseelentag als Totengedenktag, doch offenbar war um 1960 die gesellschaftliche Tradition, den Allerheiligentag als öffentlichen Gedenktag zu begehen, bereits Usus. 46 | Die österreichische Gedächtnisstätte in Laibach, in: Neue Zeit, 3.11.1962. 47 | Gedenkstätte in Laibach enthüllt. 48 | Oesterreicher-Denkmal in Laibach [Hervorhebung durch M.S.].

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Das Trigon-Konzept als künstlerische Zusammenarbeit zwischen Italien, Jugoslawien und Österreich startete 1963 und existierte mit Abstrichen bis 1995. Wirtschaftlich schlossen sich die drei Partner in der Alpe-Adria-Vereinigung zusammen – und dies trotz latenter politischer Probleme aufgrund der Haltung Kärntens gegenüber seiner slowenischen Minderheit.49 Diese Idee einer überregionalen Zusammenarbeit unter dem Namen „Alpe-Adria“ startete ihre konkrete Manifestation mit einer Messe 1962 – eine „Messe der guten nachbarschaftlichen Beziehungen“, wie der Delo dies beschrieb50 – und wurde in den 1970er Jahren institutionalisiert in der ARGE AlpeAdria.51 Eine letzte Idee, die erwähnt werden sollte, ist jene von Zentral- oder Mitteleuropa, ein weiteres Konzept, um die Grenzen zwischen „Ost“ und „West“ zu überschreiten. Vor allem in Österreich erreichte diese Vorstellung nach einer Phase der Ablehnung – der Mitteleuropa-Begriff hatte lange den Geruch deutscher Dominanz an sich – eine Renaissance unter PolitikerInnen wie Intellektuellen. Und Jugoslawien schätzte zu dieser Zeit die Anstrengungen Österreichs, eine engere Kooperation zwischen den „Donaustaaten” zu fördern. Den Höhepunkt erreichte diese Welle Mitte der 1980er Jahre, ehe die Wendejahre um 1990 und die Hinwendung Österreichs zur Europäischen Union die politische Relevanz dieser Idee minimierte.52

Z USAMMENFASSUNG Die 1960er Jahre waren der Beginn des Wandels in Hinblick auf die Veränderungen der Beziehungen zwischen den Blöcken. Dasselbe gilt für Gedächtnisdiskurse den Zweiten Weltkrieg betreffend. Die Wahrnehmung des „Anderen“, Vorurteile und Bilder aus dem Kalten Krieg wurden neu reflektiert, und dies hatte Einfluss auf das kulturelle Gedächtnis. Österreich und Slowenien/Jugoslawien waren neutrale Staaten, die sich selbst als „Brücke“ zwischen „Ost“ und „West“ positionieren wollten, allerdings wurden die bilateralen Beziehungen von der ideologisch gefärbten Wahrnehmung des jeweils anderen beeinflusst – dies gilt auch für die gemeinsame Vergangenheit: Jugoslawien definierte sich als Gewinner des Krieges, sein Selbstverständnis gründete sich teilweise darauf; Österreich reagierte bekanntermaßen ambivalent auf das Kriegsende, betrachtete sich

49 | Zur Bedeutung der slowenischen Minderheit vgl. Helmut Liedermann, Österreichs Image im ehemaligen Jugoslawien, in: Oliver Rathkolb/Otto M. Maschke/ Stefan A. Lütgenau (Hg.), Mit anderen Augen gesehen. Internationale Perzeptionen Österreichs 1955-1990 (= Österreichische Nationalgeschichte nach 1945), Wien-Köln-Weimar 2002, 523-562. 50 | Sejem dobrega sosedstva, in: Delo, 12.5.1962. 51 | Vgl. Dušan Nećak, Die Alpen-Adria-Region 1945 bis 1991, in: Andreas Moritsch (Hg.), Alpen-Adria. Zur Geschichte einer Region, Klagenfurt-Ljubljana-Wien 2001, 511-515. 52 | Vgl. Vladislav Marjanović, Die Mitteleuropa-Idee und die Mitteleuropa-Politik Österreichs 1945-1995, Frankfurt am Main 1998.

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selbst zwar als erstes Opfer der nationalsozialistischen Expansion, zugleich aber nicht als 1945 befreiter Staat. Zwei Denkmäler wurden in Graz und Ljubljana 1961/62 errichtet, um eine Brücke zwischen den ehemaligen Feinden zu errichten und eine neue Ära der Beziehungen zwischen beiden Staaten zu fördern. Zentrale Aspekte der Gedächtnispolitik in der Analyse sind: t In Österreich galt Jugoslawien zu dieser Zeit auf der einen Seite noch als Teil des „Ostens“, als der ideologisch „Andere“, während man auf der anderen Seite versuchte, gemeinsame Interessen im Schatten des Kalten Krieges zu konstruieren. t Der diskursive „Grenzschutz“ war auf beiden Seiten zu dieser Zeit noch intakt, allerdings wurde die Idee der „grünen Grenze“ vorbereitet. Selbst die politischen Gegner auf der anderen Seite des ideologischen Spektrums in Österreich fanden Gemeinsamkeiten zumindest mit Slowenien. t Trotz aller Widersprüche und Gegensätze ist es zu dieser Zeit möglich, repräsentative Denkmäler für den Widerstand (von dem man sich in Östereich bzw. in der Steiermark andernorts gern distanzierte) bzw. den vormaligen Feind (ein Pfeiler der kollektiven Identität Jugoslawiens war das erlittene Trauma im Weltkrieg) zu errichten. Allerdings werden diese Monumente nicht an politisch repräsentativen Orten, sondern auf Friedhöfen errichtet; die gemeinsame Trauer bildet die gewünschte „Brücke“ über die vorhandenen Gegensätze hinweg.

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Lokal – transnational – europäisch Gedächtnis im postnationalen Zeitalter Heidemarie Uhl

Gedächtnis erscheint in zweifacher Hinsicht mit dem Nationalen verbunden: Zum einen gilt die Imagination einer gemeinsamen kollektiven Vergangenheit als „Erfindung“ des 19. Jahrhunderts mit der Funktion, die Idee der Nation in den Köpfen und Herzen zu verfestigen. Die Geschichte der Nation und ihre kanonisierten Gedächtnisorte wie Hymne, Nationalfarben, Feiertage etc. zählen zum Repertoire des symbolischen „nation building“. Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ist dieses Verhältnis allerdings komplex und ambivalent geworden: Gedächtnis wurde zum Leitbegriff der kulturwissenschaftlichen Wende1 und damit zum paradigmatischen Feld für die wissenschaftliche Analyse und Dekonstruktion der gesellschaftlichen Sinnstiftungen und Deutungshegemonien, von denen die kollektiven Vorstellungen über die soziale Wirklichkeit geprägt werden. Die kritische Reflexion richtet sich insbesondere auf die Diskurse und Praktiken des nationalen Erinnerungskomplexes: Die nationale Geschichte beruht eben nicht auf einem objektivierbaren historischen Telos, sondern auf einer Projektion vom Gegenwartspunkt aus,2 wie bereits Maurice Halbwachs postulierte: Gedächtnis ist das, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann“.3 Hegemonietheoretisch orientierte Analysen stellten die Frage nach den Machtverhältnissen, in deren Rahmen die Vorstellungen über das Gedächtnis einer Nation produziert und durchgesetzt werden: Welche Gruppen verfügen über Ressourcen und Zugang zum öffentlichen Kommunikationsraum in diesem Konkur-

1 | Vgl. Aleida Assmann, Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften, in: Lutz Musner/Gotthart Wunberg (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002, 27-45. 2 | Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, 9-19. 3 | Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985, 390.

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renzkampf um die Deutungsmacht? Und welche Gesellschaftsgruppen sind aus diesem Prozess ausgeschlossen, werden ausgegrenzt und marginalisiert?4

I. Inklusion und Exklusion sind demnach jene Logiken, die für die Konstruktion von Gedächtnis bestimmend sind: Zum einen wird durch das hegemonial durchgesetzte Gedächtnis der Nation in den generell heterogenen Gesellschaften der Moderne die Vorstellung einer homogenen Wir-Gemeinschaft erzeugt, werden soziale, kulturelle, ethnische Unterschiede negiert und gewissermaßen unsichtbar gemacht. Zum anderen ist die Denkfigur eines „gemeinsamen“ Gedächtnisses verbunden mit einer Grenzziehung nach „außen“, mit der Herstellung einer Differenz zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“.5 Die kritische Auseinandersetzung mit den Ausgrenzungsmechanismen, die mit Gedächtnis verbunden sind, steht in zeitlichem Zusammenhang mit Tendenzen der Universalisierung und Globalisierung von Erinnerungsmustern. Vor allem die Internationalisierung der Holocaust-Erinnerung, die Vertiefung der europäischen Integration und das Ende der Ost-West-Systemkonkurrenz bilden den Hintergrund für die Infragestellung der Kategorie Nation als selbstverständliche Organisationsstruktur moderner Gesellschaften. Die Kritik aus postnationaler Perspektive richtet sich insbesondere auf den Komplex des Gedächtnisses, zugleich knüpfen sich an die Überwindung des nationalen Rahmens Erwartungen eines europäischen Gedächtnisses als Grundlage einer europäischen Solidargemeinschaft. Die Überzeugung, dass ein gemeinsames europäisches Gedächtnis wünschenswert, wenn nicht notwendig ist, bildet die Grundlage von Förderprogrammen, Ausstellungsund Museumsprojekten auf Ebene der Europäischen Union. Ob ein gemeinsames historisches Gedächtnis für die Herausbildung einer kollektiven europäischen Identität notwendig ist, ob diese wiederum Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Europäischen Union ist, wird auch wissenschaftlich diskutiert. Ein expliziter akademischer Vertreter der Begründung von Europa als „Erinnerungsgemeinschaft“6 ist der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, der dieses Credo in seinem Aufsatz „Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität“ folgendermaßen formuliert: „Wer einer europäischen Gesellschaft kollektive Identität verleihen möchte, 4 | Vgl. Oliver Marchart, Das historisch-politische Gedächtnis. Für eine politische Theorie kollektiver Erinnerung, in: Christian Gerbel et. al. (Hg.), Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik, Wien 2005, 21-49 5 | Vgl. Heidemarie Uhl, Warum Gesellschaften sich erinnern, in: Erinnerungskulturen, hg. v. Forum Politische Bildung, Red. Gertraud Diendorfer (= Informationen zur politischen Bildung 32), Innsbruck-Wien u.a. 2010, 5-14 [http://www.politischebildung.com/pdfs/32_uhl. pdf, download 14.11.2011]. 6 | Vgl. Aleida Assmann, Europe: A Community of Memory? [Twentieth Annual Lecture of the GHI, November 16, 2006], in: GHI Bulletin 40 (2007) 1, 11-25.

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so meine These, wird also die Erörterung und Anerkennung der strittigen Erinnerungen genauso hoch bewerten wie Vertragswerke, Währungsunion und offene Grenzen.“7 Vor dem Hintergrund des Gedächtnisparadigmas, wie es sich seit den 1980er Jahren in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften formiert hat, ist das Eintreten für eine europäische Geschichts- und Identitätspolitik keineswegs selbstverständlich, im Gegenteil: Mit dem Fahnenwort Gedächtnis verbindet sich, wie bereits erwähnt, ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel, der die nationalen Geschichts- und Identitätsnarrative grundsätzlich zur Disposition stellt. Aufgabe der Wissenschaft ist es demnach, das Gedächtnis einer Gesellschaft kritisch zu befragen, Identitäten zu dekonstruieren und Mythen zu entlarven. Nicht mehr – wie noch im 19. Jahrhundert – als Baumeister der nationalen Identität, sondern als „Mythenjäger“8 im Dienste historisch-politischer Aufklärung verstehen sich die WissenschaftlerInnen der Generation des „cultural turn“. Warum ist dieser kritisch-reflexive Habitus in der Frage der europäischen Identität gewissermaßen außer Kraft gesetzt? Die These, dass die Europäische Union nicht nur auf rationalen, utilitaristischen Fundamenten zu begründen sei, ist der gemeinsame Fluchtpunkt des wissenschaftlichen Engagements. Jacques Delors‘ viel strapazierter Ausspruch, einen Binnenmarkt könne man nicht lieben, bildet nicht nur den Ausgangspunkt für Initiativen eines europäischen Identitäts-Managements, sondern entspricht auch den Ergebnissen der Analysen von Vergesellschaftungsprozessen. Die Europäische Union bedürfe – ebenso wie die Nation – eines „sense of belonging“, eines affektiv-emotionalen Gefühls der Zugehörigkeit zu einer Wir-Gemeinschaft, so der Befund von Leggewie und anderen ProtagonistInnen einer europäischen Identitätspolitik. „European Soul Searching“, die Suche nach einer kollektiven europäischen Identität, erfährt bei Claus Leggewie eine nüchterne Begründung: eine „geteilte Erinnerung“ sei erforderlich für den politischen Integrationsprozess. Ein Europa als Freihandelszone benötige kein kulturelles Gedächtnis, für Europa als politische Gemeinschaft ist die Frage, ob „dieses größte Noch-Nicht-Volk der Erde Erinnerungen teilt und eventuell ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein hat“,9 jedoch essentiell: Dies sei die Voraussetzung für die Formierung einer handlungsfähigen Solidargemeinschaft. Leggewie lässt somit keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass Europa ein gemeinsames Gedächtnis „haben sollte“ – um „seine politischen Probleme besser zu bewältigen“,10 und um – wie es die Nationen seit dem 19. Jahrhundert mit ihrem „Vorrat an Großerzählungen und Mythen“ erfolgreich unter Beweis gestellt haben – „innerhalb gesetzter Grenzen solidarisch handeln zu können.“11

7 | Claus Leggewie, Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 54 (2009) 2, 81-93. 8 | Norbert Elias, Was ist Soziologie?, Weinheim-München 112009, 51-74. 9 | Leggewie, Schlachtfeld Europa, 81. 10 | Ebda. 11 | Ebda.

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Die folgenden Überlegungen betrachten die Frage eines europäischen Gedächtnisses aus einer anderen Perspektive: Das Interesse richtet sich nicht darauf, ob und wie die Pathosformeln aus dem Repertoire des Nationalstaats auf die Europäische Union übertragen werden können, sondern auf die bestehenden Praxisformen des „doing memory“ einer transnationalen „Generation Gedächtnis“12 . Die neue gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die Art und Weise, wie Gesellschaften sich erinnern und insbesondere, wie sie mit den „dunklen“ Seiten ihrer Vergangenheit umgehen, ist ein Phänomen, das die politischen Kulturen in den europäischen Nationalstaaten seit dem Beginn der 1980er Jahre verändert. Zugleich wird die Denkfigur des nationalen Gedächtnisses zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion. Entscheidende Impulse gingen von Pierre Noras „Lieux de mémoire“13, deren erster Band 1984 erschien, und Jan Assmanns theoretischer Grundlegung eines kulturellen Gedächtnisses in „Kultur und Gedächtnis“14 1988 aus. In Weiterentwicklung von Maurice Halbwachs‘ Theorie eines sozialen Gruppengedächtnisses15 wurde Gedächtnis nun vor allem als Repräsentation kollektiver Identitäten verstanden und so zu einem Schlüsselkonzept für die Analyse des Selbstverständnisses von Gesellschaften. In Österreich erscheint der Terminus erstmals 1993 programmatisch im Titel der Publikation „Österreichisches Gedächtnis“ von Meinrad Ziegler und Waltraud Kannonier-Finster.16 Gedächtnis wurde dabei zum Synonym für die „Verdrängungsgeschichte“ der Zweiten Republik, für die „spezifisch österreichische Kultur des Erinnerns und Vergessens“ sowie die „spezifischen Strategien der Normalisierung des Nationalsozialismus in Österreich nach 1945“.17 Der entscheidende Anstoß zur kritischen Auseinandersetzung mit der „verdrängten“ NS-Vergangenheit ging aber nicht von der Wissenschaft aus, sondern von den Auseinandersetzungen um die Kriegsvergangenheit Kurt Waldheims im Präsidentschaftswahlkampf 1986. Erst nach der Erosion der offiziellen Opferthese durch die Aussagen Waldheims über seine „Pflichterfüllung“ in der Deutschen Wehrmacht – die in diametralem Gegensatz zum Selbstverständnis Österreichs als „erstem Opfer“ des Nationalsozialismus standen – wurden die österreichischen ZeithistorikerInnen zu entscheidenden AkteurInnen für die Formulierung, Legitimierung

12 | Jay Winter, The Generation of Memory: Reflections on the Memory Boom in Contemporary Historical Studies, in: Bulletin of the German Historical Institute 27 (2000), 69-92; [dt.: Die Generation der Erinnerung. Reflexionen über den „Memory-Boom“ in der zeithistorischen Forschung, in: WerkstattGeschichte 30 (2001), 5-16, hier 16. 13 | Vgl. Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de Mémoire. 3 Bde., Paris 1984-1992. 14 | Vgl. Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988. 15 | Vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985. 16 | Vgl. Meinrad Ziegler/Waltraud Kannonier-Finster, Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit, Wien 1993 (2. Aufl. 1997). 17 | Waltraud Kannonier-Finster/ Meinrad Ziegler, Einleitung und Ausgangspunkte, in: ebda., 11, 13.

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und Durchsetzung des Perspektivenwechsels auf die Jahre 1938 bis 1945.18 Der Blick richtete sich nun vom Staat – auf dieser Ebene kann Österreich nach wie vor durchaus zurecht als „Opfer des nationalsozialistischen Deutschland“ gesehen werden19 – auf die Gesellschaft, d.h. von der Externalisierung des Nationalsozialismus aus der österreichischen Geschichte20 auf die Mitverantwortung Österreichs an den Verbrechen des Nationalsozialismus.21 Die Auseinandersetzung mit Opferthese und „unbewältigter“ NS-Vergangenheit wurde zum Motor des Gedächtnisparadigmas, vor allem in der zeithistorischen Forschung. Aber auch in anderen wissenschaftlichen Bereichen war die Resonanz auf das neue theoretische Konzept überwältigend, in Österreich war bald ein „memory boom“22 in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu konstatieren.

18 | Vgl. Gerhard Botz, Die „Waldheim-Affäre“ als Widerstreit kollektiver Erinnerungen, in: Barbara Tóth/Hubertus Czernin (Hg.), 1986. Das Jahr, das Österreich veränderte, Wien 2006, 74-95. 19 | Gerhard Botz, War der „Anschluß“ erzwungen?, in: Felix Kreissler (Hg.), Fünfzig Jahre danach – der „Anschluß“ von innen und außen gesehen, Wien-Zürich 1989, 97-120, hier 107. 20 | Zum Terminus „Externalisierung“ vgl. M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: Max Haller/Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny et al. (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt am Main-New York 1989, 247-264. Anzumerken ist, dass Lepsius’ Befund der „Internalisierung“ des Nationalsozialismus in der BRD die Situation der 1980er Jahre beschreibt. Wie die Arbeiten von Norbert Frei, Peter Reichel u.a. gezeigt haben, kann man auch im Fall der BRD jahrzehntelang von Varianten der „Externalisierung“ sprechen – die Schuldfrage wurde auf eine schmale NS-Führungselite projiziert. Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik: Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1999; Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung: Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München-Wien 1995. 21 | Vgl. exemplarisch: Gerhard Botz, Österreich und die NS-Vergangenheit. Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung, in: Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main 1987, 141-152; Helmut Konrad, Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsbewußtsein, in: Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, 2., erweiterte Aufl. (= Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 13), Frankfurt am Main-New York 2008, 169-176; Ernst Hanisch, Ein Versuch, den Nationalsozialismus zu „verstehen“, in: Anton Pelinka/Erika Weinzierl (Hg.), Das große Tabu. Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit, Wien 1987, 154-162; Anton Pelinka, Von der Funktionalität von Tabus: Zu den „Lebenslügen“ der Zweiten Republik, in: Wolfgang Kos/Georg Rigele (Hg.), Inventur 1945/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, 23-32; Siegfried Mattl/Karl Stuhlpfarrer, Abwehr und Inszenierung im Labyrinth der Zweiten Republik, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch et al. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich 1938-1945, Wien 2000, 601-624. 22 | Vgl. Winter, Generation der Erinnerung, 6.

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Das akademische Interesse ist dabei im Kontext eines neuen gesellschaftlichen Bedürfnisses nach Orientierung und Sinnstiftung aus der Vergangenheit zu sehen.23 Pierre Nora sprach im März 2001 auf der Wiener Konferenz „Gedächtnis des Jahrhunderts“ von einer „Flutwelle der Erinnerung“, einer Bewegung „so allgemein, so tiefgreifend, so mächtig“, dass die Gegenwart als „Epoche des Gedenkens“ bezeichnet werden könne. 24 Über die Ursachen dafür werden sich künftige HistorikerInnen wohl den Kopf zerbrechen und womöglich in der Wucht der nationalen Idee, die zu Ende des 19. Jahrhunderts die Gesellschaften der Moderne durchdrungen hatte, ein vergleichbares Phänomen sehen.

II. Was sind die Ursachen für diesen „Boom“, wie wurde Gedächtnis zum Zauberwort für eine ganze Generation von WissenschaftlerInnen? Das wissenschaftliche Interesse an der Art und Weise, wie Kollektive / Gesellschaften / Nationen ihre Vergangenheit interpretieren und konstruieren, steht – so die im folgenden diskutierte These – in Verbindung mit einem tiefgreifenden gesellschaftlichen und epistemologischen Paradigmenwechsel. Einige Rahmenfaktoren sollen hier genannt werden, um den Erfahrungsraum bzw. Erwartungshorizont25 zu skizzieren, der für die Formierung der „generation of memory“ – als gesellschaftliches und wissenschaftliches Phänomen – wesentlich ist.

Postmoderne und die Erosion von Denkfiguren der Moderne Als „Erschöpfung utopischer Energien“ beschrieb Jürgen Habermas Mitte der 1980er Jahre den Zerfall des Telos einer zukunftsgewissen Moderne.26 Das Fortschrittsdispositiv bildete die Grundlage der wissenschaftlichen Selbstbeschreibungen moderner Gesellschaften, auch die Gesellschafts- und Strukturgeschichte der 1970er Jahre orientierte sich am Fortschrittsgedanken als „master narrative“ der Modernisierungstheorie. Schlagworte oder vielmehr Zukunftshoffnungen wie Reform, Demokratisierung aller Lebensbereiche, Emanzipation, Chancengleichheit, der Kampf gegen Unterdrückung

23 | Vgl. Heidemarie Uhl, Schuldgedächtnis und Erinnerungsbegehren. Thesen zur europäischen Erinnerungskultur, in: Transit. Europäische Revue 35 (2008), 6-22. 24 | Pierre Nora, Gedächtniskonjunktur, in: Transit. Europäische Revue 22 (2002), 18-31, hier 23. 25 | Zu diesen Kategorien vgl. Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, 349-375. 26 | Vgl. Jürgen Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: Ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985, 141-163.

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und Ausbeutung etc. bildeten für die durch 1968 geprägte HistorikerInnengeneration den epistemologischen Rahmen ihres Blicks in die Vergangenheit.27 In den 1980er Jahren begannen diese Begriffe allerdings brüchig zu werden, sie büßten ihr energetisches Potential zur Prägung des „gesellschaftlich Imaginären“28 zunehmend ein. Der Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt und die intellektuelle Diskreditierung des Marxismus markierten schließlich das „Ende der revolutionären Idee, des mächtigsten Vektors für die Orientierung der historischen Zeit auf die Zukunft“.29

Der Zerfall der Nachkriegsmythen und die Universalisierung der Holocaust-Erinnerung „1989“ hatte in den ehemals kommunistischen Ländern einen abrupten Bruch mit den bisherigen offiziellen antifaschistischen Geschichtsdarstellungen zur Folge. Aber auch in Westeuropa waren die Sichtweisen auf den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg von politischen Mythen bestimmt. Tony Judt, Historiker an der New York University (1948-2010), hat in seinem vielbeachteten Essay „The Past is Another Country“ (1992) die unterschiedlichen nationalen Deutungen der NS-Vergangenheit in den west- und osteuropäischen Ländern als Varianten einer gemeinsamen europäischen „postwar myth“ beschrieben: In den nationalen Gedächtnissen Nachkriegseuropas wurde das eigene Volk als unschuldiges Opfer eines grausamen Okkupationsregimes dargestellt, die heroische Erinnerung an den heldenhaften nationalen bzw. antifaschistischen Widerstand bestimmte die Erinnerungskultur, die Frage der Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus und insbesondere am Holocaust wurde auf Deutschland bzw. die Bundesrepublik projiziert. 30 Mitte der 1980er Jahre begann die Erosion dieser Nachkriegsmythen, zugleich rückte der Holocaust als zentrales Ereignis in das Zentrum der Geschichte des Nationalsozialismus bzw. Deutschlands und darüber hinaus der westlichen Zivilisation. Der „Zi-

27 | Vgl. Helmut Konrad, Die 68er Generation der österreichischen ZeithistorikerInnnen – eine Perspektive auf generationsspezifische Sozialisationsmerkmale und Karriereverläufe, in: Zeitgeschichte(n) in Österreich. HistorikerInnen aus vier Generationen. Anlässlich „30 Jahre Zeitgeschichte“, zeitgeschichte 30 (2003) 6, 315-319. 28 | Zum Begriff des gesellschaftlich Imaginären vgl. Thomas Frank/Albrecht Koschorke et al. (Hg.), Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte – Bilder – Lektüren, Frankfurt am Main 2002. 29 | Nora, Gedächtniskonjunktur, 22. 30 | Tony Judt, The Past is Another Country: Myth and Memory in Postwar Europe, in: Daedalus 1 (1992), 83-118 [Nachdruck in: István Deák/Tony Judt (Hg.), The Politics of Retribution in Europe. World War II and its Aftermath, Princeton, NJ 2000, 293-323; dt.: Die Vergangenheit ist ein anderes Land: Politische Mythen im Nachkriegseuropa, in: Transit 6 (1993), 87-120].

