Zielgruppe 50plus: Marketing im demografischen und digitalen Wandel: Neue Wachstumschancen im alternden Deutschland [1. Aufl.] 978-3-658-25804-7;978-3-658-25805-4

Senioren, Best Ager, Zielgruppe 50plus oder Silver Surfer werden sie oft genannt. Hinter ihnen steckt unglaubliches Kons

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German Pages XII, 218 [226] Year 2019

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Zielgruppe 50plus: Marketing im demografischen und digitalen Wandel: Neue Wachstumschancen im alternden Deutschland [1. Aufl.]
 978-3-658-25804-7;978-3-658-25805-4

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Einleitung in das Buch (Thomas Bily)....Pages 1-19
Wandel wagen (Thomas Bily)....Pages 21-74
Wandel vorbereiten (Thomas Bily)....Pages 75-118
Deutschlands neue Mehrheit (Thomas Bily)....Pages 119-156
Kundenzentrierung dank Digitalisierung (Thomas Bily)....Pages 157-181
Digitale Kommunikation (Thomas Bily)....Pages 183-218

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Thomas Bily

Zielgruppe 50plus: Marketing im demografischen und digitalen Wandel Neue Wachstumschancen im alternden Deutschland

Zielgruppe 50plus: Marketing im demografischen und digitalen Wandel

Thomas Bily

Zielgruppe 50plus: Marketing im demografischen und digitalen Wandel Neue Wachstumschancen im alternden Deutschland

Thomas Bily München, Bayern, Deutschland

ISBN 978-3-658-25804-7 ISBN 978-3-658-25805-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25805-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Dieses Buch widme ich Alois und Markus Erl. Sie fördern Digitalisierung und Geschäftsmodelle mit älteren Zielgruppen und sind, aus meiner Sicht, wegweisende Vorbilder für Unternehmensführung und Marketing im digitalen und demografischen Wandel.

Vorwort

Mitte der 90er-Jahre lief ein TV-Spot von IBM unter dem Titel der „Der Schock“: Zwei amerikanische Touristen entdecken in einem italienischen Dorf ein schönes Schild, das Olivenöl zum Kauf anbietet. Gerade als der Mann ein Foto von seiner Frau vor dem Schild machen will, tritt eine alte Frau aus dem Haus. „Buongiorno!“, sagt sie. Die beiden grüßen zurück und fragen, ob das ihr Geschäft sei. Ja, meint die alte Frau. Da sagt der Mann: „Wir haben auch ein eigenes Geschäft“. Seine Frau springt stolz ein: „Ja, wir haben drei Läden in Ohio“. Darauf die alte Frau: „Ohio, ja, da verkaufen wir auch. Und in Kalifornien, Kanada, Australien, Argentinien…“ und reicht der Touristin ihre Business-Card. Die liest und sagt: „Die sind im Internet. Wie können die sich das leisten?“. Der Mann staunt ungläubig. Ende der Szene. Einblendung: IBM Netfinity Server. Willkommen im Internet (Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=9QjYxiRlHF0). Dieser Spot ist so kraftvoll, weil er in wenigen Sekunden die großen Chancen des digitalen Marketings im demografischen Wandel auf den Punkt bringt. Egal, wie alt Sie sind: Die ganze Welt ist Ihr Markt. Sie können von Ihrem geliebten (italienischen) Dorf mit der ganzen Welt kommunizieren und Geschäfte mit ihrer Leidenschaft machen. Das ist ganz einfach zu lernen und für alle wirtschaftlich darstellbar. Dieser Ausblick von damals ist Wirklichkeit geworden. Mein zweites Lieblingsbeispiel liefert mein Cousin Stephan, der sehr früh einen Webshop für seine Metzgerei eingerichtet hat und seitdem seine Wurst von Schweden bis Malta verkauft – und natürlich auch in seinem Laden in Nieder­ bayern. Im Netz bestellen vorrangig Leute, die auf Bio und Qualität Wert legen, also: älteres Publikum. Nicht nur im Öl- oder Wurst-Business – in jedem Geschäft, auch in Ihrem Unternehmen, stecken Chancen im digitalen und demografischen Wandel. Es ist höchste Zeit, diese aufzugreifen. Wandel ist keine Frage des Alters, sondern der

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Vorwort

Einstellung. Das gilt für jeden von uns in jeder unserer Rollen – als Konsument, Marketingmanager, CEO oder als Händler im italienischen Bergdorf… 2019: Der Umbruch nimmt an Tempo zu. Traditionelle Händlerstrukturen und Kommunikationsmodelle werden weiter leiden und schrumpfen. Täglich entstehen neue Geschäftsmodelle und Anwendungen. Die Demokratisierungskraft des Internets wird die Macht weiter zugunsten der Konsumenten verschieben. Atomisierung und Individualität in Kommunikation und Konsum auf Nachfrageseite werden zunehmen und die Angebotsseite wird – zwangsläufig – nachziehen. Das könnte bedeuten, dass große Konzerne und Marken durch viele kleine Anbieter teilweise ersetzt werden, die Werte und Nutzen der Konsumenten besser aufgreifen und diese dank Internet auch kommunizieren und bedienen können (siehe IBM-Spot). Die Zukunft der Arbeitswelt wird vom demografischen und digitalen Wandel profitieren. Künstliche Intelligenz wird nicht nur Prozesse effizienter gestalten, sondern auch enge Arbeitsmärkte überbrücken helfen. Digitale Kommunikation wird das Wissen älterer Generationen lange für Unternehmen nutzbar machen. Ausschlaggebende Kriterien für die Arbeitsplatzwahl werden Freiheit und Teilhabe am Unternehmen sein. Strenge Hierarchien sind Auslaufmodelle. Gleichberechtigung wird es nicht nur in der Geschlechterfrage geben. Natürlich bedeutet Wandel, dass wir auch Abschied nehmen müssen von alten Einrichtungen und Gewohnheiten. Schon lange gibt es keine Telefonzellen mehr. Bald gibt es auch keine Zeitungskioske mehr. Dafür bekommen wir neue Angebote, die uns helfen, dringende Probleme zu lösen und sehnliche Wünsche zu erfüllen. Gesundheit, Freiheit, Work-Life-Balance, Entzerrung der 9-to-5-Arbeitswelt, neue Formen von Mobilität, Sicherheit und Terrorbekämpfung – auf diesen und weiteren Feldern werden wir große Fortschritte und Verbesserungen erzielen. Digitaler und demografischer Wandel werden auf lange Sicht zwei markante Einflussgrößen für unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Politik bleiben. Zukunft mit Wachstum wird es für Unternehmen nur geben, wenn sie die Chancen beider Megatrends verbinden und nutzen – auch und vor allem in Marketing und Kommunikation. Thomas Bily

Danksagung

Mein herzlicher Dank gilt meinen Interviewpartnern. Wenn das Buch ein Wegweiser ist, dann sind die Interviews die Wahrzeichen auf diesem Weg. Als aktuelle Belege aus der Praxis bestätigen sie Argumentation und Haltung des Buches. Das hat mich sehr erleichtert. Meiner Familie danke ich dafür, dass sie mir Zeit, Verständnis und Unterstützung gaben – vor allem während der Wochen des intensiven Schreibens. Meine Frau Gabi war, wie immer, meine engste Vertraute, intensive Sparringspartnerin, genaue Korrekturleserin und harte Kritikerin: 1000 Dank dafür! Das hat mir Luft und Energie gegeben. Meinen Kollegen bei wize.life danke ich, dass sie mir den Rücken stärkten. Das gewährte mir den nötigen Freiraum. Explizit hervorheben darf ich meinen Zimmerkollegen und Art Director René Kunkel, der die Abbildungen in diesem Buch in schöne Form brachte – ruhig und verlässlich wie immer. Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast, René. Ich weiß, dass du auch so genügend um die Ohren hattest. Schließlich danke ich meiner Lektorin Imke Sander vom Verlag Springer Gabler, die mich offen, entspannt und kundenfreundlich auf dem Weg zu meinem ersten Buch begleitet hat. Das hat mir Mut und Zuversicht gegeben. München im Winter 2018/2019

Thomas Bily

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung in das Buch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Für alle, die Veränderung wollen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.2 Deutschland Anfang 2019. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2 Wandel wagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.1 Megatrends sind verlässlich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.2 Die Ohnmacht der Gewohnheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.3 Der Weg zum Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.3.1 Spuren des Lebens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3.2 Schubladen machen unbeweglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.3.3 Die Alters-Schublade. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3.4 Die Digital-Schublade. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.4 Pflegen Sie Ihren Ruf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.5 Der Wert des Status Quo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.6 Wem sind Sie verpflichtet?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.7 Keine Ausreden mehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3 Wandel vorbereiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.1 Kontext fördert Verständnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.2 Perspektive motiviert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.3 Wandel ist Chefsache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.4 Wandel braucht Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.5 Wandel braucht Ziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.6 Wandel braucht Teilhabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.7 Wandel braucht Technik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

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Inhaltsverzeichnis

3.8 Mit den Besten messen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.9 Mutig in eine neue Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4 Deutschlands neue Mehrheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.1 Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten . . . . . . . . . . . 120 4.1.1 Konsumentenlandschaft 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.1.2 Konsum-Klimawandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.1.3 Was sind denn das für Leute?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4.2 Der lange Weg zum Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.2.1 Labile Entscheider im stabilen Prozess. . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.2.2 Missverständnis zwischen Werbung und Kunden. . . . . . . . . 144 4.2.3 Wandel braucht Weitblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.2.4 Mehr Konsum dank Down-Aging. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4.2.5 Vierfach-Effekt im demografischen Wandel . . . . . . . . . . . . . 152 Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5 Kundenzentrierung dank Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.1 Die totale Emanzipation des Kunden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.2 Aus Daten werden Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5.2.1 Big Data und Künstliche Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5.2.2 Datenschutz ist Hilfe – nicht Hürde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.2.3 Digitale Bedürfnisanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 5.2.4 Digitaler Nutzen-Check. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 6 Digitale Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.1 Digitale Völkerwanderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.2 Revolution der Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6.2.1 Aufmerksamkeit bleibt die Währung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6.2.2 Content als Botenstoff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6.2.3 Vernetzte Daten als Leistungsträger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 6.2.4 Kommunikation wird programmatisch . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 6.3 Digitale Kommunikation braucht Menschenverstand. . . . . . . . . . . . 207 6.3.1 Social Media: Reservat oder Republik?. . . . . . . . . . . . . . . . . 209 6.3.2 Katharsis im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

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Einleitung in das Buch

Inhaltsverzeichnis 1.1 Für alle, die Veränderung wollen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.2 Deutschland Anfang 2019. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Zusammenfassung

Sport statt Rauchen. Fleischlos statt Mettwurst. Mecklenburg statt Mallorca. Work-Life-Balance statt Burn-out. Jeder von uns kennt Situationen, in denen man glaubt, beste Argumente für einen veränderten Lebenswandel zur Hand zu haben. Und trotzdem können Sie Ihren Partner nicht für Veränderung gewinnen. Sie sehen ihn mit Volldampf auf gewohnter Spur weiter rasen in den Raucherhusten, in die Fettleibigkeit oder in den Ballermann. Das Angebot dieses Buches lautet: Mehr Digital + Alt bei weniger Analog + Jung. Ein verrücktes Angebot, ich weiß. Bloß: Es muss sein. Meine Motivation ist, Sie und Ihr Unternehmen rechtzeitig auf neue Ufer zu bewegen. Bis zur Jahrtausendwende schien die Lage der Nation in Deutschland stabil. Rezessions- und Wachstumsphasen wechselten sich im gelernten Rhythmus ab. Im Großen und Ganzen aber blieb alles einigermaßen berechenbar und bewegte sich im gewohnten Rahmen. Die Babyboomer der geburtenstarken Jahrgänge aus den 60er-Jahren prägten schon damals die Märkte des Landes. Sie waren zu einer gut situierten, bürgerlichen Mitte herangewachsen. Sie bildeten das breite Rückgrat der Gesellschaft. Sie stellten die Mehrheit und so würde es auf lange Sicht bleiben.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Bily, Zielgruppe 50plus: Marketing im demografischen und digitalen Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25805-4_1

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1  Einleitung in das Buch

Mitte der 90er kam das Internet über Deutschland und löste einen Gründerboom aus. Viele IT-Unternehmen und Start-ups schossen innerhalb kurzer Zeit aus dem Boden. Das ging so schnell, dass man nicht einmal einen vernünftigen Namen fand für diesen Wirtschaftssektor. Man nannte ihn kurzerhand „New Economy“, weil sehr vieles sehr neu und anders war, als man es aus Wirtschaft und Unternehmen bisher kannte. Allerdings schien die „New Economy“ im März 2000 schon wieder am Ende. Die erste Dotcom-Blase platzte. Wer den Film „Das Boot“ gesehen hat, erinnert sich vielleicht an die Szene, als unter hohem Druck in großer Tiefe plötzlich Nieten aus den Wänden platzten und durch das Boot knallten. So ungefähr war die Gefühlslage, als die erste Dotcom-Blase platzte. Unternehmen gingen pleite. Investitionen lösten sich in Luft auf. Unsicherheit und Panik erfassten das Boot „Deutschland“. „Das Boot“ im Film konnte wieder auftauchen und durchschnaufen. Deutschland tauchte immer mehr ein in die digitale Transformation. Das Internet setzte Gesellschaft, Politik und Wirtschaft unter Dauerdruck. Viele Unternehmen und ganze Branchen fanden sich unter immer stärkerer Bedrängnis. Anfangs realisierten viele Manager das noch nicht und hofften, dass sich alles wieder einrenken würde. Das Gegenteil trat ein. Das Internet löste Grenzen auf, radierte Strukturen aus, änderte Gewohnheiten, kappte alte Verbindungen, etablierte neue Kanäle, Formate und Regeln und verschob die Machtverhältnisse. Heute können Bürger als Konsumenten jederzeit und an jedem Ort entscheiden, was sie wie nutzen wollen. Die Babyboomer sind mittlerweile 50plus und halten die Macht in der Hand – mit hoher Kaufkraft und großem Wachstumspotential im Rücken. Diese Einflüsse von digitalem und demografischem Wandel begleiteten mich von Anfang meines Berufslebens. Bald eignete ich mir die Perspektive an, Veränderung als sportliche Herausforderung zu sehen – und nicht als nervige Abzweigung oder lästige Hürde. Je sportlicher es zuging, desto lieber war es mir. Wenn es um neue Projekte, Standortwechsel oder Aufbauarbeiten ging, warf ich sofort meinen Hut in den Ring. Wenn Projekte ihre Reiseflughöhe erreicht hatten, schaute ich mich bald um nach neuen Ufern. So etwas wie Normalbetrieb konnte mich auf Dauer nicht begeistern und ich strebte nach Veränderung. Weil ich sah, dass Wandel Fortschritt erzeugte. Im gleichen Zuge wie ich Veränderung gerne in Angriff nehme, lehne ich Trägheit, Bequemlichkeit und Ignoranz ab. Wenn Manager festhalten am Status quo, Wandel zerreden oder aussitzen wollen, obwohl sie sehen und spüren, dass Veränderung notwendig wäre, halte ich das seit langem für verantwortungslos – gerade bei Führungskräften. Dieses Verhalten habe ich regelmäßig erleben müssen – gerade in Konzernen. Das spürte ich als Mitarbeiter in der eigenen

1  Einleitung in das Buch

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Arbeitsumgebung und in der Kommunikation mit Unternehmen, die sich selbst zu einfachsten, glasklaren Entscheidungen nicht durchringen wollten – nur weil sie Veränderung bedeutet hätten. Diese Veränderung hätte man begründen müssen. Wenn man nichts ändert, fragt seltener jemand nach. Das ist der leichtere Weg, der aber leider in den Abgrund führt.

Den Wandel nicht aufschieben

Weiterentwicklungen von Unternehmen werden oft verschleppt, weil Entscheider persönliche Interessen wahren wollen und sich nicht zu einer positiven Haltung für Veränderung durchringen können. Sie schieben den Wandel, • • • •

weil es gerade so schön und gut läuft; weil sie das, was sie jahrelang aufgebaut haben, nicht erneuern wollen; weil sie Angst haben vor unerfreulichen Gesprächen und Handlungen; weil sie fürchten, dass ihre eigene bequeme Position darunter leiden könnte.

Dieses Verharren in der persönlichen Komfortzone sowie das Festkleben an Stühlen, Klischees und Stereotypen finde ich nicht nur traurig, sondern völlig inakzeptabel. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft der letzten Jahre bettet diese stagnative Haltung vieler Manager auf rosa Zuckerwolken und scheint sie zu belohnen für ein Bekenntnis zum Status quo. Erfolg ist in diesen Zeiten eine klebrige Masse, die eine ohnehin überschaubare Veränderungsbereitschaft deutscher Manager noch ein Stück zäher macht. Eine Krise würde den Zuckerguss wegspülen und deutlich mehr Schwung in den notwendigen Wandel bringen. Eine veritable Krise ist aber auch 2019 nicht in Sicht. Abgesehen davon: Die sollte man auch nicht abwarten, weil dann braucht man die Kraft an anderer Stelle. Vielmehr gilt es, den Weg zum Wandel frühzeitig selber zu entdecken und zu beschreiten. Dieses Buch will ein Wegweiser sein im demografischen und digitalen Wandel. Es handelt sich um zwei gewaltige Bewegungen, die parallel und im Verbund Gesellschaft und Unternehmen verändern.

 Digitaler Wandel Die digitale Transformation (auch „digitaler Wandel“) bezeichnet einen fortlaufenden, in digitalen Technologien begründeten Veränderungsprozess, der als Digitale Revolution die gesamte Gesellschaft und in wirtschaftlicher Hinsicht speziell Unternehmen betrifft. Basis der digitalen

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1  Einleitung in das Buch

­ ransformation sind digitale Technologien, die in einer immer schneller werdenT den Folge entwickelt werden und somit den Weg für wieder neue digitale Technologien ebnen (Wikipedia 2019).

 Demografischer Wandel  „Der demografische Wandel vollzieht sich in Form einer rückläufigen Bevölkerungszahl und einer steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung. Die daraus resultierenden ökonomischen Konsequenzen sind beherrschbar, sofern sich die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Herausforderungen annimmt, insbesondere im Bereich der Systeme der Sozialen Sicherung. Dabei ist keine Zeit zu verlieren, weil sonst die später erforderlichen Anpassungen umso einschneidender ausfallen werden“ (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Expertise im Auftrag der Bundesregierung, Mai 2011). Abb. 1.1 zeigt die zwei Bewegungen, die im Zentrum der Überlegungen dieses Buches stehen: den digitalen Wandel, der alle Teilnehmer der Gesellschaft vernetzt, und den demografischen Wandel, im Zuge dessen die ehemalige Bevölkerungspyramide auf den Kopf gestellt wird. Viele deutsche Unternehmen operieren – geblendet durch den Erfolg der letzten Jahre – auf gefährlichem Terrain, das unterspült wird durch tief greifende Veränderungen in unserer Gesellschaft und Wirtschaft. Unternehmen, die sich nicht bewegen und sich nicht darauf vorbereiten, werden in große Schwierigkeiten

Abb. 1.1   Symbolische Darstellung der beiden Trends „demografischer und digitaler Wandel“

1  Einleitung in das Buch

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geraten. Branchen wie Medien oder Versandhandel haben frühzeitig spüren müssen, dass die sicheren Prognosen eines radikalen Wandels in der vorhergesagten Schärfe und Geschwindigkeit eingetreten sind. Nicht selten trafen die Konsequenzen noch härter ein, als die Prognosen angekündigt hatten. Die Hoffnung, dass der Wandel ausgerechnet um Ihr Unternehmen oder Ihren Arbeitsplatz eine Kurve machen wird, können Sie begraben. Jeder ist, früher oder später, in den meisten Fällen direkt davon betroffen, mindestens aber indirekt durch verändertes Verhalten von Konsumenten oder Konkurrenten. Auch wenn Sie sich nicht ändern – Ihre Umgebung verändert sich bestimmt. Und damit steigt der Veränderungsdruck auch für Sie und Ihr Unternehmen. Anzeichen, Hinweise, Erfahrungswerte oder Untersuchungen dafür gibt es reichlich. Die Datenlage und die Menge an Informationen waren noch nie reichhaltiger, noch nie besser und schneller verfügbar als heute. Meist fehlt es „nur“ an Zeit, Wille und Konsequenz, sich mit den anstehenden Veränderungen zu befassen und ihnen Raum und Zeit zu geben im Unternehmen. Diese Haltung will dieses Buch nicht akzeptieren – im Interesse all der Menschen, die am Tropf von Führungskräften hängen, die Wandel ignorieren, verschlafen oder gar verweigern. Zumal die anstehenden Aufgaben per se nicht schwierig sind und auch nicht alle auf einmal gelöst werden müssen:

Dieses Buch wird aufzeigen, dass Wandel

• keine Frage der Technik, sondern der Haltung ist; • keine Frage des Geldes ist, weil richtige Veränderungen mehr bringen als sie kosten; • keinen Selbstzweck erfüllt, sondern Unternehmen und Mitarbeiter dienen muss; • nicht lähmend, sondern befreiend wirkt; • nicht schwer, sondern geradezu selbsterklärend ist; • nicht auf einen Schlag, sondern Schritt für Schritt und dauerhaft erfolgen soll; • alternativlos ist.

Kleine und mittelständische Unternehmen und Institutionen stehen für mehr als 50 % der deutschen Wirtschaftskraft und mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze. Sie sind Motor der deutschen Wirtschaft. Sie sind oft wendiger und agiler als Großunternehmen. Sie leben kürzere Entscheidungswege und flachere Hierarchien und könnten daher Veränderungen und Anpassungen schneller e­inläuten.

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1  Einleitung in das Buch

Dort lenken oft großartige Macher. Umsetzung ist selten ihr Problem. Im Gegenteil: Für Veränderung muss man sie aus dem geliebten operativen Gewerk herausholen und dem Alltagsbetrieb den Stecker ziehen – zumindest für ein paar Stunden pro Woche. Und das alles unter voller Auslastung und bei bester Ertragslage. Das ist so, als würde man während der Schlemmerwochen bei reich gedecktem Tisch um eine Auszeit bitten, um über eine Ernährungsumstellung zu sprechen. Großunternehmen oder Konzernen wird eine deutlich geringere Veränderungsfähigkeit attestiert als mittleren Unternehmen. Nur der Druck durch Shareholder und das öffentliche Interesse zwingen sie letztendlich zu handeln. In vielen Fällen werden dann externe Unternehmensberater engagiert, um Veränderungen mit Analysen zu begründen und im Alltag durchzusetzen. Die Mehrheit dieser Change-Prozesse scheitert, weil es den Führungskräften – mangels eigener Überzeugung – nicht gelingt, eine positive Aufbruchstimmung zu schaffen und die Mitarbeiter für Veränderung zu gewinnen. Mächtige, erfolgreiche Unternehmen wirken dann wie gelähmt. Sie finden nicht die richtige Einstellung und Perspektive für Wandel. Sie sehen überwiegend Bedrohung und wenig Chancen. Sie erwarten kaum Nutzen in einer Weiterentwicklung, sondern argwöhnen hauptsächlich Schaden und Kosten, wenn sie die gewohnten Pfade verlassen.

1.1 Für alle, die Veränderung wollen Wenn in der Folge von Führungskräften, Entscheidern und Managern die Rede ist, dürfen sich alle angesprochen fühlen, die willens und in der Lage sind, Veränderungen in ihrem Unternehmen voranzutreiben; also ganz unabhängig von ihrer Position und ihrem Anstellungsverhältnis. Das Buch spricht Sie – ja, Sie! – direkt an. Was Sie heute selber verändern können, schieben Sie bitte nicht auf morgen und auch nicht auf einen anderen Kollegen. Formulierungen wie: „Das müsste sich mal jemand anschauen“ sind Garantie dafür, dass sich keiner angesprochen fühlt und sich jeder auf den anderen verlässt. So viel Zeit haben Sie nicht mehr. In den folgenden Kapitel geht es deshalb um diese Themen: In Kap. 2 will das Buch Überzeugungsarbeit leisten für einen Aufbruch in die Veränderung, Nutzen aufzeigen, Perspektiven anbieten, Haltungen korrigieren. Vielleicht werden Sie sich an der einen oder anderen Stelle ertappt fühlen und die Erwartungen als zu fordernd empfinden. Dann befänden wir uns genau auf Kurs für den nächsten Schritt.

1.1  Für alle, die Veränderung wollen

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In Kap. 3 finden Sie eine Change-it-yourself-Anleitung mit einfachen Modellen, um Veränderungen in Ihrem Unternehmen mit einem ersten groben Plan zu unterlegen. Die Überlegungen und Ideen zum Thema Wandel lassen sich für jedes Unternehmen jeder Branche und jeder Größe anwenden. Mit einer Ausrede der Art: „Das ist bei uns ganz anders“, kämen Sie also nicht durch. Ab Kap. 4 richtet sich der Blick auf die Frage, wie sich im demografischen Wandel Märkte verschieben und wo Wachstum durch Veränderung abgeschöpft werden kann. Sie werden überrascht sein, welch großes Potential schon heute und noch mehr in Zukunft im demografischen Wandel steckt. Kap. 5 widmet sich den Chancen der neuen Kundenzentrierung. Daten und digitale Tools erleichtern und verbessern den Zugang zu Kunden und vernetzen diese mit Unternehmen. Im Idealfall ist das ganze Unternehmen in allen Aktivitäten auf die Bedürfnisse und Nutzen seiner Kunden ausgerichtet. Kap. 6 erklärt, warum digitale Kommunikation deutlich mehr ist als eine digitalisierte Anzeige oder ein im Internet ausgespielter TV-Spot. In der Kommunikation bleibt kein Stein auf dem anderen. Die Regeln der alten Massenkommunikation sind ausgehebelt. Die Machtverhältnisse haben sich verschoben. Grenzen sind aufgehoben. Regeln müssen sich erst noch etablieren. Einfach, knapp, wegweisend Dieses Buch ist eine Landkarte für die Reise durch den demografischen und digitalen Wandel mit den wichtigsten Daten und Tipps. Es soll Lust und Motivation für die Reise fördern und als Wegweiser Orientierung geben. Das Buch wird mit einfachen Modellen arbeiten – auch und gerade für komplexe Situationen. Meiner Beobachtung nach ließ in den letzten Jahren die Bereitschaft, lange Texte zu lesen, deutlich nach. Erst recht, wenn sie mit Fachwissen aufgeladen sind und in wissenschaftlicher und akademischer Sprache verfasst sind. Dieses Buch soll als Landkarte des Wandels für ein möglichst breites Publikum zugänglich und verständlich sein. Daher habe ich versucht, mich kurz, knapp und einfach zu halten. In der Sprache frei von Girlanden und Wortdreimastern, wie der deutsche Journalist und Sprachkritiker Wolf Schneider so herrlich formuliert. Und in der Sache immer hart am Wind segelnd oder eine harte Kante fahrend. Egal ob Sie lieber auf dem Wasser oder in den Bergen zuhause sind: Sie können auf jeden Fall mitkommen auf diese Reise. Motivation Deutschland ist ein alterndes Land. Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich und die Zahl der Neugeborenen nimmt ab. Abb. 1.2 zeigt: Schon heute stellt das Segment 50plus fast die Hälfte der Bevölkerung.

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1  Einleitung in das Buch

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2040

2050

Abb. 1.2    Anteil der über 50-Jährigen in Deutschland. (Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060 – 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung; Roland Berger Strategy Consultants, Studie „Wirtschaftsmotor Alter“, Juli 2007)

99%

99%

98%

95%

87% 74% 42%

14-49

20-29

30-39

40-49

50-59

60-69

70+

Abb. 1.3   Anteil der Onliner nach Altersklassen. (Digitalindex 2017/2018 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie für das Bevölkerungssegment)

Gleichzeitig wird Deutschland ein immer digitaleres Land: Die Digitalisierung in Deutschland ist im Laufe der Zeit weit in ältere Segmente vorgedrungen. Die digital weniger affinen Alten sterben langsam aus. So belegt der Digitalindex 2017/2018 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie für das Bevölkerungssegment bis Ende 60 eine starke Internetnutzung. Abb. 1.3 zeigt, dass nur in der Altersklasse ab 70 der Anteil der Offliner noch überwiegt, wobei sich diese Verteilung täglich zugunsten der Onliner ändert. Diese Entwicklungen sind seit langem offensichtlich und werden intensiv diskutiert. So gibt es viele Bücher zum demografischen Wandel und zum Image des Alters. Tonnenweise schlummern sie in Regalen. Die Autoren werden bei Lesungen mit einem wohlwollenden Nicken bedacht. Ernste Reaktionen oder gar Konsequenzen darauf zeigen die wenigsten. Millionen von Daten und Statistiken belegen schwarz auf weiß, wie mächtig und wichtig die Zahl der Menschen Ü50 ist und dass deren Bedeutung in Zukunft weiter steigen wird. Trotzdem scheint es so, als würden diese Beweise und

1.1  Für alle, die Veränderung wollen

9

­ rgumente kaum etwas bewegen in unserer Haltung gegenüber dem Alter und A in unserem Verhalten im demografischen Wandel. Viele Botschaften klingen wie Geschichten aus 1001 Nacht – märchenhaft schön und rührend, aber eher zum Einschlafen. Das wahre Leben muss doch spannendere Melodien spielen, sagt sich der deutsche Manager, und hält lieber fest an Zielgruppen wie: jung, urban und aufstrebend. Die Auseinandersetzung mit dem Alter ist für die meisten heiß und fettig – das fasst man nur im Notfall an. Das Alter hat einen festen Platz in unserer Gesellschaft – ganz unten, ganz hinten. Die Digitalisierung wirkt dagegen wie ein Irrlicht, das durch unser Leben geistert. Es ist überall und nirgends zugleich und hat keine feste Zuordnung. Privat nutzen wir Google, Facebook, Amazon & Co, ohne eine Sekunde mit der Wimper zu zucken. In der öffentlichen Diskussion stürzen sich Medien auf Datenskandale, Sicherheitslücken oder Fake-News und tun dabei so, als hätte es Datenmissbrauch in der analogen Vergangenheit nicht gegeben. Im Job schieben die meisten die Digitalisierung auf die ganz lange Bank. Zur Not mit der ­Ausrede: „Es geht doch auch so.“

Zwei zentrale Ergebnisse aus dem Digitalindex 2017/2018 lauten:

1. In der Begriffswelt der Digitalisierung kann maximal die Hälfte der Bevölkerung mitreden. 2. Eine systematische Wissensaneignung durch Trainings etc. findet kaum statt. Das Interesse an Fortbildung im digitalen Bereich ist gering (D21 Digitalindex 2018).

Trotzdem reden fast alle Entscheider mit, weil kaum einer sich die Blöße geben will, bei einem präsenten und dringlichen Thema ohne große Ahnung unterwegs zu sein. Fazit: Die eine Hälfte redet auf Basis von Halbwissen mit und tut so, als würden sie es ernst meinen mit der Digitalisierung. Im Grunde kommen sie mit dieser Taktik nur durch, weil die andere Hälfte noch ahnungsloser ist. Die – oft selbsternannte – Digital-Elite steuert bis dato wenig bei, der großen Mehrheit die Orientierung im digitalen Wandel zu erleichtern. Sie blicken bisweilen überheblich herab auf die breite Masse der Menschen, die sich noch ungelenk und unsicher auf dem digitalen Neuland bewegen. Es ist so, als ob ein Skilehrer die Anfängertruppe auslacht und ihnen vorführt, wie man fährt. Das ist beschämend, arrogant und dümmlich. So dümmlich, dass die sogenannte Digital-Elite nicht einmal merkt, wie sie selbst von der Geschwindigkeit des digitalen Wandels regelmäßig überholt wird.

10

1  Einleitung in das Buch

Die Ignoranz gegenüber dem demografischen Wandel gepaart mit der Hybris im Umgang mit der Digitalisierung ist fatal – für jeden Einzelnen, für unsere Gesellschaft, für Unternehmen und Wirtschaft. Sie lässt uns nicht nur Chancen verpassen, sondern in Risiken schlittern, die wir nicht mehr kontrollieren oder revidieren können. Appell in der Sache Fachbücher werden im Allgemeinen eher in die Abteilung „trocken und nüchtern“ eingeordnet. Fraglos bieten viele davon nützliche Informationen. Begeisterung und Lust am Lesen sind allerdings nicht die markantesten Merkmale von Fachbüchern. Ein Fachbuch über Digitalisierung und ältere Zielgruppen ist innerhalb dieser Riege in den hinteren Reihen platziert. Wer interessiert sich schon für Alter? Vorteil dieses Buches ist, dass 50 % digitales Themen-Doping beigemischt werden dürfen. Andererseits ist gerade diese Mischung schon fast zu paradox: Alt und digital – wie passt das denn zusammen? Dieses Buch will den Knoten im Denken durchschlagen und die Brisanz der Aufgabenstellung für unsere Gesellschaft unterstreichen. Verständnis für Verharren werden Sie nicht an vielen Stellen finden. Es erwartet Sie ein schonungsloses Fachbuch, das Ihnen Halbherzigkeit, Wegschauen und Bequemlichkeit ein bisschen um die Ohren hauen wird. Das Buch wird Ihnen – zumindest emotional – keine andere Wahl lassen, als dass Sie sich auf den Weg machen in den Wandel und Veränderungen vorantreiben. Gut, Sie können das Buch immer noch links liegen lassen. Aber besser ist, wenn Sie es lesen. Das Buch wird Sie nicht umgarnen. Zu oft und zu gerne lassen Entscheider sich Argumente präsentieren wie verwöhnte Gourmands sich gesunde Ernährungstipps empfehlen lassen. Und am Ende greifen sie doch wieder zu alten Rezepten. Darauf brauchen Sie bei diesem Buch nicht zu hoffen. Es wird überholte Altersbilder und eingerostete Marketingphilosophien nicht im Alleingang in die Moderne führen können. Aber das Buch wird sich auf keinen Fall einreihen in das Regal nüchtern und brav argumentierender Fachbücher. Es soll – zumindest kurzzeitig – wach rütteln, für Betroffenheit sorgen und eine Bresche schlagen für neues Marketing-Denken in unserem alternden Land. Viele Unternehmen haben Mitte 2019 diesen Schritt vor sich. Seien Sie mutig und lassen Sie nicht zu, dass Sie in wenigen Jahren zu den Verlierern des Wandels gezählt werden! Hat man den Aufbruch erst einmal geschafft, lernt man schnell, mit Eigenheiten, Vorteilen und Risiken der neuen Welt sicher umzugehen. Starten Sie die Mission Wandel für Ihr Unternehmen im Sinne der Worte von Neil Armstrong: „Ein kleiner Schritt für Sie als Manager, aber ein großer Sprung für Ihr Unternehmen“.

1.2  Deutschland Anfang 2019

11

1.2 Deutschland Anfang 2019 Zusammenfassung

Wenn man die ganze Zeit mit der Veränderung lebt, spürt man gar nicht, was sich alles verändert. Man realisiert nicht, dass man älter wird, weil alle älter werden. Man realisiert nicht, wie viel Zeit man mit digitalen Medien verbringt, weil sie unseren Alltag schleichend erobern. Wie würde ein neutraler Außenstehender uns und unser Land Anfang 2019 beschreiben? Bevor wir uns in den Wandel stürzen, brauchen wir einen klaren Blick für den Status Quo und die weitere Ausrichtung. „Bevor man eine Leiter besteigt, sollte man sich vergewissern, ob sie an der richtigen Wand lehnt“ (Chinesische Weisheit). Wir leben schon heute in einem der ältesten Länder der Welt. Rund 45 Jahre beträgt das Durchschnittsalter der Deutschen. Nur Japan und Italien weisen einen noch höheren Altersschnitt aus. Auch diese beiden Länder werden wir bald überholen. 2019 feiern die letzten geburtenstarken Jahrgänge der 60er-Jahre ihren 50. Geburtstag. Bald ist die Hälfte der Deutschen 50 Jahre oder älter. Viele Best Ager und Jung-Senioren tun sich sehr schwer mit dem Älterwerden. Mit Parolen wie „60 ist das neue 40“ halten sie den Glauben an ewige Jugend hoch. Im stillen Kämmerlein spekulieren sie auf Unsterblichkeit. Vielleicht hilft ja bald künstliche Intelligenz. Bis dahin flüchten sich immer mehr alternde Menschen in kosmetische Hilfsmittel, um Falten oder Grübchen zu vertuschen. Sie versuchen sich das Alter schön zu spritzen und zu reden. Die statistische Wahrheit bleibt unbeeindruckt von diesen Tarn-Manövern. Der demografische Wandel ist längst keine exklusive Angelegenheit der Älteren mehr, sondern erfasst unsere gesamte Gesellschaft in nahezu allen Facetten. Ältere Zielgruppen bestimmen die politische Agenda und entscheiden Wahlen. Die Hälfte der deutschen Kaufkraft ist in der Generation 50plus beheimatet. Viele Märkte greifen dort einen Großteil ihrer Kundschaft ab. Ohne das Geld der Best Ager würde in vielen Kassen trostlose Ebbe herrschen.

 Best Ager „Der Begriff Best Ager umschreibt einen Käufertypus. Es sind Personen in der zweiten Lebenshälfte. Sie haben die Karriereplanung meist abgeschlossen oder befinden sich bereits im Ruhestand. Soweit sie Kinder haben, sind diese aus dem Haus. Für das Marketing sind diejenigen Best Ager interessant, welche in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen leben. Diese verfügen über ein weit überdurchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen und sind auch bereit, dieses für Konsumzwecke auszugeben“ (Prof. Gert A. Hoepner, FH Aachen, Wirtschaftswiki 2014).

12

1  Einleitung in das Buch

Die Bedeutung dieses Käufertypus nimmt weiter zu. Der demografische ­Wandel schiebt die Altersstruktur unseres Landes jeden Tag ein kleines Stück weiter: gründlich, unaufhaltsam und fast unmerklich. Genau darin liegt die große Tücke dieser Mutation unserer Gesellschaft. Wir wandeln einfach mit in der Masse und realisieren die Folgen des Umbruchs oft spät oder gar nicht. Wir beschreiten den Weg im Stil von Hans-guck-in-die-Luft. Wir wollen uns nicht beschäftigen mit dem Älterwerden. Alter hat ein schlechtes Image und ist quasi ein Tabuthema. Wir weisen Alter brüskiert von uns, belächeln es oder spielen es herab und schieben es anderen in die Schuhe. Dieses Verhalten ist mindestens grob fahrlässig, auf jeden Fall kurzsichtig und im Grunde genommen dumm. Denn es ist offensichtlich, dass ein altes Land wie Deutschland andere Behandlung braucht als zum Beispiel ein junges Land wie Uganda – wo das Durchschnittsalter bei 15 Jahren liegt. Natürlich gibt es viele andere Unterschiede zwischen Deutschland und Uganda. Aber wenn man den Vergleich allein auf die Altersstruktur beschränkt, wird schnell greifbar und deutlich, dass Länder mit einem Durchschnittsalter von knapp 50 Jahren von anderen Bedürfnissen, Einstellungen und Werten geprägt werden als Länder, in denen die Hälfte der Bevölkerung unter 15 Jahren jung ist. Trotz dieser klaren Ausprägungen ignorieren viele Entscheider den Wandel unserer Alterslandschaft und die damit verbundenen Herausforderungen und Chancen konsequent. Betrachteten wir unsere Gesellschaft als Unternehmen, so ist der demografische Wandel eine gewaltige Managementaufgabe – in allen Disziplinen des Marketings. Wir könnten im Produktsortiment darauf reagieren, dass Märkte und Kundensegmente sich kontinuierlich verschieben. In der Kommunikation könnten wir uns durchringen, die Anforderungen der Lebensphase Ü50 zu bedienen etwa bei der Formulierung oder Darstellung von Werbebotschaften. Oder sprechen Sie privat mit 15-Jährigen genau so wie mit 50-Jährigen? Wir könnten überlegen, welche Zielgruppen auf unsere Produkte und Dienstleistungen tatsächlich anspringen würden. Wir könnten versuchen, die Vorzüge unseres alternden Landes als Marktpotential wertzuschätzen – anstatt uns festzuklammern an schrumpfenden jungen Märkten. Im ersten Schritt müssen wir bereit sein, unsere Denk- und Verhaltensmuster anzupassen. Anstatt dessen verschließen viele Entscheider in Marketing und Kommunikation die Augen. Sie hoffen, dass alles so bleibt wie bisher, und schieben Veränderungen auf die lange Bank. Dem Wandel ist das egal. Er schreitet voran und unterspült Träume und Pläne gnadenlos. Unternehmen, die Veränderungen zaudernd einleiten, werden früher oder später untergehen. Die

1.2  Deutschland Anfang 2019

13

Beispiele dafür werden täglich mehr. Dank älterer Zielgruppen können manche Branchen und Unternehmen nur etwas länger durchhalten. In gewisser Weise entschärft also der demografische Wandel den Druck der Digitalisierung. Stoppen kann er die Entwicklung jedoch nicht. Die Zahl der Onliner steigt weiter in allen Altersklassen. Es ist absehbar, dass Reichweite und Erlöskraft der traditionellen Medien und deren Bedeutung als Marketingkanäle weiter erodieren. Für Medien wie öffentlich-rechtliche TV-Sender oder gedruckte Medien wirkt Alter nur ein bisschen lebensverlängernd. Abb. 1.4 zeigt, wie die Bedeutung traditioneller Medien im Laufe der Zeit stark abnimmt – in älteren Zielgruppen etwas verzögert, aber in der Tendenz gleich. Der zweite große Megatrend „Digitalisierung“ verschärft Dringlichkeit des Wandels in Marketing und Kommunikation. Tempo und Radikalität der digitalen Transformation machen nicht Halt vor Tradition und kümmern sich nicht um etablierte Strukturen. In den 90er-Jahren erlebte ich einen ersten eklatanten Fall von Disruption.

 Disruptive Technologien  …unterbrechen die Erfolgsserie etablierter Technologien und Verfahren und verdrängen oder ersetzen diese in mehr oder weniger kurzer Zeit. Oft sind sie zunächst qualitativ schlechter oder funktional spezieller, was mit ihrer Digitalisierung zusammenhängen kann, und gleichen sich dann nach und nach an ihre Vorgänger an bzw. übertreffen diese in bestimmten Aspekten (Prof. Dr. Oliver Bendel in Gabler Wirtschaftslexikon). Bedeutung

Bedeutung traditioneller Medien

2006

2010

2019

Ende der langen Bank

Abb. 1.4   Bedeutung traditioneller Medien in der Gesamtbevölkerung und in älteren Zielgruppen

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1  Einleitung in das Buch

Damals erlebten Setzereien und Repro-Studios ihr blaues Digitalisierungswunder. Sie waren über lange Zeit enge Partner und wichtige Dienstleister der Verlage. Otto Huber, damals Projektverantwortlicher in der Verlagsleitung bei Gruner + Jahr in München, erinnert sich, wie die Einführung des Desk Top Publishings innerhalb kurzer Zeit einen ganzen Berufsstand pulverisierte – und sich im Ergebnis für Verlage als besser, schneller und günstiger erwies: Die Einführung des Desktop Publishings im Münchner Verlagshaus von Gruner + Jahr ist ein prägnantes Beispiel für die enorme Wucht und Geschwindigkeit der Digitalisierung. Die Einführung war weniger ein technisches oder ein qualitatives Problem. Der Widerstand kam von Gewerkschaften und vom Betriebsrat. Aber auch in den Redaktionen gab es enormen Widerstand. Erst als es gelang, einige junge pfiffige Leute zu gewinnen, indem man Ihnen einen sündteuren Mac F4 für 26.000 DM hinstellte und ihnen eigenhändig demonstrierte, wie toll man damit „setzen“ könne (zum Glück war ich ja in meinem früheren Leben einmal Schriftsetzermeister) gab es einen Dammbruch. Die YPS-Redaktion war im gesamten Haus G + J – also weltweit – die erste Redaktion, in der es gelang, eine Betriebsvereinbarung zur Einführung von Desktop Publishing zu verabschieden. Sie wurde Jahre später von anderen Redaktionen fast wortgleich übernommen. Während Desktop Publishing in den Redaktionen und Graphikabteilungen keine Arbeitsplätze kostete und dem Verlag enorme Kosten- und Zeiteinsparungen brachte – bei G + J München entfielen fast über Nacht 1,2 Mio. DM Satzkosten – war die Wirkung in den Setzereien verheerend. Alteingesessene Münchner Satzbetriebe gingen reihenweise in Konkurs. Gleichzeitig kam mit dem Internet ein neuer Jobkiller. Clevere Reprobetriebe nutzten die Zeitverschiebung und schickten Roh-Scans nach Fernost, wo sie über Nacht von „Billigst-Retoucheuren“ in druckfähige Dateien verwandelt wurden. Auch wir haben diese Option genutzt. Das hat weitere Arbeitsplätze in der gesamten Druckvorstufe gekostet. Der endgültige K.O. für die Druckvorstufe Repro kam ein paar Jahre später. Ab Ende der 90er Jahre war es möglich, die Repro von Qualitätszeitschriften oder Versandhauskatalogen mit Hilfe von Macs im „Büro“ herzustellen. Die eigentliche Revolution, welche das Sterbeglöcklein für Reprobetriebe und für zahlreiche kleine und mittelständische Druckereien einläutete, war das Aufkommen der Internet-Druckereien. Die Adobe-Software Photoshop, Indesign und Illustrator wurden um 2003 dermaßen benutzerfreundlich, dass sogar Laien in der Lage waren, druckfertige PDFs zu erzeugen. Auch das Scannen war keine Domäne von Fachleuten mehr. Ein Hellscanner kostete Anfang der 90er Jahre noch weit über 100.000 DM und brachte kein besseres Ergebnis als ein heutiger Epson-Scanner für 120 EUR. Dieser Wandel war radikal und schnell, aber er generierte auch neue Chancen. Desktop Publishing ermöglichte es finanzschwachen Kleinverlagen, neue Bücher und Zeitschriften auf den Markt zu bringen. Clevere Reprobetriebe mauserten sich zu Mediendesignern, Fotostudios, Digitaldruckereien und IT-Spezialisten, die Full

1.2  Deutschland Anfang 2019

15

Services für Verlage und Behörden und Institutionen anbieten konnten. Im Grunde stiegen die Anforderungen an Arbeitnehmer und Dienstleister. Heute können sie wertvollere Kenntnisse besser einsetzen in interessanteren Aufgabenbereichen mit besserer Bezahlung.

In der Folge erlebten Medienhäuser, dass nicht nur Setzereien und Repro-­Studios vom Wandel betroffen waren, sondern dass ihre Geschäftsmodelle und die gesamte Kommunikationslandschaft vom Wandel erfasst wurden. Zielgruppen, Märkte und Mediennutzung verlagerten sich. Kanäle, Formate und Erfolgskriterien für Kommunikation veränderten sich rasant. Reichweite und Bedeutung traditioneller Medien waren im Sinkflug. Anfang der 70er-Jahre nutzte ein durchschnittlicher deutscher Haushalt drei TV-Programme, wenige regionale Radiosender, die heimische Zeitung und vielleicht eine Zeitschrift. Technische Innovationen wie die Digitalisierung haben diese Landschaft umgepflügt und viele frühere Größen kamen dabei unter die Räder. So wurde zum 1. Januar 2019 der Musiksender Viva abgeschaltet. Ein paar Wochen zuvor wurde das Ende der CEBIT beschlossen. Das Aus der ehemals weltweit größten Messe für Computer- und Informationstechnologie ist Sinnbild dafür, dass der Wandel auch die digitalen Welten nicht verschont. Heute erleben wir eine kleinteilige, manuell nicht mehr kontrollierbare Kommunikationslandschaft, die nach völlig anderen Mustern funktioniert und neue Fähigkeiten und Prozesse verlangt. Gleichzeitig steht dank Digitalisierung ein Überfluss an Daten, Informationen und Analysen bereit, die den Wandel belegen, seine Auswirkungen vorhersagen und ihn bewältigen helfen. Die Wahrheit liegt sozusagen in nüchternem und unbestechlichem Datenformat vor unserer Nase. Trotzdem tun viele Unternehmer und Manager sich schwer, der Faktenlage in die Augen zu schauen, das neue Umfeld anzunehmen und ihr Handeln danach auszurichten. Die meisten empfinden Schmerz bei der Aussicht, alte Gewohnheiten aufzugeben, neue Wege einzuschlagen und ihr tägliches Tun und Denken neu zu definieren. Es verändert sich sehr viel in sehr kurzer Zeit. Für manche verändert sich zu viel in zu kurzer Zeit. Wandel erscheint ihnen zu anstrengend, zu unbequem und zu riskant. Es ist ein wichtiges Anliegen dieses Buches, diese Perspektive zu verändern und Aufbruchstimmung bei Verantwortlichen in Marketing und Kommunikation anzustoßen. Dabei reicht es erfahrungsgemäß nicht, von neuen Jagdgründen zu schwärmen, solange bisherige Märkte und Verhaltensmuster genug zum Überleben abwerfen. Es gilt zuerst, die aktuelle Lage zu reflektieren und zu bewerten.

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1  Einleitung in das Buch

Entscheidende Fragestellungen im Wandel

Folgende Fragen können helfen, einen gedanklichen Dialog zu entwickeln, im Zuge dessen Vorurteile korrigiert und verkrustetes Denken aufgebrochen werden. • Welche Erfahrungen haben unsere aktuelle Arbeitsweise und Haltung geprägt? • Wie haben sich Zielgruppen, Medienlandschaft und Kommunikationskanäle seither verändert? • An welchen Stellen brächten Veränderungen mehr Nutzen als Kosten? • Wer oder was steht Veränderungen im Weg?

Aus einer Neubewertung von Status quo und Perspektive kann Bereitschaft für Wandel wachsen. Nur so entsteht Mut und Veränderungsenergie bei Entscheidern, um den Aufbruch zu neuen Märkten zu wagen. Wobei ein Markt nicht deswegen attraktiv wird, weil er das Etikett „50plus“ trägt. Die Attraktivität eines Marktes wird – auch im demografischen und digitalen Wandel – bestimmt durch Kriterien wie Wachstumschancen, Erlöspotential, Konsumklima, Lebenszyklus, Sicherheit oder Stabilität. Wenn diese Kriterien stärker sind als überholte Vorstellungen vom Alter oder die Angst vor digitalen Anwendungen, dann kommt Wandel in Gang. 

Am Ende des Buches soll der Leser die Gewissheit mitnehmen, dass eine Neuausrichtung von Marketing und Kommunikation im demografischen Wandel nicht öde, riskant und schwierig ist, sondern weitsichtig, gewinnbringend und unumgänglich.

Bücher über Marketing für Best Ager gibt es schon, seitdem man erkannt hat, dass auch die geburtenstarken Jahrgängen keine ewige Jugend erlangen würden. Viele der früher veröffentlichten Bücher plädierten dafür, endlich mehr Augenmerk auf den unterbelichteten, älteren Teil der Bevölkerung zu lenken und den Vorhang zu lüften für ein unentdecktes, kleines Bundesland der über 50-Jährigen. Heute sind die Zeiten des Nischendaseins älterer Zielgruppen vorbei. Den Platz des kleinen Bundeslandes nehmen heute die jungen Zielgruppen ein. Abb. 1.5 zeigt, wie die Bedeutung der Alterssegmente sich verändert hat – während das Marketing in vielen Unternehmen noch der alten Gewichtung folgt.

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1.2  Deutschland Anfang 2019

50+

20-49

20-49

50+

Abb. 1.5   Das veränderte Gewicht der Alterssegmente 20–49 und 50plus

Heute gilt es, den Blick neu zu justieren für einen Markt, in dem eine Mehrheit Ü50 ist – mit allen Konsequenzen hinsichtlich Bedürfnisstruktur, Mediennutzung oder Konsumverhalten. Das ganze Land wird immer stärker geprägt vom Tempo, den Bedürfnissen und Wünschen älterer Zielgruppen: nicht nur in klischeegerechten Extremsituationen wie Pflegeeinrichtungen, sondern auch in ganz banalen, alltäglichen Einrichtungen wie der Laufgeschwindigkeit von Rolltreppen, im Stadtbild und in der Gewerbestruktur, von der barrierefreien Gestaltung in öffentlichen Gebäuden bis hin zum Nahrungsmittelangebot und dessen Bereitstellung. Suchen Sie sich die Anwendungsfälle Ihrer Branche und Ihrer persönlichen Umgebung aus. Angesichts dieser veränderten Rahmenbedingungen müssen Marketing und Kommunikation in unserem alten Land laufend neu sortiert und konfiguriert werden. Ich lade Sie ein, sich auf die scheinbar unbequemen Themen wie Wandel, Alter und Digitalisierung einzulassen. Wagen Sie einen Perspektivwechsel. Es lohnt sich! Fragen Sie Firmen, die schon heute im Wandel wachsen.

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1  Einleitung in das Buch

Weiterführende Literatur und Quellen Buch Schneider, Wolf. 2005. Deutsch für Kenner. München: Piper.

Internetquellen Bendel, Oliver. Definition Disruptive Technologien, Gabler Wirtschaftslexikon. https:// wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/disruptive-technologien-54194. Zugegriffen: 10. Febr. 2019. Brandit4. Werbeartikel Glossar Best-Ager. https://www.brandit4.com/de/werbeartikel-glossar/best-agers-zielgruppe.html. Zugegriffen: 29. Dez. 2018. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Wirtschaftsmotor Mittelstand. https://www. bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Mittelstand/wirtschaftsmotor-mittelstand-zahlenund-fakten-zu-den-deutschen-kmu.html. Zugegriffen: 28. Dez. 2018. D21 Digitalindex. 2017/2018. https://initiatived21.de/app/uploads/2018/01/d21-digital-index_2017_2018.pdf. Zugegriffen: 29. Dez. 2018. Das Boot. https://www.youtube.com/watch?v=G8Z763gIE7k. Zugegriffen: 9. Febr. 2019. Fourier, Stefan. Die Vermessung der Veränderungsfähigkeit, Humanagement. http://www. humanagement.de/news-wissen/humanagement-blog/die-vermessung-der-veraenderungsfaehigkeit. Zugegriffen: 29. März 2018. Hoepner, Gert A., und FH Aachen. 2014. https://www.wirtschaftswiki.fh-aachen.de/index. php?title=Best-Ager. Zugegriffen: 29. Dez. 2018. Lederer, Dieter: Warum und woran so viele Veränderungen scheitern, handelsblatt.com. Juni 2018. https://www.handelsblatt.com/unternehmen/beruf-und-buero/the_shift/gastbeitrag-zu-change-management-warum-und-woran-so-viele-veraenderungen-scheitern/21155538.html?ticket=ST-3221730-9scsdwLjAgbMMiuRaNHn-ap5. Zugegriffen: 1. Jan. 2019. Niebisch, Frank und Nils Rüdel, Das Jahr der Mega-Pleiten, handelsblatt.de. Dezember 2009. https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/insolvenzen-2009-das-jahrder-mega-pleiten/3330414.html?ticket=ST-667579-F5QXnAKfdUiwP1ARMdlA-ap5. Zugegriffen: 29. Dez. 2018. Pimpl, Roland, und Christoph Kastenholz auf horizont.net. Dezember 2018. https:// www.horizont.net/medien/nachrichten/influencer-agenturchef-christoph-kastenholz-in-nicht-wenigen-magazinen-wird-media-ganz-offen-gegen-redaktion-gehandelt-171633. Zugegriffen: 29. Dez. 2018. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Herausforderungen des demografischen Wandels. Mai 2011. https://www.demografie-portal. de/SharedDocs/Downloads/DE/Studien/Sachverstaendigenrat_Folgen_Wirtschaft_ Finanzen.pdf;jsessionid=3FF880994AEF4FEACB43F48DEAE9FB1D.1_cid389?__ blob=publicationFile&v=2. Zugegriffen: 30. Dez. 2018.

Weiterführende Literatur und Quellen

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Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschland bis 2060. https://service.destatis.de/ laenderpyramiden/. Zugegriffen: 29. Dez. 2018. Steltzner, Holger auf faz.net. September 2018. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/lehman-und-die-krise-des-westens-15788651.html. Zugegriffen: 29. Dez. 2018. Wikipedia: Digitale Transformation. https://de.wikipedia.org/wiki/Digitale_Transformation. 27.01.2019. Zugegriffen: 11. Febr. 2019.

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Wandel wagen

Inhaltsverzeichnis 2.1 Megatrends sind verlässlich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.2 Die Ohnmacht der Gewohnheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.3 Der Weg zum Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.3.1 Spuren des Lebens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3.2 Schubladen machen unbeweglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.3.3 Die Alters-Schublade. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3.4 Die Digital-Schublade. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.4 Pflegen Sie Ihren Ruf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.5 Der Wert des Status Quo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.6 Wem sind Sie verpflichtet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.7 Keine Ausreden mehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Zusammenfassung

Unsere Gesellschaft befindet sich im Umbruch. Megatrends wie demografischer Wandel und Digitalisierung definieren unser Zusammenleben neu. Sie revolutionieren Märkte, Kommunikation und Geschäftsmodelle. Trotz ihrer Kraft und Wirkung werden Megatrends regelmäßig verkannt, vernachlässigt oder gar ignoriert. Wandel verschiebt die Tektonik unseres Lebens und ist viel mehr als eine singuläre Herausforderung für einzelne Spezialgebiete wie Marketing und Kommunikation. Nicht nur das Stadion ist neu, sondern die gesamte Sportart wird neu definiert. Sind Sie ein Spieler, der die neuen Herausforderungen annehmen will und kann? Bringen Sie Mut und Fähigkeiten mit, Wandel aktiv zu gestalten? Dieses Kapitel soll Ihnen helfen, sich darüber im Klaren zu werden. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Bily, Zielgruppe 50plus: Marketing im demografischen und digitalen Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25805-4_2

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22

2  Wandel wagen

Deutschland blickt 2019 auf Jahre mit starkem Wachstum zurück und darf auf weiterhin gute Konjunktur hoffen. Die Arbeitslosigkeit wandelt auf historischem Tiefststand. Die Einkommen steigen. Nur eine sehr kleine Minderheit der Deutschen beurteilen ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlecht. Eine große Mehrheit der mittelständischen Unternehmen schreibt Rekordzahlen und blickt optimistisch in die Zukunft. Das klingt nach rosigen Rahmenbedingungen für Hersteller und Handel, für Marketing und Kommunikation. Gleichzeitig wiegt dieses günstige Umfeld Unternehmen und Verbraucher in Sicherheit und lähmt die Bereitschaft, Verhalten, Strukturen oder Prozesse anzupassen. Blühende Landschaften können Manager darüber hinwegtäuschen, dass Megatrends wie Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung oder demografischer Wandel ihre Geschäftsmodelle unterminieren. Sie spekulieren oft mit der Hoffnung, dass alles so schlimm schon nicht werde. Dabei ist die radikale Wirkung von Megatrends offensichtlich und garantiert. Es wird meist noch schlimmer, als man je befürchten hätte wollen. Die Frage ist also nicht, ob Megatrends das eigene Geschäftsfeld erfassen, sondern ob man rechtzeitig die Weichen stellt, um die Kraft der Megatrends zu nutzen – anstatt in ihrem Strudel unterzugehen.

 Megatrend  „Megatrends sind Tiefenströmungen des Wandels. Als Entwicklungskonstanten der globalen Gesellschaft umfassen sie mehrere Jahrzehnte. Ein Megatrend wirkt in jedem einzelnen Menschen und umfasst alle Ebenen der Gesellschaft: Wirtschaft und Politik, sowie Wissenschaft, Technik und Kultur. Megatrends verändern die Welt – zwar langsam, dafür aber grundlegend und langfristig“ (Zukunftsinstitut 2016a). Schon vor 25 Jahren, als die heute 60-Jährigen noch 35 Jahre jung waren, zeigte die Enquete-Kommission „Demografischer Wandel“ des Deutschen Bundestages detailliert auf, welche Auswirkung unsere älter werdende Gesellschaft auf Gesundheit, Wohnen, Mobilität oder Freizeitverhalten haben würde. Man konnte schon damals eindeutige Prognosen lesen zu Aspekten wie Arbeitskräftemangel, Zunahme von Demenzerkrankungen, Notstand in Pflege und Krankenversorgung, Altersarmut oder Nachwuchsproblemen für Vereine. Manche Trends haben sich durch die parallel aufkommende Digitalisierung beschleunigt und verschärft – wie zum Beispiel Mediennutzung, Informationsverhalten oder Einkaufsverhalten. Die Megatrends haben uns Anfang 2019 genau dort landen lassen, wo es die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags 1994 in ihren „Vorhersagen über die Zukunft aktiven Alterns“ prophezeit hatte:

2.1  Megatrends sind verlässlich

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Diese Revolution auf leisen Sohlen … wird nicht folgenlos an uns vorübergehen. Neben den wichtigen Bereichen der sozialen Sicherungssysteme berührt diese (demografische) Entwicklung natürlich den Arbeitsmarkt, aber auch die sozialen Dienste, den Wohnungsmarkt, das Verkehrswesen sowie den Kultur- und Freizeitsektor. Nicht wenige malen das Bild einer ergrauten Gesellschaft, befürchten enorme Finanzierungsprobleme bezüglich der Alterssicherung oder sorgen sich um die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland angesichts aufstrebender Volkswirtschaften beispielsweise in Südostasien. Wir werden jedoch versuchen, den absehbaren demografischen Wandel als Herausforderung und Chance für eine Umgestaltung unserer Gesellschaft zu begreifen, bei der sich allen Generationen – also auch den Älteren – die Chance bietet, aktiv an der Veränderung kultureller Leitbilder und sozialer Rollen mitzuwirken.

Diese Aussage barg eine hervorragende Prognosequalität für alle Branchen der deutschen Wirtschaft und Sektoren unserer Gesellschaft. Man hätte sich darauf einrichten können, Strategien und Ziele darauf ausrichten und Chancen abschöpfen können. Trotzdem haben die wenigsten Unternehmen und Entscheider diese Vorhersage in der Praxis genutzt. Die Mehrheit lief weiter in den gewohnten Bahnen. Es ist, als hätte man die 6 Richtigen samt Zusatzzahl zugesteckt bekommen und dann doch keinen Lottoschein ausgefüllt und abgegeben. Was sind die Gründe für so ein paradoxes Verhalten?

2.1 Megatrends sind verlässlich Menschen sind grundsätzlich nicht besonders interessiert an Veränderungen. Die große Mehrheit klammert sich förmlich an Routinen: immer der gleiche Wochenrhythmus, immer der gleiche Urlaubsort, immer noch der gleiche Partner – obwohl uns manches schon zum Hals raushängt und wir spüren, dass eine Neuorientierung gut wäre. Wer Schwierigkeiten hat, sich mit einer Baustelle auf dem Weg zur Arbeit zu arrangieren, wird auch für Megatrends kein allzu offenes Ohr übrig haben. Zumal Megatrends keine unmittelbar wirksame Auswirkung haben wie beispielsweise unangenehme 15 min Zeitverlust aufgrund einer Umleitung. Ihre Wirkung entfalten sie indirekt und schleichend. Sie entzieht sich der oberflächlichen Wahrnehmung. Man müsste schon genauer hinschauen. Aber wer hat dafür schon Zeit und Lust im Alltag? Wenn eine Mehrheit der Bürger privat brav ihre Routinen pflegt, ist nicht zu erwarten, dass die selben Menschen in ihrer Rolle als Entscheider in Unternehmen plötzlich zu Abenteurern und Revolutionären werden, die jede Chance der Veränderung dankbar am Schopfe packen. Im Gegenteil: Der Wohlstand

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2  Wandel wagen

r­eicher Industrienationen wie Deutschland wirkt als zusätzlicher Dämpfer für notwendigen Wandel in Betrieben. Viele Unternehmer und Manager hängen am Status Quo. Der Wert von Stabilität und Sicherheit wird viel höher taxiert als die Chancen durch Veränderung. So sind umwälzende Kräfte wie Digitalisierung nicht gern gesehen und werden, wenn überhaupt, in Wissenschaft und Theorie aufgearbeitet. Es wirkt fast so, als würde man durch Lehrstühle, Bücher und Talkshows der notwendigen Diskussion des Phänomens ausreichend Genüge tun. Eine Anwendung der Erkenntnisse im Alltag ist nicht vorgesehen. Dieses Buch wird keine Ausflüchte bieten. Es wird nicht damit trösten, dass 80 % der Menschen einfach am Status Quo hängen. Dass wir Menschen uns seit Urzeiten lieber an Dinge klammern, als sie loszulassen, gilt nicht als Entschuldigung. Es geht in diesem Buch um konkrete Verantwortungen in Zeiten des Wandels, denen Manager gerecht werden müssen. Es geht um die Herausforderung, eindeutige und verlässliche Prognosen wie Megatrends wahrzunehmen und ihnen mit adäquaten Maßnahmen zu begegnen. Es geht darum, dass man deren Relevanz und Kraft erkennt und die Notwendigkeit zum Handeln als alternativlos und hoch dringlich akzeptiert. Nur wenige Unternehmen reflektieren und bedienen Auswirkungen von Megatrends in der operativen Wirklichkeit – zum Beispiel als Faktoren bei der strategischen Geschäftsplanung. Viele Entscheider starren auf von Jahr zu Jahr schlechter werdende Geschäftszahlen oder sich ständig veränderndes Konsumentenverhalten. Sie rufen Change-Programme aus, die in Wahrheit nur Altes und Gewohntes zu retten versuchen. Ergebnis sind meist teuer erkaufte Umstrukturierungen: Die gleiche Grundhaltung wird etwas anders verpackt. Erst wenn die Situation ausweglos wird, wagt man sich an die Herz-OP des angeschlagenen Patienten. Mit dieser unpopulären Mission werden in vielen Fällen externe Unternehmensberatungen beauftragt. Ihre sachlichen Analysen decken auf, dass es schlauer gewesen wäre, das Unternehmen frühzeitig und laufend anzupassen und fit zu halten. Zwischen den Zeilen ihres Berichtes liest man Kritik an der bisherigen Unternehmensführung. Büßen müssen meist nicht die Auftraggeber aus der Chefetage, sondern die zweite und dritte Management-Ebene. Den kalten Schnitt am offenen Herzen lassen sich Berater teuer bezahlen – ohne Garantie für das Überleben und Genesen des Patienten. So klingt der klassische, unglückselige Werdegang eines Unternehmens, das Anpassungen im Wandel verschläft. 

Dieses Buch plädiert vehement für ein Umdenken im Umgang mit Wandel. Veränderungen in Unternehmen sind zu 99,9  % keine Schicksalsschläge oder Überraschungen, denen wir zum Opfer fallen.

2.1  Megatrends sind verlässlich

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Sie sind die Wahrwerdung sicherer Prognosen. Wir sollten uns freuen, dass Megatrends derart stabile und verlässliche Größen sind. Das macht alle Maßnahmen, die darauf bauen, zu sicheren und berechenbaren Faktoren für eine aktive Weiterentwicklung von Unternehmen.

Demografischer und digitaler Wandel sind gleichzusetzen mit einer Evolution unserer gesamten Gesellschaft. Die Auswirkungen betreffen uns alle. Für Unternehmen und Businesspläne bedeutet dies: Sie können bauen auf Faktoren mit 100 %-iger Eintrittswahrscheinlichkeit und ihre dauerhafte Wirkung verlässlich in die Planung einfließen lassen. Fragen Sie Ihren Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, was sie von so viel Sicherheit in der Planung halten. Sie werden Begeisterung ernten, auch wenn die Veränderungen Ihres Unternehmens erst einmal viele Herausforderungen mit sich bringen. Vielen wäre ein demografischer Wandel in die andere Richtung – also mit anhaltendem Geburtenboom – lieber. Wobei dann andere Probleme in den Vordergrund drücken würden wie Mangel an Vorschulen, Lehrerknappheit oder Jugendarbeitslosigkeit. Wir müssen uns heute – und die nächsten Jahrzehnte – mit den Folgen einer demografischen Entwicklung auseinandersetzen, für die wir vor langer Zeit die Weichen gestellt haben. Mit dem Pillenknick Anfang der 70er-Jahre wurden immer weniger Kinder in die Welt gesetzt. Gleichzeitig haben Medizin und Forschung erfolgreich daran gearbeitet, dass wir immer älter werden können. Neue Werte und Verhaltensweisen haben sich verfestigt. So schoben Ausbildung und Karriere Familiengründung und Kinderwünsche immer weiter nach hinten. In Summe führte dies zu einem Wandel der demografischen Struktur unseres Landes. Immer mehr Menschen werden immer älter. Der Anteil der Menschen im Alter von mindestens 50 steigt. Bald werden sie die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmachen. Der demografische Wandel hin zu einer immer älteren Gesellschaft bleibt auf lange Sicht eine berechenbare Grundlage für die Unternehmensplanung. Für Marketing und Kommunikation bietet es sich an, die Kernmärkte zu überprüfen und an die neue Landschaft anzupassen – zumindest schrittweise. In der Praxis jedoch kommt die Bedeutung des Wandels selten über die Rolle eines schleichenden Phänomens hinaus, dessen Macht viele Entscheider verkennen und dessen Auswirkungen sie unterschätzen. Anpassungen erfolgen meist im Trial-and-error-Prinzip und nur selten im Sinne einer proaktiven Steuerung von Ressourcen und Prozessen. Anstatt sich mit der neuen älteren Mehrheit im Lande auseinanderzusetzen, klebt man an jungen Zielgruppen, als wäre dort der Euro das Dreifache wert. Dabei ist es, sachlich gesehen, genau umgekehrt.

