Zero Comments: Elemente einer kritischen Internetkultur [1. Aufl.] 9783839408049

In diesem dritten Band seiner kritischen Studien zur Internetkultur hinterfragt Geert Lovink den jüngsten »Web 2.0«-Hype

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Zero Comments: Elemente einer kritischen Internetkultur [1. Aufl.]
 9783839408049

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung: Stolz und Ehre des Web 2.0
Blogging – der nihilistische Impuls
Das coole Obskure: Die Krise der Neue-Medien-Kunst
Der Verbleib der deutschen Medientheorie
Bloggen und Bauen: Die Niederlande nach der Digitalisierung
Die Indifferenz der vernetzten Gegenwart: Über Internet-Zeit
Wiederbegegnung mit dem Sarai: Fünf Jahre Neue-Medien-Kultur in Indien
ICT after Development: Das Incommunicado-Programm
Update der taktischen Medien: Strategien für den Medienaktivismus
Axiome der freien Kooperation: Online-Zusammenarbeit auf dem Prüfstand
Thesen zur verteilten Ästhetik
Die Einführung organisierter Netzwerke: Auf der Suche nach nachhaltigen Konzepten
Bibliographie

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Geert Lovink Zero Comments

2008-07-08 10-57-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a6183409544800|(S.

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Geert Lovink (PhD), niederländisch-australischer Medientheoretiker und Netzkritiker, ist Leiter des Instituts für Netzkultur an der Hogeschool van Amsterdam und Associate Professor für Media Studies an der Universität Amsterdam.

2008-07-08 10-57-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a6183409544800|(S.

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Geert Lovink Zero Comments. Elemente einer kritischen Internetkultur

2008-07-08 10-57-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a6183409544800|(S.

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Die Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche kam mit finanzieller Unterstützung des Instituts für Netzkultur, Schule für Interaktiven Medien an der Hogeschool van Amsterdam zustande. Die vorliegende Publikation wurde im Rahmen des Prix Ars Electronica 2007 im Bereich »Media.Art.Research Award« als »Beitrag zum Wissensfeld« anerkannt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © für die dt. Ausgabe transcript Verlag, Bielefeld 2008, sowie der Autor Originalausgabe: Geert Lovink, Zero Comments, Routledge, New York 2007 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Korrektorat: Jennifer Niediek, Bielefeld Übersetzung aus dem Englischen: Andreas Kallfelz, Berlin Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-804-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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)NHALT

Danksagung 7 Einleitung: Stolz und Ehre des Web 2.0 9 Blogging – der nihilistische Impuls 33 Das coole Obskure: Die Krise der Neue-Medien-Kunst 79 Der Verbleib der deutschen Medientheorie 129 Bloggen und Bauen: Die Niederlande nach der Digitalisierung 147 Die Indifferenz der vernetzten Gegenwart: Über Internet-Zeit 167 Wiederbegegnung mit dem Sarai: Fünf Jahre Neue-Medien-Kultur in Indien 181 ICT after Development: Das Incommunicado-Programm 215

Update der taktischen Medien: Strategien für den Medienaktivismus 243 Axiome der freien Kooperation: Online-Zusammenarbeit auf dem Prüfstand 265 Thesen zur verteilten Ästhetik 285 Die Einführung organisierter Netzwerke: Auf der Suche nach nachhaltigen Konzepten 301 Bibliographie 319

$ANKSAGUNG Nach Dark Fiber (2002) und My First Recession (2003) ist dieses das dritte Buch einer Serie mit Studien zur kritischen Internetkultur, die zwischen 2003 und 2006 entstanden. Ich sollte sagen »wir präsentieren«, da diese Arbeit im Vergleich zu meinen früheren Publikationen noch mehr das Produkt eines kollaborativen Netzwerks ist. Ich habe versucht, so oft wie möglich diejenigen zu nennen und zu zitieren, die mit mir ihre Ideen und ihr Material geteilt haben. Es gibt sogar ein spezielles Kapitel zum Thema der »freien Kooperation«, in dem ich die Kunst der (Online-)Zusammenarbeit untersuche. Besonders erwähnen möchte ich Trebor Scholz, mit dem ich die Free-Cooperation-Konferenz in Buffalo, New York im April 2004 organisiert habe; Anna Munster, Ko-Autorin und Ko-Organisatorin des Workshops zu Distributed Aesthetics im Mai 2006 am Wissenschaftskolleg Berlin; Florian Schneider, mit dem ich gemeinsam verschiedene Texte zu Internet-Aktivismus geschrieben habe; Soenke Zehle, Mitbegründer der Incommunicado-Liste und zentral beteiligt bei der Konferenz im Juni 2005; und, last but not least, meinen guten Freund Ned Rossiter, Ko-Autor des Essays zu organisierten Netzwerken, der etwa zur gleichen Zeit wie ich selbst aus Australien nach Europa zog. Mit der Durchsicht zahlreicher Kapitel hat Ned die Ausarbeitung des Buchs in einzigartiger Weise unterstützt. Frühe Studien und die konzeptionelle Entwicklung dieses Buchs erfolgten 2003 am Centre for Critical and Cultural Studies (CCCS) der Universität Brisbane, Australien, wo ich die Gelegenheit hatte, als Postdoc-Stipendiat zu arbeiten. Ich möchte dem Direktor, Graeme Turner, sowie Andrea Mitchell für ihre großzügige Unterstützung danken. Gerard Goggin, Mark McLelland und Graham St. John vom CCCS waren wunderbare Kollegen. Finanzielle Unterstützung erhielt ich durch den Araneum-Preis, den das Ministerio de Industria de España und die Fundacion ARCO für das Konzept vergaben. Dank an Tania Román und Vicente Matallana von LaAgencia, die diesen Preis betreuten. Die Berufung als Forschungsprofessor im Jahr 2004 an die Schule für Interaktive Medien innerhalb der Hogeschool van Amsterdam sowie als Associate Professor im Neue-Medien-Programm Media & Culture innerhalb der Universität Amsterdam war eine Ehre. Insbesondere möchte ich Emilie Randoe, der Leiterin der Abteilung für interaktive Medien für ihre fortdauernde Unterstützung danken. Bald, nachdem wir uns eingerichtet hatten, konnte ich einen Traum

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verwirklichen, die Gründung des Institute for Network Cultures (INC), das ich gemeinsam mit seiner energiegeladenen Organisatorin Sabine Niederer auf baute. Unter ihrer administratorischen Leitung hat das Institut in einem Jahr vier Konferenzen veranstaltet und eine Vielzahl von Veröffentlichungs-, Lehr- und Forschungsaktivitäten gestartet, von denen etliche in dieses Buch einflossen. Ich danke ihr für ihre anhaltende und engagierte Unterstützung und ihre unerschütterliche Freundlichkeit. Dieses Buch entstand zum Teil während meines Fellowships 2005/06 am Wissenschaftskolleg in Berlin und wurde dort auch abgeschlossen. Ich bin in höchstem Maße dankbar für diese Unterstützung, insbesondere allen Mitarbeitern des WiKo. Für die Übersetzung danke ich Andreas Kallfelz, der bei dieser umfangreichen Aufgabe von Isabelle Albrecht, Bonnie Begusch, Susanne Gerber, Ulrich Gutmair, Dario Karimi und Krystian Woznicki unterstützt wurde. Auch danke ich dem transcript Verlag, insbesondere der Lektorin Jennifer Niediek, für die gewissenhafte Durchsicht des Buchs und das hervorragende editorische Engagement. Schließlich gilt mein größter Dank Linda Wallace, Liebe meines Lebens und Komplizin in allen Angelegenheiten, hier auch als Hauptredakteurin, der ich dieses Buch gewidmet habe.

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2005 hatte sich das Netz vom Dotcom-Crash erholt und erlebte, analog zum Zahlenspiel der Weltwirtschaft, seine Wiedergeburt als Web 2.0. 1 Blogs, Wikis und sogenannte soziale Netzwerke wie Friendster, MySpace, Orkut und Flickr wurden als die nächste Welle selbstgewählter Allianzen präsentiert, die die User im Internet suchen. Längst waren virtuelle Gemeinschaften in Misskredit geraten und wurden »assoziiert mit fragwürdig gewordenen Vorstellungen vom Cyberspace als unabhängigem Gemeinwesen sowie mit fehlgeschlagenen Dotcom-Ideen von Gemeinschaften, die sich unter dem Dach internationaler Marken, etwa als Forum auf der Coca-Cola-Website, bilden sollten«. 2 Stattdessen war nun von Schwärmen, Mobs und Mengen (Crowds) die Rede. Die Medien waren sozial geworden. Frischer Wind kam aus dem Bereich der kollaborativen Content-Produktion wie Wikipedia oder dem ›Social Bookmarking‹ bei Digg. BBC erklärte das Jahr 2005 zum »Jahr des digitalen Bürgers«. Der Tsunami von 2004, die Londoner Anschläge vom 7. Juli und der Hurrikan Katrina demons1. 3TATTEINER$ElNITIONDES7EB Z"JENERVON7IKIPEDIA WàRDEICHGERNE AUFDENFOLGENDEN%INTRAGBEI,ISTIBLEVERWEISENWWWLISTIBLECOMLISTCOMPLETE LIST OF WEB   PRODUCTS AND SERVICES 2. #HRISTOPHER!LLEN ,IFEWITH!LACRITY 4RACINGTHE%VOLUTIONOF3OCIAL3OFTWARE /KTOBERWWWLIFEWITHALACRITYCOMINDEXHTML

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trierten die Tatsache, dass Bürger inzwischen eine maßgebliche Rolle in der Produktion von Nachrichten innehaben. Vom Feuer am Buncefield-Öldepot erhielt BBC dann schon 6500 Handy-Bilder und -Clips – einige Tausend mehr, als nach den Londoner Bombenanschlägen eingetroffen waren.3 Der BBC-Bericht kam zu dem Schluss, dass die Medien partizipativer und inklusiver geworden seien. Das ist die Seite des Wahrnehmungsmanagements an der Geschichte. Die Herausforderung besteht in diesem Zusammenhang darin, im EchtzeitModus und auf der Basis von informierter Teilnahme die laufenden InternetDiskurse kritisch zu reflektieren. Trotz einer neuen Generation von Anwendungen, des spektakulären Wachstums der Internet-Bevölkerung und der verstärkten Einbeziehung der User hat sich wenig an den Fragestellungen bezüglich des Internets geändert: Es geht um Unternehmenskontrolle, Überwachung und Zensur, geistiges Eigentum, Filterung, ökonomische Nachhaltigkeit und ›Governance‹. Wie ich in meiner Einleitung zu My First Recession schrieb, war es für mich wichtig, am Ball zu bleiben und der Szene nicht den Rücken zu kehren. Vieles von dem, was ich in diesem Buch behandle, ist ›unfinished business‹. Es ist zweifellos uncool, sich mit ungelösten Problemen auseinanderzusetzen; das Neue zu feiern oder auch zu kritisieren ist wesentlich eher gefragt. Und alte Machtkämpfe lassen sich auch nicht ohne weiteres auf das neue Terrain übertragen. Die Begeisterung für freie kabellose Infrastrukturen, Peer-to-Peer-Netzwerke und soziale Software ist durchaus berechtigt. Dennoch entschied ich mich dafür, mein Augenmerk auf Themen zu richten, die uns schon länger beschäftigen: den stagnierenden Bereich der Neue-Medien-Kunst, den Verbleib der deutschen Medientheorie, den nihilistischen Impuls des Bloggens, die Art und Weise, wie die gefeierte niederländische Architektur die Auseinandersetzung mit dem Internet umgeht, die »ICT for Developement«-Galaxis und ihr »World Summit of the Information Society«, die bodenlose Dimension der Internet-Zeit und den Stand der Neue-Medien-Initiative Sarai in Delhi fünf Jahre nach ihrer Eröffnung. Trotz aller Errungenschaften hat sich die Unklarheit darüber, ob Neue Medien nun Vorreiter-Technologien darstellen oder nur eine Übergangsphase markieren, bis heute nicht aufgelöst. Schließlich habe ich mich zusammen mit anderen dem spekulativen Denken und der gemeinsamen Ausarbeitung von drei Konzepten gewidmet, die in den letzten Jahren entstanden sind: freie Kooperation, organisierte Netzwerke und verteilte Ästhetik. Darüber hinaus aktualisiere ich den Begriff der »taktischen Medien« – ein Mem, das wir in den wilden Neunzigern entwickelt haben. In meiner Auseinandersetzung mit der Internetkultur unterscheide ich drei Phasen: erstens, die wissenschaftliche, vorkommerzielle, textbasierte Periode vor dem World Wide Web; zweitens, die euphorische, spekulative Periode, in welcher das Internet für die breite Öffentlichkeit zugänglich wurde und die in der Dotcom-Manie der späten neunziger Jahre kulminierte; drittens, die PostDotcom-Crash/Post-11.-September-Periode, welche mit der Web 2.0-Mini-Blase zu ihrem Ende kommt. Eigentlich tauchten Blogs, beziehungsweise Weblogs, 3. HTTPNEWSBBCCOUKGOEM HITECHNOLOGYSTM

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schon um 1996-97 auf, also während der zweiten euphorischen Phase; sie blieben damals allerdings unbeachtet, da ihnen die E-Commerce-Komponente fehlte. Die große Veränderung der letzten Jahre lag im Massenzulauf und in der fortschreitenden Internationalisierung des Internets. 2005 überschritt die Nutzerstatistik die Milliardenmarke. Aufgrund selbstgefälliger Ignoranz und eines Mangels an Fremdsprachenkenntnissen blieb die Globalisierung des Internets für die dominante anglo-amerikanische Internetkultur allerdings größtenteils unsichtbar. Viele möchten sich nicht eingestehen, dass der Anteil englischsprachiger Inhalte im Internet weit unter die 30 %-Marke gefallen ist. Das Wachstum hat auch die Nationalisierung des Cyberspace weiter vorangetrieben, was auf die zunehmende Nutzung von Nationalsprachen zurückzuführen ist und die Vorstellung von einem grenzenlosen Netz ein für alle Mal ad absurdum zu führen scheint. Das Gros des Internetverkehrs findet heutzutage auf Spanisch, Mandarin und Japanisch statt, aber das scheint in das dominante Verständnis der Internetkultur angloamerikanisch-westlicher Prägung kaum einzudringen. Noch unübersichtlicher wird das Bild, wenn man das ›Cross Media‹-Potenzial von zwei Milliarden Mobilfunknutzern einbezieht, die Blogomanie im Iran, aber auch die Tatsache, dass Südkorea eine der dichtesten Breitbandinfrastrukturen besitzt, sowie den Aufstieg des Internets in China. In diesem einleitenden Kapitel beabsichtige ich nicht, alle in diesem Buch behandelten Konzepte zusammenzufassen. Stattdessen möchte ich ein paar Themen hervorheben, die aus meiner Sicht den Stand der Dinge für die Zeit zwischen 2003 und 2006 charakterisieren. Einige behandeln die ›Verdüsterung‹ des Internets nach dem 11. September, während andere wiederum die Ökonomie der Internetkultur zum Gegenstand haben. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Technologien wie das Internet vom Prinzip des ewigen Wandels leben. Eine ›Normalisierung‹ ist nicht in Sicht. Die Tyrannei des Neuen regiert, und es ist dieses Echo der Dotcom-Ära, welches das Web 2.0 von der ersten Stunde an so müde aussehen lässt. Wir können die ewige Instabilität als Vermarktungstrick abtun und uns kritisch fragen, warum wir uns immer wieder von den neuesten Geräten oder Anwendungen begeistern lassen. Statt uns vom Lärm des Marktes abzuwenden, können wir uns mit dem ewigen Wandel aber auch versöhnen und sorgfältig ausgewählte und präzise angefertigte Revolutionen genießen. Ein Jahrzehnt nach ihrem Auftauchen und ihrer darauffolgenden rapiden Ausbreitung ist die Internetkultur zwischen widerstrebenden Kräften zerrissen, die es unmöglich machen, noch von allgemeinen Trends, ob in die gute oder schlechte Richtung, zu sprechen. Während der ständige Wandel den Ton angibt und massive Kontrollregime eingeführt wurden, geben zig Millionen Nutzer, die jeden Monat dazukommen, dem Medium unerwartete Wendungen, nehmen das Gegebene an und machen sich Angebote in einer Weise zunutze, wie es kein Marktbeobachter jemals hätte voraussagen können. Der Netzkritiker Nicholas Carr fragt, ob sich ein Gegenargument zum Web 2.0-Hype formulieren ließe. »All die Dinge, die das Web 2.0 repräsentiert – Partizipation, Kollektivismus, virtuelle Gemeinschaften, Amateurismus – werden unbestreitbar zu guten Dingen, Dingen, die es zu begrüßen und zu pflegen gilt, Emblemen des Fortschritts hin zu einem aufgeklärteren Zustand. Aber ist

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das wirklich so?« 4 Die Web 2.0-Befürworter, sagt Carr, »verehren den Amateur und misstrauen dem Professionellen. Wir sehen es an ihrem Lob von Wikipedia, und wir sehen es an ihrer Bewunderung von Open-Source-Software und ihrer Unterstützung des Bloggens als Alternative zu den Mainstreammedien.« Meine Antwort darauf unterscheidet sich von Carr, der sich scheut, die guten Aspekte der klassischen professionellen Strukturen in Frage zu stellen. Das libertäre Lob des Amateurs erwächst aus Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber großen Organisationen, die zu den anarcho-kapitalistischen Rezepten für innovatives Handeln auf Distanz bleiben. Für Wissensmanagementsysteme, die auf geistigem Eigentum basieren, stellt die Nutzung offener Netzwerke eine Bedrohung dar. Umgekehrt wird aus libertärer Sicht der Professionelle durch sein gewerkschaftsähnliches Verhalten zum Hemmfaktor. Die mangelnde Vielfalt der Modelle mündet in einen unartikulierten Widerwillen, über ökonomische Konstruktionen für (angehende) Professionelle nachzudenken, die ohne Urheberrechtsstrukturen auskommen und trotzdem ein Einkommen für ihre Arbeit ermöglichen. Carr verteidigt die Rechercheure, die einen Job in der Medienindustrie haben. »In seinem Artikel We Are the Web schreibt Kevin Kelly, ›dass aufgrund der großen Lust am Schaffen und Verteilen, Online-Kultur die Kultur ist‹. Ich hoffe, dass er falsch liegt, fürchte jedoch, dass er recht hat – oder recht bekommen wird.« Die Frage, die ich hier stelle, lautet, wie das Lob des Amateurs untergraben werden kann, allerdings nicht aus der Perspektive des bedrohten Establishments, sondern aus der Perspektive der kreativen (Unter-)Klasse, der virtuellen Intelligenz, des Prekariats, der Multitude, die versucht, ihre soziale Position als Neue Medienschaffende zu professionalisieren. Was wir brauchen, sind ökonomische Modelle, die ambitionierte Amateure darin unterstützen, mit ihrer Arbeit ein angemessenes Einkommen zu erzielen. »Jeder ist ein Professioneller.« Damit verknüpft ist die noch immer ausstehende Debatte um professionelle Standards, Zertifizierungen und Kodizes: Was ist Webdesign, wer kann es machen, und wie viel kostet es? Wie werden die neuen mit Computernetzwerken verbundenen Funktionen in bereits vorhandene Institutionen wie Krankenhäuser, Gewerkschaften und Museen integriert? Wir können das nicht beantworten, bevor wir nicht die Arbeitspraktiken kodifiziert haben, wie das etwa die Zünfte in der Vergangenheit gemacht haben und wie es Standesorganisationen auch heute machen. Besteht das Ziel der Professionalisierung der Arbeit in den Neuen Medien darin, neue, separate Sektoren in der Gesellschaft zu schaffen oder sollten wir eher darum bemüht sein, die Aufgaben in den bestehenden Professionen aufgehen zu lassen? Ich werde diese Fragen eingehender diskutieren, wenn ich später das Beispiel der Neue-Medien-Kunst in ihrem Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst betrachte: Ist Selbstreferentialität ein Zeichen der Reife oder eher eines der untragbaren Ghettoisierung? Können wir für eine radikale Transdisziplinarität eintreten und gleichzeitig einen Archipel der Mikro-Disziplinen erschaffen? Solche Fragestellungen lassen sich durch grundlegende, pra4. .ICHOLAS#ARR w4HE!MORALITYOF7EBi 2OUGH4YPE /KTOBERWWW ROUGHTYPECOMARCHIVESTHE?AMORALITY?OPHP

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xisbezogene Forschung angehen, was auch mein Leitbild war bei der Gründung des Institute of Network Cultures im Jahre 2004.

+REUZR IT TERDER&REIHEIT Immer noch finden sich längst überholte Fragmente der Internet-Ideologie der neunziger Jahre. Es handelt sich dabei großenteils um vereinfachende Konzepte, die die freiheitsliebenden, jungen User ansprechen. Nehmen wir zum Beispiel den Blogger Ian Davis, für den das Web 2.0 »nicht nur eine Technologie, sondern eine Haltung ist. Es geht darum, durch offene Anwendungen und Dienste Möglichkeiten und Anregungen zur Partizipation zu schaffen. Mit ›offen‹ meine ich technisch offen, aber, und das ist wichtiger, auch sozial offen, mit entsprechenden Rechten, die es möglich machen, Inhalte in neuen und aufregenden Zusammenhängen zu benutzen. Natürlich ging es im Web immer schon um Teilnahme, und ohne sie gäbe es gar nichts. Seine größte Errungenschaft, der vernetzte Hyperlink, hat von vorneherein zur Teilnahme ermuntert.«5 Oder lesen wir die griffige Selbstdefinition von Digg: »Bei Digg dreht sich alles um die Inhalte der Nutzer. Teile, entdecke, bookmarke und verbreite die Nachrichten, die Dir wichtig sind!« Es reicht nicht aus, die Verführungskraft dieser techno-libertären Haltung in einem akademischen Periodikum oder auf einer Mailingliste zu dekonstruieren. Der Rebellen-Business-Talk des Wandels wurde bislang noch nicht einmal ansatzweise demontiert. Keine Dissidenten sind bislang aufgestanden, um gegen die scheinheilige Agenda Einspruch zu erheben, die sich hinter der Rede vom ›Freien‹ und ›Offenen‹ in der breiteren Öffentlichkeit verbirgt. Was man allerdings tun sollte: von den Gurus des ›Freien‹ verlangen, jedes Mal, wenn sie die nächste kulturelle oder soziale ›Freiheit‹ schaffen, auch ein entsprechend innovatives ökonomisches Modell zu liefern. Visionärer nimmt sich dagegen eine Liste aus, die der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales erstellt hat: zehn Dinge, die frei sein werden. Diese Liste wurde von David Hilberts Rede beim Internationalen Kongress der Mathematiker in Paris im Jahre 1900 inspiriert, die 23 ungelöste Probleme in der Mathematik präsentierte. Neben der naheliegenden Freien Enzyklopädie und dem Freien Wörterbuch wären da Schulbücher, Karten, Gemeinschaften, akademisches Publizieren, Musik und Kunst, aber auch TV-Programmlisten, Produktverzeichnisse, Suchmaschinen und Dateiformate.6 Richard Stallman, Pionier der Freie-Software-Bewegung, hat es nie geschafft, das Missverständnis aufzulösen, dass für ihn ›frei‹ nicht ›kostenlos‹ bedeutet, sondern die Freiheit, Computercode zu verändern. Für mich besteht keine unmittelbare Verbindung zwischen frei und Freiheit. Dinge, die einfach kosten-frei sind (im Sinne von ›Freibier‹), mögen zur Befriedigung von Millionen führen, um doch nur die Tatsache zu verschleiern, dass ihre Propheten und die virtuelle Klasse im Allgemeinen an anderer Stelle der Verwertungskette absah5. HTTPIANDAVISCOMBLOGTALIS WEB  AND ALL THAT 6. 3IEHE %THAN :UCKERMAN w4EN OR -AYBE A $OZEN 4HINGS 4HAT 7ILL "E &REEi /KTOBERWWWWORLDCHANGINGCOMARCHIVESHTML

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nen. Die Betonung, die Lawrence Lessig, Tim O’Reilly, Joy Ito und viele andere auf das Recht legen, Mainstream-Inhalte neu zu mischen, ist zwar legitim, aber nicht entscheidend, da die meisten emporstrebenden Künstler ihre eigene Kunst herstellen. Es ist ein falsches Klischee der Postmoderne, wenn man behauptet, die kulturelle Produktion der Gegenwart bestehe ausschließlich aus Zitaten. Die ausschließliche Ausrichtung auf junge und unschuldige Amateure, die einfach Spaß haben wollen, und die Abneigung gegenüber Professionellen ist kein purer Zufall. Amateure neigen weniger dazu, ihre Stimme zu erheben, wenn es darum geht, ihren Anteil am steigenden Mehrwert einzufordern, den das Internet sowohl in symbolischer Hinsicht als auch konkret monetär hervorbringt. Professionelle, die schon eine Weile dabei sind, dürften verstehen, welche Implikationen es für Content-Produzenten haben wird, wenn der Geldfluss eines Tages nicht mehr durch Buchverlage, sondern durch einen Giganten wie Google kontrolliert wird. Hier ist es wichtig, auf nachhaltige Einnahmequellen jenseits der gegenwärtigen Copyright-Systeme hinzuarbeiten. Die Untugenden der Internet-Architektur müssen bekannt sein (und dürfen nicht unhinterfragt bleiben), damit ihre Tugenden erhalten bleiben. Die Ideologie des Freien als eine ihrer Schlüsselkomponenten gehört zur schlüpfrigen Sprache des Business. In seinem Essay »The Destruction of the Public Sphere« sagt Ross McKibben, dass eine der stärksten Waffen des Marktmanagements sein Vokabular sei: »Wir sind damit vertraut, wie diese Sprache allem den Weg geebnet hat. Wir müssen auf dem Sprung sein, darauf setzen, zu einem Exzellenz-Zentrum zu gehören, produzierende Industrien verachten, uns eine Vielzahl von Anbietern wünschen, vor unseren Managern und mehr noch den Geschäftsführern kriechen, akkumulierte Ergebnisse liefern, Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Unsere Studenten sind von jetzt ab Klienten, und unsere Patienten und Passagiere Kunden.«7 McKibben zufolge handelt es sich um eine Sprache, die zunächst in den Business Schools geprägt wurde, dann in die Regierung vordrang und nun alle Institutionen heimsucht. w3IE HAT KEINEN WIRKLICHEN HISTORISCHEN 6ORLËUFER UND IST ENORM VERFàHRERISCH 3IE GIBT VOR NEUTRAL ZU SEIN )N DIESEM 3INNE MàSSEN ALLE 6ORGËNGE kTRANSPARENTj UND kROBUSTjSEIN JEDERISTkRECHENSCHAFTSPmICHTIGj3IEISTRàCKSICHTSLOS ABERERFOLGREICH WEILDERPRIVATE3EKTOR AUSDEMSIESTAMMT EBENFALLSRàCKSICHTSLOSUNDERFOLGREICH IST3IEISTEFlZIENTSIEVERABSCHEUT6ERSCHWENDUNGSIEHATALLDIE!NTWORTEN3IE BEmàGELTE4HATCHERS5NTERNEHMENSKULTUR3IEHATMEHR-ACHTALSDIE!RTVON3PRACHE DIE&LAUBERTIM%JDUJPOOBJSFEFTJEnFTSFmVFTZUM'EGENSTANDSEINER3ATIREMACHTE DA SIE SOLËCHERLICHSIEAUCHSEINMAG MA”GEBLICHPRËGT WASUNSEREPOLITISCHENUND ÚKONOMISCHEN %LITENàBERDIE7ELTDENKENi

»Gib alles umsonst raus (freien Zugang, kein Copyright); berechne lediglich die zusätzlichen Dienstleistungen, die dich reich machen werden.« Das ist das erste der »Zehn liberalen kommunistischen Gebote«, die Olivier Malnuit im französi7. 2OSS -C+IBBEN w4HE $ESTRUCTION OF THE 0UBLIC 3PHEREi ,ONDON 2EVIEW OF "OOKS *ANUARWWWLRBCOUKVNMCKI?HTML

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schen Magazin Technikart veröffentlichte. Einer, der diese Werte wie kein zweiter verkörpert, ist der japanische Risikokapitalist, Hacker und Aktivist Joi Ito. Slavoj Žižek zitiert Malnuits Gebote und führt Bill Gates und George Soros als liberale Kommunisten auf. Žižek sagt: w$ER 3IGNIlKANT DER LIBERALEN KOMMUNISTISCHEN .ACHRICHTENSPRACHE IST kSMARTj 3MART ZU SEIN BEDEUTET DYNAMISCH NOMADISCH UND GEGEN ZENTRALISIERTE "àROKRATIE ZU SEIN AN $IALOG UND :USAMMENARBEIT ZU GLAUBEN STATT AN ZENTRALISIERTE !UTORITËT AN &LE XIBILITËT STATTAN2OUTINE AN+ULTURUND7ISSEN STATTANINDUSTRIELLE0RODUKTION AN SPONTANE)NTERAKTIONUND!UTOPOIESIS STATTANSTARRE(IERARCHIEN)HR$OGMAISTEINE NEUE POSTMODERNE6ARIANTEVON!DAM3MITHSUNSICHTBARER(AND$ER-ARKTUNDSOZIALE 6ERANTWORTUNGSINDKEINE'EGENSËTZE SONDERNKÚNNENZUMGEGENSEITIGEN.UTZENWIE DERVEREINIGTWERDENi

Žižek sagt des Weiteren, dass liberale Kommunisten pragmatisch seien; sie hassen einen doktrinären Ansatz: »Es gibt heute keine ausgebeutete Arbeiterklasse mehr, lediglich konkrete Probleme, die gelöst werden müssen: Hungersnot in Afrika, das Schicksal der muslimischen Frau, religiöse fundamentalistische Gewalt.« Žižeks Fazit dürfte nicht überraschen: »Wir sollten keine Illusionen haben: liberale Kommunisten sind heutzutage der Feind eines jeden wahrhaft progressiven Kampfes.« Sie gäben mit der einen Hand das heraus, was sie mit der anderen Hand an sich reißen. Dies verweist auf den Kern der Internet-Ideologie, die uns im Glück der Geschenkökonomie des Freien wiegt, während sie uns gegenüber dem, was wir tatsächlich bezahlen, blind macht. Žižek spricht von der Notwendigkeit, in Fällen, wo es um Rassismus, Sexismus und Antisemitismus geht, auch Bündnisse mit den liberalen Kommunisten einzugehen. Aber wie steht es mit dem Internet? Ist es nicht an der Zeit, sich von den Agenden zu lösen, die man mit den Libertären teilt, zum Exodus aufzurufen und sie mit ihrer Doppelmoral zu konfrontieren? Felix Stalder und Konrad Becker fassen den Kampf für die Medienfreiheit auf treffende Weise zusammen: w$AS:IELBESTEHTDARIN NEUE7EGEZUENTWERFEN AUFDENEN)NFORMATIONENZWISCHEN VERSCHIEDENEN /RTEN UND -ENSCHEN FREI mIE”EN KÚNNEN 3TATT EINER ZUNEHMENDEN &RAGMENTIERUNG SOLLTEN )NFORMATION UND +ULTUR ALS 2ESSOURCEN GELTEN DIE KOLLEKTIV PRODUZIERT UND GENUTZT UND NICHT VON JEWEILIGEN %IGENTàMERN KONTROLLIERT WERDEN $IE-ENSCHENSOLLTENDIE&REIHEITHABEN AUFDIE)NFORMATIONENZUZUGREIFEN DIEIHREN BIOGRAPHISCHENUNDPERSÚNLICHEN"EDàRFNISSENENTSPRECHEN STATTAUFDIESTANDARDI SIERTEN0RODUKTEVON-C7ORLDANGEWIESENZUSEINi 

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Mein Standpunkt in diesem Zusammenhang ist, dass wir nur dann weiter nach Freiheit rufen können, wenn wir auch antagonistische Aussagen zum ›Status der Freien‹ treffen. Wir sollten nicht weiter auf unkritische Weise Creative Commons, Open Source und ›Wissen für alle‹-Plattformen wie Wikipedia unterstützen, wenn ihre ideologischen Prämissen nicht hinterfragt werden.

)NTERNET $SCHIHADINDEN.IEDERLANDEN Eine einschneidende Zäsur während der Recherchen zu diesem Buch war die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh durch den muslimischen Fundamentalisten Mohammed Bouyeri am 2. November 2004, zwei Blocks entfernt von unserer Wohnung im östlichen Teil Amsterdams. Van Gogh hatte einige Monate zuvor zusammen mit dem damaligen Mitglied des niederländischen Parlaments, Ayaan Hirsi Ali, einen Film über die Stellung der Frau im Islam gedreht. Die Neue-Medien-Komponente des gewalttätigen islamischen Fundamentalismus hat für mich eine Reihe von ethischen Fragen aufgeworfen, die weit über jene Auseinandersetzungen mit »Trollen« (notorischen Störenfrieden) hinausgehen, die ich in meinen früheren Publikationen beschrieben habe. Mailinglisten-Moderatoren, Community-Sites und Provider finden sich ständig in der unbequemen Position wieder, mit einer Internetkultur umgehen zu müssen, die, außer Kontrolle geraten, ihrem Wunschbild einer offenen und freien Sphäre zuwiderläuft. Mohammed B. (wie er in der niederländischen Presse bis zu seiner Verurteilung genannt wurde) und seine Freunde nutzten das Internet intensiv als Plattform, um ihre Ansichten zu formulieren und zu verbreiten. Sie waren in diversen Diskussionsforen aktiv und erstellten selbst Webseiten. So führten sie eigene Webseiten für Dschihad-Kämpfer – häufig als MSN-Gruppen, etwa unter dem Namen »5434« und »twaheedwljihad«.10 Auch van Gogh zählte mit seiner Website De Gezonde Roker (Der gesunde Raucher) zu den Akteuren des niederländischen Internets. Weblogs waren im Jahre 2004 in den Niederlanden überaus beliebt. Der Hype war in vollem Gange und jede Menge Berühmtheiten, vom Minister bis zum Schnulzensänger, betrieben ihr persönliches Blog. Die Phänomene, die der Ermordung van Goghs vorausgingen – der konspirative Chat, die massive Online-»Hate Speech«, das »Peerto-Peer-Sharing« von Enthauptungsvideos – bilden den finalen Höhepunkt der Demokratisierung des Internets. Von da ab war es nicht mehr angebracht, vom demokratischen Potenzial der Neuen Medien zu reden. Internet und Mobiltele10. )NDER-3. 'RUPPEwiERKLËRTEIM!PRIL!BOE1ATAADAH WIEMAN SICH BEIM 3CHIE”UNTERRICHT VERHALTEN SOLLTE )N DER -3. 'RUPPE wTAWHEEDWLJIHADi NAHM!BOE1ATAADAHZUR&RAGE3TELLUNG OBDERJENIGE DERDEN0ROPHETENMISSBRAUCHT GETÚTETWERDENSOLLTE3EINE!NTWORTw%SISTEINE6ERPmICHTUNG DENJENIGENZUTÚTEN DERDEN0ROPHETENMISSBRAUCHT GANZGLEICH OBER-USLIMODER+AAlREIN5NGLËUBI GER IST5ND(IRSI!LIUND4HEOVAN'OGHnDIESE3CHWEINE DIEDEN0ROPHETENMISS BRAUCHTHABENnIHRE3TRAFEWIRDDER4ODSEINUNDIHR4AGWIRDKOMMEN SO!LLAHES WOLLEi!USEINEM"ERICHTVON"ENSHOP

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fone hatten die Gesellschaft so weit durchdrungen, dass es lächerlich erschien, nach den Auswirkungen der Technologie zu fragen, als ob sie noch bevorstünden. Zumindest in den Niederlanden waren das Internet und die Gesellschaft vollends miteinander verschmolzen. Warum also sollte man überrascht sein, dass »radikale Verlierer« (ein von Hans Magnus Enzensberger geprägter Begriff)11 Websites auflegen, Datenordner verschieben, E-Mail-Mitteilungen austauschen, in Webforen und Newsgroups diskutieren und via Chats, Instant Messaging oder Video-Conferencing kommunizieren? Im Oktober 2005 veröffentlichte der an der Amsterdamer Universität tätige Forscher Albert Benshop einen Bericht über den Van-Gogh-Fall, in dem er den Neue-Medien-Aspekt herausarbeitete. Benshop sieht das Internet als einen Freistaat und Zufluchtsort für merkwürdige Meinungen. Theo van Gogh hatte, genau wie sein Mörder, gelernt, wie man ihn für sich nutzen kann. Als Kolumnist war van Gogh von vielen Zeitungen aufgrund seiner außergewöhnlich beleidigenden Texte ausgeschlossen worden; Texte, die nach niederländischem Recht, im Namen von Toleranz und Freiheit des Individuums, legal waren; ein im niederländischen Selbstverständnis ganz elementarer Freiraum. Folgen wir Benshops Analyse, so müssen wir die Verschiebung innerhalb der politischen Landschaft der Niederlande hin zu einer rechtspopulistischen Gesinnung unter Pim Fortuyn (der im Jahre 2002 ermordet wurde) mit einer spezifischen Auslegung der Internet-Freiheit gegenlesen. Theo van Gogh sah das Internet als das einzige Medium, in dem er sich frei ausdrücken konnte. Wie Benshop in seiner »Chronik eines angekündigten politischen Mordes« anmerkt: w$AS!UFKOMMENEINESPOPULISTISCHEN&ORTUYNISMUSINDEN.IEDERLANDENGING(ANDIN (ANDMITEINER6ERHËRTUNGDERPOLITISCHEN$EBATTEUNDEINER6ERSCHËRFUNGDES$EBAT TIERSTILS%SWARSCHWERZUàBERSEHEN DASSVIELE,EUTE DIEDAS)NTERNETNUTZTEN MA” GEBLICHZUDIESERPOLARISIERTEN6ERHËRTUNGBEIGETRAGENHABEN6IELE$ISKUSSIONSFOREN SINDZU:UmUCHTSORTENFàR,EUTEDEGENERIERT DIESICHGEGENSEITIGZUTIEFSTBELEIDIGEN VERLEUMDENUNDSOGARMITDEM4ODBEDROHENi

Wenn seit dem 11. September eine Polarisierung der Gesellschaft zu verzeichnen ist, dann wird diese durch die libertäre Architektur des Netzes, die eine bedingungslose und absolutistische Redefreiheit gewährleistet, noch verstärkt. 13 Wie Benshop anmerkt: 11. (ANS-AGNUS%NZENSBERGER w$ERRADIKALE6ERLIERERi $ER3PIEGEL  12. !LBERT"ENSHOP w+RONIEKVANEEN!ANGEKONDIGE0OLITIEKE-OORDi *IHADIN .EDERLAND 5TRECHT&ORUM /KTOBER$IEENGLISCHEÄBERSETZUNGKANNHIERABGE RUFENWERDENWWWSOCIOSITEORGJIHAD?NL?ENPHP 13. "ENSHOPS"ERICHTZUFOLGEBESCHLOSS,EEFBAAR.EDERLAND,EBBARE.IEDERLANDE IM 3EPTEMBERAUFGRUNDZAHLREICHERDISKRIMINIERENDER"EITRËGE SEIN$ISKUSSIONSFORUMZU SCHLIE”EN,EEFBAAR.EDERLANDHATTENICHTGENUG&REIWILLIGE UMAUSDEM2UDERLAUFENDE $ISKUSSIONENWIEDERINDIERICHTIGE"AHNZULENKEN.ACHDEM-ORDAN0IM&ORTUYNAM -AIWURDEDER4ONINVIELENÚFFENTLICHEN$ISKUSSIONSFORENMERKLICHGEWALTTËTIGERUND BÚSARTIGER 3IE WURDEN MIT HASSERFàLLTEN !USEINANDERSETZUNGEN RASSISTISCHEN 3TELLUNG

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Junge holländische Muslime besuchten häufig Seiten wie »How to Prepare Myself for Jihad«, wo für den Kampf in Tschetschenien geworben wurde. Auf der jugendorientierten marokkanischen Website mocros.nl wurde Theo van Gogh monatelang mit dem Tod bedroht. Bereits im April 2004 wurde ein Bild des Filmemachers in einem Forum von mocros.nl gepostet, mit dem Untertitel »When is it Theo’s turn?«, eine Art Plakat, auf dem über van Goghs Hals, Brust und Kopf eine Zielscheibe mit sieben Einschusslöchern gelegt war. »Allah wird sich dieses Schweins schnell entledigen.« Mohammed B. hat das Internet benutzt, um Texte über den radikalen Islam zu finden, die dann wiederum ins Niederländische übersetzt wurden. Die öffentliche Reaktion auf den Mord war ähnlich extrem. Auf marokkanischen Websites und Diskussionsforen gab es – bevor sie sich wieder mäßigten – viele Beiträge von Islamisten, die unmissverständlich zu verstehen gaben, das gottlose Schwein habe endlich bekommen habe, was es verdiente, Allahs Wille habe triumphiert und van Gogh eine angemessene Dosis seiner eigenen Medizin erhalten. »Gepriesen soll jener Märtyrer sein, der Theo van Gogh erschossen hat! So kommen die Zionisten und ihre Diener zu ihrem blutigen Ende!« Albert Benshop sagt dazu: »Bei vielen Leuten wandelte sich die Trauer über van Goghs Tod in eine außergewöhnliche Aggressivität gegenüber allem, was als ›kulturell unrein‹ wahrgenommen wurde. Wir waren zu schwach und sollten zurückschlagen.« »Wir können in unserem Land nicht einmal mehr unsere Meinung frei äußern.« (Angelica) Abgesehen von großem Auf begehren gegen die Einschränkung der Redefreiheit und sinnlose Gewalt, forderten die Menschen mehr Gewalt: nämlich Rache. »Vielleicht sollten wir einen Imam das nächste Mal kalt machen, wenn er mal wieder Feuer an die niederländische Gesellschaft legt.« (anonym) »Wer zündet die erste Moschee an? Ich hoffe, es gehen viele in Flammen auf.« (holländische Person) »Holländer, wacht auf! Es ist Zeit, dass wir das Gesetz in die eigene Hand nehmen und damit in den unterprivilegierten Gegenden anfangen.« (Henk) »Wirf den Abschaum aus dem Land und schließ die Türen!« (Leo) Soviel zur berüchtigten holländischen Toleranz. Gesellschaften in Aufruhr, wie die Niederlande, produzieren mehr (digitale) Daten als man jemals verarbeiten kann. Nur wenige Wissenschaftler sind technisch und linguistisch in der Lage, die Vielfalt der beweglichen translokaNAHMENUNDPROVOKATIVEN4ODESDROHUNGENGERADEZUàBERSCHWEMMT!UCHDIE4AGESZEI TUNG!LGEMEEN$AGBLADKONNTEMITEINERSOLCHENMASSIVEN&ORMDES&ORUM 6ANDALISMUS NICHTUMGEHENUNDSCHLOSSDASOFFENE&ORUM UMSPËTEREINNEUESZUERÚFFNEN BEIDEM SICHABERJEDER"ESUCHER DERANDER$ISKUSSIONTEILNEHMENWOLLTE REGISTRIERENMUSSTE

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len Chat-Räume, Blogs und Sites im Auge zu behalten. Die detaillierte empirische Studie von Albert Benshop verlangt nach einer kritisch-theoretischen Weiterführung sowie einem Umlenken im Bereich der Internet-Studien, weg von weichem Konstruktivismus und Ideologiekritik und hin zu einem wertfreien Ansatz, der nicht davor zurückschreckt, sich in die dreckigen Untiefen des Alltags der Netzwerkgesellschaft zu begeben. Wir müssen uns von Theorien verabschieden, die das Internet mit Demokratie und der Ermächtigung von Identität und des Guten gleichsetzen. Die Studie des Theo van Gogh-Falls ist bei weitem nicht die einzige. Howard Rheingold, der Autor von Smart Mobs, musste seine optimistische Vision, dass (mobile) Technologien in den Schwärmen die Macht des Guten wecken, revidieren. Die Macht der Vielen kann uns in jede Richtung führen. Während der Strandunruhen in Sydney im Dezember 2005 wurden Tausende von Demonstranten durch SMS-Nachrichten mobilisiert, die dazu aufriefen, die Strände von Libanesen und anderen Menschen, die ein fernöstliches Aussehen haben, zu säubern.14 In einem anderen Zusammenhang paralysierten Mitglieder der PCC-Bande in São Paolo die Metropole aus ihren Gefängniszellen heraus mit einer Einschüchterungskampagne, bei der sie SMS-Messaging sowie eine Fernsehstation einsetzten, die ein HandyInterview mit jemandem, der sich als der PCC-Anführer ausgab, ausstrahlte. 15 Als Reaktion darauf plante die brasilianische Regierung, ein Gesetz einzubringen, das Mobilfunkfirmen dazu verpflichtet, in den Gefängnissen Geräte zu installieren, die ihre Signale blockieren.

w7IRHABENDEN+R IEGVERLORENi Die von den koalierenden Regierungen wie im Copy-Paste-Modus willig übernommenen Homeland-Security-Maßnahmen der Bush-Administration haben ein tieferes Verständnis der Internet-Ideologie erschwert. Gleichzeitig ist es den Krieg-gegen-den-Terror-Maßnahmen zu verdanken, dass reine und ehrenwerte libertäre Ideen, wie cool, rebellisch und – einmal mehr – gegenkulturell zu sein, eine Renaissance erleben durften. Vor diesem Hintergrund schrieb Frank Rieger, ein führender Hacker des deutschen Chaos Computer Clubs, im Jahre 2005, statt wie sonst üblich seinen Optimismus zu bekunden, eine ›Kapitulationserklärung‹. In seinem mit »We Lost the War. Welcome to the World of Tomorrow«16 übertitelten Manifest lässt er durchblicken, dass seine hegemoniale Strategie, als Computerprogrammierer den obwaltenden Mächten gegenüber 14. 3IEHE'ERARD'OGGIN w4RANSMITTING2ACEONA3YDNEY"EACHi IN-#*OUR NAL 6OL )SSUE -ËRZHTTPJOURNALMEDIA CULTUREORGAU GOGGIN PHP 3IEHE AUCH w!NGELA 5NDER THE "EACH THE "ARBED 7IREi -ETAMUTE  &EBRUAR WWWMETAMUTEORGQEN5NDER THE "EACH THE "ARBED 7IRE 15. 'LOBAL6OICES -AI 16. #HAOS#OMPUTER#LUB(G %JF%BUFOTDIMFVEFS "ERLIN  3 "A SIERENDAUFDIESEM4EXTHIELTDER!UTOR&RANK2IEDELZUSAMMENMITDEM'RàNDERVON w(ACKTICiUNDw8SALLi 2OP'RONGGRIJP EINEN6ORTRAGBEIDER### +ONFERENZIM

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einfach eine Wissensüberlegenheit zu beanspruchen, nicht mehr funktioniert. Rieger ruft seine Gemeinde dazu auf, erneut zu untersuchen, was unter den gegebenen Umständen als Underground-Haltung gelten kann. Der Text beginnt mit dem mysteriösen Satz »Einen Krieg zu verlieren, ist keine schöne Sache« Sein Bild der siegreichen Stimmung um 2000, also kurz vor dem DotcomCrash und dem 11. September, scheint treffend zu sein. »Wir haben Y2K fast ohne Kratzer überstanden. Die Weltsicht war daraufhin auf angenehme Weise optimistisch. Die New-Economy-Blase hielt uns alle mit interessanten Aufgaben auf Trab und stellte uns eine Menge Kohle in Aussicht. Wir hatten die ClipperChip-Debatte gewonnen und die Kryptographie-Regulierung war, zumindest für unsere Begriffe, ad acta gelegt worden. Die Wellen der technologischen Entwicklung schienen sich meist zum Nutzen der Freiheit auszuwirken.« Heutzutage, sagt Rieger weiter, »ist Demokratie längst passé«. Der 11. September werde von der Elite dazu instrumentalisiert, repressive Gesetze durchzudrücken, die sonst, wenn nicht einhellig abgelehnt, so doch zumindest kritisiert würden. »Durch offensichtlich stupide Außenpolitik und sinnlose Geheimdienstmaßnahmen aus der terroristischen Bedrohung einen Elefanten zu machen, stellt eine nützliche Methode dar, um die Etablierung eines demokratisch legitimierten Polizeistaats durchzusetzen.« Er verweist darauf, dass Hacker nun auf genau dieselben Mittel zurückgreifen müssen, die sie einst verabscheuten. Aufgrund massiver Investitionen in die innere Sicherheit sei die Internetkultur im Wandel. Anonymität, warnt er, werde zu einem kostbaren Gut. »In Communities, die ein hohes Bewusstsein und Interesse für den Schutz der Privatsphäre haben, sind geschlossene Benutzergruppen schon auf dem Vormarsch.« Eine dezentralisierte Infrastruktur werde gebraucht. In erster Linie jedoch Spaß! »Das Ziel muss darin bestehen, Überwachung auf so beleidigende und erniedrigende Weise wie nur möglich bloßzustellen, so dass die Leute was zu Lachen haben. Dies verhindert außerdem, dass wir frustriert und müde werden. Wenn kein Spaß in Aussicht gestellt werden kann, das System zu schlagen, dann werden wir müde und sie werden gewinnen. Also lasst uns flexibel sein, kreativ und lustig, statt böse, ideologisch und halsstarrig.« Es ist interessant zu beobachten, dass diese Ausführungen, ob ihnen nun eine vom Verschwörungsgedanken getriebene Paranoia zugrunde liegt oder nicht, keine Aussagen darüber treffen, was Leute im Netz wirklich tun. Die Kluft zwischen der Klasse der Code-Hacker und den zig Millionen, die mit Chatten, Skypen, Linken, Googeln und E-Mailen beschäftigt sind, ist größer denn je. Die Millionen ganz normaler User existieren schlichtweg nicht. Der Kampf um das Internet wird als eine heroische Schlacht zwischen Hackern und Sicherheitskräften dargestellt. Nicht einmal als Zuschauer werden die Nutzermassen in Betracht gezogen. Die High-Low-Unterscheidung, die einst den TV-Diskurs plagte, kehrt hier zurück, nur mit dem Unterschied, dass die eine Milliarde Internetnutzer einfach nicht vorkommt.

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Es ist wichtig, den Web 2.0-Hype zu analysieren und die Unterschiede zur Dotcom-Ära der späten Neunziger herauszuarbeiten. Die Tage der ausgestorbenen Portale sind lange vorbei. Stattdessen laufen Bands und Brands – im Bemühen, ihren eigenen Beliebtheitsgrad zu steigern – den wandernden User-Horden hinterher. Die Einsicht, die wir im Vergleich zu 1999 gewonnen haben, ist, dass Menschen nicht wegen E-Commerce ins Web ziehen, sondern um dort Unterhaltungen zu führen.17 In diesem Sinne zieht es beispielsweise Trebor Scholz vor, von »soziablen Webmedien« zu sprechen, im Gegensatz zum »Web 2.0«-Begriff, den Tim O’Reilly geprägt hat. In einem Posting an die iDC-Liste schreibt Trebor: »Der Begriff Web 2.0 ist im Grunde nur eine weitere betrügerische Blase, die entworfen wurde, um Investoren Neuerung vorzugaukeln. Das funktioniert wie bei McDonald’s: ewiges Neuverpacken von schmierigen Rindfleischschichten, um alle sechs Monate ein neues Produkt zu verkaufen.«18 Nichtsdestotrotz sind die unterschiedlichen Anwendungen, die unter dem Begriff Web 2.0 zusammengefasst werden, relativ neu, wie auch die Millionen User, die soziale Netzwerke wie Digg und Facebook und Websites wie Wikipedia nutzen. Nicht zu vergessen sind natürlich auch die ökonomischen Prozesse, die über eBay oder Craiglist ablaufen. In demselben Mailinglisten-Thread ist zu lesen, dass den Technologen Andreas Schiffler am Web 2.0 am meisten die Wiederentdeckung bereits bestehender Technologien wie RSS Netscape 1999, AJAX XML/HTTP Request IE5, DHTML/CSS IE5 fasziniert. Diese waren vor allem bei Browser-basierten Firmen im Einsatz und verwandelten sich dann in ein soziales Phänomen. Es scheint einfach nicht angemessen, die mehr als 70 Millionen MySpace-Benutzer als bloße Opfer der Medienkonzerne zu begreifen, nur weil Rupert Murdochs Newscorp irgendwann die Website kaufte. Aber für Firmenberater, Hacker und Medienaktivisten ist es offenbar überaus schwer, vom zentralistischen Sendermodell wegzukommen und die massive Zunahme der von Nutzern generierten Inhalte ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Die Verachtung gegenüber AOLUsern, die auf ihre elenden Microsoft-Produkte angewiesen sind, sitzt eben tief, zeigt im Grunde aber nur, dass die Early-Adopter-Eliten des Internets schon seit längerer Zeit den Anschluss an die neuesten Entwicklungen verloren haben. Den Befürwortern des Web 2.0 wurde zu Recht vorgeworfen, aufstrebende Seiten zu hypen, damit sie an Risikokapitalisten verkauft werden können, die dann das Management ersetzen und die User vergraulen, die dann weiterziehen, 17. $IESER6ERWEISGILTDERBERàHMTEN0HRASEAUSDEM#LUETRAIN-ANIFESTw-AR KETS ARE GETTING SMARTER n AND GETTING SMARTER FASTER THAN MOST COMPANIES THESE MARKETSARECONVERSATIONSiWWWCLUETRAINCOM 18. 4REBOR3CHOLZ w!GAINST7EBi $ISKUSSIONAUFDER)$#-AILINGLISTE -AI $IEFOLGENDEN:ITATESINDALLEAUSDEMGLEICHEN4HREAD

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um andernorts den Beginn eines neuen Zyklus auszulösen. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte. Jon Ippolito sagt: »Die Innovation des Web 2.0 in Abrede zu stellen, nur weil Risikokapitalisten diesen Begriff dazu missbrauchen, um mehr Geld aus den Investoren herauszupressen, bedeutet soviel wie die Umweltbewegung in Abrede zu stellen, nur weil britische Politiker plötzlich grüne Flaggen schwingen, um Wählerstimmen zu gewinnen. Lasst uns nicht die Spekulanten mit den Communities verwechseln.« Saul Albert wiederum gibt zu, dass »nichts falsch ist an einem Geschäftsvorschlag, solange man die heikle Balance zwischen den eigenen Ansprüchen und den Imperativen der Investoren und Anzeigenkunden halten kann«. Dann gibt er del.icio.us als Beispiel an, das, kurz bevor es gekauft wurde, einmal die Möglichkeit hatte, Google mit einer bottom-up »Public Knowledge«-Infrastruktur zu überholen. Juha Huuskonen von Pixelache in Helsinki erinnert die Teilnehmer der Liste daran, dass es »für eine Organisation/eine Dienstleistung/eine Anwendung essenziell zu sein scheint, das Good-Guy-Image zu pflegen – etwas, das für kommerzielle Dienste in Zukunft im zunehmenden Maße schwierig werden dürfte. Ein komplexes und wichtiges Problem scheint der Umgang mit Monopolen zu sein, sowohl im Falle der kommerziellen Anbieter wie Google als auch mit Blick auf Projekte wie Wikipedia. Die magische Rolle des ›wohlwollenden Diktators‹, wie sie durch Jimbo Wales bei Wikipedia oder durch Linus Thorwalds bei Linux verkörpert wird, scheint keine nachhaltige Lösung zu sein.«

3LOGANSFàRDEN7EB 5SER »Last year she lost four days to flu, and seven days to spyware.« (add) * How to Connect Citizens to a Structure * »The Power of the Default« (slogan) * Blogging ›n Belonging * Theory of the Surrounding Society * polluted talent pools * »Weaving what the network demands * Pathologies of the Self-instructing Child (book title) * The Tragedy of the Nomadic * Expertocracy International * Blogging for Tenure * Critique of Capturing (sub title) * Where are you? replaced How are you? * Google Blockage Syndrom * Pioneering the Untagable * Visualize Whirled Peas * Become a Filter * »I was an enemy of linearity.« * Michel Serres and the necessity of parasites * »I shagged Tom from MySpace« (t-shirt) »NaKisha’s blog theory is a brain fart that she cannot get out of her head. It’s like she knows what to do but how can she when she feels like her life is standing still.« * »These worlds were not made for me.« * »You can’t blog this« (Danah Boyd) * »I fart in elevators« (MySpace t-shirt) * »Just a bunch of assholes with cameras and some software« * »Account deleted, because it was not used for a long time or violated our terms of use. Please contact us, if you want it back.« *

$ASKURZE,EBENVON$ISCORDIA Juha Huuskonen, der Festivals über den ›Dotorg Boom‹ organisierte, nennt Vertrauen, Sicherheit, Glaubwürdigkeit und Monopole als die Themen, die die un-

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terschiedlichen Diskussionen verbinden. Genau dies ist auch, um was es in der folgenden didaktischen Geschichte, oder einem ›Lehrstück‹ im Brecht’schen Sinne, geht. Zum Ende von My First Recession, in einem Kapitel über »Open Publishing«, habe ich mich mit der Entstehung eines kollektiven Blogs namens Discordia befasst, der Mitte 2003 ins Leben gerufen wurde.19 Zu seinen Zielen gehörten »soziales Filtern, kollaborative Moderation und verschiedene Stile der Kommunikation.« Nachdem ein langer Programmierprozess (mit der Scoop Software) durchlaufen war, bei dem die Mitglieder interne Differenzen ausschließlich online ausgetragen haben, schloss dieses »Slashdot of the Electronic Arts« überraschenderweise nur 16 Monate nach seiner offiziellen Eröffnung. Sein Scheitern an dieser Stelle kurz zu erörtern ist insofern von Interesse, als das Thema von Moderation und Filtern mit Web 2.0 absolut nicht erledigt ist. Discordias ursprüngliche Intention bestand darin, ein Webforum zu schaffen, das die ›aufgeklärte Diktatur‹ des Mailinglisten-Moderators durch ein Ranking der Postings und Kommentare ersetzt. Doch der Versuch, die Rivalitäten zwischen professionellen Kulturen wie Kritik und Theorie, bildender Kunst oder Computerprogrammierung aufzuheben, misslang. Für einige waren die Inhalte zu akademisch, um das Gefühl zu haben, einen brauchbaren Beitrag leisten zu können. Wie Joseph Rabie sagt: »Ich habe immer gedacht, dass Discordia wohl deshalb kränkelt und nicht auf blüht, weil zu viele Poster dazu neigten, ›objektiv‹ sein zu wollen, fast so als ob sie in der ›dritten Person‹ sprächen. Aber Blogs sind erst dann interessant, wenn die Leute ihr eigenes Selbst ins Spiel bringen.« Wie so häufig verloren die User den Anschluss und konnten sich nicht mehr an die URL, den Benutzernamen oder das Passwort erinnern. Andere erwarteten eine weitaus sichtbarere Präsenz der Gründungsmitglieder, die das Projekt betrieben. Bald nach seinem Beginn befand sich Discordia schon in einer Abwärtsspirale. Der Discordia-Programmierer Peter Traub: »Das Grundkonzept der Seite war gut, aber die Art der Inhalte mag die Leute vertrieben oder zumindest so eingeschüchtert haben, dass sie keine Lust bekamen, selbst etwas beizutragen. Wenn eine Website nicht mehr regelmäßig aktualisiert wird, werden die Besucher immer weniger. Und wenn die Besucher weniger werden, fällt die Zahl der neuen Postings.«20 Am Ende stimmte die Chemie zwischen den Verwaltern des Inhalts und den Programmierern nicht mehr. Der Einfluss der Programmierer erwies sich einfach als zu stark, und nachdem die Programmierung einmal erledigt war, blieb das Projekt in der Luft hängen. Die Erwartung, ein Feedback von gleichem Niveau und Umfang zu bekommen wie etwa Slashdot, konnte nicht eingelöst werden. Es war Zeit für ein neues Projekt, obwohl Discordia als Diskussionsplattform gerade erst ins Leben gerufen worden war und langsam auch der Traffic anstieg. Doch die Saga von Discordia bewies, dass man einer Gemeinschaft nicht einfach eine komplexe Web 2.0-Plattform aufzwingen kann. 19. 3IEHE DAZU DAS STATISCHE !RCHIV DES 0ROJEKTS WWWDISCORDIAUS UND 'EERT ,OVINK .Z'JSTU3FDFTTJPO 2OTTERDAM.!I5ITGEVERS  3  20. )NTERNE$ISCORDIA% -AIL /KTOBER

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Abgesehen von der Gruppendynamik ist die Hauptursache für Discordias Scheitern auf den Mangel an Bereitschaft innerhalb der globalen Neue-MedienKunstgemeinde zurückzuführen, öffentliche Debatten im World Wide Web auch jenseits der Abgeschiedenheit gemütlicher, selbstgenügsamer Mailinglisten zu führen. Um das besagte Rankingsystem nutzen zu können, fehlte die kritische Masse. Und es gab auch nicht genug Interesse, an einem gleichberechtigten, offenen Dialog zwischen Kritikern, Künstlern und Programmierern teilzunehmen. Dieses Problem lässt sich auch in anderen Bereichen ausmachen, darunter den Geistes- und Sozialwissenschaften, dem Aktivismus, der zeitgenössischen Zivilgesellschaft und dem NGO-Sektor sowie autonomen sozialen Bewegungen. Das Dilemma ist nicht in der Technophobie zu suchen. Es wird eher durch einen Avantgardismus hervorgerufen, der sich das Netz zwar zu einem frühen Zeitpunkt angeeignet hat, jetzt aber keinen Bedarf für ein nochmaliges Upgrade mehr sieht. Es ist bezeichnend, dass das Web 2.0 unter ›Tactical Media Geeks‹, NGO-Mitarbeitern, Gemeindeaktivisten, elektronischen Künstlern, sowie den mit ihnen verbundenen Akademikern, Kuratoren und Kritikern alles andere als begeistert aufgenommen worden ist. Vielleicht hat Discordia zu viel Wert auf die Netzwerkarchitektur gelegt. Der utopische Funke zündete jedenfalls innerhalb der Neue-Medien-Kunstgemeinde nicht. Posten allein hat die Leute nicht glücklich gemacht. Moderator Trebor Scholz meint rückblickend: »Um die Debatte anzuregen, habe ich versucht, Leute zum Posten zu bringen, und andere wiederum, auf die Postings zu reagieren. Ich sehe keinen Sinn darin, dass ein Tool wie Discordia nur jenen dienen soll, die es entwickelt haben. Ich habe unsere Rolle darin gesehen, einen Kontext zu schaffen, nicht darin, auch die Inhalte zu liefern.« Der britische Medienkünstler und Programmierer Saul Albert sagt wiederum: »Am wertvollsten waren für mich die Unterhaltungen, die wir in der Entwicklungsphase geführt haben. Als das Tool fertiggestellt war, hatte ich dafür keine Verwendung mehr. Ich glaube, dass die Idee des kollaborativen Weblogs lediglich einen unbequemen Zwischenschritt für die Entstehung von etwas darstellte, das weitaus vielschichtiger und konflikthafter ist, als wir uns vorgestellt hatten.« Albert fasst die Einsichten, die er bei seiner Arbeit an Discordia gewonnen hat, wie folgt zusammen: »Man braucht meiner Meinung nach im Kern eines Projekts einen regelmäßigen persönlichen Kontakt. A-priori-Kategorisierungen funktionieren nicht, selbst wenn sie spielerisch sind. Letztlich verwirren sie die Leute nur. Entscheidungen, die die Technologie betreffen, sollten den Bedürfnissen der Gruppe und ihren Zielen angepasst sein.«

$ERZYNISCHE'EISTDER"LOGOSPHËRE Anstatt das Web 2.0 als Überbegriff für Start-Ups zu dekonstruieren, die mehr RSS als Umsatz generieren und wieder von den altbekannten Silicon-ValleyGestalten betrieben werden, habe ich während meines Forschungsaufenthalts in Berlin im Winter 2005/06 die meiste Zeit damit verbracht, eine allgemeine

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Theorie des Bloggens zu entwickeln. 21 Es wird eine ontologische Frage bleiben, ob eine Kritik an im Entstehen begriffenen Phänomenen überhaupt möglich ist. Die kritische Untersuchung, die ich im Auge habe, ignoriert den legitimen, aber in meinen Augen übertrieben ›korrekten‹ Ansatz, demzufolge Blogs nur gemäß ihrer unterschiedlichen Genres (politisch, bildungsbezogen, wissenschaftlich, erzählerisch etc.) untersucht werden können. Blogs sind die Platzhalter unserer Zeit. Es geht um einen technologischen Affekt, der nicht auf den Charakter des einzelnen Bloggers reduziert werden kann. Wahrscheinlich gibt es genauso viele Blogs wie es Stimmen und Themen gibt. Grobe Schätzungen aus dem Jahr 2006 sprechen von 100 Millionen.22 Wie kann man einen Gegenstand erforschen, der sich in einem Zustand von Hyper-Wachstum und permanenter Transformation befindet? Genau das zeichnet die Blogosphäre aus. Anstatt bloß das emanzipatorische Potenzial der Blogs auszuleuchten oder die mit ihnen verbundene gegenkulturelle Folklore hervorzuheben, betrachte ich Blogs als Teil der sich entfaltenden ›Massifizierung‹ eines immer noch neuen Mediums. Was das Internet in der Dotcom-Phase nach 2000 eingebüßt hat, ist die Illusion einer beschleunigten Generalüberholung der Gesellschaft als solcher. Der Leerraum, der darauf hin entstand, eröffnete den Weg für großangelegte verlinkte Kommunikationsprozesse auf der Basis automatisierter Social-Software-Systeme, von denen Blogs nur eine unter vielen Anwendungen sind. Das zweite Kapitel dieses Buches formuliert eine Theorie, die sich von der verbreiteten Annahme absetzt, dass Blogs eine selbstgewählte Affinität zur

21. 7ËHRENDES WIEICHGLAUBE ZUFRàHIST EINEALLGEMEINE4HEORIEDES)NTER NETSAUFZUSTELLEN SCHEINTESMIRDOCHGEBOTEN BESTIMMTE!NWENDUNGENWIE"LOGS 7IKIS 3OCIAL"OOKMARKINGUND4AGGINGINGRڔERE:USAMMENHËNGEZUSTELLEN)NDER !NTWORT AUF EINEN 6ORTRAG DEN ICH AM  -ËRZ  IN -AILAND HIELT SAGT "IFO w,OVINKSTHEORETISCHER"EITRAGRADIKALER0RAGMATISMUSUND.ETZKRITIK KANNALSEINE +RITIKAM:YNISMUSDESSICHAUmÚSENDEN EUROPËISCHENINTELLEKTUELLEN,EBENSGESE HENWERDEN'EERTSAGT DIE:EITFàREINEALLGEMEINE4HEORIEDES)NTERNETSSEINOCH NICHTGEKOMMEN6ERMUTLICHWIRDESNIEMALSEINENPASSENDEN!UGENBLICKFàREINEALL GEMEINE4HEORIEDES)NTERNETSGEBEN$AS.ETZISTDAS%NDEEINERJEDWEDENMÚGLICHEN !LLGEMEINEN4HEORIE WEILESIMMERAM%XPANDIERENIST UNDDAS7ICHTIGSTEIM.ETZ ISTDASJEWEILS,ETZTE DASIM%NTSTEHEN"EGRIFFENE DASNOCHNICHT3TATTGEFUNDENE DASGEGENWËRTIG0ASSIERENDEi.ETTIME -ËRZ 22. $IE %INSCHËTZUNG STAMMT VON "LOGHERALDCOM  /KTOBER   %S GIBT NOCHKEINE7EBSITE DIEESSICHZUR!UFGABEGEMACHTHAT "LOGSIMGLOBALEN-A”STAB ZUZËHLEN%IN0ROBLEMSINDDIE"LOGS DIENICHTMEHRGENUTZTWERDEN"LOGSSINDSO HAUTNAHAM,EBEN DASSMANSICHGLàCKLICHSCHËTZENKANN SIEGELESENZUHABEN BEVOR SIEàBER.ACHTVERSCHWINDEN$IE)NTERNET 0ROVIDER DIEDIE"LOGDIENSTEANBIETEN ODER AUCHDIE"ETREIBERSELBSTHABENDIE4AGEBàCHERVOM.ETZGENOMMEN-ANCHE"LOG DIENSTEZIEHEN"LOGSSCHONNACHDREIINAKTIVEN-ONATENAUSDEM6ERKEHR%IN4EST DER INDEN.IEDERLANDENDURCHGEFàHRTWURDE ZEIGTE DASSDASBERàCHTIGTEARCHIVE ORGDIEVERSCHWUNDENEN"LOGSVONWWWWEB LOGNL DASZUDIESEM:EITPUNKTANGEBLICH àBER"LOGSHOSTETE NICHTARCHIVIERTHATTE

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Nachrichtenindustrie haben. Damit meine ich nicht nur das Label des ›Bürgerjournalismus‹, sondern – viel struktureller – das dem Gegenstand quasi eingebaute Apriori, dass Blogs ›Feeds‹ hervorbringen sollen und dass das Wesen des Bloggens im ›Ranking‹ besteht. Statt eines Bemühens um inhaltliche Qualität und eine Kultur des Schreibens, Tagebuchführens und Reflektierens ist ein gnadenloser Konkurrenzkampf um maximale Aufmerksamkeit zu beobachten, die wiederum an der Anzahl von Links und Friends gemessen wird. Nachdem Blog-Software die Massennutzung des Netzes durch Versorgung von zig Millionen Nutzern in der ganzen Welt mit einfach zu bedienenden Publishing-Werkzeugen vorangetrieben hatte, geriet die Blogosphäre 2005 in einen Zustand hysterischer Überaktivität. Die nächste Welle des Netzchauvinismus kam auf. Die Blogs verloren ihre Gelassenheit und die Vorreiter suchten schon wieder nach dem Ausgang. Der scharfzüngige Unterton vieler Postings verschwand. Auf dem Weg von der kollektiven Einflussnahme auf die Nachrichtenthemen während des 2003 über das Internet geführten Wahlkampfs von Howard Dean bis zum gegenwärtigen prekären Bloggen des »How to make money with your blog« machte sich immer mehr geleckte Eigenwerbung breit. In diesem Sinne dürfte der hartnäckige Nihilismus der Blogosphäre bereits Geschichte geworden sein, ›Aufrichtigkeit‹ passt oft nicht mehr ins öffentliche Bild. Die zynische Interpretation der Blogs besagt, dass ihre einzige Daseinsberechtigung darin besteht, Nachwuchstalente für den publizistischen Sektor aufzuziehen. Diese Talente unter Vertrag zu nehmen, kommt nicht nur dem Mediengeschäft zugute, sondern setzt auch jene Journalisten unter Druck, die mit ihren Lieferungen in Verzug geraten. Ihnen droht die Entlassung. Letzten Endes wird dadurch aber nicht die Welt der Blogs, sondern die Medienindustrie gestärkt.

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Seitdem Konvergenz zur Realität geworden ist, herrscht auf Seiten des Business große Unsicherheit darüber, ob das Web 2.0 den Anfang vom Ende bedeutet. Endlich stößt auch der Technologie-Sektor auf die Inhaltsfrage. Bis jetzt existierte diese nur als ein Diskurs ohne Gegenstand, der Neunziger-Jahre-Slogan »Content is King« blieb ein leeres Versprechen. »Was werden sich die Menschen mit diesen Maschinen anschauen, anhören und sonst mit ihnen machen, da sie nun austauschbar und untereinander vernetzt werden?«, fragt Saul Hansell in der New York Times. Hansell führt drei Ängste der ›alten Medien‹ auf: »Geschäftsmodell-Angst. Bedrohen zahlungspflichtige Download-Dienste die hohen Werbeeinnahmen der Fernsehsender? Kreativitätsangst. McLuhan ist out. Das Medium ist nicht länger die Message. Jeder, der einen Witz machen oder eine Geschichte erzählen will, kann beliebige Kombinationen von Videos, Texten, Tönen und Bildern produzieren, ob für einen 50-Zoll-Bildschirm, ein Laptop oder ein Handy-Display. Kontrollangst. Seit der Erfindung der Hochge-

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schwindigkeits-Druckmaschinen wurden Massenmedien für die Massen gemacht, nicht von ihnen. Jetzt aber können wir alle zu DJs und Filmemachern werden, und unsere Podcasts oder Filme online vertreiben, ohne einem Studioboss in den Arsch kriechen zu müssen. Die Karriereperspektiven für ›Hit-Maker‹, ›Gate Keeper‹ und selbst für ›Fact Checker‹ dürfen sehr wohl in Zweifel gezogen werden.«23 Aber bevor wir uns jetzt alle in Begeisterung oder Verwirrung stürzen lassen, sollten wir lieber die realen Einkünfte und Arbeitsbedingungen der kreativen Klasse untersuchen. Während die Userhorden vom Social Bookmarking weiterwandern zu Photo Sharing und »Classification« als dem ›nächsten großen Ding‹, sind wir von einer entsprechend dezentralisierten und verteilten Internetwirtschaft immer noch weit entfernt. Das Internet ist für die meisten Nutzer nicht ›frei‹; sie geben beträchtliche Summen für Hardware und Kabel aus, externe Laufwerke, Anschlüsse, Software und Upgrades, Design-Features und Abos. Inhaltsproduzenten müssen zahlen, um ihre Arbeit zeigen zu können. 24 Das techno-libertäre Modell der Neunziger, demzufolge diejenigen, die die Software schreiben und die Telekommunikationsinfrastruktur zur Verfügung stellen, das Geld verdienen, während die ahnungslosen Massen nur allzu gerne ihre Inhalte umsonst hergeben, bleibt weiterhin die Regel. Wie Inhaltsproduzenten künftig ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen, wird als individuelles Problem gesehen und kaum diskutiert. Die meisten von ihnen sind Amateure und die wenigen Professionellen erzielen ihr Einkommen über die alten Medien wie Print, Film, Fernsehen und Radio. Eine der wenigen Veränderungen, die wir in den letzten Jahren miterleben durften, ist die Einführung eines Werkzeugs wie Googles Adsense. 25 Es bleibt jedoch abzuwarten, wie viel Webautoren tatsächlich durch einen solchen Dienst verdienen können. Nicholas Carr, der bei Technorati auf Rang 689 geführt wird, gab für sein Rough Type Blog im ersten Jahr ein Minus von 1.425 US-Dollar an. Darren Rowse, ein professioneller Blogger aus Melbourne (das Motto seiner Site ProBlogger: »Helping Bloggers Make Money«), rät dazu, Chitikas »eMiniMalls« zu nutzen, das »Spitzenprodukte für deine Website auswählt und dazu interaktive und prägnante Informationen wie Produkt-Ratings, Beschreibungen, Er23. 3AUL(ANSELL #ONVERGENCE w!S'ADGETS'ET)T4OGETHERi -EDIA-AKERS&ALL "EHIND .EW9ORK4IMES *ANUAR 24. %INBESORGNISERREGENDER4RENDISTDIE&ORDERUNGEINIGER&ILMFESTIVALS +àNST LERFàRDIE6ORFàHRUNGENIHRER&ILMEZAHLENZULASSEN%VA$RANGSHOLTSCHREIBTDAZUIN EINEM"RIEFANDAS2IVERS%DGE&ILM&ESTIVALw)CHBINSEHRENTTËUSCHTDARàBER MIT DER.ACHRICHT DASSEINERMEINER&ILMEFàRDAS2IVERS%DGE&ILM&ESTIVALAUSGEWËHLT WORDENIST GLEICHZEITIGEINE2ECHNUNGFàRSEINE6ORFàHRUNGZUERHALTEN)NEURERUR SPRàNGLICHEN!USSCHREIBUNGWARENKEINE4EILNAHMEGEBàHRENERWËHNT)NDEMIHRMICH DAZUVERLEITETHABT MEINE&ILMEEINZUSENDENnWOHLGEMERKTUNTERDER6ORTËUSCHUNG KEIN'ELDFàRDIEEINGEREICHTEN&ILMEZUVERLANGENnHABTIHRMIRNURUNNÚTIGE+OSTEN FàRDIE"RIEFMARKEN DEN3CHUTZUMSCHLAGUNDDIE$6$VERURSACHTi'EPOSTETIN3PECTRE *ANUAR 25. &àRWEITERE)NFORMATIONENSIEHEWWWGOOGLECOMSERVICESADSENSE?TOUR

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fahrungsberichte und verwandte Blog-Inhalte darstellt.«26 Das wirtschaftliche Prinzip liegt hier darin, »Seitenzugriffe in Gewinn zu verwandeln«. OnlineAnzeigen sind keine per Hand platzierten Webbanner mehr. Einnahmen lassen sich mit Sponsoring, dem Verfassen von wirtschaftlich ausgerichteten Blogs, Merchandising, Online-Spenden, aber auch klassischen Modellen wie Berateroder Redner-Aufträgen erzielen. In vielen dieser Fälle geraten Blogger in die Rolle unabhängiger Repräsentanten des Big Business. Als Unternehmensvertreter im Außeneinsatz entspricht der Blogger-als-Spion weniger dem klassischen Handelsvertreter (à la Tupperware), sondern erscheint eher als Teil eines zivilen Netzwerks von Informanten. Blogger werden im zunehmenden Maße in Unternehmensstrukturen hineingezogen und in eine komplexe Ökonomie von Links, Tags, Zugriffs-Daten und Micropayments verstrickt. Die Liste jener Werkzeuge, die dem Blogger den Eindruck vermitteln, Geld verdienen zu können, wächst von Tag zu Tag. Viele solcher Dienste werden in einigen Jahren nicht mehr existieren. Nehmen wir das Beispiel zweier Firmen, Prosper und Zopa, die davon überzeugt sind, dass Social Networking à la MySpace mit einem Leihgeschäft verbunden werden kann. »Sie haben vor, das eBay-Prinzip auf das Auflisten und Ersteigern von Darlehen zu übertragen, ohne Einbeziehung von Banken. Nennen wir es Peer-to-Peer-Finanzierung. Es gibt bereits ungefähr 800 Gruppen auf Prosper, die bereit sind, für bestimmte Zwecke Geld zu verleihen, wie etwa die Apple User Group, die sich als ›Kreditgruppe für all jene, die einen Macintosh oder Apple iPod kaufen wollen‹, versteht.« 27 »Der Geschäftsweg des Internets teilt sich gerade.«, sagt Seth Goldstein. 28 »Die eine Richtung führt zu einem offenen Umgang mit Daten, geleitetet von Prinzipien wie Transparenz und Öffentlichkeit. Die andere führt zu einem geschlossenen Ansatz im Umgang mit den Daten, und achtet auf Privatheit und Abschirmung: das Black-Box-Prinzip. Beide können legititme und stimmige Endverbraucher-Vorteile sowie ein wirtschaftliches Kalkül vorweisen.« Goldstein warnt vor der Gefahr, auf halbem Wege steckenzubleiben: »Danach streben, sich zu vergrößern, aber darauf verzichten, die Informationen zu überprüfen, die dafür die Grundlage bilden; oder Offenheit propagieren, ohne die eigenen Daten mit dem System zu teilen.« Diesem eher verwirrenden Bild zufolge bewegen wir uns auf eine gemischte Ökonomie zu, in der eine sich ständig vergrößernde Armee von unabhängigen Web-Arbeitern versucht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In diesem Outsourcing-Modell lockern Recherche und Abstimmung die Grenzen dessen, was innerhalb und außerhalb der Firmenmauern stattfindet, weiter auf. Die Blogsoftware beschleunigt in zunehmendem Maße das Modell der Firma als einer vernetzten Organisation, in der das Geschäft immer mehr zu einem ständigen Sich-Neu-Gruppieren loser Einheiten wird. Dieser Umbruch ist jedoch großenteils ideologisch, während eine Umverteilung von finanziellen Mitteln (etwa von Forschungsgeldern oder 26. WWWROUGHTYPECOMARCHIVESA?YEAR?IN?THE?SPHP 27. HTTPCHITIKACOMMM?OVERVIEWPHPRElDLIVINGROOM 28. 3ETH'OLDSTEIN w-EDIA&UTURES&ROM4HEORYTO0RACTICEi GEPOSTETAM .OVEMBERHTTPMAJESTICTYPEPADCOMSETHMEDIA?FUTURES?THTML

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Gewinnen) in Wirklichkeit nicht stattfindet. Während das Netzwerk mehr Risiken auf sich nimmt, wächst die Machtkonzentration in den Händen einiger weniger. Wenn man das in die Regeln der Internetwirtschaft zurückübersetzt, sieht man, dass die profitabelsten Geschäfte bei den Vermittlungsvorgängen liegen. Wie Nicholas Carr sagt: »Sie haben erkannt, dass, wenn es um das Geldmachen im Netz geht, nicht die Kontrolle des realen Austauschs (von Produkten oder Inhalten oder was auch immer) im Vordergrund steht, sondern die Kontrolle der Klicks auf dem Weg dahin. Dies gilt umso mehr, seitdem anklickbare Anzeigen zum Motor des Online-Profits geworden sind. Wer die meisten Klicks kontrolliert, gewinnt.«29 Chris Anderson, dem Autor von Long Tail, zufolge geben Risikokapitalisten offen zu, dass man mit Inhalten kein Geld machen kann – Blogs eingeschlossen. Die erfolgversprechenderen Businesspläne drehen sich weniger um Inhalte als um Bündeln (Aggregieren) und Filtern.30 Er zitiert David Hornik, Risikokapitalist bei August Capital: »Während unterschiedliche FilterTechnologien es etwas einfacher machen dürften, dass ein Endanwender den Weg zu einem Objekt obskuren Inhalts findet, reichen sie wohl nicht aus, um einen unbekannten Künstler in den Mainstream zu katapultieren. Nutznießer des Filterns sind die Endanwender und diejenigen, die filtern, weniger die Anbieter von Inhalten.« Oso, Global-Voices-Redakteur der Region Lateinamerika, stellt es so dar: »Diejenigen, die Inhalte bündeln, erzielen höhere Einnahmen als die Produzenten. In einem Meer des Datenrauschens werden wir von Inseln der Aggregation abhängig (Digg, Google News, del.icio.us/popular, Newsvine, Boing Boing, Global Voices), die uns zu den Kleinoden führen. Unsere Abhängigkeit von diesen Sites stellt ihre Finanzierung sicher (entweder durch Investitionen, Förderungen oder Anzeigen). Aber die Leute, die die eigentlichen Inhalte machen, das Herz der Artischocke sozusagen, bleiben unbezahlt.«31 Ein anderer Grund könnte die Ein-Prozent-Regel sein, die besagt, dass wenn 100 Menschen online gehen, einer davon Inhalt produziert, zehn miteinander interagieren (mit Kommentaren oder Verbesserungsvorschlägen) und die verbleibenden 89 einfach nur zuschauen. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist der Inhaltsproduzent nur eine kleine Minderheit, die ohne weiteres übersehen werden könnte. Die Frage, die unbeantwortet bleibt, ist, warum der Anteil mit einem Prozent so niedrig ist.32 29. .ICHOLAS #ARR w(YPERMEDIATION i  .OVEMBER  WWWROUGHTYPE COMARCHIVESHYPERMEDIATIONPHP 30. #HRIS !NDERSON w6# !DVICE ON &INDING -ONEY IN THE ,ONG 4AILi GEPOSTET AM$EZEMBERWWWTHELONGTAILCOMTHE?LONG?TAILVC?ADVICE?ON? lHTML 31. HTTPEL OSONETBLOGARCHIVESAMATEURISM INDIVIDUALISM AND COLLECTIVISM 32. #HARLES !RTHUR w7HAT IS THE  RULEi )N 4HE 'UARDIAN  *ULI  w4ËGLICHGIBTES-ILLIONEN$OWNLOADSUND5PLOADSnWAS WIE!NTONY-AY lELD HTTPOPENTYPEPADCOMOPEN DARLEGT EIN 6ERHËLTNIS VON   $OWNLOADS PRO5PLOADBEDEUTETnBEI-ILLIONENEINZELNEN5SERNPRO-ONAT7IKIPEDIA

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Auch wenn sich Social Networking und Blogging bei den Usern als Renner erweist, bleibt das hinter solchen Diensten stehende Geschäftsmodell heikel. Zu viel Geld fließt mal wieder in zu viele ungesicherte und unprofitable Ideen. Einem Bericht in der Los Angeles Times zufolge machen MySpace und YouTube noch keine Gewinne, »und einige skeptische Investoren fragen sich, welche Hoffnungen es für die ganzen Nachahmer überhaupt noch geben soll. ›Das Risiko besteht darin, dass wir wieder damit anfangen, Wunschvorstellungen ohne Geschäftsmodell zu vermarkten‹, meint Jim Lussier, Teilhaber der Norwest Venture Partners in Palo Alto. Er hat fast zwei Dutzend Online-Video-Firmen unter die Lupe genommen und sagt, dass nichts Einzigartiges dabei war.«33 Solange innovative Internet- Startups sich nach dem Neunziger-Jahre-Modell des Risikokapitals richten, das eine Übernahme oder einen Börsengang verspricht, bleibt die Hoffnung auf einen kulturellen Wandel gering. Dabei ist es nur eine Frage der Zeit, dass die Entwicklung von Internet-Anwendungen nicht mehr an der US-amerikanischen Westküste stattfindet und sich z.B. in die Zentren der mobilen Technologien in Asien und Europa verlagert. An solch einem Punkt müssen kulturelle Unterschiede produktiv gemacht werden, etwa in Hinblick darauf, dass Kreditkarten, die gegenwärtig das vorherrschende Zahlungssystem darstellen, voller sozialer Beschränkungen sind und nur in einer begrenzten Anzahl von Ländern Verwendung finden.34

$R INNENODERDRAU”EN Dieses Buch wird zeigen, dass im Widerspruch zum ›new new‹-Hype die Position der Neuen Medien in der Gesellschaft einer Lösung keineswegs näher steht als während des ›old new‹-Hypes der ersten Internet-Blase. Die massenhafte Adaption hat einer sich entwickelnden Disziplin eine »Status-Angst« 35 be-

VONALLEN7IKIPEDIA !RTIKEL "EARBEITUNGENWERDENVON DER5SERGEMACHT UND MEHRALSALLER!RTIKELWERDENVONNUR ALLER5SERGESCHRIEBEN$ASERGIBT EIN %RZEUGER 6ERBRAUCHERVERHËLTNIS VON NUR  i .ICK #ARR ERWËHNT DAS "EISPIEL DER3OCIAL"OOKMARKING 7EBSITE$IGGw$IE$ATENOFFENBAREN DASSVONBEI $IGGREGISTRIERTEN5SERNWËHRENDDERLETZTENSECHS7OCHENNURIRGENDWELCHE 'ESCHICHTENBEIGESTEUERTHABEN!BERJETZTKOMMENDIEWAHREN!UGENÚFFNER$IE4OP  5SERTRUGENVOLLEDER'ESCHICHTENBEI DIEALS!UFMACHERAUFDER7EBSEITE ERSCHIENEN UNDDIE4OP  5SERTRUGENSAGEUNDSCHREIBEDER'ESCHICHTENAUF DERERSTEN3EITEBEIi2OUGHTYPECOM !UGUST 33. #HRIS'AITHERUND$AWN##HMIELEWSKI w)STHEBUBBLEABOUTTOBURSTAGAINi ,OS!NGELES4IMES *ULI 34. w+REDITKARTENZAHLUNGENREGIERENHEUTEDAS)NTERNET%INE&RAGE DIEAUFDER (ANDLIEGT IST WARUMWIRETWAS.EUESERlNDENSOLLTEN$IESIMPLE!NTWORTDARAUF LAUTET FàR DEN 6ERKËUFER IST DIE +REDITKARTE BEI !NSCHAFFUNGEN UNTER  53  NICHT PROlTABELiAUSWWWMERCHANTSEEKCOMARTICLEHTM 35. !LAIN DE "OTTONS "EGRIFF DER 3TATUS !NGST WURDE NOCH NICHT AUF DIE KON

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Einleitung: Stol z und Ehre des Web 2.0

schert, die polymorph-perverser Natur ist. Dort drinzustecken wird zusehends unangenehmer. Eine Menge an Talenten tritt auf der Stelle. Veränderungen bei der Integration von Netzwerken in den Alltag haben sich keinesfalls als Garantie dafür erwiesen, dass auch ein institutioneller Wandel stattfindet. Aller Rede zum Trotz hat uns das Internet nicht die Revolution beschert, die es uns in Aussicht gestellt hat. Gesellschaften passen sich an ICTs (Information and Communication Technologies) an, aber sie verändern sich nicht grundsätzlich, sondern erweisen sich als erstaunlich flexibel, wenn es darum geht, so zu bleiben, wie sie sind. Logisch betrachtet bedeutet dies, dass nicht die Welt, sondern die Ideologie sich wird anpassen müssen. Bislang ist das nicht passiert. Wie kann die libertäre Techno-Prominenz weiterhin ungeprüft den Traum von Freiheit und Angleichung der Verhältnisse verkaufen? Es gibt wenige Anzeichen dafür, dass sie die Klappe halten wird oder auch nur ernsthaften Widerstand geboten bekommt. Unter Geeks und Unternehmern scheint es einen unstillbaren Bedarf an Erlösung zu geben. Insofern kann man nur immer wieder betonen, dass das Web kein Jenseits darstellt. Wie also kann jungen Menschen vermittelt werden, dass sie den verführerischen Sirenen der kalifornischen Ideologie widerstehen sollen? Würde es genügen, alternative Meme zu entwerfen? Sind die Reformforderungen von Insidern nutzlos, weil die Weichen nur durch etwas gänzlich Anderes neu gestellt werden können? Sollten wir weiterhin an die Kraft des Arguments glauben und damit fortfahren, Ideologiekritik zu üben, wohlwissend, dass solche intellektuellen Bemühungen immer wieder scheitern? Zero Comments wurde in der Überzeugung geschrieben, dass wir uns mit diesen Problemen auseinandersetzen müssen. Wir müssen die Muster untersuchen, die dem ewigen Wandel zugrunde liegen. Abgesehen von ihrer Archäologie haben die Neuen Medien nun auch eine eigene Geschichte – voller Brüche, Anomalien, fehlgeschlagener Versuche, unbemerkter Remakes, Comebacks und seltenen Fällen von Innovation. Ich sehe es als die Aufgabe meiner kritischen Internetkultur-Forschung an, nicht nur diese Art der Geschichtsschreibung zu betreiben, sondern auch zukünftige Sichtweisen mitzuentwickeln, in enger Zusammenarbeit mit einem Netzwerk aus Freunden und intellektuellen Gefährten.

zeptuelle Ebene und die institutionelle Machtpolitik übertragen. »Es gibt kaum ein stärkeres Bedürfnis, als Respekt zu erfahren. Wir sehnen uns nach Status und fürchten Erniedrigung. Aber über diese Sehnsucht wird selten gesprochen, oder zumindest nicht ohne Sarkasmus, Verlegenheit oder Verurteilung.« Das ›wir‹ könnte sehr wohl auch als Neue Medien oder Internetkultur gelesen werden. (Zitat aus www.channel4.com/ life/microsites/S/status_anxiety/alain.html) Übertragen wir es z.B. in diese Warnung: »Versagen wird zur Quelle der Beschämung: einem zersetzenden Bewusstsein, dass wir unfähig waren, die Welt von unserem Wert zu überzeugen und nun verdammt sind, den Erfolgreichen mit Bitterkeit zu begegnen und uns selbst mit Schande.«

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Dieses Kapitel schlägt eine allgemeine Theorie des Bloggens vor, welche die Analyse von User-Kulturen mit einer Kulturkritik zeitgenössischer Netzanwendungen verbindet. Ich will zuerst die Verdienste der Blog-Kultur in Augenschein nehmen, dann die Frage des Netz-Zynismus behandeln und schließlich die nihilistische ›Kondition‹ des Bloggens. Technodeterministische Sichtweisen wie auch die kulturelle Analyse im Žižek-Stil klammere ich hierbei aus. Ich will den Bürger-Journalismus weder verherrlichen noch ihn dekonstruieren oder die Bedeutung partizipatorischer Medien herunterspielen – welche Kräfte die gehypten Web 2.0-Anwendungen zur Entfaltung bringen, ist offensichtlich. Blogs haben die Welt in verschiedener Hinsicht verändert; die Frage bleibt, wie man sie interpretiert. Was ich ergründen möchte, ist die nihilistische Struktur von Blogs als Software und als Kultur. Ziel ist es nicht, Blogger als ›digitale Nihilisten‹ zu klassifizieren. Vielmehr suche ich nach einem kreativen Nihilismus, der offen die Hegemonie der Massenmedien in Frage stellt. Blogs setzen zentralisierte Bedeutungsstrukturen außer Kraft und konzentrieren sich auf persönliche Erfahrungen, nicht in erster Linie auf Nachrichtenmedien.1 1. 5NTERSUCHUNGEN DES 0EW )NTERNET 0ROJEKTS DIE IM *ULI  VERÚFFENTLICHT WURDEN LIEFERNDENEMPIRISCHEN"ELEGFàRMEINE4HESE DASSDERKLEINEN HOCHFRE QUENTIERTEN 'RUPPE DER 53 AMERIKANISCHEN SOGENANNTEN ! ,IST "LOGGER ZU VIEL !UF MERKSAMKEIT GEWIDMET WIRD w%INE NATIONALE 4ELEFONBEFRAGUNG UNTER "LOGGERN HAT ERGEBEN DASSDIEMEISTENSICHDARAUFVERLEGTHABEN EINEMRELATIVKLEINEN0UBLIKUM àBERIHREPERSÚNLICHEN%RFAHRUNGENZUBERICHTEN UNDNUREINGERINGER4EILSICHAUF DIE!USEINANDERSETZUNGMIT0OLITIK -EDIEN 2EGIERUNGODER4ECHNOLOGIEKONZENTRIERT "LOGS SODAS%RGEBNISDER"EFRAGUNG SINDSOINDIVIDUELLWIEIHRE"ETREIBER!UFJEDEN &ALL SIND DIE MEISTEN "LOGGER PRIMËR AN KREATIVEM PERSÚNLICHEM !USDRUCK INTERES SIERT INDEM SIE INDIVIDUELLE %RFAHRUNGEN DOKUMENTIEREN PRAKTISCHES 7ISSEN TEILEN ODEREINFACHNURIN6ERBINDUNGMIT&REUNDENUND&AMILIEBLEIBENiWWWPEWINTERNET ORG00&RREPORT?DISPLAYASP

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Bislang sind Blogs im Wesentlichen unter antagonistischen Gesichtspunkten diskutiert worden, im Sinne einer Gegenstimme zur herrschenden Nachrichtenindustrie. Die Wirklichkeit sieht jedoch widersprüchlicher aus. Die führende Blog-Kultur – diejenigen, die die Technologie mitentwickelten und um diese Anwendungen ihre »Early Adopter«-Communities bildeten 2 – ist ein Gewirr aufgebrachter, verwirrter, zynischer und engagierter Stimmen. Der Identitätszirkus, der sich »Blogosphäre« nennt, ist nicht gerade der Ort, an dem progressive Typen den Ton angeben. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass die Mehrheit der Blogger konservativ ist, was schon in den Reaktionen auf 9/11 und die USgeführten Invasionen in Afghanistan und den Irak zu bemerken war. Sieht man von ihrer Befähigungsrhetorik und ihrem Demokratisierungspotenzial einmal ab, so ist die Blogkultur nicht per Definition progressiv und lässt sich auch nicht als ›Anti-Establishment‹ ausgeben. In Anlehnung an Alan Liu, einen Theoretiker aus Santa Barbara, können wir sagen: »Ich blogge, aber ich bin cool.«3 Blogs zeichnen unsere Leben auf und machen offenkundig, in welchem Ausmaß das Mediengeschehen die von ihm erfassten Menschen prägt. Weit entfernt von dem, was die meisten Pioniere predigen, passen die Blogs hervorragend in das Konzept der Big Media. Michael Massig stellt Ende 2005 in einem Artikel in der New York Review of Books fest, dass die Mehrheit der US-Blogs eine Rechtstendenz hat und nahtlos in die Landschaft von Radioberichten und Kabelnachrichten passt. Acht der Top-Ten-Blogs in den USA sind konservativ. Eine Liste der meistbesuchten Blogs: • InstaPundit, betrieben von Glenn Reynolds, Professor für Recht an der University of Tennessee; • Power Line (drei Rechtsanwälte); • michellemalkin.com, eine syndizierte Kolumnistin, die u.a. die Internierung von Japan-Amerikanern während des Zweiten Weltkrieges verteidigte; • Free Republic (konservative Aktivisten); • Captain’s Quartes (wird von einem Call-Center Manager betrieben); • the Volokh Conspiracy (ein Rechtsprofessor an der UCLA); • Little Green Footballs, Kommentare zur Außenpolitik mit pro-israelischer Ausrichtung. Die US-Armee gibt ›exklusive Informationen‹ an Blogs weiter, die den Krieg befürworten. 4 Ein wenig abgemildert wird das Bild durch das beliebteste politi-

2. 7IEDIE'RàNDERSOLCHER7EBSITESWIE#RAIGLIST &LICKRAND-Y3PACEDIESE'E

MEINSCHAFTENBILDEN BESCHRIEB$ANAH"OYDINEINEM6ORTRAGBEIDER/2EILLY%MERGING 4ECHNOLOGY #ONFERENCE AM  -ËRZ  w'LOCALIZATION 7HEN 'LOBAL )NFORMATION AND,OCAL)NTERACTION#OLLIDEiWWWDANAHORGPAPERS%TECHHTML 3. !BWANDLUNGVONw)CHARBEITEHIER ABERICHBINCOOLi DEM-ARKETING 3LOGAN VON!LAN,IUS5IF-BXTPG$PPM 5NIVERSITYOF#HICAGO0RESS  4. HTTPBLOGSWASHINGTONPOSTCOMEARLYWARNINGGOOD?NEWS?THE?AHTML

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sche Blog der linken Mitte, das Daily Kos, das seine Popularität zum Teil seinem Community-Style-Modell verdankt, bei dem registrierte Leser eigene Kommentare posten und ebenso die Postings von anderen kommentieren können.5 Blogs verfestigen das Soziale auf eine spezifische Art. Diese technologischen Fixierungen sind nicht neutral; sie spiegeln die breitere kulturelle Atmosphäre unserer Zeit wider. Man kann zweifellos behaupten, dass die frühe, E-Mail-zentrierte Internetkultur von einer Gegenkultur (von Hippies bis Hackern) dominiert war, während die Web-Dekadenz der Neunziger von Yuppies der zweiten Generation besetzt, aber eigentlich von Slackern und Generation-X-Typen errichtet wurde. Was sie alle zumindest gemeinsam hatten, war eine nominell libertäre Einstellung: konspirativ ›anti Staat‹ und ›pro Markt‹. Die Kultur der Blogs ist demgegenüber ein post-9/11-Geschöpf. Blogs operieren nicht in irgendeinem wilden, freien Internet ›da draußen‹ (wie man es sich von Newsgroups und Listen vorstellt), sondern schaffen ihre eigenen, abgeschlossenen sozialen Netzwerke, die ihre Beziehungen mithilfe von Linklisten, Blogchalking, RSS-Feeds und ähnlichem weiter ausbauen. Blogs sind immer sowohl privat als auch öffentlich und zeichnen sich durch eine Kultur der ersehnten Zugehörigkeit aus. Der Zugang zum Verständnis von Blogs liegt irgendwo zwischen einer Analyse der Software-Funktionalitäten und der Kultur der Early Adopter, die die Blogosphäre erfunden und gestaltet haben. Ein Rat: Man sollte nicht nur an das amerikanische Pantheon der BlogHelden oder an das trashige, frivole und bewusst nicht ernsthafte MySpace. com denken, wenn man wirklich einen Einblick in die Besonderheiten dieser speziellen Technologie erlangen will. Stattdessen sollte man eher Clay Shirky und seine Powerlaws (die erklären, wie die einflussreichsten Blogger – die sogenannte A-Liste – so mächtig wurden) mit Chris Andersons Theorie des Long Tail vermischen, in der behauptet wird, dass das wahre Potenzial der Blogs in den Millionen von ihnen liegt, die nur ein paar Seitenbesuche am Tag haben.6 Man läuft leicht Gefahr, Internetanwendungen und ihren Userkulturen eine besondere Lebendigkeit zuzuschreiben, hier findet oft eine Überinterpretation statt. Aufgrund der endlosen Vielfalt der zig Millionen überall verstreuter Blogs ist es verführerisch, sich am Karneval der Differenzen zu erfreuen und die tiefer liegenden Konformitäten zu ignorieren. Aus meiner Sicht muss man jedoch die Unterströmungen der Technokultur studieren, und der Versuchung, einfach weiter zu surfen und zu klicken, widerstehen. Wir sollten Blogs nicht bloß auf ihre problematische Beziehung zur Nachrichtenindustrie reduzieren. Die simple Möglichkeit, sich selbst einzuschalten, führt nicht automatisch zu bemerkenswerten Inhalten. Das Bloggen spricht ein breites Register von Emotionen und Affekten an, da es das Persönliche und Subjektive mobilisiert und legitimisiert. Und mit welcher Wirkung werden diese Affekte mobilisiert? Versuchen wir erst einmal zu klären, was Bloggen eigentlich ist. Ein Weblog 5. 6GL-ICHAEL-ASSING w4HE%NDOFTHE.EWSi 4HE.EW9ORK2EVIEWOF"OOKS 6OL .R $EZEMBERWWWNYBOOKSCOMARTICLES 6. #LAY3HIRKYWWWSHIRKYCOMWRITINGSPOWERLAW?WEBLOGHTML #HRIS!NDERSON HTTPLONGTAILTYPEPADCOMTHE?LONG?TAIL

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oder Blog wird allgemein definiert als eine häufig aktualisierte, Web-basierte chronologische Publikation, ein Protokoll persönlicher Gedanken und Links, eine Mischung aus Tagebuch des persönlichen Lebens einer Person und Berichten und Kommentaren zu Geschehnissen im Web und in der äußeren Welt. Neue Seiten lassen sich bei einem Blog leicht erstellen: Text und Bilder werden in eine in den Web-Browser integrierte Online-Vorlage eingefügt (meist ›getaggt‹ – verschlagwortet – nach Titel, Kategorie und Inhalt des Artikels) und dann werden diese Daten gesendet. Automatisierte Templates sorgen dafür, dass der Artikel richtig auf die Homepage gelangt, erzeugen eine neue, eigene Artikelseite (Permalink) und fügen den Artikel dem passenden daten- oder kategorienbasierten Archiv hinzu. Durch die Tags, die der Autor jedem Posting anfügt, können wir Blogs dann nach Datum, Kategorie, Autor oder anderen Attributen filtern. Das erlaubt dem Administrator (normalerweise), andere Autoren einzuladen und hinzuzufügen, deren Befugnisse und Zugangsrechte einfach verwaltet werden können.7

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Was Glenn Reynolds zufolge die Qualität eines Blogs ausmacht, ist seine persönliche Stimme und seine kurze Reaktionszeit. Robert Scoble, der bei Microsoft ein ›in-house‹- Blog betrieb, hat eine Liste der Eigenschaften erstellt, die Blogs zu einem so ›heißen‹ Medium machen. Die erste ist die unkomplizierte Art der Veröffentlichung, die zweite nennt Scoble »Entdeckbarkeit«, die dritte sind Gespräche über die Site-Grenzen hinweg, die vierte ist Permalinking (die Verbindung jedes neuen Eintrags mit einer spezifischen und festen URL), und die letzte ist die Syndizierbarkeit, der geregelte Austausch von Inhalten.8 Lyndon von der Website »Flockblogs« gibt einige Tipps, die beim Schreiben eines Blogs hilfreich sind und zeigen, wie Ideen, Gefühle und Erfahrungen in das Nachrichtenformat des Blogs eingepasst werden können, aber gleichzeitig auch, wie einflussreich Microsoft PowerPoint geworden ist: »Veröffentliche Deine Meinung, verlinke wie verrückt, schreibe weniger, 250 Worte sind genug, setze dynamische Überschriften, schreibe mit Leidenschaft, baue Listen mit Aufzählungen ein, redigiere Deinen Eintrag, sorge dafür, dass er leicht zu erfassen ist, schaffe einen konsistenten Stil, übersäe den Artikel mit Keywords.«9 Während die auf E-Mails basierende Kultur der Mailinglisten an eine postalische Kultur

7. !US7IKIPEDIAS"LOG $ElNITIONàBERNOMMENAM$EZEMBER  8. $AVID+LINE$AN"URSTEIN #MPH)PXUIF/FXFTU.FEJB3FWPMVUJPOJT$IBOHJOH 1PMJUJDT #VTJOFTTBOE$VMUVSF .EW9ORK#$3"OOKS  3 9. w4EN4IPSFOR7RITINGA"LOG0OSTi GEPOSTETAUFPROBLOGGERNET $EZEMBER WWWPROBLOGGERNETARCHIVESTENS TIPS FOR WRITING A BLOG POST

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des Briefe- und gelegentlichen Essayschreibens anschließt, zeichnet sich der ideale Blogbeitrag durch flotte PR-Techniken aus. Webdienste wie Blogs können nicht unabhängig von ihrem Output betrachtet werden. Die Politik und die Ästhetik, die die frühen Nutzer eines Mediums definieren, prägen es für die kommenden Jahrzehnte. Blogs erschienen in den späten Neunzigern im Schatten der Dotcom-Manie.10 Damals war die Kultur der Blogs noch nicht ausreichend entwickelt, um vom Risikokapital und seiner hysterischen ›demo-or-die…now-or-never‹-Mentalität beherrscht zu werden. Blogs erschienen anfangs als eine Art zwanglose Konversationen, die wenig Ansätze zur Vermarktung boten. Der Auf bau einer lässigen Parallelwelt ermöglichte es den Blogs, Kristalle zu bilden (ein Begriff, der von Elias Canetti geprägt wurde), aus denen sich Millionen weiterer Blogs entwickelten, bis sie um das Jahr 2003 eine kritische Masse erreichten. Nach dem 11. September schlossen Blogs die Lücke zwischen Internet und Gesellschaft. Während die Dotcom-Manager noch davon träumten, wie Massen von Konsumenten ihre E-Commerce-Portale überfluteten, waren es die Blogs, die weltweit die Demokratisierung des Netzes vorantrieben. So wie Demokratisierung sich einerseits auf engagierte Bürger stützt, impliziert sie andererseits auch Normalisierung (etwa im Setzen von Normen) und Banalisierung. Wir können diese Elemente nicht voneinander trennen, indem wir uns nur mit den interessanten Teilen vergnügen. Laut Jean Baudrillard leben wir im Universum der »integralen Realität«. Er schreibt: »Gab es einst eine Transzendenz nach oben hin, so gibt es heute eine nach unten verlaufende Transzendenz. Es handelt sich gewissermaßen um den zweiten Sündenfall des Menschen, von dem Heidegger spricht: dem Fall in die Banalität, diesmal aber ohne Möglichkeit der Erlösung.«11 Wer mit einem hohen Maß an Irrelevanz nicht umgehen kann, wird an Blogs also wenig Freude haben. Die Blogosphäre wurde weder von Dotcom-Unternehmern noch von TechnoGeeks geformt. Einfaches Computer-Grundwissen reicht in ihr völlig aus, nicht einmal HTML-Kenntnisse sind nötig. Für Businesstypen ist hier kein schnelles Geld zu machen. Für die Branding- und PR-Beflissenen stellt der offene Charakter der Blogs sogar ein Risiko dar. Die Geeks fühlen sich in ihrer Slashdot-Gemeinde sicherer und ziehen das saubere ASCII einer E-Mail der schillernden, persönlichkeitsbetonten Manier der Blogs vor. Für die meisten Akademiker sind Blogs irrelevant, da sie nicht zu den Publikationen gerechnet werden. Ähnlich sieht es auch bei Netzaktivisten aus, die über den Gebrauch von E-Mail und ihr eigenes Content-Management-System nicht hinausgekommen sind. Eine breite Hinwendung zu Blogs, Wikis und Podcasts durch die Zivilgesellschaft muss erst noch erfolgen. Radikale Linke und Globalisierungsgegner sind mit Projekten wie Indymedia voll ausgelastet und blicken gewöhnlich nicht über ihre Nische hinaus. Die Neue-Medien-Kunstszene brauchen wir hier gar nicht 10. 3IEHE 2EBECCA "LOODS wHISTORY OF BLOGSi 3EPTEMBER  WWWREBECCAB LOODNETESSAYSWEBLOG?HISTORYHTML 11. *EAN"AUDRILLARD %JF*OUFMMJHFO[EFT#zTFO 7IEN0ASSAGEN  3 ORIG -FQBDUFEFMVDJEJUnPVMµJOUFMMJHFODFEVNBM 0ARIS'ALILÏE 

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zu erwähnen, da sie auf wundersame Weise abwesend ist. Die zeitgenössische Kunstszene ist mit Blogging nicht vertraut. Anders sieht es da schon bei Bands, ihren Fan-Gemeinden und bei Labels aus.