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vilisationsbruch Auschwitz“31 – dieser Begriff wurde 1988 durch Dan Diner geprägt32 – betraf nun nicht mehr allein Deutschland, er wurde zunehmend aus den Grenzen des „nationalen Containers“ herausgelöst und als Symptom der Moderne universalisiert.33 Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas gilt als das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das die moralisch-ethischen Grundlagen der westlichen Zivilisation nachhaltig erschüttert und irritiert: Denn die Planung und Durchführung der Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen war von einem durch Modernisierung und Aufklärung geprägten Staat in der Mitte Europas ausgegangen.34 Das Zerbrechen der Nachkriegsmythen erfolgte dabei zwar jeweils in einem nationalen Rahmen, dennoch wird eine transnationale Synchronisierung der Erinnerungskulturen in Europa deutlich. In der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern wurde ab Mitte der 1980er Jahre die Frage nach der Involvierung der eigenen Gesellschaft in dieses Menschheitsverbrechen zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher Grundsatzdebatten und zum Katalysator für ein neues Format gesellschaftlichen Erinnerns: das „negative Gedenken“ an die eigene Schuld.35 Dieses Schuldgedächtnis liegt nicht nur offiziell-staatlichen Gedenkprojekten wie den Holocaust-Denkmälern in Wien und Berlin zugrunde, auch Initiativen auf lokaler Ebene begannen sich für die Erinnerung an die Opfer der NS-Verfolgung zu engagieren, die bislang aus den Geschichtserzählungen ausgeblendet worden waren. Gerade im lokalen Kontext wird das Bekenntnis zur Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes, wie es erstmals Bundeskanzler Franz Vranitzky 1991 im Namen der Republik Österreich auf nationalstaatlicher Ebene abgelegt hat,36 vom Abstrakten ins Konkrete transferiert: Hier haben die Täter Namen und Adresse, es sind die eigenen Väter und Großväter, Nachbarn, die lokale Bevölkerung. Die Aufforderung an die Opfer des NS-Regimes zu erinnern, ist im lokalen Kontext untrennbar mit der Frage ver-

31 | Vgl. Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988. 32 | Vgl. Dan Diner, Den Zivilisationsbruch erinnern. Über Entstehung und Geltung eines Begriffs, in: Heidemarie Uhl (Hg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts (= Gedächtnis – Erinnerung – Identität, 3), Innsbruck u.a. 2003, 17-34. 33 | Vgl. Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001. 34 | Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1993. 35 | Vgl. Volkhard Knigge, Statt eines Nachworts: Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, 423-440. 36 | Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzky, Erklärung vor dem österreichischen Nationalrat, 8.7.1991, abgedruckt in: Botz/Sprengnagel (Hg.), Kontroversen, 645-647.

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bunden, wer in diese Verbrechen schuldhaft verstrickt war.37 In solchen „face-to-face communities“ ist das Gedenken an die Opfer nach wie vor ein schmerzlicher Prozess, das Konfliktpotential weitaus stärker und komplexer als in Debatten des öffentlich-medialen Diskurses. Hier ist die Schuldfrage nicht im abstrakten Wir einer imaginierten „Tätergesellschaft“ verhandelbar, sondern betrifft die Familiengeschichte38 – die eigene und jene von NachbarInnen, ArbeitskollegInnen und FreundInnen. Von der „Externalisierung“ des Holocaust war auch die Geschichtswissenschaft selbst nicht ausgenommen, und gerade die „kritische“ Zeitgeschichte wurde nun mit ihren eigenen blinden Flecken konfrontiert. In Österreich flogen die Eulen der Minerva im Vergleich mit anderen europäischen Ländern mit einiger Verspätung, denn die Kritik der 1968er Generation hatte sich zunächst auf den „Austrofaschismus“ gerichtet. Die Semantik der „unbewältigten Vergangenheit“ zählte zwar bereits vor der Waldheim-Debatte zum narrativen Repertoire der österreichischen Zeitgeschichte, wurde allerdings auf die Frage nach der historischen Verantwortung der politischen Lager für den Untergang der Ersten Republik gerichtet. Wenn man von „Obsessionen“ der zeitgeschichtlichen Forschung sprechen will, so waren diese vor dem durch die Waldheim-Debatte ausgelösten Perspektivenwechsel auf die NS-Herrschaft in Österreich 1938-1945 in der Phase 1933/34 bis 1938 angesiedelt.39 Deren Kategorisierung als „Austrofaschismus“40 und als „Start in den Abgrund“ des Jahres 193841 einerseits, als patriotischer „Abwehrkampf “ des Ständestaates gegen die nationalsozialistische

37 | Vgl. exemplarisch am Beispiel von Hamburg: Malte Thießen, Das kollektive als lokales Gedächtnis: Plädoyer für eine Lokalisierung von Geschichtspolitik, in: Harald Schmid (Hg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis (= Formen der Erinnerung 41), Göttingen 2009, 159-180. 38 | Vgl. Margit Reiter, Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck-Wien-Bozen 2006; Gerhard Botz, Nazi, Opportunist, „Bandenbekämpfer“, Kriegsopfer. Dokumentarische Evidenz und Erinnerungssplitter zu meinem Vater, in: Ders. (Hg.), Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005, 135-159. 39 | Vgl. Siegfried Mattl, Bestandaufnahme zeitgeschichtlicher Forschung in Österreich, Wien 1983, 47. 40 | Vgl. exemplarisch: Emmerich Talos/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934- 1938 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik), Wien 1984. 41 | Walter Göhring/Robert Machacek, Start in den Abgrund. Österreichs Weg zum Jahr 1938, hg. v. Stadtschulrat für Wien, Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Wien 1978.

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Bedrohung von außen42 andererseits, markierte die unterschiedlichen ideologischen Positionen in der zeithistorischen Forschung markierte.43 Während etwa in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des „Historikerstreits“ der Ort des Holocaust in der deutschen Geschichte in einer intellektuell-akademischen Debatte neu bestimmt wurde (1986) und in Frankreich Henry Roussos Analyse des „Vichy Syndroms“ (1987) den Bruch mit dem nationalen Resistance-Mythos markierte, wurden die österreichischen HistorikerInnen von der Debatte um die Kriegsvergangenheit Kurt Waldheims überrascht.44 Erst das Gedenkjahr 1938/88, die 50. Wiederkehr des „Anschlusses“, sollte zur Stunde der HistorikerInnen werden, die nun in Ausstellungen, Publikationen, Medienbeiträgen etc. auf das Zerbrechen des Opfermythos durch die Waldheim-Debatte reagieren konnten und die Mitverantwortung der österreichischen Gesellschaft an NS-Verbrechen und insbesondere am Holocaust aufzeigten. Für die europäischen HistorikerInnen jener Generation, die in den 1980er Jahren ihre wissenschaftliche und gesellschaftliche Prägung erfahren hat, wurde die Bewusstseinsbildung über die Bedeutung des Holocaust und der Perspektivenwechsel auf die NS-Vergangenheit zu einer zentralen Erfahrung, die auch das disziplinäre Selbstverständnis prägte. Die Erkenntnis, dass der Holocaust in den Nachkriegsjahrzehnten eine marginale Rolle in den Geschichtswissenschaften eingenommen hatte, dass nunmehr ikonische Werke mangels Interesses nur unter großen Schwierigkeiten publiziert werden konnten45, erschütterte die Vorstellung von universal gültigen Kategorien historischer Erkenntnis nachhaltig.

Konstruktivismus und „lingustic turn“ Parallel zum skizzierten Perspektivenwechsel im Hinblick auf jene Vorstellungen, welche seit 1945 das Denken über Vergangenheit und Zukunft bestimmten, haben Konstruktivismus bzw. „linguistic turn“ das Selbstverständnis vor allem der Geisteswissenschaften in Frage gestellt46 und insbesondere in der Historiographie eine kopernikanische Wende bewirkt. Dem Rankeschen Ideal, zu erkennen, „wie es wirklich gewe42 | Vgl. exemplarisch: Ludwig Reichhold, Kampf um Österreich. Die Vaterländische Front und ihr Widerstand gegen den Anschluß 1933-1938. Eine Dokumentation, hg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1984. 43 | Vgl. Andreas Mittelmeier, Austrofaschismus contra Ständestaat: Wie faschistisch war das autoritäre Regime im Österreich der 1930er Jahre verglichen mit Mussolinis Italien?, Wien 2010. 44 | Einen Überblick über die Transformationen des nationalen Gedächtnisses in Europa, in den USA und Israel vermitteln die Beiträge des Sammelbandes: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004. 45 | Vgl. Raul Hilberg, Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, Frankfurt am Main 1994. 46 | Vgl. Doris Bachmann-Medik, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 32009, 7-57.

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sen ist“, waren ja letztlich auch die HistorikerInnen der 1968er-Generation gefolgt. Sie richteten ihre Kritik nun darauf, dass die „traditionelle“ Geschichtswissenschaft gerade hinsichtlich dieser Zielsetzung gescheitert sei: Mit dem Interesse an „großen“ Männern und „bedeutenden“ Ereignissen habe sie die eigentlichen Triebkräfte des historischen Entwicklungsprozesses nicht erkannt. Struktur-, Sozial-, Alltags- und Frauengeschichte wurden zu Leitbegriffen eines neuen Verständnisses von Geschichte als Gesellschaftsgeschichte mit einem emanzipatorischen, demokratischen Auftrag.47 Erst der „linguistic turn“ der 1990er Jahre sollte den Vorstellungen von einer ganz selbstverständlich existierenden und – wenngleich unterschiedlich – beschreibbaren historischen Realität den Boden entziehen und den universalen Wahrheitsanspruch der Geschichtswissenschaft in Frage stellen. Demzufolge ist auch das wissenschaftliche Wissen keine universale Kategorie, sondern standortgebunden, sozial positioniert und letztlich unhintergehbar eingebettet in den epistemologischen Horizont der jeweiligen Gegenwart.48 Historisches Arbeiten in der Postmoderne habe nun davon auszugehen, dass vergangene Ereignisse per se nicht zugänglich sind, sondern immer durch Texte vermittelt werden.49 Auch die Geschichtsschreibung kann kein durchsichtiges Medium sein, das einen direkten Blick auf die „vergangene Wirklichkeit“ eröffnet, sondern folgt den rhetorischen Logiken historiographischer Textproduktion.50

III. Mit der Erosion des utopischen Potentials der Moderne begann das Gedächtniskonzept offenkundig jenen Raum im Gesellschaftlich-Imaginären zu erobern, der zur Signatur der Postmoderne werden sollte. Allerdings gingen die ersten Impulse für ein neues Interesse an der Vergangenheit nicht primär von HistorikerInnen aus, sondern von Initiativen in anderen gesellschaftlichen Feldern. So machten sich Anfang der 1980er Jahre lokale „grass-root“-Bewegungen, wie etwa die alternativen Geschichtswerkstätten in Berlin und anderen deutschen Städten, auf die Suche nach historischen Bezugspunkten für ihr eigenes Lebensgefühl und begannen die Geschichte emanzipatorischer, widerständiger Bewegungen vor Ort zu erkunden. „Grabe, wo du stehst“ (Sven Lindqvist 1978) wurde zum Slogan einer Geschichtsarbeit „von unten“. Zur gleichen Zeit wurden aufwändige historische Großausstellungen zu einem erfolgreichen hoch-

47 | Vgl. für Österreich exemplarisch: Helmut Konrad (Hg.), Geschichte als demokratischer Auftrag. Karl R. Stadler zum 70. Geburtstag, Wien-München-Zürich 1983. 48 | Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986; Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte: Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 4., erw. u. erg. Aufl., Frankfurt am Main 2004. 49 | Vgl. Georg G. Iggers, Zur „Linguistischen Wende“ im Geschichtsdenken und in der Geschichtsschreibung, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 557-570. 50 | Vgl. Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1994.

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kulturellen Format der Aneignung von Erbe und Tradition. „Die Zeit der Staufer“ in Stuttgart 1977 verzeichnete mehr als 671.000 BesucherInnen, Ausstellungen über die Wittelsbacher in München (1980) und Preußen in Berlin (1981) zogen Hunderttausende an,51 in Österreich erwies sich „Traum und Wirklichkeit. Wien um 1900“ (1985) als BesucherInnenmagnet. Diese Projekte waren Ausdruck und Katalysator eines neuen „Geschichtsinteresses“52 , das auf positive Sinnstiftung aus der Vergangenheit gerichtet war – dies konnte sich auf ein glanzvolles historisches und kulturelles Erbe ebenso beziehen wie auf verschüttete revolutionäre Traditionen der Arbeiterbewegung und des Widerstands gegen das NS-Regime. Eine Reihe von Indikatoren deutet darauf hin, dass sich dieses Interesse Mitte der 1980er Jahre auf eine kritische Auseinandersetzung mit der „unbewältigten“ NS-Vergangenheit zu fokussieren begann. Ein Indikator dafür ist eine neue Sensibilität für Symbole der Erinnerung im öffentlichen Raum. Es scheint, als wären die Denkmäler und Erinnerungszeichen an die Opfer der traumatischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die bislang unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle lagen, auf eine neue Weise sichtbar geworden. Denkmäler wurden nicht mehr allein als Zeichen des Gedenkens an die Toten gesehen, sondern als „Identitätsstiftungen der Überlebenden“, wie dies Reinhart Koselleck für Kriegerdenkmäler formulierte. In Kosellecks Studie wurde wohl erstmals der Zusammenhang von Denkmal und Identität hergestellt und die Bedeutung dieser ephemeren Objekte für die Analyse kollektiver Einstellungen gewürdigt.53 Nicht nur in der Wissenschaft wurden Denkmäler Ende der 1970er Jahre zunehmend als relevante soziale Zeichensetzungen betrachtet, die Einblick in das Geschichtsverständnis von Kollektiven ermöglichen. An Denkmälern oder aber an ihrem Fehlen entzündeten sich zunehmend lokale Konflikte um die Deutung der Vergangenheit. „Ehren und / oder Anstoß nehmen“54 wurde zur Devise eines neuen Blicks auf die Denkmal-Landschaft, der sich zum einen an traditionellen Formen des Gefallenengedenkens rieb, vor allem aber den Mangel an Erinnerungszeichen für die Opfer des Nationalsozialismus monierte. Diese Leerstelle wurde in Österreich besonders sichtbar, denn hier stand dem Fehlen von Denkmälern für NS-Opfer in weiten Teilen der Erinnerungslandschaft, zumindest außerhalb von Wien, die breite Präsenz von Kriegerdenkmälern gegenüber. In praktisch jedem Dorf wurden an prominenter Stelle die Soldaten der Deutschen Wehrmacht gemeinsam mit jenen des Ersten Weltkrieges als 51 | Vgl. Martin Große Burlage, Große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland 1960-2000 (= Zeitgeschichte – Zeitverständnis 15), Münster 2005. 52 | Aleida Assmann, Konstruktion von Geschichte in Museen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 3.12.2007 [ www.das-parlament.de/2007/49/Beilage/002.html, download 9.8.2009]. 53 | Vgl. Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität (= Poetik und Hermeneutik VIII), München 1979, 255-276. 54 | Jochen Spielmann, Stein des Anstoßes oder Schlußstein der Auseinandersetzung? Bemerkungen zum Prozeß der Entstehung von Denkmalen und zu aktuellen Tendenzen, in: Ekkehard Mai/Gisela Schmirber (Hg.), Denkmal – Zeichen – Monument. Skulptur und öffentlicher Raum heute, München 1989, 110-114.

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„Verteidiger der Heimat“ gewürdigt. 1991 publizierten Reinhold Gärtner und Sieglinde Rosenberger die erste Studie, die diese bislang selbstverständlichen lokalen Erinnerungszeichen als Instrumente der Ausblendung der Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft analysierte.55 Der Kampf um die Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes wurde zur Herzensangelegenheit der „generation of memory“. Die neue Aufmerksamkeit für Zeichen und Orte des Gedenkens war allerdings ein transnationales Phänomen. Nicht nur in Deutschland und Österreich, den Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“, war aus lokalen, regionalen und staatlichen Initiativen eine vielschichtige Topographie einer neuen Erinnerungskultur entstanden, zu der Gedenkstätten an den historischen Orten der NS-Verfolgung und urbane „Stolpersteine“ ebenso zählten wie nationale Flaggschiffprojekte, etwa die Holocaust-Denkmäler in Berlin und Wien und die Memorial Museen bzw. Ausstellungen in Washington (US Holocaust Memorial Museum), Paris (Mémorial de la Shoah) und London (Holocaust-Ausstellung im Imperial War Museum). Die Entwicklung von Gedächtnis als Denkfigur und als gesellschaftliches Handlungsfeld einerseits, die Erosion der Nachkriegsmythen und der Perspektivenwechsel auf den Nationalsozialismus andererseits können somit als jene Form von Sinnstiftung gesehen werden, die dem Selbstverständnis der postmodernen, postnationalen und postideologischen Gegenwartsgesellschaften entspricht. Im Narrativ der Nachkriegsmythen wurde – wenngleich unter dem Vorzeichen des Widerstandes – Gesellschaft entlang der Kategorien „Nation“ „Ideologie“, „Klasse“ dargestellt. Heute haben diese Kategorien viel von ihrer Wirkungsmächtigkeit eingebüßt, sie sind in der historischen Vorstellungskraft kaum noch aufrufbar. Die Konsequenzen der Erosion der Denkfiguren der Moderne haben auch Konsequenzen für die Tradierung und Vermittlung der negativen Geschichte des Nationalsozialismus im kulturellen Gedächtnis. Die Neugestaltung von KZ-Gedenkstätten und Gedenkausstellungen zeigt, dass es praktisch nicht mehr vermittelbar ist, dass Menschen aus nationaler oder ideologischer Überzeugung ihr Leben im Kampf gegen das NS-Regime riskiert haben. Die ent-orteten, anthropologisch-universalen Kategorien „Täter, Opfer, Zuschauer“, die Raul Hilberg geprägt hat, entsprechen offenkundig adäquater der Art und Weise, wie sich Gesellschaften gegenwärtig imaginieren können. Insofern verbindet sich mit der Holocaust-Erinnerung das „master narrative“ eines Gedächtnisses, das die Kategorie Nation hinter sich gelassen hat.

55 | Reinhold Gärtner/Sieglinde Rosenberger, Kriegerdenkmäler. Vergangenheit in der Gegenwart, Innsbruck 1991; vgl. weiters: Heidemarie Uhl, Kriegerdenkmäler, in: Emil Brix/ Ernst Bruckmüller et al. (Hg.), Memoria Austriae I. Menschen – Mythen – Zeiten, Wien 2004, 545-559.

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Begrenzte Zugehörigkeiten

Mask/Unmask Überschreitungen von Grenzen rassifizierter Zugehörigkeiten in zwei Erzählungen über Rom_nija 1 Stefan Benedik

„Indien, sagt Monika, liege ihr gefühlsmäßig näher als Österreich.“2

So lautet einer der letzten Sätze in Ludwig Lahers Roman Und nehmen was kommt, in dem er erzählt, wie eine Romni3 aus einer „ostslowakischen Elendssiedlung“4 von 1 | Dieser Beitrag entstand im Rahmen meines Teilprojekts im von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ermöglichten DOC-Team „shifting romipen – Verhandlungen von Ethnizität in zentraleuropäischen Migrationen von Roma/Romnija seit der Mitte des 19. Jahrhunderts“. Meinen Teamkolleg_innen Barbara Tiefenbacher und Wolfgang Göderle danke ich ebenso wie Heidrun Zettelbauer für Diskussionen und Anmerkungen sehr. 2 | Ludwig Laher, Und nehmen was kommt, 2. Aufl., Innsbruck 2007, 205. 3 | Zur geschlechtergerechten Terminologie in diesem Artikel sind zwei prinzipielle Anmerkungen notwendig, einerseits in Bezug auf den Auslassung markierenden Unterstrich und andererseits zur Benennung von Rom_nija. Die Verwendung des Binnen-I erscheint in einem Beitrag, der die Relevanz von Grenzen als symbolische Ordnung reflektiert, anachronistisch, zumal dieses die Zweigeschlechtlichkeit nicht nur illustriert, sondern auch ihre Unüberwindlichkeit festschreibt. Aus analytischen Überlegungen erscheint es vielmehr notwendig, eine Form zu verwenden, die die Auslassung zwischen diesen dichotomen Konzepten, aber auch die Übergänge und Randbereiche sichtbar macht. Vor dem Hintergrund der diesbezüglichen Diskussionen im genannten DOC-Team schlage ich den Terminus Rom_nija als geschlechtergerechten Neologismus zur Benennung von Angehörigen von Romani Gruppen vor. Romni ist das weibliche Pendant zum männlichen Singular Rom (Ehemann), Roma (Ehemänner) und Romnija (Ehefrauen) lauten die entsprechenden Pluralformen. Angesichts der enormen Heterogenität von Romani Communitys und den völlig unterschiedlichen Kontexten, narrativen Ebenen und Bezugnahmen verweise ich darüber hinaus hier darauf, dass es sich dabei um keinen unumstrittenen Dachbegriff handelt. 4 | Besonders der Terminus „Ostslowakei“ ist nur scheinbar eine geographische Bezeichnung, verweist er doch eher auf ein Repertoire an Images, die aus einem Dorf eine „Elendssiedlung“

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einem „weißen Helden“ zum erlösenden Leben in einer österreichischen Kleinstadt auserkoren wird.5 Monika hat dabei zwar physische Grenzen überschritten (jene zwischen Tschechien und Österreich, zwischen Prostitution und Zimmermädchenjob, zwischen Armut und Wohlstand), aber die „Rebellion gegen das duldsame Hinnehmen der scheinbaren Vorbestimmung“6 hat einen Preis und stellt im Subtext in Frage, ob Monika am Ende noch zur Gruppe der Rom_nija7 gerechnet werden darf. Dazu passt auch der letzte Satz in Lahers Roman, in dem er vorschlägt, dass die Protagonistin nicht mehr in ihren Körper gehöre, wenn sie „manchmal eine unerklärliche Anwandlung [hat], ein bißchen aus der Haut fahren zu wollen“.8 Eine solche Konzeption von Zugehörigkeit zu Romani Communities liegt im Mainstream, werden doch quer durch die meisten Kommunikationsbereiche die Grenzen zwischen Rom_nija und Nicht-Rom_nija meist stark rassifiziert, zumindest aber essentialisiert.9 Auch die pauschale Rede vom Antiziganismus,10 noch mehr aber die Abmachen. Durch diese Labels wird in „westeuropäischen“ Medien ein Remapping europäischer Geographien vorgenommen, mithilfe dessen Rom_nija „Slums“ und „Baracken“, kurz der „dritten Welt mitten in Europa“, zugeordnet werden. Das Dorf Hostice/Gesztete liegt beispielsweise geographisch gesehen in der südlichen Zentralslowakei, wird aber in der österreichischen Berichterstattung ausschließlich als ostslowakische Siedlung betrachtet, zumal es sich dabei um den Herkunftsort vermeintlich aller Grazer Bettler_innen handelt. Für den dritte-Welt-in-der-ersten-Narrativ vgl. aus dem medial-öffentlichen Bereich exemplarisch Hans Magenschab, Dritte Welt, mitten in Europa. Am 1. Mai öffnen sich für Hunderttausende Roma aus dem Osten die Tore nach Österreich, in: Kleine Zeitung, 16.2.2011, 2-3; für den wissenschaftlichen Bereich vgl. etwa Jakob Hurrle, Die Dritte Welt in der Ersten Welt. Entwicklungs- und Erneuerungsstrategien für ländliche Roma-Ghettos in der Slowakei, in: Uwe Altrock u.a. (Hg.), Perspektiven der Planungstheorie, Leue 2004, 89-108. 5 | Zur kritischen Kontextualisierung des Romans vgl. Stefan Benedik, Define the Migrant, Imagine the Menace. Remarks on Narratives in Recent Romani Migrations to Graz, in: Helmut Konrad/Stefan Benedik (Hg.), Mapping Contemporary History 2, Wien-Köln-Böhlau 2010, 159-176. 6 | Laher, Und nehmen, 206. 7 | Zur Terminologie vgl. FN 3. 8 | Laher, Und nehmen, 206. 9 | Vgl. Karin Reemtsma, Exotismus und Homogenisierung. Verdinglichung und Ausbeutung, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg/Verband deutscher Sinti & Roma Landesverband Baden-Württemberg (Hg.), Zwischen Romantisierung und Rassismus. Sinti und Roma 600 Jahre in Deutschland (= Bausteine), Stuttgart 1998, 63-68; Markus End/Kathrin Herold/Yvonne Robel, Antiziganistische Zustände. Eine Einleitung. Virulenzen des Antiziganismus und Defizite in der Kritik, in: Dies. (Hg.), Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments, Münster 2009, 9-23, 10, 13. Keineswegs handelt es sich dabei jedoch um eine unveränderliche, stabile Konstruktion einer „biologisch vererbbaren Asozialität und Devianz“. 10 | Vgl. End/Herold/Robel, Antiziganistische Zustände, bes. 18-19. Neben den vielfach sehr fruchtbaren Aspekten dieses Konzeptes und abgesehen von der präzisen Definition in der genannten Publikation ließe sich daran erstens kritisieren, dass es in dieser Form eine negative Gruppendefinition auf Basis einer extremen Viktimisierung vornimmt und zweitens

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grenzung einer „ethnischen Minderheit“ von einer „Mehrheitsbevölkerung“ verstellt den Blick darauf, dass solche Grenzen performativ und situativ hergestellt werden, je nach Kontext völlig andere Gestalt haben und unterschiedlich verlaufen. Das Ignorieren solcher Akte der Aushandlung von Abgrenzungen hat mit jenem Phänomen wissenschaftlichen Sprechens zu tun,11 das Rogers Brubaker unter dem Titel „Groupism“ als „the tendency to treat ethnic groups as substantial entities“ beschrieben hat.12 Im wissenschaftlichen Sprechen über Rom_nija zeigt sich diese Neigung nicht nur in Terminologie, Theorien und Forschungsdesigns, sondern auch in der inhaltlichen Übernahme der Idee einer „Gypsy Diaspora“ einerseits im Bereich des politischen/ menschenrechtlichen Sprechens13 und andererseits aus dem Umfeld der traditionellen Tsiganologie, die scheinbar „Zigeuner_innen“14 auf der ganzen Welt klar erkennt und (noch in den 1980er Jahren) von einem „Wirtsvolk“15 abgrenzt.16 vom Fokus auf den intersektionellen Aufbau jeder Form von Differenz durch die Einführung einer Spezialkategorie ablenkt. Insofern ist „Antiziganismus“ als spezifisches Konzept zur Beschreibung spezifischer Repertoires an Images analytisch sehr sinnvoll, soll aber nicht den Blick darauf verstellen, dass jede Form von Rassismus durch auf soziale Ungleichheit, Kapitalismus, Sexismus, Heteronormativität etc. Bezug nehmende Differenznarrative hergestellt wird. 11 | Eduard Staudinger war es, der mir den dahinter stehenden so erhellenden Zusammenhang zwischen analytischer Dekonstruktion und Berücksichtigung von Erfahrung illustriert hat, lange bevor ich Rogers Brubakers entsprechendes Konzept rezipieren konnte. Demnach gilt es, die radikalen Einflüsse von Imaginationen und Konstruktionen auf Menschenleben anzuerkennen. Letztere sind, so Staudinger, „nicht in der Büchse der Pandora“. 12 | Vgl. Rogers Brubaker, Ethnicity without groups, in: Montserrat Guibernau/John Rex (Hg.), The Ethnicity Reader, 2. Aufl., Cambridge-Malden 2010, 33-45, 34. 13 | Für eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Pauschalisierungen vgl. Paloma Gay y Blasco, Gypsy/Roma Diasporas. Introducing a Comparative Perspective, in: Social Anthropology, the Journal of the European Association of Social Anthropologists 10 (2002) 2, 173-188, 176-179. 14 | Hier widerspreche ich End, Herold und Robel insoferne, als die Frage der Terminologie im Kontext wissenschaftlichen Sprechens nicht so sehr eine der politischen Gerechtigkeit ist, sondern der Präzision. Wenn von Personen mit unterschiedlichen Geschlechtern die Rede ist, verwende ich daher auch beim Bezug auf rassistische, sexistische oder anders diskriminierende Texte eine Schreibung, die diese Differenzierung wahrnehmbar macht. Vgl. End/ Herold/Robel, Antiziganistische Zustände, 13-14, 19. 15 | So eine der offen rassistischen Bezeichnungen in der deutschen Tsiganologie. Vgl. Joachim Hohmann, Geschichte der Zigeunerverfolgung in Deutschland, Frankfurt-New York 1981, 210. 16 | Die Kritik an der Tsiganologie hat in den letzten Jahren nicht nur massiv zugenommen, sondern sich auch erfreulicherweise mit fundierten Analysen abgesichert. Vgl. Jan Severin, „Zwischen ihnen und uns steht eine kaum zu überwindende Fremdheit.“ Elemente des Rassismus in den „Zigeuner“-Bildern der deutschsprachigen Ethnologie, in: End/Herold/Robel (Hg.), Antiziganistische Zustände, 67-94, 67-68. Die inhaltlichen, theoretischen und methodischen Verflechtungen des Mainstreams der einschlägigen Forschung mit diesen Traditionen war die Kritik bisher dennoch kaum in der Lage, zu erschüttern.

