Zerwürfnis - Eine Erkundung

Der Dialog bildet die Urszene der Kommunikation, sein Ziel ist das wechselseitige Verständnis. Letzteres bewirkt die Übe

355 60 2MB

German Pages 52 Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Zerwürfnis - Eine Erkundung

Table of contents :
Prolog
Wörterbuch
/Konflikt
/Zerwürfnis
/Zwist
Story
Sequenz /1
/Differenzen
/Konflikt
/Grenze
Zerwürfnis
Personen
Dissens /Kritik
Distanz
Eulers Zerwürfnis
Disput /Meinung
Ursachen
Sequenz /2
/Tischgespräch
/Gewohnheit
/Ideal
Epilog
Quellen

Citation preview

Zerwürfnis Eine Erkundung Joachim Zischke

Dialogus

Joachim Zischke

Zerwürfnis Eine Erkundung

D i a l o g u s

© 2020 Joachim Zischke Dialogus Autorverlag Bad Dürkheim Internet: dialogus.de Privatdruck

Inhalt

Prolog 7 Wörterbuch 8 /Konflikt 9 /Zerwürfnis 10 /Zwist 11 Story 12 Sequenz /1 14 /Differenzen 15 /Konflikt 16 /Grenze 17 Zerwürfnis 18 Personen 20 Dissens /Kritik 24 Distanz 26 Eulers Zerwürfnis 28 Disput /Meinung 32 Ursachen 40 Sequenz /2 44 /Tischgespräch 45 /Gewohnheit 46 /Ideal 47 Epilog 49 Quellen 51

Prolog

Er zitiert Miklós Cseszneky de Milvány et Csesznek: »Toleranz ohne Dialog ist ein Euphemismus für Indifferenz.« Der Dialog bildet die Urszene der Kommunikation, sein Ziel ist das wechselseitige Verständnis. Letzteres bewirkt die Übereinstimmung, und nur sie überwindet Distanz, Differenz und Indifferenz. Item: Ohne Bereitschaft keine Toleranz, ohne Toleranz kein Verstehen, ohne Verstehen kein Dialog, ohne Dialog kein Frieden, ohne Frieden keine Verständigung.

7

Wörterbuch

/Konflikt

›Zusammenstoß, Auseinandersetzung, innerer Zwiespalt, Widerstreit‹, aus lat. cōnflīctus ›das Zusammenschlagen, feindlicher Zusammenstoß, Kampf‹, einem Verbalabstraktum zu lat. ›zusammenschlagen, zusammenstoßen, in Kampf geraten‹; vgl. lat. flīgere ›(an)schlagen, zu Boden schlagen‹; Zwiespalt, Widerstreit aufgrund innerer Probleme; durch das Aufeinanderprallen widerstreitender Auffassungen, Interessen oder Ähnlichem entstandene schwierige Situation, die zum Zerwürfnis führen kann.1,2

9

/Zerwürfnis

›Entzweiung, Bruch, Streit, Zank‹, zerwerfnisse, zu zerwerfen ›auseinanderwerfen, zerbrechen, uneins werden, sich entzweien‹, ziwerfan, zirwerfan ›durcheinanderwerfen, zerstreuen, zerstören‹, auch ›sich entzweien, streiten, zanken‹; durch ernste Auseinandersetzungen, Streitigkeiten verursachter Bruch einer zwischenmenschlichen Beziehung.1,2

10

/Zwist

›Uneinigkeit, Streit, Zank; twist, twest ›Zank, Streit, Streitigkeit, Auseinandersetzung‹; verwandt mit twist(e) ›Astgabel, Zweig‹, tvistra ›trennen‹; vgl. auch twisstandan ›sich trennen‹, twis-stass ›Zwiespalt‹; durch erhebliche Uneinigkeit hervorgerufener Zustand des Zerwürfnisses, der Feindseligkeit; durch meist langwierige, oft mit Verbissenheit geführte Streitigkeiten charakterisierter Konflikt.1,2