3IND"LOGSVAGE7IE$IENSTAG Der Motor hinter der Expansion der Blogosphäre ist die Verschiebung von Code zu Content. An leerem Demo-Design besteht heute kein Bedarf mehr. Blogs sind weder ein Test, noch ein Theorem. Sie existieren tatsächlich. Anfang 2006 gehen grobe Schätzungen von rund 100 Millionen Blogs weltweit aus. 12 Von Beginn an war die Blog-Kultur die Heimat von Produzenten kreativer und sozialer Inhalte. Ich zögere, diese Produzenten Journalisten und Akademiker zu nennen, weil es – trotz der Tatsache, dass viele Blogger einen solchen Hintergrund haben – falsch wäre, die Pioniere unter den Bloggern auf institutionelle Zugehörigkeiten festzulegen. Bloggen war aber auch nicht per se anti-institutionell. Ähnlich wie in der Cyberkultur der Neunziger besitzen die Angehörigen der ersten Generation von Bloggern oft schillernde Biographien. Eine dominante Kultur, wie die der kalifornischen Techno-Hippies, hat sich dagegen nicht herausgebildet, und falls sie doch existieren sollte, ist sie schwer zu benennen. Blogging kommt dem nahe, was Agentur Bilwet einst unter dem Begriff der »vagen Medien« beschrieben hat. 13 Die fehlende Ausrichtung stellt hier kein Manko dar, sondern ist vielmehr ein wesentlicher Aktivposten. Das Bloggen entstand nicht aus einer Bewegung oder einem bestimmten Ereignis heraus. Es ist bestenfalls als Spezialeffekt einer Software zu beschreiben, da seine wesentlichen Grundlagen in der Automatisierung von Links und einem nicht übermäßig komplexen technischen Schnittstellendesign bestehen. Der an der Brisbane Queensland University of Technology arbeitende Medienwissenschaftler Axel Bruns hat die Theorie entwickelt, Blogging sei eine Form von »Gatewatching«. Zunächst erschien der Begriff zu steif und indifferent, zu brav. Es fehlte ihm die Souveränität. Gatewatching stuft Blogs im Verhältnis zu Nachrichtenquellen implizit als passiv und zweitrangig ein (wenn wir der Analogie folgen wollen: die Nachrichten-Gates der US-amerikanischen Ost- und Westküste, die vom mittleren Westen aus ›überwacht‹ werden). Ich habe diesen Begriff aber zu schätzen begonnen, als mir bewusst wurde, dass er eine genaue Beschreibung dessen darstellt, was Blogs tatsächlich tun, näm12. $IEJEWEILSAKTUELLEN:AHLENlNDETMANUNTERWWWBLOGHERALDCOM!LLEPRO FESSIONELLMITDER%RFASSUNGVON"LOGSBEFASSTEN0ERSONENGEBENALLERDINGSZU WIE WILLKàRLICHUNDUNZUVERLËSSIGDIEVERFàGBAREN3TATISTIKENSIND DASIENICHTMITEIN BEZIEHEN WENN "LOGS GESCHLOSSEN ODER VERLASSEN WERDEN .ICHTSDESTOTROTZ IST DIE 4ENDENZKLARUNDUNBESTRITTEN 13. !GENTUR "ILWET .FEJFO"SDIJW (EIDELBERG "OLLMANN  3 WWW THINGDESKNLBILWET!GENTUR"ILWET-EDIENARCHIVVAGETXTw6AGE-EDIENGEHENNICHT AUF%RFOLGEIN3IEERREICHENIHRE:IELENICHT3IEFOLGENNICHTDEM-ODELLDER!RGUMEN TATION SONDERNDEMDER)NFEKTION%INMALEINGESCHALTET HATMANDIE%INSTELLUNGi

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lich die ›Gatekeeper‹ der Nachrichtenmedien und die Blogger-Kollegen, die in einen, wie Bruns es nennt, »partizipatorischen Journalismus« involviert sind, zu überwachen.14 Gatewatcher kommentieren die Entscheidungen derer, die die Newsgates kontrollieren. Dies ist keine Tätigkeit von Zuschauern mehr. Durch automatisierte Nachrichten-Syndizierung (RSS Feeds) beispielsweise wird der Prozess der Kommentierung selbst zur Nachricht. Das Beobachten wird in ein Aufzeichnungssystem übernommen, passgenau eingefügt und mit Inhalten gefüttert. Obwohl Nachrichtenagenturen wie Reuters Blogeinträge nicht für erwähnenswert halten, könnten Meinungsmacher von ihnen Notiz nehmen (das ist es zumindest, was sich einige Blogger erhoffen). Auf diese Weise hat der Gatewatcher einen Platz innerhalb eines hermeneutischen Zirkels, in dem Nachrichten als etwas Gegebenes genommen und dann interpretiert werden. Persönliche Tagebucheinträge ergänzen die Nachrichten, ändern aber nicht die exegetische Natur des Bloggens. Ich blogge, also kontrolliere ich. Es gibt die weit verbreitete Annahme, dass Blogs in einer symbiotischen Beziehung zur Nachrichtenindustrie stehen. Doch diese These ist nicht unumstritten. Kenner der Geschichte des Hypertexts haben die Ursprünge der Blogs in den Hypercards der Achtziger und nicht zuletzt in der Online-Literatur entdeckt, die ihren Höhepunkt in den Neunzigern erlebte. Die wesentliche Aktivität des Lesers bestand dort darin, von einem Dokument zum nächsten zu klicken. Aus irgendwelchen Gründen aber geriet diese Unterströmung aus dem Blick zugunsten von Mainstream-Ansichten über das Wesen der Blogs. Übrig blieb die augenscheinliche Gleichsetzung von Blogs und Nachrichtenindustrie. Um dem etwas entgegenzusetzen, muss man tiefer in die reiche Geschichte der Literaturkritik einsteigen und untersuchen, wie sich Bloggen zum Tagebuchführen verhält. Es macht sicher Sinn, eine Theorie des Bloggens im Sinne des von Foucault entwickelten Konzepts einer ›Technologie des Selbst‹ zu formulieren. Blogs experimentieren mit dem Format des ›öffentlichen Tagebuchs‹, ein Begriff, der den produktiven Widerspruch von öffentlich und privat, in dem sich die Blogger befinden, zum Ausdruck bringt. Bis vor kurzem waren die meisten Tagebücher privat. Möglicherweise wurden sie geschrieben, um später einmal, wenn es den Autor nicht mehr gibt, veröffentlicht zu werden, aber sie waren nichtsdestoweniger ›offline‹ im Sinne von nicht zugänglich. Bei allen offensichtlichen Unterschieden gibt es auch Gemeinsamkeiten, wie wir in A Book of One’s Own, People and Their Diaries von Thomas Mallon erfahren können. Blogger werden sich in Mallons Text wiedererkennen. »Immer hinke ich hinterher. Ich versuche, jede Nacht zu schreiben, doch oft schaffe ich es erst einige Tage später, einen Tag aufzuschreiben. Immerhin gelingt es mir, sie alle noch auseinanderzuhalten. Ich vermute, es ist ein Zwang, aber ich zögere, es so zu nennen, weil es mir doch mittlerweile ganz leicht fällt. Es gibt einen Punkt, wie bei einem Marathonläufer, da durchbricht man eine Art Mauer und läuft von da an automatisch. Natürlich gibt es Tage, da hasse ich es, an dem

14. !XEL "RUNS (BUFXBUDIJOH  $PMMBCPSBUJWF 0OMJOF /FXT 1SPEVDUJPO .EW 9ORK 0ETER,ANG  3

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Ding zu schreiben. Wer braucht es? frage ich mich dann, aber mache trotzdem weiter.« 15 Nachdem er Hunderte von Tagebüchern gelesen hat, kommt Mallon zu dem Schluss, dass niemand je ein Tagebuch nur für sich selbst geführt hat. »Eigentlich glaube ich nicht, dass man an sich selbst viel mehr Worte richten kann, als auf eine an den Kühlschrank geklebte Nachricht ›Brot einkaufen‹ passt.«16 Ein Tagebuch zu schreiben führt dazu, diese Aktivität selbst zu reflektieren. Für Mallon ist Virginia Woolf die bedeutendste Kritikerin dieses Genres: »Diese Tätigkeit ist so verrückt, so aus dem Moment heraus und wohl auch so privat, dass es für den Tagebuchschreiber nicht verkehrt sein kann, hin und wieder innezuhalten und sich zu fragen was er da eigentlich tut.« Woolfs grundlegendes Motiv ist »alles festzuhalten, die Zeit und den Tod all der Dinge, die sie gelebt hat, zu überlisten.« Was mich hier fasziniert, sind die ›Zeitfalten‹, die wir auch in den Blogs so oft finden. Viele von Virgina Woolfs Einträgen, so Mallon, sind von der Vernachlässigung des regelmäßigen Tagebuchschreibens geprägt. »Die Aufzeichnungen werden häufig wegen physischer Krankheiten, Psychosen, dem Druck der Arbeit oder des Soziallebens unterbrochen. Und wegen Unlust.« 17 Klingt das nicht irgendwie bekannt? Situiert man das Bloggen zwischen Online-Publikation und der Intimsphäre des Tagebuchschreibens, so stellt sich die Frage nach der ohnehin bereits aufgebrochenen Unterscheidung von dem, was öffentlich, und dem, was privat (bzw. davon noch übriggeblieben) ist. Es ist bemerkenswert, dass viele Teilnehmer Blogs und Social-Networking-Sites wie Orkut oder MySpace nicht als Teil des öffentlichen Lebens wahrnehmen. Online-Gespräche unter Freunden sind so intensiv, dass die (hauptsächlich jungen und oft naiven) User nicht wissen oder es sie nicht kümmert, dass sie unter ständiger Beobachtung stehen. Danah Boyd, die über soziale Netzwerke forscht und auch schon für Google und Yahoo! gearbeitet hat, erklärt: w4EENAGERWACHSENUNTERSTËNDIGERÄBERWACHUNGAUF WEIL%LTERN ,EHRER DIE3CHUL VERWALTUNGUNDANDERE DIEDIREKTEN:UGRIFFAUF*UGENDLICHEHABEN SIESTËNDIGBE OBACHTEN 2EGIERUNGEN UND 5NTERNEHMEN WERDEN VON IHNEN DESHALB NICHT EINMAL WAHRGENOMMEN WEILDIE,EUTE DIEIHR,EBENDIREKTBEEINmUSSEN EINUMFASSENDERES 0ANOPTIKUMUMSIEHERUMAUFGEBAUTHABEN ALSESIRGENDEINEEXTERNE3TRUKTURJEMALS KÚNNTE$IEPERSÚNLICHE4OTALàBERWACHUNG INDERSIESICHBElNDEN ISTWEITAUSBE DROHLICHER DIREKTERUNDTRAUMATISCHER!LS&OLGEZEIGTSICH DASSDIE*UGENDGEGENà BERDER'EFËHRDUNGIHRER0RIVATSPHËREDURCH2EGIERUNGENUND5NTERNEHMENZIEMLICH SORGLOSISTi

15. 4HOMAS -ALLON " #PPL PG 0OFµT 0XO .EW 9ORK 4ICKNOR  &IELDS 

3XIII 16. -ALLON 3XVII 17. -ALLON 3UND 18. WWWZEPHORIAORGTHOUGHTSARCHIVESEROSION?OF?YOUTHTML

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Boyd rät deshalb: »Wenn uns nichts einfällt, wie wir Jugendlichen eine Privatsphäre im persönlichen Bereich geben können, werden sie auch im öffentlichen Bereich keinen Schutz der Privatsphäre erwarten.« Bis auf weiteres wird die fröhliche Preisgabe des Privaten weitergehen, und Familien, Sozialarbeiter und Klerus müssen sich mit dem Potlatsch wohl oder übel abfinden. Statt Bedenken anzumelden, sollte man sich dann vielleicht doch lieber an den menschlichen Gefühlen aus den Weblogs erwärmen, wie es wefeelfine. org vorgemacht hat. Die Frage, ob Blogs innerhalb oder außerhalb der Medienindustrie operieren, ist wegen ihres öffentlichen Tagebuch-Charakters nicht leicht zu beantworten. Blogs innerhalb der Medienindustrie zu positionieren, wird von manchen als opportunistisch angesehen, während andere eben dies als cleveren Schachzug begreifen. Es gibt hier auch einen taktischen Aspekt: Der Blogger als Journalist könnte unter einer solchen Bezeichnung vor eventueller Zensur und Repression geschützt sein. Trotz zahlloser Versuche, Blogs als Alternativen zu den Mainstream-Medien zu positionieren, werden sie doch oft und präziser als ›Feedback-Kanäle‹ bezeichnet. Doch der Akt des Gatewatching der MainstreamMedien führt nicht notwendigerweise zu sinnvollen Kommentaren, die für eine interne Medienkritik eine Rolle spielen könnten. In der Kategorie ›unsensibel‹ haben wir ein breites Spektrum von schreiend komisch bis verrückt, traurig oder einfach krank. Was CNN, Zeitungen und Radiosendern weltweit nicht gelungen ist, nämlich offene, interaktive Botschaften ihres Publikums zu integrieren, erledigen nun Blogs für sie. Einen Bericht zu ›bloggen‹ bedeutet nicht, dass der Blogger sich nun hinsetzt und genau dessen Umstände und diskursive Hintergründe analysiert, oder auch nur die Fakten überprüft. Bloggen bedeutet lediglich, kurz mittels eines Links auf Nachrichten zu verweisen und mit wenigen Sätzen zu ergänzen, weshalb der Blogger diese oder jene Halbwahrheit als interessant, bemerkenswert oder als abzulehnen empfindet. Einträge auf Blogs sind oft hastig aufgezeichnete Überlegungen, die sich um einen Link oder ein Ereignis ranken. In den meisten Fällen haben Blogger weder die Zeit, noch die Fähigkeiten oder die finanziellen Mittel für eine sorgfältige Recherche. Es gibt zwar kollektive ›Rechercheblogs‹, die sich spezifischen Themen und Fragestellungen widmen, aber sie sind selten. Gewöhnliche Blogs produzieren eine dichte ›Wolke von Eindrücken‹ um ein Thema herum. Blogs sind insofern Tests. Sie vermitteln traditionellen Medien einen Eindruck davon, ob ihr Publikum noch wach und aufnahmefähig ist. In diesem Sinn könnte man auch sagen, dass Blogs die ausgelagerten, privatisierten Testfelder, oder eher noch, Modultests19 der großen Medien sind.

19. %D0HILLIPSAUS3AN&RANCISCOBERICHTET DASSw-ODULTESTSkUNITTESTSj INDER 3OFTWAREWELTINZWISCHENEINABSOLUTES-USSSIND UNDWIEMANSICHEINGRڔERES3OFT WARE 0ROJEKTKAUMOHNE-ODULTESTSVORSTELLENKANN SOKANNMANSICHAUCHDIEGRO”EN -EDIENSCHWEROHNEDIE"LOGOSPHËREVORSTELLENi% -AILVOM-ËRZ 

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"LOGSOHNE'RENZEN Die Grenzen zwischen Mediensphäre und Blogosphäre sind fließend. Eine detaillierte soziologische Analyse würde mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Grauzone von freien Medienschaffenden zu Tage fördern, die zwischen beiden Gebieten hin- und herpendeln. Von Beginn an haben Journalisten, die für die alten Medien arbeiteten, auch Blogs betrieben. Wie verhalten sich Blogs also zum unabhängigen, investigativen Journalismus? Auf den ersten Blick erscheinen sie wie entgegengesetzte oder aber als potenziell sich ergänzende Praktiken. Während investigative Journalisten Monate, wenn nicht Jahre, daran arbeiten, eine Geschichte aufzudecken, erscheinen die Blogger eher wie eine Armee von Ameisen, die ihren Teil zu dem Gemeinschaftswerk beitragen, das man öffentliche Meinung nennt. Nur selten fügen Blogger einem Bericht neue Fakten hinzu. Sie finden ›bugs‹ in Produkten und Nachrichten, aber decken nur selten Manipulationen auf, geschweige denn, dass sie eigene, gut recherchierte Berichte auf den Tisch legen würden. Cecile Landman, eine investigative Journalistin aus den Niederlanden, die irakische Blogger in der Streamtime-Kampagne unterstützt, kennt beide Welten. »Journalisten müssen ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie können nicht einfach alles ins Netz stellen. Blogger kümmert das anscheinend weniger, und das sorgt für einen Konflikt.«20 Laut Landman verändert Blogging die bestehenden Formate, in denen Informationen verbreitet werden. »Den Leuten werden die herkömmlichen Formate zunehmend langweilig; sie verfolgen die Nachrichten nicht mehr richtig, und sie bleiben auch nicht mehr in ihren Memory-Sticks gespeichert. Nachrichten sind wie Songs, die man zu oft gehört, oder Werbespots, die man zu oft gesehen hat. Man hört sie, man kann sogar die Wörter mitsingen, aber sie haben keine Bedeutung mehr. Die Mainstream-Medien fangen gerade an, das zu begreifen. Sie müssen nach neuen Formaten suchen, um Leser (sprich: Anzeigenkunden) an sich zu binden«, und Blogs sind nur ein kleines Kapitel in diesem Transformationsprozess. Wir können nicht davon ausgehen, dass Blogs – standardmäßig – eine progressiv-linke Haltung gegenüber regierenden Politikern und großen Unternehmen vertreten. Als ich 2004 aus Australien zurück in die Niederlande zog, musste ich mich erst an die Tatsache gewöhnen, dass in diesem einst liberalen, toleranten Land harsch auftretende Blogger den Ton angaben, deren non-konformistische Haltung darauf zielte, den liberalen Konsens zu brechen und unter dem Banner der freien Rede offen rassistische und antisemitische Hasstiraden zu verbreiten. Als ich die Master-Arbeit von Sjoerd van der Helm über die niederländische Blogosphäre betreute, war ich erschrocken über die Aggressivität der darin behandelten Shockblogs. 21 Um nur einige dieser niederländischen Shock20. 'EERT,OVINK )NTERVIEWMIT#ECILE,ANDMAN *ANUARWWWNETWORK CULTURESORGWEBLOGARCHIVESSUPPORT?IRAQI?BHTML 21. 3IEHE SEINE -ASTERARBEIT IN .IEDERLËNDISCH  WWWNETWORKCULTURESORG WEBLOGARCHIVESBLOGGEN?IS?ZO?HTML3JOERDVANDER(ELMSEIGENER"LOG WWWSJOERDVANDERHELMNLWEBLOGINDEXPHP

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blogs beim Namen zu nennen, sie heißen Hersenscheet, Neukia, GeenStijl, Retecool, Volkomenkut, Drijfzand, Skoften und Jaggle. Hier werden triviale Informationen, Werbung und ein ganz unverblümter Informationskrieg, in dem Blogger Attacken gegen öffentliche Personen führen, miteinander vermischt. Manche Websites bieten ihren Nutzern darüber hinaus auch die Möglichkeit Nachrichtenfotos zu manipulieren (»fotofucken«). Gelegentlich liefern Shockblogs investigative Berichte, da die Shockblogger (die anonym posten und in Gruppen zusammenarbeiten) ganz wild darauf sind, anderen beim Aufspüren von Neuigkeiten zuvorzukommen. »Spezialisierte Websites, die im wachsenden Konkurrenzkampf mit den Mainstream-Nachrichtenkanälen stehen, brauchen, um sich eine Fan-Gemeinde zu schaffen, Exklusivstories. Deshalb versuchen solche Start-ups, so oft es ihnen gelingt, mit den neuesten Nachrichten in Sekundenschnelle online zu sein«, berichtet Peter Johnson in USA Today.22 Shockblogs sind die meist besuchten Blogs in den Niederlanden. Sie spielten z.B. auch eine entscheidende Rolle bei der fortdauernden Legendenbildung um den Mord an dem niederländischen Regisseur Theo van Gogh, der selbst ein Shockblog mit dem Namen De Gezonde Roker (Der gesunde Raucher) betrieb. Shockblogs berichteten als erste über den Vorfall und verwandelten sich dann umgehend in Online-Foren, auf denen erbitterte Diskussionen darüber stattfanden, wie die niederländische Gesellschaft auf die Kultur der islamischen Migranten reagieren sollte. Die Shockblogs gaben den Ton der Diskussion an und heizten die Spannungen zwischen den (ethnischen) Gruppen der Gesellschaft weiter an. Dies konnte man spiegelbildlich auch in den niederländisch-marokkanischen Webforen verfolgen, die in den Monaten vor und nach van Goghs Ermordung eine Schlüsselrolle spielten. 23 Blogs werden von jedem und für jeden Zweck benutzt. Die PR-Industrie fand heraus, dass auch gegen Bezahlung gebloggt wird. Dies kann eine effektive Strategie bei einem Angriff auf ein Produkt oder eine Firma sein. Fake Blogs – eine Form von virusartigem Marketing24, bei dem PR- oder Werbeagenturen über eine fiktive Person im Internet Interesse am Produkt eines Kunden zu wecken versuchen – haben unter Bloggern viel Kritik geerntet.25 So meldete O’Dwyer’s PR Daily, dass der PR-Gigant Edelman den RedState.org-Blogger Michael Kremparsky »aufgrund seiner Fähigkeit, Verbindungen zu einem konservativen Publikum herzustellen«26 unter Vertrag genommen hat. Kremparsky nennt den Edelman-Auftrag auf seiner Website seinen ›Broterwerb‹, im Gegensatz zu sei22. WWWUSATODAYCOMLIFECOLUMNISTMEDIAMIX   MEDIA MIX?XHTM 23. 3IEHEDEN"ERICHT!LBERT"ENSCHOPSVONDER5NIVERSITËT!MSTERDAMw#HRO NICLEOFA0OLITICAL-URDER&ORETOLD *IHADINTHE.ETHERLANDSi .OVEMBERWWW SOCIOSITEORGJIHAD?NL?ENPHP 24. WWWSOURCEWATCHORGINDEXPHPTITLE6IRAL?MARKETING 25. "OBBIE*OHNSON w#LEANER#AUGHT0LAYING$IRTYONTHE.ETi 4HE'UARDIAN  /KTOBER#ONSTANTIN"ASUREAHATEINE,ISTEVON"LOGSZUSAMMENGESTELLT DIEAUF 0UBLIC 2ELATIONS AUSGERICHTET SIND WWWSOURCEWATCHORGINDEXPHPTITLE0UBLIC? RELATIONS 3IEHEAUCHWWWSPINWATCHORG 26. WWWPRWATCHORGTAXONOMYTERMFROM

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nem Blogging-Hobby. Seine erste Mission bestand darin, die Beteiligung von Wal-Mart an der Hilfsaktion nach dem Hurrikan Katrina (August 2005) aufzubauschen.27 Einige Einsichten des konservativen politischen Philosophen Leo Strauss könnten hier für Blogger von Bedeutung sein. Informationen werden nicht nur in die Welt gesetzt, um uns klüger und wissender zu machen – und die Blogs bilden da keine Ausnahme. Je populärer Blogs werden, desto weniger ist sichergestellt, dass sie zur Aufklärung beitragen. Um Leo Strauss und seine neokonservative Konterbande zu paraphrasieren, könnte man sagen: Der Blogger, der in das Ohr des Königs flüstert, ist wichtiger als der König selbst. Wenn man es geschickt anstellt, kann man für seine Blogeinträge nicht einmal verantwortlich gemacht werden. Simples Training in diesen grundlegenden, wenn auch esoterischen Strauss’schen Prinzipien kann bei Bloggern die Aufmerksamkeit dafür schärfen, dass das politische Leben sehr viel mit Betrug zu tun haben kann. Täuschung, nicht Wahrheit ist im politischen Leben die Norm. Blogger sind die Erzähler ›nobler Lügen‹ – nicht nur für die breite Masse, sondern auch für mächtige Politiker.28 Eine Reihe von Studien beschäftigt sich mittlerweile mit der Beziehung zwischen Bloggern, Nachrichtenindustrie und der politischen Klasse. Joe Trippi, der 2003 den Online-Wahlkampf für den Präsidentschaftskandidaten Howard Dean leitete, schrieb einen inzwischen schon klassischen, pathetischen Bericht darüber, wie erfolgreich das Bloggen war und wie es das politische Versagen überstrahlte. Während des Dean-Wahlkampfes fungierten Blogs als Fundraisingmaschinen, Meinungsforschungsinstrumente und Apparate zur Mobilisierung der Basis. Wie Trippi schrieb: »Ein Kandidat hat verloren, aber seine Kampagne hat gewonnen.« Blogs spielten nicht nur eine ausschlaggebende Rolle beim schnellen Aufstieg von Dean, sondern beschleunigten, wie Trippi zugibt, auch Deans Niederlage in Iowa. »Natürlich spielte das Internet eine große Rolle bei der Verbreitung der ›I have a Scream‹-Rede und machte damit auf abartigste Weise deutlich, wie mächtig das Medium geworden war.«29 Es ist seltsam, zu beobachten, wie sich eine Niederlage in einen machtvollen Gründungsmythos verwandeln kann. Man kann nur hoffen, dass er nicht so katastrophal verläuft wie der Gründungsmythos der serbischen Nation, die Niederlage der serbischen Truppen gegen die Ottomanen 1389 bei der Schlacht auf dem Amselfeld. Oder wie die Entstehung der ANZAC (Australian and New Zealand Army Corps) aus der verheerenden Niederlage der australischen und neuseeländischen Truppen bei der unter britischem Kommando durchgeführten Schlacht um die türkische Halbinsel Gallipoli während des Ersten Weltkrieges, was in die ANZAC-Legende mündete, eine Tragödie, die in den folgenden Jahren als Geburt der Nation gefeiert wurde. 27. /$WYERS02$AILY 3EPTEMBER 28. )CHNEHMEHIER"EZUGAUFEINEN!RTIKELVON*IM'EORGEw,EO3TRAUSS .EO CONSERVATISM 53&OREIGN0OLICY%SOTERIC.IHILISMANDTHE"USH$OCTRINEi IN)NTER NATIONAL0OLITICS   3  29. *OE4RIPPI 5IF3FWPMVUJPO8JMM/PU#F5FMFWJTFE .EW9ORK2EGAN"OOKS  3XVIII

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Wie kann ein Medium mit einem solch informellen Charakter untersucht werden? Ein Weblog ist die ›Stimme einer Person‹, wie Überblogger Dave Winer es einmal definiert hat. Er ist eher die digitale Erweiterung oraler Traditionen als eine neue Form des Schreibens.30 Durch Bloggen werden Nachrichten von einem Lesestoff in einen Gesprächsstoff verwandelt. In den Blogs ist das Echo von Klatsch und Gerüchten, Gesprächen in Cafés und Bars, auf Plätzen und Korridoren zu hören. Sie zeichnen »die Ereignisse des Tages« (Jay Rosen) auf.31 Bei den heutigen ›Aufzeichnungsmöglichkeiten‹ aller denkbaren Situationen haben wir schon längst aufgehört, uns darüber aufzuregen, dass alle unsere Bewegungen und Äußerungen (Klang, Bild, Text) von Computern ›gelesen‹ und in die ›Schrift‹ von Nullen und Einsen verwandelt werden. In diesem Sinn passen sich Blogs in den größeren Trend ein, dass unsere gesamten Aktivitäten überwacht und gespeichert werden. Im Fall der Blogs wird dies nicht von einer unsichtbaren und abstrakten Autorität ausgeführt, sondern es sind die Subjekte selbst, die ihren Alltag aufzeichnen. Wenn Leute sich darüber aufregen, dass sie ihren Job verlieren, nachdem sie auf ihren Blogs kritische Bemerkungen über ihre Arbeitgeber geschrieben haben, merkt man, dass die Verbreitung dieser Erkenntnis noch am Anfang steht. »Wer liest denn schon meinen Blog?« Nun, offensichtlich tut es dein Boss.32 Techno-Determinismus hat seine Verdienste, aber verliert zu oft die sozialen Dynamiken der User untereinander aus den Augen und ist völlig ungeeignet, wenn es darum geht, die Machtpolitik von Wissenschaftsdisziplinen und Fachrichtungen zu verstehen. Blogs ignorieren Regeln und Grenzen: nicht weil sie von Natur aus subversiv sind und sich dem Determinismus widersetzen, sondern weil sie soziale Experimente sind; und nicht aus einem Glaubenssystem heraus, sondern einfach, weil sie Stand der Technik sind. Die antiquierten Gemüter unter uns kritzeln weiterhin in ihre Tagebücher aus Papier – oder klicken auf »drucken«, sobald ihr Blogeintrag online ist – und werden es weiter so machen, bis die Zeit sie zwingt sich zu bewegen. Das Leben ist bestimmt von Veränderung und Abenteuer und die Aufmerksamkeit, die Blogs heute erhalten, wird sich irgendwann wieder auflösen. Sie werden von der nächsten Neuentwicklung genauso abgelöst werden, wie sie vorher die Dominanz von Websites und Homepages abgelöst haben.

30. .ICK'ALLw6IELE-EDIENDENKEN DASS"LOGSEINENEUE&ORMDES0UBLIZIERENS SEIEN ABER IN 7IRKLICHKEIT SIND SIE EINE NEUE &ORM VON +ONVERSATION UND 'EMEIN SCHAFTi)N+LINE"URSTEIN 3 31. wk*OURNALISMUSj ERKLËRTUNS*AMES7#AREY kKOMMTVOMFRANZÚSISCHEN7ORT FàR4AG%SISTUNSERETËGLICHE,EKTàRE UNSERKOLLEKTIVES4AGEBUCH DASUNSERGEMEIN SAMES,EBENAUFZEICHNETj$AS'ESCHEHENDES4AGESAUFZUZEICHNEN DARINHABEN.EWS ROOMUND4AGEBUCHSCHREIBERDASGLEICHE:IELi*AY2OSEN w4HE7EBLOG !N%XTREMELY $EMOCRATIC&ORMIN*OURNALISMi -ËRZHTTPJOURNALISMNYUEDUPUBZONE WEBLOGSPRESSTHINKWEBLOG?DEMOSHTML 32. 7OLF $IETER 2OTH w-EIN "LOG LIEST JA SOWIESO KEIN 3CHWEINi  $EZEMBER WWWHEISEDETPRARTIKELHTML

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Gemeinplätze für Bebloggte: • Todsünde: arbeitsaufwendige, detaillierte, wortgenaue Abschriften von unbefriedigenden Telefongesprächen mit Service-Anbietern (Big Blogger 2005) • Dennis: »Warum Du mich kennenlernen solltest: weil ich jetzt schon weiß, dass ich dich hassen werde und ich Dich herausfordere, mir zu beweisen, dass ich falsch liege.« • Lies das Weblog, trage das T-Shirt und lebe das Leben. • Anfangen geht leicht, fertigstellen geht schwer. • Du brauchst keinen Sack voller Werkzeuge, um ein leckeres Fondue zu machen. (Dr. Phil) • Interessen: Wein trinken (wenn ich mich gerade kultiviert fühlen möchte), nicht arbeiten, die Fernbedienung bedienen. • »Ich könnte kotzen wegen meinem Stiefvater, er ist so ein Arschloch. Er zickt immer wegen irgendwas herum, ich glaube er sucht immer was, um rumzuzicken.« (Ernie) • Mein Gedächtnis ist ein Blog voller kreativer Ideen, aber ich kann nichts vorzeigen. • Er starb mit einer leeren Inbox. • Dies ist mein Blog, verdammt, und wenn mir danach ist, rege ich mich über sechs Monate alte Meme auf. (waxy.org) • Friday Night Cat Blogging • Bist du begeisterter Anhänger? Dann trage einen Web 2.0-Anstecker. • Jeder Tag ist eine gewundene Straße. (Sheryl Crow) • Eigentlich wollte ich meine Haare schneiden lassen, aber jetzt, wo Andy Samberg groß rauskommt, lasse ich sie wachsen. In ihrem Buch Blog!: How the Newest Media Revolution is Changing Politics, Business and Culture veröffentlichen die US-amerikanischen Journalisten David Kline und Dan Burstein Interviews mit bedeutenden amerikanischen Bloggern aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Zwischen all den Seiten voller zwanghaftem Optimismus und aufgeblasener Bekenntnisse selbsternannter Blog-Berühmtheiten finden wir wenig, was die Rhetorik des ewigen Wachstums und Erfolgs in Frage stellt. Diese allzu amerikanische Einstellung wieder einmal zu kritisieren, hieße aber auch nur, sich zu wiederholen. Der Blog-Hype ist mit der Dotcom-Hysterie der Neunziger nicht vergleichbar. Die ökonomischen und politischen Landschaften sind schlicht zu unterschiedlich. Was mich hier aber besonders interessiert hat, ist die oft gehörte Bemerkung, Blogs seien zynisch und nihilistisch. Ich wollte diese Anschuldigung nicht unter den Tisch kehren und ließ beide Schlüsselwörter versuchsweise durch die Systeme laufen, um herauszufinden, ob es sich dabei möglicherweise tatsächlich um strukturell gefestigte, grundlegende Tugenden der Blogger-Nation handelte. Statt aber die Blogger zu einer »Armee von Davids«, Underdogs in einer Mission gegen Goliath, zu stilisieren, wie es der Buchtitel von Instapundit-Blogger Glenn Reynolds nahelegt,33 scheint es mir sinnvoller, die Techno33. 'LENN 2EYNOLDS "O "SNZ PG %BWJET  )PX .BSLFUT BOE 5FDIOPMPHZ &NQPXFS 0S

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Mentalität der Nutzer näher in Augenschein zu nehmen. »We can fact-check your ass«, hat Ken Layne einmal geäußert, doch die tägliche Realität der Blogger ist eine andere. Die meisten bringen weder die Zeit noch die Konzentration auf, um gründliche Recherchen anzustellen und folgen lieber der Herde, wofür Blogger ja schon berühmt sind. Was Reynolds als das Ende der Macht der Big Media präsentiert, stellt sich als clevere Strategie von Zeitungen und anderen Medien heraus, Kunden interaktiv einzubinden. Obwohl die traditionellen Medien »sich vor Leuten in Acht nehmen sollten, die Spaß daran empfinden, mit ihnen in Konkurrenz zu treten«, warnt Reynolds, dass nur Misstrauen ihnen gegenüber »auf Dauer auch keine Lösung sein kann.«34

%INE+R ITIKDER)NTERNET 6ERNUNF T Historisch betrachtet ist es durchaus plausibel, Internet-Zynismus als Antwort auf den Millennium-Wahnsinn zu deuten. Im Januar 2001 schrieben Greg Sherman und Amy Avila im Dotcom-Magazin Clickz: »Unter Investoren, Konsumenten und Journalisten setzt sich zunehmend die Vorstellung durch, dass die Versprechungen, die im Zusammenhang mit dem Internet abgegeben worden sind, sich zu einer einzigen, frechen Lüge verdichtet haben – und dass wir heute die Sünden der Überschwenglichkeit von gestern bezahlen müssen.« 35 In My First Recession (2003) habe ich den Kater nach der Dotcom-Euphorie geschildert. In diesem Licht ist Zynismus nichts anderes als der diskursive Schutt eines zusammengebrochenen Glaubenssystems, der kalte Entzug nach dem Rausch des Marktes. Dagegen wirken die Clinton-Jahre der Globalisierung (1993-2000), in Negri und Hardts Empire so treffend beschrieben, im Rückblick nur noch optimistisch und unschuldig. Dennoch brachte die folgende lange Talsohle kein kollektives Gefühl der Krise. Auch nach 2000 hält die Hochstimmung weiter an (Parties, Drogen, Technologie); was jedoch nicht gelingt ist, eine Art synthetischen Klebstoff zu erfinden, der die ganzen orgasmischen Übungen zusammenfügt. Blogging stellt sich als eine abgetrennte Erfahrung heraus. Die alltägliche Apokalypse kam – und wir bloggten sie. Sind wir also zurück im Slacker-Zeitalter von Doug Coupland und seiner Generation X? Vielleicht, aber nun ohne den Raum und die Zeit zum Slacken. Jetzt scheint es, als ob amputierte Körper- und Gehirnteile verzweifelt herumjagen und nach Geldströmen Ausschau halten, und das, obwohl die globalen Finanzmärkte wieder in alte Höhen streben und nach einem weiteren Boom hungern. Es wäre verfehlt, Blogger kollektiv zu Zynikern zu erklären. Zynismus ist in diesem Kontext kein Charakterzug, sondern ein techno-sozialer Zustand. Das Argument kann also nicht lauten, dass Blogger vornehmlich, von Natur oder EJOBSZ 1FPQMF UP #FBU #JH .FEJB  #JH (PWFSONFOU  BOE 0UIFS (PMJBUIT .ASHVILLE .ELSON #URRENT  34. %BD 3 35. 'REG3HERWINUND%MILY!VILAINIHRER#LICKZ +OLUMNE *ANUARWWW CLICKZCOMEXPERTSARCHIVESEBIZECOM?COMMARTICLEPHP

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aus Überzeugung, Zyniker seien oder vulgäre Exhibitionisten, denen jede Idee von Understatement abgeht. Die Kultur allgemein ist zynisch geworden.36 Es ist wichtig, den Zeitgeist zu beachten, in dem sich Bloggen als Massenpraxis entwickelte. Netzzynismus wäre in diesem Fall ein kultureller Nebeneffekt von Blog-Software, der zu einem bestimmten Zeitpunkt verdrahtet wurde. Er resultiert aus Verfahren wie ›Login‹, ›Link‹, ›Edit‹, ›Create‹, ›Browse‹, ›Read‹, ›Submit‹, ›Tag‹ und ›Reply‹. Blogging und soziale Netzwerke sind die herrschenden Formen der Internet-Nutzung geworden. Manche würden die bloße Verwendung des Begriffs Zynismus bereits als Beschimpfung der Blogger werten. Einverstanden. Daher noch einmal, wir reden hier nicht über eine Haltung oder gar einen kollektiven Lebensstil. Netzzynismus glaubt schlichtweg nicht mehr an Cyberkultur als Identitätsanbieter samt der entsprechenden unternehmerischen Halluzinationen. Er ist vielmehr gekennzeichnet durch die kalte Aufklärung als post-politischer Kondition und durch die Beichte, wie sie von Michel Foucault beschrieben worden ist. »Den Leuten wird beigebracht, dass es keine Befreiung geben kann, wenn sie nicht ›die Wahrheit sagen‹. Wenn sie beichten (einem Priester, einem Psychoanalytiker [oder einem Weblog]), wird sie dieses Aussprechen der Wahrheit auf irgend eine Weise befreien.«37 Es gibt eine Suche nach Wahrheit im Bloggen. Aber es ist eine Wahrheit mit Fragezeichen. Wahrheit ist zu einem Projekt von Amateuren geworden, kein absoluter Wert mehr, der durch höhere Autoritäten sanktioniert wird. In Abwandlung einer gängigen Definition könnte man sagen, dass Zynismus eine unerfreuliche Art und Weise ist, die Wahrheit zum Ausdruck zu bringen.38 Das Internet ist als solches weder eine Religion noch eine Mission. Für manche wird es zwar zur Sucht, diese aber kann wie jedes andere medizinische Problem behandelt werden. Der gegenwärtige Zustand nach der Dotcom-Euphorie und nach dem 11. September grenzt an ›mitfühlenden Konservatismus‹, verwahrt sich aber gegen die kleinbürgerliche Dotcom-Doppelmoral mit ihrem Hang zu Betrug, gefälschten Büchern und dicken Schecks, die als Belohnung winken. Die Frage ist daher, wie viel Wahrheit ein Medium ertragen kann? Wissen bedeutet Sorgen, und das haben die Fürsprecher der Wissensgesellschaft noch nicht in ihre Rechnung einbezogen. Netzzynismus hingegen ist offen und freimütig, vor allem in Bezug auf sich selbst. Die Anwendung Blog ist ein Online-Produkt mit klarem Verfallsdatum. 36. %INEWILLKàRLICHHERAUSGEGRIFFENE4IRADEAUSDEM.ETZ DIEAUFDIEZYNISCHE .ATURDER'ESELLSCHAFT INDIESEM&ALLDER53! ZIELTw,àGENHABENEINEHEMALSGUTES 6OLKINDIEVERËNGSTIGTSTEN UNSICHERSTENUNDVERWIRRTESTEN)NDIVIDUENDES0LANETEN VERWANDELT+LAR SIEDENKEN SIEkHABENALLESjnALLDENBLÚDEN3CHEI” DENSIESICH NICHTLEISTENKÚNNENnABERSIESCHLAFENDURCHIHR,EBENnUNDSIETUNDIESZYNISCH /SCAR7ILDESAGTE DASSEIN:YNIKERVONALLEMDEN0REISUNDVONNICHTSDEN7ERTKENNT $ESHALBISTAUCH,AS6EGASSOPOPULËRWIEESISTi!USWWWAMERICANIDEALISMCOM ARTICLESSOME GUESSES ABOUT AMERICAN MASS PSYCHOLOGYHTML 37. .ACHDEM&OUCAULT$ICTIONARY0ROJECTHTTPUSERSCALIFORNIACOM^RATHBONE FOUCAUHTM 38. WWWCYNICAL CCOM

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Spokker Jones: »In vierzig Jahren wird das Internet unter einer gigantischen Implosion der Dummheit kollabieren. Dann möchte ich sagen können: Ich war dabei!«39 Man sagt, dass der Netzzynismus den Boden für Websites wie Netslaves.com geschaffen hat, wo es um »Horrorgeschichten über Netz-Arbeit« ging (diese ist aber schon wieder geschlossen). Sie war ein Resonanzboden für all jene, die »verheizt werden von der Inkompetenz, den schwachsinnigen Planungen und dem hysterischen Management der Neue-Medien-Unternehmen«. 40 Exhibitionismus bedeutet Selbstermächtigung. Laut zu sagen, was man denkt oder fühlt, ist gemäß des De Sade’schen Vermächtnisses nicht nur eine Option – im liberalen Sinn einer Wahlmöglichkeit – sondern eine Notwendigkeit, ein unmittelbarer Impuls zu reagieren, um ›da draußen‹ mit allen anderen zusammen zu sein. Im Kontext des Internets ist es nicht das Böse, wie es einer von Rüdiger Safranskis Buchtiteln nahelegt, sondern das Triviale, das das ›Drama der Freiheit‹ ausmacht. Wie Baudrillard sagt: »Alle unsere Werte sind simuliert. Was ist Freiheit? Dass wir die Wahl haben, das eine oder das andere Auto zu kaufen?« 41 Wenn man Baudrillard weiter folgt, könnte man sagen, dass Blogs ein Geschenk an die Menschheit sind, das niemand braucht. Das ist der eigentliche Schock. Hat irgendjemand die Entwicklung der Blogs bestellt? Es ist nicht mehr möglich, Blogs einfach zu ignorieren und weiterhin den geruhsamen Lebensstil eines ›öffentlichen Intellektuellen‹ des 20. Jahrhunderts zu führen. Wie Michel Houellebecq sind auch die Blogger Opfer ihrer inneren Widersprüche im ›Land ohne Wahl‹. Die Londoner Times hat bemerkt, dass Houellebecq »aus innerer Entfremdung schreibt. Seine angeschlagenen männlichen Helden reagieren auf die Vernachlässigung durch ihre Eltern, indem sie sich selbst Liebesbeziehungen vorenthalten; sie projizieren ihre Kälte und Einsamkeit auf die Welt.« 42 Blogs sind die perfekten Projektionsflächen für ein solches Unterfangen. Wir können eine Philosophie des Bloggens aus den Werken von Autoren wie Rainald Goetz, Irvine Welsh, Matias Faldbakken oder Brett Easton Ellis herausfiltern – oder wir werden vielleicht alle selbst zu Berühmtheiten. Das wäre dann eine Blogging-Strategie. Gutenberg Fiction ist keine verbindliche Bezugsgröße mehr, sondern ein Spezialeffekt der Medienindustrie, der durch eine stetig wachsende Anzahl von Verfilmungen, Preisen und – tatsächlich – durch das Internet am Leben gehalten wird. Der italienische Theoretiker Paulo Virno liefert uns Hinweise, wie man den Begriff des Zynismus in einer nicht abwertenden Weise benutzen könnte. Virno zieht eine Verbindung zwischen Zynismus und der »chronischen Instabilität von Lebensformen und Sprachspielen«. Als eigentliches Fundament des gegenwärtigen Zynismus sieht Virno die Tatsache, dass die täglichen Erfahrungen 39. 'EFUNDENIN1UOTE O 2AMAWWWOTDCOM^PAUL1UOTESAHTML 40. WWWPOCONORECORDCOMLOCALEXDHTM 41. )NTERVIEWMIT*EAN"AUDRILLARDVON$EBORAH3OLOMON .EW9ORK4IMES-AGA ZINE .OVEMBER 42. $OUGLAS+ENNEDY ZITIERTVON-AYA*AGGIIN4HE'UARDIAN .OVEMBER HTTPBOOKSGUARDIANCOUKDEPARTMENTSGENERALlCTIONSTORY  HTML

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von Männern und Frauen viel häufiger durch Regeln als durch Fakten geprägt sind, und diese zudem weit vor den konkreten Ereignissen in Erscheinung treten: w2EGELNDIREKTZUERFAHRENHEI”TABERAUCH IHRE+ONVENTIONALITËTUND'RUNDLOSIGKEIT ZUERKENNEN$AHERISTMANNICHTMEHRINEINVORABDElNIERTESk3PIELjEINGEBETTET AN DEMMANMITECHTER,OYALITËTTEILNIMMT3TATTDESSENERHASCHTMANEINENmàCHTIGEN "LICKAUFSICHSELBSTINJEWEILSINDIVIDUELLENk3PIELENj DIEJEGLICHER%RNSTHAFTIGKEITUND 3INNFËLLIGKEITENTBEHRENUNDNICHTMEHRSINDALSEIN/RTUNMITTELBARER3ELBSTBESTËTI GUNGnEINER3ELBSTBESTËTIGUNG DIEUMSOBRUTALERUNDARROGANTER KURZZYNISCHERIST JEMEHRSIESICH OHNE)LLUSIONEN ABERMITPERFEKTERMOMENTANER,OYALITËTnAUFDIE SELBEN2EGELNBEZIEHT DIE+ONVENTIONALITËTUND6ERËNDERBARKEITCHARAKTERISIERENi

Wie aber verhält sich die zynische Vernunft zur Kritik? Ist zynische Medienkultur eine kritische Praxis? Bislang hat es sich nicht als sinnvoll erwiesen, Blogs als neue Form der Literaturkritik zu interpretieren. Solch ein Unterfangen muss scheitern. Die ›Krise der Kritik‹ wurde wieder und wieder beschworen, und die Kultur der Blogs hat diese Sackgasse von Anfang an ignoriert. Es besteht kein Bedarf an einem Neue-Medien-Klon von Terry Eagleton. Wir leben in einer Zeit lange nach dem Untergang der Theorie. Kritik ist eine konservative und affirmative Tätigkeit geworden, in der die Kritiker immer neue Wertverluste einander abwechseln lassen, um gleichzeitig das Spektakel des Marktes zu feiern. Es wäre interessant herauszufinden, warum Kritik als Genre nicht selbst populär geworden ist und sich Praktiken der Neuen Medien wie dem Bloggen angenähert hat, so wie es den Cultural Studies gelungen ist, alles zu popularisieren außer der Theorie selbst. Man sollte also nicht den ›bloggenden Anderen‹ für den moralischen Bankrott des postmodernen Kritikers verantwortlich machen. Statt konzeptioneller Tiefe bekommen wir breit gefächerte Assoziationen, eine Volkshermeneutik der Nachrichtenereignisse. 44 Die digitalen Kommentare von Millionen können durchsucht und visuell dargestellt werden, etwa als ›Wolken‹ aktueller Schlagwörter. Ob uns diese Karten irgendeine neue Erkenntnis bringen werden, ist eine andere Frage. Es ist leicht, den Aufstieg der Kommentare im Vergleich zur klar definierten Autorität des Kritikers als regressiv zu verurteilen. Engstirnigkeit und Provinzialismus haben ihren Tribut gefordert. Die Panik und die Obsession um den professionellen Status des Kritikers haben eine Leere erzeugt, die nun von leidenschaftlichen Amateurbloggern gefüllt worden ist. Eins ist dabei sicher: Blogs schalten das Denken nicht ab. Die Amateur-Enzyklopädisten von Wikipedia beschreiben Zyniker als Personen,

43. 0AULO 6IRNO  " (SBNNBS PG UIF .VMUJUVEF 3EMIOTEXTE #AMBRIDGE -ASS  -)40RESS  3  44. 7IE 4ERRY %AGLETON SCHREIBT w$IE (ERMENEUTIK ALS DIE +UNST 3PRACHE ZU ENTSCHLàSSELN HATUNSGELEHRT DEMOFFENKUNDIG3ELBSTVERSTËNDLICHENZUMISSTRAUENi "GUFS5IFPSZ .EW9ORK"ASIC"OOKS  3'ENAUDIESISTES WAS"LOGGERTUN

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wDIE DAZU NEIGEN NICHT AN !UFRICHTIGKEIT 4UGEND ODER !LTRUISMUS ZU GLAUBEN %S HANDELTSICHUM)NDIVIDUEN DIEDARAUFBEHARREN DASSNURDAS%IGENINTERESSEMENSCH LICHES6ERHALTENMOTIVIERT%INMODERNER:YNIKERHATTYPISCHERWEISEEINVERËCHTLICHES 6ERHËLTNIS ZU SOZIALEN .ORMEN BESONDERS JENEN DIE EHER RITUELLEN ALS PRAKTISCHEN !BSICHTENFOLGEN%RNEIGTDAZU EINEN'RO”TEILDERALLGEMEINEN!NSICHTEN KONVEN TIONELLEN -ORAL UND WEITHIN AKZEPTIERTEN 7EISHEITEN FàR IRRELEVANT ODER àBERHOLTEN 5NSINNZUERKLËRENi

In einer vernetzten Umwelt wird eine solche Definition jedoch problematisch, weil sie den User als isoliertes Subjekt darstellt, das sich im Gegensatz zu einzelnen Gruppen oder der ganzen Gesellschaft befindet. Netzzynismus ist jedoch kein Einfallstor für Drogen oder andere anstößige Dinge. Über das Böse als abstrakte Kategorie zu sprechen, ist in diesem Kontext irrelevant. Eine akute Gefahr herrscht auch nicht, so weit ist alles in Ordnung. Es gibt also keine Absicht, eine dialektische Situation herzustellen. Da ist lediglich dieses Gefühl, inmitten des ständigen Wandels zu stagnieren. Wir könnten es »Romantizismus der offenen Augen« nennen. Laut Peter Sloterdijk ist Zynismus »aufgeklärtes falsches Bewusstsein«. 45 Ein Zyniker, so Sloterdijk, ist jemand, der Teil einer Institution oder Gruppe ist, deren Existenz oder Werte er nicht mehr als absolut, notwendig und bedingungslos betrachten kann, und der an dieser Erkenntnis leidet, weil er sich an Prinzipien hält, an die er nicht glaubt. Die einzige Wahrheit, der ein Zyniker noch trauen kann, ist die Vernunft, doch die bietet ihm auch keine festen Grundlagen für sein Handeln mehr, was wieder nur ein weiterer Grund ist, sich schlecht zu fühlen. 46 Nach Sloterdijk ist Zynismus ein verbreitetes Problem. Die Frage, ob er universell ist oder lediglich auf westliche Gesellschaften beschränkt, führt hier zu weit, mit Sicherheit aber findet man ihn weltweit in allen wissensintensiven Bereichen. Stefan Lorenz Sorgner fasst Sloterdijk zusammen: w7IRLEBENVON4AGZU4AG VON5RLAUBZU5RLAUB VON.ACHRICHTENSENDUNGZU.ACHRICH TENSENDUNG VON0ROBLEMZU0ROBLEM VON/RGASMUSZU/RGASMUS INPRIVATEN4URBU LENZENUNDINMITTELFRISTIGEN!FFËREN GESPANNT ENTSPANNT"EIMANCHEN$INGENEMP lNDENWIR"ESTàRZUNG ABERUMDIEMEISTENKÚNNENWIRUNSWIRKLICHNICHTKàMMERNx WIRWàRDENGERNENOCHVIELVONDER7ELTSEHENUNDàBERHAUPTkVIELMEHRLEBENji

Im selben Geiste haben wir uns mit einem weiteren Standpunkt auseinanderzusetzen, den der in Berlin lebende Musiker und Blogger iMomus den »Moronischen Zynismus« nennt. Am 14. Juli 2005 postete iMomus eine lange Liste

45. 0ETER3LOTERDIJK ,SJUJLEFS[ZOJTDIFO7FSOVOGU 3UHRKAMP&RANKFURTA- 

3 46. 3IEHE3TEFAN,ORENZ3ORGNER w)N3EARCHOF,OST#HEEKINESS !N)NTRODUCTION TO0ETER3LOTERDIJKS#RITIQUEOF#YNICAL2EASONi IN4ABULA2ASA.R WWW TABVLARASADESORGNERPHP 47. WWWTABVLARASADESORGNERPHP

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dessen, was Moronischer Zynismus alles sein könnte. Den folgenden ›Remix‹ habe ich aus seinem Theorievorschlag zusammengestellt: w-ORONISCHER :YNISMUS IST EINE !RT VON INNEN NACH AU”EN VERKEHRTE .AIVITËT EINE .AIVITËTMITEINEMSPÚTTISCHEN'RINSEN3TELLDIREIN+INDMITEINER:IGARETTEIM-UND VOR0ASSIVE!GGRESSION 3ELBSTZERSTÚRUNGUNDNEGATIVES0OTENZIALSINDNAHE6ERWAND TE DES -ORONISCHEN :YNISMUS $ER -ORONISCHE :YNIKER NUTZT DEN :YNISMUS UM SICH AUFDAS3CHLIMMSTEVORZUBEREITEN$AS3CHLIMMSTETRITTDANNKONSEQUENTERWEISEAUCH EIN:YNISCHZUSEINBEDEUTET SICHAUFDIE3EITEDES3CHLIMMSTENZUSCHLAGEN INSEI NER,OGIKZUDENKENUNDMITSEINEN!UGENZUSEHEN$ER-ORONISCHE:YNISMUSGREIFT SOWOHLDIE+ONSUMENTENANALSAUCHDIE&IRMEN DIEDEREN"EDàRFNISSEBEFRIEDIGEN k7ACH AUFj SCHREIST DU -ENSCHEN AN DIE SCHON WACH SIND VIELEN $ANK $ER -ORO NISCHE:YNISMUSSIEHTDIEGESAMTE"EVÚLKERUNG DIE2EGIERUNGUNDDIE)NSTITUTIONEN EINER .ATION ALS 4RËGER EINER !RT k%RBSàNDEj -ORONISCHER :YNISMUS HEI”T SICH DER -OSCHEEANZUSCHLIE”ENUNDDIE"OMBEINDEINEM2UCKSACKZUTRAGEN DENNDIE7ELT ISTBÚSE-ORONISCHER:YNISMUSISTDIENARZISSTISCHE$ENKWEISEEINES)NDIVIDUUMSIN EINERZERSPLITTERTEN+ULTUR INDERSICHALLE)NDIVIDUENGLEICHENUNDJEDERINSGEHEIM UNGLàCKLICHIST-ORONISCHER:YNISMUSSETZTk%RMËCHTIGUNGjEHERMITEIGENNàTZIGEM ALS MIT GEMEINNNàTZIGEM (ANDELN GLEICH -ORONISCHER :YNISMUS FRAGT SICH WARUM DAS 4ELEFON NIE KLINGELT -ORONISCHER :YNIKER DU WIRST DAS -ONSTER WERDEN DAS DU ANGEBLICHBEKËMPFSTi

Der Moronische Zynismus erzählt uns aber nur einen Teil der Geschichte. Schauen wir mal auf ihre optimistische Seite. David Weinberger, Co-Autor des Cluetrain Manifests, spricht vom »Vorteil eines technischen Zynismus, der sich aus der täglichen Erfahrung des Ingenieurs speist und auch aus ihr heraus reflektiert wird.« 49 Weinberger glaubt nicht, dass der Zynismus des (Computer-) Ingenieurs ein Charakterfehler sei. »Es ist der Schlüssel seiner Stärke.« Zyniker sind die besseren Optimisten, weil sie sich von den menschlichen Schwächen nicht abschrecken lassen. Weinberger: »Zyniker glauben, dass es ein Ideal gibt, und dass die Menschheit sich entschieden hat, nicht danach zu leben. Für Ingenieure sind die Ideale oft von der Ratio bestimmt: sie schätzen es, wenn ihre Arbeitsbeziehungen vom Austausch objektiver Informationen geprägt sind, und nicht von persönlichen, eigennützigen Motiven beeinträchtigt werden.« Was User und Kunden von sich geben, braucht man nicht für bare Münze zu nehmen. Der Zynische reagiert positiv auf unverstellte Wahrheiten. »Deshalb werden Ingenieure im Verkaufsgespräch aufstehen und mit peinlicher Genauigkeit die Liste der Bugs, Fehler, Schwächen und weggelassenen Funktionen durchgehen: In einem Umfeld, das nur die Hälfte der Geschichte erzählt, bringen sie die Dinge auf den Tisch. Und auch wenn die entsetzten Verkäufer das 48. WWWLIVEJOURNALCOMUSERSIMOMUSHTML EINEM BRITISCHEN &REUND BESCHRIEBEN ALS wSEMI LEGENDARY POST NEW WAVE IRONIC ISH EXPERIMENTAL POP MUSIC GUYWITHINTELLECTUALOIDBITSANDBOBSTHROWNINTOTHEMIXi 49. $AVID7EINBERGER w4HE6IRTUEOF%NGINEERING#YNICISMi $ARWIN 3EPTEM BERWWWDARWINMAGCOMREADSWIFTKICKCOLUMNHTML!RTICLE)$

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anders sehen, versuchen die Ingenieure damit nicht, den Deal zu vermasseln.« Was der Zyniker zeigt, ist das grenzenlose Vertrauen in die Idee, dass die Dinge verbessert werden können. Lang lebe der zynische Optimist. Wir bewegen uns in einer postdekonstruktivistischen Welt, in der Blogs einen niemals endenden Strom von Bekenntnissen bieten, einen Kosmos voller Mikromeinungen, die versuchen, Ereignisse jenseits der altbekannten Kategorien des 20. Jahrhunderts zu interpretieren. Gebloggter Zynismus entsteht als Antwort auf steigende Komplexitätsgrade innerhalb miteinander verknüpfter Themengebiete. Es gibt keine großen Spielräume mehr, wenn alle Phänomene über Postkolonialismus, Klassenanalyse und Genderperspektiven erklärt werden können. Blogging jedoch erhebt sich gegen diese Formen der politischen Analyse, die vieles nicht mehr zu sagen erlauben. Betrachten wir genauer, was ich den nihilistischen Impuls des Bloggens nenne. Cornel West definierte Nihilismus nicht als philosophische Lehre, sondern viel weitergehend als »gelebtes Experiment, ein Dasein entsetzlicher Bedeutungslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und (was wohl am schwersten wiegt) Lieblosigkeit zu bewältigen.« 50 Während Zynismus sich auf Wissen bezieht, steht Nihilismus in Verbindung mit Existenz und Nichtigkeit. Blogs bringen Verfall. Jedes neue Blog soll seinen Teil zum Untergang des Mediensystems beitragen, das einst das 20. Jahrhundert dominierte. Diese Entwicklung hat nichts von einer plötzlichen Explosion. Die Erosion der Massenmedien kann nicht einfach an stagnierenden Verkaufszahlen und einer schwindenden Leserschaft abgelesen werden. In vielen Weltregionen ist das Fernsehen weiterhin auf dem Vormarsch. Was jedoch deutlich abnimmt, ist der ›Glaube an die Botschaft‹. Das ist das nihilistische Moment, und Blogs fördern diese Kultur wie keine andere Plattform vor ihnen. Was von den Positivisten als Kommentare in Bürgermedien verkauft wird, unterstützt in Wirklichkeit die Nutzer dabei, den Schritt von der Wahrheit zum Nichts zu gehen. Die gedruckte und gesendete Botschaft hat ihre Aura verloren. Nachrichten werden als Waren konsumiert, die einen gewissen Unterhaltungswert besitzen. Statt über die ideologische Färbung der Nachrichten zu klagen, wie es frühere Generationen taten, bloggen wir als Zeichen einer wiedergewonnenen Macht des Geistes. Als mikroheroischer, Nietzscheanischer Akt der ›Pyjama-Menschen‹ erwächst Bloggen aus einem Nihilismus der Stärke, nicht aus der Schwäche des Pessimismus. Anstatt Blogs immer wieder von Neuem als Instrumente der Selbstvermarktung zu präsentieren, sollten wir sie vielmehr als dekadente Artefakte interpretieren, die aus der Ferne die verführerische Macht der Sendeanstalten demontieren. Blogs drücken persönliche Ängste, Unsicherheit und Desillusionierung aus, Negativstimmungen, die nach Komplizen suchen. Wir finden in ihnen jedoch selten Leidenschaft – abgesehen vom Akt des Bloggens selbst. Oftmals enthüllen Blogs Zweifel und Unsicherheit darüber, was und wie man fühlen, was man denken, glauben und mögen soll. Sie vergleichen sorgsam Zeitschriften und erörtern kritisch Verkehrszeichen, Nachtclubs und T-Shirts. Diese stilisierte Unsicherheit bewegt sich im Umfeld der allgemeinen Annahme, dass Blogs bio50. #ORNEL7EST 3BDF.BUUFST "OSTON"EACON0RESS  3

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graphisch sein und gleichzeitig über die Welt draußen berichten sollen. Ihr emotionales Spektrum ist auf Grund der informellen Atmosphäre der Blogs viel breiter als das der traditionellen Medien. Privates und Öffentliches miteinander zu vermischen ist geradezu ein Imperativ des Bloggens. Blogs spielen also auf der gesamten emotionalen Klaviatur, von Hass über Langeweile zu leidenschaftlichem Engagement und sexuellen Entgleisungen, um am Ende wieder bei alltäglicher Langeweile anzukommen.

7IDERSTANDMITOF FENEN!RMEN Nachdem sie aus dem kultivierten Irrsinn der Dotcom-Ära ein oder zwei Lehren gezogen haben, sind die Management-Autoren David Kline und Dan Burstein nun vorsichtiger, was das Ausrufen eines weiteren Hypes (mit dem Label Web 2.0) betrifft. In Blog! beschreiben sie ihren ›Realwelt-Futurismus‹ als einen Weg, ihre Begeisterung über das weltverändernde Potenzial der digitalen Technologien mit der Erkenntnis abzugleichen, dass »es Zeit brauchen wird, das dichte Gewebe von Geschäft, Ökonomie, politischem Leben, Erziehung und Unterhaltung zu durchdringen«.51 Die zugrunde liegenden ökonomischen Prämissen der Dotcom-Ära waren alle richtig, der einzige Fehler war der Zeitfaktor. Dasselbe könnte man über den Hype um die Blogs sagen. Alles was darüber geschrieben wurde, wie Blogs die Medienlandschaft verändern, ist richtig, meinen Kline und Burstein; der einzige Fehler, den Blogger begehen könnten, ist zu glauben, dass die Veränderung über Nacht passieren wird. Von einer tiefgreifenden Dekonstruktion der Blog-Architektur sehen diese geduldigen Revolutionäre ab. In ihrem Denken sind Blogs einfach eine Gegebenheit und weder ihre Ontologie noch ihre Erscheinungsform bedürfen der Diskussion. Der Einfluss auf die Gesellschaft wird als Kaleidoskop mikroskopisch kleiner, doch signifikanter Meinungen innerhalb der Blogosphäre der USA beschrieben. Kline und Burstein sehen Blogs als späte Verwirklichung von Versprechen der neunziger Jahre – und konstatieren so das Offenkundige. Es ist die Killeranwendung unserer Zeit, ganz ähnlich wie es E-Mail und SMS vor zehn Jahren waren. Und da Blogs mit anderen Medien koexistieren, sagen Kline und Burstein vermehrt Kreuzungen und neue Arten voraus. Blogging ist weder ein Projekt, noch ein Vorschlag, sondern ein Zustand, dessen Existenz man sich erst einmal vergegenwärtigen muss. »Wir bloggen«, wie Kline und Bernstein sagen. Bloggen ist das Apriori der Gegenwart. Der australische Kulturtheoretiker Justin Clemens erklärt: »Nihilismus ist nicht etwa eine weitere Epoche in einer langen Abfolge: Es ist die endgültige Form eines Desasters, das sich vor langer Zeit ereignet hat.«52 Übersetzt in die Begriffe der Neuen Medien heißt das, Blogs beobachten und dokumentieren die schwindende Macht der Mainstream-Medien, aber haben bewusst keine Alternative zu de51. +LINE"URSTEIN 3XIX 52. *USTIN #LEMENS  5IF 3PNBOUJDJTN PG $POUFNQPSBSZ 5IFPSZ *OTUJUVUJPO  "FTUIFU JDT /JIJMJTN !SHGATE!LDERSHOT  3

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ren Ideologie geschaffen. Sie löschen alte Strukturen aus, aber reklamieren sich nicht als ihre Nachfolger. Die User sind der hierarchischen Kommunikation überdrüssig geworden; wo es stattdessen hingehen soll, wissen sie allerdings auch nicht. »Es gibt keine andere Welt« könnte als passende Antwort auf den Anti-Globalisierungs-Slogan »Eine andere Welt ist möglich« gelesen werden. Wer jedoch in der täglichen Mühle des Bloggens gefangen ist, kann durchaus das Gefühl bekommen, dass das Netzwerk die Alternative ist. Es ist falsch, Blogs lediglich auf der Basis ihrer Inhalte zu beurteilen. Die Medientheorie ist nie so vorgegangen, und sie sollte auch in diesem Fall darauf verzichten. Bloggen ist ein nihilistisches Unterfangen, weil es die Besitzstrukturen der Massenmedien hinterfragt und attackiert. Bloggen ist eine Strategie des Ausblutens. Implosion ist hier das falsche Wort, denn es impliziert auch Tragödie und gescheitertes Spektakel. Bloggen ist das Gegenteil des Spektakels. Es ist flach, und dennoch bedeutungsvoll. Bloggen ist kein digitaler Klon des Leserbriefs. Anstatt zu klagen und zu streiten, nehmen Blogger die pervers angenehme Position des Medienbeobachters ein. In einem Interview mit Brandon W. Joseph zieht Paulo Virno eine Verbindung zwischen Nihilismus und den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen außerhalb der Fabriken, die als Postfordismus bezeichnet werden. Virno: w$ER0OSTFORDISMUSMACHTSICH&ËHIGKEITENZUNUTZE DIESCHONVORHERUNDUNABHËNGIG VOM %INSTIEG IN EIN !RBEITSVERHËLTNIS ERWORBEN WURDEN &ËHIGKEITEN DIE DURCH DAS UNSICHERE-ETROPOLENLEBENHERVORGEBRACHTWERDEN DURCH%NTWURZELUNG DURCH7AHR NEHMUNGSSCHOCKSINFOLGETECHNOLOGISCHER-UTATIONEN SELBSTDURCH6IDEOSPIELEUND DEN'EBRAUCHVON(ANDYS!LLDASGEHÚRTZUR'RUNDAUSSTATTUNGDERPOSTFORDISTISCHEN k&LEXIBILITËTj $IE %RFAHRUNGSWERTE AU”ERHALB DES !RBEITSPLATZES WURDEN IN DAS 0RO DUKTIONSSYSTEM INTEGRIERT UND SIND ALS kJUST IN TIMEj BEKANNT SIE GELTEN ALS GENU INEUNDMA”GEBLICHEPROFESSIONELLE1UALIlKATIONEN$IEGRO”ENEUROPËISCHEN$ENKER VON .IETZSCHE BIS (EIDEGGER BESCHRIEBEN k.IHILISMUSj ALS EINE ,EBENSFORM JENSEITS DER STRINGENTEN 2ATIONALITËT PRODUKTIVER 0ROZESSE )NSTABILITËT %NTTËUSCHUNG !NO NYMITËTUNDSOWEITER.UN MITDEM0OSTFORDISMUSHËLTDIENIHILISTISCHE-ENTALITËT %INZUGINDIE0RODUKTIONUNDBILDETSOGAREINENIHRERWERTVOLLSTEN"ESTANDTEILE5M HEUTZUTAGEIN"àROSUND&ABRIKENPROlTABELZUARBEITEN ISTESNOTWENDIG EINEGRO”E 6ERTRAUTHEITMITDER3ITUATIONUNDDER6ERLETZLICHKEITALLER$INGEMITZUBRINGENi

Jetzt fehlt noch ein einziger Schritt, nämlich zu klären, wie soziale Software und Netzwerkarchitekturen – und ihre Praxis – in diese Überlegungen integriert werden können. Das Kommentieren der Mainstream-Kultur, ihrer Werte und Produkte, sollte als offener Aufmerksamkeitsentzug gelesen werden. Die Augen, die einst geduldig auf Nachrichten und Werbeblöcke blickten, befinden sich nun im Streik. Gemäß der utopischen Blog-Philosophie sind die Massenmedien dem Untergang geweiht: Ihre Rolle wird von den partizipatorischen Medien übernommen 53. 6ERÚFFENTLICHTIN'REY2OOM VOL &ALL AUCHALSFREIER0$& !RTIKELHE RUNTERZULADENBEIHTTPMITPRESSMITEDUCATALOGITEMDEFAULTASPTTYPETID

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werden. Die finale Diagnose wurde gestellt, und sie lautet: Geschlossene, hierarchisch strukturierte Organisationen funktionieren nicht mehr, Wissen kann nicht verwaltet werden, die Arbeit von heute ist kollaborativ und vernetzt. Dennoch, und trotz ständiger Warnsignale, funktioniert das System in seiner Dysfunktion erfolgreich weiter. Läuft das Top-down-Modell wirklich aus? Woher kommt die hegelianische Gewissheit, dass das Paradigma der alten Medien zu Fall gebracht wird? Es gibt dafür kaum Indizien, und eben dies ist der Status Quo, der den Nihilismus – und keine Revolution – hervorbringt. Justin Clemens hat richtig bemerkt, dass »Nihilismus oft unbemerkt bleibt, nicht weil er kein Thema der zeitgenössischen Philosophie und Theorie wäre, sondern weil er – ganz im Gegenteil – so unumgehbar und beherrschend ist.«54 Der Begriff ist in der Tat beinahe vollständig aus dem etablierten politischen Diskurs verschwunden. Ein Grund dafür könnte die »Banalisierung des Nihilismus« (Karen Carr) sein.55 Oder anders gesagt: die Abwesenheit einer hohen Kunst, die so bezeichnet werden könnte. Dies könnte sich aber mit dem Aufstieg von Autoren wie Michel Houellebecq geändert haben. André Glucksmann erklärte die Krawalle von Migranten in den französischen Banlieues im Jahr 2005 als »Antwort auf den französischen Nihilismus«. Die Aktionen der revoltierenden Jugend interpretierte er als »Imitation der Negation«.56 Das ›Problem des Nihilismus‹ liegt, wie Clemens konstatiert, in der komplexen, subtilen und selbstreflexiven Natur des Begriffs selbst. Ein Ausweg aus diesem Problem läge darin, das Konzept zu historisieren, aber das will ich anderen überlassen. Eine weitere Möglichkeit wäre, den Begriff neu zu besetzen und mit überraschenden Energien aufzuladen: kreativer Nihilismus. Der französische Orientalist Burnouf, der den Begriff Nihilismus geprägt hat, verwendete ihn allein in Bezug auf das philosophische Konzept des Nirwana, in unserem Kontext wäre das ein Zustand höchster Freiheit, nämlich nicht mehr an die Welt der Medien angeschlossen zu sein. Turgenev war es, der dem Begriff seine negative Bedeutung von Terrorismus und intellektuellem Radikalismus gab.57 Wir müssen zur ursprünglichen Bedeutung zurückkehren und uns auf den Aspekt der »kreativen Destruktion«, die ausgediente Glaubenssysteme außer Kraft setzt, konzentrieren. Um es klarzustellen, nicht alle sind in die Blogosphäre übergesiedelt. In einem Beitrag auf der Rohrpost-Mailingliste fragt der Medientheoretiker Florian Cramer, warum die E-Mail-basierte Mailinglisten-Kultur nicht auf Blogs umgestiegen ist.58 Wie Mailinglisten gehen Blogs auf eine UNIX-Semantik (var/log) zurück. Aber im Unterschied zu den Listen geht es bei Blogs darum, subjektiv, individuell und privat zu sein. Man hat dem Diktat der Subjektivität 54. #LEMENS 3 55. +AREN#ARR 5IF#BOBMJ[BUJPOPG/JIJMJTN )THACA3TATE5NIVERSITYOF.EW9ORK

0RESS  56. )NTERVIEW MIT !NDRÏ 'LUCKSMANN IN &RANKFURTER 2UNDSCHAU  .OVEMBER WWWFR AKTUELLDERESSORTSKULTUR?UND?MEDIENFEUILLETONCNT 57. 3IEHE 2ENATO 0OGGIOLI 5IF 5IFPSZ PG UIF "WBOU(BSEF #AMBRIDGE -ASS  (ARVARD5NIVERSITY0RESS  3 58. &LORIAN#RAMER .OTIZENZU"LOGS 2OHRPOST /KTOBER

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zu folgen. Cramer sieht eine Verschiebung weg vom diskursiven Austausch, wie ihn die Listenteilnehmer pflegten, hin zu einer formalen und technischen Art des Networking durch RSS und Backtrack Links. Anstatt dass Kommentare als voneinander unabhängige, gleichwertige E-Mails eingehen, werden sie in Blogs in kleinerer Schrift gezeigt und wie zweitrangige Beiträge behandelt. Cramer betont auch noch einen kulturellen Unterschied zwischen Listen und Blogs; während die Listen oft international sind und auch weniger perfektes Englisch toleriert wird, werden Blogs häufiger in der Muttersprache der Autoren geschrieben und als Produkte eines persönlichen literarischen Stils betrachtet, nicht als Vehikel für internationalen Handel und Kommerz. Nach Cramer zeigt sich in den Blogs eine gesellschaftliche Tendenz zum ›Cocooning‹, und die Blogosphäre ist als eine ›Monade‹ (wie Leibniz sie beschrieb) zu interpretieren, ein geschlossenes und selbstreferenzielles System, in dem das Ranking und das Verlinken mit anderen Blogs wichtiger wird als die Anzahl der Besuche. Was Cramers Bemerkungen erwähnenswert macht, ist die Tatsache, dass der allgemeine Korpus an Literatur über Blogs sich mit den genannten Konzepten oder Ideen in keiner Weise beschäftigt. Der Eintrag eines Blogeigners und die eingehenden Antworten sind nicht gleichwertig. User sind Gäste, keine gleichgestellten Partner, geschweige denn Gegenspieler. Und, wie schon gesagt, die meisten Blogs sind in der Muttersprache der Verfasser geschrieben (Deutsch, Persisch, Mandarin usw.). Glenn Reynolds kommt in seinem Vergleich zwischen Mailinglisten und Blogs zu der Überzeugung, dass die Welt der Blogs nicht in derselben Weise der ›Tragödie der Allmende‹ (›tragedy of the commons‹) erliegen wird, wie es mit den Mailinglisten geschehen ist. Leute, die in Blogs schreiben, können nicht über die Zeit anderer bestimmen, sagt Reynolds. Keiner wird Blog-Einträge lesen, außer freiwillig. Blogs, so Reynolds, machen es viel leichter, um die Idioten einen Bogen zu machen, da sie miteinander verlinkte Diskussionsforen sind und nicht eine Liste.59 Die folgende in Kline und Bursteins Buch festgehaltene Bemerkung des Venture-Kapitalisten und Hackers Joi Ito passt in Cramers Erörterung der Blogs. w)CH HABE IN DER 6ERGANGENHEIT MEHRERE /NLINE #OMMUNITIES GEHABT UND SIE MEIST IRGENDWIENACHFUNKTIONALEN'ESICHTSPUNKTENBENANNT$IEERSTE-AILINGLISTE DIEICH BETRIEB STELLTECOOLE7EBSITESVORUNDHIE”.ETSURF*APAN!BERDIE5SER #OMMUNITY FËNGTUNVERMEIDLICHERWEISEIMMERWIEDERAN àBERJEDE+LEINIGKEITIN3TREITEREIENZU GERATEN UNDSOHABEICHDIESMALBESCHLOSSEN MEINE7EBSITE*OI)TOS7EBZUNENNEN $ABEIGINGESWENIGERUM%ITELKEITALSVIELMEHRDARUM DASSICHSAGENKANNk(E DU KANNSTTUNWASDUWILLST ABERDUBISTINMEINEM7OHNZIMMER ZEIGEALSO2ESPEKT DENNICHBINHIERDER DERSICHUMALLESKàMMERNMUSSj)CHFàHLEMICHWIEDER(àTER EINER'EMEINSCHAFT)CHFREUEMICHàBER"ESUCH ABERESISTWIRKLICHSOWIEEINE0ARTY INMEINEM7OHNZIMMERi

59. 2EYNOLDS 3 60. +LINE"URSTEIN 3

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Blogs spiegeln dieses Gefühl wider. Es ist klar, dass in Blogs Diskussionen perfekt gesteuert und beobachtet und andersdenkende Stimmen herausgefiltert werden können – die Verwaltung der Beiträge ist denkbar einfach. Man wird keine kritische Stimme auf Itos Seite finden. Blogs schaffen Gemeinschaften von Gleichgesinnten. Die Debatten finden innerhalb homogener Weblog-Wolken statt. Der Ausschluss Andersdenkender ist gar nicht mehr nötig, weil Gegner gar keine Beiträge auf dem Blog des Anderen schreiben werden. Im besten Fall zitieren sie und setzen Links. Die meisten Blogger würden zugeben, dass es gar nicht ihr Ziel ist, eine öffentliche Debatte zu beleben. Wenn du mit einem Mitblogger eine Meinungsverschiedenheit hast, ist es sogar unklug, einen Kommentar zu schreiben. Stattdessen ist es viel sicherer, die Anmerkung auf das eigene Blog zu setzen – »Ich habe dich gebloggt.« Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand wie Ito darauf antwortet, ist fast gleich Null. Damit kommt das Bloggen an seine Grenze. Bei vielen Blogs ist die Antwortfunktion komplett abgeschaltet, besonders bei den Tagebüchern von Berühmtheiten und bei CEO-Blogs, die von professionellen Redakteuren geschrieben und betreut werden. Cramer weist auch auf die enge Verbindung zwischen der Verbreitung der ADSL-Breitbandtechnologie und dem Bloggen hin. Die ›always-on‹-Einstellung bringt einen Online-Schreibstil hervor, der vom Surfen beeinflusst ist. Cramer diskutiert die soziale Verschiebung von solchen Orten, wo ein gemeinsamer Netzzugang genutzt wird, ob im kulturellen oder geschäftlichen Bereich, zur abgeschiedenen Arbeit zuhause. Diese Bewegung von der öffentlichen Umgebung der Dotcom-Büros und Webdesign-Firmen in die privaten Räume spiegelt den ökonomischen Übergang von einer kollektiven unternehmerischen Kultur zu arbeitslosen/freiberuflichen Einzelpersonen. Und sie spiegelt auch die Dynamik zwischen E-Mail-basierter Mailingliste und Blog: Die Liste ist von Vielen für Viele und das Blog ist von Einem für Viele. Blogs muss man bewusst aufsuchen (besonders beim ersten Besuch), während die Beiträge auf der Mailingliste von selbst zu einem kommen. Die Einführung von RSS-Feeds, die auf der eigenen Website die neuesten Beiträge anderer Websites anzeigen, hat das nicht geändert. *** w.IHILISM)MTOOCYNICALTOBELIEVEINNIHILISMxi 3TUART3TUDEBAKER  EARLY WARNINGBLOGSPOTCOM

Blogger sind kreative Nihilisten, weil sie »zu nichts gut sind«. Sie posten ins Nirwana und haben ihre Nutzlosigkeit in eine produktive Kraft verwandelt. Sie sind die Parteigänger des Nichts, die den Tod der zentralisierten Bedeutungsstrukturen feiern und die Anschuldigung, sie produzierten nur sinnloses Rauschen, einfach ignorieren.61 Justin Clemens merkt an, dass der Begriff Nihilismus im öffentlichen Diskurs inzwischen durch Benennungen wie »antidemokratisch«, 61. #LEMENS 3

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»terroristisch« oder »fundamentalistisch« ersetzt worden ist. Dennoch hat es in den vergangenen Jahren eine erkennbare Renaissance des Begriffs gegeben, wenn er auch meist nur in einer Randbemerkung versteckt war. Maßgebliche theoretische Arbeit über die nihilistische ›Kondition‹ wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts geleistet, wobei auch Quellen des 19. Jahrhunderts, Kierkegaard, Stirner und Nietzsche neu aufgegriffen wurden. Der Existenzialismus nach den beiden Weltkriegen theoretisierte den Gulag, Auschwitz und Hiroshima als Manifestationen eines Organisierten Bösen, das zu einer allgemeinen Krise der existierenden Glaubenssysteme führte. Für alle, die sich noch für Theorie interessieren, ist Arthur Krokers The Will to Technology & The Culture of Nihilism (2004) ein Muss, da es Heidegger, Nietzsche und Marx in eine zeitgenössische, technonihilistische Perspektive stellt. Wir sehen uns einem ›vollendeten Nihilismus‹ gegenüber, insofern Blogger verstanden haben, dass die Erfüllung des Nihilismus eine Tatsache ist.62 Gianni Vattimo behauptet, dass Nihilismus nicht die Abwesenheit von Bedeutung ist, sondern die Anerkennung der Vielfalt von Bedeutungen; er ist nicht das Ende der Zivilisation, sondern der Beginn neuer sozialer Paradigmen, von welchen Blogging nur eines darstellt. Während er gemeinhin mit der pessimistischen Überzeugung, dass alle Existenz bedeutungslos sei, assoziert wird, erweist sich der Nihilismus als eine ethische Lehre, nach der es weder das moralisch Absolute noch unfehlbare natürliche Gesetze gibt und ›Wahrheit‹ immer subjektiv ist. Auf die Medien bezogen, lässt sich diese Haltung am wachsenden Misstrauen gegenüber den Erzeugnissen der großen kommerziellen Nachrichtenorganisationen und den ewigen ›Spins‹ von Politikern und ihren Beratern erkennen. Deren Botschaften zu hinterfragen, ist kein subversiver Akt engagierter Bürger mehr, sondern eine Apriori-Haltung, noch bevor das Fernsehgerät oder der Computer überhaupt eingeschaltet ist. Der Nihilismus stellt die Unmöglichkeit jeder Opposition fest – eine Situation, die, kaum überraschend, eine Menge Unsicherheiten weckt. Er ist kein monolithisches Glaubenssystem. Wir ›glauben‹ nicht mehr an das Nichts, wie im Russland des 19. Jahrhunderts oder im Paris der Nachkriegszeit. Nihilismus ist keine Gefahr oder ein Problem mehr, sondern der postmoderne Normalzustand. Er ist ein kaum erwähnenswertes und sogar banales Element des Lebens, wie Karen Carr schreibt, und steht auch nicht mehr im Zusammenhang mit der Religiösen Frage. Blogs sind weder religiös noch säkular. Sie stehen jenseits aller Tugenden. Die paradoxe Zeitlichkeit des heutigen Nihilismus ist die eines Noch-nicht-ganz-Jetzt. Im Kontext der Medien wäre dies der Moment, in dem die Massenmedien ihren Anspruch auf Wahrhaftigkeit verlieren und nicht mehr als Stimme der Autorität auftreten können. Verzichten wir darauf, dieses Ereignis zu datieren, denn ein solcher Moment der Erkenntnis kann sowohl persönlich als auch kulturell-historisch bestimmt sein. Es ist der Übergang vom fröhlichen McLuhan zum nihilistischen Baudrillard, den jeder Mediennutzer durchmacht, lokalisiert in der fehlenden Verankerung des vernetzten Diskurses, mit dem User ihre Zeit verpulvern. 62. #LEMENS 3