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2  Wandel wagen

Vergleichbares Verhalten lässt sich im Umgang mit der Digitalisierung beobachten: Erinnern wir uns daran, wie sich unser Alltag durch den Einzug von Smartphones und sozialen Netzwerken verändert hat. Die gesamte Mediennutzung wurde auf den Kopf gestellt. Auflagen von Zeitungen und Zeitschriften kamen ins Rutschen. TV-Quoten bröckeln. Egal ob in Bussen oder auf Flughäfen, unter Jugendlichen oder Senioren: Heute saugen digitale Endgeräte einen großen Teil unserer Zeit und Aufmerksamkeit auf. Die Verlagerung von Marktmacht und Kaufkraft in das Segment 50plus und die gleichzeitige Veränderung im Mediennutzungsverhalten sind zwei Faktoren, die erhebliche Auswirkungen auf Marketing und Kommunikation haben sollten. Beispiel: Zielgruppe für SUVs

SUVs, also die Stadtgeländewagen, sind ein wichtiges Wachstumssegment der Automobilindustrie. Sie erobern vor allem ältere Zielgruppen. „Je älter, umso eher SUV“, sagt Prof. Dr. Ferdinand Dudenhöffer, Direktor Center Automotive Research. Die Automobil-Marketeers aber tun sich schwer, ihre Werbung auf diese offenbar stark am Produkt SUV interessierte, ältere Zielgruppe auszurichten. Das Beispiel SUV zeigt: Die neuen Mega-Konsumenten der Lebensphase 50plus suchen sich ihre Produkte aus und erobern so Märkte, obwohl sie von vielen Werbetreibenden und Agenturen beharrlich vernachlässigt werden. Die Bedeutung älterer Konsumenten wird sich verstärken und auf weitere Produktkategorien und Märkte ausdehnen. Die Frage ist, wie lange es sich Marketing und Kommunikation leisten wollen, dagegen anzuwerben. Die größte Hürde für den Aufbruch liegt – wie so oft – in dem Schmerz, vom alten Marketing-Denken Abschied nehmen zu müssen.

2.2 Die Ohnmacht der Gewohnheit „Hohe Flexibilität“ und „Freude an Innovationen“ findet man oft als Anforderungen in Stellenausschreibungen formuliert. Das klingt gut und im Zweifel ist es positiv, wenn neue Mitarbeiter diese Eigenschaften tatsächlich mitbringen. Aber wann und wofür werden diese Anforderungen in der Realität des Berufsalltags abgerufen? „Selten bis nie!“, wäre eine ehrliche Antwort. In vielen Unternehmen wird der Alltag durch Gewohnheiten und Routine geprägt. Prozesse und Maßnahmen werden konsequent und unverändert durchgezogen, selbst wenn verlässliche Prognosen ein Abweichen von der gewohnten

2.2  Die Ohnmacht der Gewohnheit

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Linie nahelegten. In solchen Unternehmenskulturen kommen Flexibilität und Innovationsfreude selten über die Rolle von Feigenblatt-Qualifikationen hinaus. Ein unreflektierter Hang zur Gewohnheit nistet sich bei der großen Mehrheit der Mitarbeiter ein und zwar auf allen Ebenen: in Großraumbüros wie in Chefetagen, in Megakonzernen genauso wie in Einzelbetrieben. Viele Entscheider sind beratungsresistent. Beispiel: Gewohnheiten ablegen

Ein Gastwirt hört morgens im Radio die Wettervorhersage. Diese sagt bis 17.00 Uhr herrliches Sommerwetter voraus und dann heftige Gewitter mit Starkregen, Hagel und Blitzschlag. Er könnte Speisekarte, Werbetafel und Personalplanung erst auf vollen Biergartenbetrieb einstellen und dann – mit etwas Weitsicht – ab 16.00 Uhr den Betrieb nach innen verlagern und die Gäste auf den aufziehenden Sturm hinweisen. Der Tag ginge für alle geordnet zu Ende. Wenn Sie meinen, das Beispiel sei zu lapidar, darf ich Sie erinnern an Hektik und Panik, die regelmäßig ausbrechen, wenn vorhergesagte Ereignisse sich scheinbar aus heiterem Himmel über uns entladen. Wir können und wollen uns einfach nicht vorstellen, dass es am Ende eines wunderbaren Sommertages gewittern soll, oder dass nach der gerade passierten Autobahn-Ausfahrt der Stau beginnt, obwohl es bis dahin so flott voranging, oder dass das Eis nicht trägt, obwohl wir so gerne Schlittschuhlaufen. Dabei waren die Warnungen auf Schildern und im Radio eindeutig und unüberhörbar. Noch viel schwerer können wir uns vorstellen, dass es Zeit wird, in Marketing und Kommunikation eine jahrzehntelange Ausrichtung auf eine werberelevante Zielgruppe 20–49 in Frage zu stellen und auf neue Märkte mit anderen Gewohnheiten und Bedürfnissen zu verlagern. Und dann soll man dafür auch noch neue Medien und Kanäle nutzen müssen? Warum? Es ist doch alles gut, so wie es immer war! Diese persönliche Fehleinschätzung sei erlaubt, aber nur mit dem Zusatz: Trotzdem kommt alles anders. Beispiel: Optik-Unternehmen

Rund 45 % der Bevölkerung sind heute im Alter 50plus. Es ist nicht nur unter Optikern bekannt, dass viele Menschen ab Ende 40 erste Probleme mit den Augen bekommen. „Uns spielt die Alterspyramide die nächsten 25 Jahre in die Karten“, sagt Josef May, Chef des Deutschen Industrieverbands für optische, medizinische und mechatronische Technologien, Spectaris. „Die geburtenstarken Jahrgänge kommen jetzt erstmals in die Läden und kaufen

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2  Wandel wagen

­ leitsichtbrillen“. Die einfache Konsequenz für die Marketeers der Branche G wäre, Kommunikation stärker auf diese Zielgruppe auszurichten und so gezielt die steigende Nachfrage abzuschöpfen. Das klingt wie eine verlockend einfache Aufgabenstellung – wie es ja auch die Herausforderung des Gastwirts im Biergarten bei Gewitter gewesen wäre. Doch irgendwo zwischen Prognose, Marktanalyse und konkreter Anpassung von Marketing- und Kommunikationsmaßnahmen scheint es Sollbruchstellen zu geben, an denen die Transferleistung unter die Räder gerät. Das Beispiel vom Optik-Unternehmen, das junge Zielgruppen umwirbt, lässt sich in Chefetagen großer Konzerne hochskalieren. Allen harten Fakten zum Trotz werden die „richtigen“ Entscheidungen immer wieder aufgeweicht. Weichspüler des Wandels

Regelmäßig werden Ausflüchte gesucht, um notwendige Anpassungen aufschieben zu können: • Entscheider ignorieren verlässliche Prognosen und wahrhaftige Trends. – Entscheider tun sich schwer, Geschäftsfelder zu ändern und neue Chancen zu wagen. • Mehr ältere Augen brauchen mehr Brillen. – Beratungstage für nachlassende Sicht im Alter. • Entscheider haben Angst, ihr Bekenntnis zum Wandel klar zu kommunizieren. – „Liebe Kunden, wir sind Ihre Experten für gutes Sehen im Alter“. Anstatt einen scheinbar klaren Weg der Neuausrichtung zu wählen, trösten sich viele mit Optionen, die es nicht gibt. Als hätten sie die Wahl zwischen Status Quo und Veränderung. Sie erliegen der Macht der Gewohnheit, die ohnmächtig ist in Zeiten des Wandels. Sie glauben lieber an das, was immer so war. Besser wäre es, auf das zu bauen und nach dem zu handeln, was wir sicher wissen. Das ist eigentlich ein logisches und eingängiges Credo, dem aber folgendes bevorzugtes Denkmuster unseres Gehirns im Weg steht: 

„Unser Hirn ist eine Zukunfts-Maschine. Alles Denken ist, bewusst oder unbewusst, mit Prognosen verbunden. Wir bilden unentwegt Zukunfts-Modelle, indem wir das, was wir kennen, nach vorne, in die Zukunft projizieren. Auf diese Weise entsteht ein kognitiver Tunnel. Wir glauben das, was wir zu wissen glauben“ (Zukunftsinstitut GmbH 2018, Matthias Horx).

2.2  Die Ohnmacht der Gewohnheit

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Wenn das Hirn alten Gewohnheiten zu erliegen droht, empfiehlt es sich, eine Portion Verstand beizumischen, innezuhalten, die Situation zu analysieren, Fakten aufzunehmen – und im Grunde all die Fähigkeiten anzuwenden, die das Wort Management überhaupt erst verdienen. Die Entscheidungssituation, in der sich Manager und Unternehmer im Zeitalter des Wandels immer wieder finden, lautet: Megatrends verändern unser Geschäftsmodell und unsere Märkte nachhaltig. Wir müssen uns und unser Unternehmen entschlossen und dauerhaft anpassen. Das Verhalten in der Praxis sieht meist anders aus. Die Herausforderung an Veränderungsfähigkeit wird nur von wenigen Entscheidern angenommen, wie die Studie „Die Vermessung der Veränderungsfähigkeit“ (Fourier 2011) zeigt. Eine Mehrheit baut ihre Hoffnung darauf, dass sie „irgendwie so durchkommen“. Sie überschätzen die Rolle ihrer Erfahrung, über die Konfuzius schon 500 Jahre vor Christus schrieb: „Die Erfahrung ist wie eine Laterne im Rücken; sie beleuchtet stets nur das Stück Weg, das wir hinter uns haben.“ Gleichzeitig unterschätzen sie Notwendigkeit und Kraft einer Neuausrichtung. Eine fragwürdige Haltung für Zeiten, in denen Druck und Geschwindigkeit des Wandels rasant zunehmen. Nur 1 % der Unternehmen wird in der Studie attestiert, Veränderungen „souverän meistern“ zu können. 12 %, also jedes achte Unternehmen, werden als „Todgeweihte“ eingestuft. Manche seien sich ihres Untergangs nur noch nicht bewusst (Fourier 2011). Diese Verteilung im Umgang mit Veränderungsprozessen könnte man auch in Form einer klassischen Diffusionskurve abbilden. Eine kleine Minderheit von Innovatoren geht die Herausforderungen entschlossen an, gefolgt von frühen Nachahmern. Erst danach werden (frühe und späte) Mehrheiten mobilisiert und am Ende machen sich die Nachzügler auf den Weg. Die Grundgesamtheit der Beteiligten verhält sich so, als wäre der Wandel eine Mode, die wieder vorübergeht. Abb. 2.1 zeigt, wie sich die Mehrheiten im Laufe des Wandels entwickeln. Wandel ist kein Hype, auf den wir aufspringen, und auch kein vergängliches Produkt. Wandel ist kein „Komm ich heut’ nicht, komm ich morgen“. Wandel ist ein dauerhafter, nachhaltiger Prozess. Demografischer Wandel und Digitalisierung verändern die Rahmenbedingungen in unserer Umgebung, so wie der Klimawandel den Meeresspiegel ansteigen lässt. Es gibt Gebiete, die schneller überschwemmt werden. Und es gibt Inseln, die länger aus dem Wasser ragen. Aber früher oder später flutet der Wandel alles. Für Entscheider besteht die Herausforderung mindestens darin, schwimmen zu lernen und ihr Unternehmen über Wasser zu halten. Idealerweise bauen sie ihr Unternehmen zu einem natürlichen Bestandteil der neuen Umgebung um – etwa in ein U-Boot. Als wäre Wasser die neue Heimat, nachdem man jahrelang an Land wohnte. Das ist natürlich ein Grauen für alle eingeschworenen Nichtschwimmer

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2  Wandel wagen

Wandelmasse

Innovatoren Wandelzeitpunkt

Abb. 2.1   Mehrheitsbildung im Wandel in Anlehnung an das klassische Diffusionsmodell

und traditionellen Landratten. Aber der Pegel steigt sicher und er steigt zügig. Je früher man richtig heimisch wird in der neuen Umgebung, desto besser sind die Zukunftsaussichten. Abb. 2.2 zeigt, wie die Haltung darüber entscheidet, ob man untergeht: Setzen wir als Telekommunikationsanbieter weiter auf Telefonzellen oder passen wir uns der neuen Umgebung an und setzen auf Smartphones?

2.3 Der Weg zum Wandel Veränderung zu wagen bedeutet vor allem, Mut aufzubringen, Altes und Gewohntes hinter sich zu lassen. Auf dem Weg zu dieser Entscheidung des Abschiednehmens lauern links und rechts Erinnerungen, Versuchungen, Pfründe, Beziehungen und Bequemlichkeiten. Noch unangenehmer wird die Willensbildung, wenn sich am Horizont wilde Gerüchte, gewaltige Hürden oder hektische Warnungen aufbauen. Derartige Einflüsse auf unsere Gefühlswelt können klarste und beste Argumente zerbröseln lassen. Trotz eindeutiger Marschbefehle drohen wir zu Deserteuren zu werden. Wenn wir nicht zu den „Todgeweihten“ (vgl. Abschn. 2.2, Fourier) zählen wollen, könnten wir Stift und Zettel in die Hand nehmen, unseren Verstand sammeln und ein paar Fragen beantworten. Das scheint ein vertretbarer Aufwand, um dem Untergang zu entgehen.

2.3  Der Weg zum Wandel

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Telefonzellen

TV-Kanäle

Smartphones

Streamingdienste

Katalogversand

Onlineshops

Tageszeitung

Newsportale

Abb. 2.2   Optionen im Wandel: Untergang oder Anpassung an die neuen Bedingungen?

2.3.1 Spuren des Lebens Wenn Sie heute in leitender Position tätig sind, dürfte – Senkrechtstarter außen vor – Ihre Ausbildung geraume Zeit zurückliegen. Ob Sie in den 80ern, 90ern oder erst nach dem Jahrtausendwechsel Ihre Laufbahn starteten, hat bis heute erhebliche Auswirkungen auf Ihre Haltung und Perspektive. Auch wenn wir uns das nicht jeden Tag explizit vor Augen führen, prägen die ersten Berufsjahre unsere Grundsätze und Herangehensweisen nachhaltig. Dort fußen die tiefsten Wurzeln und entstehen die ersten Überzeugungen, die uns ein Leben lang begleiten – wenn wir sie nicht regelmäßig in Frage stellen oder über Bord werfen.

Fielen Ihre ersten Berufsjahre in die Zeit vor…

• • • • •

35 Jahren – als die ersten Computer in deutsche Büros einzogen? 30 Jahren – als der Leitindex DAX an der Börse eingeführt wurde? 25 Jahren – als die Einheit den deutschen Markt schlagartig erweiterte? 20 Jahren – als Google und Amazon die digitale Revolution anheizten? 10 Jahren – als iPhone und Facebook unseren Medienalltag auf den Kopf stellten? • 5 Jahren – als die Sharing-Economy den Alltag zu erobern begann?

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2  Wandel wagen

Einschneidende Veränderungen wie diese haben nachhaltigen und maßgeblichen Einfluss auf unsere Arbeitsumgebung. Die immer wieder neuen Revolutionen wirken sich aus auf Strukturen und Perspektiven von Branchen und Unternehmen. Ständig ändern sich die Anforderungen an Kenntnisse und Aufgaben. Wir müssen uns laufend anpassen, um konkurrenzfähig zu bleiben – als Gesellschaft und als Einzelner. Wer würde sich heute ohne Computerkenntnisse bewerben? Wer wollte auf die Vorzüge eines starken deutschen Binnenmarktes verzichten? Der DAX ist mittlerweile das Fieberthermometer für unsere Wohlstandsaussichten, hat längst den Platz vor der Tagesschau erobert und treibt CEOs vor sich her. Die Geschehnisse in der Wirtschaft sind wichtiger Bestandteil der täglichen Nachrichten. Ohne den privaten Beitrag in der Stromerzeugung bliebe die Energiewende ein Projekt der Unmöglichkeit. Google und Amazon sind nicht mehr wegzudenken, auch wenn sie regelmäßig nerven. Zügig werden die neuen Errungenschaften zum festen Bestandteil unseres Lebens. Sie nisten sich ein in unser Denken und in unsere Gewohnheiten. Wir kommen gar nicht mehr auf die Idee, etwas daran zu verändern. Mit zunehmender Lebenszeit legen wir immer neue Erfahrungen oben drauf, aber wir nehmen sehr selten unten welche weg. Wir tun uns genauso schwer, unsere Routinen auszumisten wie unsere Kleiderschränke. Wandel will geübt sein Beim Start in das Berufsleben oder in der ersten Zeit in einem neuen Job lernen wir begierig. Wir sammeln Erfahrungen und zahlen Lehrgeld. Im Laufe der Zeit finden wir unsere Position im Unternehmen. Unsere Laufbahn und Perspektiven kristallisieren sich heraus. Je fester der Untergrund und je klarer die Leitplanken werden, desto geringer wird die Motivation auf Abwege, Umwege oder neue Wege auszuweichen. Dabei wäre es im Laufe einer Karriere und eines Lebens sehr befreiend, so manche gelernte Erfahrungen und Grundsätze frühzeitig und aktiv in Frage zu stellen, anzupassen oder aufzugeben. Wir haben jeden Tag erneut die Wahl. 

„Wir können jeden Tag aufs Neue entscheiden, welchen Einfluss wir auf diese Welt ausüben möchten“ (Jane Goodall).

Wir könnten jeden Tag entscheiden, überholte Arbeits- und Denkweisen auszutauschen. Wir könnten jeden Tag entscheiden, ob es Zeit ist für eine Neuausrichtung des Marketings.

2.3  Der Weg zum Wandel

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Aber wann haben Sie sich zuletzt konsequent für Veränderung entschieden? Sind Ihre Veränderungsmechanismen vielleicht schon eingerostet? Wissen Sie überhaupt noch, was es bedeutet, den Zähler auf Null zu stellen, alte Gewohnheiten abzustreifen und etwas Neues zu wagen? Wenn nicht, dann fangen Sie heute wieder an damit. Denn Veränderung und Wandel wollen geübt sein. Kulturwandel In Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Kultur des Sicherheitsdenkens verfestigt. Gesetze, Verordnungen, Controlling- und Compliance-Regeln haben den Entscheidungsspielraum für Manager zusehends eingeengt. Entscheidungen unter Unsicherheit – also mit Risiko – sind nicht besonders beliebt in deutschen Chefetagen. Schon allein deswegen, weil Scheitern oft als lebenslanger Makel haften bleibt. In keinem anderen Land haben die Menschen mehr Angst vor beruflichem Misserfolg. Wenn wir also davon sprechen, ein Land und seine Unternehmen zum Aufbruch in den digitalen und demografischen Wandel zu bewegen, dann sollten wir immer vor Augen haben: Wir sprechen mehrheitlich mit ängstlichen, risikoscheuen und nicht besonders probierfreudigen Managern. Als Mitarbeiter habe ich oft gespürt, wie schwer sich Vorgesetzte damit taten, Fehler einzugestehen, Kehrtwendungen zu machen oder perspektivlose Geschäfte aufzugeben. Da die Not in fetten Jahren nicht groß genug ist, kann man Nöte mit Erfolgen an anderer Stelle gut vertuschen. Auch in den obersten Chefetagen finden sich wenige Vorreiter, die unbedingt zu neuen Ufern drängen. Thomas Sattelberger, ehemaliger Personalvorstand bei Daimler, Telekom und Lufthansa, beschreibt das im Film „Stille Revolution“ von Kristian Gründling so: „Viele Unternehmensverantwortliche benehmen sich wie im Liegestuhl auf der Titanic und denken, Sie könnten dieser radikalen Veränderung, die auf Sie zukommt, ohne radikale Veränderung des eigenen Unternehmens und des eigenen Stils entgehen… Verändere dein Territorium und spring in neues, kaltes Wasser!“ Wir brauchen einen Kulturwandel mit mehr Mut, Experimentierfreude und Lust auf das Unbekannte. Das wird nicht flächendeckend von heute auf morgen für alle Entscheider und Unternehmen des Landes zu schaffen sein. Ihre Aufgabe als Entscheider lautet nicht: „Bitte einmal die Welt retten!“ Ihre Aufgabe ist, für Ihr Unternehmen, für Ihren Bereich, für Ihre Abteilung und für sich selbst den Wandel einzuläuten. Trainieren Sie täglich. Machen Sie Veränderung zur Routine. Bauen Sie Experimente in den Arbeitsalltag ein. Bauen Sie Instrumentarien ab, mit denen Sie nichts mehr bewirken – wie Analysen und Reportings, die nur

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2  Wandel wagen

aus Gewohnheit aufrecht erhalten werden und schon lange keine Effekte mehr ­auslösen. Tun Sie täglich etwas Verbotenes. Wenn Sie Probleme mit den Begriffen haben, dann taufen Sie „Veränderungsdruck“ um in „Freude am Entdecken“. Benennen Sie „Risikozone mit Unbekannten“ um in eine „sportliche Herausforderung in neuer Umgebung“. Lernen Sie wieder, unbekümmert und mutig aufzutreten, so wie viele der Entscheider das am Anfang ihrer Karriere ja auch taten. Erst im Laufe der Zeit erstickte ein wachsender Haufen von Gewohnheiten und Regeln ihre Flexibilität, Neugier und Risikobereitschaft. Tun Sie so, als würden Sie jeden Tag neu anfangen zu arbeiten und fragen Sie sich: „Was brauche ich dafür und was brauche ich nicht (mehr)?“ 

Blicken Sie jede Woche einmal auf Ihre Arbeitsumgebung, als wären Sie (wie früher) der Neue im Unternehmen. Leisten Sie sich Zeit für Gespräche mit Kollegen, die gerade neu angefangen haben, und versuchen Sie, deren Perspektive einzunehmen. 5 min pro Woche reichen für diese Übung.

Schauen Sie zurück auf Ihr bisheriges Berufsleben und auf all das, was Sie erreicht und gelernt haben. Vergeben Sie Wertschätzung für alles, was durch Computer und Internet einfacher, schneller und besser geworden ist. Bedenken Sie, wie der deutsche Markt gewachsen ist durch die Wiedervereinigung und welche Chancen sich dadurch eröffnet haben. Und dann führen Sie sich vor Augen, dass das Tempo der Veränderung in den nächsten Jahrzehnten mindestens genau so hoch sein wird wie seit dem Start Ihrer Karriere. Die Digitalisierung erzeugt laufend Game-Changer. Gestern war es noch Social Media. Morgen ist es künstliche Intelligenz. Der demografische Wandel verschiebt Märkte und eröffnet neue Chancen. An Best Ager und Senioren lassen sich auf den letzten Tagen auch ein paar Rollatoren oder Prothesen verkaufen. Aber vor allem interessieren sie sich für Aktien, Immobilien, gute Weine, hochwertige Möbel, SUVs, Kreuzfahrten oder Städtereisen. Es wird schnell offensichtlich, dass man in den heutigen Zeiten des Wandels mit dem Fortschreiben alter Gewohnheiten wenig Aussicht auf Erfolg in neuen Märkten hat. Als langjährige Führungskräfte brächten Sie eigentlich die besten Voraussetzungen mit, Wandel aktiv zu gestalten. Sie verfügen über breite Erfahrung und fundiertes Wissen, mit deren Hilfe Sie neue Herausforderungen besser bewerten könnten als Neueinsteiger. Sie könnten Ihr Wissen so einbringen, dass

2.3  Der Weg zum Wandel

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Ihr Unternehmen Fortschritte erzielen und sich laufend verbessern könnte. Sie müssen nur Motivation und Energie für Veränderung aufbringen. Verwechseln Sie Fortschritt nicht mit dem Fortschreiben alter Gewohnheiten, die ihre besten Zeiten hinter sich haben. Eine faire Chance für die Zukunft ist auch abhängig von einer nüchternen Bewertung unserer Vergangenheit – und vom Abschneiden alter Zöpfe.

2.3.2 Schubladen machen unbeweglich Dieses Buch sollte sich auf Herausforderungen des demografischen und digitalen Wandels in Marketing und Kommunikation konzentrieren. Nun wirken aber Megatrends nicht isoliert in einem Ausschnitt des Berufslebens. Sie lassen sich nicht auf einzelne Fachdisziplinen begrenzen und – wie in einem Labor – von der restlichen Umwelt abschotten. Megatrends erfassen die gesamte Gesellschaft, unseren privaten Alltag genauso wie unseren beruflichen Alltag. Sie prägen die Agenda in den Medien und durchtränken das öffentliche Leben. Ihre Auswirkungen sind so vielschichtig, dass wir nicht alle Einzelheiten erfassen und einordnen können. Wir behelfen uns mit einem Stimmungsbild, mit dem wir Themen pauschal interpretieren und womit wir unterschiedlichste Fragestellungen bedienen. Wir erliegen allzu gerne der Bequemlichkeit, die Vielfalt der Fragen mit wenigen großen Schubladen zu bedienen. Es gibt Wissenschaftler, Blogger und Journalisten, die meinen, dass wir ohne Schubladendenken nicht überleben könnten. Diese Ansicht ist man geneigt zu teilen in einer Welt, in der man rund um die Uhr mit immer mehr Informationen bombardiert wird. Schubladen helfen, diese Wucht an Eindrücken schnell grob zu sortieren, um den Überblick zu wahren. Manche Sortierungen sind rein private Selbsthilfe, um den Alltag zu meistern und die zu große Zahl der Optionen zu verschlanken. Unsere Vorurteile sind wie ein gelernter Parcours des Denkens, von dem wir nur selten abweichen. Wer mit IT-Leuten zu tun hat, vermutet tendenziell und einfachheitshalber einen Nerd hinter der Brille. Alte Menschen sind beige und warten auf den Rollator. Südländer gelten als unpünktlich. Tätowierte Fußballer riechen nach Prolet. Russische Sportler hängen immer mit einem Bein in der Doping-Schublade. Bayerische Politiker werden automatisch der CSU zugeordnet, obwohl auch im Freistaat ein Mehrparteiensystem gelebt wird. Amerikanische Politiker haben sich mittlerweile in eine Schublade mit dem Etikett Schmierentheater einsortiert.

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2  Wandel wagen

Schubladen-Klassiker

• • • • • •

Schublade: Klimaerwärmung – Etikett: Spinnerei der Grünen Schublade: Europäische Union – Etikett: Deutschland muss alles zahlen Schublade: Online-Handel – Etikett: Tod des Einzelhandels Schublade: Alte Leute – Etikett: Butterfahrt für Beige Schublade: Digital – Etikett: Technisches Neuland Schublade: Analog – Etikett: Gute alte Zeit

Wir stecken ein Thema erst in eine bestimmte Schublade, um es dann nach Bedarf zu interpretieren – je nach Anwendungssituation und wie wir es gerade brauchen. Nehmen wir das Beispiel Online-Handel.

Schubladen: privat, öffentlich, beruflich

• Privates Verhalten – Mit einer Bestellung bei Amazon schade ich dem Einzelhandel. Aber heute habe ich es eilig und ich brauche genau das Teil, das die im Laden sicher nicht haben. • Öffentliche Meinung – Amazon muss in Schach gehalten werden. So geht das nicht mehr weiter. Das ist Ausbeutung und Paket-Wahnsinn. • Berufliche Sicht – Wie sollen wir gegen Amazon etwas ausrichten? Wir müssen mit ihnen kooperieren. Die sind perfekt aufgestellt und unsere einzige Chance für die Zukunft.

Der Übergang vom Privaten ins Berufliche ist fließend und unbewusst. Aber es wird gefährlich, wenn Schubladendenken sich – klammheimlich – über den privaten oder öffentlich-medialen Nährboden in Entscheiderkreise schleicht. Wenn Verantwortliche kraft ihrer Autorität unwidersprochen Klischees ausbreiten und Kollegen dieses Verhalten willfährig akzeptieren. Beispiel: Privates und Berufliches vermischen

Der Geschäftsführer ist kein großer Freund des Internets und gefällt sich auf dem gesellschaftlichen Parkett. Die IT-Abteilung wird klein gehalten und als Nerd-Gruppe in den Keller abgeschoben. Online-Kommunikation wird als Nischenthema betrachtet. Ältere Konsumenten werden als beige Auslaufmodelle abmoderiert. Junge Zielgruppen werden anvisiert, nur weil der Geschäftsführer sich im privaten Umfeld lieber unter 30-Jährigen tummelt.

2.3  Der Weg zum Wandel

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Tab. 2.1   Risiken des Schubladendenkens Thema

Schublade

Etikett

Folgen

Digitalisierung

Internet

Technik

Thema wird isoliert Eindimensionales Technik-Image Falsche Ressourcenallokation

Ältere Zielgruppen

Alter

Beige

Analysen unterbleiben Thema nicht hoffähig Wachstumschance vergeben

In solchen Fällen wird Schubladendenken ungeniert aus dem privaten Komfortzonen-Denken ins B2B-Umfeld getragen. Wie ein trojanisches Pferd kann Schubladendenken Management-Runden überrumpeln, die eigentlich mit Sachverstand und Differenzierung diskutieren müssten. So können Vorurteile wichtige strategische Entscheidungen prägen oder gar verhindern. Tab. 2.1 zeigt von links nach rechts, wie Megatrends in Schubladen mit Etiketten landen und welche Folgen dieses vereinfachte Denken in der Unternehmenssteuerung haben kann. Meinungsbildung à la Talkshow Die Begriffe „Alter“ und „Digitalisierung“ sind in ihrer Wahrnehmung stark vorbelastet. Sie erfahren nur selten eine nüchterne, zeitgemäße und faire Bewertung. Diese Schubladen werden nicht gerne geöffnet, geschweige denn neu sortiert. Entsprechend ungelenk agieren wir im Umgang mit diesen Themen, die stark im Wandel begriffen sind und jonglieren auf stark schwankendem Parkett. Paradebeispiel dafür liefern Talkshows, in denen mehr oder weniger Prominente ihre Meinung abgeben dürfen. Wenn das Thema „Alter“ auf den Tisch gelegt wird, fasst es kaum einer an. Gäste mit mehr oder weniger gelungenen Schönheitsoperationen werden mit mehr oder weniger geheuchelten Komplimenten daran erinnert, wie jung sie doch geblieben sind. Lebensleistungen und Erinnerungen werden glorifiziert. Schwierigkeiten im Alter werden totgeschwiegen. Wenn man nur den Ton des Fernsehgeräts ohne Bild laufen ließe, könnte man glauben, eine Runde Mitdreißiger säße am Tisch. Sobald das Thema „Digitalisierung“ auftaucht, reißen es die meisten an sich. Gerne lässt man fallen, dass man selber auf Instagram unterwegs ist. Die paar wenigen Gäste mit schwacher digitaler Affinität machen aus Ihrem Unwissen eine Tugend und positionieren sich als intellektuelle Online-Abstinenzler. Es kann aber auch passieren, dass gerade wieder einmal ein Datenskandal durch die Medien geistert und sich ein Gewitter aus Datenschutzbedenken entlädt, ohne

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dass auch nur einer der Talkshow-Gäste oder Moderatoren ansatzweise formulieren könnte, was Datenschutz konkret bedeutet. Fachmedien sind die Talkshows der Marketing- und Kommunikationsbranche. Sie sind Sprachrohre jahrzehntelang etablierter Beziehungen. Auch die Verantwortlichen der Fachmedien tun sich schwer, Themen umzugewichten, alte Player in Frage zu stellen und sich neuen Realitäten zu öffnen. Dabei sind Fachmedien erheblich von den Auswirkungen des digitalen Wandels betroffen. Große alte Medienmarken, die Themen und Budgets lieferten, dünnen immer mehr aus. Good News aus der alten Welt werden selten, ebenso wie große Fachkampagnen. Die Chance läge eher im Wandel. Wir fragen Daniel Häuser, der seit über 25 Jahren als Journalist in der Medienbranche arbeitet. Zunächst im TV-Business als Redakteur für diverse TalkShows, Ende der 90er-Jahre wechselte der Diplom-Journalist dann zum Süddeutschen Verlag. Die meiste Zeit davon war er Fachredakteur beim Titel „w&v“. Nach acht Jahren macht er sich mit dem eigenen Magazin Clap selbstständig. Daniel, wie wirkt sich der Wandel bei Fachmedien und in Fachverlagen aus? Es wirkt sich fatal aus. Noch im Jahr 2000 produzierte beispielsweise ein großes Fachmagazin der Kommunikationsbranche rund 200 bis 300 Seiten – Woche für Woche. Das Konzept schien aufzugehen. Es wurden in der damaligen Euphorie sogar noch Print-Beiboote geschaffen, um Platz für neue Anzeigenumfelder zu schaffen. Heute kann man sich das kaum noch vorstellen, denn diese wahrhaft goldenen Zeiten sind längst vorüber. Der zu zögerliche Einstieg in die digitale Welt ermöglichte es Newcomern, mit neuen Angeboten im Markt Fuß zu fassen. Mit dieser zögerlichen Haltung wurde letztlich nicht nur dem eigenen Digitalgeschäft, sondern auch dem Printmedium Schaden zugefügt. Hätte man heute ein brummendes Digitalgeschäft, dann gäbe es auch mehr Spielraum für die Printhefte. So aber müssen beide Bereiche leiden. Welche Rolle spielen die neuen Medien in den klassischen Fachmedien – als Themenlieferant und Budgetquelle? Eine viel zu geringe! Wichtige Weichenstellungen wurden verpasst. Ein Beispiel aus dem eigenen Erleben: Ende der 90er-Jahre legte der Süddeutsche Verlag eine Zeitschrift für Internet-Marketing namens „E-Market“ auf, für die ich als Fachredakteur schreiben durfte. Eigentlich eine gute Idee. Die erste Dotcom-Krise reichte aber schon, um das Heft wieder fallenzulassen. Hätte man bis heute daran festgehalten, dann wäre der Verlag womöglich weit vorne gewesen im Wandel. Es fehlt eben oft an Weitsicht, um eine Krise überstehen

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zu können. Das Knowhow der Fachredakteure, etliche Kontakte und einige wichtige Budgetquellen sind da auf der Strecke geblieben. Insofern wurde großes Potenzial verspielt. Die großen Online-Player spielen natürlich eine Rolle in den Fachmedien, aber diese Rolle ist insgesamt zu klein, so dass sich viele Digitalunternehmer zu Recht in der Fachpresse unterrepräsentiert fühlen. Und auch keine echte Bindung dazu haben. Es wurde versucht einiges zu korrigieren, aber das lässt sich nun nicht mehr von heute auf morgen wieder ausbügeln. Die alten Verbindungen, etwa aus der großen Print-Ära, werden, so scheint es einigen Beobachtern zumindest, immer noch bevorzugt behandelt. Sind Fachmedien eher Bremser, Mitfahrer oder Vorhut im digitalen Wandel? Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Einige haben längst ihre Hausaufgaben gemacht. Bei anderen sucht man vergeblich nach einer klaren Linie. Hurra, wir sind jetzt endlich auch auf Facebook und Twitter! Damit beruhigt der eine oder andere zumindest das schlechte Gewissen. Große Ideen werden aber nicht verfolgt. Es gibt scheinbar nicht die richtige Struktur, um das mit eigenen Abteilungen zielgerichtet anzugehen. Viele Anstrengungen werden lieber dahingehend unternommen, den Status Quo für das Printmedium zu halten. Noch immer gibt es die Zweiklassengesellschaft in der Redaktion. OnlineRedakteure werden gegenüber ihren Print-Kollegen benachteiligt. Vor 15 Jahren vielleicht noch verständlich, im Jahr 2019 jedoch unfassbar. Es scheint immer noch darum zu gehen, dem Printmedium auch im digitalen Zeitalter die führende Rolle zu überlassen. Es sind also viele Bremser dabei. Und diese verkennen bis heute die Tragweite des digitalen Wandels für die Fachpresse. Das wird sich rächen, wenn dies nicht bereits schon geschehen ist. Wie kann sich ein Fachmedium erfolgreich im digitalen Wandel behaupten und was sind die drei häufigsten Fehler oder Versäumnisse auf diesem Weg? Ein Fehlglaube ist, dass eine digitale Bezahlschranke der Königsweg sein könne. Dafür müssten dicke Bretter gebohrt werden, weil die meisten aktuellen Angebote der Fachmedien in anderen Quellen bereits frei erhältlich sind. Studien beispielsweise besorgen sich Profis auf eigene Faust auf anderen Wegen und haben diese früher – und kostenlos. Auch bei Quoten und Marktanteilen sind sie selten auf das Fachmedium angewiesen. Es müssen also ziemlich viele neue Ideen her, was sich überhaupt Begehrenswertes hinter einer Bezahlschranke verstecken lässt. Und selbst wenn sich Spannendes finden ließe, heißt das ja noch lange nicht, dass sich deswegen genügend Leute für den Dienst anmelden.

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Der zweite Fehler ist sicherlich, dass viel zu spät damit angefangen wurde, seine eigenen Leser an Bezahlinhalte zu gewöhnen. Im Jahr 2019 sollten die Erwartungen daher nicht zu hoch angesetzt werden. Es wird sich um einen Prozess handeln, der sich erst über viele Jahre etablieren muss. Von daher ist wieder Geduld und Weitsicht gefragt, die es aber oft gar nicht gibt. Der dritte Fehler bezieht sich auf die Entscheider in den Medienunternehmen der Fachpresse selbst. Denn allzu häufig treffen Ressortleiter oder Chefredakteure Entscheidungen über diese Bezahlschranke, die sich selbst jahrelang gegen eine solche gewehrt haben. Da sind Auseinandersetzungen mit der Online-­ Abteilung des Unternehmens vorprogrammiert. Grundsätzlich wäre es künftig wünschenswert, wenn sich die Medienunternehmen stärker darauf konzentrieren könnten, eigenen Ideen nachzugehen, statt zu oft den Trends hinterher zu hecheln. Aber auch inhaltlich befindet sich der Fachjournalismus in einer schwierigen Phase. Viel zu oft werden die Fachjournalisten nämlich von den Entscheidern als gefügig, ja fast als willfährig wahrgenommen. Da wird oft eine Meldung genauso geschrieben, wie es das Unternehmen wünscht. Und kein bisschen anders. Dadurch schleichen sich oft auch Unwahrheiten ein, die von anderen Wettbewerbern demaskiert werden. Das verschärft die aktuelle Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus auch in Fachmedien. Schon ein wenig mehr Distanz zu den handelnden Personen und eine eigene Interpretation der Dinge würden viel helfen, damit diese Journalisten wieder als ernst zu nehmende Partner wahrgenommen werden. Von heute auf morgen aber ist diese Entwicklung wahrscheinlich nicht umzukehren. Im Laufe der Jahre sind diese Dinge so eingeschliffen, dass eine Wende nicht kurzfristig machbar sein wird. Dafür müsste zuerst der Wettbewerb um die Gunst der Unternehmen aufhören, die ja oft Werbetreibende für diese Fachmedien sind. Nachvollziehbare Kritik muss wieder selbstverständlich werden. Unternehmen müssen wieder lernen, dass diese legitim ist. Manager in Medienhäusern sind bisweilen irritiert, wenn ein Fachmedium auch nur ein bisschen „aufmuckt“. Gut möglich, dass deswegen sogar gleich die kommunikative Schranke fällt. Und das für Jahre. Eine derartige Stimmungslage und Meinungsbildung unter den Sprachrohren für „Marketing und Medien“ tragen nicht bei zu einem sachlichen Umgang und einer fairen Bewertung des Wandels. Fast täglich werden Unkenrufe laut zu vermeintlichen Missständen in der digitalen Landschaft. Wirre öffentliche Meinungsbilder machen einen entschlossenen Aufbruch nicht leichter. Die Konzentration auf die Wegweiser für die richtigen Entscheidungen wird von links und rechts ständig angegraben. Als würde man eine Reise antreten und einem dabei ständig zugeflüstert, wie gefährlich diese ist. Es

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vergeht kaum ein Tag, an dem traditionelle Medien nicht Facebook, Twitter & Co. vor den Bug schießen. Beispiel: Macht der Meinungsbilder

Als im Januar 2019 Daten diverser Prominenter und Politiker „gestohlen“ und veröffentlicht wurden, galt das sofort als großer Hacker-Angriff und „schwerer Anschlag auf die Demokratie“ (zeit.de vom 4. Januar 2019). Die Tagesschau um 20:00 Uhr nahm die Hysterie auf und verwies fürsorglich auf tagesschau. de, wo man eine Anleitung zum Löschen von Twitter- oder Facebook-Accounts fände. Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass ein oder mehrere Netzexperten Schwachstellen in Accounts genutzt und ein paar Politiker und Promis vorgeführt hatten. Die gestohlenen Daten besaßen kaum Relevanz. Getrieben waren die Täter eher von Geltungsdrang und Aufmerksamkeit und nicht von krimineller Energie (spiegel.de am 7. Januar 2019). Wenn renommierte Medien wie Tagesschau oder Die Zeit so einen Vorfall dermaßen falsch einschätzen, dann muss das getrieben sein von Gier nach Sensationsmeldungen und Enthüllungswahn gegen Facebook & Co. Es kann nicht allein Ahnungslosigkeit von Journalisten sein, die in einer Redaktionskonferenz so sorgfältig über Themen entscheiden, die veröffentlicht werden sollen. Journalisten des alten Schlages tun sich auch schwer mit Begriffen wie Influencer Marketing. Sie können und wollen sich nicht vorstellen, dass einzelne YouTuber mehr Fans finden, als sie das je mit ihrem Medium erreicht hatten. Das Phänomen „Influencer“ ist nicht neu. Früher besetzten Journalisten der Massenmedien diese Influencer-Rollen, wenn sie Mode-, Beauty-, Buch- oder Reisetipps aussprachen oder Geldanlagen empfahlen. Diese Position mussten sie abgeben. Heute senden Einzelpersonen direkt auf Social-Media-Kanälen, erreichen ein Massenpublikum und erzielen Werbewirkung. Auch wenn das Protagonisten der alten Garde nicht schmeckt. Mit der gleichen Sicht auf davonschwimmende Felle wird Native Advertising oft als Online-Schleichwerbung abgestempelt. Dabei ist Native Advertising ein gekennzeichnetes Online-Werbeformat, das User über das Thema anspricht. Schleichwerbung gibt es auch im Internet – genauso wie in Print, Radio oder TV. Mit diesem Hauen und Stechen auf neue Formen und Arten der Kommunikation schneidet sich die Branche ins eigene Fleisch. Gesünder und hilfreicher für die Gesellschaft wäre, wenn sich die Kommunikationsbranche schnellstmöglich der Realität im Wandel stellen und ein realistisches Bild zeichnen würde mit einer entsprechenden Gewichtung der Themen. Anstatt alten Positionen und Strukturen nachzuweinen.

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Auch in Management-Runden geht es mitunter zu wie in Talkshows: Moderatoren (CEOs) versuchen, die Meinungen des Entscheiderkreises zu einer Unternehmenshaltung zu konsolidieren. Die Ansichten der einzelnen Protagonisten sind von ihren subjektiven Vorurteilen und Schubladen geprägt. Es passiert nur sehr selten in solchen Runden, dass der Kreislauf der Klischees durchbrochen und neue Perspektiven aufgeworfen werden. Im Gegenteil: Sehr lange werden Entscheidungen mit dem alten Schubladen-Denken bedient. So werden Unternehmen oft erst zur Neuausrichtung gezwungen, wenn die Situation kurz vor dem Kippen steht. Dann wird Alarm geschlagen. Unvorbereitet und hektisch muss nun vieles rasch in Angriff genommen werden, um das Überleben zu sichern. Der Autor und Leadershipcoach Günther Wagner beschreibt die Konsequenzen mit den Worten: „Verdrängte Sorgen führen zu Fehlentscheidungen und ­Aktionismus.“ Entscheider im Wandel bleiben nicht unberührt von diesen Stimmungen. Ein Ausweg ist, für sich selbst immer mehr Sicherheit in der Sache zu gewinnen, tradierte Einstellungen zu prüfen, Ansichten und Denken ständig in Frage zu stellen. Ratsam ist es, dies mit langem Vorlauf und in Ruhe einzuleiten. Das ist zwar eine ungewohnte Übung für unser Gehirn, aber sehr hilfreich und befreiend.

2.3.3 Die Alters-Schublade Unser verqueres Verhältnis zum Alter ist menschlich nachvollziehbar. Als eines der letzten großen Ziele einer Gesellschaft, die fast alle Bedürfnisse für fast alle bedient, steht an oberster Stelle: Lasst uns so lange wie möglich leben, ohne alt zu werden. In der öffentlichen Diskussion ist Altern problembehaftet. Schlagworte wie Pflegenotstand, Altersarmut, Einsamkeit, Demenz oder Rollator bestimmen die Agenda. Die davon betroffenen Kreise werden dem Gefühl nach ausgegrenzt und isoliert. Ihr Schicksal passt einfach nicht zu den anerkannten Werten unserer Gesellschaft. Dieter Hildebrandt brachte das Image des Alterns in seiner Kabarettsendung „Scheibenwischer“ mit einem Satz auf den Punkt: „Im Prinzip ist Altwerden bei uns erlaubt, es wird nur nicht so gerne gesehen.“ Von schönen Seiten des Alters schreiben bestenfalls eine Handvoll Idealisten. Richtig alt fühlen wir uns nur die letzte Viertelstunde vor dem Tod. Diese Großwetterlage zum Alter machte es für einen strategischen Faktor wie „Demografischer Wandel“ in der Vergangenheit unmöglich, in das Relevant Set

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der Zukunftschancen zu kommen. Das Thema verhungerte oft als ungeliebtes Entlein, obwohl die Prognosen sehr günstig gewesen wären. 

Allein von 2014 bis 2016 konstatierte die KfW für mittelständische Unternehmen ein Umsatzwachstum von über 100 Mrd. EUR dank des Motors „Demografischer Wandel“ (KfW-Mittelstandspanel 2014–2015). Gleichzeitig wies die KfW darauf hin, dass nur eine Minderheit der Unternehmen das Thema aktiv bediene. So haben die meisten Unternehmen wohl eher unbewusst davon profitiert, dass ihre Produkte und Dienstleistungen von einer alternden Bevölkerung immer stärker nachgefragt werden. Eine aktive Ausrichtung von Marketing und Kommunikation auf die boomende ältere Zielgruppe erfolgte bei den wenigsten.

Wer wäre in einem altersfeindlichen Klima, wie es in unserer Gesellschaft herrscht, mutig genug, das Thema unter dem Etikett „Strategischer Wachstumsmarkt“ im Kreise der Management-Kollegen zu präsentieren? Noch dazu als wichtigsten Punkt der Tagesordnung. Kaum einer wagt sich aus der Deckung. Das Bekenntnis zum demografischen Wandel gleicht einem Outing. In den meisten Fällen reichen Mut und Überzeugung eines Einzelnen nicht, um etablierte Vorurteile abzubauen oder zumindest zu entschärfen. Die altgedienten Schubladen werden immer weiter vollgestopft mit Parolen und Routinen. Gerade die Marketing- und Kommunikationsbranche pflegt ein distanziertes Verhältnis zum Alter. Aspekte des Älterwerdens passen nicht zu einer oft hedonistisch geprägten Welt der Werber und Marketing-Manager. Es gehört zum beruflichen Selbstverständnis, ein jugendliches Image hochzuhalten. Am liebsten würde man mit der Harley zur eigenen Beerdigung fahren. Die Fahrt auf der Harley steht für die Flucht vor den besten Jahren. Wir trauen dem Alter nicht zu, dass es uns schöne Zeiten beschert. Also versuchen wir, es zu überspringen. Vorrangige Aufgabe unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen wäre, ein zeitgemäßes, verträgliches Bild vom Alter aufzubauen. Es geht darum, einen positiven Umgang mit dem Älterwerden zu lernen. Es gilt, das angespannte Verhältnis in positive Energie zu drehen und nicht gegen das Alter zu kämpfen, sondern von der Energie des Alters zu profitieren. Die Demografiestrategie der Bundesregierung firmiert unter dem Motto „Jedes Alter zählt“. Den strategischen Lenkern des Staates ist bewusst, dass unser alterndes Land eine Neuordnung der öffentlichen Räume und der Infrastruktur braucht, ein neues Mobilitätskonzept, neue Quellen für den Arbeitsmarkt, neue Formen der finanziellen Absicherung und viele weitere Anpassungen, um Staat und Gesellschaft funktionsfähig zu halten.

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Der Megatrend „Demografischer Wandel“ ist stärker als die Renitenz einzelner Marketing-Entscheider oder die Behäbigkeit von Unternehmen. Es ist alternativlos, Staat und Unternehmen so aufzustellen, dass sie im demografischen Wandel bestehen können. Das wiederum erfordert, dass die Entscheider für Aufbruch und Veränderung plädieren. Und das wiederum setzt voraus, dass sie erst einmal ihre persönlichen Ansichten zum Alter verändern müssen. Wenn man abstrakte, aber gleichwohl hartnäckige Images ändern will, bietet sich eine einfache, konkrete Beweisführung an: Wenn man die Angst vor dem Zahnarzt besiegen will, hilft es Zahnärzte kennenzulernen oder leichte Probebohrungen zu erdulden, um dann festzustellen: Es ist gar nicht schlimm und lindert den Schmerz. Lernen Sie das Alter neu kennen. Versuchen Sie Alter zu erfahren im Alltag, zu identifizieren und bewusst einzuordnen. Sie werden feststellen, dass Menschen der zweiten Lebenshälfte in Deutschland in fast jedem Straßenzug, fast jedem Geschäft oder Restaurant die Mehrheit stellen. Sie formieren die neue Normalität in unserem Land und mit ihnen die Werte, Einstellungen und Bedürfnisse ihrer Lebensphase.

Sortierhilfen für eine zeitgemäße Alters-Schublade

• Zählen Sie die Leute in Ihrem Umfeld, die rund 50 Jahre und älter sind. • Hören Sie die Musik des größten Radiosenders in Ihrer Region und schreiben Sie auf, in welchem Jahr die Lieder geschaffen wurden. • Besuchen Sie eine Oper, ein Café, einen Wanderparkplatz und eine Flughafen-Abflughalle und schätzen Sie das Durchschnittsalter der Anwesenden. • Fragen Sie Ihre Kinder, ab welchem Alter sie jemanden als alt bezeichnen würden. • Schreiben Sie auf einen Zettel, was schöne Seiten des Alters sein könnten und warum. • Schreiben Sie daneben, was Sie nicht so gut finden am Altern und warum.

Diese bewussten Erlebnisse helfen, ein zeitgemäßes Bild von unserem Umfeld zu bekommen und damit ein zeitgemäßes Bild vom Alter. Sie entlarven die nicht vorhandene Aura des ewig Jugendlichen und machen den Blick frei für die Wahrheit auf dem Platz. Erst wenn Entscheider mit dieser Erkenntnis in Management-Runden gehen, können daraus auch Chancen für ihr Unternehmen im demografischen Wandel entstehen.

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Privat kann man für Botox oder Schönheitsoperationen ein Vermögen ausgeben und an ewige Jugend glauben. Man kann mit der Harley auf dem Highway dem Alter zu entfliehen versuchen. Aber wenn es um die Analyse von Wachstumsmärkten, von Veränderungen im Konsumverhalten und der Zusammensetzung von Warenkörben geht, spätestens bei der Bewertung von Käuferzielgruppen, Vermögenswerten nach Alter oder Umsatzwachstum durch Kommunikation in älteren Zielgruppen sollten Manager und Entscheider ihre Schuladen neu sortiert haben. Dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie strategisch kluge Maßnahmen treffen, die wie selbstverständlich ausgerichtet sind auf Erkenntnisse des KfW Research Fokus Volkswirtschaft vom Juni 2016: 

„Der Wandel verändert die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen – auch schon in der kurzen Frist. Denn die voranschreitende Alterung verschiebt Jahr für Jahr die Konsumstruktur“.

Unternehmen, die diese unausweichlichen Trends rechtzeitig erkennen und frei von Vorurteilen bedienen – auch durch Anpassung von Marketing und Kommunikation – sind heute schon Gewinner im demografischen Wandel. Insights in die Geschäftsbeziehungen mit älteren Kunden bietet ein Interview mit Alois Erl, dem Gründer der ERL Immobiliengruppe und einer der heute führenden Anbieter für altersgerechte Wohnformen:

Herr Erl, Sie haben sich vor 30 Jahren spezialisiert auf altersgerechte Wohnformen. Was war Auslöser dafür, dass Sie sich auf Angebote fürs Alter konzentriert haben? Anfang der 90er-Jahre habe ich einen Bericht in der Süddeutschen Zeitung gelesen über Service-Wohnen in den USA. Service bezog sich dabei auf die jüngere Generation, die nicht kochen, waschen, bügeln und die klassische Haushaltführung machen wollen. Wir haben dieses Angebot auf die ältere Generation in Deutschland umgemünzt. Das heißt barrierefreier Wohnraum, ausgestattet mit einem 24-h-Notruf und mit Pflegeleistungen ergänzt. Und das hat geklappt. Von dieser Keimzelle aus hat sich unsere Position im Markt des altersgerechten Wohnens entwickelt. Wie ist die Altersverteilung unter Ihren Kunden? Die Kerngruppe unserer Käufer ist im Schnitt 50 Jahre. Mit 50 Jahren denkt man darüber nach, wie lange man noch arbeiten muss, und plant den Lebensabend. Die Kinder gehen oft ihre eigenen Wege. Es kommen aber auch Paare über

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80 zu uns, die fit sind und die letzten Jahre wohnungstechnisch einfach auf Nummer sicher gehen wollen. Wie würden Sie die Kaufkraft Ihrer Kunden beschreiben? Die Kaufkraft unserer Kunden ist in der Regel hoch. Der Eigenkapitalanteil ist überdurchschnittlich und liegt bei ca. 50 %. Der Rest wird oft durch KfW-Darlehensmittel bedient. Finanzierungsprobleme haben unsere Kunden selten. Es kommt öfter vor, dass sie das Geld für eine oder mehrere Wohnungen bar auf den Tisch legen. Man unterschätzt die Möglichkeiten älterer Menschen allzu schnell, wenn man sie nicht kennt. Was ist Ihren Kunden besonders wichtig bei der Kaufentscheidung? Bei der Kaufentscheidung steht bei unseren Kunden die Eigennutzung im Fokus. Dies wird von den Kunden im Verkaufsgespräch zwar nicht in den Vordergrund gestellt und teilweise dementiert. Nur aus ihrem Verhalten und ihren Fragen kann man erahnen, dass sie eine Absicht der Eigennutzung hegen. Manche tun so, als würden sie für einen Freund kaufen: „Ist ja nicht für uns selbst.“ Der Grund ist ganz einfach: Man schiebt damit den Fall, dass man selber aus dem geliebten Zuhause ausziehen muss, weit von sich. Denn der größte Wunsch aller ist, dass sie so lange wie möglich in ihrem Daheim leben können. Gleichzeitig erkennen immer mehr, dass sie Vorsorge treffen sollten für sich und ihre Familie. Was ist Ihren Kunden besonders wichtig bei der Kaufentscheidung? Wir müssen Nutzen bedienen, die bei unseren Käufern ganz weit oben stehen: • Sicherheit durch ein bevorzugtes Belegungsrecht in allen unseren Anlagen und bei unseren Kooperationspartnern. Das heißt, man kauft eine Einheit an einem bestimmten Ort, könnte aber in über 130 Standorten einziehen – mit Vorrecht vor Nicht-Eigentümern. • Verlässlichkeit dank Erfahrung mit über 30 Jahren mit über 80 Projekten in diesem Segment. Das spüren die Leute, wenn sie die Baustelle oder die fertigen Wohnungen besichtigen. All das, was ihnen wichtig ist an einer altersgerechten Wohnung, haben wir gelernt zu berücksichtigen. Und manchmal schon ein bisschen mehr. • Service: Ein „Rundum-Sorglos-Paket“ mit 25-jährigem Mietvertrag bei den Pflegeimmobilien oder eine kostenlose Erstvermietung für den Kunden und die eigene Hausverwaltung sind für die Kaufentscheidung förderlich. Unsere Kunden wollen, solange sie nicht selber einziehen, keinen Aufwand haben mit ihrer Investition. Wir nehmen ihnen alles ab, wenn sie wollen.

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• Attraktivität: Wir bieten hochwertigen Standard in allen Häusern im KfW 55-Standard. Das Darlehen erleichtert die Finanzierung. Dass der Zuschuss vom Staat kommt, ist ein Zeichen für Vertrauenswürdigkeit. Welche Folgen hatte die Entscheidung Ihres Unternehmens, sich auf dieses Segment zu spezialisieren? Im Nachhinein war diese Entscheidung die richtige für unser Unternehmen. Am Anfang hatten wir auch unsere Probleme z. B. beim Betreuten oder Service-Wohnen. Dies kannte Anfang der 90er-Jahre kaum jemand. Die Akzeptanz im Markt hat eine Zeit gedauert. Dafür sind wir aufgrund unserer Beharrlichkeit nun aber Marktführer in diesem Segment. Beim Pflegeheimbau war es ähnlich. Zu den Anfangszeiten, als wir die ersten Heime bauten, gab es noch eine staatliche Förderung für den Bau einer Pflegeeinrichtung und die Pflegeheimbetreiber bauten zu dieser Zeit in der Regel noch selbst. Das Mietmodell, das unsere Firma damals schon anbot, kannten nur wenige. Heute ist das anders. Die Betreiber haben erkannt, dass sie sich auf die Pflege konzentrieren müssen und nicht auf das Bauen und Unterhalten von Gebäuden. Die verschiedenen Heimgesetze in den einzelnen Bundesländern machen den ganzen Planungs- und Bauvorgang noch komplizierter. Ebenso der Mangel an Pflegepersonal, wobei hier unter anderem die schlechten Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte ihren Teil beitragen. Kurzum: Spezialisierung hilft, sich gut auszukennen – und umgekehrt. Das ist hilfreich für Wachstum und Erfolg. Die Zielgruppe 50plus stellt mittlerweile fast die Hälfte der Bevölkerung, aber viele Anbieter vernachlässigen dieses Segment. Was würden Sie diesen Anbietern mit auf den Weg geben? Dank Daten und gesundem Menschenverstand weiß man heute, wie alt die eigenen Kunden sind. Wer sie vernachlässigt, nur weil sie alt sind, ist selbst schuld. Wer diesen kaufkräftigen Markt 50plus nicht beachtet, wird die nächsten 25 Jahre nicht zu den Gewinnern gehören können. Eine Herausforderung für jeden Entscheider 2019 läuft auf die Frage hinaus, wie er sein Unternehmen auf den demografischen Wandel vorbereitet. Sie lesen, nicht wie Alois Erl in der Süddeutschen Zeitung, sondern in diesem Buch von den anstehenden Veränderungen und den damit verbundenen Chancen. Wie reagieren Sie dann? Bauen Sie ein neues Geschäftsmodell? Ändern Sie Marketing-Konzepte? Oder lassen Sie das Land einfach weiter altern und wegdriften?

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2.3.4 Die Digital-Schublade Anders als Alter ist Digitalisierung ein Thema, das sich viele gerne ans Revers heften. Es ist eine Schublade, die oft auf und zu geht und in der viel gewühlt wird. Aber richtig gehende Ordnung herrscht darin nicht. Den wenigsten fallen Begriffe wie Klarheit und Struktur ein, wenn sie sich mit diesem Thema auseinandersetzen müssen. Ohne dabei gewesen zu sein, kann man sich gut vorstellen, dass es beim Goldrausch ähnlich turbulent zuging wie heute im digitalen Wandel. Die Digitalisierung kam schnell und hart über unsere Gesellschaft. Angetrieben von GAFA – Google, Apple, Facebook und Amazon – wurde unsere Kommunikationskultur überrollt. Die Pioniere der Digitalisierung entwickelten eine eigene Sprache und einen eigenen Dresscode. Die digitalen Endgeräte sind die neuen Statussymbole. Das neueste iPhone ist heute das, was früher das beste Pferd im Stall war. Es sorgt für Respekt und Anerkennung. Webseiten und SocialMedia-Aktivitäten sind die digitalen Wahrzeichen von Unternehmen. Das Internet ist der neue Taktgeber für Kommunikation. Das Netz bestimmt Tempo und Agenda. Ehe sich die Fürsten der alten Zeiten, wie Verleger und TV-Mogule, versahen, waren die Leser und Seher zu Usern mutiert. Ohne mit der Wimper zu zucken bestellten immer mehr Leser ihre Abos für Zeitungen und Zeitschriften ab. Jugendliche wandten sich ab von TV und Radio. Das Internet hat alle Generationen und Schichten erobert. Erst ab einem Alter von Mitte 70 wird die Internet-Nutzung dünner. Aber mit jedem neuen Tag steigt der Anteil der Onliner auch in diesen sehr alten Segmenten. Die Online-Nutzung wächst naturgemäß. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich eine völlig neue Welt der Kommunikation in einer Geschwindigkeit, die die meisten überfordert. Während Hardware, Infrastruktur und Anwendungen laufend neue und bessere Versionen bieten, befinden sich die meisten User noch in den Kinderschuhen. Sie tapern durch die digitale Landschaft und freuen sich über die neuen Möglichkeiten. Sie unterschätzen die Risiken und wissen noch nicht, wem sie im neuen Zeitalter vertrauen können. In Zeiten des Aufbruchs zählt es oft mehr, einer der Ersten zu sein. In der einsetzenden Massenbewegung wird nicht so sehr darauf geachtet, wer die besten Botschaften vermittelt. Durchsetzen können sich meist die, die am lautesten rufen oder die meisten Anhänger haben. Es schlägt die Stunde der Blender – vergleichbar mit den Quacksalbern des Wilden Westens. So klagt das manager magazin in der Februar-Ausgabe 2018 die „Rattenfänger von Digitalien“ an. Selbsternannte Gurus schwingen sich auf, einem noch unwissenderen Massenpublikum das

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­ hänomen der Digitalisierung und seine Auswirkungen zu erklären. Dass sie sich P dabei mehr auf Meinung als auf substanzielles Wissen stützen, bleibt unbehelligt. In einer Horde Maulesel ist auch ein mittelmäßiges Pferd ein Champion. Wer will schon Medienexperten widersprechen, die gerade durch das Silicon Valley tourten? Wer legt sich mit Philosophen an, die ein Ende der Lohnarbeit in Aussicht stellen – dank Digitalisierung? Wer will es sich schon verscherzen mit digitalen Vorreitern, die in Start-ups investiert sind und schon als Podiumsgäste zur Zukunft von Facebook geladen waren? Wer will schon öffentlich zugeben, dass er mit den Einstellungen seines Smartphones schnell an digitale Grenzen stößt? Neues Hintergrundbild geht schon problemlos, aber wie bitte aktiviere ich meinen Hotspot? 

Kanzlerin Angela Merkel hatte 2013 den Mut, auszusprechen, was viele bewegte: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Die Reaktion der selbsternannten Internet-Avantgarde war harsch. Die Mehrheit der Bürger jedoch fühlte sich verstanden.

Auf digitalen Symposien herrscht Goldgräberstimmung. Die DLD-Konferenz ist der Opernball der Digitalen. Frühe Dotcom-Milliardäre schildern, wie sie fast mühelos, nur ihrer digitalen Eingebung folgend, auf die natürliche Goldader gestoßen waren und mit den Erträgen anfingen, die Welt zu verändern. „How to fix the future in 15 min“ – so oder so ähnlich lauten die neuen Minimalziele in der Grenzenlosigkeit der digitalen Neuzeit. Als ambitioniert gilt erst, wer neue Planeten erobern will – wie Tesla-Chef Elon Musk – oder wer intelligente künstliche Intelligenz kreiert. Wilder digitaler Westen Unseren privaten Alltag organisieren wir längst mit Smartphones und Apps. Wir hantieren mit Google Maps, als hätte es nie Landkarten gegeben. WhatsApp ist unsere Dauerstandleitung zu Kindern, Freunden und Kollegen. Immer wieder aufflammende Diskussionen, Bedenken und Warnungen zu Reizworten wie Datenschutz, gläserner Bürger oder der Übermacht der US-Konzerne können uns nicht bremsen auf unserem digitalen Trip. Die Mehrheit scheint sich längst dem Rausch von Amazon Prime, Netflix, Tripadvisor oder Spotify ergeben zu haben. Ende Mai 2018 trat die neue Datenschutz-Grundverordnung, die EU-DSGVO, in Kraft. Sie stieß in ein gewaltiges Regulierungsvakuum. Verbindliche, länderübergreifende Datenschutzgesetze gab es davor kaum oder sie konnten nicht durchgesetzt werden gegenüber den US-Riesen der GAFA. Es war, als ob auf den Straßen längst dichter Verkehr herrschte und es keine Verkehrsregeln gäbe.

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Die DSGVO stieß auch in ein Verantwortungsvakuum. Bürger, Unternehmen und Staat gerierten sich bei der Internetnutzung wie im Wild-West-Modus. Sorgund rücksichtslos war mit Daten hantiert worden. Plötzlich sollte ein großes, ausgefeiltes Gesetz von heute auf morgen Ordnung in die Landschaft bringen. Die DSGVO sollte endlich Bewusstsein für den Schutz der Daten schärfen. Aber die Predigt fand ein desillusioniertes Publikum vor, das den Glauben an Datenschutz nie entdeckt hatte. In der Vergangenheit erkundeten wir die digitale Landschaft stets mit der Gefahr im Nacken, dass neben uns der Blitz einschlägt, wir auf eine Mine treten oder der nächste Sicherungskasten explodiert. Die überwiegende Mehrheit hat bis heute keinerlei Ahnung, was passiert, während sie digitale Endgeräte und Services nutzen. Manche skizzieren die Verschwörung einer drohenden Automatisierung unserer menschlichen Gemeinschaft durch bald allmächtige Maschinen. Man hört immer wieder mal von schlimmen Fällen gehackter Accounts oder von Online-Betrügereien. So verpassen klassische Medien der Digitalisierung gerne ein kaltherziges Glitzer-Image. Sie vermitteln ein schales Gefühl der Abhängigkeit von einer rauschhaften und unkalkulierbaren Entwicklung. Wahlmanipulation, Hackerangriffe, Datenlecks oder Wettskandale sind Ereignisse, die für Unbehagen sorgen. Medien schüren Angst und Panik. Traditionelle Journalisten tragen gerne intellektuelle Betroffenheit vor sich her wie Alexander Bommes in der Talkrunde Bommes & Tiedjen vom 11. Mai 2018: „Die Digitalisierung verkennt in hohen Maßen, dass das Leben doch eigentlich Begegnung ist.“ Das klingt eher nach Kirchentag als nach Digital-Expertise. Gerade in Redaktionsstuben der alten Medien ist Ablehnung gegenüber dem digitalen Wandel zu spüren. Es ist so, als ob sie nur darauf warteten, dass in der für sie neuen und unbekannten Welt ein Unfall passiert, um dann in Lamento und Anklage einzustimmen. So entlud sich die mediale Entrüstung über den Datenmissbrauch von Cambridge Analytica im März 2018 nicht auf die eigentlichen Übeltäter, sondern auf Facebook. Die User hängen weiterhin unbeeindruckt am Endgerät, posten ihre Urlaubsbilder auf Facebook und bestellen Wein über Amazon Prime. Entscheider in Unternehmen wirken angesichts dieser digitalen Chaos-Landschaft oft überfordert und orientierungslos. Weil sie Auswirkungen nicht einschätzen können und Angst haben vor Fehlinvestitionen, schieben sie digitale Projekte auf die lange Bank. Unumgängliche Anpassungen wie die Umsetzung der DSGVO erledigten vielen hektisch in letzter Sekunde oder lagerten sie aus an externe Berater. Viele Unternehmer lassen den digitalen Wandel auf sich zurollen wie ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang: „Schauen wir mal, was dabei rauskommt.“

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Sie unterbewerten Chancen und überbewerten Risiken – allen voran das Risiko des Scheiterns. Die Bilanz des laufenden Jahres ist wichtiger als das langfristige Abschneiden im digitalen Wandel. Aber Digitalisierung ist keine Sache des ­kurzfristigen Denkens. Digitalisierung erfordert Weitsicht, Entschlossenheit und ­Ausdauer. Ein wichtiger erster Schritt wäre, Akzeptanz und Normalität aufzubauen im Umgang mit dem Megatrend „Digitalisierung“ – und ihm das Image einer exotischen Bedrohung zu nehmen. Wenn Sie sich schwer damit tun, dann ersetzen Sie das Wort Digitalisierung in Ihrem Unternehmensalltag durch den Begriff eines etablierten, allseits anerkannten Bereiches wie „Buchhaltung“. Das fördert eine Normalisierung der Beziehungen.