11

Story

Günter Grass’ und Marcel Reich-Ranickis Beziehung war konfliktreich. Grass beklagte einmal in einer Rede, dass Kritiker inzwischen größere Aufmerksamkeit genössen als Schriftsteller, womit er vor allem MRR meinte. Was Reich-Ranicki dazu anstachelte, Grass’ Werk kräftig an den Rand des Abgrunds zu kritisieren. Fünfzig Jahre kennen die beiden sich schon, als sie sich in Lübeck ein letztes Mal persönlich begegnen. »So hängen wir aneinander und tragen uns unsere Zerwürfnisse nach«, schreibt Grass später über diese Begegnung, um hinzuzufügen: »Ich hätte ihn umarmen sollen.« Als Marcel Reich-Ranicki das später liest, wird er ausrufen: »Wissen Sie was? Grass hat recht. Wir hätten einander wirklich umarmen sollen.«

13

Sequenz /1

/Differenzen

Zwischenmenschliche Differenzen, Meinungsverschiedenheiten und Unstimmigkeiten sind nicht das wirkliche Problem. Differenzen machen noch keinen Konflikt aus. Es kommt einzig darauf an, wie die beteiligten Menschen die Differenzen erleben, wie sie über sie denken und wie sie – gemeinsam oder jeder für sich – mit ihnen umgehen.

15

/Konflikt

Ein abstraktes, vielschichtiges und komplexes Konstrukt, meint »Widerspruch«, oftmals »Widerstreit«, entsteht »durch das Aufeinanderprallen widerstreitender Auffassungen, Interessen« etc. Konfliktfähige Menschen sind überzeugt, dass die im Konflikt entwickelte Energie positiv eingesetzt werden kann. Differenzen werden als integrale Bestandteile des Lebens aufgefasst. Konflikte können helfen, sich von alten Gewohnheiten zu lösen. Unterschiede sind lebensnotwendig, das Arbeiten an Differenzen bereichert. Zum Problem wird der Konflikt, wenn die entstandene schwierige Situation führt nicht aufgelöst wird. Die Folge ist dann das Zerwürfnis.

16

/Grenze

Als Positionen existieren die Ausgangssituation A und die Endsituation B. Dazwischen befindet sich der Konflikt, eine Grenze, die eine Zustandsänderung auslöst. Das Überschreiten dieser Grenze markiert nicht nur den (Grund-)Konflikt der Auseinandersetzung, es setzt die Handlung überhaupt erst in Gang und beschleunigt sie sukzessiv. Der Konflikt ist wortwörtlich der antreibende Motor einer Story.

17

Zerwürfnis

Ein singuläres Ereignis, darin sich die Spielzüge des individualistischen Handelns zeigen. Ein Handeln, das als Spielfläche erscheint, auf der die Akteure ein Parallelogramm von Interessen und Erwartungen, von Distanz und Nähe aufspannen. Obgleich die gegenüberliegenden Winkel der Motivation gleich sind, entsteht in dessen Mitte eine diagonale Kraft der Gegensätzlichkeit. Die Weite des Interesses gegenüber der Enge des Desinteresses. Hier: die Vielfalt der Themen, die Lust des Entdeckens und Staunens, das Ergebnis offene Suchen und Fragen, die ökonomische Bedeutungslosigkeit. Dort: die nüchterne Reflexion, die auf Profitabilität orientierte Modalität, die Reduktion auf das angemessene Verhältnis von Rationalität und Emotion. Zerwürfnis bedeutet Abkehr, Aufgabe, Sich-Losreißen – und radikale Freiheit. Man schließt die Tür der Gegenwart und zeigt stattdessen auf die Zukunft. Und doch: Die Erinnerung öffnet immer wieder der Vergangenheit dieselbe Tür, um die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, die jedoch mehr ist als nur eine Vorläuferin der Gegenwart – sie ist ihr Ursprung. 19