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Überträgt man Carrs Einsicht auf die heutigen Verhältnisse, so könnte man sagen, dass der Blogger ein Individuum ist, »das in reflektierter Konfrontation mit einer bedeutungslosen Welt lebt und ihre Macht nicht leugnen, ihr aber auch nicht unterliegen will«.63 Das führt jedoch keineswegs zu einer heroischen Geste. Bloggen erwächst nicht aus Langeweile oder entspringt einer existenziellen Leere. Carr bemerkt treffend, dass »die Präsenz des Nihilismus vielen Postmodernisten keinerlei Schrecken einflößt, sondern höchstens ein Gähnen entlockt«.64 Im Vergleich zu früheren Jahrhunderten ist sein Krisenwert gesunken. Wenn Blogger als Nihilisten eingestuft werden, bedeutet das lediglich, dass sie aufgehört haben, an die Medien zu glauben. Das sogenannte globale, niemals ausgeschaltete, immer verlinkte, immer aktuelle öffentliche Gespräch beschleunigt die Fragmentierung der Medienlandschaft. Kline und Burstein sind hier anderer Meinung (sie sind keine Nihilisten): »Statt nur auf die Gesellschaft zu blicken, sollten wir diesen Trend vielmehr als eine Entwicklung sehen, durch die Bürger-Experten in Erscheinung treten und globale Interessengruppen auf vielen disparaten Gebieten zusammengebracht werden können.«65 Aus der Perspektive der politischen Klasse lassen sich handverlesene Blogger so auch als ›Meinungs-Indikatoren‹ 66 instrumentalisieren. Aber am nächsten Tag werden sie vielleicht schon wieder als ›Pyjama-Journalisten‹ abgetan und ihre Blogs als irrelevantes Rauschen ignoriert. Weil jeder Hype irgendwann notwendigerweise in sich zusammenbrechen muss, ist die Welle negativer PR bereits vorprogrammiert. Blogger mögen die Themen kommunizieren, die Menschen gerne in den Medien wiederfinden würden. Wenn die heiße Phase der Blogs aber erst einmal vorbei ist, wen interessiert’s dann noch? Der Nihilismus beginnt hier, nach dem Fall der Blogs, dem gestohlenen Laptop, dem zusammengebrochenen Server, den unlesbaren Backup-Daten, dem verschwundenen Service-Provider; »Kommentare: (0)«. Erst dann können wir wirklich unser Pathos des Umsonst, die Geste des Vergeblichen zur Geltung bringen. David Kline notiert: w.ICHTJEDERFREUTSICHDARàBER DASSDERUNGEBILDETE0ÚBELSICHNUNTRAUT ÚFFENTLICH ZU REDEN k-AN FRAGT SICH FàR WEN DIESE UNGLàCKLICHEN 3EELEN BLOGGENj FEUERT DER $EKANDER)NDIANA5NIVERSITËT "LAISE#RONIN AUSDEM(INTERHALTk7ARUMENTSCHLIE ”ENSIESICH IHREUNMA”GEBLICHE-EINUNGZUËU”ERN SALBUNGSVOLLES'ESCHWAFELUND UNERQUICKLICHES0RIVATLEBENDEMMÚGLICHEN"LICKVONVÚLLIG&REMDENAUSZUSETZENji

63. #ARR 3 64. #ARR 3 65. +LINE"URSTEIN 3XXV 66. %INETYPISCHE4HEORIEVON"LOGSALSMEINUNGSPRËGENDEM-EDIUMBIETET!ARON $ELWICHE w!GENDA SETTING OPINIONLEADERSHIPANDTHE7ORLDOF"LOGSi IN&IRST-ON DAY WWWlRSTMONDAYORGISSUESISSUE?DELWICHEINDEXHTML3IEHEAUCH DIE!RBEITVON+AYE4RAMMELLHTTPKAYETRAMMELLCOM  67. +LINE"URSTEIN 3

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Kritik kommt auch von Insidern. »Blogs machen Spaß«, wie Burnstein und Kline von Ezra Klein erfahren. »Ich mag sie. Aber sie sind ein fehlerhaftes und problematisches Medium. Sie verführen eher zu Polarisierung und Extremismus als zu Debatte und Verständnis. Sie produzieren eher Gereiztheiten und Spott als Fakten und lebendigen Streit.«68 Der frühere Microsoft ›in-house‹-Blogger Robert Scoble weist auf die Grenzen des Blogs bei der Zusammenarbeit hin: »Ein Blog ist großartig, um neue Sachen zu veröffentlichen. Aber er eignet sich nicht, um Leute einzubeziehen und mit ihnen gemeinsam an einer Idee oder einem Projekt zu arbeiten. Da sehe ich eher Wikis als Ergänzung zu Blogs.« 69 Erhöhte Aktivität am unsichtbaren ›langen Schwanz‹ des Mediengeschäfts steht nicht im Widerspruch zu seiner mobilisierenden Fähigkeit, große Menschenmengen zu erreichen. Joe Trippi weist darauf hin, dass Blogs ihre maximale Wirkung haben können, wenn Meinungsgruppen sich in gleich starken Blöcken gegenüberstehen. Wie bei anderen Medien ist ihre Rolle wichtig, aber tatsächlich marginal. Trotzdem, gerade wenn es auf die Ränder, das Marginale ankommt, können Blogs sehr einflussreich sein. Es kommt nicht darauf an, sich mit dem Fernsehen zu messen, sondern im richtigen Moment Lawinen loszutreten. Trippi ist immer noch ganz begeistert: »$IESWARNICHTWENIGERALSDERERSTE3CHUSSINDERZWEITEN2EVOLUTION!MERIKAS NICHT WENIGER ALSDASSDIE-ENSCHENDENERSTEN3CHRITTGETANHABEN SICHEIN3YSTEMZU EROBERN WELCHESVORLANGER:EITSCHONIHRE%XISTENZVERGESSENHATTE$IE$EMOKRATIE KOCHTEANDIE/BERmËCHE àBERmUTETEDIE,ANDSCHAFTUNDHATUNSALLEMITNACHOBEN GESPàLTi Trippi schließt daraus: »)NDENKOMMENDEN7OCHEN -ONATENUND*AHRENWERDENDIESEN(UNDERTTAUSENDEN -ILLIONENFOLGEN UNDDIESE2EVOLUTIONWIRDSICHNICHTDAMITBEGNàGEN EINKORRUPTES UNDGLEICHGàLTIGESPOLITISCHES3YSTEMàBERDEN(AUFENZUWERFEN%SWIRDIHRNICHT GENàGEN DIE0OLITIKNURZUERNEUERN5NDSIEWIRDAUCHVORNATIONALEN'RENZENNICHT HALTMACHENi Nicholas Carr, Betreiber des Rough Type Blogs, bezog sich einmal auf den Theaterregisseur Richard Foreman und den von ihm verwendeten Begriff »Pfannkuchenmenschen«. Der Pfannkuchenpersönlichkeit mangelt es an Tiefe und Form. »Wir sind zu ständig verfügbaren Pfannkuchen verformt worden, zur unberechenbaren, aber statistisch kritischen Synapse im ganzen Gödel-to-Google Netz«, schrieb Foreman im Web-Magazin The Edge.org. »Ich sehe heute bei uns allen (mich selber eingeschlossen), wie eine komplexe innere Dichte durch eine neue Art Selbst ersetzt wird, das sich unter dem Druck der Informations68. %BD 3 69. %BD 3 70. 4RIPPI 3XV 71. %BD 3XIX

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flut und der Technologie der ständigen Verfügbarkeit herausbildet. Ein neues Selbst, das immer weniger auf das innere Repertoire der dichten kulturellen Erbschaft zurückgreift – weil wir Pfannkuchenmenschen werden […] und uns weit und dünn verteilen, während wir mit dem ausgedehnten Netzwerk der Information verbunden sind, an das wir mit einem einzigen Knopfdruck andocken können.«72 Die Blogger sind es, die den Pfannkuchen backen, während sie in der Küche herumstehen und über den Teig quatschen. Es ist eine alte Klage: wir brauchen keine Kenntnisse mehr, ein Link genügt. »Schick mir einfach den Link.« Während es beim Suchen dann nicht mehr genügt, bloß den Link zu finden, kommt es für Blogger vor allem auf die Kunst der hausgemachten Rhetorik und die Rauheit der sofortigen Interpretation an. Jason Calacanis: »Ich habe immer die ›unplugged‹-Akustik und den Liveauftritt bei Rockkonzerten geliebt, z.B. wenn man in die Carnegie Hall geht. Man kann da ein Orchester sehen oder Bob Dylan auf der Bühne, nur mit Gitarre, Mundharmonika und seiner Seele – keine große Aufmachung, man nimmt einfach nur die Musik wahr. Für mich sind Blogs genau so, weniger Aufmachung, mehr Seele – einfach realer.«73 Angesichts der Tatsache, dass das Hauptwachstum des Internets sich außerhalb der westlichen Welt vollzieht, muss die nihilistische Frage aus verschiedenen Perspektiven neu überprüft werden. Um eine davon herauszugreifen, schaue ich mir beispielhaft den Iran an, ein Land, das seit 2003 eine unglaubliche Welle von Blogs und Blogging erlebt hat. Bloggen ist dort so in den Vordergrund getreten, dass man es nicht mehr als marginal bezeichnen kann. Während man im Westen der sogenannten ›virtuellen‹ Identitäten müde geworden ist, gibt es in Ländern wie dem Iran Fake-Identitäten im Überfluss. Anonymität war eine wesentliche Voraussetzung für das, was Masserat Amir Ebrahimi die »Indigenisierung des Cyberspace« nennt. In der eigenen Sprache und Schrift zu schreiben, kann als ein weiterer Ausgangspunkt gesehen werden. In einem Essay in der Zeitschrift Pages 74 behauptet Ebrahimi, dass Blog-Software die Indigenisierung erleichtert, weil sie »soziale Umgebungen herstellt, in denen die Präsenz verschiedener Gedanken und Mentalitäten einen Raum bildet, der dem wirklichen Lebensraum sehr ähnlich ist. Weblogs werden zu Privathäusern in der ›globalen Stadt‹ des Internets und geben dem Cyberspace so eine familiäre Note.« Ähnlich der Metapher der ›digitalen Stadt‹ in den neunziger Jahren in Europa bieten die Blogs im Iran ein Zuhause für Einsteiger. Dieser Prozess der Aneignung vollzieht sich jedoch nicht in der öffentlichen Sphäre, die im Falle des Iran und vieler anderer Staaten streng überwacht wird, sondern geschieht stattdessen in einer quasi-sicheren, geschützten Zone »für die Jugend im Iran, die ihre Freiheit wahren will«. Die Gefahr des Selbstbetrugs und der Isolation ist in einer solchen Situation eminent, sagt Ebrahimi. Eine Gruppe, die es versäumt, Englisch zu lernen, kann sich in einer ghettoähnlichen oder geschlossenen Gesellschaft wiederfinden. Wie Ebrahimi 72. WWWEDGEORGRD?CULTUREFOREMANFOREMAN?INDEXHTML 73. +LINE"URSTEIN 3 74. -ASSERAT!MIR%BRAHIMI w%MERGENCEOFTHE)RANIANCYBERSPACEANDTHEPRO DUCTIONOFTHE3ELFIN7EBLOGESTANi 0AGES 2OTTERDAM*ULI 3 

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berichtet, beschäftigen sich viele Iraner mit ›Web-Wandering‹ (Surfen), schauen sich Bilder an, aber vermeiden es, mit anderen als ihren Landsleuten zu kommunizieren. Ich würde hier anfügen, dass die nach innen gerichtete, monadische Architektur der Blogs solch eine Abkapselung zusätzlich erleichert, statt ihr entgegenzuwirken. Die Rolle der Blogs in der iranischen Gesellschaft sei es, die Identität der Menschen zu definieren, sagt Ebrahimi. »Der billigste und einfachste Weg, sich selbst wiederzufinden, liegt darin, den Übergang von vordefinierten und rückständigen Rollen im wirklichen Leben zu ihren ›wirklichen‹ oder erträumten Rollen im virtuellen Raum zu erleben.« Hier, in »Weblogestan«, entwickeln sich Menschen, die ein hohes soziales Potenzial haben, aber keine Möglichkeit einer Existenz in der realen Welt. »Die virtuellen Identitäten geben dem Schreiber eine besondere Autorität, die nur im virtuellen Raum gilt. In vielen Beschwerden, Petitionen oder Verhandlungen unterzeichnen diese Leute mit ihren eigenen Blog-Namen, weil ihre richtigen Namen keine besondere Autorität besitzen.« Weblogestan wird zu einem Spiegel, in dem sich unbekannte Persönlichkeiten und Gesichter von Menschen zu erkennen geben, die Jahre oder sogar Jahrhunderte lang dazu gezwungen waren, ihre innere Welt vor dem Zugriff der äußeren Autoritäten zu verbergen. In der Blogosphäre gehen diese Menschen an die Öffentlichkeit, verstecken aber weiterhin ihre ›reale‹ Identität. Während die virtuelle Welt eine Reaktion auf die Pflichten und Verbote einer Gesellschaft darstellt, deren Verhaltensweisen und Einstellungen in der physischen Welt nach wie vor verworren sind, wird sie trotzdem noch als ein Spiegel betrachtet. »Man kann sich selbst als denjenigen sehen, der man sein möchte«, und »man kann sich mithilfe des Spiegels selbst aufwerten«. In Ebrahimis Pages-Artikel erläutert Harfhaye Alpar: »Es ist wie ein Spiegel, weil es immer offen ist. Ich schaue alle fünf Minuten nach, was ich geschrieben habe, ohne es zu lesen, geradeso wie ein absichtsloser Blick in den Spiegel.« Und: »Man sucht selbst in den Weblogs der anderen nach sich selbst.« User schaffen Verbindungen mit dem Wort Weblog, in denen sie sich selbst wiedererkennen können. Während der Spiegel ein poetisches Leitmotiv sein kann, schreibt Annabelle Sreberny in derselben Ausgabe von Pages auch über die Gefahr, dass »in einer Umgebung mit ständigem Internetzugang, wo Menschen alles sagen und alles tun können, auch der Spielraum für Enttäuschung, Unruhe und heftige Gewaltentladung sehr groß ist.«75 An die Stelle der Angst vor Unterdrückung, des Problems der Verfolgung und der Kunst des Schreibens ist der Kampf um Identität getreten, wie Leo Strauss es darstellte. Was den Blogger in diesem Fall beschäftigt, ist nicht, was geschrieben wurde, also welche Bedeutung hinter den Worten steckt, sondern wie er sich präsentiert. Unter dem Gesichtspunkt der Internetsicherheit ist es fraglich, wie sicher anonymes Bloggen im Iran wirklich ist. Es gibt dort verschiedene Internetanbieter (ISPs), die eine eigene internationale Netzanbindung haben. In diesem 75. !NNABELLE3REBERNY w&ROM-OUTHTO-OUTH0ROBLEMSOF4RUTHINAN)NFORMA TION3OCIETYi IN0AGES *ULI 2OTTERDAM 3

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Sinne ist der Internetverkehr nicht in derselben Weise zentralisiert wie in China, die Überwachung müsste also auf der ISP-Ebene erfolgen. Bei dem hohen Datenverkehr und der fehlenden Zentralisierung ist so eine umfassende Überwachung der Netzaktivitäten im Iran einfach nicht realisierbar. Wenn jemand jedoch bereits verdächtigt oder verfolgt wird, oder wenn die Behörden den Datenverkehr zwischen bestimmten IP-Adressen beobachten wollen, dann ist es auf jeden Fall möglich, alle Internet-Kontakte dieser begrenzten Zielpersonen zu überwachen und aufzuzeichnen. In der Praxis gibt es wenig wirkliche Anonymität in der Blogosphäre. Dies liegt weitgehend an einem Informationsmangel darüber, wie man Online-Verbindungen absichert, und auch daran, dass die meisten User den Aufwand, den zusätzliche Sicherheitsebenen erfordern, nicht auf sich nehmen wollen. Diese Sicherheitsumstände machen das gewaltige Rollenspiel bei den iranischen Blogs zu einem umso interessanteren Phänomen. Ein Spivak’sches Mantra kommt einem in den Sinn: Kann der Subalterne Bloggen? Die Frage scheint ebenso absurd wie ernst. Woher sollen die an den Rand Gedrängten, Ausgeschlossenen, Armen dieser Welt überhaupt etwas von Blogs wissen? Haben sie nicht dringendere Probleme im Kopf? Eine mögliche Antwort könnte sein: Natürlich bloggt der Subalterne, und moralische, westliche Gutmenschen haben auch nicht darüber zu befinden, ob der Subalterne nun bloggen sollte oder (noch) nicht. Vielleicht würden sich die Subalternen lieber unter einem Baum versammeln oder mit ihrem Handy SMS verschicken? Vielleicht werden die Armen einfach losbloggen und niemand im Westen nimmt Notiz davon. Vielleicht werden sie es nie merken – dann haben sie gar nichts verpasst. Wahrscheinlich bloggen sie nicht auf Englisch. Verstehen sie vielleicht die Sicherheitsrisiken? Natürlich müssten die Leute erst mal lesen und schreiben lernen. Die Schritte, die man unternehmen muss, um einen Computer zu bedienen und ein Blog zu betreiben, sind winzig klein im Verhältnis zu den unmittelbareren Themen wie Unterkunft, Wasser, Elektrizität und Bildung. Der japanische Rave-Theoretiker und DJ Toshiya Ueno antwortete auf die Frage, ob der Subalterne bloggt, Folgendes: »Der Subalterne, der an die Mittel kommt, um zu bloggen, ob alleine oder mit fremder Hilfe, ist kein Subalterner mehr. Er wechselt dann auf die Seite derer, die über den Subalternen sprechen können.«76 Der Wirtschaftsjournalist David Kline kann einfach nicht anders, als seinen New-Age-Tonfall zu bemühen, wenn er erklärt, dass trotz des allgegenwärtigen, real existierenden Nihilismus das Bloggen nicht vergeblich sei. w"LOGSBESTEHENNICHTNURAUSDEMERMàDENDEN'ESCHWAFELVON,ANGWEILERN/BWOHL SIEMEISTKEINEPROFESSIONELLEN!UTORENSIND HABEN"LOGGEROFTDOCHEINEBESTIMMTE %LOQUENZ WIEAUCHANDERE DIENICHTSELBSTBEWUSSTUNDGLATTSCHREIBENnROH UNZEN SIERTUNDELEKTRISIERTVOM+LANGIHRERNEUERWACHTEN3TIMMEN)NDEMSIEIHREN)NITI ATIONSRITUSTËGLICHAUFZEICHNEN GEBEN"LOGGERDENVERSCHIEDENEN0HASENUND:YKLEN

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Foucault-Schüler würden dies wohl ähnlich formulieren, nämlich dass Blogs »Technologien des Selbst« 78 seien, wovon ja auch schon die Rede war. Was aber, wenn dem Selbst die Batterien leerlaufen? Mit Dominic Pettman könnten wir sagen, dass Bloggen ein unnachgiebiges Streben im Zeitalter der Erschöpfung ist.79 Blogs erkunden den Zustand nach der Zerstörung der Illusion, dass sich hinter den Millionen gleicher Lebensstilentscheidungen und den Pop-Identitäten sozialer Online-Netzwerke noch irgendwo eine ›Persona‹ verbergen könnte. Für einige kehrt der Nihilismus ein, wenn sie feststellen, dass die Medienfreiheit den eigentlichen Gedanken des Zuhörens unterhöhlt. Der liberale Evangelist Carl Truemann bemerkt, dass das gesamte Blog-Phänomen »von Natur aus lächerlich ist. Je ernsthafter es zu sein versucht, umso absurder und aufgeblasener wird es.«80 Er hat Probleme mit der Redefreiheit im Zeitalter der Blogs. »Wo jeder das Recht zu sprechen hat, meint am Ende jeder, dass er auch ein Recht hat, gehört zu werden; und wenn jeder allgemein denkt, er hat ein Recht gehört zu werden, dann läuft das auf eine Situation hinaus, in der keinem wirklich mehr zugehört wird.« Trueman schlägt eine klassisch linke Strategie vor, um den Relativismus zu besiegen und damit die Existenz der Kirche zu retten, die natürlich auf jeden Fall gehört werden möchte. »Lache über die eigene lächerliche Komplizenschaft in diesem ganzen Unsinn; decke die Widersprüche des Systems auf und wofür sie gut sind; mache dich über die Blogwelt und ihre gehaltlose Selbstüberschätzung lustig; und versuche so, in kleinen Schritten das System von innen zu unterwandern.«

3CHLANGENAUGENUND'àTER WAGEN »Hi, ich bin ein Leser. Ich habe kürzlich ein eigenes Blog auf blogspot.com eröffnet und wollte mal fragen, ob du bei dir nicht einen Link zu mir setzen möchtest. Ich setze dann umgekehrt auch einen zu dir.« Aller Rede über Gemeinschaften und Mobs zum Trotz bleibt die Tatsache bestehen, dass Blogs in erster Linie als Instrument benutzt werden, um das eigene Selbst zu managen. Mit dem Begriff des Management beziehe ich mich zum einen auf die Notwendigkeit, das eigene Leben zu strukturieren, das Chaos zu ordnen und die immensen Informationsflüsse zu kanalisieren, zum anderen aber auch auf PR 77. +LINE"URSTEIN 3 78. 3IEHE 4ERJE 2ASMUSSENS 0APIER w-EDIA OF THE 3ELFi WWWMEDIAUIONO PERSONERTERJER 79. 3IEHE$OMINIC0ETTMAN "GUFSUIF0SHZ 5PXBSEB1PMJUJDTPG&YIBVTUJPO !LBANY 3TATE5NIVERSITYOF.EW9ORK0RESS  80. #ARL4RUEMAN w4HE4HEATREOFTHE!BSURDi 2EFORMATION ISSUE *ANUAR WWWREFORMATIONORG

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in eigener Sache, das Werben für die ›Ich-AG‹. Blogs sind Teil einer größeren Kultur, die auf jeder denkbaren Ebene Prominenz erzeugt. Manche klagen darüber, dass Blogs zu persönlich, sogar egozentrisch seien, während die meisten Leser von Blogs sich den dort vorzufindenden exhibitionistischen Einblicken mit Freude hingeben und nicht genug davon bekommen können. Claire E. Write rät Bloggern, keine Möglichkeit für das Schreiben von Kommentaren anzubieten. »Einige wenige Blogger beharren darauf, dass Blogs, die keine Leserkommentare erlauben, nicht ›echt‹ seien. Die meisten Blogger folgen dieser Auffassung jedoch nicht und glauben stattdessen, dass Leserkommentare ein Blog in ein Schwarzes Brett verwandeln. Die Essenz des Blogs liegt nicht in der Interaktivität des Mediums: Sie besteht vielmehr darin, der Meinung und den Gedanken des Bloggers selbst Gehör zu verschaffen. Die Möglichkeit, Kommentare abzugeben, schafft eine Vielzahl von Problemen: Es kostet wirklich eine Menge Zeit, die Beiträge zu überwachen, Spams und Trolle auszusieben und endlose technische Fragen von registrierten Teilnehmern zu beantworten.«81 Dieser Rat wendet sich offensichtlich gegen die grundlegenden Werte der bekannten meinungsführenden Groß-Blogger. Aber ist es nicht interessant, wenn Blogdienste die Möglichkeit anbieten, das Abgeben von Kommentaren gänzlich auszuschließen? Dann muss man sich weder mit »Kommentare: 0« befassen noch mit den Hunderten von Spam-Nachrichten oder gelegentlichen bewusst auf Ärger zielenden Antworten. Immerhin hält der Cluetrain Manifest-Guru David Weinberger fest, dass »Blogs weder eine neue Form des Journalismus sind, noch primär aus Teenagern bestehen, die über ihre Lehrer lamentieren. Blogs sind nicht einmal in erster Linie eine Form der individuellen Äußerung. Man trifft ihren Kern am besten, wenn man sie als Gespräche versteht.« 82 Was aber, wenn die meisten dieser Gespräche hauptsächlich aus Nachrichten bestehen – Nachrichten von den Leuten, die einen am allerwenigsten interessieren? Können wir also Blogs als ›Groupware‹ charakterisieren? Peter und Trudy Johnson-Lenz definierten 1978 Groupware als »intentionale Gruppenprozesse plus der dazugehörigen, unterstützenden Software.« 83 Wie wir gesehen haben, unterstützen die Blog-Funktionalitäten die »Computer-vermittelte soziale Interaktion« nur zum Teil.84 Es ist keine akademische Frage, ob es sich bei Blogs in erster Linie um eine Plattform zur Publikation im Netz handelt, sie also als eine Folgegeneration der Homepage anzusehen sind, oder ob sie zur Gruppe der Anwendungen für die soziale Interaktion gehören, wie Usenet und Webforen. 2002 stellte Clay Shirky den Nachfolger der Groupware vor. Er nannte sie »soziale Software« (Social Software) und definierte sie als »sämtliche Software, 81. #LAIRE%7HITE w4HE!UTHORS$ILEMMA4O"LOGOR.OTTO"LOGi IN4HE)NTER NET 7RITING *OURNAL .OVEMBER  WWWINTERNETWRITINGJOURNALCOMNOVCEW HTM 82. !USDEM!BSTRACTVON$AVID7EINBERGERS6ORTRAGw4HE3HAPEOF+NOWLEDGEi (ELSINKI3CHOOLOF%CONOMICS $EZEMBER 83. 3IEHE 0ETER AND 4RUDY *OHNSON ,ENZ w'ROUPWARE #OINING AND $ElNING ITi  WWWAWAKENTECHCOM 84. HTTPMANYCORANTECOMARCHIVESAUTHORSDANAHPHP

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die soziale Interaktion unterstützt.«85 Ob Blogs diese soziale Interaktion wirklich fördern, sei dahingestellt. Wahrscheinlicher ist es, dass der soziale Aspekt der Blogs ausgegliedert und woanders zu neuen Produkten weiterentwickelt wird, während es den Blogs überlassen bleibt, weiter der introspektiven Pflicht des Online-Tagebuchs nachzugehen. Blogs, die einen hohen Datenverkehr haben, müssen mit zusätzlichen Funktionalitäten ausgestattet werden, von denen fast täglich neue auf den Markt kommen: von Attention Trust Approved icons, scuttle, search this blog, furl archive, tag cloud und skypecard bis zu Poll of the Week, XML, podroll and swikis. Blogseiten sehen allmählich wie barocke E-Commerce-Portale der späten neunziger Jahre aus – ein schlechtes Omen. Alle diese Schaltflächen lenken vom Lesen ab und verweisen nicht primär auf andere Seiten, sondern dienen vor allem dazu, den Datenverkehr hochzutreiben und damit den Rang in der Blog-Hierarchie zu verbessern. Sind Blogger risikobereit? Natürlich unterscheidet sich die Blogkultur vom Kult des unternehmerischen Risikos, den Management-Gurus wie Tom Peters verkörpern. Ganz im Sinne von Ulrich Becks Risikodefinition haben Blogger aber mit den Risiken und Unsicherheiten zu tun, die von immer neuen Modernisierungswellen verursacht werden. Was gebloggt wird, ist die unbarmherzige Unsicherheit des Alltags. Während Unternehmer, angetrieben von kollektiven Halluzinationen, die Zukunft kolonisieren, machen Blogger das Heute sichtbar, in dem sie gefangen sind. Blogging ist die Antwort auf die »Individualisierung der sozialen Ungleichheit«. Es schlägt zurück, nicht durch kollektive Aktion, sondern durch massives hyperindividuelles Verlinken. Eben das ist das Netzwerk-Paradox, Herstellung und Zerstörung des Sozialen sind gleichzeitig zur Stelle. Hier endet die schüchterne Verinnerlichung und verwandelt sich in radikale Offenbarung. Keine andere Website hat dieses Phänomen deutlicher vorweggenommen als FuckedCompany.com, 86 eine Vorläuferin der Blogkultur, auf deren Seiten Angestellte von New-Economy-Unternehmen anonym Gerüchte, Beschwerden und, noch interessanter, interne Vermerke und Mitteilungen veröffentlichen. Blogger spalten die Spalter. Über das dauernde Gerede vom Wandel setzen sie sich einfach hinweg. Es ist erstaunlich leicht, ein postmodernes Unternehmen zu attackieren, denn seine Existenz hängt ausschließlich von einem hohlen öffentlichen Image ab, das von externen Beratern entwickelt wurde. Online-Tagebücher, Tiraden oder giftige Kommentare können die fabrizierte Harmonie, die gesteuerte Gemeinschaften hervorbringen sollen, ganz schnell in Probleme bringen. In seinem Buch Democracy Matters konstatiert Cornel West, dass »die Probleme, mit denen unsere Demokratie zu kämpfen hat, nicht nur mit Entfremdung und Desillusionierung zusammenhängen«.87 Er sieht die größte Bedrohung von drei Dogmen ausgehen: (1) dem Fundamentalismus des freien Markts, (2) aggressivem Militarismus und (3) einem eskalierenden Autoritätsdenken. All dies hat den politischen Dialog erheblich verengt. West: »Das Problem ist 85. WWWSHIRKYCOMWRITINGSGROUP?POLITICSHTML 86. 3IEHEWWWFUCKEDCOMPANYCOM 87. #ORNEL7EST %FNPDSBDZ.BUUFST .EW9ORK4HE0ENGUIN0RESS  3

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nicht das laute Geschrei zwischen den verfeindeten Lagern; eher liegt es darin, dass wir nicht mehr daran glauben, gehört zu werden. Wir verlieren den wesentlichen Wert des Dialogs – besonders den der respektvollen Kommunikation – im Namen der reinen Stimme nackter Macht.« Es bleibt jedoch fraglich, ob Blogs den Raum für einen solchen Dialog eröffnen können. Die Gefahr der Blogs ist, so West, dass »einige in der rüden Parteinahme für den anderen Weg zu weit gehen.« Florian Cramer sieht in Blogs, im Vergleich zur anspruchsvollen Kultur der Online-Debatten in den neunziger Jahren, Zeichen einer Regression, auch wenn einige von ihnen durchaus umfangreiche Diskussionen auslösen können. Mit Ausnahme der wenigen glücklichen ›A-List-Blogs‹ finden sich bei den meisten Sites ›0 comments‹, oder sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung generell abgeschaltet. Letzteres haben im übrigen, nach einigen Experimenten, die meisten Redakteure von Nachrichtenmedien auch mit ihren ›Briefen an den Herausgeber‹ (wie sie immer noch heißen) getan. Das »Andere« ist Müll. Die Online-Hooligans, die man früher auch Plebejer nannte, erzeugen keinen Mehrwert, wie das zynische Urteil lautet. Ein großer Teil der Blog-Betreiber scheint dem zuzustimmen. Democracy Matters enthält auch ein Kapitel mit dem Titel »Nihilismus in Amerika«.88 West unterscheidet hier zwischen dem evangelikalen Nihilismus der Neokonservativen um Bush und einer paternalistischen Version, praktiziert von Demokraten wie John Kerry und Hillary Clinton. Eine dritte Form, der sogenannte »sentimentale Nihilismus«, zieht es laut West vor, an der Oberfläche der Probleme stehen zu bleiben, anstatt in deren Tiefen vorzudringen. Sie begnüge sich mit einfachen Lippenbekenntnissen, ohne die Komplexität ihrer Fragestellungen zu berücksichtigen.89 Diese Tendenz, an der Oberfläche zu bleiben, Themen nur anzureißen, auf einen Artikel zu verweisen, aber nicht mehr dazu zu sagen zu haben, als dass er erwähnenswert sei, ist beim Bloggen nicht nur weit verbreitet, sondern geradezu elementar. Wie viele Beiträge auf Blogs, so können wir mit Cornel West fragen, sind sokratische Fragen? Warum ist man in der Blogosphäre so besessen von Mengen, vom Zählen und vom Einspeisen von Material, und so desinteressiert an Rhetorik, Ethik und Ästhetik? Aber wir sollten nicht bei moralischen Fragen enden. Der Wunsch, über den Nihilismus hinaus zu kommen, geht bis auf Nietzsche zurück und ist auch für den Kontext des Bloggens relevant. Wie man das Fehlen von Bedeutungszusammenhängen überwindet, ohne dabei wieder in zentralisierte Bedeutungsstrukturen zurückzufallen, ist die Herausforderung, vor die uns die bloggenden Millionen stellen. Es ist interessant zu sehen, wie sich West auf Weblogs bezieht. Im Kapitel »Die notwendige Auseinandersetzung mit der Jugendkultur« entwirft er ein düsteres Bild von persönlicher Depression und Einsamkeit, die in »medial beeinflusste Formen der Realitätsflucht« münden. Hierzu gehören der hohe Konsum von Drogen, die wachsende Verbreitung sexueller Praktiken in sehr jun88. $AS+APITELREmEKTIERTDASËHNLICHLAUTENDE+APITELw.IHILISMIN"LACK!MERI CAiIN#ORNEL7ESTS3BDF.BUUFST 3  89. %BD 3

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gem Alter und die Sucht vieler Kinder, online zu gehen, Instant Messages zu schreiben oder Weblogs zu betreiben, in denen sie eine andere Persönlichkeit annehmen können. »Diese skandalöse Betäubung der Sinne, Abstumpfung des Geistes und Beschränkung auf eine ewige Gegenwart – ohne Verbindung zur Vergangenheit und die Vision einer anderen Zukunft – ist eine heimtückische Form des Seelenmordes.«90 Wie viele andere Lifestylekritiker sieht West nicht, dass dasselbe Internet und dieselbe Blog-Kultur der organisatorische Motor hinter den demokratischen Bewegungen ist, die er so hoch lobt als »leidenschaftliche Stimmen des Widerstands, oftmals mit besonderer Leidenschaft zum Ausdruck gebracht durch das großartige demokratische Medium des World Wide Web.«91 Es sind Drogen, die die Kinder in die dionysische Kultur einführen, und doch können dieselben Drogen zu zerstörerischer Abhängigkeit führen. Hip Hop, von West als Lösung angepriesen, wird von anderen als ultimativer Ausdruck des Macho-Zynismus eingeordnet. Offenbar braucht man einen Führer, um durch diese kulturellen Widersprüchlichkeiten zu navigieren. West kommt zu dem Schluss: »Wir brauchen eine blutbefleckte sokratische Liebe und eine tränennasse prophetische Liebe, angetrieben von hart erarbeiteter tragikomischer Hoffnung.«92 Er plädiert dafür, Sokrates zu entsokratisieren, indem man die Grenzen der großen sokratischen Tradition aufdeckt. »Muss dem rigorosen Hinterfragen und der Suche nach Weisheit bei den Sokratikern nicht die passionierte Leidenschaft der Propheten und deren Streben nach Gerechtigkeit zugefügt werden?« fragt West und fordert von Sokrates mehr emotionale Intelligenz. Bloggen, Kommentieren und Verlinken könnten ein Anfang sein, die Indifferenz zu besiegen, aber ebenso auch unter die Kategorie kalter Verweise fallen. Der Inhalt von Blogs ist oft in irgendeiner Weise emotional, unterstützend und sogar melodramatisch, das kann man vom technischen Vernetzungsvorgang selbst jedoch nicht behaupten. Das Prophetische ist in einem solchen Ausmaß korrumpiert worden, dass es Zeit brauchen wird, bis man alle Nachwirkungen des Dotcom-Fundamentalismus überwunden hat. Keine weiteren Gurus mehr? Das wird schwer zu verwirklichen sein, so tief, wie die gegenwärtige Prominenten-Kultur sich in unser Verhalten eingeschrieben hat. Die Welt der Blogs macht hier keinen Unterschied. Wohl aber der Umfang und die Ausprägung des visionären Unsinns. Blogs erzählen nicht die Geschichte der Freiheit im Sinne von freier Software. Das ehrenwerte, aber sich wiederholende Insistieren des Freie-Software-Gurus Richard Stallman auf der Freiheit, den Code zu ändern, ist im Blog-Kontext irrelevant, da die User die Option haben, sich um Code (HTML) nicht kümmern zu müssen, und sich ganz auf die Generierung von Inhalten und soziales Networking konzentrieren können. Das Herzstück des Erfolgs der Blogs liegt in ihrer automatisierten (aber nicht notwendigerweise proprietären) Software. Die User sind recht glücklich mit den Einschränkungen ihrer Blogs. Stallmans Freiheit ist nur relevant für einen kleinen (wenn auch entscheidenden) Teil der 90. %BD 3 91. %BD 3 92. %BD 3

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Softwareprogrammierer, die die Fähigkeiten, die Zeit und das Bedürfnis haben, Code zu schreiben – und zu ändern.

"LOGITOERGO3UM Bloggen ist verführerisch und ansteckend; was aber dringend gebraucht wird, sind positive Beispiele, die vom Spektakel der Nachrichten wegführen und helfen, einen ganz eigenen Stil auszuprägen. Auch die Suche nach rebellischer Software steht wieder im Raum. Wir brauchen jedoch keine freie oder OpenSource-Software, um Blogs zu betreiben; die gibt es auch schon (WordPress, bBlog etc.). Bevor man mit dem Programmieren fortfährt, sollte man erst mal herausfinden, wo tatsächlich die Wünsche der Nutzer liegen, welche Formen des Kontaktierens, Kollaborierens und Sharings gewollt sind. Wie kann eine vernetzte ›demokratische Individualität‹ ins Leben gerufen werden, wenn wir gleichzeitig vermeiden, über Gemeinschaften und kollektive Identitäten zu sprechen? Wie kann eine Software das, was das Netzwerk benötigt, ›weben‹? Nun ist es an der Zeit für eine kleine Phänomenologie des Postens. Der Akt des Postens ist für das Bloggen grundlegend. Wenn wir bloggen, posten wir. Eine Philosophie des Blog-Postens könnte mit dem Unterschied von Posting (Eintrag) und Posten beginnen. Chris Garrett: w3AGMIR WASISTDIE'RUNDEINHEITDES"LOGGENS$ER"LOG %INTRAG*EDER%INTRAGIST WIEEINEINZELNER!RBEITERDEINER"ELEGSCHAFT%INIGE%INTRËGEARBEITENVIELLEICHTHËR TERALSANDERE-ANCHEERHALTENMEHR!UFMERKSAMKEIT*EDERERARBEITETFàRDICHEINEN KLEINEN%RTRAG UNDZUSAMMENSINDSIEDEINE-ITTEL UMEIN%INKOMMENZUERLANGEN (IER ALSO DIE ALLGEMEIN ANERKANNTE 2EGEL .UMMER EINS 7ENN DU DEINE "ELEGSCHAFT VERGRڔERST ALSODIEARBEITENDEN+RËFTEINDEINEM"LOG DANNVERGRڔERTSICHAUCH DEINPOTENZIELLES%INKOMMENi 

Wie verhalten sich Blog-Einträge (Postings) zur Theorie des postalischen Systems, wie sie von Jacques Derrida und Bernhard Siegert entwickelt wurde?94 Wenn Siegert schreibt »Was ist, ist postiert«, gilt dies auch für das Internet und insbesondere für die Mailinglisten-Kultur und für Blogs. Das erkenntnistheoretische Apriori ist hier der Eintrag. »Alles was der Fall ist, ist weitergeleitet« kann ebensogut als Motto der Blogosphäre betrachtet werden. Im Prozess verändern wir das, was der Fall ist, mit unseren begleitenden Gedanken. Blogs entstehen in einer Umgebung, in der nutzloser Streit die Regel geworden ist und die Entropie maximale Ausmaße erreicht hat. In diesem Sinne hat die von Shannon 93. #HRIS'ARRETT w-AXIMISEYOUR)NCOMEWITH#OMMON3ENSEi *ANUAR HTTPPERFORMANCINGCOMNODE 94. 3IEHE *ACQUES $ERRIDA %JF 1PTULBSUF WPO 4PLSBUFT CJT BO 'SFVE VOE KFOTFJUT  "ERLIN "RINKMANN UND "OSE  UND "ERNHARD 3IEGERT  3FMBJT (FTDIJDLF EFS -JUFSBUVSBMT&QPDIFEFS1PTU° "ERLIN"RINKMANNUND"OSE 

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getroffene Unterscheidung zwischen Signal und Rauschen ihre kritische Bedeutung als Metapher verloren, denn nun kann alles als Rauschen klassifiziert werden. Für Maschinen ist das Signal-Rausch-Verhältnis offenkundig, und man setzt zu seiner Erfassung immer feinere Filter ein. Was für den einen bedeutsam ist, ist für den anderen Unsinn. Dies ist das Problem bedeutungsorientierter Suchmaschinen wie auch der im Netz zugänglichen Klassifikationssysteme für die Blogosphäre, die weder auf Popularität noch auf persönlichen Präferenzen wie RSS-Feeds beruhen. Die Frage ist nicht mehr wie bei Shannon, auf welche Weise man unter den Bedingungen des Rauschens kommuniziert. Im Akt der Generierung von Daten sind wir uns ihres Noise-Charakters bereits voll bewusst geworden. Die Tatsache, dass Information zu produzieren (nach Flusser) heißt, Differenzen zu generieren, ändert nichts an diesen technisch-existentiellen Gegebenheiten. Die Frage ist nicht mehr, ob Menschen und ihre ›redundanten Sprachen‹ dem Maschinencode unterlegen sind (sind wir), sondern ob dieser Code offen oder geschlossen ist, und ob er von Staaten und Unternehmen aus Sicherheitsgründen und für kommerzielle Zwecke gespeichert und analysiert wird. Das Internet ist voller Schaltstellen, an denen der Datenverkehr genau überwacht und gefiltert wird (von Menschen, sollte man nicht vergessen; man denke an die 50.000 Chinesen, die angestellt sind, um das chinesische Internet zu filtern, überwachen und zu zensieren). Wir mögen immer weniger Briefe verschicken, aber wir ›posten‹ immer noch. »Versuche dich selbst zu errichten, und du wirst eine Ruine bauen« (Augustinus). Das gilt auch für Blogs. Was als standardisiertes und gleichzeitig maßgeschneidertes, nutzerfreundliches Medium erscheint, stellt sich unter Umständen als unzuverlässig heraus, wenn man es über eine längere Zeit betreibt. Blogs, auf denen sich drei Monate nichts getan hat, werden vom Server gelöscht. Das fluide Selbst mag gehofft haben, bei Anbietern wie blogger.com oder blogspot.com eine Zuflucht zu finden, aber die meisten Blogdienste erweisen sich als instabil, wenn es darum geht, die Millionen von ihnen gehosteten Blogs zu archivieren. Das durchschnittliche Alter einer Website beträgt sechs Monate, heißt es, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es sich bei Blogs deutlich anders verhält. Alex Havias schreibt, dass »viele Weblogs kurzlebig sind, und wir können getrost unterstellen, dass Weblogs nur für einen begrenzten Zeitraum in Betrieb sind. Diese lokalen Archive müssen anderswo dupliziert werden. Gegenwärtig gibt es keine einfachere Technik, diese Archive zu duplizieren, als RSS.«95 Die verbreitete Behauptung, dass sich das Internet an alles erinnere, verwandelt sich in einen Mythos. »Wenn deine Website nicht einfach zu aktualisieren ist, wirst du sie auch nicht aktualisieren.« Das war das Problem der neunziger Jahre. Heute lautet es: »Wenn du dein Weblog nicht aktualisierst, löschen wir es.« Selbst wenn die Überreste des Blogs wiederhergestellt werden können, etwa mithilfe von archive.org, so bleibt doch das Problem von vielfach duplizierten Multimedia-Inhalten bestehen. In seinem Posting »Blogs and Ar-

95. !LEX (ALAVIAS w"LOGS AND !RCHIVINGi  3EPTEMBER  HTTPALEX HALAVAISNETP

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chiving« schlägt Alex Halvias daher als Lösung vor, zentralisierte Server durch das Modell eines gemeinschaftlichen Peer-to-Peer-Archivs zu ersetzen. Wie aber kann die Blogkultur sich von der zwar wahren, aber langweiligen Anschuldigung absetzen, sie sei nur an sich selbst interessiert? Wie mit der ewig wiederkehrenden Anschuldigung umgehen, Blogging sei bloß Eigenwerbung? Eine blühende Szene anonymer Personas wie etwa im Iran ist zwar aufregend, aber bildet für den Rest der Welt keine echte Alternative. Anonymes Rollenspiel, das Erfinden von Charakteren wird uns ebenso wenig einen Ausweg aus dem selbstzentrierten Image bieten, von dem das Blogging besetzt ist, obwohl es durchaus interessant sein könnte, der Frage nachzugehen, wie sich Blogs und MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) zueinander verhalten. Derzeit sind sie lediglich große Paralleluniversen.96 Stattdessen könnten wir mit Stephen Greenblatt über Online-Selbststyling (»self-fashioning«) sprechen. Die theatralische Pose, die in diesem Begriff explizit gemacht wird, verbindet Elemente des Selbst (Tagebuch, Introspektion) mit dem Spektakel der wenigen Blogokraten, die um die Aufmerksamkeit der Millionen kämpfen. Matthew Berk spricht im Kontext der Blogs von »digital self-fashioning«. Laut Berk »konstituieren sich Menschen online als Anordnungen von Dokumenten und anderen Daten, die gestaltet wurden, damit andere Menschen sie lesen und eine Beziehung herstellen können. Je mehr Struktur in und zwischen diesen Inhalten, desto größer ist ihr Handlungspotenzial.«97 Das Selbst wird so auf normative Weise als die Fähigkeit definiert, Verbindungen zwischen einzelnen Inhaltselementen herzustellen. Nicholas Carr hat den Hype um das Web 2.0, inklusive der Blogs, als »amoralisch« bezeichnet.98 »Natürlich sehen die Mainstream-Medien die Blogosphäre als Konkurrenten an. Sie ist ein Konkurrent. Betrachtet man die ökonomischen Rahmenbedingungen dieser Konkurrenzsituation, dann könnte sie sich sogar als der überlegene Konkurrent erweisen. Die Entlassungen, die man in jüngster Zeit in großen Zeitungsverlagen beobachten konnte, sind vielleicht nur der Anfang gewesen. Aber sie sollten nicht Selbstzufriedenheit und Schadenfreude, sondern eigentlich Verzweiflung hervorrufen. Denn die ekstatischen Visionen eines Web 2.0 implizieren die Hegemonie des Amateurs.« Diese Bewegung der politischen Ermächtigung wird als computergestütztes ›Wissen der Menge‹ aufgefasst. Was einzelne Blogeigentümer stolz für eine großartige Position halten mögen, erscheint im Gesamtzusammenhang des Internets mit seinen Milliarden Nutzern hingegen als sich ständig verschiebende Wolke aus Billio96. .ATàRLICHGIBTES"LOGS DIESICHDEN--/20'SWIDMENWIEDERw.EW7ORLD .OTESi "LOGDESkEINGEBETTETEN*OURNALISTENj7AGNER*AMES!U DER"ERICHTEAUS3E COND ,IFE LIEFERT HTTPSECONDLIFEBLOGSCOM ABER DAS IST NICHT DER 0UNKT %IN --/20' DAS SICH AUS DEM TËGLICHEN 3TIMMENGEWIRR DER "LOGOSPHËRE SPEIST WËRE VIELLEICHTEIN!NFANG 97. :USAMMENFASSUNG VON -ATTHEW "ERKS 0RËSENTATION BEI DER *UPITERMEDIA #LICK:7EBLOG"USINESS3TRATEGIES#ONFERENCEAM*UNIIM"LOGVON0HIL7IND LEYWWWWINDLEYCOMARCHIVESSHTML 98. WWWROUGHTYPECOMARCHIVESTHE?AMORALITY?OPHP

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nen von Klicks, aktuellen Schlagwörtern und Mikromeinungen. Je mehr man mittels intelligenter Software-Anwendungen über diese Metaebene weiß, desto mehr gerät man angesichts der allgemeinen Richtung dieser Entwicklungen in Ernüchterung. Blogs entstehen nicht aus politischen Bewegungen oder sozialen Anliegen. Sie zeichnen sich stattdessen durch einen »obsessiven Fokus auf Selbstverwirklichung« aus, wie Andrew Keen vom Weekly Standard schreibt. Keen prophezeit daher eine pessimistische Wende: »Wenn man die Medien demokratisiert, dann wird man die Demokratisierung von Talent erreichen. Die unbeabsichtigte Konsequenz all dieser Demokratisierungstendenzen ist, um Thomas Friedman, einen der Apologeten von Web 2.0, gegen seine Intention zu zitieren, kulturelle ›Verflachung‹.« Nicholas Carr fügt dem hinzu: »Am Ende wird uns nur ›das flache Rauschen der Meinungen‹ bleiben – der Albtraum des Sokrates.«99 George Gilder, der Carl Schmitt der Neuen Medien, hat einmal behauptet: »Indem der Kapitalismus überall kreative Energien freisetzt, führt er zu größerer Vielfalt, auch zu größerer Medienvielfalt. Die Blogosphäre ist ein Beispiel dafür, wie die Überwindung der hierarchischen Modelle der alten durch neue Medientechnologien eine größere Vielfalt und neue Stimmen und Erzeugnisse hervorbringt.«100 Gegen diesen weit verbreiteten Standpunkt, dass Vielfalt per se eine gute Sache sei, lässt sich der Verlust vorbringen, der mit dem Verschwinden von Vertrautheit und gemeinsamen Bezügen einhergeht. ›Blogging Alone‹ (in Abwandlung von Robert D. Putnams Bowling Alone) ist eine soziale Realität, die nicht leicht von der Hand zu weisen ist. Bei den meisten Ergebnissen des Bloggens handelt es sich laut Bernhard Siegert um »Geisterkommunikation«. »Networking beginnt und endet mit reiner Selbstreferenzialität«, schreibt Friedrich Kittler, 101 und diese Autopoiesis wird nirgends so deutlich wie in der Blogosphäre. Die sozialen Protokolle der Meinung, der Täuschung und des Glaubens lassen sich von der technischen Realität der Netzwerke nicht trennen, und im Falle der Blogs stellt sich diese als Tretmühle heraus. Vor langer Zeit, im Februar 2004, begann das Mem zu kursieren, demzufolge das Internet eine »Ego-Kammer« sei. Searls, Weinberg, Ito und Boyd … alle waren dabei. Danah Boyd etwa schrieb: »Einer der wichtigsten Antriebsgründe für viele Leute in den Neunzigern, online zu gehen, war die Erwartung, Gleichgesinnte zu finden. Das Ziel war nicht, Beziehungen zu festigen oder zu diversifizieren, sondern Bestätigung. Die Annahme, dass es um Festigung und Diversifizierung geht, impliziert, dass das primäre Motiv, ins Netz zu gehen, darin bestehe, an einem zielgerichteten Dialog teilzunehmen, zu lernen und zu lehren. Offen gesagt glaube ich nicht, dass das zutrifft.«102 Shelly Parks 99. .ICHOLAS#ARR w4HE.EW.ARCISSISMi 2OUGH4YPE &EBRUAR wWWROUGHTYPECOMARCHIVESTHE?NEW?NARCISSPHP 100. !LWAYS/N 3UMMIT  *ULI  WWWALWAYSON NETWORKCOMCOMMENTS PHPID????# 101. &RIEDRICH +ITTLER w7HATS .EW ABOUT THE .EW -EDIAi IN .VUBUJPOT 2EM +OOLHAASETAL "ARCELONA  3  102. WWWZEPHORIAORGTHOUGHTSARCHIVESECHOCHAMBERS?AND?HOMO

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hatte zu einem früheren Zeitpunkt über das Bloggen geschrieben: »Schreibt man, weil man Teil einer Gemeinschaft werden will? Oder schreibt man, um zu schreiben, und die Sache mit der Gemeinschaft ergibt sich dann, oder auch nicht?«103 In diesem Zusammenhang bezog sich Danah Boyd auf Soziale Netzwerke und das homophile Konzept, dass sich Gleich und Gleich gern gesellen. Es scheint, dass im Blogging-Kontext explizit selbstreferenzielle Gruppenbildung immer noch ein neuartiger Gedanke ist. Blogs erschaffen ganze Archipele von nach innen gerichteten Links, doch diese Verknüpfungen sind sehr schwach. Dazu kommt noch, dass Blogger üblicherweise nur auf Mitglieder des eigenen Online-Stammes verweisen oder antworten. Sie haben keine umfassende Vorstellung davon, was passieren könnte, wenn auch ihre Widersacher einbezogen wären. ›Blogrolls‹, die Linklisten auf den Blogs, suggerieren unwillkürlich, dass mit einem dort aufgenommenen Blog auch automatisch eine Sympathie für dessen Betreiber ausgedrückt ist. Wir verlinken nur auf Seiten, die interessant und cool sind.104 Eben das ist ein Schlüsselproblem der Modelle von Google und Amazon, in denen Links als Empfehlungen gehandelt werden. Und das Thema gibt es schon, seit zwischen 1993 und 1995 die Browser aufkamen und Netscape eine Kategorie mit der Bezeichnung »What’s cool« einbaute. Die künstliche Spannung, die hier kreiert wurde, liegt zwischen Blogosphäre und Nachrichtenindustrie und dient dazu, einen imaginären gemeinsamen Feind zu schaffen, der nicht existiert. Wenn sich diese wesentliche, gleichwohl artifizielle, antagonistische Beziehung einmal auflöst, könnte die Ranking-Hierarchie (und damit die Dynamik hinter dem ganzen Bloggen selbst) durchaus in sich zusammenfallen. Aufgrund ihrer unüberschaubaren Weite ist die Blogebene kein umkämpfter Raum. Meinungsverschiedenheiten müssen erst einmal da sein, sie fallen nicht einfach vom Himmel. Meinungen zu produzieren ist eine hohe Kunst, die sich der Kreation von Ideologien widmet. Die Kultur der Debatte sollte nicht vermengt werden mit dem Stil ›kriegerischer‹ Netzkampagnen, mit denen bereits vorhandene (politische) Kämpfe ins Netz getragen werden. Der aufdringliche Tonfall ist es, der Blogs so rhetorisch arm erscheinen lässt. Was die Softwarearchitektur ausgelassen hat, ist die Existenz eines gleichwertigen Dialogpartners. Das Ergebnis ist eine Militarisierung, wie sie am Begriff des ›Blogschwarms‹ deutlich wird. Der rechtsgerichtete christliche Blogger Hugh Hewitt sieht in diesem einen »frühen Indikator eines Meinungssturms, der, wenn er erst einmal losbricht, das allgemeine Verständnis von einer Person, einem Ort, einem

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Produkt oder einem Phänomen fundamental verändert«.105 Es ist die Gemeinsamkeit der Ausrichtungen, oder vielleicht Überzeugungen, die das Wachstum der Bloggermacht und ihre Sichtbarkeit in anderen Medien weiter vorantreibt.

$AS,ANDVON+IZMIAZ Wenn man die Auseinandersetzung befürwortet, Zynismus und Nihilismus aber wegen ihrer schwerwiegenden moralisch-historischen Konnotationen vermeiden möchte, könnte schlichte ›Snarkiness‹ ein Ausweg sein. Eine Sprache wird als ›snarky‹ bezeichnet, wenn »sie spitzzüngige Bemerkungen enthält, die mit sarkastischem oder satirischem Witz eine schonungslose Ironie befördern. Üblicherweise so angebracht, dass sie abrupt und aus dem Kontext zu fallen scheinen, mit dem Ziel zu verblüffen oder zu amüsieren.«106 Snarkiness kultiviert nervöse oder reizbare Stimmungen zu einem Stil. Dabei verschiebt sie die Diskussion von der Ebene der Einstellungen und Überzeugungen auf die Ebene der Sprache. ›Snark‹ ist kein Jargon, sondern ›spricht im Jargon‹. Es ist nicht an einer positiven Selbstdarstellung interessiert. »Weil dieser Arsch nicht vorhat, sich selbst zu lecken, Süße«, heißt der Untertitel des Snarkiness Blogs. 107 Revenge of the Blog zufolge, klingt »snarky mehr nach witzigem Sarkasmus als nach kaltem Zynismus und entspricht eher dem ›Young Urban Professional‹ als dem autoritären Charakter (wie ihn Adorno beschreibt), dessen Zynismus eine Methode ist, um sich von der eigenen ethischen Verstrickung zu distanzieren.« 108 Der Autor Pit Schulz hebt hervor, dass die Suche der eigenen persönlichen Stimme ein zentraler Aspekt des Bloggens sei. »Etymologisch könnte snarky mit dem nasalen Aspekt von snoring (schnarchen) oder snorting (schnaufen) in Verbindung gebracht werden. Diese Klanglichkeit verweist sowohl auf eine gewisse informelle Privatheit des Pyjama-Journalismus als auch auf einen Grad an Routine und Unabhängigkeit vom Feedback anderer, der ein modulierendes Spiel mit den Ausdrucksformen erlaubt.« Das Gegenteil von snarky wäre wohl emo (emotional); Blogging ahmt Bürogespräche nach, insofern es informell ist, aber nie persönlich wird. Die Kürze entsteht aus dem Zeitmangel des Verfassers, der sich schnell wieder der Arbeit widmen muss. Der eben zitierte kurze Eintrag aus Revenge of the Blog schließt mit der Feststellung, dass am anderen Ende der Zeitskala die Prokrastination, die Gewohnheit, Aufgaben bis zur letzten Minute vor sich her zu schieben, lauert. Nach dem ganzen Abschweifen, Surfen, Mailen und Simsen, gefolgt von ein paar Routinearbeiten, kommt die tägliche Panik der unerledigten Kleinigkeiten, nervigen Details und unbeantworteten Anrufe auf. Kurz, die »neue Arbeitsethik, die sich mit der Vereinnahmung des Wissensarbeiters in der neoliberalen Weltgesellschaft entwickelt.« Robert Scoble 105. (UGH (EWITT #MPH6OEFSTUBOEJOHUIF*OGPSNBUJPO3FWPMVUJPO5IBUµT$IBOHJOH 0VS8PSME .ASHVILLE 4.4HOMAS.ELSON"OOKS  3 106. !USWWWURBANDICTIONARYCOMDElNEPHPTERMSNARKY 107. HTTPSNARKINESSTYPEPADCOM 108. HTTPPITSCHWORDPRESSCOM

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hat, um damit diesen ›Snark‹ abzuschließen, eine zynische Business-Lesart des Begriffs: »$IEINTELLIGENTESTEN,EUTEINMEINEM233SINDNORMALERWEISEAMWENIGSTENSNARKY 7ARUM7EILIHNENDERGANZE4RAFlCAM!RSCHVORBEIGEHT7ARUMlNDETDIESERGANZE 3NARK STATT 7EIL ALLE 4RAFlC WOLLEN 7ARUM NANNTE ICH DAS DIE k*OHN $VORAKIlZIE RUNGj7EILDERINDEN!CHTZIGERNNËMLICHHERAUSGEFUNDENHAT DASS WENN$UEINE 'EMEINSCHAFT ATTACKIERST SICH ALLE FàRCHTERLICH AUFREGEN UND NUR NOCH àBER DIESEN !NGRIFFREDEN5NDDASBRINGT4RAFlC4RAFlC7ERBE $OLLARSi

Kann man von einer »Angst vor medialer Freiheit« sprechen? Es ist jedenfalls zu einfach, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass es Rede- und Pressefreiheit gibt, und Blogs Manifestationen dieses Grundrechts seien. Man könnte argumentieren, dass es das Ziel radikaler Freiheit sei, einen Zustand der Autonomie zu schaffen, die Dominanz von Medienunternehmen und staatlicher Kontrolle zu bezwingen und somit nicht mehr von ihren Kanälen belästigt zu werden. Die meisten Blogs zeigen jedoch eine gegensätzliche Tendenz. Sie sind von Nachrichten geradezu besessen. Statt selektiver Aneignung herrscht hier Überidentifizierung vor und geradezu eine Sucht, insbesondere nach der Geschwindigkeit der Echtzeit-Berichterstattung. Listen von Büchern, die noch gelesen werden müssen, sind ein weiteres beliebtes Feature in Blogs, und sie weisen in dieselbe Richtung. Nach Erich Fromm könnten wir dies als ein psychologisches Problem lesen, weil bereits existierende Informationen einfach reproduziert und in einem öffentlichen Akt verinnerlicht werden. Laut Fromm hat uns die Freiheit in eine unerträgliche Isolation geführt. Wir fühlen uns ängstlich und machtlos. Entweder flüchten wir uns in neue Abhängigkeiten oder wir verwirklichen eine positive Freiheit, die sich auf die »Individualität und Einmaligkeit des Menschen« 110 stützt. »Das Recht, unsere Gedanken zu äußern, hat nur eine Bedeutung, wenn wir eigene Gedanken formulieren können.« 111 Die Freiheit von den traditionellen Medien führt zu neuen Zwängen, in diesem Fall zum Blog-Paradigma. Denn die überwältigende Funktionalität und die Leere des weißen Eingabefensters betonen gerade nicht die oben erwähnte positive Freiheit. Wir hören nicht genug über die Spannung zwischen dem individuellen Selbst und der Gemeinschaft, den Schwärmen und den Mobs, die angeblich Teil unserer Netzumwelt sind. Stattdessen sehen wir auf der Seite der Software tägliche Verbesserungen von immer genaueren, quantitativen Messwerkzeugen und anderen Hilfsmitteln, mit denen die eigene Stellung im Universum der Blogs manipuliert werden kann – etwa in Bezug auf die Verlinkung von außen, auf Nutzerzahlen und das Höherklettern auf der Googleleiter. Ist aber nicht dasjenige Dokument das herausragende, das nicht 109. HTTPSCOBLEIZERWORDPRESSCOMTHE JOHN DVORAKIlCATION OF THE BLOGOSPHERE IM SIGNING OFF OF MEMEORANDUM 110. %RICH &ROMM %JF 'VSDIU WPS EFS 'SFJIFJU  &RANKFURT A- %6!  3 ORIG&TDBQFGSPN'SFFEPN ,ONDON   111. %BD 3

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in bereits bestehende Kontexte eingebettet ist? Liegt die Wahrheit nicht gerade im Nichtverlinkbaren?

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Was mich an Blogs fasziniert, ist nicht so sehr, wie sie die Nachrichtenmedien umarmen und ihnen ins Kreuz treten, sondern ihr erstaunlicher Umschlag. Das Geisterstadtphänomen war schon von früh an, um 1997, bekannt, als sie in Scharen ihre halbfertigen gotischen HTML-Homepages verließen und sich einfach abmeldeten, ohne jemals wieder gesehen worden zu sein. Anfang 2006 widmete die Wochenendbeilage der Financial Times ihren Leitartikel den verschwundenen Blogs.113 Natürlich müssen wir skeptisch sein, wenn ein großes Medium den Tod von Blogs verkündet wie den einer weiteren virtuellen Goldader. Zu jenem Zeitpunkt hatte die Web 2.0-Euphorie solche Höhen erreicht, dass die Leute – aus verschiedenen Gründen – nervös wurden. Einige, die den Dotcom-Wahn aus nächster Nähe erlebt hatten und einen weiteren Crash fürchteten, spielten den Hype öffentlich herunter und riefen nach gesundem Menschenverstand. Die Lage wurde ernst, als Dave Winer, ein Blogger der ersten Generation, seinen Rückzug aus der Blogszene bekanntgab. »(IERZUSCHREIBENHATFàRMICHMITTLERWEILEETWAS3CHALESBEKOMMEN)CHBINMàDE UNDHABEKEINEN3PA”MEHRDARAN DERNETTE4YPFàRIRGENDWELCHEEINGEBILDETEN,EUTE ZUSEIN DIEVERSUCHEN IHR2ANKINGZUVERBESSERN INDEMSIEIDIOTISCHE4IRADENMITIH REN-UTMA”UNGENàBERMEINEN#HARAKTERABLASSEN)CHMÚCHTEDIE-ÚGLICHKEITHABEN ZUPLANENUNDZUDENKEN BEVORMEINE-ÚCHTEGERN +ONKURRENTENEINE#HANCEHABEN SICHZUPOSITIONIERENUNDDIE&RàCHTEMEINER!RBEITANSICHZUREI”EN:UVIEL4RANSPA

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Andere A-List-Blogger wie Joi Ito wurden des Bloggens ebenfalls überdrüssig und wandten ihre Aufmerksamkeit Spielen wie Second Life und World of Warcraft zu. Noch ein Zeichen der Veränderung (um es neutral auszudrücken) war die seltsame Multiplikation von Zusatz-Anwendungen, die einem Blog angefügt werden können, wovon die meisten dazu da sind, den Zuwachs an Inhalten entweder anzukurbeln oder aufzuzeichnen. Auch Clay Shirky hat in seinem 2006 erschienenen Update zu Powerlaws (2003) Stagnation signalisiert. Der obsessive Fokus auf eine kleine Gruppe von Blogs kehrte sich gegen sich selbst, nicht nur gegen die A-Liste, sondern gegen das Bloggen ganz allgemein.115 Die Financial Times Weekend meldete, dass die imaginäre Community, die auch die Sphäre genannt wird, im Begriff sei, auseinanderzubrechen. »Es gibt keine Sphäre, diese Leute sind nicht verbunden, sie haben nichts miteinander zu tun.« (Choire Sicha, ex-gawker.com)116 Sobald Blogger nichts mehr weiter auszutauschen haben als technische Details, kommt die Angst vor Zersplitterung und Isolation auf. Mitte 2006 gab es keine sozial zusammenhängende Gruppe mehr, die Interesse hatte miteinander zu bloggen. Bloggen ist eine tiefe soziale Verpflichtung. Wenn sich die Blogszene auflöst, könnte das auch für Blogs als technische Plattformen geschehen. Viele rivalisierende Plattformen warten nur darauf, die Aufmerksamkeit an sich zu reißen, die die Blogs hergestellt haben. Es gibt keine Blogs ohne eine Sphäre. Die Blogger brauchen sich gegenseitig, sie brauchen das süchtigmachende ›Aufschaukeln‹ von Gerüchten und neuen Exklusivberichten. Bloggern fehlen oft die Voraussetzungen zu ernsthafter Recherche und investigativem Journalismus. »Die Welt der Blogs ist wie eine Zeitung, die nur aus Meinungsseiten, Briefen und Nachrichtenagenturmeldungen besteht« (Financial Times Weekend). Blogs bringen Mikrofluktuationen von Meinungen und Stimmungen zum Ausdruck und kartieren diese. In einer Ära schneller Veränderungen, von Krisen, Furcht und Unsicherheit können wir alle in solch einen Pool von miteinander verkoppelten menschlichen Reaktionen eintauchen. Aber an einem bestimmten Punkt ist es Zeit, sich umzustellen und die Szene zu wechseln. Es ist schwer zu akzeptieren, dass die Menschheitsgeschichte sich in Richtung Irrelevanz bewegt. Die Technologie-Karawane zieht weiter – und so auch die Internet-User.

114. HTTPSCRIPTINGWORDPRESSCOMSCRIPTING NEWS FOR  115. 6GL#LIVE4HOMPSON w"LOGSTO2ICHES 4HE(AVESAND(AVE .OTSOFTHE"LOG GING"OOMi .EW9ORK-AGAZINE &EBRUAR 116. "UTTERWORTH

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%RKUNDUNGENABSEITSDESOF F IZIELLEN$ISKURSES Dieses Kapitel bringt eine Reihe von Fragen auf.2 Warum wird die Neue-Medien-Kunst als eine obskure und selbstreferenzielle Subkultur wahrgenommen, die bereits im Verschwinden begriffen ist?3 Warum ist es für Künstler, die mit den neuesten Technologien experimentieren, so schwer, Teil der Popkultur oder der zeitgenössischen Kunst zu werden? Was macht es so attraktiv und dennoch so schwierig, mit Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten? Warum ging die

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3 2. )CHDANKE2ICHARDDE"OER !NNA-UNSTER 3COTT-C1UIRE .IKOS0APASTERGIADIS (ENRY7ARRICK ,INDA7ALLACEUND7ARREN.EIDICHFàRIHREKRITISCHEN+OMMENTAREUND +ORREKTUREN 3. !RMIN-EDOSCHFRAGTINSEINEM"ERICHTàBERDAS)3%! DASUAAUFEINER /STSEEFËHRESTATTFANDw7ORUMGEHTESINDIESER-EDIENKUNSTSZENE%SKAPISMUS'EHEN WIRàBERHAUPTIRGENDWOHIN ODERTREIBENWIRNUR3ITZTNOCHIRGENDWERAM3TEUERDIESES 3CHIFFS$IEWOHLBEKANNTEN!NSCHULDIGUNGENHINSICHTLICHDERSELBSTREmEXIVEN.ATURDER -EDIENKUNSTDISKURSE DIE+LAGENàBERDAS'HETTO DIEKOMFORTABLE"LASEDER-EDIENKUNST HÚRENNICHTAUF7ËHRENDMANDEN:IRKUSVON3TATIONZU3TATION VONDER4RANSMEDIALE ZUR &UTURESONICA ZUR )3%! WEITERZIEHEN SIEHT WËCHST DER 6ERDACHT DASS DAS kNEUj IN k.EUE-EDIENjESUNSERLAUBT INEINEM:USTANDHISTORISCHER!MNESIEVONEINEM4HEMA ZUM NËCHSTEN WEITERZUSPRINGEN 7AS KOMMT NACH DER (YPERVENTILIERUNG DES $RAHTLO SEN 'ENERATIVEN ,OKATIVEN -IR SCHEINT DASS DIE WIRKLICHEN %NTWICKLUNGEN VON AUF EINANDERFOLGENDENKOMMERZIELLENUNDTECHNISCHENk2EVOLUTIONENjDIKTIERTWERDENUND DIE-EDIENKUNSTNURAUFDIESEN7ELLENSURFTiWWWMETAMUTEORGQEN4HE 7IRELESS ,OVEBOAT )3%! 

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Neue-Medien-Kunst während der üppigen Tage des Dotcom-Booms leer aus, warum kauften sich Geeks und IT-Millionäre lieber Autos und andere Mittelklasse-Spielereien und kehrten ihrer ›eigenen‹ Kunstform den Rücken zu? Woraus resultiert die unterwürfige Haltung gegenüber den Naturwissenschaften? Liegt die einzige Option, wenn wir uns die persönlichen Biographien anschauen, wirklich im Bereich der Lehre? Neue-Medien-Kunst hat sich zwischen kommerziellem Demo-Design und Museumsstrategien positioniert, und statt dort aufgerieben zu werden, ist sie in einen Abgrund des Missverstehens gefallen. Nach Jahren des heroischen Kampfes – Arbeiten produzieren, Ausstellungen konzipieren und Festivals, Konferenzen und Kurse organisieren – zeigt sich nun das Gefühl einer drohenden Krise. Handelt es sich dabei nur um einen schmerzhaften Moment in einem allgemeinen Wachstumsprozess oder haben wir es mit strukturellen Problemen zu tun? Disclaimer: Ich habe nicht die Absicht, bestimmte Beispiele künstlerischer Arbeiten aufzuführen, schon der Gefahr wegen, damit das Argument im Ganzen aufzuweichen. Jedes Argument, das ich anführe, kann mit Referenz auf bestimmte Arbeiten widerlegt werden, die das genaue Gegenteil meiner Worte aufzeigen. Natürlich gibt es erfolgreiche Neue-Medien-Künstler. Nur eine Handvoll sind jedoch auch auf Biennalen zu sehen, wo wir uns im Wesentlichen mit einkanaligen Videoprojektionen begnügen müssen. Regionale und nationale Unterschiede machen es nur schwieriger, allgemeine Trends herauszuarbeiten, da in den meisten Teilen der Welt Neue-Medien-Kunst noch ein unbekanntes Wesen ist. Sollten aufstrebende Künstler um diese (auf kommerzieller Ebene) gescheiterte Kunstform einen Bogen machen? Was mich interessiert, ist das allgemeine Bild der Neue-Medien-Kunst in einer Zeit der schnellen kommerziellen Entwicklung und sozialen Verbreitung neuer Medienformen. Positive Beispiele und Alternativen zu fordern, ist keine konstruktive Haltung. Tatsächlich ist es Teil des Problems, da es die kritische Analyse verhindert. Wie bei Renato Poggioli in seiner Theory of Avant-Garde ist auch mein Ziel die Diagnose, nicht die therapeutische Behandlung. 4 Ich beschäftige mich mit Neue-Medien-Kunst seit den späten achtziger Jahren, war in Jurys und habe Festivals organisiert, auf denen diese Arbeiten gezeigt wurden. Über die Jahre hinweg habe ich sehr viele Künstler getroffen, Ausstellungen gesehen und Interviews geführt. Die meisten davon habe ich auf der Nettime-Liste gepostet und später in dem Buch Uncanny Networks zusammengestellt. Die Beziehung meiner eigenen Arbeit zur Kunst war immer sehr eng. Eine Vielzahl brillanter Arbeiten ragt heraus, aber ich möchte ihre Bedeutung hier nicht zum Thema machen. Wenn ich über eine Krise der Neue-Medien-Kunst spreche, beziehe ich mich nicht auf den Standard der künstlerischen Arbeit, sondern auf die prekäre Position dieser Kunstform an sich und ihre institutionelle Repräsentation im Besonderen. Ich habe dieses Kapitel im schmerzlichen Bewusstsein geschrieben, dass ein relativer Außenseiter wie ich, weder Kurator noch Künstler oder Verwalter, eher in der Position

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sein kann, Bedenken auszusprechen, die faktisch nicht allzu neu sind und auch von vielen geteilt werden. In diesem Kapitel fasse ich die aktuellen Debatten auf Mailinglisten wie der Deep-Europe-Plattform, Spectre, Empyre, iDC und Fibreculture aus Australien zusammen, wo die Australian Federal Funding Agency ihr eigenständiges New Media Arts Board im Jahr 2005 aufgelöst hat. Wäre es besser, Neue-MedienKunst in den Film, das Theater und die bildenden Künste zu integrieren, oder entstehen die interessanteren Arbeiten, wenn technologiebasierte Kunst ihre eigenen Finanzierungsstrukturen, Medienlabore und Zentren hat? Abgesehen von einer kritischen Untersuchung der Voraussetzungen – und überhaupt der Existenz – einer elektronischen Kunst werde ich das um die Biennalen kreisende System der zeitgenössischen Kunst argumentativ hinterfragen. Letzteres reproduziert eine rückwärtsgewandte Unterscheidung zwischen dem Fake des Spezialeffekts und dem authentischen Kampf wirklicher Künstler mit dem rohen, unbearbeiteten Bild. Die Welt ist ein weiter Raum und die ganze Zeit finden widersprüchliche Bewegungen statt. Immer noch gibt es genug asynchrone Entwicklungen. Es ist schwierig und oft nicht sehr klug, daraus eine bestimmte Tendenz abzuleiten, wie in diesem Fall die konzeptuelle Stagnation der Neue-Medien-Kunst, und davon auszugehen, dass die gleiche Entwicklung überall stattfindet. Was in A groß herauskommt, verbleibt in B in der Stagnation. Es gibt jedoch immer wieder Trends und Gerüchte – Meme verbreiten sich schnell. Die elektronische Kunst, ein frühes Synonym für Neue-Medien-Kunst, befindet sich in der Krise. Ebenso virtuelle Kunst und Netzkunst. Diese sorgsam abgeschotteten Gemeinschaften haben sich unfähig gezeigt, die Dringlichkeit und Schönheit ihrer Werke ihrem (potenziell) stetig wachsenden Publikum zu vermitteln. Daher stehen heute weniger Fördermittel zur Verfügung und weniger Sponsoren bereit. Die ›Krise‹ spielt sich in einer kulturell konservativen Ära ab, die generell vor Experimenten zurückschreckt. Kunst soll erschüttern, ein Schlag ins Gesicht sein, alle Barrieren hinter sich lassen und möglichst keine Fragen stellen. Sie soll sich als Objekt der Begierde, als berührbares Gut präsentieren und nicht als Prototyp betrachten. Sie soll unmittelbar für den Konsum verfügbar sein. Was zu Fragen führt wie »Welche ökonomischen Modelle könnte es für Neue-Medien-Kunst mit ihren instabilen Standards geben?« und »Gibt es da noch weitere bislang unerschlossene Geldquellen und Ressourcen?«

!NFËNGE Ich denke, man sollte mit einer Definition beginnen. Neue-Medien-Kunst kann wohl am besten als eine transitorische und hybride Kunstform, als multidisziplinäre ›Wolke‹ von Mikro-Praktiken beschrieben werden.5 Historisch gesehen 5. %IN FRàHES &RAGMENT DIESES %SSAYS ERSCHIEN ONLINE WWWMEDIA CULTUREORG AU FRAGMENTSHTMLHABEICHEINENERSTEN%NTWURFGESCHRIEBEN DERIN&NQJSF 3VJOTBOE/FUXPSLT HERAUSGEGEBENVON3COTT-C1UIREUND.IKOS0APA

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kamen die Neuen Medien in dem Moment auf, als die Grenzen zwischen den klar voneinander getrennten Kunstformen wie Film, Theater, Fotografie und bildender Kunst mit dem Aufstieg digitaler Technologien zu verschwimmen begannen.6 Die Ursprünge werden zur Zeit von Experten wie Dieter Daniels, Inke Arns, Charlie Gere, Stephen Jones, Paul Brown und Oliver Grau untersucht.7 Im Oktober 2005 fand in Banff, Kanada, Refresh!, die erste Konferenz, die sich mit der multiplen Geschichte der Neue-Medien-Kunst aus wissenschaftlicher Perspektive beschäftigte, statt.8 Das aufstrebende Gebiet der Medienarchäologie, in dem Forscher wie Siegfried Zielinski und Erkki Huhtamo aktiv sind, wird zu diesen Bemühungen auf einer anderen Ebene ebenso beitragen wie die Studien von Soziologen und Kunstgeschichtlern. Aber bevor wir weiter über ihre Zukunft spekulieren, ist es notwendig, die Stagnation aus dem Blickwinkel der institutionellen Kritik zu analysieren. Die Geburt der Neuen Medien ist eng mit der Demokratisierung der Computertechnologie in Gestalt des Personal Computers (PC) verbunden. Für einige ist es eine Kunstform, die aus dem Geist der Fluxus-Bewegung und der damit verbundenen Video- und Performance-Kunst hervorgegangen ist. Andere betonen den Einfluss der elektronischen Musik der Siebziger, sowie der postindustriellen Kunst und des Aktivismus der Achtziger. Wieder andere weisen auf die intermedialen Praktiken hin, die auch als Multimedia bezeichnet wurden und eine Vielfalt von analogen Techniken nutzten, darunter Dias und Super-8, Pyrotechnik und Soundscapes. Trotz einer Reihe von Vorläufern und Vorgeschichten in der telematischen Kunst sehe ich die späten achtziger Jahre als den eigentlichen Anfangspunkt der Neue-Medien-Kunst, insbesondere in Verbindung mit dem Aufkommen von Desktop Publishing, Hypertext und der Produktion von CD-ROMs. Die Einbeziehung des Internets begann erst relativ spät, von 1994/95 an, nachdem das World Wide Web eingeführt worden war. Neue-Medien-Kunst ist zuerst einmal Teil des größeren Kontexts der visuellen Kultur. Obwohl sie starke Verbindungen zu Hypertext-Diskursen, Cyberkultur,

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Klangkunst, abstrakter Kunst, Konzeptkunst und Performance hat, lässt sich dennoch sagen, dass das Element der bildenden Kunst den dominanten Strang bildet. Das Problem mit diesen Darstellungen der Anfänge der Neue-MedienKunst ist jedoch die Überbetonung individueller Künstler und ihrer Arbeiten. Solchen Darstellungen mangelt es gewöhnlich am Bewusstsein des institutionellen Aspekts. So langsam sich das institutionelle Verständnis auf diesem Sektor herausgebildet hat, so schnell ging die Entwicklung der neuen Medientechnologien vonstatten. In dieser Hinsicht handelt es sich bei Neue-Medien-Kunst um eine Fehlbezeichnung, weil sie zum wiederholten Mal das alte modernistische Dilemma zwischen ästhetischer Autonomie und sozialem Engagement hervorgebracht hat. Wo immer man das Wort Kunst anfügt, schafft man ein Problem. Im Fall der Neue-Medien-Kunst gab – und gibt – es keinen nennenswerten Markt, kaum Unterstützung durch Galerien, wenige (und umso wertvollere) Kuratoren und Kritiker und ein spezialisiertes Publikum, das schon fast zu einer Kultgemeinde tendiert. Und was am wichtigsten ist: Es gibt kein suprematistisches Bewusstsein, als Avantgarde zu handeln. Ganz offensichtlich fehlt hier das Gefühl historischer Zuversicht. Stattdessen gibt es eine vorherrschende Praxis der kleinen Intervention im Schatten etablierter Praktiken wie des Films, der visuellen Kunst, des Fernsehens und des Grafikdesigns. w.EUE -EDIEN +UNSTISTNACHDER$ElNITIONDES!USTRALIA#OUNCILEIN0ROZESS INDEM NEUE 4ECHNOLOGIEN VON +àNSTLERN GENUTZT WERDEN UM 7ERKE ZU SCHAFFEN DIE NEUE &ORMENKàNSTLERISCHEN!USDRUCKSERFORSCHEN:UDIESENNEUEN4ECHNOLOGIENGEHÚREN #OMPUTER )NFORMATIONS UND+OMMUNIKATIONSTECHNOLOGIEN VIRTUELLEODERIMMERSIVE 5MGEBUNGENODER4ECHNOLOGIENZUR+LANGBEARBEITUNG3IESINDDIE0INSELUND3TIFTE EINERNEUEN'ENERATIONVON+àNSTLERNi

Die Betonung liegt hier auf der Erforschung. Die Neue-Medien-Kunst ist auf der Suche nach neuen Standards und Kunstformen. Ihr Hauptziel ist nicht unbedingt, ewig währende, universelle Kunstwerke zu schaffen. Dafür bahnt sie einen Weg, um eine neue Generation die neu entdeckte Sprache in ihren ganzen Möglichkeiten nutzen zu lassen – jenseits des Kontexts der Neue-Medien-Kunst. Diese Stärke sollte mehr betont und untersucht werden. Aber wie dieses Kapitel zeigt, verbrauchen sich viele der ursprünglichen Energien in den Anstrengungen, überhaupt einen Platz zu finden. Dass der Schwerpunkt auf der Schaffung einer neuen Sprache und Infrastruktur liegt, könnte erklären, warum in dieser Szene soviel unsichtbare, unbezahlte Arbeit geleistet wird und Selbstausbeutung so verbreitet ist. Nur Pioniere verstehen, dass man erst eine Sprache schaffen muss, um ein Gedicht schreiben zu können. Doch die Gesetze der Neuen Medien sind nicht einfach vorab gegeben, um entdeckt zu werden. Was einige als Vorteil betrachten, nämlich kein komplexes Gefüge von Regeln und Referenzen zu besitzen, beurteilen andere als eine inhärent unreife Situation. Wie zieht man sich selbst aus dem Sumpf, wie springt man über den

9. WWWCULTUREANDRECREATIONGOVAUARTICLESNEWMEDIA

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eigenen Schatten? Für die Neue-Medien-Kunst wird es keiner machen. Es gibt keinen Sugar Daddy. Vergiss die Trophäe am Ende des Rennens. In den frühen Neunzigern vollzog sich eine lautlose Scheidung. Inmitten der Aufregung über virtuelle Realitäten, Multimedia und Cyberspace stahl sich die Videokunst aus der Szene davon und bewegte sich in einem cleveren Schachzug auf die zeitgenössische Kunst zu, die über eine weitaus bessere Infrastruktur von Biennalen, kuratorischen Programmen und Ausstellungsorten verfügt. Es gibt einige wenige Ausnahmen wie die New Yorker Postmasters Gallery, die durch die Netzkünstler, die sie repräsentierte, in den späten Neunzigern eine besondere Stellung einnahm. Nun, wenn wir von Neue-Medien-Kunst sprechen, haben wir es mit einer Kunstform zu tun, die mit Technologien experimentiert. Auch wenn dies für so manche Arbeit der Videokunst weiterhin zutrifft, haben sich doch die meisten Videokünstler von Frame-in-Frame und anderen Spezialeffekten verabschiedet. Die Videokunst hat gemerkt, dass sie sich nicht länger in formalen Experimenten verlieren darf, sondern Ideen vermitteln muss, die in einer klassischen narrativen Form leicht verstanden werden. Innerhalb des Diskurses der Neue-Medien-Kunst herrscht hingegen Unklarheit über den exakten Status des bewegten Bildes. Was heute als »Video« bezeichnet wird, reicht von High-End-Produktionen von Pipilotti Rist und Stan Douglas bis zu Arbeiten, die aussehen, als seien sie letzte Woche von einem Cousin mit iMovie zusammengeschustert worden. Boris Groys’ Buch Topologie der Kunst enthält ein Kapitel mit dem Titel »Media Art in the Museum«, in dem er Neue Medien auf Videoinstallationen eingrenzt und ihr Verhältnis zum Kino erörtert. Mit keinem Wort werden Dinge wie Interaktivität, immersive Aspekte, die Rolle des Klangs, vernetzte Umgebungen oder Performances erwähnt. Als Kunsthistoriker des Karlsruher ZKM sollte Groys es eigentlich besser wissen. Aber dieser Ausschluss ist natürlich ein bewusster und bekräftigt abermals die Auffassung, dass Neue Medien per Definition in den Bereich der visuellen Kunst gehören. 10 Doch es ist notwendig, spezifisch zu bleiben. Das politische Klima ist in den westlichen Ländern sehr unterschiedlich. Während die Förderung von »e-culture« in den Niederlanden hochgefahren wurde, hat man bei der Kunstförderung die Neuen Medien als eigenen Bereich abgeschafft. Mit einem politischen Coup im Jahr 2000 wurde in Rotterdam versucht, die Kunst zu zentralisieren und dabei das V2-Zentrum für »instabile Medien« in das übergreifende Zentrum für Visuelle Kultur einzubetten, ein Versuch, der jedoch kläglich scheiterte. Die Situationen in Berlin, Paris und London sind allesamt extrem unterschiedlich. In den USA gilt die Universität weiterhin als sicherer Hafen, während die kulturelle Förderung in anderen Bereichen sehr schwach ist. In Europa hingegen streitet man sich darum, ob die Kunstausbildung überhaupt akademisch sein soll. Meine Kritik ist aber nicht so zu verstehen, als ob ich verächtlich auf die

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»gähnende Leere des technologischen Erhabenen« 11 herabblicken wollte. NeueMedien-Kunst ist kein einheitliches Gebilde. Sie ist »auf der Suche« und zielt nicht unmittelbar auf große Erzählungen und in sich geschlossene Arbeiten, die in einer Galerie gekauft werden können. Die elektronische Kunst, die sich zur heutigen Neue-Medien-Kunst entwickelt hat, stellt ein hybrides System dar und steht in starker Abhängigkeit zu kulturellen Parametern, die von Ingenieuren vorgegeben werden. Viele Schlüsselfiguren auf diesem Gebiet positionieren ihre Praxis in der fragilen Zone zwischen Kunst und Technologie, was immer wieder Schwierigkeiten mit sich bringt. Die Spuren führen oft auf eine Intermedia genannte Praxis zurück, bei der es um transdisziplinäre Zusammenarbeit geht.12 Neue-Medien-Kunstwerke sind Formen, auf der Suche nach einer Form. Sie sind prozessual im Sinne eines Schreibens materialspezifischer Prozesse. Als Testfeldern fehlt ihnen oft der Inhalt. Viele dieser Arbeiten sind weder cool noch ironisch, im Gegensatz zu jenen der zeitgenössischen Kunst. Stattdessen vermitteln sie oft eine verspielte, naive Anmutung, indem sie ihre Nutzer einladen, alternative Schnittstellen zu erfahren. Oft sind sie hochaktuell – partizipatorisch, dysfunktional oder ›verteilt‹ – und widersetzen sich dem Versuch, sie aus ihrem Kontext herauszulösen und in eine Galerie zu versetzen. 13 Die NeueMedien-Kunst bildet, und darin verdient sie Anerkennung, eine der wenigen Kunstformen, die den programmatischen Wunsch, die Wände des White Cube zu sprengen, ernst genommen hat. Und dies in so systematischer Weise, dass sie sich selbst aus dem Kunstmarkt herauskatapultiert hat. Kunstwerke aus dem Bereich der Neuen Medien sehen sich vor die unmögliche Aufgabe gestellt, sowohl Computerwissenschaftler als auch Kuratoren beeindrucken zu müssen. Doch dieses Unterfangen scheitert tragisch. Weder die Kunstwelt noch die Experten der Informations- und Kommunikationstechnologien sind automatisch Anhänger der elektronischen Kunst. Es gibt keine besondere Nachfrage nach Wunderkammern. Aus der Perspektive der Geeks sind sie sowieso nur von Anwendern gemacht, nicht von Entwicklern, d.h. solche Kunstwerke setzen neue Technologien lediglich ein, tragen aber nicht zu ihrer Weiterentwicklung bei. Das fehlende Interesse, sich mit Werken der Neue-Medien-Kunst auseinanderzusetzen, hat auch damit zu tun, dass diese 11. #HARLIE&INCH!RTNET ZU#HRIS+RAUS"UCHàBERDIE+UNSTSZENEVON,OS!N GELES 7JEFP(SFFO #AMBRIDGE-ASS 3EMIOTEXTE  12. 7IKIPEDIA w)NTERMEDIA WAR EIN +ONZEPT DAS -ITTE DER 3ECHZIGER VOM &LU XUS +àNSTLER $ICK (IGGINS EINGEBRACHT WURDE UM DIE SCHWER FASSBAREN OFT VERWIR RENDENINTERDISZIPLINËREN!KTIVITËTENZUBESCHREIBEN DIEZWISCHENJENEN'ATTUNGEN ENTSTANDEN DIEINDEN3ECHZIGER*AHRENINDEN6ORDERGRUNDTRATEN$IE"EREICHEZWI SCHEN:EICHNUNGUND,YRIK ZWISCHEN-ALEREIUND4HEATERKONNTENSOALSINTERMEDIËR BESCHRIEBEN WERDEN 7ENN SIE VERMEHRT AUFTRATEN KONNTEN DIESE NEUEN 'ATTUNGEN ZWISCHENDEN'ATTUNGENIHREEIGENEN"EZEICHNUNGENENTWICKELN ETWAVISUELLE0OESIE ODER0ERFORMANCE +UNSTi 13. %INERGËNZENDER+OMMENTARVON*ON)PPOLITO % -AIL +ORRESPONDENZVOM *ULI

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oft mit Verweisen auf Philosophie, Kunstgeschichte sowie auf die Geschichte der eigenen Gattung aufgeladen sind. 14 Für Kunstexperten wiederum gehört die Neue-Medien-Kunst eher ins Technikmuseum und in den Freizeitpark als in eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Liest man die Mainstream-Kritiker, so scheinen sie zu glauben, Kunst solle Wahrheit und Gefühl vermitteln. In der heutigen Spektakelgesellschaft gibt es keinen Platz für halbe Kunst, ganz egal, wie viele Grundsatzpapiere die Neue-Medien-Kunst für ihre Experimentierfreude und ihren Innovationswillen loben. Die These, die ich hier entwickle, ist keine Kritik am Experiment. Es geht um die Frage, wie man mit der unvermeidbaren Selbstreferenzialität umgehen soll, die auftritt, sobald neue Medien nicht mehr neu sind und ein Prozess der Institutionalisierung einsetzt, in dem am Ende mehr Möglichkeiten verspielt als geschaffen werden. Ich bin keineswegs der Erste, der diese Fragen anspricht. Der in Köln lebende Medientheoretiker Hans Ulrich Reck hat 2002 einen kleinen Band mit dem Titel Mythos Medienkunst veröffentlicht. Laut Reck löst sich die Kunst in verschiedene Richtungen auf. Er schlägt nun vor, zwischen »Medienkunst« und »Kunst durch Medien« zu unterscheiden. »Es wird nicht wundern, dass ›Medienkunst‹ Kunstbehauptung als Ausdruck, Darstellung und Repräsentation fortschreibt, wohingegen ›Kunst durch Medien‹ interventionistische (›kollaborative‹) Ansprüche und alternierende Handlungskonzepte mit dem Akzent auf den prozessualen Methoden und experimentellen (Er-)Findungen exponiert.«15 Reck argumentiert, dass es keinen zwingenden Grund dafür gibt, alle möglichen kreativen Prozesse mit ein und demselben Etikett – Kunst – zu versehen. »Wenn etwas Kunst ist, dann ist es nicht Kunst, weil es bestimmte Medien benutzt.« (S. 12) Sonst würde man »nicht ›Landschaftsmalerei‹ oder ›Genre-Malerei‹ sagen, sondern ›Öl-Kunst‹« (S. 14). Für Reck ist es absurd, das Medium als definierendes Merkmal in der Kunst anzusetzen. »Was Kunst ist, ist nicht abhängig von Medialität und ihren Materialien. Kunst ist eine spezifische Aussage.« (S. 94) Gleichzeitig warnt er davor, im Namen der Kunst eine kulturelle Exklusivität zu beanspruchen. Anstelle einer kühlen institutionellen Definition von Kunst lässt Reck die Frage, ob etwas Kunst oder nicht Kunst sei, generell fallen. Vielmehr käme es darauf an, ob etwas gut, wichtig, relevant, erhellend oder aufwühlend ist. Reck definiert Kunst in einem normativen Sinn als aktivierende Kraft, als etwas im Bereich des Virtuellen (im Deleuze’schen Sinne), eine Kate14. *ON)PPOLITOw%IN'RO”TEILDERZEITGENÚSSISCHEN-ALEREIUND)NSTALLATIONEN ENTHALTEN UNDURCHSICHTIGE PHILOSOPHISCHE ODER HISTORISCHE "EZàGE $ER 5NTERSCHIED LIEGTDARIN DASSDIE+URATORENMEHRàBERDIESE!NSPIELUNGENWISSENALSDIEMEISTEN IHRER!USSTELLUNGSBESUCHER WËHRENDUMGEKEHRTBEIDEN.EUEN-EDIENDIE"EZàGEVON DEN-USEUMSBESUCHERNOFTBESSERVERSTANDENWERDENALSVONDENDORTANGESTELLTEN &ACHLEUTEN3OWARENDIEIN+UNSTGESCHICHTEBEWANDERTEN+URATORENIM'UGGENHEIM Z"NICHTINDER,AGE DEN+ONTEXTEINESVON#ORY!RCANGELMODIlZIERTEN3PIELSZU ERKENNEN WËHRENDDIE-USEUMSWËRTERGLEICH"ESCHEIDWUSSTENnk(EY EINE,IGHTGUN $IEKENNEICHDOCHxji 15. (ANS5LRICH2ECK .ZUIPT.FEJFOLVOTU +ÚLN6ERLAGDER"UCHHANDLUNG7ALTHER +ÚNIG  3F

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gorie, die ein Reich der Möglichkeiten öffnet. Kunst zielt auf das Unmögliche – mit oder ohne den Gebrauch der ›neuen‹ Medien. »Kunst ist nicht mehr Kunst der Darstellung, sondern – vorrangig – Kunst der Transformation.« (S. 94) Um den so oft empfundenen Mangel an Dringlichkeit zu verdeutlichen, zitiere ich hier aus einem Bericht der Künstlerin kanarinka/Catherine D’Ignazio über das ISEA (International Symposium on Electronic Art) in San José, Kalifornien, im Jahr 2006, der von einem der Hauptthemen des Festivals, der »Interactive City«, handelt. w$AS"ILDDES&ESTIVALSSCHIENGEPRËGTVONEINEM'EISTDES3PIELS DERSICHZUNEHMEND AM+ONSUMSPEKTAKTELUNDDER%RLEBNISÚKONOMIEDER-ITTELKLASSEORIENTIERT5MEIN PAAR"EISPIELEDERMÚGLICHEN+UNSTERLEBNISSEAUFDEM)3%!ZUGEBEN %ISESSENUND+ARAOKESINGEN %INENALTEN-ENSCHENIN3AN*OSÏANRUFENUNDSICHDARàBERAUSTAUSCHEN WASMAN GEMEINSAMHABENKÚNNTE %INEN+NOPFANEINER-ASCHINEDRàCKENUNDEINKàNSTLERISCHANMUTENDES&LUGTICKET MITSEINEM&OTOBEKOMMEN 3ICHDURCHDIE3TADTTREIBENLASSEN ALSWËRESIEEINRIESIGES3PORTFELD INDEMMAN VERSCHIEDENE3PORTARTENIMURBANEN2AUMAUSàBT $ASEIGENESOZIALE.ETZWERKVIA"LUETOOTHVISUALISIEREN WËHRENDMANAUFDER+ON FERENZUNTERWEGSISTUNDMITSEINEN&REUNDENSPRICHT  'ERËUSCHMUSIK ZUSCHAUENZUHÚREN DIE VON ,EUTEN DIE MIT 3KATEBOARDS AUF DER +ONFERENZHERUMFAHREN PRODUZIERTWIRD  !UF DEM -OBILTELEFON EINER EROTISCHEN 3CIENCE &ICTION %RZËHLUNG àBER 3AN *OSÏ ZUHÚREN WËHRENDMANGERADE:UGFËHRT  ,ICHTSCHALTER BETËTIGEN UM EINE %IN 7ORT -ITTEILUNG IN ÚFFENTLICHEN 2ËUMEN ZU MACHEN "UNTE$ 6ISUALISIERUNGENVONDRAHTLOSENDIGITALEN$ATENBETRACHTEN -EINE&RAGENANDIE+àNSTLER /RGANISATOREN !NWESENDENUNDALLEANDERENWËRENUN nSINDPSYCHOGEOGRAPHISCHELOKATIVE-EDIENARBEITENNICHTSWEITERALSk&%jFàREINE NEUE 'ENERATION DES 5NTERHALTUNGSSPEKTAKELS /DER WAS VERSUCHEN WIR TATSËCHLICH MITDIESER!RTVONk3PIELjIMURBANEN2AUMZUERREICHEN5NDWIESIEHTESEIGENTLICH AUSMITINTERAKTIVEN3TËDTENIM)RAKUNDIM,IBANONODERANDERSWO7ARUMHABENWIR NICHT4HEMENWIE+RIEG 3ICHERHEIT -ILITARISIERUNGUND4ERRORISMUSALS!SPEKTEDER ZEITGENÚSSISCHEN INTERAKTIVEN 3TËDTE ANGESPROCHEN (ERUMZURENNEN UND AUS EINER 3TADT EINEN GRO”EN 3ANDKASTEN EINE 3PIELWIESE ODER EINEN 3PORTPLATZ ZU MACHEN ERSCHEINTMIRZUNEHMENDIRRELEVANTUNDUNVERANTWORTLICH%IN(ERR DENWIREINLUDEN SICHUNSEREM$AHINTREIBENANZUSCHLIE”EN HATESGENAUAUFDEN0UNKTGEBRACHTk3OR RY ICHKANNLEIDERNICHTMITKOMMEN)CHMUSSHIERBIS5HRARBEITENUNDDANACH GLEICHWEITERZUMEINEMANDEREN*OBji

16. KANARINKA w)NTERACTIVE#ITY)RRELEVANT-OBILE%NTERTAINMENTi I$# !U GUST

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Die Theoretikerin Anna Munster aus Sydney beobachtete auf dem ISEA 2006 eher ein Auseinanderdriften als ein Zusammengehen. »Es gibt keinen allgemeinen Trend mehr innerhalb der Neuen Medien.« – »Die Festivals sind, genau wie die Biennalen, zu Veranstaltungen geworden, die sich vom Lokalen und Lokalisierten ziemlich entfernt haben. Es sind Importe, die mit viel Gerede vom Globalen, ja sogar Kritik am Globalen daherkommen, um doch nur genau wie ein großer Airbus 380 zu landen und ihr ›Ding‹ zu machen, völlig egal, wo sie gerade andocken.« Anna Munster äußerte auch, dass sie es als Besucherin der USA merkwürdig fand, kein einziges Kunstwerk oder Thema auf dem ISEA vorzufinden, das sich auf Irak, Afghanistan oder den gleichzeitig wütenden Israel-Libanon-Krieg bezog.17 Bevor ich mich spezielleren Debatten widme, möchte ich vier Modelle zum Umgang vorstellen, wie mit der gegenwärtigen Stagnation umgegangen wird. Das Erste ist am häufigsten zu beobachten: der verzweifelte Versuch, das semi-autonome Terrain für technologiebasierte Kunstpraktiken weiter auszubauen. Diese Strategie ist ambivalent, weil sie versucht, sich zu institutionalisieren, während gleichzeitig mit benachbarten und konkurrierenden Kunst- und Forschungspraktiken wie Theater, Performance, Film- und Medienforschung, Computerwissenschaft, Geisteswissenschaft und zeitgenössischer Kunst zusammengearbeitet wird. Die Entwickung zu einer ausgereiften Disziplin wird dauernd unterhöhlt durch inter/poly/meta-disziplinäre Ansätze. Im Feld des ständigen und schnellen Wechsels ist es schwer, den langen Marsch anzutreten. Die Etablierung eines eigenständigen Bereichs mit seiner eigenen Expertise braucht Jahrzehnte. Man muss sich nur vergegenwärtigen, wie lange es dauert, um Preise und Stipendien ins Leben zu rufen, kritische Berichterstattung und Rezensionsmechanismen zu organisieren, Zentren und Labore, wo Künstler arbeiten können, aufzubauen, sowie eigene, nachhaltige Förderungsmodelle durch föderale oder lokale Behörden, Stiftungen oder Sponsoren sicherzustellen. Die zweite Option wäre eine hegelianische Transzendierung der neuen Medienkünste in die vorhandenen institutionellen Kunstpraktiken. Man könnte sie auch als Strategie des Verschwindens bezeichnen. Sie ist gleichermaßen naiv und real, die Synthese zwischen dem Traditionellen und dem Digitalen ist ein zu gutes Geschäft, um wahr sein zu können. Einzelnen Künstlern könnte es zwar durchaus möglich sein, ihr Ghetto zu verlassen; als Strategie für die kleine Infrastruktur, die auf dem Gebiet der Neue-Medien-Kunst in den letzten Jahrzehnten aufgebaut worden ist, wäre dies aber verheerend. Wo sollten all die Menschen, die so viel in ihre professionelle Entwicklung investiert und ihre Träume, Hoffnungen und Ambitionen auf ihre Identität als Neue-MedienKünstler gesetzt haben, hingehen? Die zeitgenössische Kunstszene spricht nur mit Herablassung über die hässlichen High-Tech-Installationen der Neue-Medien-Kunst, was nicht unbedingt vielversprechend für zukünftige Verhandlungen sein dürfte. Das Schicksal der Neue-Medien-Kunst als autonomem Bereich erscheint in einem düsteren Licht, wenn sie mit etablierten Kunstformen fusio17. !NNA-UNSTER w2E)NTERACTIVE#ITY)RRELEVANT-OBILE%NTERTAINMENTi I$# !UGUST

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nieren muss. Ein mögliches Beispiel könnte die Videokunst sein, die sich auf elegante Weise von den ›Neuen Medien‹ in den frühen Neunzigern losgesagt hat, um sich als vermarktbare Kunstform zu reinkarnieren. Die dritte Option bestünde darin, den Kunstkontext ganz zu verlassen. Die meisten jungen Medienkünstler verschwinden im kommerziellen Sektor und finden Arbeit als Web- oder Spieledesigner, im Animationsbereich, als VideoEditor oder, noch ärger, an der Ladentheke eines Copyshops. Oder sie werden schlicht arbeitslos und leben von Sozialhilfe, sofern das überhaupt als Option begriffen werden kann, und verdienen sich etwas dazu, indem sie auf dem Aktienmarkt mitspielen. Die meisten verschwinden im Ausbildungsbereich. Ein weiterer Ausweg liegt darin, Zuflucht in Forschungslaboren zu suchen; solche Formen der Zusammenarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft werde ich weiter unten erörtern. Die vierte Option nun bestünde darin, Neue-Medien-Kunst in ›Kreativität‹ umzubenennen. Die Konzepte der Creative Industries entpuppten sich bislang aber lediglich als kurzfristiger Zyklus innerhalb einer Regierungspolitik. Der CI-Hype existiert allein in den Köpfen von Bürokraten. Das ist insofern kein Problem, als das CI-Konstrukt immerhin der Ausweitung der Geldquellen dienlich sein könnte (zumindest dort, wo Regierungen Geld verteilen …). Und das Gute am CI-Mem ist auch, dass es die ökonomische Frage wenigstens thematisiert: Wie überleben Künstler überhaupt? Es zwingt die Künstler dazu, über staatliche Förderung und einen Galeriemarkt hinauszudenken, welcher ja nicht mal existiert. Bislang hat sich die Neue-Medien-Kunst zumindest in Europa nur widerstrebend mit kommerziellen Möglichkeiten beschäftigt. Wenn man in der Wirtschaft tätig ist, ist man kein Künstler mehr. Anderswo, etwa in Japan, den meisten Teilen Asiens und den USA, gibt es kaum andere Optionen, als sich seinen Lebensunterhalt im privaten Sektor zu verdienen oder an einer Kunsthochschule zu unterrichten.