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Auch den beiden Texten, aus denen ich im Folgenden Aspekte bespreche, ist gemeinsam, dass sie rassifizierte Grenzen als etwas voraussetzen und absichern, das jenseits der Erzählung liegt. Gleichzeitig verändern die Darstellungen aber den Charakter und die Form dieser Grenzen und markieren sie situativ als überschreitbar. Die Erzählungen wollen keinen Zweifel daran lassen, in welche Gruppe die Überschreitenden vermeintlich unumgänglich gehören, und weisen ihnen Maskierungen zu, die sie als Fremde erkenntlich machen. Gleichzeitig werden die Masken in den hier vorgestellten Erzählungen teilweise als solche sichtbar gemacht und ihre Legitimität hinterfragt, besonders aber der Charakter von Grenzen neu ausgelotet. Diese changieren dann zwischen symbolischer und essentialisierter Dimension. Seit der Aufklärung hat eine solche Perspektive auf Rom_nija Tradition im wissenschaftlichen Sprechen über „Zigeuner_innen“, für die Umerziehung als adäquates Mittel zur „Menschwerdung“ betrachtet wurde: „Oft schien ein Knabe (denn am Kinde muß man anfangen […]) bereits auf dem besten Wege zur Menschwerdung zu seyn; und plötzlich brach die rohe Natur wieder hervor, er gerieth in den Rückfall und wurde wieder von Fuß bis zur Scheitel Zigeuner.“17 So beschreibt der berühmteste frühe „Zigeunerforscher“,18 Heinrich Moritz Grellmann, in seiner Ende des 18. Jahrhunderts erschienenen Monografie die im Fokus dieses Beitrags stehenden Grenzbegriffe (Natur/Kultur, „Zigeuner“/Mensch)19 und verweist damit zugleich auf die hohe Relevanz von Körper und Geschlecht für die Wahrnehmung von „Zigeuner_innen“. Grellmanns „Leistung“ war nicht nur die Fixierung eines Ursprungsnarrativs (Indien), sondern auch eine umfassende Rassifizierung, in die die bereits etablierte Annahme von performativen Unterschieden integriert wurde. Dennoch zeichnet er die radikalen Differenzen vom „Europäer“ (weiß/schwarz, bekleidet/halbnackt, Fleisch/ Aas)20 als ablegbar, wie die Fortsetzung des obigen Zitats von der wieder zunichte gemachten Menschwerdung zeigt: „Aber darum ist die Sache nicht ganz unmöglich. Gieng es wohl anders mit den Sachsen, die Carl der Große zu Christen machte?“21 Die Intersektion von rassifizierten und performativen („Vagant_innentum“, „Asozialität“) Differenzierungsnarrativen kennzeichnet das Sprechen über „Zigeuner_in-

17 | H[einrich] M[oritz] G[ottlieb] Grellmann, Historischer Versuch über die Zigeuner betreffend die Lebensart und Verfassung Sitten und Schicksale dieses Volks seit seiner Erscheinung in Europa, und dessen Ursprung, 2. Aufl, Göttingen 1787, 15. Das gesamte Zitat wurde in der Originalschreibung übernommen. 18 | Vgl. Katrin Ufen, Aus Zigeunern Menschen machen. Heinrich Moritz Grellmann und das Zigeunerbild der Aufklärung, in: Wulf D. Hund (Hg.), Zigeuner. Geschichte und Struktur einer rassistischen Konstruktion, Duisburg 1996, 67-91. 19 | Vgl. Martina Löw, Einheitsphantasmen und zerstückelte Leiber. Offene und geschlossene Körpervorstellungen, in: Hans Günther Homfeldt (Hg.), „Sozialer Brennpunkt“ Körper. Körpertheoretische und -praktische Grundlagen für die soziale Arbeit, Hohengehren 1999, 62-70, 65-66. 20 | Vgl. Grellmann, Versuch, 12-13. 21 | Grellmann, Versuch, 15. Schreibung wie im Original.

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nen“ bis in die Gegenwart,22 und zeigte sich nicht nur in den radikal rassifizierenden Diskursen/Maßnahmen von Verfolgung und Ermordung (hauptsächlich als „Zigeunermischlinge“) durch die Nationalsozialist_innen. Gleiches gilt für die zynische Behandlung von Überlebenden durch die Opferfürsorgebürokratie in Österreich und Deutschland.23 Nach 1945 waren die „Zigeuner_innen“ unter veränderten politischen Vorzeichen nicht nur wieder zu „Asozialen“ geworden, sondern vorgeblich auch immer solche (und daher nie „rassisch verfolgt“) gewesen. Die Rassifizierung von „Devianz“ changierte seit dem 18. Jahrhundert vielfach, änderte Gestalt und Verlauf. Die folgenden beiden Erzählungen sind auch als aktuelle Erinnerung (und damit Re-aktualisierung) dieser unterschiedlichen historischen Festlegungs- und Verhandlungsprozesse der Grenzen zwischen „Zivilisierten“ und „Nicht-Zivilisierten“ zu lesen, die zeigen, dass eine rassifizierte Abgrenzung auch in der Gegenwart längst nicht nur auf „rassische“ Eigenschaften verweisen muss.24

D ER KÖRPER BRINGT SICH HINTER „ IL CIRCO CAPOVOLTO “ (2008)

DIE

G RENZE :

2008 publizierte die italienische Autorin Milena Magnani ihren dritten Roman unter dem Titel il circo capovolto (ins Deutsche übersetzt als Der gerettete Zirkus)25 in dem ein Ich-Erzähler seine Lebensgeschichte ausgehend von seiner eigenen Ermordung als Bewohner eines illegalen campo nomadi schildert. Dieser Erzähler, ein Ungar mit dem Namen Branko, wird als Nicht-Rom in einer Kleinfamilie erzogen und verliert dieses 22 | Der Verweis auf die Intersektionalität soll hier unterstreichen, dass die Annahme einer Rassifizierung von Performativität/sozialer Ausgrenzung oder umgekehrt in die Irre leitet. Vgl. Claudia Breger, Ortlosigkeit des Fremden. „Zigeunerinnen“ und „Zigeuner“ in der deutschsprachigen Literatur um 1800 (= Literatur-Kultur-Geschlecht 10), Köln-WeimarWien 1998, 7. 23 | Vgl. Andrea Strutz, Wieder gut gemacht? Opferfürsorge in Österreich am Beispiel der Steiermark, Wien 2006, 210-217; Andrea Strutz, „The Treatment is No Different to Hitler’s Direction“. Compensation Measures for Austrian „Gypsies“ after 1945 exemplified by Opferfürsorge Applications in the Province of Styria, in: Suzanne Bardgett/David Cesarani/Jessica Reinisch/Johannes-Dieter Steinert (Hg.), Justice, politics and memory in Europe after the Second World War (= Landscapes after battle 2), London-Portland 2011, 81-98. 24 | Ich vermeide bewusst den Terminus „ethnisch“, hat doch Eduard Staudinger zu Recht zur Vorsicht vor dem „euphemistischen Charakter“ des Terminus „Ethnizität“ geraten. Marion Müller hat in diesem Kontext darauf hingewiesen, dass die Begriffe „Rasse“ und „Ethnie“ im deutschsprachigen Gebrauch meist deckungsgleich sind und der Gebrauch von „Ethnizität“ weder biologistische noch naturalisierende Konzeptionen ersetzt. Vgl. Denise Daum/Andrea Geier/Iulia-Karin Patrut/Kea Wienand, Einleitung, in: Graduiertenkolleg Identität und Differenz (Hg.), Ethnizität und Geschlecht. (Post-)koloniale Verhandlungen in Geschichte, Kunst und Medien, Köln-Weimar-Wien 2005, 3-20, 7. 25 | Vgl. Milena Magnani, Der gerettete Zirkus, aus dem Italienischen von Maja Pflug, Hamburg 2010.

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als normal präsentierte Leben, als die Abweichungen davon an seinem Körper spürbar werden. Als Bauarbeiter beginnt er in halsbrecherischer Art und Weise an Gerüsten herumzuturnen und entwickelt Ticks, die seinen Vater dazu veranlassen, ihm seine „tatsächliche Herkunft“ zu erklären: „‚Hör zu Branko, versuch, mir möglichst ruhig zuzuhören, denn was ich dir sagen muss, betrifft dein Spielen mit diesem Kopfunter-Hängen, [...] weil du denkst, da so zu baumeln, das käme von deinem Beruf hier auf der Baustelle, aber die Wahrheit, Branko, die Wahrheit, die ich dir nie gesagt habe, lautet ganz anders. […] Aber da du nicht runterkommst, sag ich dir eben trotzdem, auch wenn du da oben bleibst, dass wir von einer cigány Familie abstammen, cigány csaladbol, von einer Familie, die einen großen Zirkus besaß und ich glaube, du hast das im Blut, es ist in deinen Körper eingeschrieben, diese verfluchte Sache mit der Akrobatik…‘“26

Brankos Biografie bis zu diesem Moment wird als von der Vergangenheit seines Vaters völlig unberührt dargestellt, obwohl der Roman eine sehr klar erkennbare Betonung auf den historischen Verbrechen an als „Zigeuner“ Verfolgten aufweist und narrativ in einem Verrat der Zirkusartist_innen kulminiert, dessen sich ein assimilierter Freund von Brankos Großvater in der Zeit der NS-Verfolgung schuldig gemacht hat. (Dies markiert auch den Beginn der Rolle von Brankos Vater als „Stammhalter“ nach der Ermordung aller übrigen Angehörigen in Auschwitz). In der Darstellung von Brankos Aufwachsen zeichnet Magnani das Bild einer traditions- und geschichtenlosen Kindheit, die nicht abgeschlossen werden kann, bis erstens Brankos Zugehörigkeit geklärt („Wer hat dir das Recht gegeben, mir zu verbergen, woher ich komme?“27) und zweitens der Verrat an der Familie gesühnt ist (diese Aufgabe übernimmt Branko für seinen Vater). Elemente wie das letztgenannte spielen den ganzen Roman hindurch eine entscheidende Rolle und verweisen auf Aspekte des Irrationalen, Übersinnlichen. Diese fungieren in Anknüpfung an traditionelle antiziganistische Images als gemeinsames Merkmal des als „cigán“ Benannten.28 Zum Set dieser Bilder gehören auch Verfluchung und Verfluchtheit, die einerseits das Schicksalshafte, Unausweichliche an der Lebensgeschichte weiter hervorstreichen und andererseits untermauern, dass „Zigeuner_innen“ außerhalb der aufgeklärten Ordnung stehen. Insofern ist der rote Faden der Irrationalität, der wesentlich zur narrativen Kohärenz beiträgt, auch als inhaltlicher Schwerpunkt auszumachen: Sie bestimmt zuletzt auch das Töten und Getötet-Werden im Roman.29 Mit einem starken Bezug zum Blutrache-Klischee30 wird Branko zum Mörder (am Verräter 26 | Magnani, Zirkus, 145. 27 | Magnani, Zirkus, 147. 28 | Vgl. Rafaela Eulberg, Doing Gender, Doing Gypsy. Zum Verhältnis der Konstruktion von Geschlecht und Ethnie, in: End/Herold/Robel (Hg.), Antiziganistische Zustände, 41-66, 53-55. 29 | Vgl. etwa Magnani, Zirkus, 182-183. 30 | Vgl. Gay y Blasco, Gypsy/Roma Diasporas, 177.

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der Artist_innen) ebenso wie zum Ermordeten (gemäß dem entsprechenden Schwur des Sohns des Verräters). Unabhängig von dieser Präsenz extremer Gewalt verlässt der Protagonist nach Erfüllung seiner „Pflichten“ seinen Körper leichter und, begleitet durch scheinbar Romani-spezifische Bestattungsrituale, auch in einer versöhnlichen Art und Weise. Dem zum Rom Gewordenen wird das Sterben durch die Anwesenheit und Performanz anderer Rom_nija „weniger Sterben“31. In diesem Sinne wäre auch erklärbar, warum der Zirkus – das „Zigeunerische“ in Brankos Leben – nicht als Teil der Familiengeschichte/n und als abstrakte Tradition präsent ist, sondern sich selbständig und unkontrollierbar als körperlicher Zustand Raum nimmt. Seine vermeintliche Herkunft ist Branko eben in den „Körper eingeschrieben“ und betrachtet diesen auch als seinen Besitz. In der Kombination mit einem gewissen Lebensgefühl, einer Art Sehnsucht, treten hier die beiden traditionellen Aspekte der rassifizierten und performativen Zigeunerstereotype in anderen Kostümen wieder auf: „Nur dass ich mich dann, ungefähr mit vierzehn, als ich die Pflichtschule beendet hatte, nicht mehr wohl fühlte in diesem Leben. Man saß zu viele Stunden über den Büchern – über den Büchern, wenn es regnete, über den Büchern, wenn die Sonne schien, ich konnte es nicht mehr ertragen. Und außerdem trieb mich irgendetwas, innerlich, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.“32

Der unbestimmte und unbestimmbare Antrieb, von dem hier die Rede ist, steht für die performative Differenz von einer sesshaften, über Bücher brütenden und vom Wetter unbeeindruckten „Mehrheitsgesellschaft“. Doch nicht allein damit wird Brankos Zugehörigkeit zu den „cigány“ bestimmt, entwickelt der Roman doch eine diesbezüglich komplexere Argumentation: „Nach ein paar Schritten drehte Senija sich um, ‚Also, wenn ich recht verstanden habe, ist dein Blut schlagartig sânge de ţigan geworden, Zigeunerblut.‘ Ich sah sie liebevoll an: ‚Ehrlich gesagt, ich glaube, dass mein Blut dasselbe geblieben ist, Senija.‘ Senija machte ein Zeichen, dass sie nicht verstand. Daher versuchte ich, es ihr zu erklären: ‚Hast du eine Vorstellung davon, was wir sind? Was wir fühlen? Am Ende ist es doch nur ein Gedanke.‘“33

In der Gegenüberstellung des Kindes und des erwachsenen Mannes führt Magnani rassistische Ideen anhand der symbolisch so hoch bewerteten Frage des rassifizierten „Elexiers“ Blut als naive, kindliche Chimäre vor. Dennoch arbeitet die Erzählung sehr intensiv an der Herstellung einer abgrenzbaren Großgruppe, auch wenn kein Dachbegriff vorgeschlagen wird. Den Zusammenhang zwischen denjenigen, die sich nun in ei-

31 | Magnani, Zirkus, 164. 32 | Ebda., 139. 33 | Ebda., 148.

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nem campo nomadi wiederfinden, bildet eine gemeinsame Geschichte, eine historische, gemeinsam erinnerte Performanz: „Denn im Grunde sind wir weder Angehörige eines Clans noch blutsverwandt, sondern kommen aus unglaublich weit voneinander entfernten Ländern[,] aber uns eint der Umstand, dass wir auf denselben Leinen Wäsche aufgehängt haben, dass wir einander als entwurzelte Bürger akzeptiert haben.“34

Alternativ bietet Magnani auch genealogische Definitionen für die Gruppenkonstitution und -definition an, wenn sie Brankos Vorfahren als manouches, „piemontesische Sinti“, oder Menschen bezeichnet, die mit den „gitans“ und „cuevas“ ihre Zelte aufgeschlagen hätten.35 Diese Verortung in einem verschwommenen Graubereich zwischen „Abstammung“, Geschichte, „devianter“ Performanz und Kriminalität charakterisiert in Kombination mit dem Determinismus der Handlung eine Gruppenzugehörigkeit, die zwar reflektiert wird, letztlich aber dennoch eine (sogar tödliche) „Tatsache“ bleibt. Nach dem Geständnis des Vaters und der Offenlegung Brankos „wahrer“ Zugehörigkeit beschreibt Magnani einen Moment der Grenzüberschreitung, der zunächst als Frage der individuellen Entscheidung wirkt, wenn der Hauptprotagonist die „Möglichkeit serviert [bekommt], plötzlich auch das Leben eines anderen [sic] zu leben“.36 In der Erzählung einer Selbstverortung wird die Grenze dann festgezurrt und aus der Überschreitung nur mehr die Rückkehr der ganzen Person dorthin, wo der Körper sich schon immer befunden hat. Branko realisiert, dass er auch gestern schon „cigán“ war, als er noch nichts davon wusste.37 Die Situation wird völlig unausweichlich und aus der handelnden Person ein passiver Vollstrecker seines eigenen unausweichlichen Schicksals. Dass ausgerechnet sein Körper zum Ort des „Zigeunerischen“ stilisiert wird, entspricht der Struktur antiziganistischer Argumentationen, die dieses ebenso in die Sphäre der „Natur“ einordnen wie den Körper.38 Auch in der genaueren Ausgestaltung der Zugehörigkeit zur Gruppe der „Fahrenden“, Zirkusartist_innen, „cigány“ und anderen, die Magnani hier als Kollektiv betrachtet, flicht sie Elemente ein, die als Erinnerung an die frühmodernen Stereotypen von „Zigeuner_innen“ interpretierbar sind: Freiheitstrieb bricht sich ebenso die Bahn wie ein Verlangen nach unstetem Leben. In der von Rationalität schwerer kontrollierbaren Nacht fällt der Zirkus mit seinen Tieren 34 | Ebda., 163. 35 | Vgl. ebda., 9. 36 | Ebda., 175. 37 | Vgl. ebda., 175. Diese enorme A- oder eigentlich Transhistorizität von Gruppendefinitionen ist für die Herstellung von Romani Zugehörigkeit charakteristisch, wie das schon erwähnte Beispiel der „Asozialität“ im Opferfürsorgebereich ebenso zeigt wie die Projektionen von Romani Geschichte entlang der Identifikation von „Zigeunern“. Vgl. Florian Freund, Oberösterreich und die Zigeuner. Politik gegen eine Minderheit im 19. und 20. Jahrhundert (= Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 10), Linz o.J. [2011], 13-20. 38 | Vgl. Eulberg, Doing Gypsy, 49-51.

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vollends über Brankos kleinbürgerliche Verhältnisse her und lässt Löwen im Keller seines Mietshauses brüllen.39 Branko wird (gezwungenermaßen) ortlos, er verliert seine Verankerung im „realen Leben“ und gibt seinem vermeintlichen „Wandertrieb“ nach.40 Von Romani NGOs wurde lange Zeit eingemahnt, antiziganistischen Darstellungsformen, wie sie auch in Magnanis „il circo capovolto“ mitverwoben werden, durch Selbstbeschreibungen von Rom_nija entgegenzutreten. Um mögliche Interdependenzen dieser politischen Forderung mit der formalen Ebene künstlerischen Ausdrucks anzudeuten, werde ich als zweites Beispiel daher einen Text besprechen, der im Dialog zwischen einer Nicht-Romni und einem Rom entstanden ist und diese dahinterstehende Kommunikation auch transparent macht.

DAS VERSCHWINDEN VON G RENZEN UND NEUE A BSICHERUNGEN : „R OMA B OYS “ – „P ŘÍBĚH LÁSKY “ (2009) Im 2009 erstmals vorgeführten Film Roma Boys – Příběh lásky („Liebesgeschichte“)41 erzählen Rozálie Kohoutová und David Tišer die Geschichte eines Filmprojektes einer jungen Regisseurin, das an der Intervention des Schauspielers, der die zentrale Rolle übernehmen soll, scheitert. Tišer, der sich im Romské Obrozeni42, der Nationalisie-

39 | Vgl. Magnani, Zirkus, 173-177. 40 | Vgl. Breger, Ortlosigkeit, bes. 14-15. 41 | Regie führte Rozálie Kohoutová, der ich für die Überlassung einer Kopie des Films sehr dankbar bin 42 | Nur am Rande sei erwähnt, dass die Terminologie hier so unmissverständlich wie erhellend ist: Das „Národní Obrození“ ist der zentrale Gedächtnisort der tschechischen Nation und erklärt, diese Nationalisierungsbewegungen des 19. Jahrhunderts seien eine – wörtlich – „nationale Wiedergeburt“ gewesen. Dass nun jene Bewegung von politisch engagierten Rom_nija und Nicht-Rom_nija, die international als „Romani Movement“, „Roma Bürger_ innenrechtsbewegung“, „Roma Rising“ oder ähnlich bezeichnet wird, in Tschechien ausgerechnet mit dieser Analogie auf einen extrem aufgeladenen historischen Begriff beschrieben wird, darf erstens als politischer Anspruch gedeutet werden, verweist aber zweitens darüber hinaus sehr deutlich auf den Umstand, dass diese Form der Bewegung an den Nationalisierungen des 19. Jahrhunderts modelliert und gemessen wird. Insofern ist es nicht überraschend, dass die traditionellen Aspekte solcher Entwicklungen, etwa Homogenisierungen (Konstruktion einer gemeinsamen Sprache, Geschichte und „rassischer“ Herkunft), Unterdrückungsnarrative etc. hier die Positionierungen und Inter-/Aktionen bestimmen. Ebenso bemerkenswert scheint die dahinterstehende Rhetorik, die von der radikalen Asymmetrie zwischen Universalismus- und Gleichheitsimaginationen und damit hergestellten Politiken radikaler Ungleichheit bestimmt ist. Vgl. prinzipiell Chad Evans Wyatt, Romské obrozeni, Prag 2005; Peter Vermeersch, The Romani Movement. Minority Politics and Ethnic Mobilization in Contemporary Central Europe, New York-Oxford 2007, bes. 133-149; Ida Blom/ Karen Hagemann/Catherine Hall (Hg.), Gendered Nations. Nationalisms and Gender Order in the Long Nineteenth Century, Oxford-New York 2000; sowie den Klassiker zum „Národní Obrození“ Miroslav Hroch, Na prahu národní existence. touha a skutečnost, Prag 1999.