Digitalisierung ist wie Buchhaltung

• Buchhaltung ist selbstverständlich. Keiner stellt sie in Frage. • Buchhaltung funktioniert still und leise und erfasst alle Teile des Unternehmens. • Kein Entscheider macht die Buchhaltung selber, sondern wartet geduldig auf die Auswertung. • Keiner muss Buchhaltung im Detail verstehen, sondern nur die Ergebnisse interpretieren. • Spezialisten sind mit Buchhaltung beauftragt und sorgen dafür, dass alles fehlerfrei klappt. • Buchhaltung stiftet mehr Nutzen, als sie Kosten verursacht.

Diesen Status einer zweifelsfreien Selbstverständlichkeit muss die Digitalisierung in ihrem Unternehmen erreichen. Als Entscheider müssen Sie Ihre Rolle und Beziehung zu diesem Thema regeln und ein für Mitarbeiter sichtbares Bekenntnis abgeben, indem sie Zeit, Energie und Geld bereitstellen für die damit verbundenen Maßnahmen. Investitionen in Digitalisierung kosten nicht nur Geld, sondern auch Überwindung. Haben wir doch über Jahre gelernt, dass im Internet eigentlich alles kostenlos ist. So kommt folgende Aussage eines Unternehmers nicht überraschend: „Alles, was recht ist: Aber unser Geschäftspartner hat jetzt extra einen Mitarbeiter für diese Digitalisierung einstellen müssen. Wie soll sich denn das rechnen?“. Nein, Sie müssen nicht alles verstehen oder selber machen, was im Zuge der Digitalisierung neu sein wird in Ihrem Unternehmen. Sie müssen nur dafür sorgen, dass „Digitalisierung passiert“. So wenig wie sie die Fahrtenbücher der

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2  Wandel wagen

Firmenwägen lesen, genauso wenig müssen sie die Datenschutzverordnung durcharbeiten – oder gar verstehen. Aber alle Mitarbeiter und Kollegen dürfen erwarten, dass Sie die Chancen und Risiken der Digitalisierung für Ihr Unternehmen identifizieren. Sie persönlich sind aufgefordert, eine Neuausrichtung in Marketing und Kommunikation voranzutreiben. Sie stehen als Entscheider und Unternehmer in der Verantwortung, den digitalen Wandel zu managen. Dieser Verantwortung können Sie sich nicht entziehen.

2.4 Pflegen Sie Ihren Ruf Wenn Sie in Marketing und Kommunikation arbeiten, können Sie zu 100 % sicher sein, dass die Megatrends Digitalisierung und demografischer Wandel relevant für Ihre beruflichen Aufgaben sind. Sie können auch sicher sein, dass Sie nicht der Einzige sind, der diese anstehenden, dringlichen Aufgaben sieht. Das Arbeitspaket liegt sozusagen mitten auf dem Tisch. Ihre Kollegen und Mitarbeiter warten gespannt und ungeduldig, wann Sie als Entscheider diese Herausforderungen endlich entschlossen angehen. Dieses Warten kann sich schon mal in die Länge ziehen. Ein Grund für Zögerlichkeit ist das Durchschnittsalter der obersten Führungskräfte in Deutschland. Das liegt für CEOs bei 56 Jahren und für Geschäftsführer bei 51 Jahren. Das sind genau die Jahrgänge, die oft wenig Affinität zur Digitalisierung zeigen und gleichzeitig große Angst haben, sich eine Blöße zu geben auf einem wichtigen Zukunftsfeld – und damit selbst nicht mehr zukunftsfähig zu sein. Sie berufen sich lieber auf Erfahrung und wagen nur selten Veränderung. In ihrer Karriere wurden sie kaum trainiert auf Entscheidungen unter Unsicherheit. „Dafür sind die aktuellen Strukturen unserer Wirtschaft überhaupt nicht ausgelegt“ (Tobias Kollmann, manager magazin Oktober 2018). So geht das Gros der Manager mit Megatrends um wie mit dem Wetter: Sie wollen die Auswirkungen der drohenden Veränderungen aussitzen, weil sie diese eh nicht vermeiden können. Für radikale Kurswechsel, aktive Veränderung der Geschäftsmodelle oder konsequente Hinwendung zu neuen Zielgruppen und Medien sind sie selten zu gewinnen. Anstatt dessen versucht man sich durchzulavieren und zieht Vorwände heran, um die eigene Zurückhaltung zu begründen. Beispiel: Manager verpassen Megatrends

Ein früherer CEO eines großen deutschen Medienhauses berief sich jahrelang darauf, dass vom großen Mutterkonzern nicht ausreichend Geld für Investitionen in digitale Projekte zur Verfügung gestellt werde. Mit dieser

2.4  Pflegen Sie Ihren Ruf

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Haltung hat er digitale Innovationen gedrosselt und das Unternehmen fast in den Untergang manövriert. Die Nachwirkungen seiner Versäumnisse sind bis heute zu spüren. Den Rückstand im digitalen Wandel wird das einst führende Medienhaus nicht mehr aufholen. Solche Ausflüchte können sich Top-Entscheider nur dank ihrer Macht und nur für bestimmte Zeit erlauben. Sie hoffen, dass es keiner merkt. Das ist so, als würde man auf dicht befahrenen Straßen jemandem die Vorfahrt nehmen, ihn zur Vollbremsung zwingen – und hoffen, dass es keinem auffällt, nur weil man selber wegschaut und schnell von dannen fährt. Aber es ist genau anders herum: Alle anderen spüren und sehen Ihr Fehlverhalten. Auch Zögerlichkeit und Planlosigkeit treten schnell zu Tage. Entscheidungsschwäche und Ignoranz werden umso offenbarer, je offensichtlicher Relevanz und Dringlichkeit einer Veränderung werden. Auch wenn Mitarbeiter nur selten offen darüber sprechen, greifen bald Kritik und Widerstand um sich. Unmut in Mitarbeitergesprächen oder Erklärungsnöte in Meetings sind erste Indizien. Spätestens wenn „die Zahlen“ nicht mehr stimmen, kippt die Stimmung gegen Sie. Dieser Prozess kann lange dauern. Geschickte Geschichtenerzähler glauben, ihr Publikum lange hinhalten zu können, und überhören die Misstöne in den Reihen. In der Zwischenzeit verlieren Sie Schritt für Schritt Ihren Ruf als Entscheider und irgendwann die Rückendeckung des gesamten Unternehmens. Wenn der Pförtner Sie mit einem Zwischenton des Bedauerns und hochgezogener Augenbraue grüßt, ist es zu spät. Folgendes habe ich 2018 über Entscheidungsträger einer deutschen Tageszeitung gehört: „Die kommen jeden Tag in ihrem Dreiteiler in ihr gediegenes Büro. Wenn die gedruckte Zeitung auf dem Tisch liegt, ist für sie die Welt in Ordnung. Den digitalen Wandel des Medienhauses schieben sie auf die lange Bank. Erst wenn der Henker sie zum Schafott führt und das Beil niedersaust, dann schauen sie nach oben und erkennen: Oh, da wäre was zu erledigen gewesen. Zu spät!“. Wollen Sie, dass man später mal so über Sie spricht? Wandel braucht Führung Die attraktive Alternative ist, heiße Eisen und brennende Themen anzufassen, zu analysieren und deren Bearbeitung zu organisieren und zu delegieren. Das wird für Schmerzen sorgen. Aber da die meisten Mitarbeiter – mindestens intuitiv oder unter Protest – nachvollziehen, dass die Richtung stimmt, werden sie mit anpacken. Ihre Führungsaufgabe ist es, den Startschuss zu geben für Ihre Kollegen, die schon lange darauf warten, dass es endlich losgeht – dass sich endlich etwas ändert.

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2  Wandel wagen

Es gibt keine Garantie dafür, dass Sie auf dem Weg des Wandels immer richtig liegen. Aber es gibt eine Garantie dafür, dass Sie in einer Sackgasse landen, wenn Sie den Weg des Wandels nicht beschreiten.

Im Vergleich zu dem, was Sie schon seit Jahren machen, werden Sie mit Ihrem Unternehmen im Wandel immer wieder unbekanntes Terrain betreten. Sie verlassen die Pfade mit etablierten Abteilungen und eingeübten Prozessen. Sie werden wieder lernen müssen, Umwege zu machen, zu stolpern und wieder aufzustehen. Fähigkeiten, die Sie lange nicht mehr gebraucht haben, werden zum Rüstzeug im Wandel. Ihr Unternehmen wird neue Ansichten und Arbeitsweisen kennen lernen. Ausbildung und Mentalität der Mitarbeiter werden sich verändern. Sie dürfen Ihre Führungsrolle in dieser spannenden Zeit im wahrsten Sinne des Wortes vorleben, indem Sie voranschreiten, Mut machen, ankurbeln, für Mittel kämpfen. Und nicht dem Mutterkonzern oder sonstigen Dritten den schwarzen Peter zuzuspielen für eigene Mut- und Planlosigkeit. Es ist ein Ruf nach Leadership-Qualität. Im Wandel ist diese Qualität wichtiger als Diplomatie für mehrheitsfähig geschliffene Management-Entscheidungen. Wer im Wandel die Führung in die Hand nimmt, dem sind Anerkennung für Entschlossenheit und Konsequenz sicher. Fehler werden in Zeiten des Aufbruchs nicht nur verziehen, sondern es wird sogar Toleranz für den nächsten Fehler zugesprochen. Denn am Ende könnte sich Erfolg einstellen. Die Chancen stehen gut. Wenn das manchen Ohren zu pathetisch und abenteuerlich klingt, dann vielleicht nur, weil der Status Quo in vielen Unternehmen so unspannend und eingefahren ist.

2.5 Der Wert des Status Quo Wie kann es sein, dass…? Wie kann es sein, dass Deutschland gegen Lettland nur 0–0 spielt? Millionen von Fußballfans erlebten bei der Europameisterschaft 2004 in Portugal, wie die deutsche Fußballnationalmannschaft frühzeitig sang- und klanglos ausschied. Das war (bis dahin) der Tiefpunkt einer über Jahre hinweg miserablen Entwicklung des deutschen Fußballs. Fans, Zuschauer, Experten und sogar Journalisten hatten die Notwendigkeit für eine grundlegende Veränderung längst erkannt und gefordert. Allein die Verantwortlichen schienen diese zu verweigern – bis die EM 2004 das Fass zum Überlaufen brachte. Jürgen Klinsmann und sein Team mit dem späteren Bundestrainer Joachim Löw und Manager Oliver Bierhoff übernahmen nicht nur Posten, sondern vollzogen einen radikalen

2.5  Der Wert des Status Quo

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Wandel im ­deutschen Fußball. Aus einem belächelten Underdog formten sie „Die ­Mannschaft“, die weltweit zum Vorbild für modernen Fußball und 2014 als erste europäische Mannschaft in Südamerika Weltmeister wurde. Es muss ja nicht immer eine Mission Impossible sein, wie den Lieblingssport der Deutschen von Grund auf neu aufzustellen; unter ständiger Beobachtung durch 80 Mio. Bundestrainer und Rund-um-die-Uhr-Berichterstattung in der gesamten Medienlandschaft. Auch auf kleinerer Skala gibt es Situationen, wo das Fass schon seit geraumer Zeit überläuft und die nach Veränderung schreien. Rufe und Forderungen werden immer lauter und erreichen die Verantwortlichen. Das Lamento entlädt sich in Floskeln wie „Es kann nicht sein, dass…“ Und immer wieder stellen wir fest: „Es kann doch sein.“ Dinge ändern sich erst, wenn die Personen, die Dinge ändern können, Motivation und Anlass für eine Veränderung sehen. Es bringt nichts außer Frust, wenn die Passagiere in einem voll besetzten Zug meinen, dass der Zug schneller fahren müsse. Entscheidend ist, dass der Zugführer zu dieser Auffassung kommt. „Erst wenn die Kosten des Status Quo den Gewinn übersteigen, wird die Veränderungsmotivation immer größer“ (Lempart 2016). Die Bewertung von Kosten und Gewinn treffen die Entscheider. Nur wenn sie zu dem Ergebnis kommen, dass Veränderung werthaltiger ist als das Festklammern am Status Quo, kommt Bewegung in die Sache. Das wirft die Frage auf, nach welchen Kriterien Entscheider in Marketing und Kommunikation ihre Veränderungsbereitschaft zumindest im Unterbewusstsein bewerten. Entscheidungskriterien • Arbeit, Aufwand, Zeit und Geld: Wandel und Veränderung sind anstrengend. Sie fordern Vorbereitungsarbeiten wie Analysen, um die Notwendigkeit und mögliche Wege des Wandels aufzuzeigen. Sie fordern Überzeugungsarbeit nach oben und unten, mit dem Ziel eine schlagkräftige Mehrheit aus Führungskräften und Mitarbeitern zum Aufbruch zu bewegen. Sie fordern Umsetzungsarbeit, um all die Veränderungen auf den Weg zu bringen und die neuen Ziele zu erreichen. Allein der Gedanke an diesen Berg von Arbeit schreckt die meisten ab. Zumal Veränderungsarbeit von Haus aus als anstrengender empfunden wird als das Abarbeiten gewohnter Aufgaben. Veränderung fühlt sich mitunter an wie eine Dschungelexpedition, auf der man sich mit Macheten den Weg freischlagen muss. Im Vergleich dazu ist tägliche Routine wie eine gut beschilderte Wanderung auf ausgetretenen Pfaden. • Soziales Risiko: Angenommen, man käme über Lektüre, Beobachtungen und Erfahrungen für sich selbst zur Erkenntnis, dass das eigene Unternehmen sich erheblich verändern müsste, um in Zeiten des Wandels wettbewerbs-

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2  Wandel wagen

fähig zu blieben. Dann stünde man vor der Herausforderung, das Thema öffentlich zu machen und auf die Agenda zu setzen. Konkret bedeutet das in Managementrunden, dass gewohnte Denkmuster plötzlich in Frage gestellt würden, ebenso wie Unternehmensziele und Businesspläne. Schnell würde den weiteren Beteiligten klar, dass das auch für ihre Abteilungen und ihre Positionen Veränderungen bedeuten würde. Machtverlust oder ein Zwang zur Neuorientierung drohen am Horizont. Die Chance, dass sich eine Mehrheit der Managementrunde erhebt für Standig Ovations, ist äußerst gering. Viel wahrscheinlicher ist, dass rollende Augen oder empörte Blicke die Agenda zerpflücken und das Projekt „Veränderung“ von Anfang an zu ersticken versuchen. Alles in allem Reaktionen, die man sich lieber ersparen will. In solchen Situationen fühlt sich der Status Quo richtig wertvoll und gemütlich an. • Wirtschaftliches Risiko: Angenommen, man würde Aufwand und Arbeit nicht scheuen und hätte eine Mehrheit des Managements überzeugen können für die eigenen Gedanken. Dann stünde trotzdem ein Investitionsrisiko im Raum. Wenn ein Unternehmen neue Zielgruppen anvisiert, Marketingset und Mediamix anpasst, Strategien und Prozesse reorganisiert, kostet das mit 100 %iger Sicherheit Zeit und Geld. Im Gegenzug gibt es aber keine 100 %ige Garantie für den Erfolg. Die Differenz beziffert das wirtschaftliche Risiko. Wenn der gewünschte Erfolg sich nicht sofort einstellt, sind Gegner des Wandels schnell zur Stelle mit Vorwürfen wie Verschwendung oder Fehlentscheidung: „Wie konnte man nur…?“ Das geht so weit, dass Verantwortliche konkrete Angst spüren um den Verlust ihrer Position oder sogar ihres Arbeitsplatzes. Um diesem Risiko zu trotzen, braucht man eine ordentliche Portion Selbstvertrauen und Überzeugungskraft. Vielleicht sogar die Waghalsigkeit einer Pippi Langstrumpf, die sagt: „Das haben wir noch nie probiert. Also geht es sicher gut.“ Viele Entscheider ergeben sich lieber dem Zeitgeist einer gesättigten Gesellschaft und zeigen wenig Mut oder Risikobereitschaft. • Das System: Angenommen, alle internen Hürden seien genommen und es gäbe ein klares Bekenntnis der Entscheider, Zeit, Geld, Entschlossenheit und Rückendeckung für den Wandel aufzubringen. Dann bleibt die nächste Herkulesaufgabe, das startbereite Raumschiff für den Aufbruch in eine neue Welt auf die Rampe zu schieben, Seilschaften zu kappen, alte Verbindungen aufzulösen und Abschied zu nehmen von schönen Zeiten mit vertrauten Personen in gewohnter Umgebung. Und zwar nicht nur von ein paar ausgewählten Wegbegleitern, die man eh schon lange satt hat – sondern vom gesamten alten System. So wie in der früheren DDR nach der Wende alles – von Arbeitsamt bis Zulassungsstelle – neu ausgerichtet wurde, auch wenn ein paar Errungenschaften des Sozialismus erhaltenswert gewesen wären. Mit der Macht des

2.5  Der Wert des Status Quo

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Systems bäumt sich der Status Quo ein letztes Mal auf. Der Moment der Wahrheit wird oft so eingeleitet: „Jetzt, da wir sehen, was die geplanten Veränderungen sonst noch alles nach sich ziehen würden…“ Entscheidend ist die Schlussfolgerung. Die einen bekennen sich zum Wandel: „…, gehen wir es trotzdem oder erst recht an“. Die anderen fallen, fast im Aufbruch begriffen, zurück in den Status Quo und beenden den Satz: „…, lassen wir es lieber bleiben und warten, bis alle so weit sind.“ Die Zeit bis zum nächsten Anlauf – der sicher kommen wird – ist für immer verloren. Der zu späte Moment der Erkenntnis verpufft wirkungslos: „Hätten wir doch früher schon…“ 

Um einen Veränderungsprozess anstoßen zu können, muss der Wert des Wandels über alle Entscheidungskriterien höher eingestuft werden als der Wert des Status Quo.

Atmosphärisch begleitet werden alle Entscheidungen in unserem Land von der international bekannten „German Angst“ – einem Phänomen unserer auf Sicherheit bedachten Gesellschaft. Die immer wieder in Studien nachgewiesene deutsche Zögerlichkeit wirkt auch im Wandel: Kosten des Wandels werden tendenziell überbewertet. Steffy Cerny, die Gründerin der DLD Conference Digital-Life-Design – des Gipfeltreffens der digitalen Meinungsführer – bestätigte dies kürzlich in einem Interview mit der FAZ mit den Worten: „Bislang herrscht in Deutschland vor allem Angst, Sorge, Betrübnis. Das müssen wir überwinden, denn mit einer solchen Haltung wird es schwer, den Wandel positiv mitzugestalten. Wir müssen die Gesellschaft mobilisieren, einen kritischen Optimismus an den Tag zu legen. Dafür braucht es Mut und Neugier, um aus alten Denkmustern auszubrechen“ (faz.net 17.01.2019). Steffy Cernys Interview in der FAZ bringt – stellvertretend für die digitale Führungselite – zum Ausdruck, dass Wandel auch im Januar 2019 noch lange nicht zur Routine geworden ist. Risiken werden überbewertet, Chancen und Nutzen regelmäßig zu niedrig eingeschätzt. Abb. 2.3 veranschaulicht die daraus resultierenden Effekte: Die Schere, die alte Zöpfe durchschneiden müsste, wird gespreizt. Das macht die Entscheidung für Veränderung schwerer. Weniger Angst und mehr Mut und Entschlossenheit könnten die Schere schließen, sind aber bei vielen Entscheidern zu zaghaft ausgeprägt. Rein rechnerisch betrachtet müssten alle Entscheidungskriterien so bewertet werden, dass in der Summe ein deutlicher Ausschlag pro Wandel erfolgt. Tab. 2.2a zeigt: Wenn man den Eintritt der oben genannten Bedingung mit ­Wahrscheinlichkeiten belegt, wird anhand von Zahlen greifbar, wie gering die

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2  Wandel wagen

Abb. 2.3   Zwei Kräfte wirken auf die Schere gegen alten Zöpfe

Chance ist, wirkliche Verfechter des Wandels zu finden in der großen Menge der Manager. Folgende, eher optimistische Bewertung von Eintrittswahrscheinlichkeiten sei zugrunde gelegt (Tab. 2.2a). • Bedingung 1: Entscheider nimmt großen Arbeitsaufwand in Kauf: 75 % Wahrscheinlichkeit • Bedingung 2: Entscheider ist unentschieden bezüglich des wirtschaftlichen Risikos: 50 % • Bedingung 3: Entscheider ist unentschieden bezüglich des sozialen Risikos: 50 % • Bedingung 4: Entscheider trifft Entscheidungen unabhängig: 50 %. Nun passen Sie die Wahrscheinlichkeiten in folgendes Rechenschema ein. So erhalten Sie eine Vorstellung davon, wie viele Entscheider die Bereitschaft aufbringen, die Herausforderungen des Wandels anzunehmen. Die gleiche Rechnung mit etwas niedrigeren Eintrittswahrscheinlichkeiten führt schnell in die niedrige einstellige Dimension, auf die Fourier den Anteil der Unternehmen taxiert, die den Wandel souverän meistern (Fourier 2011) – wie die veränderten Wahrscheinlichkeiten auf jeder Stufe von Tab. 2.2b zeigen.

2.5  Der Wert des Status Quo

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Tab. 2.2a   Wahrscheinlichkeit für Wandel Arbeitsaufwand

Wirtschaftliches Soziales Risiko Risiko

Mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 % scheuen deutsche Entscheider in Marketing und Kommunikation den für Wandel nötigen Arbeitsaufwand

Mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % scheuen deutsche Entscheider in Marketing und Kommunikation das mit Wandel verbundene wirtschaftliche Risiko

Mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % scheuen deutsche Entscheider in Marketing und Kommunikation das mit Wandel verbundene soziale Risiko

Unabhängigkeit Wahrscheinlichkeit für Wandel Mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % lehnen deutsche Entscheider in Marketing und Kommunikation wegen zu großer Abhängigkeit vom System Wandel ab

75 % pro Wandel 50 % pro Wandel 50 % pro Wandel 50 % pro Wandel (75 % × 50  %  × 50  % × 50  % ) = 9  % Tab. 2.2b   Höhere Wahrscheinlichkeit für Wandel Arbeitsauf- Wirtschaftliches Soziales wand Risiko Risiko 50 % pro Wandel

Unabhängigkeit Wahrscheinlichkeit für Wandel

30 % pro Wandel 30 % pro 30 % pro Wandel Wandel

(0,5 × 0,3 × 0,3 × 0,3) = 1,4  %

Führen Sie diese Bewertung für sich selbst und Ihre Arbeitsumgebung durch. Egal, welchen Wert Sie erhalten: Versuchen Sie danach zu überlegen, welche konkreten Einflüsse und Maßnahmen „Ihre“ Wahrscheinlichkeit für Wandel erhöhen könnte. Grundsätzlich bieten sich zwei Stoßrichtungen an: Einerseits könnten man den rückwärtsgewandten Versuchungen des Status Quo den Wind aus den Segeln nehmen und vermeintliche Hürden aus dem Weg räumen – wie Bedenken, Ängste oder Gewohnheiten. Andererseits könnte man die Vorteile des Wandels greifbarer und erlebbarer gestalten und so eine Sehnsucht nach Aufbruch und Veränderungen entfachen. Frei nach Antoine de Saint Exupéry: „Wenn du ein Unternehmen umbauen willst, dann rufe nicht die Belegschaft zusammen, um Geld zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Mitarbeiter die Sehnsucht nach erfolgreichen Perspektiven in neuen Märkten“.

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2  Wandel wagen

Genau mit dieser Aufgabe sind die meisten Manager überfordert. Kosten sparen, Budgets jonglieren, Abteilungen umstrukturieren oder Prozesse verändern: Derlei Sachaufgaben sind beliebt, weil sie messbar und griffig umsetzbar sind. Und zur Not kann man sie gut delegieren – zum Beispiel an Unternehmensberatungen. Berater haben dieses Ventil schnell als Geschäftschance entdeckt und die Angebotsform des „Change Managements“ erfunden: Begleitung von Unternehmen im Wandel. Im Kern geht es darum, den Wert des Status Quo zurecht zu stutzen, Hürden aus dem Weg zu räumen und die Nutzen-Bilanz zugunsten des Wandels zu gestalten.

Wunsch nach Wandel

Mitarbeiter für Veränderung zu motivieren, ist – heute mehr denn je – eine Führungsaufgabe. Es geht also weniger um die Erledigung von Sach- und Fachaufgaben wie Umstrukturierungen, sondern um handfeste weiche Themen, die nicht unmittelbar mit KPIs zu bewerten sind. Das macht sie so unbeliebt bei vielen Entscheidern, die Zahlen, Beweise und Garantien bevorzugen. Gleichzeitig werden sie zu einem großen Trumpf für diejenigen, die mit diesen Herausforderungen zurechtkommen und – damit erst recht – messbare Erfolge erzielen: • Verständnis fördern: Zeitliche und sachliche Notwendigkeit des Wandels schildern • Betroffenheit erzeugen: Auswirkungen auf Unternehmen und dessen Umgebung offenlegen • Identifikation schaffen: Ziele formulieren und herunterbrechen auf jeden Einzelnen • Sicherheit kreieren: Mittel, Zeit, Rückendeckung, Entscheidungsbefugnis bereitstellen • Aufbruchstimmung ankurbeln: Begeisterung schüren und Erfolge feiern • Gegenwind zulassen: Kritiker einbeziehen und Verlierern Ausgleich versprechen • Teamgeist stärken: Mit Kommunikation den Wandel als Gemeinschaftsleistung erlebbar machen All das sind Faktoren, die Wandel fördern, in Gang setzen, nachhalten und zum Erfolg führen. Es sind klassische Führungsaufgaben, die gefragt sind, weil die alten Methoden nicht mehr greifen.

2.6  Wem sind Sie verpflichtet?

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Es reicht also nicht, Mut, Bereitschaft und Willen für den Wandel aufzubringen. Entscheider, die bereit wären, den Wandel voranzutreiben, müssen alle diese Disziplinen beherrschen: Den modernen Siebenkampf des Wandels. Es braucht wenig Fantasie zu sehen, dass das Potenzial der willigen und gleichzeitig fähigen Manager sehr klein wird. Genau das ist die Realität, in der sich die deutsche Entscheiderlandschaft befindet. Es gibt viel zu tun. Bloß wer soll es wie anpacken? Und was wäre die Belohnung? Wenn die Antworten auf diese Fragen nicht geklärt sind, gehen selbst bei offensichtlich brennenden Themen schnell wieder die Lichter aus. Beispiel: kurzfristiges Denken

Vertreter deutscher Großunternehmen wie Media Saturn, Rewe, Lidl und Otto beerdigen 2018 ihr Vorhaben, zusammen mit IBM eine Alternative zu Amazons Alexa in den Markt zu bringen. Bei allen erschienen andere Probleme dringlicher und das Risiko des Scheiterns zu hoch. Am Ende obsiegte das kurzfristige Denken (manager magazin 5/2018). Management des Wandels braucht keine harten Brecher. Es braucht weitsichtige Macher und fachlich wie sozial kompetente Führungspersönlichkeiten. Die sind sehr dünn gesät – weil all diese Eigenschaften nicht gefördert wurden in der Vergangenheit. Vieles war und ist auf kurzfristigen Erfolg ausgelegt. Börsenkurse und Bilanzen diktieren Stimmung und Handeln in vielen Unternehmen. Aber sind Shareholder und Gesellschafter die richtigen Taktgeber im Wandel?

2.6 Wem sind Sie verpflichtet? Das Dilemma zwischen dem, was man eigentlich sagen müsste, und dem, was man am Ende erreicht, bringt ein Manager eines deutschen Versicherungskonzerns mit folgenden Worten auf den Punkt: „Man probiert es ein paar Mal mit neuen Ideen. Dafür bekommt man dann maximal einen feuchten Händedruck und dann überlegt man sich schon, ob man noch einmal Energie in einen neuen Vorstoß setzt oder nicht. Und ich mach es nicht mehr“. Mit dieser Erfahrung steht er sicher nicht alleine. Viele Manager trügen in ihren Köpfen und Herzen eine gute Portion Verstand und Mut und guten Willen, Dinge anzupacken und Veränderungen voranzutreiben. Als Einzelkämpfer verlieren sie meist in einer etablierten Runde. Veränderung von Unternehmen ist kein Heureka-Moment nach dem Motto: „Endlich hat einer erkannt, dass man das Licht einschalten muss.“ Weder einzelne Abteilungen und schon gar nicht ganze Unternehmen lassen sich per Dekret gesund verändern. Im Gegenteil: Wenn ein

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2  Wandel wagen

paar Top-Entscheider auf einer Bühne Charts zum Change-Prozess präsentieren, die eine Unternehmensberatung aufbereitet hat, und Parolen schwingen, an die sie selber nicht glauben, bleibt das nicht nur wirkungslos, sondern es wirkt kontraproduktiv. Die Glaubwürdigkeit der Führungskräfte nimmt nachhaltig Schaden und der Prozess des Aufbruchs verkümmert in den Startlöchern. Die Herausforderung im Wandel besteht vielmehr darin, die vielen gleichgesinnten Kräfte eines Unternehmens zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle zusammenzuführen. Viele Mitarbeiter auf unterschiedlichsten Ebenen erkennen durchaus, dass es an der Zeit wäre, Zielgruppen oder Medienkanäle im demografischen und digitalen Wandel neu auszurichten. Diese Veränderungsenergie muss gebündelt und sichtbar werden und dabei authentisch bleiben. Wandel braucht Keimzellen, in denen sich Menschen versammeln, die bereit sind, für die Veränderung zu kämpfen. Keimzellen, von denen aus immer mehr Kollegen und Mitarbeiter infiziert werden. Meinungsführer sollten in diesen Prozess so früh wie möglich eingebunden sein. Idealerweise sollen auch erfahrene und anerkannte Führungskräfte, die das Unternehmen bis in den gegenwärtigen Status Quo begleitet haben, die Veränderung mit tragen und vorantreiben. An dieser Stelle kommt es oft zum Bruch. Gerade etablierte Kräfte glauben, am meisten zu verlieren durch Veränderungen. Gleichzeitig könnten gerade sie mit ihrer Erfahrung, Vernetzung und Glaubwürdigkeit wichtige Botschafter für den Wandel sein. Wenn wir Veränderung wollen – egal, ob in Bezug auf die Arbeitsweise einer einzelnen Abteilung oder für ein ganzes Unternehmen – gilt es, möglichst viele Kollegen von der einen Seite des Tisches auf die andere zu bewegen. Wir ­müssen mitmachen, werben, argumentieren, begeistern und ermutigen, damit aus der Einzelmeinung eine Massenbewegung wird. Nur wenn die Mitarbeiter sich bewegen, verändert sich das Unternehmen. Abb. 2.4 stellt die Konstellation einer Belegschaft im Wandel an einem langen Tisch dar. Angenommen Sie sind einer dieser wertvollen Entscheider und Meinungsführer in Ihrem Unternehmen und Sie sehen sich selbst eher auf der rechten Seite des Tisches – also der Seite, die dem Wandel mit Distanz begegnet. Dann gibt es zumindest folgende drei Optionen, Ihre Position zu verändern: 1. Exit: Sie haben zu wenig Lust auf oder zu viel Angst vor Veränderung in Ihrem Unternehmen. Dann sollten Sie sich den Wandel nicht antun, weil der kommt bestimmt – in welcher Form auch immer – auf Ihr Unternehmen zu. Sie sollten versuchen, einen günstigen Absprung zu schaffen. Die Frage ist nur, wohin? In einer Gesellschaft, in der alles vom Wandel erfasst wird, lernen Sie besser zügig damit umzugehen. Selbst wenn Sie Ihr Unternehmen verlassen (müssen), bleibt die unveränderte Empfehlung, diese Veränderung als

2.6  Wem sind Sie verpflichtet?

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Richtung des Wandels

Abb. 2.4   Der lange Tisch des Wandels

Anlass zu nehmen, sich neu aufzustellen und neue Perspektiven einnehmen zu lernen. Das gilt übrigens auch für den Fall, dass Sie sich Hoffnung machen sollten, über eine Selbstständigkeit Veränderungen entgehen zu können. 2. Change-Prozess passiv: Folgendes ist ein Garantie-Versprechen: In irgendeinem Unternehmen werden Sie früher oder später in einer mehr oder weniger professionellen Form von einem Change-Prozess heimgesucht. Danach werden Sie im Fluss des Wandels mehr oder weniger freudvoll und aktiv mitschwimmen. Man könnte diese Variante auch „Aussitzen“ nennen. Viele stemmen sich anfangs gegen den Wandel und klammern sich an der fernen Seite des Tisches fest. Bald geben sie den Widerstand auf – kostet zu viel Kraft – und werden mitgetrieben irgendwo im hinteren Mittelfeld. Das ist vor allem für ehemalige Führungskräfte der ersten und zweiten Reihe kein besonders verlockender Ausblick. Und gleichwohl ist es die Variante, welche die meisten wählen. Viele Jahre ihres späten Berufslebens durchlaufen frühere Meinungsführer in einer Stimmungslage zwischen fader Routine und grausamem Alltag. „Aussitzen“ ist keine Option für ein erfülltes Leben.

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2  Wandel wagen

3. Change-Prozess aktiv: Natürlich lassen sich eine Reihe guter Gründe finden, Position gegen den Wandel einzunehmen. Sie ahnen, dass Sie Macht und Kontrolle verlieren würden in der neuen Ausrichtung und Aufstellung Ihres Unternehmens. Sie haben Angst, dass Sie den Dreh in die digitale Welt altersbedingt nicht mehr schaffen. Sie halten die Gründe für die Veränderung im Marketing nicht triftig genug: Noch wäre es Ihrer Meinung nach besser, an jungen Zielgruppen und der klassischen Marketingausrichtung der letzten 10 Jahre festzuhalten. Wie auch immer: Alle Ihre Gründe sind zulässig. Und keiner davon sollte Sie abhalten, Veränderungen aktiv und zügig anzugehen. Was bringt es Ihnen, Dinge auf die lange Bank zu schieben, die unweigerlich eintreten werden? Was bringt es Ihnen, Entwicklungen zu ignorieren, die offenkundig sind? Woher beziehen Sie die Berechtigung, Ihr Unternehmen durch Stagnation ins Abseits gleiten zu lassen? Wem fühlen Sie sich eigentlich verpflichtet, wenn Sie Ihre Entscheidungen treffen?

Testen Sie sich: Wem fühlen Sie sich verpflichtet?

• • • • • • • • • • • •

sich selbst? Ihrer Familie? Ihrer Firma? Ihren Vorgesetzten? Ihren Kollegen? Ihren Mitarbeitern? Ihren Kunden? Ihren Dienstleistern oder Partnern? unserer Gesellschaft? Ihrem Glauben, Ihren Werten? Ihrer Umgebung, Ihren Nachbarn? Gesetzen oder Vorschriften?

Machen Sie einen Haken hinter jeden Punkt, den Sie mit „Ja“ beantworten würden. Und dann vervollständigen Sie dahinter jeweils eine der beiden Folgerungen, die für Sie am ehesten zutrifft: • Ich fühle mich meinen Mitarbeitern verpflichtet und ich muss den Wandel wagen, weil wir nur so konkurrenzfähig bleiben können. ODER

2.6  Wem sind Sie verpflichtet?

• Ich fühle mich meinen Mitarbeitern verpflichtet und ich halte lieber am Status Quo fest, weil ich ein paar Mitarbeiter damit überfordere und diese möglicherweise kündigen. Gehen Sie diese Aufstellung Punkt für Punkt durch und notieren Sie die Antworten auf ein Blatt Papier. Streichen Sie alle Antworten, die für Ihr Unternehmen keinen Nutzen bergen. Beispielsweise Antworten oder Gedanken wie: • Mein Nachbar darf nicht erfahren, dass ich arbeitslos bin, wenn ich durch den Wandel den Job verlieren sollte. ODER • Meine Vorgesetzten halten mich für einen Nestbeschmutzer, wenn ich Veränderungsvorschläge vorbringe. Am Ende verbleiben nur Antworten, die Ihrem Unternehmen nutzen könnten. Diese sortieren Sie nun nach Ausmaß und Wahrscheinlichkeit des Nutzens: An erster Stelle also große Nutzen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten; an letzter Stelle schmale Nutzen, die mit geringer Wahrscheinlichkeit eintreten. Für Nutzen und Wahrscheinlichkeit legen Sie eine Skala fest, die auf Ihr Unternehmen und Ihre Situation ausgerichtet ist. Daran messen Sie alle Entscheidungen. • Ich fühle mich meinen Kunden verpflichtet und ich muss den Wandel wagen, weil wir ihnen in zwei Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich bessere und schnellere Services bieten können, die uns weniger kosten, aber für den Kunden wertvoller sind, sodass wir um 10 % höhere Preise dafür verlangen können (großer Nutzen mit hoher Wahrscheinlichkeit?). ODER • Ich fühle mich meinen Kunden verpflichtet und ich halte lieber am Status Quo fest, weil ich vermute, dass 10 % der kleineren Kunden die Umstellung nicht mitmachen werden. Das kann kurzfristig 5 % Umsatzverlust bedeuten, die wir so vermeiden (mittelgroßer Nutzen mit kleiner Wahrscheinlichkeit?).

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2  Wandel wagen Verantwortlich

Nein

Ja

Festhalten am Status quo, weil

Anderweitiger Nutzen

Unternehmen

Wandel, weil

Anderweitiger Nutzen

Unternehmen

Nutzen

Abb. 2.5   Entscheidungsbaum für Nutzen-Identifikation

Anhand von Abb. 2.5 können Sie diesen Entscheidungsprozess für jegliches Kriterium durchlaufen. Einzige Regel: Seien Sie ehrlich zu sich und Ihrem Unternehmen! Das Experiment wird Ihnen eine Hilfestellung geben, ob die Entscheidung pro Wandel oder pro Status Quo mehr Nutzen für Ihr Unternehmen verspricht. Zur Erinnerung: Nur Entscheidungen mit Nutzen für das Unternehmen dürfen in die Bewertung einfließen.

2.7 Keine Ausreden mehr Wenn Sie das Buch bis hierher gelesen haben, sind Sie möglicherweise guten Willens und Mutes, Ihr Unternehmen, Ihren Betrieb oder Ihre Abteilung notwendigen Veränderungen im Zuge des digitalen und demografischen Wandels zu unterziehen. Sie sehen Relevanz und Dringlichkeit. Jetzt gilt es, den Weg in die Umsetzung frei zu schaufeln. Entscheidungen für Wandel und Veränderung müssen auf genauso sachliches und revisionssicheres Fundament gestellt werden wie große Investitionsent-

2.7  Keine Ausreden mehr

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scheidungen, Produkt-Neueinführungen oder Änderungen in der Rechtsform des Unternehmens. Nur weil das Thema nicht so greifbar ist wie eine Maschine für 200.000 EUR, nur weil Ihnen diverse Einwände durch den Kopf spuken und Ihre Entscheidung erschweren, heißt das noch lange nicht, dass sie sich diesen Einflüssen ergeben dürfen. In unsicheren Entscheidungssituationen sind wir besonders anfällig für Ausreden. Sie sind wie Sirenen am Wegesrand, die uns zurufen: „Bleib doch da! Wieso Veränderung? Ist doch alles gut, so wie es ist.“ Packen Sie die Ausreden und nageln Sie sie fest. Reflektieren Sie die Zukunft gründlich, ehrlich und konkret. Das dürfte Ihnen nicht schwer fallen, weil Sie Ihr Geschäft kennen. Schwer könnte nur werden, Ihre Bewertung vom Speck der Bequemlichkeiten, Träume und Illusionen zu befreien. Vielleicht brauchen Sie zwei, drei Trainingsdurchgänge, um ein sauberes Ergebnis zu erreichen. Zur Vorbereitung finden Sie hier die Klassiker unter den Ausreden:

Klassiker der Ausreden

• Uns betrifft das nicht! – Megatrends betreffen alle. Vielleicht nicht alle im gleichen Maße. Aber jeder Betrieb in jeder Branche, jeder Verein, jeder Verwaltungsapparat wird Chancen finden, wie er sein Geschäft im digitalen und demografischen Wandel weiter verändern und verbessern kann. Wo liegen Möglichkeiten durch Ausrichtung auf die zunehmend ältere Mehrheit im Land? Welche Prozesse und Arbeitsbereiche können Sie mithilfe digitaler Mittel beschleunigen, besser und günstiger machen? • Dafür haben wir keine Zeit! – Sie widmen Ihre Zeit lieber dem florierenden Alltagsgeschäft? Aber Ihr Geschäft wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit verändern – egal, ob Sie Landwirt, Steuerberater oder Agenturinhaber sind. Sie werden Ihr Geld in 5 Jahren mit anderen Services, mit anderen Kunden auf anderen Wegen verdienen. Darauf sollten Sie sich rechtzeitig vorbereiten und Zeit dafür bereitstellen. • Das können wir nicht! – Sie müssen nicht alles sofort und alles selbst machen! Bei der Umstellung brauchen Sie vielleicht Helfer, die Ihnen Arbeitsplätze oder Ziele neu konfigurieren und Ihr Team auf die neuen Aufgaben und Ziele trainieren. Im Laufe der Zeit wird sich auch die

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2  Wandel wagen

Anforderung an die Qualifikation der Mitarbeiter ändern. Je rechtzeitiger Sie den Wandel angehen, desto sanfter kann das für die Beteiligten umgesetzt werden. • Das kostet zu viel Geld! – Mag sein, dass am Anfang Investitionen stehen, um neue Prozesse und Arbeitsplätze einzurichten. Aber denken Sie an die Geschichte von Otto Huber (Abschn. 1.2). Ein paar Hunderttausend DM für neue Computer und Software sparen innerhalb kurzer Zeit Millionen – bei gleichzeitig schnellerer und besserer Leistung. Das klingt nach einem starken ROI. • Das sollen die Jungen machen, die nach uns kommen! – Erstens geht es nicht um Sie, sondern um Ihr Unternehmen. Und zweitens: Wenn Sie sich nicht mehr weiter entwickeln wollen, dann gehen Sie offiziell in Pension oder treten Sie zumindest von Ihrer Führungsposition zurück. Je länger Sie warten, desto weiter wird der Zug ohne Sie abgefahren sein. Sie können die Jungen als Zugmaschine einsetzen. Als Entscheider finden Sie sicher eine adäquate Rolle als Mentor oder Brückenbauer, beispielsweise um all die Mitarbeiter für den Wandel zu gewinnen, die ähnlich zurückhaltend sind wie Sie. • Ständig liest man von Gefahren und Risiken! – Nicht nur Sie, sondern das ganze Land befindet sich im Umbruch. Wir haben alle Neuland betreten und müssen lernen, uns dort zurechtzufinden. Nervosität, Aufregung, Empörung und Hysterie sind normale Begleiterscheinungen. Lassen Sie sich dadurch nicht beeindrucken. Versuchen Sie, einen Überblick zu gewinnen, was im Neuland wichtig ist, und Zusammenhänge zu verstehen. Nur so bleiben Sie ein souveräner Gesprächspartner und Entscheider. Dieses Buch wird Ihnen dabei helfen.

In Gesprächen und Situationen des Berufslebens ist zu spüren, dass der Blick auf zukünftige Veränderungen für viele wirkt wie der Blick auf eine Nebelwand, die immer näher rückt: undurchsichtig, bedrohlich, grau und wenig einladend. Es gibt schönere Gefühle, als ein Unternehmen in verantwortlicher Position ins Ungewisse zu steuern. Deswegen schauen viele weg. Die Nebelwand rückt trotzdem näher.

2.7  Keine Ausreden mehr

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Im Rahmen seiner Tätigkeit als Consulter erlebt Giacomo Pasini regelmäßig derartige Gesprächssituationen. Mit Governance Solutions GmbH berät er Unternehmen, Management und Mitarbeiter mit dem Ziel, in einem zunehmend komplexer werdenden Umfeld nach „Anerkanntem Stand von Wissenschaft und Praxis“ effektiv, effizient und rechtssicher zu führen, Haftung zu vermeiden und zusätzliche Wertbeiträge für das Unternehmen zu schaffen. Ein Schwerpunkt des Beratungsportfolios liegt auf der Optimierung und Digitalisierung der Unternehmensprozesse und Workflows und deren Anreicherung mit Komponenten zur Erfüllung der Anforderungen aus Qualitäts-, Risiko-, und Compliance-Management. Herr Pasini, wie hat sich die Bereitschaft zum Wandel in den letzten Jahren entwickelt? Mittlerweile kann man schon davon ausgehen, dass alle Unternehmen eine Notwendigkeit für Wandel spüren. Sei es für Compliance-Regelungen, Risk-Management oder Digitalisierung. Die Erkenntnis ist da, die Bereitschaft meist auch. Größte Hürde bleibt, den Prozess in Gang zu setzen. Sobald sichtbar wird, dass Wandel ein längeres Projekt mit umfangreichen Veränderungen an vielen Stellen ist, schwindet die Begeisterung schnell und es lockt die Versuchung, im alten Modus weiterzumachen. Bereichsverantwortliche (z. B. im Qualitäts- oder Prozessmanagement) in größeren Unternehmen fühlen manchmal keine Verantwortung und keinen ausreichenden Druck, Dinge zu verändern. Vielmehr haben sie Angst, dass – einhergehend mit dem Wandel – transparente und effiziente Organisationsstrukturen zu einer Bedrohung der eigenen Position werden. Hinzu kommt, dass sie oftmals den ganzen Rattenschwanz an Aufwand und Überzeugungsarbeit scheuen, der für wertbeitragende Veränderungen in Unternehmen notwendig ist. Deutlich einfacher stellt sich das bei mittelständischen Unternehmern dar, die als Eigentümer oder Gesellschafter eine Gesamtverantwortung für die Zukunft spüren und die notwendigen Veränderungen „ansagen“. Dann ist zumindest der Anfang gemacht und das Bekenntnis steht. Erstaunlich ist: Immer wieder treffen wir auf Unternehmen mit einem Reifegrad, den man 2019 kaum mehr für möglich gehalten hatte. Schon vor Jahren dachten wir, Prozessmanagement sei ein alter Hut und damit könne man kaum noch punkten. Und dann lernt man Unternehmen kennen mit Tausenden von Mitarbeitern, die ihr Rechnungswesen noch manuell mit Excel oder anderen „nicht dem Stand der Technik“ entsprechenden Lösungen organisieren.

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2  Wandel wagen

Wie begegnen Sie Fluchtversuchen aus der Verantwortung? Die oft zitierte Angst der Deutschen vor dem Aufbruch ist deutlich zu spüren. Viele wünschen sich, dass der ganze Wandel – wenn er denn schon unbedingt sein muss – in 14 Tagen vorbei ist. Andere blockieren oder sehen ihre Position in Gefahr. Die meisten bringen wir mit Geduld und guten Argumenten in den Aufbruch. Wobei wir oftmals mit längerer Vorbereitungszeit rechnen vom ersten Gespräch bis zum Start der Umsetzung. Es kommt leider auch vor, dass Unternehmen einen „Alibi-Change“ inszenieren lassen und lediglich konzeptionellen Wandel vornehmen. Change erfolgt für Rechtfertigung und um gesetzliche Vorschriften zu bedienen. Bloß keinen Schritt weiter. Bei manchen Unternehmen reicht ein „Quick-Check“ schon aus: Mit Fragen, die zwingende Anforderungen aus Gesetz und Rechtsprechung behandeln. Wir zeigen den Entscheidern auf, dass sie persönlich haften, falls sie keine entsprechenden Anwendungen im Compliance oder Risk Management vornehmen. Manche Geschäftsführer wissen in der heutigen Flut von Anforderungen einfach nicht (mehr) um ihre persönliche Haftung bei gewissen Prozessen und Aufgaben – oder sie haben diese nicht präsent. Wir rufen dieses Risiko in Erinnerung. Dann geht vieles plötzlich flotter. Die Vermeidung von unbequemen Gefühlen wie Haftungsverantwortung ist ein Nutzen, der stark genug ist, um Wandel auszulösen. Wir sprechen von „Enthaftungsstrategie“. Angenehmer für alle Beteiligten ist, wenn Unternehmen und Mitarbeiter durch positives Denken motiviert werden. Etwa durch die Erkenntnis, dass digitalisierte Standardprozesse für revisionssichere Ergebnisse sorgen und so ihr Haftungsrisiko minimieren. Wie kommt man als Entscheider am besten aus den Startlöchern? Unsere Empfehlung lautet, wenn Ziele, Strategie, Plan und die notwendigen Ressourcen dafür stehen: Einfach mal anfangen und Schritt für Schritt den Wandel über das ganze Unternehmen legen. Vor allem in Fragen der digitalen Transformation sollte man dringend darauf achten, dass die Prozesse des gesamten Unternehmens von Anfang an miteinander verbunden sind: Vertrieb, Marketing, Produktion, Geschäftsführung, Kundendaten… all das sollte sinnvoll und angemessen vernetzt sein. Zahllose Insellösungen mit eigener Software oder gar eigener Philosophie werden keinen skalierenden Beitrag mehr leisten können zur Produktivitätssteigerung des gesamten Unternehmens. Idealzustand wäre, die zahlreichen Systeme zu einem ganzheitlichen und integrierten Managementsystem zu vereinen. Ein Beispiel: Ein Unternehmen pflegt eine Stammkunden-Datei, wo alle Daten von Geschäftspartnern gespeichert sind und wo sie von verschiedenen

2.7  Keine Ausreden mehr

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Bereichen automatisch bezogen und je nach Bedarf angewendet werden. Nur das Marketing kauft sich für die Kampagnenplanung eine Software ohne Schnittstelle, so dass die Kundendaten immer wieder neu manuell importiert werden müssen. Das ist kein skalierendes Modell! Wir schaffen strukturierte Geschäftsprozesse und eine Vernetzung aller Unternehmensbereiche. Dieses Integrierte Management System, IMS, stellt sicher, dass Prozesse nicht nur digitalisiert werden, sondern in allen Bereichen gelebt werden. Etwa mit Checklisten im Einkauf, die sicherstellen, dass der Einkäufer alle Leitlinien des Unternehmens stets im Auge behält. Oder mit Reporting-Pflichten, die automatisch generiert werden. Das alles befreit Mitarbeiter von manueller Organisation, eliminiert Risiken und generiert Skaleneffekte. Wir erleben Unternehmen, die durch Digitalisierung und Automatisierung in den allgemein bekannten Kernprozessen nach Porter (z. B. Einkauf, Produktion, Vertrieb, etc.) einen Effekt erzielen, der dem Unternehmen Millionen spart und den Mitarbeitern plötzlich viel mehr Luft und Zeit gibt. Viele befürchten ja, dass sie nach der Digitalisierung freigesetzt werden. Dabei ist es so, dass Unternehmen durch digitalisierte Prozesse ihre Produktivität verbessern und die freigesetzten Ressourcen der Mitarbeiter einsetzen können für Wachstum. Dennoch wird es zukünftig Unternehmen und Bereiche geben, bei denen Menschen durch Technik ersetzt werden. Ein Beispiel: Die Mitarbeiter einer Steuerkanzlei verwenden einen Großteil ihrer Arbeitszeit auf das Sortieren und Kopieren von Belegen und Kontieren von Rechnungen. Durch Einsatz von Scannern und Software werden viele dieser Aufgaben automatisiert. Damit werden Fehler minimiert. Die Arbeit wird schneller und effizienter erledigt. Das schafft freie Kapazitäten für neue Mandanten und diese können, dank Digitalisierung, in den automatischen Prozessen ohne Zusatzaufwand bewältigt werden. Die Mitarbeiter können wertvollere Aufgaben wie Analysen oder Kundendialog übernehmen. Das schärft die Position der Kanzlei im Wettbewerb und stärkt die Kundenbindung. Erfolge wie diese sind für alle Unternehmen machbar. Sie schaffen nicht nur einmalige Vorteile, sondern haben dauerhaft positiven Einfluss auf Leistung und Kultur des Unternehmens. Machen Sie den Wandel zum Lebensmotto in Ihren Unternehmen! Wir von Governance Solutions helfen dabei. Am Ende dieses Kapitels sollten Sie Klarheit darüber erlangt haben, dass in Zeiten des digitalen und demografischen Wandels erhebliche Veränderungen

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anstehen und mit welcher Haltung Sie diesen am besten begegnen: Sportlich, engagiert, gründlich, konkret, ehrlich und mit Vorfreude auf den Nutzen, von dem Sie nach den Veränderungen profitieren werden. Wie Sie diese angehen können, erfahren Sie in den folgenden Kapiteln.

Weiterführende Literatur und Quellen Zeitschriften-/Zeitungsartikel Alvares, P., und E. Müller. 2018. Die Rattenfänger von Digitalien. Manager Magazin 2 (2018): 68 ff. Kolland, F., und R.A. Meyer Schweizer. 2012. Altern und Wertewandel. Zeitschrift für Gerontologie + Geriatrie 45:587–592. Ludacka, F., Josef Scherer., und Giacomo Pasini: Digitalisierung, Workflow-Management, wertorientiertes Prozessmanagement und Integriertes GRC-Managementsystem, 2017 In: Scherer und Fruth (Hrsg.), Integriertes Compliance-Managementsystem mit Governance, Risk und Compliance (GRC), 2. Auflage 2017, Zugegriffen: 31. Jan. 2019. Rest, J., Kleine Haie, Manager Magazin 5/2018, S. 38–42; manager magazin Verlagsgesellschaft mbH.

Film Gründling, Kristian. 2017. Die Stille Revolution. Deutschland.

Buch Höft, Uwe. 1992. Lebenszykluskonzepte. Berlin: Schmidt. Kahnemann, Daniel. 2012. Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler. Kotler, Philip, Hermawan Kartajaya, und Iwan Setiawan. 2017. Marketing 4.0. Frankfurt: Campus. Lempart, Horst. 2016. Das hab’ ich alles schon probiert. Paderbord: Junfermann. Rifkin, Jeremy. 2014. Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Frankfurt: Campus. Scherer, Josef und Klaus Furth. 2015. Governance-Management, Bd. II. Deggendorf: GMRC-Verlag-GbR. Schmitt, Manfred, und Christine Altstötter-Gleich. 2010. Differentielle Psychologie und Persönlichkeitspsychologie. Weinheim: Beltz.

Weiterführende Literatur und Quellen

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Internetquellen 7 Gründe für Widerstand im Change Management. https://www.kayenta.de/training-seminar/artikel/7-gruende-fuer-widerstand-im-change-management.html. Zugegriffen: 21. Mai 2018. Aaron, K. und J. Friesen. 2011. Klammern am Status Quo. Psychological Science. https://www. wissenschaft.de/umwelt-natur/klammern-am-status-quo/. Zugegriffen: 15. Dez. 2018. Bundesverband Deutscher Unternehmensberater: Demografie-studie_2015.pdf. https:// www.bdu.de/media/351599/demografie-studie_2015.pdf. Zugegriffen: 12. April 2018. Cole, Tim in smart.kyocera businessblog. März 2017. https://smart.kyoceradocumentsolutions.de/tim-cole-in-der-digitalisierung-ist-kein-platz-fuer-mittelmass/. Zugegriffen: 19. Mai 2018. Demografieportal der Bundesregierung. http://www.demografie-portal.de/. Zugegriffen: 19. Mai 2018. Doll, Nikolaus. Dezember 2015. Diese Modelle sind Deutschlands wahre Rentnerautos. https://www.welt.de/wirtschaft/article150255953/Diese-Modelle-sind-Deutschlandswahre-Rentnerautos.html. Zugegriffen: 28. Dez. 2019. FAZ.net: Kultur des Scheiterns – Die deutsche Angst vor dem Misserfolg. Juli 2016. https://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/beruf/kultur-des-scheiterns-die-deutscheangst-vor-dem-misserfolg-14358175.html. Zugegriffen: 29. Dez. 2018. FAZ.net: Wir müssen die Angst überwinden. 17.01.2019. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/netzkonferenz-dld/dld-gruenderin-steffi-czerny-im-interview-15991949.html. Zugegriffen: 18. Jan. 2019. Fourier, Stefan. 2011. Die Vermessung der Veränderungsfähigkeit, Humangement http:// www.humanagement.de/news-wissen/humanagement-blog/die-vermessung-der-veraenderungsfaehigkeit. Zugegriffen: 29. März 2018. Heidrick&Struggles. 30.9.2015. Das Profil deutscher CEOs. https://www.presseportal.de/ pm/32539/3135346. Zugegriffen: 14. Jan. 2019. Hofbauer, Günther: Erfolgsfaktoren bei der Einführung von Innovationen. https://www.thi. de/fileadmin/daten/Working_Papers/thi_workingpaper_03_hofbauer.pdf. Zugegriffen: 28. März 2018. Internetworld.de. 2019. So entwickelt sich das Influencer Marketing. https://www.internetworld.de/online-marketing/so-entwickelt-influencer-marketing-2019-1674622. html?seite=2. Zugegriffen: 9. Febr. 2019. Keupp, Heiner. Alter ist auch nicht mehr das, was ein einmal war. http://www.ipp-muenchen.de/texte/keupp_11_02bambp.pdf. Zugegriffen: 27. März 2018. KfW Research Fokus Volkswirtschaft „Demografischer Wandel stützt Konsum und mittelständisches Wachstum“. https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/ Research/PDF-Dokumente-Fokus-Volkswirtschaft/Fokus-Nr.-128-Juni-2016-Demografischer-Wandel-st%C3%BCtzt-Konsum-und-mittelst%C3%A4ndisches-Wachstum.pdf. Zugegriffen: 10. April 2018. Nielsen Automotive Facts PKW Markt. http://www.nielsen.com/content/dam/nielsenglobal/ eu/nielseninsights/pdfs/Nielsen%20Automotive%20Facts.pdf. Zugegriffen: 5. Mai 2018. spiegel.de. 7. Januar 2019. Sechs Mythen über den Hackerangriff. http://www.spiegel.de/ netzwelt/web/datenleak-von-0rbit-sechs-mythen-ueber-den-hackerangriff-a-1246714. html. Zugegriffen: 9. Febr. 2019.

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test.de. https://www.test.de/Adresshandel-Im-Netz-der-Datenhaendler-1714282-2714282. Zugegriffen: 13. April 2018. Wagner, Günther auf xing.com: Auch Chefs dürfen Angst haben. https://bit.ly/2GgXHp7. Zugegriffen: 2. Febr. 2019. wissenschaft.de. https://www.wissenschaft.de/umwelt-natur/klammern-am-status-quo. Zugegriffen: 2. April 2018. zeit.de. 4. Januar 2019. Ein schwerer Anschlag auf die Demokratie. https://www.zeit.de/ digital/datenschutz/2019-01/hackerangriff-politiker-bundestag-daten-leak-liveblog. Zugegriffen: 5. Febr. 2019. Zukunftsinstitut GmbH. 2016a. https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrends. Zugegriffen: 23. März 2018. Zukunftsinstitut GmbH. 2016b. https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/warum-braucht-diezukunft-bessere-fragen. Zugegriffen: 24. März 2018. Zwischenbericht der ENQUETE-KOMMISSION Demografischer Wandel*) des Deutschen Bundestages vom 14.06.1994 – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den einzelnen und die Politik. http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/12/078/1207876.pdf. Zugegriffen: 30. April 2018.

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Wandel vorbereiten

Inhaltsverzeichnis 3.1 Kontext fördert Verständnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Perspektive motiviert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Wandel ist Chefsache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Wandel braucht Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Wandel braucht Ziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Wandel braucht Teilhabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Wandel braucht Technik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Mit den Besten messen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9 Mutig in eine neue Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Wandel ist kein Selbstzweck. Keine Veränderung um der Veränderung willen! Nur weil etwas digitaler oder senioriger ist, muss es noch lange nicht für Ihr Unternehmen besser sein. Eine App schafft noch lange kein digitales Erwachen. Das Sponsoring einer Seniorenmesse genügt keiner demografisch optimierten Kommunikationsstrategie. Wandel ist kein Strohfeuer, sondern er muss dem Unternehmensziel, den Kundenbeziehungen und den Mitarbeitern nachhaltigen Nutzen stiften. Nur daran sollten Sie bemessen, an welcher Stelle Veränderungen sinnvoll und notwendig sind. Im digitalen Wandel geht es nicht darum, Prozesse im Unternehmen zu digitalisieren, reihenweise Schnittstellen zu schaffen oder möglichst viele Arbeitsplätze durch künstliche Intelligenz zu ersetzen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Bily, Zielgruppe 50plus: Marketing im demografischen und digitalen Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25805-4_3

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Im demografischen Wandel geht es nicht darum, Renten zu erhöhen oder barrierefreie Siedlungen zu errichten. Genauso wenig geht es im Klimawandel darum, Hochwasserschutzanlagen zu bauen oder Gletscher in Schutzhüllen über den heißen Sommer zu retten. Es geht darum, unsere Gesellschaft, unser Land, unsere Wirtschaft und, darin eingebettet, unsere Unternehmen und Betriebe anzupassen an sich ständig verändernde Anforderungen in einer neuartigen Umgebung, die durch Megatrends wie digitalen und demografischen Wandel dauerhaft beeinflusst wird. Die große Herausforderung liegt darin, dass der Wandel eines Unternehmens im laufenden Betrieb umgesetzt werden muss. Eine gründliche Vorbereitung und Auseinandersetzung mit der Frage, was eigentlich zu tun ist, wie der Veränderungsprozess angegangen und umgesetzt werden soll und wer was bis wann zu erledigen hat, ist unverzichtbar. Es braucht eine klare Strategie und eine starke Hand bei Organisation und Umsetzung, um alle Beteiligten bei der Stange zu halten und Wandel auch über einen längeren Zeitraum zum Erfolg zu managen. Ein praxistaugliches Rezept dafür schildert Antje Gardyan, Organisationsentwicklerin für Strategie- und Veränderungsprozesse, in folgendem Interview: Der Wandel eines Unternehmens muss während der operativen Geschäftstätigkeit erfolgen… Wie kann man Wandel in den Unternehmensalltag „rein organisieren“? „Ja, völlig richtig: Wandel- und Veränderungsprojekte finden fast immer zusätzlich zum laufenden Tagesgeschäft statt. Zum Teil greifen Veränderungsprojekte in aktuelle Prozesse ein. Ich nenne es die „Operation am offenen Herzen“. Deswegen wird eine notwendige Veränderung auch so gern vertagt. Das Tagesgeschäft wartet ungeduldig und will abgearbeitet werden. Man muss als Unternehmensführung aber darauf achten, dass das Tagesgeschäft nicht immer als Ausrede vorgeschoben wird. Dann passiert verlässlich gar nichts. Irgendwann muss man die Säge schärfen, mit der man arbeiten will. Am besten plant man das Veränderungsvorhaben als Projekt. Also als zeitlich befristete und damit dringliche Aufgabe und gemeinsame Anstrengung. Bei der Festlegung, wie lange ein Veränderungsprojekt dauert, muss man ­realistisch bleiben. Wieviel schaffen die Beteiligten zusätzlich zum Tagesgeschäft? ­Welche anderen Projekte laufen parallel z. B. die Einführung einer Software? Man muss also gezielt Zeit für den Veränderungsprozess schaffen: Zeit für Gespräche, Arbeitstreffen, Workshops, möglicherweise Reisen, um Experten zu treffen oder um sich Vorzeigeunternehmen anzugucken. Die Prozesse, die ich begleite, d­ auern circa drei bis neun Monate in der „akuten“ Betreuungsphase. Danach ist der Prozess in seinen Kernthemen abgeschlossen. Unternehmen und

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­ ührungskräfte können die noch offenen Punkte ihrer Verantwortungsbereiche F selbstständig nachverfolgen und abschließen. Die Geschäftsführung muss nur dafür Sorge tragen, dass dies auch geschieht. Inwieweit ist Wandel ein Führungsthema? Wandel und Veränderungsvorhaben sind par excellence eine Führungsaufgabe! Die Führung kann notwendigen Wandel sogar verhindern, obwohl Mitarbeiter die Notwendigkeit für Wandel sehen und zum Teil herbeisehnen. Also: Es braucht eine Verpflichtung – neudeutsch: ein Commitment des Vorstandes, der Geschäftsführung oder der Inhaber, dass ein Veränderungsprozess stattfinden soll. Wandel muss „von oben“ gewollt und unterstützt sein. Wandel von unten, also allein durch die Mitarbeiter gefordert, kann nicht funktionieren. Welche Punkte müssen im Vorfeld geplant sein und wie viel Flexibilität verträgt ein Change-Prozess? In der Vorbereitungsphase muss geklärt werden, was Ziel des Veränderungsprozesses sein soll. Wenn man von A nach B kommen will: was ist „B“? Darüber muss nachgedacht werden und Verständigung in der Unternehmensführung erzielt werden. Dieser Diskurs ist Basis für alle Folgeüberlegungen. Es kann gut sein, dass „B“ noch nicht klar umrissen ist. Das ist gerade der Fall, wenn ein Veränderungsprozess keine Blaupause hat und eben zum ersten Mal gemacht wird. Gerade die Herausforderungen der digitalen Transformation, neue Geschäftsmodelle oder neue Technologien zwingen Unternehmen dazu, Dinge neu auszuprobieren. In diesen Fällen kann „B“ als Zielvorstellung nur umrissen werden. Es ist oft eher ein Zielkorridor als ein Zielpunkt. Im nächsten Schritt, der Sondierungsphase, muss geklärt werden, welche Themen konkret diskutiert und abgewogen werden müssen. Um das herauszufinden, muss man überlegen, wer in der Organisation das Fachwissen oder Umsetzungswissen dazu hat. Wer sind die Interessenparteien – neudeutsch: „Stakeholder“ in diesem Vorhaben? Wessen Mitarbeit braucht es, damit es hinterher funktioniert? Es ist also klug, den Kreis der Leute, die zusammen nachdenken und diskutieren, in dieser Phase zu erweitern. Das kann und wird vermutlich quer durch die Hierarchien gehen. Warum also nicht die Abteilungsleiterin oder ihren Mitarbeiter einladen, um die Themen zu besprechen, die später ihren Bereich betreffen werden? In dieser Sondierungsphase geht es darum, möglichst viel Information zu sammeln und darauf zu achten, dass man das Veränderungsvorhaben aus allen relevanten Perspektiven beleuchtet. Es wird klar, wer welche Interessen hat. Es wird auch klar, wer ein Vorhaben blockieren kann, wie die Machtverhältnisse intern sind und Mikropolitik gespielt wird. Tut man dies

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nicht, fallen einem die Einwände derer, die man im Vorfeld nicht einbezogen hat, auf die Füße. Mit Ansage. Hat man alle Themen, Fragestellungen und Informationen identifiziert und auf dem Tisch, ist es Zeit, sich einen schrittweisen Prozess zu überlegen. In der Konzeptionsphase überlegt man: • Mit welchem Thema fängt man an? • Wie schließen sich die anderen Themen an? • Wer diskutiert mit? • Wer entscheidet? • Wer hat welche Rolle im Prozess? • In welchen Formaten soll diskutiert und entschieden werden? • Was ist der zeitliche Rahmen – was bis wann? Hier unbedingt ehrgeizig, aber realistisch bleiben! • Wie sichert man eine Auswertung der Erkenntnisse jeder Stufe, damit diese in den nächsten Prozessabschnitt einfließen können? Erst dann erfolgt die eigentliche Durchführungsphase. Dabei wird jeder Schritt auf hilfreiche Erkenntnisse für den nachfolgenden Schritt geprüft. Wie gewinnt man eine Mehrheit für den Wandel? Ist der Unternehmensführung klar, was sie will, ist es zwingend notwendig, die Führungskräfte unterhalb der Unternehmensspitze für den Wandel und die dazugehörigen Prozesse zu gewinnen. Diese sind der Transmissionsriemen zu den Mitarbeitern. Ohne deren Mitdenken und Mittun wird die Unternehmensführung sich vergeblich abstrampeln. Sie werden die Führung in der Veränderung nicht alleine stemmen können. Essenziell ist auch, die Mitarbeitervertretung einzubinden. Nur durch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit bekommt man wertvolle Hinweise, wie das Veränderungsvorhaben gesehen wird und an welche Themen noch gedacht werden muss. Die Mitarbeitervertreter sind starke Multiplikatoren. Man muss ihnen die Chance geben, diese Funktion gut informiert zu übernehmen. Sonst tun sie es uninformiert. Nicht zu vergessen: Eine klug gedachte Partizipation der Leute, die man später für die Umsetzung des Vorhabens braucht, ist der Kern, um eine Mehrheit für den Wandel zu bekommen. Holen Sie unbedingt kritische Leute in die Arbeitsgruppen, die nicht Ihrer Meinung sind. Diese Mitarbeiter werden wertvolle Hinweise liefern, worüber man nachdenken muss, um eine mehrheitlich gute Lösung zu finden. Auch hier gilt: Wer mit seinen kritischen Argumenten frühzeitig gehört wurde, wird später der Veränderung eher nicht im Weg stehen. Ein guter Prozess wird Teil eines überraschenden Kulturwandels, der im Vorfeld bestenfalls als Nebenziel aufgerufen wird.