$IE!UFLÚSUNGEINES.EW-EDIA!R TS"OARD Im Dezember 2004 hatte der Australian Council bekanntgegeben, das New Media Arts Board und das Community Cultural Development Board auflösen zu wollen. Diese Ausschüsse waren zuständig für die Vergabe von Geldern sowohl an Künstler im Bereich der Neuen Medien als auch an Künstler, die mit sozialen Gruppen wie Jugendlichen, Behinderten, Gefangenen und Obdachlosen arbeiteten. Einige der Reaktionen auf Fibreculture, einer australischen Mailingliste für Neue Medien, Forschung und Kultur, sind hier zusammengefasst. Paul Brown schreibt, es sei immer seine Meinung gewesen, »dass die Einrichtung spezieller Fördergremien in der Regel die Praxis marginalisiert und Konservativen erlaubt, das Unumgängliche weiter zu verdrängen.« 18 Während Danny Butt es 18. 0AUL"ROWN $ANNY"UTT !NNA-UNSTERUND-ELINDA2ACKHAMHABENALLEIM 4HREADZUR!BWICKLUNGDES.EW-EDIA!RTS"OARD3TELLUNGBEZOGENAUF&IBRECULTURE $EZEMBER

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schätzt, dass Künstler sich nicht in eine Schublade stecken lassen wollen, ist er auch der Auffassung, »dass man sich für andere Geldtöpfe bewerben und mit seinen künstlerischen Vorzügen gegen Landschaftsmaler antreten kann, wenn es einem so sehr darum geht. Dieser Schritt [des Australian Councils] zeigt eine Unterdrückung des Neuen, Aufstrebenden und Politischen zugunsten des Bekannten und Kommerziellen (›high art is big business‹)«. Die Theoretikerin Anna Munster, die in der Debatte eine wichtige Rolle spielte, kritisierte die Entscheidung des Councils scharf. So schrieb sie: w7IR LEBEN HEUTE TIEF EINGEBETTET IN DEN 2AUM DER )NFORMATION ALS 3ET KULTURELLER SOZIALERUNDPOLITISCHER5MSTËNDE7IRBRAUCHEN&ELDERUND)NFRASTRUKTUR UMDAS2E AGIERENAUFUNDDAS%XPERIMENTIERENMITDIESEN5MSTËNDENZUFÚRDERN%SGEHTNICHT DARUM OBDAS.EW-EDIA!RTS"OARDINEINERSEMANTISCHEN3CHLEIFEUMDEN"EGRIFF .EUE-EDIENSTECKENGEBLIEBENISTODERNICHT$ER0UNKTIST DASSEINE-ENGEINTERES SANTERUNDAU”ERGEWÚHNLICHEXPERIMENTELLER+UNSTHIERIN!USTRALIENOHNEDAS"OARD NICHTENTSTANDENWËREi

Munster weist auf die Zukunftsperspektiven der jungen Generation hin. w7OWERDENUNSEREJUNGEN AUFSTREBENDEN+àNSTLER DIEVONUNDINDER)NFORMATIONS KULTUR LEBEN NUN 5NTERSTàTZUNG lNDEN 3IE MàSSEN ZU (UNGERLÚHNEN IHR 'ELD MIT 7EBDESIGNUND+LINGELTÚNENVERDIENEN ODERMIT2EINIGUNGSJOBS WENNMALEINE(OL LYWOODPRODUKTIONINDIE&OX3TUDIOSEINZIEHT/DERSIEWËHLENDENAUFREIBENDEN7EG DERAKADEMISCHEN,AUFBAHN WASABERVERMUTLICHDERNËCHSTE"EREICHIST WO'ELDER FàR.EUE-EDIENGEKàRZTWERDEN.ATàRLICHMàSSENSIEWIRDIESSOWIESOTUN UMLEBEN ZUKÚNNEN UNDWIRVERSUCHENGLEICHZEITIG àBERDIESE3CHIENEAUCHUNSEREEXPERIMEN TELLEREN!KTIVITËTENWEITERBETREIBENZUKÚNNEN$ASBISHERIGE"OARDHATEINE2EIHE VON -ENSCHEN UNTERSTàTZT DIE DADURCH LËNGERE :EITPHASEN HATTEN UM IHRE )DEEN DURCHDENKENUNDVERWIRKLICHENZUKÚNNEN/HNE&ÚRDERGELDERlNDETMANDIE:EITDAFàR EINFACHNICHTMEHRi

Munster verweist auch auf die gegenwärtige prekäre Stellung der künstlerischen Praxis, die auf dem Rücken unbezahlter freiwilliger Arbeit stattfindet. w$IE!NSICHT DASSWIRUNSIM-OMENTVONDER7OHLFAHRTZUR+OMMERZIALISIERUNGBE WEGENODERBEWEGENSOLLTEN ISTNICHTSALSEINEÄBERNAHMEDEROBERmËCHLICHEN7AHL KAMPFSPRàCHEUNSERER2EGIERUNG$ASWIRTSCHAFTLICHE5MFELD INDEMWIRALS+àNSTLER LEBEN STELLTSICHALSEIN0ROZESSDER5MSTRUKTURIERUNGDESÚFFENTLICHENUNDPRIVATEN 3EKTORSIM,ICHTDERGLOBALEN6ERSCHIEBUNGENZUEINER$IENSTLEISTUNGS ¾KONOMIEDAR $IEWIRTSCHAFTLICHE2EALITËTDERMEISTEN+àNSTLERSIEHTSOAUS DASSSIEEINBISSCHEN ÚFFENTLICHE&ÚRDERUNGUNDEINBISSCHEN3PONSORINGBEKOMMEN UNDDEN2ESTDER:EIT VERKAUFENSIEIHRE$IENSTE UMIHREKàNSTLERISCHE!RBEITWEITERFàHRENZUKÚNNEN)HRE $IENSTEVERKAUFEN NURSOKÚNNEN+àNSTLERSICHHEUTEàBER7ASSERHALTENi

Melinda Rackham, Internet-Künstlerin, Kuratorin und derzeit Leiterin des Aus-

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tralian Network for Art and Technology, sah in der bisherigen Situation eindeutige Vorteile: w3ELBSTWENNDAS"OARDNUREINEKURZFRISTIGE,ÚSUNGDARSTELLTE WARESDOCHEINEVER DAMMTGUTE DERANDERE,ËNDERFOLGTEN%SHATDIE0RODUKTIONEINIGERPHANTASTISCHER !RBEITENERMÚGLICHT $IALOGERZEUGTUNDUNSERE+àNSTLERWELTWEITGEFÚRDERT5NDES FUNKTIONIERTEMITEINEMSEHRBESCHEIDENEN%TATi

Lucy Cameron von der University of Queensland beschreibt eine weitere Tendenz: w%SBESTEHENÄBERLEGUNGEN IN:UKUNFTWENIGERk.EUE4ALENTEjZUFÚRDERNUNDSTATT DESSEN MEHR k0OSITIVE +REISLËUFEj kVIRTUOUS CYCLESj BASIEREND AUF DER BISHERIGEN ,EISTUNG DER )NSTITUTION MIT DER MAN VERBUNDEN IST n WER BEREITS 'ELDER6ERTRËGE ERHALTEN HAT BEKOMMT ALSO MIT HÚHERER 7AHRSCHEINLICHKEIT WEITERE :UWENDUNGEN %IN0ROZESS DERDURCHDENAKTUELLEN6ORSTO”DER2EGIERUNGUNTERSTàTZTWIRD IN!US TRALIENZUEINEMZWEISTUlGEN5NIVERSITËTSSYSTEMZURàCKZUKEHREN MITEINERSEITSAUS SCHLIE”LICHDER,EHREGEWIDMETEN%INRICHTUNGENUNDANDERERSEITSJENEN DIENURFàR %LITEAUSBILDUNG UND &ORSCHUNG ZUSTËNDIG SIND $IE !USWIRKUNG DIESER 53 TYPISCHEN "OTTOM UP 0HILOSOPHIE DES &REIEN -ARKTS UND ENDOGENEN 7ACHSTUMS IST DASS EHER 'ESCHËFTSTàCHTIGKEITGEFÚRDERTWIRDALSINDIVIDUELLES4ALENTi

In einem offenen Brief an den Australian Council hat der Medienkünstler Simon Biggs einige der Nebenaspekte der Neue-Medien-Kunst zusammengefasst, unabhängig von der zentralen Frage, ob es sich überhaupt um Kunst handelt (oder nicht). w$IE%NTSTEHUNGDER.EUE -EDIEN +UNSTKANNALSWERTVOLLER"EITRAGZUR'ESELLSCHAFT BETRACHTETWERDEN UNDDASNICHTNURWEGENDER+UNST DIESIEHERVORBRINGT!USTRA LIENISTEIN7ELTFàHRERINDEN.EUE -EDIEN )NDUSTRIEN UNDZUM4EILISTDIESDEMGUT DOKUMENTIERTEN!USTAUSCHZWISCHENDEREXPERIMENTELLENKULTURELLEN0RAXISINNERHALB DER .EUE -EDIEN +UNST UND DER KOMMERZIELLEN 6ERWERTUNG DIESER %NTWICKLUNGEN ZU VERDANKEN!USTRALIENISTEBENSOWELTWEITFàHRENDAUFDEM"EREICHDER!USBILDUNG UNDAUCHDIESWURDESTARKUNTERSTàTZTDURCHDAS%NTSTEHENEIGENER!BTEILUNGENFàR .EUE -EDIEN +UNSTANVIELENAUSTRALISCHEN5NIVERSITËTENUNDZEIGTSICHDARàBERHIN AUSANDERGRO”EN:AHLAUSTRALISCHER+àNSTLER DIEINËHNLICHEN!BTEILUNGENAN5NIVER SITËTENWELTWEITBESCHËFTIGTSINDi

Bislang hat das New Media Arts Board Erfolg im Wesentlichen auf der Ebene des individuellen Talents bewertet und Institutionalisierungen nur sehr zögerlich unterstützt. ANAT (adelaide), Experimenta (Melbourne) und D’Lux (Sydney) sind ausnahmslos klein und im letzten Jahrzehnt (was das Budget anbetrifft) auch nicht gewachsen. Das angesehene ACMI (Australien Centre for the 19. ,UCY#AMERON &IBRECULTURE $EZEMBER 20. 3IMON"IGGS w,ETTERTO*ENNIFER"OTTi &IBRECULTURE *ANUAR

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Moving Image) am Federation Square, Melbourne, wird, wie der Name schon besagt, bald in ein reines Filmzentrum umgewandelt, mit geringer Betonung auf zeitgenössischer Kunst oder Technologie. Die Förderung der Neue-MedienKunst durch den Australia Council hat in den letzten zehn Jahren ein breites Feld hoch ausgebildeter und gut informierter Künstler hervorgebracht, die ihre Hoffnungen aber zunehmend aufgeben, da die notwendige nächste Phase der Institutionalisierung dieses Bereichs ausbleibt. Die Strategie, eine Anzahl kleiner Organisationen finanziell zu unterstützen und die verbleibende geringe Geldmenge an Einzelne zu verteilen, hat das New Media Board und den gesamten Sektor zu einem leichten Angriffsziel gemacht. Dieses Brecht’sche Lehrstück von Down Under könnte fast zu der These führen, dass die wahre Stärke der Neue-Medien-Kunst in ihrer Fähigkeit liegt, sich selbst aufzulösen. Das ist für sich kein Ziel, obwohl es offensichtlich selbstreferenzielle Tendenzen besitzt, wie alle Aktivitäten in der Gesellschaft. Kurzfristig macht sich die Neue-Medien-Kunst auf, um innere Logik, Standards und Architektur neuer Technologien zu entdecken, aber anscheinend können solche Prozesse nur von begrenzter Dauer sein. Die Phase des Experimentierens wird zwangsläufig zu einem Ende kommen. Ihre Ergebnisse werden in der Gesellschaft aufgehen.

$ER-YTHOSDERLEEREN3EITE Wenn das alles so unerfreulich ist, wieso kümmert man sich dann überhaupt um elektronische Kunst? Ist es der noch nicht ausgetretene Pfad, der Kitzel neuer Entdeckungen, oder dass man Geschichte schreiben kann, die Künstler anzieht? Hierzu müssen wir uns den Archetypus des Künstlers als Erfinder und Erschaffer näher ansehen. Während für diejenigen, die den Medienaspekt betonen, die Rolle des Künstlers vor allem darin liegt, kritisch zu kommentieren und Fragen zu stellen, sehen jene, die auf Technologie ausgerichtet sind, seine Aufgabe eher in positiven und inspirierenden Beiträgen. Viele Beobachter teilen die Auffassung, dass technikbasierten Arbeiten das Potenzial des Genialen innewohnt. Sie gehen davon aus, dass auf neu entwickelten Technologien noch keine Spuren, keine Fingerabdrücke des Sozialen zu finden sind und dem Künstler oder der Künstlerin insofern alle denkbaren Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Man muss sich nur vorstellen, man sei der Erste, der ein Foto schießt oder einen Film dreht. Die Menschen mit ihren schmutzigen kleinen Interessen haben den neuen Kanal noch nicht verdorben. Auch die Popkultur hat noch keinen Einfluss ausüben können. Gerade die offenkundige Abwesenheit einer digitalen Ästhetik für PDAs, urbane Großbildschirme, RFIDEtiketten, intelligente Textilien, Mobiltelefone und Ähnliches ist es, die als das eigentliche Potenzial dieser Produkte angesehen wird. Diesem »Mythos der leeren Seite« zufolge erfahren Neue-Medien-Künstler keinerlei Einschränkungen durch schon existierende kulturelle Konnotationen – weil es Referenzen, die für diese Medien spezifisch wären, schlicht noch nicht gibt. Der Neue-MedienKünstler hat also die heroische Aufgabe, diese kulturellen Codes zu definieren.

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In der Tat gibt es historische Belege, dass Künstler, die zuerst mit einem neuen Medium arbeiten, einen gottähnlichen Status erreichen (und ein Vermögen machen) können. In den meisten Fällen aber bringt ihre Arbeit erst richtig Geld ein, wenn sie schon längst tot sind. Im Mythos der leeren Seite erscheint die Situation der Neuen Medien zu schön, um wahr zu sein. Man kann tun, was man will und muss sich nicht mit der schweren Last der Kunstgeschichte abmühen. Das Problem dieser Theorie der unverdorbenen Wahrnehmung liegt im unkritischen Glauben, dass das künstlerische Talent außerhalb seines eigenen Raum-Zeit-Kontinuums operieren könnte. Echte Neue-Medien-Künstler sind besessen davon, die ewigen Gesetze der neuen Materialien zu entziffern. Sogenannte kreative zeitgenössische Künstler dagegen konzentrieren sich auf den Markt. Sie müssen sich den Gesetzen von Ruhm und Prominenz anpassen und können ihre Zeit nicht an so uncoolen Orten wie Computerlaboren vergeuden. Für sie ist Technologie ein bloßes Werkzeug, sie sind die Letzten, die sich in das Manual vertiefen, geschweige denn eigene Software schreiben oder experimentelle Schnittstellen bauen würden. Für die Suche nach den Besonderheiten eines neuen Mediums benötigt es aber eine langwierige Try-and-Error-Phase, bei der faszinierende Bilder oder Erfahrungen nicht garantiert werden können. Pop und Experiment gehen nicht gut zusammen. Das Rollenbild des Geek hatte seinen medialen Moment während des Internethypes der Neunziger, ist dann aber schnell wieder verschwunden. Und die Geek-Ästhetik ist so schlecht geblieben, wie sie immer war. Das ist Medienrealität, aber die Akteure der Neue-Medien-Kunst tun sich schwer, mit ihr umzugehen. Das Uncoole kann nur einmal Pop sein – nach seinem Abgang wird es nur noch als Scheitern betrachtet.

%INMOTIV IERENDES+UNST )NTERMEZZO »Leben um herauszuragen.« Was bedeuten die Neuen Medien im Zeitalter des Rock’n’Roll-Erfolgscoachs Anthony Robbins? Man braucht nicht mehr spektakulär zu sein. Die situationistische Kritik des Spektakels hat gewonnen. Dies wäre meine Einschätzung des Anthony-Robbins-Zeitalters, in dem wir heute leben. Das Publikum sucht nicht mehr nach leerer Unterhaltung, es will Hilfe. Kunst muss motivieren und unterstützen – nicht in Frage stellen. Sie sollte nicht in erster Linie reflektieren, repräsentieren oder die Welt entdecken, sondern mit dem Publikum reden, ihm ins Gesicht schlagen, wie heutige Kunstvermarkter sagen. Ironie kann eine Medizin sein, solange sie zur Heilung des Patienten beiträgt. Aber pass auf, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Die heutigen ästhetischen Erfahrungen sollten die spirituelle Seite des Lebens wecken. Ästhetik ist nicht nur zur Kontemplation da. Kunst muss (inter-)aktiv werden und die Rolle des Coachs übernehmen. Im Sinne des Selbstwirksamkeits-Diskurses (›selfmastery‹) hilft der Künstler des 21. Jahrhunderts dabei, die Kraft des Inneren zu befreien. Ohne Zweifel wird dies mit positiver Energie erreicht. Man braucht einen perversen Optimismus, wie Tibor Kalman es nennt. Kunst muss erschaffen, nicht zerstören. Ein Besuch im Museum oder einer Galerie muss in das

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Programm zur persönlichen Entwicklung passen. Kunst sollte uns in Transformationstechniken beraten und uns nicht kritisieren. Wenn ein Kunstwerk eine wirkliche Erfahrung sein will, muss es auch eine direkte körperliche Erfahrung sein, so wie ein Gang auf glühenden Kohlen. Es muss leidenschaftlich sein und seine Verachtung für den Betrachter ablegen, ebenso wie seine postmodernen Strategien der Ironie, Umkehrung und Indifferenz. Kurz, Künstler sollen Verantwortung übernehmen und mit ihren albernen Spielchen auf hören. Der perfekte Day Job für den Performancekünstler ist das Firmenseminar, in dem Vertrauen aufgebaut und die Kernwerte des Unternehmens aus seiner Mitarbeiterschaft herausgeschält werden. Die Ideologie des Selbstmanagements baut auf der Welle der politischen Korrektheit der Achtziger auf, befreit von ihrem kritischen Negativismus, der nur die bestehenden Machtverhältnisse in Frage stellte, ohne eine positive Leitlinie anzubieten. Wie Anthony Robbins sagt, »Lebe mit Leidenschaft!« Gefühle müssen fließen. Menschen wollen aufgerüttelt und aus ihrer Sicherheitszone herausgeholt werden. Komplexe Bezüge zu intellektuellen Strömungen innerhalb der Kunstgeschichte sind Zeitverschwendung. Die Kunsterfahrung muss passen und zur Agenda des persönlichen Wachstums beitragen. Kunst soll Ängste außer Kraft setzen und Erfolg garantieren. Halb Therapeut, halb Berater, ist die Kunst keine Kompensation für ein farbloses Leben mehr. Vielmehr holt sie aus den wertvollen Ressourcen das Beste heraus und berücksichtigt dabei auch die Aufmerksamkeitsökonomie, in der sie operiert. Um solche höheren Weihen der Vergegenwärtigung zu erlangen, scheint es unvermeidbar, die eigene perverse Existenz zuzugeben und zu feiern. Jeder ist ein großer Misthaufen und hat sich die Hände schmutzig gemacht. Oder, um noch einmal Tibor Kalman zu zitieren: »Niemand kann unter ethisch einwandfreien Konditionen arbeiten.«21 Es ist dieser Žižek’sche Punkt, an dem die Kunst als Beratungspraxis ins Leben tritt.

-àDE-EDIENKUNST Betrachten wir eine andere Debatte. Es ist nicht leicht, die Anfänge der Krise in der Debatte um die Neue-Medien-Kunst zu rekonstruieren. Die relative Isolation technologiebasierter Kunst gab es vermutlich schon in den fünfziger und sechziger Jahren. An dieser Stelle können wir nur über die Probleme, die um 2004-2006 auftauchten, berichten. Der Direktor der Transmediale und Moderator der Spectre-Liste, Andreas Broeckman, startete eine Debatte über das »Medienkunstzentrum des 21. Jahrhunderts« mit folgendem Überblick über die Auflösung von Festivals und Zentren: w2OB VAN +RANENBURG FRAGTE AUF DIESER ,ISTE k7AS KOMMT ALS NËCHSTESj UND FàHRT DABEI DIE k2ESTRUKTURIERUNGj VON )62%! IN )TALIEN UND DIE 3CHLIE”UNG DES -)4 -E DIA,ABIN$UBLINAUFEBENSOHABENWIRKàRZLICHDAS%NDEDES2ADIATOR&ESTIVALSIN +OPENHAGEN DES #)#6 -ONTBELIARD &RANKREICH DES 7ORLD 7IDE 6IDEO &ESTIVALS IN 21. 3IEHEAUF2ICK0OYNORS7EBSITEWWWUNDESIGNORGTIBOROCITY

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Hatten die Neuen Medien, als Modeerscheinung, ihr Verfallsdatum erreicht, und wenn ja, was passiert mit all denen, die ihre Identität und Karriere darauf aufgebaut haben? Wie kann man sich mit der Idee eines institutionellen Lebenszyklus anfreunden? Tom Holley, Teilnehmer der Spectre-Diskussion, erwähnt die Auflösung des Internet-Kunstprogramms des Walker Art Centers (nachdem Kurator Steve Dietz gefeuert wurde) und des Neue-Medien-Zentrums des ICA in London, das von Sun Microsystems gesponsort worden war. Holley war einer von mehreren Kuratoren/Produzenten, die sich bemüht haben, dem ICA Lab eine Richtung zu geben. Die Neue-Medien-Kunst kämpft mit der Diskrepanz zwischen ihrem eigenen Nischenstatus (Joe Kraus: »Im 21. Jahrhundert geht es nur um Millionen von Märkten mit Dutzenden Menschen«) und dem beispiellosen Wachstum des ICT-Bereichs. Laut Holley schließen die meisten der Media Labs aufgrund gescheiterter Fördermodelle. w$URCHDAS%NGAGEMENTVON3UNAM)#!mOSSENDER/RGANISATIONERHEBLICHE'ELDERZU DIE SIE VERMUTLICH VOR DER 3CHLIE”UNG GERETTET HABEN ABER GLEICHZEITIG SORGTEN DIE ZUR 6ERFàGUNG GESTELLTEN 3UN -ASCHINEN DIE KAUM JEMAND BEDIENEN KONNTE IN DER #OMMUNITYFàR6ERËRGERUNG6ERSCHLOSSENE4àRENERZEUGTENEINEABSURDE!TMOSPHË REDES!USSCHLUSSES DIEJEDEM3INNFàR/FFENHEITUND!USTAUSCHVON7ISSENWIDER SPRACH-ITDEMMILLIONENSCHWEREN3PONSORSHIPKONNTEDAS)#!SEINE)4 )NFRASTRUKTUR AUFBAUEN INKLUSIVE 3ERVER UND 3YSTEMADMINISTRATOR !LS DIE 6EREINBARUNG NACH EIN PAAR*AHRENAUSLIEF ZOG3UNSEINE5NTERSTàTZUNGZURàCK UNDSEITDEMISTDAS0ROJEKT MAUSETOTi

Man halte den Triumph des Neue-Medien-Marktes dagegen, wie ihn Andreas Broeckmann beschreibt: w7IRSEHENEINEENORME%XPANSIONIM"EREICHDERDIGITALEN+ULTUR EINEWACHSENDE :AHL HAUPTSËCHLICH JUNGER ,EUTE DIE DIESEN 2AUM BESETZEN DIE kZU DIESEM 3TAMM GEHÚRENj DIEkDIGITALE+ULTURLEBENjnOFTSOGAROHNEBESONDEREKRITISCHE2EmEXION

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Im Rahmen des Threads »Is Modernity our Antiquity« 25 (der sich auf das gleichnamige Thema der Documenta XII bezieht) stellt Ben Bogart auf der Empyre List die Frage, warum in der Kunst das Konzept höher steht als die Technologie. w4ECHNOLOGIE IST NICHTS ANDERES ALS DIE -ANIFESTATION DES +ONZEPTS 7àRDE EIN +RI TIKEREIN'EMËLDEALSSCHLECHTBEURTEILEN NURWEILDER+àNSTLERZUVIEL:EITMITDER %NTWICKLUNGDER&ARBENAUFDER,EINWANDZUGEBRACHTHAT)STk+ONZEPTjLEDIGLICHEINE -ETHODE UM+àNSTLERZUUNTERSCHEIDENINDIESE DIETUNUNDJENE DIEkKREIERENjUND DIE!USFàHRUNGANDERENàBERLASSENi

Die New Yorker Künstlerin Millie Niss antwortete, dass wEINE-ENGEDIGITALER+UNSTINEINERLEERENSELBSTREFERENZIELLEN7EISEAUF4ECHNOLOGIE BEZOGENIST WASINDERàBRIGEN+UNSTWELTAUFGERINGES)NTERESSESTڔT:UVIELE!R BEITENINDEN.EUEN-EDIENBESCHRËNKENSICHAUFDIE$EMONSTRATIONTECHNOLOGISCHER -ÚGLICHKEITEN STATT"EREICHEZUERFORSCHEN DIEWIRKLICHDIE)NTERESSENDER-ENSCHEN BETREFFEN$IEMEISTE+UNSTBRINGTUNSAUFANDERE$INGEALSNURDIESPEZIlSCHENAN GEWANDTEN4ECHNIKEN AUFEMOTIONALE KULTURELLEODERPHILOSOPHISCHE&RAGEN/FTER INNERTUNSDIE+UNSTAUCHANDASREALE,EBENUNDVERSCHAFFTUNS%INBLICKEDARINZ" DURCH-ALEREI DIEAUCHDIE!RT WIEWIRDIE7ELTAU”ERHALBDES"ILDESSEHEN BEEIN mUSST 7ENNEINDIGITALES7ERKUNSNICHTINDIESER7EISEANSPRICHT HATESALS+UNST WERKVERSAGT GANZUNABHËNGIGDAVON WIEGUTESTECHNOLOGISCHUMGESETZTWURDEi

GH Hovagimyan stimmt dieser Aussage zu. »Das Problem der Digitalen Kunst ist ihr Fokus auf die Techné…« schreibt er. w%IN GRO”ER 4EIL DER $IGITALEN +UNST SETZT SICH NICHT MIT DER +UNSTGESCHICHTE ODER DER+UNSTWELTAUSEINANDER SONDERNPRËSENTIERTSICHSELBSTALSNEUESTE&ORMDER+RE ATIVITËT DIEALLEVORHERIGENàBERHOLT$IGITALE+UNSTBESTEHTOFTDARAUF NACHIHREN EIGENEN2EGELNBEWERTETZUWERDENUNDGEHTZ"DAVONAUS DASSEINWOHLGEFORMTER #ODEAUFEINER%BENEMITEINEM*ACKSON0OLLOCKANZUSIEDELNIST7AS$IGITALE+àNSTLER DABEINICHTBEACHTENIST DASS0OLLOCKEINESTËNDIGE!USEINANDERSETZUNGMITVORAUS GEGANGENENKàNSTLERISCHEN&ORMENGEFàHRTHAT$ASZEIGENSEINE70! "ILDERWIESEINE REGIONALISTISCHEN7ANDGEMËLDE UNDERHATSICHUAINSURREALISTISCHEUNDKUBISTISCHE -ALEREIVERTIEFT BEVORERIRGENDWANNZUSEINEN$RIP 0AINTINGSKAMi

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$ER7UNSCH 7ISSENSCHAF TZUSEIN Hinter dem Wunsch nach einer Synthese zwischen Kunst und Technologie und den damit verbundenen Fluchtgedanken, die auch auf eine Flucht vor der Konfrontation mit dem Kunstmarkt hinauslaufen, steckt ein implizit holistisches New-Age-Moment. Leonardo da Vinci im Hinterkopf, erwartet der Künstler-Ingenieur, dass die Welt für sein Anliegen, die Künste und die nüchterne Wissenschaft zu vereinigen, nur zu empfänglich ist. Und sehr zu seinem Erstaunen ist die Welt für so gute Ideen noch nicht reif. Oft ist der Künstler aber auch nicht mehr als ein williger Test-User bzw. Early Adopter. An sich wäre das kein großes Problem, wen sollte es stören? Aber die meisten Neue-Medien-Kunstwerke sind weder subversiv noch besonders konzeptuell oder kritisch. Um es noch komplizierter zu machen, sie sind auch kein Pop. Die Gattung der NeueMedien-Kunst weiß selbst nicht, ob sie Underground oder urbane Subkultur ist. Sie ist aber auch nie zu einem Teil der Techno-, Dance- oder Rave-Szene geworden, geschweige denn einer rebellischen Subkultur; und mit Sicherheit gab es auch keine Verbindung zu Rap oder anderen zeitgenössischen Street Cultures. Die VJ-Kultur gehört umgekehrt nicht zum offiziellen Kanon der Neue-Medien-Kunst, sondern schwebt irgendwo an ihren Rändern. Wie die selbst-isolierte Welt des akademischen Elfenbeinturms nimmt die Neue-Medien-Kunst lieber im Medienlabor Platz als in der Club-Lounge. Der Ort, wo ihre Arbeiten präsentiert werden, ist das Neue-Medien-Festival, auf dem gleichgesinnte Kollegen zusammenkommen. Statt dass der hybride, prozessuale Charakter aber laut und deutlich zum Ausdruck gebracht würde, entwickelte sich die seltsame und isolierte Situation der Neuen Medien zu einem Tabuthema. Dabei hat sich schon seit einiger Zeit eine allgemeine Unzufriedenheit breit gemacht, vor allem, da ein privilegierter innerer Kreis sich auf die Produktion extrem teurer, ebenso interaktiver wie barocker Installationen verlegt hat, auf die man an Orten wie der Ars Electronica in Linz, dem ZKM in Karlsruhe und dem ICC in Tokyo trifft. Doch diese exzessive Periode der späten Neunziger ist vorbei, und man könnte in der Erinnerung an jene Tage beinahe nostalgisch werden. Es war für viele eine gute Party und für einige eine kleine Goldgrube. Im Gegensatz dazu ist die Phase nach der Jahrtausendwende von Budgetkürzungen, konzeptioneller Stagnation, der Rede von ›Creative Industries‹, von künstlerischen Kehrtwenden (mit der Rückkehr der minimalistischen Malerei) und politischer Unsicherheit gekennzeichnet – während gleichzeitig die Neuen Medien dabei sind, die Gesellschaft in bislang ungekanntem Maße zu durchdringen. Es wird nicht gerne gesehen, wenn man offen über Krisenphänomene spricht, und das hat einen einfachen Grund: Düstere Stimmung könnte zukünftige Projekte, den nächsten Job oder eine kommende Bewerbung gefährden. Auf die mindere Qualität der meisten Neue-Medien-Kunst ist schon oft genug hingewiesen worden. ›Negativität‹ bleibt an den Mitgliedern dieser Szene, die insgeheim von einem New-Age-Positivismus beherrscht wird, leicht haften. Dieser ist von dem gemeinsamen und festen Glauben angetrieben, dass Technologie uns am Ende alle retten wird. Wir befinden uns auf der richtigen Seite

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der Geschichte, oder nicht? Es gibt nur wenige, die sich offen äußern, der Rest schweigt und macht weiter, um in die zeitgenössische Kunst hineinzukommen oder anderswo einen Job zu finden. Ein weiterer Grund für fehlenden Widerspruch könnte der Einfluss der techno-libertären Ideologie sein. Diejenigen, die protestieren, werden schnell als ›Feinde der Zukunft‹ verdammt, allerdings niemals öffentlich. Aus der kollektiven diskursiven Armut in der Neue-Medien-Kunst erklärt sich auch, dass lebendige Debatten über Kunstwerke im Allgemeinen fast nicht stattfinden. Es gibt praktisch keine institutionalisierte Kritik. Während die Mainstream-Medien kein Interesse zeigen, hat die Szene selbst vor möglicherweise verheerenden internen Debatten Angst. Rivalisierende akademische Disziplinen und Kulturpolitiker sind vielleicht auf der Suche nach Budgets, die noch gekürzt werden können. So herrscht eine diffuse Stammeskultur des Konsenses, die auf Gefälligkeit und Sich-Aufenander-Verlassen basiert. Um eine tatsächlich kritische Perspektive einnehmen zu können, muss man entweder von außerhalb kommen oder sich von der Szene entfernen und in ein gänzlich anderes Feld übertreten, etwa die kommerzielle Kunstwelt, Design, Popkultur oder die Clubszene. Aus all diesen Gründen bleibt die Szene klein und stagniert, trotz des phänomenalen Wachstums der Neuen Medien weltweit. Das ist nicht gerade das, was sich junge, kreative Bastler erwarten. Eine wachsende Zahl junger Künstler, die mit Technologie arbeiten, meidet den kränkelnden Sektor tunlichst und sucht nach einem eigenen Weg, über den etablierten Kunstmarkt, taktischen Medienaktivismus oder die Gründung kleiner Unternehmen. Gleichzeitig gibt es Maler, Bildhauer und Modedesigner, die Computer als primäres Gestaltungswerkzeug nutzen, Neue Medien aus ihren öffentlichen Präsentationen jedoch explizit heraus halten. Viele der Akteure in den Neuen Medien streben nicht mehr nach einer heroischen Avantgarde-Haltung, sondern ziehen es vor, in Wolken von Bildern, Texten und URLs abzugleiten. Es verschafft ein gewisses Wohlgefühl, in den Netzen herumzuhängen und den Erfordernissen der wirklichen Welt aus dem Weg zu gehen. Die Bedeutung des Vagen ist einfach nicht zu unterschätzen. Der verschwommene Hintergrundcharakter vieler Arbeiten muss anerkannt und ernstgenommen werden. In der gegenwärtigen Situation der unmittelbaren Irrelevanz ist es grundsätzlich sehr schwer, ein signifikantes Werk zu schaffen, das auch Wirkung erzeugt. Die digitale Ästhetik hat eine hypermoderne, formalistische Herangehensweise geprägt, doch scheint ihr der kritische Rigorismus der meisten zeitgenössischen Kunst zu fehlen. Der Hauptgrund dafür ist, dass dieser Bereich noch so jung und ständig in Bewegung ist, von Video, ›Industrial‹-Robotik und CD-ROM über Internet, Bio-Kunst und immersiven Installationen bis hin zu lokativen Medien und Software-Kunst. Das macht es kompliziert, ein kritisches Instrumentarium zu entwickeln. An diesem Punkt kann man leicht depressiv werden. Manche stellen sich auf diese Situation ein, definieren sie als existenziell und führen ihre Arbeit fort, gleichgültig, was Kunstkritiker, Markt oder Fördergremien dazu zu sagen haben. Eine solche elegante, selbstreferenzielle Haltung, sich zu ›souveränen

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Medien‹ zu machen, ist hier und da in Erscheinung getreten. 26 Wichtiger in diesem Zusammenhang ist aber die weithin anerkannte Unmöglichkeit, Avantgarde-Bewegungen zu bilden. Das Arbeiten mit Computern, dem Internet und ähnlichen Technologien hätte eine eigentümliche romantische, agnostische oder nihilistische Ästhetik erschaffen können, eine Palette von Stilen und Schulen, die sich um bestimmte Ideen und politische Programme gruppieren. Das ist nicht geschehen, und wir alle wissen, warum es eine Wiederholung der historischen Avantgarde weder geben kann noch geben wird. Pop Art und Postmodernismus haben erfolgreich jeden Versuch in diese Richtung sabotiert. Erleichtert, traurig oder wütend? Die isolierte Situation innovativer Kunst kann nicht diskutiert werden, ohne die ›Trauerphase‹ nach dem Tod der Avantgarde in Betracht zu ziehen. Es stellt sich demnach weiterhin die Frage: Wenn Kunst entweder ein Perpetuum mobile oder ein Mode-Spektakel ist, warum sollte man dann überhaupt experimentieren? Aktuelle Untersuchungen zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, wie sie von Roy Ascott und Jill Scott vorangetrieben werden, könnten im Licht des vom Pariser IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/ Musique) betriebenen Programms der »Verwissenschaftlichung der Kunst« betrachtet werden. Das IRCAM ist das weltweit größte Institut für die Erforschung elektronischer Musik. Es wurde 1977 vom Avantgardekomponisten Pierre Boulez gegründet und seither vom französischen Staat finanziert. Das Ziel des IRCAM liegt darin, Musik, Wissenschaft und Technologie zusammenzuführen. Besonders bekannt ist das Zentrum für sein Stipendiatenprogramm für Komponisten. In ihrer Studie über das IRCAM beschreibt Georgina Born, wie die musikalische Avantgarde Schritt für Schritt von der akademischen Welt legitimiert und zunehmend finanziell gefördert wurde. Sie etablierte sich, allerdings auf ganz andere Weise als die modernistische Avantgarde in der bildenden Kunst, der es gelang, für ihre Werke auch einen kommerziellen Markt zu schaffen. Die visuellen Techniken der Modernisten seien »von allgemeineren kulturellen Praktiken und dem öffentlichen Bewusstsein aufgesogen worden«, behauptet Born. w)M'EGENSATZDAZUISTESDERMUSIKALISCHEN!VANTGARDENICHTGELUNGEN BEIEINEM BREITEREN0UBLIKUM%RFOLGEZUFEIERNODERàBERHAUPTEINESTËRKEREKULTURELLE0RËSENZZU ENTFALTEN3IEBLEIBTEINEELITËRE&ORMDER(OCHKULTUR$ASIEDABEINICHTMEHRAM2AND ODER IN KRITISCHEM 6ERHËLTNIS ZU DER HERRSCHENDEN /RDNUNG STEHT HAT SIE NICHT NUR IHREURSPRàNGLICHE2AISONDÐTREUNTERHÚHLT SONDERNMUSSANGESICHTSEINESFEHLENDEN NENNENSWERTEN0UBLIKUMSAUCHSTËNDIGIHREGEGENWËRTIGE3TELLUNGINDERÚFFENTLICHEN &ÚRDERUNGSPOLITIKLEGITIMIERENi

Dies ist dieselbe Situation, in die sich auch die elektronische Kunst manövriert hat, inklusive einer »avantgardistischen Geschichtsauffassung, die die Gegen-

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wart verleumdet mit dem Versprechen auf Größeres, das noch kommen wird«.27 Die relative Isolation, in der das IRCAM operiert, ist keine Folge schlechter Organisation oder gar von Missmanagement. Auch bei den Organisationen für Neue-Medien-Kunst ist das nicht der Fall. Born beschreibt das IRCAM als ein »effizientes Schiff«, eine »zuverlässige Maschinerie«, mit eigenen Abteilungen für Marketing und Unterricht. »IRCAM bleibt das, was es immer war: eine hierarchische, inzwischen immer effizienter arbeitende, bürokratische Institution.«28 Doch die Frage der Professionalität steht hier nicht zur Diskussion, sondern grundlegende Kategorien und Annahmen. Wenn die Neue-Medien-Kunst ihren Schwerpunkt so sehr auf das Experimentieren und die Zusammenarbeit mit Ingenieuren und Biologen sowie auf innovative Schnittstellen legt, warum gibt sie nicht einfach die tragische Verbindung mit der Kunst auf und versucht, sich stattdessen konsequent in die Welt des IT-Business und der Computerwissenschaften zu integrieren? Nur Außenseiter können der elektronischen Kunst Willfährigkeit gegenüber dem kapitalistischen System vorwerfen. Die traurige Wirklichkeit ist aber, dass sich die Künstler nicht allzusehr von gewöhnlichen Computernutzern unterscheiden, wenn sie nicht gerade zur kleinen Gruppe der gefeierten High-End-Künstler gehören. Für die Mehrzahl der Künstler ist der Zugang zu Technologie auf Hard- und Software aus dem Consumer-Bereich beschränkt. Für professionelle State-of-the-Art-Technologie und den Erwerb der nötigen strategisch wichtigen Kenntnisse fehlt oft das Geld. Zudem kann diese Strategie auch eine auszehrende Wirkung haben, ist doch die neueste Technologie von heute schon der Techno-Trash von morgen. Der Ausweg besteht darin, entweder Arbeiten von fortdauernder ästhetischer Qualität zu schaffen oder zwar das Neueste zu benutzen, dabei aber die Stärke des verwendeten Materials in den Vordergrund zu stellen. Eine andere Möglichkeit wäre, den Demo-Design-Status künstlerischer Arbeiten zu akzeptieren. Doch die meisten Unternehmen haben bereits ihre eigenen Netzwerke, um das Demo-Design zu besorgen, und nehmen Kunst darüber hinaus nicht ernst – wenn sie sie überhaupt wahrnehmen. Das ist die Tragödie der Neue-Medien-Kunst. Diejenigen, die die Neuen Medien auf den Kopf stellen und eine ästhetische Gegen-Agenda formulieren, finden in den gegenwärtigen Produktionsprozessen kaum ihren Platz. Trotz solcher institutioneller, disziplinärer und ökonomischer Realitäten halten sehr viele Künstler aber auch an ihrem Streben nach einem formalistischen Nirwana fest. Ist dies nun ein Symptom für einen Mangel an Vorstellungskraft oder zeigt sich hier sogar eine Überidentifikation mit der Exotik der Künstler-Identität? Wenn der digitale Formalismus, der weder von Seiten des Museums noch des Marktes oder der Industrie Anerkennung findet, eine solche Sackgasse ist, warum wechseln Künstler dann nicht auf die Content-Seite über und beginnen, 27. 'EORGINA "ORN3BUJPOBMJ[JOH$VMUVSF *3$". #PVMF[BOEUIF*OTUJUVUJPOBMJ[BUJPO PGUIF.VTJDBM"WBOU(BSEF "ERKELEY 5NIVERSITYOF#ALIFORNIA0RESS  3$ANKAN 4IMOTHEY$RUCKREYFàRDEN(INWEIS 28. %BD 3

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mit narrativen Formen zu arbeiten? Natürlich versuchen eine Reihe Neue-Medien-Künstler, diesen Schritt zu tun, aber ihre Geschichten sind nicht an die gängigen Vertriebsnetze von Film, Fernsehen und Verlagen angeschlossen. Aus diesem Grund erreichen viele CD-ROMs und DVDs nicht einmal ihr spezialisiertes Zielpublikum. Zudem scheint es auch niemand für dringlich zu halten, eigene Distributionskanäle, z.B. über Museumsshops oder Kunstbuchhandlungen, aufzubauen. Ein weiterer Grund, weshalb man sich so gegen die Anpassung sträubt, liegt in dem Wunsch, Schnittstellen, Software und sogar Betriebssysteme zu verändern. Zu Recht (oder vielleicht auch nicht?) fühlen sich einige Neue-Medien-Künstler bei dem Gedanken, Mainstreamprodukte wie Windows XP oder selbst MAC OS X zu benutzen, unwohl. Die Kritik richtet sich in diesem Kontext auf die grundlegenden Strukturen, nicht auf die oberflächliche Ebene der medialen Repräsentation. Es sind die Architektur des Internets und die offenen Standards des Webs, die unsere Surferfahrung prägen, nicht diese oder jene coole Website. Die Neue-Medien-Kunst operiert jenseits der Logik des Demo-Designs. Etwas zu vermarkten, das nicht primär als Produkt gedacht ist, hat sich als fast unmöglich erwiesen. Inhalte ins Netz zu stellen wäre ein letztes Mittel, ist kurioserweise unter Neue-Medien-Künstlern aber nicht besonders populär. Das Internet wird eher herablassend betrachtet, als ein primitives Werkzeug, das lieber einem kleinen Zirkel von Netzkünstlern und Diskursführern überlassen bleibt, die gerne formalistische Experimente, ab und zu in Kombination mit subversiven politischen Aktionen, durchführen, so wie sie z.B. von Gruppen wie www. rtmark.com angezettelt werden. Die Neue-Medien-Kunst ist (berechtigterweise) nicht an traditioneller Politik interessiert, muss aber ihre eigene Phase der Political Correctness erst noch erreichen. Obwohl es etwa eine erhebliche Zahl an Kuratorinnen und Frauen in offiziellen Positionen gibt, hat dies nicht zu einer generell größeren Offenheit geführt. Die Verbindungen zu aktuellen sozialen Bewegungen sind schwach, und ein Bewusstein selbst elementarer postkolonialer Fragestellungen fehlt häufig. Diese Beobachtung gilt nicht unbedingt für jede einzelne Arbeit, wohl aber, wenn man sich die Programmgestaltung von Festivals und Konferenzen ansieht. Die Szene ist größtenteils ›weiß‹ und setzt sich aus Personen zusammen, die aus Nord-, West- und Mitteleuropa, aus den USA, Kanada, Australien und Japan stammen – also aus den Gegenden, in denen die digitalen Technologien am weitesten entwickelt und in das soziale Feld eingebettet sind. Das Leben als Künstler ist generell ein harter Kampf, und das gilt insbesondere für diejenigen unter ihnen, die sich bewusst zwischen den Disziplinen positionieren oder sich über sie hinwegsetzen. Statt Neugier und Unterstützung zu erfahren, findet sich die arglose Medienkunstszene in einem scharfen Wettbewerb zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, Medien und Kunstgattungen wieder. Oft kommt es zu Auseinandersetzungen um die schrumpfenden Fördermittel, und es herrscht ein allgemeines Klima des Neids und der Ignoranz. Von Gemeinsamkeiten oder gar Harmonie mit den darstellenden Künsten ist nichts zu bemerken. Aller Ideologie zum Trotz sind Multi- und Interdisziplinarität auf einem Allzeit-Tief angelangt. Man kann es sich einfach nicht leisten,

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Ausflüge zu konkurrierenden Ausdrucksformen zu machen. So scheint es allzu oft, als ob die Theaterleute auf das Fernsehen herabblicken müssten, während Videokünstler sich oft als Snobs erweisen, wenn es um Neue Medien geht. Und nichts ist so trashig und drittklassig wie das Internet.

/NLINE $EBAT TENàBER+UNSTUND7ISSENSCHAF T Bis vor kurzem blieb die Kunst- und Wissenschafts-Rhetorik in den Neuen Medien eher undeutlich und obskur und wurde nicht diskutiert. Einzelne Leute mit kritischeren Einsichten konnten sich nicht laut äußern, da sie sonst Gefahr liefen, ihre Fördermittel zu verlieren oder aus ihrem Ph.D.-Programm herauszufallen. Trotz allem ging es Anfang 2006 in einigen Einträgen auf Spectre genau um dieses Thema. Die australische Medientheoretikerin Anna Munster stellte die Behauptung auf, dass der Anstieg von Bio-Kunst bloß den Anstieg von BioTech-Forschungsgeldern in den westlichen Ländern widerspiegele. Es gehe nicht mehr darum, ob und warum Kunst und Wissenschaft miteinander verbunden seien, sondern wie. »Kunst und Wissenschaft sprechen nicht die gleiche Sprache, was also verstehen wir dann unter Kollaboration? Was ist dieser Mythos um diese Idee, der durch die Nutzung einer ›Sprache der Kollaboration‹ geschaffen wird? Ist ein ›Kommunikations‹-Paradigma nützlich, um Arbeitsstrategien zwischen Wissenschaft und Kunst zu beschreiben, oder ist das ein Problem, das grundlegendere Probleme der Übersetzung, des Missverstehens und der Arbeitspraxis verdecken soll?«29 Während es müßig ist, einen Masterplan für Kunst-Wissenschafts-Kollaborationen auszuarbeiten, wäre es nach Anna Munster ebenso verfehlt, die Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft einfach abzulehnen. »Was wir stattdessen brauchen, sind klare Protokolle und Diskussionen darüber, wer was wann und warum tut.« Der Punkt ist jedoch, dass die Neue-Medien-Kunst in dieser Hinsicht falsch angefangen hat. Auf der Agenda, sagt Munster, steht die Konfrontation von Kunst- und WissenschaftsKollaborationen mit zeitgenössischen Formen der visuellen Repräsentation. Es reicht nicht, sich in Labore zurückzuziehen und dort interessante Dinge zu machen. Das Critical Art Ensemble z.B. nimmt diese Herausforderung an und setzt seine Laborarbeit in Performances um. Andere arbeiten an neuen Formen der Visualisierung wissenschaftlicher Vorgehensweisen. Kritische Interventionen, die den Do-it-yourself-Ansatz betonen, gibt es durchaus (Critical Art Ensemble, Natalie Jeremijenko, The Tissue Culture and Art Project, Heath Bunting), aber sie sind nicht sichtbar genug, um der dominierenden Strömung, die künstlerische Arbeiten zur Vermarktung wertfreier Bio-Sciences instrumentalisiert, entgegenzutreten. Jose-Carlos Mariategui aus Peru fordert, Wissenschaftler sollten die Bedeutung kritischer und offener Diskussion stärker reflektieren. Aber was, wenn sie es nicht tun? Und was hat die Neue-Medien-Kunst eigentlich anzubieten, woran Wissenschaftler über ihre normale menschliche Anteilnahme hinaus interessiert sein könnten? Sie haben 29. !NNA-UNSTER 3PECTRE &EBRUAR

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schon genug ethische Fragen zu diskutieren. Paul Brown fragt sich, wie »Künstler und Wissenschaftler so zusammenarbeiten, dass sie einen gemeinsamen Nutzen haben. Und nicht in der Weise, dass Künstler sich z.B. wissenschaftliche Konzepte zu ihrem Vorteil aneignen – das verstehe ich als Teil der romantischen/postmodernen Täuschung. Wenn Wissenschaftler dies dann sehen, bemerken sie richtigerweise auch, dass für sie in der ganzen Sache außer vielleicht ein bisschen Publicity wenig drin ist, und denken noch einmal darüber nach, ob sie sich weiter engagieren.«30 Dieser skeptischen Haltung zum Trotz machen sie dann aber doch wieder bei solchen Projekten mit, verwenden jedoch ihrerseits wenig Zeit darauf, sich mit den Künstlern richtig auseinanderzusetzen, und das ist der Punkt, an dem die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft wirklich beeinträchtigt wird. Anna Munster fragt: »Was sind die epistemologischen Themen, die von Medien und Neue-Medien-Kunst aufgeworfen werden? Stellen sie einen Beitrag oder eine Herausforderung für vergleichbare Themen und Fragestellungen in einigen Bereichen der gegenwärtigen Wissenschaft dar?« 31 Der New Yorker Künstler Trebor Scholz erläutert die Gründe für die Verbindung von Kunst und Wissenschaft vor dem Hintergrund knapper werdender Ressourcen. Angesichts des Rückgangs der Fördermittel ist es kaum vorstellbar, wie experimentelle Künstler noch außerhalb des akademischen Umfeldes überleben können. w)NDEN53!FàHRTDIE'ESCHËFTSLOGIKDER5NIVERSITËTENDAZU DASSDIEMEISTENAKADE MISCHEN-ITTELDEN.ATURWISSENSCHAFTENZUGESCHLAGENWERDEN$IE5NIVERSITËTENSE HENDIESE)NVESTITIONALS!NSCHUBlNANZIERUNG UMPRIVATWIRTSCHAFTLICHES%NGAGEMENT ANZUZIEHENUNDGRO”E'EWINNEIN!USSICHTZUSTELLEN DIESICHBISLANGABERNOCHNICHT REALISIERTHABEN)M6ERTEILUNGSKAMPFUMDIE-ITTELHABENDIE'EISTESWISSENSCHAFTEN KEINE3IEGESCHANCEN EINE&ÚRDERUNGDIESER&ORSCHUNGSGEBIETEISTHÚCHSTENSNOCHAN ALTEINGESESSENEN5NIVERSITËTENZUlNDEN DIESICHDEN,UXUSLEISTENKÚNNEN)M+ON TEXTSOLCHER&INANZIERUNGSDYNAMIKENSETZTEINEBREITANGELEGTE3ZIENTIlZIERUNGDER +UNSTEIN)M+AMPFUMDIE&ÚRDERGELDERPASSENSICHDIE+ULTURPRODUZENTENWISSEN SCHAFTLICHEN&ORMATENAN$ASISTNICHTIMMEREINENATàRLICHE7AHL)HRE!RBEITLËUFT PLÚTZLICH UNTER k&ORSCHUNGj UND ES WERDEN k&ALLSTUDIENj DURCHGEFàHRT /FT BRAUCHT MANEINEN$OKTORTITEL UMSICHFàREINNATIONALES7ISSENSCHAFTSSTIPENDIUMZUBEWER BEN$IEAUFFËLLIGE:UNAHMEPRAXISBASIERTER$OKTORARBEITENISTINSBESONDEREAUFDIESE ,OGIKDER-ITTELVERGABEZURàCKZUFàHRENi 

Statt mit Biologen, Neurowissenschaftlern oder Astronomen zu debattieren, wäre es sinnvoller, zunächst ein näher liegendes Feld ins Auge zu fassen und sich mit dem Verhältnis zwischen Neue-Medien-Kunst und Computerwissenschaft zu beschäftigen. Es ist bekannt, dass selbst IT-Ingenieure wenig Interesse haben, sich mit experimentellen Schnittstellen oder Bildverarbeitung für die Zwecke der Kunst zu befassen, und schon gar nicht für die der Netzkunst. Der 30. 0AUL"ROWN 3PECTRE -ËRZ 31. !NNA-UNSTER 3PECTRE -ËRZ 32. 4REBOR3CHOLZ w!RTAND3CIENCESi 3PECTRE &EBRUAR

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Spieledesigner Chris Crawford hat sich mit den zwei Kulturen in seinem im Jahr 2004 erschienenen Buch Interactive Storytelling beschäftigt. Warum können Programmierer und Spieledesigner mit Künstlern, die über Neue Medien reden, nicht kommunizieren? Crawford gesteht: w7ENNEINE'RUPPESOMITSICHSELBSTBESCHËFTIGTIST DASSSIEJEDEN+ONTAKTMITDEM 2ESTDESINTELLEKTUELLEN5NIVERSUMSVERLIERT UMGANZINIHREIGENES SICHSELBSTBE STËTIGENDES5NIVERSUMABZUGLEITEN ENTSTEHTEINk"UBBLEj )NTELLEKTUALISMUS)CHMUSS GESTEHEN DASSICHKEINEDERVONDEN+àNSTLERNGEFàHRTEN$ISKUSSIONENàBERINTERAK TIVES'ESCHICHTENERZËHLENODERAUCHàBER3PIELEVERSTEHE4ROTZBESTER:EUGNISSEIN $ESIGNUND4HEORIEWIRDMIRNICHTKLAR WORàBERDIESE,EUTEREDEN5NDESISTNICHT EIN%INZELNERUNTERIHNEN DERMICHIRREMACHT ESISTDERGANZE(AUFEN$IE!RBEITEN DER-EDIENTHEORETIKERBEEINDRUCKENMICHINIHRER"ELESENHEITUND3CHLAUHEIT ABERAM %NDEHABEICHNICHTS WASFàRMICHGREIFBARWËREi

Crawford muss den Künstlern zugestehen, dass sie versuchen, die Kluft zu überbrücken, zumindest auf sozialer Ebene, und beschreibt dann, wie die verschiedenen Gruppen am Versuch des positiven Austauschs scheitern. w$IE +àNSTLER HABEN +ONFERENZEN àBER INTERAKTIVE 5NTERHALTUNG UND 3PIELE ORGANI SIERT ZUDENENSIEAUCHIMMER6ERTRETERDER4ECHIE 'AMER 'EMEINDEEINGELADENHA BEN ES IST BEZEICHNEND DASS SICH DIE 4ECHIES NIEMALS REVANCHIERT SONDERN SOLCHE +UNSTSZENE %VENTSNURMEHRODERWENIGERHINGENOMMENHABEN $IESE+ONFERENZEN BEGINNEN IMMER MIT DER EHRLICH GEMEINTEN %RKLËRUNG DASS DIE 5NIVERSITËT UND DIE )NDUSTRIE(ANDIN(ANDARBEITENMàSSEN$ANNISTEIN4ECHIEANDER2EIHEUNDSTELLT SEINE &ORDERUNGEN AN DIE 5NIVERSITËT 3IE MàSSE 3TUDENTEN IN $ 0ROGRAMMEN IM 0ROGRAMMIERENSELBSTUNDINDER!NIMATIONAUSBILDEN%SFOLGTEIN!RTSIE DEREINEN 6ORTRAGàBERDIE3EMIOTIKDER-ARIO"ROTHERSHËLT%RWIRDABGELÚSTVONEINEM4ECHIE DERàBERDIE0RODUKTIONSTECHNIKENINDER3PIELEINDUSTRIESPRICHT%INWEITERER!RTSIE ANALYSIERT DIE -ODALITËTEN DES -IMETISCHEN IN 4EXT !DVENTURES 3O GEHT ES WEITER BEIDE&RAKTIONENREDENFRÚHLICHANEINANDERVORBEI UNDKEINEENTWICKELTAUCHNURDAS GERINGSTE)NTERESSEODER6ERSTËNDNISFàRDIE!RBEITDERJEWEILSANDERENi

Renato Poggioli erinnert uns daran, dass Avantgarde-Bewegungen immer schon ein Interesse an Wissenschaft und Technologie hatten. Aber was diese Künstler erforschten, so schrieb er 1962, war »die terra incognita des Unbewussten, das Unerforschte der Seele«.35 Sie trieben ihr Spiel mit technischen Elementen, um ungehörte und ungesehene Inhalte zum Leben zu erwecken. Es geschah eine Invasion in Gebiete, in denen die Technik keinen Daseinsgrund hat. Poggioli stellt fest, dass Avantgarde-Denker »besonders empfänglich für den Mythos der Wissenschaft« seien, und listet zahlreiche Werktitel auf, die wissenschaftliche 33. #HRIS#RAWFORD *OUFSBDUJWF4UPSZUFMMJOH "ERKELY.EW2IDERS0RESS  3 $ANKAN2ICHARDDE"OERFàRDIESEN(INWEIS 34. %BD 3 35. 0OGGIOLI 3

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Metaphern benutzen. Was elektronische Künstler am Ende des 20. Jahrhunderts so anders erscheinen lässt, ist ihr Mangel an Überlegenheit. Ihr Szientifizismus, von dem Poggioli spricht, entsteht aus einem subalternen Gefühl, dass Wissenschaftler gewöhnlichen Leuten Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, voraus sind, und wir, Künstler inbegriffen, niemals imstande sein werden, ihr komplexes Wissen vollkommen zu begreifen. Es ist dieser Minderwertigkeitskomplex, aus dem der Wunsch erwächst, zusammenzuarbeiten und dabei als Künstler wenigstens einen vagen Begriff davon zu gewinnen, wohin die Reise geht. Vielleicht werden Wissenschaftler und Programmierer anfangen, den Künstlern zuzuhören, wenn diese das Bewusstsein ihrer Überlegenheit wiedergewinnen, das Bewusstsein eines Wissens, das weit über den gewöhnlichen interdisziplinären Austausch hinausgeht. Der Zusammenbruch der Kommunikation zwischen den Kulturen der Geisteswissenschaft und der Naturwissenschaft, den C.P. Snow 1959 beschrieben hat, existiert noch immer, sollte aber eher als asymmetrisch beschrieben werden.36 Im Verlauf der letzten Jahrzehnte wurden Fortschritte gemacht, die insbesondere dem Wissenschaftsjournalismus zu verdanken sind, der die Kunst, die Geisteswissenschaften und die Öffentlichkeit im Allgemeinen immer ausführlicher über die neuesten Forschungen und ihre ethischen Implikationen informiert. Man kann nicht mehr, wie Snow es tat, behaupten, dass die Künstler und Geisteswissenschaftler gegenüber den Naturwissenschaften ignorant seien. John Brockmanns ›dritte Kultur‹ der Wissenschaftler, die eine breitere Öffentlichkeit suchen, ist ein real existierendes Medienphänomen.37 Was aber weiterhin fehlt, ist ein Interesse von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren an der Kunst, vielleicht nicht so sehr auf der persönlichen, aber auf jeden Fall auf der institutionellen Ebene. Letzten Endes kann dieses Problem nur durch eine Umschichtung der finanziellen Ressourcen gelöst werden. Wir brauchen nicht noch genauere Informationen oder eine höhere kritische Aufmerksamkeit, gefragt ist vielmehr eine grundsätzliche Veränderung. Die Anregung, bei wohlmeinender Zusammenarbeit werde sich schon alles regeln lassen, hat sich als machtlose Geste erwiesen.

)M)NNERNDESINST ITUT IONELLEN7ANDELS Viel von dem, was ich hier schreibe, muss Spekulation bleiben. In gewisser Weise ist Mafia eine zu starke Unterstellung, denn in den Neuen Medien ist nur wenig Geld zu holen. Nichtsdestotrotz ist die Elektronische Kunst ein Old Boys Club (inklusive ein paar alter Mädels). Wie ich bereits angedeutet habe, liegt eines der vielen Probleme im Fehlen eines reichen und vielfältigen Diskurses. Ein anderes ist Sektierertum. Die Strategie, erst ein selbstreferenzielles System aufzubauen und sich dann nach außen zu wenden, hat ihren Tribut gefordert. Die Szene der Neuen Medien ist, sogar auf globalem Maßstab, einfach zu klein 36. 3IEHE#03NOW 5IF5XP$VMUVSFT #AMBRIDGE#ANTO"OOKS   37. 3IEHE*OHN"ROCKMANN 5IF5IJSE$VMUVSF .EW9ORK3IMON3CHUSTER  UNDSEINE7EBSITEWWWEDGEORG

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und zunehmend in der Defensive, da konkurrierende Disziplinen wie bildende Kunst, Fotografie, Film und Fernsehen ihre weitere Ausbreitung unbedingt zu verhindern trachten. Obwohl der Internet-Zweig der Neue-Medien-Kunstszene sich entwickelt hat, ist seine institutionelle Repräsentation immer noch schwach oder fehlt oft ganz. Administratoren und Kuratoren haben Schwierigkeiten, mit der Vielzahl an Foren, Listen und Blogs Schritt zu halten oder gar aktiv daran teilzunehmen. Wofür werden die Neuen Medien als eigenständige Disziplin gebraucht, wenn der Computer auch in allen anderen Kunstformen eingesetzt wird? Das Theater z.B. entwickelt sich zu einer zusammenhängenden digitalen Prozessfolge von Konzept, Produktion, Bühnenbild, Licht und Musik bis hin zu Werbung und Kartenverkauf. Es benötigt nicht das spezielle Wissen der NeueMedien-Kunst. Das Gleiche lässt sich über Performance, Tanz und Film sagen. Die Bilder der Neuen Medien sind weder heilig, noch haben sie eine Aura. Stattdessen kann man diese Bilder als technisch beschreiben im Sinne der »technischen Bilder« von Vilém Flusser. Laut Flusser sind technische Bilder wAUSEINEMSELTSAMEN'RUNDSCHWERZUENTZIFFERN!LLEM!NSCHEINNACHMàSSENSIE NËMLICH GAR NICHT ENTZIFFERT WERDEN DA SICH IHRE "EDEUTUNG SCHEINBAR AUTOMATISCH AUF IHRER /BERmËCHE ABBILDET n ËHNLICH &INGERABDRàCKEN BEI DENEN DIE "EDEUTUNG DER&INGER DIE5RSACHEUNDDAS"ILDDER!BDRUCK DIE&OLGEIST;x=7ASMANAUF IHNENSIEHT SCHEINENALSONICHT3YMBOLEZUSEIN DIEMANENTZIFFERNMàSSTE SONDERN 3YMPTOMEDER7ELT DURCHWELCHEHINDURCHDIESE WENNAUCHINDIREKT ZUERSEHENSEI $IESERSCHEINBARUNSYMBOLISCHE OBJEKTIVE#HARAKTERDERTECHNISCHEN"ILDERFàHRTDEN "ETRACHTERDAZU SIENICHTALS"ILDER SONDERNALS&ENSTERANZUSEHEN%RTRAUTIHNEN WIE SEINEN EIGENEN !UGEN 5ND FOLGLICH KRITISIERT ER SIE AUCH NICHT ALS "ILDER SON DERNALS7ELTANSCHAUUNGENSOFERNERSIEàBERHAUPTKRITISIERT 3EINE+RITIKISTNICHT !NALYSEIHRER%RZEUGUNG SONDERN7ELTANALYSE$IESE+RITIKLOSIGKEITDENTECHNISCHEN "ILDERNGEGENàBERMUSSSICHALSGEFËHRLICHHERAUSSTELLENINEINER,AGE INWELCHERDIE TECHNISCHEN"ILDERDARANSIND DIE4EXTEZUVERDRËNGEN'EFËHRLICHDESHALB WEILDIE k/BJEKTIVITËTjDERTECHNISCHEN"ILDEREINE4ËUSCHUNGIST$ENNSIESINDNICHTNURnWIE ALLE"ILDERnSYMBOLISCH SONDERNSTELLENNOCHWEITABSTRAKTERE3YMBOLKOMPLEXEDAR ALSDIETRADITIONELLEN"ILDERi

Ich zitiere Flusser so ausführlich, da er uns einen Hinweis auf das Schicksal der Neue-Medien-Kunst gibt: Die technische Natur ihrer Bilder ist in sich selbst nicht per Definition cool. Die Neue-Medien-Kunst hat eine problematische Beziehung zur Pop-Kultur und zur Strategie der Appropriation. Offensichtlich erhebt ihre Bildproduktion nicht den Anspruch auf Einzigartigkeit, vielmehr untersucht sie neue Gesetze der Wahrnehmung. Der vorherrschende Begriff der Appropriation in der Kunstgeschichte ist jedoch nur darauf ausgerichtet, sich mit Inhalten auseinanderzusetzen, nicht mit dem Medium selbst. Daten von anderen Medien werden als Ressource, Datenmüll, Brennstoff benutzt, um die Erkundungen anzuheizen. Es gibt aber keinen Grund mehr, das be38. 6ILÏM&LUSSER 'SFJOF1IJMPTPQIJFEFS'PUPHSB¾F 'ÚTTINGEN%UROPEAN0HOTO GRAPHY  3F

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reits schwache Projekt der Moderne weiter zu dekonstruieren. Wenn überhaupt etwas appropriiert werden müsste, dann sind es nüchterne wissenschaftliche Kenntnisse und nicht andere Kunstwerke. Die Neue-Medien-Kunstszene muss sich nicht weiter globalisieren, ihre Präsenz ist breit genug, trotz des relativen Mangels an Arbeiten aus nicht-westlichen Ländern. Eines Tages mögen auch postkoloniale Theorien Eingang in sie finden, aber das ist hier nicht unser Problem. Die finanziellen Mittel, um auf wirklich globaler Ebene zu operieren, sind im Augenblick nicht vorhanden. Aber die Neue-Medien-Kunst schreit nach einem anderen Quantensprung: Die Ghettomauern müssen eingerissen werden. Da eine Revolte von innen jedoch kaum zu erwarten ist, müssen wir wohl eher mit einer allgemeinen Implosion rechnen. Jüngere Generationen, die scharenweise die Ausbildungsstätten besuchen, werden sich nicht automatisch der Szene anschließen. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist noch kürzer als ein einminütiges Video. Interaktive Installationen sind aufgrund der unorthodoxen Interfaces oft zu komplex für sie. Dieses überraschende Desinteresse, wenn wir auch noch ihre Abwesenheit auf Festivals dazu nehmen, könnte dazu beitragen, dass das Feld sich auflöst bzw. nur noch von bestimmten Generationen besetzt wird. Was aber, wenn einige diesen Trend nicht akzeptieren? Ein Anfang könnte sein, Zivilcourage zu beweisen und sich klar zu bekennen. Im Moment sprechen die Leute noch mit gespaltenen Zungen. Sie fühlen sich verpflichtet, das ehrwürdige Feld zu verteidigen, was absolut legitim ist. Da gibt es die offizielle Politik und viele gute Absichten, aber das allein reicht nicht. Im kleinen Kreis und privaten Gesprächen werden kritische Fragen angesprochen, aber letztendlich wollen Geldgeber und Offizielle bei Laune gehalten werden. Es herrscht ein Regime der Angst, das erst einmal beseitigt werden muss. Die Frage, wie wir auch jenseits der kleinen Szene über die Runden kommen, sollte als kreative Herausforderung verstanden werden. Die elektronischen Künste brauchen Informanten, die die internen Missstände nach außen kommunizieren. Personen in Machtpositionen werden nicht in Frage gestellt, und es gibt nicht mal ein rudimentäres Wissen darüber, wie hier eine Kontroverse anzuzetteln wäre. So befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie in den früheren sozialistischen Ländern mit ihren zwei Kulturen und Sprachen, nur dass in diesem Fall die Dissidenten zu ängstlich (oder einfach feige?) sind, um öffentlich zu erklären, dass die real existierende Kultur fehlgeleitet und irrelevant ist. Die einzig legitime Option, die bleibt, ist zu gehen und den Kontext zu wechseln – oder die Szene erst gar nicht zu betreten, wofür sich die meisten jungen Künstler entscheiden.

%LEKTRONISCHE+UNSTUNDDIE$OTCOMS Befassen wir uns einmal mit dem selten diskutierten Thema der (fehlenden) Beziehung zwischen Neue-Medien-Kunst und IT-Branche. Während viele den Neuen Medien vorhalten, zu eng an Technologie orientiert zu sein, ist der tatsächliche Einfluss, bzw. die Präsenz der IT-Wirtschaft in diesem Bereich, fast

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gleich Null. So mag die Frage, wie die Neue-Medien-Kunst sich zum DotcomSektor verhalten hat, eher von historischem Interesse sein, ist aber dennoch wichtig, da genügend Kapital zu jener Zeit den Bereich entscheidend hätte verändern können. Oberflächlich haben der Technologie-Crash von 2000/2001 und die nachfolgenden Skandale die Neue-Medien-Kunst nicht beeinflusst. Es hat mich immer frappiert, wie langsam die kritische Neue-Medien-Praxis auf den Aufstieg und Niedergang der Dotcom-Manie reagiert hat. Während die Nutzung des Internets in den frühen bis Mitte der neunziger Jahre sich sehr schnell verbreitete, waren öffentlich zugängliche Informationen über ihre ökonomische Seite kaum zu finden. Es war, als würden parallele Welten existieren, wobei die Kunst den Ereignissen hinterherhinkte. Es gab nicht einmal eine Vorahnung des Exzesses. Alles ging in den Jahren der Orgie weiter seinen normalen Gang. Die Welt der IT-Firmen und ihre volatilen Bewertungen an den weltweiten Aktienmärkten erschienen Lichtjahre entfernt von der Galaxie der NeueMedien-Kunst. Eine der Erklärungen dafür könnte sein, dass die spekulative Blütezeit der Neue-Medien-Kultur in den frühen neunziger Jahren lag, also vor dem Aufstieg des World Wide Web, als auch Video noch zur Neue-Medien-Galaxie gehörte. Die Theoretiker und Künstler sprangen begeistert auf noch nicht existierende oder nicht zugängliche Technologien wie etwa ›Virtual Reality‹ an. Der Cyberspace brachte eine umfangreiche Sammlung von Mythologien hervor. Fragen zu Embodiment und Identität wurden heiß diskutiert, aber spielten so gut wie keine Rolle in der Dotcom-Saga. Tatsächlich waren die Neuen Medien zu früh da, besaßen aber auch zu wenig Glamour oder Spannung, um als Avantgarde groß rauszukommen. Nur fünf Jahre später, während die Internetaktien astronomische Höhen erreichten, war von der ursprünglichen Begeisterung in intellektuellen und Künstler-Kreisen nicht mehr viel übrig. Der Künstler als virtueller Experte hatte seinen kurzlebigen Hype-Status der frühen bis mittleren Neunziger, als er seine Multimedia-Fähigkeiten zu Schau stellen konnte, verloren. Wenn aus Konzepten erst einmal Geld gemacht werden konnte, war für Leute mit Ideen kein Platz mehr da. Zum Jahrtausendwechsel spielten die Künstler und ihre Theoretiker für die öffentliche Wahrnehmung dessen, was Neue Medien eigentlich ausmacht, keine Rolle mehr. Was vielleicht zu einer mit ›Funny Money‹ finanzierten Pop-Kultur hätte werden können, degenerierte stattdessen zu einem schrumpfenden Mikrokosmos. Der Markt hatte seine eigenen Demo-Designer, die die für Werbekampagnen gefragte Bildsprache schon bestens beherrschten. Und die experimentelle Kunst wehrte sich, auf ihrer Autonomie beharrend, heftig dagegen, instrumentalisiert zu werden. Und vielleicht unterstützten die Dotcom-Tycoone die Neue-Medien-Kunst auch deshalb nicht, weil sie selbst von ihr nicht unterstützt wurden. Die Dotcom-Kultur hat ihre Anti-Kunst-Haltung auf ziemlich offene Art gezeigt. Es wurde klar gesagt, dass Gewinne in IT reinvestiert und in Aktiendepots transferiert werden sollten, und nicht in Kunstwerke, wie das alte Geld es tat. Die Technologie selbst war Kunst und es bedurfte keiner Künstler, um diese Annahme zu bekräftigen. Die wahren Künstler waren die Geeks, die für die Firmen arbeiteten. Angewandte Kunst wie z.B. Design war cool, aber ihre

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Rolle sollte nicht überbewertet werden, letztendlich war es der abstrakte und bilderfreie Code, der herrschte, und nicht die Welt der Bilder. Die Cyberkultur der neunziger Jahre war dagegen im Kern ein Hollywood-Produkt. So hat die experimentelle Techno-Kultur das schnelle Geld des VentureKapitals schließlich verpasst. Das Ergebnis war, dass in diesem Bereich weder kommerziell erfolgreiche künstlerische Arbeiten entstanden noch überhaupt ernsthafte Versuche unternommen wurden, die Distributions- und Einkommenskrise zu beheben. Der größte Teil der Neue-Medien-Kunst bleibt daher von staatlicher Förderung abhängig, was jedoch Kontrolle und enge Vorgaben bei der Produktion mit sich bringt. Es ist unglaublich zu sehen, wie pseudounabhängige Einrichtungen den Bereich der Neue-Medien-Kunst bis in die Details überwachen und Einfluss auf die kleinsten einzelnen Anwendungen ausüben. Dies erklärt wiederum die relative Bedeutung nordeuropäischer Länder, Österreichs, Kanadas und Australiens, bei denen die Förderung deutlich großzügiger gehandhabt wird. Der Hauptanteil der Arbeiten, die in den Vereinigten Staaten produziert werden, kommt aus Universitäten oder wird von einer Handvoll Stiftungen finanziert. Die letzten Jahre führten zu einer immer stärkeren Stagnation der Neue-Medien-Kultur, sowohl in ihren Konzepten als auch bei ihrer öffentlichen Förderung. Während Hunderte von Millionen neuer User ins Internet strömen und über eine Milliarde Menschen schon Mobiltelefone benutzen, erwies sich die Neue-Medien-Kunst als unfähig, die Geschwindigkeit des Wandels mitzugehen, und hat sich in ihre eigene Welt kleiner Festivals und Workshops zurückgezogen (eine etwas breitere Öffentlichkeit erreichen nur die Ars Electronica und, in den letzten Jahren, die Transmediale in Berlin). Während Neue-Medien-Kunst-Institutionen, um Wohlwollen ringend, immer noch so tun, als stünden ihre Künstler an der Spitze der technologischen Entwicklung und arbeiteten mit den fortschrittlichsten Wissenschaftlern zusammen, sieht die Wirklichkeit anders aus. Die multidisziplinären Gemeinsamkeiten sind auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Im besten Falle erschaffen die Künstler Demo-Design, wie von Peter Lunenfeld in seinem Buch Snap to Grid beschrieben, aber oft erreicht die Arbeit nicht einmal dieses Level. Selten findet Neue-Medien-Kunst, definiert durch ihre spezifisch ausgerichteten Institutionen, Festivals, Symposien und Ausbildungsprogramme, ein Publikum jenseits der eigenen Subkultur. Was man positiv als heroischen Kampf um die Etablierung eines selbstreferenziellen Systems der Neue-Medien-Kunst – mittels einer exzessiven Differenzierung von Arbeiten, Konzepten und Traditionen – beschreiben könnte, kann man auch ebenso gut als Sackgasse sehen. Die Akzeptanz der Neuen Medien bei den wichtigsten Museen und Sammlern wird nicht eintreten. Warum also noch weitere Jahrzehnte warten? Dazu kommt, dass die meisten der Neue-Medien-Arbeiten, wie sie im ZKM in Karlsruhe, im Ars Electronica Center in Linz und dem ICC in Tokio zu sehen sind, durch ihren naiv unschuldigen, weder kritischen noch radikal utopischen Ansatz geradezu verblüffen und nicht einmal andeutungsweise ihrer Zeit voraus zu sein scheinen. So gerät der Sektor der Neue-Medien-Kunst trotz ständigen Wachstums zunehmend in die Isolation und erweist sich als unfähig, auf die Themen der heutigen globalisierten Welt zu reagieren. Wenn die zeitgenössische (bildende)

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Kunstwelt den Jahrzehnte währenden stillen Boykott interaktiver Neue-MedienKunst-Arbeiten in Galerien, Kunstmessen, Biennalen und Ausstellungen wie der Documenta fortsetzt, kann man das also durchaus verstehen. Diese relative Isolierung der Neue-Medien-Kunst könnte zum Teil aber auch den Aufstieg des Creative-Industries-Diskurses erklären, der sich explizit als Ausweg aus der Misere der staatlich geförderten Kunst- und Ausbildungseinrichtungen versteht. Die Ironie hier liegt darin, dass das Mem der Creative Industries außerhalb des Bereichs staatlicher Politik nicht existiert. Eine kritische Neubewertung der Rolle von Kunst und Kultur innerhalb der heutigen Netzwerk-Gesellschaft scheint nötig. Wären Künstler zufriedener, wenn sie innerhalb der Creative Industries arbeiteten und sich nicht weiter mit der Frage quälen müssten, ob sie Kunst produzieren? Natürlich wird es für Migranten zu den Creative Industries eine diskursive Legitimation geben, aber ob sie dann auch genug verdienen, bleibt noch abzuwarten. Der Informationsökonomie ist es noch immer nicht gelungen, eine Wertschöpfung aus der Produktion von Inhalten zu generieren, und wenn irgendwo Geld zu verdienen ist, dann profitieren davon die Inhaber der IP-Rechte, und das ist gewöhnlich nicht der kreative Produzent, dessen Aufgabe sich tatsächlich auf eine Dienstleistung reduziert. Wo liegt in diesem Szenario also der Unterschied zwischen einem Künstler und einem Verkäufer? Gehen wir einmal über die taktischen Absichten der beteiligten Parteien hinaus. Der Künstler-Ingenieur, der an neuen Mensch-Maschine-Schnittstellen, sozialer Software, alternativen Browsern oder der digitalen Ästhetik herumbastelt, hat letztendlich in einem selbsterzeugten Vakuum gearbeitet. Über die letzten Jahrzehnte hinweg haben Wissenschaft wie Wirtschaft die Gemeinde der Kreativen erfolgreich ignoriert. Schlimmer noch: Künstler wurden im Namen der Benutzerfreundlichkeit aktiv ausgeschaltet. Die Gegenbewegung gegen das Webdesign, angeführt vom Guru der Benutzerfreundlichkeit, Jakob Nielsen, ist ein gutes Beispiel für diesen Trend. Ein anderer Faktor könnte die Angst vor der Dominanz der Unternehmen sein. Der Creative Commons-Gründer und Rechtsprofessor Lawrence Lessig 39 behauptet, Innovation im Internet an sich sei in Gefahr. In der Zwischenzeit haben sich die jüngeren Künstler von medienkunstbezogenen Themen schon verabschiedet und engagieren sich als Anti-Corporate-Aktivisten, verdienen Geld mit Webdesign, unterrichten hier und da, schlagen sich als Selbständige durch oder wenden sich ganz anderen Berufen zu. Seit dem Crash von 2001 hat das Internet seine imaginative Anziehung rapide verloren. Dateientausch und mobile Anwendungen können dieses Vakuum nur kurzzeitig füllen. Es wäre dumm, diese implosiven Tendenzen zu ignorieren. Die Neuen Medien haben ihre Exklusivität verloren. In der Jugendkultur geht es um Verzauberung im großen Maßstab, an Jahrzehnte alten Pionierleistungen hat niemand Interesse. Anders als bei früheren Generationen, die um den Zugang zu High-Tech kämpfen mussten, sind Gadgets heute Teil des Alltags, genau wie Radio und Staubsauger. Der leidenschaftliche Zuspruch,

39. 3IEHEWWWCREATIVECOMMONSORGUNDWWWLESSIGCOMBLOG

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den Blogs und Soziale Netzwerke erleben, widerspricht diesem Trend zur Normalisierung nicht.

$IE.EUEN-EDIENALS+AMPFDER'ENERATIONEN Ein Tabuthema in den Neuen Medien ist die Generationenfrage. Nach Video und teuren interaktiven Installationen als Domäne der Baby-Boomer hat sich die 1989er Generation auf das freie Internet gestürzt. Doch das Internet wurde für die Jüngeren zur Falle. Während reales Vermögen, Positionen und Macht in den Händen der alternden Baby-Boomer bleiben, hat sich der Einsatz auf den Aufstieg der Neuen Medien für ihre Nachfolger nicht ausgezahlt. Das Risikokapital ist zwar dahingeschmolzen, aber außer Werbung (Google) und kontrolliertem Content-Download (iTunes) gibt es immer noch kein nachhaltiges Einkommensmodell für das Internet. Es existiert kein Leben nach dem DemoDesign. Die langsam arbeitenden Bildungsbürokratien haben das Dahinsiechen der Neuen Medien noch nicht begriffen, und die Universitäten gründen immer noch weitere Neue-Medien-Abteilungen. Aber auch das wird irgendwann vorbei sein. Die über fünfzigjährigen Lehrstuhlinhaber und Vizekanzler fühlen sich in ihrem hartnäckigen Verharren anscheinend wohl. Die positive Generation (ein Slogan von ISP Wanadoo) ist dagegen arbeitslos, frustriert und, mit einem Wort, prekär. w7ASISTDENNSCHONSONEUANDEN.EUEN-EDIENiFRAGENVIELEDER"ABY "OOMER#OM PUTERSCHAFFENKEINENARRATIVEN)NHALTE ABERWASDIE7ELTJETZTBRAUCHT IST"EDEUTUNG NICHTLEERE IRONISCHE.ETZKUNST4ECHNOLOGIE SAGENSIE WARDOCHNUREIN(YPE DER VONBETRàGERISCHEN5NTERNEHMENWIE%NRON 4YCOAND7ORLD#OMAUFGEBAUSCHTWURDE &àR3TUDENTENSOLLTEESWOHLAUSREICHEN EINWENIGZUMAILENUNDIM7EBZUSURFEN NATàRLICH ABGESICHERT INNERHALB EINES GElLTERTEN UND KONTROLLIERTEN )NTRANETS 7ENN ESEINE'EGENSTRATEGIEZUDIESERZYNISCHEN!RGUMENTATIONGEBENSOLL DANNISTZUERST DIE)DEOLOGIEDEREXZESSIVENNEUNZIGER*AHREUNDDASMITIHREINHERGEHENDEPOLITISCHE "EWUSSTSEIN DES 4ECHNO ,IBERTARISMUS ZU ANALYSIEREN 7IR MàSSEN DIE .EUEN -EDI ENSCHNELLSTENSVONDIESER$EKADEABKOPPELNUNDDàRFENNICHTINDERSELBEN2HETORIK WEITERMACHEN SONSTWIRDDIE)SOLATION INDIESIEGERATEN IRGENDWANNAUCHZUIHRER !BDANKUNGFàHREN,ASSTUNSALSODEN7IRBELUMDIE.EUEN-EDIENINETWAS.EUESUND )NTERESSANTERESVERWANDELN BEVORANDEREESFàRUNSTUN$ER7UNSCH SICHDER7ISSEN SCHAFTUNTERZUORDNEN ERSCHEINTDAGEGENWIEDIEHILmOSE'ESTEVON-ACHTLOSIGKEITUND /PFERBEREITSCHAFTEINES(ERANWACHSENDEN

Ein Ausweg aus dieser untergeordneten Rolle könnte sein, den sozialen Aspekt der Produktion von Wissenschaft herauszustellen, wie Bruno Latour und andere es tun. Laut ihrer Theorie besteht die Arbeit der Wissenschaft im Einbringen und Gegenüberstellen heterogener Elemente – Ratten, Reagenzgläser, Kollegen, Zeitungsartikel, Mittelgeber, Zuschüsse, Papiere auf wissenschaftlichen Konferenzen usw. – die ein ständiges Management erfordern. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Arbeit von Wissenschaftlern »in der simultanen Rekonstruk-

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tion sozialer Kontexte besteht, deren Teil sie sind – Laboratorien rekonstruieren und verknüpfen zur gleichen Zeit die sozialen und natürlichen Kontexte, auf die ihr Handeln bezogen ist.« 40 Die amerikanische Performancekünstlerin Coco Fusco hat auf der Nettime Mailingliste eine Kritik der Biotech-Kunst geschrieben (26. Januar 2003): »Biotech-Künstler behaupten, dass sie die Kunstpraxis neu definieren und alte Regeln deshalb für sie nicht gelten.« Für Fusco »klingt die heroische Einstellung der Bio-Künstler und ihre Abschottung gegen Kritik nach einer Weile eher leer und selbstbezogen, insbesondere angesichts des starken Drucks, Eingang in die Mainstream-Kunstinstitutionen, Kunstinstitute an den Universitäten, Kunst-Lehrpläne, den Kunstmarkt und die Kunst-Presse zu finden.« Aus dieser Randposition könnten die posthumanen Träume der Bio-Kunst, den Körper zu transzendieren, auch als Versuch gewertet werden, die eigene Marginalität zu transzendieren, in der sie weder als bildende Kunst, noch als Wissenschaft anerkannt werden. Coco Fusco: »Ich finde die Versuche vieler Vertreter der Bio-Kunst, ihr Unterfangen so zu zelebrieren, als ginge es nur um die Verfolgung wissenschaftlicher oder ästhetischer Ziele, unaufrichtig. Die Rhetorik der Transzendenz des Humanen ist in sich selbst ein gewaltsamer Akt des Auslöschens, ein Herrschafts-Diskurs, der die Schaffung von ›Sklaven‹ als anderen, die beherrscht werden müssen, mit sich bringt.« Okay, aber was, wenn all dies lediglich ein Traum bleibt, Prototypen von Mensch-Maschine-Interfaces, die, wie Demo-Design, nirgendwo hinführen? Die isolierte gesellschaftliche Position der Neue-Medien-Kunst wird bei dieser Art von Kritik nicht berücksichtigt. Biotech-Kunst müsste allmächtig sein, damit Fuscos Rhetorik stimmt. Fusco verweist zutreffend auf Künstler, »die sich mit ›richtigen‹ Wissenschaftlern treffen, aber in diesem Kontext zu Beratern werden, wie man Wissenschaft popularisieren kann, was ich kaum als kritische Intervention in wissenschaftliche Institutionen bezeichnen würde.« Künstler seien keine besseren Wissenschaftler, und der wissenschaftliche Prozess sei kein besserer Weg, um Kunst zu machen, als jeder andere, meint Fusco. Sie fasst zusammen: »Den Respekt vor dem menschlichen Leben aufzugeben, darin liegt zweifellos die dunkle Seite jeden militärischen Abenteuers, und es ist die Wurzel des rassistischen und des Klassendenkens, das die gewaltsame Nutzung der Wissenschaft über Jahrhunderte gerechtfertigt hat. Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Grund gibt, weshalb diese Art von Wissenschaft plötzlich verschwinden soll, nur weil ein paar Künstler die Schönheit von Biotech entdeckt haben.« Es bleibt eine offene Frage, wohin sich die radikale Kritik an der (Lebens-)Wissenschaft zurück40. )N EINER PRIVATEN +ORRESPONDENZ VERWEIST DER -ELBOURNER +UNSTTHEORETIKER #HARLES'REENAUFDENwANHALTENDSTARKEN"OOMDERZEITGENÚSSISCHEN+UNST INDEN 53! %UROPAUNDJETZTAUCHIN#HINA$IE+UNSTFOLGTDEM'ELD"EIDESINDEHERANDIE -AINSTREAM -EDIENALSANDIE.EUEN-EDIENANGESCHLOSSEN%SGIBTVIEL'ELD UNDDIE +UNSTSTELLTSICHDARAUFEIN$IESCHIERE'RڔEDES-ARKTSFàRZEITGENÚSSISCHE+UNST àBERSTEIGTEINFACHJEDE6ORSTELLUNG UNDWENNZWEIFELLOSIRGENDWANNAUCHDER#RASH KOMMENWIRD ISTDIESER3EKTORSOGIGANTISCH DASSIMMERNOCHVIELEàBERLEBENUND GRO”BLEIBENWERDENi!PRIL

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gezogen und warum der Kanon der Neuen Medien(-Kunst) noch immer in solch einem primitiven, regressiven Stadium verharrt. Fuscos Bemerkungen wurden geschrieben, bevor das FBI im Jahr 2004 wegen vermeintlicher Biotech-TerrorExperimente gegen das Critical Arts Ensemble vorgegangen ist. 41 Dies schwächt jedoch nicht ihr grundsätzliches Argument.