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rungs- und Menschenrechtsbewegung tschechischer Rom_nija, engagiert und sich als Angehöriger einer Elite mit höchster Bildung und urbanem Lebensstil definiert, wird in den ersten Minuten des Films als Schauspieler gezeigt, der das ursprüngliche Drehbuch der Regisseurin als Projektion der „Gadže“ ablehnt und ein völlig abweichendes Alternativskript entwickelt. Im Folgenden zeigt der Film immer beide Ebenen: Im Voice Over erzählt David Tišer von seinen Ideen für eine adäquate Geschichte, die gleichzeitig dazu auch im Schauspiel umgesetzt wird. Die aus den Fokussierungen auf unterschiedliche Meta-Levels entstehende Differenziertheit qualifiziert den Film für eine Analyse von begrenzenden (und vielleicht auch entgrenzenden) Narrativen besonders. Die Geschichte, die der Hauptdarsteller vorschlägt und in der er dann auch mitspielt, dreht sich um einen Studenten und Romani Aktivisten, der auf einer Dating-Plattform einen Rom aus einer Familie der Vlach-Roma (Olašstí Romové) kennenlernt, mit dem er eine Beziehung eingeht. Durch dieses Setting entsteht eine klassische Dichotomie zwischen der Prager Urbanität, in der politisches Engagement, Genuss/Technologie und Selbstbestimmtheit/Individualität die entscheidenden Eckpfeiler der Verhandlung von Zugehörigkeit sind und den von Traditionen, Patriarchat, Gewalt und Familiendenken geprägten Bildern aus dem ländlichen Leben der Vlach-Familie: „Also die Ereignisse beginnen mit einem Jungen und einem Mädchen, die in einer WG zusammenwohnen. Das sind junge Leute, die studieren, arbeiten, selbstverständlich moderne Technik verwenden.“43 Diese Beschreibung steht auch auf der Ebene der Performanz im extremen Kontrast zu den Szenen mit den Vlach-Rom_nija. Dort erzeugen Sprache (Romanes), Requisiten (Plastikblumen, elektrisch leuchtende oder sich bewegende Heiligenbilder, bunte Tücher, Ohrringe etc.) und Rituale (Trauungszeremonien etc.) eine vermeintlich typische (ethnographische), klischeehafte Inszenierung. Bemerkenswert ist schon an dieser Grundkonstellation, dass hier keine „rassische“44 Grenze verhandelt wird, sondern eine, die entlang den Bruchlinien der Moderne/Tradition-Dichotomie verläuft. Außerdem stellt das Umfeld, das im Film als Vlach-Familie bezeichnet wird, jene Diskursfigur dar, die aus LGBT-Selbsterzählungen seit der 2. Hälfte des 20. Jh. ganz ohne rassifizierenden Aspekt als die „traditionell“ lebende Familie am Land bekannt ist.45 Anders als im vorhin vorgestellten Roman wird der Finger nicht auf naturalisierte Differenz gelegt, sondern auf Unterschiede innerhalb einer einheitlich vorgestellten Gruppe. Dass das in einem Kontext gelingt, der auf die Positionen des um „nationale“/„ethnische“ Homogenität bemühten Romské Obrozeni aufbaut, erscheint bemerkenswert. 43 | „Takže příběh začíná tak, že spolu bydlí kluk a holka. Jsou to prostě mladí lidi, kteři studujou, pracujou, samozřejmě používají moderní techniku. […].“Rozálie Kohoutová/David Tišer: Roma Boys. příběh lásky, Praha 2010. min 3:28-4:25. Diese wie die folgenden Übersetzungen aus dem Tschechischen stammen von mir, ich danke Barbara Tiefenbacher und Ivo Graca sehr herzlich für die Korrektur der Transkription. 44 | David Tišer definiert in einer der ersten Sequenzen Rom_nija als „národnost“, also als „rassisch“ bestimmtes „Volk“. 45 | Vgl. dazu prinzipiell etwa Matt Cook, Urban Desires, in: History Workshop Journal 62 (2006), 292-300.

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Der Film lässt es allerdings nicht bei diesem Bruch bewenden, sondern baut einen viel deutlicheren ein, der besonders vor dem Hintergrund der Tradition des Mainstreams von Kinodokumentationen über Rom_nija als radikale Abrechnung zu betrachten ist.46 Direkt in der Konstruktion der Grenze zwischen Romani-Elite und (vorgeblich) traditioneller lebenden Gruppen in Form der Vlach-Rom_nija, zwischen urbaner Selbstbestimmtheit und ländlicher Repression, wird jenes Moment sichtbar, das diese Grenze nicht nur überschreitet, sondern sie im Prozess des Aufbauens niederreißt. Die formale Struktur des Films erlaubt ein völliges Aufbrechen, wenn die Schauspieler_innen in die Kamera oder zu den Personen hinter der Kamera blicken, die einstudierten Sätze noch einmal wiederholen oder abbrechen, Mitglieder der Crew gefilmt werden bzw. andere drastische Unterbrechungen in der erwarteten Spielfilmperformanz gezeigt werden. Das dabei wirkungsvollste Element ist der Humor, der eine der zentralen Szenen vorführt, indem die vielen Ebenen der Performativität gezeigt werden: Als sich der junge VlachRom, der bereits als der Partner (přítel) des Hauptprotagonisten vorgestellt wurde, bei seinen Eltern als gay outet, wird zuerst noch die Grenze aufrecht erhalten. Das tschechischsprachige Outing (Assimilation) unterbricht die Romanes-Dialoge (Tradition), die Mutter verfällt in Verzweiflung, der Vater gerät in Rage. Doch diese Erregung wird als einstudiertes Spiel enttarnt, womit die Erwartungshaltungen und Positionierungen der Erzählenden wie auch der Zuschauer_innen sichtbar gemacht werden, wenn der Familienvater mehrfach als Schauspieler in seinem Redefluss stockt und neu ansetzt, die Szene sich von unterschiedlichen Perspektiven wiederholt, aber nie glaubwürdig gemacht, sondern immer nur als Scheitern auf die Leinwand gebracht wird. Noch stärker tritt dieses Element in der Sequenz der darauf folgenden Zwangsverheiratung auf. Die Geschichte sieht vor, dass der junge Vlach-Rom danach zu einer Hochzeit gezwungen wird. Nach der formellen Zeremonie der Familie wird der Mutter des Bräutigams allerdings bewusst, dass sie hier einen schrecklichen Fehler gemacht hat, woraufhin sie in lautes Gezeter ausbricht und allgemeine Empörung und Verwirrung beginnt. Während diese Erklärungen im Voice Over die Szene zusammenhalten (und damit die Grenze Modernität/Tradition absichern) fällt sie im Spiel völlig auseinander. Hier ist der springende Punkt, dass die anwesenden Schauspieler_innen der Handlung weder die Seriösität noch die Schwere zugestehen wollen, die sie Tišers Vorstellungen gemäß hätte. Spätestens als die Mutter laute Selbstvorwürfe und Anschuldigungen schreit, machen die Schauspieler_innen die absurde Komik der Performanz sichtbar, indem sie laut lachen, was auch den finalen Ausbruch des Vaters, der in einem einzigen Handgriff den Tisch auf den Kopf stellt, nur mehr als Element der Komik gelten lässt. Von der patriarchalen, traditionellen Alltagsgestaltung der Vlach-Rom_nija bleibt nicht mehr über als von diesem letzten Akt der Demonstration von Machtanspruch und Gewalt: Das 46 | Als nur ein Beispiel aus diesem boomenden, auf Ethnisierung/Exotisierung abzielenden Feld nenne ich hier The Curse of the Hedgehog (2004) von Dumitru Budrala. Charakteristisch für solche Dokumentationen sind vermeintlich ethnologische Positionen, die verborgene Sinnstiftung, Rituale, Traditionen in einer Art auftreten lassen, dass sie zu irrwitzig verzerrten Spiegelbildern im Sinne eines Said’schen Orientalismus werden.

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am Boden liegende Geschirr und Essen wird als Humor hervorrufendes Produkt einer Projektion sichtbar, das Bestehen auf den Ritualen im Narrativ als hohle Phrasen, die absurde Komik entwickeln. Beachtenswert ist der Umstand, dass dieser Bruch im Film nicht auf der inhaltlichen, sondern auf der Meta-Ebene angelegt wird. Um rassifizierte Zuschreibungen als Masken zu entlarven, die im Spiel von Erwartung und Erfüllung getragen werden, ist eine radikale Auseinandersetzung mit der Frage von Fiktionalität im Medium Film und deren Wirkungsweisen notwendig. Diese Demontage filmischer Darstellungsmodi deutet wohl auch darauf hin, dass eine Infragestellung der Grenzen, die hier thematisiert werden, eine sehr grundsätzliche Behandlung der Sprachen, mit denen sie kommuniziert werden, voraussetzt.47 Doch auch was die Frage rassifizierter Grenzen betrifft entwickelt der Film eine alternative Perspektive, die auf der Basis der geschilderten Dichotomie auch solche auf Gegensatz ausgelegten Muster neu bewertet, Grenzüberschreitungen oder zumindest ein Ausblenden der Grenzen versucht.48 Die im Folgenden transkribierte Szene besteht aus Sequenzen auf einem abgelegenen Feld, auf dem der Vlach-Rom von seinem Vater und einem Bruder misshandelt wird. Diese Sequenzen werden mit solchen aus einer Prager Schwulenbar kontrastiert, in der sich der Freund des Misshandelten zeitgleich ahnungslos unterhält. Obwohl hier keinerlei Auflösungen der formalen Ebene eingebaut werden, entwickelt sich ein Bruch aus der Erzählung selbst, wird doch aus der Gemeinsamkeit der beiden Protagonisten (auf Basis ihrer „rassischen“ und sexuellen Zugehörigkeit) eine ganz drastische Differenz, die sich auch im gesprochenen Text widerspiegelt, ist dieser doch teilweise im für weiteste Teile des Publikums unzugänglichen Romanes (ausnahmsweise ohne Untertitel) gehalten: [Totale auf ein Feld, über einen sehr holprigen Weg kommt ein Auto heran. Tschechisch:] „[…] Pak je až scéna na poli, kdy přijíždí auto. Vystupuje táta a, eh, jeden nebo dva bratři. - Tak ty máš chlapa? Tak já ti ukážu chlapa, tak pojď –[Romanes:] The me dav duke. Caresa! Geco coroj! [teilw. unverständlich] Geco coroj. Meres – Dade, ma ker! – So keres? [Tschechisch:] Proč ty buzerant(e)? Proč [unverst.]? [Schnitt, Außenansicht Diskothek] No, hlavní hrdina to má o mnoho veselejší, protože neví, co se odehrává na míle daleko ... A jako ostatně každý víkend, vyráží se svými přáteli ven. Tentokrát do klubu Valentino, což je gay bar. Tam prostě se chodí opravdu jako jenom pobavit, ... [...] kvůli tomu, že se tam cítí dobře, protože jsou tam všichni stejně orientovaní. A nikdo nekouká na to, jestli jsi Rom nebo ne, nebo možná se tam někdo takovej najde, ale není to tak, jak kdyby se mělo jít

47 | Ich danke Heidrun Zettelbauer besonders für die Inputs und Diskussionen u.v.a. auch zu diesem Aspekt. 48 | Was für das postmoderne Sprechen über Rom_nija erstaunlich ungewöhnlich ist, vgl. Roswitha Scholz, Antiziganismus und Ausnahmezustand. Der „Zigeuner“ in der Arbeitsgesellschaft, in: End/Herold/Robel (Hg.), Antiziganistische Zustände, 24-40, 36.

M ASK /U NMASK na normální diskotéku. Protože tam se třeba ani nedostane. [...] [Schnitt, wieder am Feld] [Romanes:] Pizdesa to kar andi mindz!“49 [Am Feld – Tschechisch:] Danach kommt schon die Szene am Feld, auf dem ein Auto ankommt. Aus diesem steigt der Vater und ein oder zwei Brüder aus. – Also hast du einen Jungen? Ich zeig dir einen Jungen, komm! [Romanes] 50 [Tschechisch:] Warum du Schwuchtel? Warum du Arschloch?51 [Vor und in einem Lokal] Ja, und der Hauptprotagonist hat es um vieles lustiger, weil er nicht weiß, was sich meilenweit entfernt abspielt ... und wie jedes andere Wochenende geht er mit seinen Freunden aus. Dieses Mal in den Klub Valentino, das ist eine Schwulenbar. Dahin geht er wirklich nur, um sich einfach zu unterhalten. […] Weil er sich dort gut fühlt. Weil dort alle die gleiche Orientierung haben. Und niemand schaut dort, ob du ein Rom bist oder nicht, oder vielleicht findet sich dort jemand, der so sucht, aber es ist nicht so, wie wenn man in eine normale Diskothek geht. Weil dort bekommt man zum Beispiel gar nichts. [Wieder am Feld:] [Romanes]52 […]

Während das Bekenntnis zu einer schwulen Community den Hauptprotagonisten in Prag nicht mehr als Rom erscheinen lässt, bringt das gleiche Bekenntnis für seinen Freund die radikalen Konsequenzen einer „rassischen” Zugehörigkeit an das Tageslicht. Die beiden Jungen sind nicht mehr Teil der gleichen Gruppe, rassifizierte Grenzen verschwinden um den Preis einer Absicherung und Verstärkung anderer symbolischer Grenzen, etwa jener zwischen Tradition und Moderne, zwischen Stadt und Land, Liberalität und Rückwärtsgewandtheit etc. Ausgehend von der Fiktion einer homogenen, universellen Global Gay Brotherhood („Dort haben alle die gleiche Orientierung“) wird seine Zugehörigkeit zu den Rom_nija unsichtbar, oder zumindest irrelevant („niemand schaut, ob du ein Rom bist“). Abgesichert werden im Gegenzug andere symbolische Grenzen der Moderne, etwa vergeschlechtlichte oder jene zwischen Tradition und Fortschritt. Zusätzlich dazu werden völlig neue Ausgrenzungen vorgenommen, beispielsweise von Menschen, die in „normale“ Diskotheken gehen, und an Ihrer pauschalen Intoleranz erkennbar wären. Völlig anders als in Magnanis Zirkus, in dem der Körper den Versuch der Überschreitung einer rassifizierten Grenze unausweichlich sanktioniert, geschieht er hier 49 | Kohoutova/Tišer, Roma-Boys, 12:34-14:30. 50 | „Ich werds dir geben. Nimm das! [wortwörtl.: „Leck das!“] Du stirbst! – Papa, nein, tu das nicht. – Was machst du?“ Diese Romanes-Stellen werden, anders als alle anderen, im Film nicht übersetzt, sondern beispielsweise auch in den englischsprachigen Untertiteln nur durch eine Romanes-Transkription ersetzt, was den Schluss nahelegt, dass diese Ebene dem Publikum nicht erschlossen werden sollte. Aus diesem Grund sind diese Leerstellen auch hier als solche wiedergegeben. Barbara Tiefenbacher sei für die Romanes-Übersetzung besonders gedankt. 51 | „Arschloch“ entstammt hier den englischen Untertiteln, die gesprochene Sprache ist an dieser Stelle durch die tumultartige Szene und die vielen Sprecher unverständlich. 52 | „Steck deinen Schwanz in eine Fut!”

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flüssig und im Rahmen einer Erfolgsgeschichte. Diese Trennlinie ist überwindbar, was allerdings nicht zu der Annahme verleiten darf, dass sie dadurch weniger relevant wäre. Schließlich bringt auch das Narrativ in Roma Boys die Protagonisten am Ende in erzwungene (traditionelle Romani) Ehen mit Frauen. Selbst die besondere Konstellation der filmischen Inszenierung dieser Erzählung (in der finalen Szene und im Abspann gibt es doch noch ein gay happy end) erlaubt kein Ablegen der rassifizierten Zugehörigkeit, pervertiert aber die Darstellung von damit in Verbindung gebrachten Zuschreibungen. Die massive Präsenz von Individualität und Entscheidungsfreiheit im Narrativ lenkt den Blick auf alternative Romani Lebensentwürfe abseits des (rassistisch) vorgestellten Mainstreams.

R ESÜMEE In diesem Beitrag diskutiere ich den tschechischen Film Roma Boys und den italienischen Roman il circo capovolto als zwei unterschiedliche Strategien der Auseinandersetzung, Veränderung und Re-aktualisierung historischer Konzeptionen von Zugehörigkeit zu einer vermeintlich einheitlichen Gruppe der „Rom_nija“. Was bei Roma Boys überwunden wird, ist nicht die naturalisierte Vorstellung von „Rassen“. Vielmehr werden die damit einhergehenden Zuschreibungen als Masken sichtbar gemacht, die rassifizierte Inhalte transportieren, ohne dass Konzepte stabiler Zugehörigkeit prinzipiell erschüttert werden. Dennoch diskutiert der Film durch den Bezug auf die moderne Vorstellung einer Romani Nation die dahinterstehende Homogenisierung und entlarvt die klassischen Kriterien der Abgrenzung gegenüber Rom_nija (Traditionalität, Schmutz, Gruppenstruktur) als haltlose Rassifizierungen, die dem Begehren und der Ablehnung von Nicht_Romnija entspringen. In der Tradition der Aufklärung wurden und werden Rom_nija von der Kunst der Moderne bis zur Fotografie der Gegenwart als rückständig, unzivilisiert und traditionell inszeniert. Alle diese Bezüge, die als Erinnerung der von Grellmann geprägten Wissensbestände des 18. Jahrhunderts verstanden werden können, schreiben die Grenze hin zum „Zigeunerischen“ in einer Art und Weise fest, dass auch aufklärerische „Umerziehung“, oder nicht einmal völlige „Assimilation“ – wie ich am Roman von Milena Magnani gezeigt habe – davor bewahren, dass sich die Natur das scheinbar ihr Gehörende wieder holt und Irrationalität die Kontrolle über die zu Rom_nija Gewordenen übernimmt. Der hier besprochene Film führt vor Augen, wie gründlich verwoben diese Grenze mit Formen kultureller Kommunikation prinzipiell ist. Die angesprochene Entlarvung von rassifizierten Masken (und damit das Überschreiten der Abgrenzung) gelingt nur durch eine Behandlung der Meta-Ebene filmischer Darstellung. Von dort ausgehend werden das Medium und seine Darstellungsmodi selbst demontiert, um die so vermittelten Grenze in Frage zu stellen.

Orientalismus und Nationalismus Abgrenzungskonzepte in der späten Habsburgermonarchie und in der Republik Österreich Johannes Feichtinger

Orientalismus und Nationalismus sind zwei besondere Ausprägungen weit verbreiteter Abgrenzungsphänomene, mit denen Identität gestiftet, das Ich gestärkt oder ein WirGefühl erzeugt wird.1 Abgrenzungen werden aufgrund von konstatierten oder konstruierten Unterschieden gezogen, wofür häufig Herkunft, Sprache, Kultur und Religion als Kriterien verwendet werden. Mit Abgrenzungen sind auch häufig Wertungen (wie z.B. west-östliches Kulturgefälle) verbunden, in denen sich ein Ich oder eine Gruppe durch Abwertung der anderen aufwertet.2 Schließlich werden Abgrenzungen, seien sie räumlicher, zeitlicher oder sozialer Art, vor dem Hintergrund der jeweiligen Machtverhältnisse verbindlich definiert. Grenzen sind zwar verschiebbar, zugleich aber unaufgebbar, weil – so schon eine alte Erkenntnis des Sinnesphysiologen Ernst Mach – das Ich bzw. die Gruppe „mehr“ durch Differenz zu dem, was es/sie nicht ist – „durch die Umgebung“ – geprägt sei als „durch die psychische Identität“.3 Zu fragen bleibt, wie Identität stiftende Unterschiede als solche erkannt werden? Vor welchem Hintergrund und mit welcher Absicht?

1 | Vgl. Johann Heiss, Orientalismus, in: Fernand Kreff/Eva-Maria Knoll/Andre Gingrich (Hg.), Lexikon der Globalisierung, Bielefeld 2011, 319-323, hier 319. 2 | Über die mit Selbstvergewisserung verbundene Dynamik der Selbstaufwertung durch Abwertung anderer gibt das Konzept der „self-authentication“ Aufschluss. Vgl. Birgit Schaebler, Civilizing Others. Global Modernity and the Local Boundaries (French/German, Ottoman, and Arab) of Savagery, in: Dies./Leif Stenberg (ed.), Globalization and the Muslim World. Culture, Religion, and Modernity, New York 2004, 3-29, und Johann Heiss, Orientalismus, Eurozentrismus, Exotismus. Historische Perspektiven zu gegenwärtigen Trennlinien, in: Birgit Sauer/Sabine Strasser (Hg.), Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus, Wien 2008, 221-236. 3 | Ernst Mach, Auszüge aus den Notizbüchern 1871-1910, in: Rudolf Haller/Friedrich Stadler (Hg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung, Wien 1988, 180.

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Grenzziehungen sind häufig von der nationalen Idee geprägt. Ernst Bloch sieht dabei zwei „Fetische“ wirksam werden: die Vorstellung von einem „Nacheinander an sich“4 und – so könnte man seine Argumentation weiter zuspitzen – von einem Nebeneinander an sich. Der statisch-wesenhafte Zeit- und Raumbegriff manifestierte sich für den deutschen Philosophen in einem „Geographismus“ und „geradlinigen Historismus“; konkret in der Vorstellung einer in „Kulturkreise“ und „unverbundene Zeitstufen“ segmentierten Welt: Jede Epoche stand dabei „unmittelbar zu Gott“5 und somit für sich selbst; jeder vereinzelte „Kulturraum“ war „eine Welt für sich“ mit interner zyklischer Logik.6 In diesem Sinne verlangte der nationale Identitätsstiftungsmodus nach raumzeitlichen Abgrenzungen: nach außen gegenüber anderen Nationen, ‚Primitiven‘ und Migranten7* nach innen gegenüber neuen Minderheiten und schließlich zeitlich gegenüber einer unliebsamen Vergangenheit. Sie alle sollten unterdrückt oder überwunden werden. Vorgänge dieser Art bestimmen nach wie vor Europa: Wurden im 19. und im 20. Jahrhundert Abstammung – ‚Volkstum‘, ‚Ethnizität‘, ‚Rasse‘ –, Sprache und Kultur als Argumente angeführt, um beispielsweise „deutsch“ von „nicht-deutsch“ abzugrenzen,8 so wird diese Abgrenzungsfunktion am Anfang des 21. Jahrhunderts von aufgewerteten ‚europäischen Werten’ erfüllt.9 Die Vorstellung eines durch gleiche Wertvorstellungen abgezirkelten Europa manifestiert sich heute in der wieder gebräuchlichen Verwendung von Begriffen nationalistischer (und sogar nationalsozialistischer) Herkunft wie z.B. der „Raum Europa“, die „Festung Europa“ oder das „Bollwerk Europa“. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde mit Begriffen dieser Art die europäische Zivilisation vor

4 | Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie I, Frankfurt am Main 1963, 163. 5 | Im Jahr 1854 hatte Leopold von Ranke das Folgende vermerkt: „Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie, einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muß und der Betrachtung höchst würdig erscheint.“ Vgl. Ders., Aus Werk und Nachlass, hg. von Walther Peter Fuchs und Theodor Schieder. Band 2: Über die Epochen der neueren Geschichte. Historisch-kritische Ausgabe [Erster Vortrag vom 25. September], München-Wien 1971, 53-67. 6 | Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie I, 172. 7 | * Wenn in dieser Abhandlung personenbezogene Bezeichnungen maskulin verwendet werden, so beziehen sie sich – soweit historisch zutreffend – auf Frauen und Männer in gleicher Weise. 8 | Othmar Spann, Vom Wesen des Volkstums. Was ist deutsch? Vortrag (= BöhmerlandFlugschrift für Volk und Heimat 24), Eger 1920 [21922, Augsburg 21924]. 9 | Vgl. Johannes Feichtinger, Europa, quo vadis? Zur Erfindung eines Kontinents zwischen transnationalem Anspruch und nationaler Wirklichkeit, in: Moritz Csáky/Johannes Feichtinger (Hg.), Europa – geeint durch Werte. Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld 2007, 19-43.

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dem „jüdisch asiatischen Bolschewismus“10 verteidigt, heute vermeintlich wieder – so wie schon im späten 19. Jahrhundert – „vor der Ueberfluthung einer neuen asiatischen Barbarei“,11 nämlich durch den Islam. Mit der Ansicht, dass Identität auf Differenzen beruht, oder – wie es von manchen Sozialanthropologen vorgeschlagen wird – auf einer „quality of sameness“12, driftet der Analytiker leicht auf die Seite nationalistischer Argumentation ab, macht er damit doch einen essenzialisierten kulturellen Identitätsbegriff für unheilvolle politische Ingebrauchnahmen verfügbar. Unverfänglicher erscheint hingegen ein älteres Verständnis von Identität, das darin besteht, dass wir unsere Vorstellung davon, was uns verbindet, nicht durch das, was wir haben (wie z.B. gleiche Abstammung), wer wir sind (z.B. Christen) und wodurch wir uns von den anderen unterscheiden (wie z.B. durch Sprache und Kultur) verbindlich machen, sondern durch das, was wir tun. In Anlehnung an Immanuel Kant kann gesagt werden, dass sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl auch durch gemeinsame Handlungen erzeugen lässt: Ein Volk werde erst im „actus“ der Teilhabe eines jeden an der Gesetzgebung zu diesem; über eine vorpolitische Wesenhaftigkeit verfüge es nicht.13 Dieser prozessuale Identitätsbegriff beruht auf keinerlei essenzialisierbaren Differenzierungsmerkmalen wie Abstammung, Kultur oder Raum, er kann somit auch nicht durch ein Sein und Haben Zugehörigkeit oder Ausschluss begründen.14 Im ‚transnationalen‘ Modus kann sich Zusammengehörigkeit somit auf andere, nichtessenzialistische Weise einstellen, nämlich durch ein Partizipieren (Rechtsgemeinschaft), Reflektieren (Reflexionsgemeinschaft) und Erinnern (Erinnerungsgemeinschaft). Dieser handlungsbezogene Identitätsbegriff, der selbst kritisch hinterfragt werden kann, ist im Zuge des Nationalisierungsprozesses durch damit einhergehende essentialistische Identitätsvorstellungen verdrängt worden. In dieser Abhandlung werden zwei Varianten von kultureller Identitätsstiftung erörtert, der Orientalismus als ein Instrument der Abgrenzung nach außen, und der Nationalismus als eines für Grenzziehungen bzw. Kategorisierungen nach innen. Die Identität stiftende Abgrenzungsfunktion dieser beiden Ismen, die natürlich sowohl nach innen als nach außen wirken können, ist keinesfalls in Zweifel zu ziehen – aufzuzeigen 10 | Viktor Klemperer, Café Europa, in: Ders., LTI. Notizbuch eines Philologen, Stuttgart 2007 [Original 1947], 213-222. 11 | [Joseph] Freiherr von Helfert, Die weltgeschichtliche Bedeutung des Wiener Siegs von 1683. Vortrag, gehalten am 2. September 1883 in der Festversammlung des katholisch-politischen Casinos der inneren Stadt, Wien 1883, 6. 12 | Reginald Byron, Identity, in: Alan Barnard/Jonathan Spencer (ed.), Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology, London 2004, 292. 13 | Immanuel Kant, Reflexionen zur Rechtsphilosophie, in: Kant’s handschriftlicher Nachlaß. Band 6: Moralphilosophie, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie Ausgabe 19), Berlin-Leipzig 1934, 442-613, hier 511. 14 | Vgl. Ingeborg Maus, ‚Volk‘ und ‚Nation‘ im Denken der Aufklärung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5 (1994), 602-612, hier 604, und Dies., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin 2011.