Personen

Zerwürfnis zwischen Antonius, Lepidus und Octavian. Zerwürfnis zwischen Sokrates und Kritias. Zerwürfnis zwischen Michelangelo und Papst Julius II. Zerwürfnis zwischen René Descartes und Pierre de Fermat. Zerwürfnis zwischen Pierre de Fermat und John Wallis. Zerwürfnis zwischen Karl dem Kühnen, Comte de Charolais, und Philipp dem Guten von Burgund. Zerwürfnis zwischen Leonhard Euler und Friedrich II.. Zerwürfnis zwischen Robert Fludd und Johannes Keppler. Zerwürfnis zwischen Lorenz Sifanus und Hans Fugger. Zerwürfnis zwischen Christiane von Goethe und Bettine von Arnim. Zerwürfnis zwischen Johanna Schopenhauer und Arthur Schopenhauer. Zerwürfnis zwischen Denis Diderot und Jean-Jaques Rousseau. Zerwürfnis zwischen Leopold Mozart und Wolfgang Amadeus Mozart. Zerwürfnis zwischen Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz. Zerwürfnis zwischen Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant. Zerwürfnis zwischen Immanuel Kant und Christian Jacob Kraus. Zerwürfnis zwischen Friedrich Schiller und August Wilhelm Schlegel. Zerwürfnis zwischen Johann Wolfgang 21

von Goethe und Carl Eberwein. Zerwürfnis zwischen Maria Domenica Polon und Leonhard Polon. Zerwürfnis zwischen Joeseph Seconda und E.T.A. Hoffmann. Zerwürfnis zwischen Ludwig Börne und Heinrich Heine. Zerwürfnis zwischen Édouard Manet und Edgar Degas. Zerwürfnis zwischen Auguste Comte und Henri de Saint-Simon. Zerwürfnis zwischen Gaspare Spontini und Carl Maria von Weber. Zerwürfnis zwischen Georges Cuvier und Étienne Geoffroy Saint-Hilaire. Zerwürfnis zwischen Friedrich Nietzsche und Paul Rée. Zerwürfnis zwischen Peter Merian und Johann Monhard. Zerwürfnis zwischen George Sand und François Buloz. Zerwürfnis zwischen Humberto Maturana und Francisco Varela. Zerwürfnis zwischen Johannes Brahms und Eduard Reményi. Zerwürfnis zwischen Joseph Joachim und Johannes Brahms. Zerwürfnis zwischen Lucian Freud und Francis Bacon. Zerwürfnis zwischen Michail Alexandrowitsch Bakunin und Karl Marx. Zerwürfnis zwischen Iwan Turgenjew und Fjodor Dostojewskij. Zerwürfnis zwischen Georg Simmel und Emile Durkheim. Zerwürfnis zwischen Max Weber und Robert Michels. Zerwürfnis zwischen Ernst Troeltsch und Max Weber. Zerwürfnis zwischen Rainer Maria Rilke und Auguste Rodin. Zerwürfnis zwischen Gustav Mahler und Siegfried Lipiner. Zerwürfnis zwischen Carl Gustav Jung und 22

Eugen Bleuler. Zerwürfnis zwischen Lord Acton und Ignaz von Döllinger. Zerwürfnis zwischen Frank Kafka und Peter Weiß. Zerwürfnis zwischen Heinrich Mann und Thomas Mann. Zerwürfnis zwischen Peter Suhrkamp und Gottfried Bermann Fischer. Zerwürfnis zwischen Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Zerwürfnis zwischen Hannah Arendt und Gershom Scholem. Zerwürfnis zwischen Paul Celan und Gerhard Neumann. Zerwürfnis zwischen Martin Walser und Hans Werner Richter. Zerwürfnis zwischen Günter Eich und Martin Walser. Zerwürfnis zwischen Martin Walser und Uwe Johnson. Zerwürfnis zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze. Zerwürfnis zwischen John Sculley und Steve Jobs. Zerwürfnis zwischen PPP und ZZZ et cetera, et cetera.