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Denken Sie bei der Beteiligung unbedingt an Ihre Mitarbeiter zwischen Ende 30 bis Ende 50. Das sind Mitarbeitende, die seit vielen Jahren leistungsstark die Pfeiler eines Unternehmens bilden. Ich nenne sie „Midlife-Performer“ und ich habe viele auf meinen Projekten kennengelernt. Sie kennen sich aus, haben Erfahrung und kennen aber auch die Macken, Hindernisse und Stellschrauben im Unternehmen. Zudem sind sie gut vernetzt. Das heißt, wenn diese überzeugt sind, dass sich etwas ändern muss, können sie auch andere Kollegen überzeugen. Viele dieser Midlife-Performer haben Lust, sich an neuen Themen auszuprobieren, zu lernen und zu wachsen – wenn man sie lässt und Ihnen die Möglichkeit dazu gibt. Es wäre ein krasse Fehleinschätzung, nur auf junge oder neue Mitarbeiter zu setzen, weil man ihnen qua Geburtsdatum mehr Innovations- und Erneuerungsgeist zutraut. Welche Rollenverteilung im Wandel hat sich bewährt? Unternehmensführung oder Bereichsleitung sind Auftraggeber und Kopf des Veränderungsvorhabens. Sie haben den Hut auf, machen den Prozess relevant und wichtig. Es ist hilfreich, eine interne Projektleitung zu installieren und mit der Leitung zu beauftragen. Diese Person sollte eng angebunden sein an die Unternehmensführung und unkomplizierten Zugang haben, um auf kurzem Wege Themen abzustimmen. Die Projektleitung koordiniert und steuert die vielen operativen Fragen, die in der Zusammenarbeit mit Führungskräften, Mitarbeitervertretung, Arbeitskreisen und nicht zuletzt Mitarbeitern entstehen. Ob es ein „Steering Commitee“ braucht, also einen Lenkungskreis, muss man fallweise sehen. Ich schaue immer, ob ein bestehendes Format oder Team diese Aufgabe übernehmen kann. Dann braucht man gar kein spezielles Gremium aufsetzen. Es ist oft sinnvoll, Arbeitsgruppen zu bestimmten Themen zu bilden. Hier werden fachliche Fragen und Lösungen erarbeitet. Ob die Arbeitsgruppe Kompetenz bekommt zu entscheiden oder „nur“ empfehlen darf, ist im Vorfeld zu klären. Die Arbeitsgruppen brauchen eine Leitung, die die Gruppe steuert, moderiert und durch die Themen führt. Gruppen nehmen diese Hilfestellung meistens dankbar an, weil sie merken, dass Diskussionen dann zielführender verlaufen. Last, but not least: Prozesskonzeption und -steuerung sind wichtige Erfolgsfaktoren. Je ungewisser das Ziel ist, je mehr Leute involviert werden müssen, je komplexer die Themen, umso mehr empfehle ich die externe Expertise eines Organisationsentwicklers dazu zu holen. Seine/ihre Erfahrungen helfen, das Vorhaben möglichst effizient und effektiv zu führen. Der Blick von außen hilft zudem, blinde Flecken auszuleuchten und manche Klippe zu umschiffen. Ein geplanter Prozess ist kein starrer Ablauf, sondern muss immer je nach Erkennt-

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3  Wandel vorbereiten

nislage der Vorstufe angepasst werden. Diese agile Vorgehensweise mit Kurskorrekturen auf der Route hilft, zeitlich und inhaltlich auf Kurs zu bleiben. Eine externe Prozesssteuerung entlastet die Unternehmensführung, die in der Regel viele dringliche Themen des Alltagsgeschäfts auf dem Schreibtisch hat. Wo lauern die größten Gefahren und Fallstricke? Kein Commitment der Führung, keine Zeit für den Prozess, keine Prozessplanung, kein Dranbleiben, sondern Stop and Go, zu wenig oder ziellose Beteiligung der Mitarbeiter, zu wenig oder ungesteuerte Kommunikation oder ein Veränderungsprojekt als Showprogramm… das sind Fehler, die regelmäßig gemacht werden. Ein groß angekündigtes Veränderungsvorhaben, das schlecht geplant und ausgeführt wird, ist oft schlimmer als gar keines. Es raubt Zeit, Geld, Nerven und im schlimmsten Fall Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die Unternehmensführung. Mitarbeiter spüren genau, wo Etikettenschwindel betrieben wird. Wo z. B. „agil“ draufsteht, muss noch lange nicht Agilität umgesetzt sein. So ein Veränderungsprozess wird dann zynisch kommentiert und macht mehr kaputt, als dass er etwas bringt. Mein Tipp: Holen Sie sich für wichtige Themen externe Hilfe von Organisationsentwicklern, die Ihren speziellen Prozess mit Ihnen persönlich durchdenken, maßgeschneidert konzeptionieren, steuern, moderieren und begleiten. Veränderungswissen ist eine Expertise, die kaum ein Unternehmen regulär an Bord hat. Dafür kann man diese Expertise auf Zeit kaufen. Guter Rat kostet Geld, erspart Ihnen aber teure Fehler und wirkt als Katalysator für den Prozess. Sie kommen schneller und sicherer ans Ziel. Das spart Geld, Zeit und Nerven, die Sie für Ihr eigentliches Geschäftsfeld gut gebrauchen können. Ein gelungenes Vorhaben wird man immer Ihrer guten Führung in unsicheren Zeiten des Wandels zurechnen. Umgekehrt übrigens auch.“ Antje Gardyan, Jahrgang 1967, geschäftsführende Gesellschafterin der FLYING FISH Beratungsgesellschaft für Veränderungsmanagement in Hamburg, war zuvor 13 Jahre Führungskraft in renommierten Unternehmen der Kommunikations- und Medienbranche, die sich – wie viele Branchen – im massiven strukturellen Wandel befindet. Seit 2007 ist sie Organisationsberaterin zu Strategie- und Strukturfragen, Diskursführung und Veränderungsvorhaben für Organisationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Antje Gardyan ist außerdem Expertin und Buchautorin für Aufbrüche und Potenziale der Lebensphase der Lebensmitte. Sie berät Unternehmen zum demografischen Wandel ihrer älter werdenden Belegschaften, speziell der Mitarbeiter der Lebensmitte, den „Midlife-Performern“ (www.flying-fish.biz).

3.1  Kontext fördert Verständnis

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3.1 Kontext fördert Verständnis Warum wird das schon wieder anders gemacht? Warum trifft es immer nur mich? Diese Fragen haben wir uns alle schon einmal gestellt. Meist dann, wenn wir das Gefühl hatten, dass sich die Ungerechtigkeit der ganzen Welt auf uns entlud, während die anderen um uns herum ihr Leben unbehelligt weiter leben durften. In solchen Fällen reagieren wir oft mit Protest oder Mutlosigkeit. Wenn Sie in Ihrem Unternehmen das Gefühl vermitteln können, dass Sie mit anderen im gleichen Boot sitzen, wachsen Solidarität und Teamgeist. Es macht einen großen Unterschied, ob man sich auf dem Weg in die Veränderung einsam und verlassen fühlt oder ob man sich in guter Begleitung durch weitere mutige Unternehmen weiß. Fühlt man sich als starker, geschlossener und gut ausgerüsteter Stoßtrupp oder als bunter Haufen zusammengewürfelter, planloser Desperados? Wenn Sie darlegen können, dass der Wandel Ihres Unternehmens nur die konsequente Antwort ist auf Veränderungen im Umfeld Ihres Unternehmens, dann wird die Bereitschaft für Veränderung geradezu selbstverständlich. Botschaften wie die folgenden sind dafür geeignet:  Wichtig Digitaler Wandel bedeutet: Wenn sich die ganze Welt immer s­ tärker vernetzt, werden Unternehmen, die keine Schnittstellen in diese Welt haben, nicht mehr Teil des Spiels sein. Demografischer Wandel bedeutet: Der wachsende Markt der zweiten Lebenshälfte ist auf lange Sicht der größte Wachstumsmarkt in Deutschland. Dort lassen sich mit guten Produkten und Service nachhaltig Erfolge erzielen.

Schon im Stadium des Aufbruchs, also noch vor der Detailplanung der ganzen Expedition, fällt eine Vorentscheidung über die Erfolgsaussichten. Versuchen Sie die Notwendigkeit für Veränderung greifbar und nachvollziehbar zu machen. Schaffen Sie Sicherheit, Motivation und ein Gefühl der gemeinschaftlichen Stärke. Schaffen Sie Aufbruchstimmung! Für jedes Unternehmen lassen sich Beispiele und Argumente finden, die eine Veränderung Ihres Unternehmens in den breiteren Kontext des Konkurrenzumfelds oder der gesamten Branche betten. Beispiel Reisen

Immer mehr Menschen informieren sich und buchen online ihre Reisen. Für viele Destinationen gilt: Mindestens die Hälfte der Touristen sind 50plus. Gute Gründe für Reiseanbieter und Hotels, die Präsenz im Internet zu verstärken und die Werbung stärker auf die Zielgruppe 50plus auszurichten.

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3  Wandel vorbereiten

Beispiel Steuerberatung

Unsere Mandanten erwarten in Zukunft, dass sie jederzeit auf eine aktuelle Version ihrer Buchhaltung, Lohnauswertung und betriebswirtschaftlicher Ergebnisrechnung zugreifen können. So müssen wir als Steuerkanzlei diese Auswertungen online verarbeiten und bereitstellen. Beispiel Vereine

Immer weniger Mitglieder erklären sich bereit, regelmäßig als Ehrenamtliche für unseren Verein zu agieren. Viele Vereine in unserem Umfeld mussten bereits fusionieren oder lösten sich auf. Wir könnten den Bedarf an ehrenamtlicher Arbeit auf mehr Schultern verteilen. Eine Online-Börse für ehrenamtliche Kontingente könnte eine Lösung sein. Als Ausgangsbasis nutzen wir die Stammdaten unserer vorwiegend älteren Mitglieder und werben verstärkt in der Zielgruppe 50plus, die am offensten sind für ehrenamtliche Arbeit. Beispiel Einzelhandel

Der Umsatz in unserem Modegeschäft sinkt seit Jahren. Kunden fotografieren Ware im Geschäft und bestellen diese danach online. Immer mehr Geschäfte im Zentrum unserer kleinen Stadt stehen vor dem Aus. Wir wollen uns auf Stammkundschaft zwischen Ende 40 und Ende 60 konzentrieren und die Vorzüge des stationären Handel mit denen des Online-Handels verbinden. Beispiel Automobilzulieferer

Da die Zukunft – früher oder später – der E-Mobilität gehört, werden wir bald nicht mehr viel verdienen können mit Zündkerzen oder Einspritzventilen. Wir müssen neue Produkte entwickeln für autonomes Fahren oder vernetzte Mobilität. Beispiel Verwaltung

Ausweise, Führerscheine, Bescheinigungen jeder Art: Fast alle deutschen Bürger sind online und erwarten, dass diese Dokumente und Prozesse ohne Amtsgang erledigt werden können. Als Amt hätten wir alle Unterlagen digital, können jederzeit darauf zugreifen, sparen uns Zeit und Geld. Außerdem können wir so dem knappen Arbeitsmarkt besser Paroli bieten. Das sind nur rudimentäre Gedankenanstöße für ein paar ausgewählte Geschäftsfelder. Die spezifische Ausgangslage Ihres Unternehmens können Sie mit Ihrem Fachwissen und Ihrer Erfahrung ausarbeiten und anreichern zu einer über-

3.2  Perspektive motiviert

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zeugenden, authentischen Geschichte. Holen Sie dabei Ihre Abteilungs- oder Teamleiter mit ins Boot, um Nähe zu schaffen zu einzelnen Abteilungen und ­Aufgabenbereichen. 

Je besser und früher Sie und Ihre Mitarbeiter verstehen, warum Sie einen neuen Weg gehen sollen, wohin der Weg Sie führt, was Sie auf diesem Weg und am Ende des Weges erwartet, auf umso mehr Geschlossenheit, Loyalität und Durchhaltevermögen können Sie bauen.

3.2 Perspektive motiviert Angenommen, Sie sollen einen Fußballprofi bewegen, zwei Stunden am Tag Freistöße zu üben. Dann locken Sie ihn wohl nicht mit der Aussicht darauf, dass er mit etwas Glück zum Aktuellen Sportstudio eingeladen wird und dann bessere Chancen beim Torwand-Schießen hat. Mehr Anreiz bietet die – durchaus berechtigte – Hoffnung, dass die Mannschaft dank seiner verbesserten Fähigkeiten einen besseren Platz in der Meisterschaft erreichen könnte. Wie der trainingsbesessene Christiano Ronaldo schon des Öfteren bewiesen hat. Die Wahl der Perspektive ist ein entscheidender Faktor, wenn es darum geht, Veränderungen auf den Weg zu bringen. Das gilt nicht nur für Fußballteams, sondern genauso für Ihr Unternehmen, Ihren Bereich oder Ihre Abteilung. Wollen Sie Freistöße üben oder wollen Sie Meisterschaften gewinnen? Wollen Sie digitalisieren oder wettbewerbsfähig bleiben? Wollen Sie seniorige Zielgruppen erobern oder Wachstum für die Zukunft sichern? Beispiel: Neue Zielsetzung

Im Rahmen eines extra einberufenen Digital-Workshops fordert die Geschäftsleitung: „Wir wollen unser Unternehmen auf einen Digitalisierungsgrad von mindestens 90 % bringen. Ziel ist das papierfreie Büro.“ Die Mitarbeiter schauen sich erschrocken an und fragen sich, was die Zielsetzung für das Unternehmen bringen soll. Wenn Sie eh schon ahnen, dass Ihre Mitarbeiter, Kunden und Dienstleister beim Wort „Digitalisierung“ die Augen verdrehen, und Sie viel lieber in leuchtende Augen blicken wollen, dann vermeiden Sie, diese ohnehin überstrapazierten Begriffe in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist auch besser für Ihre Glaubwürdigkeit. Denn mit großer Wahrscheinlichkeit sind Sie als Führungskraft selbst kein Digital Leader oder Demografie-Experte. Werden Sie also nicht zum Missionar

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3  Wandel vorbereiten

Abb. 3.1   Machen Sie aus dem Wandel kein UFO-artiges Sonderprojekt

einer Botschaft, die Sie selbst nicht authentisch predigen und vorleben können – die Sie selbst auch nicht mit Elan und Begeisterung angehen. Ihre Mitarbeiter spüren diese Dissonanz in Ihrer Haltung. Sie strahlt eine Atmosphäre lähmender Betroffenheit aus: „Wenn unser Management nicht richtig Lust darauf hat, warum und wie sollen wir diese Veränderungen dann bewältigen?“ Die Bearbeitung von Megatrends wie Digitalisierung stellt für die allermeisten Unternehmen nicht das ureigene Geschäftsfeld dar. Automobilzulieferer, Arztpraxen, Medien, Forschungslabore, Einzelhandel, Steuerkanzleien, Immobilienmakler, Hoteliers oder Landwirte verfolgen offensichtlich sehr unterschiedliche Unternehmensziele, pflegen andere Kundenbeziehungen und haben spezielle Anforderungen an ihre Mitarbeiter. Genau dafür interessieren sich die jeweiligen Unternehmer, Manager und Mitarbeiter. Dafür entscheiden sie sich jeden Tag nach dem Aufstehen. Ihre Energie, Zeit und Leidenschaft investieren sie für den Erfolg ihres Unternehmens – und nicht für die Umsetzung außerirdisch eingeflogener Sonderprojekte wie Digitalisierung, wie in Abb. 3.1 angedeutet. Bleiben Sie auf Ihrem Terrain und sprechen Sie über Ihr Unternehmen. Behalten Sie immer fest im Visier, dass die Möglichkeiten der Digitalisierung und die Chancen des demografischen Wandels Ihrem Unternehmen dienen müssen. Es darf nicht der umgekehrte Sog entstehen, dass Unternehmen und Mitarbeiter rotieren, um möglichst viele neue Tools und Ideen in Arbeitsplätze und Prozesse zu zwängen – wo sie vielleicht gar nicht gebraucht werden. Vermitteln Sie Perspektive mit Nutzen für Mitarbeiter, Kunden und Partner. Konkurrenten, die Arbeitsplätze, Angebote und Verträge mit höherem Nutzen bieten, werden Sie sonst auf Dauer ausstechen. Aus Dankbarkeit oder ideeller Loyalität werden Ihnen kaum Kunden treu bleiben; zumindest nicht so viele, dass Ihr Unternehmen damit überleben oder gar wachsen könnte.

3.2  Perspektive motiviert

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Beispiel Kodak

Keiner kaufte weiter Kodak, um Kodak zu retten. Die Zeit des analogen Fotografierens war einfach vorbei und Kodak hatte den digitalen Wandel ­ ­verschlafen. Den Unterschied im Nutzen zwischen Digitalisierung per se und der Weiterentwicklung eines Unternehmens kann man festmachen an folgenden Antworten auf die Frage: „Warum kauft man eine Bohrmaschine?“: a) um zu bohren; b) um Löcher in die Wand zu setzen; c) um Bilder aufzuhängen; d) weil man die Wohnung schöner gestalten will. Die Bohrmaschine ist ein Werkzeug zur Digitalisierung. Die Wohnung ist ein Unternehmen. Das Spektrum des Nutzens reicht von gebohrten Löchern bis zu schöneren Wohnungen. Digitalisieren ist wie Bohren. Es muss einen höheren Nutzen bringen als ein paar Löcher in der Wand. Konstanz als Bindeglied Bauen Sie in einer Zeit der Veränderung möglichst viele Konstanten ein, sodass Mitarbeiter nicht das Gefühl bekommen: Hier wird alles auf einmal auf den Kopf gestellt. Routinen und Gewohnheiten sind wie stabile Pfeiler, von denen aus Sie die Brücken für Veränderung schlagen können. Inszenieren Sie Veränderung als Teil des Alltags und nicht als außerordentliches Event. Beispiel: Veränderung kommunizieren

Im Rahmen eines traditionellen Jahresanfangsmeetings kündigen Sie an: Wir wollen prüfen, an welchen Stellen und in welchen Abläufen wir unser Unternehmen weiterentwickeln und anpassen müssen. Wir haben ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut. Wir werden alle anstehenden Veränderungen aus eigener Kraft stemmen und so dauerhaft konkurrenzfähig bleiben, moderne und sichere Arbeitsplätze erhalten und für unsere Kunden weiterhin attraktive Leistungen bieten. Die eben aufgeführten Beispiele zu Digital-Workshop und Jahresanfangsmeeting zeigen, dass zwei verschiedene Perspektiven bei den Betroffenen sehr unterschiedliche Akzeptanz auslösen können. Mitarbeiter mögen keine fremdkörperartigen Sonderprojekte, aber für die Weiterentwicklung ihres U ­ nternehmens

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3  Wandel vorbereiten

sind sie zu gewinnen. Das gilt übrigens auch für Kunden, Dienstleister und Lieferanten. Auch sie sind interessiert daran, Unternehmen fit und stark zu halten, mit denen sie gute Geschäfte machen. Vermitteln Sie also Mitarbeitern, Kunden und Partnern das Gefühl, dass alle Veränderungen im Sinne des Unternehmens und Schritt für Schritt erfolgen. Das ist eine andere Botschaft als: „Bitte alle ausschwärmen, das Unternehmen abreißen und am anderen Ufer wieder aufbauen – und zwar bis Ende des Jahres!“ Auch wenn beide Wege auf ein vergleichbares Ergebnis hinauslaufen – nämlich auf ein neu konfiguriertes Unternehmen in neuer Umgebung – wird ein Weg der kleinen Schritte als sicherer und nachvollziehbarer empfunden als ein radikaler Umschwung. Mit einer ruhigen, dosierten Haltung nehmen Sie zudem Druck aus dem Ballon der Veränderung, der sehr präsent ist in der öffentlichen Diskussion. Medien berichten täglich über Auswirkungen des digitalen und demografischen Wandels auf Geschäftsmodelle und Arbeitsmarkt: Der Online-Handel sorge für immer mehr Geschäftsaufgaben. Nahezu jeder Arbeitsplatz könne bald durch KI-getriebene Maschinen ersetzt werden, Hacker gefährden die Sicherheit im Netz… Noch heute nehmen Diskussionen zu diesen Themen oft das Bild von Drohszenarien an. Experten, Agenturen, Berater oder Coaches nehmen die Hysterie auf und bieten sich als Retter an. So wie Jogi Löw von 80 Mio. Bundestrainern die neue Aufstellung oder beste Taktik für die Fußball-Nationalmannschaft notieren könnte, so könnten Manager tagtäglich immer wieder neue Empfehlungen abholen, um ihr Unternehmen durch den Wandel zu steuern. Stellen Sie sich vor, was aus der Nationalmannschaft würde, wenn der Bundestrainer sein Fähnchen laufend nach dem Wissen außenstehender Dritter ausrichten würde. Also tun Sie das auch nicht bei der Steuerung Ihres Unternehmens! 

Bleiben Sie bei Ihren Leisten und sprechen Sie darüber, wie Sie Ihr Unternehmen besser machen und weiter entwickeln können. Halten Sie das Steuer selbst in der Hand und führen Sie Ihr Unternehmen mit ruhiger Hand durch die manchmal aktionistischen Zeiten des Wandels. Das traut man Ihnen zu. Das nimmt man Ihnen ab. Damit kommen Sie sicher voran.

Mit der Perspektive, ein besseres, wettbewerbsfähigeres und attraktiveres Unternehmen zu schaffen, werden Sie alle Mitarbeiter gewinnen können, die sich mit ihrer Aufgabe und ihrem Arbeitgeber identifizieren. Selbst diejenigen, die anfangs unentschlossen wirkten, würden Sie mit einer derartigen Aussicht eher überzeugen als endgültig abschrecken. Insofern ist Aufbruch auch ein gutes Mittel zur Mitarbeiterbindung.

3.3  Wandel ist Chefsache

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Ziel: Das vernetzte, wachsende Unternehmen

Abb. 3.2   Ein digital vernetztes Unternehmen mit Wachstum

Abb. 3.2 zeigt, wie digitaler und demografischer Wandel ideal für die Zukunft des Unternehmens genutzt werden können: Es geht nicht um eine Digitalisierung von Prozessen oder die Konzentration auf ältere Zielgruppen. Ziel ist ein effizientes Unternehmen, das Wachstumsmärkte erkennt. Wenn Ihre Mitarbeiter auf Seminaren nicht nur von guten Fortschritten bei den Benchmarks erzählen, sondern auch Botschaften hinterlassen wie: „Bei uns läuft die Digitalisierung im Alltagsbetrieb mit. Jede Abteilung trägt ihren Teil bei, unaufgeregt und in Eigenregie“ – dann haben Sie mit Ihrem Unternehmen vieles richtig gemacht.

3.3 Wandel ist Chefsache Zu den undankbarsten Aufgaben in deutschen Unternehmen im Jahre 2019 gehören die eines „Chief Digital Officer“ oder die von „Digitalisierungs-Teams“. Sie sind meist als Stabsstellen direkt an die Geschäftsführung angedockt. Bei ihnen wird das gesamte Paket „Digitalisierung“ geparkt, so als würde es die anderen Mitarbeiter nichts angehen, was in diesem Labor ausgetüftelt wird. Diese Abschiebementalität nimmt die Belegschaft dankbar an und fühlt sich dementsprechend überhaupt nicht aufgerufen, an irgendwelchen digitalen Veränderungen mitzuwirken. Die Geschäftsführung delegiert das Thema „Digitalisierung“ liebend gerne ins Nebenzimmer der nervigen Themen, um die sich bitte die Spezialisten kümmern sollen. Diese schwärmen auf Geheiß der Chefs aus, analysieren, probieren und versuchen, alle anderen Kollegen für die eine oder andere digitale Anwendung zu gewinnen. Aus Sicht der meisten Mitarbeiter handelt es sich um Exoten, die

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3  Wandel vorbereiten

man – mehr oder weniger freundlich – ungestraft ins Leere laufen lassen kann. Von den Chefs ist nicht mehr als ein verständnisvolles Schulterzucken zu befürchten, weil sie diese Nerv-Themen weder interessieren noch durchdringen. Noch weniger Aufmerksamkeit genießt der Megatrend „Demografischer Wandel“. Der hat es Anfang 2019 in den meisten Unternehmen noch nicht einmal auf ein Nebenzimmer mit Stabsstelle oder Spezialeinheit gebracht. Die Auswirkungen der veränderten Altersstruktur können sich ungestört breit machen. Sie sickern in alle Bereiche durch. Nachwuchsmangel, Marktveränderungen, Wertewandel, Kaufkraftverschiebungen, veränderte Einkaufsgewohnheiten – all das registriert man bestenfalls. Aber was bitte sollte man verändern? Mit einer derartig stiefmütterlichen Behandlung schaffen es selbst mächtige Megatrends nicht ins Rampenlicht. Dabei gehörten sie aufs Podest, mitten auf den Tisch, an oberste Stelle der Agenda, jede Woche, ohne Ausnahme. Die einzigen, die sie dort platzieren können, sind Entscheider und Führungskräfte – nicht die Leute aus dem Nebenzimmer und auch keine freien Mitarbeiter oder Berater, die ja gerne eingespannt werden, um unbequeme Botschaften – wie Veränderungen – zu begründen und zu kommunizieren. Ankündigung und Motivation für Veränderungen sind Aufgabe der Führungskräfte und können nicht delegiert werden. Ein klassischer Fehler in der Phase das Aufbruchs ist, dass Berater lange Zeit auf den Fluren des Unternehmens herumgeistern und nur ein paar eingeweihte Mitarbeiter lediglich Teilwissen erlangen über anstehende Projekte. So wachsen Gerüchte und Vorbehalte, die sich nur schwer aus der Welt schaffen lassen. Daraus braut sich ein Gemisch aus ­Misstrauen und Abneigung zusammen, das den Veränderungsprozess zäh und löchrig gestaltet. Kümmern Sie sich also höchstpersönlich darum, dass jeder Mitarbeiter frühzeitig erfährt und versteht, warum ein Wandel als Prozess der Weiterentwicklung des Unternehmens notwendig ist und bevorsteht. Und dass alle aufgerufen sein werden, ihren Beitrag dazu zu leisten. Wie die eben besprochenen Themen in der Praxis erlebt werden, schildert uns Lutz Nierhoff, der als Berater Unternehmen und Institutionen verschiedenster Branchen und Größe auf den Weg durch „ihren“ Wandel begleitete. Herr Nierhoff, wie erleben Sie Ihre Kunden auf Wandel vorbereitet? Wirklich vorbereitet in dem Sinne, dass konkrete Pläne vorliegen, eigentlich nie. Aus diesem Grund suchen die Kunden ja die Unterstützung durch uns. Das liegt vor allem daran, dass „richtiger Wandel“ ähnlich ist wie der Bau eines privaten Eigenheims. Das macht man nicht alle Tage oder im Zweifel nur ­einmal im Leben.

3.3  Wandel ist Chefsache

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Welche Ausnahmen haben Sie kennengelernt? Wir haben ein Projekt mit einem regional agierenden Bauunternehmen durchgeführt: Die Termine fanden morgens um 6 Uhr statt, da der Inhaber den Rest des Tages damit verplant war, einen Rekordumsatz zu erwirtschaften. Der Auftrag lautete, ein Konzept zu entwickeln, was rein für die Schublade gedacht war. Warum? Der Inhaber wollte für schlechtere Zeiten gerüstet sein. Der Umkehrschluss lässt vermuten, dass viele erst unter Druck agieren? Das stimmt. Aber unabhängig vom Stadium stellen wir die Frage nach dem Motiv für Wandel. Steckt eine strategische Krise dahinter: • Funktioniert das Geschäft zwar noch, aber die Strategie für die nächsten 10 Jahre ist unklar? • Ist der Auslöser eine Absatzkrise mit sinkenden Erlösen? • Befindet sich das Unternehmen bereits in einer Liquiditätskrise? Was im Zweifel drastische Maßnahmen erfordert. Wir legen sehr viel Wert darauf, diese unterschiedlichen Auslöser für Wandel im Vorfeld zu analysieren, um genau darauf abgestimmte Maßnahmen zu entwickeln. Gibt es Aspekte, die in jedem Prozess zu beachten sind, unabhängig von der Ausgangslage? Ja, die gibt es. Einerseits müssen wir die Geschwindigkeit innerhalb des Prozesses hochhalten und andererseits immer wieder Geduld anmahnen, weil die positiven Ergebnisse dieser Prozesse sich in der Regel nicht von heute auf morgen einstellen, sondern Durchhaltevermögen gefordert ist. Wie gehen die Betroffenen damit um? Generell haben wir die Erfahrung gemacht, dass es die Bereitschaft des Top-Managements braucht, um Veränderung zu initiieren. Natürlich können auch einzelne Abteilungen sich verändern. Aber um ein ganzes Unternehmen in den Wandel zu führen, scheint uns ein Top-down-Ansatz fast unverzichtbar. Regelmäßig beobachten wir drei gedankliche Muster, unabhängig von Position und Hierarchie: • „Was soll das denn, ist doch alles halb so schlimm, das geht vorbei, wir haben bislang immer erfolgreich gearbeitet.“ • „Endlich passiert etwas! Wir haben schon viel zu lange gewartet, ich brenne darauf, Dinge neu zu gestalten und neue Herausforderungen in Angriff zu nehmen.“

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3  Wandel vorbereiten

• „Erst einmal abwarten und nichts überstürzen! Ja, wahrscheinlich müssen wir uns verändern. Aber ich bin nicht sicher, was und wie wir es ändern sollten. Lass uns mal sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Wir springen im Zweifel auf den fahrenden Zug der Veränderung auf.“ Wie gehen die Manager damit um? Manager sehen den Druck für Veränderung häufig früher als die Mitarbeiter, weil sie mehr Transparenz über Zahlen und Ergebnisse haben. Das bedeutet zum Beispiel, dass Rückgänge im Umsatz auf dieser Ebene früher bekannt sind. Aber auch Mitarbeiter haben ein sehr feines Gespür dafür, dass und wenn sich Dinge ändern (müssten). Und sei es nur, dass in der Kaffeepause darüber gesprochen wird, dass die Kollegen im Lager in den letzten Wochen weniger Stress hatten als früher und dass darum der Umsatz nicht so berauschend sein kann. Im Management wird der Startschuss für Wandel gegeben. Alles soll hinterfragt und neu gedacht werden, mit einer Ausnahme: Die Bereitschaft und der Veränderungswille im Management selbst sind dann weniger stark ausgeprägt, als von der Organisation gefordert wird. Salopp gesagt: Ein „weiter so“ gibt es nicht mehr. Nur bei mir selbst mache ich eine Ausnahme. Ein kleines, aber symptomatisches Beispiel hierfür lieferte der Geschäftsführer eines Bundesverbandes, der alles auf den Kopf gestellt haben wollte – aber seine Postmappe und seine „Postbesprechung“ um 8:30 Uhr morgens waren unantastbar. Wie schafft man Bereitschaft, Lust und Freude auf Veränderung? In jeder Organisation finden sich Menschen, die Dinge verändern wollen. Diese Menschen sind einer der wichtigsten Hebel. Zu Beginn macht es wenig Sinn, die Blockierer oder die Unentschlossenen überzeugen zu wollen. Wichtig ist vielmehr, die Veränderungswilligen zu stärken und aktiv in den Prozess einzubeziehen. Denn auch deren Veränderungswillen wird irgendwann auf eine harte Probe gestellt, wenn das unvermeidbare Tal der Tränen im Veränderungsprozess naht. Was sind Ihrer Erfahrung nach die größten Hürden? Ein wichtiger Aspekt ist das Thema Zeit. In vielen Unternehmen ist die Arbeitsleistung in den letzten Jahren verdichtet worden. Ob 224 Emails und 12 Meetings am Tag sinnvoll sind oder nicht, ist die eine Sache. Aber ob das notwendige Veränderungen blockieren darf, steht auf einem anderen Blatt. Fakt ist: Das am meisten genannte oder vorgeschobene Argument lautet: Ich habe keine Zeit! Wann bitte soll ich denn das noch machen?

3.3  Wandel ist Chefsache

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Welche generellen Erfolgsfaktoren für erfolgreichen Wandel können Sie ­nennen? Folgende Faktoren spielen unserer Erfahrung nach immer eine entscheidende Rolle in der Frage, ob Wandel gelingen kann oder nicht. Und zwar unabhängig von der Art der Krise und der Größe der Organisation bzw. des Unternehmens: 1. Konzeption: Veränderung bedeutet nicht, Dinge einfach nur anders und im Zweifel schneller zu machen. Bildhaft gesprochen: Anstatt das gewohnte Loch schneller zu schaufeln, müssen im Vorfeld grundsätzlichere Fragen analysiert werden. Haben wir noch die richtige Schaufel? Buddeln wir noch an der richtigen Stelle? Wollen wir zukünftig überhaupt noch Löcher buddeln? 2. Umsetzung: Hier sind Fokussierung, Stringenz und Konsequenz erforderlich. Sobald der Fokus der Verantwortlichen nicht mehr auf der Veränderung liegt, gerät das Projekt in Gefahr. Ein Einzelhändler, der lieber mit seiner Bank über die Finanzierung einer Tiefgarage spricht als mit seinen Mitarbeitern über Zielgruppen und Produktsortiment, gefährdet den Prozess. Ebenso ein Vertriebsleiter, der Wandel in Richtung eines konzeptionellen Lösungsanbieters wünscht, dann aber auf dem Kick-off Workshop schnell noch eine preisgetriebene Verkaufsaktion durchpeitschen will. Ohne Stringenz scheitern Projekte. Das erfordert im Zweifel auch Konsequenzen und die Bereitschaft, sich von Mitarbeitern und Führungskräften zu trennen, die den Prozess behindern. Diese Beharrungskräfte erleben wir vor allem im mittleren Management, denn hier stehen hierarchische Privilegien und liebgewonnene Routinen auf dem Spiel. 3. Synchronisation und Kommunikation: Das Management ist häufig 6–12 Monate im Voraus mit dem Thema Wandel beschäftigt. Wenn es dann zur Umsetzung kommt, ist das Thema aus Sicht der Top-Manager bereits ein ‚alter Hut‘ und es müsse doch allen klar sein, worum es geht. Das ist ­mitnichten so. Permanent, immer wieder und bei jeder Gelegenheit müssen die Themen kommuniziert und die Mitarbeiter einbezogen werden. Das funktioniert so wie in der Werbung: Mindestens 3–6 Kontakte sind erforderlich, damit die Botschaft bei der Zielgruppe ankommt. Hier dürfen keine Mühen gescheut werden. So haben wir für eine Landesbehörde, die den kompletten Workflow papierlos digitalisiert haben wollte, eine Roadshow durch alle Regionen entwickelt. Teil davon waren Exponate aus einem Museum für Arbeit, mit denen wir zeigten, dass Veränderungen des Arbeitsplatzes

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3  Wandel vorbereiten

immer schon stattgefunden haben. Dadurch haben wir die Akzeptanz bei den Betroffenen enorm gesteigert. Mitarbeiter erwarten zu Recht Erklärungen und ihre Mitnahme auf die Reise. Das ist aus meiner Sicht die größte Herausforderung und Verantwortung für die Führungskräfte. Welche weiteren Hebel gibt es, um Wandel erfolgreich zu gestalten? Einen Leitsatz liefert die alte Weisheit: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Das Management definiert die Ziele für den Wandel. Die Gründe dafür und die geplanten Maßnahmen müssen offen kommuniziert werden. Das schafft Transparenz und Vertrauen. Möglichst alle Mitarbeiter sollten in den Prozess integriert werden. Wir machen das in Form von Workshops, in denen wir gemeinsam mit den Mitarbeitern strategische Ansätze und erste Ideen für Maßnahmen entwickeln, wie der Wandel bewältigt werden kann. Die Erfahrung zeigt zweierlei: 1. Die Mitarbeiter sind in den meisten Fällen motiviert, den Prozess mit zu gestalten. 2. Meistens entstehen die besten Ideen auf der Arbeitsebene und wir verknüpfen diese dann mit den übergeordneten Zielen. Wenn ich selber Teil eines Projektes oder Prozesses bin, werde ich mich damit identifizieren und habe ein großes Interesse und viel Motivation, diesen Prozess erfolgreich zu gestalten. Das ist am Ende genau das, was Management und Mitarbeiter gemeinsam wollen: sich persönlich in einem erfolgreichen Unternehmen einbringen und weiterentwickeln! Lutz Nierhoff lebt und arbeitet in Hamburg. Er war mehr als 15 Jahre im Management großer deutscher Verlage tätig. Seit 2010 führt er zwei Agenturen. nierhoff consulting fokussiert sich auf die Themenfelder Strategie, Konzeption und Kommunikation. Mit der nierhoff performance GmbH unterstützen er und sein Team Kunden in den Bereichen strategische Vertriebsplanung und operative Vertriebsumsetzung. Zudem ist Lutz Nierhoff Partner im Netzwerk der Agentur La Marca und verantwortet dort den Bereich Business Development. Bei wenig Wissen hilft Fragen Als Führungskraft müssen Sie Veränderungen im digitalen und demografischen Wandel mit Brisanz und Dringlichkeit vorantreiben. Wenn Sie selbst wenig Ahnung und Interesse haben auf diesen Gebieten, sollten Sie erst recht nicht nach altem Hierarchiedenken führen und wenig fundierte Entscheidungen mit hoch

3.3  Wandel ist Chefsache

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dekorierter Macht durchsetzen. Sonst passiert das, was L. David Marquet in seinem Buch Turn the Ship Around schreibt: „What happens in a top-down culture when the leader is wrong? Everyone goes over the cliff.“ Moderne Führungskräfte führen verstärkt durch Fragen und weniger durch Antworten. In einer immer schnelllebigeren Zeit mit täglich neuen Anforderungen ist dies nicht nur eine Frage der Philosophie, sondern der Notwendigkeit. Kein Mensch kann und mag alles wissen, überblicken und steuern. 

Führen Sie mit Fragen. Fragen Sie Mitarbeiter, wie sie ihre Prozesse und Arbeitsplätze besser gestalten könnten. Fragen Sie die Teamleiter regelmäßig nach dem Fortschritt der Veränderungen. Fragen Sie Kollegen aus der Geschäftsleitung, was sie dazu beitragen, vereinbarte Veränderungen voranzutreiben.

Fragen sind ein kräftiges Signal. Durch konsequentes Fragen und Einfordern von Antworten unterstreichen Sie die Relevanz eines Themas – besser als Sie es durch Vorträge, Anordnungen und Kommandos je erreichen. Mit Fragen können Sie laufende Prozesse elegant steuern und korrigieren. Das Angebot, auf Fragen zu antworten, verleiht Mitarbeitern Eigenverantwortung und fördert Motivation. Gleichzeitig lernen Sie als Vorgesetzter durch das FrageAntwort-Spiel mit Leichtigkeit immer mehr über ein Thema, für das Sie sonst kaum Zeit oder Energie aufgebracht hätten. Sie bleiben für Ihre Mitarbeiter ein Sparringspartner, bei dem sie Interesse und Kompetenz wachsen sehen zu einem Projekt, das früher im Nebenzimmer geparkt war. Das bestärkt Ihre ­Führungsposition. Beispiel: Vertriebskommunikation

Sie wollen, dass sämtliche Kundenkommunikation des Vertriebs online im zentralen System für Kundenpflege hinterlegt wird. Bis dato wird vieles nicht festgehalten oder nur in persönlichen Mail-Accounts der Vertriebsleiter abgelegt – wo es für die Vertriebssteuerung nicht auswertbar ist. Ihre Ansprechpartner sind die Vertriebsleiter. Mögliche Fragen nach Analyse der aktuellen Daten könnten sein: • Wie erfassen Sie aktuell Ihre Kommunikation mit Kunden? • Was hält Sie davon ab, die Kundendaten laufend zu pflegen und Kontaktberichte abzubilden? • Was brauchen Sie, um bis Ende des Jahres 100 % Ihrer Kommunikation mit Kunden vollständig und richtig im Online-System abzubilden?

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3  Wandel vorbereiten

• Welches Tempo und welche Zwischenziele schlagen Sie vor? • Wann wollen wir uns wieder dazu sprechen? Mit hoher Wahrscheinlichkeit decken Sie mit Ihren Fragen im Laufe des ­Austauschs auch Hürden und Versäumnisse auf, die nicht vom Vertriebsleiter zu vertreten sind. Möglicherweise kann er einen Teil der Kundendaten gar nicht pflegen, weil er nicht dafür freigeschaltet ist? Oder er arbeitet mit einem alten PC, der nicht ausreicht für die Nutzung des Systems? Das deutet darauf hin, dass die Kommunikation zwischen Vertrieb und IT-Abteilung nicht ideal läuft. Mit Fragen kehren Sie Ecken aus. So erreichen Sie sogar eine Optimierung von Prozessen und Zuständen, die Sie ursprünglich gar nicht im Visier h­ atten. Ganz nebenbei haben Sie drängende Herausforderungen, denen Sie sich lange Zeit nicht stellen wollten und konnten, in Angriff genommen und aus dem ­Nebenzimmer ins Chefzimmer gezogen – wo sie hingehören.

3.4 Wandel braucht Plan Heute ist den allermeisten Unternehmensleitungen bewusst: Eine Weiterentwicklung des Unternehmens ist dringend notwendig. Alle haben verstanden, warum dies in Angriff genommen werden muss, und sie sind bereit, mitanzupacken. Der CEO hat das Projekt zur Chefsache erklärt. Im nächsten Schritt geht es darum, einen Plan mit Zielen, Aufgaben, Maßnahmen, Kennzahlen, Verantwortlichkeiten und Terminen zu erarbeiten. Um einen Plan für die zukünftige Entwicklung eines Unternehmens zu erarbeiten, ist es sinnvoll, die Ist-Situation als Ausgangsbasis abzubilden. Dabei hilft folgendes einfaches Modell.

Alle Unternehmen bauen im kleinsten gemeinsamen Nenner auf drei Säulen:

• Mitarbeiter • Geschäftszweck mit Produkten, Angeboten, Services • Kunden (der Einfachheit halber zählen hier auch Lieferanten und Dienstleister dazu)

Wir bilden die drei Säulen in den Tabellenspalten ab. Die Megatrends wie digitaler und demografischer Wandel tragen wir in den Zeilen ein. Sie können jederzeit weitere Megatrends wie Klimawandel, Sicherheit oder Mobilität ergänzen. Tab. 3.1 zeigt, wie Sie die wichtigsten Themen im digitalen Wandel festsetzen für jede der Säulen Ihres Unternehmens.

3.4  Wandel braucht Plan

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Tab. 3.1   Aufstellung der wichtigsten Themen im digitalen Wandel für das eigene Unternehmen

Digitaler Wandel

Mitarbeiter

Produkte, Angebote, Services

Kunden

Führung Recruiting Wissenstransfer

Prozessoptimierung Wachstum Innovation

Kommunikation Kundenbindung Kundengewinnung

Tab. 3.2   Auflistung der wichtigsten Vorhaben pro Thema im digitalen Wandel Säule: Mitarbeiter Thema: Führung Vorhaben: Digitalisierte Erfassung von Arbeitszeiten Vorhaben: Online Tool für Zeitmanagement einführen Thema: Recruiting Vorhaben: Differenzierte Ansprache nach Berufsgruppe Vorhaben: Kanäle nutzen wie Facebook oder YouTube Thema: Wissenstransfer Vorhaben: (YouTube) Videos als Arbeitsanleitung Vorhaben: CRM-System für Vernetzung aller Daten

Säule: Produkte, Angebote, Services

Säule: Kunden

Thema: Prozessoptimierung Vorhaben: Buchhaltung und Lohnabrechnung online abbilden Vorhaben: digitale Steuerung des IT-Einkaufs Thema: Wachstum Vorhaben: Online Kanäle testen auf Lead-Generierung Vorhaben: Zielgruppenanalyse mit kostenlosen OnlineTools Thema: Innovation Vorhaben: Online-Recherche nach Produktneuheiten Vorhaben: Neue Angebotspakete mit Online-Services definieren

Thema: Kommunikation Vorhaben: Kundendaten digital erfassen und kategorisieren Vorhaben: Ideales Kundenprofil definieren Thema: Kundenbindung Vorhaben: Kunden erhalten individuellen Account im CRM Vorhaben: Individuelle und digital gesteuerte Kundenansprache Thema: Kundengewinnung Vorhaben: Start-ups und digitale Branche bearbeiten Vorhaben: Online-Services wie Webinars oder Videos

Im Beispiel wären unter der Säule Mitarbeiter die drei wichtigsten Themen im digitalen Wandel: • Führung • Recruiting • Wissenstransfer/Fortbildung Tab. 3.2 zeigt, wie jedes Thema auf konkrete Vorhaben weiter heruntergebrochen werden kann: Unter jedem Thema notieren Sie die Vorhaben, die im Kontext

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3  Wandel vorbereiten

des digitalen Wandels mit höchster Dringlichkeit angegangen werden sollen. So kommt man schrittweise vom Megatrend zum operativen Alltag. Beispiel: Unter der Säule „Kunden“ verorten wir unter dem Thema „Kommunikation“ folgende Vorhaben, die im Zuge des digitalen Wandels umgesetzt werden sollen: • Wir wollen alle Kundendaten digital erfassen und dann nach Kategorien qualifizieren. • Wir wollen zum Abgleich ein ideales Kundenprofil anlegen und so Mindestanforderungen für jeden potenziellen Kunden formulieren wie Bonität, Umsatzgröße, etc. An dieser Stelle kann ein kleines, internes Team aus digital affinen Mitarbeitern helfen, Optimierungsansätze in den einzelnen Aufgabenbereichen Ihres ­Unternehmens aufzudecken. Idealerweise erfolgt dies im offenen Austausch mit weiteren Mitarbeitern mit dem Ziel, Fachwissen und digitale Expertise zu verbinden und von Anfang an ein offenes Klima zu fördern. Beispiel: Digitale Prozesse im Einkauf

Langjährige Mitarbeiter aus dem Einkauf kennen die bestehenden Prozesse inund auswendig. Digital affinere Mitarbeiter können im Team mit den Kollegen erarbeiten, wie und an welcher Stelle im Einkauf Prozesse effizienter werden können durch den Einsatz digitaler Techniken. Nach gleichem Schema bildet Tab. 3.3 die dringlichsten Vorhaben im Kontext des Megatrends „Demografischer Wandel“ ab. Die Themen bleiben unter jeder Säule gleich. Die Vorhaben greifen nun die veränderte Altersstruktur und deren Auswirkung auf Absatzmärkte, Arbeitsmarkt oder Kommunikation auf. Dieses grobe Raster sollten Sie mit Ihrer Fachkenntnis, der Unterstützung Ihres Digital-Teams und der Hilfe Ihrer erfahrenen und veränderungsbereiten Führungskräfte zügig entwickeln können. Sie müssen lediglich Zeit frei machen dafür – ja, auch trotz operativer Hektik im Alltagsgeschäft. 

Sie können sicher sein, dass Sie keine bessere Investition tätigen können, als Ihr erfolgreiches Unternehmen weiterhin fit zu halten durch eine sorgfältig geplante Weiterentwicklung.

• Per Mertesacker schreibt in seinem Buch Weltmeister ohne Talent: „Mein persönliches Netzwerk (für Fitness und Training) kostete mich im Jahr zehn Prozent meines Nettogehalts, mehrere hunderttausend Euro. … Ohne diese

3.4  Wandel braucht Plan

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Tab. 3.3   Auflistung der wichtigsten Vorhaben pro Thema im demografischen Wandel Säule: Mitarbeiter Thema: Führung Vorhaben: Nachfolgeregelung rechtzeitig angehen Vorhaben: Beteiligungsmodell für neue Partner prüfen Thema: Recruiting Vorhaben: Attraktivere Präsentation des Unternehmens Vorhaben: Gezielt ältere Mitarbeiter umwerben Thema Wissenstransfer Vorhaben: Wissen für Mitarbeiter in Videos bereitstellen Vorhaben: Schulung durch Mitarbeiter in Rente

• • • • •

Säule: Produkte, Angebote, Services Thema: Prozessoptimierung Vorhaben: Vertrieb: Kundenanalyse nach Alter Vorhaben: Marketing: Abgleich der Zielgruppen mit Kundendaten Thema: Wachstum Vorhaben: Ansprache älterer Zielgruppen testen Vorhaben: Produktsortiment gezielt erweitern auf Bedürfnisse 50plus Thema: Innovation Vorhaben: Konsumgewohnheiten der 50plus analysieren Vorhaben: Erfolgs-Cases von Mitbewerbern prüfen

Säule: Kunden Thema: Kommunikation Vorhaben: Spezielle Botschaften für ältere Zielgruppen Vorhaben: Käufertypen im Alter nach oben erweitern Thema: Kundenbindung Vorhaben: Werte älterer Kunden belohnen wie Fair Trade Vorhaben: Service und Support stärken Thema: Kundengewinnung Vorhaben: Ältere Marktplätze gezielt ansteuern Vorhaben: Differenzierung vom Wettbewerb mit älteren Werten

zusätzlichen Therapien hätte ich nie sieben Jahre in der Premier League bei einem Spitzenverein spielen können.“ Machen wir folgende Rechnung auf: Das Gehalt betrug rund 3 Mio. EUR pro Jahr. 10 % davon, also 300.000 EUR, wurden jährlich für Training und Weiterentwicklung investiert. Gesamtgehalt: 7 Jahre × 3 Mio. EUR = 21 Mio. EUR. Gesamte Kosten für Weiterentwicklung: 7 × 300.000 = 2,1 Mio. EUR. So verbleiben nach Abzug der Kosten für Weiterentwicklung: 21–2,1 = 18,9  Mio. EUR. Hätte er nur eine Spielzeit früher aufhören müssen, hätte er „nur“ 18 Mio. verdient.

Die selbe Rechnung können Sie jederzeit auf Ihr Geschäftsfeld und Ihr Umsatzniveau hoch oder runter rechnen. Die Investition in Wandel, Training und Weiterentwicklung wird auch Ihr Unternehmen einen bestimmten Prozentsatz der Erlöse kosten. Aber diese Ausgaben werden sich immer lohnen. Garantiert. Die Karriere Ihres Unternehmens dauert viel länger als die von Per Mertesacker.

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3  Wandel vorbereiten

3.5 Wandel braucht Ziele Im nächsten Schritt geht es darum, die in Abschn. 3.4 in Tab. 3.2 abgebildeten Vorhaben als Ziele zu formulieren. Manche mögen denken: Diese Vorhaben sind doch schon als Ziele anwendbar. Denken Sie zurück an Ihre letzte längere Autofahrt mit Navigationsgerät. Vielleicht war es die Fahrt in den Urlaub nach Paris, in die Toskana oder nach Südschweden? Egal, wohin Sie Ihre Fahrt trug, erhielten Sie in jedem Fall am Ende der Reise vom Navigationsgerät die Meldung: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“ Aber was geschah davor?

Vor Beginn der Fahrt haben Sie

• an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit das Navigationsgerät bedient; • die genaue Anschrift des Ziels eingegeben; • Route und Fahrzeit berechnen lassen; • Warnungen oder Hinweise zu Staus oder Mautgebühren geprüft; • die Angaben bestätigt; • die Fahrt absolviert mit geplanten Pausen und Umleitungen.

Mit diesen Angaben hätte Sie jeder andere Fahrer auch zum Ziel gebracht. Oder das Auto hätte Sie autonom von einem Ort zum anderen bringen können. So etwas wird in naher Zukunft möglich sein. Vielleicht sogar im Flugtaxi. Wenn Sie Ihrem Navigationsgerät – oder Chauffeur – Anfang Januar nur mitgeteilt hätten: „Ich würde liebend gerne mal wieder in den Urlaub nach Skandinavien fahren“, dann stünden Sie heute noch in der Garage. Das ist der Unterschied zwischen Ziel und Vorhaben. Machen Sie die Daten für Ihr Navigationsgerät bei der Fahrt in den Urlaub zum Maßstab für die Zielvorgaben in Ihrem Unternehmen oder in Ihrer Abteilung. Ziele müssen für jeden Mitarbeiter zu jeder Zeit eindeutig und unmissverständlich sein. Ziele fördern Orientierung und Motivation. Ziele formen Bilder von Zuständen, die wir erreichen wollen. Ohne Ziel treffen wir bestenfalls zufällig ins Schwarze und kommen, wenn überhaupt, mit großen Umwegen und Zusatzaufwand an. Gut gefällt mir der Satz von Patrik Luzius: „Ohne Ziel ist jeder Schuss kein Treffer.“ Er beschreibt in aller Kürze, wie hoffnungslos ein Aufbruch ohne Ziel ist.

3.5  Wandel braucht Ziele

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Freude an Zielen Navigationstaugliche Zielformulierungen werden in der Fachliteratur SMART genannt. Hier ist ein Beispiel einer SMARTen Zielvorgabe für eine Fahrt nach Paris zu den French Open im Tennis:

Die Anfangsbuchstaben SMART werden in diesem Beispiel wie folgt bedient:

• Spezifisch: Fahrt nach 51 Boulevard d’Auteuil, 92.100 Boulogne-­ Billancourt, Frankreich • Messbar: Die Fahrt dauert von München rund 8 h und kostet ca. 160 EUR für Sprit und Maut • Attraktiv: Oh ja, ich freue mich auf die Tage beim Tennisturnier Roland Garros • Realistisch: Ich kann den Termin halten und schaffe die Fahrt in der vorgegebenen Zeit • Terminiert: Abfahrt am 01.06.2019 um 8:00 Uhr

Anhand dieses Musters können Sie jedes Vorhaben aus Tab. 3.2 auf ein Ziel  übersetzen.

Vorhaben: Online-Tool für Zeitmanagement einführen

• Spezifisch: Im Vertrieb führen wir ein dynamisches Online-Tool ein, mit dem wir die Stunden aller Mitarbeiter auf Projekte und Kunden verplanen können • Messbar: Das Tool kostet 400 EUR Lizenzgebühr pro Monat, reduziert Leerzeiten und vermeidet Überlastung • Attraktiv: Das Tool verbessert die Effizienz und gibt Mitarbeitern mehr Sicherheit • Realistisch: Samt Testphase bleiben 4 Wochen für Schulung und Einführung. Das reicht. • Terminiert: Das Tool ist an allen Arbeitsplätzen voll einsatzfähig ab 01.01.2020

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3  Wandel vorbereiten

Vorhaben: Wissen der Mitarbeiter in Videos bereitstellen

• Spezifisch: Um das Wissen der Mitarbeiter zu erhalten und auch für neue Kollegen bereitstellen zu können, drehen wir jeden Monat ein Video zu den 3 häufigsten Prozessen in jeder Abteilung. • Messbar: Jedes Video kostet 200 EUR, beansprucht einen halben Tag Produktionszeit und dauert nicht länger als 30 s • Attraktiv: Das Video wird auf unserem YouTube-Kanal bereitgestellt, erhält Wissen dauerhaft und ist zeit- und ortsunabhängig nutzbar • Realistisch: Ein Angebot für Umsetzung durch eine Produktionsfirma liegt vor • Terminiert: Wir starten mit dem 1. Video im Juli 2019 aus dem Vertrieb zum Thema „Die 5 wichtigsten Tipps für die Nutzung des CRM-Systems“

Begnügen Sie sich nicht mit Vorsätzen oder Visionen, auch wenn sie noch so löblich und erfreulich sind. „Ich würde gerne etwas Gewicht abnehmen“ ist so verbindlich wie die Aussicht auf Schnee im Winter. Kann sein, muss aber nicht. Und wenn ja, wie viel und wann und wo? „Ich würde gerne bis 31. Dezember 2019 von aktuell 80 auf 75 kg abnehmen.“ Daraus kann eine neue Kleidergröße werden. Die Formulierung von Zielen ist reine Übungssache und immer notwendig für eine gemeinsame und einheitliche Erfolgsorientierung: Jeder weiß jederzeit, wo es lang geht und was zu tun ist. Falls Sie auf die Idee kämen, manche Ziele seien nicht festzunageln und zu konkretisieren, irren Sie sich: Jedes Ziel lässt sich SMART formulieren, auch sogenannte qualitative Ziele. Sie müssen nur geeignete Bewertungsgrößen dafür entwickeln: 

Die Tauglichkeit eines Produktes für ältere Zielgruppen ist messbar über Produkttests oder Befragungen. Ein ideales Kundenprofil ist bewertbar durch Rentabilität, Unternehmensgröße, Anzahl der Telefonate und Beschwerden oder Branchenzugehörigkeit.

Teilen Sie jedes Ziel der Verantwortung eines Team-Leiters oder Teams zu und vereinbaren Sie Teilziele, die mit dem Unternehmensziel im Einklang stehen und es fördern. Es schieben quasi alle in ihrem Bereich mit an – abgestimmt auf ein gemeinsames Ziel. Die Ziele sollten bei den Teams und Verantwortlichen Freude und Motivation auslösen. Wenn dies nicht der Fall ist, dann ist entweder das Ziel nicht richtig formuliert oder der Mitarbeiter braucht ein anderes Ziel.

3.6  Wandel braucht Teilhabe

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Im Grunde sollte dieses einfache Modell für die meisten Unternehmen und Abteilungen reichen, um die wichtigsten Themen, Vorhaben und Ziele im digitalen und demografischen Wandel herauszuarbeiten und in die Umsetzung zu schicken. Zur Formulierung von SMARTen Zielen finden Sie reichlich ­Fachliteratur.

3.6 Wandel braucht Teilhabe Digitaler und demografischer Wandel sind Megatrends, die nach Definition aus Kap. 2 „als Entwicklungskonstanten der globalen Gesellschaft mehrere Jahrzehnte umfassen… und die Welt verändern – zwar langsam, dafür aber grundlegend und langfristig.“ Dementsprechend können auch die Anpassungen und Veränderungen als Antwort auf diese Megatrends nur „langsam, dafür aber grundlegend und langfristig“ vorgenommen werden. Die Entwicklung eines Unternehmens im digitalen Wandel ist keine Frage von neuer IT Ausrüstung mit vier Wochen anschließender Schulung. Sie ist kein Kraftakt wie die Einführung einer Matrixorganisation oder wie ein Umzug an einen anderen Standort. Es geht um ein dauerhaftes Umlernen und einen fortwährenden Umbau des Unternehmens – und zwar im laufenden Betrieb. In Zeiten des Wandels müssen Sie alle Mitarbeiter, alle Arbeitsplätze, alle Prozesse, alle Kundenbeziehungen, alle Verbindungen mit Dienstleistern und Lieferanten als aktiven Teil dieses Wandels gewinnen. Diese Überzeugungsarbeit verlangt von Vorgesetzten ein radikales Umdenken in ihrer Führungsphilosophie. Über Jahrzehnte waren die einen Chefs, die Ansagen trafen, und die anderen Befehlsempfänger, die funktionieren mussten. Machen Sie einen Schlussstrich unter dieses hierarchisch gesteuerte Top-down-Lenken. Jetzt brauchen Sie an jeder Stelle unternehmerisch denkende Mitarbeiter, die Verantwortung übernehmen und gerne mitmachen bei der Weiterentwicklung des Unternehmens, des gemeinsamen Unternehmens. Sie dürfen Macht und Verantwortung endlich teilen. 

Sorgen Sie für eine Kommunikation der erreichten Fortschritte unternehmensweit, damit alle am Wandel teilhaben und so Identifikation, Motivation, Spannung und Zuversicht hoch gehalten werden.

In Zeiten intensiver und tief greifender Veränderungen, die wir dauerhaft erleben werden, sehnen sich Mitarbeiter nach Führung im Sinn von klarer Linie, Ver-

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3  Wandel vorbereiten

ständnis, Vertrauen und Offenheit. Nur mit offener, regelmäßiger Kommunikation können Sie Vertrauen der Mitarbeiter in den Wandel aufbauen. Und nur wenn Sie das Vertrauen der Mitarbeiter haben, können Sie diese gewinnen als Fan und Promoter des Wandels. Intern, wenn Sie sich beim Mittagessen über die Situation des Unternehmens austauschen. Extern, wenn Sie in Gesprächen mit Kunden, Dienstleistern oder mit Familie und Freunden über das reden, was in ihrer Firma ­passiert. Stellen Sie in allen Management- und Team-Meetings die Fortschritte bei der Weiterentwicklung des Unternehmens im digitalen und demografischen Wandel vor. Dieses Reporting bekommt eine gleich hohe Priorität und Aufmerksamkeit wie betriebswirtschaftliche Kennzahlen. Die Ergebnisse werden an alle Mitarbeiter kommuniziert als Bestätigung für bisheriges Engagement und als Motivation für anstehende Aufgaben. Richten Sie Wege ein, auf denen Mitarbeiter über Feedback teilhaben können, und geben Sie Ihnen ein Zeichen, dass Ihre Meinung geschätzt und berücksichtigt wird. So wird Wandel ein positiver, eigendynamischer Prozess, an dem alle beteiligt sind. Dynamisches Puzzle Auch wenn jeder Teil des Unternehmens vom Wandel erfasst wird – nicht alles muss zur gleichen Zeit verändert werden und es müssen nicht alle Maßnahmen auf einmal umgesetzt werden. Betrachten Sie Ihr Unternehmen wie ein Puzzle, das aufgeteilt ist in viele Verantwortungsbereiche mit speziellen Zielen. Nun werden die Verantwortungsbereiche, also die einzelnen Puzzleteile, gemäß ihren Zielen neu geformt. Dabei verändern sich nicht nur die Teile selbst, sondern auch die Beziehungen zu verbundenen Bereichen – also zu benachbarten Puzzleteilen. Abb. 3.3 zeigt: Die Anpassung erfolgt gegenseitig so, dass alles wieder zusammenpasst. Manche Teile werden größer, manche kleiner. Manche rücken an eine andere Stelle oder bekommen viel mehr Berührungspunkte mit anderen. In der Summe wird das Unternehmen neu auf- und zusammengestellt und gewinnt dadurch eine andere Form. Dieser Prozess der Weiterentwicklung aller Einheiten und damit des gesamten Unternehmens wird im Wandel fester Bestandteil der Unternehmenskultur. Geben Sie ihm Raum und Zeit. Integrieren Sie dies als Routine in Besprechungen. Berücksichtigen Sie die Effekte explizit im Business-Plan und geben Sie dem Wandel eine Bühne bei Veranstaltungen oder in der Kommunikation. Entwickeln Sie einen Takt und Modus Vivendi für die Umsetzung des Wandels in Ihrem Unternehmen. Nach kurzer Zeit werden alle Beteiligten inhaliert haben, dass diese Veränderungen Teil der Zusammenarbeit mit Ihrem Unternehmen sind.

3.7  Wandel braucht Technik

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Abb. 3.3   Wandel bedeutet, dass alles neu konfiguriert wird



Informieren Sie Kunden und Dienstleister im Quartalsrhythmus über abgeschlossene Veränderungen und kündigen Sie anstehende Innovationen an. Unterstreichen Sie den Nutzen für die Beteiligten: „Als Teilnehmer an unseren Online-Services bekommen Sie unsere Premiumleistungen eine Woche früher bereit gestellt.“

Es ist ein erstrebenswerter Status, dass alle Mitarbeiter, Kunden, Partner und alle Ihre Kollegen – einfach alle, die mit Ihrem Unternehmen verbunden sind – jeden Tag gerne für Ihr Unternehmen arbeiten und gut über Ihr Unternehmen reden. Das ist ein sehr realistisches Ziel, wenn Sie Potenzial und Eigenverantwortung dieser Menschen entfachen, wertschätzen und sie teilhaben lassen am unternehmerischen Entscheidungsprozess, Fortschritt und Erfolg.

3.7 Wandel braucht Technik Anfang 2019 ist eine starke Dynamik im Aufbruch zu beobachten. Die Nachfrage nach Leistungen für die digitale Transformation von Unternehmen wächst. Täglich entscheiden sich neue Unternehmen: Wir greifen das jetzt an! Angenommen Ihr Unternehmen ist eines derer, die den digitalen Wandel endlich angehen wollen. Sie haben Ziele und Wege ausgearbeitet, wo das Unternehmen in ein paar Jahren stehen soll, und die gesamte Belegschaft auf den Kurs eingeschworen. Es kann losgehen. Aber halt! Woher findet man digitale Expertise für die Umsetzung? Wer verrät einem, welche Software, Hardware und sonstige Tools man wo kaufen kann? Wer hilft zu bewerten, was geeignet ist, was gut und was schlecht ist? Und ob

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es das viele Geld wert ist, das angeblich verlangt wird. Wer „installiert“ die digitalen Anwendungen im Unternehmen? Und wer pflegt und wartet sie und leistet schnell Hilfe im Notfall? Wie organsiert man Support, Updates und Systemwechsel? Das sind alles sehr praxisnahe Fragen, die eine anfängliche Euphorie des Aufbruchs schnell im Keim ersticken können. Die Technik-Frage ist eine Sollbruchstelle im Prozess des Wandels. Der steigenden Nachfrage nach Unterstützung bei der Umsetzung digitaler Transformation auf Unternehmensseite steht eine unübersichtliche Zahl und Mischung von Anbietern für „digitale Leistungen“ gegenüber. Auf einer der wichtigsten Messe DMEXCO – der Digital Marketing Expo & Conference – tummeln sich über 1000 Aussteller. Besucher kämpfen sich durch ein lautes Wirrwarr von Spezialisten, Exoten, Nischenanbietern oder Neulingen. Für 90 % dieser Fachbesucher sind 90 % der Stände spanische Dörfer. Wenn digital affine Besucher auf einer Fachmesse Schwierigkeiten haben, die unzähligen Angebote und Dienstleister einzuordnen oder gar zu verstehen… Wie soll sich ein Unternehmen ohne große IT-Expertise auf diesem unübersichtlichen und unbekannten Markt zurechtfinden?

Digitale Leistungen noch undurchsichtig

Die Marktplätze für die Vermittlung dieser digitalen Leistungen – gemeint sind an dieser Stelle nicht die Leistungen selbst! – sind heute noch unausgereift und teilweise nicht greifbar: weder für Anbieter noch für Interessenten und mögliche Kunden. Das liegt daran, dass Anbieter und Kunden • Geschäftsfeld, Leistungen und Ziele des Gegenübers nicht ausreichend kennen oder verstehen; • unterschiedliche Sprachen sprechen, beispielsweise IT-Deutsch und Anwalts-Deutsch; • Beziehungen und Vertrauen neu aufbauen müssen. Meist treffen alle drei Eigenschaften zu und das lässt den Markt undurchsichtig, wenig vertrauenswürdig und risikobehaftet wirken. Die Kluft scheint unüberbrückbar und kann die guten Absichten für digitalen Wandel auf Unternehmensseite entmutigen.

Abb. 3.4 macht deutlich, dass die Technik-Kluft zwischen alter und neuer Welt in vielen Fällen existiert. Das ist unbestritten. Genauso unbestritten ist, dass diese durch Nutzung vorhandener, einfach zugänglicher Ressourcen ganz einfach überbrückt werden kann.