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und bewusst zu machen ist allein der hohe Preis, der dafür zu entrichten war und noch weiter zu entrichten ist.

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Orientalismus und Nationalismus stehen in Wechselwirkung miteinander: Der Orientalismus im Sinne Edward Saids ist ein Produkt des Kolonialismus,15 der seinerseits mit dem Nationalismus verknüpft war. Der französische Historiker, Journalist und Staatsmann Lucien Romier (1885-1944) hat gezeigt, dass das Schicksal der Nation mit dem Kolonialismus gekoppelt worden war, hätten doch die „sogenannten kolonialen Elemente“ „den Wert der nationalen oder oberherrschaftlichen Elemente [bestimmt, Erg. d. Verf.] und umgekehrt“.16 Damit waren orientalistische Klassifizierungen verbunden, wie sie sowohl im westeuropäischen Kolonialismus als auch in seiner zentraleuropäischen Variante üblich waren. In Österreich-Ungarn wurde das Nationalgefühl über eine besondere Art des Kolonialismus zu stärken versucht und der Orientalismus auch zur Konstruktion von Wertgefällen genutzt, nämlich zwischen Staats- und Sprachnation sowie zwischen einzelnen Nationalitäten. In beiden Nationalismuskonzepten wurden über konstatierte bzw. konstruierte Unterschiede so genannte Andere imaginiert, die abgewertet wurden, um sich selbst aufzuwerten: der Staatsnationalismus wertete den Vielvölkerstaat, der Sprachnationalismus den jeweiligen ‚Volksstamm‘ auf. Der Staatsnationalismus des späten 19. Jahrhunderts nahm weder an der sprachlich-kulturellen Vielfalt im habsburgischen Herrschaftsbereich noch an der autokratischen Herrschaftsform Anstoß. Verdächtig war seinen Aktivisten aber das ‚völlig Andere‘, „der Nationaltürke“, in dem sich „das von dem europäischen so grundverschiedene asiatische Wesen zeigt[e]“.17 Die Sprachnationalisten verfolgten im Unterschied dazu das utopische Ziel der Herstellung einer Kongruenz von Volk, Sprache und Territorium. Da Zusammengehörigkeit essenzialistisch im Sinne von „Artgleichheit“18 (Carl Schmitt) – bald einer sprachlich-kulturellen, bald einer im Sinne von „Blut – Rasse – Volk“ (Wilhelm Schmidt) – gedacht wurde, wurden mit der Inklusion der zu einer Nationalität zugehörig erachteten Staatsbürger notwendigerweise auch Exklusionsprozesse in Gang gesetzt. Zwar nahm der Sprachnationalismus keinen Anstoß am demokratischen Prinzip, unerträglich war für seine Aktivisten aber die Vorstellung von kultureller Vielfalt und (noch mehr) von Vermischung. Beide Nationalismusformen zielten auf die Herstellung von Identität durch Abgrenzung, beide bedienten sich hierfür der In- und 15 | Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 2009 [Original: Ders., Orientalism, New York 1978]. 16 | Lucien Romier, Der Mensch von heute, Freiburg im Breisgau 1930, 82. 17 | Helfert, Die weltgeschichtliche Bedeutung des Wiener Siegs von 1683, 31. 18 | Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit (= Der deutsche Staat der Gegenwart 1), Hamburg 31935, 42-46.

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Exklusion. Strategien dieser Art manifestieren sich insbesondere im Orientalismus, mit dem kleinen Unterschied, dass die Staatsnationalisten die ein- oder auszuschließenden Subjekte jenseits, die Sprachnationalisten aber diesseits der Grenze ausmachten.

Orientalismus und Abgrenzung Im Orientalismus wird – so Edward W. Said – der Orient als essenziell anders definiert und durch ein Inventar autoritativer Meinungen als sozial versumpft und geistig erstarrt, nicht auf der Höhe europäischer Rationalität stehend und zu jeder Entwicklung unfähig, abgewertet, mit dem Ziel einer Aufwertung des Okzidents („Self-authentication“). Dafür mussten Grenzen gezogen werden. Zwei Grenzvorstellungen setzten sich durch, nämlich die Grenze als Trennlinie, die zu spezifischen nationalen Identitäten verhalf, und die Grenze als Zone des Übergangs, die im Auftrag der zivilisatorischen Mission besetzt und verschoben werden musste. Der orientalistische Abgrenzungsdiskurs war somit doppelt einsatzfähig, was am folgenden Beispiel im Hinblick auf die Habsburgermonarchie gezeigt werden soll. Die wichtigsten Ziele der österreichisch-ungarischen Zivilisierungsmission des 19. Jahrhunderts waren die beiden seit 1463 bzw. 1482 von den Osmanen beherrschten Vilajets Bosnien und Herzegowina. In Europa hatten die Osmanen nach dem Entsatz von Wien 1683 den Ruf militärischer Überlegenheit eingebüßt. Spätestens im 19. Jahrhundert wurden sie auch als kulturell unterlegen eingestuft. Somit konnte die Aneignung der beiden osmanischen Provinzen durch Österreich-Ungarn nach 1878 direkt über die Idee der Zivilisierungsmission gerechtfertigt werden. Wie zu zeigen sein wird, ist es bemerkenswert, dass mit der Übernahme der Verwaltung in dem osmanischen Hinterland beide von Edward Said aufgestellten Kolonialismuskriterien erfüllt wurden:19 nämlich die Vorstellung von einer „imperial divide“, d.h. einer klaren Trennlinie, die angeblich zwischen den ‚unzivilisierten‘ Türken und den ‚zivilisierten‘ Österreichern und Ungarn bestand; und die Vorstellung von „shared experiences“ – Ähnlichkeiten sprachlich-kultureller, konfessioneller oder ideeller Art –, die zwischen dem Habsburgerreich und Bosnien-Herzegowina konstruiert wurden und zur Kolonisierung und Missionierung ermächtigten. Mit der militärischen Okkupation von Bosnien-Herzegowina stellte sich die Habsburgermonarchie in die Reihe der Kolonialmächte. Zugleich demonstrierte sie mit ihrer Verwaltungspraxis auch die Überlegenheit des staatsnationalen Grundsatzes „Einheit in der Vielfalt“ gegenüber den Aktivitäten des südslawischen Sprachnationalismus.20

19 | Edward Said, Always on Top, in: London Review of Books 25 (20.3.2003) 6, 3-6. 20 | Vgl. im Folgenden zum Umgang Österreich-Ungarns mit Bosnien ausführlich: Robin Okey, Taming Balkan Nationalism, Oxford 2007, VII-XII, 26-29 und 251-258, und Bojan Aleksov, Habsburg’s ,Colonial Experiment‘ in Bosnia and Hercegovina revisited, in: Ulf Brunnbauer/Andreas Helmedach/Stefan Troebst (Hg.), Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhausen zum 65. Geburtstag, München 2007, 201-216, hier 205-211.

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Die neue ‚Kolonie‘21 sollte von Österreich-Ungarn vorbildhaft verwaltet werden: Während die Religionsvielfalt nicht angerührt und konfessionelle Wünsche der Unterworfenen weitgehend erfüllt werden sollten, wurden nationalpolitische Aktivitäten strikt unterbunden. Politik war allein der Okkupationsmacht vorbehalten. Die Bewohner der neuen ,Kolonien‘ wurden daher nicht als Menschen mit politischem Willen behandelt, sondern in eine religiöse Sphäre entrückt und nach konfessioneller Zugehörigkeit kategorisiert: in Griechen (Orthodoxe), in Lateiner (Katholiken) und in Türken (Muslime). Unter diesem Vorzeichen verabschiedeten der Wiener Reichsrat und der ungarische Reichstag in den Jahren 1912 und 1915 das progressivste Islamgesetz der Welt, mit dem der Islam hanefitischen Ritus als Konfession staatlich anerkannt wurde. Auch wurde den Bosniern und Herzegowinern (auch „Hercegoven“ genannt) eine multikonfessionelle bosniakische Identität aufgeprägt. Auffallend ist, dass die politischen Kommentatoren aber nachdrücklich betonten, dass Bosnien-Herzegowina von zwei Völkern bewohnt würde: vom „Volksstamm“ der „Serbo=Kroaten“, „selbstbewussten, freien strebsamen Stämmen“; und von „National=Türken“. Mit dieser Zweiteilung verfolgte man das Ziel der Spaltung der bosnisch-herzegowinischen Bevölkerung: „Es waren blühende Länder, im Fortschritt begriffen wie irgend ein anderes in jenem Jahrhundert“, kommentierte der einflussreiche konservative Wiener Politiker, Jurist und Historiker Joseph Alexander Helfert (1820-1910), „ehe sie von der Eroberung halbwilder Asiaten überfluthet worden“ und „unter die Herrschaft des Halbmondes kamen“. Die Türken hätten diese Länder durch „ein grausames, mit Menschenleben und Menschwürde spielendes Regiment zur Hälfte entvölkert“ und „den Aufschwung derselben, jeden Anlauf zum Bessern gehemmt und im Keime erstickt“. Die bosnisch-herzegowinische Bevölkerung, so Helfert weiter, sei „durch jahrhundertlange Demüthigung und Mishandlung in scheue unterwürfige ihren Peinigern knirschende Sclaven umgeschaffen“ worden.22

21 | Jüngere Autoren und Autorinnen lassen keinen Zweifel offen, dass das Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und Bosnien/Herzegowina als ein koloniales zu bewerten ist. In Verwaltung, Politik und Medien verwendeten auch schon Zeitgenossen den Kolonialismusbegriff oder ähnliche Begriffe wie z.B. „Ersatzkolonie“. Allein die Form des Kolonialismus wird zuletzt differenziert beurteilt: Bosnien als „proximate colony“ (Donia) oder als „semi“ bzw. „quasi“-colony (Detrez) und als Objekt einer „colonial governmentality“ (Aleksov). Da die Habsburgermonarchie als Staatsnation imperialistische Ziele verfolgte und dafür den in der Öffentlichkeit verbreiteten Orientalismus nutzte, wird aus postkolonialer Perspektive sichtbar, dass Bosnien/Herzegowina nach 1878 als eine Kolonie des Habsburgerreichs aufgefasst wurde. Vgl. Aleksov, Habsburg’s ,Colonial Experiment‘ in Bosnia and Hercegovina revisited, 201-205, Robert J. Donia, The Proximate Colony. Bosnien-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule, in: www.kakanien.ac.at [Zugriff vom 15.11.2011], Raymond Detrez, Colonialism in the Balkans. Historic Realities and Contemporary Perceptions, in: www.kakanien.ac.at [Zugriff vom 15.11.2011] und Evelyn Kolm, Die Ambitionen Österreich-Ungarns im Zeitalter des Hochimperialismus (= Europäische Hochschulschriften, Reihe III 900), Frankfurt am Main [u.a.] 2001, S. 235-253. 22 | Frhr. [Joseph] von Helfert, Bosnisches, Wien 1879, 293.

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Helfert, der freimütig zugab, nie in Bosnien gewesen zu sein, konstatierte in allen „nicht=islamistischen“ Bevölkerungsschichten „Türkenfurcht“ sowie einen „tief gehenden Türkenhaß“, weil die Osmanen Bosnien-Herzegowina über die Jahrhunderte mit „türkischer Miswirthschaft“, „lüderlichem Schlendrian“ und „muslimischer Tyrannei“ überzogen hätten.23 Die „Türken=Herrschaft“, so spitzte er das Szenario in seiner Hetzschrift Bosnisches von 1879 zu, sei „bei dem muhamedanisirten Südslaven trotz der Gemeinschaft des Cultus nie beliebt“ gewesen. Helferts Objekt des Hasses, der „Osmanli“, sei „von jeher als ein fremdes Element“ angesehen worden.24 Allerdings habe das „reine Rassen=Osmanenthum“ in Bosnien-Herzegowina „durch die ganze Zeit der Türkenherrschaft“ „niemals Wurzel geschlagen“, so dass die Slawen ihre „unverdorbene Ursprünglichkeit“, „selbständig unabhängig und unvermischt von fremdartigen Elementen zu erhalten gewusst“25 hätten. Die „nationale Mischung“, so Helfert, sei „eine verschwindend kleine“.26 Mit dieser Argumentation vollzog Helfert jene Trennung, die ihm erlaubte zwischen den Osmanen sowie den Bosniern und Herzegowinern zu unterscheiden. Hier also der fremde Türke, da der Einheimische. Oder: Man könne auch sagen – Hier der schlechte und da der gute Orientale. Helfert schilderte das Land als ein „durchaus Slawisches“, als ein „einem und demselben Slawenstamme, dem serbisch=kroatischen angehöriges“.27 Den „Volksstamm“ der Bosnier und Herzegowiner, der „eine Menge der trefflichsten Eigenschaften“ besitze, stufte er als „einen der edelsten“ ein; seine Sprache, „obwohl etwas mit türkischen Ausdrücken untermischt“, als „eine der wohllautendsten der slavischen Race“.28 Zwar wäre der bosnisch-herzegowinische „Volksstamm“ islamisiert worden, der springende Punkt sei aber, dass nicht übersehen werden dürfe, dass „der muslimische Bosnier und Hercegove eines Stammes mit dem katholischen und dem orthodoxen“ sei; er spreche „eine und dieselbe Sprache“ und teile „einen großen Theil seines Ideenkreises“ mit ihm.29 Alles befände sich „da in einer Art Urzustand“,30 der hinreichend Anlass gäbe zu einer – wie von Helfert und anderen immer wieder betont wurde – vorsichtigen, „in nichts aufdringlichen“ Zivilisierung.31 In Sprache, Kultur und Ethnizität erkannte Helfert also die „shared experiences“ zwischen dem habsburgischen ‚Mutterland‘ und der neuen ‚Kolonie‘, die zwar orientalisiert worden wäre, jedoch zivilisierungsfähig sei. Die Vorstellung von „shared experiences“ diente ihm (wie auch vielen anderen) als Vorwand, zwischen Ost („den halbwilden Asiaten“) und West („den zivilisierten Europäern“) Übergangszonen zu imaginieren; also nicht vollständig orientalisierte Räu23 | Ebda., 193, 265, 273, 194. 24 | Ebda., 258. 25 | Ebda., 201. 26 | Ebda., 240. 27 | Ebda., 240. 28 | Ebda., 16. 29 | Ebda., 259. 30 | Ebda., 17. 31 | Ebda., 285.

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me, die von der ‚zivilisierten Welt‘ zurückerobert werden konnten und auch mussten. Bosnien-Herzegowina war ein Musterbeispiel hierfür. Durch „türkische Misswirtschaft“ hätte sich Chaos ausgebreitet, in dem aber durch eine koloniale Mission wieder Ordnung geschaffen werden könne: „Der Oesterreicher hat hier das Werk des Römers wieder aufzunehmen“, schrieb Helfert, und er müsse „wirthschaftlich, verkehrlich und gesellschaftlich“ „einer neuen schöpferischen und gefälligeren Ordnung der Dinge eine Stätte bereiten“.32 Diesen Auftrag vernahm auch der habsburgische Armeeoffizier und Reiseschriftsteller Amand Freiherr von Schweiger-Lerchenfeld: „Oesterreich-Ungarn ist nunmehr berufen, in dem früheren Vilajet Bosna geordnete Zustände herbeizuführen und die Einrichtungen, socialen Verhältnisse, Culturzustände und Lebensäusserungen aller Art einer langsamen Umwandlung im Sinne abendländischer Cultur und Civilisation zu unterziehen.“33 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der späten Habsburgermonarchie auch orientalistische Sichtweisen eingesetzt wurden, um der Staatsnation Identität und damit Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Der Kolonialismus lieferte dafür ein wichtiges Werkzeug. Edward Said verweist (wie erwähnt) auf zwei zentrale Strategien der Legitimation: auf „imperial divide“, d.h. diskursive Trennung und Distanzgewinnung, und auf „shared experiences“, die Berufung auf geteilte Erfahrungen zwischen dem Kolonisator und den Kolonisierten. In Bezug auf Bosnien-Herzegowina zeugt davon Helferts Argumentationsweise: Zum einen zog er zwei Trennlinien, und zwar zwischen der „muslimischen Tyrannei“ der Osmanen und der „unverdorbenen Ursprünglichkeit“ der Slawen,34 sowie zwischen bosnisch-herzegowinischer Rückständigkeit und österreichisch-ungarischer Fortschrittlichkeit. Die Türken wurden als furchterregend und als Hassobjekt vorgestellt. Zum anderen betonte Helfert jene ‚geteilten Geschichten‘ – historische Erfahrungen und Übereinstimmungen –, die das ‚zivilisierte‘ Österreich-Ungarn mit der orientalisierten slawischen Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina verbanden. Verbindungslinien ergaben sich durch Abstammung, Kultur und Sprache sowie durch konfessionelle Verschränkungen. In ihnen erblickte Helfert jene Herausforderung, die das zentrale Argument für die koloniale Aneignung der osmanischen Provinzen darstellte. Denn: Erwäge man, „daß die neuen Gebiete, trotz aller Verwahrlosung in der sie das bisherige türkische Regiment gehalten, trotz der Uncultur ihrer Bewohner, dennoch alle Elemente mit sich bringen, aus denen im Anschluß an die angränzenden alt=österreichischen Länder sich ein homogenes in sich abgeschlossenes, eine Fülle physischer und moralischer Kräfte bergendes Ganze [sic!] schaffen läßt, so kann wohl niemand zweifeln, welch’ unberechenbaren Zuwachs die Machtsphäre unseres Kaiserstaates durch diese Gebietserweite32 | Ebda., 21. 33 | Amand Freih[err] von Schweiger-Lerchenfeld, Bosnien. Das Land und seine Bewohner. Geschichtlich, geographisch, ethnographisch und social-politisch geschildert, Wien 1878, 190. 34 | Helfert, Bosnisches, 194, 201.

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rung, durch diese Reoccupation von altersher uns zugehöriger Landschaften gewinnen muß.“35

Aus postkolonialer Perspektive könnte diese Ambiguität – das Andere als Bedrohung und als Herausforderung – als ein genuines Merkmal kolonialistischen Handelns in der Habsburgermonarchie angeführt werden.36 Das Andere befand sich jedoch nicht nur jenseits der Grenzen (wie in Bosnien-Herzegowina), sondern auch diesseits, und zwar in unmittelbarer Nachbarschaft; es konnte selbst die andere, benachbarte ‚Nationalität‘ sein, die abgewertet bzw. unterdrückt wurde, um seine eigene Nation aufzuwerten.

Nationalismus und Grenzerfahrung Die österreichischen Verfassungsväter des Jahres 1867 hatten im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger alle in Cisleithanien „landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben“37 als gleichberechtigt anerkannt und damit keine Staatssprache definiert. In der demokratischen Bundesverfassung der Republik Österreich von 1920 wurde einzig und allein die „deutsche Sprache“ zur „Staatssprache“ erklärt, „unbeschadet der den sprachlichen Minderheiten bundesgesetzlich eingeräumten Rechte“.38 Diese konstitutionell verankerte Monolingualität antizipierte das neue Identitätsideal: Österreich deklarierte sich als ein deutscher Staat,39 und dies trotz seiner anders-, zwei- und mehrsprachigen Staatsbürger, die de facto zur Minorität erklärt, de jure dafür aber mit an das Individuum geknüpften Schutzrechten entschädigt wurden. Kirche, Schule, Universität und Medien profilierten sich bald als Konstrukteure der deutschen Identität Österreichs, als deren Kehrseite sich der zunehmende Antisemitismus, Xenophobie und Unterdrückung, bald Verfolgung und Vernichtung erweisen sollten. In der Republik verstärkte sich somit das, was schon in der späten Monarchie für ständigen Zwist gesorgt hatte. In ihr hatten sich die einzelnen Nationalitäten („Volksstämme“) nicht auf sprachlich einheitliche Provinzen, sondern auf verschiedene Länder verteilt. Mitunter waren die unterschiedlichen Sprachgruppen unauflösbar ineinander verzahnt. Aus der Sicht des Sprachnationalismus waren somit oftmals von Ort zu Ort divergierende Mehr- und Minderheitsverhältnisse unabwendbar: Während Aktivisten der Sprachmehrheit ihre Vormachtstellung verteidigten, kämpften Minder35 | Ebda., 172. 36 | Vgl. dazu: Johannes Feichtinger/Johann Heiss, Vienna, or: the Orient as Menace and Opportunity. Vortrag am Symposion der Occident and Orient Research Group (Delhi–Wien– London) (Re)Locating Orientalism between East and West, Österreichische Akademie der Wissenschaften, 4.4.2011, und Maureen Healy, 1883 Vienna in the Turkish Mirror, in: Austrian History Yearbook 40 (2009), 101-113, hier 111-113. 37 | Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder – StGG, Artikel 19, Abs. 2. 38 | Bundes-Verfassungsgesetz der Republik Österreich vom 1. Oktober 1920, Artikel 8. 39 | Vgl. Dieter A. Binder/Ernst Bruckmüller, Essay über Österreich. Grundfragen von Identität und Geschichte 1918-2000, Wien-München 2005, 101-103.

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heitsvertreter für ihre durch das Staatsgrundgesetz erwirkten Rechte. Jeder Versuch einer Nationalität eine andere zu majorisieren, konnte andernorts – unter veränderten Machtverhältnissen – umgekehrte Unterdrückungsmanöver in Gang setzen. Stellte eine Sprachminderheit andernorts die Mehrheit dar, so auferlegten sie ihren Minderheiten denselben Druck, den sie anderswo selbst als Minorität verspürten: „Überall der Kampf um Gleichberechtigung, ehe diese erreicht ist“, vermerkte der ungarische Staatsmann und Schriftsteller Joseph von Eötvös (1813-1871) im Jahr 1851; „überall das Streben nach Herrschaft, wie man nicht mehr gegen Unterdrückung zu klagen hat“.40 In der Monarchie hatte sich Macht nicht binär, sondern komplex verteilt. Diese unübersichtlichen Machtstrukturen gaben mitunter zu „Mikro- oder Binnenkolonialismen“ Anlass.41 Auch die Republik Österreich verfing sich – wie erwähnt – in der „konstitutiven Logik“ der Nationsbildung, der zufolge nationale Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit durch Sprache, Kultur und Abstammung ermittelt wurde. Der neue Staat vereinte Bürger verschiedener Klassen, nämlich deutsche Österreicher und andere, – Menschen, die zwar im Staat lebten, aber nicht als integraler Teil der dominanten „Wir-Gruppe“ angesehen wurden. Das nationale „Wir-Gefühl“ bedurfte offenbar eines „Ihr-Gefühls“, wobei der/die Andere aber als das Zerrbild des „Wir“ vorstellbar bleiben musste. Diese merkwürdige In- und zugleich Exklusion der Anderen ist ein wesentliches Prinzip, das – neben anderen – den Nationalismus kennzeichnet.42 Sie zielen nicht auf die völlige Verwerfung des Anderen, sondern auf seine Klassifizierung als Minorität ab, deren tragisches Schicksal darin liegt, ewig als das unliebsame Andere vorgestellt werden zu müssen. Dies verlangt die Logik des Nationalprinzips, die auch vor der Republik Österreich nicht Halt machte. Der Wiener Völkerrechtler Josef L. Kunz (1890-1970), ein Schüler und Weggefährte Hans Kelsens, vermerkte, „daß gerade der Nationalstaat der größte Gegner der nationalen Minderheiten wird, obwohl beide in derselben Idee, der Erfassung des Volkstums als Wert“, gewurzelt hätten. Und weiter: „Aber jede Nation läßt eben nur die eigene Nation gelten“, während die Anderen der Mehrheit als „Schönheitsfehler“ erschienen und dieser Logik zufolge am besten „chirurgisch“ zu entfernen wären.43 In der Zeit der Ersten Republik wies Österreich einen erheblichen Minderheitenanteil, also Staatsbürger mit nichtdeutscher Muttersprache, auf. In einem Nationalisierungsprozess, der mit dem in Ostmitteleuropa nach 1989 vergleichbar ist, sollte der 40 | Joseph von Eötövs, Ueber die Gleichberechtigung der Nationalitäten in Oesterreich, Wien 21851, 19. 41 | Stefan Simonek, Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Literaturtheorie aus slawistischer Sicht, in: Johannes Feichtinger/Ursula Prutsch/Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis (= Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), Innsbruck [u.a.] 2003, 129-139, hier 131. 42 | Vgl. Peter Niedermüller, Der Mythos des Unterschieds: Vom Multikulturalismus zur Hybridität, in: Feichtinger/Prutsch/Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial, 69-81, hier 72-74. 43 | Josef L. Kunz, Prolegomena zu einer allgemeinen Theorie des Internationalen Rechts nationaler Minderheiten, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 12 (1932), 221-272, hier 237.