23

Dissens /Kritik

Dissens oder Kritik. Dissens ist erlaubt, solange er nicht im dispositiven Denktotalitarismus endet. Dissens kann ein Zeichen von Rebellion sein. Rebellion gegen einen Istzustand, den die eine Seite schmerzhaft empfindet – einen permanenten Zweifel vielleicht –, die andere Seite überhaupt nicht wahrnimmt. Kritik zu üben bedeutet, eigene Gedanken zu formulieren, ihre Validität und Überzeugungskraft in Frage zu stellen, es bedeutet auch, teilhaben und gestalten zu wollen. Kritik pocht auf Gleichheit und Respekt, realisiert damit essenzielle Werte einer als liberal erachteten Gesellschaft. Doch Kritik ist nicht immer möglich. Kritik setzt Kritikfähigkeit und Kritikbereitschaft voraus, Erfordernisse zugleich für das, was wir gesellschaftlich als Ausdruck von Autonomie und Selbstbestimmung begreifen. Kritik ist ein Weg, das Zerwürfnis abzuwenden, ein Versuch, die Dinge zu ändern, um im Angestammten verbleiben zu können.

25

Distanz

Die Distanz ist ein menschliches Grundrecht. »Tritt mir nicht zu nahe.« Eine gestörte Balance zwischen Nähe und Distanz, ein Leben ohne gesicherte Zonen der Intimität und individuellen Selbstbestimmung würde unserer Existenz nicht zuträglich sein. »Distanz ermöglicht Deutlichkeit«, sagt der Fotograf Christian Borchert. Könnte es sein, dass Distanz näher zum Ziel führt? In Platons Dialog Phaidros lassen Sokrates und sein Freund die Geschäftigkeit Athens hinter sich und begeben sich auf eine kleine Wanderung. Physischer Abstand ist die älteste Methode, die Kontrolle über eine Situation zu bekommen. Der Tunnelblick der Nähe wird aufgehoben, das Sehfeld weitet sich. Die Entfernung zu einem Problem lässt andere Perspektiven hervortreten. Emotionen verlieren ihre übermäßige Kraft: Die Aufgeregtheit und Anspannung weicht einem klaren und sachlichen Denken. Newtons mechanistisches Fazit, wonach die Beeinflussung auf Distanz – actio in distans – anstelle der direkten Wirkung über Berührung eine Absurdität sei, ist im Sokratischen Dialog widerlegt.

27

Eulers Zerwürfnis

Ein Brettspiel Ein fiktiver Dialog zwischen Friedrich dem Großen und Leonhard Euler, dem Mathematiker. PROLOG Friedrich (huldvoll lächelnd): Ah, mon professeur. Nun, was führt Er unterm Arm, wenn nicht gar auch im Schilde? Euler (mit leichter Verbeugung): Mit excellent honneurs, Sire, erlauben Sie, mein neuestes carré latin zu präsentieren. Ein Spiel wohl, das jedoch – Friedrich (scherzend): Er will mir doch nicht die Academia zerstreuen? Oder will Er die Avancen der Damen damit replicieren? … Setz’ Er sich. Ich will mich an Seinem Spielchen delektieren. Garçon! (leiser zu Euler) So ruf’ ich den alten Wilsnack gern, so er wegen des kurischen Wetters allzu willig die Sentimentale spielet. Wilsnack (sehr ernst): Sire, Sie befehlen? Friedrich (zu Wilsnack): Bringe Er uns den vortrefflichen Flachmann des walischen Gesandten 29