3.7  Wandel braucht Technik

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Abb. 3.4   Die Technik-Kluft muss und kann überbrückt werden

Beispiel Personalisierung

Wenn ich auf dem Münchner Viktualienmarkt einkaufe, weiß ich genau, wo ich die Ware bekomme, die ich suche. Händler und ich sprechen die gleiche Sprache. Er kann mir Sortiment und Produktvorteile gut erklären, Preise begründen und Vergleiche ziehen. Er gibt mir immer ein gutes Gefühl beim Kauf, auch weil wir uns schon länger kennen und er genau weiß, was ich mag – und was nicht. Dieses Wissen, dieses Verständnis und diese Vertrautheit müssen auf neuen Märkten mit neuen Marktteilnehmern erst wachsen. Welche Methoden es gibt, auf dem technischen Markt der Digitalisierung Orientierung zu finden und sicheren Schrittes an die richtigen Stellen zu kommen, verrät Markus Perl. Markus Perl ist heute Chief Technolgy Officer bei der Erl Immobiliengruppe und verantwortet von der Webseite über SEO über Apps bis zum CRM die gesamte digitale Transformation dieses mittelständischen Unternehmens. Er bewertet, koordiniert, kauft und programmiert teilweise selber mit einem kleinen Team Anwendungen zur Digitalisierung von Prozessen. Davor war er unter anderem Developer in der Spiele-Industrie. Dabei lernte er, gewaltige Mengen von Daten

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zu handhaben. Danach war er 5 Jahre lang technischer Leiter bei der Entwicklung des sozialen Netzwerks seniorbook, das seinen besonderen Reiz als umfangreiches, komplexes Projekt hatte. Als sein Kollege erlebte ich, wie er tiefes und breites IT-Fachwissen mit dem Gespür für betriebliche Anforderungen in Sachen Digitalisierung verbindet. Privat arbeitet er an der Entwicklung eigener Ideen und Webseiten und berät Unternehmen auf ihrem Weg in der digitalen Transformation. Markus, wie kann ein Unternehmen den Markt für digitale Technik entdecken und verstehen lernen? Wichtig ist, dass man frühestmöglich anfängt, sich damit zu beschäftigen und nicht erst, wenn der Veränderungsdruck schon zu groß ist. Weil dann hat man keine Zeit und Muse mehr für Neues. Da gilt es, das Alte in Sicherheit zu bringen. Insofern wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, weil die Konjunktur (noch) brummt. Welche weiteren konkreten Tipps hast du für Unternehmen? Es gibt mehrere Wege und Ansätze, das technische Neuland, das sich vor einem auftut, schrittweise zu entdecken und zu verstehen: • Man kann externe Beratung einholen von EDV-Häusern. Hier könnte man eine Vorauswahl treffen danach, inwieweit diese externen Anbieter auf die eigene Branche spezialisiert sind oder schon Erfahrung gesammelt haben mit Kunden dieser Branche. Dazu kann man sich Beispiele zeigen lassen mit Kosten und Leistungsprofilen. Wichtig bleibt stets, dass man sich Zeit nimmt, zusammen mit dem Berater(-Team) einen gemeinsamen Plan für die digitale Transformation zu entwickeln. So bringt man Fachexpertise aus dem Unternehmen mit der IT-Expertise der EDV-Häuser zusammen. • Man kann heute sehr gut selbst im Internet recherchieren und schauen, wie vergleichbare Unternehmen herangehen – weil Unternehmen derselben Branche in der Regel die gleichen Themen haben. Man muss das als Geschäftsführer oder Abteilungsleiter nicht selber machen, wenn man keinen Draht dazu hat. Dann sollte man lieber einen digital hungrigen und aufgeschlossenen Mitarbeiter darum bitten. Der freut sich darüber. • Gerade über Online-Recherche kann man auch im Auge behalten, wenn neue digitale (Konkurrenz-)Produkte auf den Markt kommen, die eigene – noch analoge – Prozesse zu ersetzen drohen oder effiziente Verbesserungen für den eigenen Betrieb herbeiführen können. Ein schönes Beispiel ist iZettle, eine Anwendung, mit der auch kleine und mittlere Betriebe einfach und flott Kartenzahlung per EC oder Kreditkarte anbieten könnten. • Man kann Empfehlungen einholen von befreundeten Unternehmen oder von Business-Kontakten wie über Xing oder LinkedIn.

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• Man kann bei Anbietern von Branchensoftware anklopfen, wer gute Ergänzungen bietet. Beispielsweise ist bei Steuerberatern DATEV die Branchensoftware. Also könnte man bei DATEV nachfragen, welche Anbieter Software im Sortiment haben. Dabei sollte man immer das Ziel verfolgen, eine gut harmonierende, digitale Systemlandschaft aufzubauen – und keine Insellösungen, die gar nicht oder nur rein zufällig miteinander kommunizieren. • Man kann sich Angebote schicken lassen mit einer genauen Leistungsbeschreibung, was natürlich voraussetzt, dass man davor in der Ausschreibung die Ziele genau beschrieben hat. Ich bin sicher, dass alle Unternehmen einen deutlich besseren Überblick haben werden, wenn sie all diese Wege ausgelotet haben. Wo liegen die größten Risiken verborgen? Nach meiner Erfahrung liegt das Hauptrisiko nicht auf Anbieterseite, also dass zum Beispiel die Beratung oder die Umsetzung mangelhaft wären. Selbst Terminverzögerungen liegen nach meiner Beobachtung meist daran, dass notwendige Entscheidungen beim Auftraggeber verschleppt werden – und eher selten beim Dienstleister. Sicher gibt es Qualitätsunterschiede bei den EDV-Dienstleistern. Aber vieles kann man durch eigene Sorgfalt minimieren, indem man beispielsweise folgende Tipps beherzigt. Ein großes Manko liegt in vielen Fällen darin, dass Entscheider nicht genügend Zeit und Geduld aufbringen für die Auswahl digitaler Tools oder Software. Teure Anwendungen werden schnell und ohne Prüfung angeschafft. Dabei wäre es viel ratsamer, • einen Testlauf durchzuführen an wenigen Arbeitsplätzen über ein bis zwei Wochen; • dass sich Mitarbeiter und IT-Dienstleister im Vorfeld zusammensetzten und das Anforderungsprofil durchgehen; • Umsetzungsbeispiele und ein ausgearbeitetes Angebot mit Kosten, Leistungen und Terminen einzuholen und sich das erklären zu lassen; • alternative Angebote oder Meinungen einzuholen. Für die Auswahl des neuen Dienstwagens investiert man Stunden und Tage am Online-Konfigurator. Für die digitale Aufrüstung der Arbeitsplätze eines ganzen Unternehmens stellt man keine halbe Stunde bereit. Ergebnis sind dann oft ineffiziente digitale Anwendungen, die den Anforderungen des Unternehmens nicht gerecht werden und Prozesse sogar schlechter machen.

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Die Folge: Enttäuschung und Frust kommen hoch und entladen sich auf das gesamte Thema IT. Das wiederum macht die digitale Transformation im späteren Verlauf zäh. Daher prüfe, wer sich digitalisiert. Und wenn digitale Lösungen keine Verbesserungen bringen, dann sollte man an dieser Stelle (vorerst) analog weiterarbeiten. Digitalisierung der Digitalisierung willen ist kein Programm für ein Unternehmen in der Transformation. Wer sollte für Support, Wartung und Pflege engagiert werden? Das hängt etwas von der Größe des Unternehmens ab und von Fragen, ob ich es mir leisten kann, mal ein paar Stunden ohne Server zu sein, oder wie sensibel meine Daten sind. Als Faustformel würde ich empfehlen: • Je kleiner und unabhängiger ein Unternehmen ist, desto eher kann der IT-Support dauerhaft von externen Dienstleistern übernommen werden – etwa durch kleine Betriebe aus der Umgebung. • Je größer und je stärker ein Unternehmen vernetzt ist, desto schneller und umfangreicher sollte der Service garantiert sein. Das können immer noch externe Dienstleister machen, die nicht unbedingt vor Ort sitzen müssen. • Auf Dauer aber würde ich jedem Unternehmen raten, intern Know-how, Fähigkeiten und Ressourcen aufzubauen – etwa in Person eines IT-Administrators oder in Form eines digitalen Kompetenz-Teams. Denn eines ist sicher: Die Digitalisierung wird voranschreiten und sich ausbreiten. Daher sind Zeit, Geld und Sorgfalt dafür eine garantiert gute Investition. Webseite, Online-Werbung, SEO, Blog & Co: In welche Kommunikationstools sollte man aus technischer Sicht heute investieren? Die entscheidende Frage ist: Wer braucht was wofür? Auch Kommunikationstools sollte man strikt nach dem Ziel des Unternehmens auswählen und ausrichten. Braucht man beispielsweise eine Webseite mit Shop oder nur als digitale Visitenkarte? Oder soll sie am Ende einen leistungsfähigen Konfigurator für Autos umfassen? Entsprechend variabel sind die Kosten: von 4000 EUR bis sechsstellig bzw. nach oben offen. SEO ist für mich heute integraler Bestandteil bei der Programmierung einer Webseite. Eine gut gebaute und strukturierte Webseite ist wie ein leistungsstarker Motor. Den tankt man dann mit Content und je aktueller und besser – aus Nutzersicht – der Content ist, desto sichtbarer und relevanter wird die Webseite. Die früher geübten SEO Maßnahmen, um Unternehmen via Content auf die obersten Plätze der Suchergebnisse zu hieven, sind ein Auslaufmodell. Es bleibt eine

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schöne Vorstellung, ganz oben in Google zu rangieren. Aber gesuchte Begriffe sind dicht besetzt und hart umkämpft. Zu Begriffen, die selten gesucht werden, muss man nicht auftauchen. Das ist wie vor leeren Rängen Fußball zu spielen. Kann Spaß machen, bringt aber keine Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit bekommt man schneller, einfacher und günstiger über OnlineWerbung. Erster Grundsatz: Dort werben, wo die Leute sind! Das ist immer öfter online. Im zweiten Schritt gilt es den Kanal zu wählen, auf dem man die richtigen Leute am besten erwischt. Als effizient erweisen sich immer wieder Social-Media-Kanäle wie Facebook, auch Amazon oder Google. Wie man dort Werbung schaltet, ist leicht erlernbar. Man hat Budget-Kontrolle und kann den Erfolg messen. Messbarkeit von Online-Maßnahmen ist ein Riesenvorteil, den meiner Beobachtung nach viele noch außer Acht lassen. Viele Auswertungen werden angeboten und kaum welche genutzt oder herangezogen für die Anpassung von Maßnahmen. Wie teuer ist Digitalisierung? Egal, was man macht – von Prozessoptimierung über Webseiten-Programmierung bis Online-Werbung: Ohne Geld geht nichts mehr im Internet. Daher sollten alle schnell alte Erwartungshaltungen beerdigen wie: „Das Internet ist kostenlos“ oder: „Alles, was im Internet umgesetzt wird, darf nicht viel kosten“. Derartiges Denken ist noch sehr präsent in vielen Unternehmen, die erst am Anfang der digitalen Transformation stehen. Digitalisierung ist eine Investition. Je besser und sorgfältiger die Vorbereitung ist, desto schneller zahlt sie sich aus. Meine Empfehlung: Früh starten und viel trainieren – denn irgendwann kriegt sie uns alle. Technik ist also eine entscheidende Frage für die Bewältigung einer digitalen Transformation. Aber es ist keine technische Aufgabe, sondern eine Frage von Vorbereitung, Zeitmanagement, Sorgfalt, Offenheit, Kooperation und gesundem Menschenverstand. Es ist primär eine Frage der umsichtigen, vorausschauenden Führung. Führungskräfte und Entscheider sollten bei sich selbst und im Unternehmen technisches Wissen und Verständnis aufbauen. Das müssen keine ermüdenden, undurchdringbaren technischen Anleitungen sein. Podcasts oder Videos können helfen, Themen und Zusammenhänge spielerisch zu erschließen. Als Manager sollten Sie digitale Transformation Ihrer Mutter erklären können, ohne IT-Experte sein zu müssen (weder Sie noch Ihre Mutter). Genauso wie Sie Kostenrechnung oder Vertriebsarbeit erklären können, ohne Controller oder Außendienstmitarbeiter zu sein.

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So wie Sie auf Controller und Außendienstmitarbeiter angewiesen sind, müssen Sie auch veritables IT-Know-how für Ihr Unternehmen aufbauen. Das können Sie intern lösen in Form einer eigenständigen IT-Abteilung – als Profitcenter und nicht als Nerd-Enklave und mit Unterstützung von externen Dienstleistern oder Beratern. Sie können sich je nach Firmengröße und Bedarf die für Ihr Unternehmen beste Mischung zusammenstellen. Warten Sie nicht länger, denn der Markt an guten IT-Dienstleistern und Experten ist knapp. Wo man sie findet und was man beachten muss, erzählt Andreas Reischl, Geschäftsführer bei der Firma Datapex GmbH. Datapex erarbeitet Lösungen für Unternehmen in der digitalen Transformation – von punktueller Problembehebung bis zur Konfiguration und Umsetzung ganzer Systemlandschaften. In langjähriger Erfahrung hat Andreas Reischl die ganze Bandbreite möglicher Anforderungen kennen gelernt und weiß, worauf Dienstleister gefasst sein müssen, wenn Unternehmen sich an Digitalisierung wagen: Andreas, wie würdest du euren Markt beschreiben? Grob gesagt ist unser Markt in Hardware und Dienstleistung unterteilt. Die Hardwareseite untergliedert sich in Komponenten des IT-Netzwerkes und des Bereiches Telekommunikation. Netzwerke der Unternehmensprozesse werden als Gesamtkonzept analysiert. So werden Programme für die Abläufe verglichen und die Hardware den Anforderungen entsprechend erweitert oder getauscht. Der Markt ist in den letzten 2 Jahren stark gewachsen. Daran wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern. Im Gegenteil: Die Systeme werden immer komplexer vernetzt und die Anforderungen an interdisziplinäres Know-how nehmen zu. Wer diese Problemstellung zu bedienen weiß, gewinnt das Vertrauen der Kunden und findet sich bald in der Rolle des Kümmerers aller IT-Fragen: von der Steckdose bis zur Serverstruktur. Wonach sollten Betriebe suchen? Optimal ist ein Partner, bei dem man sich gut aufgehoben fühlen kann. Kriterien dafür sind Kundenfreundlichkeit, Know-how, Erfahrung, angemessenes Zeitmanagement und Termintreue. Das geht los bei Pünktlichkeit und Verbindlichkeit beim ersten Kennenlernen. Die Suche im Netz mit den typischen Keywords „Systemhaus“ oder „IT-Berater“ kann eine erste grobe Auswahl generieren. Ein persönlicher Vergleich und Auswahlprozess, wie bei Bewerbungen, ist grundsätzlich ratsam. Empfehlungen von Freunden, Bekannten oder Mitbewerbern können eine gute Ergänzung für die Meinungsbildung sein. Im Sinne kurzer Wege kann ein Partner aus der Region oder aus dem persönlichen Umfeld von Vorteil sein.

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Wie unterscheidet man gute von weniger guten Dienstleistern? Im Erstgespräch sollte nicht nur Sympathie entscheiden. Qualifikation, Engagement und Kundenorientierung eines IT-Dienstleisters sind mit etwas Vorbereitung gut zu bewerten – auch ohne profunde IT-Kenntnisse. Schreiben Sie im Vorfeld ein Briefing mit konkreter Aufgabenstellung. Ein geeigneter Maßstab ist, inwieweit sich der Dienstleister mit der Branche und dem Geschäftsmodell des Auftraggebers auseinander gesetzt hat. Das kann man daran festmachen, wie stark er die – im Briefing konkretisierten – Bedürfnisse des Kunden aufgreift und bedient. Oder ob er nur ein Standardangebot abgegeben hat. Reduzieren Sie Angebote nie auf den Stundensatz. Breite und tiefe Kenntnisse, Kundenorientierung, Einsatzbereitschaft und Teamspirit sind viel wichtigere Eigenschaften, die einen Dienstleister qualifizieren – oder nicht. Ein gutes Indiz für Kundenorientierung ist, wenn der Anbieter strategische Überlegungen einfließen lässt, die über die Lösung der unmittelbaren Problemstellung hinausgehen. Das ist ein hoch relevanter Aspekt, weil eine Korrektur und Kehrtwendung in der Systemlandschaft umso teurer und aufwendiger werden, je weiter der Weg fortgeschritten ist. Daher sollte ein Angebot entweder auf Basis einer fundierten Dokumentation oder einer ausführlichen Bestandsaufnahme erstellt sein. Es ist üblich, dass für eine Bestandsaufnahme Kosten in Rechnung gestellt werden. Diese Investition in eine gründliche Vorbereitung kann langfristig viel Geld sparen. Und Achtung: Auch auf Dienstleisterseite gibt es Fortschrittsverweigerer, die glauben, dass die alten Tools für die neuen Zeiten ausreichend seien. Es ist offensichtlich, dass gerade im Markt der digitalen Technik Stillstand keine Option ist. Wo seht ihr die größten Defizite und Fehleinschätzungen auf Unternehmensseite? Auch 2019 wird IT in vielen Unternehmen immer noch als Kostenfaktor und nicht als Profitcenter gesehen. Manche wähnen sich – irrtümlicherweise – schon weit vorne in der Entwicklung und sehen wenig Handlungsbedarf. Dass eine moderne Ausrüstung mit Hard- und Software und eine aktive Gestaltung des digitalen Wandels Effizienz steigern und gewinnbringend sind, können oder wollen sich die wenigsten Auftraggeber vorstellen. Im Gegenteil: Viele tun sich nach wie vor schwer mit Entscheidungen zu IT-Investitionen. Sie reiben sich an Preisen, die sie auf anderen Geschäftsfeldern anstandslos genehmigen. Wenn das eigene Wissen und Interesse für IT nicht sonderlich ausgeprägt sind, fehlen oft Vertrauen und Begeisterung für digitale Technologien. Das

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­ iederum führt zu einer geringen Investitionsbereitschaft und schränkt den w notwendigen kreativen und finanziellen Freiraum für weitsichtige IT-Lösungen erheblich ein. Zudem entstehen oft operative Verzögerungen durch lange Entscheidungswege und lange Entscheidungszeiten innerhalb eines Projektes. Die durchaus sinnvolle Option, punktuell externe Hilfe und Beratung für die eigene IT-Abteilung hinzuzuziehen, wird nur selten gezogen. Externe Dienstleister werden im Vergleich zu internen IT-Mitarbeitern als zu teuer eingestuft. Auch an dieser Stelle schlägt der Kostencharakter der IT voll durch. All das macht dem Themenblock IT das Leben in vielen traditionellen Unternehmen schwer. Noch dazu in guten Zeiten, in denen es auch mit weniger IT zu laufen scheint. Ein Blick in die weitere Zukunft würde eine andere Sprache sprechen. Wie kann man das Verhältnis zwischen (älteren) Entscheidern und IT verbessern? Ich denke, dass es schon ein guter Schritt wäre, auf Kundenseite dem Thema IT eine realistische, faire Chance zu geben. Man muss als 55-jähriger Geschäftsführer keine Romanze mit IT beginnen und man muss selber kein Technologie-Freak sein. Aber man sollte IT auch nicht aus Prinzip oder mangelnder persönlicher Neigung boykottieren. Eine sachliche Kosten-Nutzen-Analyse wäre im Sinn des Unternehmens. Was kosten die Investition und das konsequente Bekenntnis zur digitalen Transformation und was bringt das langfristig für das Unternehmen? Einen wichtigen Teil der Antwort darauf liefern die Dienstleister. Es liegt an ihnen, ein umfassendes und auf den Kunden zugeschnittenes IT-Konzept zu erarbeiten, das sie transparent machen, in verständlicher Sprache erklären und mit maximaler Verbindlichkeit abgeben. Das sind Hebel, um Skepsis und geringe Investitionsbereitschaft auf Kundenseite in Sicherheit und Vertrauen zu wandeln. Es ist für beide Seiten ratsam, Investitionen Schritt für Schritt umzusetzen, sodass eine gute Beziehung langsam wachsen kann. Damit nimmt man dem Kunden auch ein Stück der Angst, der IT ausgeliefert zu sein. Angesichts dieses Berichts aus der Praxis, ist es vielleicht etwas zu viel verlangt, dass IT von jetzt auf gleich als normale Abteilung eines Unternehmens integriert wird. Dieser Integrationsprozess braucht Zeit, Geduld und Verständnis und läuft umso geschmeidiger, je mehr Rückendeckung und Wertschätzung die Entscheider dem Thema IT widmen. Ziel ist nicht nur eine gut funktionierende IT-Serviceabteilung, die bei Malheurs oder Pannen schnell bereit steht, kaputte Server oder Laptops austauscht oder Updates fährt. Das erledigen die IT-Kollegen sowieso.

3.8  Mit den Besten messen

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Ziel muss sein, eine IT-Zentrale zu schaffen, bei der Herz und Kreislauf des Unternehmens rund um die Uhr das ganze Jahr in besten Händen sind. Nur so können Unternehmen in der digitalen Transformation im Kreis der Besten ­mitspielen.

3.8 Mit den Besten messen Wenn Stadion, Spielfeld und Sportart – wie in Zeiten des Wandels – neu definiert werden, gibt es die Chance, Boden gut zu machen. Demgegenüber besteht natürlich auch ein Risiko, dass man ins Hintertreffen gerät. Um die eigene Position laufend im Auge behalten und bewerten zu können, helfen Vergleiche mit anderen Unternehmen. Sind wir unter den Besten dabei? Können wir Schritt halten? Viele Unternehmen nutzen zur Beantwortung dieser Fragen das Instrument des Benchmarking.

 Benchmarking  Ein Instrument der Wettbewerbsanalyse. Benchmarking ist der kontinuierliche Vergleich von Produkten, Dienstleistungen sowie Prozessen und Methoden mit (mehreren) Unternehmen, um die Leistungslücke zum sog. Klassenbesten (Unternehmen, die Prozesse, Methoden etc. hervorragend beherrschen) systematisch zu schließen. Grundidee ist es, festzustellen, welche Unterschiede bestehen, warum diese Unterschiede bestehen und welche Verbesserungsmöglichkeiten es gibt (Prof. Dr. Klaus Wübbenhorst, GfK SE, in Gablers Wirtschaftslexikon). Wenn sich alle Unternehmen verändern, verändern sich auch die Relationen zwischen den Unternehmen und damit die Aussagekraft von Vergleichen. Regeln werden außer Kraft gesetzt. Neue Verhaltensweisen etablieren sich. Im Wandel treten Wettbewerber auf das Feld, die völlig andere Methoden anwenden, als sie in den alten Zeiten gepflegt wurden. Beispiel Skisprungtechnik

Der Schwede Jan Böklov Ende überraschte Ende der 80er-Jahre als erster Skispringer mit dem V-Stil. Die neue Technik trug ihn ein paar Meter weiter. Der Stil sah gewöhnungsbedürftig aus. Manche Athleten reagierten schnell auf die Innovation und dominierten bald das Skispringen. Andere mussten ihre Karriere beenden, weil sie dem Wandel nicht gewachsen waren. Manche Nationen zogen erst spät nach – so wie Team Deutschland 1992 (Wikipedia 2019, ­Skisprungtechnik).

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3  Wandel vorbereiten

Digitaler und demografischer Wandel sind Faktoren, die Position, Wettbewerbsfähigkeit und Erfolgsaussichten von Unternehmen einem völlig neuen Bewertungsschema unterziehen. Ein Kräftemessen mit den bisherigen Konkurrenten aus der alten Zeit nach traditionellen Methoden birgt nur noch begrenzte Aussagekraft für Fortschritt und Perspektive.  Wichtig Jeder Tag, an dem ein Skispringer Ende der 80er-Jahren den alten ­Parallel-Stil weiter trainierte, war ein verlorener Tag. Jedes Benchmarking, bei dem Sie Ihr Unternehmen mit den altbekannten Konkurrenten nach den altbekannten Kennzahlen bewerten, ist ein verlorener Tag.

Karl E. Weick hätte den Skispringern zugerufen: „Drop your tools“. Vergesst, was ihr gelernt habt. Wechselt die Ausrüstung und den Stil. Sonst werdet ihr den Wandel nicht überleben. Ein Rufen, das selten gehört wird und wenn, dann ungern. Langjährig gepflegte Benchmarks wirft kaum ein Manager schnell über Bord. Das Gelernte wird als kostbar empfunden; eine Umstellung als aufwendig und riskant. Beispiel Verlagsbranche

Im Jahr 2008 weitete sich die Krise der klassischen Verlage aus. Die Erlöse aus der Vermarktung von Anzeigen brachen ein. Immer größere Budgetanteile der Werbetreibenden flossen Richtung Online-Medien. Und wir saßen weiterhin jeden Montag im Management-Board und begnügten uns mit Marktanteilsanalysen innerhalb der Verlagsbranche. Warum sollten wir plötzlich Online-Zahlen einbeziehen in unsere Marktanalyse? Das ist doch ein anderes Spielfeld! Wenn man die Augen verschließt vor den Leistungen der neuen Klassenbesten und sich weiterhin mit dem Feld der Verlierer misst, mag der Schmerz vorübergehend nicht so groß sein. Ein kleiner relativer Marktanteilsgewinn kann sogar für Freude sorgen bei rückläufigen Umsätzen. Mit so einer rückwärtsgewandten Trostpflaster-Philosophie verliert man aber so viel Zeit und Boden, dass man nie mehr wieder wettbewerbsfähig sein kann in den sich neu formierenden Märkten. Schon allein deswegen lohnt es sich, von Anfang an entschlossen und selbstbestimmt auf Veränderungen zu reagieren: Geschäftsmodelle umzustellen, Märkte neu zu definieren, Prozesse und Strukturen konsequent anzupassen. Wenn sich erst einmal Zeit- und Erfolgsdruck eingestellt haben, wird es immer schwieriger, Veränderungen voranzutreiben. Dann wird oft panisch alle Energie darauf gelenkt, den Rest des alten Geschäftes zu retten. Und selbst das ist meist vergeblich.

3.8  Mit den Besten messen

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Im digitalen und demografischen Wandel wird nicht immer mit offenen Augen so leicht wie im Fall des V-Stils ersichtlich, wer neue Maßstäbe setzt, wer die Klassenbesten von morgen sein werden und woran man die Leistungsfähigkeit des eigenen Unternehmens in Zukunft messen soll.

Die neuen Klassenbesten wählen andere Spielfelder und andere Strategien:

• Kleine agile Unternehmen spezialisieren sich auf bestimmte Felder des eigenen Geschäfts, gehen auf Kunden zu und werden – lange Zeit unbemerkt – zu neuen Konkurrenten. Sie können mit schnelleren, besseren und günstigeren Angeboten punkten dank digitaler Techniken, die sie dort einsetzen, wo das eigene Unternehmen noch überwiegend manuell oder analog arbeitet. Beispiel: Digital und online basierte Buchhaltungsservices ersetzen Finanzbuchhaltung durch Steuerkanzleien. • Unternehmen aus benachbarten Branchen erledigen plötzlich Leistungen einfach mit. Beispiel: Smartphones übernehmen die Funktion von Fotoapparaten. • Konkurrenten passen ihre Marktausrichtung an und erobern mit neuen, bedarfsgerechten Produkten Wachstumsmärkte mit älteren Zielgruppen. Beispiel: Erfolg der SUVs mit höherer Sitzposition und bequemerem Einstieg. • Global agierende Unternehmen verdrängen lokale Anbieter dank digitaler Kommunikation und Vertriebskanäle. Beispiel: Internationale Streaming-Anbieter verdrängen nationale TV Sender.

Im Internet kursieren reihenweise Listen mit am meisten gefährdeten Branchen oder Berufen. Steuerberater, Notare, Journalisten, Redakteure, Bankangestellte oder Versicherungsmakler werden immer hoch gehandelt. Falls Sie Ihren Berufsstand dort noch nicht wiederfinden, liegt das wahrscheinlich nur an der Länge der Liste. Wandel erfasst alle Bereiche des Lebens und sorgt für Bewegung und Neusortierung. Wandel erzeugt ein Vakuum neu zu besetzender Chancen. Die Währungsreform oder die Wiedervereinigung waren radikale Einschnitte, die für viele Menschen neue Chancen eröffneten. Es ist nicht entscheidend, ob Sie an Nummer 1 oder an Nummer 10 der Gefährdetenliste stehen, weil Sie immer die Chance haben sich zu verändern. Tun Sie es nicht, stoßen andere in das Vakuum. Charles Darwin fand dafür folgende Worte: „Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, es ist diejenige, die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann.“

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3  Wandel vorbereiten

Von anderen lernen Sie können für Ihr Unternehmen jederzeit entscheiden, in den Ring zu steigen und sich mit den neuen Schrittmachern des Wandels zu messen. Die neuen Tricks und Trainingsmethoden stehen auch für Ihr Unternehmen zur Verfügung. Wahrscheinlich können Sie in der ersten Zeit der Umstellung eine Einweisung und Anleitung gut gebrauchen. Das Hinzuziehen fremder Hilfe dürfte für viele Entscheider etablierter Unternehmen eine ungewohnte Übung sein. Sie agierten immer mit dem Anspruch, ihr Unternehmen in Eigenregie zu managen und den Takt vorzugeben. Auch in ­diesem Punkt empfiehlt sich eine Überprüfung tradierter Haltungen.

Von anderen lernen

Hilfe zu suchen und zu beanspruchen, ist kein Zeichen von Schwäche. Im digitalen Zeitalter ist Teilen ein Grundstein intelligenter Kooperation. • Nie standen mehr Information und Wissen bereit als heute – vor allem dank Internet. • Nutzen Sie Unterstützung und Mittel von Bund und Ländern für digitale und demografische Initiativen. • Nie war es so einfach, Unternehmen zu analysieren oder mit anderen in Kontakt zu treten. • Nutzen Sie digitale Kommunikationskanäle, um von Mitarbeitern, ­Kunden und Partnern zu lernen.

Auch an dieser Stelle der Diskussion, Sie ahnen es, liegt der Engpass wieder einmal nicht in der Datenlage oder in Sachargumenten begründet. All das, was Sie recherchieren, analysieren und neu aufsetzen können, braucht Zeit und Energie. Sie müssen Neugier entwickeln und das unbekannte Terrain Stück für Stück entdecken und verstehen lernen. Nur auf gut Glück kalkulierend kommen Sie vielleicht ein paar Meter weiter, aber sicher nicht bis zum Ende eines Projekts.

3.9 Mutig in eine neue Zukunft Die Eroberung neuen Terrains im digitalen und demografischen Wandel lohnt sich, weil es der richtige Weg ist, Ihr Unternehmen auf neuen Ufern an neuer Stelle neu aufzustellen. Seien Sie mutig. Vergessen Sie die verordneten alten

Weiterführende Literatur und Quellen

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Handbremsen und machen Sie Ihr Unternehmen jeden Tag ein Stück anders und besser. Hören Sie nicht auf damit. Knicken Sie nicht ein bei Widerstand oder schwierigen Passagen. Viele Entscheider geben sich nach außen hin furchtlos. Man muss Sicherheit ausstrahlen, auch wenn man innerlich ein mulmiges Gefühl hat. So wurden Wörter wie „Problem“ oder „Angst“ verbannt aus der offiziellen Geschäftssprache – also aus Meetings, Workshops oder Vorträgen. An deren Stelle rückten Ersatzbegriffe wie „Herausforderung“ oder „Bedenken“. In der Gefühls­ welt vieler Entscheider aber bleiben es Probleme und Ängste, die sie in diesen anstrengenden Zeiten täglich plagen. In einer Phase des Wandels, in der viele Bausteine zügig bewegt werden sollen, brauchen Sie eine klare, einfache Sprache. Befreien Sie sich von Ersatzbegriffen, aufgeblasenem Fachjargon oder umständlichen, akademischen Sicherheitsformulierungen. Sprechen Sie Klartext! Seien Sie der, der Sie wirklich sind. Und fördern Sie, dass Ihre Mitarbeiter die sein können, die sie wirklich sind. Klare Sprache, Kommunikation auf Augenhöhe und eindeutige Verantwortlichkeiten sind hilfreiche Begleiter im Wandel. Was halten Sie von folgender, verlustangstfreier Perspektive? Mit dem Eintritt auf das neue Spielfeld der Klassenbesten können Sie endlich ein paar alte, lange mitgeschleppte Gewohnheiten offiziell abstreifen: von Anzugzwang bis Zeiterfassung. Sie haben die Chance, Ihr Unternehmen wieder ein Stück lebenswerter zu gestalten – befreit von unverdaulichen Altlasten. Mit dem Schwung vieler kleiner Initiativen und Innovationen können Sie ein Miteinander fördern, wie es heute unter Klassenbesten üblich ist. Mit wem würden Mitarbeiter, Kunden und Partner lieber zusammenarbeiten als mit einem der Klassenbesten? Diese Aussicht sollte Ansporn für Sie und Ihr Unternehmen sein.

Weiterführende Literatur und Quellen Buch Marquet, Louis David. 2012. Turn the ship around. New York: Penguin Group. Mertesacker, Per. 2018. Weltmeister ohne Talent. Berlin: Ullstein extra. Patrik, Luzius. 2018. Die erfolgreiche Steuerkanzlei. Wie Sie Ihre Kanzlei sicher durch den Wandel steuern. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.

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3  Wandel vorbereiten

Internetquellen Edelmann. 2019. Trust Barometer. https://www.edelman.com/sites/g/files/aatuss191/ files/2019-01/2019_Edelman_Trust_Barometer_Global_Report.pdf?fbclid = IwAR2LfChIIs2_iEwiOpHVgcEjaS1ha-3ebnJujVMKradE8N_ZHmxyWYtHaW4. Zugegriffen: 25. Jan. 2019. Henrich, Oliver. 2018. Vor der Verwaltung macht die Digitalisierung halt (19. Dezember). https://www.capital.de/wirtschaft-politik/vor-der-verwaltung-macht-die-digitalisierunghalt. Zugegriffen: 30. Dez. 2018. Maassen, Oliver nach Weick, Karl E. Drop Your Tools. https://www.haufe.de/personal/ hr-management/drop-your-tools-warum-verlernen-weiterbringen-kann_80_326582. html. Zugegriffen: 02. Jan. 2019. Otto, Torsten. IT Einkauf 4.0. https://medium.com/mod-it-services/it-einkauf-4-0-sooptimieren-sie-die-technische-beschaffung-5b55f2664758. Zugegriffen: 30. Dez. 2018. Projektmanagement Manufaktur. SMART Ziele – Ein Überblick, http://projektmanagement-manufaktur.de/smart-ziele. Zugegriffen: 31. Dez. 2018. Schröder, Dr. Wolfgang. 2018. Ziele SMART formulieren, business-wissen.de (Dezember). https://www.business-wissen.de/hb/smarte-ziele-und-wie-sie-formuliert-werden/. Zugegriffen: 31. Dez. 2018. Wikipedia. Skisprungtechnik. https://de.wikipedia.org/wiki/Skisprungtechnik. 6.1.2019. Zugegriffen: 12. Jan. 2019. Wübbenhorst, Prof. Dr. Klaus: Benchmarking Definition, Gablers Wirtschaftslexikon, https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/benchmarking-29988. Zugegriffen: 02. Jan. 2019. Zukunftsinstitut. Megatrends Übersicht. https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrends. Zugegriffen: 29. Dez. 2018.

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Deutschlands neue Mehrheit

Inhaltsverzeichnis 4.1 Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Konsumentenlandschaft 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Konsum-Klimawandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Was sind denn das für Leute? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der lange Weg zum Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Labile Entscheider im stabilen Prozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Missverständnis zwischen Werbung und Kunden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Wandel braucht Weitblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Mehr Konsum dank Down-Aging. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Vierfach-Effekt im demografischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der demografische Wandel treibt wundersame Blüten in unserer Konsumlandschaft. Produkte, die eigentlich für Junge gedacht waren, werden von reiferen Jahrgängen aufgesogen. 60-Jährige kaufen sich endlich das, was sie mit 40 nicht haben durften, weil die Lebenssituation damals nicht pässlich war. Prognosen bekräftigen, dass Konsumwachstum in Zukunft vor allem von Leuten ab 70 getragen wird. Forscher bestätigen: Jenseits der 50 gibt es Leben und Konsum. Angeblich sogar sehr aktives, genussorientiertes Leben. Höchste Zeit zu entdecken, was da abgeht. Dieses Buch will Sie nicht konvertieren zum Glauben an ältere Zielgruppen. Es will Sie auch nicht heimsuchen mit neuen Perspektiven und Erkenntnissen zu operativen Marketing-Details wie Preis-Absatz-Kurven, Influencern, Verpackungsdesign oder © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Bily, Zielgruppe 50plus: Marketing im demografischen und digitalen Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25805-4_4

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4  Deutschlands neue Mehrheit

Regaloptimierung. Im Zentrum der Überlegungen in diesem Buch steht die Transformation eines Unternehmens im Sinne der folgenden Definition von Marketing.

 Marketing  Der Grundgedanke des Marketings ist die konsequente Ausrichtung des gesamten Unternehmens an den Bedürfnissen des Marktes. Heutzutage ist es unumstritten, dass auf wettbewerbsintensiven Märkten die Bedürfnisse der Nachfrager im Zentrum der Unternehmensführung stehen müssen. Marketing stellt somit eine unternehmerische Denkhaltung dar. Darüber hinaus ist Marketing eine unternehmerische Aufgabe, zu deren wichtigsten Herausforderungen das Erkennen von Marktveränderungen und Bedürfnisverschiebungen gehört, um rechtzeitig Wettbewerbsvorteile aufzubauen (Prof. Dr. Manfred Kirchgeorg in Gablers Wirtschaftslexikon). Es mag schon sein, dass die meisten Unternehmen wissen, dass sie sich auf die Bedürfnisse ihrer Kunden fokussieren müssten. Aber die Praxis zeigt, dass es sehr fraglich ist, ob der Großteil der Marketingentscheider und Top-Manager dieser Unternehmen sich bewusst sind, wer denn diese Kunden überhaupt sind und welche Bedürfnisse sie haben. Das liegt nicht daran, dass keine Informationen dazu bereit stünden. Sie könnten zurückgreifen auf Absatzzahlen, Kundendaten, GfK-Daten, Kundenbefragungen und unendlich viel Zahlenmaterial und Statistiken. Menge und Qualität von Daten waren nie größer als heute und sie wachsen jeden Tag.  Eine konsequente Ausrichtung des Unternehmens an den Bedürfnissen des Marktes (im Sinne der oben genannten Definition von Marketing) bedeutet somit eine konsequente Ausrichtung an Kunden und deren Bedürfnissen. Die Antwort auf die Frage, was konsequent ist, hat sich im Zuge des digitalen und demografischen Wandels stark verändert.

4.1 Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten Seit Anfang der 2000er-Jahre gewann der demografische Wandel an Breitenwirkung. Seitdem erscheinen regelmäßig Aufsätze, Bücher, Studien oder Masterarbeiten, die sich mit älteren Kundensegmenten, Best-Ager-Marketing, dem Altersbild in Deutschland oder dem Wertewandel im Alter beschäftigen. Seit ein paar Jahren sind auch Talkshows, Zeitschriften und Bestseller-Listen des Buchhandels zusehends gespickt mit Gästen und deren Erfahrungsberichten, Schicksalen und Geschichten des Älterwerdens.

4.1  Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten

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Ein Pionier und erfahrener Spezialist für Marketing und Kommunikation in der Zielgruppe 50plus ist Dr. Andreas Reidl, Inhaber der Agentur für Generationen-Marketing, A.GE. Er beschäftigt sich schon seit Ende der 80er-Jahre mit den Auswirkungen und Chancen des demografischen Wandels für Märkte, Unternehmen und Institutionen. Andreas schreibt Bücher und Aufsätze dazu, hält Vorträge und berät Unternehmen. Er ist enger Beobachter und kritischer Begleiter seiner Kunden im demografischen Wandel. Andreas, wie siehst du die Entwicklung in der Wahrnehmung und Wertschätzung älterer Segmente durch Werbetreibende und Agenturen? Auch nach so vielen Jahren bin ich immer noch begeistert für „mein“ Thema. Bereits 2008 haben der GfK Nürnberg e. V. und meine Agentur A.GE eine Gemeinschaftsstudie zur Wertschätzung älterer Konsumenten durchgeführt. Damals hatten wir festgestellt: Die Wirtschaft hat den Wachstumsmotor älterer Kunden erkannt. Rund 40 % der Befragten registrieren eine hohe Wertschätzung von Seiten der Wirtschaft für Kunden in der zweiten Lebenshälfte. Aber rund 60 % meinen, dass die Wertschätzung zu gering ausfällt. Das birgt ein hohes Potenzial für diejenigen, die es verstehen, künftig besser auf die Bedürfnisse und Wünsche der reiferen Generation einzugehen. In den letzten 10–15 Jahren wurde Marketing für ältere Kunden immer professioneller verfolgt. Je wertvoller diese Segmente für eine Branche sind, desto intensiver arbeiten Werbetreibende und Agenturen an Konzepten, um die Kaufkraft abzuschöpfen. Ältere Gesichter auf Plakaten, im Werbefernsehen, in Anzeigen und in der Online-Werbung sind heute nicht mehr die Ausnahme. Mittlerweile wird in den Agenturen bereits über eine alterslose Gesellschaft diskutiert und die Frage gestellt: Benötigen wir eigentlich noch ein Zielgruppen-Marketing? Den Weg zu einer alterslosen Gesellschaft in puncto Lifestyle und Optik haben wir beschritten. Die Annäherung der Generationen verwässert den Jugendwahn. Das heißt aber nicht, dass Alter keinen Einfluss auf Konsumentscheidungen hat. Die neue Liebe im Alter kann einiges durcheinander bringen – aber auch die Geburt eines Enkelkindes, ein Schlaganfall oder eine Erbschaft. Das Diktat „jung und schön“ hat schon lange ausgedient. Keiner sagt aus Überzeugung ich fühle mich „alt“. Modern, lässig, sportlich – so beschreiben sich Ältere. Das Feel Age – das gefühlte Alter – gibt heute den Ton an. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ansprache älterer Konsumenten weit mehr braucht als nur markige, auf jung getrimmte Werbeslogans. Alters- und Kohorteneffekte beeinflussen die Erfolgschancen maßgeblich. Biologische Alterseffekte wie das Nachlassen der Seh- und Hörkraft sind bei

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den Agenturen bekannt. Kognitive Veränderungen werden oft noch vernachlässigt. So hat z. B. die altersbedingte nachlassende Geschwindigkeit bei der Informationsverarbeitung Einfluss darauf, ob Werbung angenommen wird. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass die Gerontologie als Lehre vom Alter und Altern – verknüpft mit marktwirtschaftlichen Fragestellungen – zu einer Schlüsseldisziplin des 21. Jahrhunderts und zur Know-how-Herausforderung für Werbetreibende und Agenturen wird. Was sind deiner Ansicht nach die größten Hürden, Vorurteile und Einwände, sich der älteren Kunden mehr zu widmen? Die größte Hürde ist sicher das Altersbild in den Köpfen der Entscheider. Oft scheint mir, dass manche Entscheider selbst ein sehr großes Problem damit haben, älter zu werden. Die zweitgrößte Hürde: die Angst, eine Marke durch Hinwendung zu älteren ­Zielgruppen „alt“ aussehen zu lassen. Würde man dieser Logik folgen, dann müssten alle Marken spätestens nach 30 Jahren vom Markt verschwinden, um dem Altersmakel zu entgehen. Genauso widersinnig wie diese Forderung ist das Vorurteil, dass ältere Kunden Marken alt machen. Im Gegenteil: Ältere Kunden unterstreichen, dass Marken wertvoll sind! Immer wieder begegne ich skurrilen Einwänden wie: „Die sterben doch sowieso alle weg“. Diesen rufe ich zu: „Ein Kunde mit 60 kann Ihnen noch 20–25 Jahre Umsatz liefern! Ein Kunde mit 80 Jahren konsumiert statistisch durchschnittlich noch 7–10 Jahre“! Regelrecht erschüttert hat mich die Aussage eines BWL-Professors: „Demografischer Wandel – alles schön und gut, aber das vergeht wieder.“ Fakt ist: Als verbraucherstärkste Altersgruppe der Zukunft macht die McKinsey-­ Studie „Urban world: The global consumers to watch“ (22.000 Teilnehmer) Personen zwischen 60 und 74 Jahren aus. Deutschland bildet beim Trend zum „Alterskonsum“ keine Ausnahme. Insgesamt, so schätzen die deutschen Studienleiter, tragen ältere Verbraucher 80 % zum künftigen Konsumwachstum in Deutschland bei. Unternehmen müssen ihr Marketing noch konsequenter auf ältere Segmente ausrichten, wenn sie von diesem Wachstum profitieren wollen. Demografischer Wandel, im Sinne von Alterung der Gesellschaft, lässt eben nicht nur bei der Gesundheitswirtschaft, bei Pflegeheimen, Rollatoren- und Hörgeräteherstellern die Kasse klingeln. Einzelhandel, Finanzdienstleister ­ (Stichwort Erbschaftswelle), Tourismusunternehmen, Immobilienwirtschaft (nicht nur Betreutes Wohnen, auch Hotels) – viele Branchen profitieren von der Alterung. Eine ältere Gesellschaft ist weniger eine Belastung für die Sozialkassen, sondern vielmehr eine Investmentchance!

4.1  Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten

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Die laufende Wirtschaftsrechnung des statistischen Bundesamtes weist folgende Daten aus: • 29 Mrd. EUR geben die 55plus für (frei verkäufliche) Gesundheitsprodukte aus und damit fast doppelt soviel wie die Generation U55. • 21,7 Mrd. EUR geben die 55plus für Bekleidung aus. 2 Mrd. EUR geben die 70–80-Jährigen p. a. für Damenbekleidung aus. Die 25–35-Jährigen nur 1,4 Mrd. EUR. • 13,2 Mrd. EUR geben die 55plus für Post- und Telekommunikation aus. Kaum weniger als die U55 mit 14,6 Mrd. EUR. • 465 Mio. EUR geben die 25–35-Jährigen p. a. für Haustiere aus. Die 70–80-Jährigen dagegen 518 Mio. EUR. • 4,5 Mrd. EUR geben die 55plus  p. a. für Blumen und Garten aus. Bei U55 sind es 2,7 Mrd. EUR. • 9,2 Mrd. EUR geben die 55plus  p. a. für Übernachtungen aus. Bei U55 sind es 8,4 Mrd. EUR. (Statistisches Bundesamt 2018a) Wir sehen gewaltige Märkte, die genährt werden von älteren Konsumenten. Diese Märkte werden weiter wachsen. Sehr treffend hat am 2.1.2019 der Focus-Online-Experte Adrian Roestel die Perspektive im demografischen Wandel zusammengefasst: „Unternehmen, die einen beträchtlichen Teil ihres Umsatzes mit älteren Menschen erzielen, werden schneller und nachhaltiger wachsen als der breite Markt.“ Was fördert die Digitalisierung das Umdenken in Richtung älterer Zielgruppen? Nicht nur Communities wie wize.life oder das von mir mitinitiierte grosseltern. de sind sichtbare Marken und Wegbereiter für ältere Zielgruppen. Auch die Tatsache, dass die Facebook-User immer älter werden, spiegelt den demografischen Wandel wider. Facebook ist nun 15 Jahre am Markt und seine Nutzer sind mitgealtert. Gemäß aktueller ARD/ZDF-Online-Studie sind rund 28 Mio. Onliner 50 Jahre und älter. ‚Nur‘ 30 Mio. sind 20 bis 49 Jahre alt. Demografisch bedingt wird schon bald die Mehrheit der Onliner 50 Jahre und älter sein. Das macht digitale Medien in der Kommunikation mit älteren Usern zu ­unverzichtbaren Kanälen. New Economy und alte Wirtschaft verschmelzen gerade im Best-Ager-Markt. Es sind zwei Welten, die sich ergänzen: Best Ager sind der Wachstumsmarkt und digitale Medien sind der Zugang zu diesem Wachstumsmarkt. Geschicktes Marketing verbindet beide Megatrends.

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Wie kann man den Nutzen in Zahlen ausdrücken? Ein Marketingleiter eines Lebensmittelherstellers klagte mir vor kurzem, dass die Zahl der Mahlzeiten sinke, dass zu Hause weniger gefrühstückt und zu Mittag gegessen werde. Ja, stimmt, auf den ersten Blick. Die Jüngeren essen seltener zu Hause und wählen immer öfter „to go“. Tatsache bleibt aber, dass gut 18 Mio. Menschen 60plus zu Hause mittag essen (nach GfK Consumer Scan 5/2015). Bei Ausgaben von durchschnittlich 2 EUR je Mittagessen summiert sich dies in 300 Tagen zu einem Umsatz von 11,7 Mrd. EUR, die der LEH mit den 60-Jährigen und älteren umsetzt. Morgens das gleiche Thema: Mehr als 90 % der 60-Jährigen und älteren frühstücken täglich. Ökonomisch betrachtet ist das wertvolles Potential. Die Gruppe der 60-Jährigen und älteren wächst von 22,5 Mio. (2015) auf 26,4 Mio. (2025) an (Destatis, 2017). So betrachtet sind die Essensgewohnheiten der Rentner für viele Marken, Hersteller und Händler sehr bedeutsam. Die 60-Jährigen und älteren gehen 269 mal pro Jahr im Lebensmitteleinzelhandel shoppen. Wer das im Marketing berücksichtigt, hat bald viel Grund zur Freude über neue ältere Märkte. Ein weiteres Beispiel für nicht zu Ende gedachtes Denken habe ich aus dem selbstbewussten Automobilsektor mitgenommen: „Mit 70 einen Neuwagen, das rentiert sich doch gar nicht mehr“, hat mir der Geschäftsführer eines Autohauses zugeflüstert. Dass Autos primär aus betriebswirtschaftlichen, rationalen Fakten gekauft werden, wäre mir neu. Dem 73-Jährigen, der sich gerade neu verliebt hat, ist es – wie einem 25-Jährigen – völlig egal, ob sich das rechnet. Für ihn geht es um Lebensfreude, um das Gefühl „ein toller Hecht“ zu sein und darum seine neue Liebe noch so lange wie möglich zu beeindrucken. Ob Liebe, Freiheitsdrang oder rationales Bedürfnis nach Mobilität im Alter: Die Zahlen im Automarkt sprechen eine klare Sprache. Für den Zeitraum Januar bis Dezember 2018 weist das Kraftfahrzeugbundesamt folgende Zahlen aus: 70–79-Jährige ließen 128.701 Neufahrzeuge zu. Das bedeutet bei einem durchschnittlichen Anschaffungspreis von 30.000 EUR rund 3,8 Mrd. EUR Umsatz. 18–29-Jährige ließen 93.539 Neufahrzeuge zu. Das bedeutet bei einem durchschnittlichen Anschaffungspreis von 30.000 EUR „nur“ 2,8 Mrd. EUR Umsatz. Der „alte“ Markt macht 1 Mrd. mehr Umsatz und wird werbetechnisch vernachlässigt. Die Kernaussage dieses Interviews mit Andreas Reidl könnte man so zusammenfassen: In den letzten 30 Jahren ist die deutsche Bevölkerung erheblich gealtert, aber noch nicht alle Entscheider in Marketing und Kommunikation haben das in

4.1  Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten

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vollem Umfang realisiert. Nur in ausgewählten Branchen und Produktkategorien wie Gesundheit oder Kosmetik erfolgt punktuell ein stärkeres Umdenken. Diese hängen so unmittelbar am Tropf älterer Zielgruppen, dass sie sich dem Wandel ergeben müssen. Aber freiwillig? Eine Mehrheit verharrt in jugendlicher Selbstverliebtheit, beruft sich auf stereotype Bewertungen von Zielgruppen oder verlässt sich auf Bauchgefühl, Intuition oder Lebenserfahrung. Wie auch immer: Sie liegen damit falsch. Marc S. Pritchard, Chief Brand Officer von Procter&Gamble sagt dazu: „Alter ist die nächste Grenze, die Werbung überschreiten muss. Wir erreichen jeden Tag 5 Mrd. Leute auf diesem Planeten und sind der größte Werbetreibende der Welt. Wir haben sowohl die Chance als auch die Verantwortung, die Wahrnehmung zu verändern. Bilder und Portraits von Menschen in der Werbung beeinflussen unsere Erinnerung und diese prägt Vorurteile. Aus diesen Bildern entstehen also unbewusste Vorurteile, die unsere Wahrnehmung der Welt verändern.“ Die Aufforderung an die Werbung lautet, die Realität anzunehmen und tradierte Muster abzulegen. Man ist versucht zu ergänzen: Allein der Weitsicht von Ingenieuren und Produktentwicklern in Verbindung mit der Dominanz und Souveränität (älterer) Konsumenten ist es bisher zu verdanken, dass Unternehmen trotz einer unnötig realitätsfernen Ausrichtung im Marketing überlebten. So bleibt die Frage, wann diese einfach anmutende Erkenntnis vom weltweiten Chief Brand Officer beim regionalen Markenverantwortlichen oder Marketingentscheider ankommt. Und wie viel auf diesem langen Weg vom Kern und von der Dringlichkeit der Botschaft erhalten bleibt.

4.1.1 Konsumentenlandschaft 2019 Die folgenden Zahlen des Statistischen Bundesamts in Abb. 4.1 zeigen, welche Größenordnung das Alterssegment 50plus mittlerweile erreicht hat. Über 30 Mio. im Alter zwischen 50 und 80 Jahren wurden Ende September 2018 in Deutschland gezählt. Die letzten geburtenstarken Jahrgänge feiern bald ihre 50. Geburtstage und sorgen für weiteren Nachschub. Bald ist die Hälfte der Deutschen 50 und älter. Wenn Sie also im Markt Deutschland Kunden gewinnen wollen, können Sie davon ausgehen, dass aus der Grundgesamtheit der deutschen Bevölkerung mehr als jeder zweite Erwachsene 50 Jahre oder älter ist. Rund die Hälfte der deutschen Kaufkraft liegt heute schon in Portemonnaies oder auf Konten, deren Inhaber 50 Jahre oder älter sind. Egal, was Sie verkaufen wollen: Ohne dieses Segment fehlt Ihnen mehr als die Hälfte der Kaufkraft.

126

4  Deutschlands neue Mehrheit

40.000.000 31.303.640 30.000.000

26.483.186

20.000.000 11.171.759 10.000.000

0

8.683.081 5.150.685

Unter 15

15 bis unter 25

25 bis unter 50

50 bis unter 80

Abb. 4.1   Bevölkerung in Deutschland nach Altersklassen. (Statistisches Bundesamt 9/2018)

79,1

80,7

76,7 74,5 70,5

1966

71,7

1976

1986

1996

2006

2016

Abb. 4.2   Entwicklung der Lebenserwartung für die deutsche Bevölkerung. (Weltbank)

Dazu kommt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung kontinuierlich steigt, wie Abb. 4.2 zeigt. Das verlängert erfreulicherweise nicht nur das Leben, sondern streckt auch die Dauer für Konsumausgaben. Wer heute in der zweiten Lebenshälfte angelangt ist, spielt noch sehr lange eine werthaltige, aktive Rolle in unserer Konsumgesellschaft. Zwar sinken die durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen mit dem Eintritt ins Rentenalter. Auf der anderen Seite erhöht sich der finanzielle Freiraum für Konsum im Alter, da viele Verpflichtungen entfallen, Wohnungseigentum abbezahlt ist oder die Kinder aus dem Haus sind. Dass die Konsumkraft sich gut entwickeln kann, solange man sich im Arbeitsleben befindet, ist augenscheinlich nachvollziehbar. Abb. 4.3 zeigt die Entwicklung des Konsumspielraums nach Altersklasse zwischen 2012 und 2016.

4.1  Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten 20-49 14% 12%

12%

127

50plus

13% 11%

10%

8%

8%

12%

8%

6% 4% 2% 0%

300

bis 500

500

bis 750

750

und mehr

Abb. 4.3   Konsumspielraum pro Altersklassen. (b4p 2018-II)

Sogar bei Personen zwischen 65 und 85 stieg das frei verfügbare Einkommen von 2012 auf 2016 um 20 %: von 522 EUR auf 628 EUR pro Monat. Über 600 EUR also, die sie jeden Monat einfach so ausgeben könnten für Dinge, die ihnen wichtig sind oder ihnen Spaß machen – oder beides. Es ging uns nie besser Mit der spürbar steigenden gesellschaftlichen Relevanz des demografischen Wandels hat sich eine sehr präsente mediale Diskussion um Themen wie Altersarmut oder Entwicklung von Renten entwickelt. Die Alarmzeichen in den Schlagzeilen könnten außenstehende Beobachter und jüngere Zuhörer leicht zum Glauben verleiten, die finanzielle Situation älterer Zielgruppen sei im Allgemeinen eher schwach und gebrechlich. Bestärkt wird man dabei möglicherweise von tradierten Altersbildern der eigenen Eltern oder Großeltern. In früheren Zeiten konnte man im Alter keine großen Sprünge machen. Das war entweder finanziell gar nicht möglich und, wenn ja, dann gesellschaftlich eigentlich nicht angemessen. Im Alter blieb man zuhause und hielt das restliche Geld zusammen. Natürlich gibt es auch heute noch benachteiligte Gruppen im Alter. Abb. 4.4 zeigt unter anderem: Gemäß den Ergebnissen der Generali Altersstudie 2017 liegt der Anteil derer, die ihre persönliche wirtschaftliche Lage als eher/schlecht einstufen bei 6 %. Für die Bewertung des gesundheitlichen Zustands und den Grad der gesellschaftlichen Einbindung ergeben sich Werte in einer ähnlichen Größenordnung: 6 % bezeichnen ihren allgemeinen Gesundheitszustand als schlecht. Häufig einsam fühlen sich 4 % der Befragten. Um diese Menschen und deren Nöte – wie Altersarmut, Einsamkeit oder gesundheitliche Probleme – müssen wir uns besonders kümmern. Die Lebensphase

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4  Deutschlands neue Mehrheit

Abb. 4.4   Beurteilung der eigenen wirtschaftlichen Lage. (Generali Altersstudie 2017, Basis Bevölkerung zwischen 60 und 85 Jahren)

6%

1% keine Angabe

31%

62%

auf diese Diskussion zu fokussieren, wäre allerdings in keiner Weise repräsentativ. Im Gesamtbild – mehrheitlich und im Durchschnitt betrachtet – geht es Menschen heute im Alter besser denn je zuvor. Sie genießen einen deutlich besseren Status in Gesundheit, Auskommen und Bildung als alle früheren Generationen. Diese gute wirtschaftliche und gesundheitliche Verfassung der Best Ager und Senioren ist Voraussetzung dafür, dass sie die zweite Lebenshälfte zu den besten Jahren ihres Lebens machen können. Mit dem Eintritt in die zweite Lebenshälfte realisiert jeder früher oder später, dass das Leben endlich ist. Viele erkennen in der Phase, dass sie eigentlich noch so viel vorhätten oder ändern wollten. Aus dieser Perspektive wächst ein sehnlicher Wunsch: Den Rest des Lebens nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Gefühlt wird jede Woche ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht mit Titeln wie Da geht noch was (Christine Westermann) oder sogenannten Bucketlists wie 1000 places to see before you die (Patrizia Schultz). Die Autoren dieser Bücher treffen einen Nerv unserer alternden Gesellschaft. Sie schreiben für eine Mehrheit im Land und bedienen genau deren Gefühlswelt. Viele leben ihre Sehnsucht und Bereitschaft zum Neuanfang – etwa in Fragen der Partnerschaft und Beziehung, der Freizeitgestaltung oder des sozialen Engagements. Sie ordnen ihr Leben und ihre Perspektiven neu. Sie sortieren Gewohnheiten, Einstellungen und Bedürfnisse aus und nehmen neue an. Das schlägt sich auch nieder auf ihr Konsumverhalten. Wie viele Menschen dieser Lebensphase ständig mitten unter uns sind, wird im Alltag nur schwer sichtbar.

4.1  Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten

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Rote Luftballons

Stellen Sie sich einen gut besuchten Markt vor, auf dem die Besucher im Alter ab 50 einen roten Luftballon tragen. Die roten Luftballons sind fast überall und zeigen Menschen, die entspannt mit großem Korb und ordentlich gefüllter Geldbörse flanieren. Mit Gelassenheit und ohne Zwänge suchen sie nach Angeboten, die ihnen helfen, ihr Leben schöner zu gestalten. Deutschland 2019 heißt auch: Fast die Hälfte der Bevölkerung feierte mindestens 50 Mal Geburtstag und Weihnachten und hat auf diesem langen Weg viele Geschenke eingesammelt. Heute konsumieren diese Best Ager nur noch, worauf sie Lust haben. Ist das nicht eine traumhafte Kundschaft?

4.1.2 Konsum-Klimawandel Wenn ein Land so stark altert wie Deutschland, zieht das einen Klimawandel in der gesamten Konsumlandschaft mit sich. Unaufhörlich, schleichend und kurzfristig kaum wahrnehmbar verändert sich die Nachfrageseite. Neue Mehrheiten bilden sich heraus mit anderen Vorlieben. Daraus entstehen neue Trends. Die Trends verfestigen sich zu Verhaltensmustern. Bedürfnisstrukturen verändern sich – egal ob für Produkte des täglichen Bedarfs oder im Hinblick auf Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen. Dies wiederum wirkt auf Unternehmen, Institutionen und Märkte. Veränderter Lebensstil Selbst Entwicklungen, deren Ursprung man landläufig in jüngeren Lebensphasen vermuten möchte, wurden und werden mehrheitlich von älteren Zielgruppen getragen. Dazu gehören Themen wie Nachhaltigkeit oder Bewusstsein für Umwelt und Gerechtigkeit. Dank gewachsener Freiheit, Gelassenheit, Souveränität und Lebenserfahrung räumt man diesen Eigenschaften in reiferen Jahren mehr Bedeutung ein. In den Jahren zwischen 20 und Ende 40 dominieren Karriere und Familie den Alltag. Eine Umfrage von wize.life, dem größten deutschsprachigen Online-Netzwerk für Best Ager, untersuchte Ende 2018 die Haltung von Menschen im Alter 50plus hinsichtlich der Aussage: „Werte und Einstellungen ändern sich in der zweiten Lebenshälfte. Heute sind für mich andere Dinge wichtig als noch vor 20, 30 Jahren.“ Über 85 % der über 400 Teilnehmer gaben an, das treffe auf sie „überwiegend/voll und ganz“ zu.

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4  Deutschlands neue Mehrheit

Als Eigenschaften, auf die sie beim Einkauf am meisten achten würden, nannten sie:

• Qualität • preiswert • umweltfreundlich • leicht bedienbar • bequem • Beratung vor Ort • verständlich • Fair Trade • Bio • Marke

Die Neigung älterer Zielgruppen zu Themen wie Fair Trade, Bio, regionalen Produkten oder Nachhaltigkeit wird übrigens bestätigt in anderen, repräsentativen Studien wie Best4Planning. Diese Ergebnisse legen nahe, dass man diese Eigenschaften gezielt bei Kunden 50plus bekannt machen sollte. Wie Abb. 4.5 zeigt, treffen sie dort auf ausgeprägte Bedürfnisse, die relevant sind für deren Kaufentscheidung: Wenn Kunden ein Bedürfnis nach Bio-Produkten zeigen, dann sollten Anbieter von Bio-Produkten diese Produkteigenschaft in erster Linie als Nutzen an Kunden 50plus kommunizieren. Naturgemäße Umgewichtung Neben verändertem Lifestyle und neuen Trends gibt es ein Reihe unmittelbarer Auswirkungen des demografischen Wandels. Allein aufgrund der zahlenmäßigen Umgewichtung in der Bevölkerung braucht man für weniger Kinder weniger Schulen. Auf der anderen Seite der Altersskala steigt der Bedarf nach Pflegeeinrichtungen.  Wichtig Im Schuljahr 2016/2017 gab es in Deutschland rund 33.500 Schulen. Dies waren 8 % bzw. 2800 Schulen weniger als vor zehn Jahren. In einem gleichen Zeitraum wuchs die Zahl der Pflegeheime in Deutschland um 31 % von 11.029 in 2007 auf 14.480 in 2017. Tendenz: stark steigend.

Folgende Prognose ist nicht gewagt: In allen Gemeinden, wo früher Grund- und Hauptschulen standen, werden in Zukunft Pflegeheime oder andere altersgerechte Wohnformen gebraucht. Mit der mathematisch logischen Begründung, dass die

4.1  Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten 20-49

131

50plus

30% 25%

25% 18%

20% 15%

11%

14% 11%

13%

10% 5% 0%

Abb. 4.5   Bedeutung von Werten. (b4p 2018-II – Kategorie: trifft voll und ganz/überwiegend zu)

geburtenstarken Jahrgänge diese Einrichtungen mit steigender Wahrscheinlichkeit im hohen Alter brauchen. Ähnliche naturgemäße Konsequenzen sind steigende Investitionen in barrierefreie Bahnhöfe oder öffentliche Einrichtungen im Allgemeinen bis hin zur Sicherstellung der Mobilität durch öffentliche Verkehrsmittel. In Großstädten drängen Supermärkte und Discounter wieder in die Stadt, um näher an älteren Konsumenten zu sein und deren Wege zu verkürzen. Auf die Zukunft des autonomen Fahrens werden vor allem ältere Zielgruppen anspringen. Augenoptiker und Brillenhersteller freuen sich über natürliches Marktwachstum. Das sind nur ein paar Beispiele dafür, wie der demografische Wandel Leben, Erscheinungsbild und Märkte unseres Landes stetig verändert. Wenn Sie für Ihre Branche oder Ihr Unternehmen auf ähnlich natürliches Wachstum bauen können, profitieren Sie von einer erfreulichen Folgeerscheinung des demografischen Wandels. Das heißt aber noch lange nicht, dass Sie damit alle Möglichkeiten für Wachstum und Erfolg automatisch ausgeschöpft und optimiert hätten. Beispiel Würstchenstand

Der Würstchenstand vorm Fußballstadion läuft gut, weil er der einzige weit und breit ist. Betrieben wird er von einem mürrischen Kauz, der wenig Interesse an seinen Kunden hat. Wenn er seine Speisekarte etwas erweiterte, kühles Bier im Sommer hätte und auch mal grüßte, würde das Geschäft wohl durch die Decke gehen. Aber es reicht ja so auch, denkt der sich. Auch Sie kennen sicher Betriebe oder Einkaufsstätten mit ähnlicher Einstellung. Manche Verkäufer oder Dienstleister wollen sich einfach nicht einlassen auf ihre Kundschaft. Sie wollen Kunden partout nicht kennenlernen und stehen sich auf dem Weg zu mehr Erfolg selber im Weg. Wir schütteln den Kopf, wenn wir von

132

4  Deutschlands neue Mehrheit

gut laufenden Betrieben hören oder lesen, die von Nachfolgern mangels Interesse oder Fähigkeiten heruntergewirtschaftet wurden. Wir kanzeln Deutschland oft ab als Dienstleistungswüste. Wir wundern uns, wenn wir wenig Zeit eingeräumt bekommen bei der ärztlichen Behandlung, oder wenn die Mitarbeiter im Technikmarkt wieder mal weniger Ahnung haben als wir selber (und unsere Ahnung ist schon überschaubar). Geradezu kopf- und sorglos gehen manche mit ihrem Unternehmen, mit ihren Mitarbeitern und Kunden um, nicht wahr? Es ist auch ein Zeichen für Kopf- und Sorglosigkeit, wenn man augenscheinliche Veränderungen der Altersstrukturen und die damit einhergehenden Auswirkungen auf Erwartungen und Bedürfnisse von Konsumenten nicht ins unternehmerische Kalkül einbezieht. Auch wenn Sie kein mürrischer Kauz sind, sondern eher ein gut gelaunter, beliebter Typ. Auch wenn Sie keine Würstchenbude leiten, sondern eine Arztpraxis, ein Hotel oder einen mittelständischen Betrieb. Die zentrale Botschaft des Würstchenbudenbeispiels liegt – auch für Sie – in der Antwort auf die Frage: Wer sind Ihre Kunden und wie können Sie diese begeistern? In Zeiten des demografischen Wandels lohnt es sich noch mehr als sonst, die Antworten darauf neu zu prüfen. Haben sich Ihre Kunden verändert, neue Bedürfnisse angenommen oder ist ihre Erwartungshaltung an Produkte und Dienstleistungen eine andere geworden? Legen die Kunden viel mehr Wert auf saubere und termingerechte Leistung, während früher alles schnell und billig gehen musste? In welchen Märkten und mit welchen Angeboten können Sie in Zukunft wachsen? Welche Kunden können Sie realistischerweise mit Ihren Leistungen gewinnen? Worauf müssen Sie besonders achten? All diese Fragen sind leicht zu beantworten – wenn Sie Ihre wirklichen Kunden gut kennen.

4.1.3 Was sind denn das für Leute? Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie ältere Menschen das Leben in Deutschland prägen, muss man nicht auf die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zurückgreifen. Einen guten Eindruck vermittelt ein alltäglicher Lackmustest zur Altersstruktur: Wenn Sie bei rot an einer Ampel stehen, schauen Sie mal in die Gesichter der Leute auf der anderen Seite der Straße. Oder laden Sie Ihren Partner in ein gutes Restaurant ein. Gönnen Sie sich den Besuch einer Oper oder eines klassischen Konzerts. Schlendern Sie durch einen Baumarkt oder ein Autohaus. Besuchen Sie Ihren Nachbarschafts-Apotheker. Machen Sie eine Motorrad-Spritztour, eine Bergtour mit anschließendem Wellnessprogramm oder einen Trip in ihre Lieblingsstadt.

4.1  Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten

133

Egal, für welche Variante Sie sich entscheiden: An einem durchschnittlichen Tag werden Sie mehrheitlich ältere Personen antreffen, von denen viele ziemlich ähnliche Vorlieben zu haben scheinen. Die Gründe liegen auf der Hand: Die Menschen, die heute 50 Jahre und älter sind, haben in ihrer Kindheit und Jugend eine wesentlich kompaktere Sozialisation erlebt, als sie junge Menschen heute erleben – also mit weniger Optionen und Ablenkungen. Im Laufe vieler Jahre haben sich diese Erfahrungen, Erkenntnisse und Lerneffekte verdichtet. Und daraus resultieren ­vergleichsweise homogene Werte und Erwartungen an das Alter. Ungeachtet dessen mäandert das Schlagwort „Heterogenität im Alter“ durch die Welt – unter anderem durch die Welt des Marketings. Fast jeder hat es offenbar schon mal gehört und nutzt es als Einwand, sich nicht länger mit älteren Lebensphasen beschäftigen zu müssen.