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deutsche Charakter dieses Staates verfestigt und seine Bevölkerung vor ‚Überfremdung‘ durch Hunderttausende Österreicher tschechischer, slowakischer, polnischer, ungarischer, slowenischer und kroatischer Herkunft, durch Sinti und Roma sowie durch mehr als zweihunderttausend Juden bewahrt werden. Dass sich der neue Staat zusehends mit dem Schein nationaler Homogenität versah, wirkte sich auch auf das Verhältnis von Assimilation und Dissimilation aus. Einerseits vergrößerte sich der Assimilationsdruck. Hatten bei der Volkszählung von 1923 noch 111.396 Wienerinnen und Wiener (6%) angegeben, eine andere Umgangsprache als Deutsch zu verwenden, waren es 1934 nur noch 56.314 Personen (2,9%). Diese Zahl erscheint umso verblüffender, als im Jahr 1938 noch ca. 800.000 österreichische Staatsbürger (12%) auf eine Herkunft außerhalb der Republik zurückblickten und eine Million Österreicher einen anderen als „reinrassig deutschen“ Hintergrund aufwiesen.44 Anderseits verschwand aber aufgrund der Assimilationsprozesse zugleich zusehends jenes nicht völlig verdrängbare, jedoch abgewertete Andere, das für die Nation konstitutiv war. Daher stellte die Assimilation der Juden auch einen ständigen Angriffspunkt für heftige Anfeindungen dar, denn angeblich wurde dadurch der ‚deutsche Volkscharakter‘ ‚verunreinigt‘. Die Auffassung von einer angeblich ‚grundverschiedenen‘ jüdischen Kultur diente den ‚intellektuellen‘ Speerspitzen der damaligen Zeit als ein Mittel, das ‚deutsche Volkstum‘ vom angeblichen ‚Wesen jüdischen Volkstums‘ abzugrenzen. In Anbetracht der hoch bewerteten Schimäre einer völkischen Essenz sollten Vermischungen verhindert werden. Juden, die sich assimilierten, wurden daher bald als Zerstörer der ‚authentischen‘ Ordnung aufgefasst und zur Dissimilierung (‚Entmischung‘) aufgefordert. So traten deutschnationale Wortführer wie Oswald Menghin – ein Antisemit sondergleichen – offen für die ‚Absonderung‘ der Juden auf. Zugleich machten sie in einem Akt völliger Wirklichkeitsverkennung „den Assimilationsjuden“ für den Antisemitismus verantwortlich.45 Damit konnte auf „eine außenstehende Minderzahl“, so analysierte Freud, jene „Feindseligkeit“ abgeladen werden, die für die Erzeugung eines „Gemeinschaftsgefühls der Massen“ hilfreich war.46 Diese zwangsweise Hierarchisierung durch Klassifizierung, die sich der nationalen Illusion und dem Trugbild völkisch-kultureller Homogenität verdankte, diente nicht zuletzt der Aufrechterhaltung der Machtstrukturen und des ‚deutschen Volkscharakters‘ von Österreich. Die Republik hatte sich 1919 zwar völker-

44 | Vgl. Michael John, Dissonant Identities in Interwar-Austria 1918-1937, in: Oral History. Challenges for the 21th century. X. International Oral History Conference. Proceedings. Volume 1, Rio de Janeiro 1998, 26-40, hier 28-30, 38-40. 45 | Oswald Menghin, Geist und Blut. Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum, Wien 1934, 163. 46 | Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (Original 1930), in: Ders., Gesammelte Werke XIV. Nachdruck der Ausgabe von London 1942, hg. v. Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, 419-506, hier 474, und vgl. Ders., Massenpsychologie und Ich-Analyse (Original 1921), in: Ders., Gesammelte Werke. Band XIII. Nachdruck der Ausgabe von London 1940, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, 73-161, hier 110-111.

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rechtlich zu Minderheitenschutz und Toleranz verpflichtet,47 in der sozialen Praxis nationaler Selbstvergewisserung stand aber Macht vor Recht. Wie schon im 19. Jahrhundert bezogen sich damals nationalistische Aktivisten – Volkstumstheoretiker – wieder auf das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger. Mit der kollektivrechtlichen Auslegung des Artikels 19 versuchten sie den unveräußerlichen Grundsatz individueller Gleichberechtigung auf die ‚Volksgruppe‘, auszudehnen. Die damit verbundene Absicht liegt auf der Hand: Da der Individualschutz die „Volksgemeinschaft“ nicht vor ‚Verunreinigung‘ ihrer völkischen Substanz, z.B. durch Assimilierung, bewahrte, musste der Schutz auf die höher bewertete Gruppe (und zwar die „Volksgruppe“) erweitert werden. Unter diesem Deckmantel wurden im Sinne der Devise ‚separate but equal‘ völkische Unterschiede zur unhintergehbaren Tatsache aufgewertet und – ihrer Bewahrung wegen – Vermischungen bekämpft. Die klare ‚ethnische‘ Segregation sollte unmissverständlich zeigen, wer der Herr im Hause ist. Mit dieser Umdeutung ursprünglicher Individualrechte in Gruppenrechte wurde ein zentraler Grundsatz des österreichischen Nationalitätenrechts gebeugt und für den Rassismus verfügbar gemacht. Die liberalen Verfassungsväter des Jahres 1867 hatten den so genannten „Volksstämmen“ im Artikel 19 keine Rechtspersönlichkeit zuerkannt:48 „Die Volksstämme blieben bis zum Ende der Monarchie ‚soziale‘ Gemeinschaften“, schreibt Gerald Stourzh, „im Gegensatz zu rechtsfähigen, mit Organen ausgestatteten juristischen Personen“.49 Wenn der Artikel 19 de jure auch nicht auf die „Volksstämme“ anwendbar war, so hatten sprachnationale Aktivisten dennoch versucht, von ihm eine Art Kollektivrecht abzuleiten.50 Diese Auslegungspraxis des „unverletzlichen Rechts auf Wahrung und Pflege“ von Nationalität und Sprache hielt Judikatur und Verwaltung Cisleithaniens ständig auf Trab. Da auch der Staatsvertrag von St. Germain (1919) das Individuum (und Minderheiten nicht als Kollektiv) schützte, beriefen sich auch in der Republik nationalistische Juristen und Historiker auf die kollektivrechtliche Auslegungspraxis des Nationalitätenrechts, das als vorbildlich hingestellt wurde. Der wichtigste Akteur war der Wiener 47 | Hiervon legt für Österreich z.B. der Artikel 66, Absatz 1, und Artikel 67 des Staatsvertrags von Saint-Germain-en-Laye Zeugnis ab, nach dem sich die Republik 1919 „rechtlich und faktisch“ zur Gleichbehandlung aller Staatsbürger verpflichtete, ohne Rücksicht auf Rasse, Sprache oder Religion. Zur historischen Perspektive auf den Minderheitenschutz in Österreich vgl. die grundlegende Arbeit von Gudrun Hentges, Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in Österreich, in: Dies./Christoph Butterwegge (Hg.), Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik. Zweite, aktualisierte und überarbeitete Auflage, Opladen 2003, 149-177. 48 | Zwar wurden nicht nur Staatsbürger, sondern auch ‚Kollektivpersonen‘ (wie z.B. Vereine) als Träger von Rechten nach Artikel 19 anerkannt, nicht aber die „Volksstämme“ selbst. 49 | Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848-1918, Wien 1985, 75. 50 | Vgl. Robert Kann, Die Habsburgermonarchie und das Problem des übernationalen Staates, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918: Verwaltung und Rechtswesen, hg. von Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch. Band II, Wien 1975, 1-56, hier 47-51.

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Rechtshistoriker Karl Gottfried Hugelmann (1879-1959), der in dem Band Das Nationalitätenrecht des alten Österreich „sichtbar zu machen“ versuchte, „wie Volkstümer […], welche doch in dem Art. XIX höchstens insofern, als von den Volksstämmen die Rede war, angedeutet waren, in Österreich [frühzeitig, Anm. d. Verf.] Verwirklichung fanden.“ Diese Leistung bezeichnete er als „den größte[n] dauernde[n] Ruhmestitel des altösterreichischen Nationalitätenrechts“. „Praxis und Lehre“ hätten laut Hugelmann „über die im wesentlichen liberal-individualistische Auffassung des Staatsgrundgesetzes zu einer universalistischen und organischen Auffassung des Volksbegriffes und des Nationalitätenrechtes [geführt, Anm. d. Verf.], von der Gleichheit der Staatsbürger in nationaler Beziehung zu einem an den geschichtlichen Realitäten orientierten, einen gerechten Ausgleich suchenden Volksgruppenrecht.“51

Der langjährige Bundesratsvorsitzende Hugelmann bediente sich dieser Auslegung, um mit Hilfe des „Volksgruppenrechts“ ein Ziel zu erreichen, nämlich die juristische Rechtfertigung des „Ausschlusses der jüdischen Bevölkerung aus der deutschen Volksgemeinschaft“.52 Der Artikel 19 war von jeder organischen Auffassung von Volk frei gewesen. Daher bot er auch keine Handhabe für den Ausschluss angeblich nichtorganischer Teile. Wurde das ursprüngliche Individualrecht aber in ein „Volksgruppenrecht“ verformt, so konnte es einen Steigbügel für die Forderung nach organischer Gleichheit (nicht Gleichberechtigung) abgeben. Damit konnte alles, was nicht „artgleich“ war (Carl Schmitt), eliminiert werden; in der antisemitischen Vorstellungswelt des Nationalsozialisten Hugelmann: die Juden zuerst. Der Rechtshistoriker investierte also harte juristische Interpretationsarbeit, um ein „Volksgruppenrecht“ zu erfinden, das sich auf ein organisch definiertes „Volkstum“ bezog und wesensmäßige Unterschiede zu konstatieren erlaubte.53 Andere österreichische Rassisten setzten dafür das Argument der ,Kulturverschiedenheit‘ ein:54 In ihren Augen konnte die „Rasseverschiedenheit“ (Wilhelm Schmidt) zwar nicht ‚kulturell‘, d.h. durch Assimilation, überbrückt, durch die Konstatierung einer ,Kulturverschiedenheit‘ aber akzentuiert werden. In diesem Sinne unternahmen zwei Wiener Kulturforscher, der Prähistoriker Oswald Menghin (1888-1973) und der Völkerkundler Wilhelm Schmidt (1868-1954), die Anstrengung, 51 | Karl Gottfried Hugelmann (Hg.), Das Nationalitätenrecht des alten Österreich, WienLeipzig 1934, 281. 52 | Michael Fahlbusch, Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft, in: Ingo Haar/Michael Fahlbusch (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, 688-697, hier 693. 53 | 1941 legitimierte Hugelmann mit dem „Volksgruppenrecht“, das dem Zweiten Wiener Schiedspruch (1940) zugrunde lag, die Stellung der deutschen ‚Volksgruppe‘ in Ungarn. In den „Volksdeutschen“ erblickte er „Träger des deutschen Reichsgedankens“. Fahlbusch, Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft, 696. 54 | Vgl. Alexander Pinwinkler, ‚Bevölkerungssoziologie‘ und Ethnizität: Historisch-demografische Minderheitenforschung in Österreich, ca. 1918-1938, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57 (2009) 2, 101-133.

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die unaufgebbare Idee von der jüdischen „Rasseverschiedenheit“ nicht biologistisch, sondern völkisch-kulturell zu untermauern. Der „Geist“, so schrieb Menghin, würde „das Blut bezwingen“.55 Als ‚Kulturkreislehrer‘ bestanden beide Forscher auf der scharfen Trennung zwischen einem vermeintlich jüdischen und christlich(-deutschen) Wesen. Dieses manifestierte sich für sie allerdings weniger in der „Rasse“ als vielmehr in einer unüberbrückbaren Kultur- und Seelenverschiedenheit, die den ‚deutschen Volkscharakter‘ vor ‚Verunreinigung‘ bewahrte, denn: Die „Rasse“ sei (aufgrund von Vererbung) vergänglich, das Seelisch-Geistige, das ‚Volkstum‘ und Kultur prägte, aber stabil und dauerhaft. Hier spielte Wissenschaft das Spiel der Politik, deren Handlanger Hugelmann, Schmidt, Menghin und viele andere als normative Konzeptgeber waren.56 Juristen, Historiker, Volks- und Völkerkundler leisteten einer unheilvollen Art nationaler Selbstvergewisserung Vorschub, und sie verhalfen in der Zeit des Nationalsozialismus der Idee der „Volksgemeinschaft“ und der „Volksgruppen“ als dem „ursprünglichen Tatbestand“ zu Vorrecht.57 Nach 1945 war der Volksgruppenbegriff völlig diskreditiert, und auch Artikel 7 des Staatsvertrages (1955) schützte nicht ‚Volksgruppen‘, sondern Individuen: „Österreichische Staatsangehörige der slowenischen und kroatischen Minderheiten in Kärnten, Burgenland und Steiermark“ [Staatsvertrag Artikel 7, 1]. Mitte der 1970er Jahre wurde der Volksgruppenbegriff wieder politisch relevant. Der dem Nationalsozialismus nahe stehende Theodor Veiter (1907-1994), Schüler und Mitarbeiter Hugelmanns, hatte ihm neue Konjunktur verschafft: So wie sein Lehrer interpretierte auch Veiter den Artikel 19 im kollektivrechtlichen Sinn. Die „Volksgruppe“ definierte er als „ethnische Gemeinschaft“, deren Reinheit zu erhalten sei, da „jede Mischkultur […] zu einer geistigen Verarmung führen“ müsse.58 Im Jahr 1976 wurde die „Erhaltung der Volksgruppen“ durch das österreichische Volksgruppengesetz (1976) verfassungsmäßig geregelt.59 Mit der kollektivrechtlichen Ausrichtung des Minderheitenschutzes wurde

55 | Oswald Menghin, Geist und Blut. Zur Rassenfrage, in: Schönere Zukunft 9 (11.3.1934) 24, 595-597, hier 596. 56 | Vgl. Johannes Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848-1938, Bielefeld 2010, 489-498. 57 | Die Politikwissenschaftlerin Gudrun Hentges verweist in diesem Zusammenhang auf die Heidelberger Dissertation von Herbert Klauss mit dem Titel „Nationalsozialistisches Volksgruppenrecht“ (1937). Vgl. Hentges, Minderheiten- und Volksgruppenpolitik, 153. 58 | Theodor Veiter, Die ethnische Gemeinschaft. Vom Zusammenleben der Völker, in: http://www.zeitdokument.at [Zugriff vom 15.11.2011]. Veiter war Mitherausgeber der Zeitschrift „Europa Ethnica“, die explizit an den antisemitischen Vorgänger „Nation und Staat“ anknüpfte. Zu Thoedor Veiter vgl. Hentges, Minderheiten- und Volksgruppenpolitik, 153, 154-156. 59 | Bundesgesetz über die Rechtsstellung der Volksgruppen in Österreich, BGBl. Nr. 396/1976. Der § 1 [Abschnitt 1] der Allgemeinen Bestimmungen lautet in der Fassung vom 26.10.2011: „Die Volksgruppen in Österreich und ihre Angehörigen genießen den Schutz der Gesetze; die Erhaltung der Volksgruppen und die Sicherung ihres Bestandes sind gewährleistet. Ihre Sprache und ihr Volkstum sind zu achten.“

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– wie hier gezeigt – nicht der Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (1867), sondern seine nationalistische Auslegungstradition aktualisiert. Was sich im Laufe des 20. Jahrhunderts wandelte, war das, was von den jeweiligen politischen Aktivisten als schützenswerte Volksgruppe aufgefasst wurde: vor 1945 das „deutsche Volkstum“ in Österreich, das vor ‚Verunreinigung durch Vermischung‘ bewahrt werden sollte, seit der Mitte der 1970er Jahre „österreichische Staatsbürger mit nichtdeutscher Muttersprache und eigenem Volkstum“.60 Der eigentliche Zweck des Schutzes veränderte sich aber nicht, die „Erhaltung der Volksgruppen und die Sicherung ihres Bestandes“.61 Hinzuzufügen ist, dass aus der Sicht der damaligen Volksgruppentheoretiker den „Volksgruppen“ zweifelsohne Rechtsgleichheit zustand, weil sie – überspitzt formuliert – unter sich „artgleich“ sind (Carl Schmitt), das aber auch bleiben sollten: ‚seperate but equal‘.

S CHLUSS Die Abhandlung hat gezeigt, dass kollektive Identitätsstiftungsprozesse in Österreich stark von Orientalismus und Nationalismus bestimmt waren. Mit Hilfe dieser Abgrenzungskonzepte konnten Differenzen überhöht und essenzialisiert werden. Als Unterscheidungsmerkmale wurden Abstammung, Sprache und Kultur eingesetzt. Sie bestimmen nach wie vor unsere Vorstellung davon, was uns verbindet und was uns trennt. Ist dieser essenzialistische Identitätsbegriff aber in einer durch globale Verflechtung gekennzeichneten Welt nicht längst unhaltbar geworden? Und wäre nicht ein prozessuales Verständnis von kollektiver Identität im Sinne Kants wegweisender? Oder anders gesagt: Verträgt sich ein kollektivrechtlich begründeter Minderheitenschutz mit dem wegweisenden Volks- und Demokratieverständnis Kants? Um darüber zu entscheiden, muss zunächst ein öffentliches Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass die Abgrenzungen, die unser Wir-Gefühl bestimmen, in der Vergangenheit von Akteuren vor einem politischen Hintergrund und mit einer gewissen Absicht geschaffen wurden: Die einen überhöhten durch die Verbreitung orientalistischer Sichtweisen Unterschiede, um die ‚unzivilisierbaren Anderen‘ von den ‚Zivilisierbaren‘ zu trennen („imperial divide“/„shared experiences“); die anderen beugten das österreichische Nationalitätenrecht mit dem Ziel der Auftrennung der Bevölkerung in unterscheidbare Volksgruppen (‚seperate but equal‘). Das österreichische Volksgruppengesetz zieht doppelte Grenzen: zwischen der Mehrheit der Österreicher mit deutscher Muttersprache und den Staatsbürgern mit nichtdeutscher Muttersprache sowie zwischen in Österreich „beheimateten“ Minderheiten mit „eigenem Volkstum“62 und der Vielzahl anderer Staatsbürger mit nichtdeutscher Muttersprache, die kein Recht auf zweisprachige Schulerziehung besitzen. Zugleich wird in den damit angesprochenen Integrationsdebatten der Ka60 | Ebda., Abschnitt 1 § 1. (2). 61 | Ebda., Abschnitt 1 § 1. (1). 62 | Ebda., Abschnitt 1 § 1. (2).

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tegorie der Herkunft (‚Abstammung‘) bzw. ‚Volkszugehörigkeit‘ noch immer großer Stellenwert beigemessen, lässt sie sich doch im Kampf der Parteien um Wählerstimmen erfolgreich einsetzen: Angesichts der heißen Diskussionen über den so genannten ‚Migrationshintergrund‘ der Ausländer in Österreich verblasst zusehends die Kategorie der Staatszugehörigkeit (bzw. Staatsbürgerschaft): Im Jahr 2010 lebten laut STATISTIK AUSTRIA z.B. 247.500 ‚Türken‘ in Österreich. Unerheblich scheint für die Öffentlichkeit offenbar zu sein, dass mehr als die Hälfte davon nicht türkische, sondern österreichische Staatsbürger sind.63 Ist das bloß Unachtsamkeit oder zeigen sich hier wieder Spuren völkischen Denkens? Der Schutz von Minderheiten darf nicht zur Debatte stehen, zu reflektieren ist aber darüber, wie in Österreich Kultur- und Sprachenvielfalt erhalten werden kann, ohne dafür die nationalistischen Kategorien der ‚ethnischen Identität‘ und damit auch der ‚ethnischen Differenz‘ einsetzen zu müssen. Das Volksgruppengesetz ist dafür ungeeignet, beruht es doch auf jenen vorgeblich objektiven Kriterien, die – sobald dafür politischer Bedarf besteht – auch als Ausschlussargument in Gebrauch genommen werden können. Die (zeit)historische Grenzforschung kann dafür Bewusstsein schaffen, dass Abgrenzungskonzepte wie Nationalismus und Orientalismus ihre politische Funktionalisierbarkeit verlieren.

63 | 112.150 in Österreich lebende Personen hatten 2010 die türkische Staatsbürgerschaft. In diesem Jahr lebten auch 138.225 deutsche Staatsbürger in Österreich. Bevölkerung zu Jahresbeginn seit 2002 nach zusammengefasster Staatsangehörigkeit – Österreich, in: STATISTIK AUSTRIA, Statistik des Bevölkerungsstandes, in: www.statistik.at. [Zugriff vom 15.11.2011]

„Grenzdurchschnittene Erinnerungen“ Selbstverortung ethnischer Gruppen in Grenzregionen Südostmitteleuropas Klaus-Jürgen Hermanik

Gerade in grenzdurchschnittenen Regionen1 haben sich Gemengelagen aus unterschiedlichen ethnischen und nationalen Zugehörigkeiten und mit ebenso unterschiedlichen Loyalitäten herausgebildet.2 Die von mir im Titel so bezeichneten „Grenzdurchschnittenen Erinnerungen“ sind in diesem Zusammenhang in hohem Maße Narrationen – soweit meine einleitende Prämisse –, die die (neue) Selbstverortung einer ethnischen Gruppe nach Grenzziehungen oder nach Migrationsbewegungen, die mit Grenzziehungen in Verbindung stehen, entsprechend einbetten. Während und nach der Transformation in Südostmitteleuropa3 wurde die eigene Geschichte in den einzelnen Staaten neu geordnet und zur neuen nationalen, historischen Meistererzählung umgeschrieben. Der Sozialismus wurde ‚verschrottet‘ und diese scheinbare Ideologiefreiheit wurde mit einer ‚historischen Wahrheit‘ angefüllt,

1 | Der Terminus „grenzdurchschnittene Region“ soll eine möglichst neutrale Vereinheitlichung der unterschiedlichen Ausformungen von „Grenze“ sein, die von den topografischen bis hin zu den politischen reichen. Mein Titel „Grenzdurchschnittene Erinnerungen“ wiederum ist aus einer poetische Übereinanderschichtung mehrerer Denkschablonen geformt worden: Diese stammen aus den Forschungen über Grenze ebenso wie zu Erinnerungskulturen, historischen (Meister-)Erzählungen bzw. aus der Selbst- und Fremddefinition von ethnischen Gruppen. 2 | Zum Loyalitätskonzept siehe etwa Otto Luchterhandt, Nationale Minderheit und Loyalität, Köln 1997. 3 | Zur Transformation in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa ist zwar geklärt, dass diese Prozesse mit dem Zerfall der sozialistischen Regierungen begannen, über das Ende der Transformation herrscht jedoch in der Fachwelt Uneinigkeit. Aus der Fülle der Literatur zur Transformation in Südostmittel- und Südosteuropa siehe etwa Farimah Daftary (ed.), Nation-Building, Ethnicity and Language Politics in Transition Countries, Budapest 2003 sowie Helmut Altrichter (Hg.), GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel – Südosteuropas, München 2006.

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die die Geschichte des eigenen Volkes im Sinne eines Staatsvolkes erzählt.4 Im Großen und Ganzen stützt man sich dabei auf Fakten, die, vor allem wenn sie unter penibler Einhaltung wissenschaftlicher Standards vorgebracht werden, diese Wahrheit bestmöglich suggerieren sollen.5 Ein weiterer Schwerpunkt in meinen Ausführungen besteht darin, dass es gerade in multiethnischen grenzdurchschnittenen Räumen Südostmitteleuropas auch andere Grenzverläufe als jenen entlang der Steine, Stäbe oder Zäune gibt und zwar den der boundaries, die zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen verlaufen, was bereits jeweils einen Akt der Inklusion und Exklusion darstellt. Wir streifen hier allerdings diese oben genannten großen nationalen Erzählungen bloß, denn meine Fallbeispiele beleuchten kleinere und größere Volksgruppen sowie Minderheiten6 und ich habe diese sowohl zeitlich als auch räumlich in einem beträchtlichen Maß gestreut, damit Narrative und Erinnerungen an unterschiedlichen Grenzverläufen in Südostmitteleuropa miteinander auf Differenzen und Gemeinsamkeiten hin verglichen werden können: Aus der Region im äußersten Osten des ehemaligen ungarischen Königreiches möchte ich dazu auf die Szekler7 in Siebenbürgen, aus der „Zeit der Militärgrenze“ auf die Vlachen/Uskoken,8 die im heutigen Norden Kroatiens beziehungsweise im Süden Sloweniens siedeln, und aus der Zeit der Grenzziehungen nach dem ersten Weltkrieg auf die in der Vojvodina verbliebenen Ungarn eingehen. Zuletzt sei noch auf folgende Eckpfeiler verwiesen, zwischen denen Erinnerungen von oder an ethnische(n) Gruppen nach theoretisch-methodischen Überlegungen anzusiedeln seien: 1) In allen Fallbeispielen aus den genannten Grenzräumen bilden oder überlagern sich unterschiedliche Formen einer mémoire collective, die im Sinne des Konzepts von der sozialen Bedingtheit individueller Erinnerung von Maurice Halbwachs verstanden werden;9 2) gerade frühere oder gegenwärtige Grenzregionen,

4 | Dabei wurde wie etwa in Ungarn und in Rumänien an die frühere, in der Zwischenkriegszeit konstruierte Meistererzählung angeknüpft oder es mussten neue historische Meistererzählungen geschrieben werden, wie im Falle jener Staaten, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgingen. 5 | Vgl. Matthias Middel et al, Sinnstiftung und Systemlegitimierung durch historisches Erzählen, in: Comparativ 10 (2000) 2, 8. 6 | Die aus dem Minderheitenrecht stammenden Begriffe ‚Minderheit‘ und ‚Volksgruppe‘ verstehen sich hier synonym. 7 | Im Folgenden wird aus Platzgründen die männliche Form verwendet, die weibliche Form ist mit gemeint. 8 | Beide Bezeichnungen sind in dieser Region vor allem zu Nennbezeichnungen der Anderen und damit auch der historischen Wissenschaft geworden. In einigen Dörfern in der slowenischen Bela Krajina bezeichneten sich diese Vlachen/Uskoken aufgrund ihrer orthodoxen Religion zum Teil als Serben und wurden von anderen ethnischen Gruppen fallweise ebenso als „Raitzen“ (= Serben) benannt. 9 | Siehe dazu Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967.