6ERSCHWÚRUNGENDERZEITGENÚSSISCHEN+UNST w+UNSTIST WOMITMANDURCHKOMMTi !NDY7ARHOL

Bevor wir das Thema abschließen, würde ich gerne näher auf einige kritische Ansätze zur ›zeitgenössischen Kunst‹, die ich in diesem Kontext für relevant halte, eingehen. Es war Jean Baudrillard, der 1996 schrieb, dass die zeitgenössische Kunst keine Existenzberechtigung habe. Wie Baudrillards Herausgeber Sylvère Lothringer bemerkt, wirkte diese Denunzierung der Kunst wie eine Ohrfeige. War dieser französische Denker der Simulation nicht immer auf der Seite des Neuen und Coolen gewesen? Der Markt für zeitgenössische Kunst boomt, wo also liegt das Problem? In The Conspiracy of Art behauptet Baudrillard, nicht Inhalte, sondern Sichtbarkeit und Ruhm seien zum Motor der neuen Kunstordnung geworden. Die Kunst habe sich in so viele Richtungen ausgedehnt, dass wir sie nicht mehr von der Gesellschaft unterscheiden können. Sie unterscheidet sich von nichts mehr. Wie es auf dem Klappentext von Baudrillards Buch zusammenfassend heißt, habe »die Kunst, von ästhetischer Nichtigkeit zur kommerziellen Ekstase aufgestiegen, ein ›trans-ästhetisches‹ Stadium erreicht«. Baudrillards Behauptung, dass die Kunst ihre Sehnsucht nach der Illusion verloren habe, lässt sich zweifellos auch auf die Neuen Medien ausdehnen. Die Ausschaltung der Subjektivität scheint schwer zu leugnen. Laut Baudrillard handeln Galerien heute vor allem mit Nebenprodukten der Kunst, dort herrsche ein »Management der Reste« vor. Man könne hier alles anstellen, was nach Baudrillard zur »virtuellen Realität« (VR) führt. VR stellt »das Ende der Kunst dar und gleicht eher einer technologischen Aktivität. Das scheint die Ausrichtung vieler Künstler geworden zu sein.« 42 An dieser Stelle können wir aus der Nähe betrachten, wie abgehoben Pariser Intellektuelle geworden sind. Die Künstler, die mit VR im engeren Sinne arbeiten, lassen sich nicht nur an einer Hand abzählen, darüber hinaus werden ihre Erzeugnisse kaum ausgestellt oder gar in New Yorker Galerien verkauft, wie Baudrillard suggeriert. Und selbst wenn wir Baudrillards Verwendung des Begriffs VR in einem breiteren Sinn als Hype und Effekthascherei lesen, erscheint sie immer noch unpräzise und fehlgeleitet: Nur wenige Galerien beschäftigen sich mit technologischer Kultur, außer dass sie vielleicht Videoprojektoren und Monitore einsetzen. 41. 3IEHEWWWCAEDEFENCEFUNDORG 42. *EAN"AUDRILLARD 5IF$POTQJSBDZPG"SU #AMBRIDGE-ASS 3EMIOTEXTE 

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Das Problem liegt, wie ich schon ausgeführt habe, nicht in der Allgegenwärtigkeit technologischer Kunst, sondern in ihrer Marginalität. Um VR zu sehen, muss man hochspezialisierte Krankenhäuser oder universitäre Forschungslabore besuchen, aber keine Galerien. Was in meiner Beobachtung aber tatsächlich bemerkenswert an der Neue-Medien-Kunst ist, sieht Baudrillard auch bei der zeitgenössischen Kunst, nämlich ihre selbstreferenzielle Autonomie, die von jeder echten Ökonomie des Wertes abgelöst ist. Für Baudrillard ist die Kunst eine »phantastische Wucherung« geworden. Der Kunstmarkt »formiert sich nach den Regeln der eigenen Spiele, deren Verschwinden unbemerkt bleiben würde«. Baudrillard sieht die Schuld hier bei Duchamp, der einen Prozess der »Readymadehaftigkeit, eine Transästhetisierung von allem« in Gang gesetzt habe, »was bedeutet, dass es keine Illusion mehr gibt, über die man sprechen kann«. Während das System der zeitgenössischen Kunst den Glauben aufrecht erhält, dass es für seine Kunstobjekte einen Markt gibt, haben die Neue-Medien-Künstler jede Hoffnung aufgegeben, an der Wertschöpfungskette teilzuhaben. Positiver formuliert: Ihre Experimente sind mit Geld nicht aufzuwiegen. Für Baudrillard transzendiert sich die zeitgenössische Kunst nicht mehr in Vergangenheit oder Zukunft, ihre einzige Realität ist ihr Operieren in Echtzeit und ihre »Vermischung mit dieser Realität«. Es ist fraglich, ob die Neue-Medien-Kunst eine ähnliche Obsession für die Echtzeit hat. Sie hat sie, wenn sie von Interaktion als Echtzeit-Manipulation träumt oder sich mit Telepräsenz und Live-Überwachung befasst. Sie hat sie aber nicht bei all jenen Arbeiten, die die ›Echtzeit-Realität‹ in Netzwerken oder gar in Radio und Fernsehen untersuchen. Tatsächlich schaffen viele Arbeiten der Neue-Medien-Kunst künstliche Umgebungen, die sich aus der Realität, wie wir sie kennen, zurückziehen. Baudrillard propagiert eine taktische Indifferenz. Es gibt zu viel Kunst. Das mag auch für die NeueMedien-Kunst gelten, wenn wir uns die Hunderte, wenn nicht Tausende von Einsendungen für eine ihrerseits stetig wachsende Menge an beliebigen und austauschbaren Programm-Kategorien auf Festivals wie der Ars Electronica oder dem ISEA ansehen. Baudrillard plädiert für die Form und für Grenzen. »Mehr ist nicht besser.« Das mag sein, aber wir können die Uhr nicht zurückdrehen. Kunst ist keine privilegierte Aktivität mehr, und wir müssen mit ihrem Auf blähen und mit der Unmöglichkeit, ihren Umfang zu bestimmen, leben. In einer ähnlichen Publikation, die in derselben, von Sylvère Lothringer herausgegebenen Reihe erschienen ist, sinnt Paul Virilio über den »Zufall/Unfall der Kunst« (»accident of art«) nach. Wie Baudrillard stellt auch Virilio den Begriff des Zeitgenössischen in Frage: »Sie ist zeitgenössisch, insofern sie nicht modern oder antik oder futuristisch ist, sondern ›im Moment‹. Löst der Moment sich auf, bleibt ihr auch nur das Verschwinden.« Das Verfallsdatum kann in Picosekunden gemessen werden. In diesem Zusammenhang bezeichnet Virilio überraschenderweise Stelarc als »Futuristen, was impliziert, dass solche Körperkunst über das Zeitgenössische hinausweist«. Andererseits kann Virilio sich nicht vorstellen, wie das Scheitern der bildenden Kunst überwunden werden könnte, weil eine Rückkehr zu den körperlichen Künsten lediglich zu noch mehr Spektakel und mehr Virtualität führe. Im Kontrast zu den postmodernen Strategien der Achtziger, die mit Begeisterung von der Sinnlichkeit der Wahr-

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nehmung sprachen, wird der Körper nun nicht mehr als Gegenmittel betrachtet, um die unerträgliche Leichtigkeit des virtualisierten Daseins zu kompensieren. Virilio hält die abstrakte Kunst nicht für abstrakt, sondern für eine Kunst des Rückzugs. Es sei unvermeidlich, behauptet Virilio, dass das Figurative zerstört wird, als Antwort auf die Systeme der organisierten Gewalt, zu denen auch die Künstler selbst gehören. Laut Virilio soll die Kunst mit der Camouflage auf hören und sich endlich als ›Kriegsopfer‹ begreifen. »Die zeitgenössische Kunst ist zum Kriegsopfer geworden, durch den Surrealismus, den Expressionismus, den Wiener Aktionismus und den Terrorismus von heute.« Die militärischen Ursprünge der Neuen Medien, etwa die Entstehung des Internets aus der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), sind weithin bekannt und stehen in jedem Lehrplan. In diesem Sinne ist Virilios Gedanke längst Allgemeingut. Aber ist ein besseres Verständnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts wirklich der Schlüssel, um die Pattsituation zu überwinden und die gegenwärtige Isolation der Künste zu durchbrechen? Wenn die Rehabilitierung des Bildes nicht die richtige Antwort auf ›Dekomposition‹ ist, welche ist es dann? Wie kann Kunst als solche noch identifiziert werden, wenn man sie ihres sozio-ökonomischen Kontextes entkleidet und sie nicht mehr im industriellen Komplex der Galerien und Museen entsteht und gezeigt wird? Professionelle Kritiker und Kuratoren sind immer weniger in der Lage, ihre Verschiebungen von Kunstwerken und Praktiken aus einem Kontext in einen anderen zu legitimieren. »Wir lassen das Bild hinter uns – inklusive des konzeptionellen Bildes von Warhol oder Duchamp – zugunsten der Optik«, sagt Virilio. 43 Warum aber soll man das angenommene Primat des Visuellen nicht gänzlich fallen lassen? Warum nur von Optik reden? Neue Medien bestehen nicht nur aus neuen Arrangements zwischen Text, Sound und Bild, sie werden auch zunehmend miniaturisiert und drahtlos, kurz: für das Auge unsichtbar. Sphärisch, wie Peter Sloterdijk sagen würde. Eine Insider-Analyse anderer Art liefert Henry Warwick, ein Künstler aus San Francisco. 44 Er verweist auf Ellen Dissanayakes Homo Aestheticus, in dem sie schreibt, Kunst sei eine Form, auszudrücken, »dass etwas besonders ist«. 45 Warwick stimmt zu: w+UNST IST EINE -ETHODE DES k%INRAHMENSj $IES IST NICHT NUR EIN "ILD EINES 3TUHLS ESËU”ERTSICHAUFDER%BENEDER3YMBOLE ESIST"%3/.$%23UNDVERLANGT"ESONDERE !UFMERKSAMKEITUND6EREHRUNG!BERWENNMANETWASNIMMT WASPER$ElNITIONODER SOGARBEWUSSTINHËRENTBEDEUTUNGSLOSIST UNDESDANNDURCHDIE/PTIKDER+UNSTALS ETWAS"ESONDERESERSCHEINENLËSST BETREIBTMANEINEN-ISSBRAUCHDERËSTHETISCHEN -ÚGLICHKEITEN !UCH EINEM BEDEUTUNGSLOSEN /BJEKT KANN "EDEUTUNG BEIGEMESSEN WERDEN n DAS HEI”T JEDOCH NOCH LANGE NICHT DASS DIE (ERSTELLUNG BEDEUTUNGSLOSER 43. 3YLVÒRE ,OTRINGER0AUL 6IRILIO 5IF "DDJEFOU PG "SU #AMBRIDGE -ASS  -)4 0RESS  3 44. 3IEHEWWWKETHERCOM 45. %LLEN $ISSANAYAKE 4HE #ORE OF !RT -AKING 3PECIAL IN )PNP "FTUIFUJDVT 8IFSF"SU$PNFT'SPNBOE8IZ.EW9ORK4HE&REE0RESS 

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/BJEKTEEINE-ETHODEIST "EDEUTUNGHERZUSTELLEN ESSEIDENNIM3INNEEINESPRËZISEN KRITISCHEN"EWUSSTSEINS%INEAUFDIESE7EISEEINGEGRENZTE(ALTUNGZEIGTSICHINEINER ,INIEVON$UCHAMPàBER7ARHOLUND&LUXUSBISZU+OONS)HRE0OSITIONENSINDABSICHT LICHkBEDEUTUNGSLOSjUNDGRàNDENAUFDER+RITIKDESKULTURELLEN3IGNIlKANTEN UMDIE ,EEREDES3IGNIlKANTENSELBSTZUDEMONSTRIERENi

Auf die Neue-Medien-Kunst Bezug nehmend erklärt Warwick, dass wDER%INmUSSVON&LUXUSNICHTNURVORTEILHAFTWARUNDAUFGRUNDSEINER6ORMACHTSTEL LUNGINAKADEMISCHEN+REISENDIE.EUE -EDIEN +UNSTEHERGEBREMSTHAT%SGIBTDIESEN MERKWàRDIGEN+OMPLOTTVON&LUXUS 0OSTMODERNE $EKONSTRUKTION +ONZEPTKUNSTUND DER"ALKANISIERUNGDER)DENTITËTSPOLITIK DERINDIEDERZEITIGE0ATTSITUATIONGEFàHRT HAT-ACHENWIRUNSNICHTSVOR$ENGRڔTEN-ARKTFàRPROFESSIONELLE6* !USRàSTUNGEN BILDENDIECHRISTLICHENEVANGELIKALEN+IRCHEN-ENSCHENWOLLENUNDBRAUCHEN"EDEU TUNG&àREINE:EITLANGWURDEDERMODERNISTISCHE)MPULSZUR2ELIGIONEINERSËKULAREN :IVILISATION!BERALSDIESEINDIE3ACKGASSEDER0OSTMODERNEABGEBOGENIST HATDIE +UNSTALSKULTURELLE+RAFTIHRE"EDEUTUNGVERLOREN3IEKANNNICHTMEHRZURàCKKOMMEN nALSSIEDARAUFBESTAND DASSWIRBEDEUTUNGSLOSE+UNSTALSkBESONDERSjBEHANDELNSOL LEN VERLORSIEIHRE'LAUBWàRDIGKEIT!LS&OLGEDARAUSKÚNNTENSICHDIE.EUEN-EDIEN ZUEINER!RT6OLKSKUNSTDER4ECHNO VERSIERTEN!RBEITERKLASSEENTWICKELNi

Warwick fasst zusammen: w.ACH*AHRZEHNTENBEDEUTUNGSLOSER!RBEITENWIRDDER0REISZUHOCHUNDICHGLAUBE NICHT DASSERNOCHLANGEGEZAHLTWERDENKANN$ISSANAYAKESTELLTAUCHFEST DASSUN SERE7ELTkINBEISPIELLOSER7EISEDURCH&REIZEIT +OMFORTUNDÄBERmUSSjGEKENNZEICH NETIST$IESEBASIERENAUSSCHLIE”LICHAUFDER¾LWIRTSCHAFT UNDWËHRENDDIE&ÚRDERUNG DIESES2OHSTOFFSIHR-AXIMUMERREICHTHATUNDàBERDIENËCHSTEN*AHRZEHNTEIMMER WEITERSCHRUMPFENWIRD WERDENWIRUNSDEN,UXUSBEDEUTUNGSLOSER+UNSTNICHTLËNGER LEISTENKÚNNENnDIE-ATERIALIENWERDENZUTEUERUNDZUEXOTISCHSEIN UMNOCHETWAS DASNICHTkBESONDERSjIST ZUZULASSENi

Eine überraschende Botschaft aus dem amerikanischen Abendland.

%NTW ICKLUNGEN Was der Neue-Medien-Kunst für meinen Geschmack fehlt, ist ein Gefühl von Überlegenheit, Souveränität, Bestimmtheit und Richtung. Man kann diese Ausstrahlung digitaler Minderwertigkeit auf beinahe jeder Cyber-Veranstaltung beobachten. Die politisch naive Pose des Technokunst-Bastlers hat sich nicht bezahlt gemacht. Weder die Wissenschaft noch die etablierte Kunstszene haben ihren gut gemeinten Projekten große Beachtung geschenkt. Künstler, Kritiker und Kuratoren haben sich der Technologie und insbesondere den ›Life Sciences‹ angedient, ohne dabei die ersehnte Aufmerksamkeit der echten Biotechnologen zu erlangen. Diese ideologische Position ist aus einer nur schwer zu erklärenden

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Ahnungslosigkeit entstanden. Wir sprechen hier über eine Mentalität, die nahezu unsichtbar ist. Die kultischen Praktiken, die sich zwischen der herrschenden Wissenschaft und ihren Dienern abspielen, finden in den Hinterzimmern von Universitäten und Kunstinstitutionen statt, stets mit freundlicher Unterstützung von aufrichtig interessierten Mitgliedern des bürgerlichen ökonomischen Establishments; den Vorstandsmitgliedern, Professoren, Wissenschaftsautoren und Journalisten, die die techno-kulturelle Agenda bestimmen. Dabei reden wir hier nicht über eine Art Feier des Technologischen. Die Unternehmenswelt hat an elektronischer Kunst kein Interesse, weil sie letztendlich zu abstrakt und außerdem zu wenig sexy ist. Sie ist nicht ›besonders‹ im Sinne Warwicks und sollte eigentlich eher im Kontext von Wissenschafts- und Technologiemuseen auf Interesse stoßen. Aber darauf darf man nicht hereinfallen. Die Neue-Medien-Kunst ist kein bloßer Diener von Unternehmensinteressen. Es hat keinen Ausverkauf gegeben, schon aus dem einfachen Grund, weil die Konzerne keinerlei ökonomisches Interesse an ihr haben. Wenn es nur so einfach wäre. Der Vorwurf, die Neue-Medien-Kunst würde die Technologie ›feiern‹, ist ein Gemeinplatz, der nur von schlecht informierten Außenstehenden vorgebracht wird. Das Interesse an den Life Sciences kann natürlich leicht als der (versteckte) Wunsch dargestellt werden, am Triumph des übermenschlichen Logos der Wissenschaft teilzuhaben, doch kann ich dem auch nicht zustimmen. Wissenschaftler wiederum blicken voller Verachtung auf die Vaudeville-Schnittstellen und das gewollt Schräge der Technokunst-Amateure herab. Nicht, dass sie etwas sagen würden, doch ihr schwaches Lächeln spricht von einer Lichtjahre breiten kulturellen Kluft. Hier findet eine erlesene NichtKommunikation statt. Stetig wachsende Märkte für über das Netz verbreitete Inhalte, mobile Geräte und digitale Konsumgüter lassen die tatsächliche Verzweiflung nicht sichtbar werden. Statt eine positivere Haltung gegenüber der Zukunft zu verlangen, könnte die verlockendere ›Entstehungsstrategie‹ darin liegen, den Computer von Etiketten wie ›neu‹ und ›digital‹ zu befreien und stattdessen auf breiter Front poly-perverse Netze von noch brutalerer Intensität zu etablieren. Zur Verteidigung der Neue-Medien-Kunst muss festgehalten werden, dass es eine Leidenschaft für Komplexität gibt, die die Unzulänglichkeit des Amateurhaften hinter sich lässt. Sieht man sich dagegen die Arbeiten an, die üblicherweise auf Biennalen, in Museen, Galerien und Ausstellungen zu sehen sind, zeigt sich, dass die Hälfte Videos sind, wobei keines von ihnen auf experimentelle oder selbstreflexive Weise von der Materialität des Mediums als solcher handelt. Zeitgenössische Videos sind schön und zeigen uns schockierende, einmalige Bilder. Es ist eine Kunst, die den Dokumentarstil nutzt, um sich – mit langen Einstellungen, kaum geschnitten und ohne Spezialeffekte – als sich selbst treu geblieben zu präsentieren. Neue-Medien-Kunst ist sich im besten Fall über die Besonderheiten der genutzten Technologien bewusst und erforscht die ihnen zugrunde liegende Architektur. Die Videos der zeitgenössischen Kunst sind dagegen techno-naiv und manchmal sogar schlimmer: Ihre ständig wackelnde Kamera behauptet einen Realitätsanspruch, eine erhabene Überlegenheit über die Künstlichkeit der Neue-Medien-Kunst. In den Augen

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der Allgemeinheit wiederum sieht das amateurhaft und sinnlos aus im Vergleich zur glatten Unterhaltung, die aus dem Kabel oder von der DVD kommt, und deshalb wie Kunst.

6ERNET ZTESOZIALE2ËUME Als Ausweg aus der Krise hat Eric Kluitenberg auf der Spectre-Mailingliste eine neue Art der Institution vorgeschlagen, die »eine Brücke schlagen soll zwischen jenen Kulturen, die tief im digitalen Raum verwurzelt sind, und einem breiteren Publikum, das zuhause am Rechner herumbastelt oder einfach nicht so tief ins Digitale eingetaucht ist, es aber dennoch faszinierend findet.« Er weist auf eine tiefer liegende Krise der Präsentationsformate hin: »Konventionelle Formate wie Ausstellung, Theaterproduktion und Konzert scheinen alle eher unvollkommen und wenig geeignet zu sein, um den Geist der Neue-Medien-Kulturen einzufangen. Internet-Terminals an öffentlichen Orten aufzustellen ist völlig unsinnig, man kann sich das viel besser in den eigenen vier Wänden über eine DSL-Verbindung ansehen. Workshops, Seminare und Vorträge sind schön und gut, aber die können wir auch jetzt schon abhalten.« Eric stellt die Frage, ob die neue Institution notwendigerweise ein Ort sein muss, an dem Erfahrungen angeboten werden, die das Publikum zuhause nicht haben kann. »Aber würde das diesen Ort nicht zu sehr von teurer High Tech abhängig machen? Oder sollte er umgekehrt ›nur‹ ein Treffpunkt mit der nötigen Grundausstattung sein? Was aber würde ihn dann zu einem besonderen Ort machen?« 46 Dies sind strategische Fragen, die über Erwägungen, »ob es denn auch Kunst ist«, hinausgehen. Shu Lea Chang denkt über ein »Mesh Network Relay System« nach. Diese ›Relais‹, schlägt Andreas Broeckmann vor, sollten von mittelgroßen Institutionen verwaltet werden, die mit eher beweglichen Strukturen umgehen, aber auch an fester gefügte Institutionen andocken können. Jedoch haben diese Schaltstellen, wie er zugibt, keine nennenswerte Lebensdauer und können Künstlern keine finanzielle oder organisatorische Unterstützung bieten. Oft sind sie nicht ausreichend in den lokalen Kunststrukturen verwurzelt, um mögliche stabile Rahmenbedingungen und Einkommensquellen zu erhalten. Institutionen wie das ZKM, ICC und AEC haben ehrgeizige Programme gestartet: Die Produktion von Medienkunstwerken soll in ihren Medienlaboren unterstützt, Ausstellungen sollen kuratiert, Festivals und Konferenzen organisiert, Kataloge dazu herausgegeben und nicht zuletzt ihre Sammlungen erweitert und konservatorisch betreut werden. Dies hat sich als zu viel herausgestellt. Tim Druckrey schrieb dazu auf Spectre: w$AS:+-BEISPIELSWEISE DASSICHEIN*AHRZEHNTLANGALSLEISTUNGSSTARKER0RODUZENT ENGAGIERTE HATDIE5NTERSTàTZUNGVON0RODUKTIONENZUGUNSTENBOMBASTISCHER!US STELLUNGENGRڔTENTEILSAUFGEGEBEN7EITHINWAHRGENOMMENE!USSTELLUNGENWERBEN FàRSICHMEHRMITDEM!NSPRUCHDES%NZYKLOPËDISCHENALSDEMDES%RFORSCHENDENUND 46. %RIC+LUITENBERG 3PECTRE !UGUST

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UNTERLAUFEN DABEI DIE EIGENE ISOLIERTE 'EMEINDE ZUGUNSTEN EINER BREITEREN ¾FFENT LICHKEIT BEIEBENSOBREITER&INANZIERUNG$ASISTDAS3CHICKSALnUNDDIE+RISEnDER -EGAINSTITUTIONi

Es müssen neue Kanäle für den Dialog geöffnet werden. Einer von ihnen wäre die Kunstgeschichte. Judith Rodenbeck hat in ihrem Bericht über die Banff Refresh!-Konferenz zur Geschichte der Neue-Medien-Kunst ein gestörtes Verhältnis zur Kunstgeschichte festgestellt, die sich angeblich zu sehr auf die Malerei ausgerichtet habe und deswegen nicht in der Lage sei, sich mit Neuen Medien auseinanderzusetzen. Die technische Inkompetenz der Kunstkritiker mache es ihnen nahezu unmöglich, Arbeiten aus dem Bereich der Neue-Medien-Kunst zu bewerten. Rodenbeck weist diese Vorwürfe zurück. w+UNSTGESCHICHTEUND.EUE-EDIENBERUFENSICHAUF7ALTER"ENJAMIN UND OBZUBE GRà”ENODERNICHT AUCHAUF2UDOLF!RNHEIMDIE.EUE -EDIEN ,EUTETËTENGUTDARAN 0ANOFSKY UND 7ARBURG ZU LESEN SO WIE ICH UND EINIGE MEINER +OLLEGEN 7IENER UND +ITTLERLESEN$IE+UNSTGESCHICHTEMAGNOCHNICHTINDER,AGESEIN MITDEN.EUEN -EDIENRICHTIGUMZUGEHEN VIELLEICHTWISSENDIE.EUEN-EDIENABERAUCHNICHT WIE SIEMITDER+UNSTGESCHICHTEUMGEHENSOLLENi

Ob technologiebasierte Kunst weiterhin eine relative Autonomie beanspruchen soll, um Forschung betreiben zu können, bleibt zu diskutieren. Kunstwerke sollten nicht bloß in Bezug auf ihren Warenstatus beurteilt werden oder auf ihre Fähigkeiten, zu entfremden, aufzuklären, zu verändern und zu erziehen. Der Schweizer Medientheoretiker Giacco Schiesser sieht Kunst als eine Methode, die den prozessualen Charakter kreativer Akte betont. Was Künstler erforschen, so Schiesser, ist der Eigensinn, die absichtsvolle Widerspenstigkeit der Neuen Medien. 49 Es ist klar, dass radikale, grundlegende Forschung ein riskantes Unternehmen mit unvorhersehbaren Ergebnissen darstellt. Den Kunstwerken, die aus einer solchen Suche entstehen, gelingt es aber häufig nicht einmal, die ihnen zugrunde liegende Neugier zu vermitteln. Wir sehen Resultate, ohne die Fragen zu kennen, mit denen sie sich auseinandersetzen. Hier wird Neue-Medien-Kunst autistisch. Aber künstlerische Forschung muss nicht in abgeschlossene Objekte münden. Oft ist es nicht die Qualität des Selbstreferenziellen, die verstört, denn die Tradition der Disziplin ist schon selbst eher schwach. Anders als die Literatur oder der Film leidet die Neue-Medien-Kunst nicht gerade unter einem Überfluss an Referenzen. Was stört, sind die unabgeschlossenen Bemühungen der Dekonstruktion und die gescheiterten Versuche, eine neue mediale Grammatik zu formulieren – nicht die großen utopischen Gesten. Von der Förderungsperspektive aus betrachtet, könnte es strategisch richtig sein, über eine Fusion oder eine Übernahme zu verhandeln und im richtigen 47. 4IMOTHEY$RUCKREY 3PECTRE 3EPTEMBER 48. *UDITH2ODENBECK AUFDERI$# -AILINGLISTE /KTOBER 49. )NTERPRETATION VON 'IACCO 3CHIESSERS %SSAY w!RBEIT AM UND MIT %IGENSINNi WWWXCULTORGTEXTESCHIESSEREIGENSINN?DPDF

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Moment zuzuschlagen, bevor jegliche Kunst als technologisch begriffen wird und man zwischen digitaler und nicht-digitaler Kunst keine Unterscheidung mehr treffen kann. Giacco Schiesser diskutiert einen Ansatzpunkt für solche Verhandlungen: w)STDER%IGENSINNEINESNEUEN-EDIUMSZUEINEMGEWISSEN'RADEERKANNT ERPROBTUND ENTWICKELT WIRKENDIENEUENKàNSTLERISCHEN6ERFAHRENSWEISENUND-ÚGLICHKEITENAUF DIEALTEN-EDIENZURàCK3OGEWANNENSCHONBALDNACHIHRER%RlNDUNGDIE&OTOGRAlE UNDDER&ILMEINENSTARKEN%INmUSSAUFDIE,ITERATUR UNDSEIT +URZEMLËSSTSICHEIN ËHNLICHER%INmUSSDURCHDIE.EUEN-EDIENBEOBACHTENi 

Genau hier könnte der Verhandlungsspielraum der Neuen Medien liegen. Um das Schicksal der Neuen Medien und ihre Beziehung zum System der zeitgenössischen Kunst zu klären, bedient sich der Melbourner Kunsttheoretiker Charles Green der Concorde-Analogie. Er zitiert Francis Spufford, der bemerkt hat, dass wDASEIGENTLICHE-ANKODER#ONCORDEKEINTECHNOLOGISCHES SONDERNEINSOZIALESWAR $ASGANZE0ROJEKTBASIERTEAUFEINERFALSCHENSOZIALEN0ROGNOSE$IEJENIGEN DIEIHRE %NTWICKLUNG IN !UFTRAG GABEN NAHMEN AN DASS DER &LUGVERKEHR SO WIE  AUCH WEITERDEN2EICHENVORBEHALTENBLEIBENWàRDE;x= DOCHZURGLEICHEN:EIT ALS'RO” BRITANNIENUND&RANKREICHDIEÄBERSCHALLGESCHWINDIGKEITFàRDENNËCHSTENLOGISCHEN 3CHRITTIM&LUGWESENHIELTEN SETZTEEINERDER#HEFSVON"OEINGDIE%NTWICKLUNGEINES LANGSAMEREN&LUGZEUGSDURCH DAS0LATZFàRVIERHUNDERT0ASSAGIEREHATTEi

Für Green sind Neue Medien ein »bereits überholter disziplinärer Ansatz«. Ihre intellektuelle Bestätigung durch eine künstlerische Wissenschaftlichkeit sei ein problematisches Thema, sagt Green, der diese Entwicklung auf Roy Ascott zurückführt. Ascott ist nicht nur einflussreich in den Zirkeln um Festivals und Institutionen wie ISEA, V2 und Ars Electronica, sondern hat auch eine wesentliche Rolle bei der Anerkennung praxis-basierter Ph.D.’s von Neue-Medien-Künstlern im britischen Universitätssystem gespielt. Diese Anbindung an die Wissenschaft hält Charles Green für willkürlich, »die daraus resultierende Ablösung von künstlerischen Genealogien ist der Grund für die schwankende, zwischen Ehrfurcht und Gedächtnisschwund oszillierende Beziehung, die die Kunstwelt mit der Neue-Medien-Kunst hat.« Ascotts strategische Entscheidung, die Neue-Medien-Kunst vom Kontext der Galerien- und Museumswelt weg in die Universität und die Forschung zu verschieben, hat sich für mehrere Künstlergenerationen als abträglich erwiesen. Noch einmal Charles Green: »Weil die 50. HTTPPZWARTWDKAHRONLMDRPUBSFOLDER%IGENSINN 51. $IESES UND DAS FOLGENDE :ITAT AUS #HARLES 'REEN w4HE 6ISUAL !RTS AN !ES THETICOF,ABYRINTHINE&ORMi IN*OOPWBUJPOJO"VTUSBMJBO"SUT .FEJBBOE%FTJHO'SFTI $IBMMFOHFTGPSUIF5FSUJBSZ4FDUPS HERAUSGEGEBENVON27ISSLER 3YDNEY&LAXTON0RESS 

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Neuen Medien sich nur teilweise selbst als Kunst betrachten, haben ihre Bewohner einen irgendwie rührenden und definitiv naiven Glauben entweder an die Kunst oder an ihre Unwichtigkeit.« Gemäß der Concorde-Analogie hat die Neue-Medien-Kunst ihre Karte auf eine enge Allianz mit Wissenschaftlern und Ingenieuren gesetzt. Der Fehler lag in der Vision des Künstlers als Entwickler in einer Laborsituation und in der Vorstellung, dass eine ganze Kunstgattung mit all ihren Institutionen, Festivals, Ausstellungen und Ausbildungsprogrammen mit dem Labor- und Wissenschaftsmodell verbunden werden könnte. Was dabei übersehen wurde, war die Schnelligkeit, mit der Computer die Gesellschaft durchdringen und alle Kunstformen beeinflussen würden. Eben diese Demokratisierung der Computernutzung hat die Neue-Medien-Kunst schließlich als eigene Kategorie überflüssig werden lassen. Hier steht auch ein Abgleich mit verfügbarer Gebrauchselektronik an. Viele haben darauf hingewiesen, dass der Zugang zu Geräten zumindest in Wohlstandsgesellschaften immer unproblematischer wird. Während die Preise fielen, wurden die Geräte immer leistungsfähiger. Dieser Umstand lässt es fragwürdig erscheinen, ob besondere Ausstattungen für Neue Medien in Kunstschulen und Museen geschaffen und weiter unterhalten werden sollen. Eine spezifische Ausbildung und technischer Support bei der Konzeption und Herstellung von vernetzten Arbeiten, Videos und Installationen wird sicher weiter nötig bleiben. Dies aber ist ein Diskussionsthema im Kontext der ›freien Kooperation‹, denn die meisten zeitgenössischen Arbeiten werden in Teams produziert. Das Ideal des Genies, das Myriaden von Programmiersprachen und Betriebssystemen beherrscht, ist eine Idee der Vergangenheit.

+R ITISCHE)NTER VENTION 7ARREN.EIDICH Warren Neidich, Künstler und Erfinder der »Neuroästhetik«52, weist auf die Antihaltung der ersten Generation von Medienkünstlern hin, die sich um den Kunstmarkt am Anfang überhaupt nicht kümmerten. »Als Fluxus und die frühe Klang- und Videokunst anfingen, war kein Geld damit zu machen. Diese Künstler waren gegen das Establishment und tendierten bewusst zu diesen Ausdrucksformen, um sich von dem, was sie als Establishment empfanden, abzusetzen. Die Gruppierungen, die Kunst, Wissenschaft und neue Technologien miteinander verbinden wollen, kommen aus der entgegengesetzten Richtung. Ist es verwunderlich, wenn diese jetzt enttäuscht sind?« Für Neidich muss Kunst eine Form des Widerstands sein. Technologie ist nur ein weiteres Werkzeug, kein Ziel an sich. So bemerkt er:

52. 3IEHE WWWARTBRAINORG .EIDICH àBER SEINE !RBEIT w.EUROËSTHETIK ALS -E THODOLOGIE DIENUNVON.EUROBIOPOLITIKUND0OST 0HËNOMENOLOGIEHANDELT IMPORTIERT DIE .EUROWISSENSCHAFT IN DIE ¯STHETIK UND BENUTZT SIE ALS 2EADYMADEi $IE :ITATE STAMMENAUSEINER% -AIL +ORRESPONDENZMITDEM+àNSTLERVOM-AI

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w-ODERNISTISCHE+àNSTLERHABENAUSVIELEN'RàNDEN4ECHNOLOGIENBENUTZT6ORALLEM WEIL NEUE 4ECHNOLOGIEN DIE -ÚGLICHKEIT ERÚFFNET HABEN DIE -ORPHOLOGIE UND 0RO DUKTIONSMETHODEN VON +UNSTWERKEN ZU VERËNDERN .ORMAN "RYSON SCHREIBT ES SEI DIE%RlNDUNGNUMMERIERTER"LEISTIFTEMITVERSCHIEDENEN(ËRTEGRADENGEWESEN DIEES )NGRESERLAUBTE AUFSEINE7EISEZUZEICHNEN$IE2àCKWIRKUNGNEUER4ECHNOLOGIENAUF KàNSTLERISCHE$ISKURSEDESTABILISIERTEDIEDYNAMISCHEN6ERBINDUNGENMITDENFAKTO GRAPHISCHEN"EZIEHUNGENDERËSTHETISCHEN&ORMk.UDE$ESCENDINGA3TAIRCASEjUND DIE!RBEITENDER&UTURISTENSINDEIN"EISPIELDAFàRi

Für Neidich sind die Neue-Medien-Künstler von der Macht der neuen Technologien in einen Rausch versetzt worden. »Vielleicht sollten Künstler Technologie nicht fetischisieren und sie als Grund nehmen, um eine Arbeit zu machen.« Selbst wenn die Apparatur ein wesentlicher Gesichtspunkt ihrer Arbeit war, wie bei den frühen Experimentalfilmen der Sechziger von Stan Brakhage oder Jean-Luc Godard, geschah dies im Kontext eines Verlangens, die sozialen, politischen, ökonomischen und psychologischen Beziehungen ihrer Zeit, in die diese Technologien eingebettet waren, auszudrücken. Digitale Kultur wird dann für Neidich interessant, wenn die Kunst die Technologie versteckt, statt sie zu betonen, und sich auf den Austausch konzentriert, den sie mit ihrer kulturellen Umgebung führt. Dazu kann für Neidich auch die Wissenschaftskultur zählen, aber er warnt, dass dann die Wissenschaft zu einem Readymade gemacht und in den White Cube importiert werden müsste, in jene Black Box, in der sie dann auf neue Art und Weise in Beziehung zur Geschichte ästhetischer Fragestellungen und der Kunstgeschichte erscheint. Neidich: w7ERSICHALS+àNSTLERBEZEICHNET MUSSAUCHDIE3PRACHEEINES+àNSTLERSSPRECHEN :U VIELE DIE MIT .EUEN -EDIEN ARBEITEN HABEN DAS VERGESSEN $A DRAU”EN IST EIN FORTWËHRENDES'ESPRËCHIM'ANGE LOKALUNDGLOBAL DAS+àNSTLERUNTEREINANDERUND MIT DER KULTURELLEN ¾FFENTLICHKEIT FàHREN $ERZEIT HANDELT DIESES 'ESPRËCH Z" VOM (ANDGEMACHTEN7IEKÚNNEN.EUE-EDIENZUEINEM/BJEKTSPRECHEN DASMANUELLGE SCHAFFENWORDENIST$AMITDIE.EUE -EDIEN +UNSTàBERLEBENKANNUNDFàRDIE+UNST WELTINTERESSANTWIRD MUSSSIEAUCHWAHRNEHMEN WELCHES4HEMAGERADEVERHANDELT WIRDUNDWIESIEANDIESEM!USTAUSCHTEILNEHMENKANN)CHSPRECHEHIERNICHTVOM +UNSTMARKT DEREINE/BSESSION$IGITALER+àNSTLERZUSEINSCHEINT WEILSIEVONIHM AUFGEWISSE7EISEAUSGESCHLOSSENSIND$ER'RUNDLIEGTNICHTINDERDIGITALENODERDER MEDIALEN 0RAXIS SONDERN IN DER 4ATSACHE DASS DIESE NICHT DIE !NLIEGEN ANSPRICHT FàRDIESICH+àNSTLERINTERESSIEREN DIEMITANDEREN-EDIENARBEITEN/BWOHLDERZEIT -ALEREIUNDlGàRLICHE$ARSTELLUNGANGESAGTSIND SINDDIE%CHOSDIESES4RENDSAUCHIN DER"ILDHAUEREI IN)NSTALLATIONEN INDER&OTOGRAlE IN6IDEOSUNDTATSËCHLICHAUCH IN DER $IGITALEN +UNST ZU SPàREN 6IELE $IGITALE +àNSTLER SIND SICH DESSEN NATàRLICH BEWUSSTi

Eine neue Geringschätzung Digitaler Kunst ist erforderlich. Warren Neidich: w"IS VOR KURZEM HABEN +àNSTLER ZWISCHEN HOCHKULTURELLER +UNST UND KOMMERZIELLER +UNSTUNTERSCHIEDEN$IGITALE+UNST NICHT-EDIENKUNST WARVON!NFANGANEINE!RT

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KOMMERZIELLER +UNST 7ENN MAN SICH DIE +REATIVITËTSINDUSTRIE ANSIEHT DIE GERADE DURCH DIE +àNSTLER AUS DEM +UNST 7ISSENSCHAFTS UND 4ECHNOLOGIEZUSAMMENHANG ZUM6ORSCHEINKOMMT WIRDDEUTLICH DASSDIESDIENATàRLICHE%RWEITERUNGIST.EUE -EDIEN +àNSTLERKÚNNENNICHTBEIDESHABEN3IEKÚNNENNICHTEINERSEITSBEHAUPTEN DIE 7ELT SEI EINE !SSEMBLAGE GLOBALER 3TRÚME UND TRANSDISZIPLINËRER 0RAKTIKEN UND SICHANDERERSEITSGANZAHISTORISCHAUFSICHSELBSTALSDIEEINZIGRECHTM˔IGEN!UTOREN ZURàCKZIEHEN$ENNALSSOLCHENEHMENSIEDIEMODERNISTISCHEN4ROPENDES-EDIENSPE ZIlSCHENIN!NSPRUCH(IERGIBTESALSOEINEN7IDERSPRUCHi

Tatsächlich wäre es interessant, die Neue-Medien-Kunst als kunsthandwerkliche Bewegung zu redefinieren. Das Problem eines solchen Ansatzes besteht darin, dass die Neue-Medien-Kunst bis dato für die meisten ihrer Protagonisten ein finanzielles Verlustgeschäft gewesen ist.

*ENSEITSDES#OOLEN/BSKUREN w!LLESVERËNDERTSICH AU”ERDEN.EUEN-EDIENi NACH0AUL6ALERY

Bevor wir die nächste Technokunstwelle lancieren (z.B. lokatives Video), müssen wir herausfinden, wie wir das ›coole Obskure‹ vermeiden. Auf den ersten Blick scheinen das Coole und das Obskure Gegensätze zu sein. Das Coole ist da draußen, auf der Straße, während sich das Enigmatische verbirgt und darauf achtet, sich nicht zu sehr zu exponieren. Virilios Ausstiegsprogramm ist sein Museum der Unfälle, das mit negativen Monumenten wie Auschwitz und Hiroshima, aber auch Tschernobyl und dem World Trade Center bestückt ist. Seine Strategie ist radikal verschieden von den Versuchen, Akzeptanz für die Neue-Medien-Kunst zu schaffen, damit diese endlich in die Tempel der Hochkultur aufgenommen wird. Unfälle sind jedoch auch noch innerhalb des Schemas der zeitgenössischen Kunst wirksam, in dem Sinne nämlich, dass Kunst etwas auf brechen muss. Die Stärke der Neue-Medien-Kunst ist ihr Wille, nachzuforschen, ihre Neugier, die über die Konvention hinausgeht, Konventionen brechen zu müssen. Freie Software könnte hier eine Inspirationsquelle sein, da sie die Unzufriedenheit und die feindliche Haltung gegenüber Monopolen wie Microsoft überwindet. Gebastelt wird hier eher bescheiden, man behauptet nicht, etwas Neues zu erschaffen. Es muss sich auch nicht auf das Lösen von Problemen ausrichten, wie Judith Donath vom MIT feststellt.53 Die Erkenntnis, dass Neue Medien oftmals mehr Probleme erzeugen, als sie zu lösen behaupten, ist weithin akzeptiert. Es gibt einfach zu viele Bugs. ›Unfertig‹ ist geradezu die Definition der Ästhetik digitaler Medien, wie Peter Lunenfeld bereits festgestellt hat.54 53. :ITIERTIN-ICHAEL.AIMARK w4RUTH "EAUTY &REEDOMAND-ONEY 4ECHNOLOGY "ASED!RTANDTHE$YNAMICSOF3USTAINABLEiWWWARTSLABNET 54. 0ETER ,UNENFELD (G 5IF %JHJUBM %JBMFDUJD #AMBRIDGE -ASS  -)4 0RESS

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Im Zeitalter der historischen Avantgarde war Obskurität eines der Werkzeuge, die die Bewegung besaß, um ihre Gegenposition gegenüber der Öffentlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Wichtiger als der Mann von der Straße und seine Feindseligkeit gegenüber neuer Kunst ist in diesem Zusammenhang der taktische Gebrauch von Idiomen, durch die man sich von vorherigen Generationen unterscheidet. Laut Renato Poggioli ruft uns diese Tendenz eine Theorie des jungen Nietzsche in Erinnerung. »Die Metapher entspränge dem Verlangen einer Gruppe junger Leute, sich durch eine Art Geheimsprache abzugrenzen. Ihre Sprache müsste im Gegensatz zum Idiom der Prosa stehen, da diese das Kommunikationsmittel der alten Generation war.«55 Mit Ausnahme einiger weniger Aktivisten der Kommunikationsguerilla hat die Neue-Medien-Kunst einen solchen Antrieb vermissen lassen. Ihre Obskurität war oft vorgegeben, erwuchs aus ihrer tragischen Bestimmung und war nicht bewusst gewählt. Der hermetische Charakter vieler Arbeiten verbirgt keine geheimen Botschaften, die erst von nachfolgenden Generationen oder anderen Zivilisationen enthüllt werden können. Diese Experimente wollen oft zu viel erreichen, liegen gleichzeitig im Clinch mit dem Fernsehen und der Malerei, mit Popkultur und Politik, während sie sich außerdem noch mit Fragen des Schnittstellendesigns, mit Netzwerkarchitekturen, der Macht des Codes und so weiter auseinandersetzen. Ihr beinahe inhärenter Drang, das multimediale Gesamtkunstwerk zu schaffen, hat das narrative Element auf Eis gelegt und macht es den Künstlern schwer, zu Klarheit zu gelangen. Das Resultat sind gut aussehende Arbeiten, deren Vielzahl von Absichten unglücklicherweise aber obskur bleibt. »Künstler, die mit neuen Technologien arbeiten, erfinden oft etwas aus reiner Notwendigkeit. Es ist kaum unser primärer Antrieb, es passiert einfach«, schreibt Michael Naimark in seinem Rockefeller Report über Neue-MedienKunst und Nachhaltigkeit. »Wir befinden uns an einem Wendepunkt. Wir haben eine klare Vorstellung davon, was nicht funktioniert, aber wenig Anhaltspunkte dafür, was funktioniert.« Er folgert daraus, dass Patente keine realistische Einkommensquelle für ein Kunstlabor sind, und plädiert stattdessen dafür, amerikanische Steuerformulare mit einem Kästchen zum Ankreuzen zu versehen: »Ich unterstütze/unterstütze keine merkwürdige und schwierige Kunst.« Bislang haben die Dotcom-Millionäre, die sich der Philanthropie zugewandt haben, wenig Interesse an zeitgenössischer, geschweige denn technologischer Kunst gezeigt. Kunst sollte eine Kultur befördern, die den Wert von Debatten kennt, sagt Naimark. Die Werkzeuge, die wir schaffen, könnten die Welt radikal umformen. Aber sie tun es nicht. Eine Analyse, welche Rolle Künstler bei den Hunderten sogenannter Web 2.0-Anwendungen gespielt haben, ergibt, dass ihr Beitrag minimal war. Künstler, die teure proprietäre VR-Installationen entwickelt haben, einzig und allein gebaut, um im Museum gezeigt zu werden, haben für die »Umgestaltung der Welt« einfach keine Bedeutung mehr. Vielleicht ist es an  3ZITIERTVON&RIEDER.AKEw5NDWANNNUNENDLICHk+UNSTjnODERDOCHLIEBER NICHTi IN#LAUS0IAS(G  ;VLOGUFEFT$PNQVUFST :àRICH "ERLIN$IAPHANES  3 55. 0OGGIOLI 3

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der Zeit, dass die virtuellen Künstler mal wieder herabsteigen, ihre Fixierung auf die Zukunft aufgeben und auf den Stand kommen, auf dem Technologie gegenwärtig angewandt wird. Der Papst ist kein Patron der Kunst mehr – der Bedarf an kathedralengroßen immersiven Umgebungen ist abgeklungen. Die Gesellschaft hat die Techno-Utopie eingeholt, und bei den Künstlern steht jetzt eine Neuorientierung an. Womit sich die Neue-Medien-Kunst verstärkt zu beschäftigen hat, ist die Miniaturisierung real existierender Geräte, bis zum Punkt ihrer Unsichtbarkeit. Dies stellt die Frage nach der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, die so viele virtuelle Künstler umgetrieben hat, in einen neuen Kontext – weg vom immer noch schweren ›maschinistischen‹ Aspekt mit seinen (post-)industriellen Referenzen und hin zu einem präziseren Verständnis des ›Manuellen‹. Ein weiterer Ausweg ist Softwarekunst. Virtuelle Realität als visuelles Gesamtkunstwerk hat sich als ein idealer geschlossener Kreislauf für Theoretiker und Kunsthistoriker erwiesen. Sie haben alle Belege gefunden, die dort von den Erfindern versteckt worden waren, alle Referenzen von Lascaux bis Richard Wagner sind inzwischen aufgedeckt. Aber die Informationstechnologie hat sich in eine andere Richtung entwickelt, von den außergewöhnlichen, heiligen, barocken 3D-Installationen hin zu einer ganz gewöhnlichen, säkularen Mobilität, mit Computern als normalem Bestandteil des Alltags. Wir sind von den Wunderkammern, die einst Aristokraten und später den bürgerlichen Klassen gehörten, bei Jan-Steen-Szenerien des 21. Jahrhunderts angelangt: E-Mails checken, während man den Abwasch macht, beim Radfahren den iPod bedienen, in der U-Bahn schnell eine SMS schreiben. Wir werden Zeugen einer radikalen und rapiden Demystifizierung der Technologie hin zu einer neuen Form von Intimität, bei der Menschen aus allen Bereichen und Schichten gelernt haben, mit technischen Geräten so umzugehen, dass sie nichts Fremdes mehr für sie sind. Die Herausforderung besteht nun darin, zwischen Ermächtigung und Kontrolle zu navigieren, denn die Neuen Medien eignen sich unzweifelhaft für beides.56 Die Kultur des endlosen Experimentierens muss überwunden werden. Was einige als Feier der Ausdrucksfreiheit und der Autonomie der Kunst sehen, sehen andere als Unreife und Inkompetenz. Fehlen der Neue-Medien-Kunst als institutioneller Praxis die rigorosen Arbeiten? Ich will nochmals ins Bewusstsein rufen, dass es mir nicht um herausragende experimentelle Qualitäten ein56. &RED#AMPERw%NDOF!VANT 'ARDE&ILMi -ILLENNIUM&ILM*OURNAL .R (ERBST7INTER   3F $IE 0ARALLELEN ZWISCHEN #AMPERS "ESCHREIBUNG UND DER+RISEDER.EUEN-EDIENSINDDEUTLICH#AMPERBESCHWERTSICHàBER!KADEMISMUS ERLEHNTDAS,EHRENVONk!VANTGARDEj ODERkEXPERIMENTELLEM&ILMjAB"ESSERE-ÚG LICHKEITEN DURCH $OZENTENJOBS 3TIPENDIEN UND 6ORTRËGE wWURDENNICHT VON GRڔERER SOZIALER 7IRKUNG DER !RBEITEN BEGLEITETi )N DEN !CHTZIGERN SANKEN DIE :USCHAUER ZAHLENDRASTISCH!RBEITENDERNEUEREN'ENERATIONwFEHLTDIEAUTHENTISCHE+RAFTDES /RIGINALSi WASINMEINEN!UGENFàRDIE.EUE-EDIEN +UNSTNICHTZUTRIFFT$AS0ROBLEM BESTEHTNICHTIM5NTERGANGEINER"EWEGUNG SONDERNINDERFREIWILLIGEN3CHLIE”UNG DIE DIE .EUE -EDIEN +UNST DAVON ABGEHALTEN HAT àBERHAUPT ZU EINER "EWEGUNG ZU WERDEN

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zelner Arbeiten geht. Oft ist es die Multiplikation verschiedener Experimente innerhalb einer Arbeit, die ihr Ergebnis im Endeffekt als schlecht durchdacht erscheinen lässt. Das führt zu einer wachsenden Ungeduld unter den Beobachtern, die feststellen, dass die ›Suche nach der Form‹ nicht ewig dauern kann. Wir erleben eine seltsame Hassliebe gegenüber dem Unfertigen. In einer überfüllten und dichten visuellen Kultur kommt es nur noch selten vor, dass man von neuen Bildern oder unerwarteten Klängen überrascht wird. Hin und wieder kann der Technologiesektor mit einer noch nicht gesehenen neuen Besonderheit aufwarten, aber Power-User gewöhnen sich an das Brandneue innerhalb von Wochen, wenn nicht Stunden. Deshalb sollte die Neue-Medien-Kunst die Herausforderung suchen, mit ihren Arbeiten bis an die Grenzen zu gehen. Jemand muss sie aus der Betaphase herausholen, in der sie stecken geblieben ist, und die Künstler dazu ermutigen, ihre Arbeit weiterzuentwickeln. Oft geht es dabei nur darum, dem Erzählten und seiner Bedeutung den letzten Schliff zu geben (auch wenn es sich beim Inhalt selbst um Technologie handelt). Eine radikale Klarheit in Bezug auf die Balance zwischen Form und Inhalt ist nötig. Solch eine Ausrichtung würde nicht zwangsläufig Kommerzialisierung und Vereinnahmung bedeuten. Wir brauchen also nicht weniger Laborkunst, sondern ganz einfach bessere Ergebnisse. Digitale Arbeiten sind niemals fertig, und während manche dies als Vorteil betrachten, lehnen andere die Kultur der vorzeitigen Veröffentlichung ab. Was Fred Camper über den Avantgardefilm gesagt hat, gilt auch für die Neue-Medien-Kunst. »Ein Avantagardefilm spricht jeden Zuschauer als einzigartiges Individuum an, wendet sich an ihn in der Isolation der Masse, lädt ihn ein, den Film gemäß seiner eigenen, besonderen Wahrnehmung zu betrachten.« Eine solche Haltung ist für Camper das Ergebnis der »individuierenden Techniken, die den Akt der Wahrnehmung eines Films zum Teil seiner Erfahrung machen«. Der Künstler, der ausgetretenen Pfaden folgt, aber den Anspruch erhebt, sein Medium neu zu erfinden, muss in Betracht ziehen, was passiert, wenn sich das Publikum von Experimenten nicht mehr überzeugen lässt. Sich auf immer neue Plattformen und Gadgets zu stürzen, nährt nur den Verdacht eskapistischen Verhaltens. Camper rät: »Wenn man einen Film macht, ist es hoffnungslos selbstzerstörerisch, etwas Großes schaffen zu wollen. Oft kann man ein großes Ziel erreichen, indem man in den kleinstmöglichen Begriffen denkt.« Eine Empfehlung für die Neuen Medien wäre, sich an den höchsten und stärksten Formen des Ausdrucks zu orientieren. Statt nach innen zu horchen, brauchen sie einen älteren Bruder oder eine ältere Schwester. Solche Orientierungspunkte müssen ermittelt werden, und sie sind nicht in jeder Situation und in jedem Genre dieselben. Soviel ist klar: Es ist nicht per Definition die bildende Kunst. Im niederländischen Kontext etwa wären dies Architektur und Design. In Australien wären es der Film und die Cultural Studies. In London wären es Musik und bildende Kunst, in Berlin die Techno-Club-Szene. Das Theater mit seiner reichen Tradition und seiner stabilen Infrastruktur könnte ein weiterer Kontext sein, in dem Experimente mit Neuen Medien gedeihen. Digitale Technologien haben eine enorme Aufnahme in der Mode erfahren, ein Trend, der bis jetzt von den Neuen Medien ignoriert worden ist. Nach einem ängstlichen Jahr-

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zehnt hat die Fotografie im Großen und Ganzen den polarisierenden Gegensatz zwischen der analog-chemischen Prozedur und der digitalen Bilderzeugung aufgegeben. Inzwischen ist auch weithin anerkannt, wie nützlich Plattenspieler und Vinylschallplatten im Vergleich zu CDs sind, zum einen wegen deren ›flacher‹ und ›trockener‹ Klangqualität und zum anderen wegen des fehlenden direkten Zugriffs auf ihre Oberflächen, von den allgegenwärtigen MP3-Dateien einmal ganz zu schweigen. Etliche Maler haben Laptops und Projektoren in ihren Ateliers, um Bilder vorab komponieren zu können. Der Widerspruch zwischen realen Objekten wie der Leinwand, dem Druck oder einer DVD und der künstlichen Natur des Virtuellen ist zu einer Farce geworden – dieses Argument ist erledigt. Der Sieg des Digitalen und die Ankunft eines ganz eigenen Gefüges postdigitaler Erfordernisse in allen Disziplinen und Lebensbereichen wird leider nicht der Neue-Medien-Kunst gutgeschrieben, einem Etikett, das man am besten einfach vergessen sollte. Wenn die Neuen Medien irgendeine Überlebenschance haben, dann in Gestalt von Material-Bewusstsein. Denn Neue-Medien-Kunst vermittelt im besten Fall die zugrundeliegenden Prämissen und Störungen der Netzwerkapparate, die wir Tag und Nacht benutzen. Ohne dieses kritische Bewusstsein treiben wir im kollektiven Unbewussten der Mediensphäre.

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Im Oktober 2004 warf ich in einer E-Mail an die »Rohrpost«, einem deutschsprachigen Forum zur Kultur digitaler Medien und Netze, die Frage auf, ob es eigentlich eine ›Deutsche Medientheorie‹ gibt. Wenn es schon eine US-amerikanische Erfindung mit Namen ›Französische Philosophie‹ gab, die auf den Poststrukturalismus angewandt wurde – etwas, wovon die Gelehrten in Paris nie etwas gehört hatten – warum sollte man sich dann nicht auch für ›Deutsche Medientheorie‹ stark machen? Die Welt wurde langsam wach, und viele Medienwissenschaftler hatten schon von dem Humboldt-Universitätsprofessor Friedrich Kittler gehört, der über die spezifische Beziehung zwischen Medien, Literatur und den Technologien des Krieges geschrieben hat. Sprechen wir also von einem zukünftigen Exportschlager oder eher von einer verpassten Gelegenheit? Sollen wir uns ärgern oder melancholisch werden und eine Welt beklagen, die geistige Verfeinerung nicht mehr würdigt? Sind die oft spekulativen Theorien, die in Westdeutschland entstanden sind, Ausdruck einer Stärke oder bewegen sie sich – abgeschirmt unter einer fülligen und allzu deutschen Terminologie-Decke – in einem riesigen lauen Meer von Hilflosigkeit, Kulturpessimismus und Mangel an praktischem Wissen über Neue Medien und ihrer Funktionalitäten? Wer noch außer mir beschäftigt sich gerne mit großen metaphysischen Gedanken? Und – auch im Bildungskontext wichtig – warum sollten die vielen Tausende von Studenten im Bereich der Neuen Medien auf der ganzen Welt sich allein mit englischsprachigen Autoren und deren Denken beschäftigen? Wie könnte ein umfassender Überblick über Deutsche Medientheorie aussehen und der Außenwelt vermittelt werden? Muss man wirklich bei den Stimmen der männlichen Großmeister Brecht, Kracauer, Benjamin, Adorno, Horkheimer und Habermas stehen bleiben? Ist es politisch möglich und intellektuell produktiv, eine diffuse Wolke von Autoren mit dem Label Deutsch zu versehen? Vorab möchte ich klarstellen, dass ich in diesem Kapitel nicht Medientheorie

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an sich behandeln, sondern die Parameter ihrer Produktion diskutieren möchte – die spezifischen Bedingungen ihrer Möglichkeit. Schon am selben Tag, an dem ich meine Frage an die Rohrpost-Liste gerichtet hatte, erntete ich eine Vielzahl an Rückmeldungen. Mercedes Bunz etwa äußerte sich zustimmend: »Deutsche Medientheorie: Gibt es. Absurderweise aber nicht als Exportschlager, sondern als Importware. Das heißt, es gibt sie erst, seitdem sie dort draußen, in den anderen anderssprachigen Ländern, so wahrgenommen wird.« 1 Ein Bekannter von ihr, Dozent an der Middlesex University in London, formulierte es so: »Hier in England entsteht langsam ein Hype um das, was man für gewöhnlich ›Deutsche Medientheorie‹ nennt, womit in erster Linie Kittler, Siegert, Flusser, Luhmann und Theweleit, aber auch Sloterdijk und Winkler gemeint sind.« Bunz weiter: »Aus der französischen Theorie, die es in Frankreich nicht gab, lernt man also: Deutsche Medientheorie wird es in Deutschland nicht geben. Woanders stehen die Chancen allerdings ganz gut.« Was in Deutschland unter den Tisch fällt, blüht andernorts auf. Ungefähr zur gleichen Zeit wurden zwei deutschsprachige Anthologien zur Medientheorie veröffentlicht, die mehr oder weniger darauf zielten, die deutsche Theorieproduktion der letzten Jahrzehnte mit dem angelsächsischen Kontext zu verknüpfen. Es ist interessant nachzulesen, wie Arbeiten von Flusser, Kittler und seinem kritischen Gegenspieler Winkler, oder das Werk eines Philosophen wie Sandbothe für ein breiteres Publikum zusammengefasst und mit McLuhan, Baudrillard, De Kerckhove und Manovich verglichen werden.2 Wie auch immer, die Frage, ob sich die deutschsprachige Medientheorie durch etwas Besonderes oder Einzigartiges auszeichnet, ist – zum Glück – nicht von der Frage zu trennen, wie sie sich der Außenwelt als Theorie präsentiert. Es war absehbar, dass das Label »Deutsch« ein Problem darstellen würde, obwohl ich mich damit nur auf die Sprache und nicht auf das Land beziehen wollte. Viele sagen, dass »Deutsch« für Mittelmaß und ungenutzte Chancen steht. Pit Schulz bringt es auf den Punkt: w$EUTSCHWËRE4RANSRAPID 3PACE#ENTER"REMEN 4OLLCOLLECT !RBEITSAMTWEBSITE #AR GOSHIFTER 0HONOLINE 6OLKSAKTIE +ARSTADTUND7IEDERVEREINIGUNG!LSODIE,OGIKDES 3CHEITERNS AUF HOHEM .IVEAU %S HËTTE ETWAS MIT GRO”TECHNISCHEN .ETZWERKEN UND IHRER +ULTUR ZU TUN ALSO EHER IN 2ICHTUNG )NNIS UND -UMFORD ODER ,ATOUR ODER (0 (UGHES ODERGLEICH!VITAL2ONELLS3TUDIENàBERDIE$UMMHEITi

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Noch bis zur Zeit vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 waren die meisten jungen Intellektuellen »anti-deutsch«3 eingestellt und neigten eher zu der Auffassung, dass Deutschland um jeden Preis daran gehindert werden sollte, nationale Ambitionen zu entfalten. Nichtsdestotrotz werfen Medienstudenten aus allen Ländern die berechtigte Frage auf, ob die großen Denker der Zwischenkriegszeit Nachfolger haben. Ohne eine entsprechende Übersetzungspolitik wird man vermutlich noch lange auf eine Antwort warten müssen. Warum wichtige deutschsprachige Werke nicht ins Englische übersetzt werden, ließe sich auf die angelsächsische Verlagswelt zurückführen, aber die steht hier nicht zur Debatte. Tatsache ist auf jeden Fall, dass deutsche Akademiker in zunehmendem Maße auf ihre eigene, sich verschlechternde Situation fixiert sind. Hinzu kommt der Umstand, dass die Anzahl deutschsprachiger Leser ungefähr 100 Millionen beträgt, eine beträchtliche Menge im Vergleich zu anderen europäischen Sprachen. Im Zuge der globalisierten Wissensproduktion im Bereich der Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften und der Künste müssen deutsche Theoretiker immer häufiger ihre Bastionen verteidigen. Mittlerweile sind schwache Englischkenntnisse kein Thema mehr, obwohl kaum ein Wissenschaftler seine Aufsätze (geschweige denn Bücher) auf Englisch verfasst. Sie reisen ins Ausland und sind über das, was außerhalb des deutschen Sprachraums passiert, sehr gut informiert. Das Problem ist eher ein zeitliches. Wenn eine einflussreiche Arbeit erscheint, dann sollte sie in der Regel innerhalb von fünf bis zehn Jahren übersetzt sein, um am internationalen Diskurs teilzunehmen. Das geschieht bei deutschen Arbeiten jedoch nicht. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass anglo-amerikanische Verleger wie auch deutsche Wissenschaftsstiftungen ihren Schwerpunkt weniger auf zeitgenössische Theorie als auf Klassiker und historische Monographien vom 18. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus setzen. Einen Ausnahmefall bildet hier Ulrich Beck, dessen Arbeit sich explizit auf Kultur und Globalisierung richtet. Erfreulicherweise sind kürzlich zwei Bücher des Medienarchäologen Siegfried Zielinski übersetzt worden. Ähnlich sieht es bei Friedrich Kittler aus, von dem aber auf jeden Fall mehr übersetzt werden sollte. Für alle, die ein Faible für die aktuellen Debatten um den ›Kanon‹ haben, folgen nun einige Namen und Titel (im Sinne des Internet-Services »The Listables«). Ganz oben auf meiner persönlichen Wunschliste wäre eine übersetzte Gesamtausgabe des Werks von Vilém Flusser. Dieses Projekt sollte höchste Priorität haben und wäre von großem Wert. Einige Titel wurden in der letzten Zeit veröffentlicht, zu erwähnen vor allem The Freedom of the Migrant sowie eine Anthologie seiner Arbeiten. Es wäre wirklich an der Zeit, das Werk dieses einzigartigen, kosmopolitischen euro-brasilianischen Denkers systematisch 3. 7IKIPEDIA ZUFOLGE IST wANTI DEUTSCHi EIN ÄBERBEGRIFF DER IN DER RADIKALEN ,INKEN FàR EINE 6IELZAHL VON THEORETISCHEN UND POLITISCHEN 4ENDENZEN 6ERWENDUNG lNDET$IE5RSPRàNGEGEHENAUFEINMILITANTESANTI FASCHISTISCHES-ILIEUZURàCK WO DIEwANTI DEUTSCHEi"EWEGUNGALSEINE!NTWORTAUFRASSISTISCHE0OGROMEIM:UGEDER DEUTSCHEN7IEDERVEREINIGUNGENTSTAND,ANDLËUlGMITDEM"EGRIFFwANTI DEUTSCHiIN 6ERBINDUNGGEBRACHTWIRDDIE3OLIDARITËTMITDEM3TAAT)SRAEL

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zu erschließen, am besten im Rahmen einer internationalen Kollaboration, ähnlich wie beim 2005 lancierten Online-Magazin flusserstudies.net. Ich habe neulich ein Buch von einem Nachkriegs-Zeitgenossen Flussers gelesen: den exzellenten dritten Teil von Max Benses ausgewählten Schriften, Aesthetics and Text Theory. Ein weiteres ›must read‹ wäre Klaus Theweleits Buch der Könige (1988/94). Für meine Begriffe ist dieses zweibändige Werk genauso wichtig wie das bereits übersetzte Männerfantasien. 4 Es liefert eine äußerst originelle Theorie der Geschlechterkollaboration, der Medien und des kreativen Produzierens, die uns von Claudio Monteverdi über Gottfried Benn und Knut Hamsun bis zu Bertolt Brecht und Elvis führt. Diese detailreiche, erzählerische Form der psycho-analytischen Theorie kultureller Erzeugnisse, wie Poesie, Film und Schallplatten, zeigt, ähnlich den Thesen Friedrich Kittlers, wie eine Verbindung von Literaturkritik, Kunstgeschichte und Post-Colonial/Cultural Studies auf eine Vielzahl von gegenwärtigen und zukünftigen Kontexten angewandt werden kann. Peter Sloterdijks Opus Magnus Sphären (drei Bände, 1998/1999/2004) ist ein weiteres Werk, das ich gerne übersetzt sähe. Die enorme Seitenzahl (mehrere tausend) dürfte Verleger verschrecken – aber dieser monumentale Übersetzungsjob muss ohnehin erledigt werden, warum also noch warten? Ähnlich wie Theweleit vermittelt Sloterdijk uns einen sehr breiten und originellen Begriff von Medien. Sein grundlegendes Konzept erklärt er so: w4QIjSFOSINDDIE2ËUME INDENENDIE-ENSCHENTATSËCHLICHLEBEN)CHMÚCHTEZEIGEN DASSMENSCHLICHE7ESENnBISHEUTEnFALSCHVERSTANDENWURDEN WEILDER3BVN IN DEMSIEEXISTIEREN STETSFàRSELBSTVERSTËNDLICHERACHTETWURDE OHNEJEMALSBEWUSST ODEREXPLIZITGEMACHTWORDENZUSEIN5NDDIESEN-JFVODER2AUMNENNEICH3PHËRE UMDARAUFHINZUWEISEN DASSWIRnINEINERWIEAUCHIMMERGEARTETENPHYSISCHENODER BIOLOGISCHEN5MGEBUNGnNIEMALSGËNZLICHNACKTSIND SONDERNDASSWIRSELBST2AUM ERSCHAFFENDE7ESENSIND UNDDASSWIRNICHTANDERSEXISTIERENKÚNNENALSINDIESEN SELBSTGESCHAFFENEN2ËUMENi

Ich bin mir sicher, dass sphärische Medientheorien eine große Zukunft vor sich haben, zumal viele Technologien der Gegenwart in eben diese Richtung weisen. Bislang sind allerdings nur zwei Bücher Sloterdijks aus den achtziger Jahren ins Englische übersetzt worden – eine denkbar ärmliche Ausbeute für den ›zweitgrößten Philosophen‹ Deutschlands. Abgesehen von der Sphärentrilogie gibt es auch Texte, die sich explizit den (neuen) Medien zuwenden, wie z.B. Medien-Zeit von 1995, während Sloterdijks Innenraum des Kapitals (2005) seine Sicht des Globalisierungsdiskurses darstellt. Auch eine Einführung in das Werk von Hartmut Winkler scheint wünschenswert. Sein Hauptwerk Docuverse (1997) zur Frage, ob der Computer eine 4. 3IEHE "ILWETS "ESPRECHUNG VON +LAUS 4HEWELEITS ERSTEM UND ZWEITEM #VDI EFS ,zOJHFIN !GENTUR "ILWET .FEJFO"SDIJW "ENSHEIM "OLLMANN  3  HTTPTHINGDESKNLBILWET!GENTUR"ILWET-EDIENARCHIVTHEWELEITXT 5. 3IEHEWWWPETERSLOTERDIJKNET

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Rechenmaschine oder ein Medium ist, lohnt es immer noch zu lesen, ebenso wie Diskursökonomie (2004). Immerhin hat Winkler eine Homepage mit einigen Texten auf Englisch. Doch wo soll man überhaupt anfangen? Bei Martin Warnke und dem Hyperkult-Festival in Lüneburg; Hans-Ulrich Recks Kölner Studien zur Medienkunst; Georg Tholen aus Basel; der Berliner Philosophieprofessorin Sybille Krämer; Tilman Baumgärtels Schriften zur net.art; dem Cyberfeminismus von Verena Kuni, Claudia Reiche und Yvonne Volkart?6 Einige Texte von Norbert Bolz würde ich ebenfalls als Klassiker bezeichnen, darunter seine Theoretisierung des Dreigespanns Nietzsche-Benjamin-McLuhan in Theory of New Media.7 Beachtung und eine genauere Untersuchung verdienen zudem Wolfgang Hagen, der über die Geschichte der Kybernetik schreibt; Michael Giesecke und seine historischen Studien über die Buchkultur der GutenbergGalaxis; Sigrid Schades Studien zum Konnex Kunst, Körper, Geschlecht und Neue Medien; Wolfgang Coy, der die Weiten der Computerwissenschaft ausmisst; Wolfgang Ernsts Arbeit über Archive; die hochgradig originellen Medientheorien des Kunstkritikers Boris Groys; und die Geschichte der Medienkunst von Dieter Daniels. Von großem Wert sind nicht zuletzt die Stimmen der jüngeren, in den sechziger Jahren geborenen Generation: Inke Arns, eine Expertin der zeitgenössischen (ost-)europäischen Neue-Medien-Kultur; Florian Cramer, der als Softwaretheoretiker gegenwärtig in Rotterdam unterrichtet; der brillante Geschichtenerzähler Nils Röller; und der Computerhistoriker und Spielexperte Claus Pias. *** w-ANNWILLNICHTVIELUNDKANNNOCHWENIGERi $EUTSCHLAND

Aber kehren wir zur Online-Debatte auf Rohrpost zurück. Florian Cramer bestreitet, dass es so etwas wie eine einheitliche, ausgearbeitete Medientheorie gibt: w3EIT DEN NEUNZIGER *AHREN NENNT JEDER 'EISTESWISSENSCHAFTLER DER ETWAS AUF SICH HËLT AUCHk-EDIENjALSSEIN&ORSCHUNGSGEBIET$ASPRAKTISCHE!NALPHABETENTUMAUF DIESEM 'EBIET DIE .ICHT "EHERRSCHUNG ELEMENTARER wNEU MEDIALERi +ULTURTECHNIKEN ANGEFANGENMIT% -AIL UNDGRUNDSËTZLICHESTECHNISCHES.ICHTWISSENSPOTTENJEDOCH JEDER"ESCHREIBUNGUNDLIEFERNIMMERWIEDER2EAL 'ELEHRTENSATIREN$ASISTGENAUSO ALS WENN MAN ,ITERATURWISSENSCHAFTLER IST UND !NALPHABET &REMDSPRACHENPHILOLOGE OHNE&REMDSPRACHENKENNTNISSEODEREIN-USIKWISSENSCHAFTLER DERWEDEREIN)NSTRU MENTSPIELEN NOCH.OTENLESENKANNi 6. %INWEITERER6ERWEISWËREAUFDIE)NITIATIVE/LD"OY.ETWORKZUMACHENWWW OBNORG %INIGEIHRER)DEENWURDENIM*AHREAUFDER&UTURE"ODIES +ONFERENZIN +ÚLNVORGESTELLTHTTPGENDERKHMDEFUTUREBODIES 7. 3IEHEDAZUMEIN)NTERVIEWMIT.ORBERT"OLZIN6ODBOOZ/FUXPSLT #AMEBRIDGE -!-)40RESS  3 

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Richtig, man sollte von einem Medienforscher erwarten dürfen, dass er wenigstens weiß, was TCP/IP, »Routing« und DNS sind. Obwohl ich mit Florian Cramer hier übereinstimme, muss ich zugeben, dass ich deutschsprachige Medientheorie nicht lese, um technologisches Wissen zu erwerben. Was jene metaphysischen Schriften stattdessen so anregend macht, ist die Selbstverständlichkeit, mit der darin Medientheorie in Philosophie, Literatur und die Geisteswissenschaften im Allgemeinen eingebettet wird. Sie inspirieren und öffnen den Blick weit über den neuesten »RSS News Feeder« hinaus auf Bereiche wie griechische Mythologie, die Geschichte der Kriegsführung, den deutschen Idealismus und die Wissensnetzwerke des 17. Jahrhunderts. Natürlich ist das auch der Schwachpunkt. Sobald man das Medienkonzept so sehr erweitert hat, dass die gesamte Menschheitsgeschichte samt all ihrer kulturellen Erzeugnisse reinpasst, läuft man Gefahr, das Gebiet, das man gerade abgesteckt hat, gleich wieder aufzulösen. Dass unter Medientheoretikern ein so weit verbreiteter Mangel an Detailkenntnissen herrscht, ist auch mit der anhaltenden Skepsis der Intellektuellen gegenüber der Medienkultur in Verbindung zu bringen. Viele der aufgeführten Theoretiker haben die ›kulturelle Wende‹ zur angelsächsischen Kulturwissenschaft mit ihrem Fokus auf Diskursanalyse und Postkolonialismus nicht mitgemacht.8 Trotz allen Adorno-Bashings unter den Medientheoretikern erzeugt das Misstrauen gegenüber den ›Kulturindustrien‹ in deutschsprachigen Ländern über alle politischen Grenzen hinweg einen bemerkenswerten Konsens. Cramer schreibt dazu auf der Rohrpost-Liste: w$ASSkDIE-EDIENjAUTONOMSEIEN DER-ENSCHALSOkDEN-EDIENjOHNMËCHTIGAUSGE LIEFERTSEI UNDDASSDIESDAS%NDETRADITIONELLER+ULTURBEDEUTE ISTDERROTE&ADEN DER SICHDURCHPRAKTISCHALLEDEUTSCHEN-EDIENTHEORIENZIEHT DEREN!UTORENUNGEFËHRVOR GEBORENWURDEN-ANlNDETDIESES,EITMOTIVENTWEDERINPESSIMISTISCH NEGA

8. &LORIAN #RAMER ERKLËRT DIE 4ATSACHE DASS DIE ANGLO AMERIKANISCHEN k#ULTURAL 3TUDIESj AN DER DEUTSCHEN -EDIENFORSCHUNG VORBEIGINGEN MIT DEREN MARXISTISCHEM %RBE SOWIEDEM5MSTAND DASSSIEZURSELBEN:EITAUFKAMEN ALSIN$EUTSCHLANDDIE -AUERlELUNDDIE7ISSENSCHAFTBEGANN IHRELETZTEN6ERBINDUNGENZUM-ARXISMUSZU KAPPEN#RAMERSCHREIBTINEINERPRIVATEN% -AILVOM*ULIw&àRDIEMEISTEN DEUTSCHEN 7ISSENSCHAFTLER WAREN DIE #ULTURAL 3TUDIES EIN 2àCKFALL IN DIE 3IEBZIGER $ARAUSERKLËRTSICH WASLEICHTALSPOLITISCHKONSERVATIVE4ENDENZDERDEUTSCHEN'EI STESWISSENSCHAFTEN ERSCHEINEN MAG $AS DEUTSCHE +ONZEPT DER k+ULTURWISSENSCHAFTj STEHTKAUMIN"EZIEHUNGZUDEN#ULTURAL3TUDIES SONDERNLEITETSICHVON!BY7ARBURGS IN DEN :WANZIGERN ENTWICKELTEM +ONZEPT DES (OMONYMEN AB UND BEZIEHT SICH AUF TRANSDISZIPLINËREGEISTESWISSENSCHAFTLICHE&ORSCHUNGANSTELLEEINESPOLITISIERTEN"E GRIFFSVONk+ULTURj)NDIESEM:USAMMENHANGMUSSMAN%RNST#ASSIRERALSBEDEUTENDEN -EDIENPHILOSOPHENkAVANT LA LETTREjERWËHNEN DERAUCH,EHRERVON7ARBURGUND0A NOFSKYWAR,EV-ANOVICHS+ONZEPTDERk$ATENBANKDERSYMBOLISCHEN&ORMENjSTAMMT VON0ANOFSKYOHNEZUWISSEN DASS0ANOFSKYSEIN+ONZEPTDERkSYMBOLISCHEN&ORMENj WIEDERUMVON#ASSIRERS0HILOSOPHIEDERSYMBOLISCHEN&ORMENàBERNOMMENHATTE i

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TIVER&ËRBUNGVORODER INDIALEKTISCHSPIEGELBILDLICHER6ERKEHRUNG ALS"EJAHUNGEINES POSTMODERNENk3TOP-AKING3ENSEji

Wenn auch keine Schule, im Sinne der Frankfurter Schule, existiert, dann auf jeden Fall doch eine Gruppierung von Autoren, die gemeinsam veröffentlichen und sich gegenseitig zu Konferenzen einladen. Eine Zeit lang nannte ich sie die Kasseler Schule der Deutschen Medientheorie, weil sich dieses Netzwerk Mitte bis Ende der achtziger Jahre – in seiner produktivsten Zeit – für gewöhnlich in dieser Stadt traf. Für Sebastian Lütgert lassen sich zumindest die Schüler von Friedrich Kittler als eine identifizierbare Gruppe ausmachen, die auch die ›Kittlerjugend‹ genannt wird. Das klingt natürlich abfällig, aber diese Gruppe studentischer Anhänger existiert tatsächlich. Man kann sie an ihrem militanten Techno-Determinismus erkennen, ihrem Hang zur Kybernetik in Kombination mit Kriegsgeschichte (Thomas Pynchon) und einem unverbesserlichen und wenig subtilen Anti-Amerikanismus, den man aus ihren Schriften herauslesen kann, sobald es um Hollywood oder Microsoft geht. Sebastian Lütgert: w7ENNESALLERDINGS"RITPOPGIBTODER9OUNG"ERLIN!RT DANNNATàRLICHAUCH $EUTSCHE-EDIENTHEORIEnALSODASGEMEINSAME)NTERESSEDER-ARKETINGABTEILUNGEN DEUTSCHER5NIVERSITËTEN ANGESICHTSZUNEHMENDER3TANDORTKONKURRENZEINNATIONALES ,ABELZULANCIEREN$ASABERKEINE$ENKTRADITIONBEZEICHNET ODERàBERHAUPTNURIR GENDEINEN 'EDANKEN ;x= SONDERN BLO” DIE 3CHICKSALSGEMEINSCHAFT DEUTSCHER 0RO FESSORENi

Dagegen spricht Stefan Heidenreich dem Label »Deutsch« jegliche Stärke ab: w7ENN MAN JEDE %RWËHNUNG DES "EGRIFFS k-EDIENj DAZU ZËHLT WIRD DAS GANZE TAT SËCHLICHUFERLOS$AS7ORTSTEHTJAMITTLERWEILEWENIGERFàREINEINHALTLICHE0OSITION SONDERNDIENTVORALLEMALS,ABEL UMSICHIMAKADEMISCHEN6ERTEILUNGSKAMPF'ELDER UND3TELLENZUSICHERNi

Verena Kuni aus Frankfurt a.M. ist u.a. Organisatorin der Interfiction-Konferenzen in Kassel, die einmal jährlich Medientheorie und Kunst-bezogene Themen in einem nicht-akademischen Kontext miteinander in Verbindung bringen. Sie glaubt, dass Theorie durchaus lokalisiert werden kann. Aber es sei mehr eine Institutionen- als eine Nationenfrage. Was sie am meisten interessiert, sei die Beziehung zwischen Netzwerkkulturen und traditionellen akademischen Institutionen wie Hochschulen und Universitäten. Kaum eine zeitgenössische Medientheorie wende sich derzeit kritisch der zeitgenössischen Netzwerkkultur zu oder beziehe Technologien wie Wikis in den Schreibprozess ein. Dazu auch Florian Cramer:

9. 2OHRPOST  HTTPPOSTOPENOFlCEDEPIPERMAILROHRPOST /CTOBERHTML

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w$ER$OTCOM #RASHINDEN*AHREN HATKONSERVATIVE!BWEHRHALTUNGENUND 2ESSENTIMENTS Z"GEGENEINE6ERLAGERUNGAKADEMISCHER0UBLIKATIONENINS.ETZ BE STËRKTUNDVIELENDIE'EWI”HEITGEGEBEN DAS)NTERNETSEIEINTOTER(YPE!NDERERSEITS HABENJENE.ETZKULTUREN DIEWIE.ETTIMEVORFASTZEHN*AHRENMITDEM!NSPRUCHDES kKOLLABORATIVEN&ILTERNSjEINERk.ETZKRITIKjANGETRETENSIND KEINE!LTERNATIVENZUSTAN DEGEBRACHTi

Till von Heiseler fasst die gegenwärtige Situation so zusammen: w-EDIENTHEORIEHEUTESCHAFFTESNICHT SICHSELBSTALS4HEORIEIN-EDIENZUBEGREI FENUNDENTSPRECHENDE+ONSEQUENZENDARAUSZUZIEHEN3IEISTANGESCHLOSSENANDEN AKADEMISCHEN"ETRIEBUNDNUTZTWEITGEHENDREmEXIONSLOSDIETRADITIONELLEN&ORMATE DER7ISSENSCHAFT DIESICHAUSDER'ESCHICHTEDER7ISSENSCHAFTUNDDENVIELENKONTIN GENTEN%INZELENTSCHEIDUNGENFàR2EPUTATIONERGEBEN)NDIESEM:USAMMENHANGWIRD DAS"UCHALSEINZIGWàRDIGER,ORBEERUMKËMPFTi

In der Rohrpost-Debatte warnte Verena Kuni vor einem allzu verallgemeinernden Essentialismus, da jede Praxis und jede Disziplin ihre eigenen blinden Flecken erzeuge: w-ANSOLLTEVON4HEORETIKERNVERLANGENKÚNNEN DASSSOWOHLDIE'EGENSTËNDE AUFDIE SIESICHBEZIEHEN ALSAUCHIHRE'RENZENPRËZISEBENANNTWERDEN,EIDERGEHÚRT,ETZ TERESNICHTZUDENVIELVERSPRECHENDEN3TRATEGIEN WENNESDARUMGEHT SEINEEIGENE 4HEORIEZUBEGRàNDENi

Aber es gibt auch Alternativen, wie beispielsweise das von Sebastian Lütgert initiierte Textarchiv www.textz.com. Florian Cramer: w$IE 2OLLE ALS SUBVERSIVER )MPORTEUR EKLEKTISCHER &ILTER $ENKPROVOKATEUR INOFlZI ELLER $ISKURSINSTITUTION UND 'EGEN 3UHRKAMP DIE -ERVE EINMAL HATTE NIMMT HEUTE TEXTZCOMEIN ,ETZTERESSOGARIMJURISTISCHEN3INNEUNDRADIKALERALS-ERVEESJEMALS GEWAGTHËTTE.URSTELLTSICHTEXTZCOMMITSEINER4EXTAUSWAHL WIEZ"k(EIDEGGER FàR !NALPHABETENj QUER ZU EINER 6EREINNAHMUNG ALS kDEUTSCHj %BENSO QUALIlZIEREN SICH NUR DIE WENIGSTEN 4EXTE AUF DEM 3ERVER ALS k4HEORIEj 3TATTDESSEN VERSAMMELT UNDVERZEICHNETTEXTZCOMEINENk$ISKURSj BZWTANGENTIALE$ISKURSEIM0LURAL DER ZUWEITEN4EILENAUCHEIN$ISKURSàBER-EDIENIST)NGEWISSER7EISELÚSTTEXTZCOM SOMITMEDIALUNDEPISTEMOLOGISCHEIN WASGERADEIN-ERVE "ËNDENALS$ISKURSTHEORIE BESCHRIEBEN ABERKAUMUMGESETZTWURDEi

Meine Ausgangsfrage zielte nicht darauf ab, wie eine Liste meiner Lieblingsautoren aussehen könnte, sondern darauf, wie sich europäische Sprachen global positionieren können. Mindestens 100 Millionen Menschen sprechen Deutsch als Muttersprache, dennoch wird es häufig als irrelevant und provinziell angesehen. Die Übersetzungsmaschinen in den USA und in Großbritannien sind immer noch in der Hand nekrophiler Verlagshäuser, die glauben, dass nur tote Denker vermarktet werden können. Immer mehr Autoren werden in Zukunft

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die Übersetzung ihrer Schriften ins Englische aus eigener Tasche bezahlen. Aber in deutschsprachigen Ländern sind sich Theoretiker dieser neuen ökonomischen Umstände oft nicht bewusst. Sie sitzen einfach da und warten geduldig darauf, entdeckt zu werden. Für die zeitgenössische Theorie ist das tödlich. Wir leben in einer Echtzeit-Ära, in der die Leser nicht 30 bis 50 Jahre auf eine wichtige Übersetzung warten sollten. Abgesehen davon gerät der GutenbergZentrismus ins Wanken. Unter diesen Bedingungen stellt sich die Frage, wie in Europa neue Dialogformen entstehen können. Ist es möglich, deutsche Medientheorie zu diskutieren, oder sollen wir das einfach vergessen und uns an dem orientieren, worüber alle anderen auch reden? Fassen wir einen konkreten Fall ins Auge. Ich habe an Rohrpost die Frage gestellt, ob, würde man eine Konferenz über deutsche Medientheorie in Amsterdam organisieren, die Veranstaltung auf Englisch abgehalten werden sollte? Die Antworten darauf waren unterschiedlich. Unter meinen Studenten an der University of Amsterdam etwa lesen nur wenige Deutsch, von ihrem Interesse an Deutschland oder an einer Konferenz zu diesem Thema mal ganz abgesehen. Es ist mittlerweile vollkommen abwegig, niederländische Studenten dazu aufzufordern, Texte auf Deutsch zu lesen. Internationale Studenten werden ebensowenig dazu bereit sein, da die meisten von ihnen schon genug mit der englischen Sprache zu kämpfen haben. In Zeiten fortgeschrittener Globalisierung hat die Isolation europäischer Kulturen deutlich zugenommen. Florian Cramer ist in diesem Zusammenhang wie immer sehr direkt: w$EUTSCHSPRACHIGEAKADEMISCHE-EDIEN UND+ULTURWISSENSCHAFTENKAPSELNSICHVOM 2ESTDER7ELTAB WEILSIEINIHREN(EIMATLËNDERNNURAUF$EUTSCHKOMMUNIZIERTUND UNTERRICHTETWERDEN IHREAKADEMISCHEN+ONFERENZENNURAUF$EUTSCHABHALTEN UND NURAUF0APIERUNDAUF$EUTSCHPUBLIZIERENi

In seinem Beitrag an Rohrpost weiß Janus von Abaton schon in etwa, wie sich eine mögliche Amsterdamer Konferenz über deutsche Medientheorie entwickeln würde: w+NAPPUNTERDEM.IVEAUTATSËCHLICHER$ENKENTWICKLUNGENLËSSTSICHPRIMAPLAUDERN 7ER EHRT WEN ;x= !BER MAN BELEIDIGT NIEMAND .ATàRLICH IST MAN INTELLIGENT UND SPRICHT ENGLISCH KAUM SCHLECHTER ALS DEUTSCH $AS HËLT MAN DANN FàR )NTERNATIONA LISMUS-ANDENKTAUCHEINWENIGNACH SOWEITESDIE+ARRIEREERLAUBTUNDSOLANGE ESNICHTWEHTUT!M%NDEGEHTMANDANNINEINEMKLEINEN'RàPPCHENINEINGUTES !MSTERDAMER2ESTAURANT LËSSTSICHBEDIENEN DAFàHLTMANSICHWOHL$AISTMANIN SEINEM%LEMENT-ANDENKTANEINE.UTTE DIEMANBEIEINEM3PAZIERGANGGESEHEN HAT$IEKAMWOHLAUS3àDAMERIKA5NDDANNnSIEHEDAnKOMMTTATSËCHLICHNOCHEIN 'ESPRËCHZUSTANDEi

Nebenbei bemerkt: Janus vergaß, den obligatorischen Besuch eines Amsterdamer »Coffeeshops« zu erwähnen. Aus einer Reihe von Gründen fand die Konferenz niemals statt. Vielleicht war es auch einfach eine schlechte Idee, Deutsche Medientheorie mit Deutschen diskutieren zu wollen. Pit Schulz zufolge

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sollte die Ausgangsfrage wie folgt umformuliert werden: Gibt es eine europäische Medientheorie? Sollten wir Deutsch also vergessen? Außerhalb Deutschlands wächst jedenfalls das Interesse an zeitgenössischer Theorie aus dem Alten Europa. Berlin ist cool, vor allem weil es so billig ist. Es scheint, als warte dort für jeden eine exotische Nische, die nur noch entdeckt werden muss. Neue Medien oder IT-Business finden wir im real existierenden Berlin allerdings kaum, hier scheint sich alles mehr um Musik, Klubs, Mode, Kulturtheorie, Bildende Kunst und Architektur zu drehen. Wir müssen dieser Tatsache ins Auge sehen. Trotz einer immer noch recht großen Theorieproduktion befindet sich die Buchkultur selbst in Deutschland im Abwärtstrend. Da eine exportorientierte Übersetzungspolitik wohl im Reformstau stecken bleibt, haben unabhängige Autoren kaum eine andere Wahl, als ihre Schriften von vorneherein auf Englisch zu verfassen – eine Entscheidung, die ich selbst übrigens sehr unwillentlich bereits Mitte der neunziger Jahre getroffen habe. Aber das verlangt auch nicht weniger als eine Revolution im Bildungssystem und wird die Verschiebung vom herkömmlichen Wissenserwerb hin zum netzwerkbasierten Lernen vorwärtstreiben, weg von der Gutenberg-Galaxis und dem sicheren Umfeld großer toter Autoren. Neben der Übersetzungs- und Sprachproblematik würde ich gerne eine neue Subdisziplin zur Diskussion stellen: Medienphilosophie. Während Medientheorie ein allgemeiner Begriff ist, der die intellektuellen Anstrengungen unterschiedlichster (nicht nur akademischer) Akteure umfasst, ist Medienphilosophie ein vergleichsweise spezifischer Terminus, der sich in eine bereits institutionalisierte Disziplin einschaltet. Zu dieser jüngsten akademischen Strömung habe ich per E-Mail einen Dialog mit dem Wiener Medientheoretiker und Philosophen Frank Hartmann geführt. Um die Diskussion des Medienphilosophie-Mems zu erweitern, bat ich außerdem Sibylle Krämer, Marie-Luise Angerer, Mike Sandbothe und Wolfgang Ernst darum, auf Hartmanns Thesen einzugehen.10 Mike Sandbothe, Professor für Medienphilosophie in Aalborg (Dänemark), behauptet, Medienphilosophie sei ein Wort, das von Medienleuten gerne verwendet und von Fachwissenschaftlern lieber vermieden wird. Trotzdem tut sich etwas. Im November 2003 gab es dazu eine Tagung in Stuttgart, und bei Fischer erschien im selben Jahr der Band Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. In zwölf programmatischen Aufsätzen wird darin der Frage nachgegangen, was Medienphilosophie genau sein könnte. Werfen wir einmal einen kurzen Blick in diese Anthologie. Da gibt es z.B. den Neorationalisten Matthias Vogel, die Ästhetik des Weimarer Medienphilosophen Lorenz Engell, den kritischen Ansatz der Italienerin Elena Esposito, die Online-Identitätsforscherin Barbara Becker, den Frankfurter Philosophen Martin Seel und den Salzburger Systemtheoretiker Stefan Weber. Während die einen Medienphilosophie strikt wissenschaftlich als Lehr- und Forschungsprogramm definieren, propagieren andere 10. )CHHABEDASENTSTANDENE-ATERIALFàREINENKURZEN%SSAYàBER$EUTSCHE-E DIENPHILOSOPHIEVERWENDET DERIN,ETTRE &RàHJAHRVERÚFFENTLICHTWURDE%RIST AUCHONLINEVERFàGBARHTTPLAUDANUMNETGEERTlLES