Heterogenität im Alter wird meist falsch übersetzt mit Interpretationen wie:

• Mit zunehmendem Alter verhalten sich die Menschen immer unterschiedlicher. • Sie verteilen sich auf viele verschiedene kleine Grüppchen. • Sie lassen sich nur schwer auf einen Nenner bringen und damit schlecht als kompakte Einheit anvisieren.

Sätze wie diese sind oft in Gesprächen mit Werbetreibenden oder Mediaagenturen zu hören. Mit diesen Vorwänden kommt eine skeptische bis ablehnende Grundhaltung gegenüber älteren Konsumenten zum Ausdruck. In Wahrheit versucht die Diskussion um „Heterogenität im Alter“, die durchaus unterschiedlichen Lebenskonstellationen älterer Menschen aufzugreifen, die sich im Laufe der Jahre ergeben haben. Das gilt insbesondere dann, wenn sie gegen Ende Ihres Lebens schwierige Umstände ertragen müssen und unser besonderes Augenmerk verdienen. Ziel ist, möglichst alle so lange wie möglich in der Gesellschaft integriert zu halten und ihnen ein würdevolles Altern zu ermöglichen. Die große Mehrheit der Menschen in der Lebensphase 50plus zeichnet sich eher aus durch ein vergleichsweise homogenes Muster an Wünschen und Erwartungen. Werte verändern sich im Laufe der Jahre. Aspekte wie Sicherheit oder Gesundheit werden wichtiger als eine gute Ausbildung oder Erfüllung im Beruf. Ganzheitlich betrachtet haben Menschen eine klare Vorstellung davon, wie sie gerne alt werden möchten. Und danach richten sie auch ihr Konsumverhalten aus.

134

4  Deutschlands neue Mehrheit

Was wirklich zählt

Werte im Alter

Als zentrale Werte im Alter nennt Dr. Sabina Misoch von der Hochschule St. Gallen im Rahmen ihrer Studie „Wertvorstellungen und Wertewandel im höheren Lebensalter“ folgende Werte (in Anlehnung an Thesen des Altersforschers Helmut Bachmaier): • Sicherheit • Gesundheit • Aktivität • Mobilität • Partizipation, Teilhabe • Bereitschaft, lebenslang neue Erfahrungen zu machen • Motivation • Kompetenzen: lebenslanges Lernen • Selbstbestimmung, Selbstverantwortung

Diese Werte bringen zum Ausdruck, was Menschen im Alter wichtig ist und womit man ihre Aufmerksamkeit und Begeisterung gewinnen könnte.

 Werte…  …sind Strukturen normativer Erwartungen, die sich im Zuge reflektierter Erfahrung (Tradition, Sozialisation, Entwicklung einer Weltanschauung) herausbilden. Aus Werten wiederum erwachsen Erwartungen – zum Beispiel an das, was gutes Altern heutzutage bedeutet. Befragt wurden hierzu Best Ager zwischen 50 und 75 Jahren im Rahmen des „Konsumbarometer 2016“ der Commerz Finanz. In Deutschland rangieren auf den ersten Plätzen die 4 G: „Gesundheit – Geld – Genuss – Gesellschaft“ wie Abb. 4.6 ausweist. Für alles, was einem wichtig ist und am Herzen liegt, bringt man gerne Liebe, Zeit und Energie auf. Insofern stellen diese vier „G“ – Gesundheit, Geld, Genuss, Gesellschaft – die Grundpfeiler für die Konsumorientierung der Best Ager. An ihnen richten sich Bedürfnisse der Zielgruppe 50plus aus, wie sie beispielsweise Barbara Schlosser im Rahmen von Experten-Interviews eruierte und wie sie in Tab. 4.1 ausgewiesen sind. Je nach Modell und Untersuchung können diese Werte, Einstellungen und Bedürfnisse variieren. Im Kern bleibt ein kompaktes Bild vom Alter erhalten, das

4.1  Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten

135

58%

sich mit Freunden und Familie umgeben

72%

73%

eine gute finanzielle Situation

89%

bei guter Gesundheit sein 0%

20%

40%

60%

80%

100%

Abb. 4.6   Das sind Kennzeichen für „Gutes Altern“. (Observatoire Celetem, Basis: Altersgruppe 50–75 Jahre in Deutschland)

sich für eine weitere Segmentierung nutzen lässt. So hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2010 folgende „fünf neue wertebasierte Konsumententypen für eine praxisorientierte Einteilung der über 50-jährigen Verbraucherinnen und Verbraucher“ ausgewiesen in der Studie „Potenziale nutzen – die Kundengruppe 50plus“: 1. die preisbewussten Häuslichen: 43 % Anteil an 50plus-Bevölkerung; 2. die qualitätsbewussten Etablierten: 28 % Anteil; 3. die anspruchsvollen Genießer: 15 % Anteil; 4. die kritischen Aktiven: 8 % Anteil; 5. die komfortorientierten Individualisten: 6 % Anteil. Diese Typologisierung ist einer von vielen Ansätzen, die Phase der zweiten Lebenshälfte in griffige Einheiten zu unterteilen. Entscheidende Botschaft an dieser Stelle ist: Die Ausrede, dass das Segment 50plus zu heterogen sei und nicht klar eingeteilt werden könne, dürften Marketingentscheider nicht (mehr) gelten lassen. Zumal viele Unternehmen damit Gefahr liefen, ihren wichtigsten Wachstumsmarkt falsch einzuschätzen. Wer wirklich kauft Sie betreiben ein gutes Restaurant in zentraler Lage. Sie können jeden Tag live und in Farbe Ihren Kunden in die Augen blicken. Sie ahnen, dass die meisten schon die Mitte ihres Lebens überschritten haben. Viele kommen immer wieder, weil sie Essen und Trinken genießen wollen und kein Problem haben mit einer satten Rechnung. Sie machen die Kasse am Ende des Tages und wissen: Mindestens 70 % meiner Einnahmen kommen von diesem lebensfreudigen, reifen Klientel.

136

4  Deutschlands neue Mehrheit

Tab. 4.1   Bedürfnisstruktur der Zielgruppe 50plus. (Quelle: Schlosser 2017) Individuelle Bedürfnisse

Soziale Bedürfnisse

Bedürfnisse bei Kaufentscheidungen

Selbstständigkeit, Freiheit, Unabhängigkeit

Wertschätzung, verstanden werden

Qualitätsbewusstsein

Selbstverwirklichung

Teil der Gesellschaft sein, Rundum-Sorglos-Paket soziales Engagement zeigen

Selbstbestätigung geistiger Fitness

Gesellschaftlicher Kontakt als Erlebniswert

Entschleunigung: einfach mal Vermeidung von Stigmatinur an sich denken sierung

Komfort, Sportlichkeit, Jugendlichkeit Sicherheit, Servicementalität

Persönliche Zeit: „Ich-gönnmir-was-Gefühl“ Wohnliche Veränderung, individuelle Mobilität

Ihre Werbung aber stecken Sie nur Leuten unter 30 in die Briefkästen. Sie hofieren jüngere Menschen, die (noch) gar nicht den Wunsch, die Zeit oder die Mittel haben, Ihr Restaurant zu besuchen. Ihre Stammkunden spüren irgendwann, dass sie nicht mehr erste Wahl sind. Plötzlich eröffnet ein Konkurrent in unmittelbarer Nachbarschaft. Dessen Küche ist vielleicht nicht so gut wie Ihre, aber der Chef bemüht sich mehr um diese Kunden und heißt sie namentlich willkommen. Selber schuld? Ja! Und genau das passiert laufend in Marketing und Kommunikation vieler Unternehmen und Institutionen. Viele Marketingentscheider wissen oder müssten wissen, dass die Kunden ihres Unternehmens oder die Käufer ihrer Marken eher aus dem Kreis „anspruchsvolle Genießer“ oder „komfortorientierte Individualisten“ kommen mit einem durchschnittlichen Alter von Mitte bis Ende 50. Diese beiden Typen stellen zusammen ein Potenzial von rund 7 Mio. gut situierten Best Agern, die Wert legen auf Marke und Qualität. Aber in ihrem Marketingplan umwerben viele Marketeers doch lieber und immer wieder jüngere Zielgruppen – etwa dynamisch urbane Milieus. Vielleicht weil sie dort ein größeres Potenzial vermuten? Betrachten wir dazu folgende zwei Zielgruppen auf Basis der Studie Best4Planning: • 14–49-Jährige, die in Städten ab 100.000 Einwohnern leben und folgenden Milieus zugerechnet werden: konsum-materialistisches, aufstiegsorientiertes, liberal-intellektuelles, hedonistisches, postmodernes Milieu – Gesamtpotenzial: 15,46 Mio. Personen

4.1  Was Sie schon immer über Alter nicht wissen wollten 14-49, urban, starke Milieus

4,46

137

50plus, urban, starke Milieus

4,84 3,61

3,89 3,2

2,84

2,76 2,2

1,66

1,43

bis 2.000

bis 3.000

bis 4.000

bis 5.000

5.000

plus

Abb. 4.7   Einkommenssituation von jungen und älteren „starken“ Milieus. (b4p 2018-II) 14-49, urban, starke Milieus 5,46

5,44

50plus, urban, starke Milieus

5,17

4,51

1,83

2,26

2,25 1,16

bis unter 100

100 bis unter 300

300 bis unter 500

1,24

500 bis unter 750

1,58

750

und mehr

Abb. 4.8   Konsumspielraum in jungen und älteren „starken“ Milieus. (Quelle: b4p 2018-II – Anteil in Millionen)

• 50plus, die in Städten ab 100.000 Einwohnern leben, und folgenden Milieus zugerechnet werden: konsum-materialistisches, etabliertes, aufstiegsorientiertes, liberal-intellektuelles Milieu – Gesamtpotenzial: 15,44 Mio. Personen Auffällig ist, dass das Grundschema der Einkommensverteilung im Wesentlichen gleich ist mit leichtem Überhang der älteren Zielgruppe sowohl in unteren Einkommensklassen als auch in sehr hohen Einkommensklassen. Es gibt also keinerlei Grund zur Annahme, dass ältere Zielgruppen schlechter gestellt wären – wie Abb. 4.7 zeigt. Betrachtet man den Konsumspielraum, quasi den frei verfügbaren Teil des Einkommens, gibt es ab 300 EUR aufwärts einen durchgängigen Trend für deutlich mehr Konsumspielraum bei älteren Konsumenten. Die Zahlen aus Abb. 4.8 belegen, dass mit dem Alter der Konsumspielraum steigt – weil viele Verpflichtungen entfallen.

138

4  Deutschlands neue Mehrheit

Egal ob nach Einkommen oder Konsumspielraum betrachtet, bleibt die Erkenntnis, dass viele Branchen, Unternehmen und Marken einen Großteil ihrer wahren Kunden in älteren Zielgruppen finden. Das Segment 50plus ist einfach zu groß und zu stark, als dass man es als Randerscheinung behandeln könnte. Folgende kleine Reihe von Beispielen aus konkreten Märkten skizziert mit typischen Situationen aus dieser Lebensphase das Konsumverhalten von Best Agern: Beispiel Reise

Viele Best Ager sind unternehmungslustig, oft und gerne unterwegs. So beträgt der Anteil der deutschen Touristen im Alter von 50plus in Bayern: 60 %, in Österreich: 54 %, in Italien: 45 % und in Australien: 57 %. Also egal ob Alpensee oder Übersee: Best Ager prägen das Landschaftsbild und die Urlaubskasse (Tourismus Analyse 2017). Beispiel Aktivitäten

In Urlaub und Freizeit zeigen Best Ager eine Vorliebe für Städtetrips, Wellness, Kultur, Genuss und sanfte Sportarten. Dafür gönnen sie sich gute Ausrüstung und legen Wert auf Marke und Qualität. Ergebnis ist, dass hochpreisige Outdoor-Marken rund die Hälfte ihrer Käufer im Segment 50plus findet: Jack Wolfskin: 48 %, Goretex: 52 % und Schöffel: 57 % (Best4Planning 2018 II). Beispiel Mobilität

Menschen im Alter ab 50 stellen heute die am besten motorisierte Generation und sie bleiben dies auf absehbare Zeit. Sie sind die wahren Autofans. Sie sind mit dem Automobil groß geworden. Der Wunsch nach Mobilität im Alter hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass vor allem in Haushalten mit Frauen ab 50 deutlich mehr PKW angeschafft wurden. Die Verbindung aus guter Kaufkraft, Wunsch nach Komfort, Hang zu Marke und Qualität bei vielen Best Agern führt dazu, dass das Durchschnittsalter von Neuwagenkäufern in Deutschland heute bei 53 Jahren liegt. 1995 lag es noch bei 46 Jahren. Der Käufer eines neuen Porsche ist heute im Schnitt 56 Jahre, Mercedes und VW weisen durchschnittlich 55 Jahre aus und BMW 54 Jahre. Tendenz: steigend! (handelsblatt.com: Methusalem im Autohaus). Übrigens: Auch Zukunftsthemen wie autonomes Fahren und E-Mobilität finden im Segment 50plus ein offenes Ohr und Portemonnaie.

Beispiel Zuhause

Der größte Wunsch bleibt, so lange wie möglich selbstständig und unabhängig ein schönes Leben führen zu dürfen. Das eigene Zuhause ist ein w ­ ichtiger

4.2  Der lange Weg zum Kunden

139

Lebensmittelpunkt im Alter und dort investiert man gerne – auch in den geliebten Garten oder Balkon. So sind 56 % der Gartenbesitzer 50 Jahre und älter (VuMa) und entsprechend hoch ist ihr Anteil an den Ausgaben für Garten, Terrasse und Balkon. Diese Geschichte könnte man nach allen Seiten in alle Lebensbereiche fast endlos erweitern. Natürlich um naheliegende Aspekte wie Gesundheit oder Wellness, die sehr hohe Relevanz erlangen im Alter. Die Argumentation trägt aber auch für Themen wie Geldanlage und Vorsorge. Die gewinnen – natürlicherweise – eher in einer Zeit an Bedeutung, in der mehr Geld zur Verfügung bereitsteht. Die Kriterien zur Abgrenzung Ihres eigenen Marktes wissen Sie selbst am besten festzulegen. 

Ein erster Schritt ist, die Lebensphase 50plus bei der Ausrichtung des Marketings überhaupt ins Kalkül zu ziehen. Fast jede Marke kann dort Kundenpotenzial und Wachstum identifizieren und abschöpfen durch bessere Ausrichtung für diese Kunden.

Kundenorientierung ist in aller Munde. Der Kunde soll im Mittelpunkt allen Bemühens stehen – und nicht mehr, so wie früher, das Produkt oder die Marke. Dazu muss man aber erst einmal herausfinden, wo sich dieser Mittelpunkt mit den Kunden befindet. Vielleicht liegt er gar nicht da, wo man ihn immer vermutet oder gewünscht hat. Versuchen Sie, es herauszufinden – konsequent und unbeirrt. Das ist zwar leicht, aber kein Selbstgänger. Denn auf der Reise der Veränderung lauern alte Irrtümer und neue Versuchungen.

4.2 Der lange Weg zum Kunden Jedes Unternehmen jeder Branche und jeder Größe könnte seinen Kundenstamm abgrenzen und Wachstumsmärkte identifizieren. Man könnte Experten oder Agenturen beauftragen. Einfacher und günstiger ist es, online bereitstehende Analyse-Tools zu nutzen wie die Verbrauchs- und Mediaanalyse VuMa oder die Best4Planning. Eine weitere Option wäre die Auswertung von bereits vorliegenden Kundendaten. Selbst kleine Betriebe können allein durch Beobachtung ihrer Kunden mit gesundem Menschenverstand ein Profil ihrer Kunden und deren Bedürfnisse erarbeiten. Im Kern dreht sich alles um eine Antwort auf die scheinbar einfache Frage: Wer kauft was und warum? Zur Beantwortung stünden mehr Daten, Informationen, Kommunikationswege, Quellen und Recherchemöglichkeiten zur Verfügung als je zuvor. Trotzdem geht der Schuss regelmäßig daneben.

140

4  Deutschlands neue Mehrheit

4.2.1 Labile Entscheider im stabilen Prozess Zahlen und Fakten geben meist nicht den Ausschlag bei Ausrichtung des Marketings – zum Beispiel auf jüngere oder ältere Zielgruppen. Der Planungsprozess läuft in vielen Fällen ganz anders ab. Für ein Interview dazu stand Jens Merheim bereit. Er war lange Jahre Manager in großen deutschen Mediaagenturen. Er führte unzählige Gespräche mit Kunden und Wettbewerbe um deren Etats. Daraus zeichnet er im folgenden Interview ein Bild von Entscheidungsprozessen in Marketing und Kommunikation im demografischen Wandel. Herr Merheim, wieso werden oft Marketing-Zielgruppen definiert, die mit den Käufer-Zielgruppen wenig zu tun haben? Meine Erfahrung ist, dass viele Marketingleute die Source of Business für ihre Marke nicht wirklich ernst nehmen. Sie wollen nicht wahrhaben, wer warum und auf welchen Wegen ihr Produkt kauft. Und die, die es wissen, ignorieren dies oft. So ist es möglich, dass in Briefings oft der Klassiker zu lesen ist: „Wir müssen die Zielgruppe verjüngen“. Dabei würde die Source of Business eine ganz andere Ausrichtung nahelegen. So wie jüngst bei einer Kampagne rund um autonomes Fahren. Ein Automobil-Kunde setzt seine Kreativagentur auf die Spur mit den Worten: „Machen Sie mal was für junge, urbane Zielgruppen“. Die Agentur legte los, ohne Zielgruppe, Mobilitätsverhalten oder Bedürfnislage zu hinterfragen. Woran liegt es, dass Marketeers sich diese Form des Eigenlebens erlauben können? Im Gegensatz zu Vertriebsleitern, die Unternehmen oft lange treu bleiben, sind Marketeers vergleichsweise kurz auf ihren Positionen und versuchen in dieser Zeit, durch Veränderungen Glanzlichter für ihre Karriere zu setzen. Ob die strategisch richtig sind für ihre Marke, ist bestenfalls zweitrangig. Ich würde sagen: In 75 % der Fälle geht es einer Marke nach dem Abgang von sich selbst optimierenden Marketeers schlechter als davor. Bevor der Rest des Unternehmens das spürt, ist es meist zu spät und der Marketeer schon an seiner nächsten Station. Ein krasses Beispiel erlebte ich in der Nahrungsmittelindustrie. Eine Marke wurde lange Zeit sehr erfolgreich geführt. Die Verantwortlichen mussten dann, altersbedingt, übergeben an einen neuen Marketingleiter. Der änderte von jetzt auf gleich Zielgruppendefinition und Claim. Ein Jahr später war die Marke quasi tot und konnte sich bis heute nicht erholen. So einfach geht das.

4.2  Der lange Weg zum Kunden

141

Wie könnte man das korrigieren oder verbessern? Ein einfacher Schritt wäre, das Grundgerüst einer Marke zu klären – auf Basis von Erfahrung, gesundem Menschenverstand und ein paar Daten. Wer kauft die Marke wirklich und warum und was sind die wichtigsten Einflussfaktoren für den Kauf? Gute Erfahrung habe ich gemacht mit Unternehmen, in denen Vertrieb und Marketing in einer Einheit unter einer Leitung mit gemeinsamen Zielen arbeiten. Bei der Planung von Zielgruppen lassen sich Kunden mit größeren Werbebudgets oft von Mediaagenturen beraten. Welche Rolle spielen Mediaagenturen in diesem Prozess? Sie sind selten ein Korrektiv für die Unwissenheit von Marketeers. Die meisten haben keinen klaren Blick auf das Geschäftsmodell ihres Kunden. Wenn sie dazu eine Umfrage in Agenturen machen, bleiben die Antwortfelder leer. Wie sollen Planer mit diesem Kenntnisstand beurteilen, was der Kunde für sein Geschäft braucht und was ihm hilft? Für zusätzliche Verwirrung sorgt oft, dass Lead und Beziehungen der verschiedenen Agenturen (Kreativ-, Media-, PR-, Social Media-, Performance-Agentur…) nicht geklärt sind. So ist es eher ein Zufallsprodukt, wenn mal ein paar Agenturen vorübergehend am gleichen Strang ziehen und dieser Strang auch noch auf die Interessen des Kunden ausgerichtet ist. Wie läuft auf so einer Basis der Planungsprozess? Agenturen nehmen Briefing und Zielsetzung meist hin, ohne es zu hinterfragen. Dann deklinieren sie es gleichmäßig über alle Medien. Das bedeutet, sie legen für TV die gleichen KPIs an wie für Digital. Anstatt kanalspezifische KPIs zu definieren, wie beispielsweise: „Involvement schaffen wir via Digital und Reichweite via TV“. Das führt dann zu lustigen Ergebnissen wie diesem: Eine klassische Versicherung schiebt Reichweite über TV an und verliert Marktanteile an die Online-Direktversicherung aus dem gleichen Haus, die im Netz die Resonanz der Reichweitenkampagne abfängt. Als weitere Kontrollinstanz dafür, dass Budgets effizient verplant werden, beauftragen manche Werbetreibende Auditoren mit der Überprüfung der Agenturen. Welche Rolle spielen Auditoren? Die meisten Auditoren machen Ex-post-Analysen. Sie legen dann die Finger in vermeintliche Wunden, wenn Kampagnen bereits gelaufen sind. Sinnvoller wäre, wenn ein Auditor im Vorfeld die Empfehlungen von Agenturen abgleicht mit den tatsächlichen KPIs des Unternehmens. Denn Mediapläne von Agenturen sind heutzutage in den meisten Fällen einkaufsgetrieben optimiert – sprich auf die Kanäle, an denen die Agentur am meisten verdient. Und nicht auf die Ziele der Marke. Hier läge ein großer Hebel für Auditoren und Unternehmen.

142

4  Deutschlands neue Mehrheit

Welche Perspektive haben Mediaagenturen im digitalen Wandel? Planung und Einkauf werden in absehbarer Zeit voll automatisiert sein. Dieser Prozess ist bereits im vollen Gange und erfasst alle Kanäle und Formate. Wer diese Entwicklung nicht bedienen kann, wird nicht mehr Teil des Spiels sein. Egal ob auf Agentur-, Kunden- oder Publisher-Seite. Menschliche Intelligenz bleibt in zwei operativen Bereichen gefragt: Erstens in der Überwachung und im Controlling der automatischen Prozesse. Auf absehbare Zeit werden die meisten immer noch die Unterschrift eines menschlichen Wesens als Freigabe für einen zweistelligen Millionen-Etat erwarten. Und sei es aus reiner Absicherung. Der zweite Hebel liegt in der Beratung der Kunden. Diese Leistung wird klein, fein, persönlich und kompetent ausgestattet sein. Agenturen werden dafür tendenziell deutlich weniger, aber umso besser ausgebildete Mitarbeiter anbieten müssen. Sie werden transparenter auftreten müssen in einer Zeit, in der alles erfassbar, messbar und nachweisbar ist. Ansonsten übernehmen die Kunden diese Aufgaben selbst, was ja in einigen Fällen schon passiert ist. Auch der State of Marketing Report 2018 von Sales Force bestätigt, dass Marketing-Entscheider in vielen Fällen nicht sicher sind, ob ihre Produkte die Erwartungen und Bedürfnisse der Kunden bedienen. Eine engere Vernetzung der Bereiche Vertrieb und Marketing und eine gemeinsame Auswertung und Analyse der Daten würden zu einer engeren Kundenorientierung beitragen. Im gleichen Zuge würden rationale und datenbasierte Entscheidungen gefördert und der Einfluss persönlicher Ansichten zurückgefahren. Mehr Daten für mehr Sachlichkeit! Ein Kran steht, wo ein Kran stehen muss – auch im Marketing Eine wirksame Frage zur Selbstkontrolle für die Verwendung von Mitteln hat mir einer meiner ersten Chefs, Helmut Liewehr, mit auf den Weg gegeben. Er war Geschäftsführer und ich sein Assistent. Für Investitionsentscheidungen musste ich Argumente und Informationen zusammentragen. Das war manchmal mühsam und langweilig. Bei Anschaffungen, deren Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit er selber nicht sicher einschätzen konnte, frage er mich: „Würdest du das auch kaufen, wenn es dein eigenes Geld wäre?“ Er fragte so lange, bis ich sicher war – und er damit auch. Wenn man das eigene Geld aufs Spiel setzt und bei Günther Jauch bei der 1-Mio.-EUR-Frage die Antwort wählt, ist man nicht nur persönlich überzeugt von der Antwort – sondern man weiß, dass sie richtig ist. Das können zwei sehr verschiedene, manchmal gegensätzliche Pole sein. Gerade in geistigen Disziplinen wie Marketing eröffnet sich schnell ein Interpretationsspielraum für Entscheidungen. Plötzlich greifen Kriterien, die im

4.2  Der lange Weg zum Kunden

143

Lehrbuch noch ganz anders oder gar nicht standen. Manchmal steuern Gremien das Marketing, die zwar Entscheidungsbefugnis besitzen, aber nicht die nötige Expertise für Sachfragen. So werden Entscheidungen zwar in gutem Glauben, aber ohne ausreichend vorhandenes Wissen getroffen. Der Verzicht auf einen wesentlichen Teil der Entscheidungsgrundlage, nämlich Wissen, würde bei härteren Bandagen mit weniger Spielraum sofort auffallen und Konsequenzen haben: Beispiel: Kran aufstellen

Auf einer Baustelle wird ein Kran dort aufgebaut, wo er stabil stehen kann und für die Baustelle effizient einsetzbar ist – und nicht dort, wo der Kranführer die schönste Aussicht hat. Hier fließen die Expertise von Bauleiter und Kranführer zusammen zu einer – in jeder Hinsicht – tragfähigen Entscheidung. Die Indianer zogen stets dahin, wo die größten Büffelherden waren, und nicht dorthin, wo die schönsten Landschaften lockten. Hochseefischer wagen sich in gefährliche, weit entfernte Gewässer, weil sie wissen, dass sie dort der beste Fang erwartet. Kurz vor der Küste wäre es gemütlicher, aber fischärmer. Unsere Kindern chauffieren wir kilometerweit in bessere Schulen und nicht in die mittelmäßige Schule unweit der eigenen Haustür. Der Biss und Jagdtrieb aus Urzeiten hat uns in vielen Fällen verlassen. Wir gehen den einfacheren Weg. Erst wenn es Spitz auf Knopf steht, werfen wir Spekulationen über Bord und ziehen verlässliche Quellen heran. Wir ziehen Telefon- und Publikumsjoker und nutzen plötzlich unseren Kopf, um auf die richtige Lösung zu kommen. Wir setzen alle Hebel in Bewegung, damit ja „alles gut“ wird bzw. gut bleibt, was gut sein muss. Den Luxus einer sehr unsicheren, aber sehr bequemen Bauchentscheidung zu folgen, leisten wir uns immer dann, wenn wir mit den Mitteln anderer spielen. Oder wenn es Dinge tangiert, die uns nicht so am Herzen liegen. Da akzeptieren wir Mittelmaß und hinterfragen es nicht einmal. Genau an diesem Punkt kann man sehr gut erkennen, wie wichtig ein Thema einem Kollegen wirklich ist. Werden alle Optionen ausgelotet – nicht nur die gewohnten? Wir hätten alle Zeit der Welt, uns jeden Tag im Marketing neu zu besinnen und zu orientieren. Nur James Bond muss in der Not Drähte zusammenklemmen und weiß, dass ein falscher Kurzschluss die Bombe zur Explosion bringen könnte. In 99,9 % der Fälle ist der Zeitdruck auf Marketingentscheidungen nicht so groß wie auf James Bond bei der Bombe. Man hat Luft genug, Informationen einzuholen für eine sachlich bessere und sichere Entscheidungsgrundlage. Tun wir also auch im Marketing (und in allen angeschlossenen und involvierten Stufen) so, als würden wir unser eigenes Geld verplanen. Legen

144

4  Deutschlands neue Mehrheit

wir die gleiche Sorgfalt und Vorsicht an den Tag. Behalten wir als Ziel im Auge, am Ende für Kunden und Unternehmen Nutzen zu erzielen. Unsere persönliche Ansicht sollten wir zurückstellen lernen. Ebenso die Eitelkeit, das eigene Bauchgefühl durchsetzen zu müssen. Kurzum: Stellen wir Kräne immer nur dort auf, wo sie tatsächlich hingehören, und wenn wir wissen, dass sie dort den stärksten Hebel entfalten. Auch im Marketing.

4.2.2 Missverständnis zwischen Werbung und Kunden 2011 gründeten mein Partner Markus Erl und ich die Seniorbook AG, um das soziale Netzwerk seniorbook.de aufzubauen. Für diese Aufgabe hatte ich nach 21 Jahren Karriere in klassischen Verlagen mein altes Berufsleben gekündigt. Hinter mir lag ein halbes Leben in der Medienbranche mit vielen Kontakten und Erfahrungen. Vor mir lag … auf jeden Fall viel digitales Neuland. Als ich den ersten Freunden und Geschäftspartnern meiner alten Welt erzählte, dass wir eine Online-Plattform für Best Ager aufbauen würden und diese über Werbung finanzieren wollten, erntete ich eine Mischung aus halb aufmunterndem Zuspruch und halb alarmiertem Lächeln. Als ob ich einen Windpark für ­Sponsoring im Hurrikangebiet suchte. Eigentlich schon das richtige Umfeld, aber da kann man sich ja unmöglich platzieren! Was sollen denn die Leute denken. Wenn es um die Bewerbung älterer Kunden geht, schießen sofort Fragezeichen und Ausrufezeichen aus dem Boden. Was sollen wir denn da bewerben? Werbung darf nicht alt sein! Die Welt der Werber ist schick. Und ihr Produkt, die Werbung, beschreiben Werber gerne mit Eigenschaften wie dynamisch, jugendlich, überraschend, provokant, erotisch, emotional, rührend, witzig, cool und – in manchen Fällen – kreativ. Aber sicher nicht mit alt oder seniorig. Insofern kann es gar nicht passieren, dass Werbung absichtlich und wissentlich in älteren Zielgruppen geschaltet wird. Sondern wenn, dann heißt es: Mit unserer Werbung decken wir auch die älteren Segmente ab. Quasi im Vorbeigehen bewirbt man die Hälfte der Bevölkerung mit den gleichen Spots auf den gleichen Kanälen wie die werberelevante Zielgruppe „14–49“. Diese Eingrenzung ist nicht etwa wissenschaftlich fundiert, sondern wurde vom früheren RTL-Chef Helmut Thoma erfunden und im Vorbeigehen in die Runde geworfen. So wie die Sandale im „Leben des Brian“ wurde „14–49“ zur Ikone der werbetreibenden Wirtschaft. Mit genauso viel Voreingenommenheit und mit genauso wenig wissenschaftlicher Substanz hat sich eine Haltung zu Werbung in älteren Segmenten aufgebaut: Wenn Werbung in reiferen Zielgruppen ausgespielt wird, muss die

4.2  Der lange Weg zum Kunden

145

Werbung auch ältlich sein und dadurch wird auch die Marke ein Stück älter! Das ist ein fatales Missverständnis, ein Trugschluss und ein Stück weit auch ein Selbstbetrug und ein Davonlaufen vor der Realität. 

Werbung kann (und muss sogar) auf Kanälen und Plattformen mit älterem Publikum ausgespielt werden, ohne dass sie dadurch weniger dynamisch, jugendlich, überraschend, provokant, erotisch, emotional, rührend, informativ, witzig, cool und kreativ ist.

Nur so erreicht das gewünschte Markenbild mit der richtigen Botschaft in vielen Fällen die richtige Kundschaft. Nämlich immer dann, wenn man zur Erkenntnis gekommen ist, dass die eigenen Kunden zum wesentlichen Teil eher 50plus sind. Beispiel: Zielgruppe im Kino

Sie haben einen Kinospot für Ihr Restaurant produzieren lassen: Mondän, schamlos genusssüchtig, mit Gérard Dépardieu als Testimonial, dem Botschafter des Schlaraffenlandes. Ein Spot für die Cannes-Rolle. Mindestens. Sie kennen ihre Kunden: 80 % reifere Kostliebhaber ab 50. Sie können ihr Budget verteilen zwischen zwei Kinosälen: In Kino 1 sitzen Menschen zwischen 14 und 30 und schauen Fack Ju Göhte. In Kino 2 schauen Best Ager den Film Jenseits von Afrika. Denken Sie immer dran: Es ist Ihr eigenes Geld, das Sie verteilen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden Sie furchtlos den Großteil ihres Geldes in Kino 2 investieren bei den Best Agern und vielleicht etwas Nachwuchspflege betreiben in Kino 1. Man kann ja nie wissen, ob nicht doch schon der eine oder andere frühreife Gourmet in den Reihen sitzt. Ein Experiment ist es wert. Viele Marketingentscheider reagieren in der Realität aber genau umgekehrt. Sie geben den Großteil in jüngere Zielgruppen, obwohl sie genau wissen, dass ihr Kernklientel bei 50 startet. Ein erinnerungswürdiges Statement übermittelte mir der Mediachef eines großen Pharmakonzerns: „Herr Bily, wir wissen, dass die Verwender unseres Medikaments mehrheitlich 50plus sind. Aber das Marketing will heute schon Zielgruppen erreichen, die später einmal Erkältung haben.“ Eine 20-jährige Depot-Wirkung von Werbespots für Erkältungsmittel war mir in der Form noch nicht geläufig. Ich weiß nicht, was Ihr Arzt oder Apotheker empfiehlt. Nur so viel an dieser Stelle als allgemeingültiges Rezept: Wenn Sie Angst haben, dass Ihre Marke Schaden nimmt bei Kontakt mit Menschen ab 50, dann vermeiden Sie öffentlich

146

4  Deutschlands neue Mehrheit

45% 38%

auf den Arm genommen 24% 17%

verkannt/missverstanden 14%

informiert 10%

umworben

9%

unterhalten 0%

10%

20%

30%

40%

50%

Abb. 4.9   So wird Werbung von Best Agern wahrgenommen. (Umfrage von wize.life 2018)

wahrnehmbare Werbung komplett, weil fast jeder Zweite im Land sich in dem Alter befindet. Es könnte sein, dass einer davon Ihrer Werbung über den Weg läuft. Zu welchen Verwerfungen und wenig wünschenswerten Effekten dieses verklemmte Verhältnis zwischen Werbung und Konsumenten führt, zeigt die Online-Umfrage von wize.life: „Versteht die Werbung uns Menschen über 50?“. Abb. 4.9 zeigt: Ein Großteil der Werbung erzielt offenbar nicht die gewünschte Wirkung bei den Best Agern. Viele fühlen sich von der Werbung, die sie erreicht, auf den Arm genommen, unterschätzt, verkannt und missverstanden. Vielleicht ist der Mediaplan mit der Auswahl der Kanäle nicht ideal zusammengestellt mit zu vielen Spots in zu jungen TV-Sendern? Oder wird die Werbebotschaft unglaubwürdig jugendlich umgesetzt, obwohl sie reiferes Publikum überzeugen soll? In vielen Fällen ist es eine Mischung aus beidem, was bei vielen Menschen 50plus den Eindruck hinterlässt, dass die Werbung immer noch nicht in der Gegenwart des demografischen Wandels angekommen ist. Abb. 4.10 zeigt: 69 % der Konsumenten 50plus finden, dass die Werbung noch nicht erkannt hat, dass sie mehrheitlich mit älterem Publikum spricht. Über Werbung wurden unzählige Bücher geschrieben. Es gibt Vertreter unterschiedlichster Standpunkte, die gemeinsam Preise verleihen für die vermeintlich beste Werbung. Fast jeder hat dazu eine andere Meinung. Bei Marketing und Werbung reden alle mit, beim Tempo der Produktionsstraße oder bei der Effizienz im Fuhrpark nur sehr wenige. Kein Budget ist ständig in größerer Gefahr als das für Marketingmaßnahmen. Denn es gibt fast so viele Marketingleiter wie

4.2  Der lange Weg zum Kunden

147

50plus sind bald in der Mehrheit: Die Werbung hat dies erkannt und geht darauf ein. 19% 50%

trifft weniger zu 26% 5%

trifft voll und ganz zu 0%

20%

40%

60%

Abb. 4.10   Die Werbung verkennt die Mehrheitsverhältnisse in Deutschland. (Umfrage von wize.life 2018)

­ undestrainer. Einer sitzt meist in der Geschäftsführung und entscheidet letztlich B über Ausrichtung der Werbung und Budgets. Die Botschaft in diesem Buch an die Verantwortlichen und Entscheider für Werbung ist: 

Es steht zu vermuten, dass erhebliche Potenziale gehoben werden könnten durch Einbeziehung und gezielte Ansprache der Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Dazu kann eine konsequentere Ausrichtung der Kommunikationskanäle und -inhalte beitragen.

Arbeiten Sie daran, diese künstliche Kluft zwischen Werbung und Kunden 50plus aus der Welt zu schaffen. Schaffen Sie Platz für den gesamten Markt und schließen Sie die Hälfte Deutschlands nicht aus. Hören Sie auf, so zu tun, als könnten Sie die Mehrheit des Landes über natürliche Streuung erreichen – so als ob Sie mit der Schrotflinte auf ein Reh zielten und hofften, mit einem Irrläufer den Hirsch zu erlegen. Widmen Sie einen angemessenen Teil Ihrer Aufmerksamkeit, Energie und Ihres Budgets diesem großen Wachstumsmarkt. Die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation (siehe Kap. 6) machen Ihnen den Weg dahin einfacher denn je.

4.2.3 Wandel braucht Weitblick Wir hatten in Abschn.  2.3.2 schon über die vertrackte Alters-Schublade gesprochen, die es uns schwer macht, ein zeitgemäßes, realistisches und faires Bild vom Alter zu erlangen. Der Argumentation von Kant folgend wäre ein faires

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4  Deutschlands neue Mehrheit

Bild so: Wir schätzen den älteren Menschen so ein, wie wir gerne eingeschätzt werden möchten, wenn wir selbst einmal alt sind. Was gleich die Crux des guten Vorsatzes deutlich macht: Wir müssten heute schon wissen, wie es ist, wenn wir alt sind. Das gelingt aus eigener Erfahrung eher den älteren Menschen. Umgekehrt haben dabei diejenigen besondere Schwierigkeiten, die das Alter nur vom Hören-Sagen kennen und im Alltag nur sporadisch persönlichen Kontakt haben mit Leuten, die sie für alt halten. Alt sind immer nur die anderen. Dazu gehören nie die eigenen Eltern oder Verwandten. Sie fallen in die Sippenhaft der Jugend. Vielen jungen Entscheidern fehlen Vertrauen und Verständnis für die zweite Lebenshälfte. Sie scheinen zu zweifeln, dass es noch wirkliches Leben gibt jenseits der 50 – voller Lust, Liebe, Genuss und Energie. So glauben sie nicht an diese Konsumenten und Märkte. Bestenfalls vermuten sie dort eine altersgerechte Version all der Dinge, die sie aktuell toll finden und selber nutzen. Sprechen wir konkret von Mittdreißigern, die im Marketing an mitentscheidenden Positionen sitzen. Sie argumentieren meist aus der Perspektive ihrer Lebensphase. Sie projizieren bestenfalls die Dinge, die sie gut finden in eine spätere Lebensphase: „Vor kurzem hab ich mich angemeldet bei dem neuen E-Roller-­Sharing. Das ist super. Das kann ich mir gut vorstellen für Leute ab 65, die ja eh kein Auto mehr fahren wollen.“ Die Perspektive von 65-Jährigen ist so weit weg von ihnen, dass sie übersehen, wenn diese im Porsche vorbei rauschen oder neben ihnen an der Ampel stehen. Aus dieser Warte wird es ohne Hilfsmittel und Unterstützung schwer, eine fundierte Aussage über Werte, Einstellungen und Bedürfnisse im Alter zu treffen. Beispiel Messe-Konzeption

Eine anfangs erfolgreiche Best-Ager-Messe hat in den letzten Jahren an Attraktivität eingebüßt. Die Aussteller sind weiterhin interessiert an einem Publikum im Alter von rund 50 bis 70. Bloß lag das Durchschnittsalter des Messepublikums zuletzt eher bei 75 als bei 60. Daher soll die Messe neu positioniert werden. Im dafür einberufenen Workshop sitzen rund 15 Leute, viele mit Marketing- und Messe-Expertise, aber nur zwei mit einer Erfahrung von 50 Lebensjahren und mehr. In der Diskussion nennen die vorwiegend jungen Teilnehmer entweder Ideen, die sie selber gut finden, oder solche, die – aus ihrer Sicht – die älteren Messebesucher doch gut finden müssten. Der zweite Faktor, der die Diskussion prägte, waren die Erfahrungen und vor allem Restriktionen und Bedenken der Messe-Verantwortlichen. Die demografische Expertise für die Zielgruppe dagegen blieb weitestgehend außen vor oder floss nur zufällig in die Überlegungen ein.

4.2  Der lange Weg zum Kunden

149

Jüngere Menschen haben das, was eine zweite Lebenshälfte ab 50 ausmacht, nicht erlebt. Ihnen fehlen Wissen und Erfahrungen. Für die Gnade einer späteren Geburt (in Anlehnung an ein Zitat von Helmut Kohl) können sie nichts. Darüber dürfen sie sich freuen. Doch zudem mangelt es den meisten – nicht nur jungen – Menschen an der Fähigkeit zur Voraussicht im Sinn eines klaren Weitblicks auf das, was kommen wird, obwohl sie es selbst nicht erfahren haben: „Ja, ich bin zwar erst 50, aber ich kann mir vorstellen, dass in zehn Jahren Menschen ab 60 DER Wachstumsmarkt sein werden für autonomes Fahren“ (und nicht eine junge, urbane Zielgruppe).

Dieses Gefangensein in der jungen Perspektive kann man bei Marketing-­ Entscheidungen aushebeln:

• Bilden Sie einigermaßen ausgeglichen besetzte Teams aus alt und jung. • Befragen Sie Ihre (älteren) Kunden und hören Sie auf das, was sie sagen. • Analysieren Sie die Erfolgsfaktoren von Unternehmen in älteren ­Märkten. • Machen Sie Tests mit gezielter Ansprache älterer Zielgruppen. • Suchen Sie sich Copiloten im demografischen Wandel.

Vielleicht kennen Sie die Art der Teamarbeit in einem Rallyefahrzeug. Der Copilot hält das „Gebetbuch“ – ein sehr detailliertes Streckenbuch – und diktiert dem Rallyefahrer genau, wann er in welchem Winkel in die Kurve steuern muss. Und zwar nicht bei Tempo 50 auf der grünen Wiese, sondern nachts mit 100 im Wald – also mit Bäumen drum rum und Sprüngen über Hügel. Ohne vom Gas zu gehen, versteht sich. Solche infernalischen Manöver dürften im alltäglichen Marketing eines deutschen Unternehmens eher die Ausnahme sein. Alle Indizien, Prognosen und Erfahrungen, die Sie bisher in diesem Buch gelesen haben, sind eindeutige Empfehlungen dafür, die Lebensphase 50plus als Markt zu entdecken und zu erobern. Sie haben enorm viele Argumente zur Hand, dies voranzutreiben. Die Informationslage über Werte, Einstellungen und Bedürfnisse von Best Agern ist ausgezeichnet und kann jederzeit verbessert werden. Markttests oder Online-Befragungen sind heute leicht umsetzbar. Sie können diverse Optionen nutzen, um zu testen und sich heranzutasten. Ihr „Gebetbuch“ für den Wandel ist sehr genau. Die Fehlertoleranz ist fair. Sie müssen nur anlassen, Gas geben und losfahren. Zügige Fahrt, ab und an eine Kurve, tanken, Pause, Copilot befragen und sicher ankommen im neuen Wachstumsmarkt. So ungefähr sähe Ihre Fahrt aus. Das erscheint machbar.

150

4  Deutschlands neue Mehrheit

4.2.4 Mehr Konsum dank Down-Aging Down-Aging ist ein relativ neues Phänomen, das erst im Alter auftaucht. Flächendeckend tritt es erst ab 60 ein, davor eher sporadisch und in nicht ganz so starker Ausprägung. Die Eigendiagnose der Betroffenen lautet heutzutage: „60 ist das neue 40.“ Down-Aging ist grundsätzlich nicht gefährlich. Nur in Extremfällen kann es krankhafte Züge annehmen. Diese äußern sich darin, dass Auftreten und tatsächliches Alter des Betroffenen aus Sicht eines Außenstehenden zu weit auseinander klaffen und der Gesamtauftritt peinliche Formen annimmt. Symptome bei Männer können sein: An den Knien zerrissene „ripped“ Jeans kombiniert mit straff spannenden – womöglich rosafarbenen – Poloshirts und aufgestelltem Kragen. Auch manche Frauen haben offenbar einen Drang, die nicht mehr ganz so perfekte Figur in ehemalige Kleidergrößen zu zwängen. Dazu kommen aufwendige Fassadenarbeiten im Gesichtsbereich und bemerkenswert mutige Farbvarianten bei den Haaren. Ob peinlich oder nicht: Immer mehr ältere Menschen schrauben an ihrem äußeren Auftritt, um ihr deutlich jüngeres „gefühltes Alter“ stolz und für die anderen unübersehbar zum Ausdruck zu bringen. Dieser Auftritt ist Gradmesser des Alters – und nicht das Geburtsdatum im Reisepass. Wer 60 ist und sich wie 40 fühlt, versucht sich 20 Jahre jünger zu tunen. Fitness, Kleidung, Automobil, Veranstaltungen, Urlaubsdestinationen – alles, was ein jüngeres Lebensgefühl zu verkörpern hilft, ist als Mittel recht. Das Zukunftsinstitut schreibt von einer „Erneuerung des Alters“. Wobei natürlich nur die Wahrnehmung des Alters erneuert wird bzw. Erneuerungsbedarf hat. Das faktische Alter bleibt gleich und mit ihm die faktischen Veränderungen.

Wenn jemand 65 ist und sich wie 45 fühlt (und tuned), dann heißt das nicht, dass

• die Kinder, die vor Jahren das Haus verlassen hatten, wieder zurückkehren mit dem Ausruf der Erkenntnis: „Oh, du bist ja wieder 45! Dann sind wir ja wieder 15 und kommen zurück nach Hause“; • die Hüfte sich mit einem sanften Knick-Knack wieder einrenkt und der Bewegungsapparat wieder auf Höchstleistung geeicht ist; • der Body-Mass-Index um 10 Punkte schmilzt und man sich ab sofort, wie im Traum, in die Kategorie „Normalgewicht“ einordnen darf; • ein erneuerter Arbeitsvertrag im Postfach liegt, weil man ja fit sei, weitere 20 Jahre den ohnehin knappen Arbeitsmarkt aufzufrischen.

4.2  Der lange Weg zum Kunden

151

All diese sachlichen und faktischen Veränderungen des Alters kann nicht einmal das ausgeklügeltste Down-Aging aus dem Raum schaffen. So bleiben die dadurch ausgelösten Effekte auf die Bedürfnisse und Erwartungen im Alter erhalten.

Umgemünzt auf die oben genannten Ausschnitte des Lebens könnte das bedeuten:

• die Kinder kehren nicht zurück: dafür bleibt der zeitliche und finanzielle Spielraum besser; • die Hüfte bleibt ein Problem: damit bleibt ein Bedarf an Therapie und Medizin; • der Body-Mass-Index bewegt sich kein Gramm: Diätmittel und gesunde Ernährung bleiben gefragt; • im Postfach liegt weiterhin der Rentenbescheid: die Zeit verbringt man nun mit anderen Dingen und nicht mit Arbeit. Im Alter ab 65 verwendet man laut Jahrbuch 2018 des Statistischen Bundesamtes beispielsweise deutlich mehr Zeit pro Tag für Essen, Trinken und Schlafen, mit Haushaltsführung und Mediennutzung als in den Jahren davor.

Es gibt also zwei Trends: Eine faktische, altersbedingte Veränderung von Bedürfnissen und parallel dazu eine gefühlte Verjüngung des Alters. Mitten im demografischen Wandel der Altersstruktur verschiebt sich plötzlich die Skala. Das sind Entwicklungen, wie wir sie bis dato aus der Automobilindustrie kannten: Das neue Modell erreicht eine Spitzengeschwindigkeit von 250 statt bisher nur 150 km/h. Und bei 250 fühlt es sich an, als würde man 150 fahren. Dank besserer Technik, Ausstattung und Polsterung – und bei geringerer Schadstoffbelastung. Angewendet auf das Verhalten von Best Agern beim Autokauf wird dieser Hang zum Down-Aging an folgenden Stellen spürbar: Sie kaufen Dinge, die • • • •

ihre Bedürfnisse der Lebensphase bedienen: Auto für Mobilität; sie von Alters wegen brauchen: bequemer Einstieg beim Auto; ihr gefühltes Alter bedienen: Sportlichkeit – Down-Aging! ihren Ansprüchen genügen: Qualität, Marke – Down-Aging! Beispiel Auto für Best Ager

Der BMW 2er Active Tourer gilt als Auto mit dem höchsten Durchschnittsalter bei Neuwagenkäufern. Allein 30 % der Käufer waren 70 Jahre oder älter. Neben

152

4  Deutschlands neue Mehrheit

dem sportlichen Image von BMW bedient das SUV-Modell die altersbedingten Erwartungen: bequemer Einstieg, praktisch, Komfort und Sicherheit – und scheint damit Erfolg zu haben (Welt.de Dezember 2015). Ist es eine Marketing-Katastrophe für BMW, dass dieses Modell so vielen alten Menschen gefällt, obwohl der Spot auf der Homepage offensichtlich junge Menschen mit Familie anspricht? Oder hätte es vielleicht noch viel besser kommen können für den bayerischen Autobauer, wenn BMW die Kommunikation für den 2er Active Tourer im Laufe der Zeit etwas stärker auf die eigentliche Käuferschaft ausgerichtet hätte? Ein Werbe-Video mit sehr jungen Protagonisten stand noch im Januar 2019 auf der Startseite des 2er Active Tourer (https:// bit.ly/2TvUgi6).

4.2.5 Vierfach-Effekt im demografischen Wandel Wir sprechen also im demografischen Wandel über deutlich mehr als eine Veränderung von Altersgrößenklassen.

Konsum und Absatzchancen im Segment 50plus unterliegen mindestens folgenden weiteren Einflüssen:

1. steigende Lebenserwartung auf mittlerweile über 80 Jahre im Durchschnitt; 2. weiterer Anstieg der absoluten Zahl von Personen im Alterssegment 50plus; 3. relativer Anteil der älteren Segmente wird größer im Vergleich zu jüngeren Segmenten; 4. Down Aging: Alter wird in einer neuen, gefühlten Art der Selbstwahrnehmung und Außendarstellung gelebt. 60 ist das neue 40 usw.

Abb. 4.11 zeigt, wie diese vier Kräfte sich auf Marktgröße und Konsumverhalten auswirken: 1. Die steigende Lebenserwartung verlängert die Konsumdauer. Wer heute 60 wird, konsumiert im Schnitt noch mindestens 20 Jahre und tut das meist bei guter Gesundheit und Kasse.

4.2  Der lange Weg zum Kunden Konsumpotential

153 Konsumspektrum erweitert sich

Konsumkraft steigt

Anteil 50 plus steigt

Lebenserwartung steigt

Abb. 4.11   Der vierfache Konsumeffekt im demografischen Wandel. (Thomas Bily und René Kunkel 2019)

2. Die Zahl der Best Ager 50plus steigt weiterhin auf über 50 % der Bevölkerung (vgl. Abb. 1.1, Kap. 1). 3. Die Kaufkraft der Best Ager 50plus nimmt zu. Das zukünftige Konsumwachstum wird massiv vom Segment 50plus getragen. 4. Im Zuge des Down Aging kommen zu den faktischen Bedürfnissen des Alters die Bedürfnisse des gefühlten Alters – was das Konsumspektrum erweitert. Es ist bereits heute anhand von Entwicklungen des Kaufverhaltens abzulesen, wie diese Kräfte mittel- und langfristig das Konsumverhalten in Deutschland prägen werden. Ob Einzelhandel oder Berghütten, Automobile oder Gartengeräte, Australien oder Oberbayern, Bier oder Bio-Kost – viele Unternehmen können dabei zuschauen, wie ihre Märkte und Wachstumschancen täglich ein kleines Stück weiter in ältere Segmente wandern. Fast alle Branchen dürfen sich freuen über diese lukrative Ausweitung ihres Marktes. Mit 20 hätte man sich ein Cabrio gewünscht, hatte aber nicht das nötige Geld. Mit 40 hatte man das Geld, aber keinen Bedarf. Ab 60 hat man beides. Und mit 80 gönnt man sich das Vergnügen ein letztes Mal. Vierfaches Potenzial für Marketing Der eben dargestellte vierfache Effekt des Marktwachstums eröffnet für Ihr Unternehmen eine vierfache Chance im Marketing. Gleichzeitig sollte der Mitteleinsatz im Zuge verbesserter Effizienz durch Einsatz von Daten und digitalen Tools sinken. Das bedeutet mehr Erlöse bei weniger Kosten!

154

4  Deutschlands neue Mehrheit

Alles, was Sie dafür tun müssen:

• Ihr Marketing auf den tatsächlich relevanten, weil Wachstum versprechenden Kundenkreis ausrichten – nicht komplett, sondern konsequent und angemessen in der Gewichtung. • Ihre Marketingmaßnahmen an den Stellen und auf den Kanälen verbreiten, über die diese Zielgruppe erreichbar ist. • Ihre Botschaften nach Form, Inhalt und Gefühl so formulieren, dass die faktischen und gefühlten Bedürfnisse dieser Lebensphase angesprochen werden.

Nur die demografischen Effekte im Marketing aufzugreifen und digitale Chancen nicht zu nutzen, wäre so, wie Bahnhöfe von Millionenstädten weiterhin mit Dampflok statt mit ICE anzufahren. Kaufkräftige Kunden sind nicht viel wert, wenn man deren Aufmerksamkeit nicht gewinnen kann. 

Maximaler Nutzen lässt sich nur erzielen, wenn man die Synergien des digitalen und demografischen Wandels identifiziert und dann anwendet in der konsequenten Ausrichtung von Unternehmen an den Bedürfnissen des Marktes, kurz: im Marketing.

Die natürliche, selbstverständliche, ja unvermeidliche Erschließung des „richtigen Kundenpotenzials“ wird durch digitales Marketing und digitale Kommunikation nicht nur neu definiert – sondern überhaupt erst ermöglicht. Im Zuge digitaler Transformation wird der demografische Wandel automatisch zum Kraftwerk für Wachstum.

Weiterführende Literatur und Quellen Zeitschriften-/Zeitungsartikel Schmitz, T. 2018 War das schon alles? Stern, 30.5.2018, S. 30–41, G+J Verlag.

Buch Gardyan, A. 2017. Worauf wartest du noch?. Reinbek: Rowolth. Generali Deutschland, A.G. 2017. Generali Altersstudie 2017. Berlin: Springer.

Weiterführende Literatur und Quellen

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Muthers, H. 2017. Ab 50 ist man alt genug. Kulmbach: Plassen, Börsenmedien AG. Pompe, Hans-G. 2012. Boom-Branchen 50plus. Wiesbaden: Gabler. Pompe, Hans-G. 2007. Marktmacht 50plus. Wiesbaden: Gabler. Strelecky, J. 2009. The big five for life. München: dtv.

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Kundenzentrierung dank Digitalisierung

Inhaltsverzeichnis 5.1 Die totale Emanzipation des Kunden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Aus Daten werden Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Big Data und Künstliche Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Datenschutz ist Hilfe – nicht Hürde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Digitale Bedürfnisanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Digitaler Nutzen-Check. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

160 163 163 168 172 175 179

Zusammenfassung

Die deutsche Landkarte für Konsum und Wachstum hat sich deutlich verschoben. Heute sind Segmente von Kunden wertvoll, die früher ein Schattendasein führten und wenig beachtet wurden. So herrscht bei vielen Unternehmen dringender Nachholbedarf, diese Kunden kennenzulernen. Dank digitaler Tools können sie das heute schneller, genauer und verlässlicher als je zuvor. Auf der Basis von Daten und mit Hilfe von Maschinen lassen sich beste Beziehungen zu den tatsächlich relevanten Kunden aufbauen. Von Kundenorientierung ist schon lange die Rede. Sogar in der vermeintlichen Servicewüste Deutschland reklamieren die meisten Unternehmen: Bei uns ist der Kunde König. Zumindest wird dieses Credo in den Leitlinien nahezu aller Unternehmen in irgendeiner Form niedergeschrieben und festgehalten. Damit selbst dann, wenn berechtigte Beschwerden von enttäuschten Kunden kommen, sich jeder noch so unfreundliche Verkäufer darauf berufen kann. Die Realität im

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Bily, Zielgruppe 50plus: Marketing im demografischen und digitalen Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25805-4_5

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5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

Markt sieht so aus: Der Kunde resigniert. Der Verkäufer trollt sich. Das erleben wir als Kunden sehr oft. So wirkt der Begriff Kundenorientierung in unseren Ohren etwas kraftlos und heruntergewirtschaftet. Die Digitalisierung kann dem Begriff nun neues Leben einhauchen. Durch die Vernetzung von Unternehmensbereichen, Arbeitsplätzen, Zielen, Prozessen mit Kunden und deren Bedürfnissen erreicht man eine neue, digital getriebene Form der Kundenorientierung: Kundenzentrierung.

 Customer Centricity – Kundenzentrierung Mit Customer Centricity (deutsch: Kundenorientierung oder Kundenzentrierung) wird ein Vertriebs- und Marketingkonzept bezeichnet, das den Kunden und nicht das Produkt in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Durch die Customer Centricity wird die Wertschöpfungskette so definiert, dass sie beim Kunden anfängt: Die Erwartungen, Bedürfnisse und Wünsche des Kunden bilden damit den Ausgangspunkt für ­Marketingmaßnahmen. Die Customer Centricity ist jedoch mehr als ein Service oder ein Vertriebskanal: Sie ist Unternehmenskultur, Strategie und Philosophie in Einem. Das Konzept erstreckt sich auf alle Bereiche eines Unternehmens und erfordert Zugeständnisse aller Mitarbeiter – vom Management über unterschiedliche Abteilungen bis hin zum Verkäufer und zum Servicemitarbeiter (Ryte Wiki 2018). Die Abb. 5.1 zeigt, wie Kunden durch Vernetzung über die klassischen Touchpoints wie Marketing, Vertrieb oder Verwaltung zu einem aktiven Teil des Unternehmens werden. In Form von Daten zu Bedürfnissen, Erwartungshaltung, Kaufverhalten oder Feedback wirken Kunden auf alle Bereiche des Unternehmens. Automatische Folge: Das gesamte Unternehmen wird immer mehr auf die Kunden zentriert. Neu dabei ist nicht, dass alle Augen auf die Kunden gerichtet sind. Das war auch früher schon möglich, wenn man es ernst meinte mit der Kundenorientierung. Neu ist vielmehr, dass heute die Nachfragemacht der Kunden den Markt dominiert. Die Angebotshoheit von Unternehmen ist beendet. Heute wählt der Kunde, wann immer und wo immer er will, genau das Angebot, das er haben will. Wenn das der eine Händler nicht bieten kann oder will, dann ist man mit zwei Klicks bei einem anderen Anbieter. Das Internet hat den Marktplatz aus Angebot und Nachfrage zerlegt in lauter kleine Einzelteile und macht diese weltweit und jederzeit verfügbar und austauschbar.

5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

159

Vertrieb

Marketing

Verwaltung

Kunde

Produktion

Geschäftsleitung

Abb. 5.1   Der Kunde wird zentraler Part des Unternehmens



Das Internet hat die Marktbeziehungen demokratisiert und sowohl Angebotsseite als auch Nachfrageseite atomisiert.

Beispiel: Zeitunglesen heute

Früher musste man eine ganze Zeitung für zwei Euro kaufen, obwohl man eigentlich nur am Sportteil wegen der Berichterstattung zum Thema Fußball interessiert war. Heute muss man nicht bis Montag warten und muss nicht einmal den Sportteil kaufen. Man sucht sich online über Suchmaschinen oder im Sportteil einer Webseite genau die Themen aus, die von Interesse sind. Wenn die Webseite diese nicht bieten kann oder die Nutzung über eine Bezahlschranke einschränkt, geht man auf andere Webseiten, die vergleichbare Informationen kostenlos bieten.

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5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

Dieses Beispiel deutet die Eigenheiten einer digital getriebenen Customer Centricity an und lässt erahnen, welchen Einfluss und Relevanz Customer Centricity auf Unternehmen, Kunden, Markt und Marketing hat. Der Kunde steht nicht nur im Mittelpunkt, sondern hat durch das Internet die Entscheidungsmacht erhalten. Aber der Reihe nach.

5.1 Die totale Emanzipation des Kunden Die älteren Leser können sich vielleicht noch daran erinnern, als Otto- und Neckermann-Kataloge ins Haus flatterten und wie Bilderbücher mit Staunen durchgeblättert wurden. Die Angebote waren unantastbar. Die Preise wurden nie in Frage gestellt. Es gab kaum Vergleichs- oder Ausweichmöglichkeiten. Entweder man bestellte - oder nicht. Und die Deutschen bestellten viel. Ebenso wie sie viel einkauften in den adretten Geschäften ihrer Städte. Samstags ging es zum Einkaufsbummel. Was in den Schaufenstern lag, galt als begehrenswert. Wo sonst hätte man schneller und einfacher bessere oder schönere Sachen kaufen sollen? Der Kunde hing an den Lippen der Verkäufer und des Marketings. Der Kunde war abhängig vom Angebot. Durch das Internet wurde das Diktat des Angebots weggefegt. Der Online-Marktplatz läuft rund um die Uhr an jedem Ort der Welt. Er ist für jede Person an jedem Ort zugänglich, wo ein Internetzugang gegeben ist. Wenn man wollte, könnte man während einer Bootsfahrt im Nildelta ein neues Schlauchboot, das einem der ugandische Bootsführer empfohlen hat, für Touren auf der heimischen Isar nach Hause bestellen – direkt vom Nildelta via Amazon nach München Giesing. Das Internet ermöglicht zu jeder Zeit eine Vergleichbarkeit von Produkten und Preisen. Preisvergleiche im Internet auf Börsen wie Check24 gehören heute für viele zur sportlichen Routine des Einkaufserlebnisses. Wer will schon zu viel bezahlen, wenn es so leicht zu vermeiden ist? Welch weite Kreise die Gewohnheit des Preisvergleichs schon gezogen hat, zeigt folgendes Beispiel. Beispiel Christbaumversteigerung

Eine Christbaumversteigerung ist die niederbayerische Version einer Vereinsweihnachtsfeier. Ein Talent aus den Reihen des Vereins übernimmt die Versteigerung diverser Sachpreise u. a. von selbstgebackenem Brot oder geräuchertem Fleisch. Sogar während solcher Versteigerungen gibt es Gäste, die via Smartphone im Internet Vergleichspreise einholen und ihre Gebote nach den Preisen im Netz ausrichten.

5.1  Die totale Emanzipation des Kunden

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Im Rahmen solcher Veranstaltungen in Niederbayern bleiben das Einzelfälle, die dem Erfolg dieser Weihnachtsfeiern keinen Abbruch tun, weil die große Mehrheit der Gäste nicht preis- oder produktorientiert steigert, sondern überwiegend aus Verbundenheit und Freude am Verein. Im flächendeckenden Einzelhandel für Bekleidung oder Technik stellt sich ein anderes Bild dar: Immer mehr Kunden gehen an den Online-Handel verloren, Umsätze sinken, Geschäfte müssen schließen. Das Internet hat die Marktbeziehung zwischen Unternehmen und Kunden auf Augenhöhe geschaltet. Der Kunde entscheidet nach den für ihn relevanten Kriterien. Können Anbieter diese nicht bedienen, sind sie aus dem Rennen. So wird das Wissen über die Vorlieben von Kunden nicht nur ein wichtiger, sondern ein unverzichtbarer Baustein der Kundenzentrierung. Das Internet hat viele Märkte und Leistungen komplett transparent gemacht. Das gilt auch für Nichtleistungen und Minderleistungen von Unternehmen. In intransparenten, von Angebotsseite diktierten Märkten kamen Hersteller leichter durch mit versteckten Preiserhöhungen oder suboptimalem Service. Man konnte Leistungsmerkmale fast unbemerkt unter den Tisch fallen lassen, um am Produkt zu sparen. Heutzutage sorgen Vergleichs- und Bewertungsportale für eine rund um die Uhr voll ausgeleuchtete Markthalle. Nichts bleibt unentdeckt. Der Finger steckt schon tief in der Wunde, bevor der Anbieter realisiert, dass er sich mit seinem Angebot oder seinem Service selbst ins Bein geschossen hat. Das Internetzeitalter stellt das Verständnis in der Kommunikation mit Kunden auf den Kopf. Früher konnte man sicher sein, mit einem mehr oder weniger konkurrenzfähigen Angebot bei ausreichend vielen Kunden zu landen. Man konnte Schwächen übertünchen und ein und denselben vermeintlichen Produktvorteil als kaufentscheidenden Nutzen an alle Kunden kommunizieren: Für jeden Topf den gleichen Deckel. Heute muss man den richtigen Kunden die Stärken des Produkts nach deren Vorlieben aufbereiten und man muss für Schwächen Antworten parat haben. Vorteil ist: Man kann mit allen Eigenschaften punkten – durch direkte Kommunikation mit wirklichen Kunden und echten Bedürfnissen. Kundenzentrierung ist die sichere Alternative Manche Anbieter bauen auf Preisführerschaft. Aber es ist offensichtlich, dass dies in transparenten Märkten nur wenigen vorbehalten ist. Sobald vergleichbare Produkte mit vergleichbaren Preisen verfügbar sind, wird dieses Konstrukt instabil. Wenn Nachahmer auf den Markt drängen, wird die Exklusivität von Produkten ausgehöhlt. Preis wird schnell das einzige Entscheidungskriterium. So steigt der Preisdruck und eine vermeintliche Preisführerschaft schmilzt schnell dahin auf niedriges Niveau.

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5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

Ein vergleichbares Szenario droht bei einer Strategie der Produkt- oder Markenführerschaft. Es gelingt nur wenigen Anbietern, eine Aura über ihren Marktplatz zu ziehen, sich abzuschotten von Konkurrenten und sich immun zu machen gegen Preisvergleiche oder Bewertungen. Dieser exklusive Weg fordert i. d. R. hohe Investitionen in Forschung, Marketing oder Kommunikation – mit entsprechendem Risiko und der dafür notwendigen Vision und Portion Mut. In einer sehr zögerlichen deutschen Entscheiderlandschaft wird die Erfolgswahrscheinlichkeit für diesen Weg äußerst gering. Die weitaus sicherere Alternative ist Kundenzentrierung. Natürlich kann man alten Zeiten nachweinen, als man mit dem eigenen Laden noch Platzhirsch auf dem hiesigen Marktplatz war und diktieren konnte, was angesagt war. Man kann das Internet verdammen, weil es den Kunden die Augen und die Tür zur Welt geöffnet hat. Andererseits ist Kundenzentrierung keine Einbahnstraße. Die neuen Nutzen der Kunden sind neue Chancen für Unternehmen, die sie mit einer neuen Aufstellung im Marketing nutzen können. Gute Kundenbeziehungen sind dauerhaft wertvoll, auch weil sie stabil und belastbar sind.

Kunden, zu denen man gute Beziehungen pflegt

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kann man mehr Leistungen mit weniger Aufwand verkaufen. verzeihen Fehler schneller und sind weniger nachtragend. kann man besser kennenlernen und so neue Angebote entwickeln. können zu Fans, Botschaftern und Chefkritikern des Unternehmens werden. werden irgendwann selbstverständlicher Teil des Unternehmenskreislaufs.

Ein wirklich kundenzentriertes Unternehmen wird per definitionem gar nicht mehr anders können, als sich nach seinen Kunden auszurichten. Alle Informationen zu Vorlieben, Kaufverhalten, Beschwerden, Verbesserungsvorschlägen, Bewertungen und allen weiteren Erfahrungen des Kunden sollten in ständigem Fluss direkt mit dem Unternehmen verbunden sein. Nach dem Kauf wäre vor dem Kauf. Der Kunde wirkt als Teil des Kreislaufs mit, das Unternehmen kontinuierlich besser zu machen (Abb. 5.1). Beispiel Hutkauf

Stellen Sie sich vor, Sie könnten einen Kunden nach dem Kauf eines neuen Huts – mit Hilfe eines Fernrohrs – auf seinem weiteren Weg beobachten. Sie könnten sehen, ob er ein zufriedenes Gesicht macht nach dem Kauf, was seine Frau und seine Freunde über den Hut sagen und wie der Kunde d­ arauf

5.2  Aus Daten werden Kunden

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reagiert. Wann, wie oft und zu welchen Gelegenheiten er den Hut aufsetzt. Ob er passend zum Hut bald einen Schal kauft oder ob er sich einen zweiten Hut kauft und auf welchen Hut-Webseiten er dafür recherchiert. Sie würden herausfinden, wie alt der Kunde ist, wie er finanziell gestellt ist. Alle diese Informationen würden Sie notieren, auswerten und weitergeben an verschiedene Stellen im Unternehmen. An den Verkäufer: „Gut gemacht“. An den Designer: „Braun kommt bei Frauen nicht gut an“. An die Werbeabteilung: „Den Hut bei Männern ab 50 in Sachsen bewerben!“. Selbst mit dem besten Fernglas ist diese Aufgabe nicht einmal für einen einzelnen Kunden zu bewältigen. Mit den Möglichkeiten des neuen, digitalen Marketings können Sie das für alle Ihre Kunden rund um die Uhr erreichen.