Port. Und dann halte Er die Türe verschlossen. Wir sind in wichtiger Conversation. Alors … (zu Euler) … faites vos jeux. Euler: Das Spiel, das ich mir erdacht, Sire, wird Sie an Ihrige professio impero erinnern. Friedrich (belustigt): Un jeu militaire? Bon, avancez! In unserem Alter lernt wir gern etwas hinzu. Euler: Es gilt, die neun Gebiete auf dem Brette, maior pars zu erobern. Dabei, notabene, sei jeder numerus 1 bis 9 auf den Linien waagrecht wie auch lotrecht nur einmalig zu placieren. Und just selbig auch im Gebiete. D’accord, Sire? Epilog Euler: Pardon, Sire, das letzte Terretorium ist ebenso besetzt. Sie haben keine Wahl mehr, das Spiel ist aus. Friedrich (ärgerlich): Comment? Schon wieder perdu? Impossible, meine stratégie wardt perfekt. Maítre Numéro, Sein carré latin macht einen Fehler oder Seine conclusion mathematique ist nicht, als was sie scheint. Euler: Mit Verlaub, Sire, in diesem circulus vitiosus irren Sie. Die Konsequenz kömt aus dem Spiel und dessen Regeln. Da hat die Mathematik 30

keinen Anteil und keinen Einfluss. Hier gibt es kein terra mathematica, nur ein terra logica. Friedrich (aufspringend): Mon dieu! Zum Teufel mit Seiner terra! Er seindt ein – Charlatan! Euler (nach einer schweigenden Minute): Sire, Sie gestatten, dass ich unter diesen Umständen nicht vermag, in Berlin zu bleiben, und derowegen gedenke, am morgigen Tage abzureisen. Friedrich (zu sich): Adieu, tête carré suisse.

31

Disput /Meinung

Disput und Meinung. Das Erkunden einer Wahrheit verlangt nach der Freiheit der Meinungsäußerung. Zugleich bedeutet das die Freiheit des Widersprechens. Beide bilden die Grundlagen der menschlichen Kommunikation und des Zusammenlebens. Nur im Disput, im wechselseitigen Abgleich von Meinungen und Argumenten, bleibt der Lebensraum frei von Dezisionismus (Recht ist, was die Gesetzgebung zum Recht erklärt) und Relativismus (nur die Verhältnisse der Dinge zueinander, nicht diese selbst sind erkennbar). John Stuart Mill thematisierte diese Zusammenhänge in seinen Schriften. Richard Reeves fasste Mills Gedanken in drei Thesen zusammen.3

33

/Erste These

In einem Streit zwischen zwei Gegnern ist es sehr selten, dass die eine Seite vollkommen im Recht und die andere vollkommen im Unrecht ist. Stattdessen haben beide Seiten mal mehr und mal weniger Recht. Die Argumente des einen mögen in einer Hinsicht besser und überzeugender sein, in anderer Hinsicht ist es umgekehrt. Der einzige Weg, einer gesuchten Wahrheit näher zu kommen, ist der ungehinderte Austausch von Argumenten, also das Beibringen von Gründen und deren Differenzierung angesichts triftiger Gegengründe.

35

/Zweite These

Auch die abwegigste Meinung kann ein Körnchen Wahrheit enthalten. Und damit es nicht verloren geht, muss auch diese Meinung gehört werden und zur Diskussion stehen. Dabei ist freilich in Kauf zu nehmen, dass auch eine möglich Abwegigkeit in aller Schärfe offengelegt und kritisiert wird.

37

/Dritte These

38

Eine Wahrheit, die nicht bezweifelt und bestritten werden kann, verliert an Eleganz und Lebendigkeit. Nur was herausgefordert wird und diese Herausforderung besteht, kann auf Dauer Geltung beanspruchen und seine Kraft erhalten. Jede Abwesenheit von Kritik höhlt die Wahrheit aus, die stets nur als vorläufige Wahrheit gilt, und lässt sie am Ende erstarren.