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die als ganz besondere lieux de mémoire gesehen10 und beforscht werden, erfahren in ihren Darstellungen eine verstärkte historische Aufladung, die man als historische Sinnstiftung verstehen kann; 3) im Hinblick auf die Ethnizität einer Gruppe werden Erinnerungskulturen zu einem jener Instrumente, die dazu herangezogen werden, um die eigene Gruppenidentität zu legitimieren sowie um Traditionen zu generieren und diese dann auch entsprechend zu bewahren: „Erinnert wird, was dem Selbstbild und den Interessen der Gruppe entspricht. Hervorgehoben werden dabei vor allem Ähnlichkeiten und Kontinuitäten, die demonstrieren, dass die Gruppe dieselbe geblieben ist. Die Teilhabe am kollektiven Gedächtnis zeigt an, dass der sich Erinnernde zur Gruppe gehört.“11

Erinnerungen sind, vor allem in einer ethnischen Gruppe, im höchsten Maße reflexiv und selbstreferenziell: Dabei werden die wichtigsten ethnischen Marker wie „Abstammung“ und Herkunft oder Sprache, Religion und Volksbrauchtum zuerst als gemeinsame Konstanten festgelegt und können in der Geschichte dann als solche erinnert werden. Im Grunde werden diese Marker in den Erinnerungen gleichsam als etwas natürlich Gewachsenes ausgegeben und sie sind damit ein fester Bestandteil der (ethno-) politischen Ausdrucksmittel einer Volksgruppe und werden dementsprechend aktiv gemanagt.12 Eigenen Erkenntnissen zufolge, laufen bei Minderheiten, die sich in einem „fremden Herbergestaat“13 aufhalten, im Grunde zwei unterschiedliche Verortungsprozesse der eigenen Vergangenheit, die untrennbar miteinander verknüpft sind, gleichzeitig ab: 1) Einerseits ist es die Vergangenheit der Minderheitengruppe selbst, so wie sie sich selbst an ihre Vergangenheit seit ihrer Ansiedelung oder seit ihrer ‚Minderheitenwer10 | Vgl. dazu Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis (= Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 16) Berlin 1990. 11 | Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart Weimar 2005, 17. 12 | Siehe dazu beispielsweise Klaus-Jürgen Hermanik, Ethnopolitics oft the Hungarians, Szeklers and Saxons in Transilvania, in: Historical Yearbook VI (2009), 161-174. Rogers Brubaker legte im Jahr 2004 zwar ein theoretisches Konzept vor, das unter dem Schlagwort „Beyond Groupism“ zu Recht ein Überdenken des Ethnizitäts- oder Identitätskonzeptes im Zusammenhang mit ethnischen Gruppen fordert – gleichzeitig beweist er in dem 2006 von ihm mitherausgegebenen Buch „Nationalist Politics and Everyday Ethnicity in a Transylvanian Town“, dass es in der forscherischen Praxis in Südostmitteleuropa – hier konkret in der Siebenbürgischen Stadt Cluj-Napoca/Kolozsvár/ Klausenburg – zur Beschreibung von multiethnischen Regionen weiterhin der ethnischen Gruppenbezeichnungen bedarf. Siehe dazu: Rogers Brubaker: Ethnicity Without Groups, Cambridge, London 2004, 11-27 sowie Rogers Brubaker et al (eds.), Nationalist Politics and Everyday Ethnicity in a Transylvanian Town, Princeton 2006. 13 | Die Ausdrücke „Herbergestaat“ und „Patronagestaat“ entstammen aus der Minderheitenliteratur: Siehe dazu etwa: Otto Luchterhandt, Nationale Minderheit und Loyalität. Köln 1997.

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dung‘ etwa durch Grenzziehungen oder durch neue Staatenbildungen in Südosteuropa erinnert. 2.) Andererseits ist es die Vergangenheit der gesamten Nation, einschließlich aller sich zu dieser Nation bekennenden Individuen, die gleichfalls in die kollektive Erinnerung der Minderheit einfließt, auch wenn man nun von dieser Nation getrennt ist:

In Anlehnung an dieses Modell sollen meine Beispielgruppen nicht mehr so zufällig gewählt erscheinen, sondern diese Basisstruktur wurde durch meine subjektive Auswahl noch ganz bewusst um weitere Komponenten ergänzt. Dazu im einzelnen: Die Betrachtung der Ungarn in der Vojvodina entspricht im eigentlichen Sinne dem vorgestellten Modell; die Gruppe der Szekler spiegelt eine Mischform wider, denn durch das Vorhandensein einer Eigenbezeichnung (= székelyek) sowie in der Herausbildung eigener „ethnischer Marker“ und Symbole, die eine kollektive Identität unterstreichen, könnte man durchaus von einer eigenständigen ethnischen Gruppe sprechen; da die Szekler die ungarische Sprache verwenden und da deren Geschichte sehr eng mit den Ungarn in Verbindung steht, werden sie in der nationalen Meistererzählung der Ungarn unter die Ungarn subsumiert,14 ebenso wie im rumänischen Minderheitenrecht, und nicht zuletzt zählen sich die Szekler im Bedarfsfall – weil die Verwendung der ungarischen Sprache zu ihren zentralen ethnischen Markern gehört – auch selbst zu den Ungarn.15 Ethnische Gruppen wie die Vlachen oder Uskoken haben selbst, wie vergleichsweise auch die Roma, keinen eigenen Nationalstaat hinter sich, an dessen Meistererzählung sich die Erinnerungen gegebenenfalls anhängen würden. Es kann entweder der nunmehrige „Herbergestaat“ (Slowenien, Kroatien) diese Rolle übernehmen oder es gibt eine von mir so genannte ‚referentielle Nation‘, wenn sich beispielsweise einige Vlachen/Uskoken in der Selbstwahrnehmung als Serben bezeichnen. Das rührt daher, weil diese Gruppe bereits in ihrem früheren, ostherzegowinischen Siedlungsgebiet16 sowohl

14 | János Makkay, Siculica Hungarica: a székelyek ősidők kezdeteitől magyarok: a kérdés Nagy Gézától László Gyuláig, (= Tractata minuscula 66) Budapest 2009. 15 | Interview mit dem Vorstand des Budapesti Székely Kör am 20. 5. 2009. 16 | Diesen Ursprung nimmt der serbische Dialektologe Pavle Ivić an, wobei es zu ergänzen gilt, dass dort in der Ostherzegowina von der serbischen Bevölkerung ein ijekavischer Dialekt gesprochen wird. Siehe dazu Pavle Ivić, Migracije i dialekti Srba jekavaca, in: Iz srpskohrvatske dijalektologije, Izbrani ogledi III, Niš 1991, 257-273.

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die Sprache als auch die orthodoxe Religion der Serben angenommen hatte, ehe sie vor den Osmanen nach Norden in die Regionen der ehemaligen Militärgrenze der Habsburger Monarchie flüchteten. Gleichzeitig ging mit der Benennung „Serbe“ ein höheres Sozialprestige einher, denn die slawische Bezeichnung für Vlachen (= vlasi) wurde von der benachbarten kroatischen oder slowenischen Bevölkerung eher in pejorativen Kontexten verwendet. Die Szekler kreierten ihre kollektive Identität ursprünglich aus ihrer sozialen Stellung als Grenzwächter im ungarischen Gyepűsystem, die mit Privilegien verbunden waren, welche direkt von der ungarischen Krone ausgingen.17 Die Bezeichnung „Szekler“ leitet sich vom ungarischen Wort für „Stuhl“ (= szék) ab, denn ihre Organisation bestand aus insgesamt sieben Stühlen. Bereits früheste Chroniken aus dem 12. und 13. Jahrhundert belegen die Szekler als einheitliches „Volk“, das relativ geschlossen in Siebenbürgen siedelte. Aus ihrem ursprünglichen Siedlungsort am Königsboden (= Királyföld) begannen die Szekler bereits im 12. Jahrhundert ins so genannte Szeklerland (= Székelyföld) umzuziehen, unter anderem, um einem befürchteten, bevorstehenden Mongolensturm dort begegnen zu können. Diese Siedlungsbewegungen waren erst zur Mitte des 13. Jahrhunderts abgeschlossen. Ihre den Turkvölkern zurechenbare Stammesorganisation haben die Szekler bis weit in die Neuzeit hinein erhalten: Sie gliederten sich in insgesamt sechs Geschlechter zu je vier Zweigen und daraus besetzten führende Familien einer Erbtradition folgend in einer festgelegten Reihenfolge jährlich die Richter und die militärischen Befehlshaber, was gerade im Militärgrenzgebiet eine besondere Rolle spielte.18 Die Szekler gehörten seit dem ausgehenden Mittelalter zusammen mit dem ungarischen Adel und den Siebenbürger Sachsen zu den drei, die siebenbürgische Gesellschaft konstituierenden nationes, was sich dann in der unio trium nationum (1438) verfestigte. Die sieben Stühle des Szeklerlandes hießen Marosszék, Aranyosszék, Csíkszék, Udvarhelyszék sowie Kézdiszék, Orbaiszék, Sepsiszék; die letzten drei wurden auch als Háromszék (= drei Stühle) zusammengefasst. Alle die oben genannten Komponenten der Sozialordnung, der Stühle und der so genannten natio siculorum sowie ihre Funktion als „Grenzwächter“ waren bestimmend für die starke Ausprägung der kollektiven Identität der Szekler, auf die man sich auch in den heutigen Erinnerungskulturen stützt. Im Zuge des nationalen Erwachens im 19. Jahrhundert und der damit einher gehenden überproportionalen Betonung des ethnischen Markers Sprache fand eine schrittweise Selbstverortung als Ungarn (= Magyarok) statt. Seitens der ungarischen Historiographie steht außer Zweifel, dass die Szekler als ein Teil des Ungarntums betrachtet wurden: 17 | Dazu ausführlicher Konrad Gündisch, Gruppenprivilegien im mittelalterlichen Königreich Ungarn, in: Harald Roth (Hg.), Die Szekler in Siebenbürgen: Von der privilegierten Sondergemeinschaft zur ethnischen Gruppe, Köln 2009, 108-125. 18 | Vgl. Béla Köpeczi (Hg.), Kurze Geschichte Siebenbürgens, Budapest 1990, 175. Siehe weiters György Bodor, A székely nemzetségi szervezet, Csíkszereda 2003.

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K LAUS -J ÜRGEN H ERMANIK „Das Szeklerland ist ein Teil Siebenbürgens. Seine Einwohner sind Ungarn, die Szekler genannt werden und eine besondere Geschichte und Organisation sowie ein spezifisches Institutionensystem hatten. Ihre Herkunft ist bis heute ungeklärt. Sie sprachen schon während der Zeit der Niederlassung ungarisch und sehen sich als organischen Bestandteil des Gesamtungarntums.“19

Dieser Aspekt ist bis heute erhalten geblieben, allerdings gibt es parallel dazu weiterhin einige Parameter, die die Identität der Szekler in die Nähe einer eigenständigen ethnischen Gruppe rücken: Dabei hängt es vielfach vom Blickwinkel ab, wie das historische Narrativ erzählt wird, wie sehr das Hauptaugenmerk auf diese – in Belangen der spätmittelalterlichen Militärgrenzorganisation im Karpathenraum – soziale Eigenständigkeit gelegt wird oder wie sehr man deren ungarische Sprache bereits mit ihrem Herkunftsmythos verknüpft. Die Eigenständigkeit der Szekler bekommt vor allem weitere Nahrung im Bestehen einer eigenen, ebenfalls den Turkvölkern ähnlichen, Runenschrift (= székely rovásírás),20 einer eigenen Hymne (= Székely Hímnusz),21 die nach Trianon im Jahr 1921 entstanden ist und die am 5. September 2009 vom Székely Nemzeti Tanács (= Szekler Nationalrat) offiziell als Hymne des Szeklerlandes (= Székelyföld) ausgerufen wurde.22 Ebenso gibt es eine eigene Szeklerfahne, die eine goldene Sonne und silberner Mond auf himmelblauem Grund abbildet. In der Selbstsicht wird eine kollektive Eigenständigkeit der Szekler nunmehr mit „siculitas – székelység“ (= Szeklertum) umschrieben und deckt sich in vielen Punkten mit den aktuellen Forderungen der Szekler nach einer Autonomie des Szeklerlandes.23 Damit wäre der Bogen in die Gegenwart geschlossen, denn diese Autonomieforderung ist das ethnopolitische Hauptanliegen der Szekler. Dieser begegnet die rumänische Minderheitenpolitik mit Seperatismusvor19 | Sándor Pál-Antal, Die Szekler unter den Völkern Siebenbürgens, in: Roth (Hg.), Die Szekler in Siebenbürgen, 1. 20 | Zum Ursprung der Runenschrift der Szekler im Vergleich zu den Zeichensprachen der Turkvölker siehe István Szekeres, A székelyek és az ótörök írás jeltörténete: bevezetés a történeti összehasonlító jeltörténet módszertanába, Budapest 2008. 21 | Das ist vor allem in dem Zusammenhang sehr bedeutend, wenn man die transnationale Symbolhaftigkeit des ungarischen „hímnusz“ in Erwägung zieht. Siehe dazu auch Fußnote 47. 22 | Zum SZNT und seinen politischen Zielen siehe dessen Home-page: http://www.sznt.ro/ de/index.php (27.9.2011). Dort werden u.a. sämtliche genannten Symbole der Szekler gezeigt. 23 | Siehe dazu die Seite siculitas – székelység der domain für die Szeklerkultur pontsic: http://pontsic.org/hu/index.php?option=com_content&view=article&id=2&Itemid=4 (14.9.2011). Inwiefern diese Autonomieforderung mit herkömmlichen Nationsbildungsprozessen zu vergleichen ist, kann gerade im Hinblick auf die Szekler schwer beantwortet werden, da sie sich selbst vielfach bereits als eine „alteingesessene“, weil im Urkundenlatein so bezeichnete natio (natio siculorum) verstehen. Das ist eine Vermengung der Begriffe, die sich seit dem 19. Jahrhundert etablierte. Eine genauere Studie, die auch die gegenwärtige Eigensicht der Szekler berücksichtigt, ist noch ein Desiderat der Forschung.

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würfen, da sie die Autonomieforderung mit der generellen Autonomieforderung aller in Siebenbürgen lebenden Ungarn, die ebenfalls existiert, politisch verknüpft und weil die Szekler rechtlich als Teil der ungarischen Minderheit eingestuft werden. Gleichzeitig wollen sich Szekler und Ungarn, im minderheitenrechtlichen Sinne, demographisch nicht aufteilen lassen, da das die Gesamtvertretung der Ungarn in Rumänien nur schwächen würde. Trotzdem will man beide Autonomieforderungen getrennt aufrecht erhalten.24 Die Erkenntnis des Rechtswissenschaftlers Sergiu Constantin zeigt die Dichotomie dieses ungelösten Problems sehr gut: „Bucharest likes to speak about a ‚Romanian model of minority protection‘, while in Transylvania there are people convinced that Romania is threatening their national identity and that territorial autonomy based on ethnic criteria is the only solution for the future of their community. It is submitted that the truth is somewhere in between.“25

Allerdings steht dieser salomonischen Erkenntnis entgegen, dass es im minderheitenrechtlichen und -politischen Sinne keine wirkliche Lösung geben kann, die genau in der Mitte liegt. Das von Constantin angesprochene „rumänische Modell des Minderheitenschutzes“ ist, im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten, recht effizient, allerdings lässt sich auch damit eine Volksgruppe in der Größenordnung wie jene der Ungarn/Szekler in Siebenbürgen26 nicht zufrieden stellen. Über eine Autonomieform, die den Ungarn/Szeklern eine Zukunft in einem rumänischen Staat gibt – damit der Vertrag von Trianon in der Erinnerungskultur der Ungarn/Szekler nicht weiterhin, wie etwa von Premierminister Viktor Orbán als „größere Katastrophe für die Ungarn als Versailles für die Deutschen“27 betrachtet wird – sollte auf jeden Fall nachgedacht

24 | Siehe dazu die ungarischsprachige On-line Zeitschrift erdély-ma (= Siebenbürgen heute), die in einer eigenen Rubrik alle Artikel zur Autonomiefrage archiviert: http://erdely.ma/au tonomia.php (11.8.2011). Die gewählte politische Vertretung aller Ungarn in Rumänien ist die so genannte Romániai Magyar Demokrata Szövetsége RMDSZ (= Demokratische Allianz der Ungarn in Rumänien), die die den Ungarn im rumänischen Minderheitenrecht zugesicherten Parlamentssitze inne hält. Diese fordert sogar eine Autonomie für das gesamte Siebenbürgen und nicht nur für das Szeklerland. 25 | Sergiu Constantin, Romania, in: Emma Lantschner/Joseph Marko/Antonija Petričušić (eds.), European Integration and its Effects on Minority Protection in South Eastern Europe, (= Minderheiten und Autonomien 12) Baden-Baden 2008, 164. 26 | Für Siebenbürgen hält die rumänische Volkszählung von 2002 folgendes fest: 5,39 Mio. Rumänen (74,7%), 1,41 Mio. Ungarn (19,6%), 244.475 Roma (3,3%), 53.077 Deutsche (0,7%). Quelle: Etnii in Transilvania după rezultatele finale ale recensământului din anul 2002. http://sebok1.adatbank.transindex.ro (14.7.2010). 27 | Richard Swartz, Ungarn: Premierminister Viktor Orban: Phantomschmerz. Süddeutsche Zeitung, 1.5.2010. http://www.sueddeutsche.de/politik/ungarn-premierminister-viktor-orban-phantomschmerz-1.937380-2 (10.11.2011).

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werden, denn einige Autonomiemodelle in Europa haben bis jetzt gezeigt, dass damit einem allfälligen Separatismus eher entgegen gewirkt werden konnte. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden an der so genannten Habsburgischen Militärgrenze auch entlang des Sichelberger Gebirges (kroat. Žumberačka gora, slow. Gorjanci), das am Bogen des Flusses Kupa/Kolpa liegt, Flüchtlinge aus den osmanischen Gebieten Südosteuropas angesiedelt.28 Diese Neusiedler waren vorwiegend Vlachen und Uskoken, die von kroatischer oder österreichischer Seite mit mehreren Termini wie etwa „[…] ‚Valachi Turcorum‘, ‚Valachi‘, ‚Rasciani Voskoky‘, ‚Valachi Uzkoky‘ […] ‚Vsskhoken‘ […]“29 bezeichnet wurden, von denen sich schließlich der Begriff „Uskoken“ (= „Überläufer“, „Flüchtling“ von kroat. „uskočiti“) generalisierend für alle Neusiedler durchsetzte. Die in Sicheldorf angesiedelten Uskoken erhielten besondere Privilegien, die entlang der kroatisch-slawonischen Militärgrenze für Wehrbauern vergeben wurden. So etwa wurden Uskoken, die mit einem Grundstück belehnt worden waren, zwanzig Jahre von Abgaben befreit, allerdings mussten sie im Kriegsfalle im selben Zeitausmaß unbesoldeten Kriegsdienst gegen die Osmanen leisten.30 In der Stadt Badovinci, die im Sichelberger Gebirge liegt, haben die sich selbst so bezeichnenden „Nachfahren der Sicheldorfer Uskoken“ (= „Potomci žumberačkih uskoka“) im Jahr 2005 ein Denkmal enthüllt,31 das die Leistung ihrer Vorfahren in der Jahrhunderte zurück liegenden Osmanenabwehr, um das „christliche Abendland zu schützen“, dokumentieren soll.32 Im regionalen kroatischen Narrativ, vom offiziellen Uskoken-Verein in Sošice, wird über diese Besiedelungsepoche der Region in folgender Art und Weise berichtet: „U taj kraj u više seoba od 1530. do 1538. doseljavani su uskoci iz Bosne i Hercegovine, Cetinske krajine i u zadnjoj iz Senja 1617. Većina tih uskoka bili su bizantsko-slavenskog obreda, a danas se nazivaju grkokatolici.“33 28 | Zur Geschichte der Militärgrenze siehe Karl Kaser, Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft an der kroatisch-slawonischen Militärgrenze (15351881), (= Zur Kunde Südosteuropas II/22) Wien-Köln-Weimar 1997. 29 | Ebda, 68. 30 | Vgl. ebda, 81. 31 | Udruga Uskok Sošice: Žumberak, jučer, danas, sutra. Siehe: http://uskok-sosice.hr/?page_ id=13 (29.9.2011). 32 | Zu dieser Propaganda siehe etwa: Zsuzsa Barbarics-Hermanik, Reale oder gemachte Angst? Türkengefahr und Türkenpropaganda im 16. und 17. Jahrhundert, in: Harald Heppner/dies. (Hg.), Türkenangst und Festungsbau. Wirklichkeit und Mythos, (= Neue Forschungen zur ostmittel- und südosteuropäischen Geschichte 1) Frankfurt/M et al 2009, 43-78. 33 | Udruga Uskok Sošice: Žumberak, jučer, danas, sutra. Siehe: http://uskok-sosice.hr/?page_ id=13 (29.9.2011). Ergänzend dazu wäre anzumerken, dass es damals ein Bosnien-Herzegowina in der heutigen Form nicht gab, sondern den unter osmanischer Verwaltung stehenden Sandschak von Bosnien (bis 1578) und danach das vilajet von Bosnien.

„G RENZDURCHSCHNIT TENE E RINNERUNGEN “ (Nach der großen Abwanderung haben sich in diesem Gebiet von 1530 bis 1538 Uskoken angesiedelt, die aus Bosnien-Herzegowina, aus der Umgebung von Cetinje und dann später 1617 aus Senj stammten. Die Mehrzahl dieser Uskoken pflegte einen byzantinisch-slawischen Ritus, aber heute bezeichnen sie sich als griechisch-katholisch. [Übers. d. d. Verf.])

Der Uskoken-Verein in Sošice erwähnt dabei ausschließlich Uskoken, die aus den genannten Räumen gekommen wären, als Neusiedler der Militärgrenze. Die Möglichkeit, dass sich auch Vlachen angesiedelt hätten, wird nicht einmal in Betracht gezogen, ähnlich wie im regionalen Uskoken-Museum, das sich seit 2006 in der Pfarre St. Georg in Stojdraga befindet.34 Als Hauptgrund, warum diese Umbenennung der Vlachen sowohl in der Eigen- als auch in der Fremdbezeichnung erfolgt ist, erscheint mir Folgendes plausibel:35 Für die slawisch sprachige Bevölkerung galt die Bezeichnung „Vlachen“ (= kroatisch „vlasi“, slowenisch „vlahe“) als pejorativ und wurde auch dementsprechend gebraucht. Für die in der slowenischen Bela Krajina/Weißkrain lebenden Uskoken/Vlachen dokumentiert die Linguistin Tanja Petrović etwa das dort von alters her gebrauchte slowenische Sprichwort „V Črnomlju imajo Cigane, v Adlešičih imajo Vlahe“36 (= In Črnomelj/ Tschernembl haben sie Zigeuner, in Adlešiči haben sie Vlachen [Übers. d. d. Verf.]). Jene Vlachen oder Uskoken, die sich bereits vor ihrer Flucht vor den Osmanen in den Norden in einer slawischen Umgebung sprachlich assimiliert hatten, bezeichneten sich später überhaupt als Serben, wenn sie dort zuvor bereits den serbisch-orthodoxen Glauben angenommen hatten;37 von den anderen wurden sie entweder als Serben oder als Uskoken benannt. In der oben genannten Bela Krajina/Weißkrain hat sich die serbische Sprache in den Dörfern Bojanci, Marindol, Miliči und Paunoviči, die ebenfalls

34 | Siehe dazu: http://www.park-zumberak.hr/destinacije/stojdraga_en.html (29.9.2011). 35 | Über diese Benennungsstrategien zwischen Vlachen und Uskoken gibt es keine rezente Fachliteratur, in der Vergangenheit ist der Terminus „Vlachen“ für Siedler in anderen Gebieten in der Habsburgischen Militärgrenze durchaus verwendet worden: Siehe etwa Joseph Fiedler, Beiträge zur Union der Valachen (Vlachen) in Slavonien und Syrmien, Wien 1867. Für die damalige Region Krain wurde allerdings bereits der Terminus „Uskoken“ benutzt. Siehe etwa: Hermann Biedermann, Zur Geschichte der Uskoken in Krain, in: Archiv für Heimatkunde 2 (1884/87), 174-207. 36 | Tanja Petrović, Ne tu, ne tam. Srbi v Beli krajini in njihova jezikovna ideologija v procesu zamenjave jezika, Ljubljana 2006, 38. 37 | Marko Šarić gibt als Begründung für die Annahme des orthodoxen Glaubens im Umfeld des Patriarchats von Peć im heutigen Kosovo durch die Eliten der Vlachen an, dass sich das Gewohnheitsrecht der Vlachen am besten mit dem kanonischen Recht der orthodoxen Kirche und ihren Institutionen verbinden hätte lassen. Siehe Marko Šarić, Inter-confessional Relations and (In)tolerance among the Vlachs, in: Egidio Ivetic/ Drago Roksandić (eds.), Tolerance and Intolerance on the Triplex Confinium. Approaching the “Other” on the Borderlands Eastern Adriatic and beyond 1500-1800, Padua 2007, 181-194.