5.2 Aus Daten werden Kunden Egal ob analog oder digital, egal ob mit Fernglas, Stift und Zettel oder mit digitalen Tools zur Verarbeitung, Analyse und Verknüpfung massenhafter Daten: Die Etappen eines Kunden auf seiner Reise mit einem Unternehmen bleiben im Kern die gleichen und beschreiben folgende Aufgabenstellungen für das Marketing (im Sinn seiner Definition als „konsequente Ausrichtung des gesamten Unternehmens an den Bedürfnissen des Marktes“ – Kap. 4 nach Prof. Dr. Manfred Kirchgeorg in Gablers Wirtschaftslexikon):

Etappen eines Kunden

1. Kennenlernen des Kunden 2. Bedürfnisse des Kunden konkretisieren 3. Nutzen erarbeiten beim Bedienen dieser Bedürfnisse 4. Kommunikation mit dem Kunden aufbauen 5. Kontaktpunkte anbieten für den Kunden mit dem Unternehmen 6. Feedback geben und einholen 7. zurück zu 1.

5.2.1 Big Data und Künstliche Intelligenz Alle Unternehmen haben Kunden und damit – zumindest theoretisch – Informationen über diese Kunden. Große Marken wie Aspirin oder Zalando freuen sich

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5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

über Millionen von Kunden pro Monat. Ausflugslokale und Zahnarztpraxen dürfen, je nach Größe, vielleicht ein paar Hundert Kunden pro Woche bedienen. Alle Kunden hinterlassen Spuren und Daten. Je griffiger und detaillierter diese Daten der einzelnen Kunden sind, ein umso besseres Bild lässt sich über die Gesamtheit der Kunden zeichnen.

Es geht auf der Etappe „Kennenlernen“ darum

1. möglichst qualifizierte Daten möglichst vieler (potentieller) Kunden zusammenzutragen; 2. die Daten zu speichern und auf einer geeigneten Plattform zur Verarbeitung bereitzuhalten; 3. die Daten auf gemeinsame Standards zu bringen, die Vergleiche erlauben; 4. die Daten zu analysieren und zu sortieren, etwa nach Merkmalen, Gruppen, Beziehungen.

Beispiel Herausforderung Fotos sortieren

Denken Sie an einen riesigen Haufen Fotos, der vor Ihnen auf dem Tisch liegt und den Sie sortieren müssen. Sie könnten folgendermaßen vorgehen: 1. Möglichst viele Urlaubsfotos von vielen unterschiedlichen Familienmitgliedern sammeln 2. Fotos auf einen großen Tisch kippen 3. Alle beschädigten und irrelevanten Fotos aussortieren 4. Fotos gruppieren nach Urlaubsorten, Jahren und Teilnehmern Laufend werden neue Fotos unterschiedlichster Machart von immer neuen Familienmitgliedern und ständig wechselnden Urlaubsorten auf den Tisch gekippt. Die Sortierung von Menschenhand stößt schnell an ihre Grenzen. Das spiegelt die Herausforderung wider bei der Datenverarbeitung im digitalen Zeitalter: Nicht nur die Menge der Daten nimmt rasant zu. Dazu kommt, dass Daten zusehends dynamisch und laufend aus verschiedenen Quellen generiert werden. Nur maschinelle Anwendungen können derartige Datenlandschaften bewältigen. Entscheidender Faktor dabei ist, dass die Kapazität und Leistungsfähigkeit der digitalen Datenverarbeitung laufend steigen und die Kosten ­sinken. Die Anwendung dieser Technologien ist also auch für kleinere und mittlere Unternehmen technisch und wirtschaftlich darstellbar.

5.2  Aus Daten werden Kunden

165

 Big Data  Mit Big Data werden große Mengen an Daten bezeichnet, die u. a. aus Bereichen wie Internet und Mobilfunk, Finanzindustrie, Energiewirtschaft, Gesundheitswesen und Verkehr und aus Quellen wie intelligenten Agenten, sozialen Medien, Kredit- und Kundenkarten, Smart-Metering-Systemen, Assistenzgeräten, Überwachungskameras sowie Flug- und Fahrzeugen stammen und die mit speziellen Lösungen gespeichert, verarbeitet und ausgewertet werden (Prof. Dr. Oliver Bendel, Gablers Wirtschaftslexikon). Big Data Management hilft, riesige Datenmengen zu sortieren und auszuwerten. Künstliche Intelligenz hilft im nächsten Schritt, aus diesen Daten Schlüsse zu ziehen, und bietet Lösungen zur Anwendung der Ergebnisse aus der Datenanalyse. Künstliche Intelligenz Diskussionen über künstliche Intelligenz (KI) werden vorschnell gleichgesetzt mit einem Verlust wertvoller, menschlicher Intelligenz. Dabei geht es nicht um Kannibalisierung von – mehr oder minder ausgeprägter – menschlicher Intelligenz, sondern um Hilfe bei Aufgaben, die Menschen aus Kapazitätsgründen nicht oder nicht so gut bedienen können. Daraus resultiert eine Arbeitsteilung mit der Chance für Menschen, sich wertvolleren Aufgaben zu widmen an Stellen, wo menschliche Intelligenz und Empathie besser wirken können.

 Künstliche Intelligenz – KI  Erforschung „intelligenten“ Problemlösungsverhaltens sowie die Erstellung „intelligenter“ Computersysteme. Künstliche Intelligenz (KI) beschäftigt sich mit Methoden, die es einem Computer ermöglichen, solche Aufgaben zu lösen, die, wenn sie vom Menschen gelöst werden, Intelligenz erfordern (Prof. Dr. Richard Lackes, Gablers Wirtschaftslexikon).

Vorteile von künstlicher Intelligenz

Mit KI lassen sich viele Herausforderungen im digitalen Marketing auf Datenbasis effizienter bewältigen, also exakter, verlässlicher, vollständiger, schneller und günstiger: • Bedürfnisanalyse auf Basis von Kauf- oder Zahlungsdaten • Datenbasierte Identifikation von Mustern bestimmter Nutzertypen • Abgleich von Nutzerprofilen und Werbebotschaften: Jeder Typ bekommt seine Botschaft. Es gibt nicht mehr die eine Botschaft für alle Nutzer.

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5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

• Botschaften werden automatisch an die richtigen Nutzer ausgespielt. Werbekampagnen werden laufend und dynamisch optimiert. • Der Nutzer wird auf seinem Einkauf begleitet durch KI-getriebene Empfehlungen. • Feedback der User erfolgt über KI-betriebene Touchpoints wie ChatBots. • Aus Verhaltensdaten werden Vorhersagen getroffen, bevor die Mehrheit der Nutzer dies realisiert.

Mediaplanung heute

In der rein analogen Welt waren Mediaplaner damit beauftragt, die Werbebudgets der Kunden auf Werbeträger wie TV, Radio oder Print zu verteilen. Heute werden u. a. Daten zu Mediennutzung, Kundenprofilen, Konsum- und Zahlungsverhalten zusammengeführt, analysiert und daraus in Echtzeit Kampagnen gesteuert, die dynamisch an das Nutzerverhalten angepasst werden. Anhänger der traditionellen Mediawelt argumentieren mitunter, dass bei maschineller Planung die wertvolle Erfahrung der Mediaplaner verloren gehe. Tatsache aber ist, dass eine Mediaplanung in einer digital geprägten Nutzerlandschaft manuell nicht mehr darstellbar ist. Das wäre so, als würde man Menschen beauftragen mit der Suche nach Erwähnungen des Begriffs Mediaplanung – auf allen rund 14 Mio. deutschen Internetseiten (Hostingfacts.com) – per händischer Suche und ohne Hilfe von Suchmaschinen. Zum Vergleich: Google liefert in 0,42 s rund 312.000 Suchergebnisse. Das ist ein schlagender Beweis dafür, dass derartige Aufgaben im digitalen Marketing nur automatisiert und in Verbindung mit KI effizient bestritten werden können. Die Entwicklung von KI folgt dem Grundsatz der Digitalisierung: „Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert“, formulierte es die ehemalige Chefin von Hewlett-Packard, Carly Fiorina, schon 2009. Wir heben uns ja auch nicht die letzten 1000 Barrel Rohöl auf für schlechte Zeiten, sondern werden alles zu Kraftstoff aufbereiten und verbrauchen. Dort, wo KI einen Nutzen bringt, wird sie eingesetzt. Egal ob Anhänger alter Methoden das gut finden oder nicht. Das bedeutet für die Zukunft: Immer mehr Arbeiten, die bisher von Menschen verrichtet wurden, werden zukünftig von Maschinen übernommen. Genau zu diesem Aspekt wird die öffentliche Diskussion oft mit Angst, Argwohn und Zwiespalt geführt.

5.2  Aus Daten werden Kunden

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Eine repräsentative Studie des Branchenverbands BITKOM vom November 2017 besagt, dass eine breite Mehrheit der Bundesbürger der Meinung sei, KI berge große Chancen für den zukünftigen wirtschaftlichen Erfolg deutscher Unternehmen und könne wesentliche Erleichterungen bringen für unser Leben z. B. durch die Interpretation von Datenmengen aus dem Gesundheitswesen für die Behandlung von Krankheiten oder zur Steuerung des Verkehrs und der Verkehrsmittel auf Basis von Mobilitätsdaten. Viele KI-Anwendungen sind bereits heute – auf großer und kleiner Skala – im Einsatz und die Prognosen sind eindeutig, dass sich der Einsatz von KI in den nächsten Jahren vervielfachen wird. Es ist gesichert, dass KI-Anwendungen in vielen Fällen deutlich bessere Lösungen finden als Menschen, indem sie große Datenmengen auswerten und mit den gewonnenen Erkenntnissen Dinge einfach besser regeln. Beispiel Ampelschaltungen

Sie haben sich bestimmt auch schon geärgert, wenn Sie bei Rot an einer Ampel standen nachts um drei Uhr, obwohl sonst kein Auto weit und breit zu sehen war. Über die Analyse mobiler Daten können Ampelschaltungen laufend an den Verkehr angepasst werden. Das hilft nicht nur nachts um drei in Deutschland, sondern auch in staugeplagten Megastädten. Beispiel Auswertung Kassenbons

Mit der Auswertung von Kassenbons und der Zusammenführung mit Wetter- oder Urlaubsdaten, können Einzelhändler Einkauf und Regalbestückung vorausschauend und automatisch steuern. Für warme Wochenenden bestellt der Computer mehr Fleisch, Bier und Grillkohle. Für regnerisches Wetter mehr Süßigkeiten, Käse und Rotwein. Diesen vorteilhaften Anwendungen zum Trotz ist eine gehörige Portion Skepsis gegenüber KI zu spüren. Die BITKOM-Studie weist aus, dass 78 % der Befragten befürchten, KI könne auf lange Sicht die Macht über Menschen erlangen. Diese Angst rührt v. a. daher, dass die Menschen Regeln für die Handhabung von KI vermissen und diese für dringend notwendig halten. Politik und Wirtschaft sind gefordert, die Investitionen in die Weiterentwicklung von KI zu forcieren und gleichzeitig den rechtlichen Rahmen dafür zu schaffen. Mit der DSGVO wurde eine gute Basis geschaffen, auf der sich aufbauen lässt. Prüfen Sie also für Ihr Unternehmen die Chancen, die sich durch Auswertung von Daten und die Anwendung von KI ergeben. Lassen Sie sich in Ihren unternehmerischen Entscheidungen nicht abschrecken durch Befürchtungen im Kontext mit Datenschutz und suchen Sie keine Ausreden darin. Die Anwendung von

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5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

Big Data Management und KI empfiehlt sich nicht nur in Größendimensionen von Aspirin oder Zalando. Der Einsatz entsprechender Instrumente kann sich auch in mittleren und kleineren Betrieben schnell bezahlt machen; im Grunde in allen Betrieben, in denen laufend viele Daten anfallen und genutzt werden könnten. Dann eben mit kleiner dimensionierten, aber auf jeden Fall mit digital getriebenen Lösungen, die den gesetzlichen Anforderungen des Datenschutzes genügen.

5.2.2 Datenschutz ist Hilfe – nicht Hürde Spätestens wenn Daten in Verbindung mit Speichern in einem Satz genannt werden, blinkt reflexartig ein Warnlicht mit dem Hinweis: Vorsicht – Datenschutz!. Die Beteiligten schauen argwöhnisch darauf und fragen sich, ob sie schon etwas falsch gemacht haben oder gerade dabei sind, die gesetzlichen Regeln zu verletzen – die sie gar nicht kennen und noch nie gelesen haben. Wie übrigens die meisten Gesetze und Verordnungen, die unseren Alltag regeln, ungelesen im Regal oder im Netz schlummern. Da macht die EU Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO), die seit Mai 2018 angewendet wird, keine Ausnahme. Erst einmal ist die DSGVO eine gute Sache, weil sie damit beginnt, verbindliche Regeln in allen Ländern der EU im vielbefahrenen Internet zu schaffen. So wie die Straßenverkehrsordnung StVO, ohne die sich kein Mensch auf Deutschlands Straßen wagen könnte, den Straßenverkehr regelt. Die DSGVO ist keine Kontrollverordnung, sondern eine Verordnung zum Schutz der Bürger bei der Nutzung des Internets. Wie die User damit umgehen und welche Schleichwege irgendwelche Quacksalber schon wieder aufgetan haben, um die Verordnung zu umgehen, kann man tagtäglich im eigenen Umfeld oder auf dem eigenen Bildschirm erleben. Mit sanften Worten formuliert: Die DSGVO muss sich erst noch etablieren und in Tiefe und Breite durchgesetzt werden. In der 1934 erlassenen Reichs-Straßenverkehrs-Ordnung wurde in § 25 formuliert: „Jeder Teilnehmer am öffentlichen Verkehr hat sich so zu verhalten, dass er keinen anderen schädigt oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt.“ (Wikipedia, Reichs-Straßenverkehrs-Ordnung). Soviel zur Relativierung der Einführung und Weiterentwicklung von Verordnungen. Am Anfang muss man erst einmal Grundlagen etablieren. Im Jahr 2019 befinden wir uns im Anfangsstadium der Regelung für die Internetnutzung.

5.2  Aus Daten werden Kunden

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An dieser Stelle geht es um die Auswirkungen der DSGVO auf unternehmerische Freiheiten und Gestaltungsspielraum – etwa beim Sammeln, Speichern und Auswerten von Daten. Für unternehmerische Entscheidungen im Umgang mit personenbezogenen Daten von Kunden kann folgende Faustformel dienen: 

Für die Verarbeitung personenenbezogener Daten müssen Unternehmen das Einverständnis dieser Personen vorliegen haben und nachweisen können. Die Erlaubnis für die Verarbeitung personenbezogener Daten werden Kunden regelmäßig dann geben, wenn sie ausreichenden Nutzen darin sehen.

Das platte Kaufen, Sammeln und Verarbeiten von Daten ohne Einwilligung der User soll durch die DSGVO unterbunden werden. Einerseits gilt es, diese Verordnung von Rechts wegen zu befolgen. Vor allem aber steuert diese Verordnung Unternehmen in eine ohnehin vernünftige und vertrauensvolle Beziehung mit ihren Kunden – basierend auf Nutzen und gegenseitiger Wertschätzung. 

So wie Unternehmen Autofahrern Sicherheitsgurte im Sinn der Gurtpflicht der Straßenverkehrsordnung bereitstellen, werden schlaue Unternehmen Usern bei der Nutzung ihrer Angebote im Internet Sicherheit anbieten – ganz im Sinn der DSGVO.

Sicherheit und Vertrauen im Umgang mit Daten müssen eine Selbstverständlichkeit werden in der Beziehung zwischen Unternehmen und Kunden. Der Gesetzgeber ist gefordert, einen geeigneten Rahmen dafür zu schaffen. Nach der langen Wild-West-Phase des Internets ohne Regeln und ohne Sheriff wird es Zeit und Geduld brauchen, bis sich Regeln in der Online-Landschaft manifestieren und es ganz normal wird, sich daran zu halten. Ethik schlägt Angst Das Vertrauen in Angebote im Netz ist stark angeschlagen. Das bestätigen diverse Studien wie „Deutschland sicher im Netz“ (DsiN 2018). User sind noch vorsichtiger geworden, wem sie Daten bewusst überlassen. Viele bewegen sich stets mit der latenten Befürchtung im Netz, dass an irgendeiner Stelle zu viele Daten abgegriffen werden. Große, öffentlichkeitswirksame Skandale wie der um

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5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

Facebook und Cambridge Analytica sind nur die Spitze des Eisbergs. Unter der Oberfläche hat sich ein großer Brocken Unsicherheit gebildet. Viele Jahre lang waren die meisten User ohne Bewusstsein oder gar Ausrüstung für ausreichenden Schutz im Internet unterwegs. Heute sind viele zwar fitter im Umgang mit dem Netz und den Sicherheitsvorrichtungen. Das Gefühl der Unsicherheit nahm dennoch zu. Immer mehr Fälle von Cybercrime, Datenmissbrauch, Fake News, Betrügereien und gleichzeitig unzureichende Kundenorientierung bei Fragen, Beschwerden und Hilferufen fördern diese Verunsicherung. Gleichzeitig steigt die Internetnutzung kontinuierlich und ist auch in älteren Zielgruppen auf dem Weg zu 100 % Abdeckung. 

Sicherheit und Vertrauen im Internet haben einen sehr hohen Nutzen für die User und können daher als entscheidender Wettbewerbsvorteil ausgespielt werden. Das gilt auch und v. a. für ältere Zielgruppen, die ein erhöhtes Verlangen nach Sicherheit zeigen.

Lassen Sie Ihre Kunden sehen und verstehen, warum Sie Daten erheben, wie Sie Daten erheben, was mit ihren Daten passiert und welcher Nutzen für die Kunden in der Verwendung von Daten entsteht. Überlassen Sie Ihren Kunden jederzeit die Kontrolle über ihre Daten. Egal ob bei Bestellungen, Anmeldung, Abmeldung, Fragen an das Unternehmen, Beschwerden und Feedback im Allgemeinen: Sicherheit und Transparenz sollten an jeder Stelle und zu jeder Zeit spürbar, sichtbar, verständlich und einfach zu bedienen sein. Intensive Information, Aufklärung und Kommunikation fördern Transparenz und Verständnis auf Kundenseite und damit das Vertrauen in die Angebote Ihres Unternehmens. Proaktiver Datenschutz ist eine ethische, vorbildliche Haltung im Umgang mit Nutzerdaten in Verbindung mit der Einhaltung gesetzlicher Vorschriften. Das erfordert auf Unternehmensseite ein Umdenken – gerade in der technologischen Haltung. Ziel ist nicht, alle technisch möglichen Anwendungen und Tricks einzusetzen und so selten wie möglich erwischt zu werden. Ziel ist ein grundsätzlich einwandfreies Verhalten mit einem rundum sicheren Gefühl für die Nutzer. Schon heute ist Datenverarbeitung, im kleinen Stil oder als Big Data Management, DSGVO-konform und ethisch vorbildlich machbar. Auch wenn dieser gesetzeskonforme und User-freundliche Weg an der einen oder anderen Stelle mit einem Umweg verbunden sein mag. Nutzen Sie zur Beratung Ihren externen oder internen Datenschutzbeauftragten.

5.2  Aus Daten werden Kunden

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Vergleichen wir die User-Reise durch das Internet mit einer Bergwanderung, dann ist

• die Hotelleitung das Unternehmen, das die Wanderung anbietet und organisiert mit allen Annehmlichkeiten, die für den User wichtig sind. • der Bergführer der Technologieanbieter, der im Auftrag der Hotelleitung den User sicher durch die Berge führt – und gefährliche Abkürzungen oder Kletterpassagen vermeidet. • der Tourismusverband der Gesetzgeber, der die Wege pflegt und die Infrastruktur anbietet. • der User der Gast, der mit seinen Daten bezahlt und sich darauf verlassen können muss, dass diese gesetzeskonform verwendet werden. Natürlich hat er auch eine Eigenverantwortung, dass er nicht mit Flipflops antritt und als Passwort für den Hotelsafe nicht 123456 wählt.

Sicherheit und Datenschutz für die User können sich nur verbesssern, wenn sich bei allen Beteiligten Bewusstsein und Kenntnisse weiterentwickeln: Langfristig angelegte Nutzerzentrierung auf Unternehmensseite, Umsicht und Vorsicht in den Technologieabteilungen, Relevanz und Professionalität auf allen Ebenen der Gesetzgeberseite und Eigenverantwortung und Wissen auf User-Seite. Alle zusammen müssen und werden dazu beitragen, dass wir in absehbarer Zeit so etwas wie sichere Privatsphäre bei der Internetnutzung erleben, auch wenn wir uns das noch nicht vorstellen können. Aber wir können uns ja auch nicht mehr vorstellen, dass früher in Krankenhäusern geraucht wurde. Nur in Ausnahmefällen wird die DSGVO einen Grund dafür liefern, unternehmerische Entscheidungen in Sachen Digitalisierung zu kippen oder zu verzögern. Im Gegenteil: DSGVO-konforme Datenverarbeitung und -analyse birgt großen Nutzen für Unternehmen: Sie lernen ihre Kunden in- und auswendig kennen. Sie wissen rund um die Uhr, mit wem sie es zu tun haben. Sie können Produkte, Preise, Zielgruppen und weitere Prozesse laufend auf die Bedürfnisse ihrer Kunden ausrichten und so mit geringerem Aufwand höhere Erlöse erzielen. Durch Einhaltung der Datenschutzvorschriften und Transparenz bei der Verarbeitung personenbezogener Daten des Kunden wird das Vertrauen der Kunden in das Unternehmen und damit auch die Kundenbindung gestärkt.

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5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

Datenschutz und Kundenzentrierung sind miteinander gut vereinbar. Der respektvolle, gesetzmäßige Umgang mit Kundendaten und der Aufbau guter Kundenbeziehungen im Internet kollidieren nicht, sondern befruchten sich gegenseitig.

5.2.3 Digitale Bedürfnisanalyse Kennen wir den Kunden, heißt das noch nicht, dass wir wissen, wo ihn wirklich der Schuh drückt – und zwar von jetzt an in die Zukunft gedacht. Am besten mit einer Prognose zukünftiger Bedürfnisse und nicht nur einer Ex-post-Analyse. In einem globalen Markt, in dem der Kunde rund um die Uhr alle Optionen hat, sollten Sie seine aktuellen Vorlieben und – noch besser – seine zukünftigen Pläne kennen, um mit Ihren Angeboten mithalten zu können. Ansonsten wird Erfolg zunehmend zufällig, beliebig oder schwierig – was alles nicht im Sinn eines effizienten Marketings sein kann. Viele Unternehmen hängen auch in dieser Hinsicht noch im Denken aus alten Zeiten, in denen sie mit ihren Angeboten den Markt diktieren konnten: „Unser Produkt ist gut und wird den Anforderungen der Kunden sicher genügen…, obwohl wir dessen Bedürfnisse ja gar nicht genau kennen.“ Oder: „Wir machen ein Produkt, das uns gefällt. Dann gefällt es sicher auch unseren Kunden.“ Selbsttest: Stellen Sie in Ihrem Unternehmen die Fragen: „Was wollen unsere Kunden wirklich von uns? Womit lösen wir bei unseren Kunden Glücksgefühle und Begeisterung aus?“ Vielleicht bekommen Sie darauf gute Antworten. In vielen Fällen wahrscheinlich nicht oder nur spärliche. Das sollten Sie rasch ändern. Finden Sie Antworten auf diese Fragen. Denn Unternehmen und Betriebe, die die Bedürfnisse ihrer Kunden nicht kennen oder vernachlässigen, werden in voll transparenten, dynamischen Märkten nicht mehr lange mithalten können im Wettbewerb um die Gunst von Kunden. Erfreulicherweise bietet das Internet nicht nur neue Herausforderungen, sondern auch Wege und Hilfsmittel, um diese zu bewältigen. Für die Analyse von Bedürfnissen ihrer Kunden können Unternehmen heute Online-Tools einsetzen, die schnelle und verlässliche Aussagen liefern. Das beginnt bei der Analyse vorliegender Ist-Daten von Kunden.

5.2  Aus Daten werden Kunden

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Analyse vorliegender Kundendaten

• Auswertung von Käuferdaten wie Größe und Zusammensetzung des Warenkorbs aus Offline- wie Online-Shops • Feedback aus dem Vertrieb, das im CRM oder einer Datenbank festgehalten wird • Auswertung der Nutzung von Webseiten: Welche Seiten nutzen Kunden wie lange und wo springen sie ab? Von welcher Seite kommen User und wohin wandern sie? • Analyse von Bewertungsportalen • Daten aus Social-Media-Kanälen wie beispielsweise Zahl und Qualität der Interaktionen

Ergänzend dazu lassen sich heute zügig verlässliche Marktforschungsergebnisse ermitteln. Dazu kann man selbst Tools im Internet auf Webseiten oder SocialMedia-Plattformen einsetzen. Wem das nicht reicht oder wer keine Zeit oder Nerven dafür hat, kann einen entsprechenden Auftrag an Anbieter im Internet vergeben. Auf jeden Fall sind Marktforschungsoptionen zur Bedürfnisanalyse heute deutlich schneller, aktueller und genauer als zu Zeiten der traditionellen ­Marktforschung.  Notwendige Voraussetzungen sind Offenheit und Kritikfähigkeit. Diese ­ganzen schönen, neuen Hilfsmittel werden Ihnen nur helfen können, wenn Sie sie einsetzen. Wenn Sie weiterhin Ihrem Bauchgefühl oder Wunschdenken vertrauen, dann verpuffen deren Aussage und Wirkungsversprechen. Das sollten Sie auf keinen Fall riskieren. 

Die Bedürfnisanalyse ist der Schlüssel dafür, Wünsche von Kunden mit den Möglichkeiten des Unternehmens zusammenzuführen und damit der Schlüssel für Erfolg und Wachstum.

Erst wenn Sie wissen, warum Ihre Kunden (nicht mehr) bei Ihnen kaufen, können Sie Ihr Unternehmen, Ihr Sortiment und Ihre Leistungen gezielt (neu) darauf ausrichten. Wenn das für Sie zu selbstverständlich klingt, dann denken Sie an große Unternehmen, die bereits untergegangen sind wie Neckermann oder die Messe CEBIT. Die sind nicht vom Markt verschwunden, weil das Internet sie geschluckt hat. Sie hatten einfach kein Rezept für die neue Wettbewerbsumgebung. Lange Jahre erfolgreiche und schier unantastbare Größen wie die Media Markt Saturn

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5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

Gruppe oder deutsche Großbanken schlitterten die letzten Jahre eher planlos durch den digitalen und demografischen Wandel der Märkte. Weil sie nicht mehr wussten, wer ihre Kunden sind und was diese eigentlich für Bedürfnisse haben. Auf kleinerer Skala, etwa bei lokal agierenden Betrieben, ist das Bild ähnlich. Händler klagen über die Abwanderung von Kunden, die nur noch zum Preisvergleich und Fotografieren der Ware ins Geschäft kämen und dann im Internet bestellten. Sie warten gebannt auf einen Umschwung – wie beim Wetter. Aber der wird nicht mehr kommen. Es wird auch kein weißer Ritter erscheinen, der das Rad zurückdreht. Was hilft, sind allein ehrliche und konkrete Antworten auf die Frage: Was kann das eigene Geschäft bieten, um Kunden zu halten oder neue Kunden zu gewinnen – unter den neuen Marktgegebenheiten, die sich eher verschärfen als entspannen werden? Beispiel Auslastung Hotel

Ein Hotel würde gern die Auslastung steigern. Man weiß, dass die Kernzielgruppe aktuell 50plus ist. Außerdem kennt man eine Reihe von Bedürfnissen der Personen, die in der Umgebung Urlaub machen. Die Hotelleitung bildet in einem Excel-Chart ab, welche Punkte der Zielgruppe nach vorliegenden Daten wie wichtig sind. Dann versucht man, auf einer Skala von 0 bis 10 zu bewerten, inwieweit der Betrieb diese Bedürfnisse aktuell bedient. Die Tab. 5.1 zeigt ein einfaches Bewertungsschema für die Bedeutung von Bedürfnissen aus Kundensicht und für eine kritische Selbsteinschätzung dafür, wie das Hotel dieses Bedürfnis aktuell bedient. Qualität ist beispielsweise mit einer 9 ein wichtiges Bedürfnis, das vom Hotel nach eigener Einschätzung gut

Tab. 5.1   Bedeutung einzelner Kundenbedürfnisse und wie sie aktuell bedient werden Bedürfnisse der Bedeutung 0 bis 10 bestehenden Kunden (sehr wichtig)

Aktuell im Hotel von 100 = wichtiges 0 bis 10 (ideal) Bedürfnis ideal bedient

Qualität

9

7

63

WIFI und Internet

9

6

54

Bio, Nachhaltigkeit

8

8

64

Sanfte Sportarten

8

7

56

Gute Erreichbarkeit

9

6

54

Beratung, Service

10

5

50

5.2  Aus Daten werden Kunden

175

bedient wird mit 7 von 10 Punkten. Multipliziert man 9 mit 7 erhält man 63 als Index. Der Index kann 100 erreichen für ein äußerst wichtiges Bedürfnis, das ideal vom Hotel bedient wird (= 10 × 10 = 100). Allein so ein einfaches Bewertungsschema in Excel, ohne große Big-DataAnalyse, würde die meisten Betriebe auf einen neuen Erkenntnishorizont katapultieren und ihnen die Augen öffnen im Wettbewerb. Mit individueller Online-Marktforschung – etwa über Facebook-Umfragen oder die Analyse des Feedbacks in Bewertungsportalen – könnte die Hotelleitung schnell zu einer noch sichereren Entscheidungsgrundlage kommen. Sehr wahrscheinlich würde sie sogar weitere Bedürfnisse identifizieren, durch deren Ansprache sie dem Ziel einer besseren Kundenansprache und damit Auslastung näher kämen: • • • • •

Wasch- oder Bügelservice, der ab der zweiten Woche Aufenthalt kostenlos ist Zimmertemperatur im Winter abends etwas höher regeln Optionen auf vegetarische Ernährung und Schlachtfeste Wunsch nach Unterhaltungsangeboten nach dem Essen Weltkulturerbe in der Umgebung kennenlernen

„Dass die Leute so interessiert sind, die weltweite Liste an Weltkulturerbe abzuarbeiten, war uns gar nicht präsent. Dabei haben wir vier Weltkulturerbe in einem Radius von 100 km zu bieten. Unser Hotel ist eine ideale Ausgangsbasis für diese Tagesausflüge.“ Die digitalen Tools zur Bedürfnisanalyse helfen Ihnen, Ihr Marketing – offline wie online – besser auf Ihre bestehende Zielgruppe auszurichten und neue nächstliegende Zielgruppen zu erschließen. Wenn Sie mit dem aktuellen Angebot Menschen ab 50 erreichen, dann ist eine Erweiterung auf 45plus oft naheliegender und v. a. effizienter als eine radikale Kehrtwendung mit Fokussierung auf junge Familien. Lassen Sie sich ein auf Ihre Kunden! Damit landen Sie vielleicht ein Stück weiter entfernt von Ihrer bauchgesteuerten Traumzielgruppe, aber sicher näher an der Realität Ihres Unternehmens und Ihres Markts – und am Nutzen der werthaltigsten Kunden, die Sie am besten für Ihr Angebot gewinnen können. Machen Sie Ihre Kunden zu Wunschkunden. Nicht umgekehrt.

5.2.4 Digitaler Nutzen-Check Es ist ein manchmal holpriger Weg von der Produkteigenschaft zum Kundennutzen. Wenn Sie die Bedürfnisse des Kunden kennen, wissen Sie, was er warum braucht oder brauchen könnte. Vielleicht wissen Sie das dank Datenanalyse und

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5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

KI, bevor er es selbst weiß. Dann müssen Sie dem Kunden nur noch den Nutzen Ihres Produkts für sein Bedürfnis klar machen. Das ist eine gar nicht so leichte Übung für alle Marketing-Entscheider, die noch in einer produktzentrierten Welt denken. Allzu oft werden Produkt- oder Leistungseigenschaften adressiert, die beim Kunden nur ein müdes Schulterzucken hervorrufen und ihn nicht begeistern können. Beispiel Leistung und Nutzen

Leistungseigenschaft: „Unser Verkaufsteam ist mehrsprachig und top geschult.“ Bedürfnis des Kunden: „Ich will Beratung von jemandem, der mit meiner Lebenssituation vertraut ist.“ Kundennutzen: „Mit der Auskunft eines erfahrenen Beraters habe ich ein gutes Gefühl beim Kauf.“ Ein bewährtes Rezept dafür, wie man konsequent und besten Wissens und Gewissens am Kundennutzen vorbeisteuern kann, ist die Diskussion über Qualität. Natürlich reklamiert jedes Unternehmen für seine Produkte Qualität. Und natürlich freut sich jeder Kunde über Qualität. Das gilt für Essiggurken genauso wie für journalistische Angebote oder Reisen. Beispiele Qualität

• kuehne.de/gurken: Durch die enge Bindung und das starke Vertrauensverhältnis können wir die hohe Qualität unserer Produkte gewährleisten. • faz.net: Die Frankfurter Allgemeine steht seit jeher für hochwertigen Qualitätsjournalismus. • tui.de: Urlaub mit TUI ist ein Qualitätsversprechen. Produkte mit Qualität sind heute in fast allen Kategorien und Märkten in großen Mengen vorhanden, noch dazu in vergleichbarer Qualität. Das gilt nicht nur für Gurken. Umso wichtiger wird es, das Bedürfnis nach Qualität zu übersetzen in einen Nutzen, der (mit) ausschlaggebend ist für die Kaufentscheidung. Besondere Herausforderung ist heute: Der Kunde allein entscheidet darüber, was Nutzen ist – und was nicht. Er definiert Nutzen nach seinen Bedürfnissen aus seiner Lebenswelt. Wenn Sie also Ihre Zielgruppe und deren Bedürfnisse kennen, ist ein wichtiger nächster Schritt deren Übersetzung in konkrete Nutzen – ungeschminkt und konsequent kundenzentriert. Die Tab. 5.2 zeigt, wie Nutzenversprechen für verschiedene Produkte formuliert werden könnten.

5.2  Aus Daten werden Kunden

177

Tab. 5.2   Nutzen für Kunden formulieren Nutzenversprechen des Hotels für Kunden

Bedürfnis einer Zielgruppe 50+

Nutzenversprechen Nutzenversprechen der Gurke für Kunden von Zeitung für Kunden

Qualität

< 4 Std. Flatrate für jede < 5 cm und Anreise = nicht ­knackig  = bloß keine ­Nutzung  = einmal zahlen, immer nutzen anstrengend großen Schlaffen! Deutsches ­Bioprodukt  = bedient meine Vorliebe nach regionalen Produkten

Keine Lokale ­Nachrichten  = erfahre ­Kleinkinder  = Ruhe immer, was bei mir los ist

Topaktuell Im Glas = bedient meinen Wunsch nach 24/7 = weiß immer Umweltfreundlichkeit schnell, wann was passiert

Anreise per Bahn = Urlaub von Anfang an

Nutzen bringt den Wert zum Ausdruck, für den der Kunde möglicher Weise bereit ist zu zahlen. Das können Problemlöser sein oder Botschaften, die geliebte Gefühle stärken oder unliebsame Gefühle lindern. Oft sind es Leistungen, die das Leben einfacher oder günstiger machen. In reiferen Jahren bieten v. a. Lösungen großen Nutzen, die Risiken reduzieren und Sicherheit, Genuss oder Komfort erhöhen. Marktforschung im digitalen Zeitalter Jeder, der einen Internetzugang hat, kann heute auf Unmengen von Daten zugreifen und Tools mit KI nutzen. Das gilt auch für die Marktforschung. In einer unübersichtlich großen und verzweigten Datenlandschaft ist es schwierig und wichtig zugleich, Orientierung zu behalten. Die Chance der professionellen Marktforschung liegt darin, die Expertise bei der Auswertung von Daten zu sichern. Wir sprechen dazu mit Andrea Eckes, Gesellschafterin und Geschäftsführerin der 2009 gegründeten Forschungsagentur DCORE GmbH in München. Zuvor arbeitete sie im Forschungsbereich eines großen deutschen Medienhauses und Digitalvermarkters. Die Diplom-Soziologin verfügt über eine 20-jährige Erfahrung im Bereich der Markt- und Medienforschung mit Schwerpunkt auf digitalen Medien und studiert aktuell berufsbegleitend an der Hochschule für Philosophie Medienethik.

178

5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

Frau Eckes, welche digitalen Quellen können Unternehmen heute nutzen, um ihre Kunden kennenzulernen? Dank Internet können heute alle Unternehmen, angefangen von Kleinstbetrieben, auf bereits vorhandenes Marktforschungswissen und Studienergebnisse online zugreifen. Einiges davon ist frei zugänglich, kostenlos und einfach anwendbar für das eigene Unternehmen. Nutzen kann man z. B. Markt-Media-Studien wie VuMa oder best for planning. Dafür ist eine aktive Teilnahme an der Messung bzw. eine Lizenzierung notwendig. Diese Studien weisen Ex-post-Daten zu Mediennutzung, Demografie, Interessen und Konsumverhalten aus. Anbieter wie Comscore oder auch Alexa (Amazon) und Google messen das aktuelle Nutzungsverhalten der User weltweit. Die verfügbaren Daten ermöglichen Vorhersagen für zukünftiges Nutzerverhalten. Und nicht zu vergessen: Man kann die eigenen Kunden einfach fragen – etwa im Geschäft oder per Online-Befragung. Welche Online-Tools bieten sich an für die Analyse von Kundenbedürfnissen? Die besagten Markt-Media-Studien weisen eine umfangreiche Liste von Merkmalen aus – von soziodemografischen bis zu psychografischen Merkmalen. Man kann also den eigenen Kundenkreis – sofern man ihn beschreiben kann – identifizieren oder neue Zielgruppen definieren und diese vom Alter bis zur Lebenszufriedenheit gut beschreiben. Zusätzliche Erkenntnisse kann man über die Auswertung eigener Kundendaten gewinnen oder über eine Analyse der Webseitendaten und ein Monitoring der Social-Media-Kanäle. Kritisch ist in allen Fällen, dass man eine ausreichend große Fallzahl erreicht. Die Markt-Media-Studien gewährleisten dies. Ob die Zahl der eigenen Kundendaten und der Traffic auf Webseiten oder Social-Media-Kanälen groß genug sind für valide Aussagen, ist fallweise zu prüfen. Allein wenn man diese digitalen Möglichkeiten nutzt, kann man einfach und schnell verlässliche Erkenntnisse darüber gewinnen, wie die eigenen Kunden oder eine bestimmte Zielgruppe ticken. Das klingt nach einer komfortablen Situation für interessierte Unternehmen?! Ja, das Datenangebot ist reichlich und kann jederzeit ergänzt und abgerundet werden durch individuelle Umfragen oder Studien. Die kosten zwar Geld, aber sie bringen den Unternehmen zusätzliche Sicherheit und beantworten ihre spezifischen Fragen.

Weiterführende Literatur und Quellen

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Unsere Erfahrung ist, dass gerade kleinere Unternehmen die gewonnenen Erkenntnisse auch anwenden. Je größer Unternehmen sind, desto mehr werden die Ergebnisse durch politische, strategische oder persönliche Einflüsse auf langen Entscheidungswegen verwaschen. Welchen Wert haben diese Erkenntnisse im Zeitalter des digitalen Marketings? Die eigenen Kunden und deren Bedürfnisse zu kennen, war immer schon wichtig. Im heutigen, digital geprägten Marketing und im Zeitalter von Big Data und der gefühlt nahezu unendlichen Menge an Daten und Informationen wird dies zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Nur wer seine Kunden perfekt kennt, wer genau weiß, wo er sie erreichen kann und wie er welche Bedürfnisse adressieren muss, wird erfolgreich sein können. Denn wenn nicht, dann wird das ein anderer Wettbewerber tun. Das Internet hat Märkte geöffnet für alle Teilnehmer. Früher war Kommunikation begrenzt: Entweder hatte man nicht das Budget für breite Massenmedien oder man war mit lokaler oder regionaler Werbung auf ein bestimmtes Gebiet begrenzt. Heute steht auch kleinen Unternehmen die ganze Welt offen – dank digitaler Kommunikation. Professionelle Marktforschung hat im Zeitalter der Digitalisierung an Bedeutung gewonnen. Sie liefert bessere Ergebnisse auf schnellerem Weg und reduziert Risiken. Nicht repräsentative Daten oder unsachgemäße Analysen und Interpretationen wirken wie Blindgänger. Nur valide Erkenntnisse zu Kunden, deren Bedürfnissen und Nutzenerwartungen lassen sich als Munition in der Kommunikation einsetzen. Digitale Kommunikation ist mehr als ein neuer Ausspielkanal und Ersatz für schrumpfende, klassische Medien. Digitalisierung hat das Spiel und die Regeln der Kommunikationslandschaft ganz neu definiert.

Weiterführende Literatur und Quellen Zeitschriften-/Zeitungsartikel Google LLC. 2018. Künstliche Intelligenz: Was sie bedeutet und wie sie unser Leben verändert, Beilage.

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5  Kundenzentrierung dank Digitalisierung

Buch Mayer-Schönberger, Viktor. 2017. Big Data – Die Revolution, die unser Leben verändern wird. München: Redline Verlag.

Internetquellen Absatzwirtschaft. Wie sich professionelle Marktforschung zwischen Big Data und Do-it-yourself-Umfragen positioniert. http://www.absatzwirtschaft.de/wie-sich-dieprofessionelle-marktforschung-zwischen-big-data-und-do-it-yourself-umfragen-positioniert-14062/. Zugegriffen: 30. Jan. 2019. AGOF. Arbeitsgemeinschaft Online-Forschung. https://www.agof.de/. Zugegriffen: 26. Jan. 2019. Bendel, Oliver. Big Data Definition, Gablers Wirtschaftslexikon. https://wirtschaftslexikon. gabler.de/definition/big-data-54101. Zugegriffen: 11. Jan. 2019. Best4Planning. https://gik.media/best-4-planning/. Zugegriffen: 26. Jan. 2019. Bitkom. November 2017. Bundesbürger geben Künstlicher Intelligenz große Chancen. https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Bundesbuerger-geben-Kuenstlicher-Intelligenz-grosse-Chancen.html. Zugegriffen: 20. Jan. 2019. Bradley, Guy. 5. Februar 2017. The AI transition. https://medium.com/@guyb_35750/ the-ai-transition-job-destruction-and-democracy-9be904bcf1f. Zugegriffen: 25. Jan. 2019. Brandenberg, Andreas. 2. Januar 2017. Kundenzentrierung, Sales Force Blog. https://www. salesforce.com/de/blog/2017/01/kundenzentrierung—hohe-kunst-und-unternehmensstrategie. Zugegriffen: 10. Jan. 2019. Bundeskriminalamt. Internetkriminalität, Cybercrime. https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/Internetkriminalitaet/internetkriminalitaet_node.html. Zugegriffen: 26. Jan. 2019. Deutsches Institut für Marketing. Customer Centricity – Mehr Kundenorientierung, mehr Erfolg? https://www.marketinginstitut.biz/blog/customer-centricity/. Zugegriffen: 10. Jan. 2019. DSGVO. Gesetz. https://dsgvo-gesetz.de. Zugegriffen: 11. Jan. 2019. DsiN. 2018. Deutschland sicher im Netz – Sicherheitsindex. https://www.sicher-im-netz. de/sicherheitsindex-2018. Zugegriffen: 25. Jan. 2019. FAZ.net. https://www.faz.media/ueber-uns/die-faz-steht-fuer-qualitaetsjournalismus/. Zugegriffen 13. Jan. 2019 Horizont.net. 22./23. Januar 2019. Warum 2019 im Marketing von Media-Markt Saturn kein Stein auf dem anderen bleibt. https://www.horizont.net/marketing/nachrichten/ ceconomy-warum-2019-im-marketing-von-media-markt-saturn-kein-stein-auf-dem-anderen-bleibt-171909. Zugegriffen: 13. Jan. 2019. Hostingfact.com. Domain Name Statistics (Q3 2018). https://hostingfacts.com/internetfacts-stats/. Zugegriffen: 20. Jan. 2019. Kühne: Qualität. https://www.kuehne.de/gurken. Zugegriffen: 13. Jan. 2019.

Weiterführende Literatur und Quellen

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Digitale Kommunikation

Inhaltsverzeichnis 6.1 Digitale Völkerwanderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Revolution der Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Aufmerksamkeit bleibt die Währung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Content als Botenstoff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Vernetzte Daten als Leistungsträger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Kommunikation wird programmatisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Digitale Kommunikation braucht Menschenverstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Social Media: Reservat oder Republik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Katharsis im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

186 189 191 191 198 200 207 209 214 216 217

Zusammenfassung

Digitalisierung schenkt allen Unternehmen die Chance, Kommunikation aktiv und effizient zu betreiben. Gesetze, Regeln und Beschränkungen der früheren Massenkommunikation sind aufgehoben. Das Set aus Formaten, Rezepten, Kanälen und Erfolgskriterien für Kommunikation wirkt im Vergleich zu früher wie eine Drohne im Vergleich zum Papierflieger. Vernetzte Daten erschließen neue Dimensionen der Kommunikation und Beziehungen mit Kunden. „Unter digitaler Kommunikation versteht man Kommunikation, die mit Hilfe digitaler Medien stattfindet, z. B. über das Internet“. Diese Definition aus Wikipedia findet man in ähnlicher Form in einigen weiteren Schriftstücken. Leider ist diese Definition trivial, unzureichend und irreführend. Sie suggeriert, dass das, was man bislang unter Kommunikation versteht, in gleicher Form mit digitalen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Bily, Zielgruppe 50plus: Marketing im demografischen und digitalen Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25805-4_6

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6  Digitale Kommunikation

Medien ausgespielt würde: Alter Wein in neuen Schläuchen. Wer Online-DisplayWerbung wie digitalisierte Print-Anzeigen oder Online-Bewegtbild als Internetvariante des Fernsehens behandelt und alle anderen Facetten von Kommunikation unverändert fortschreibt, hat digitale Kommunikation nicht verstanden und kann damit nicht erfolgreich sein. Was digitale Kommunikation ist, was sie alles beeinflusst und verändert und welche neuen Wege und Wirkungszusammenhänge sie eröffnet, soll folgendes Interview mit Dr. Ewald Wessling aufzeigen. Dr. Wessling ist Professor für Neue Kommunikationsformen an der Hochschule Hannover, geschäftsführender Aufsichtsrat der Vogel Communications Group, Buchautor und Vortragsredner zu Themen des digitalen Wandels. Herr Dr. Wessling, wie hat sich Kommunikation im Zuge der Digitalisierung verändert? Digitale Kommunikation hat die alten Regeln der Massenkommunikation aus den Angeln gehoben. In der Kommunikationslandschaft bleibt kein Stein mehr auf dem anderen: Märkte, Beziehungen zwischen Sender und Empfänger, Kennzahlen, Kapazitäten, Arbeitsweisen, Kosten, Leistungen, Dynamik und Geschäftsmodelle – all das verändert sich. Was bedeutet das für Massenkommunikation? Wenn man die Masse der Menschen erreichen will, dann braucht man heute – und in Zukunft noch viel mehr – auch digitale Kommunikation. Die folgt nicht mehr dem alten Muster und Denken der massenmedialen Kommunikation, wonach Budget für große Werbekampagnen von Mediaagenturen auf Werbeträger verplant wird, um vorab definierte Zielgruppen zu erreichen, die dann hoffentlich das Medium nutzen. Dieses One-to-many-Modell – man beschallt alle Zuschauer einer Samstagabend-Show mit ein und derselben Botschaft zu einem Automobilmodell, und dass die Botschaft nicht für alle geeignet ist, nimmt man als Streuverlust in Kauf – verliert an Bedeutung und ist schon heute für viele Zielgruppen Vergangenheit. Warum kann digitale Kommunikation dies besser lösen? Massenkommunikation über Print oder TV ist abhängig von soziodemografischen Daten, wie Alter, Einkommen oder Wohnort, und von psychografischen Daten, wie Kaufverhalten, Werbenutzung oder Mobilität, anhand derer Zielgruppen beschrieben und mit den passenden Medien abgeglichen werden. Und die Menschen müssen zum Medium und damit zur Werbung kommen. Online aber kommt die Kommunikation zum Menschen, als auch die Werbung.

6  Digitale Kommunikation

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Online orientieren sich Menschen entlang ihrer Bedürfnisse, und deshalb kann man für die digitale Kommunikation sog. Personas bilden. Diese Personas stehen stellvertretend für bestimmte User-Typen mit ganz bestimmten Bedürfnissen und einer ganz bestimmten Mediennutzung, und beides kann bei Kunden unterschiedlich sein: Ein Leser der FAZ ist News-Junkie, ein anderer muss sich beruflich informiert halten; einer braucht die Zeitung, um dahinter beim Frühstück nicht angesprochen zu werden, wieder ein anderer liest die FAZ sowieso nur noch auf dem iPad. Mithilfe solcher Persona-Konzepte lassen sich Werbebotschaften online viel direkter an den konkreten Bedürfnissen der Kunden ausrichten. Hinzu kommt, dass es auf Basis von Datenanalysen inzwischen sogar möglich ist, Werbebotschaften ganz gezielt auf die Bedürfnisse nicht nur von Persona-Gruppen, sondern sogar einzelner Personen auszurichten, wie es die Firma Cambridge Analytica sowohl für die Brexit-Befürworter als auch für die Präsidentenwahl von Donald Trump getan zu haben behauptet: Schon heute können Tausende von verschiedenen Botschaften personengenau abgestimmt und über digitale Medien programmatisch ausgespielt werden. So erreicht eine bestimmte Botschaft genau eine bestimmte Person zur gewollten Zeit. Kommunikation kann viel individueller und effizienter werden, da die Leistungsfähigkeit der Rechner weiter steigt und die Kosten für Datenspeicherung und -verarbeitung kontinuierlich sinken. Was sind die erfolgskritischen Faktoren für digitale Kommunikation? Kundenbeziehungen und Daten! Wer online mit den Kunden kommuniziert, generiert daraus immer mehr aktuelle Daten. Aus diesen Daten lassen sich konkretere und individuellere Bedürfnisse der Kunden ableiten für noch besser darauf abgestimmte Angebote. Auf dieser Basis von Daten und Kundenzugang steuern Online-Plattformen, wie Amazon oder iTunes, Kommunikation und Märkte. Die vielen Unternehmen, die z. B. über Amazons Verkaufsplattform anbieten, degenerieren zunehmend von Wertschöpfungsproduzenten zu Margenoptimierern, weil ihnen der Kundenzugang abgeschnitten wird. Wie wertvoll diese Kundendaten sind, erkennt man daran, dass die meisten Angebote von Google, Facebook und Co. scheinbar kostenlos sind, weil wir dafür ja nur unsere Daten hergeben. Es sollte nicht wundern, wenn diese Datensammelmodelle bald auch in der analogen Welt auftauchen, wenn beispielsweise ein Car-Sharing-Anbieter die Fahrten für die Kunden kostenlos macht, und sein Geschäft mit den aus den Fahrten gewonnenen Daten betreibt.

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6  Digitale Kommunikation

Entlang den Aussagen dieses Interviews werden wir Funktionsweise, Effekte und Konsequenzen digitaler Kommunikation in der Folge durchleuchten.

6.1 Digitale Völkerwanderung Die Internetnutzung in Deutschland wird in absehbarer Zeit über fast alle Altersgruppen und Schichten nahezu 100 % erreichen. Die tägliche Nutzungsdauer ist bis ins hohe Alter mittlerweile so signifikant, dass man sagen kann: Fast jeder ist jeden Tag via Internet erreichbar. Die Tab. 6.1 weist nach ARD/ZDF-Onlinestudie für 2018 folgende Zahlen zur Internetnutzung aus. Im gleichen Maß wie die Internetnutzung zunimmt, erodiert die Bedeutung herkömmlicher Medien wie TV oder Print. Das Internet beißt wie ein Hai von unten die Leiter der traditionellen Medienlandschaft weg. Je jünger sie sind und je mehr sie von Aktualität leben, desto früher geht es den traditionellen Medien an den Kragen. Wo die Stärken des Internets wie Schnelligkeit und Aktualität am besten wirken, sind die Folgen am verheerendsten. Beispiel Printauflagen

Das Magazin Stern hat zwischen dem Quartal 4/2008 und 4/2018 die Hälfte seiner verkauften Auflage verloren: von 960 Tsd. auf 480 Tsd. verkaufte Exemplare (Quelle: IVW). Das Internet ist in der Zwischenzeit das Leitmedium für aktuelle Nachrichten. Aktualität bedeutet: jetzt sofort. Ein wöchentlicher Erscheinungsrhythmus ist nicht mehr konkurrenzfähig. Der ehemalige Millionentitel Bravo ist gar um über 80 % eingebrochen von Tab. 6.1   Internetnutzung nach Altersklassen. (Quelle: ARD/ZDF-Onlinestudie 2018) Segment

Internetnutzung in % (mindestens selten)

Tägliche Nutzungsdauer in Minuten

14–19 Jahre

100

344

20–29 Jahre

99,5

344

30–39 Jahre

98,8

258

40–49 Jahre

98,5

258

50–59 Jahre

96,6

123

60–69 Jahre

82,4

123

ab 70 Jahren

64,7

37

6.1  Digitale Völkerwanderung

187

454 Tsd. auf 80 Tsd. (!) verkaufte Exemplare im 4. Quartal 2018 (Quelle IVW). Es ist schwer vorzustellen, welcher Jugendliche 2019 – aus welchen Gründen auch immer – noch eine 14-täglich erscheinende Jugendzeitschritt kaufen soll. Das Wunder ist nicht der Einbruch um 80 %, sondern die 20 % Restauflage. Tageszeitungen, Sporttitel oder Programmzeitschriften erleben einen ähnlichen Rückgang. Hier ist Print einfach zu langsam. Konzepte, die sich dem Rennen um Aktualität entziehen, können sich noch schützen und finden v. a. in älteren ­Zielgruppen noch Publikum. Etwas später als Print, dafür umso schneller und radikaler sind private TV-Sender von der veränderten Mediennutzung betroffen. Vor allem junge Zuschauer wandern ab zu Streaming-Diensten. Quoten brechen ein, in der Folge die Werbeerlöse und damit auch Aktienkurse und Unternehmenswerte. Heute kämpfen private TV-Konzerne wie die ProSiebenSat.1 Media SE darum, den Hebel umzulegen und fit zu werden für die Zukunft. „Wir müssen uns besonders digital stärker aufstellen“ sagt Vorstandschef Max Conze im Januar 2019 in einem Interview auf BusinessInsider.de. Die Völkerwanderung hin zum Medium Online vollzieht sich in allen Altersklassen. Auch in älteren Segmenten legt die Internetnutzung deutlich zu. Die Abb. 6.1 zeigt Ergebnisse aus einer Umfrage von wize.life unter Best-Ager-Publikum aus dem Jahr 2018. Die Frage: „Wie hat sich Ihre Mediennutzung in den letzten Jahren verändert“ ergab empfindliche Verluste für

deutlich weniger

Fernsehen

Internet

Zeitungen

17%

5% 3%

Radio

etwas mehr

30%

36%

26%

16%

21%

57%

23%

30%

deutlich mehr

15%

24%

26%

17%

gleich

17%

11%

Zeitschriften

weniger

28%

42%

11%

9%

6%

10%

6%

14%

Abb. 6.1   Veränderung bei der Nutzung verschiedener Mediengattungen in der Zielgruppe 50plus. (Quelle: wize.life Umfrage 2018)

188

6  Digitale Kommunikation

­ ageszeitungen und Zeitschriften: 56 % der Befragen gaben an, dass die Nutzung T von Zeitschriften deutlich weniger bzw. weniger wurde in den letzten Jahren; für Zeitungen sagen dies 46 % der Befragten. Radio kommt als Begleitmedium noch relativ ungeschoren davon: 25 % nutzen es mehr, 33 % deutlich weniger bzw. weniger. TV kann seine Position noch behaupten dank des hohen Durchschnittsalters der meisten öffentlich-rechtlichen Sender – von teilweise deutlich über 60 Jahren. Die jüngeren, privaten TV-Sender stellen bereits heute deutliche Verluste in jungen Zielgruppen fest. Die Restlaufzeit der älteren, öffentlich-rechtlichen Sender – egal ob Fernsehen oder Radio – hängt am Tropf der Baby Boomer. Aber auch die werden immer online-affiner und leben nicht ewig. Die Entwicklung ist eindeutig. Aber grundsätzlich bleibt es auch 2019 müßig, darüber zu diskutieren, wie lange es noch Tageszeitungen, aktuelle Illustrierte oder klassische TV-Nutzung geben wird: 5, 10 oder 20 Jahre? Der entscheidende Aspekt für Marketing-Entscheider aus heutiger Sicht ist, dass es einen unaufhaltsamen, starken Trend gibt zur digitalen Kommunikation. Daher empfiehlt es sich dringend, die eigenen Kommunikationsgewohnheiten anzupassen, um nicht ins Leere zu senden und Geld zu verbrennen. 

Digitale Kommunikation baut auf andere Wirkungsweisen, braucht andere Kanäle, fordert neue Formate und andere Sprache, nutzt neue Tools für Organisation und Steuerung und steht für neues Denken. Kommunikation wird an keiner Stelle so bleiben, wie sie war.

Vorsicht: Der Klebstoff der alten Gewohnheiten ist hartnäckig: In vielen Gesprächen oder Terminen in kleinerer Runde habe ich Geschäftsführer und Marketeers freimütig bekennen hören, ihnen fehlen für digitale Kommunikation Verständnis, Offenheit und Sachkenntnis. Sie werben weiterhin lieber in traditionellen Medien. Sie kaufen weiterhin dort Medialeistung ein, wo sie es in der Vergangenheit auch immer gemacht haben. Dabei dürfen sie sich über Nebeneffekte freuen: Sie profitieren von Rabattschlachten im Überlebenskampf dieser Medien und von immer weicher werdenden Medien, die mittlerweile in großem Stil redaktionelle Zusagen leisten. „In nicht wenigen Magazinen wird Media ganz offen gegen Redaktion gehandelt“, meint Christoph Kastenholz im Dezember 2018 in Horizont.net. Natürlich hat er Recht damit. Um die immer weniger werdenden Werbekunden zu halten, werden Zusatzleistungen geboten, die früher verpönt waren (Rabatte) und nach wie vor verboten sind (Schleichwerbung). Dass Anzeigen mit bis zu 90 % Nachlass verkauft werden, ist heute keine Seltenheit. Dazu kommen redaktionelle Zusagen, die von Vermarktern in

6.2  Revolution der Kommunikation

189

J­ ahresvereinbarungen schriftlich garantiert werden – auch für Pharmakunden und deren Produkte. Dieses Geschäftsgebaren gefährdet unsere Gesundheit – und nicht „Dr. Google“, den fast die Hälfte der Deutschen bei Gesundheitsfragen konsultiert. Die klassischen Medien verspielen so ihre Glaubwürdigkeit. Immer mehr Zuschauer verlassen das alte Stadion. Die Musik spielt längst woanders.

6.2 Revolution der Kommunikation Anfang der 1970er-Jahre gab es im Wesentlichen drei Fernsehprogramme in Deutschland – ARD, ZDF und das regionale Dritte – ergänzt um mächtige Verlage für Zeitungen und Zeitschriften und ein paar Radiosender. Sie hielten die kommunikative Macht fest in ihren Händen und bestimmten darüber, was wichtig war in Deutschland und aus welcher Perspektive man die Themen betrachten sollte. Sendungs- und Deutungshoheit waren wenigen Massenmedien vorbehalten, die ihre Angebote einem gut besuchten Stadion präsentieren durften. Beispiel Diversifizierung der Medien

Das Stadion der Mediennutzer war jeden Tag schon morgens gut gefüllt mit Lesern von Tageszeitungen und Radiohörern. Tagsüber lichteten sich die Ränge etwas. Spätestens zur Prime Time ab 19:00 Uhr war das Stadion wieder rappelvoll. Vor allem am Wochenende saß die ganze Familie auf den Rängen mit Bier, Cola, Flips und Salzstangen und applaudierte den Samstagabendshows der großen Sender. Die Vermarktung der Werbebanden im Stadion erzielte Höchstpreise. Erst mit der Einführung des Internets begann dieses Modell zu bröckeln. Immer weniger Leute kamen ins Stadion. Die Menschen hatten neue Geräte entdeckt, die ihnen erlaubten, mitzuspielen und untereinander zu kommunizieren. Sie können damit bequem von jedem Ort aus Informationen oder Unterhaltung abrufen und sogar einkaufen oder Geschäfte machen. Im Lauf der Zeit hat das Internet alle Regeln der Kommunikation ausgesetzt und neu definiert, die Stühle der alten Regenten angesägt und alle Macht dem Volk zugeschoben. In der Sprache von Pulp Fiction würde man sagen: „Das Internet ist nicht das gleiche Spiel! Es ist nicht dieselbe Liga! Es ist nicht mal der … selbe Sport!“ Die neue Realität in der Kommunikation ist digital.

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6  Digitale Kommunikation

Die Machtverschiebung von der Hoheit weniger Anbieter zur Kontrolle durch die Masse der User kann man in folgenden Schritten abbilden

• Dank Internet erhalten alle Menschen Zugang zum Wissen dieser Welt und können sich austauschen. • Dank Suchmaschinen können sie Inhalte aus dem gesamten Internet ausfindig machen und sind nicht mehr darauf angewiesen, was ihnen einige Wenige präsentieren und anbieten. • Dank Transaktionsplattformen können sie Geschäfte online erledigen und auf globale Märkte zugreifen. • Dank Smartphones ist das zu jeder Zeit an jedem Ort dieser Welt möglich. • Dank Social Networks sind User zu aktiven Teilnehmern der Kommunikation geworden. Sie schaffen selbst Inhalte, können Inhalte bewerten und verteilen. Rasend schnell.

Viele kennen es vom eigenen Verhalten im Netz: Heute springen User innerhalb kurzer Zeit von Suchergebnissen auf Einkaufsplattformen, von Webseiten auf Videos und von Communities auf Spiele. Der gleiche User wechselt in kurzer Zeit mehrfach sein Gesicht, seine Anforderungen und Erwartungen.

Die ARD/ZDF-Online Studie 2016 teilt die Internetnutzung in folgende Arten ein

• Kommunikation • Mediennutzung • Informationssuche • Transaktionen, Geschäfte • Spielen

Jede Nutzungssituation bietet ein anderes Erlebnis für die User. Folglich bietet jeder Kontakt eine neue und andere Chance für Kommunikation. Es ist offensichtlich, dass je nach Nutzungsart sehr unterschiedliche Motive auf Seiten der User zu bedienen sind. So wäre es nur folgerichtig, als Werbetreibender die Botschaften auf diese Nutzungsarten und Situationen anzupassen und Antworten zu finden auf die Fragen: „Was erwartet der User und wie kann ich als Kommunikationspartner in der bestimmten Nutzungssituation für ihn relevant werden und Nutzen stiften?“

6.2  Revolution der Kommunikation

191

6.2.1 Aufmerksamkeit bleibt die Währung Leute, die ständig online sind, die wie Grashüpfer zwischen Webseiten hin- und herspringen und Hunderte von WhatsApp-Nachrichten (pro Tag!) lesen, ihre Bankgeschäfte online erledigen und Orangen und Schuhe bestellen, dazwischen noch arbeiten, Sport treiben, fernsehen oder Musik hören und Schnitzel essen – deren Aufmerksamkeit muss man erst einmal gewinnen. Über digitale Medien kann man die Nutzer zwar täglich erreichen und man muss nicht warten, bis sie sich vor dem Fernseher oder der Kinoleinwand versammeln oder eine Zeitung in die Hand nehmen. Aber die Frage ist: Wie gewinne ich ihre Aufmerksamkeit in der jeweiligen Nutzungssituation? Kommen wir noch mal zurück auf die Nutzungsarten, die von der ARD/ZDF-Online Studie 2016 ausgewiesen werden: Kommunikation, Mediennutzung, Informationssuche, Transaktionen, Geschäfte, Spielen Für alle diese Nutzungssituationen stellt sich die Frage, was geeignete Kommunikationsformen sind, um die Aufmerksamkeit der User zu gewinnen. Dass nicht ein Format für alle Situationen, Ziele und Aufgabenstellungen und User-Typen geeignet ist, sollte eigentlich klar sein. Trotzdem gibt es weiterhin Scharen von Digital-Lemmingen, die pauschal auf Suchmaschinenwerbung setzen oder einfach nur den Klick der User haben wollen – und dabei Erfahrungswerte aus Tausenden von Kampagnen oder der Analyse von Nutzerverhalten ignorieren. Als Beispiele seien Werbeformen genannt, die sich während der Nutzung von Webseiten über Content legen oder sog. Re-Targeting, das User beim Besuch einer Seite markiert und dann wochenlang mit Werbung verfolgt – zu Produkten, die er vielleicht schon längst gekauft hat oder die ihn nicht mehr interessieren. Das ist nicht die Kommunikation auf Augenhöhe, die User heute erwarten dürfen – und zwar in jedem Moment ihrer Internetnutzung.

6.2.2 Content als Botenstoff Genau aus diesem Grund sind Werbeformen auf dem Vormarsch, die sich nicht aufdrängen, die nicht die Sicht auf Inhalte blockieren oder User wochenlang heimsuchen. Ein Schlüssel für garantierte Aufmerksamkeit liegt in interessanten Themen. Egal, wie vollgepackt mein täglicher Kalender ist: für Themen, die mich interessieren, schaufele ich immer ein paar Sekunden oder Minuten frei. Daher gewinnt Content Marketing immer mehr an Bedeutung.

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 Content Marketing …ist eine Marketing-Technik die mit informierenden, beratenden und unterhaltenden Inhalten die Zielgruppe ansprechen soll, um sie vom eigenen Unternehmen und seinem Leistungsangebot oder einer eigenen Marke zu überzeugen und sie als Kunden zu gewinnen oder zu halten (Wikipedia 2018a). Dieses Denken ist fremd für manche Unternehmen, die jahrelang nur den direkten Klick im Visier hatten und ihn mit mehr oder weniger sinnvollen Mitteln erkauften. Nun predigt man ihnen, Geduld zu haben und mit interessanten Themen um die Aufmerksamkeit der Kunden und Interessenten zu werben – die sich dann irgendwann mal für den Kauf eines Produkts entscheiden. Was sich in den letzten Jahren getan hat und warum es sich heute lohnt, diesen Content-Weg zu gehen, beschreibt Stefan Fehm, Executive Director Business Development bei C3, einer der führenden Content-Marketing-Agenturen Deutschlands. Herr Fehm, Sie arbeiten seit Jahren im Bereich Content Marketing. Welche Spuren hat die digitale Transformation in Ihrem Geschäft hinterlassen? Grob gesagt kommen wir aus einem sehr print-lastigen Corporate Publishing-­ Geschäft mit einem großen Standbein: Kundenzeitschriften. Heute ist unser Geschäft zu rund 80 % digital und unsere Content-Welt ist viel kleinteiliger geworden: von einzelnen Artikeln oder digitalen Content Pieces bis hin zu ganzen digitalen Ökosystemen. Wir erlebten sozusagen eine Mutation von einem großen Standbein zum Tausendfüßler. Das hat sich ausgewirkt auf unser Denken, unser Geschäftsmodell, auf die Zusammensetzung unserer Teams und die Qualifikation unserer Mitarbeiter. Der Wandel des Geschäfts und der Märkte wird meiner Einschätzung nach im gleichen, hohen Tempo fortschreiten, denn der Zug fährt ungebremst in die digitale Richtung. Wie stellt sich der Markt aktuell dar? Der Markt ist sehr lebendig und profitiert von einer steigenden Nachfrage. Immer mehr Unternehmen realisieren, dass sie auf den Zug Content Marketing aufspringen müssen. Aber nicht alle Kunden haben ein klares Bild davon, wie sie die Fahrt gestalten sollen und wie weit die Reise sie tragen soll. Natürlich kann Content schnell 1:1 digitalisiert werden und die meisten Unternehmen sitzen tatsächlich auf ganzen Lagerhallen voller Content. Dies löst jedoch nicht die Herausforderung, Zielgruppen zur richtigen Zeit mit relevanten Inhalten zu erreichen. Und dieses entscheidende letzte Stück der Reise vergessen oder unterschätzen manche Marketeers.