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einen pragmatischen, kunst- und designbezogenen Umgang. Skeptiker sehen das Projekt Medienphilosophie als Renovierungsunternehmen mit begrenzter Mission (Seel), während andere durchaus bereit zu sein scheinen, sich auch in die Niederungen der Medienpraxis zu begeben. So schreibt beispielsweise Lorenz Engell: »Medienphilosophie ist deshalb ein Geschehen, möglicherweise eine Praxis, und zwar eine der Medien. Sie wartet nicht auf den Philosophen, um geschrieben zu werden. Sie findet immer schon statt, und zwar in den Medien und durch die Medien.« 11 Stefan Weber dagegen sieht eine »intellektuelle Gegenbewegung, als eine Renaissance des Luxus des reflektierenden Denkens im Kontext einer Medienwissenschaft, die sich immer mehr der Tyrannei der Praxis unterwirft.« 12 Einige Jahre zuvor schon (2000) veröffentlichte Frank Hartmann das Buch Medienphilosophie. Aber wer inzwischen fürchtet, etwas verpasst zu haben und nicht zu wissen, auf welche Seite der Debatte man sich stellen soll, darf beruhigt sein, denn viel steht hier nicht auf dem Spiel. Zumindest haben es die Widersacher bislang verpasst, klar zu machen, worum es bei der Kontroverse um dieses Konzept eigentlich geht – falls es überhaupt eines gibt. Von außen jedenfalls wirkt es wie ein ins Leere gelaufener Hahnenkampf um nicht existente institutionelle Aufteilungen, und das in einer Zeit steigender Studentenzahlen und schrumpfender Bildungsetats. Vielleicht gab es letztendlich auch gar keine Kontroverse – aber eben auch keinen wirklich starken kollektiven Willen. Wie alle akademischen Disziplinen ist auch die Philosophie mit dem Aufstieg des Computers konfrontiert. Der findet bereits seit einem halben Jahrhundert statt, aber erst in letzter Zeit wird Wissen in Netzwerken und Datenbanken produziert und archiviert. Der Vormarsch der Computervernetzung hat erfreulicherweise auch die Philosophiestuben erreicht. Technologie ist nicht mehr das Forschungsgebiet Einzelner, sondern verwandelt die Wissensproduktion insgesamt, einschließlich der Philosophie, egal ob es nun um Ethik oder Logik geht. Und dort setzt die gegenwärtige Diskussion an. Während einige meinen, der Kern der Philosophie (das Denken an sich) bleibe von den modischen Maschinen unangetastet, glauben andere, dass von der Auseinandersetzung mit den Medien das Überleben der gesamten Disziplin abhänge. Die Auseinandersetzungen drehen sich um die Zielsetzungen dieser neuen Teildisziplin namens ›Medienphilosophie.‹ Die Wahl fiel nicht von ungefähr auf dieses Label, denn ein solcher Name zielt eindeutig darauf, sie innerhalb dieses Jahrtausende alten Faches zu positionieren. Gleichzeitig tauchen aber in Deutschland an anderer Stelle auch parallele Projekte wie Medientheorie, Mediologie oder Medienwissenschaft auf. Im Jahr 2000 habe ich Frank Hartmann interviewt. Er sprach über Medienphilosophie und wie diese aufstrebende Disziplin mit Kittlers Medientheorie zusammenhängt – und mit der kleinen schmutzigen Praxis namens ›Netzkri-

11. 3TEFAN -àNKER UA (G .FEJFOQIJMPTPQIJF #FJUSjHF [VS ,MjSVOH FJOFT #F HSJGGT &RANKFURTA-&ISCHER4ASCHENBUCH6ERLAG  3 12. %BD 3

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tik‹.13 Drei Jahre später veröffentlichte Frank Hartmann Mediologie. Wie schon sein vorangegangenes Buch Medienphilosophie versteht es sich als eine allgemeine Einführung in zeitgenössische Diskurse. Anders als die meisten seiner europäischen Zeitgenossen verzichtet Hartmann auf hochgestochene hermeneutische Fingerübungen. Hartmanns Analyse der Neuen Medien ist nicht von Angst und Ressentiment geprägt. Ohne affirmativ zu werden, vermeidet er ›totalisierende‹ Konzepte, die alles zu erklären versuchen und gleichzeitig alles ausschließen, was nicht in die frisch erschlossene Diskursnische passt. Es geht weder darum, sich dem Imperium der Bilder zu unterwerfen, noch die Flucht davor anzutreten. Zu Beginn des Jahres 2004 führte ich einen zweiten E-Mail-Dialog mit Hartmann. Diesmal sprachen wir über seine Interpretation des Mediologie-Konzepts und über die Spannung zwischen konzeptorientierter Theorie und digitaler Bildkultur. Um die Debatte zusammenzufassen: Für einige sind Internet und Neue Medien Erscheinungen, die sich früher oder später verflüchtigen werden und die die ›ewigen‹ Fragen der Philosophie nicht wirklich betreffen. Andere wiederum glauben, dass die philosophische Praxis einer fundamentalen Transformation unterworfen wird, sobald die Einführung der Neuen Medien abgeschlossen ist. In der angelsächsischen Welt hatte der Terminus ›Medienphilosophie‹ von Anfang an einen schweren Stand – Imagologies, das 1994 veröffentlichte Buch über den Cyber-Hype von Mark C. Taylor und Esa Saarinen, trug maßgeblich zum schlechten Ruf dieses Begriffes bei. Die tragische Oberflächlichkeit von Imagologies bewies ein für alle Mal, dass es nicht reicht, einfach mal Studenten und Professoren über E-Mail oder Satelliten zusammenzuschalten und dann auf interessante Diskussionen zu warten. Wie der kanadische Kommunikationstheoretiker und Politikökonom Harold Innis erkannte, hängen die individuelle technische Praxis bzw. der persönliche Bezug zur Technologie vom jeweiligen Kommunikationsmedium ab und ändern sich entsprechend mit einem anderen Medium. Menschliche Handlung ist letztendlich eine Erweiterung von Medienformen; für die Entstehung einer kritischen, reflexiven Praxis kommt es darauf an, über die Begeisterung und Hybris, ein ›Early Adopter‹ zu sein, hinauszugehen. Das Loblied auf die Technologie genügt nicht: Die Leser erwarten von Philosophen Distanz und Abgrenzung von der täglichen Gesellschaftserfahrung und ihrer PR-Propaganda, statt einfach nur die jüngsten Slogans abzufeiern. Nur ein radikaler Futurismus verdient es, ernsthaft debattiert zu werden. Spekulative Philosophien müssen die Gegenwart transzendieren, unwahrscheinliche Zukunftsentwicklungen erforschen und der Versuchung widerstehen, nur die coole Gegenwart fortzuschreiben. Genauso wenig reicht es, sich auf die sichere Gutenberg-Galaxis der Kritischen Theorie zurückzuziehen. Medienphilosophie muss Risiken auf sich nehmen und die bestehenden

13. $AS)NTERVIEWMIT&RANK(ARTMANNWURDEAUF.ETTIMEAM*UNIGEPOS TETHTTPAMSTERDAMNETTIMEORG,ISTS !RCHIVESNETTIME L MSGHTML %SWURDEAUCHVERÚFFENTLICHTINMEINER3AMMLUNGVON)NTERVIEWS6ODBOOZ/FUXPSLT  #AMBRIDGE-ASS -)40RESS  3

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disziplinären Grenzen hinter sich lassen. Die Debatte um den »Iconic Turn«14, wie sie von Hartmann zusammengefasst wird, kann nur einer von vielen Aufbrüchen sein und zeigt, wie schwierig – und unausgereift – das bildliche Denken in Wirklichkeit ist. Die tiefen Eingriffe der globalen Echtzeitmedien in unseren Alltag werden weitergehen. Der Technologie-Boom scheint trotz aller Pleiten kein Ende zu nehmen. Überall besetzen Medien die Räume der Imagination und der Realität, wie Big Brother und vergleichbare Reality-TV-Formate zeigen. Infotainment verkörpert sowohl Züge des Kriegs wie des Spiels und trägt so zu dem bei, was Paul Virilio die »Militarisierung der Zivilgesellschaft« genannt hat. In dieser fließenden, flüchtigen Welt sehnen sich Menschen nach Ethik und Werten und träumen sich zurück in die Zukunftsphantasie einer Gesellschaft, in der das Individuum wieder seinen festen Platz hat. Philosophie kann auch eine dieser Pseudoreligionen sein. In seinem Buch Infinite Thought fordert Alain Badiou eine Rückkehr der Philosophie. Er hat es satt, dass die Philosophie einer »Multiplizität der Sprachspiele« unterworfen ist, und behauptet, dass Sprache nicht der absolute Horizont des Denkens sei. Er ruft nach der Rückkehr eines unbedingten Prinzips. Wie könnte man das in medienphilosophische Begriffe übersetzen? Oder sollten wir Badious Forderungen erst gar kein Gehör schenken, da er auf die Mediensphäre herabblickt – wie man das von einem Philosophen der 68er Generation auch erwarten würde? Badiou zufolge »ist die Welt dem zutiefst unlogischen Regime der Kommunikation unterworfen«, das »ein Universum überträgt, das aus zusammenhanglosen Bildern, Bemerkungen und Stellungnahmen besteht«. Dies ist das Dilemma, mit dem die Medienphilosophie konfrontiert ist. Soll sie zu etwas Stabilem zurückkehren oder den Sprung in das Ungewisse wagen und riskieren, alle Verbindungen zum institutionalisierten Wissen zu verlieren? Nietzsche hätte sich sicherlich für letzteres entschieden. Aber dann ist Nietzsche selbst eingefangen, eingerahmt und institutionalisiert worden wie kaum ein anderer Philosoph. In der Medienphilosophie dreht sich überraschend viel um institutionelle Regelungen. Sollte sich eine alte Disziplin gegenüber zeitgenössischen Themen öffnen und sie dabei nicht nur als Studienobjekte ins Auge fassen, sondern als durchweg integrierten Wissenszweig in einem breiteren Feld vereinnahmen? Erst wenn Medienphilosophie fein säuberlich definiert und ihre Daseinsberechtigung somit autorisiert und legitimiert worden ist, erst dann werden auch Personen dieses Feld betreten. Vorher muss die zentrale Idee mit hermeneutischen Spekulationen beladen und gleichzeitig vor Angriffen von benachbarten Stämmen geschützt werden, die auf die lange Geschichte der Philosophie neidisch sind. Philosophen können erst anfangen zu denken, wenn sie eine klar 14. w)CONIC 4URNi IST EIN +ONZEPT DAS ERSTMALS VON 'OTTFRIED "OEHM IM *AHRE  ERWËHNT WURDE UND SICH AUF DIE KULTURELLE 4RANSFORMATION WEG VON DER 0RINT UND HIN ZUR VISUELLEN +ULTUR BEZIEHT !NDERE !UTOREN DIE MAN MIT DEN VOR ALLEM IN $EUTSCHLAND BETRIEBENEN k"ILDWISSENSCHAFTENj VERBINDET SIND (ORST "REDEKAMP 6ILEM&LUSSERUND7*4-ITCHELL DESSENk0ICTORIAL4URNjVONEINEINmUSSREICHER 4EXTIST3IEHEAUCHWWWICONIC TURNDE

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umrissene Disziplin haben, die hübsch in die akademischen Strukturen samt ihrer institutionellen Gefüge passt. Hier wird wenig über den Tellerrand geschaut. Darüber nachzudenken, dass ein medienphilosophischer Ansatz sinnvoll sein könnte, erscheint fast wie eine subversive Handlung. Frank Hartmann sagt dazu: »Worin bestehen die Anreize für jemanden, der in einer gesicherten Position ist, nach neuen Themen Ausschau zu halten? Warum sich die Mühe machen, nachdem man auf dem steinigen Pfad zur Professorenwürde von einem großenteils korrupten feudalistischen System der Begünstigung schon so sehr assimiliert worden ist? Wie anders soll man sich fühlen als erschöpft und demoralisiert?« Benötigt wird eine Form der Philosophie, die offen ist für den Dialog. Frank Hartmann: w%UROPËISCHE 0HILOSOPHEN WERDEN DAZU AUSGEBILDET 4EXTE ZU PRODUZIEREN DIE SICH WIEDERUMAUFANDERE4EXTEBEZIEHEN$IEKLASSISCHE(ALTUNGBESTEHTDARIN EINE4HESE DIEMANINSEINER3CHRIFTFORMULIERTHAT ZUkVERTEIDIGENj UNDALLEDIESERENTGEGENSTE HENDEN!RGUMENTEZUkZERSTÚRENj%INEN$IALOGGIBTESNICHT AUCHKEINENLEBENDIGEN 'EDANKENnSELBSTIN7ORKSHOPSMACHENDIE,EUTENICHTSANDERES ALSSICHIHREBEREITS FERTIGGESTELLTEN4EXTEGEGENSEITIGVORZULESEN$ERAUFDIESEM7EGEERZEUGTE$ISKURS ISTLEDIGLICHFàRDIEBETEILIGTEN0HILOSOPHENSELBSTVON)NTERESSEi

Hartmann sieht den ersten wahren Medienphilosophen in Marshall McLuhan. »McLuhan hat darauf hingewiesen, dass das Schreiben von Texten nur eine Spielart der Verarbeitung von Gedanken ist und dass die Kultur der Neuen Medien weit über diese singuläre Form und selbst über das Medium der Sprache hinausweist. All das sind freilich Dinge, die ein deutscher Philosoph nicht hören will.« Dem Ansatz der Mediologie folgend, zieht Hartmann der metaphysischen Wolke ein materialistisches Modell vor: »Mediologie bedeutet, konkrete Forschungsfragen zu formulieren, die in der Tat die Nadel sein könnten, die diese Blase namens Medienphilosophie zum Platzen bringt. Anstelle einer präzisen Definition des Begriffs Medium stelle ich mir eine rohe Mischung aus soziologischen, philosophischen und semiotischen Fragen vor, die mit den realen Herausforderungen und Problemen unserer technologisch avancierten Kultur zu tun haben.« Im zwanzigsten Jahrhundert wurde Technologie, einschließlich des Medienbereiches, vorwiegend als etwas Äußerliches und Fremdes gesehen. Wer »Philosophie« sagt, denkt unwillkürlich an verstaubten Kulturpessimismus und das Gejammer der Apokalyptiker. Immer wieder stößt man auf Vorbehalte, konservative Pauschalurteile, ohne jeden Bezug zur Praxis. Die Philosophie scheint in einer Art Konzeptgefängnis eingesperrt zu sein und kommt bestens ohne das eigentliche Objekt ihrer Betrachtungen aus. Neugier oder Fragen gibt es kaum. Für die Berliner Professorin Sybille Krämer ist der ›Linguistic Turn‹ allerdings längst zur Sackgasse geworden. Sie schreibt mir: »Die Idee der Medialität philosophisch radikal zu denken, führt unweigerlich dazu, das Apriori, die ›Unhintergehbarkeit‹ und letztbegründende Macht der Sprache in Frage zu stellen.« Das ewige Flirten mit dem Bilderverbot solle ein Ende nehmen, will die

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Philosophie nicht völlig herabsinken auf das Niveau esoterischer Lebenshilfe. Manch ein Akademiemitglied aber denkt, dass die Medienfrage sich von selbst erledigt, wenn die natürliche Ordnung der Schrift, samt ihrer Klassiker, erst wiederhergestellt ist. Es gibt jedoch auch Positives zu berichten. Im deutschen Sprachraum hat sich seit den achtziger Jahren eine rege, weltweit einmalige Medientheorieproduktion entwickelt. Häufig sind diese Studien archäologischer und begrifflicher Natur und versuchen, den Computer und die Bildmedien jenseits ihrer reinen Chronologie historisch einzuordnen. Dieses wertvolle Unterfangen bleibt aber eine zweischneidige Sache. Es ist mittlerweile vielen klar, dass die Neuen Medien nicht erst seit vorgestern da sind und es politisch und kulturell sinnvoll ist, sie aus dieser Vorgeschichte heraus zu verstehen. Der Drang, die Dinge zu ordnen, kann aber auch als Drang gesehen werden, Grenzlinien abzustecken und eine rückwirkende Herrschaft zu erlangen, nachdem die Kontrolle über die mediale Praxis der intellektuellen Klasse längst entglitten ist. Diese Domestizierung der Computer-Kultur dient dann nur dem höheren Zweck, die alten, hierarchischen akademischen Strukturen aufrechtzuerhalten. Dennoch lassen sich viele dieser Theorien leicht umbauen und als konzeptionelle Brennstäbe für die digitale Einbildungskraft nutzen. Mike Sandbothe meint dazu: »Neue Konzepte wie die Mediologie, die Medienökologie oder die Medienphilosophie entwickeln intellektuelle Werkzeuge, mit deren Hilfe sich die aktuellen Digitalisierungs- und Globalisierungsprozesse nicht nur passiv analysieren, sondern auch aktiv mitgestalten lassen.« Motor dieser Debatte ist die stetig steigende Nachfrage, neue Studiengänge einzuführen und zu etablieren, die sich explizit mit Neuen Medien befassen. Es werden neue Lehrbücher herausgebracht und Lehrstellen ausgeschrieben. Frank Hartmann: w%SGEHTNICHTMEHRDARUM OBESNEUE$ISZIPLINENGEBENSOLL SONDERNWIEMANSIE TATSËCHLICHAUSGESTALTET$IEPHILOSOPHISCHE4RADITIONBIETETVIELWERTVOLLES-ATERIAL ABER!NTWORTENAUF&RAGENZUUNSERERAKTUELLEN,AGE DIEJAGËNZLICHNEUUNDANDERS GESTELLTWERDENMàSSEN ERHALTENWIRNICHTUNBEDINGT$OCHDAS0ROBLEMDER-EDIEN THEORIEISTNICHTNUREINTHEORETISCHESODERMETHODISCHES ESSTEHENAUCHINSTITUTIO NELLE2EPUTATIONUNDAKADEMISCHE+ARRIERENAUFDEM3PIELi

Was untersuchen Medienphilosophen genau? Frank Hartmann: w%SGIBT0ROBLEMEMITUNSERER!UFFASSUNGVON7ISSEN MIT3EMANTIKUND)NFORMATI ON MITkINTELLIGENTENj-ASCHINENDER)NFORMATIONSVERARBEITUNG"EIDER"EHANDLUNG DIESERNEUEN&RAGENBElNDENWIRUNSEHERIM"EREICHVON4EILNAHMEUND)NTERVENTION ALSINDEMVON)NTERPRETATIONUND(ERMENEUTIK-ANMUSSMITANDEREN&ËCHERNZU SAMMENARBEITEN WIEMITDERSOZIOLOGISCHEN4ECHNIKFOLGENABSCHËTZUNG ODERSICHIN EINEM)NFORMATIK ,ABORUMSEHEN DEN0ROGRAMMIERERNZUHÚRENODERANEINER$ISKUS SIONàBERDIE7IRKUNGENVON/PEN3OURCEINUNSERER+ULTURTEILNEHMENnALLESZEITGE NÚSSISCHE"ELANGE DIEFàRDAS WASDA-EDIENPHILOSOPHIEGENANNTWIRD WESENTLICH SEINSOLLTEN$ERITALIENISCHE IN/XFORDLEHRENDE0HILOSOPH,UCIANO&LORIDI DERGENAU

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DASVORSCHLËGT MEINT MANSOLLEAUFHÚREN IMMERWEITER!KADEMIKERZUKLONEN UND ENDLICHBEGINNEN DIESCHONVON0LATOGEFORDERTEN"àRGERUNSERER'ESELLSCHAFTAUSZU BILDEN MITALLDEN+OMPETENZEN DIEEINEREmEXIVE-EDIENKULTURVERLANGTi

Überraschenderweise haben etliche Medientheoretiker es laut Hartmann noch nicht einmal zu eigener Web-Präsenz gebracht, geschweige denn zu neuen Publikationsformen wie Blogs und Wikis. Eine spezifische Internet-Kompetenz etwa, die über das Rezipieren von Web-Content hinausginge, ist nicht erkennbar. Dazu kommt auch noch eine sklavische Haltung gegenüber den Verlagen in der Copyright-Frage. Wolfgang Ernst ist der neue Humboldt-Professor für Medienwissenschaft. Er plädiert für eine Konvergenz mit ganz anderen Praktiken jenseits der Philosophie, von der Ingenieurswissenschaft über die Kunst bis hin zur Quantenphysik. Die Realität der Medien verlange eine eigenständige disziplinäre Matrix, sagt Ernst. »Während Philosophen die Medien etwa bewusst von der phänomenologischen Seite aus analysieren, unterziehen sich Medienwissenschaftler z.B. den Mühen, mathematische Operationen des Programmierens durchzuführen oder die elektrotechnischen Details von Chip-Architekturen zu analysieren (denn das ist die Ebene, auf der Medien als epistemische Dinge zuerst existieren).« In der Verbindung von akademischer Reflexion und technologischer Kompetenz sieht Ernst »die kritische Chance der Medientheorie, sich in hoher Klarheit gegenüber einem inflationären, außer Rand und Band geratenen Medienbegriff zu profilieren. Dabei ist die konkrete Archäologie der Medien der Lackmustest für alle Medientheorie – während Medienphilosophie in dieser Hinsicht gelegentlich nachlässig, ja unscharf ist.« Uns mit Technologie auseinanderzusetzen ist die eine Sache, die wir letztlich alle machen müssen. Einen Computer zu benutzen ist so gesehen nicht anders als Autofahren. Nützlich und unvermeidbar, Lernen und Anwenden fallen zusammen. Es bildet sich im vernetzten Wissensgebiet aber auch ein anderes Verhältnis zum Text heraus, das die Vorherrschaft der textbasierten Wissenschaft in Frage stellt. Wolfgang Ernst schreibt: »Ich stimme Frank Hartmann zu, der im Interview hervorhebt, dass auch visuelles Design, DJ-ing oder Programmieren als eine Form philosophischer Reflexion zu betrachten sind. Digitale Medien selbst sind potenziell theoriefähig – auch in dem Sinne, dass sie ohne Theorie (rein als Maschinen) nie zustandegekommen wären.« Marie-Luise Angerer, Professorin an der Kölner Kunsthochschule für Medien, bemerkt, dass es in der deutschsprachigen Mediendiskussion primär um die Meister-Definition von Medium geht. Angerer: w%SGEHTWENIGERDARUM WASDAS-EDIUMMACHT WIEESSICHINSZENIERT ALSVIELMEHR IMMERWIEDERDARUM7ERISTDEIN-EISTER)CHlNDEDASEINESEHRMËNNLICHE!TTITà DE VOM %NDE DER -EISTERERZËHLUNGEN ZU REDEN ABER IMMER GLEICH MIT EINER NEUEN DAHERZUKOMMEN!U”ERDEMDECKTDERUNIVERSITËRE-EDIENDISKURSIN$EUTSCHLANDUND ¾STERREICHàBERHAUPTNICHTAB WASSONSTIN%UROPAPASSIERT7ASSICHIN)TALIENUND &RANKREICHTUT WASIN%NGLAND IN3LOWENIENUSW SINDWIEDERANDERE$INGE DIEAUCH IN(ARTMANNS"LICKNICHTVORKOMMEN$ARàBERHINAUSWËREESVIELWERT NICHTNURDEN

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UNIVERSITËREN -EDIENDISKURS ANZUSCHAUEN SONDERN -EDIENLABORS +UNSTHOCHSCHULEN UNDANDEREHIERMITEINZUBEZIEHENi

In diesem Sinne kann der gesamte Medientheoriebetrieb noch als prä-feministisch und prä-1989 bezeichnet werden und hat seine post-koloniale Periode offenbar noch vor sich. Es ist aber die Frage, ob mehr praxisorientierte Diskurse grundsätzlich in der Lage wären, Machtkonstellationen im Geschlechterbereich oder auf geographischer Ebene zu verändern. Man stelle sich vor, es gäbe netzkompetente Philosophen, die an oberster Position der europäischen A-List-Blogger stehen. Warum klingt das so unwahrscheinlich, ja lächerlich? Viele betonen, dass Medien nicht die Lösung aller Probleme seien. Sybille Krämer: »Medien sollten nicht die ›Leerstelle‹ besetzen, welche die Erosion des neuzeitlichen Subjektbegriffes hinterlassen hat. Die Herausforderung der Medienphilosophie besteht also darin, die grundlegende Rolle der Medialität aufzuzeigen, ohne dabei einen Medienapriorismus und Medienfundamentalismus zu etablieren.« Laut Wolfgang Ernst soll auf keinen Fall Synergie angestrebt werden: »Wenn Medien zum Gegenstand des Fachs Philosophie werden, ist dies nützlich, solange die Begriffe Medien und Philosophie nicht hybrid konvergieren, sondern in ihrer gegenseitigen Beobachterdifferenz produktiv bleiben.« Medienphilosophie sollte weder aufmunternde Zukunftsforschung noch dunkle Folgenabschätzung liefern, sondern lieber vorzeitige Blaupausen. Medien brauchen keine monopolistischen Standards, sondern endlose Variationen: eben Techno-Differenz. Eine leidenschaftliche Medienphilosophie eröffnet Möglichkeitsräume – aber erst nach der Umwertung aller Vorlesungsverzeichnisse. Das führt zu der Schlussfolgerung, dass das Studium der Medien und Netzwerke keine existierenden Disziplinen bedrohen sollte. Aber genau das ist der Fall, und deshalb verursacht es soviel Unruhe und verbreitet Angst in deutschsprachigen Ländern. Die Strategie der Mainstream-Institutionen besteht im Eindämmen und Verleugnen: frei nach dem Motto, dass der Sturm sich legen könnte, wenn man sich nur lange genug versteckt. Warum sollten sich Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik mit zeitgenössischen Themen überhaupt auseinandersetzen? Wollen sie doch lieber in ihrem vom Geruch des 18. Jahrhunderts umwehten Nest in Ruhe gelassen werden. Erstaunlicherweise sind die Fördertöpfe für diese Art von Rückzug in die Vergangenheit besonders gut gefüllt. In einem derart konservativen Klima haben Konzepte wie das der Medienphilosophie etwas ungeheuer Erfrischendes an sich. Die Frage sollte nun sein, wie man den unterschiedlichen Wert bemisst zwischen der provinziellen Nostalgie des historischen Ansatzes und dem konzeptuellen Reichtum des vorzeitigen Denkens.

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Bloggen und Bauen : Die Niederlande nach der Digitalisierung Gewidmet Bob dem Baumeister und dem Spiel Design a House with Mr. Bentley (mit Dank an Kasimir).

Dieses Kapitel entstand ursprünglich im Auftrag des Amsterdamer Architekturbüros Citythoughts. Eine frühere Version erschien in der Publikation Suburban Scenarios und wurde am 24. Februar 2006 bei einer Veranstaltung im Club 11, im ehemaligen Postamt neben dem Amsterdamer Hauptbahnhof, präsentiert. Bastiaan Gribling hatte eine Reihe von Nicht-Architekten eingeladen (Autoren, Künstler, Kritiker), um darüber zu diskutieren, was es bedeutet, wenn die niederländische »Randstad«, die Großstadtregion zwischen Amsterdam, Utrecht, Rotterdam und Den Haag, sich in den kommenden zehn Jahren weiter verdichtet und in ein großes, zersiedeltes und übervölkertes Stadtgebiet verwandelt. Was die dicht bevölkerten Niederlande charakterisiert, ist nicht das Modell einer Megastadt, sondern eine Ansammlung kleinerer und mittelgroßer Städte, die dicht beieinanderliegen. Dieses urbane Archipel ist durch ein gigantisches Netzwerk von Wasserwegen, Zugverbindungen, Schnellstraßen, den Rotterdamer Hafen, den Flughafen Schiphol und nicht zuletzt eine Telekommunikationsinfrastruktur verbunden. Der verbliebene, in den meisten Fällen von Menschenhand gemachte Leerraum wird Groene Hart (das Grüne Herz) genannt und geht als ›Kulturlandschaft‹ auf das Mittelalter zurück. Bislang hat sich ein Großteil der urbanistischen Bestrebungen darauf gerichtet, zwischen dem sich ausbreitenden Vorstadtgebiet (Häuser, Büros und Industrieparks) und dem Patchwork sattgrüner und sumpfiger Wiesen eine klare Trennung vorzu1.   Das »Bob the Builder« (Bob der Baumeister)-Spiel Design a House with Mr. Bentley: www.bobthebuilder.com/uk/bentley.html 2.   Andere Autoren und Sprecher bei dieser Minikonferenz waren der NAI-Direktor Aaron Betsky, der Landschaftsarchitekt Wouter Reh, der Kunsthistoriker Jeroen Boomgaard, der Autor Dirk van Weelden, der belgische Fotografietheoretiker Steven Jacobs und der Künstler Hans van Houwelingen. Eine kürzere Version dieses Essays habe ich ursprünglich auf Niederländisch verfasst. Mein Dank gilt Bastiaan Gribling, Steffen Lehmann, Rob Annable, Wim Nijenhuis, Lars Spuybroek, Marisa Yiu und Jennifer W. Leung für ihre kritischen Kommentare und Erwiderungen.

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nehmen. Aber es scheint, als ob die fortschreitende Urbanisierung nicht mehr im Zaum gehalten werden kann. Zudem ist absehbar, dass diese ländliche Region einen fatalen Einbruch erleiden wird, wenn die Europäische Union ihre Agrarsubventionen reduziert. Wer wird die Agrarlandschaft noch verwalten, wenn die ganzen kleinen Bauernhöfe in naher Zukunft verschwinden? 3 Bastiaan Gribling bat uns, auf die Frage einzugehen, was der »tatsächliche Prozess der Formierung von Metropolen für zeitgenössische kulturelle Entwicklungen bedeutet. Welche Rolle spielen Kunst und Kultur bei der Entstehung von metropolitanen Gegenden in den Niederlanden?« Es lag auf der Hand, dass ich dazu etwas aus der Internet-Perspektive beitragen könnte. Dabei interessierte mich eher die Frage, wie Architektur vernetzt ist, und weniger, wie Netzwerke zu Architektur werden. Zufälligerweise waren die Niederlande in jener Zeit gerade zu dem Land mit der weltweit höchsten ADSL-Breitbandnutzung geworden. Was ich zur Diskussion stellen will ist, dass das Internet bei der Planung des allgemeinen nationalen Charakters im niederländischen Wohnungsbau zwar schon angemessen berücksichtigt und eingesetzt wird, die niederländischen Architekten und Stadtentwickler es gleichzeitig aber noch lange nicht entsprechend wahrnehmen und nutzen. Statt Computernetzwerke als hoch entwickeltes Medium und interaktive Umgebung zu begreifen – als einen Ort, in dem wir uns bereits seit einiger Zeit eingerichtet haben – betrachten sie sie weiterhin als bloße technische und Kommunikationswerkzeuge. Doch es genügt nicht, die Rolle des Internets auf seine Funktion als ein Eingabegerät innerhalb einer Planungsmaschinerie zu reduzieren. Das Internet hat die Logik dieser Maschinen selbst verändert. Mein Ausgangspunkt ist, dass mit der Verbindung von Computern, Software und Faseroptik-Netzwerken eine radikale Demokratisierung architektonischer Werkzeuge möglich geworden ist. Diese These stelle ich als bewusster Dilettant auf, wohl wissend, dass eine solche Intervention in der Disziplin der Architektur nicht sehr willkommen ist. Die wachsende Rolle, die das Internet im niederländischen Alltag spielt, scheint an den Stadtplanern und Architekturtheoretikern weitgehend vorbeigegangen zu sein. In diesem futuristischen Szenario gehen wir von einer fortschreitenden Ausmusterung planerischer Werkzeuge aus, mitsamt der dazugehörigen Rituale einer Experten-Zunft, deren Einbeziehung nicht mehr nötig sein wird. AutoCAD4all oder Sketchup werden das E-Governance-Mem schließlich ersetzen, insbesondere nachdem Google Sketchup zu einer freien Software gemacht hat. Gleichzeitig basiert »Blog-Building« 4 nicht auf der Idee der künstlichen Knappheit, die die niederländische 3. 2OB!NNABLEHATAUFEINENËHNLICHEN0LANIN'RO”BRITANNIENHINGEWIESEN DER IN.ORD %NGLANDAUS,IVERPOOLUND-ANCHESTEREINURBANES'EWËCHSMACHENSOLL DAS VONDER/STKàSTEBISNACH(ULLREICHT3IEHEDAZU7ILL!LSOPS3UPERCITYHTTPNEWS BBCCOUKLHIENGLANDSTM 4. 'UTMÚGLICH DASS"LOGSBALDOUTSINDUNDVONDERNËCHSTEN7ELLEVON7EB !NWENDUNGENàBERROLLTWERDEN ABERDASISTINDIESEM:USAMMENHANGNICHTENTSCHEI DEND)CHBENUTZE"LOGSALSEIN"EISPIEL UMAUFEINENMASSIVEN!NSTIEGDER)NTERNET NUTZUNGHINZUWEISEN

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Elite seit Jahrhunderten ihren Bürgern aufgezwungen hat. Im Internet-Zeitalter beanspruchen Do-it-Yourself-Bauherren das Recht auf ein Minimum von 1000 Quadratmetern. Das Märchen, es gebe nicht mehr genug erschwingliches Bauland, ist längst unglaubwürdig geworden.5 Die typischen Vorstädte des 21. Jahrhunderts werden die letzten Projekte sein, die sich um die Individualisierung der Gesellschaft drehen, wie sich das etwa in Innenräumen zeigt, die von seriell produzierter Subjektivität dominiert werden.6 Aber letzten Endes werden wir bereit sein, die im 19. Jahrhundert geprägte Idee des Reihenhauses und der geschlossenen städtischen Blöcke hinter uns zu lassen. Sollte das in den Niederlanden nicht gestattet werden, werden wir uns woanders umschauen. Wenn wir die Beziehung zwischen Stadtentwicklung und Computernetzwerken erkennen, dann bemerken wir auch, welche neuen Herausforderungen und Möglichkeiten damit auftauchen. Dennoch werden Internet und Mobiltelefon in den Debatten zu Raum- und Umweltplanung weitestgehend ignoriert. Für die großen Parteien bleiben Computer weiterhin lediglich ein Simulationsspiel, eine Kombination aus Zeichen- und Rechenmaschine, und Computerarbeit wird immer noch regelmäßig an Assistenten delegiert. Die Mentalität dieser ›Übergangsgeneration‹ (mit einem Fuß in der alten, mit dem anderen in der neuen Welt) ist der eigentliche Gegenstand dieses Kapitels. Der globale Architektur- und Stadtentwicklungsmarkt wird gegenwärtig noch immer von der Baby-Boomer-Generation dominiert. Zeitlich gesehen kamen sie zwar in den Geburtsstunden des Computerzeitalters zur Welt, haben es aber dennoch irgendwie geschafft, ihre kritische und skeptische Distanz zu bewahren. Und auf der intellektuellen Ebene blieben Computer und ihre Netzwerke im Hintergrund, als bloße Werkzeuge, die keine eigene Stimme haben. Der Marxismus wie auch die poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Bewegungen haben die Digitalisierung der Gesellschaft – inklusive ihrer eigenen Disziplinen – nie wirklich willkommen geheißen. Wir müssen uns hierzu eigentlich nur die Fälle von Heidegger und Virillio anschauen. Der Modernismus à la Bauhaus hatte das Potenzial, deutliche Zeichen zu setzen, verlor aber schon vor geraumer Zeit seine Glaubwürdigkeit. Die Ankunft von Koolhaas kam auf jeden Fall zu spät, und der Einfluss von Leuten wie Spuybroek, Oosterhuis und Lynn, um nur einige zu nennen, ist gering gelieben, obwohl es in letzter Zeit Hinweise darauf gibt, dass sich das ändern könnte. Virtuelle Architektur wird allzu oft – ob berechtigt oder nicht – als irrelevanter Verkaufstrick oder Marketingmasche abgetan. Aus einer anderen Perspektive betrachtet könnten 5. %SISTINTERESSANT WIE2OB!NNABLEVORSCHLËGT DIESER4HESEDEN&ALLVON3E COND,IFEWWWSECONDLIFECOM GEGENàBERZUSTELLEN WOWIREINEBEWUSSTE7IEDEREIN FàHRUNGVON+NAPPHEITERLEBEN)NNERHALBGRO”ERUNDàBERBEVÚLKERTERVIRTUELLER5M GEBUNGENKREIEREN3PIELENTWICKLEREINE$YNAMIK INDERDIE¾KONOMIEDESWIRKLICHEN ,EBENS BEISPIELSWEISEBEI)MMOBILIENPREISEN DUPLIZIERTWIRD 6. %IN WAHLLOSES "EISPIEL DAFàR WËREN DIE JAPANISCHEN 4OYOTA (ËUSER DIE AUF DEMwSKELETONINlLLi !NSATZBASIERENWWWTOYOTACOJPENMORE?THAN?CARSHOUSING INDEXHTML

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wir auch sagen, dass die Architektur als Diskurs keinen nennenswerten Einfluss auf die Theorie der Neuen Medien ausgeübt hat. Der Grund dafür ist recht einfach: In Architekturkreisen wird der Computer immer noch als Black Box angesehen statt – wie McLuhan vorschlug – als eine Umgebung mit eigenen Eigenschaften. Bereichen wie Ästhetik und Design wird in den Niederlanden zwar viel Aufmerksamkeit geschenkt, doch die pragmatischen Aspekte bleiben auf die Frage der Form beschränkt. Es ist die althergebrachte Überzeugung, dass Computer, so mächtig sie als Werkzeug auch sein mögen, keine Entwicklung darstellen, die einer größeren kritischen Reflexion bedürfte. Der Vorstellung, dass das Internet nicht viel mehr als ein Werkzeug ist, steht die Vision vom Internet als »Intensivierungsmaschine« gegenüber. Das Internet verstärkt die Beschleunigung sozialer Prozesse, die wir um uns herum beobachten, und dieser Prozessbeschleuniger macht keinen Unterschied zwischen der Bildung urbaner Areale und dem Erhalt der niederländischen Landschaft. Das Internet unterstützt das hektische Stadtleben genauso wie den trägen Lebensstil eines Telekommunikationsangestellten, der in der visuell korrekteren bukolischen Provinz lebt. Untersuchungen der Soziologin Saskia Sassen zeigen, dass die Überfüllung der Informationsnetzwerke nicht zum Niedergang der Innenstädte geführt hat. Stattdessen hat sie eher das Gegenteil bewirkt.7 Andererseits wissen alle, dass Telearbeit, ob vom Vorort oder von einem anderen Land aus, zunimmt und einer großen Zukunft entgegensieht. Wenn die Möglichkeit, Telekonferenzen durchzuführen, erst einmal allgemein verfügbar und eine echte Alternative zum realen Besuch von Konferenzen und Sitzungen sein wird, wird auch die Notwendigkeit von Telearbeit weiter erhöht.8 Insofern ist die hier angebotene Wahl zwischen urbaner Metropole und geschützter Landschaft vielleicht eine irreführende und falsche Dichotomie. Rem Koolhaas hat jahrelang im Zentrum dieser Debatte gestanden. 2002 richtete die junge Architektin Lorne Haycock eine Internetseite zur Thematik von »digital architecture and urbanism« ein. In einem Essay dazu hält Haycock Koolhaas vor, lediglich Diagnosen, aber keine Lösungsansätze zu liefern. Sie schreibt: »Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation wird von Koolhaas als zerfahren, hochgradig dynamisch und als eine generell beschleunigte Lebensweise beschrieben. Koolhaas greift dieses frenetische Moment auf und glorifiziert es mit seiner Architektur sogar.« Haycock zufolge hat sich Koolhaas »schuldig gemacht, geradezu eine technologische Metapher für die Gegenwart zu schaffen, anstatt Lösungen für sie anzubieten. Womit er eher eine symbolische Geste seiner Zeit liefert als ein wirkliches Verständnis ihrer neuen technologischen Potenziale.«9 In dieser Analyse erscheinen Neue Medien lediglich als Werkzeuge einer unkritischen Strategie, die auf eine weitere Glorifizierung des Kapitalismus hinausläuft. Dies ist eine althergebrachte Kritik am Computer, 7. 3IEHEDAZU3ASKIA3ASSEN 5IF(MPCBM$JUZ .EW9ORK ,ONDON 4OKYO0RINCETON 0RINCETON5NIVERSITY0RESS  8. 3IEHE DAZU DIE &ORSCHUNG DES !MSTERDAMER )NTERNET 3OZIOLOGEN !LBERT "EN SCHOPHTTPWWWFMGUVANLSOCIOSITETELEWERK 9. WWWHAYCOCKFSBUSINESSCOUKDISSHTM

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die von radikalen Aktivisten bereits in den frühen Neunzigern ad acta gelegt wurde. Haycock beschreibt den Einzug des Computers in die berufliche Praxis wie folgt: »Techniken der Computersimulation erlauben Architekten, Details von Bauelementen direkt an die Produktionsstätte zu mailen. Mit der Einführung der Computertechnologie in fast jeden Aspekt der Bauindustrie wurde das Verschwinden des Zeichenbretts besiegelt und der Architekt mit einem uniformen Werkzeug ausgestattet: dem Computer.« Was wir heute haben, ist ein »konkretes architektonisches Testfeld, auf dem wir als Architekten beliebig viele Experimente durchführen können, bis wir eine geeignete, wohlerprobte Lösung haben. Insofern Architektur versucht, die zeitgenössische Kultur zu synthetisieren, um sie zu verstehen, können wir unsere neuen sozialen, wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen nun – es bleibt uns auch gar nichts anderes übrig – in der relativen Sicherheit des ›virtuellen Raums‹ entschlüsseln.« Während in der zeitgenössischen Internettheorie der Austausch zwischen Netzwerk und Gesellschaft als das zentrale Merkmal betrachtet wird, hält Haycock dagegen den Aspekt des isolierten ›Sandkastens‹ für das wichtigste Charakteristikum des virtuellen Raums.10

2AUM DIELET ZTE'RENZE Einer der Gründe, weshalb Internet-Theorie und Architektur in einer solch schwierigen Beziehung zueinander stehen, liegt in den unterschiedlichen Interpretationen des Begriffes »virtual space«. Architekten, die AutoCAD, ArchiCAD, 3D Studio Max und andere Software benutzen, glauben, dass der Cyberspace tatsächlich existiert; sie sehen ihn täglich bei der Arbeit auf ihren Bildschirmen. Der Punkt ist, dass aus Internet-Perspektive betrachtet diese glitzernde 3D-Ansicht nichts weiter ist als ein toter Raum, der allein PR-Zwecken dient. Dieser Blickfang mag offline wirklich existieren, aber er ist nicht interaktiv und mit keinen anderen Dokumenten vernetzt. Die effektvollen Zeichnungen sind konzeptuelle Traumpaläste ohne Nutzer, oder, anders ausgedrückt, nette Bilder, um potenzielle Kunden zu beeindrucken, mehr nicht. 11 Die zwei Welten, die ich hier skizziere, ziehen wie zwei Plateaus aneinander vorbei. Als das Internet in den neunziger Jahren noch ganz neu war, gab es zahlreiche Konferenzen, auf 10. )CHVERMISCHEHIERGANZBEWUSSTDIEZWEIUNTERSCHIEDLICHEN"EDEUTUNGENDES "EGRIFFESkVIRTUELLj NICHTAUS.ACHLËSSIGKEIT SONDERNWEILICHDER-EINUNGBIN DASS MANDIE#YBERKULTURDER.EUNZIGERNURDANNWIRKLICHVERSTEHENKANN WENNMANDEN $ELEUZIANISCHEN"EDEUTUNGSZUSAMMENHANG DERDAS0OTENZIALBETONT MITDER,ESART DIESICHAUSDEN#OMPUTERWISSENSCHAFTENABLEITETUNDBEKANNTLICHINERSTER,INIEAUF DIE$ 5MGEBUNGREFERIERT VERBINDET 11. %INGUTES"EISPIELFàRDIEALTMODISCHE"ETRACHTUNGSWEISEDES)NTERNETSVON !RCHITEKTEN LËSST SICH AUF DER FOLGENDEN DEUTSCHEN 7EBSEITE lNDEN WWWINTERNET FUER ARCHITEKTENDE$IESE3EITEDECKT4HEMENABWIEw-ARKETINGMIT(ILFEDIGITALER -EDIENiODERBEHANDELT&RAGENWIEw7EBSEITEODER"ROSCHàREi

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denen Internet und Architektur die Möglichkeit hatten, miteinander zu kommunizieren (z.B. 1996 die Stadt am Netz-Konferenz in München und Luxemburg).12 Doch danach versiegte der Austausch zwischen den zwei Lagern. Jennifer W. Leung, eine Architektin aus New York, die früher bei Diller Scofido + Renfro arbeitete, berichtet über 3D-Software und die Vielfalt architektonischer Praktiken. »Die Perspektive ist vielleicht der meisttheoretisierte und -historisierte Simulationstrick der Architektur. Dennoch bedeutet Simulation mehr als die Vorschau einer statischen Form, eine visuelle Wirkung oder die Stadt aus dem Blickwinkel der Architektur und umgekehrt.« Für Leung ist Simulation nicht einfach nur ein Nachbau des cartesianischen Raums, sondern impliziert ein Performancemodell, das mit Plastizität, Ikonizität und Umfeld zu tun hat. Sie sagt: w&àRDIE!RCHITEKTURnIM'EGENSATZZU6IDEOSPIELENODER#')nIST3IMULATIONWENI GER EINE %RSATZREALITËT WENIGER DAS "AUDRILLARDISCHE (YPER 2EALE ALS VIELMEHR EIN ERZIEHERISCHES%XPERIMENT DASMITAKTUELLENERKENNTNISTHEORETISCHEN-ETAPHERN DIE UNTERSCHIEDLICH WÚRTLICH GENOMMEN WERDEN SPIELT 7IE DIE ,OGIKEN DER .ETZWERKE ZU.EUBESCHREIBUNGENVON)NFRASTRUKTUR 5RBANISMUS +ONSUMISMUS %NERGIE !KTIEN MARKT 7IRTSCHAFT UND ¾KOLOGIE GEFàHRT HABEN SO FORDERN DIE NEUEN "EDINGUNGEN AUCHDIE!RCHITEKTURZUEINERNEUEN3ELBSTBESCHREIBUNGHERAUSi

Leung hofft, dass solche Experimente »Architektur nicht in ein fetischisiertes Objekt analog zur Vermittlung durch den Computer verwandeln, aber das Metier bietet eine fast beliebige Anzahl von Anwendungsmöglichkeiten. Das eine Extrem bilden vielleicht Architekten, die dynamische Modelle von Schwärmen oder Herden simulieren oder durch solche Algorithmen Formen erzeugen. Am anderen Ende hat man Architekten, die unmittelbar im Rahmen von NetzwerkDynamiken operieren und sich in ein direktes Verhältnis zu Medien, Branding, Investitionen, Lobbyismus, Energiepolitik und Sozialfürsorge setzen.« 13 Der Melbourner Theoretiker Scott McQuire, der seit vielen Jahren zum Verhältnis von Stadt und (Neuen) Medien arbeitet, fügt eine historische Erklärung dieser Fixierung auf 3D-Bilder hinzu, die er aus einer interessanten Parallele zur Filmindustrie bezieht. Denn dort wurde die Computernutzung ebenfalls wesentlich stärker in Richtung High-Tech-Spezialeffekte gelenkt und weniger in neue Distributionsstrukturen. w$EN#OMPUTERALS7ERKZEUGDES.ETWORKINGIM"EREICHDER3TEUERUNGUND+OMMUNI KATIONZUBEGREIFEN WARSELBSTINDENSECHZIGER*AHRENàBLICHERALSESINDENACHTZIGER UNDNEUNZIGER*AHRENWAR ALSDIGITALE"ILDGESTALTUNGUND BEARBEITUNGZUNEHMEND KOMPLEXERUNDAUS!RCHITEKTURVISUELLE%XPERIMENTEWURDEN6ON9ONA&RIEDMANàBER #ONSTANTUND!RCHIGRAMBISHINZU,EUTENWIE.ICHOLAS.EGROPONTEVOM-)4-EDI ALAB DEM!UTORVON4PGU"SDIJUFDUVSF.BDIJOFT FàRDAS&RIEDMANDIE%INLEITUNG ZU EINEM +APITEL SCHRIEB n àBERALL WURDE DIE )DEE DES !RCHITEKTEN ALS GOTTGLEICHER 12. 3TEFAN)GLHAUT &LORIAN2OETZER !RMIN-EDOSCH(G 4UBEUBN/FU["OTJDI UFOWPO5FMFQPMJT -ANNHEIM"OLLMANN6ERLAG  13. *ENNIFER7,EUNG PRIVATE% -AIL +ORRESPONDENZ !UGUST

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3CHÚPFER DURCH DAS -ODELL DER k"ENUTZER +ONlGURATIONj ERSETZT 3CHON  FRAGTE 0ETER#OOKk)MPLIZIERTDIE-ÚGLICHKEITDES+ONSUMENTEN VORGEFERTIGTE7OHNELEMENTE SELBSTAUSZUWËHLEN DASSIN:UKUNFTJEDERSEINEIGENER!RCHITEKTWIRDji

McQuire fragt: w7IEKONNTENDIESE)DEENVERSCHWINDENUNDSICHEINSOLCHBEISPIELLOSES3TARARCHITEK TENTUMENTWICKELN DEMESNURANAALGLATTEM$EMO $ESIGNLIEGTiUNDVERSUCHT EINE !NTWORTZUGEBENw$AS&EHLENEINERKRITISCHEN!NALYSEDER4ECHNOLOGIEBEI#ONSTANT BEDEUTETE DASSSEINE5TOPIEVONANDEREN.UTZUNGSWEISENDER!UTOMATIONàBERHOLT WURDE WËHRENDBEI!RCHIGRAMUND.EGROPONTEDAS&EHLENEINER-ACHTANALYSEDARAUF HINAUSLIEF DASSIHRE(ALTUNGBEIM%INSATZVON#OMPUTERNUMSTANDSLOSALS+ONSUMVER SIONDERkFREIEN7AHLjVEREINNAHMTWURDEi

Lars Spuybroek schreibt in der Einleitung zu seinem Buch NOX: Machining Architecture (2004), dass er den Computer als ein »Steuerungsinstrument« begreift, das Richtung und Flexibilität gewährt: »Die Architektur der ständigen Variation ist keine Architektur der freien Form, sondern eine der Artikulation und Struktur.«15 Selbst ein großer Computerfan wie Spuybroek verteidigt den Beruf des Architekten gegen die Freiheiten, die der Computer in sich birgt. Er meint, Architektur solle sich von der Technologie nicht überrumpeln lassen. Sollte das endlose Generieren freier Formen durch Computer eingeschränkt werden? Spuybroek weist eine solche Frage zurück und betont, dass es freie Formen als solche gar nicht gibt. Eine derartige Idee scheint ihm in sich widersprüchlich, da Formen immer schon in eine Form gebracht sind und deshalb immer auch organisiert und niemals frei – ob es sich dabei um eine Wolke oder um ein Gebäude handelt, sei irrelevant. Spuybroek erklärt: w$IEARCHITEKTONISCHE&ORMISTAUFIHREGANZSPEZIlSCHE!RTUND7EISEORGANISIERTUND EBENFALLSNICHTFREI.ICHTJEDE&ORM DIEVONUNTENNACHOBENMITHILFEVON!LGORITH MENBERECHNETWERDENKANN ISTEINEARCHITEKTONISCHE&ORM$IEkFREIEj&ORMISTETWAS 4HERAPEUTISCHES FàR(OBBYBASTLER DIEANEINEM3AMSTAGNACHMITTAGZUVIEL:EITHA BEN ABERNICHTFàRDIE!RCHITEKTUR%SISTEINE&ORMOHNE)NFORMATION ODERWENNMAN SOWILL EINE&ORMMITNIEDRIGEM)1i

Für Spuybroek ist die Computer-Ära des Tagträumens zum Glück vorbei: »Entkörperlichte Träume einer Architektur, die frei im Cyberspace flottiert – das war gestern.« Die NOX-Agenda basiert auf einem neuen Grad an Disziplin: »Eine Architektur komplexer, topologischer Geometrie kann nur mit rigorosen Mitteln verfolgt werden, und obwohl ihre Theorie vor allem auf Vagheit beruht, ist ihre Praxis von obsessiver Präzision.« Hier eröffnet Spuybroek eine polemische 14. 3COTT-C1UIRE PRIVATE% -AIL +ORRESPONDENZ *ULI 15. ,ARS3PUYBROEK /09.BDIJOJOH"SDIJUFDUVSF,ONDON4HAMES(UDSON 

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Debatte, u.a. mit Marcos Novak, dessen Strategie darin besteht, bestimmte mathematische Formen zur Architektur zu erklären. Er sagt: »Es ist dasselbe, als würde man Affen mit Malwerkzeugen ausstatten und ihre Erzeugnisse als Malerei bezeichnen.« Für Spuybroek steht das in keiner Beziehung zur Frage des Amateurismus. Wie aber beurteilt er die ›lange Reihe der brillanten Amateure‹17, die mit ihrem wilden Klicken im virtuellen Raum Arbeiten hervorbringen, die die Grenzen verwischen und in den Architekturdiskurs nicht hineinpassen? Spuybroek zufolge hat ihre Arbeit für die Architektur keine Relevanz. »In der Vergangenheit haben wir gelegentlich darüber diskutiert, wie ›Architektur ohne Architekten‹ aussehen könnte. Doch wenn man Amateuren die entsprechende Software überlässt, kommen üblicherweise unglaublich schlechte Entwürfe heraus.« Für Spuybroek ist Architektur eine Disziplin mit einer langen professionellen Tradition, in der Leute Urteile fällen, die in diesem Feld schon ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben. »Hier gibt es keinen Platz für Amateure. Webdesigner mögen vielleicht Christopher Alexander (den Autor von The Nature of Order und A Pattern Language) konsultieren, wenn sie die Bedeutung von ›Fenstern‹ klären wollen, in der Architekturszene aber wird Alexanders Denken als Theorieschrott betrachtet.« In diesem Zusammenhang ist es praktisch unmöglich, De Digitale Stad (DDS – Die Digitale Stadt) in Amsterdam außer Acht zu lassen, eine frühe Internet-Initiative, die Marleen Stikker (De Balie) mit der Unterstützung einer Vielzahl von xs4all-Hackern realisierte. User bekamen eine freie E-Mail-Adresse und eine Website zur Verfügung gestellt. 1994 als Pilotprojekt lanciert, erwies sich das Projekt bald als enormer Erfolg, auf seinem Höhepunkt hatte es 50.000 User. Die Waag Society, in der Waag auf Amsterdams Nieuwmarkt untergebracht, ist eines der vielen Projekte, die sich aus der DDS entwickelt haben. Ich selbst war in der frühen Phase an dieser Initiative ebenfalls beteiligt und habe bis zum bitteren Ende immer wieder Artikel über sie geschrieben.18 Die Wahl einer Stadtmetapher war bewusst und drückte den damaligen Wunsch aus, im sehr technischen und jungenhaften westlichen Internet die kompakte Vielfalt des globalen Knotenpunkts Amsterdam widerzuspiegeln. Fünf Jahre lang lief die Digitale Stadt trotz finanzieller Probleme ziemlich gut. Aber schließlich wurde dieser bunten Ansammlung von virtuellen Gemeinschaften und individuellen Online-Projekten durch den lange überfälligen Angriff des Dotcom-Fiebers ein Ende gemacht. Einer ihrer vielen überraschenden Aspekte war die Art, wie sich lokale Informationen und Debatten mit der internationalen Nutzung ständig überschnitten. Mit dem Verschwinden der Digitalen Stadt endete auch die Diskussion zum Verhältnis von Urbanismus und Internet. Die heutigen lokalen Internet-Initiativen sind hingegen damit beschäftigt, ihre Viertel mit Wireless Networks auszustatten. Eine Website wie 17. 3IEHEDAZU#HRIS!NDERSONSw,ONG4AILi EINE4HEORIE DIEVERSUCHTZUERKLË REN WARUMDIEMEISTEN"LOGSNURVONEINEM$UTZEND&REUNDENUND&AMILIENMITGLIE DERNBESUCHTWERDENWWWWIREDCOMWIREDARCHIVETAILHTML 18. 3IEHE DAZU %BSL 'JCFS "ONN "UNDESZENTRALE FàR POLITISCHE "ILDUNG  3 UND2EINDER2USTEMAS$OKTORARBEITHTTPREINDERRUSTEMANLDDS

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www.amsterdam.nl wird ausschließlich von lokalen Akteuren betrieben. Dies zeichnet sich auch als internationaler Trend ab. Die meisten lokalen Internetsysteme, die in den neunziger Jahren entstanden, sind zusammengebrochen oder haben keine Bedeutung mehr. Zahlreiche Modelle, wie die »digital empty lots«, kamen und gingen, was mit dem neuen Hype der Creative Industries wieder passieren könnte. Diese kurzsichtigen Politiken unterstützen vielleicht einige Projekte, bringen aber keine langfristigen Initiativen hervor. Ein Trend jedoch, der sich durchgesetzt hat, ist das Schreiben in der eigenen Sprache. Die Angst, dass die niederländische Sprache verschwinden und jeder nur noch auf Englisch kommunizieren würde, hat sich verflüchtigt. Der Durchbruch der Blogs um 2004 hat zu einer wesentlich breiteren Verwendung der Muttersprache und damit einem mächtigen Aufstieg des niederländischen (bzw. des niederländischsprachigen) Internets geführt. 19

-EHR,IEDERàBER"AUENUND"LOGGEN Architektur und Stadtentwicklung verharren in einem diskursiven Raum des 20. Jahrhunderts, der durch ein geschlossenes Star-System mit strenger Zugangskontrolle geprägt ist. Das interne Mediensystem, in dem die wahren Meister (meistens Männer) auftreten, besteht aus Diskussionen, die sich zu einem großen Teil um Kostenfragen drehen, Präsentationen an Schulen und Institutionen, Ausstellungen samt Katalogen und, zu einem etwas geringeren Anteil, Magazinen, in denen Kritiker die Arbeit eines Architekten kommentieren. Es ist bemerkenswert, dass, seit sich das öffentliche Internet vor circa zehn oder fünfzehn Jahren etablierte, keine maßgebliche Liste, Newsgroup oder Website, kein Portal und kein Blog entstanden ist, wo der Zusammenhang von zeitgenössischer globaler Architektur und Stadtentwicklung regelmäßig diskutiert wird,20 und das, obwohl es reichlich Gesprächsstoff und auch Debatten gegeben hat. Dass diese Szene nicht in Gang kam, ist keine Folge lähmender Übereinstimmung, im Gegenteil. Es ist wirklich erstaunlich, dass sich diese reiche Tradition, gerade in den Niederlanden, so sehr von den verfügbaren neuen Kommunikationsmedien abgekoppelt hat und weiterhin eine distanzierte und konservative Position dazu einnimmt. ArchiNed, das niederländische Internetportal, stellt ein Musterbeispiel dieser Haltung dar. Dieses Informationsportal hat kaum mehr als einen journalistischen Anspruch. Eine langfristige intellektuelle (Online-)Debatte müsste notwendigerweise einen internationa19. 3IEHEDAZUDIEINNIEDERLËNDISCHER3PRACHEVERFASSTE$OKTORARBEITVON3JOERD VAN DER (ELM w"LOGGEN IS ZO  EEN ONDERZOEK NAAR DE .EDERLANDSE WEBLOGWE RELDi SCRIPTIE 5NIVERSITEIT VAN !MSTERDAM WWWNETWORKCULTURESORGWEBLOGARCHIVES BLOGGEN?IS?ZO?HTML 20. .ATàRLICH GIBT ES !USNAHMEN Z" DIE !RCHITEKTEN 7EBSITE WWWARCHINECT COM WELCHE SICH ZUM :IEL GESETZT HAT $ESIGNER AUS DER GANZEN 7ELT ZUSAMMENZU BRINGEN UMSICHàBERNEUE)DEENAUSALLEN$ISZIPLINENAUSZUTAUSCHEN(INWEISVON 3TEFFEN,EHMANN

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len Charakter annehmen und auf Englisch ausgetragen werden. Selbst das ehemals zweisprachige Magazin Archis (heute Volume), dessen Chefredakteur Ole Bouwman immerhin versuchte, mit den Internetentwicklungen Schritt zu halten, hat es nicht geschafft, ein dauerhaftes Diskussionsforum zu etablieren. Die Stärke des niederländischen Architekturdiskurses ist seine Fähigkeit zur Selbstreflexion – sie ist aber auch seine Schwäche. Je stärker die Disziplin, desto schwieriger wird es, nach außen zu schauen und auf einer transdisziplinären Ebene zu arbeiten. Während die Architektur in den Niederlanden die wichtigste intellektuelle Disziplin mit internationalem Charakter ist, hat sie kein vergleichbares Internet-Dasein erreicht. Das ist übrigens ein allgemeines Problem, das nicht allein die Niederlande betrifft – doch kann dieses Argument auch nicht als Entschuldigung gelten. Wie so häufig der Fall, zeigt uns Google den Suchbefehl-Trend. Wenn wir »Internet« und dann »Architektur« in die Suchmaschine eingeben, landen wir immer wieder bei »Netzwerk-Architektur«. Dies ist auch ein interessanter, wiewohl technischer Gegenstand, aber nicht jener, nach dem wir gesucht haben. Dem Architekturtheoretiker Wim Nijenhuis zufolge kam die große Wende für die Niederlande in den neunziger Jahren, als der Neo-Liberalismus die Herrschaft antrat und der Bausektor zu florieren begann.21 Einige Architekten, die mit ihren Konzepten weltberühmt geworden waren, konnten nun mit der Umsetzung ihrer Projekte auch sehr viel Geld verdienen. Nijenhuis zufolge sind die Positionen, die von Architekten verkündet werden, auf die Medien ausgerichtet und leiten sich nicht mehr von intellektuellen Debatten ab. Die Schlüsselkonzepte von heute scheinen Operationalität, Realisierung, Akquisition und Öffentlichkeitsarbeit zu sein. Von nun an muss Architektur innerhalb des Paradigmas der ›Aufmerksamkeitsökonomie‹ operieren. Ob es sich um theoretische Projekte oder tatsächliche Gestaltungsfragen handelt – ohne Medienresonanz gerät die Position eines jeden Architekten in Gefahr. Die Theorie dient dazu, ihre überlegene Position zu unterstützen. Relevante Themen wie das Internet oder breitere gesellschaftliche Veränderungen sind dagegen an den Rand geraten. Eine kritische Kultur, wie es sie in den siebziger und achtziger Jahren gab, findet keine Unterstützung mehr. Die Frage, wie sich Architektur zur Medientheorie verhalten sollte, wird als zu komplex angesehen, nicht zuletzt weil sie für Kunden und für Kommissionen, die Gestaltungsentscheidungen zu treffen haben, als unerheblich angesehen wird. Man möchte meinen, dass in einem Land, in dem die Architekturdisziplin nicht nur eine so lange Tradition, sondern auch einen hegemonialen Status innerhalb ihrer eigenen Kultur als die dominante globale Praxis der Niederlande errungen hat, kritische Theorie als eine entscheidende Komponente des gegenwärtigen Erfolgs angesehen wird. Das aber ist nicht der Fall. Architekturtheoretiker gehören in den Niederlanden einer gefährdeten Spezies an. Wenn eine Publikation den anekdotischen Rahmen einer Anthologie überschreitet, gibt es keinen Markt mehr für sie. Ein Beispiel dafür ist die Doktorarbeit von Wim Ni21. $IESES-ATERIALSOWIEDIENACHFOLGENDEN:ITATESTAMMENAUSEINERPRIVATEN % -AIL +ORRESPONDENZ DIEICHIM*UNIMIT7IM.IJENHUISGEFàHRTHABE

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jenhuis. Sie befasst sich mit der Theorie und Geschichte der Stadtplanung und behandelt ausführlich Paul Virillios Thesen zu Urbanismus, Krieg und Kommunikationstechnologie. Bis heute ist sie in den Niederlanden völlig ignoriert worden. Zugegeben, auf Seiten des Internets sind die Dinge auch nicht so großartig. Dieses nicht mehr ganz so frische Medium ist seit der ersten Krise im Jahr 2002 in eine Art postspekulative Phase eingetreten. Das hat u.a. zur Folge, dass Begriffe wie Cyberspace und Virtual Space auf Nimmerwiedersehen ausrangiert wurden. Während die Architektur sich selbst immer mehr in der Virtualität wiederfand, wurde die Internetkultur umso realer. Dass Deleuze die Virtualitäts-Realitäts-Idee zum Hype machte, löste keines der mit dieser Bipolarität verbundenen Probleme. Die kulturelle Neugier verlagerte sich von den spekulativen neunziger Jahren, als noch alles (das Virtuelle) möglich schien, in die kalte und zynische Wirklichkeit nach 9/11, in der Phänomene wie Reality-TV den Ton angeben.22 Inzwischen wissen wir, dass fast alles auf dem Computer simuliert werden kann. Noch spektakulärer als das virtuell Unmögliche ist aber der Zusammenprall mit der Wirklichkeit, der von zahlreichen Medienproduzenten organisiert und inszeniert wird. Die virtuellen 3D-Welten der Computerspiele stehen für alle Fans und Nutzer weit offen. Derweil fährt der Internetzug weiter geradeaus und hat unter dem Codenamen Web 2.0 mit der Entwickling von Blogs, RSS-Feeds, Wikis, Podcasting und der Aufmerksamkeitsökonomie eine neue Gestalt angenommen. »Computer machen die unmöglichen Seiten der Architektur möglich«, vermeldet Ken Sakamura. Seine Aussage ist eine schöne Verdeutlichung, dass der Computer im Dienste der Architektur stehen soll, und nicht andersherum. Der Computer macht eine Metamorphose des Berufs und des Bauens selbst möglich. Dennoch führt dieser Prozess nicht dazu, dass wesentliche Anpassungen vorgenommen werden. Der Entwicklungsprozess wird angenehmer, die Herstellung von Plänen wird automatisiert, aber viel weiter darüber hinaus geht es nicht. Der Einfluss, den Computer als Netzwerk haben könnten, bleibt unerörtert, und das gilt auch für die Theoretiker des Virtuellen wie Greg Lynn, Brian Massumi und Markos Novak. Wim Nijenhuis zufolge besteht die Gefahr, dass ›Blobarchitektur‹ zu einem Stil werden könnte, eine architektonische Skulptur, die den unbegrenzten Möglichkeiten der Computersoftware aufsitzt. Blobs sind eine Kunstform, die liebend gerne Avantgarde wäre, aber genau weiß, dass in dieser posthistorischen Ära ein solcher Status nicht mehr reklamiert werden kann. Genau wie alle anderen ist dieser Architekturstil gezwungen, sich zu verteidigen und selbst zu vermarkten, bemerkt Nijenhuis. Die Architekten müssen dem »Primat des Visuellen« (so der Titel eines Buchs des niederländischen Kritikers Camiel van Winkel) Rechnung tragen. Wer nicht sichtbar ist, existiert nicht. Nijenhuis 22. %INWACHSENDES)NTERESSEANDEM2EALENUNDDER2EALITËTGEHTAUF(AL&OSTERS 5IF3FUVSOPGUIF3FBMAUSDEM*AHREZURàCKUNDENDETMIT3LAVOJÈIäEKS*OUFSSPHB UJOHUIF3FBM VERÚFFENTLICHTIM*AHRE$AS"ERLINER&ESTIVAL4RANSMEDIALEMACHTE IM*AHREk2EALITY!DDICTSjZUM4HEMA

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stimmt zu, dass wir sehr wenig über die Beziehung zwischen Stadtplanung und Netzwerken wissen, verweist aber auf die Arbeit von Prof. Luuk Boelens, der in der Fakultät für Stadtplanung der Universität Utrecht arbeitet. Boelens erforscht die Beziehung zwischen Kommunikationsnetzwerken und Stadt auf der Ebene von Finanz- und Planungssystemen. Er setzt sich für neue urbanistische Ansätze ein, die die Hypermobilität von Geld und Macht einbeziehen, Ansätze, die die traditionellen Institutionen, auch die politischen, in Frage stellen. Er erklärt, dass wir von Government (Regierung) zur Governance (koordinierter Steuerung) übergehen müssen, von den Institutionen zu den Akteuren im Feld. Im großen Spiel der Einflussnahme auf urbane und regionale Entwicklungen hat das Design die Aufgabe, jene Netzwerke zu beeinflussen, die tatsächlich entscheiden. In einem jüngeren niederländischen Zeitungsartikel beschreibt der Architekturkritiker Bernard Huisman die Blobarchitektur-Bewegung als »neo-expressionistisch«23. Ihr Hauptcharakteristikum sei »das Skulpturale«. Merkwürdig, meint Nijenhuis, »wie in einem Atemzug weitreichende Unterschiede nivelliert werden und eine solche Bandbreite so unterschiedlicher Architekten wie Frank Gehry, Kas Oosterhuis, Lars Spuybroek, Liesbeth van der Pol, Onix, Neutelings/ Riedijk und viele andere mehr plötzlich unter dieser einen Rubrik zusammengeworfen werden, mit Mendelsohn, Wijdeveld und der Amsterdamer Schule als ihren geheimen Inspirationsquellen.« Nijenhuis zufolge sollte das als ein Test der Kunstgeschichte gedeutet werden – ob sie noch imstande ist, diese Architekten in all ihrer Verschiedenheit in ihren Kategorien unterzubringen. Es ist verständlich, dass Architekten mit einem solchen Verfahren nicht besonders glücklich sind, weil dabei andere, authentischere Motive übergangen werden.

5NDDASV IER TEKLEINE3CHWEINCHEN BAUTESEIN(AUSAUS%LEKTRONEN Als Möglichkeit, sich dem Zugriff der Kunstgeschichte zu entziehen, bietet sich der Übergang in die Stadtplanung an. Was diesen Schritt hin zum Urbanismus betrifft, so scheint das bilderstürmerische Ideenlabor und Architekturbüro MVRDV in letzter Zeit eine ähnliche Position einzunehmen wie einst Constant und Archigram. Obwohl ihre Beschäftigung mit der Beziehung zwischen Netzwerken und Städten sich zu einem großen Teil auf die Arbeit der beiden Genannten ausgerichtet hat, argumentieren MVRDV in Km3: Excursions on Capacity für eine Rückkehr zum radikalen Utopismus, und greift dabei sogar auf Ergebnisse der stalinistischen Architektur zurück. Was wir hier sehen, ist ein Versuch, mit der Logik der Medien zu spielen und den Kreislauf der Mode in Bildern und Theorie hochzufahren. Dies mündet in einer in der Architekturdisziplin bislang beispiellosen Beschleunigung (und Entsorgung) von Ideen und Konzepten. Indem sie umstrittene Ansichten zu einem gegen den Mainstream

23. .2# (ANDELSBLAD *UNI

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gerichteten Thema abfeuern, erzielen sie bei potenziellen Kunden wohl nicht nur für ihre Botschaft Aufmerksamkeit, sondern auch für ihre Marke.24 Utopisches Denken hat eine beträchtliche Faszinationskraft. Studenten greifen radikalen Utopismus als Trend auf und träumen davon, selbst radikal zu sein und große Projekte zu verwirklichen. Es ist nicht schwierig, diesen Mechanismus zu durchschauen. Wir haben jetzt allerdings 20 Jahre Postmodernismus durchlaufen und festgestellt, dass jegliche Ethik heute anti-utopisch ist. Designer lassen sich sich nicht mehr von utopischen Ideen beflügeln, die vor 30 oder 40 Jahren aktuell waren. Tatsächlich sehen wir diese Ideen noch im Umlauf in massiv abgeschirmten und enorm schwerfälligen Institutionen, die vom Wandel der Zeit unberührt scheinen. Das darunter liegende Paradigma, sofern es eines gibt, ist die typisch postmoderne Suche nach Energie, um die unabhängige und kritische Architekturpraxis (wieder) aufzuladen. Im Fall von MVRDV kann man sicherlich sagen, dass die Architektur in fieberhafter Suche nach neuen Impulsen, Konflikten und Formen ist. Gehen wir zurück zum Internet und dem Eintritt der Niederlande in das Zeitalter der Gigabyte-Zugangsraten für alle. Sobald von Bandbreite die Rede ist, nähern wir uns dem Vorabend einer spektakulären dritten Runde: Nach den einfachen Modems der Neunziger sowie ADSL und Kabelmodems, die derzeit in Gebrauch sind, werden viele niederländische Haushalte bald direkt an Glasfaser-Netzwerke angeschlossen sein, die hochauflösendes Fernsehen in Kinoqualität möglich machen. Der Telekommunikationsforscher James Encks hat unlängst vorausgesagt, dass es eine große Revolution geben wird, von der die Nutzer im Endeffekt profitieren werden. Die großen Verlierer werden all jene sein, die sich an der Vergangenheit festklammern. Die Auswirkungen, die Computernetzwerke und Telekommunikation auf die Raum- und Umweltplanung haben, müssen nicht unbedingt im unmittelbaren Sinn aufgefasst werden. Im Gegenteil: Die Infrastruktur sagt selten etwas über Wesen und Umfang des Gebrauchs aus. Die Bedeutung der Userkulturen ist in den letzten Jahrzehnten deutlich geworden. Einfach nur einen Link zu haben, verrät jedoch wenig. Auch die Verbindungsgeschwindigkeit ist kein genauer Indikator einer Onlinekultur. Was wirklich zählt, ist die Dichte der sozialen Verbindungen.25 Die Zeit, die jemand online verbringt, oder die Menge der 24. 7INY-AASVON-62$6SAGTw%SGIBTUNTERSCHIEDLICHE!NSËTZE DENGLOBALEN -ARKTZUBEGREIFEN$UKANNSTDEINEN3TILZUR-ARKEMACHEN WIEDASBEISPIELSWEISE :AHAAUFGRANDIOSE!RTUND7EISEMACHT ODERDUKANNSTAUSDEINEMEIGENEN!NSATZ EINE-ARKEMACHEN)CHDENKE DASSUNSER!NSATZSEHRPRAKTISCHUNDDIALEKTISCHISTES GIBTEIN6ERLANGENDANACH DAS!U”ERGEWÚHNLICHEAUSDEM$IALOGHERAUSZUENTWIK KELNi)CON-AGAZINE 3OMMERWWWICON MAGAZINECOUKISSUESMVRDVHTM $ANKAN2OB!NNABLEFàRDEN(INWEIS 25. 3IEHE IN DIESEM :USAMMENHANG DIE !RBEIT VON 5RBAN 4APESTRIES HTTP URBANTAPESTRIESNET  w5RBAN 4APESTRIES IST EINE EXPERIMENTELLE 3OFTWARE 0LATTFORM FàRDAS+ARTHOGRAPHIERENUND4EILENVON7ISSENnkPUBLICAUTHORINGj%SKOMBINIERT -OBIL UND)NTERNET 4ECHNOLOGIENMITGEOGRAlSCHEN)NFORMATIONSSYSTEMEN UM-EN SCHEN ZU ERMÚGLICHEN DASS SIE ZWISCHEN /RTEN "EZIEHUNGEN AUFBAUEN UND UM 'E

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Gigabytes, die jemand herunterlädt, sagt wenig über die Qualität der Interaktion aus. Die Leute könnten einfach nur Hollywood-Filme herunterladen – dagegen ist nichts einzuwenden, aber es führt auch zu keiner alternativen Medienkultur. Wäre das Internet nichts weiter als eine Extrapolation von Tageszeitung, Kino, Radio und Fernsehen, dann wäre dies an sich keine Neuheit und man könnte die Diskussion an dieser Stelle beenden. Das Recyceln alter Inhalte macht zwar deutlich, wie weit das Internet in unsere Gesellschaft integriert ist, ist aber nicht unbedingt innovativ. Mein Argument hat wenig mit der tatsächlichen Computernutzung von Architekten zu tun, sondern legt den Akzent auf ihr manchmal rudimentäres Verständnis des Internets, in dem diese reiche und vielschichtige Umgebung auf ein bloßes Werkzeug reduziert wird. Wir wenden uns wieder Jennifer W. Leung zu, die uns über aktuelle Nutzerkulturen auf klärt: w!RCHITEKTENVERSCHICKEN% -AILSUNDLADENAUF7IKISUND&40 3EITENHOCHWIRHABEN 7EBSITESFàR"RANDING ,INKS 7ERBUNG 0OLEMIKEN FALSCHE3CHMEICHELEIENUNDFàRDIE 0RËSENTATION UNSERER !RBEIT 6ERSËUMNISSE HINSICHTLICH UNSERER !UFGABEN BETREFFEN DEN3CHUTZGEISTIGEN%IGENTUMS SOWOHLINUNSEREMEIGENENALSAUCHIM.AMENDER +LIENTEN DIE'RENZENDER%FFEKTIVITËTDES)NTERNETSALS)NFRASTRUKTURFàRFORMELLEUND INFORMELLE +OMMUNIKATION SOWIE DIE 5NVERHËLTNISM˔IGKEIT VON 3KALEN UND -A”EN DIESICHINàBERBORDENDER$ATEIGRڔEUNDËRMLICHER!UmÚSUNGMANIFESTIERENi

Ob man es glaubt oder nicht, sogar Architekten nutzen Google! Leung dazu: w$AWIRNICHTNACH+RITERIENWIE3PEZIALISIERUNG )DEOLOGIE "EZIEHUNGZU4ECHNOLOGIE UND &ORM ODER GAR NACH (ONORARSËTZEN GESUCHT WERDEN KÚNNEN STELLT DIE 7EBSITE SELTENDENERSTEN"ERàHRUNGSPUNKTMITDER!U”ENWELTDAR ALLERDINGSOFTDENZWEITEN (ËUlGWERDENWIRRECHERCHIERT NACHDEMWIR6ISITENKARTENAUSGETAUSCHTHABEN AUF UNS"EZUGGENOMMENODERVERWIESENWURDE WIREINEN6ORTRAGGEHALTENHABEN AUF EINER 0ARTY IN EINEM -AGAZIN ODER EINER /NLINE $ISKUSSION AUFGETAUCHT SIND ODER UNSERE!RBEITENAUFANDEREN7EBSITESERSCHEINEN)NDIESEM3INNEVERSCHËRFTDAS7EB SOGARDIE.OTWENDIGKEITEINER7IEDERERKENNBARKEITDES.AMENS!UFDERANDEREN3EITE STIMMTESNICHT DASSWIRALS!RCHITEKTENINEXISTENTSIND WENNWIRNICHTàBER'OOGLE GEFUNDEN WERDEN :USËTZLICH ZU DEM WAS WIR HOCHLADEN ODER VERÚFFENTLICHEN SIND !RCHITEKTENàBRIGENSHËUlGAUCHMITDERmEI”IGEN3UCHENACH$ATENBESCHËFTIGTi

Mit Blick auf das noch nicht entfaltete Potenzial der Netzwerkgesellschaft ist es besser, die gängigen Disziplinen als das zu nehmen, was sie sind. Aus der Perspektive der Internetpolitik liegt also wenig Sinn darin, bei den großen, aber desinteressierten Architekten und bei den gestressten Politikern ständig um Aufmerksamkeit zu betteln. Das gilt auch für die Massenmedien, Radio, SCHICHTEN )NFORMATIONEN "ILDER +LËNGEUND6IDEOSZUASSOZIIEREN5RBAN4APESTRIES SETZTSICHZUM:IEL -ENSCHENDIE-ÚGLICHKEITZUGEBEN !UTORENIHREREIGENEN5M GEBUNGZUWERDENn-ASSENBEOBACHTUNGFàRDAS*AHRHUNDERTi(INWEISVON2OB !NNABLE

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Fernsehen und Tageszeitungen, die das Internet als Konkurrenz sehen, was natürlich richtig ist. Nachdem die Strategien des Kleinredens und Ignorierens gescheitert sind und das Internet sich seine Geltung als Massenmedium mit Recht verdient hat, macht es keinen Unterschied mehr, ob es von der kulturellen Elite der Niederlande angenommen wird oder nicht. Damit wird es möglich, den Fragen nach der Beziehung zwischen Internet und urbaner Entwicklung ernsthaft nachzugehen. Natürlich könnte es Online-Partizipation geben. Es gab Kampagnen gegen den weiteren Ausbau des Flughafens Schiphol, und mittlerweile können sich andere lokale Bürgergruppen auf das nächste »IJburg«-Stadtentwicklungs-Projekt auch noch besser vorbereiten.26 Aber man hat auch ganz andere Optionen. Ich glaube etwa, dass sich für die Leute viele Möglichkeiten eröffnen werden, selbst die Pläne für ihr Haus oder ihre Wohnung zu erstellen (autoCAD für alle!), neue Baumaterialien zu entwickeln und die Baukosten zu kontrollieren. Komplexe Gebäudekomponenten können sonstwo in der Welt hergestellt und mit einem Container an irgendein im niederländischen Polderland liegendes Ziel verschifft werden, wo alles ausgepackt und zusammengebaut würde. Auch ohne den Extremfall anzunehmen, dass jeder sein eigener Bauunternehmer wird, kann man sich durchaus vorstellen, dass Bauherren zukünftig den Architekten als Mittelsmann im Bauprozess abschaffen und sich stattdessen selbst an die lokalen Ämter wenden und ihre Pläne zur statischen und feuerpolizeilichen Prüfung einreichen.27 Natürlich könnten Häuser auch woanders auf diese Weise gebaut werden. Die Idee, dass die Niederländer ihre Häuser in diesem teuren, dicht besiedelten, kalten und sumpfigen Land, »den Geländewagen direkt neben dem eigenen Gerüst«28, bauen wollen, ist für mich eine eher altmodische Vorstellung. Es ist jetzt schon möglich, sein eigenes Haus mit einem DIY-Bausatz zu errichten, im komfortablen Abstand zu den Nachbarn, und das, ohne selbst überhaupt anwesend sein zu müssen. Banalität kennt keine Grenzen. Wenn die Van Toorns sie am Bauen hindern wollen, klicken die hoch vernetzten Niederländer einfach einen neuen Standort an. Vielleicht irgendwo in der Türkei oder in Afrika. Was ich hier beschreibe, ist kein futuristisches Szenario, sondern eine Entwicklung, die bereits im Gange ist. Nun geht es nicht mehr um das Ferienhaus in Frankreich. Diese aus der Mode gekommene Gegend ist jetzt der Nachkriegsgeneration vorbehalten. Es gibt ausreichend Platz auf der Welt. Die einzige Grenze sind die Benzinpreise. Die Demokratisierung der sechziger Jahre gelangt nun dank technischer Verfahren doch noch zur Realisierung. Das geht weit über ›Einbindung‹ und ›Mitwirkung‹ der Anwohner hinaus. Unverminderte Individualisierung, gepaart mit der Privatisierung des öffentlichen Wohnungsbaus, wird weiterhin die visuelle Uniformität des Reihenhauses bedrohen. Aber all jene, die dachten, dass die finale Schlacht des 20. 26. )*BURGISTEINEKàNSTLICHE)NSEL ÚSTLICHVON!MSTERDAM ZWISCHEN  ENTSTANDENUNDMITEINIGEN4AUSEND7OHNHËUSERNUND"àROSSOWIEEINEM(AFENUND EINEMNEUERSCHAFFENEN3TRANDAUSGESTATTET 27. !USEINERPRIVATEN% -AIL +ORRESPONDENZ !UGUST 28. 7ILLEMVAN4OORN .2# (ANDELSBLAD 3EPTEMBER

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Jahrhunderts zwischen Spuybroek und den modernistischen Wohnunternehmen stattfinden würde, haben sich geirrt. Bevor man sich versieht, wird NOX Software zum Lifestyle der Massen gehören. Der niederländische »Architekt ohne Titel«, Job Goedhart, ein Hausbesetzer aus der Weijers-Generation, sieht sich selbst in erster Linie als bauender Betrachter. Nach vielen Jahren als Tischler und Möbelbauer, spezialisiert auf Küchen und Blumenstände, wurde er in den neunziger Jahren zum digitalen Entwickler von Bauten, die aus standardisierten Elementen bestehen. 29 »Von den physischen zu den meditativen Qualitäten der Handarbeit kommen, und mental weiter zum konzeptuellen, virtuellen Plan«, wie er es gerne beschreibt. Bei Goedharts Arbeitsprozess kann die zukünftige Struktur im Computer aus jedem möglichen physischen Blickwinkel betrachtet werden. Sie kann in unterschiedlicher Weise ausgegeben werden: als Liste der benötigten Teile, als Entwurf, als Visualisierung (Strichzeichnung oder Farbdarstellung) oder als eine begehbare Animation. Die Resultate werden als PDF abgespeichert und an den Klienten oder Kunden geschickt, um auf ihrer Basis die Preise festzulegen. Gewöhnlich folgt dem die Präsentation eines ausgedruckten Entwurfs, mit Beispielen möglicher Materialien, bevor dann der Auftrag erteilt wird. Goedhart sieht das, was er tut »nicht als reines Zusammenstellen, da dabei gleichzeitig ein eigenständiges Design entsteht. Egal in welchem Umfang ich standardisierte Elemente verwende, der größte Teil des Modells besteht aus neuen Materialien.« Goedhart weiter: »Ähnlich wie im Bereich der Sexualität hat sich das Bauen vom physischen und materiellen zum virtuellen Plan verschoben.« Er beobachtet, dass schon ein großer Anteil an Bauten im Computer entsteht. w7ENNMANDIE:EITUNDODERDAS'ELDHAT GIBTESEINEFASTUNBEGRENZTE:AHLVON -ÚGLICHKEITEN%IN'EBËUDEWIEDAS).'(OUSEDERSOGENANNTEw0ETTY4HIEFinKLEINE $IEB IM!MSTERDAMER:UIDAS $ISTRIKTKANNNICHTMEHRBLO”ALS'EBËUDEINTERPRETIERT WERDEN DENNESISTIM'RUNDE)NDUSTRIEDESIGN%SKÚNNTEAUCHALSEINE6ERSCHWEN DUNGVON$ESIGN !NSTRENGUNGENGESEHENWERDEN WENNESNUREINEINMALIGES0ROJEKT BLEIBT-IRSCHIENEESLOGISCHER DIESE!RT(IGH 4ECH 5NTERKUNFTIMINDUSTRIELLEN-A” STABZUPRODUZIERENUNDZUVERKAUFEN-ANMàSSTESICHDANNNURDAMITABlNDEN DASS MANAUCHIN3CHANGHAIEINPAARw0ETTY4HIEFSiSIEHT SOZUSAGENALS4EILDES'ESCHËFTS /BMANDASGUTlNDET ISTEINE&RAGEDES'ESCHMACKS UNDVIELLEICHTAUCHEINE&RAGE DER -ORAL WENN MAN AUF DIESES )NDUSTRIEPRODUKT EINE 2EIHE VON 5MWELTSTANDARDS ANWENDETi

Goedhart begreift auch Software als ein Werkzeug: w6ONEINEMEVOLUTIONËREN3TANDPUNKTAUSBETRACHTET HATSIEWESENTLICHZUMGEGEN WËRTIGEN 3TAND DER -ENSCHHEIT BEIGETRAGEN $IE %NTWICKLUNG VON 7ERKZEUGEN -A SCHINEN )NDUSTRIE HATDIE-ENSCHHEITDORTHINGEBRACHT WOSIEGEGENWËRTIGSTEHT 29. *OB'OEDHARTISTDERZEITBEISEINEMGRڔTEN+UNDEN4OM0OSTMA$ESIGNAN GESTELLTWWWDESTANDBOUWERNL 

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$IE&RAGEISTNUN WELCHE!RTVON$ATENUND-ATERIALIENVONDER3OFTWAREVERËNDERT WERDEN)M'RUNDESINDSIENUR0LATZHALTER 2EPRËSENTANTENVON-ATERIALIEN DIEVON UNSERER3OFTWAREMANIPULIERTWERDEN UMDANNSPËTERnMITHILFEEINES"AUPLANSODER EINER,ISTEDERNOTWENDIGEN+OMPONENTENnANDER"AUSTELLE'ESTALTANZUNEHMEN$IE 3OFTWARE GIBT UNS DIE -ÚGLICHKEIT DEN %NTWURF àBER AUFPOLIERTE -ULTIMEDIA 0RË SENTATIONENKOMMERZIELLZUVERKAUFEN%INNEUER$ $RUCKERWIRDBALDAUFDEN-ARKT KOMMEN%SISTEINE!RTkUMGEKEHRTERj,ASER 3CANNER DERESERMÚGLICHT EINE7OLKE VON$ATENINEXAKTJENER&ORMUND&ARBIGKEITZUMATERIALISIEREN DIEDER'ESTALTERAUF SEINEM #OMPUTER VORGESEHEN HAT -IT DIESEM -OMENT WIRD DIE 2EVOLUTION ZU EINER 4ATSACHEWERDENi

Der Drucker, den Goedhart beschreibt, ist in der Automobilindustrie schon seit einigen Jahren im Einsatz. Für ihn hat die Revolution jedoch erst dann stattgefunden, wenn alle Telekommunikationsarbeiter, inklusive ihm selbst, dieses Gerät auf dem Schreibtisch stehen haben. Die Demokratisierung des computergenerierten Designs drängt die moralische Frage auf, ob alles, was gestaltet werden kann, auch die Erlaubnis zur tatsächlichen Ausführung erhalten soll. Goedhart bemerkt: w/BEIN%NTWURFGEBAUTWERDENSOLLODERNICHT WIRDMANIM%INZELFALLENTSCHEIDEN MàSSEN!BERWARDIESES6ORGEHENNICHTOHNEHINSCHONIMMER3TANDARD/BESNUNDIE 7ETTBEWERBSJURY DIE "AUAUFSICHT 5MWELTSCHUTZGUTACHTEN "àRGERBETEILIGUNGSVER FAHRENODER"EBAUUNGSPLËNESIND AUFALLEN)NSTANZENWERDENDERKREATIVEN,EISTUNG DESNIEDERLËNDISCHEN$ESIGNS(INDERNISSEINDEN7EGGESTELLTi

Er vermutet hinter dieser Frage auch den Wunsch nach einer strengeren Regulierung. »Sind heutige Regulierungen zu vage? Decken sie das gesamte Spektrum ab? Haben wir etwas vergessen? Oder ist das alles nur eine verdeckte Beschwerde über exzessive Regulierungen in der zugebauten Welt der Niederlande?« Für Goedhart markiert die Frage den Unterschied zwischen den beiden Polen in der Architektur, dem ›Designer‹ und dem ›Ingenieur‹. »Der Designer fasst die Form ins Auge, die Farbe, den Ausdruck, während der Ingenieur mit den technischen Aspekten befasst ist. Der lockere, kommunikative, kreative ›Designer‹ mit seinem Malkasten steht dem typischen Techno-Nerd von ›Ingenieur‹ mit seinem AutoCAD-Programm gegenüber. Wenn sie gut zusammenarbeiten, können sie eine Menge voneinander lernen.« Es bleibt jedoch unklar, ob diese Verbindung wirklich so unkompliziert ist. Viel gewonnen wäre, wenn das Bildungssystem einen integrierten, interdisziplinären Ansatz fördern würde. Die Anpassung des Curriculums müsste in enger Abstimmung mit denen erfolgen, die in der Praxis stehen. Hätte das zur Folge, dass der in sich geschlossene Beruf des Architekten in Frage gestellt wird? Wie auch immer, die bevorstehende Designrevolution wird viel Staub aufwirbeln und für Klagen bei den Kulturpessimisten sorgen, die dann gegen den schlechten Geschmack der interkulturellen Online-Massen wettern werden. Für ein paar abschließende Gedanken möchte ich nach New York blicken,

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wo die Architektin Marisa Yiu an einem Experiment namens Chinatown Work gearbeitet hat. Zusammen mit Eric Schuldenfrei hat Yiu auf der Canal Street eine interaktive Installation errichtet, bei der es um öffentliche Mitwirkung und um ein Bewusstsein der Arbeitsmarktpolitik in Lower Manhatten nach dem 11. September geht. Yiu zufolge sollte man nicht nur auf die Gestalter und Stararchitekten blicken. Die Nutzung des Internets könnte ein größeres Potenzial entwickeln, wenn man sich mit sozialer Beteiligung auseinandersetzt. Wie können Architektur, Design, Technologie und Öffentlichkeit sich mit Belangen der Zivilgesellschaft überschneiden und Fragen thematisieren, die die Planung oder Revitalisierung von Problemvierteln unterstützen? Yiu sagt: w%SSTIMMT DIE!RCHITEKTURSZENEWIRDVONBESTIMMTEN&IGURENDOMINIERTALLERDINGS GIBTESAUCHEINE6IELZAHLANDERER!RCHITEKTENUND.ONPROlT /RGANISATIONEN DIEAUF ANDERE!RTOPERIERENUNDSICHINDEN$IENSTDER¾FFENTLICHKEITODER-ENSCHHEITSTEL LEN3CHAUENWIRNURAUFJENE/RGANISATIONEN DIENACHDEM4SUNAMIIN4HAILANDUND )NDONESIEN 7ETTBEWERBE INS ,EBEN GERUFEN HABEN ODER WIE EINIGE -AGAZINE NACH DEN 6ERWàSTUNGEN DES (URRIKANS +ATRINA DIE ¾FFENTLICHKEIT DAZU AUFGERUFEN HABEN %NTWàRFEFàRNEUE ADËQUATERE'EBËUDETYPENEINZUREICHENi

Die Beispiele des 11. September und von Katrina haben Yiu zu der Aussage veranlasst, dass »Architektur und Internet sich vielleicht nur dann auf wirkungsvolle Weise verbinden lassen, wenn Unglücke oder Katastrophen passieren.« 30 Wie so oft, wird der Wandel in der Bildung beginnen müssen. Steffen Lehmann, Architekturprofessor an der University of Newcastle, Australien, schreibt zur gegenwärtigen Diskussion, wie digitales Design gelehrt werden sollte: w)CHGLAUBE DASSWIRINDERPOST DIGITALEN¯RAEINFACHDAS7ERKZEUGNUTZENWERDEN DASFàRDENJEWEILIGEN*OBDASGEEIGNETSTEIST$ENNOCHMàSSENWIRàBERDENKEN WIE WIRDIGITALES$ESIGNAUFSINNVOLLERE7EISENUTZENUNDUNSDABEINICHTDURCHDIE+APA ZITËTEINIGER3OFTWAREANWENDUNGENEINSCHRËNKENLASSEN$ER'EBRAUCHDES#OMPUTERS MUSSINDIREKTEN%RFAHRUNGENGEGRàNDETSEINUNDSICHAUFDEN-ENSCHENAUSRICHTEN NICHTNURAUFDIE0RODUKTIONVON"ILDERN:UREmEKTIERENISTDIEDRAMATISCHE4RANS FORMATION DER !RBEITSPROZESSE UND DIE 'ESCHWINDIGKEIT MIT DER WIR )NFORMATIONEN VERARBEITEN!RBEITHATHEUTEWENIGERMITKLASSISCHER"àROARBEITALSVIELMEHRMIT7IS SENSMANAGEMENTZUTUN WASWIEDERUMDIE'ESTALTDER3TËDTEBEEINmUSST UNDHIER KOMMTDAS)NTERNETINS3PIEL7ASMIR3ORGENBEREITET ISTINDIESEM:USAMMENHANG DIE 6ERWANDLUNG DER 3TADT IN DAS 3PEKTAKEL )CH DENKE DABEI AN MEINE KàRZLICHEN 2EISENNACH$UBAIUND!BU$HABI ABERAUCHAN$ARLING(ARBORIN3YDNEY$ORTISTDER AUTHENTISCHFUNKTIONIERENDE(AFENVÚLLIGVERSCHWUNDENUNDDURCHEINEÚDE+ONSUM LANDSCHAFTERSETZT

Lehmann ist zuversichtlich, dass der Computer maßgeblich dazu beitragen wird, nachhaltiges urbanes Design hervorzubringen, und dass das wahrschein30. -ARISA9IU PRIVATE% -AIL +ORRESPONDENZ *ULIWWWESKYIUCOM 31. 3TEFFEN,EHMANN PRIVATE% -AIL +ORRESPONDENZ *ULI

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lich der wichtigste Einfluss auf Architektur und Planung seit der industriellen Revolution sein wird. Jennifer W. Leung sieht bereits die ersten Anzeichen des Wandels: w!RCHITEKTEN MACHEN GERADE ERST IHRE ERSTEN %XPERIMENTE MIT DEM 3CHREIBEN VON 3KRIPTS IM2AHMENETABLIERTER3OFTWAREn!54/,ISP 2()./,ISP 4URTLE'RAPHICSUSW nODERMITSELBSTGESCHRIEBENEN0ROGRAMMEN WIEBEIDER7EITERENTWICKLUNGVONw$A TASCAPINGi DURCH 0ROGRAMMIERUNG ALS -62$6 3OFTWARE #LIMATIZER 4- 2EGIONMAKER 4- &UNCTION-IXER4-3CRIPTINGBETRIFFT WIEAUCHANDERE!RTENDES0ROGRAMMIERENS DIEAUSGIEBIGE'ESTALTUNGSYSTEMATISCHER'RENZEN OBDIESICHAUFALGORITHMISCHFEST GELEGTEFORMALE)TERATIONENBEZIEHTODERAUFVERSCHIEDENE%FlZIENZMODELLEZU+OSTEN UND0ERFORMANCEi

Leung fragt, ob diese Bündelung von Strategie, Methode und kontrolliertem Zufall nur der Anfang einer endlosen Serie architektonischer Plug-in-Software ist oder eine neue Form der Beratung. Sie schreibt, dass »das Fehlen einer Konsumenten-Zielgruppe oder die Weigerung, Open Source einzusetzen, das vermutlich abwenden würde. Aber es legt gleichzeitig nahe, dass die Idealität der universellen Form sich auf den Geltungsanspruch der jeweils besten Methoden verlagert, der wiederum nach der Anzahl von Downloads und Hits bemessen wird.«32

(OME!GAIN (OME!GAIN *IGGET Y*IG Das Fazit dieser Geschichte ist nicht, dass jeder ein Künstler wird und mit online verbreitetem Bau-Know-How die Welt zu einem angenehmeren – oder vielmehr schöneren – Ort wird. Nicht jeder hat den Ehrgeiz, sein Haus selbst zu bauen. Aber der altehrwürdige Berufsstand der Architektur kann nicht mehr in Anspruch nehmen, allein zu wissen, was für den Menschen das Beste ist. Dass Leute die Maus oder das Grafik-Tablett in die Hand genommen haben, um selbst Zeichnungen anzufertigen, ist nicht überraschend. Die Ruinen der Stadtentwicklung, die das 20. Jahrhundert hinterlassen oder wieder abgerissen hat, sprechen Bände über den moralischen Bankrott der Architektur. Ein genaues Portrait dieses Dramas zu zeichnen, wird zukünftigen Historikern vorbehalten bleiben. Dennoch gibt es heute ein beeindruckendes Spektrum interessanter Designaktivitäten und Stile. Wir befinden uns mitten in einer Revolution, an der auch neue Baumaterialien beteiligt sind. Der ganze Berufszweig durchläuft einen grundlegenden Wandel. Trotzdem taucht Architektur oft nur als ein seltsames Raumschiff auf, das in einer verwüsteten Landschaft à la Bilbao oder Berlin gelandet ist. ›Architektur‹ tritt – wie auch alle anderen sozialen Phänomene – unter den Bedingungen des Medienspektakels in Erscheinung. Das Phänomen des internetgestützten Do-it-yourself-Bauens ist dagegen im Schatten der stagnierenden Massenmedi32. 0RIVATE% -AIL +ORRESPONDENZ !UGUST

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en entstanden. ›Mittelsmänner‹ werden aus dem Budget gestrichen, wie überall. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Architektengilde äußerst reaktionär und konservativ auf diese Entwicklung reagieren wird. Gegen die Vernachlässigung von Medien und Netzwerken in der niederländischen Architektur gerichtet, könnte man die Frage stellen, wie innovative, subversive und eigensinnige Prinzipien in neue Software infiltriert werden könnten? Wie kann die unvorhersehbare Form zur wahrscheinlichsten Option werden? Es kann ohne weiteres darauf hinauslaufen, dass die »Variationen innerhalb eines Standards« enttäuschend klein bleiben. Technologie führt nicht automatisch zum ›wilden Leben‹.33 Dafür brauchen wir fortschrittliche und differenzierte Userkulturen. Die Geschmacksvorstellungen des durchschnittlichen Internetnutzers sind ziemlich verzerrt. Die Villa mit Swimming Pool, einer Garage plus Anlegestelle für das Boot ist der selbstverständliche Ausgangspunkt für viele Entwürfe. Dennoch liegt darin immer noch ein dramatischer Fortschritt gegenüber den Karton-artigen Hühnerställen, in die die Leute immer noch eingepfercht sind. Besonders ärgerlich ist, dass das allzu niederländische Konglomerat von Banken, Pensionsfonds, Bauunternehmen, Konzernen und Immobilientypen es auch noch wagt, 300.000 Euro und mehr für solche Häuser zu verlangen. Bei der Zerstörung dieser undurchsichtigen Allianz der Macht könnte sich die Architektur auf die Seite der Internetnutzer schlagen. Sie könnte z.B. Urheberrechtsfragen aufgreifen, wie Creative Commons sie so klar herausgearbeitet hat. Oder bleibt sie wie früher auf der Seite der etablierten Ordnung von Kapital und Kunden? Diese Wahl betrifft die Etablierung einer ansteckenden Vielfalt von »best practice«-Modellen. Das Menü der Stile könnte eine beinahe unendliche Bandbreite aufweisen. Lang lebe die architektonische Freiheit! Ein Nachahmungseffekt könnte sich einstellen, in dessen Zuge das ›Lumpenproletariat‹ damit anfängt, innovative Designs zu kopieren. Wenn dies alles aber nicht eintreten sollte, dann muss man damit rechnen, dass die Elite ein weiteres Mal nach mehr Regulierungen rufen wird, um sich ihre Spitzenposition auch für die Zukunft zu sichern.