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im 17. Jahrhundert von Vlachen/Uskoken besiedelt wurden, bis in die Gegenwart erhalten; vor allem auch, weil die serbisch-orthodoxe Kirche (= Српска Православна Црква) eine integrative Kraft besaß und die dortigen nunmehr 243 Einwohner ihren orthodoxen Glauben erhalten haben.38 Das unterscheidet sie von den Uskokendörfern auf der kroatischen Seite des Sichelberger Gebirges, denn die dortigen Bewohner sind katholisch oder, wie bereits erwähnt, griechisch-katholisch. Für die oben genannten ‚serbischen‘ Dörfer gibt es in Slowenien keinen eigenen Minderheitenschutz und daher wurden die Serben in der Bela Krajina unter die so genannten „Versteckten Minderheiten“ subsumiert.39 Im Anschluss an diese slawischsprachigen Vlachen/Uskoken sei noch eine kleine Vergleichspassage zu den, von der Wissenschaft so bezeichneten „Istrorumänen“ angefügt. Diese waren ebenfalls Vlachen, die am Ende des 15. Jahrhunderts begannen, sich im Norden, in der Ćićerija im Hinterland der Halbinsel Istrien, anzusiedeln. In ihrer Fremdbezeichnung werden sie von den Kroaten, Slowenen oder Italienern in diesem Raum entweder als „Vlachen“ (= „vlasi“ oder „vlahe“) oder als „Tschitschen“ (kroat. „ćići“, ital. „chichi“) bezeichnet. Obwohl deren Sprache mittlerweile sehr stark mit čakavischen40 Elementen durchsetzt ist, haben diese Vlachen ihr rumänisches Idiom bewahrt.41 Istrorumänisch wird allerdings heute nur noch in zehn Dörfern und Weilern Istriens gesprochen. Die istrorumänisch sprechenden Bewohner nennen sich selbst in ihrer Eigenbezeichnung vorwiegend nach den Orten, in denen sie leben: „Žejanci“ wären die Leute aus Žejane, „Šušnevci“ aus Šušnevica oder „Brijani“ aus Brdo usw.42 Aber sie bezeichnen sich zum Teil auch einfach als Kroaten, denn der soziolinguistische Status des istrorumänischen Idioms ist durch das Fehlen jeglichen Zugehörigkeitsgefühls zur „Sprachnation Rumänien“ sehr gering und die istrorumänische Sprachvariante ist daher unmittelbar vom Aussterben bedroht. Zudem hat sich auch hier der Terminus „Vlachen“ nicht als Eigenbezeichnung durchgesetzt, da wie auch in den oben besprochenen Gebieten des Sichelberger Gebirges diese ethnische Gruppe pejorativ gesehen wurde. Als letzte grenzdurchschnittene Beispielsregion dient die nördliche Vojvodina/Vajdaság in Serbien, die nach dem Ersten Weltkrieg dem damaligen Staat der Serben, Kro38 | Vgl. Tanja Petrović, Ne tu, ne tam, 23 f. 39 | Zur Theorie der „Versteckten Minderheiten“ siehe vor allem Christian Promitzer, KlausJürgen Hermanik, Eduard Staudinger (eds.), (Hidden) Minorities: Language and Ethnic Identity between Central Europe and the Balkans, Wien/Berlin 2009. In diesem Sammelband konkret zu den „serbischen“ Dörfern in Slowenien: Tanja Petrović, The Language and the Identity of the Serbs in Southern Slovenia, in: ebda, 157-176. 40 | Dialekt des Kroatischen. 41 | Vgl. dazu Goran Filipi, Istroromunski kromonimi, in: Jezikoslovni zapiski 13 (2007) 1-2, 133-145. 42 | Vgl. dazu Goran Filipi: Istrorumänisch. (in einer deutschsprachigen Übersetzung von Michael Pucher) Siehe: http://wwwg.uni-klu.ac.at/eeo/Istrorumaenisch.pdf (1.10.2011).

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aten und Slowenen (SHS) zugesprochen wurde. Damit wurden neben einigen anderen ethnischen Gruppen auch die zahlenmäßig größte in dieser Region, die Ungarn, zu einer Minderheit. Selbst heute leben dort noch 290.207 Ungarn, das sind 14,5 Prozent der Gesamtbevölkerung in der Vojvodina.43 In der kollektiven Erinnerung der Minderheit ist diese Abtrennung von Ungarn durch die Verträge von Trianon noch immer ein Trauma. Die Möglichkeit einer Annahme der doppelten Staatsbürgerschaft, was von Ungarn aus durch eine Gesetzesnovelle seit 1. Jänner 2011 möglich ist, ist auf der symbolischen Ebene daher für die Ungarn in der Vojvodina nicht unwesentlich. Diese Möglichkeit trifft übrigens auch auf die eingangs besprochene Gruppe der Szekler zu. In den Erinnerungskulturen der ungarischen Minderheit, die sich in der Eigenbezeichnung vajdasági magyarok nennt, dominiert eine gemeinsame Erinnerungskultur aller Ungarn im Karpathenbecken. Dabei rücken vor allem jene Festtage wie etwa der 15. März als Tag zum Gedenken an die Revolution (= forradalom) von 1848/49, der 20. August, der Tag zum Gedenken an den heiliggesprochenen König St. Stephan/Szent István király und zugleich der Tag der ungarischen Staatsgründung (= magyar államalapítás) oder der 23. Oktober als Tag zum Gedenken an die Revolution von 1956 ins Zentrum. Auch dazu muss vergleichend angemerkt werden, dass diese Feiertage bei den Szeklern ebenfalls ein Herzstück ihrer Erinnerungskultur ausmachen, was für deren Ungarntum in den Identitätskonstruktionen äußerst wichtig erscheint – gleichzeitig tauchen im Szeklerland neben der ungarischen Trikolore (rot-weiss-grün) auch die oben beschriebenen Szeklerfahnen bei den Straßenkundgebungen und auf öffentlichen Gebäuden auf und es wird neben dem Hímnusz auch die Szeklerhymne gesungen. In der Vojvodina dürfen Erinnerungsfeierlichkeiten an den Freiheitskampf von 1848/49 erst wieder seit der Wende öffentlich stattfinden.44 Diese werden zumeist an symbolträchtigen Orten abgehalten und in die Festreden der (ethno-)politischen Vertreter der Ungarn werden die Erinnerungen an die Ereignisse von 1848/49 mit tagesaktuellen Botschaften für die Minderheit verbunden: In Temerin, einer nordöstlich von Novi Sad/Újvidék gelegenen Kleinstadt, hat am 15. März 2011 im westlichen Friedhof der Stadt durch den Bürgermeister András Gusztony eine Kranzniederlegung am kopjafa45 stattgefunden. In seiner Rede betonte der Bürgermeister ausdrücklich, wie wichtig das mittlerweile in Ungarn verabschiedete Gesetz über die Unteilbarkeit 43 | Quelle: Etnički sastav stanovništva Srbije prema popisu iz 2002. Siehe: http://www.preg led-rs.com (14.7.2010). 44 | Eine komplette Auflistung der Gedenkfeiern, die von 12.-19. März 2011 in der Vojvodina stattgefunden haben ist auf der Internetseite der MRM unter dem Titel „Ünnepségek és ren dezvények az 1848-as forradalom 163. évfordulója alkalmából“ abzurufen (= Feierlichkeiten und Veranstaltungen zur 1848-er Revolution aus dem Anlass des 163. Jahrestages) Siehe: http://www.mrm.rs/esemenyek/504-uennepsegek-es-rendezvenyek-az-1848-as-forradalom-163-evforduloja-alkalmabol (20.7.2011). 45 | Der kopjafa ist eine Holzstele, die mit geschnitzten Motiven aus der Zeit der ungarischen Landnahme geschmückt ist. Sie gehören zu alten ungarischen Formen des Grabschmuckes und werden seit dem nationalen Erwachen im 19. Jahrhundert auch als Denkmäler eingesetzt, weil sie eine starke Nationalsymbolik transportieren.

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der ungarischen Nation wäre und wie wichtig es für die Minderheit wäre, wenn eine starke „Mutternation“46 hinter ihr stünde, ehe von allen Anwesenden der ungarische „Hímnusz“47 gesungen wurde.48 Die Ansprache von István Pásztor, des Vorsitzenden der VMSZ (= Vajdasági Maygar Szövetség), der größten Minderheitenorganisation, bzw. -partei der Ungarn in der Vojvodina, ist von der VMSZ online gestellt worden und darin mahnt er unter anderem ein gemeinsames Ungarntum aller Ungarn ein, das nur im Geiste einer „[…] lebendigen Sprache, lebendigen Kultur, lebendigen Gedenkens und eines lebendigen Petőfi“ realisiert werden könne.49 Von den Höhepunkten der Feierlichkeiten, die am 20. August 2011 zum SzentIstván-Tag in Palić/Palics bei Subotica/Szabadka stattfanden, ist ein kurzes ungarischsprachiges Video auf you-tube abrufbar,50 in dem István Pásztor unter anderem auch die doppelte Staatsbürgerschaft als ein Element des Ungarntums in Serbien erwähnt. Der Erinnerungsbogen zu König Stefan ist bei dieser Feierlichkeit auch durch die Bühnendekoration gegeben, die ein riesiges Konterfei des Herrschers zeigt, neben dem der Spruch „Tudod, hogy Szent István örökségben hagyott“ („Weisst du, dass Sankt Stefan Dir ein Erbe hinterlassen hat“, Übers. d. d. Verf.) prangt.

R ESÜMÉ Die Fallbeispiele zeigen einige Varianten, wie eine Neuverortung von (ethnischen) Gruppen über den Auf- und Umbau ihrer mémoire collective vonstattengeht: Sie begründet sich in veränderten Loyalitäten, durch eine Umschichtung der boundaries zu den Nachbarn und zur nunmehrigen Mehrheitsbevölkerung, oder in einem Konzept, das ein Festhalten an einer Herkunftsnation, die von den betroffenen selbst vielfach mit dem Terminus „Mutternation“ belegt wird, bevorzugt. Alle Beispielgruppen haben in ihren grenzdurchschnittenen Räumen Erinnerungsorte festgelegt, wobei einige dieser Gedächtnisorte auch ein mehr oder weniger „translokales Gedächtnis“51 widerspiegeln. 46 | Der Ausdruck „Mutternation“ (= anyaország) wird hier im ungarischen Original verwendet. 47 | Man kann beim „Hímnusz“ (Musik: Ferenc Erkel; Text: Ferenc Kölcsey) nicht einfach nur von der Nationalhymne des ungarischen Staates sprechen, sondern sie wird nach wie vor als Hymne für alle Ungarn gesehen und dementsprechend verwendet. 48 | Vgl. Béla Góbor, Koszorúzás és műsor Temerinben, in: Magyar Szó, 16.3.2011. Siehe: http://www.magyarszo.com/fex.page:2011-03-16_Koszoruzas_es_musor_Temerinben.xht ml (20.8.2011). 49 | Pásztor István, a VMSZ elnökének ünnepi beszéde. Siehe: http://www.vmsz.org.rs/news-article.php?id=230 (01.10.2011) (Übers. d. d. Verf.) 50 | Siehe: http://tudositok.hu/3753/video/A_VMSZ_kozponti_unnepsege_Palicsonn (1.10. 2011). 51 | Im Sinne von Moritz Csáky, Elisabeth Grossegger (Hg.), Jenseits von Grenzen. Transnationales, translokales Gedächtnis, München 2007.

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Dass nun, wie bei den Serben in Bela Krajina/Weißkrain eine „linguistic identity“,52 die nach Serbien ausstrahlt, zur entsprechenden Selbstverortung führt oder bei den Ungarn in der Vojvodina die nationale Identität des gesamten Ungarntums als Narrativ ins Zentrum rückt, hängt meiner Meinung von inneren und von äußeren Steuerungsmechanismen gleichermaßen ab: Die pejorative Anschauung der Vlachen hat in den nördlichen Regionen der Militärgrenze verhindert, dass sich dieser Terminus als Eigenbezeichnung durchgesetzt hat. Die ungarischen Ethnopolitiker in der Vojvodina wiederum fürchten sich offiziell zwar vor einem zu viel an ungarisch-serbischer Zweisprachigkeit, weil sie nicht ins programmatische Narrativ passen, doch im Alltag sind diese Prozesse längst am Laufen und daher sei angenommen, dass sich die unterschiedlichen Erinnerungen in solchen Gemengelagen ebenfalls angleichen und überlagern werden – wie bei den Szeklern, wo sich die kollektiven Erinnerungen zwischen den Polen Ungarntum und Szeklertum auspendeln, um dann gegebenenfalls doch wieder auseinanderzudriften, wenn auch vorwiegend in Symbolen oder in symbolischen Handlungen.

52 | Vgl. Petrović, The Language and the Identity of the Serbs in Southern Slovenia, 171.

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Das (verlorene) Haus an der Grenze Kulturelle Grenzziehungen und Selbstpositionierungen bei Edith Gräfin Salburg Heidrun Zettelbauer

„Sie hätte ihnen zurufen müssen: ‚Laßt ihn! Er ist nicht wert, daß ihr in Ehren in talwärts tragt. Ihr wißt ja nicht!‘ Verwirrten Blickes sah sie, an der Leiche kniend, zu ihnen empor, und plötzlich sagte sie: ‚Wir wollen ihn hier begraben. Er gehört diesen Bergen. Sie hielten ihn zurück. Schreibt auf sein Holzkreuz nur den Namen, den er getragen hat, und die vier Worte: ‚Die Grenze nahm ihn‘.“1

Schauplatz des 1915 veröffentlichten Romans Das Haus an der Grenze von Edith Gräfin Salburg ist ein nicht näher spezifizierter Ort am Nordufer des Largo di Garda/Gardasees in der heute autonomen Provinz Trentino-Südtirol. Bis 1919 Teil der Gefürsteten Grafschaft Tirol, war die Region seit 1900 eine beliebte Sommerfrische, in der sich zahlreiche AristokratInnen, KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, WissenschafterInnen und Intellektuelle wie Magnus Hirschfeld, Sigmund Freud, Max Brod, Franz Kafka, Heinrich und Thomas Mann, Hermione von Preuschen, Rudolf Steiner oder auch Karl May in angenehmer Atmosphäre und frei von jeglichen Arbeitspflichten einfanden, um sich – etwa im kleinen Ort Riva del Gardo in der von Christoph Hartung von Hartungen gegründeten „ersten deutschen Pension für naturgemäßes Leben und naturgemäße Krankenpflege“ – zu erholen. Seinem Sanatorium am „Zauberberg Riva“2 verdanken sich offenbar nicht nur wirkungsmächtige Anregungen der Weltliteratur, von ihm angelockt wurde die kosmopolitische und „nervengeplagte Kreativbranche des Fin de Siècle“ 1 | Edith Gräfin Salburg, Das Haus an der Grenze. Ein Roman aus Südtirol, Berlin-Wien 1915, 281. 2 | Vgl. Willi Jaspers, Zauberberg Riva, Berlin 2011.

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auch mittels des Narrativs, wonach bereits Heinrich Heine, Johann Wolfgang von Goethe oder Friedrich Nietzsche prägende ‚italienische Momente‘ ihres Lebens am Ufer des Gardasees verbracht hätten.3 Mit dem internationalen, künstlerisch-kreativen Milieu, das sich im Trentino um 1900 tummelte, hatte Edith Freifrau von Krieg-Hochfelden, die unter ihrem vorehelichen Nachnamen Edith Gräfin Salburg publizierte, kaum Kontakt. Von 1899 bis 1914 lebte und arbeitete sie im nördlich von Riva del Gardo gelegenen Arco. Unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs bzw. in den ersten Kriegsmonaten entstand hier sowie auf einer im Mai 1914 angetretenen Reise durch die Schweiz ihr Roman Das Haus an der Grenze. Während die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Schmid-Bortenschlager den Roman zum einen als „Beitrag zur Ideologieproduktion“ im Ersten Weltkrieg, zum anderen als Anknüpfung an eine beliebte Konstruktion im klassischen „Frauenroman“ liest, nämlich politisches Geschehen in familiären Kontexten abzuhandeln,4 so erscheint es darüber hinausgehend lohnend, ihn in den aktuellen Zusammenhang einer gendersensiblen Nationsforschung einzubetten. Salburg hatte sich als Autorin bereits in ihrer Zeit in Graz, wo sie ihre Jugend verbrachte, politisch einerseits mit dem Aufgreifen sozialkritischer Themen, andererseits als Verfechterin deutschnationaler Ideen positioniert. In ihrer Zeit in Südtirol – ihrem Leben „an der Grenze“5 – ist eine Radikalisierung ihrer völkisch-nationalistischen wie rassistischen Haltungen zu bemerken, die schließlich im letzten Drittel der 1920er Jahre in einem offenen Bekenntnis zum Nationalsozialismus münden sollten. Ihre Romane, Theaterstücke, Gedichte wie ihre Autobiographie ermöglichen aus heutiger Perspektive nicht nur einen Einblick in biographische Eckpunkte und einen hochpolitischen Lebensentwurf, sondern verdeutlichen insbesondere auch die Wirkmächtigkeit nationaler und geschlechtsspezifischer Identitätskonstruktionen. Ein zutiefst vergeschlechtlichtes Phantasma des Nationalen spiegelt sich in ihren autobiographischen Verortungen wider und macht zugleich Folien der Abgrenzung im Rahmen individueller Handlungspraktiken sichtbar. Im Folgenden wird exemplarischen Aspekten kultureller Grenzziehungen sowie Selbstposition/ierung/en entlang der Kategorien Geschlecht, Nation und „Rasse“ bei Edith Gräfin Salburg nachgegangen – anhand ihres Romans Das Haus an der Grenze und im Spiegel ihrer Autobiographie Erinnerungen einer Respektlosen6. Als signifikant erscheint dabei der Umstand, dass der Roman von 1915 stark autobiographischen Cha3 | Vgl. Florian Illies, Rudern hilft. Willi Jasper besucht Riva, wo einst überforderte Intellektuelle im Gardasee badeten. In: Die Zeit 12, 17.3. 2011 [www.zeit.de/2011/12/S-Jasper, 3.11.2011]. 4 | Vgl. Sigrid Schmid-Bortenschlager, Elite und Kampf bei Edith Salburg. Ein Beitrag zur Ideologieproduktion. In: Klaus Amann/Hubert Lengauer (Hg.), Österreich und der Große Krieg 1914-1918. Die andere Seite der Geschichte, Wien 1989, 200-205. 5 | Edith Gräfin Salburg, Erinnerungen einer Respektlosen. Ein Lebensbuch von Edith Gräfin Salburg Band 2, Leipzig 1928, z.B. 75. 6 | Edith Gräfin Salburg, Erinnerungen einer Respektlosen. Ein Lebensbuch von Edith Gräfin Salburg Band 1, Leipzig 1927; Salburg, Erinnerungen 2; Edith Gräfin Salburg, Erinnerungen einer Respektlosen Band 3: Vom Wohlstands- zum Arbeitsmenschen, Leipzig 1928.

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rakter, die Autobiographie wiederum in hohem Maß fiktionalen Gehalt hat – insofern, als sie fast einem deutschnationalen Bildungs- und Entwicklungsroman aus weiblicher Perspektive gleichkommt, durchaus vergleichbar mit Rudolf Hans Bartschs Das deutsche Leid7. Nicht zuletzt aufgrund der zeitlichen Distanz zwischen ihrem Leben in Arco (1898 bis 1914) und der Veröffentlichung ihrer Autobiographie (1927/28), erscheinen in ihren Erinnerungen einer Respektlosen viele Charaktere in noch stärkerem Ausmaß als 1915 völkisch ideologisiert und rassifiziert – auch aufgrund der von Salburg in der Zwischenzeit durchlaufenen politischen Radikalisierung. Die in diesem Beitrag vorgenommene Fokussierung auf die nationalisierten und vergeschlechtlichten Muster in ihren Wahrnehmungen, die in Das Haus an der Grenze und den Erinnerungen einer Respektlosen mitunter fast deckungsgleich funktionieren, hat dabei nicht den Zweck, vermeintlich ‚authentische Erlebnisse‘ von ‚fiktiven Erzählungen‘ zu separieren, sondern betont mit Jürgen Straub dahingegen gerade die permanenten kulturellen Re/ Konstruktionsprozesse personaler Identität. Straub zufolge kann personale Identität als Aspiration, als „Fluchtpunkt der sozialen Praxis“ gefasst werden, deren Merkmale in der beständigen Herstellung von Kontinuität, Kohärenz/Konsistenz und Eindeutigkeit liegen.8 Aus einer solchen Perspektive gewinnt gerade das Medium Sprache/Text in Ego-Dokumenten zentrale Bedeutung, denn das Erzählen/Schreiben einer kontinuierlichen Lebensgeschichte ist ein wichtiger Modus, Einheit und Kohärenz in einem Leben herzustellen. Autobiographien sind somit niemals bloße ‚Beschreibungen eines Lebens‘, sondern immer auch Sprachhandlungen mit einer spezifisch performativen Kraft, Identitätskonstruktionen einzuüben, ‚Wirklichkeit‘ werden zu lassen, herzustellen. Sie ermöglichen somit gleichermaßen die Sichtbarmachung der Konstruktionsprozesse personaler Identität wie die Rekonstruktion der Folien kultureller Repräsentationen, vor denen sie stattfinden. Im Hinblick auf nationale und vergeschlechtlichte Grenzziehungen und Selbstpositionierungen verschwimmen daher die Unterschiede zwischen dem Roman und Salburgs Autobiographie9 weitgehend.

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Nationale/nationalistische Konzepte stützen sich auf ein Denken in Dichotomien. Durch die Konstruktion von Wertungskategorien wie Recht/Unrecht, richtig/falsch, 7 | Vgl. Rudolf Hans Bartsch, Das deutsche Leid, Leipzig 1912. Salburg kannte Bartsch und widmete ihm in ihrer Autobiographie einen eigenen Abschnitt, vgl. Salburg, Erinnerungen 1, 190-191. 8 | Vgl. Jürgen Straub, Identität. In: Friedrich Jaeger et al. (Hg.), Handbuch Kulturwissenschaften Band 1, Stuttgart-Weimar 2004, 277-307. – Zur biographischen Konstruktion generell: Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: Erika M. Hoerning (Hg.), Biographische Sozialisation (= Der Mensch als soziales und personales Wesen 17), Stuttgart 2000, 51-60. 9 | Vgl. Ladina Bezzola Lambert, New Historicism (Stephen Greenblatt). In: Ulrich Schmid (Hg.), Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts (= Reclams Universalbibliothek 15232), Stuttgart 2010, 377-384.

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gut/schlecht oder freundschaftlich/feindlich werden scharfe Konfrontationskonturen gebildet, die jedes Individuum zwingen, sich einer vermeintlich ‚richtigen‘ Seite zuzuordnen und sich Normen und Pflichten anzueignen, die das jeweilige Konzept der Nation vorsieht.10 Jeder nationale Mobilisierungsprozess beruht auf kulturellen Grenzziehungen zwischen Zugehörigkeit/Nicht-Zugehörigkeit, auf der Konstruktion negativer Fremd- und positiver Selbstbilder, auf Mechanismen des Einschlusses und der Ausgrenzung sowie Vorstellungen von Dominanz und GegnerInnenschaft.11 Auch wenn die jüngere Nationalismusforschung spätestens seit Mitte der 1980er Jahre und verbunden mit der Rezeption von Benedict Andersons Imagined Communities12 zunehmend eine kulturwissenschaftliche Wende vollzog, blieb die Geschlechterspezifik nationalistischer Mobilisierungsprozesse dabei lange Zeit (auch etwa bei Anderson) ausgeblendet. Die inzwischen in hohem Maß ausdifferenzierte geschlechtersensible Nationsforschung hat die Frage nach der Entstehung, Ausprägung und Durchsetzung nationaler Geschlechteridentitäten ins Blickfeld gerückt13 und darauf hingewiesen, dass Nationen sowohl auf Ebene struktureller Herrschaftsverhältnisse, in kulturellen Repräsentationen wie sozialen Praktiken grundsätzlich geschlechtsspezifisch ausgerichtet sind.14 Geschlecht stellt demzufolge eine zentrale Differenz- und Grenzlinie ‚im Inneren‘ der bestehenden bzw. angestrebten Nation dar. Ebenso wie nationalistisch motivierte Prozesse der Rassifizierung bestimmter sozialer Gruppen haben auch die Mechanismen des gendering dabei die Funktion, soziale Ungleichheiten zu rechtfertigen und bestehende Machtverhältnisse, Hierarchien und Hegemonien zu legitimieren bzw. zu untermauern. Nationale/ nationalistische Konzepte positionieren Frauen dabei – wie Nira Yuval-Davis gezeigt hat – auf Ebene der kulturellen Repräsentation in verschiedenen Bereichen: als Metapher und Analogie des „Volkskörpers“ vor dem Hintergrund organologischer und organizistischer Vorstellungen, als kulturelle sowie als biologische „Reproduzentinnen der Nation“. Yuval-Davis zufolge fungieren Frauen auf den genannten Ebenen dabei in

10 | Vgl. Etela Faskasova/Zuzana Kiczkova, Feministische Ansätze in der Diskussion über nationale Identität. Zur Grenzziehung in der ehemaligen Tschechoslowakei. In: Olga Uremovič/ Gundula Oerter (Hg.), Frauen zwischen Grenzen. Rassismus und Nationalismus in der feministischen Diskussion, Frankfurt am Main-New York 1994, 129-143, hier 143. 11 | Vgl. Susanne, Kappeler, „Als Frau habe ich kein Land“ – aber einen deutschen Paß. Strukturen des Nationalismus in der deutschen Frauenbewegung, in: Uremovič/Oerter (Hg.), Frauen zwischen Grenzen, 92-106, hier 93-94. 12 | Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, New York 1983 [dt. Erstausgabe: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts (= Reihe Campus 1018), Frankfurt am Main-New York 1988]. 13 | Zu Geschlecht und Nation vgl. exemplarisch: Nira Yuval-Davis, Gender and Nation, London-Thousand Oaks-New Delhi 1997. – Ida Blom/Karen Hagmann/Catherine Hall (Ed.), Gendered Nations. Nationalism and Gender in the Long Nineteenth Century, Oxford-New York 2000. 14 | $OV hEHUEOLFN ]X JHQGHUVSH]L¿VFKHQ 1DWLRQVWKHRULHQ YJO +HLGUXQ =HWWHOEDXHU Ä'LH Liebe sei EuHU+HOGHQWXP³*HVFKOHFKWXQG1DWLRQLQY|ONLVFKHQ9HUHLQHQGHU+DEVEXUJHUPRQDUFKLH)UDQNIXUWDP0DLQ1HZ