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Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten des digitalen Content Marketings? Freiheit fällt mir als erstes dazu ein: Nie waren Konsumenten bzw. Rezipienten selbstbestimmter in der Auswahl und Gestaltung ihrer Themen. Das bedeutet für Werbetreibende, dass sie über unterschiedliche Kanäle – von der Webseite, über Blogs, Newsletter bis hin zu Social Media – jedes Thema je nach Zielgruppe und Kanal individuell aufbereiten und verbreiten können. Flexibilität ist damit eng verknüpft: Werbetreibende können zwischen Formaten wie redaktionellen Beiträgen, Branded Storys, nativen oder klassischen Werbeformaten wählen – oder diese kombinieren. Die Differenzierung in der Kommunikation nach Botschaften und nach Zielgruppen ist machbar geworden und wirtschaftlich günstiger denn je. Früher hätte man schon allein aus Budgetgründen keine zig verschiedenen Kampagnen aufsetzen können und über Massenmedien verbreiten können. Kurzum: Was sich Werbetreibende früher immer von Publishern gewünscht haben, können sie nun selbst übernehmen: Botschaften nach Belieben inszenieren und an das richtige Publikum ausspielen. Wir helfen ihnen dabei. Akzeptanz fällt mir als dritter Punkt ein: Content Marketing erzielt beim User deutlich mehr Engagement und Involvement. Wenn heute jemand im Netz etwas freiwillig zwei Minuten liest, zeugt das von einem echten Interesse für das Thema. Mit Millionen von Ad Impressions von Display Werbung erzielt man vielleicht eine höhere Reichweite, aber Tiefe und Bindung in der Beziehung zum User, also zum Kunden, erreicht man deutlich besser über Content Marketing. Das bestätigen nicht nur die harten Nutzungsdaten wie Seitenaufrufe, Verweildauer oder Click-Through-Rates (Klicks aus dem Content auf weiterführende Seiten). Begleitende Marktforschung unterstreicht die gute qualitative Werbewirkung von Content Marketing. Content Marketing ist also keine weiche redaktionelle Masse, an die man glauben muss. Content Marketing liefert einen nach harten Key Performance Indicators messbaren Beitrag zur Werbewirkung. Und ganz nebenbei erfüllt Content Marketing in Form von regelmäßig verbreiteten, aktuellen Inhalten mit guter Akzeptanz einen wichtigen SEO-Job. Fazit: Einen nachhaltigen Kundendialog gibt es nur mit validem Content. Wo sehen Sie noch Verbesserungsmöglichkeiten in der Umsetzung von Content Marketing? Dazu greife ich die Punkte aus der letzten Frage auf: @Freiheit: Mit mehr Mut bei der Themenauswahl könnte man sich leicht vom Wettbewerb differenzieren. Ich habe den Eindruck, dass alle Marketeers die gleichen Themen in ihren Themenkalendern stehen haben: da kommen Valentinstag, Ostern, Weihnachten und – Überraschung! – wieder einmal eine

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EM oder WM. Es würde sich anbieten und lohnen, akute gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen wie Fair Trade, offene Grenzen, Integration. Themen, die Menschen intensiv und dauerhaft bewegen. Davon gibt es genügend in Zeiten des Wandels. @Flexibilität: Gelebte Flexibilität ist, wenn man die Bedürfnisse und Erwartungen der User nicht nur kennt, sondern sich darauf einlässt und sie bedient. Mit digitalem Content Marketing kann man Botschaften nach Inhalt, Format und Sprache auf die Kunden zuschneiden. Nehmen wir als Beispiel neue Zahlungsmethoden wie Apple Pay: Die sind grundsätzlich für alle Menschen relevant, aber jungen Leute muss man sie anders näher bringen als älteren Menschen. Letztere legen mehr Wert auf Sicherheit, Verlässlichkeit, einfache Anwendung oder Service. Über welches Produkt wir auch sprechen: Eine pauschale Ausrichtung auf 20 bis 49 ist überholt. Werberelevant sind heute alle Zielgruppen – nur mit anderen Botschaften auf anderen Kanälen. @Akzeptanz: Es ist ja oft die Rede vom schwindenden Vertrauen der Menschen in Medien. Dieses Vertrauen lässt sich zurückgewinnen, indem man Verständnis zeigt für den Empfänger der Kommunikationsleistung – anstatt eine Botschaft für alle zu verbreiten. Über Content Marketing kann auch Werbung unterschiedliche Perspektiven einnehmen und Lebenssituationen bedienen. AirBnB macht das meiner Meinung nach sehr gut. Sie unterscheiden in der aktiven Kommunikation, ob der Paris-Reisende Mitte 20 oder Mitte 50 ist. AirBnB reagiert schnell, freundlich und, so hat man zumindest den Eindruck, individuell. Genau mit diesen Zutaten steigert man Akzeptanz. Und worin sehen Sie die größten Hürden? Manchen Köpfen fällt es sichtlich schwer, das alte Denken der einen großen Kampagne für die eine große Zielgruppe zu revidieren. Menschlich verständlich, denn damit einher geht nicht selten ein Bedeutungsverlust der großen Marketeers und Werbestrategen vergangener Tage. Plötzlich gelten andere Regeln im Spiel. Die einzelnen Kampagnen sind kleiner, dafür zahlreicher und schneller. Der ganze Kommunikations- und Werbemarkt wird kleinteiliger. Neue Player treten auf immer kleiner werdende Bühnen, was die Zampanos der Vergangenheit schnell alt aussehen lässt. Da die Entwicklung nicht zu drehen ist, hilft nur ein Perspektivwechsel auf die Fragestellung: Welche Chancen liegen in der neuen Marketing-Szene und wie kann ich sie für die Kommunikation nutzen? Solche Perspektivwechsel helfen Kunden vielleicht sogar, einen Ausweg aus vermeintlichen Sackgassen zu finden. Eine weitere Hürde sind Definition und Abgleich von Zielen und Zielgruppen. Dass die Telekom permanent überlegt, wie sie junge Zielgruppen gewinnen

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und halten kann, ist eine Sache. Den Heimvorteil in Zielgruppen Ü50 zu nutzen, wäre ein viel leichteres und lukrativeres Ziel. Die heutigen Best Ager sind aufgewachsen mit dem ehemaligen Staatsbetrieb und haben Vertrauen in Qualität und Kompetenz – auch in Fragen digitaler Kommunikation. Wir sprechen von einem Markt von fast 40 Mio. Menschen – von treuen Kunden, die noch lange telefonieren oder surfen werden. Oder nehmen wir die Deutsche Bank: Sie war jahrzehntelange DIE deutsche Institution in Geldfragen. Noch heute wollen zum Beispiel viele neu zugezogene ausländische Arbeitskräfte ein Konto bei der Deutschen Bank im Markenbewusstsein an diese herausragende Stellung. Als Student fragte man sich früher ja insgeheim, wann man endlich qualifiziert wäre, um Kunde der Deutschen Bank zu werden. Sicherheit, Qualität, Vertrauenswürdigkeit, Kompetenz, Beratung – das sind alles Eigenschaften, mit denen man Kunden wieder gewinnen kann, die eine Deutsche Bank genau so abgespeichert haben. Und für die Kommunikation dieser qualitativen Argumente bietet sich, meiner Ansicht nach, digitales Content Marketing in entsprechenden Zielgruppen an. Nur auf junge Zielgruppen zu schielen, also auch jene mit wenig wirtschaftlichem Potential, macht wenig Sinn. Im Grunde genommen bedient Content Marketing einen lange gehegten Wunsch von Werbetreibenden: Endlich können sie Geschichten rund um ihre Produkte und Angebote verbreiten. Sie können das selbst steuern und umsetzen und sind nicht mehr angewiesen auf Journalisten von Massenmedien. Gerade für Internet-Nutzungsarten, die bei älteren Zielgruppen bevorzugt sind – Mediennutzung, Informationssuche – ist Content Marketing der beste Schlüssel, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Jedes Unternehmen hat Geschichten und damit – zumindest theoretisch – Content zu bieten. Aber man kennt das aus dem Alltag: Manche können Geschichten gut erzählen und die Zuhörer spitzen die Ohren. Andere langweilen mit ihren Storys und verursachen nur Gähnen. Bevor es dazu kommen kann, muss man Content und User, Geschichten und Zuhörer zusammenbringen. Die beste Story wird zum Rohrkrepierer, wenn sie nicht das richtige Publikum erreicht. Timm Rotter, Gründer und Geschäftsführer der Münchner Kommunikationsagentur „in a nutshell“, erklärt, wie man Aufmerksamkeit für Inhalte schafft und wie Content Marketing funktioniert. Herr Rotter, warum sprechen alle vom Content Marketing, und was ist das Besondere daran? Content Marketing heißt, vereinfacht gesagt, dass man nicht nur über reine Werbebotschaften, sondern durch gut gemachte Geschichten auf sich aufmerksam

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macht und seine Zielgruppen erreicht. Das Besondere daran ist, dass diese ­echten Nutzen für die User bieten. Getreu dem Motto „Content is King“… Das ist für viele der Leitsatz im Content Marketing. Die Folge davon ist immer mehr Content von vielen Seiten. Damit Content verfängt, muss er im richtigen Kontext erscheinen und auf den Plattformen, wo er die richtigen Nutzer findet. Der Content muss die Nutzer finden? Genau, und nicht anders herum. Denn wir sind immer seltener bereit zu suchen. Wir sind von zu vielen Inhalten und Geschichten umgeben. Es herrscht Informationsüberfluss und wir sortieren nur noch permanent aus. Daher wird der Kontext immer wichtiger. Ein Beispiel: Wer Social Media nutzt, kennt „Trending Hashtags“: Twitter zeigt jeden Tag an, welche Hashtags, also Kernbegriffe, die User am meisten nutzen. Eine Geschichte, die einen solchen Hashtag nutzt, bekommt in der Regel mehr Aufmerksamkeit. Nicht weil die Geschichte per se spannender wäre, sondern weil sie an einen aktuell relevanten Kontext andockt. Zwei Wochen, manchmal auch zwei Stunden später sind Inhalte zum gleichen Thema längst nicht mehr so interessant und wirkungsvoll. Welche Erwartungen haben Kunden, wenn sie Content Marketing verfolgen? Viele starten mit der Idee, ihre Inhalte an möglichst viele User und auf allen Kanälen auszuspielen. Unsere Agentur hilft herauszufinden, welche Geschichten unsere Kunden erzählen und welche Zielgruppe sie damit ansprechen sollten. Daraus leiten wir dann ab, welcher Kanal sich eignet. Achtung: Die Ressourcen limitieren die Anzahl der Kanäle. Daher lieber die Strategie fokussieren und ein oder zwei Kanäle richtig bespielen, als am Ende überfordert zu sein. Sonst liegt der Instagram-Kanal nach vier Wochen brach. Das ist dann eher imageschädigend als förderlich. Eine Erwartung von Kunden ist immer wieder, dass Content Marketing kostenlos funktioniere. Das ist nicht (mehr) richtig. Facebook hat die Algorithmen, die Beiträge bewerten und ausspielen, so verändert, dass Posts auf organischem Weg – also aus eigener Kraft – kaum mehr Reichweite und Sichtbarkeit erzielen. Die einzige effektive, verlässliche Lösung ist, Posts als Werbung zu schalten. Also Social-Media-Kanäle wie Facebook zu bezahlen, damit Inhalte die relevante Zielgruppe erreichen können. Was müssen Kunden verstehen, um erfolgreiches Content Marketing betreiben zu können? Wichtig ist, dass sie ihre Perspektive wechseln: Es geht nicht darum, welche Themen sie für gut halten, sondern welche Inhalte der Zielgruppe Nutzen bie-

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ten. Diese Themen muss man in Geschichten übersetzen. Eine Information über ein neues Produkt hat in der Regel keinen Mehrwert für den User. Wenn dahinter jedoch eine unterhaltsame Geschichte steckt oder wenn man die Produkt-News als nützliche Verbraucherinformationen inszeniert, sieht es schon anders aus. Was sind die größten Irrtümer beim Content Marketing? Zunächst, dass eine Strategie, die einmal gut ist, auch gut bleibt. In unserer wahnsinnig schnelllebigen digitalen Welt ist alles stetig im Wandel. Das heißt, dass jede Content-Marketing-Strategie ständig auf dem Prüfstand stehen muss. Mir fällt da der Snapchat-Hype ein, bei dem viele dachten, der Kanal könne Instagram ablösen. Durch die Integrierung der Stories konnte Instagram dies jedoch verhindern. Heute ist Snapchat aus Marketing-Sicht quasi tot. Zweitens: Es ist ein großer Irrtum zu denken, dass die Arbeit getan sei, wenn der Content veröffentlicht ist. Über Social Media haben die User die Möglichkeit zu interagieren. Kunden sollten deswegen an Community Management denken und Fähigkeiten und Ressourcen bereitstellen, um auf User-Fragen oder Kritik schnell zu reagieren und daraus zu lernen. Welches sind die drei wichtigsten Tipps, die Sie Kunden mitgeben würden? Kein Content Marketing aus dem Bauch heraus! Sondern immer einer Strategie folgen. Das Fundament dafür sind Ziele und Zielgruppen – nicht die Kanäle. Die vielen verschiedenen Kanäle haben ihre Daseinsberechtigung dadurch, dass sie unterschiedlich sind. Kunden sollten genau abwägen, welcher zu ihnen und ihrem Content passt. Veröffentliche keinen Content, der deiner Zielgruppe keinen Nutzen liefert! Immer mehr Inhalte, immer weniger Zeit! Menschen sind nicht bereit, unnötige Informationen zu filtern. Laut einer Studie beträgt die durchschnittliche Verweildauer bei einem Facebook-Post 1,3 s. Einen epischen Imagefilm mit blumigem Intro in Social Media zu posten, bringt daher gar nichts, egal wie hochwertig er ist. Wir müssen Content auf den Punkt bringen – in a nutshell, genau darum geht’s beim Content Marketing. Kurze Botschaften, große Datenmengen, wenig Zeit, dynamische Kundenbedürfnisse und Nutzungssituationen, neue Kanäle, Formate und Kennzahlen: All diese Aspekte gilt es zu berücksichtigen beim digitalen Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der User. So wird schnell klar, dass dies manuell nicht mehr zu bewältigen ist.

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6  Digitale Kommunikation

6.2.3 Vernetzte Daten als Leistungsträger Bei allem Wandel: Ein paar stabile Faktoren gibt es auch in der neuen Sportart der digitalen Kommunikation.

So bleiben die grundsätzlichen Fragen der Kommunikation auch im digitalen Zeitalter

• • • •

Welche Ziele verfolgt unser Unternehmen? Welche Menschen wollen wir erreichen? Welche Bedürfnisse haben diese Menschen? Wo erreichen wir sie: In welcher Nutzungssituation und auf welchen Kanälen? • Mit welchem Format in welcher Tonalität sollten wir sie ansprechen? • Was lernen wir daraus und wie reagieren wir darauf?

Ein Unterschied liegt darin, dass die Antworten früher Schritt für Schritt ermittelt wurden und dann zu einer Wertschöpfungskette verknüpft wurden. Basis waren ein paar Daten in Verbindung mit Schätzungen und Meinungen, die bei der Zielgruppendefinition, der Kreation oder Mediaplanung einflossen. Heute können die Antworten zu jeder Stufe der Kommunikation datenbasiert ermittelt werden. Die Stufen werden miteinander vernetzt und können so in einem dynamischen Prozess voneinander lernen und sich weitestgehend selbst optimieren. Inwieweit dazwischen manuelle Steuerung durch Menschen erforderlich ist, hängt vom Automatisierungsgrad des Prozesses ab. Die Abb. 6.2 zeigt, wie die einzelnen Stufen in der Kommunikation vernetzt sind. Jede Verbindung zwischen den Stufen kann datenbasiert oder manuell gesteuert sein. In einer vollkommen digitalisierten und vernetzten Kommunikation erreicht man eine dynamische Optimierung der Daten. Beispiel Vernetzung Steuerkanzlei

• Unternehmensziel Eine Steuerkanzlei in einer strukturstarken Kleinstadt hat das Ziel, alle offenen Stellen bis Jahresende zu besetzen. • Zielgruppen Nach Auswertung eigener Daten und Marktmediastudien will man folgende Zielgruppen ansprechen: – Azubis aus der Umgebung mit Affinität zu einem zahlenorientierten, digital geprägten Job. Junge Leute, die früher vielleicht in eine Bank gegangen wären.

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6.2  Revolution der Kommunikation

Zielgruppen

Bedürfnisse

Unternehmensziel

Botschaft und Format

Kennzahlen und Learnings

Kanäle

Abb. 6.2   Vernetzung der einzelnen Stufen digitaler Kommunikation

• •



– Hochschulabsolventen für Jura und BWL, die in die Heimat zurückkehren wollen und nicht in die Großstadt drängen und für die flexible Arbeitszeitgestaltung wichtig ist. – Berufswechsler: Leute, die in Finanzämtern oder im Controlling arbeiten, Lust auf Tapetenwechsel haben und die ganze Bandbreite von Kostenanalyse bis Compliance interessant finden. Bedürfnisse Azubis und Hochschulabsolventen wollen v. a. in ihrer Heimat bleiben und legen Wert auf Work-Life-Balance. Die Berufswechsler suchen einen fortschrittlichen, modernen Arbeitgeber mit einem sicheren Arbeitsplatz. Botschaft und Format An Azubis und Hochschulabsolventen richtet man eine locker formulierte Stellenausschreibung u. a. mit dem Versprechen freier Arbeitszeiteinteilung und fairer Bezahlung und guter Ausbildung. Die Berufswechsler adressiert man mit dem Aufgabenspektrum, dem Digitalisierungsprogramm und der Vision der Kanzlei.

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6  Digitale Kommunikation

Alle Stellenanzeigen sind auf der Webseite verankert. Das E-Mail-Fenster mit richtiger Adresse und Stellenbezug lädt sich per Klick. • Kanäle Azubis und Hochschulabsolventen spricht man über Facebook, YouTube und Instagram an, sowie über Jobbörsen der Unis und Berufsschulen, punktuell ergänzt um Messen und Online-Werbung. Die Berufswechsler will man über Xing erreichen sowie über regionale Jobbörsen. Ergänzt um Vorträge und eine Kampagne in regionalen TV Sendern. • Kennzahlen, Learnings Eine Kennzahl sind die Visits auf dem Stellenbereich der Webseite, im nächsten Schritt verfeinert um die Aufrufe der jeweiligen Stelle, die Verweildauer, Absprungrate und schließlich die eingeschickten Bewerbungen und vereinbarten Termine und vollzogenen Einstellungen. Alle diese Kennzahlen sind einfach messbar. Durch Auswertung dieser Kette von Kennzahlen lernt man, wo Schwachstellen im Ausschreibungsprozess liegen. Beispielsweise deuten hohe Zugriffszahlen auf die Stellenausschreibung bei gleichzeitig kurzer Verweildauer und hoher Absprungrate darauf hin, dass es zwar Jobsuchende gibt, die grundsätzlich interessiert wären, aber die Jobbeschreibung nicht attraktiv ist oder die Sprache abschreckt. In diesem Prozess einer Steuerkanzlei sind noch einige manuelle Eingriffe möglich und nötig. Die entscheidende Botschaft ist, dass – auch in kleineren Unternehmen – immer mehr datenbasierte Erkenntnisse vernetzt werden. Das Beispiel zeigt, dass der Schwerpunkt der Maßnahmen zwar auf digitalen Kanälen liegt, aber punktuell analoge Maßnahmen ergänzt werden können. Diese sind gut abgrenzbar und ebenfalls messbar. Man kann im Grunde genommen alle Aktionen in Datenform erfassen und so Verlässlichkeit und Qualität in der Auswertung erhöhen. Das erkennen immer mehr Werbetreibende. Sie drängen daher auf vollautomatische Prozesse der digitalen Kommunikation, weil sie effiziente Lösungen bieten für alle Beteiligten.

6.2.4 Kommunikation wird programmatisch Milliarden von digitalen Überschall-Brieftauben bringen individuelle Werbebotschaften sofort und genau an die richtigen Adressen. Das wäre fantastisch für die Zunft der Brieftaubenzüchter, aber immer noch etwas aufwendig für ­Werbetreibende. Leichter tut man sich mit programmatischer Werbung.

6.2  Revolution der Kommunikation

Werbetreibende mit Daten zu Zielgruppen

Agenturen verplanen Daten/Zielgruppen vieler Werbetreibender

201 Auktionsplattform

Vermarkter sammeln Werbeflächen vieler Plattformen/Kanäle

Webseiten/ Publisher mit Werbeflächen

Abb. 6.3   Das Modell der programmatischen Werbung mit Zwischenhändlern wie Agenturen oder Vermarktern

 Programmatische Werbung …bezeichnet den vollautomatischen und i­ndividualisierten Ein- und Verkauf von Werbeflächen in Echtzeit. Dabei werden auf Basis der vorliegenden Nutzerdaten gezielt auf den Nutzer zugeschnittene Werbebanner oder Werbespots ausgeliefert. Die Individualisierung der Werbeflächen geschieht dabei i. d. R. über einen Auktionsprozess, bei dem, nach der Überprüfung der Nutzerrelevanz für die Kampagne des Werbetreibenden, der Höchstbietende den Zuschlag erhält und den Werbebanner aussteuern darf. Dieser Prozess dauert üblicherweise nur wenige Millisekunden (Wikipedia 2018b). Mit künstlicher Intelligenz werden Zielgruppen und passende Werbeflächen im Rahmen einer Auktion zusammengeführt. Aus jeder Auktion lernt man mehr über die Zielgruppe und deren Nutzungsverhalten einerseits und über die Qualität von Werbekanälen und Formaten auf der anderen Seite. Aktuell sind meist Mittler die direkten Auktionspartner: Vermarkter im Auftrag der Publisher und Agenturen im Auftrag von Werbetreibenden. Das liegt einfach daran, dass bis dato Know-how, Zeit und Begeisterung fehlten, um die Auktion auf direktem Weg anzugehen – ohne Mittler. Aber diese Auffassung ändert sich gerade in rasantem Tempo. Die Abb. 6.3 zeigt das aktuell noch dominierende Modell mit Zwischenhändlern wie Agenturen oder Vermarktern. Wenn die Mittler wegfallen, kann die Auktion auf direktem Weg zwischen Werbetreibenden und Publishern erfolgen. Im Jahr 2019 wird sich der Trend beschleunigen, dass immer mehr Werbetreibende und Publisher den direkten Zugang zu technologischen Plattformen für programmatische Werbung nutzen. Jüngst haben sehr große Webseiten wie Wetter Online oder Gute Frage beschlossen, sich selbst zu vermarkten – ohne dazwischen geschalteten Vermarkter. Dafür gibt es sehr gute Gründe.

Vorteile für die Publisher sind

• Transparenz über Preisbildung und Rentabilität der Werbeflächen • Höhere Preise, da die Marge für die Mittler wegfällt

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• Unabhängigkeit: Man kann selber agieren, wie und wann man will • Datenhoheit: Die Daten bleiben fest in eigener Hand • Know-how-Aufbau und Learnings wandern in die eigene Organisation

Immer mehr Werbetreibende entdecken, dass sie programmatische Werbung in Eigenregie betreiben können und dadurch ihre Werbung wesentlich effizienter gestalten. Beispiel Modegeschäft

Ein Einzelhandelsgeschäft für Mode will Kunden werben. Bislang setzte man auf Beilagen in einem Stadtmagazin für junge Zielgruppen. Entsprechend waren die Motive gestaltet mit sehr jungen, dünnen Models. Jetzt testet man den programmatischen Weg: Daten der bestehenden Kunden werden bereitgestellt und ergänzt um Daten über Einkaufsverhalten und Mediennutzung von Menschen, die vergleichbare Mode kaufen oder sich danach informierten. Die programmatische Plattform gleicht diese Profile dynamisch mit Userprofilen im Netz ab und führt dann die richtige Werbung zu den passenden Adressaten. Die programmatische Plattform kann dabei, je nach Usertyp, innerhalb einer Kampagne auf verschiedene Motive zurückgreifen. Diese „Programmatic Creativity“ verfeinert die Ausspielung und verbessert die Ergebnisse. Das ist so, als würde der Inhaber des Modeladens durch die Stadt spazieren und die Menschen erkennen und ansprechen können, die sich für sein Angebot interessieren. Er wüsste deren Bedürfnisse und Erwartungen und genau darauf würde er sie ansprechen. Programmatische Kommunikation kann das weltweit, sehr schnell und effizient erledigen. Das Modell kann unabhängig von Unternehmensgröße oder Budget eingesetzt werden durch Nutzung technologischer Plattformen. Die Umsetzung kann man direkt mit den Anbietern einrichten oder man nutzt die Unterstützung von Dienstleistern oder Beratern. Egal, wo Ihr Unternehmen sitzt und in welcher Branche Sie agieren: Programmatische Werbung ist nur einen Katzensprung entfernt.

Vorteile für Werbung treibende Unternehmen sind

• Transparenz u. a. in Sachen Preisbildung • Datenhoheit und Datensicherheit

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• Unabhängigkeit • Höhere Effizienz • Dynamische Optimierung • Jederzeit Kostenkontrolle

Die Preisbildung findet im Rahmen einer Auktion statt. Wenn Vermarkter oder Agenturen dazwischen geschaltet sind, ist das eine Auktion in einer Blackbox. Man bekommt als Werbetreibender und Publisher unterschiedliche Preise kommuniziert. Bei der Auktion empfiehlt der Vermarkter dem Publisher einen niedrigen Preis für den Verkauf einer Werbefläche abzugeben, um den Zuschlag der Werbetreibenden sicher zu bekommen. Wir sprechen über eine Größenordnung von 2 EUR pro tausend Ad Impressions (Seitenaufrufe mit Werbung). Gleichzeitig wird Werbetreibenden empfohlen, einen hohen Preis für die Werbefläche zu bieten, damit sie die Werbefläche sicher ersteigern. Die Empfehlung lautet 10 EUR pro tausend Ad Impressions. Der Werbetreibende zahlt den vollen Preis von 10 EUR. Der Publisher erhält davon 2 EUR. Die Marge von 8 EUR landet bei den Mittlern. Das ist ein schlechtes Geschäft für Publisher. Eine weitere Konsequenz daraus ist: Durch niedrige Preise wird die Branche in ein ungesundes Kommunikations- und Geschäftsmodell gezwungen, in dem man immer mehr Werbeflächen und immer mehr Ad Impressions generieren muss, um die Erlöse auf ein auskömmliches Niveau zu hieven. Im selben Zuge verkommt journalistische Leistung zu einem Traffic-Beschaffungskommando. Mit einem Preisniveau von 2 EUR pro tausend Ad Impressions erzielt ein Publisher mit 50 Mio. Ad Impressions gerade einmal 100.000 EUR Umsatzerlöse pro Monat. Um diese 50 Mio. Ad Impressions zu erzielen, muss man viel Traffic (Seitenaufrufe) generieren. Um auf die Webseite möglichst viele User zu ziehen, die dort möglichst viele Seiten aufrufen sollen, sind Content Teams (Redaktionen) unter Druck, immer neue Tricks und Teaser zu erfinden. Das mündet in einen Journalismus, der mitunter reißerisch oder unseriös wirkt. Die mageren Preis- und Erlöseffekte dieses aktuell noch dominanten Geschäftsmodells sind offensichtlich. Mindestens genauso kritisch sind Datenhoheit, Transparenz und Unabhängigkeit. Wenn Vermarkter oder Agenturen zwischengeschaltet sind, operieren diese an den digitalen Stellhebeln. Egal wie Publisher und Werbetreibende die Verträge mit den Mittlern gestaltet haben: Die Macht über ihre Daten haben sie de facto abgegeben.

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Diese Umstände müssen Publisher und Werbetreibende 2019 nicht mehr akzeptieren. Der klare Trend ist, dass immer mehr Publisher auf direktem Weg programmatische Werbung nutzen und dadurch bessere Preise und bessere Leitungen erzielen und dadurch wieder selbstbestimmter arbeiten können – und nicht jeden Wetterumschwung als Klimakatastrophe inszenieren müssen. Gleichzeitig können Werbetreibende auf diesem direkten Weg vollkommene Kontrolle und Transparenz über ihre Kommunikationsmaßnahmen erlangen. Diese Kräfte treiben den Anteil programmatischer Werbung rasant nach oben. Die programmatische Ausspielung erfasst immer mehr Werbeträger und Formate: Nicht nur klassische Displays, sondern auch native Formate oder Content Marketing werden programmatisch auslieferbar sein. Neben Online-Werbung werden auch digitale Werbeformen via TV oder Digital Out Of Home (digitale Plakatwerbung) programmatisch gesteuert. Es greift auch an dieser Stelle der bereits zitierte Grundsatz: „Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert.“ Wie einfach das geht und mit welchen Kosten und Vorteilen man rechnen darf, erklärt Eric Hall. Eric ist ein Programmatic Advertising Experte der ersten Stunde, der seit 20 Jahren in der digitalen Wirtschaft tätig ist und seit 2013 mit Unternehmen aus dem Programmatic Advertising Öko-System diesen rasanten Wandel mit begleitet hat. Als stellvertretender Vorsitzender der Fokusgruppe Programmatic Advertising im Bundesverband Digitale Wirtschaft e. V. (BVDW) fördert er diese Entwicklung auf Verbandsebene insbesondere im deutschen Markt. Eric, was benötigt ein Werbetreibender für den programmatischen Einkauf, welche Vorteile entstehen für ihn daraus und welche Anforderungen sind dabei zu beachten? Zunächst benötigt der Werbetreibende einen technischen Zugang zum sog. Programmatic Advertising Öko-System. Diesen Zugang der Nachfrageseite bezeichnet man als Demand-Side-Plattform (kurz DSP) und er erschließt dem Werbetreibenden einen direkten Zugang in Echtzeit zur Angebotsseite (z. B. Webseiten), die in dieser Technologielandschaft als Sell-Side-Plattform (kurz SSP) bezeichnet wird. Im Programmatic Advertising Öko-System sind heute annähernd alle Unternehmen aus der digitalen Werbewirtschaft vertreten, sodass wir davon sprechen können, dass zunehmend das Gesamtangebot auf die Gesamtnachfrage trifft und hierbei alle Interaktionspartner verbunden sind. Einer der entscheidenden Vorteile dieses neuartigen Konstrukts besteht darin, dass die herkömmliche Wertschöpfungskette vom Werbetreibenden über die Mediaagentur hin zum Digitalvermarkter und dessen digitalen Portfolio bestehend aus Webseiten, Apps, OutOfHome etc. verkürzt werden kann. Der Werbetreibende hat direkten Zugang auf die Werbeplätze, Zielgruppen und Daten. Das spart Zeit, Kosten und ermöglicht dem Werbetreibenden

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e­igenständige Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Das gesamte ­Spektrum der Vorteile und Errungenschaften des Programmatic Advertising – also Preismechanismen aus dem Auktionsmodell und anderen Deal-Arten, der Einkauf in Echtzeit, der gezielte Einsatz von großen Datensätzen und Zugriff auf hohe werbliche Reichweite – liegt in der Hand des Werbetreibenden und kann maximal und effizient für seine individuellen Ziele genutzt werden. Häufig bleiben diese Vorteile in der traditionellen Wertschöpfungskette im wahrsten Sinn des Worts noch auf der Strecke. Ein Werbetreibender, der diesen direkten Weg wählen möchte, muss selbstverständlich entsprechende Kompetenzen und Ressourcen im eigenen Team aufbauen oder sich bei der Abwicklung unterstützen lassen. DSP funktionieren i. d. R. als Selbstbuchungsplattform, können jedoch den Werbetreibenden gerade zum Einstieg als Dienstleister beim Management des programmatischen Einkaufs unterstützen und diesen auch langfristig übernehmen. Neben dem technischen Zugang über eine DSP und den Kompetenzen und Ressourcen im eigenen Team ist, wie bisher, eine zielgerichtete Planung der Marketing- und Kommunikationsziele entscheidend für den Erfolg, da diese Ziele u. a. auch bei der Auswahl der Technologiepartner berücksichtigt werden müssen. Diese starken Strömungen hin zu programmatischer Kommunikation bergen nicht nur die oben genannten Vorteile für Publisher und Werbetreibende. Sie verändern auch die Rolle und Bedeutung der Mittler, also der Vermarkter und Agenturen, wie Tino Krause im folgenden Interview bestätigt. Tino bekleidete Führungspositionen in Marketing und Media bei Audi und O2 und arbeitete lange Jahre im Management von Agenturen, zuletzt als CEO der größten deutschen Mediaagentur, Mediacom. Seit Februar 2019 ist er Country Manager DACH für Facebook Inc. Wie spüren Mediaagenturen den digitalen Wandel? In den letzten Jahren spürten wir einen Verlust an Relevanz und Bedeutung. Indikator ist für mich die immer geringer werdende Wertschätzung durch die Kunden sowie der Stil im Umgang miteinander. Beides hat sich in den letzten zwei bis drei Jahren nochmal spürbar verschärft. Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Immer mehr Werbetreibende – auch große Player wie Telekom oder Procter&Gamble – verfolgen ein Insourcing v. a. von neuen Skills wie Digitalleistungen in Fragen von Strategie und Data Management. Übrig für klassische Mediaagenturen bleiben alte Skills wie TV- oder Print-Planung. Das verkleinert das Betätigungsfeld der Agentur. Kurzum: Die wichtigen Themen der Zukunft versucht man inhouse zu bedienen. Die klassische Rest ist immer weniger Business-kritisch und kann extern abgearbeitet werden.

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Wie reagieren Mediaagenturen auf diese Entwicklung? Viele kaufen gerade wie wild Digitalagenturen auf. Über diese Zukäufe gelingt es manchen, ein zartes Wachstum auszuweisen. Generisches Wachstum aus dem Stammgeschäft ist nicht mehr möglich. Das klassische Mediageschäft ist ein Schrumpfungsmodell. Down-Sizing heißt das Programm der Zukunft. Wie wirkt sich das auf das klassische Marktkonstrukt zwischen Werbetreibenden, Mediaagenturen und Vermarktern aus? Alle Seiten versuchen, das bestehende Konstrukt so lange wie möglich zu erhalten, weil es keine Alternative dazu gibt. Bricht das Konstrukt zusammen, gibt es keine Vermarkter und auch keine Mediaagenturen mehr in der bisherigen Form. Zumal auch von Seiten des OWM kein wirklicher Veränderungswille ausgeht. Eine Neuaufstellung des Geschäftsmodells lohnt sich nicht mehr und es gäbe kein Rezept dafür. Stichwort: Demografischer Wandel. Wie bedienen Agenturen und Werbetreibende die zunehmende Verlagerung von Nachfrage und Kaufkraft in ältere Zielgruppen? Meine Erfahrung aus Pitches und Briefings ist: Jede zweite Marke will jünger werden und nahezu jede Marke ist unzufrieden mit dem Alter ihrer Kunden. Es geht ihnen gar nicht jung genug. Wie kann das passieren, obwohl Daten und Erfahrungen eine ganz andere Ausrichtung empfehlen würden? Das Durchschnittsalter in großen Mediaagenturen ist Anfang, Mitte 30. Im Marketing sieht das oft nicht viel anders aus. Man frönt weiterhin dem eigenen Jugendkult. Dieser Glaube an „Wir müssen jünger werden“ überstrahlt jede Datenlage, jegliche Werte, Bedürfnisse sowie das Einkaufs- und Mediennutzungsverhalten der Kunden. In Summe kann man sagen: Die meisten kaufen Produkte nicht wegen, sondern trotz der Werbung. Welche Zukunft sehen Sie für Marketing und Media im digitalen und demografischen Wandel? Die Digitalisierung wird Down-Sizing und Konsolidierung aufseiten der Mediaagenturen und Vermarkter beschleunigen. Man muss die verbleibenden Aufgaben mit deutlich weniger Manpower bewältigen, um wirtschaftlich zu bleiben.

6.3  Digitale Kommunikation braucht Menschenverstand

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Die Digitalisierung wird auch eine Versachlichung in Planung und Budgetallokation erzwingen. Datengetriebenes Marketing wird Bauchgefühl und Beziehungsgeflechte immer mehr in den Hintergrund drängen. Ich denke, dass statt kleinteiligem Marketing wieder große Ideen kommuniziert werden – allerdings auf ganz anderen Kanälen und mit anderer Zielgruppengewichtung als in der Vergangenheit. Einfach schneller, besser, effizienter. Die Agenturnetzwerke und Vermarkter spüren diesen Umbruch bereits seit geraumer Zeit in Form von Erlösrückgängen, Technologiedruck, Kundenverlusten oder Budgetumschichtungen. Dieser Prozess wird sich beschleunigen. Das gilt nicht nur für die Medienbranche, sondern branchenübergreifend für alle Mittlerfunktionen, die Kundenbeziehungen abgeben müssen, weil Kunde und Unternehmen direkt kommunizieren können. 

Für Unternehmen und Publisher bedeutet das, dass sie Strukturen, Know-how und Technologie intern aufbauen müssen, um für die neue Landschaft gerüstet zu sein und ihre digitale Kommunikation komplett autark betreiben zu können. Die aktuelle Entwicklung zeigt: Das ist möglich und viele tun das bereits.

Diese enorme Wucht technologischer und demografischer Veränderungen in der digitalen Kommunikation kann man nicht abfedern durch Investitionsprogramme, oder indem man ein, zwei Gänge hoch schaltet im Hamsterradrennen: immer mehr, immer schneller, immer länger – immer ineffizienter. Man muss den Veränderungen durch Umdenken begegnen. Rational agierende Maschinen helfen uns nichts, wenn unser eigener Blick vernebelt ist, die Perspektive auf die Sachlage verzerrt wird und die Erwartungshaltungen an das Leistungsvermögen digitaler Kommunikation nicht geordnet sind. Im digitalen Zeitalter hat gesunder Menschenverstand Hochkonjunktur.

6.3 Digitale Kommunikation braucht Menschenverstand Display ist tot! SEO ist tot! Affiliate ist tot! Nein, halt, Facebook ist tot! Oder doch nicht? Wir verhalten uns wie ein Haufen Hühner, denen der Fuchs im virtuellen Traum erscheint. Der muss nicht einmal persönlich vor dem Käfig ­auftauchen. Eine Botschaft per Alexa reicht schon und die nächste Hysterie-

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6  Digitale Kommunikation

welle schwappt herein. Es ist erstaunlich und frustrierend zugleich, wie viele ­Vorurteile und falsche Erwartungshaltungen zu digitaler Kommunikation sich in den Köpfen eingenistet haben und gebetsmühlenartig verbreitet werden. Hier eine kleine Auswahl dazu.

Falsche Vorstellungen von Online-Kommunikation

• Ausgaben für Online-Kommunikation sind immer zu teuer! In vielen Köpfen ist verankert, dass das Internet eigentlich kostenlos ist. Gleichzeitig bezahlen Werbetreibende anstandslos Anzeigen, die ein Vielfaches kosten und nur einen Bruchteil der Menschen erreichen. • Digitale Werbung muss sofort verkaufen, sonst wirkt sie nicht! Bremsen wir, wenn wir an einem Plakat mit Hundefutterwerbung vorbeifahren und machen stehenden Fusses kehrt zum nächsten Supermarkt? • Digitale Werbung ist dann gut, wenn sie oft geklickt wird! Die Folge: Auch 2019 werden Werbeformen noch mit Gewalt in den Nutzungsfluss gedrückt. Sie ärgern und stören die User mehr, als dass sie wirklich genutzt werden. Man freut sich diebisch über erzwungene Klickraten. • Der Publisher muss sich am Risiko beteiligen. Der Werbetreibende will die Kosten für eine digitale Kommunikationsmaßnahme nur nach Bestellung oder Umsatz bezahlen. Gehen Sie doch mal in ein Geschäft und bieten Sie an, Laufschuhe erst dann voll zu bezahlen, wenn Sie die 10 km unter 40 min laufen. • Digitale Kommunikation ist ein Jahrmarkt und jedes Jahr wird eine andere Attraktion gehyped: Suchmaschinenwerbung, SEO-Maßnahmen, Programmatische Werbung, Native Advertising, Content Marketing, Messenger, Influencer, Blogs, Webseiten, Newsletter, Business Communities, Apps, Chat Bots, Social Media usw.. Im Gegenzug werden natürlich auch ein paar totgesagt.

All diese Verrenkungen und Wahrnehmungsstörungen tragen dazu bei, dass die Landschaft der digitalen Kommunikation oft unsicher und unkalkulierbar erscheint. Und das, obwohl digitale Kommunikation mit ihren Stärken genau gegenteilige Vorteile anbieten könnte: hohe Sicherheit, Messbarkeit, Verlässlichkeit, Transparenz. Dass auf Daten basierte und technologisch gesteuerte Prozesse irrational bewertet werden, ist im Grunde ein Paradoxon. Ein Musterbeispiel für emotionale, weitestgehend sachfremde Meinungsbildung liefert die Diskussion rund um Social Media in den letzten Monaten und Jahren.

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6.3.1 Social Media: Reservat oder Republik? Keine Bewegung hat Internet, digitale Kommunikation und Gesellschaft so revolutioniert wie Social Media. Über Netzwerke wie Facebook, YouTube oder Twitter konnten Menschen plötzlich Inhalte ins Netz stellen, sie weiterleiten, kommentieren, bewerten, selektieren, sperren. Das ließ das bisherige Kommunikationsmodell aus den Fugen geraten. Die beglückten User tobten sich aus und realisierten gar nicht, dass ihre Veröffentlichungen sichtbar wurden für die ganze Welt. Die Medienhäuser sahen ein weiteres Stück ihrer meinungsbildenden Führungsposition dahinschwinden. Dann gab es eine Reihe von Pannen und in der Folge schlechte Krisen-PR. Die Unbekümmertheit sozialer Medien wurde bald als Naivität und ihr Enthusiasmus als Gedankenlosigkeit ausgelegt. Viele Unternehmen wussten nicht, ob und wie sie diese außer Rand und Band geratene Kommunikationslandschaft nutzen sollten. Ist das nun ein wertvoller, effizienter Kommunikationskanal oder eine wilde Enklave, wo man sich nur die Finger verbrennt, wenn man nicht aufpasst? Wir sprechen mit Thomas Meyer über Social Media. Thomas ist studierter Betriebswirt. Er versucht Social-Media-Strategien so zu gestalten, dass sie einerseits im Unternehmen stabil verankert sind und sich andererseits stets an den Zielen des Unternehmens orientieren. Als Geschäftsführer der Toman + Meyer GmbH liebt er es, nachhaltige Konzepte zu erarbeiten und gemeinsam mit Kunden umzusetzen. In seiner bisherigen Laufbahn betreute er, als Angestellter bei einem großen Social Media Management Tool, Kunden wie RTL, ARD, ZDF, ÖBB, Burda etc. Er engagiert sich für die Themen Medienkompetenz, Diversity, Gleichberechtigung, Barrierefreiheit und ein bisschen mehr Moral in der Kommunikationsbranche – auch in seiner Tätigkeit als Lektor an der FH Kufstein und der Werbeakademie Wien. Thomas, welche Chancen eröffnet Social-Media-Kommunikation, die man in der Zeit vor Facebook & Co nicht hatte? Marketing hat sich fundamental verändert. Bis vor einigen Jahren verlief Kommunikation stets vertikal, also vom Unternehmen zum Markt. Heute verläuft sie immer mehr horizontal innerhalb von Communities. Monopole verschwinden und Unternehmungen jeglicher Größe haben selbst in neu geschaffenen Nischenmärkten Chancen auf Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Auf Kunden- wie auf Unternehmensseite leben wir im Zeitalter der Konnektivität. Diese Vernetzung führt auch zu einer völlig neuen Customer Journey. Neugierige, vernetzte Menschen organisieren sich in Communities, sammeln Erfahrungen und geben diese auch preis. Genau das ist Social Media Marketing: Marketing in von Usern geschaffenen Communities.

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Social Media bildet auf Kommunikationsseite das veränderte Konsumverhalten der Menschen ab: Vernetzte Konsumenten vertrauen auf die Meinung anderer. Kundenbewertungen werden zur wertvollsten Währung für Unternehmen. Noch nie war es so wichtig, Communities aufzubauen wie heute. Wenn du als Unternehmen schlau bist, siehst du genau das. Du verlässt das klassische, vertikale Marketing und gehst dorthin, wo es weh tut. Denn es wird wehtun. Noch nie war Marketing so beinhart ehrlich. Aber genau dort liegt auch die Chance. Egal ob im Recruiting oder der Produktentwicklung: Hörst du auf das Feedback deiner Kunden, wirst du davon profitieren. Social Media hat alles verändert. Auch den Menschen. Noch nie war er vernetzter – aber auch abgelenkter. Deswegen gilt es mehr denn je, ihn an eine Marke zu binden und zu einem loyalen Kunden zu machen. Früher war der Kauf das Ziel. Heute die Empfehlung. Angesichts der großen Zahl von Social-Media-Plattformen: Nach welchen Kriterien sollte ein Unternehmen sein Set an Social-Media-Kanälen auswählen? Ich könnte jetzt von Zielgruppen sprechen, von plattformspezifischen Eigenheiten und speziellen Features der Plattformen. Und, und, und… Doch der wirklich wichtigste Faktor sind die Ressourcen. Natürlich musst du dir als Unternehmen Gedanken machen, auf welchem Kanal deine Zielgruppe zu Hause ist. Doch viel wichtiger ist die Frage, wie viele monetäre aber auch personelle Ressourcen du für deine geplanten Maßnahmen bereitstellen kannst. Ein Hauptproblem dabei ist, dass Social Media oft als reiner Sales-Kanal gesehen wird. Auf falsche Hoffnungen können nur Enttäuschungen folgen. In vielen Unternehmen kommt es dabei stets zum Kampf zwischen ungeschulter Geschäftsleitung, wütenden Controllern und völlig überforderten Marketingabteilungen. Und da beginnt das ganze Drama. Ich habe Geschäftsleitungen erlebt, die in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ihren mühevoll aufgebauten Facebook- oder Instagram-Kanal gelöscht haben. Einfach so. Aus Angst, Furcht oder reinem Unverständnis für diese Investition. In meinen Augen ist Social Media das Investment in einen immateriellen Unternehmenswert mit folgenden Zielen: Aufbau der Marke, Bildung von Loyalität und Markenstärkung. Passiert das, sprudeln auch die Erlöse.

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Wie gut gelingt das den dir bekannten Unternehmen und wo lauern Gefahren? Mittel;-) Nein, um ehrlich zu sein: Es gibt sehr wohl Unternehmen, die früh verstanden haben, dass Marketing sich verändert hat. Sie stiegen herab von ihrem Elfenbeinturm und passten sich an veränderte Kundenwünsche an. Es ist alles viel direkter. Viel näher. Viel ehrlicher. Viel schmerzvoller. Da musst du schon Mut zur Veränderung beweisen – und genau da trennt sich die Spreu vom Weizen. All jene Unternehmen, die an klassischen Monetarisierungskonzepten festhalten – und darin sind übrigens deutschsprachige Medienkonzerne ­Meister – werden untergehen. So hart das auch klingen mag. Es gibt auch heute noch Medienhäuser, deren Verständnis von Social Media beim kurzfristigen Aboverkauf und der Monetarisierung von Website Traffic endet. Das ist aber nicht der Hebel für digitales Wachstum der Zukunft. Viele verkennen das Potential, Kundenbeziehungen durch Dialog aufzubauen. Noch nie war es so einfach, diesen Dialog zu initiieren und zu halten. Ich hab es immer wieder erlebt, dass genau dieser Dialog mit Kunden gar nicht gewollt war. Diese Kunden landen immer wieder im vertikalen Marketing und im Auslaufmodell der Sender-Empfänger-Beziehung. Die größten Gefahren? Einerseits Ungeduld, würde ich sagen. Professionelles Social Media Marketing ist nichts, was innerhalb von ein paar Wochen amortisierende Erfolge bringt. Andererseits diese unbeschreibliche Arroganz vieler Unternehmen im unbelehrbaren Wunsch beim Personal zu sparen. Das geht nicht. If you pay peanuts, you get monkeys. Wie würdest du den zeitlichen Aufwand und Kostenrahmen für Social Media umreißen? Ich vergleiche diese Frage – die mir oft gestellt wird – gern mit einem Autowunsch. Auf die Frage „Ich will ein Auto. Welches soll ich mir nehmen?“ ist die Breite an Antwortmöglichkeiten groß. Sehe ich es als reines Fortbewegungsmittel und habe ich keine besonderen Ansprüche außer der Funktionalität des Fahrens, dann wird mir ein 300.000 km Gebrauchtwagen für 3000 EUR reichen. Möchte ich auf dicke Hose machen und stehe ich auf Bling Bling, werde ich mir einen 800.000 EUR Lamborghini in die Garage stellen. Alles eine Frage der Ziele, Wünsche und Ressourcen. Um etwas konkreter zu werden: Es ist Kalkulation. Pure Kalkulation. Wie viel Marketingbudget gibt meine Kalkulation her? Welche mittel- bis langfristigen unternehmerischen Ziele habe ich? Welche Hebel kann ich mit welchem ROI bewegen und wie hoch ist die Bereitschaft zur Investition in die Zukunft meines Betriebs?

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Wer, also wer in Person, könnte/sollte Betrieb und Pflege der Social-Media-Kanäle übernehmen? Wer soll sich drum kümmern? Was muss diese Person können? In vielen Unternehmen fand die Implementierung von Social Media Marketing durch Personalverschiebungen statt und nicht nach Kompetenz und Leidenschaft. Wer hat noch Luft? Wer muss noch untergebracht werden? Dann machen Thomas aus der PR oder Karin aus dem Sekretariat jetzt den Newsletter. Zum Social-Media-Team gehört die Steffi, die bald aus der Karenz zurückkommt. Das waren oftmals die Auswahlkriterien für Kandidaten. Ja, kann man machen. Wird halt nicht funktionieren. Einerseits fehlen vielen intern rekrutierten Personen die fachlichen Kenntnisse, um Social Media erfolgsorientiert zu betreiben. Andererseits deprimiert der Jobwechsel diese armen, verlorenen Seelen. Kein Wunder, behaupte ich. Es gibt dazu noch viel obskurere Beispiele. In manchen Medienhäusern zum Beispiel wurden klassische Redakteure als Social-Media-Spezialisten ab/aufgestuft. Man braucht sich also im Medienbereich über nichts mehr zu wundern… Es gibt aber durchaus Firmen, die sich extra auf die Suche nach Menschen begeben, die sich auf Social Media Marketing spezialisiert haben. Der Markt ist gar nicht mal so klein und reicht von motivierten Uni-Absolventen bis zu klassischen Marketingexperten. Denn Social Media ist aus fachlicher Sicht kein Hexenwerk. Bei vielen scheitert es einfach am holistischen Ansatz. Was wir begreifen müssen, ist die Verzahnung von Social Media mit allen Fachbereichen des Unternehmens: Vertrieb, Einkauf, Controlling, Finanz, Entwicklung und, nicht zu vergessen, mit der Geschäftsführung. Auch hier trennt sich die Spreu vom Weizen – und zwar durch den weiter oben schon beschriebenen Faktor Geld. Ich sehe das mittlerweile persönlich nicht mehr so dramatisch. Das ist im Grunde nichts anderes als Marktbereinigung. Es kommen jetzt immer mehr gut ausgebildete, junge Fachkräfte auf den Markt. Unternehmen, die verstehen, welche Wettbewerbsvorteile sie durch durchdachtes Social Media Marketing schaffen können, werden überleben. Der Rest wird für seine Knausrigkeit bitter büßen. Bezugnehmend auf das externe Know-how nur so viel: Ich hätte mich nicht als Social-Media-Beratung selbstständig gemacht, würde ich nicht an das Konzept glauben. Betriebsblindheit, Ressourcenmangel und die oft fehlende Zeit, wirklich strategisch zu arbeiten, sind Gründe für Unternehmen, auf externe Beratungsleistung zurückzugreifen. Das macht Sinn. Gleichzeitig bin ich der festen Überzeugung, dass es wichtig ist, mittel- bis langfristig Know-how im Unternehmen aufzubauen.

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Was sind die fünf größten Irrtümer, die aktuell zum Thema Social Media kursieren? • Social Media ist ein Sales-Kanal. Nein. Social Media ist deutlich mehr. Social Media ist Kommunikation, Information und Unterhaltung. Es geht um Loyalität, um Bindung und um den Aufbau zukünftiger Cashflows. • Social Media ist nur für jüngere Zielgruppen interessant. Nein. Fragt euch mal, wer euch die meisten WhatsApp-Nachrichten schickt;-) • Social Media ist das Posten von Beiträgen. Nein. Social Media ist Kommunikation. • Follower sind wichtig. Nein. Aktive Communities sind wichtig. • Facebook ist tot. Nein. Nein. Nein. Facebook hat sich einfach nur verändert, wie auch wir uns verändert haben und uns immer verändern werden. • Bist du Marketing-Leiter, musst du kein Slim-Fit Sakko und weiße Converse tragen;-) Jeder Kanal, und sei er so groß wie Facebook, muss sich erst einmal qualifizieren für die Kommunikationsziele des Unternehmens. Social-Media-Kanäle bieten sehr viele Stärken und enorme Power für selbstgesteuerte Kommunikation. Ihre Anwendung ist einfach und mit keinem Kanal kann man so viele Menschen so schnell erreichen. Trotz einer emotionalen Berg- und Talfahrt bleibt es rein faktisch so, dass soziale Netzwerke eine deutlich größere und genauere Kommunikationskraft bergen, als klassische Medien sie je anbieten konnten. Diese Power ist für jedes Unternehmen jeder Größenordnung sofort zugänglich. Digitale Kommunikation ist mächtig. Die Menschen sind ihr förmlich zugeflogen und haben innerhalb kürzester Zeit ihr Nutzungsverhalten komplett verändert. Durch das Tempo und die Radikalität der Veränderungen gerieten die alten Strukturen und Machtverhältnisse unter Spannung und unter Druck. Auch für den Einzelnen als Kommunikator ist die Entwicklung aus der reinen Empfängerrolle zum Sender von Botschaften viel zu schnell gegangen. Es hat den Anschein, dass ein Großteil noch gar nicht realisiert, dass Kommunikation auch Verantwortung bedeutet. In einer vernetzten Welt hat jeder Einzelne mit jeder seiner Äußerungen Einfluss auf die Allgemeinheit. Digitale Kommunikation vernetzt Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Dr. Günther Schmid, ehemaliger Professor für internationale Politik und Sicherheit, umschrieb das in einem Interview auf dem RiskNET Summit München 2018 mit folgenden Worten: „Politik, die noch immer ein Ordnungsmonopol von oben nach unten versucht zu realisieren, ist also immer stärker abhängig von gesellschaftlichen Einflüssen, und gesellschaftliche Einflüsse hängen heute massiv ab von der Transportierbarkeit durch Medien.“

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Im Jahr 2019 sind Gesellschaft, Wirtschaft und Politik nicht auf einer Linie und nicht im Gleichgewicht. Die User sind viel weiter als die meisten Unternehmen. Die Politik hinkt teilweise erheblich hinterher. Deren Entscheidungs- und Umsetzungstempo ist viel zu lahm, um mit den Entwicklungen der Digitalisierung mithalten zu können. Datenschutz, Infrastruktur, Arbeitsmarkt, Positionen zu KI sind nur ein paar Beispiele mit dringlichem Klärungsbedarf. Aktuell lavieren sich Politik und Verbände mehr durch ein Schlamassel, als dass sie Ziele konsequent anstreben. Diesen Modus müssen wir ändern. Verständnis und Verhalten im Zeitalter digitaler Kommunikation brauchen eine Katharsis. Wir müssen die Landschaft von allen schädlichen Einflüssen und Störfaktoren befreien und dafür sorgen, dass positive Argumente und Chancen in der ersten Reihe stehen – ohne Risiken zu vergessen. Momentan ist es umgekehrt. Dafür brauchen wir einen breiten Konsens und kein Diktat elitärer Gruppen oder vermeintlicher Meinungsführer – egal welcher Couleur. Was wir brauchen, ist ein klarer Blick mit gesundem Menschenverstand. Dazu kann und muss jeder Einzelne beitragen. Schritt für Schritt. Egal ob Konsument oder Marketeer. Erst wenn wir diesen Bereinigungsprozess durchlaufen haben, werden wir digitale Kommunikation mit Sinn, Verstand und Freude nutzen können.

6.3.2 Katharsis im Wandel Wie so oft, wenn viele Menschen rasch und in Eile aufbrechen, bleiben ein paar Sachen liegen und einige Dinge unerledigt. Wenig später stellen die meisten fest, dass sie nicht alles eingepackt haben, was sie für die Reise brauchen, und nicht richtig vorbereitet und trainiert sind für das, was ihnen bevorsteht. Sie improvisieren und bauen das Schiff fertig, während sie schon knietief im Wasser stehen. Es entwickeln sich Chaos und Unruhe an Bord. Die Frage nach dem richtigen Kurs wird jeden Tag neu beantwortet. Bald sehnen sich die Reisenden nach klaren Verhältnissen, nach Orientierung und nach Kultur in der Veränderung. Kultur als „System von Regeln und Gewohnheiten, die das Zusammenleben und Verhalten von Menschen leiten“ (Wikipedia) ist die Klammer, die uns im Wandel bis dato fehlt. Nach dem Aufbruch und den ersten Jahren auf der Reise durch die Veränderung wird es Zeit auszusortieren: Gerüchte, Vorurteile, Halbwissen, überholte Vorstellungen und Sirenengesänge müssen über Bord. Und den Rest, den wir weiter brauchen, müssen wir sortieren: Haltung, Ziele, Maßnahmen, Werkzeuge, Wirkungen, Verantwortung, Fähigkeiten, Notwendigkeiten und Optionen. Das klingt angesichts der unübersichtlichen digitalen Kommunikationslandschaft mit ihrer leicht anrüchigen Vergangenheit nach Sisyphusarbeit. Es hat sich

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einiges angestaut in der kurzen Geschichte des Internets und der digitalen Kommunikation: Angst vor Datenmissbrauch, Ärger über Intransparenz, mangelnder Respekt in der Kommunikation der User, unrealistische Erwartungshaltung von Werbetreibenden, fehlendes Verständnis vom Kundennutzen, Hypes und Stimmungstiefs, Quacksalber und Laiendarsteller, Nerds und IT-Novizen usw. Die entscheidende Frage ist: Wie bekommt man diese zerklüftete, teilweise wüste Landschaft für die Zukunft der Kommunikation kultiviert? Denn dass dort die Zukunft stattfinden wird, steht außer Frage. Folgende Fakten bilden das Gerüst für die Zukunft unserer Kommunikationswelt (Digital Report 2019 von Hootsuite):

Die Zukunft der Kommunikation

• Die Anzahl der Internetnutzer wächst um eine Million – täglich! • In Deutschland sind knapp 80 Millionen Menschen oder 96 % der Bevölkerung online. • Sie verbringen im Schnitt 4:37 h pro Tag online (zu Vergleich: mit TV nur 2:55 h). • Soziale Medien sind beliebter denn je. • Online-Geschäfte und -Einkäufe wachsen rasant. • Bald werden 90 % der gesamten Werbung programmatisch ausgespielt. • Bald sind die Hälfte der Deutschen 50 Jahre und älter. • Sie nutzen das Netz v. a. für Kommunikation, Medien und Informationssuche.

Schön wäre ein Schalter, mit dem man alles auf „Digitalisierung ist abgeschlossen“ beamen könnte. Aber sprechen wir lieber von einer längeren Phase der schrittweisen Erleuchtung. Eine realistische Zielsetzung für jeden Entscheider und Kümmerer im Wandel ist, einen zusehends klaren Blick und sicheren Schritt zu erlangen für den Weg durch die Veränderungen: Werthaltiges von Überflüssigem, Wegweiser von Verlockungen und Substanz von hohlen Phrasen unterscheiden zu lernen. Gerade in Zeiten intensiver Veränderungen hilft es, im Reinen mit sich selbst zu sein. Immer klar zu wissen, wo man steht, wo es hingehen soll und mit welchen Mitteln und Hebeln man die Veränderung bewältigen will. Alles andere, was im Weg steht und verwirrt, muss weg. Wir brauchen eine Katharsis im Wandel.

 Katharsis  Psychische Reinigung durch Ausleben innerer Konflikte und verdrängter Emotionen, speziell von Aggressionen.

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Brücken bauen Im Wandel sind manche sehr schnell und ganz weit nach vorn geprescht. Sie zeigten Mut, Entschlossenheit, Unbekümmertheit oder hatten einfach das Glück, mitgerissen zu werden von anderen. Die, die vorn sind, sind nicht immer die besten, fittesten, stärksten, schlausten, fairsten oder verlässlichsten. Genauso wenig sind die, die noch unentschlossen in den Startblöcken hängen, unfähig oder faul. Festzustellen bleibt: Im Wandel entstand an verschiedenen Stellen eine Kluft und die gilt es nun zu verringern – mit Transparenz, Verständnis und gegenseitiger Wertschätzung. An folgenden Stellen können wir ansetzen:

Was sich ändern muss

• Marketingwissen und Erfahrung (älterer Mitarbeiter) verbinden mit digitalen Chancen und Fähigkeiten (jüngerer Kollegen) • Das Potential einer IT-Abteilung nutzen, wertschätzen und integrieren – und nicht als E.T. oder Nerds abkanzeln • Wissen und Kenntnisse für digitales Marketing im Unternehmen aufbauen und umverteilen – anstatt misstrauisch (von unten) oder überheblich (von oben) Distanz zu halten • Mit gesundem Menschenverstand Informationen einholen und besonnen entscheiden – und nicht bei jedem kleinen Luftzug umfallen • Analoge und digitale Kommunikation im Sinn der Unternehmensziele gemeinsam ausrichten, anstatt sie gegeneinander auszuspielen • Daten vertrauen und verantwortungsvoll nutzen lernen und nicht im bequemen Bauchgefühl- und Schätzmodus verharren • Neue Märkte, Dienstleister und Experten nutzen: Ein Auto lässt man in der Autowerkstatt reparieren und nicht beim Hufschmied • Die Zukunft umarmen und nicht mit verschränkten Armen verpassen

6.4 Fazit Digitale Kommunikation gibt heute schon den Takt an. Wir können uns überlegen, wie wir damit in Zukunft umgehen wollen. Eine Verweigerungshaltung bedeutet den sicheren Verlust von Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätzen. Eine große Gefahr besteht darin, sich zu verzetteln und auf Abwegen zu irren. Wir dürfen nicht den Sirenen am Wegesrand folgen, die wehleidig Gesänge der alten Zeit

Weiterführende Literatur und Quellen

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anstimmen. Dann kann es uns gelingen, eine ersehnte und notwendige Kultur in der Internetnutzung und der digitalen Kommunikation zu etablieren. Eine Katharsis im Wandel wird dafür sorgen, dass am Ende nicht nur unser Unternehmen neu und zukunftsfähig aufgestellt ist, sondern wir auf dem Weg dorthin viele bewusste Erfahrungen gesammelt haben, selbst zu Experten herangewachsen sind und einen klaren Überblick haben über die Landschaft der digitalen Kommunikation. Wir werden rückblickend den Wandel nicht als harte Zeit der Veränderung bewerten, sondern als spannende Zeit mit einer vorher unvorstellbaren Entwicklung. Wir werden die Megatrends wie demografischen und digitalen Wandel nicht nur managen, sondern ihr Potential einspeisen in unser neu formiertes Unternehmen und direkt umwandeln in Wachstum, Stabilität und eine neue Kultur der Zusammenarbeit – wie ein Kraftwerk den natürlichen Fluss nutzt. Kraft und Methodik der Digitalisierung werden dazu führen, dass Marketing und Kommunikation sich automatisch auf den demografischen Wandel ausrichten. Daher hat dieses Buch nie die Frage gestellt, wie man ältere Zielgruppen mit digitalem Marketing bedient. Die Antwort des Buchs lautet: 

Digitales Marketing bringt automatisch die richtigen Botschaften an die richtigen Menschen. In unserem alten Deutschland werden immer mehr ältere Menschen Zielgruppe einer zunehmend digitalen Kommunikation sein – ganz selbstverständlich und unausweichlich.

Weiterführende Literatur und Quellen Buch Bernoff, Josh, und Charlene Li. 2008. Groundswell. Harvard Business Review Press. Goeudevert, Daniel. 2008. Das Seerosen-Prinzip. Köln: Dumont. Pörksen, Bernhard, und Friedemann Schulz von Thun. 2014. Kommunikation als Lebenskunst. Heidelberg: Carl-Auer. Rifkin, Jeremy. 2010. Die empathische Zivilisation – Wege zu einem globalen Bewusstsein. Frankfurt a. M.: Campus. Ruisinger, Dominik. 2016. Die digitale Kommunikationsstrategie. Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Schindler, Marie-Christine, und Tapio Liller. 2014. PR im Social Web. Köhn: KO’Reilly.

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Internetquellen ARD/ZDF-Onlinestudie. 2018. Internetnutzer in Deutschland. http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/onlinenutzung/internetnutzer/in-prozent/. Zugegriffen: 26. Jan. 2019. ARD/ZDF-Onlinestudie. 2016. Arten der Internetnutzung. http://www.ard-zdf-onlinestudie. de/files/2016/Kern-Ergebnisse_ARDZDF-Onlinestudie_2016.pdf. Zugegriffen: 27. Jan. 2019. ARD-Werbung.de. Programmatic Advertising und Perspektiven für die klassischen Medien. https://www.ard-werbung.de/fileadmin/user_upload/media-perspektiven/ pdf/2018/0218_Moehrer.pdf. Zugegriffen: 31. Jan. 2019. Business Insider. 25. Januar 2019. Prosieben Chef Conze im Interview. https://www. businessinsider.de/prosieben-chef-conze-netflix-und-amazon-koennen-agieren-wie-wires-nicht-duerfen-2019-1. Zugegriffen: 27. Jan. 2019. Horizont.net und Christoph Kastenholz. Dezember 2018. In nicht wenigen Magazinen wird Media ganz offen gegen Redaktion gehandelt. https://www.horizont.net/medien/nachrichten/influencer-agenturchef-christoph-kastenholz-in-nicht-wenigen-magazinen-wird-media-ganz-offen-gegen-redaktion-gehandelt-171633. Zugegriffen: 30. Jan. 2019. Internetworld.de. Das sind die häufigsten Internetaktivitäten der Deutschen, Statistisches Bundesamt 2018. https://www.internetworld.de/technik/haeufigsten-internetaktivitaeten-deutschen-1672043.html?seite=4. Zugegriffen: 2. Febr. 2019. Internetworld.de über Hootsuite Digital. 2019. https://www.internetworld.de/social-media/zahlen-studien/taeglich-million-neue-internetnutzer-weltweit-1673710.html. Zugegriffen: 31. Jan. 2019. IVW: Quartalsauflagen. https://www.ivw.eu/print/quartalsauflagen/quartalsauflagen. Zugegriffen: 27. Jan. 2019. Joel Fixe #21. Podcast – Prämissen und Ziele für die Digitalisierung. https://www. digitalkompakt.de/podcast/digitalisierung-digitale-transformation-praemissen-ziele/. Zugegriffen: 14. Jan. 2019. Wessling, Ewald. https://ewald-wessling.de/. Zugegriffen: 31. Jan. 2019. Wikipedia. 2018a. Content marketing. 27.12.2018. https://de.wikipedia.org/wiki/Content-Marketing. Zugegriffen: 1. Febr. 2019. Wikipedia. 2018b. Programmatic Advertising oder Programmatische Werbung. 9.5.2018. https://de.wikipedia.org/wiki/Programmatic_Advertising. Zugegriffen: 31. Jan. 2019. Wikipedia. Digitale Kommunikation. https://de.wikipedia.org/wiki/Digitale_Kommunikation. Zugegriffen: 26. Jan 2019. Wikipedia. Geschichte des Fernsehens in Deutschland. https://de.wikipedia.org/wiki/ Geschichte_des_Fernsehens_in_Deutschland. Zugegriffen: 27. Jan. 2019. Wikipedia.Kultur. https://de.wikipedia.org/wiki/Kultur. Zugegriffen: 2. Febr. 2019. Wizelife. November 2018. Wie hat sich Ihre Mediennutzung in den letzten Jahren verändert, Umfrage. https://wize.life/inhalt/b2b/datei/id/5c385150bbf6c37bd952894b. Zugegriffen: 27. Jan. 2019. wuv.de. Wetter Online vermarktet sich selbst. https://www.wuv.de/digital/wetter_online_ vermarktet_sich_selbst. Zugegriffen: 31. Jan. 2019.