33. 3IEHEWWWARCHITECTENWERKNLWIWOINDEXACHTERGRONDHTM

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$IE4HEOR IE Aus der Internetperspektive erscheint es banal, sich über die Gefahr eines ›globalen Zeitregimes‹ aufzuregen.1 Das Internet wird bleiben; um es für uns zu nutzen, statt uns von ihm versklaven zu lassen, müssen wir seine Architektur verstehen – und ablehnen kann man nur, was man auch kennt. Der Philosoph Paul Virilio hatte Recht, als er schrieb, dass wir nicht mehr in einer lokalen Zeit leben wie in der Vergangenheit, als wir Gefangene der Geschichte waren. Jetzt leben wir in der Ära der globalen Zeit. Wir erleben eine Epoche, die, laut Virilio, einem globalen Unfall gleich kommt. Virilio führt aus: »Die Gleichzeitigkeit und ihre Zwänge, genauso wie die Unmittelbarkeit und Allgegenwärtigkeit der Informationsflut interpretiere ich als eine omnipräsente Informationsbombe, die dank der (Super-)Datenautobahnen und anderer technologischer Durchbrüche und Entwicklungen auf dem Feld der Telekommunikation jeden Moment explodieren kann.« 2 Der Kulturwissenschaftler Ste1. %INEFRàHERE6ERSIONDIESES%SSAYSERSCHIENIN2OBERT(ASSAN2ON0URSER(G 0O 5JNF &TTBZT PO 5FNQPSBMJUZ JO UIF /FUXPSL 4PDJFUZ 3TANFORD 3TANFORD 5NIVERSITY 0RESS $ANKAN2OBERT(ASSANFàRSEINE+OMMENTAREUNDEDITORISCHE5NTERSTàT ZUNG 2. 0AUL6IRILIOIM'ESPRËCHMIT#ARLOS/LIVEIRA )N/NLINE -AGAZIN#4HEORY  HTTPCTHEORYNETARTICLESASPXID

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fan Heidenreich wiederum hat festgestellt, dass das Internet bislang als zeitlose Umgebung betrachtet wird. Ein gutes Beispiel dafür seien Google-Suchergebnisse – sie enthalten keine Angaben, wann ein Dokument ins Netz gestellt wurde. Heidenreich sagt einen paradigmatischen Wandel in Richtung eines in die Zeit eingebetteten Internets voraus.3 Doug Kellner fasst Virilios Thesen zu Zeit und Internet treffend zusammen: w6IRILIO SIEHT IM #YBERSPACE EINEN ANDEREN 2AUM OHNE DIE GEWOHNTEN 2AUM :EIT +OORDINATEN DEREINEDESORIENTIERENDEUNDENTKÚRPERLICHTE%RFAHRUNGERZEUGT INDER +OMMUNIKATIONUND)NTERAKTIONOHNE6ERZÚGERUNGUNDINEINERNEUENGLOBALEN:EIT JENSEITSDERALTEN'RENZENVON:EITUND2AUMSTATTlNDEN%SISTEINKÚRPERLOSER2AUM OHNEFESTE+OORDINATEN INDEMMANKEINE6ERANKERUNGIMEIGENEN+ÚRPER INDER.ATUR UNDINDERSOZIALEN'EMEINSCHAFTMEHRlNDET&àR6IRILIOBILDETERSOEINEENTMATE RIALISIERTEUNDABSTRAKTE3PHËRE INDERDIE#YBERNAUTENSICHVERLIERENUNDVONIHREN +ÚRPERNUNDIHRERSOZIALEN7ELTABLÚSENKÚNNENi

Bemerkenswert ist, dass Virilio nur selten konkret von Computer-Netzwerken oder dem Internet spricht, geschweige denn von Browsern, Instant Messaging, Spielen und Suchmaschinen, VoIP oder Blogs. Die Kritiker von Virilio bis Žižek haben sich hinter einem Jargon aus Metaphern der neunziger Jahre wie ›Cyberspace‹, ›Datenautobahn‹ und ›Entkörperlichung‹ verschanzt, Begriffen, die vor allem dem Diskurs über ›virtuelle Realität‹ aus früheren offline-Zeiten entstammen, aber genau diese mythologischen Begriffe haben zu der apokalyptischen Stimmung beigetragen, die wir beim Lesen zeitgenössischer Theorie empfinden. Statt solch skeptischem Denken jedoch mit ebenso ahnungslosem Technooptimismus zu begegnen, wäre mein Vorschlag, einmal die Zeitregime zu untersuchen, in denen sich Internetnutzer heute real bewegen. Der italienische Theoretiker Franco Berardi (Bifo) sah – in einer seiner pessimistischeren Phasen – das Problem, wDASSDIE2HYTHMENDERTECHNOLOGISCHEN-UTATIONVIELSCHNELLERSINDALSDIEDERMEN TALEN$IE!USBREITUNGDES#YBERSPACEISTDAMITUNGLEICHSCHNELLERALSDIE&ËHIGKEIT DESMENSCHLICHEN'EHIRNS SICHANDIEVERËNDERTEN'EGEBENHEITENDER#YBERZEITANZU PASSEN7IRKÚNNENDIE:EITSPANNEAUSDEHNEN INDEREIN/RGANISMUS)NFORMATIONEN AUFNIMMT ABERDIE%RFAHRUNGSELBSTKANNNICHTàBEREINBESTIMMTES-A”HINAUSINTEN SIVIERTWERDEN"ESCHLEUNIGUNGBEWIRKTEINE6ERARMUNGDER%RFAHRUNG WENNWIRDAMIT EINERWACHSENDEN:AHLVON3TIMULIAUSGESETZTSIND DIEWIRNICHTMEHRIMINTENSIVEN -ODUSVON&REUDEUND7ISSENVERARBEITENKÚNNENi

3. 3TEFAN (EIDENREICH $ATENSTRÚME ODER :EIT IM .ETZ "ERLINER 'AZETTE  WWWBERLINERGAZETTEDE 4. $OUGLAS +ELLNER 7JSJMJP PO 7JTJPO .BDIJOFT WWWlLM PHILOSOPHYCOMVOL NKELLNER 5. &RANCO "ERARDI  #JPQPMJUJDT BOE $POOFDUJWF .VUBUJPO  #ULTURE -ACHINE   HTTPCULTUREMACHINETEESACUK#MACH"ACKISSUESJ!RTICLESBIFOHTM

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Nach Bifo wird die Langsamkeit des Gefühls Schritt für Schritt in ein Wirtschaftsgut verwandelt, »in einen künstlichen Zustand, der in Geld umgerechnet werden kann. Zeit ist knapp und kostet Geld. Sie ist eine unverzichtbare Dimension des Genießens, wird aber in Fragmente zerschnitten, die nicht mehr zu genießen sind.« Statt solchen unbestreitbaren Abwärtstrends nachzuhängen, wäre meine Empfehlung dagegen, die Kunst des ›going nowhere‹ zu üben. Wir alle kennen die Erfahrung, sich in den offenen Fenstern und Anwendungen auf dem Computermonitor zu verlieren, Recherchen anzustellen, die zu keinem Ziel führen, E-Mails von Freunden, die in Spam-Filtern hängen geblieben sind, tote Links zu stillgelegten Webseiten und verschwundenen Blogs. Das ist kein Grund, in konservative Klagen über den Niedergang der Zivilisation als Folge der Neuen Medien einzustimmen, können wir von der Psychogeographie doch lernen, wie sich verlorene Zeit in eine nie versiegende Quelle der Imagination und der Subversion umwandeln lässt.

$IE0RAXIS Schauen wir uns den Fall von Timi an, die sich selbst als Internet-Junkie bezeichnet und mir über ihre aktuellen Online-Erfahrungen berichtete: w)CHHABE3PA”DARAN MEINE:EITIM.ETZZUVERBRINGEN6ON% -AILENUND2ECHERCHIE RENBISHINZUM3PIELENODEREINFACHNUR'OOGELN)CHHËNGEGERNEINDIESERVIRTUELLEN 7ELTAB/FTVERMISSEICHSIEUNDINDENVERGANGENEN*AHRENKONNTEICHMICHNURSEL TENVONIHRLÚSEN$ASERSTE WASICHMORGENSMACHE ISTONLINEZUGEHEN$AS,ETZTE WASICHVORM)NS "ETT 'EHENMACHE ISTOFmINEZUGEHEN)CHHABEMEINE)NTERNET :EITALLERDINGSNIEMALSGENAUERANALYSIERTi

Der deutsche Medientheoretiker Wolfgang Hagen bezeichnet ein solches Verhalten als Gegenwartsvergessenheit oder auch »topische Amnesie« 7. Immer wieder machen sich die Medien unsichtbar. Trotz freier und Open Source-Software provoziert der Umgang mit dem Computer ›blinde Taktiken‹. Wir verlieren uns in einer technischen Umgebung, die durch eine hoch präzise Vermittlung von Wahlmöglichkeiten gekennzeichnet ist. Aber kommen wir zu Timi zurück: w)M'RUNDEBINICHIMMERONLINE:UHAUSE WËHRENDDER&ERNSEHERLËUFTODERWENNICH AM+OCHENBINnDIE6ERBINDUNGZUM.ETZWIRDSTËNDIGGEHALTEN/BICHSTUDIEREODER IM5RLAUBBIN :EITIM)NTERNETZUVERBRINGEN ISTFàRMICHLEBENSWICHTIG)CHlNDEES SCHWIERIG NICHTONLINEZUSEIN-EINE)NTERNETZEITISTMITTLERWEILEMITMEINEM!LL TAGSLEBENSOUNTRENNBARVERBUNDEN DASSICHMICH WENNMEIN-ANNUNDICHZ"UMZÚ GENUNDWIROHNE)NTERNETWËREN GERADEZUkVERLORENjUNDVONDER7ELTABGESCHNITTEN 6. 4IMI 3TOOP !LCALA 'EDANKEN ZUR )NTERNET :EIT PRIVATE % -AIL AN DEN !UTOR *ULI 7. 7OLFGANG(AGEN (FHFOXBSUTWFSHFTTFOIFJU "ERLIN-ERVE6ERLAG  3

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Hier fehlt, wie Hagen sagen würde, ›lebendige Gegenwart‹.Was die meisten Kritiker nicht begreifen können, ist die Medien-Indifferenz der heutigen Nutzer. Sie teilen sie in zwei Kategorien ein: entweder Komplizen oder Opfer – und auch diejenigen, die für das System arbeiten, sind im Endeffekt Opfer. Diesem Bild einer Maschine, die ihre Subjekte überwältigt, würde ich den ›kalkulierenden Bürger‹8 entgegenhalten, der, um mit den stetig wachsenden Anforderungen der Gesellschaft nach Leistung, Mitwirkung und Kommunikation noch Schritt halten zu können, sein Alltagsleben abgrenzt. Die Ressource in diesem Zusammenhang ist nicht Geld, sondern Zeit (und wie wir alle wissen, ist Zeit Geld). Was hier ›kalkuliert‹ wird, ist die Zeit, die mit bestimmten Mediengeräten verbracht wird. Sich in der Mediensphäre zu verlieren, muss nicht im Widerspruch zu striktem Zeitmanagement stehen. Manchmal ist es ein Luxus, sich zu verlieren, und die Datendandys, die unbeschwert durch das Netz flanieren, sind die idealen ›Netizen Prosumer‹. Ganz gleich wie sexy oder unattraktiv wir Zeitmanagement finden, es gibt keine einfache Synthese des ›Lokalen‹ mit dem ›Globalen‹. Nirgends bekommen wir ein besseres Bild, welche Mühen Arbeitnehmer mit unterschiedlichen Zeitzonen haben, als in der IT-Outsourcing-Industrie. Ein Freund aus Kalifornien beschreibt, wie seine Frau Beth, eine Projektmanagerin, ihre wöchentliche Sieben-Uhr-Telefonkonferenz abhält: w$IE,EUTEIN$EUTSCHLANDVERLIERENAN+ONZENTRATION WEILESSCHONVIER5HRIST UND DIEIN3INGAPURSINDAUSGELAUGT WEILESZEHN5HRNACHTSIST&àR"ETHISTESDAGEGEN FRàHAM-ORGEN SIEISTNOCHIM(ALBSCHLAFUNDSITZTDAINIHREM0YJAMAMITEINER 4ASSE4EE DIESIEWACHMACHENSOLL!LLESINDMàDE ABERESISTDIEEINZIGE:EIT IN DERSIEGLEICHZEITIGMITEINANDERSPRECHENKÚNNEN$IESISTEINEJENEREIGENTàMLICHEN IRREDUZIBLEN4ATSACHEN DIEEINEAUF%FlZIENZAUSGERICHTETE4ECHNOLOGIEEINFACHNICHT ABSCHAFFENKANNnDERTËGLICHE:YKLUSDESMENSCHLICHEN4IERESi

Rachel Konrad berichtet von einer Silicon-Valley-Firma, die mit Partnern aus Indien zusammenarbeitet. Am Ende des Arbeitstages in Kalifornien wGEHENDIE-ANAGERINEINEN+ONFERENZRAUM UMIN)NDIENANZURUFEN WODIE)NGENIEU RE :EITZONENVORAUS GERADEIN(YDERABADEINTREFFEN7ËHREND+OLLEGENAUF BEIDEN3EITENDES'LOBUSDIE+ONlGURATIONENEINER,EITERPLATTEUND$EBUGGING 3TRA TEGIENFàREIN0ROJEKTNAMENSk$OPPELGËNGERjBESPRECHEN HATEINWEITERER%NDLOSTAG INDER'ESCHICHTEDER&IRMAANGEFANGEN)NZWÚLF3TUNDENWERDENDIE"ESCHËFTIGTENIN )NDIENIHREN!RBEITSTAGMIT!NRUFENUND% -AILSNACH+ALIFORNIENBEENDEN WO-ANAGER 8. $ER"EGRIFFWURDEVONDEMNIEDERLËNDISCHEN3OZIOLOGEN+EES3CHUYTGEPRËGT 3IEHEDAZU2OBERT(ENRY#OX w4HE3OCIAL#ONSTRUCTIONOFAN)MPERATIVE7HY7ELFARE 2EFORM (APPENED IN $ENMARK AND THE .ETHERLANDS BUT .OT IN 'ERMANYi IN 7ORLD 0OLITICSn6OLUME .UMBER !PRIL 3 

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IM3ANTA#LARA (AUPTQUARTIERGERADEAM!UFWACHENSINDk7IRSORGENDAFàR DASSDAS 3TAFFELHOLZZWISCHEN)NDIENUND+ALIFORNIENIMMERWIEDERHIN UNDHERGEREICHTWIRD SOKÚNNENWIRVIELMEHR!RBEITINEINEN 3TUNDEN 4AGPACKENj SAGT*EFF(AWKEY 6ICE0RESIDENTOF(ARDWARE %NGINEERING DER!BENDTERMINESOWOHLVONSEINEM"àROALS AUCHZUHAUSEVONSEINEM,APTOPAUSWAHRNIMMTk/FTKOMMEICHABENDSHEIM BRINGE DIE+INDERINS"ETTUNDNEHMEANSCHLIE”ENDNOCHANDER4ELEFONKONFERENZTEILji

Nehmen wir das mächtige in Bombay ansässige Beratungsunternehmen Tata Consultancy Services, das weltweit 42.000 Mitarbeiter beschäftigt, darunter 14.000 in Indien, die Projekte aus den USA betreuen. Sie arbeiten in Schichten von 7 Uhr morgens bis 15 Uhr oder von 14 Uhr bis 22 Uhr Ortszeit, dazu kommen häufig noch frühe oder späte Treffen mit Übersee-Klienten. Die menschlichen Kosten von Arbeitswochen mit über 50 Stunden werden langsam sichtbar. »Es für ein paar Wochen so zu machen, ist eine Sache, aber diesen Stress permanent auszuhalten, ist etwas ganz anderes«, erfährt Konrad. »Wenn Führungskräfte über die Effizienz des Offshoring sprechen, vergessen sie oft den langfristigen Tribut, den das Management dafür zahlt.«9 In seinem Buch Fast Boat to China, Lessons from Shanghai,Corporate Flight and the Consequences of Free Trade (2006) besucht Andrew Ross die Cafeteria des Shanghai Pudong Software Park, in der chinesische Programmierer, Projektmanager und Ingenieure sich zum Mittagessen treffen. Dort traf er auch Emiy Zhang. Sie sprach darüber, dass es der jungen Generation wichtig ist, hart zu arbeiten. Die Körper werden heruntergewirtschaftet und müssen im FitnessStudio wieder mit Spannung und Energie versorgt werden. Was hier wirklich los ist, sehe man am besten, wenn man spätabends durch den Park geht. Sie selbst arbeitet oft bis 22 Uhr und die Firma zahlt ihr dann das Taxi nach Hause. Arbeitswochen von 70 oder 80 Stunden sind in dieser Industrie die Regel. Aber die Nachtschicht, sagt Ross wWARETWASWIRKLICH3PEZIELLES$IE!NGESTELLTENINVIELENDIESER"àROSARBEITETENIN AUSGELAGERTEN 'ESCHËFTSPROZESSEN FàR +LIENTEN AUS ANDEREN :EITZONEN $AS 4IMING IHRER !RBEITSSCHICHTEN WAR EIN WICHTIGER &AKTOR BEI DER %NTWICKLUNG EINES 0ROJEKTS ODERFàRDIE,IEFERUNGEINER$IENSTLEISTUNG DIETËGLICHGLOBALEN)NPUTERFORDERTE;x= )NEINEMSOLCHEN5MFELD INDEMDIE+LIENTEN DIEDIE!UFTRËGEGABEN IN3YDNEY 3IN GAPUR 9OKOHAMA ,ONDONODER#HICAGOSITZENKONNTEN WURDEDERKLASSISCHE.INE TO &IVE *OBZUEINEMRAPIDESCHWINDENDEN,UXUS7ENNSIESEHRVIEL'LàCKHATTEN KAMEN DIE!NGESTELLTENNOCHMITEINER 3TUNDEN 7OCHEHINnNUR DASSSIEVIELLEICHTNICHT WUSSTEN WELCHE3TUNDENSIEARBEITENWàRDENi

Vor einigen Jahren veröffentlichte ich eine Online-Polemik gegen die Absicht der Schweizer Uhrenfirma Swatch, ihren eigenen Internet-Zeit-Standard zu 9. 2ACHEL+ONRAD!SSOCIATED0RESS w&OR3OME4ECHIES AN)NTERMINABLE7ORK DAYi -AIHTTPINDIADAILYCOMBREAKING?NEWSASP 10. !NDREW 2OSS 'BTU #PBU UP $IJOB  -FTTPOT GSPN 4IBOHIBJ  $PSQPSBUF 'MJHIU BOE UIF$POTFRVFODFTPG'SFF5SBEF .EW9ORK0ANTHEON"OOKS  3

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lancieren.11 Die Entwickler-Community wie die Internet-Nutzer im Allgemeinen ignorierend, versuchte dieses verrückte Unternehmen, einen eigenen Zeitstandard durchzusetzen! Es scheiterte im großen Stil. Swatch Time gibt es zwar immer noch,12 und es wurde sogar auf einigen Websites installiert, aber weder die Hacker noch die Early Adopters haben sich jemals darauf eingelassen. Die meisten wissen wohl nicht einmal, dass es sie überhaupt gibt. Während Blogs in ihren rechten und linken Spalten bizarre Ansammlungen von Bannern und Zusatz-Funktionalitäten unterbringen, lässt sich das Swatch Time-Icon dort nirgends finden. Eine globale Standardzeit, eine ›One Time‹ wird auch nicht benötigt, viel eher aber eine geschärfte globale Zeitwahrnehmung. Wissen Sie, wie spät es gerade in Brasilien ist? Schlafen die Leute dort noch, frühstücken sie gerade, oder sind sie in der Stadt unterwegs, weil die Sonne über São Paulo untergegangen ist? Es ist dieses Zeit-Wissen, in Verbindung mit einem Sinn für kulturelle Differenzen, das zählt, wenn man an Online-Projekten mitarbeitet. Eine wachsende Zahl von Websites gibt inzwischen ihre Ortszeit an, was extrem nützlich ist, wenn man mit vielen verschiedenen Menschen, die über den ganzen Planeten verstreut sind, zusammenarbeitet. 13 Klagen über die globale Zeit kommen häufig von Theoretikern, die nicht in der Lage sind, zwischen Radio und Fernsehen auf der einen und dem Internet auf der anderen Seite zu unterscheiden. Das Echtzeit-Regime, auf das sie sich beziehen, gibt es in Wirklichkeit nämlich nur bei globalen Fernsehereignissen, die live per Satellit übertragen werden.14 Genau genommen haben wir die Echtzeit-Ära in dem Moment hinter uns gelassen, als BBC News mitteilte, sogenannte ›Delay‹-Technologie installiert zu haben, um live eintreffende Nachrichtenbilder filtern zu können. Von nun an kann ›Live‹-TV kontrolliert werden, ohne dass die Zuschauer es bemerken. Dieser Schritt erfolgte in Reaktion auf die unzensiert übertragenen Bilder der blutigen Geiselnahme einer Schule durch tschetschenische Kämpfer 2004 im russischen Beslan. Die Medienphilosophie-Professorin Sybille Krämer, die kürzlich bei einem Marathon mitlief, berichtete mir: »Wenn man nicht joggt, fehlt einem Zeit; wenn man trainiert, hat man Zeit.« Offensichtlich ist unsere Erfahrung von Zeit subjektiv und die objektive Zeitmessung eine bloße Konvention. Planungs11. 3IEHEDAZU'EERT,OVINK w.ET4IMESVERSUS3WATCH4IME$IEGLOBALEN:EIT KRIEGEDES*AHRHUNDERTSi IN%BSL'JCFS "ONN"UNDESZENTRALEFàRPOLITISCHE"IL DUNG  3  12. WWWSWATCHCOMINTERNETTIME 13. 3IEHE DAZU BEISPIELSWEISE WWWCLOCKLINKCOM w#LOCKLINK BIETET MODERN GE STALTETE5HRENAN DIEMANAUFEINFACHE!RTUND7EISEINDIEEIGENE7EBSITEEINBINDEN KANN!LLESWASMANTUNMUSSIST DENk4AGjAUFDER7EBSITEEINZUFàGEN5NSERE5HR WIRDDEN3TADTNAMEN)HRER7AHLANZEIGEN-ANKANNAUCHDIEPASSENDE:EITZONEAUS WËHLEN SODASSDIE5HRDIERICHTIGE:EITANZEIGTi 14. :UEINER+ULTURGESCHICHTEDER3ATELLITENUNDZUDENERSTENGLOBALEN%CHTZEIT 3ENDUNGEN SIEHE ,ISA 0ARKS $VMUVSFT JO 0SCJU  4BUFMMJUFT BOE UIF 5FMFWJTVBM $URHAM ,ONDON $UKE 5NIVERSITY 0RESS  SOWIE MEIN )NTERVIEW MIT ,ISA 0ARKS DAS AM .OVEMBERAUFDER.ETTIME-AILINGLISTEGEPOSTETWURDE

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techniken, die helfen, mehr verfügbare Zeit zu gewinnen, werden in einen direkten Zusammenhang zu Fragen der Lebensqualität gestellt. Was ich im Verlauf von zehn bis fünfzehn Jahren eigener Erfahrungen im Internet mitbekommen habe, ist jedoch nicht Zeitknappheit, sondern ›Zeit-Indifferenz‹. Es handelt sich dabei um eine Lebensqualität, die man schätzen lernt. Die meisten Nutzer beschweren sich darüber, dass ihr Computer ›Zeit frisst‹, statt sie zu befähigen, ihr Leben freier zu gestalten. Viele meiner Kollegen verbringen täglich bis zu fünf Stunden damit, ihre E-Mails zu beantworten, und wundern sich dann am Ende des Tages, dass sie nicht so viel geschafft haben. Doch es gibt Lösungen für dieses moderne Gefühl des Unbehagens. Die Antwort auf Zeitpanik liegt nicht darin, Listen zu machen und Prioritäten zu setzen, wie es Coaching-Gurus wie Anthony Robbins und David Allen empfehlen. Steve Pavlina, ein anderer New-Age-Guru, meint: »Beim Zeitmanagement werden die wahren Gewinne an der Spitze, nicht an der Basis erzielt. Wenn deine leitenden strategischen Entscheidungen auf einer unangemessenen Einschätzung der Wirklichkeit beruhen, dann werden deine Missionen, Ziele, Projekte und Handlungen im Zusammenhang des großen Ganzen bedeutungslos. Alles, was du zustande bringst, ist nichts weiter als geschäftiges Treiben.« 15 Einverstanden, Steve. Aber was ist nun die Realität des Internets? Was wäre, wenn Ablenkung und nicht Effizienz das entscheidende Prinzip ist? Die »verlorene Zeit« macht sich nicht gleich bemerkbar, auch die Indifferenz ist nicht von Anfang an da. Man beginnt erst davon Notiz zu nehmen, wenn man seine Sitzungen genauer wahrnimmt. Die Online-Session ist vielleicht die beste Zeiteinheit, um eine angemessene Zeitvorstellung im Internet zu erfassen. Man denke nur an mehrere Sitzungen, die gleichzeitig stattfinden, wie z.B. Chatten, via Skype sprechen, durch MySpace surfen, Videos anschauen, Blog-Links nachgehen, eintreffende E-Mails lesen und beantworten, eine Suche durchführen. Wenn man (mit seinem DSL-Breitband-Zugang) die ganze Zeit online ist, ist es das Bündel dieser endlosen Sitzungen, das die Internet-Erfahrung definiert. Je besser wir die Architektur bestimmter Medien verstehen, ihre Schnittstellen und Programme, desto weniger Zeit müssen wir auf sie verwenden und können dann umso mehr in kommunikative Räume übergehen, entweder technisch vermittelte oder dorthin, wo wir Menschen im ›realen Leben‹ treffen. Trotzdem gibt es zahlreiche Probleme – Sicherheitsrisiken, Firmen, die uns zwingen wollen, ihre Software zu aktualisieren, Hardware, die ihren Geist aufgibt etc. Der durchschnittliche Nutzer kauft alle drei Jahre einen neuen Computer. Wenn es diese hohe Zirkulation nicht gäbe, würden wir – ohne es zu planen – wahrscheinlich noch viel weiter abdriften. Stattdessen stehen wir dauernd unter dem Beschuss von E-Mails, die uns dazu drängen, die aktuellsten AntiViren-Definitionen oder Software-Patches herunterzuladen. Die Zeit, die man bei der Interaktion mit Medien verbringt, unterteilt sich in drei klar unterscheidbare Tätigkeitsfelder. Im ersten verwendet man Zeit darauf, das Gerät zu konfigurieren, Software zu installieren, zu lernen, damit 15. WWWSTEVEPAVLINACOMBLOGTIME MANAGEMENT$IESE3EITEGIBTAUCH 4IPPS wWIEMANZUM&RàHAUFSTEHERWIRDi

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umzugehen und sich mit den Navigationswerkzeugen vertraut zu machen. Im zweiten beschäftigt man sich mit bestimmten anwendungsbezogenen Inhalten wie Blogs, E-Mails, SMS und iPods. Erst wenn wir alle E-Mails heruntergeladen und die Intranets und Blogs gecheckt haben, treten wir in den dritten Zeitbereich ein, die flache, unendliche Zeit reiner Kommunikation – ob mit Menschen oder Maschinen. Intellektuelle Medien-Analphabeten wissen wenig über den Unterschied zwischen der Meta-Steuerung der Maschine und dem Fließen der Interaktion, wenn die Verbindung oder Anwendung erst mal funktioniert. Der ›kalkulierende Bürger‹ dagegen hat einen effizienten Umgang mit der ersten Zeiteinheit und deshalb sehr viel Zeit für die übrigen. Und in der Tat ist es ein großes Vergnügen, die Welt der nüchternen Notwendigkeiten hinter sich zu lassen und sich in die pulsierende Sphäre flottierender Daten hineinzubegeben. In der ›Aufmerksamkeitsökonomie‹ 16 wird alles daran gemessen, wie viel Zeit man mit dem jeweiligen Medium oder Menschen verbringt. Das kann eine Website sein, die Lieblingssendung im Fernsehen, SMS-Nachrichten an einen Freund, ein Telefonat oder ein Blogeintrag über das Konzert, das man letzte Nacht besucht hat. Lange Zeit blieb die Aufmerksamkeitsökonomie nur ein gehyptes Konzept, das in den spekulativen neunziger Jahren lanciert worden war, um die Verschiebung von der Warenproduktion hin zu immateriellen Gütern zu markieren. Der Grund, weshalb Aufmerksamkeit als eine derart interessante Ware gilt, liegt darin, dass sie so rar ist. Wie Michael Goldhaber 1996 in seinen Prinzipien der Neuen Wirtschaft schreibt: »Aufmerksamkeit ist knapp, weil wir alle nur ein begrenztes Maß davon auf bringen können und sie auch nur von uns kommen kann – nicht von Maschinen, Computern oder von wo auch immer.«17 »Aufmerksamkeit ist nur ein anderes Wort für ›Zeit‹ […], so wie man sagt ›wo ich meine Zeit verbringen möchte‹«.18 Das war vor zehn Jahren. Inzwischen sind Bestrebungen im Gange, die Grundlagen für eine tatsächliche webbasierte Aufmerksamkeitsökonomie zu schaffen – nur eine von zahlreichen aktuellen Initiativen im Raum der Blogosphäre und des Web 2.0. Die ›Aufmerksamkeitstechnologie‹ baut auf jüngeren Erfahrungen und Entwicklungen mit XML, RSS-Feeds, del.iou.us, furl-Archiven (öffentlich zugänglichen privaten Link-Sammlungen) etc. auf. Die nächste Entwicklung ist dann, dass man Informationen über die Zeit, die man auf einer Website verbracht hat, für andere verfügbar macht. Wegen des ernstzunehmenden und systematischen Missbrauchs der Privatsphäre durch Staat und Privatwirtschaft sind die User, was die Weitergabe von Daten ihres Surf-Verhaltens betrifft, zwar vorsichtiger geworden. Einen neuen Schub könnte die Aufmerk16. WWWALAMUTCOMSUBJECONOMICSATTENTIONFRANK?DISCUSSIONHTML 17. WWWWELLCOMUSERMGOLDHPRINCIPLESHTML 3IEHE DAZU AUCH SEINEN %SSAY

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samkeitsökonomie allerdings erfahren, wenn sie anfangen, mit Informationen dieser Art zu handeln und Metadaten über ihr Surfverhalten zu verkaufen. Einige ›Social Internet‹-Unternehmer haben kürzlich eine Nonprofit-Stiftung ins Leben gerufen, den sogenannten Attention Trust, der Standards und Grenzen dafür bestimmen soll, was Firmen mit den gesammelten Aufmerksamkeitsdaten anstellen dürfen und was nicht.19 Ohne Vertrauen und Transparenz wird die Aufmerksamkeitsökonomie, egal wie cool und ausgefuchst sie aussehen mag, nicht in Schwung kommen. Die Stiftung hat auch einen eigenen ›Aufmerksamkeitsrekorder‹ entwickelt, der in den Browser integriert wird, um den Click-Stream des Nutzers aufzuzeichnen. Während das Internet als Informationsumgebung Phänomene der Zeitlosigkeit hervorbringt und als ausgedehnter Raum endloser Datenbanken und verlinkter Websites wahrgenommen wird, bleiben die meisten User in den kleinen Siegen und Tragödien ihres täglichen Lebens gefangen. Der Handel mit Daten über die Aufenthaltsdauer einzelner Besucher auf einer Website zeigt nur, wie tief wir bei der Erforschung kurzzeitbezogener Aktivitäten gesunken sind. Aufmerksamkeitsdaten – als neue Währung der Zeitökonomie – mögen interessant sein, wenn man sie von einer ausgewählten Gruppe junger High-End-Nutzer oder professioneller Wissensarbeiter erhebt. Aber in den meisten Fällen würden sie wahrscheinlich nur zeigen, wie gering die Verweildauer normaler User im Internet ist. Die Diskrepanz zwischen riesigen Bibliotheken und den Grenzen des kurzlebigen Individuums muss auch früher schon existiert haben. Was dem gegenwärtigen Daten-Exzess solch ein Gewicht gibt, ist die Intimität und die dauerhafte Zugänglichkeit eines derart detaillierten Wissens. Der japanisch-amerikanische Risikokapitalist und Internet-Guru Joi Ito ist klug genug, sensible Details seiner Finanzgeschäfte aus seinem Blog rauszuhalten. Dennoch kann man relativ einfach zurückverfolgen, wie er Reisen in der realen Welt (in seinem Fall zwischen Japan, den USA und Europa) mit seiner Online-Präsenz verbindet. Es ist interessant festzustellen, wie Ito von seinem enorm erfolgreichen Blog zunehmend gelangweilt wurde. In der zweiten Hälfte des Jahres 2005 fing er an, bei World of Warcraft (WoW) mitzumachen, einem gigantischen Multiplayer Online-Rollenspiel. Im folgenden Blogeintrag beschreibt er, wie er mit unterschiedlichen Medien wie PC und Mobiltelefon jongliert: w)CHSITZEINEINEM!UTOAUFDEM7EGVOM&LUGHAFENNACH(AUSE NACHDEMICHAUS .EW 9ORK IN *APAN ANGEKOMMEN BIN )CH HABE EINEN  STàNDIGEN &LUG HINTER MIR WËHRENDDESSENICHMEINE% -AILSGECHECKTUNDEINPAAR"ERICHTEGESCHRIEBENHABE 7IESCHONBEMERKTWURDE ISTDIE(ËUlGKEITMEINER%INTRËGEWIEAUCHDIE!NZAHLDER VONMIRGELESENEN"LOGS DEUTLICHZURàCKGEGANGEN SEITICHANGEFANGENHABE 7ORLDOF

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Ito gibt zu, ein typischer Early Adopter zu sein: w7ENNICHANMEINEFRàHEN"LOGGING 4AGEZURàCKDENKE DAKAMJEDE7OCHEWASNEUES #LEVERESUND#OOLESAUFDEN-ARKT "LOGROLLS &ACEROLLS 4ECHNORATIETC-EIN$ATENVER KEHRWUCHS "LOGSWURDENGLOBAL UNDALLESWARNEUxZUMINDESTFàRMICHi

Ito beschreibt detailliert, wie die Nutzung von Anwendungen und Plattformen mit Zeit-Investitionen erkauft wird. Doch egal wie mächtig diese Killer-Applikationen sind, der nervöse Vorreiter muss weiterziehen, eine Datenruine nach der anderen hinter sich lassend. Nachdem er E-Mail und Homepages verworfen hat, sind nun auch die Blogs an der Reihe. Ito sagt: w3TËNDIGWERDENNEUE$INGEENTWICKELT DOCHIMMERMEHRDAVONSCHEINENAUCHNEUEN ¯RGER MIT SICH ZU BRINGEN !NPASSUNGSSCHWIERIGKEITEN àBERDIMENSIONIERTE 'EMEIN SCHAFTENODERDAS0ROBLEM kNORMALE,EUTEjAUFDIENËCHSTHÚHERE3TUFEMITZUNEHMEN :USËTZLICH WECKT DIE NEUE +ONSUMENTEN )NTERNETBLASE DIE !UFMERKSAMKEIT BISLANG UNBETEILIGTER)NVESTOREN$ASISTEINWICHTIGES-OMENT UM"LOGSZUEINEMWIRKLICH ALLGEGENWËRTIGEN0HËNOMENZUMACHEN ABERESFàHLTSICHZUNEHMENDWIEECHTE HARTE !RBEITANi

Und Arbeit bedeutet hier, immer mehr Leerlaufzeit einer Technologie von gestern zu widmen. Die Prime Time wird für private Passionen genutzt, das Neue zu hacken. Ito weiter: w!LSICHVOREINIGEN4AGENZUEINEM"ESUCHBEI.OKIAIN(ELSINKIWAR HABEICHWËH RENDDER7ARTEZEITENIN-ENSCHENSCHLANGENODER4AXISMITMEINEM4ELEFONGESPIELT%S DËMMERTEMIR DASSDAS WASICHWIRKLICHGERNEHËTTE BESSERES-OBLOGGINGIST7ENN ICHJETZTVOREINEM#OMPUTERMIT)NTERNETZUGANGSITZE LANDEICHGESCHËFTLICHMEIS TENSBEI)-)NSTANT-ESSAGING UNDFàRS6ERGNàGENBEI7ARCRAFT7ENNICHUNTERWEGS BIN HABEICH,EERLAUFZEITEN DIEICHNUTZENKÚNNTE UM"LOGSZULESENUNDFàRMEIN "LOGZUSCHREIBEN)CHDENKE DIESISTEIN:EICHENDAFàR DASS"LOGGINGNUNNICHTMEHR MEINEPRIMËRE/NLINEBESCHËFTIGUNGIST SONDERNMEIN0AUSENFàLLERi

Während er ständig zwischen Schreiben, Bloggen, Spielen und Sprechen hinund herschaltet, ist Ito auf der Suche nach Möglichkeiten, seine ›Maschinenzeit‹ weiter zu optimieren: »Wenn ich in Betracht ziehe, wie viel ungenutzte Zeit ich an meinem Telefon verbringe, glaube ich, dass ich immer noch relativ regelmäßig bloggen könnte. Außerdem wünschte ich mir, dass es bessere Möglichkeiten zum Lesen und Schreiben gäbe, wenn ich unterwegs bin und der Computer keine Verbindung hat.«20 20. *OI )TO w7ILL -ORE -OBLOGGING (ELPi  $EZEMBER  HTTPJOIITO COMARCHIVESWILL?MORE?MOBLOG?HELPHTML

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!NDERE:EIT Das Thema ist für mich nicht, von überall aus 24 Stunden am Tag online zu sein, sondern vielmehr, ein Bewusstsein für andere Zeiten zu entwickeln. Das ist einfacher gesagt als getan. Selbst erfahrenen Internetforschern und ausgewiesenen Technikfreaks gelingt es manchmal nicht, im Auge zu behalten, ob eine Person auf einem anderen Kontinent sich in einer früheren oder späteren Zeitzone als der eigenen befindet. Diese Verwirrung verstärkt sich noch, wenn man selbst Reisen zu anderen Kontinenten unternimmt. Für viele ist es noch immer überraschend, dass die maximale Zeitdifferenz nicht 24, sondern 12 Stunden beträgt. Man muss die GMT(Greenwich Mean Time)-Referenz ignorieren, die den Eindruck vermittelt, dass es einen bis zu 24-stündigen Zeitunterschied geben kann. Wenn auf Robert Hassans kleinem Schreibtisch die Weltuhr für Melbourne Mittwoch 3:43 p.m. und für Honolulu Dienstag 6:43 p.m. angibt, bedeutet das keinen Zeitunterschied von 21, sondern nur von 3 Stunden. Insofern arbeiten Teams in Australien und Hawaii reibungslos zusammen … außer man nimmt sich das Wochenende frei (wie es einst von den christlichen Kirchenvätern bestimmt wurde). Einen Sinn für andere Ortszeiten zu entwickeln, beginnt mit der abstrakten Idee, dass man in der Zeit vor- oder rückwärts gehen muss. So wird weniger die globale Zeit, sondern eine generelle Verknappung der Zeit als das größere Problem wahrgenommen. Man hat kaum mit dem ziellosen Surfen angefangen, wenn man die Sitzung schon wieder abbricht, weil die Aufmerksamkeit woandershin gewandert ist oder eine andere Technologie dazwischenfunkt. Es kommt einem so vor, als trockneten die Zeitreserven regelrecht aus. In den Chefetagen von High-Tech-Unternehmen hat man das Zeitmanagement immer im Blick und kann online genau verfolgen, was die einzelnen Mitarbeiter gerade tun. Neue Medien sind als ›Zeitfresser‹ bekannt, und die beim Computerspielen, Instant-Messaging, sozialen Netzwerken, Bloggen und E-Mailen ›verlorene Zeit‹ ist immens. Irgendwann wird man beginnen, gegen den Zeitverlust anzugehen. Ausgereifte Überwachungssoftware existiert bereits, nicht nur um Angestellte zu kontrollieren, sondern auch, um sie zu sanktionieren: Die Zeit, die man während der Arbeit für private E-Mails verwendet, wird automatisch vom Gehalt abgezogen. In seinem Buch Small Pieces Loosely Joined, A Unified Theory of the Web merkt David Weinberger an, dass die Internetzeit angeblich sieben mal schneller sei als die Zeit in der realen Welt. Noch wichtiger als die Geschwindigkeit der Zeit sei aber die Tatsache, dass man im Web seine Zeit unter Kontrolle habe. Weinberger behauptet, dass Internetzeit ›gethreaded‹ wird. Er definiert einen ›Thread‹ (Strang) als eine Reihe von Nachrichten zu einem bestimmten Thema. Das bedeutet, dass Dialoge zwei Dimensionen besitzen: eine chronologische, sich durch die Zeit bewegende, und eine systematische, die nicht zeitbezogen ist. Threads bündeln den Informationsfluss des Internets in sinnvolle Zusammenhänge und bilden Kontexte, zu denen man immer wieder zurückkehren kann. Während bei Gesprächen in der realen Welt Themen aufeinander folgen, können wir in einem Hyperthread-Medium wie dem Internet »ohne den

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Widerstand des Raums und unser auf Erlaubnis basierendes Sozialgefüge unseren Interessen freien Lauf lassen«. Weinberger kommt mit Heidegger zu dem Schluss, dass die »fundamentale Einheit der Zeit nicht der Moment ist, sondern eine Geschichte, und dass der Strang, der die Zeit zusammenhält, nicht die bloße Folge von Momenten ist, sondern unser Interesse an dieser Geschichte.« Wir sollten unserem Herzen folgen, nicht dem Zeittakt der Maschine. »Anders als ein reines Kommunikationsmedium vermehrt das Internet seinen Wert. Es ist die fortdauernde Summe aller Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen.« »Vita brevis, ars longa.« Francis Bacon übersetzte diesen Aphorismus des Hippokrates mit »Life is Short; Art is Long.« In einen zeitgenössischen Kontext übersetzt, hieße es: Deine Kunst wird dich überleben. Auf die Online-Welt übertragen, könnte man ihn dagegen wie folgt übersetzen: »Die Kunst ist lang, und Internet-Postings sind wie Eintagsfliegen.« Die Zahl der Internet-Seiten, die verschwinden, ist alarmierend. Kein Medium ist so instabil wie das Internet. Dass das Geschwätz von heute als digitale Information gespeichert wird, erhebt es nicht in den Rang von historischen Aufzeichnungen. Nur Techno-Deterministen mit geringer Erfahrung in Computer-Kultur erklären, da alles aufgezeichnet wird, werden auch keine Daten verloren gehen … und deshalb leiden sie jetzt an Informationsüberflutung (»Die Leiden des jungen Bloggers«). Das Internet ist keine Zeitmaschine, die uns mal eben von hier nach da teleportiert. Trotz seines Images als ›Virtualisierer‹ und ›Beschleuniger‹ ist das Netz nicht wirklich futuristisch. Egal welche Fortschritte gemacht wurden, seine Oberfläche und Geschwindigkeit bleiben träge und irgendwie enttäuschend. Im Vergleich mit aktuellen Computerspielen und »Virtual Reality«-Systemen ist das Internet noch fast so rudimentär wie vor zehn oder fünfzehn Jahren. Weiterhin stürzen Browser ab und brechen Verbindungen zusammen, ganz gleich, wie sehr die Geschwindigkeit in den letzten Jahren zugenommen hat. 21 Ähnlich wie bei der Benutzerfreundlichkeits-Debatte der späten neunziger Jahre können wir uns nun fragen, ob die gemessene Aufmerksamkeit wirklich auf den Inhalt gerichtet war oder wir nicht ständig irgendwelchen Tagträumen nachhängen. Dies führt dann zur nächsten Stufe der Verdinglichung und Vermarktung, auf der unsere unbewussten Abschweifungen und Kurzschlafphasen gemessen, eingestuft und für den Verkauf auf bereitet werden. Das Konstrukt der User als bewusster Personen – als Menschen, die wissen, was sie suchen und schnellstmöglich haben wollen – bleibt fragwürdig. In seinem Buch Die Intelligenz des Bösen schreibt Jean Baudrillard: »Die Zeit selbst, die gelebte Zeit, hat keine Zeit mehr, um stattzufinden.« In dieser Pathologie der Postmoderne ist das Internet zweifellos die Offenbarung der EchtzeitMacht. Da kein Regimewechsel mehr möglich ist, stecken wir komplett fest. In diesen dunklen Stunden fühlt man sich so eingesperrt wie in der Sowjetunion der siebziger Jahre. »Das Mögliche selbst ist nicht mehr möglich. Was stattfindet, findet statt, und damit genug.« Selbst das Ereignis und seine radikale Diskontinuität sind zu einem Ende gekommen: »Es gibt nur mehr die offen21. -EHRDAZUHABEICHINMEINER!NTRITTSVORLESUNGAUSGEFàHRT5IF1SJODJQMFPG /PUXPSLJOH !MSTERDAM!MSTERDAM5NIVERSITY0RESS 

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$IE)NDIF FERENZDERVERNETZTEN'EGENWAR TÄBER)NTERNET :EIT

sichtliche Evidenz der Aktualität…«22 Das Problem dieser Außenseiterperspektive auf digitale Sachverhalte liegt in ihrem Mangel an Ironie und Humor. Neue Medien werden hier als perfekte Maschinen und ganzheitlich durchorganisierte Unternehmen angesehen. Das alltäglich erlebte ›Nicht-Funktionieren‹ wird einfach ausgeklammert und stattdessen durch den Ekel vor dem perfekten Simulakrum ersetzt. In seinem Essay Time to Revolt – Reflections on Empire plädiert John Holloway dafür, die »Homogenität der Zeit zu durchbrechen«. 23 Er ruft dazu auf, eine Welt zu erschaffen, in der »die Dauer zersplittert und Zeit kein langes Eisenbahngleis oder Stück Pizza mehr ist, sondern sich zur Intensität der Benjamin’schen Jetztzeit hin entwickelt oder zum Nunc Stans, zur ewigen Gegenwart Ernst Blochs, also zur zeitlosen Zeit.« – »Dem bürgerlichen Denken ist dies natürlich völlig fremd. Es basiert auf Identität und der Fortschreibung des Gegebenen, und es ist besessen von Paradigmen, vom Etikettieren, Klassifizieren, davon, Dinge zusammenzufügen und hübsche Kästchen anzufertigen.« Wir müssen gegen die Zeit selbst rebellieren. »Die Zeit wird schwerfällig, beinahe zu einer festen Masse, die in Portionen geschnitten werden kann, in Perioden, Paradigmen, alles Millionen von Meilen entfernt von der zeitlosen Zeit intensiver Liebe oder intensiven Engagements.« Statt den klassischen Gegensatz von subversivem Leben versus Maschinenzeit zu wiederholen, können wir zeitlose Netzkulturen beobachten, erleben und mitgestalten, die die kapitalistische Zeitlogik untergraben – selbst in Zeiten geradezu Orwell’scher Überwachungssysteme und Datenausspähung. Robert Hassan fragt in diesem Zusammenhang: w7ASFàREINE!RTVON:EITERLEBENWIREIGENTLICHONLINE WENNWIRUNSZWISCHENTOTEN ,INKS VERLIEREN VON ZUGANGSBESCHRËNKTEN 3EITEN ABGEBLOCKT WERDEN 3UCHANFRAGEN MITUNGEWISSEM%RGEBNISSTARTEN%SISTKEINE5HR :EITUNDAUCHKEINE3WATCH :EIT SONDERN EINE :EIT VON 6ERZÚGERUNGEN UND 6ERHARREN VON 7ARTEN UND +LICKEN VON SCHNELL UND LANGSAM %S IST DIE %RFAHRUNG VON UNTERSCHIEDLICHEN 'ESCHWINDIGKEITEN UNDVON!SYNCHRONIZITËTi

Internet-Zeit ist jedoch nicht nur durch Brüche charakterisiert. Wir müssen einen Weg finden, die Figur des ›Flaneurs‹ in die heutige Welt zu übertragen und aus ihrem identitätszentrierten Kontext herauszulösen. Online zu sein, ist kein Lifestyle. Dies war der fundamentale Irrtum der in Kalifornien ansässigen Boing-Boing/Mondo 2000-Fraktion, die die Cyberkultur in den frühen neunziger Jahren für eine Weile beherrschte, bevor das Wired Magazine die aggressive Business-Agenda in den Dunstkreis des Techno-Libertinismus einbrachte. Im Internet ist Orientierungsverlust keine Ausnahme, sondern die Regel. 22. *EAN "AUDRILLARD %JF *OUFMMJHFO[ EFT #zTFO 7IEN 0ASSAGEN  3 U 3  23. *OHN (OLLOWAY 5JNF UP 3FWPMU ° 3F¿FDUJPOT PO &NQJSF   HTTPLIBCOM ORGLIBRARYTIME TO REVOLT EMPIRE JOHN HOLLOWAY 24. % -AILANDEN!UTOR $EZEMBER

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Insofern kann der vage Nutzer kaum als Außenseiter oder Rebell dargestellt werden. Keine Positionswechsel mehr! Oder, wie Bruce Sterling sagt: »Wir sind über den ›point of no return‹ hinaus.«25 Die ›Gizmofizierung‹ der Welt macht es unmöglich, das Internet als einen Sandkasten von Mikro-Identitäten zu marginalisieren. Es gibt keine Avantgarde oder Bohème mehr, die uns in irgendein radikales Wunderland führen könnte – nur die ›Neokraten‹ setzen sich durch, die Expertenkaste, die das Wissen über die neuesten und coolsten Funktionalitäten für sich reklamiert. Statt immer kleinere (oder größere26) Mengen von Zeit zu verwalten, ist es eher von Interesse, zu erforschen, wie wir unter den gegenwärtigen Bedingungen des »mentalen Kapitalismus« (Georg Franck) ›aus der Zeit heraustreten‹ können. Es wird kaum damit getan sein, lineare Zeitpläne zu kritisieren oder das zyklische Zeit-Modell als Ausweg aus der Zeit-Ausbeutung einzuführen. Statt Entwicklung und Fortschritt zu erleben, würden wir uns nur im Kreis bewegen – ein Gefühl, das wir ohnehin haben. Es scheint also unvermeidbar zu sein, durch die ›Wüste des Realen‹ zu ziehen, in den Nächten hier und dort zu kampieren, ohne Versprechen, jemals aus der gegebenen Raum-Zeit-Kapsel entfliehen zu können. Kritische Diagnosen der Chronopolitik unserer Zeit zu liefern ist eine Sache, alternative Modelle in bestehende Netzwerk-Architekturen einzuschreiben aber eine ganz andere. Es reicht nicht aus, quasi-spirituelle Zeiterfahrungen in den privaten Raum zu delegieren – eine Taktik, die von NewAge-Führern gepredigt und von sogenannten ›Change Managern‹ praktiziert wird. Radikale Zeiterfahrungen sollten nicht als Ausgleich für hohen Arbeitsstress propagiert werden. Qualitätszeit wird uns nicht vor dem Quantitätselend retten. Auch sollten wir uns davor hüten, allzu leicht den Jargon von Wandel und Transformation – in diesem Fall von Zeitregimes – zu übernehmen. Was uns erwartet, ist weder grundsätzlich gut noch schlecht. Es bleibt uns nur, zu forschen, zu erinnern, alte Konzepte wiederzuverwenden, die uns dabei helfen, die unerträgliche Leichtigkeit des Echtzeit-Lebens zu meistern. Wir brauchen autonome Strategien: ein Zeitmanagement des Selbst. Wie können wir stilsicher surfen, ohne dabei den digitalen Trend zu untermauern oder zu glorifizieren? »Selbst-Wissen ist Macht.«27

25. 3IEHE"RUCE3TERLING 4IBQJOH5IJOHT #AMBRIDGE-!-)40RESS  26. !LS EINE !RT 3PIEGELPROJEKT DER !UFMERKSAMKEITSÚKONOMIE ENTWICKELTE EINE

'RUPPEVON4ECHNORATISUM3TUART"RANDDAS,ONG.OW0ROJEKTEINE5HR DIEALLEZEHN TAUSEND *AHRE TICKT WWWLONGNOWORG  w$IE k,ONG .OW &OUNDATIONj HOFFT EINEN +ONTRAPUNKTZURHEUTIGENkSCHNELLERBILLIGERj -ENTALITËTZUSETZENUNDEINkLANGSAME RESBESSERESj$ENKENZUFÚRDERNi7IKIPEDIA 27. HTTPNOMEDIAKINGSORGVIDZTIME?MANAGEMENT?FOR?ANARCHISTS?THE?MOVIE HTML

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7IEDERBEGEGNUNGMITDEM3ARAI  &àNF*AHRE.EUE -EDIEN +ULTURIN)NDIEN Anfang 2001 wurde in Delhi das Neue-Medien-Zentrum Sarai eröffnet. Sehr bald hat sich das Sarai einen Namen für seine hochwertige Arbeit und sein kritisches Engagement gemacht. Ich selbst war in diese Entwicklung seit ihren Anfängen 1998 involviert. In meinem letzten Buch Dark Fiber habe ich ein Kapitel über seine Gründung und seine ersten Programme geschrieben. Bis 2006 hat das Sarai eine Phase geradezu spektakulären Wachstums erlebt, in der das Netzwerk der Mitarbeiter und Fellows auf 120 Personen anwuchs. Die meisten von ihnen arbeiten nicht im Sarai-Gebäude, nicht einmal in Delhi. Ich will an dieser Stelle keineswegs eine umfassende Übersicht der Sarai-Aktivitäten bieten, da dort schlicht und einfach zu viel passiert. Mein Augenmerk liegt hier auf der Forschung im Bereich der Neuen Medien, wohl wissend, dass die Agenda des Sarai wesentlich breiter ist. Ich werde eine eigene, begrenzte Auswahl von Projekten darstellen sowie die internationale Dimension des Zentrums ins Blickfeld rücken. Dieses Kapitel ist in drei Teile gegliedert. Zunächst beschreibe ich meinen Besuch des Sarai Ende 2002. Im zweiten Teil untersuche ich neue Projekte und Entwicklungen, die ich zwei Jahre später miterlebt habe. Im letzten Teil, den ich Mitte 2006 geschrieben habe, widme ich mich dem internationalen Aspekt der Arbeit des Sarai. Bis heute haben viele Künstler aus Übersee im Sarai an Artist-in-Residence-Programmen teilgenommen. Welche Erfahrungen haben sie gemacht, und wie gehen die Sarai-Mitglieder mit der wachsenden Zahl von Besuchern um? Ich werde auch das niederländisch-indische Austauschprogramm zwischen dem Sarai und dem Neue-Medien-Zentrum Waag Society in Amsterdam behandeln, das die Anfangsfinanzierung des Sarai sicherstellte und in diesem Programm sein Partner ist.1 Dies wurde 2004 gestartet und entwickelte sich zu einer Plattform, in die auch weitere Initiativen aus Bangalore, Brasilien und Beirut einbezogen waren. Wie so oft bei Projekten im Bereich Neuer Medien, vollzog sich die Internationalisierung mit unglaublicher Geschwindigkeit. Das Sarai hat Partnerschaften in Hamburg, Liverpool, Wien und anderen Städten ins Leben gerufen. Es empfängt nicht nur eine Vielzahl auswärtiger Besucher, sondern hat auch selbst eine eindrucksvolle internationale Präsenz. 1. 3IEHEHTTPWAAGSARAIWAAGORG

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Die Dynamik des Sarai gründet auf seinen acht Kernmitgliedern – Ravi Sundaram, Ravi Vasunderan und den drei Mitgliedern des Raqs Media Collective: Monika Narula, Jeebesh Bagchi und Shudda Sengupta.2 Dipu (Awadhendra Sharan), der sich auf den urbanen Umweltdiskurs konzentriert, schloss sich 2004 an, zur selben Zeit etwa wie Ravikant Sharma. 2005 stieß Ashish Mahajan dazu. Das Sarai ist ein Unterprogramm des Center for the Study of Developing Societies (CSDS), das zu den bekanntesten unabhängigen Forschungsinstituten Indiens zählt. Es wurde 1964 gegründet und sieht sich der Tradition einer kritischen Gesellschaftstheorie und demokratischer politischer Werte verpflichtet. Indem es einige der berühmtesten Sozialwissenschaftler, Autoren und Kritiker in Südasien unter seinem Dach versammelte, darunter Ashis Nandy und Rajni Kothari, gewann das CSDS einen großen Einfluss auf die intellektuelle und kreative Landschaft seines Kulturkreises. Raqs, eine unabhängige Einheit innerhalb des Sarai, war ursprünglich ein Dokumentarfilmkollektiv und 1991 gegründet worden. Später verschob Raqs seinen ursprünglichen Fokus von Film auf zeitgenössische Kunst und nahm an Ausstellungen wie der Documenta 11 in Kassel und der Biennale in Venedig 2005 teil. Die Raqs-Mitglieder reisen viel, kehren jedoch in den Wintermonaten nach Delhi zurück, wenn das Sarai-Jahrbuch Reader produziert wird und wichtige Konferenzen im Sarai stattfinden. Ravi Sundaram und Ravi Vasuderan hatten beide schon als wissenschaftliche Mitarbeiter am CSDS gearbeitet, als das Sarai noch nicht existierte. Den Vorderteil des Gebäudekomplexes belegt das CSDS als die eigentliche Zentrale, das Sarai hat weiterhin den Status eines Unterprogramms. Im August kommen alle Angehörigen des Sarai zusammen, dabei sind dann auch die 40 meist jüngeren Mitarbeiter, die sonst über ganz Indien verteilt sind, und die zu diesem Anlass die Ergebnisse ihrer Forschung präsentieren. Ravi Sundaram erläutert den ursprünglichen Antrieb hinter der globalen Ausrichtung des Sarai: w$AS3ARAIWARSCHONIMMERRECHTINTERNATIONAL IM'EGENSATZZUDENEHERNATIONALIS TISCHENGEISTIGEN4RADITIONENIN)NDIEN$ASKOMMTDAHER DASSWIRDIE,OGIKDERNEUEN .ETZWERK +RITIK ERKANNT HABEN DIE DIE NATIONALSTAATSZENTRIERTE !NALYSE AUS GUTEM 'RUNDBEGRABENHAT$IESE.ËHEZUEINERINTERNATIONALENINTELLEKTUELLEN4RADITIONHAT UNSVONSEHRVIELENANDERENUNTERSCHIEDENUNDDàRFTEZUUNSEREN%RFOLGENBEI+OOPE RATIONENUNDAUCHINDERINTELLEKTUELLEN$EBATTEBEIGETRAGENHABENi

Sundaram gibt zu, dass es noch eine andere Seite gibt: w$ER%RFOLGBRACHTEAUCHEINEZUGRO”E-ENGEINTERNATIONALER!NFRAGENMITSICH VON WOHLMEINENDEN ,IBERALEN BIS ZU KLEINLICHEN 6ERTRETERN DER WESTLICHEN 'EGENKULTUR UNDMANCHMALKAMESAUCHZUHERVORRAGENDENUNDWUNDERBAREN+OOPERATIONEN3OLCH EIN)NTERESSEISTGRO”ARTIG$IEINTERNATIONALE+ULTURÚKONOMIE+UNST .EUE-EDIEN

2. 3IEHEWWW2AQSMEDIACOLLECTIVENET

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7IEDERBEGEGNUNGMITDEM3ARAI&àNF*AHRE.EUE -EDIEN +ULTURIN)NDIEN

!KADEMIEN LIEBTk%RFOLGj$ADAS3ARAIDIESFàRSIEVERKÚRPERT WËCHSTDER!NDRANGUND ISTMANCHMALNICHTMEHRLEICHTZUHANDHABENi

Wie beim Sarai ist auch die internationale Bekanntheit des Raqs-Kollektivs gestiegen, das schon eine Weile vorher existierte. Die Arbeit von Raqs ist immer globaler geworden, während die Inhalte bei genauer Betrachtung eigentlich indisch geblieben sind. Die potenzielle Spannung zwischen einem hoch anspruchsvollen globalen Publikum und einem noch anspruchsvolleren lokalen Kontext wird sichtbar. So fragten die Journalisten Johny ML und Mrinal im Jahre 2000: w7IRBESTEHENNICHTDARAUF DASS+UNSTPËDAGOGISCHSEINMUSS!BERWENNMANAUS DER 'ALERIE RAUSGEHT MUSS MAN ETWAS MITNEHMEN WORàBER MAN NACHDENKEN KANN ÄBERWASLËSSTUNSNUNDAS2AQS +OLLEKTIVSINNIEREN7OISTDIE+RITIK7ASDENKTDAS 2AQS +OLLEKTIV àBER DIE 5NTERERNËHRUNG IN )NDIEN 7AS DENKT ES àBER DIE INDISCHE 3CHÚNHEITSINDUSTRIE!UFWELCHER%BENEMÚCHTEESSEINE4EILNEHMERAM3PIELDER0AR TIZIPATIONBETEILIGEN7IEHOCHISTDIE#OMPUTERDICHTEIN)NDIEN5NDWELCHER!NTEIL DER"EVÚLKERUNG)NDIENSISTANDAS777ANGESCHLOSSENi

Sie erwarten viel. Was heißt es, jenseits von Moralismus und politischer Korrektheit, heute in einem Viertel in Delhi zu arbeiten und morgen in einer europäischen Kunstausstellung? Worin liegen hier die Herausforderungen? Und welche Position nehme ich dabei ein, als engagierter Insider und Beobachter? Anstatt ein vorschnelles Urteil zu fällen, werfen wir lieber einen Blick darauf, was es im heutigen Indien bedeutet, ein politisch engagiertes Neue-MedienZentrum mit einem globalen Anspruch zu betreiben. Im Oktober 2002, fast zwei Jahre nachdem das Sarai seine Aktivitäten aufgenommen hatte, besuchte ich das Zentrum zum zweiten Mal. Ich war gespannt darauf, die neuen Mitarbeiter zu treffen und zu sehen, wie sich die Projekte entwickelt hatten.5 Das Zentrum war ein pulsierender Knotenpunkt, voller Energie. Während der sechs Tage meines Aufenthalts habe ich nur einen kleinen Ausschnitt der dortigen Aktivitäten wahrgenommen. Delhi, heiß und verschmutzt wie immer, stand gerade in einem spürbaren Umbruch. Der Bau der U-Bahn war noch immer nicht abgeschlossen. Aufgrund der angespannten Situation in Gujarat und Kashmir wirkte die Stadt wie unter Belagerung. Überwachung und 3. 0RIVATE% -AIL +ONVERSATIONMIT2AVI3UNDARAM -AI 4. *OHNY-RINAL w7HY)NDIAN"OYS,IKETO3HITIN7ESTERN4OILETSiHTTPART INDIANETJOHNYARTHTML *EEBESH "AGCHI -ITBEGRàNDER DES 2AQS -EDIA #OLLECTIVE BESTËTIGT DASS DIES EINE 2EAKTION AUF EINE !RBEIT VON  MIT DEM 4ITEL 'LOBAL 6ILLAGE(EALTH-ANUAL'6(- WAR DIEAUFDER!USSTELLUNGPRINTCOMIN$ELHIGEZEIGT WURDEw$IE"EURTEILUNGKàNSTLERISCHER!RBEITENISTIN)NDIENSEITDEMVIELKOMPLEXER GEWORDEN $ER KRITISCHE $IALOG INNERHALB DER +UNSTSZENE HAT SICH ERHEBLICH WEITER ENTWICKELTi 5. %IN"ERICHTMEINES"ESUCHESWURDEAM-ËRZAUF.ETTIMEGEPOSTET)N LEICHTMODIlZIERTER&ORMISTERAUCHIN%BSL'JCFS 3 NACHZULESEN$IE7EBSITE DES3ARAIWWWSARAINET

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Kontrolle waren verstärkt worden, hier und da hatte die Polizei Straßensperren aufgebaut. Politisch war die Woche von den Wahlen in Jammu und Kashmir beherrscht, die mit der Niederlage der herrschenden National Conference endeten, einem Partner der von der Hindu-nationalistischen BJP geführten Koalition der National Democratic Alliance. Da sich das Sarai außerhalb dieser Sphäre positioniert, gab es noch keine Konflikte mit dem Staat. Der Eindruck, den das Sarai vermittelte, war der eines dynamischen Kulturzentrums, in dem Neue Medien im Mittelpunkt stehen, aber nicht den einzigen Bezugspunkt darstellen. Was das Sarai vielmehr antrieb, war eine Leidenschaft für kosmopolitische intellektuelle Debatten über zeitgenössische urbane Kultur. Das zentrale Anliegen des Sarai lag in der Verbindung von Stadtkultur, Medien und Alltag. Der jährlich publizierte Sarai-Reader zeigt die starken Verbindungen zur Buchkultur. Gleichzeitig fungiert der Sarai-Server als Host einer Reihe von Mailinglisten, von der eigenen »Reader«-Liste über Commons Law, Picturepost (»a forum to share and discuss images«) bis hin zu CR-India, einem Diskussionsforum zu indischem Community Radio. Es gab im Sarai ein wöchentliches Filmprogramm, das mit einfach zu beschaffenden VHS- und DVD-Kopien von Spiel- und Dokumentarfilmen bestritten wurde. In jener Woche stand der iranische Film »Kandahar« von Mohsen Makhmalbaf auf dem Programm. An dem Tag, an dem ich in Delhi eintraf, fand im Sarai mit Unterstützung des Goethe-Instituts auch ein Workshop mit Michael Saup vom ZKM statt – eine technologisch aufwendige Veranstaltung, die das Institut selbst nicht ausrichten konnte. Gleichzeitig hielten sich dort zwei Stipendiaten aus Australien auf. Inmitten dieses Treibens gab es zahllose Meetings. Und natürlich fiel hin und wieder der Strom aus. Aufgrund von Straßenarbeiten war die ISDN-Verbindung zum Internet für eine Weile unterbrochen, was allerdings im Laufe der Woche behoben wurde.6 Ravi Sundaram, einer der Sarai-Gründer, sagte, dass die Bandbreite besser sein könnte, aber die Regierung die Verbindungen im Zuge der Sicherheitsmaßnahmen, die nach dem 11. September ergriffen wurden, einschränke. In den folgenden Abschnitten werden wir uns ein paar Projekte genauer ansehen.

(INDIUND#OMPUTING Ravikant Sharma, von Haus aus Historiker, ist im Sarai für die Sprach- und Populärkultur-Programme zuständig. Hindi ist vielleicht eine der verbreitetsten Sprachen der Welt.7 Es ist bedauerlich, wenn man feststellt, dass die besten Bücher über das Hindi-Erbe in englischer Sprache geschrieben sind. Auch die 6. 3UPREET EINERDER3ARAI 0ROGRAMMIERER ERKLËRTEw7IRHABENEINEN0ENTIUM)) MIT-HZUNDEINERK-ODEMVERBINDUNG%SDAUERTGENAU 3EKUNDEN UM DIE3EITEZULADEN DIEDIEGANZEN0ROJEKTEINNERHALBDER/053 $ATENBANKGRAPHISCH DARSTELLTi 7. -EHR ALS  -ILLIONEN -ENSCHEN IN )NDIEN BETRACHTEN (INDI ALS IHRE -UT

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Experten des Hindi-Films veröffentlichen ihre Schriften ausschließlich auf Englisch. Sharmas Forschung untersucht die Implikationen und Möglichkeiten der Neuen Medien für die Hindi-Populärkultur. Er ist der Herausgeber des Hindi Media Reader, wohl der ersten Publikation auf Hindi über Neue Medien, mit originären Beiträgen über freie Software, Satellitenkanäle und taktische Medien. Auch der Reader beinhaltet spezielle Essays über den indischen Kontext für Neue Medien. Das erste Buch in dieser Serie widmet sich der Medientheorie. Sharma: »Die Hindi-Welt war besessen von der Druckkultur, die im späten 19. Jahrhundert entstand. Dem entspricht ihre Liebe zur Literatur. Doch gibt es in unserem Zeitalter weitaus mehr Möglichkeiten, die Welt zu sehen. Inzwischen wird unsere Sprache durch Film und Fernsehen bestimmt.« Im Hindi-Kontext ist es wichtig, das Unbehagen zwischen Hochliteratur und Populärmedien zu diskutieren. Der Hindi Media Reader untersucht die Beziehung zwischen Buch und Computer. Das Sarai will hier eine Vermittlerrolle spielen und das Wissen der einen Sphäre zutage fördern, um es in die andere zu übertragen. Sharma kennt nur wenige Medientheoretiker, post-marxistische Wissenschaftler und Autoren in Indien, die sich gegen den herrschenden Trend gestellt haben, audio-visuelle Medien als etwas grundsätzlich Verdächtiges zu betrachten. Für gewöhnlich werden Neue Medien als Bestandteil des Pakets gesehen, das man ›Globalisierung‹ nennt. 2002 waren schon erhebliche Fortschritte bei der Einführung von Hindi als Sprache für Computernutzer erreicht worden, sowohl auf der Ebene der SoftwareSchnittstellen als auch beim Internet. Dennoch musste noch viel Arbeit geleistet werden. Wie Japanisch hat auch Hindi seinen eigenen Bestand an Schriftzeichen. Sowohl Programme als auch Tastaturen erforderten Anpassungen. Sharma: w'EGENWËRTIG WIRD AUF DREI %BENEN GEARBEITET $AS IST EINMAL DIE &ONT ,ÚSUNG WO MAN DIVERSE &ONTS IN DER JEWEILIG VERWENDETEN !NWENDUNG INSTALLIEREN MUSS $ANN GIBTESDYNAMISCHE&ONTS5NDDRITTENSGIBTESDEN(INDI5NICODEDENERWEITERTEN !3#)) 3TANDARD DER DIE LANGFRISTIGE ,ÚSUNG DARSTELLT &àR DAS ,INUX BASIERTE 3TAR /FlCEISTERJEDOCHNOCHNICHTVERWENDBAR6ERGLICHENMIT/PEN 3OURCE 0ROGRAMMEN UNTERSTàTZT7INDOWSDEN(INDI5NICODEWESENTLICHBESSER$IE""#(INDI 7EBSITEHAT 5NICODEBEREITSIMPLEMENTIERT-ANKANNDORTSOGARKOSTENLOS&ONTSHERUNTERLADEN NURSINDDIE4ASTATURENNOCHNICHTANGEPASSTWORDENi

Für die, die es interessiert, es gibt eine Yahoo!-Gruppe, die sich mit Hindi und Computing beschäftigt.8 In der letzten Zeit sind auch indische Linux-Gruppen wach geworden und haben begonnen, sich mit dem Sprachproblem auseinanderzusetzen. w)CHKOMMEGERADEVONEINER+ONFERENZIN"ANGALOREZURàCK BEIDERESUMALLDIESE !SPEKTEDER3TANDARDISIERUNGGINGnDIEMEISTEN4EILNEHMERWAREN,INUX 5SER%GAL TERSPRACHE WEITERE  -ILLIONEN VERWENDEN ES ALS :WEITSPRACHE 1UELLE WWW CSCOLOSTATEEDU^MALAIYAHINDIINTHTML 8. 3IEHEDAZUZ"WWWINDLINUXORGWIKIINDEXPHP(INDI 9. 3IEHEWWWINDIC COMPUTINGSOURCEFORGENET

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WELCHE%INGABEGERËTEWIRNUTZEN MANSOLLTEDEN,EUTENDIE7AHLLASSEN)N)NDIEN WIRDDIEMEISTE!RBEITVON3CHREIBKRËFTENDERALTEN3CHULEGELEISTETnNUNIM'EWAND VON$40/PERATORS)HRE"EDàRFNISSESOLLTENAUCHBERàCKSICHTIGTWERDEN6IELEVONIH NENSINDZWEISPRACHIG ABERESGIBTAUCHEINIGE DIENUR(INDISPRECHEN&àRDIESOLLTEN WIRAUFDER17%249 4ASTATUREBENEAUCHPHONETISCHE/PTIONENANBIETENi

Trotz des um sich greifenden Nationalismus ist der Hindi-Teil des Internets weitaus toleranter, als man erwarten würde. w7IR HABEN GELERNT MIT DER 3PANNUNG ZU LEBEN DIE VON DEN (ASSSEITEN AUSGEHT 5NSERE -ÚGLICHKEITEN ETWAS GEGEN (INDU .ATIONALISTEN ZU UNTERNEHMEN SIND BE GRENZT)N)NDIENWIRDSOOBSESSIVAUFDEN3CHUTZDERKULTURELLENk2EINHEITjGEACHTET $AHER MàSSEN WIR -ITTEL UND 7EGE lNDEN ANDERE 4HEMEN INS "LICKFELD ZU RàCKEN -ANLËUFTIMMER'EFAHR DASSDAS(INDI 3PRACHTHEMAVONDEN(àTERNDERKULTURELLEN 2EINHEITVEREINNAHMTWIRD WASUNSABERNICHTDAVONABHALTENSOLLTE UNSINDIESEM "EREICHZUENGAGIEREN)CHBINOPTIMISTISCH$IE(INDU 2ECHTENVERLIERENEINE7AHL NACHDERANDEREN$IEHERRSCHENDE+LASSEFOLGTINDER4ATNICHTDERNATIONALISTISCHEN 7IRTSCHAFTSAGENDAi

#YBERMOHALLA Cybermohalla (CM – Mohalla ist das Hindi-Wort für Stadtviertel) ist vielleicht eines der beeindruckendsten Projekte des Sarai. 10 Im Mai 2001 wurde in einer illegalen Siedlung namens LNJP, einem sogenannten »Basti« in der Nähe eines Krankenhauses im Zentrum von Delhi, ein Media-Lab eingerichtet. Diese Siedlung ist permanent davon bedroht, geräumt zu werden, jederzeit können Bulldozer anrücken und die Bewohner zur Umsiedlung in einen der Außenbezirke der Neun-Millionen-Metropole zwingen. Das Projekt befindet sich in einem kleinen Raum mit dem Spitznamen Compughar, verfügt über drei Computer (von denen zwei auf Linux laufen) und wird überwiegend von jungen Leuten, vor allem jungen muslimischen Frauen benutzt. Shveta Sarda, ursprünglich Sozialarbeiterin, bevor sie zum Sarai stieß und in das CM-Projekt einstieg, hat mich zum Compughar mitgenommen und mir die vielen Geschichten, die die Jugendlichen zu erzählen hatten, aus dem Hindi ins Englische übersetzt. Ihre Ko-Organisatorin Azra Tabassum, eine lebhafte Zwanzigjährige, machte mit uns eine Führung. Compughar ist ein sich selbst organisierender Raum. Tabassum kümmert sich um die Tagesgeschäfte des Labs. Von Montag bis Freitag sind alle zwischen 10 und 16 Uhr zusammen. Es gibt viel zu lachen – und viel Kompetenz. Das CM-Projekt blüht. Die regelmäßigen Besucher – die meisten von ihnen sind Schulabbrecher – brauchen nicht lange, um die Textverarbeitung (in Hindi), Zeichen- und Animationsprogramme, Spiele, die Digitalkamera und den Scanner zu beherrschen. Es gibt sogar ein Telefon und über Modem 10. WWWSARAINETPRACTICESCYBERMOHALLAnSIEHEDAZUAUCHDEN7IKIPEDIA %IN TRAGHTTPENWIKIPEDIAORGWIKI#YBERMOHALLA

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Zugang zu E-Mails, obwohl die Verbindung nicht immer stabil ist. Ausführlich sprechen wir über die Nutzung von Hindi-Fonts, vergleichen chemisch entwickelte Bilder mit digitalen und schauen uns die zahllosen Animationen an, die die Kinder und Jugendlichen aus ihren Zeichnungen hergestellt haben. Beim CM liegt der Schwerpunkt nicht wie bei vielen Digital-Divide-Projekten auf Internet-Zugang und IT-Bildung. Im Gegensatz zu den meisten Telezentren ist sein Anliegen in erster Linie, die kulturelle Kompetenz im lokalen Umfeld zu steigern. Das Sarai und die mitbeteiligte NGO Ankur (Society for Alternatives in Education) haben hier ihre eigene Methode entwickelt. Ankurs Philosophie besteht darin, den jungen Leuten das zu geben, was ihnen in der Schule genommen wird. Prabhat Jha, der für Ankur arbeitet, schreibt: »Was wir brauchen, ist eine Begeisterung für Innovationen, ohne uns von unserem blinden Vertrauen in die Irre führen zu lassen. Wir wollen Kreativität fördern, aber auch eine kritische Haltung.« Es geht also nicht darum, die Leute in Software einzuführen; mutig setzt sich das CM von der Logik von Entwicklungsprojekten ab, die IT vor allem als Weg zum Wohlstand begreifen. Hier dreht sich alles um digitales Geschichtenerzählen. Die Teilnehmer gehen hinaus in die engen Straßen und tragen zusammen, was sie gehört und gesehen haben. Technisches Training ist nur ein Aspekt, die Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen, ist mindestens genauso wichtig. Jha: »Innerhalb eines Monats war den Kindern klar, dass sie keinen gewöhnlichen Computerkurs absolvierten.« Ein mediales Gemeinschaftsgedächtnis wurde entwickelt. Sarda erläutert, dass Ankur ein breit gespanntes lokales, nationales und internationales Netzwerk aufgebaut hat und viele seiner Mitglieder die CM-Labore regelmäßig besuchen. w$AS IST EINE GANZE -ENGE !NKURS )NHALTE ZIRKULIEREN IN DIESEM .ETZWERK UND DIE MEISTEN%INLADUNGEN 7ORKSHOPSABZUHALTEN 0RËSENTATIONENZUMACHENUND0ROJEKTE ZUENTWICKELN KOMMENAUCHDARàBER!NKURHATMIT#YBERMOHALLAEINEN"LICKWINKEL GESCHAFFEN DURCHDENDIE&RAGENACHEINERKRITISCHEN0ËDAGOGIKINNERHALBDES%NT WICKLUNGS UND.'/ 3EKTORSNEUAUFGEWORFENWIRDi

Sarda erläuterte die CM-Methode etwas genauer: w7IRBENUTZENEINE6IELZAHLVON-EDIENFORMEN VON7ANDMAGAZINENBISZUHTML 3EI TEN !NIMATIONEN 3TICKERN UND 4AGEBàCHERN AUS 4EXTEN 4ONAUFNAHMEN UND &OTO GRAlEN $IE4EILNEHMERSCHREIBENàBERDAS"ASTI IHR6IERTEL SIEMACHEN%XKURSIONEN DURCH$ELHIKURZE3PAZIERGËNGEZ" ABERAUCHINANDERE3TËDTE%XKURSIONENlNDEN HËUlGINKLEINEN'RUPPENSTATT$IE4EXTEn%RZËHLUNGEN 2EmEXIONEN "ESCHREIBUNGEN n WERDEN INDIVIDUELL GESCHRIEBEN ABER IN DER 'RUPPE AUSGETAUSCHT $URCH DIESEN +REISLAUFDES3CHREIBENS ,ESENS 7EITERGEBENS UNDVORALLEMDURCHDIE'ESPRËCHE DIE DARAUS HERVORGEHEN DURCH DEN 0ROZESS DER 7ORTE UND )DEEN LERNEN -ITGLIEDER WIE!ZRA .ILOFER 3HAMSHER 3URAJ "ABLI 3HAHANA -EHRUNISA 9ASHODAUNDANDERE DIEVERSCHIEDENEN+ONZEPTE MITDENENWIRUNSAUSEINANDERSETZEN ZUENTDECKENUND WEITERZUENTWICKELNi 11. 3HVETA3ARDA PRIVATE+ORRESPONDENZ *UNI

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Die Gespräche, so Sarda, sind für den Prozess der Ideenentwicklung am CM ganz entscheidend. Ruchika Negi, eine andere Forscherin am CM, hat mit Lesungen und Diskussionen ihre persönlichen Erzählungen über die Stadt in die Labs gebracht, Erzählungen, in denen sie sich zu jener Zeit mit ihren Begegnungen mit Restesammlern, mit Leuten, die auf den Straßen leben und an den unsichtbaren Rändern der Stadt ihr Dasein fristen, auseinandersetzte. Neben Sarda gibt es auch noch Joy Chatterjee, Webdesigner im Sarai-MediaLab, der seine Unterstützung und Fachkenntnis beim Layouten von Texten und Bearbeiten von Bildern zur Verfügung stellt. Und ein weiteres Teammitglied ist Ashish Mahajan, der sich um die Vermittlung der benötigten Kenntnisse für den Gebrauch von Low-End-Technologien wie Kamera, Diktiergerät, Tonausrüstung und Mikrophone kümmert. Ravikant Sharma, am CM wegen des HindiSprachaspekts beteiligt, stimmte mir zu, dass das Projekt eher einen post-edukativen Schwerpunkt hat. w$IEGËNGIGE6ORSTELLUNGIST DASS4ECHNOLOGIEUND%NTWICKLUNGDIREKTZUSAMMENHËN GEN SOWIE"ILDUNGUND"ESCHËFTIGUNG-ANKANNSAGEN DASSDIEJUNGEN,EUTEIM #YBERMOHALLAKRITISCHE&ËHIGKEITENERWERBEN WASABERNICHTBEDEUTET DASSWIRIHNEN DAMITZUEXISTENZIELLER3ICHERHEITVERHELFENi

Sarda meint hingegen: w%SISTNICHTNURDIE-AINSTREAM 6ORSTELLUNGVONDER6ERBINDUNGZWISCHEN4ECHNOLOGIE UND %NTWICKLUNG ODER ZWISCHEN "ILDUNG UND !RBEITSSTELLEN DIE STËNDIG UNTER DEM $ECKMANTELDER2EDEVONk-ANGELjUNDk%MPOWERMENTjZUM!USDRUCKKOMMT SONDERN AUCHDER'EDANKEBZWEINKLASSENBEDINGTER"LICK DERBESTIMMTE"EVÚLKERUNGSGRUP PENALSKULTURELLDElZITËREINSTUFT SOALSOBSIEDARAUFWARTETEN )DEEN 7ORTE +ON ZEPTEUND&ËHIGKEITENGELIEFERTZUBEKOMMEN,EIDERVERDECKTDASDIE"EDEUTUNGVON kKULTURELLER +REATIVITËTj BZW DIE DER .UTZER UND 0RODUZENTEN DIE ZU TECHNISCHER )NNOVATIONBEITRAGENUNDSIESOGARMA”GEBLICHBEEINmUSSENi

Im Juli 2002 wurde einiges von dem Material in einem wunderschön gestalteten zweisprachigen Buch mit dem Titel By Lanes veröffentlicht.12 Alle Kinder, Eltern und anderen Beteiligten kamen ins Sarai – nie zuvor war der Ort so voll gewesen. Die Compughar-Gruppe las also ihre Geschichten vor. Die Reaktionen der Basti-Gemeinschaft waren gemischt. Sharma erzählt: »Es gab einigen Widerstand, doch nun ist man gegenüber den Aktivitäten der Frauen offener geworden. Zum ersten Mal kommen Berichte von den Basti-Bewohnern selbst, davor wurden sie immer nur von Außenstehenden geschrieben.« Die Compughar-Gruppe erstellte eine Animation über die heftige Debatte innerhalb der Basti-Gemeinschaft. »Warum sollte die Außenwelt an dem Alltagsleben einer Siedlung interessiert sein?«, fragten manche. Der Stil der tagebuchartigen Einträge in By Lanes über das Alltagsleben in der Siedlung ist reflexiv, poetisch und 12. $IE /NLINE 6ERSION lNDET SICH HIER WWWSARAINETPRACTICESCYBERMOHALLA PUBLIC DIALOGUEBOOKSGALIYON SE

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hin und wieder nostalgisch, während z.B. die Online-Geschichten in Cybermohallas »Ibarat«-Newsletter über eine Zugfahrt nach Mumbai fragmentierter und erzählerischer sind.13 Am Nachmittag besuchten wir das zweite CM-Lab in der Dakshinpuri-Kolonie im Süden von Delhi. Das Lab hatte erst zwei Monate vorher eröffnet, hier war Pinki der Koordinator vor Ort. Die wachsende Gruppe der Teilnehmer war noch damit beschäftigt, die Möglichkeiten der Software zu erkunden. Erschöpft von den vielen Begegnungen und der langen Autofahrt durch die Stadt gelangten Shveta und ich wieder zurück zum Sarai. Einige Wochen später schrieb Shveta: w7AS #YBERMOHALLA SCHAFFT IST EIN +ONTEXT FàR &ORSCHER -EDIENPRAKTIKER 7EBDESI GNERUND0ROGRAMMIERERnAUSUNTERSCHIEDLICHEN:USAMMENHËNGENUNDMITALLUNSEREN "ESONDERHEITEN )NTERESSEN UND 3UBJEKTIVITËTEN n UM MITEINANDER ZU INTERAGIEREN KOLLABORATIVUNDDIALOGISCHUNSEREEIGENENUNDDIE0RAKTIKENANDERERDURCH!UFMERK SAMKEITUNDWECHSELSEITIGEKRITISCHE"EZUGNAHMEZUTRANSFORMIEREN UNDDABEINICHT ALS5NGLEICHEnWIE*EEBESHESAUSDRàCKTnANDIESEM0ROZESSTEILZUNEHMEN%SIST EINEDIALOGISCHE2EmEXIONUNTER'LEICHGESTELLTEN$IE0ROZESSEWERDENNICHTDURCHUN VERËNDERLICHE:IELSETZUNGENVORBESTIMMT&ËHIGKEITEN &ORMENUND-ATERIALIENWER DENNICHTMITEINEMlXEN PRË DETERMINIERTEN6ORSATZINDIE,ABSHINEINGETRAGEN7IR ARBEITENNICHTMITODERINNERHALBEINES#URRICULUMSODERENTWICKELNEINSOLCHES7O WËRESONSTDER2AUMZUM%XPERIMENTIEREN FàRDENSPIELERISCHEN5MGANGMIT&ORMEN ODERFàRDEREN"EFRAGUNGi

3ARAIUNDDIE+àNSTE Das Sarai ist keinesfalls nur ein nationales Zentrum. Von Anfang an war es in regionale südasiatische und in internationale Netzwerke eingebettet. Jeebesh, Monica und Shuddha, die das Raqs Media Collective bilden, sind Gründungsmitglieder des Sarai und haben viele Jahre miteinander gearbeitet und auch schon seit Langem ihre Arbeiten im Ausland gezeigt. 2002 war Raqs mit einer Installation auf der Documenta 11 in Kassel vertreten. 14 Ein Jahr vor der Eröffnung der Ausstellung fand eine der Plattformen (so nannte der D11-Kurator Okwui Enwezor die im Vorfeld organisierten öffentlichen Debatten) in Delhi statt.15 Raqs’ Documenta-Installation »Coordinates of Everyday Life« besteht aus zwei

13. 52,SDES#YBERMOHALLA)BARAT.EWSLETTERSWWWSARAINETCOMMUNITYCYBER

MOHALLAIBARATPAGEHTML WWWSARAINETCOMMUNITYCYBERMOHALLAIBARAT PAGESPAGEHTML WWWSARAINETCOMMUNITYCYBERMOHALLAIBARAT0!'%3 PAGEHTML 14. 3IEHEDAZUWWWDOCUMENTADEARCHIVDDATAGERMANINDEXHTML 15. $IE0LATTFORMFANDVOM STATT3IEHEDAZUDEN"ERICHTHTTP MAILSARAINETPIPERMAILREADER LIST -AYHTML

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Teilen. Im Videoteil mit einigen Projektoren in einem dunklen Raum stand die urbane Kultur von Delhi im Mittelpunkt. Shuddha schreibt: wÄBEREINEINHALB*AHREHABENWIRETLICHE3TUNDENAN6IDEOMATERIALAUFGENOMMEN)N DER)NSTALLATIONSINDES-INUTEN WENNMANALLESSEHENWILL7IRHABENUNSSYSTE MATISCHMITDER3TADTBESCHËFTIGTUNDUNSJEDE7OCHEEINNEUES%LEMENTDES3TADTLE BENSHERAUSGESUCHT$ANNGINGENWIRANDIEENTSPRECHENDE3TELLEUNDNAHMENAUF%S GIBTZ"4EILEEINER!UFNAHME WOWIRBEIFESTER+AMERAPOSITIONEINEINHALB3TUNDEN IM.EBELAUFEINER"RàCKESTANDEN7IRHABENBEIDIESER$ISZIPLIN ÄBUNGVIELGELERNT "EIM&ILMEMACHENSTEHTMANSONSTIMMERUNTERDEM$RUCK SICHSELBSTUNDDIE+AMERA BEWEGENZUMàSSEN!BERDIESE6ERSCHIEBUNGHATMITUNSEREM3CHRITTINDIE+UNSTZU TUN%SISTEIN3ICH ,ÚSENVONDERkUNIVERSELLEN5HRjDES&ERNSEHENS'LEICHZEITIGISTES EIN!USDRUCKUNSERESFORTDAUERNDEN%NGAGEMENTSINDERDOKUMENTARISCHEN&ILMARBEIT 6ORHERSCHLUGIMMERNOCHDIE5HRDES&ERNSEHENSINUNSEREN+ÚPFEN.UNGIBTESKEINE *AGDMEHRNACHEINEMSPEKTAKULËRENODERENTSCHEIDENDEN-OMENT7IRHABENNICHT NACHDERBEDEUTSAMEN!UFNAHMEGESUCHT)NSOFERNGABUNSDIE!RBEITFàRDEN+UNST KONTEXTDIE-ÚGLICHKEIT UNSNOCHEINMALNEUMITDERDOKUMENTARISCHEN3ENSIBILITËT AUSEINANDERZUSETZENi