39

Ursachen

Abderitismus · Ablehnung · abwertende Bemerkungen · Ärger · Aggressivität · Beleidigung · das Aneinander-vorbei-Reden · das Ausweichen auf andere Themen · das fehlende gemeinsame Ziel · das Mißverständnis · der geistige Diebstahl · der permanente Widerspruch · der unerfüllte Wunsch · der zerstörte Traum · Desinteresse · die fehlende Akzeptanz · die klar geäußerte Erwartung, die nicht erfüllt wird · die mangelnde Kommunikationsfähigkeit · die Meinungsverschiedenheit · die menschliche Natur · die nicht abgestimmte Entscheidung · die unterlassene Rückzahlung von geborgtem Geld · eine emotional unverarbeitete Trennung · Entfremdung · Feindseligkeit · Formalität · Gehirn-Geist-Problem · Gereiztheit · Gerüchte · Indifferenz · inkompatibles Bedeutungssystem · innerer Rückzug · innerer Zwiespalt · Intrigen · Ja, aber-Verhalten · negative Glaubenssätze · Passivität · Rebellion · Sabotage · Selbstüberschätzung · starre Familienbande · Stolz · Streit um Marktanteile und Märkte, Kunden, Handelsplätze, Schatullen, Monopole, Rohstoffe, Konditionen · Sturheit · Trennung · Überkonformität · unauflösbarer Widerspruch · Uneinsichtigkeit · 41

unerwünschte Aufträge · unkorrigierte Perspektiven · unterschiedliche Werte und Erfahrungen · Unwissenheit · vertikale als auch horizontale Differenzen · Widerspruch · Widerstand · Widerstreit.

Alles, was ich als komisch empfinde, entsteht aus der zerbröselten Kommunikation.

Loriot

43

Sequenz /2

44

/Tischgespräch

Kants Gesprächsregeln. Er erdachte sie für seine tägliche Tischgesellschaft. Ein Tischgespräch müsse derart verlaufen, schrieb er, dass immer einer mit allen anderen Teilnehmern spricht. Das erfordere eine gegenseitige Rücksichtnahme. »In dem ernstlichen Streit, der gleichwohl nicht zu vermeiden ist, sich selbst und seinen Affect sorgfältig so in Disciplin zu erhalten, daß wechselseitige Achtung und Wohlwollen immer hervorleuchte; […] damit keiner der Mitgäste mit dem anderen entzweiet aus der Gesellschaft in die Häuslichkeit zurückkehre.«4 Der Ton der Unterhaltung ist wichtiger als die Durchsetzung der eigenen Meinung. Ist ein ernsthafter Streit entstanden, dann muss er mit Würde und mit Respekt vor der Meinung des Gespesprächspartners geführt werden. Debatten beendet man am besten mit einem Scherz: Da werden nicht nur gegensätzliche Ansichten versöhnt, sondern auch durch das Gelächter Verdauungsvorgänge gefördert. Zwist fördert eben nicht den Appetit. Im Gegenteil. Er fördert die Distanz.

45

/Gewohnheit

»Eines Tages begegnen wir der richtigen Person. Wir bleiben gleichgültig, weil wir sie nicht erkannt haben: Wir schlendern mit der richtigen Person durch die Straßen der Peripherie, wir nehmen nach und nach die Gewohnheit an, jeden Tag zusammen spazierenzugehen. Ab und zu fragen wir uns zerstreut, ob wir etwa mit der richtigen Person spazierengehen. Wir glauben es eher nicht.«5 Wir sind das, was wir wiederholt tun.6 Die Repetition, welche in eine Gewohnheit mündet. »Der Gewohnheit schulden wir die Leichtigkeit, die Präzision und die äußerste Schnelligkeit all unserer willentlichen Bewegungen und Handlungen, aber sie ist es auch, die uns ihre Natur und Zahl verbirgt.«7 Und dann, irgendwann, wie nebenbei, fast unbemerkt, trennen sich die Wege. Was zurückbleibt ist die Erinnerung an den Weggefährten. So gewinnt der Gedanke Gestalt, der »richtigen Person« begegnet zu sein. Doch war es wirklich die richtige Person? Die richtige Person am richtigen Ort zur richtigen Zeit – die altbekannte Sequenz des Bonheur?

46

/Ideal

Der Idealfall sei, sagt Paul Watzlawick, dass sich zwei Menschen auf der Inhalts- und der Beziehungsebene einig sind. Verstehen sich beide auf der Beziehungsebene und das Trennende seien inhaltliche Fragen, so sei das die reifste Form einer Meinungsverschiedenheit. Der schlimmste Fall hingegen sei die Uneinigkeit auf beiden Ebenen, die fürchterliche Zwiste entstehen ließe.8 Für den griechischen Dichter Hesiod existiert der Konflikt als Hybrid, als guter und böser Streit. Der böse Streit ist »kulturzerstörend; er vernichtet die Grundlagen von Sitte und Verständigung … ›Er mehrt nämlich den Krieg‹ …« während der gute Streit »nicht nur kulturfördernd, [sondern] sogar der eigentliche Motor der Kultur«9 ist. Was es dennoch braucht ist eine Kultur des Streitens, denn ohne sie kann aus einer simplen Meinungsverschiedenheit kein destruktives Zerwürfnis entstehen. Eine Wertebalance, in der sich das Bemühen um Verstehen und der Mut zur Konfrontation die Waage halten. Gegenläufige Tugenden, gewiss, doch anspruchs- und wirkungsvolle umso mehr: einerseits die Fähigkeit, die Perspektive des 47

Anderen zu ermitteln und nachzuvollziehen, andererseits die Courage, Zorn und Ablehnung nicht nur zu benennen, sondern auch zu bekennen und dabei die sich auftürmende Disharmonie geduldig auszuhalten. Das Gegenüber sollte Partner, nicht Gegner sein. Durch gezieltes Fragen kann das Gegenüber zum Nachdenken über die eigenen Überzeugungen geführt werden. Kein Duell der Predigten, kein zudringliches Nachbohren, kein Zweifeln. Stattdessen freundliches Interesse und gutes Zuhören, nicht Schweigen. Wenn beide Seiten es schaffen, in einer Zeit der Stille die trennenden Momente zu erkennen und sich von alten Mustern zu befreien,10 kann sich der Zwist in einen Twist verwandeln.

48

Epilog

Er sagt, er habe noch einen Dank parat, unverpackt und schleifenlos: für Ideen, Traumdeutungen, Hinweise, Konzeptionen, Zuhören, Argumentieren, Plaudern, italienisch Essen gehen, Fragen und Antworten, Treffen und Verabschieden. Er sagt, was Bachmann und Enzensberger nicht schafften – »wir sollten einmal, das wäre erheiternd, zusammen ein buch machen, ein buch das fliegen kann. eine montgolfière« – sie beide hätten es geschafft. ❦

49

Quellen Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, dwds.de 2 duden.de 3 Richard Reeves, John Stuart Mill – Victorian Firebrand. Michigan, 2007. 4 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, 1798. 5 Natalia Ginzburg, Die kleinen Tugenden. Berlin, 2020. 6 Aristoteles, Nikomachische Ethik. 7 Marie François Pierre Maine de Biran, Der Einfluss der Gewohnheit auf die Fähigkeit des Denkens. Paris, 1801. 8 Bernhard Pörksen, Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus. Heidelberg, 2002. 9 Aleida Assmann, Jan Assmann, Kultur und Konflikt. Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns. In: Jan Assmann, Dietrich Harth (Hrsg), Kultur und Konflikt. Frankfurt am Main, 1990. 10 Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden. Das »Innere Team« und die situationsgerechte Kommunikation. Reinbek bei Hamburg, 2013. 1

51