Die Arbeit untersucht auch das Gesetz und das Rechtssystem, das den Raum regiert. Dies bildet die Textkomponente der Arbeit. Shuddha ergänzt: w:WEIFELLOSHABENDIE2EGELNUND"ESTIMMUNGENIMURBANEN2AUMDRAMATISCHZUGE NOMMEN$ASERSTE%LEMENT DASMANINDER)NSTALLATIONSIEHT ISTDAS'ESETZZUDEN ,ANDRECHTEN DASINDAS*AHRHUNDERTZURàCKREICHT%SLEGTGENAUFEST WAS,AND EIGENTUMIST(IERINTERESSIERTWENIGERDIE+ODIlZIERUNGALSSOLCHEALSVIELMEHRIHRE PRËZISE !RTIKULATION IM HEUTIGEN +ONTEXT VON ÄBERWACHUNGSSYSTEMEN UND URBANEN 5MSIEDLUNGENi

Die Paranoia in Bezug auf Sicherheit ist in Delhi sehr auffällig. Für die Installation produzierte Raqs auch Sticker. Sie trugen einfache Botschaften, wie z.B. »Schau unter deinen Sitz«, »Berühre keine zurückgelassenen Gegenstände« und »Melde vermisste Personen sofort«. Das zweite Element von »Coordinates of Everyday Life« auf der Documenta 11 war eine Open Source Software, die auf PC-Monitoren präsentiert wurde. Opus (Open Platform for Unlimited Signification) ist eine webbasierte Datenbankstruktur für gemeinsam genutzte Inhalte.16 Es stellt den Versuch dar, ein digitales Gemeinwesen im Bereich der Kultur zu schaffen, das auf dem Prinzip beruht, die eigene Arbeit der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen, während gleichzeitig die Möglichkeit (falls erwünscht) bestehen bleibt, Spuren einer individuellen Autorenschaft und Identität zu wahren. Ich fragte Shuddha, in welchem Verhältnis der konzeptuelle Charakter der Opus-Datenbank zum Charakter der Alltagsbilder in Delhi steht. Er antwortete: 16. WWWOPUSCOMMONSNET 3ILVAN :URBRUEGG UND 0ANKAJ +AUSHAL ZEICHNEN FàR DAS#ODINGVERANTWORTLICH3IEHEDAZUAUCH3ARAIS0OSTINGAN.ETTIME *ULI

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w)NBEIDEN!RBEITENGEHTESAUFUNTERSCHIEDLICHE7EISEUMDAS"EWOHNENVON2AUM $IEEINEHANDELTDAVON WIEMANIMREALEN2AUMDURCHGESETZLICHE+ONTROLLEEINGE SCHRËNKTWIRD DIEANDERETHEMATISIERTDIE-ÚGLICHKEIT EINENGEMEINSAMEN2AUMIN EINER VIEL FREIEREN BEWEGLICHEREN UND VERSTREUTEREN 7EISE ZU TEILEN 7IR GEWANNEN )NTERESSEANEINER&ORMVON!RBEIT DIEANDERE!RBEITERMÚGLICHT/PUSBEDEUTET!R BEIT%SISTEINE!RBEITàBER!RBEIT%SISTKEIN/BJEKTZURBLO”EN+ONTEMPLATION%HER IST /PUS EIN 3PIELPLATZ )CH SEHE /PUS WIE EIN 'EBËUDE ODER EINE !RCHITEKTUR EINE "LAUPAUSE%SISTWIEEIN(AUS DASDARAUFWARTET BEZOGENZUWERDEN!BERMANMUSS GANZ SCHÚN VIEL REDEN UM EINEM +UNSTPUBLIKUM ZU VERMITTELN WORUM ES BEI /PUS EIGENTLICHGEHTi

Diejenigen, die mit freier Software vertraut sind, verstehen die Grundidee hinter Opus sofort. Aber sie würden fragen, warum es als Kunst etikettiert wird. Shuddha: w.ATàRLICH3OFTWAREHINTERFRAGTDIE'RENZENVON+UNST$IEINTERESSANTESTE2EAKTION KAMVONEINER'RUPPEAUS"RASILIEN DIESICH2ECOMBONENNTUND ËHNLICHE$INGEIM "EREICHDER-USIKMACHT$IENEHMENDIE)DEEDER2EMIX +ULTURWÚRTLICHUNDHABENEI NE/NLINE !RCHITEKTURERRICHTET MITDER,EUTEKOLLABORATIV-USIKMACHENKÚNNEN!UF DIESEM7EGEWIRDDER0EER TO 0EER 6ERTRIEBDURCHDIE0EER TO 0EER +REATIONERWEITERT !NDERESINDANDEM1UELLCODEINTERESSIERT.UNàBERTRAGENWIRDIE/PUS )DEENINDEN PHYSISCHEN2AUM%SGEHTUMEIN0ROJEKTIN:USAMMENARBEITMITDEM!TELIER"OW7OW EINER'RUPPEJAPANISCHER!RCHITEKTEN DIEVOM7ALKER!RT#ENTERIN!UFTRAGGEGEBEN WURDE$IE!USSTELLUNGERÚFFNETIM&EBRUAR7IRVERSUCHENHERAUSZUlNDEN WEL CHE!RTANALOGER-ANIFESTATIONEN/PUSINEINEM!USSTELLUNGSRAUMANNEHMENKANNi

Im August 2002 flog eine Delegation des Sarai nach São Paulo, um dort eine Arbeit des Raqs Media Collective im Rahmen der Neue-Medien-Kunstausstellung »Emoção Art.ficial« aufzubauen. 17 Die Installation »location (n)« bestand aus acht Uhren und acht Monitoren. Shuddha erklärt: w$IEENTSCHEIDENDE)DEEISTDIEDER:EITZONE$IE5HRENSTEHENFàRUNTERSCHIEDLICHE 3TËDTEWIE3ÎO0AULO .EW9ORK ,ONDONUND$ELHI!NSTELLEDER3TUNDENSTEHENAUF DIESER5HRABER'EFàHLE WIE!HA %RLEBNISUM5HRODER3ORGEx.OSTALGIE$ER7ITZ DIESER !RBEIT LIEGT DARIN DASS DIE "ESUCHER DIE UNTERSCHIEDLICHEN :USTËNDE IN DEN JEWEILIGEN3TËDTENVERGLEICHENKÚNNEN$ERGANZE2AUMWIRDVOM+LANGEINES(ERZ SCHLAGSGEFàLLT WELCHERWIEDERUMVON+LËNGENELEKTRONISCHER4RANSAKTIONEN-ODEMS &AXMASCHINEN 4ELEFONE àBERLAGERTWIRD!UFDEN-ONITORENSIEHTMANEIN'ESICHT DASSICHLANGSAMVONLINKSNACHRECHTSBEWEGT%SISTEINMYSTERIÚSES"ILD DENNES WIRKT ALSOBDAS'ESICHTAUFDEMEINEN-ONITORVERSCHWINDETUNDAUFDEMANDEREN WIEDERAUFTAUCHT$AS'ESICHTSCHEINTZWISCHENDEN:EITZONENZUREISEN7IRSPIELEN MITDEM+ULISHOV %FFEKTDESFRàHEN+INOS BEIDEMVERSCHIEDENE!USDRàCKEUND/B 17. 2!13-EDIA#OLLECTIVE 3ARAI4HE.EW-EDIA)NITIATIVE %MO ÎO!RTlCIAL %XHIBITION )TAU#ULTURAL#ENTER3ÎO0AULO "RASILIEN !UGUSTWWWITAUCULTURAL ORGBRINDEXCFMCD?PAGINA

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JEKTEJEWEILSUNTERSCHIEDLICHEEMOTIONALE7IRKUNGENERZEUGEN)NUNSEREM&ALLGING ESUMDEN!USDRUCKDERSELBEN%MOTIONENINVERSCHIEDENEN:EITZONEN'LOBALGESPRO CHENHATTENWIRIMMERDIESELBEN%MOTIONEN%SGEHTNURDARUM DASSESEBENKEINE %INZIGARTIGKEITGIBT*EDERFàHLTDASSELBE ABERZUEINEMANDEREN:EITPUNKTi

Meine Tour durch die Sarai-Projekte endete mit einem interessanten Austausch über freie Software und Open Source im indischen Kontext. Tripta Chandola war zu der Zeit für das Freie-Software-Projekt des Sarai verantwortlich. 18 Bevor sie in die Linux-Szene hineinstolperte, hatte Chandola frühe indische Geschichte studiert. Rückblickend meint sie, dass sie schon während ihres Studiums auf Open-Source-Themen gestoßen sei, als sie feststellte, dass sie zu bestimmten Kulturgegenständen und Primärquellen keinen Zugang bekam. Vor sechs Monaten wurde sie Mitglied der Delhi Linux-User-Gruppe. 19 Gleich beim ersten Treffen machte man sie zur Generalsekretärin. Am Anfang rührte ihre Neugier vor allem von ihrem Aktivismus her. Die Gruppe produzierte eine eigene Distributions-CD und besuchte Schulen, um sie dort zu präsentieren. Chandola: »Nach einer Weile wurde mir klar, dass wir es nicht schaffen würden, die Schulen zu erobern und die Trägheit vorgefasster Meinungen zu überwinden. Die Software der Behörden ist nun mal Microsoft.« Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, beschloss die Delhi-Gruppe, eine Website einzurichten und die Forschungsergebnisse ihrer Mitglieder zu veröffentlichen. Die Hauptfrage ist, wie die Vorherrschaft von Microsoft auch auf anderen als der technischen Ebene gebrochen werden kann. Chandolas Forschung zielt darauf, ein größeres Interesse für die kulturellen Aspekte der mit freier Software verbundenen Themen zu wecken. Ohne Forschung, glaubt sie, ist dies nicht zu erreichen. Chandola: w&àRMICHSIND/PEN3OURCEUNDFREIE3OFTWAREKEINISOLIERTES7ISSEN3IEMàSSENIN EINEN SPEZIlSCHEN +ONTEXT GESTELLT WERDEN )N MEINEN 5NTERSUCHUNGEN SCHAUE ICH NICHTNURAUFDIERIVALISIERENDEN&RAKTIONENDER&REIE 3OFTWARE 0URISTENUNDDER/PEN 3OURCE 0RAGMATIKER)CHBETRACHTEVORALLEMDENINDISCHEN+ONTEXT!UCHDIE-EDIEN DARSTELLUNGINTERESSIERTMICHi

Ich fragte Chandola, wie die spezifische Situation für Linux in Indien aussieht. Sie antwortete: w$IE0ROGRAMMIERERHIERHABENMITDER%NTWICKLUNGVON,INUXNICHTVIELZUTUN SIE SINDEHERANDIE$IENSTLEISTUNGSINDUSTRIEANGESCHLOSSEN,INUXISTHIERNEUUNDNUR WENIGE,EUTEVERFàGENINDIESEM"EREICHàBER&ACHWISSEN3ONEHMENINDISCHE0RO GRAMMIERERGRUNDSËTZLICHKEINE6ERËNDERUNGENAM1UELLCODEVORIM7IDERSPRUCHZUR ,INUX 0HILOSOPHIE 3IEENTWICKELNSTATTDESSENEINENEIGENEN#ODEUNDVERÚFFENTLI CHENIHNALSPROPRIETËRE3OFTWAREnPARALLELZUIHREN!KTIVITËTENIM"EREICHDERFREI 18. WWWSARAINETPRACTICESSOFTWARE 19. WWWLINUX DELHIORG

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EN3OFTWARE$ASFàHRTNICHTNURZUEINER0ERSÚNLICHKEITSSPALTUNGZWISCHEN4AGUND !BEND SONDERNLËSSTAUCHDIEGANZE%NTWICKLUNGVON/PEN3OURCESTAGNIEREN%SGIBT SICHERDIEVERBREITETE6ORSTELLUNG DASSINDISCHE0ROGRAMMIERERKEINE$ESIGNERSIND 3IESINDNICHTGUTIM+ONZIPIERENVON3OFTWARE7ENNMANIHNENJEDOCHSAGT WASMAN WILL PROGRAMMIERENSIEDASIM(ANDUMDREHEN$ASMAGEINEÄBERTREIBUNGSEIN ABER ESLIEGTSCHONEINEGEWISSE7AHRHEITDARIN-ANHATDAS'EFàHL DASSINDISCHE4ECHIES NICHT IN DER ,AGE SIND IN ANDERE $ISZIPLINEN EINZUDRINGEN $AMIT SICH DAS ËNDERT MUSSEINEANDERE3ENSIBILITËTGEGENàBERDER4ECHNOLOGIEENTWICKELTWERDEN&àRDIE MEISTENVONUNSIST4ECHNOLOGIEIMMERNOCHDIESESkàBERWËLTIGENDE$INGj$IE$ISTANZ ZWISCHENUNSUNDDER4ECHNOLOGIEMUSSAUFGEHOBENWERDENi

Dann wird auch noch ein praktikables Geschäftsmodell gebraucht. Das ist ein universelles Problem, hat hier aber signifikante lokale Folgen. Chandola: w&REIE3OFTWAREKANNNICHTVONDERSOZIALEN2EALITËTIN)NDIENGETRENNTWERDEN)CH WILLUNSERE!NSTRENGUNGENNICHTALS(OBBYANSEHEN DAUNSDASNICHTWEITBRINGEN WàRDE 6IELLEICHT WIRD ES IN 0ROGRAMMIERERKREISEN ALS ETWAS (EROISCHES ANGESEHEN n DIE .ACHT DURCHZUMACHEN UND DEN #ODE ZU HACKEN n ABER INSGESAMT BETRACHTET REDUZIERTESNURDIEEIGENE"EDEUTUNGi

Ein anderes globales und unerquickliches Thema ist die völlige Abwesenheit von Frauen. Chandola: w.EULICH HABE ICH EINES DER #OLLEGES BESUCHT !M )NFORMATIK )NSTITUT WAREN LAUTER &RAUEN3PËTERSTELLTEICHFEST DASSALLEDIESE&RAUENNACHIHREM)NFORMATIKABSCHLUSS ENTWEDERNOCH0SYCHOLOGIESTUDIEREN EINEN-"!ODER'ESCHICHTEMACHENODERnWAS AUCHIMMER!BERKEINEMACHTMITDEM0ROGRAMMIERENWEITER3IEBEHAUPTEN -ËN NER KÚNNTEN DAS BESSER $IE 6ORSTELLUNG DASS &RAUEN NICHT LOGISCH DENKEN KÚNNEN IST IMMER NOCH WEIT VERBREITET $AS 0ROBLEM IST NICHT DASS &RAUEN KEINE #OMPUTER BENUTZEN6IELMEHRGEHTESDARUM DIE"ARRIEREZWISCHEN5SERNUND0ROGRAMMIERERN NIEDERZUREI”ENi

Der erforderliche kulturelle Wandel wird aber nicht über Nacht stattfinden und möglicherweise auch durch Konflikt und Dialog vorangetrieben werden müssen. Hacker gegen Künstler ist ein Konflikt, den es auch im Sarai gibt, wie in so vielen anderen Organisationen der Neue-Medien-Kunst. Zwischen der ersten Generation junger Programmierer und den Künstlern und Intellektuellen herrschen Spannungen. Chandola, die hier zwischen den Stühlen sitzt, erklärt: w)NBEIDENk,AGERNjGIBTESDIESE!RROGANZ7ASICHWEI” WIRSTDUNIEMALSVERSTEHEN KÚNNEN5NDIRGENDWANNHÚRENSIEAUF MITEINANDERZUREDEN$IE4ECHIESSOLLTENAUF ALLEN%BENENEINBEZOGENSEIN0ROGRAMMIERENSOLLTENICHTALS!UFTRAGSARBEITGESEHEN WERDEN$IE4ECHIESMàSSENVOLLINFORMIERTSEIN WELCHE)DEENHINTERDENJEWEILIGEN 0ROJEKTENSTECKEN$AS0ROBLEMIST$IE4ECHIESIM3ARAIVERSTEHENNICHT WARUM4ECH NOLOGIEIN+UNSTUND+ULTUREINGESETZTWERDENSOLL3IESEHENDEN3INNVON.ETZKUNST NICHT UND WàRDEN LIEBER ETWAS k(ANDFESTERESj MACHEN %S IST WICHTIG DASS SOLCHE

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&RAGENHIERTHEMATISIERTWERDEN$ENNWENNSIENICHTIM3ARAIDISKUTIERTWERDEN WO DANNSONST'ESCHËFTSLEUTEWàRDENSICHNICHTEINMALDIE-àHEMACHEN SOLCHE4HEMEN àBERHAUPTZUPRàFENi

Für Chandola geht es in diesem Konflikt vor allem um Empfindlichkeiten und den jeweiligen Hintergrund der Leute. Sie betont, wie wichtig Schulbildung ist. w7IRBAUENEIN7EBPORTALFàR3TUDENTEN WOSIEIHREFREIEN)NHALTEABLEGENKÚNNEN $ASKÚNNTEEIN!NFANGSEIN$IEFORTDAUERNDE6ERWENDUNGVON-ICROSOFT 0RODUKTEN HATZUEINERVERMINDERTEN3ENSIBILITËTGEGENàBER3OFTWAREGEFàHRT)NDIESEM3INNE WàRDEDIE.UTZUNGVON/PEN3OURCEIM!LLTAGEINENGRO”EN5NTERSCHIEDMACHEN!BER DASISTEHEREINE,ANGZEITLÚSUNG&àR+àNSTLERUND+RITIKERMACHTESKEINENWIRKLICHEN 5NTERSCHIEDAUS WELCHE3OFTWARESIENUTZEN7ASZËHLT ISTDIE/FFENHEITGEGENàBER DEN)DEENUNDDIE"EREITSCHAFT MITDEN0ROGRAMMIERENIN$IALOGZUTRETENi

Als ich das Sarai verließ, waren die Mitarbeiter gerade damit beschäftigt, die über 100 Bewerbungen zu sichten, die für die zweite Runde des ›Seed Grant‹Programms eingetroffen waren. Das Sarai will über die Forschung öffentliches Wissen und Kreativität hervorbringen, und das Independent Research Fellowship Program ist eine seiner erfolgreichsten Initiativen. Insbesondere Initiativen in Bangalore haben davon profitiert – es werden also nicht nur Projekte in Delhi unterstützt. Die Themen umfassen so verschiedene Bereiche wie Wohnraum, Sexualität, Arbeit, soziale/digitale Schnittstellen, urbane Gewalt, Straßenleben, Technologien der urbanen Kontrolle, Gesundheit und Stadt, Migration und Verkehrswesen. 20 bis 30 Mikrostipendien werden vergeben. Jedes Jahr im August treffen sich die Forscher in Delhi, um ihre Ergebnisse zu diskutieren – ein Highlight im Sarai-Kalender, schon wegen der eloquenten Präsentationen und lebhaften Debatten. Beispiele für die einzelnen Arbeitsprojekte sind: die Nutzung von Zelluloid und CDs in Punjab; eine Untersuchung der Raumstruktur psychiatrischer Krankenhäuser in Srinagar; die Kultur von Telefonzellen; Identitäten und Ziele tibetanischer Jugendlicher in Neu Dehli; der Einfluss der Urdu Frauenmagazine auf muslimische Frauen; Studentenpolitik in Allahabad. 20 Als Reaktion auf das Pogrom in Gujarat (Anfang 2002) und die sich verschlechternde Weltlage nach dem 11. September 2001 organisierten Shuddha Dasgupta und ich eine Konferenz über Krisenmedien.21 Als wir beide im Juli 2002 beim »No Border Camp« in Straßburg waren, ließen wir uns etwas abseits nieder und entwarfen unser Programm, umgeben von haufenweise euro-autonomen Aktivisten, die sich schier endlos dauernden Plenarsitzungen hingaben. Im März 20. ÄBERNOMMEN AUS EINER -ITTEILUNG AUF DER 2EADER -AILINGLISTE VOM  *ANU

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7IEDERBEGEGNUNGMITDEM3ARAI&àNF*AHRE.EUE -EDIEN +ULTURIN)NDIEN

2003, einige Wochen vor der von den USA angeführten Invasion des Irak, reiste ich dann nach Delhi, um darüber zu diskutieren, wie in Zeiten des Krieges und der Krise Medieninterventionen aussehen können. Wir hatten Journalisten, Medienpraktiker, Autoren, Theoretiker und Aktivisten eingeladen, um über die Krise der Repräsentation und der Reportage in so unterschiedlichen Situationen wie den ethnischen Konflikten in Ex-Jugoslawien und Zentralafrika, dem ökonomischen Kollaps in Argentinien, dem Konflikt in Israel und den palästinensischen Gebieten, dem bevorstehenden Krieg gegen den Irak, der Gewalt in Gujarat und Kashmir und der Vertreibung von Menschen durch große Dammbauprojekte im Narmada-Tal zu reden. »Crisis Media: The Uncertain States of Reportage« stand im Zeichen von Dringlichkeit, insofern war die Konferenz weniger spielerisch und undefiniert als viele andere Neue-Medien- und Hacker-Veranstaltungen. Der Workshop wurde mit einer Provokation eröffnet, mit der Feststellung, dass »die Krisen in den Medien die Krisen der Medien sind.« Die Hauptrednerin war Arundhati Roy, die die Mainstream-Medien mit einem Büffel verglich, der von einem Schwarm von Bienen umgeben ist, all jenen alternativen und unabhängigen Stimmen, die aus der politisierten Neue-Medien-Kultur hervorgehen. Als ich das Sarai im Dezember 2004 besuchte, hatte ich den Eindruck, als sei der Ort inzwischen doppelt so groß geworden. Hier ein weiterer Bericht meiner Begegnungen und Erfahrungen: Während gerade eine Studentengruppe aus Pakistan das Zentrum besuchte, wurde ich von Shevta Sarda auf den neuesten Stand des CM-Projekts gebracht. Es war größer geworden, mittlerweile gab es drei Labs, und ein viertes nur zu Forschungszwecken war von der Partner-Organisation Ankur eingerichtet worden. Die Labs verteilten in ihrem Umfeld nun regelmäßig ihre Zeitungen. Was sich über die Jahre wirklich weiterentwickelt habe, so Sarda, sei die Methodologie des digitalen Geschichtenerzählens, die neben E-Mail, dem Web, Video und Performances auch Papier als Medium benutzt, z.B. in Form des Skizzenblocks22 oder eben der Zeitung.23 Wie die Website erklärt, erlangen die Jugend-

22. 3IEHE WWWSARAINETPUBLICATIONSOCCASIONALSCRATCH BOOK w$IES IST EIN "UCHAUS(INWEISEN%SENTHËLTEINE2EIHEVON%INTRËGEN DIEDIE2EISENUND&LUCHTLI NIENVERSCHIEDENER,EUTEAUFZEICHNEN DIEàBER-ONATEGEMEINSAMINDEN-EDIA ,ABS GEARBEITET HABEN %S DOKUMENTIERT IHREN !RBEITSPROZESS IHR %XPERIMENTIEREN IHREN%RlNDUNGSGEISTUNDIHR3PIEL%SISTEIN2EGISTERVON.OTIZEN !NNALEN *OURNA LEN !NLEITUNGEN "EMERKUNGEN +OMMENTAREN 'ESPRËCHEN 6ORSCHLËGEN 2EmEXIONEN )NDIZES UND 3AMMELALBEN %S IST EINE +ARTE VERSCHIEDENER DURCHGEFàHRTER 0ROJEKTE ABERDElNIERTKEINEENDGàLTIGEN:IELE3TATTDESSENBIETETES6ORSCHLËGEFàR!LTERNA TIVROUTEN UND ÄBERLEGUNGEN DAZU WELCHE -ÚGLICHKEITEN IN BESTIMMTEN 7EGEN LIE GEN DIENOCHNICHTBESCHRITTENWURDEN%SLIEFERTGENAUE"ESCHREIBUNGENALLTËGLICHER PRAKTISCHER%RFAHRUNGEN WËHRENDESGLEICHZEITIGETWAS.EUESINDEN0ROZESSEINFàHRT %SISTEINE%INLADUNG SICHEINZUSCHREIBENUNDSOANDIESEM3CHAFFENSPROZESSTEILZU NEHMENi 23. 3IEHEHTTPBROADSHEETVARCCBLOGARCHIVELETTER TO THE READER HTML

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lichen, die sich regelmäßig in den Compughars treffen, beachtliche technische Fähigkeiten in der Nutzung von Computern, Digitalkameras, Audio-Rekordern und Scannern, die sie für ihre Interviews, Geschichten, Rezensionen, Fotos, Tonaufnahmen, Wandmagazine, Pamphlete, Aufkleber und kurzen Animationen einsetzen: »Sie spielen mit Worten, Ideen, Konzepten und Bildern, um das Alltägliche zu erzählen und eine sich immer weiter entwickelnde, vernetzte Sammlung von Tagebucheinträgen daraus zu machen. Tagebücher sind eine ganz spezielle Form des Schreibens: intensiv, subjektiv und persönlich.«24 Die Tagebücher erzählen von den kleinen Gassen, von Wahlen, Wahrnehmungen, Feiern, Unfällen, Entwurzelung, Migration, Räumungen, Arbeitsverhältnissen, Technologie, Lebensgeschichten und dem Sterben. Die CM-Erfahrungen wurden auch nach Gujarat gebracht, wo es 2002 zu heftigen kommunalen Unruhen gekommen war. In Zusammenarbeit mit dem FACT New Media Center fand zudem ein sehr erfolgreiches Austauschprojekt des Sarai mit einer CommunityGruppe aus Bootle, einem Vorort von Liverpool, statt.25 Die lokalen Labs haben ihre eigene Dynamik entwickelt und arbeiten inzwischen unabhängiger voneinander und von Ankur/Sarai. Sarda zufolge gibt es sie inzwischen an fünf Orten, aber es bestehe kein Ehrgeiz, noch weiter zu expandieren. Das CM-Projekt will keine zusätzlichen Zweigstellen betreiben und ist auch nicht daran interessiert, sich als globales Konzept vermarkten und zu einem Markenzeichen entwickeln zu lassen. Über die Jahre hat die Nutzung von Mobiltelefonen und VCD-Spielern zugenommen, dennoch haben auch Magazine noch ihre Bedeutung. Mit Jeebesh Bagchi, Gründungsmitglied von Raqs und Sarai und CM-Koordinator, sprachen wir über das letzte Lab-Projekt. Er sagte, dass sich Delhi im Moment sehr schnell verändere, vor allem aufgrund der anstehenden Commonwealth Games 2010. Die Metro, der Bau gigantischer neuer Komplexe, all diese Entwicklungen hätten die Immobilienpreise hochschnellen lassen, während die Peripherie sich rapide ausdehnte. Dies war die aktuelle Lage in der Stadt und der Kontext, in dem das Sarai möglichen Begegnungen in seinem neu eröffneten Lab entgegenblickte. Das Lab lag in Nangla Maanchi, einer Landbesetzer-Siedlung am Westufer des Flusses Yamuna, die auf das Aschedepot des angrenzenden Heizkraftwerks gebaut worden war. Vor 25 Jahren entstanden, zählte sie inzwischen ungefähr 100.000 Bewohner, eine sehr gemischte Bevölkerung, mit einer großen Vielfalt an Sprachen, Ethnien und Religionen. Doch der Boden, auf dem diese Menschen lebten, war nun Bestandteil urbaner Entwicklungspläne geworden, die mit den nahenden Commonwealth Games immer aggressiver wurden. Die Behörden hatten vorbereitende Untersuchungen durchgeführt, und der Supreme Court von der Lokalverwaltung bereits schnelleres und effektiveres Handeln beim ›Aufräumen‹ gefordert. Das Ergebnis war dann auch die Räumung von Nangla im Frühjahr 2006. Ein Blog wurde ein-

24. 3IEHEWWWSARAINETCYBERMOHALLACYBERMOHALLAHTM 25. /NLINE 4AGEBUCH DES $ELHI ,IVERPOOL !USTAUSCHS HTTPCM BOOTLE DIARY

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gerichtet, um über das traumatische Ereignis zu berichten, und eine Zeitung produziert.26 Sarda schreibt: w.ANGLAISTEINESCHWIERIGE%RFAHRUNGFàR#YBERMOHALLAGEWESEN$IE'EWALTDES'E SETZESUNDDER3TADTPLANUNGISTINEINERFàRDAS!LLTAGSLEBENDER#- 4EILNEHMERSEHR BRUTALEN!RTUND7EISEDURCHGESETZTWORDEN%SWIRDHIERZ"VON3LUMSGESPROCHEN $IESISTEINE+ATEGORIE DIEVOM'ESETZUNDVONDER3TADTPLANUNGENTWICKELTWURDE UNDNUNALSSELBSTERKLËRENDE&ORMZUR"ESCHREIBUNGDESSOZIALEN,EBENSBENUTZTWIRD 7ËHRENDSEINERFàNF*AHREBESTANDEINESDER:IELEDES#YBERMOHALLA 0ROJEKTSDARIN EINEANDERE!RTDES'ESPRËCHSàBERDIESE2ËUMEZUR'ELTUNGZUBRINGENUNDSIEEINFACH ALSSELBSTORGANISIERTE3IEDLUNGENOHNERECHTLICHE!NSPRàCHEAUFDAS,AND AUFDEMSIE SICH ENTWICKELN ZU BETRACHTEN $IE .ANGLA %RZËHLUNGEN WAREN EIN 6ERSUCH DIES IM +ONTEXTDERKONmIKTREICHENURBANENEN5MGESTALTUNGZUARTIKULIEREN"EZEICHNENDER WEISEWURDEINDENFàNFZIGER*AHRENVONDERDAMALIGEN%LITESOGARDIE!LTSTADT$ELHIS ALSk3LUMjBEZEICHNET3LUMISTKEINNEUTRALER"EGRIFF

Das nun nicht mehr existierende Nangla-Lab bestand aus einer Kerngruppe von sechs Leuten. Fünf Zwei-Mann-Teams von den anderen beiden Labs halfen dabei, es aufzubauen. Es war ein Experiment, bei der Eröffnung eines neuen Labs auf die kollektiven Erfahrungen anderer Labs zurückzugreifen. Dabei ging es nicht nur darum, neue Labs zu eröffnen, sondern in diesem Prozess auch jedes Mal den Ortswechsel genau zu registrieren, über die Dichte, die sich um jeden Knotenpunkt herum bildet. Der Wunsch, einen Reflexionsraum für die Mitarbeiter aus den verschiedenen lokalen Labs zu schaffen, führte auch zur Idee, ein separates Forschungs- und Entwicklungs-Lab für die CM-Crew einzurichten. Um die Notwendigkeit eines diskreten F&E-Labs zu verstehen, muss man erst die Rhythmen der öffentlichen Labs verstehen. Jeebesh erklärte, dass sich rund um die Uhr 15 bis 20 junge Leute in jedem dieser Labs aufhalten. Es gehört zur täglichen Praxis, Ergebnisse untereinander auszutauschen und Dinge gemeinsam zu machen. Das führt auch zu einem wachsenden Vertrauen darauf, Kontexte zu schaffen, die man außerhalb des Labs selbst mit den anderen Einrichtungen teilen kann. Er sieht das als einen nach außen gerichteten Impuls der Labs, den er als »Ausatmen« bezeichnet. Zweitens, sagt er, kommen die neuen jungen Mitglieder zu unterschiedlichen Zeitpunkten in die Labs. Gleichzeitig gibt es in jedem Lab ältere Teilnehmer, die schon eine längere praktische Erfahrung haben, was eine Differenzierung innerhalb des Raums herstellt, die bei der Expansion neue Konzepte erforderlich macht. Das heißt, dass die Aufgabe nicht einfach nur darin besteht, neue Labs zu errichten, sondern auf innere Ansprüche und soziale Kontexte der jeweiligen Einrichtung einzugehen. Drittens haben die Labs zeitweise andere Forscher und Praktiker zu Gast – z.B. Techies und Designer – und arbeiten mit ihnen an Projekten. Je nach den organisatorischen Anforderungen dieser Interaktionen werden diese Projekte manchmal in die tägliche Praxis der Labs 26. HTTPNANGLAFREEmUXNET 27. % -AIL )NTERVIEW -AI

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integriert oder erfordern, in anderen Fällen, auch eine Änderung des Rhythmus. Jeebesh: w$IE&RAGEVORHERWAR WIEMANDIESEGANZEN!SPEKTEZUSAMMENDENKENUNDINDIESEM 3INNEEINEN2AUMSCHAFFENKANN DERALLDIESEN!NFORDERUNGENGERECHTWIRD$AS&% ,ABWARSOALS+NOTENPUNKTRAUMGEDACHT EIN2AUM DERDIELOKALEN,ABSMITEINANDER VERBINDET INDEMERFAHRENERE-ITARBEITERSICHIN2UHEINIHRE!RBEITVERTIEFENKÚNNEN UNDZUGLEICHIHREMLOKALEN,ABVERBUNDENBLEIBEN WO-ITARBEITERAUSALLENDREI,ABS GENUG:EITlNDENKÚNNEN UM$INGENACHHALTIGZUENTWICKELN BEVORSIESIEIN5MLAUF BRINGEN UNDWOSCHLIE”LICH%XPERTENUND&ORSCHER DIEVONAU”ENKOMMEN INEINEN +ONTEXTFàRDEN$IALOGEINTRETENKÚNNEN OHNEDIETËGLICHEN2HYTHMENDERLOKALEN ,ABSZUUNTERBRECHENi

Im Jahr 2006 waren 15 bis 20 Leute in den unterschiedlichsten Projekten von CM auf Vollzeitbasis aktiv, insofern sind viele Resultate zu erwarten. Die Praxis selbst ist offen für den Dialog. Die Teilnehmer geben ihre Begeisterung weiter, nicht nur den Kollegen in den Labs, sondern auch in kreativen Kontexten außerhalb. Das Selbstvertrauen ist da. Um ein Beispiel zu geben: Im Anschluss an eine einstündige Erzähl-Performance in einem Theater in Hamburg im März 2004 begannen sie damit, Radio-Programme zu machen. Insofern sind mit jeder Begegnung auch viele Möglichkeiten verbunden, neue Fragen und Praktiken für die lokalen Labs zu eröffnen. Das tägliche Schreiben gehört jetzt zu den grundlegenden Praktiken in den Labs. Eine damit verbundene Übung ist das Erstellen von (nicht-fiktionalen) »Streetlogs«. Die Idee des Streetlogs besteht etwa darin, stundenlang in einem Tee- oder Friseurladen zu sitzen, wo Leute ein und aus gehen. Nun beschreibt man den Raum und dazu einige der beobachteten Charaktere. Von da ausgehend kann man eine Geschichte erzählen, etwa über ein Gesicht, das man mag. Was sie dabei lernen, ist die Kunst des Zuhörens. Der hohe Wert des Zuhörens wird Teil der kreativen Praxis – und das ist sogar wichtiger als das Schreiben. Jeebesh stellte auch eine interessante Verschiebung im Umgang mit Bildern durch das Aufkommen der Digitalkameras fest. Es werden sehr viel mehr Aufnahmen gemacht, die Farben und Bildgrößen verändert, und sie werden in kurze animierte Filme verwandelt. In eines der Labs wurden alte Leute aus dem Viertel eingeladen, um Gespräche zu führen. Sie machten von jedem Fotos, vergrößerten und rahmten sie und verschenkten sie dann. Bei einer anderen Aktion besuchten sie die Lehrer aus ihrer alten Schule, vor denen sie früher weggerannt waren. Sie luden sie ins Lab ein und nahmen Gespräche auf, die sie mit ihnen über deren eigene Schulzeit führten. Es stellte sich heraus, dass die Lehrer auch menschliche Wesen waren und nicht bloß soziale Funktionsträger. Computerkenntnisse sind kein Thema, die Teilnehmer bringen sich die Software einfach gegenseitig bei. Im Zuge dessen bemühen sich einige auch um bessere Englischkenntnisse. Sie sehen anderen beim Programmieren und Gestalten zu. Wer besonders gut Animationen herstellen kann, nennt sich deshalb trotzdem nicht »Animator«. Man würde eher sagen: »Ich rede, ich denke, und

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ich kann lustige Dinge mit Computern anstellen.« Jeebesh will auf keinen Fall, dass Technologie zur Selbstdefinition von Identität dient. Tripta Chandola, die 2002 noch mit Freie-Software-Aktivitäten zu tun hatte, hat das Sarai inzwischen verlassen und beschäftigt sich mit (Neuen) Medien nun als Ethnographin. Dabei führt sie Feldforschungen auf dem Computermarkt Nehru Place, in der Govindpuri-Siedlung und in einem ländlichen Gebiet außerhalb von Delhi durch, gemeinsam mit Jo Tacchi, einem englischen Community-Medien-Forscher, der an der Queensland University of Technology in Brisbane arbeitet. 2004 hat mich Chandola zum Nehru Place mitgenommen, einem Geschäftszentrum in Süd-Delhi und einem der ältesten Hard- und Software-Märkte in der Stadt, der gegenwärtig einen rapiden Wandel durchlebt. 28 Große graue Betonstrukturen und -quadrate aus den siebziger Jahren werden von glänzenden Hochhäusern mit verspiegelten Fassaden umstellt, die in ganz Asien wie Pilze aus dem Boden schießen. Der Bürgersteig wird erneuert. Aufgrund des drastischen Falls der Consumer-Elektronik-Preise ist der alte Markt für aus Gebrauchtteilen zusammengebaute Hardware zwar immer noch da, doch mit den billigen High-Tech-Produkten können die recycelten alten Modelle nicht mehr konkurrieren. Während brandneue Drucker zum Discountpreis verkauft werden, ist das Auffüllen alter Tintenpatronen noch immer ein lukratives Geschäft. Chandola kennt die meisten Verkäufer, und wir haben mit einigen von ihnen gesprochen. Am Anfang ihrer Feldstudien hat Chandola versucht, aus einigen ihrer Erfahrungen halb-fiktionale Erzählungen zu machen, aber dann begann sie, ein Tagebuch zu führen und ihre Beobachtungen in anthropologischer Art aufzuschreiben, indem sie ihre Begegnungen Revue passieren ließ. In solchen Fällen tritt die Technologie in den Hintergrund. Einige Monate nachdem sie 2004 in der Siedlung gearbeitet hatte, schrieb sie mir: »Wenn man an Themen wie Armut arbeitet, während die Kommunikationstechnologien nach vorne drängen und gleichzeitig ihre Aura von ›Entwicklung‹ aufscheinen lassen, wird einem klar, dass die Dinge nicht so einfach sind, wie sie immer dargestellt werden.«29 Man muss Stereotypen aufgeben. Elektronik gehört inzwischen überall zum Alltag. Das braucht uns auch nicht zu wundern, ist es doch mittlerweile einfacher, einen Fernseher zu bekommen als sauberes Leitungswasser. Chandola versucht, Armut als gelebte Erfahrung zu verstehen, und weniger als ein Blatt mit Statistiken oder eine bloße Frage des Zugangs zu Ressourcen. In Regierungsberichten werden die Armen immer als die ›Anderen‹ behandelt. Was Chandola etwa auffiel, war der Unterschied zwischen denen, die mobil waren (nicht nur im Sinne von Transport, sondern auch in Bezug auf die Nutzung der Telekommunikation) und denen, die im Slum eingeschlossen waren. In einem Slum zu den ersten Bewohnern zu gehören, macht für Status, Einkommen und den Zugang zu Medien eine Menge aus. 28. 5MEIN'EFàHLDAFàRZUBEKOMMEN LOHNTDER"ESUCHVONWWWNPITHUBCOM EIN0ORTALFàR#OMPUTERTEILE DASSICHSELBSTALS3EELEDER)4 )NDUSTRIEIN)NDIENVER STEHT3IEHEDAZUAUCHDAS3ATYAM#INEPLEXIM.EHRU0LACEUNDDAS)NTERCONTINENTAL (OTEL%ROS 29. 0ERSÚNLICHER% -AIL !USTAUSCH !PRIL

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Armut ist in diesem Kontext, so Chandola, eine ›verschobene‹ Form von Armut und kann am besten, relativ gesehen, innerhalb der Siedlung selbst gemessen werden. Die Unterprivilegierten und Krisenopfer finden nur Arbeit innerhalb der Siedlung und können ihre Behausungen weder kaufen noch mieten. Sie sind Analphabeten, und ihre Kinder gehen nicht zur Schule. Tripta Chandola ist von ihrer Stadt fasziniert. Sie liebt »die Menschenmengen, die Anrufe, verpassten Anrufe, Schmutz und Unrat, die romantischen Schwächen, verzweifelten Versuchungen, zwanglosen Gespräche, geliehenen Atemzüge, zerstreuten Leben, Neuanfänge, Umsätze, verlorenen Orientierungspunkte, die fehlenden Meilensteine, gefurchten Ecken, geteilten Ängste, verstörten Träume, schmutzigen Begierden, kargen Orte, weitläufigen Phantasien, das unauf hörliche Hupen, die betäubende Stille, geordnete Unruhe, verwirrenden Gespräche, komischen Zwischenspiele, niederschmetternden Absprachen, und die verschlungenen Verbindungen zwischen all dem.« Während im Westen Städte als etwas Selbstverständliches begriffen werden und miteinander konkurrieren, gibt es in Indien eine genuine Faszination für die Stadt als solche. In China sehen wir einen ähnlichen Hype um das phänomenale Wachstum der Städte. Während in der Dekade des Club of Rome die Urbanisierung (im Verbund mit der Bevölkerungsexplosion) als die primäre Ursache der Weltprobleme angesehen wurde, hat seit den neunziger Jahren eine Verschiebung weg vom Apokalyptischen zu einer Perspektive auf die Stadt als einem komplexen Arrangement von Differenz stattgefunden. Die kollektive Vorstellung, die das Sarai verkörpert, ist eine des kritischen Engagements oder sogar der Leidenschaft für die täglichen zu erduldenden Widersprüche. Man denke nur an Walter Ruttmanns »Berlin – Die Sinfonie der Großstadt« (1927) und übertrage dann diese rasende Energie in den Kontext Indiens. Den Künstlern und Wissenschaftlern im Sarai geht es vor allem darum, den Geist dieses sich so schnell verändernden Ortes zu erfassen.

3ARAIUNDDAS)NTERNET Die Liste des Sarai-Reader stellt eine interessante Lektüre dar. Anders als die meisten E-Mail-basierten Mailinglisten ist sie nicht von Ankündigungen oder Kurzantworten beherrscht, und es erscheinen regelmäßig neue Inhalte, die man nirgendwo sonst findet. Die üblicherweise längeren Mitteilungen sind in den meisten Fällen Essays, die von den 40 bis 50 mit dem Sarai verbundenen unabhängigen Fellows geschrieben werden. Sie nutzen die Liste, um ihre Forschungsergebnisse zu verbreiten – ein Zeichen, dass E-Mail in Indien noch immer der vorherrschende Kanal für den Austausch von Texten und Ideen ist. Die Themen der letzten Jahre, um nur einige von ihnen zu nennen, umfassen Ausgrabungen indischer Experimentalfilme; den Stand der Forschung über das Leben von Kaschmir-Stämmigen in Delhi; Dastangoi, die Kultur des Geschichtenerzählens in Urdu; die kulturellen Aspekte der Finanzbranche in Vijayawada; die herumgeisternde Vision des Radfahrers auf den Straßen von Delhi; die Rolle der christlichen Missionare bei der Konstruktion der assamesischen Iden-

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tität; Golf in Südasien; Unternehmertum in Mumbai; Eisenbahnnotizen aus der Imperialen Untersuchung um 1881. Im Sarai-Media-Lab, dem Ort, wo der Großteil der Designarbeit stattfindet, traf ich Anand Vivek, einen Autor und Filmemacher, der beim »Publics and Practices in the History of the Present«-Projekt, kurz: PPHP, mitmacht. Er gab mir einen fotokopierten Reader voller Beiträge über Kopierkultur, Medienmärkte und Illegalität. Von Anfang an war dieser Themenkomplex ein zentraler Forschungsschwerpunkt im Sarai. Im Dezember 2002 fand ein Workshop unter dem Titel The Daily Life of Intellectual Property Law30 statt, im Januar 2003 folgte City One, eine südasiatische Konferenz über urbane Erfahrung, und im Januar 2005 Contested Commons/Trespassing Publics, eine Konferenz über Ungleichheiten, Konflikte und geistiges Eigentum. Hintergrund dieser Projekte sind die in indischen Städten aufkommenden neuen informellen Vertriebsnetzwerke. Kleine Läden, die MP3-CDs oder Video-CVDs (VCDs) verkaufen, schießen wie Pilze aus dem Boden – sogar in den Wohnsiedlungen. Das Material wird auch über lokale Kabelnetze vertrieben. Im Zentrum dieser Forschung steht eine dynamische ›Kultur der Kopie‹, die mit dem Kopieren von Musikkassetten angefangen hat, und sich nun von VHS über VCDs, MP3s und DVDs allmählich auf digitale Filme verlagert, die über Peer-to-Peer-Netzwerke heruntergeladen werden. Jede dieser Technologien hat ihre eigene Pirateriekultur hervorgebracht. Ich unterhielt mich mit Anand auch über die zahllosen kleinen Fertigungsstätten, die aus Teilen, die sie aus China oder Südostasien beziehen, Geräte für den Unterhaltungselektronikmarkt zusammenbauen. Der Wettbewerb zwischen ihnen ist erbittert, da es häufig um Bestellungen geht, wo Einzelne einen maßgefertigten Sony oder Samsung haben wollen. Die Leute kaufen solche Waren vor allem zu den Feiertagen, sodass es in der Zwischenzeit oft nichts zu tun gibt. Wenn der städtische Markt abgegrast ist, bringen Verkäufer die Geräte oft mit ihren Motorrollern weit hinaus in die kleinen Städte und ländlichen Gegenden. Die Informationsgesellschaft ist nicht immer das, was man sich unter ihr vorstellt. Taha Mehmood ist ein junger Forscher, der 2004 zum Sarai stieß. Sein Untersuchungsgegenstand sind Sicherheitsfirmen, Datenbanken, Identifizierungspraktiken und die »Multiple-purpose National Identity Card« (MNIC), die gerade an einem kritischen Punkt steht. Er begann, die Informationsflüsse unterschiedlicher Sicherheitsdienstleister der Stadt nachzuzeichnen. Mehmood erzählt, dass Überwachung in Indien weniger technisch ist, da es einfach keinen Mangel an Arbeitskräften gibt. Die Menschen werden auf altmodische Weise eingesetzt. Einige haben nicht einmal ein Mobiltelefon. Überwachung ist hier eine informelle Tätigkeit. Die Sicherheitsleute kartographieren das Areal, auf dem das zu überwachende Gebäude steht, und bewachen es entsprechend. Sie führen Buch über jedes Auto, das ein- und ausfährt, sowie über die Personen und jeweiligen Zeitpunkte. Das ist die indische Informati-

30. %INEN "ERICHT àBER DEN 7ORKSHOP GIBT ES HIER WWWSARAINETRESOURCES EVENT PROCEEDINGSINTELLECTUAL PROPERTY LAWINTELLECTUAL PROPERTY LAW

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onsgesellschaft. Mehmood denkt, dass seine Definition direkter und elementarer ist: w"EIJEDER'ELEGENHEIT BEIDERMANSICHDURCHDIE3TADTBEWEGT WIRDMANREGISTRIERT 7IRWISSENNICHT WASDER3TAATODERDIEPRIVATEN&IRMENMITDIESERMASSIVEN&ORMDER $ATENSAMMLUNG MACHEN 7ELCHEN 'RUND GIBT ES AN JEDEM %INGANGSPUNKT SO GENAU ZUSEIN%SSIEHTSOAUS ALSWËRENWIR SOLANGEWIRNICHTUNSERE5NSCHULDBEWEISEN FàRIRGENDWASSCHULDIG-ITDIESENGANZEN&ORMULARENSCHAFFTMAN4EUFELSKREISE5M EINEN2EISEPASSZUBEANTRAGEN BRAUCHTMANEINEN&àHRERSCHEINUND0ERSONALAUSWEIS UNDUMGEKEHRT7IRWERDENVON&ORMULARENGEFORMTi

In Vorbereitung auf die Einführung einer für jede Person auszustellenden Smart Card in Indien wird eine genetische Kartierung durchgeführt. Mehmood: w%SGIBTINJEDEMVONUNSDEN$RANG SICHDIESEM&ESTHALTENSEINER)DENTITËTINEINEM STATISCHEN$ATENKÚRPERZUENTZIEHEN*EDERMÚCHTE!NONYMITËT-ANSOLLTEAUCHBE RàCKSICHTIGEN DASSESNICHTGERADEEINELEICHTE!UFGABEIST EINE-ILLIARDE-ENSCHEN IM!UGEZUBEHALTEN:IGTAUSENDEVONIHNENHABENDENGLEICHEN6OR UND.ACHNAMEN %INGRO”ER4EILDER"EVÚLKERUNGISTMOBIL WIEWILLMANDIESEERFASSEN%SISTJAAUCH IMMER NOCH MÚGLICH FALSCHE 0APIERE ZU BEKOMMEN DIE EINEN 'RUNDBESITZANSPRUCH BEHAUPTENi

Als Teil seines Masters in Massenkommunikation hat Mehmood einen Film über dieses Thema gedreht. Die Sicherheitsmanager haben sich alle gescheut, vor der Kamera zu sprechen, deshalb wurden die Gespräche ohne Kamera geführt. Einer von ihnen ist ein Oberst im Ruhestand, der seit 13 Jahren im Sicherheitsgeschäft tätig ist und heute 1000 Wachmänner beschäftigt. Das ist seine Privatarmee. Sein Unternehmen ist eine vollständige Kopie des Armeemodells. Sechs oder sieben Wachmänner erstatten einem Vorgesetzten Bericht, der wiederum einem weiteren Vorgesetzten Bericht erstattet. Auf Uniform, Gürtel und Mütze tragen sie den Namen ihrer Firma. In ihrer Montur machen sie eine sehr schicke Figur. Mehmood zufolge kommen diese Männer aus Bihar und Rajistan, den ärmsten Staaten in Indien. Ihr Horizont ist sehr begrenzt und sie erhalten auch keine Ausbildung. Niemand weiß, wie viele Sicherheitsleute in der Stadt sind. Sogar das Sarai hat einen. Sicherheitsleute bewachen ganze Gebiete wie öffentliche Parks oder Straßen und erobern so auch kommunales Eigentum. Das passiert in ganz Delhi. In Mehmoods Augen wird die Sicherheit zunehmend zu einer Fassade, hinter der die Brüche in der Gesellschaft versteckt werden. Die Ironie ist, dass die am stärksten verunsicherten Leute Sicherheit für die Reichsten der Stadt gewährleisten. Die Situation spiegelt die Funktionsweise des Staates wider, etwa wenn es um die Sicherung der Grenze zwischen Pakistan und Indien geht. In den neu entwickelten Shopping Malls, Eigentumswohnungen und am Rande von Delhi gelegenen Retortenstädten 31. 3IEHE DAZU AUCH 4AHAS 'ESCHICHTE w4HREE -EN AND A 4ENANT 6ERIlCATION &ORMin2EADER ,ISTE $EZEMBER

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verlässt man sich inzwischen stärker auf Überwachungstechnik als auf die übliche Ansammlung von Wachleuten, was noch nicht der Fall war, als Mehmood seine Forschungstätigkeit aufnahm. Folglich gibt es ein zunehmend komplexes Zusammenspiel von technischen und personellen Formen der Kontrolle. Ein wichtiges Element der Sarai-Aktivitäten bildet das internationale Stipendiaten-Programm. Manchmal kommen Künstler, um an ihren eigenen Projekten zu arbeiten, in anderen Fällen sind sie in bestimmte Programme des Sarai eingebunden. Es gab schon eine ganze Reihe von ihnen, und im Folgenden werde ich einige vorstellen, um das Programm zu veranschaulichen.

3ARA+OLSTER Sara ist eine holländische bildende Künstlerin mit Designhintergrund, die später zu Film und Video übergegangen ist. Ende 2005 war sie für zwei Monate im Sarai, um an einem Projekt mit dem Titel LivingSpaces zu arbeiten. Ihr Vorhaben bestand darin, Wohnungsinnenräume zu fotografieren. Sie stellte sich vor, dass sie verschiedene Häuser von Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund besuchen würde. Sara: w7ËHREND MEINER 3TADTTOUREN ENTWICKELTE ICH EINEN GËNZLICH ANDEREN "LICK AUF DIE 3TADT"ALDWURDEKLAR DASSEINE6ISUALISIERUNGDER6ERSCHIEDENHEITVON7OHNRËUMEN UNMÚGLICHWAR$ENNOCHSAMMELTEICHWEITER!UFNAHMENVON)NNENRËUMEN)CHKON ZENTRIERTEMICHAUFBESTIMMTE6IERTELUND5MGEBUNGEN DIEWËHRENDDER3PAZIERGËNGE MEIN)NTERESSEGEWECKTHATTENi

Sie arbeitete, von der Zeitungs-Gruppe des Sarai unterstützt, in Kilokri – einem Viertel mit einer chaotischen Dichte von Gebäuden. w$IEENGEN'ASSEN BEIDENENMANMANCHMALNICHTMEHRWEI” OBMANDRINNENODER DRAU”ENIST FàHRENEINENVORBEIAN3CHULEN -OSCHEEN ÚFFENTLICHEN'EBËUDEN 0ARKS UND7ERKSTËTTEN)NDEN7OHNHËUSERNWIRDINDEN+ELLERNEINSPEZIELLESINDISCHES+LEI DUNGSSTàCKGENËHT DASABERINDEN53!VERKAUFTWIRD$ADIE(ËUSERSOENGGEBAUT SIND KANNMANFASTSEINE.ACHBARNANFASSEN WENNMANSICHAUSDEM&ENSTERLEHNTi

Was Sara am Sarai beeindruckt hat, war die breite Definition von Forschung. Welche Form sie am Ende annimmt, kann von einem Dokumentarfilm über eine akustische Arbeit bis zu einer Ausstellung reichen, und oft natürlich wissenschaftlichen Texten. Sara beobachtet, dass w3ARAI &ORSCHER +àNSTLER !UTOREN &ILMEMACHER VOR ALLEM 3PA” AN EINEM kNEUENj !USDRUCKSSTIL HABEN $ER !USTAUSCH ZWISCHEN &ORSCHUNG UND +UNST BETRACHTET ALS k4HEORIEjUNDk0RAXISj SCHEINTIM3ARAIALLGEGENWËRTIGZUSEIN OBWOHLDER!NTEILDES k$ENKENSjMANCHMALàBERHANDNIMMTUNDSICHINENDLOSEN$ISKUSSIONENFESTFËHRTi

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3ARAIUND!,& Das Waag-Sarai-Austauschprogramm, das in der Gründungsphase das finanzielle Rückgrat des Zentrums bildete, lief 2004 aus.32 Das Sarai erhielt anschließend Geld aus einer Reihe anderer Quellen, darunter der Rockefeller Foundation, niederländische Entwicklungshilfe von HIVOS, IDPAD und dem Außenministerium, sowie von der kanadischen Langois Stiftung. Es war von Anfang an wichtig, eine Vielzahl von Förderern zu gewinnen. Nach vier Jahren wurde das Modell des Austauschs zwischen zwei Partnern durch das Konzept einer ›Plattform‹ ersetzt, mit der die beiden ursprünglichen Partner vier Jahre lang im Auf bau befindliche oder sogar noch vor ihrer Gründung stehende Medienzentren unterstützen. Dahinter steckte auch die Idee, das Wissen weiterzugeben, wie man eine Institution auf baut. Es gibt eine Vielzahl virtueller Netzwerke, Kollaborationen und temporärer Strukturen wie Festivals und Konferenzen, dennoch scheint die Neue-Medien-Kultur vor der Frage zurückzuscheuen, wie nachhaltige Organisationen aufgebaut werden können, um eine kulturell, politisch und künstlerisch ausgerichtete Forschung dauerhaft zu unterstützen. Als erster Partner wurde das Bangalore Alternative Law Forum (ALF) eingeladen, einen Vorschlag einzureichen.33 ALF entstand im März 2000 aus einer Gruppe von Anwälten, die hauptsächlich am Gericht arbeiteten. Nicht ganz zufällig – Bangalore ist eines der wichtigsten indischen IT-Zentren – ging es oft auch um Neue-Medien-Themen wie Software-Piraterie, Urheberrechtsstreitigkeiten oder Freie-Software-/Open-Source-Initiativen. Ich habe das ALF im Dezember 2002 bei meiner ersten Reise nach Bangalore besucht. Es liegt im Zentrum und hat seine Räume im obersten Stockwerk eines Privathauses. Zu jener Zeit bestand die Organisation zu einem großen Teil aus Jurastudenten, die ihre ersten Prozesserfahrungen machten. Wir hatten ein Treffen auf ihrem Dach und diskutierten darüber, wie das ALF zu einer dauerhaften Institution werden könnte, unter Nutzung des Neue-Medien-Hypes, aber weiterhin auf die Unterstützung von Personen ausgerichtet, die aufgrund von Geschlecht, Sexualität, Klasse und Kaste marginalisiert werden. Die Fälle, die übernommen wurden, betrafen u.a. Leiharbeiter, Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, Scheidungen, Vormundschaft und Sorgerecht für Kinder, Wohnrecht, Eigentumsrecht, Zwangsarbeit, Kinderarbeit und Prostituierte, die von Polizisten missbraucht worden waren.34 2006 war das ALF mittlerweile ein enger Kooperationspartner des Sarai geworden. Dabei hat sich ein starkes Interesse am Einfluss von Technologie auf die Stadt entwickelt, auf die Art, wie die Landschaft wirtschaftlichen Interessen unterworfen wird, die Umweltfolgen einer solchen Entwicklung sowie die Arbeitsbedingungen in der Industrie. Seiner Website zufolge verbindet das ALF »alternativen Rechtsbeistand mit kritischer Forschung, alternativen Streitlö32. $IE7EBSEITEHTTPWAAGSARAINETDOKUMENTIERTDIE:USAMMENARBEIT 33. $IE!,& (OMEPAGEWWWALTLAWFORUMORG$IE7EBSEITEDER0LATTFORMISTEIN WENIGKONZEPTUELLGERATENWWWOPENCULTURESNET 34. WWWALTLAWFORUMORG,)4)'!4)/.LITIGATION

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sungen, pädagogischen Interventionen und – allgemeiner gesprochen – nachhaltigen rechtlichen Interventionen in unterschiedlichen sozialen Feldern.« Wie auch im Falle des Sarai wird der Fokus der Aktivitäten nicht durch die Begriffe ›Technologie‹, ›Kunst‹ oder ›Kultur‹ definiert. Über die Jahre ist das Zentrum gewachsen. 2005 waren zehn bis zwölf ALF-Mitglieder fest angestellt und konnten sich damit voll und ganz ihren Projekten widmen. Im November 2005 zeigte die österreichische Neue-Medien-Organisation Netbase ihre Wanderausstellung »World Information« in Bangalore. Sie wurde gemeinsam mit einer internationalen Konferenz vom ALF und anderen lokalen Partnern koproduziert.35

$AS3ARAIUNDDIETAKTISCHEN-EDIEN Nach einer offenen Ausschreibung im Jahre 2004 wählte die Sarai-Waag-Plattform zwei Partner in Brasilien und drei ihrer eigenen Mitglieder aus, um an einem Treffen in Bangalore teilzunehmen. Die Szene der taktischen Medien war dort in den letzten Jahren sehr lebendig gewesen. Bis 2002 präsentierte sich die Neue-Medien-Kunst Brasiliens vorwiegend formalistisch und elitär, hatte eher einen ›New Age‹-Anstrich und wurde von einer kleinen Gruppe von Künstlern, Theoretikern und Kuratoren, die mit eher internationaler Ausrichtung im Rahmen von Kunstinstitutionen, Festivals und Universitäten arbeiteten, fein säuberlich aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit rausgehalten. Doch die aktivistische Szene, für die eher Musik, Straßenkunst, Video, Performance und freie Software im Vordergrund stand, war im Kommen. Ich werde hier einige Projekte vorstellen, die für die Diskussion des Sarai und der taktischen Medien von Bedeutung sind. Die erste Midia Tática-Veranstaltung in São Paulo im März 2003 hatte die Rolle eines Katalysators, um verstreut arbeitende Gruppen und Personen zusammenzubringen. Daraus entstand die Midia Tática-Gruppe, aus der wiederum die Auto-Labs hervorgingen – drei temporär autonome Media-Labs in den Favelas der Stadt.36 Ihr Konzept war eine Mischung aus klassischer TelecenterArbeit (einschließlich Ausbildungsmöglichkeiten), freier Software, Aids-Aufklärung und einem Grundkurs in digitaler kultureller Produktion. Trotz – oder wegen – seiner mehrgleisigen Aktivitäten wurde das Projekt nach fünf Monaten eingestellt. Eine zweite Veranstaltung, die die Gruppe kurze Zeit später durchführte, war das Neue-Medien-Kunst- und Aktivisten-Festival Digitofagia (Oktober 2004). Parallel und in enger Zusammenarbeit dazu lief Metarecyclagem, 35. 3IEHEHTTPWORLD INFORMATIONORGWIOPROGRAMBANGALORE 36. $AVID'ARCIAHATEINEN(INTERGRUNDBERICHTàBERDIE!UTO ,ABSGESCHRIEBEN DERIN-UTE ,ONDON AUFDEN3EITEN ERSCHIEN$ARINFRAGTER wOB!U TO ,ABS NUR KRITISCH ERSCHEINEN UND BESTENFALLS EINIGE *OBS FàR DIE KOOPERATIVSTEN -ITGLIEDERDERAUSGESCHLOSSENEN+LASSENANBIETENi5NDw+ANNEIN0ROJEKT DESSEN 5RSPRUNGAU”ERHALBDER'EMEINSCHAFTLIEGT ZUEINEM%IGENTUMDER'EMEINSCHAFTWER DENi

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ein erfolgreiches Computerrecyclingprojekt, das verschiedene Werkstätten im ganzen Land einrichtete. Seine Markenzeichen sind nicht nur das Aufarbeiten alter Hardware und die Installation freier Software, sondern auch die mit den grellen, tropischen Farben Brasiliens übermalten PC-Gehäuse. Die Größe und Dynamik dieser Workshops legten eigentlich die Einrichtung eines Zentrums als nächsten logischen Schritt nahe, um weitere Initiativen zu konsolidieren und zu fördern. Sowohl die Midia Tática-Gruppe als auch das Metarecyclagem-Projekt bewarben sich für die Mitte 2004 eingeführten externen Fördermittel der Waag-Sarai-Plattform. Doch nachdem die Anträge für ein neues Zentrum schon ausgearbeitet waren, zerfiel die Midia Tática-Gruppe mit dem Umzug einiger ihrer wichtigsten Mitglieder von São Paulo nach Rio de Janeiro und Belém. Zur gleichen Zeit hatte die Lula-Regierung des »Dritten Wegs« begonnen, unter der Leitung des Kulturministers, des populären Sängers Gilberto Gil, den Plan eines Netzwerks von sogenannten kulturellen Hotspots umzusetzen, und zog damit einen großen Teil der Ideen, Energien und Personen von den Auto-Labs und dem sich entwickelnden Feld der taktischen Medien ab. Die einzigartige Chance, mit geplanten ›maximal‹ 600 kulturellen Zentren zu arbeiten, die mit Freie-Software-Computern für Audio- und Videoschnitt ausgerüstet werden mussten, wurde natürlich aufgegriffen. Diese sogenannten kulturellen Hotspots sollten durch das Cultura Viva-Programm des Kulturministeriums unterstützt werden. Anfang 2006 waren mindestens 250 schon fest geplant und 100 davon bereits voll eingerichtet.37 Ähnlich wie bei den Auto-Labs – die sich nicht wie die Strukturen der offiziellen Telezentren-NGOs selbst tragen konnten – wurde alles größer, unübersichtlicher und chaotischer. Die Schattenseite eines so großen Unterfangens war die große Politik. Korruptionsskandale verfolgten die Lula-Regierung im Jahre 2005 und brachten ständige Verzögerungen und Unsicherheiten mit sich. Im Jahr 2006 hatte das Cultura Digital-Projekt jedenfalls eine solche Eigendynamik, dass jede Unterstützung von Seiten der Waag Society und des Sarai unangebracht gewesen wäre. Die enorme geographische Distanz zu Brasilien und der Mangel an lokalem Wissen und Sprache auf der Seite von Amsterdam und Delhi machten sich bemerkbar. Was tun? Das Programm gab eindeutig vor, entstehende physische Räume zu unterstützen, nicht Netzwerke, von denen es ohnehin schon genug gab. Die Verwirrung sollte im Laufe des Jahres noch zunehmen. Im Oktober 2005 fand in Campinas in der Nähe von São Paulo die kleine Konferenz Submidialogia statt, wo der Antrag auf ein dezentralisiertes Forschungsnetzwerk diskutiert wurde. Daraufhin erschien noch eine fundierte portugiesischsprachige Publikation über die unabhängige elektronische Popkultur Brasiliens, doch die Energie, ein Zentrum zu gründen, schien versiegt zu sein. Die euphorische Phase der taktischen Medien war vorbei. In der Zwischenzeit zog die Sarai-Karawane in eine andere Ecke der Welt weiter. Es schien eine Ironie, sein Glück im Mittleren Osten zu suchen, aber genau das hatten die mutigen Protagonisten vor. Erste Kontakte im Iran klangen vielversprechend, erwiesen sich aber als unrealistisch. Dann wurden die 37. 3IEHEHTTPCULTURADIGITALCONVERSEORGBRTIKI INDEXPHP

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Verbindungen nach Beirut geknüpft, doch keine Gruppe (damals wie heute) signalisierte Interesse, ein Zentrum zu eröffnen. Wie wäre es mit Bandung? Während Mitglieder des Waag und des Sarai durch die Welt zogen, um Vorträge zu halten, Ausstellungen zu machen, Filme zu zeigen und Veranstaltungen zu organisieren, hatte die Initiative ihren Zenit erreicht und demonstrierte, wie die Neuen Medien auf globaler Ebene agieren und wie viel mehr noch kommen würde. Aber war all das nur ein Anfang, ein bloßes Vorspiel einer internationalen Zusammenarbeit von Kulturschaffenden mit radikal unterschiedlichen Hintergründen, oder war es das Ende einer Ära? Was mich schon immer interessiert hat, sind Organisationsformen und die Frage, ob die intensive Nutzung neuer Medien alternative Arbeitsformen und andere Machtstrukturen innerhalb von Projekten hervorzubringen vermag. Ein Mitglied des Sarai-Teams schrieb mir, dass das Sarai allgemein als ein Raum wahrgenommen wird, der sich eher horizontal als vertikal ausdehnt. Es ist normal, dass sich die Vorstellungen Außenstehender von der Wirklichkeit innerhalb einer Organisation unterscheiden, und das Sarai bildet da keine Ausnahme. w)NSOLCHEINEMHORIZONTALEN2AUMSINDDIE+NOTENPUNKTEmàSSIGUNDDIE.ETZWERKE INSTËNDIGER%NTWICKLUNG7IEESSICHDARSTELLT SPIELEN(IERARCHIEN DIEAUF(ERKUNFT %XPERTISEUND:UGEHÚRIGKEITBERUHEN INDIESEMLOSE ABERDENNOCHKOMPLIZIERTGE WEBTEN .ETZWERK KEINE 2OLLE (IER TAUSCHEN SICH DIE +NOTENPUNKTE ZWANGLOS AUS 5NTERHALTUNGENmIE”ENGLEICHM˔IGVORSICHHINUNDMANKANNOHNE:URàCKHALTUNG ALLEMÚGLICHEN!RBEITENUND)DEENPRËSENTIERENUNDKRITISIEREN$AS.ETZWERKISTOF FENUNDJEDERZEITBEREIT NEUE+NOTENPUNKTEENTSTEHENZULASSEN WIEIM"ILDEINES ROMANTISIERTEN'MBOFVST DERSPAZIERENDDIE2ËUMEUND,ANDSCHAFTENERKUNDET$OCH DIE 7IRKLICHKEIT IST VON DIESEM "ILD WEIT ENTFERNT $AS 3ARAI IST ALS /RT HOCHGRADIG BàROKRATISCHUNDKULTIVIERTGEFESTIGTEVERTIKALE.ETZWERKE)M'RUNDEFAVORISIEREICH HORIZONTALAUSUFERNDE.ETZWERKE ABERICHHABEIM0RINZIPAUCHMITVERTIKALHIERARCHI SIERTEN.ETZWERKENKEIN0ROBLEMi

Was für ein Problem hat das Sarai dann? w%SISTDAS3CHWEIGEN DASDIESBEZàGLICHHERRSCHT$IE4ATSACHE DASSESNICHTANER KENNENWILL DASSESVONVERTIKALEN+NOTENPUNKTENGETRAGENWIRD&àRANDERE DIEDIE -ACHTPOLITIKKRITISCHDURCHSCHAUENUNDDIEVORGEGEBENEk2EDE UND'EDANKENFREIHEITj EINBISSCHENZUERNSTNEHMEN WIRDESSCHWIERIG DIESANZUSPRECHEN$IE$ISKREPANZ ZWISCHEN0ROJEKTIONUNDREALER0RAXISBLEIBTGRO”i

Ein anderes sensibles Thema ist die Frage, wie offen oder geschlossen die Media-Labs in den Siedlungen sein sollten. Die CM-Labs sind selbst für Insider nicht ohne weiteres zugänglich und stehen nur ausgewählten Besuchern offen. w-IRISTVÚLLIGKLAR DASSDER/RTNICHTZUEINEM3PEKTAKELWERDENDARF ABERMEINGE SUNDER-ENSCHENVERSTANDSAGTMIRAUCH DASSEIN/RTGERADEDANNZUM3PEKTAKELWIRD WENNMANVERSUCHT DEN"LICKAUFIHNZUKONTROLLIERENUNDZUlLTERN$IE#YBERMOHAL LASWERDENWIEBESONDEREUNDFASTGEFËHRDETE/RTEBEHANDELT DIEDURCHBESONDERE

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UNDSENSIBLE.ETZWERKEUND!NSPRàCHEGETRAGENWERDEN UNDHEREINGELASSENWIRDMAN àBERHAUPT NUR ALS k:USCHAUERj -AN MUSS NICHT EINMAL AUS DEM 3ARAI HERAUSTRETEN UMDIESE)SOLATIONZUBEMERKEN6ONDERGANZEN3ARAI "ELEGSCHAFTSINDMAXIMAL IN DEN #YBERMOHALLAS GEWESEN ,EUTE AUS DEM %NTWICKLUNGS UND .'/ 3EKTOR DIE SIE BESUCHEN WOLLTEN WURDEN MEINES 7ISSENS ABGELEHNT MIT DER "EGRàNDUNG SIE VERSTàNDENNICHTDIEkKREATIVEj kINTELLEKTUELLEj%NERGIEDES2AUMSUNDWàRDENSIENUR STÚRENi

Das Sarai-Mitglied fährt fort: w7ASMUSSMANGELESENHABEN UMDIESEN/RTZUBETRETEN7OMUSSMANSCHONGEWE SENSEIN UMSICHALS"ESUCHERZUQUALIlZIEREN7ARUMWIRDDIESER/RTMIT3AMTHAND SCHUHENANGEFASST%INMAGISCHES/BJEKTWIRDNURDANNZUEINEMMAGISCHEN/BJEKT WENNESUNTER6ERSCHLUSSGEHALTENWIRD!BERBEDARFESNICHTEINESFORTGESETZTENUND INHALTLICHEN$IALOGS UMSOEINEN/RTZUDElNIEREN7OVORHABENSIE!NGST)NDEM SIEDIEJUNGEN&ORSCHERAUSDEN3IEDLUNGENSOERBITTERTABSCHIRMEN IMPLIZIERENSIE DAMITNICHTINGEWISSER7EISE DASSSIEABGESCHIRMTWERDENMàSSEN UNDVERSTËRKENSO NURDIE5NSICHERHEITENUMUNDFàRDIESE2ËUMEUND,EUTE DIESIEEIGENTLICHMITIHRER 0RAXISAUmÚSENWOLLENi

Shveta Sarda kontert diese Kritik mit einer langen Liste von Begegnungen zwischen Sarai-Mitarbeitern und CM-Praktikern. Bei den Montagstreffen im Sarai wird regelmäßig über das CM diskutiert, und die interne Mailingliste ist das Hauptforum für die Verbreitung von CM-Inhalten. Die Produktion von Zeitungen, Radio und Video (für die Verbreitung über die lokalen Kabelnetze) findet häufig im Sarai selbst statt. Auch die Mitglieder des Sarai-Netzwerks besuchen oft die CM-Labs: Lawrence Liang organisierte einen großen Workshop über Gesetze und juristische Vernunft; Hansa Thapliyal, ein Filmemacher aus Bombay, hat in den Labs zahlreiche Gespräche über Filme und Geschichten geführt; Samina Mishra, Autorin von Henna in the City, war da und hat ihr Buch vorgestellt. Einmal erhielt ein australischer Anthropologe indischer Herkunft auf Bitte des CSDS völlig freien Zugang zu den CM-Labs in Dakshinpuri und Nangla Maanchi. Nach einer kurzen Begegnung servierte er das Lab dann kalt ab. Das war natürlich keine so gute Erfahrung. Jaanu hat diese Geschichte in das NanglaBlog gebracht und den Forscher als einen geistesabwesenden und gleichgültigen Beobachter beschrieben.38 Auch studentische Praktikanten von Universitäten und Design-Hochschulen kamen in die Labs. Ein sehr erfolgreiches Praktikum,

38. HTTPNANGLAFREEmUXNETBLOGARCHIVEA WELCOME TO THOSE WHO COME BY JAANUHTMLw$IESER4RAUMSA”ZWISCHENUNS WËHRENDWIRREDETENUND UNSERE3ACHENERLEDIGTEN DIE!UGENGESCHLOSSEN ABERDIE/HRENAUFGESPITZT!BUND ZUSTACHIHNIRGENDEIN7ORTWIEEIN-OSKITOSTICH UNDERSAGTEk7OHAST$UDAS7ORT HERj $IE -OSKITOS UMSCHWIRRTEN IHN EINE 7EILE BIS SIE WIEDER RUHIG WURDEN $ANN ÚFFNETEDER4RAUMSEIN.OTIZBUCHUNDKRITZELTEIRGENDWASHINEINi

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schreibt Sarda, war das mit dem Dakshinpuri Lab realisierte Abschlussprojekt von Lekhoni Gupto, die dazu angeregt wurde, über ihre Forschung zu bloggen.39 Der Druck, immer wieder internationale Besucher zu empfangen, sei ein echtes Problem, gibt Sarda zu. Die Labs sind vorrangig damit beschäftigt, mit der unmittelbaren Umgebung ihres Viertels zu kommunizieren. »Sie treffen Besucher, sie gehen raus und suchen Gespräche, stellen Stände auf Wochenmärkten auf und nutzen die lokale Infrastruktur wie auch die Kabelnetzwerke der Siedlungen für die Verbreitung von Inhalten.« 40 Sarda: w-ANCHE INTERNATIONALE "ESUCHER HABE ICH SCHON DESHALB ABGEWIESEN WEIL SIE ZU SELBSTVERSTËNDLICH DAVON AUSGINGEN DASS WIR SIE DURCH DIE ,ABS FàHREN %NTWEDER GLAUBENSIE DASSWIRIM3ARAIPRAKTISCHNICHTSANDERESZUTUNHABEN ALSIHREN7àN SCHENNACHZUKOMMEN ODERSIEHABENWEDERETWASGELESENNOCHSICHMITDEN4HEMEN DER#-SAUSEINANDERGESETZTUNDWOLLENDEN/RTIM'RUNDENURZU IHREREIGENEN"E FRIEDIGUNGBESICHTIGEN$ASISTEINGANZSCHÚNER:USATZAUFWAND DENNEIN,AB "ESUCH KOSTETUNSFàNFBISSECHS3TUNDENAKTIVER,AB :EIT$IE-ITARBEITERDER,ABSSELBSTSIND EXTREMKRITISCHGEGENàBERDIESEN"ESUCHERNUNDHABENAUCHSCHONGEËU”ERT DASSSIE SICHWIEIM:OOFàHLENi

Sarda bestreitet auch, dass die aktiven CM-Mitglieder übermäßig vor der Außenwelt abgeschottet worden seien: w.ACHDEMICHINDENLETZTEN-ONATENSEITDEM!BRISSVON.ANGLAERLEBTHABE WIEDIE #- -ITGLIEDERSICHMITSEHRUNTERSCHIEDLICHEN,EUTENAUSEINANDERSETZTENn*OURNALIS TEN !NWALTSASSISTENTEN ,OKALPOLITIKERN 3CHULADMINISTRATOREN 0OLIZISTEN 'EMEIN DEARBEITERN &ILMEMACHERN .'/ -ITARBEITERNnISTMIRERSTKLARGEWORDEN WIEGEàBT UNDSELBSTSICHERSIEINSOLCHEN'ESPRËCHENSIND$EMWËREWOHLKAUMSO WENNMAN SIEWIRKLICHABSCHOTTENWàRDE#-ISTJETZTEIN.ETZWERKVONRUND,EUTEN DIESICH GANZTËGIG MIT EINEM SEHR KOMPLEXEN 'EmECHT VON 0RAKTIKEN ¾FFENTLICHKEITSFORMEN UND6ERANSTALTUNGENBEFASSEN3IEMACHENAUSGEDEHNTE4OURENDURCHDIE3TADTUND AUF%INLADUNGAUCHZUANDEREN/RTENi

Ravi Sundaram ergänzt in Hinblick auf das Verhalten westlicher Besucher: w$IE"ESUCHER DIEKOMMEN SINDNICHTIMMERSOWIEDUUNDREDENEINFACHMITJEDEM IM3ARAI-ANCHMALERWARTENSIE DASSSIEIRGENDWOHINGEBRACHTWERDEN UNDDERàB LICHE7UNSCHISTDANN DIE#YBERMOHALLA,ABSkVORGEFàHRTjZUBEKOMMEN$IESES"E DàRFNIS ETWASPRËSENTIERTZUBEKOMMEN GEHÚRTWOHLZUM0ROGRAMMDER2EISEKULTUR 7ENNNICHTDAS4AJ DANNDASCOOLEALTERNATIVE3ARAI!BERWEMGEGENàBERSINDWIR NUNVERANTWORTLICHnUNSERER¾FFENTLICHKEITODERDENk6ERKEHRSKULTURENj WIESIEDER !NTHROPOLOGE*AMES#LIFFORDEINMALBEZEICHNETEi 39. HTTPBLOGSARAINETUSERSCARTOGRAPHICITY 40. 3HVETA3ARDA PRIVATE% -AIL +ORRESPONDENZ  41. !USEINEMPRIVATEN% -AIL !USTAUSCH  42. %BD

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In einem Update des Fellowship Programms berichtet Sarda, dass Vivek Narayanan, der 2004 zum Sarai stieß, um bei den unabhängigen Fellows mitzumachen, im Sarai und in anderen Städten ein Team aus Ex-Fellows auf baut. Den intensiven Austausch von über 80 Menschen über die Dauer von acht Monaten zu unterstützen, ist ein komplexer Prozess. Das Ziel besteht darin, auf der Grundlage des Independent Fellowship-Programms eine Gemeinschaft von Forschern und Praktikern aufzubauen. Sarda: w$IE 3ARAI -ITGLIEDER WERDEN ERMUNTERT MIT DEN &ELLOWS ZUSAMMENZUARBEITEN UND SO HABEN ALLE EIN PAAR &ELLOWS MIT DENEN SIE WËHREND DEREN &ELLOWSHIPS IM $IALOG STEHEN$IESlNDETSOWOHLIN&ORMVON0OSTINGSUND0ERSONAL-AILSàBERDIE2EADER UND5RBAN3TUDY ,ISTESTATTALSAUCHàBERDEN!USTAUSCHVON"àCHERN !RTIKELNUND ANDEREN-ATERIALIEN3ARAI TXT EIN+OLLEKTIVVONDREI&RAUEN DIEALLEDREI-ONATEDIE 3ARAI :EITUNGHERAUSBRINGEN GEHENREGELM˔IGDURCHALLE-ITTEILUNGENUNDBàNDELN SIEFàRDIE6ERÚFFENTLICHUNGi

Es versteht sich von selbst, dass die Mitteilungen und Diskussionen auch Thema der Sarai-Montagstreffen sind. Seit 2005 haben Fellows innerhalb verschiedener Städte Treffen organisiert, um sich direkt auszutauschen, und auch Sarai-Mitglieder wurden dazu eingeladen. Seit 2006 nehmen die Fellows auch selbst an diesem Prozess teil, werden zu Gastgebern für Fellows aus anderen Städten sowie im Gegenzug selbst wieder zu deren Gästen. Networking im Sarai-Stil. Darüber, wie Neue-Medien-Zentren betrieben werden sollten, wird selten gesprochen, egal wohin man geht. Es gibt nur noch wenige Spuren einer aktiven Suche nach alternativen Organisationsmodellen wie der Kooperative, dem Verein oder dem Kollektiv. Die Organisationen, die in diesem Kapitel vorgestellt werden, sind für Gewerkschaften zu klein und gleichzeitig schon zu groß, um auf informelle Weise betrieben zu werden. Diese Neue-Medien-Organisationen sind eher mit NGOs und profitorientierten Firmen vergleichbar und Lichtjahre von den auf Konsens ausgerichteten autonomen Bewegungen aus dem alten und müden Westeuropa entfernt. Ihre virtuelle Netzwerkkomponente ist stark. Trotz aller kulturellen Differenzen führen Waag und Sarai ihre Organisation in ähnlicher Weise, insofern als es wenig kollektive Entscheidungsprozesse gibt. Letzten Endes sind die Gründer auch die Verantwortlichen, und so haben sie eine entsprechende Managementstruktur um sich herum aufgebaut – im Falle des Waag eine formelle, beim Sarai eine eher informelle. Es ist nicht möglich, die Gründer von ihren Positionen zu entfernen oder sie abzuwählen, und das System der rotierenden Führung ist unbekannt. Während die Arbeit in ihrer Substanz eine Aura der Innovation besitzt, ist die interne Struktur auf einen Stand weit vor den Umbrüchen der sechziger Jahre zurückgefallen. An manchen Orten werden kulturelle Organisationen oder NGOs wie Privateigentum betrachtet. Das lässt Neulingen und folgenden Generationen oft nur die Wahl, entweder selbst eine ähnliche Organisation zu gründen, als Freiberufler oder 43. %BD

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Mitarbeiter in der bestehenden Organisation zu arbeiten oder dieses Feld erst gar nicht zu betreten. Oliver Leistert aus Deutschland, der im Sarai ein dreimonatiges Stipendium verbrachte, beschrieb seine Beobachtungen in einer E-Mail, die unter allen Sarai-Mitarbeitern diskutiert wurde: w)CHFANDESZIEMLICHUNGLAUBLICH DASSDIE3TIPENDIATENNURVONDEN'RàNDUNGSMIT GLIEDERNDES3ARAIUNDZWEI#3$3 -ITGLIEDERNAUSGESUCHTWERDEN AUCHWENNDIEEINE GRO”ARTIGE !RBEIT LEISTEN -IR WËRE HIER ABER EIN OFFENER $ISKUSSIONSPROZESS LIEBER ANDEMJEDERIM3ARAI DER)NTERESSEHAT TEILNEHMENKANN6IELLEICHTSINDMEINE%R WARTUNGENZUSEHRDURCHMEINE%RFAHRUNGENIN+OLLEKTIVENGEPRËGT WELCHEnZUSAM MENGEFASSTnLAUTEN*EMEHR-ENSCHENAM%NTSCHEIDUNGSPROZESSTEILNEHMEN DESTO MEHRWIRDAUCHERREICHT%SISTFàRMICHPARADOX WENNMANEINERSEITSDIE"EDEUTUNG VONk0EER TO 0EERjUNDKOLLABORATIVER3OFTWAREHERVORHEBTUNDAUFDERSOZIALEN%BENE DAVONKAUMETWASZUMERKENISTi w$ASHIERARCHISCHE-ODELLHATMICHTRAURIGGEMACHTi FËHRT/LIVERFORTw7IESOOFTIN SOLCHEN&ËLLEN7ENNNURWENIGE,EUTEAUSDEM&àHRUNGSTEAMANWESENDWAREN WAS HËUlG VORKAM WURDE EIN REGELRECHTES -ACHTVAKUUM SPàRBAR n MAN WAR DANN NICHT MEHRINDER,AGE %NTSCHEIDUNGENZUTREFFEN3TATTDAS0ROBLEMZUBEHEBEN ZOGENES DIEMEISTENVOR DIESALSUNVERMEIDLICHHINZUNEHMEN NIEMANDMACHTDEUTLICH DASS DAS 3ARAI HIER ANDERS ORGANISIERT WERDEN MàSSTE $AS ORGANISATORISCHE -ODELL SIEHT AUS ALSHËTTEESSICHSEIT*AHRENNICHTVERËNDERTUNDNEHMETIEFGREIFENDE6ERËNDE RUNGENAUFQUALITATIVERWIEQUANTITATIVER%BENENICHTWAHRi

Sein Brief zieht folgendes Fazit: w$IEINTERESSANTESTE:UKUNFTSAUFGABEFàREIN0ROJEKTWIEDAS3ARAILIEGTDARIN SICH ZU VERËNDERN ZU MUTIEREN UND IN EINE NEUE &ORM HINEINZUENTWICKELN /BWOHL DAS 3ARAIVIEL)NTERESSEAN$INGENZEIGT DIEAU”ERHALB)NDIENSVORSICHGEHEN UNDVIELE SEINER-ITGLIEDERDEUTLICHBESSERINFORMIERTSINDALSDIEVERGLEICHBAREREUROPËISCHER )NITIATIVEN HATDER7UNSCH DIESES7ISSENUNDDIESE%RFAHRUNGAUFEINENEUE2EGION ZUàBERTRAGEN SEINE'RENZEN)CHHABEKEINE:EICHENEINER&ASZINATIONFàR$IFFERENZ lNDENKÚNNEN$IEWESTLICHE3ICHTAUFkDAS!NDEREjINDIESEM&ALLEDIE-ENSCHEN)N DIENS MUSSEINESOLCHE7IRKUNGGEHABTHABEN DASSkDAS!NDEREjFàREINEN)NDERVOR ALLEMMITkNICHTBERàHREN KEINE.EUGIERZEIGENjVERKNàPFTWIRD%INEANDERE%RKLËRUNG DàRFTEIMSCHIERENDLOSEN&ORSCHUNGSFELDZUlNDENSEIN DAS$ELHIUND)NDIENSELBST SCHONDARSTELLENi

Hier zeigen sich Enttäuschungen, aber auch die Einsicht, wie schwer es ist, eine wahrhaft egalitäre globale Zusammenarbeit zu realisieren, zumal vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte und der ungleichen Machtverteilung hinsichtlich Geld und Ressourcen. Wie soll man Debatten führen, wenn es keine klare, gemeinsame politische Agenda gibt und das einzige, was man hat, gute Absichten sind? Was bedeutet gegenseitige Hilfe in einer gleichberechtigten Partnerschaft? Es ist fraglich, ob solche Werte von autonomen Bewegungen des ›alten Europa‹ in

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radikal andere Kontexte übertragen werden können – und sollen. Aber genau das steht hier zur Debatte. Die Mitglieder des Sarai haben Olivers Kritik zurückgewiesen. Sarda meint dazu: »Seine Kommentare über die Hierarchie und die Entscheidungsprozesse im Sarai basieren auf falschen Informationen und können bei uns bestenfalls ein Achselzucken auslösen.« Die häufigen Weltreisen der Sarai-Mitglieder seien kein Grund zur Sorge: w-EINE+OLLEGENUNDICHBEOBACHTENSCHONKRITISCH WIESIESOZWISCHENDEN7ELTEN WANDERNnVONDER"IENNALEIN6ENEDIGZUDENSELBSTORGANISIERTEN3IEDLUNGENOHNE ,ANDRECHTE!BERMIRGEFËLLTIHR4ANZAUFVERSCHIEDENEN(OCHZEITEN ERMACHTDIE7ELT WENIGERABSTRAKT%SMACHT3PA” ZUVERFOLGEN WIESIESICHDER(ERAUSFORDERUNG DIE 7ELT ZU VERSTEHEN STELLEN UND ICH HABE 2ESPEKT VOR DER +OMPLEXITËT DER !NFORDE RUNGEN DIEMITDEMOFFENEN$IALOGINVIELE2ICHTUNGENVERBUNDENSIND3IESTELLEN UNSALLEVORDIE!UFGABE DIEGLOBALE¾FFENTLICHKEITERNSTZUNEHMENUNDUNSAUFSIE EINZULASSENi

Ravi Sundaram zufolge liegt das Problem des Sarai woanders: w7IRSINDMISERABEL WAS/RGANISATIONUND"àROKRATIEBETRIFFT MANCHMALSEHRZUUN SEREM.ACHTEIL5NSFEHLTDAS(ERZ ,EUTEZUFEUERN UNDWIRHABENAUCHNICHTDIEGE RINGSTE.EIGUNGZUHIERARCHISCHEN-A”NAHMEN$ASISTUNSER0ROBLEM7IEKÚNNENWIR DAMITUMGEHEN7ASDAS3ARAIFàRVIELESOANZIEHENDMACHT ISTSEINEVERGLEICHSWEISE OFFENE3TRUKTUR ABERWIRSTEHENVORDEM7IDERSPRUCHDERUNENDLICHEN/FFENHEIT.A TàRLICHGIBTESEINE(IERARCHIEVON!LTERUND%RFAHRUNGIM3ARAI DOCHDASHATWENIG MIT "àROKRATIE ZU TUN 7ENN WIR TATSËCHLICH 3ELBSTKRITIK àBEN WàRDEN DANN WàRDE SIE DARAUF ZIELEN DASS WIR SCHNELLSTENS EINE NEUE .ETZWERK BASIERTE UND WENIGER ANSTRENGENDE/RGANISATIONSFORMENTWICKELNi

Das Sarai ist gut vernetzt, es gibt Tausende von Kontakten. Vielen Initiativen im Bereich der bildenden Kunst und der Neue-Medien-Kultur ist das Zentrum wohlbekannt. Diese Exponiertheit hätte mit der Zeit zu einem Problem werden können. Reicht es, weitere CMs zu eröffnen, noch mehr an internationalen Residencies, Programmen und Austausch zu haben? Wachstum ist die größte Herausforderung für das Sarai. Es ist nicht einfach eine Frage der Nachhaltigkeit, ein Modewort, das häufig darauf zielt, die Zeitlichkeit von Projekt-basierten Initiativen und taktischen Interventionen zu diskreditieren. Jedenfalls ist das Sarai nicht in die Neue-Medien-Kunst-Falle getappt, mit dem Problem muss es sich schon mal nicht herumschlagen. Zuallererst sollte man akzeptieren, dass das Sarai eine Institution mit einer Steuerungsinstanz ist. Man könnte nun Forschungen über die Geschichte und Strukturen von Institutionen anstellen. Wo ist das Neue-Medien-Äquivalent zum revolutionären Dritte-Welt-Erzieher Paulo Freire?

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7IEDERBEGEGNUNGMITDEM3ARAI&àNF*AHRE.EUE -EDIEN +ULTURIN)NDIEN

Es ist nötig, dass sich der interkulturelle Dialog auch auf Unterschiede in den Organisationsweisen ausdehnt. Das Aufstellen von Agenden, wie es in der internationalen Politik üblich ist und hier mit der »Delhi Declaration« 44 auch schon versucht wurde, könnte eine vielversprechende Möglichkeit sein – aber das positioniert die Politik wiederum zu umstandslos außerhalb des Sarai und internationaler Kollaborationen wie dem Waag-Sarai-Austausch. Die Fragen, die ich hier aufwerfe, sind zum Teil lokaler Natur, aber auch andernorts relevant, denn die Suche nach neuen institutionellen Formen ist in vollem Gange. Ashis Nandy, graue Eminenz im CSDS, empfiehlt eine Neuorientierung der Hauptaufgaben des Sarai, sobald der Neue-Medien-Hype abgeklungen ist. In einem privaten Gespräch fasste Nandy die künftige Agenda des Sarai wie folgt zusammen: Stadt, Medien, Zugang. Urbane Kultur sei ein relativ neues Forschungsgebiet für die Intellektuellen Indiens, da immer noch rund 75 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Gegenden leben und frühere Intellektuellen-Generationen entsprechend mit ländlichen Themen befasst waren. Mit der abstrakten Maschinerie von Hochhäusern, Schnellstraßen und U-Bahnen hat man sich bislang noch nicht ernsthaft auseinandergesetzt. Laut Nandy muss das Sarai als Versuch verstanden werden, ein reiches kulturelles und politisches Vokabular zur Interpretation des urbanen Alltags zu entwickeln, und danach zu fragen, was eigentlich Demokratie und öffentliches Leben im Zeitalter von Internet und freier Software konstituiert. Jeebesh Bagchi zufolge wSOLLTEMANSICHNICHTALLZULANGEMITDEN3CHWIERIGKEITENVON%INGANGUND!USGANG AUFHALTEN DIEJEDERHABENWIRD DERANDEREN2ËUMEN )NSTITUTIONENUND.ETZWERKEN BEGEGNET%NTSCHEIDENDIST ZUVERSTEHEN WIEINTERESSANTEUNDINNOVATIVE:USAMMEN ARBEITTROTZALLDIESER3CHWIERIGKEITENZUSTANDEKOMMTi

Das Interessanteste am Sarai als Institution, sagt Jeebesh, »ist seine Produktion neuer kritischer Wissenskomplexe, Energien, die die Kollaborationen und Improvisationen einer Architektur des Teilens und der Partizipation voranbringen«.

44. w4HE$ELHI$ECLARATIONOFA.EW#ONTEXTFOR.EW-EDIAi WWWVIRTUEEL PLATFORMNLARTICLE  ENHTML

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)#4AFTER$EVELOPMENT  $AS)NCOMMUNICADO 0ROGRAMM Dieses Kapitel ist ein persönlicher Bericht über meine Erkundungen im schnell expandierenden Feld der Information and Communication Technologies (ICT) for Development (ICT und Entwicklung).1 Im Dezember 2003 und im November 2005 besuchte ich die Veranstaltungen des World Summit on the Information Society (WSIS) in Genf und Tunis, zwei von den Vereinten Nationen organisierte Gipfeltreffen, an denen jeweils 15-20.000 Vertreter aus Regierungen, NGOs und Wirtschaft zusammenkamen, um Fragestellungen zu Telekommunikation und Internet im Entwicklungs-Kontext zu erörtern. Die ehemalige Dritte Welt ist zum sich entwickelnden Markt umbenannt worden. Für Zehntausende war dies eine Gelegenheit, sich zu treffen, zu diskutieren und Geschäfte anzubahnen. Aufgrund meines Engagements für das Sarai New Media Center in Delhi konnte ich in diesem Feld Erfahrungen aus erster Hand sammeln. Die Arbeit des Sarai hatte mich so inspiriert, dass ich mit der Ausarbeitung einer kritischen Betrachtung dieses als ›ICT4D‹ bekannten Sektors begann.

8 3538 3!,, Meine erste Bekanntschaft mit diesem Feld machte ich in den späten achtziger Jahren, als ich Michael Polman von der NGO Antenna, der holländischen Sektion der internationalen Association for Progressive Communication (APC), traf. Schon bevor das Internet 1993 seinen Durchbruch hatte und das World Wide Web zum beherrschenden Standard wurde, gab es einige interessante Debatten unter Hackern und Aktivisten über die Nützlichkeitsaspekte in der Ausrichtung (alternativer) computergestützter Kommunikation. Dies war die Zeit der Mailboxen bzw. Bulletin Board Systems (BBS), mit ›Store-Forward‹-Netzen wie 1. -EIN$ANKGILT-ICHAEL'URSTEINAND3TEVE#ISLERFàRIHREHILFREICHEN+OMMEN

TAREZUR6ORVERSIONDES4EXTS%INIGE4EILEDIESES+APITELSSINDGEMEINSAMMIT3OENKE :EHLE GESCHRIEBEN WORDEN DEM #O -ODERATOR DER )NCOMMUNICADO -AILINGLISTE UND 7EBSITE7EITERE)NFORMATIONENUNTERWWWINCOMMUNICADONET3IEHEAUCHDIE0RO TOKOLLE DER )NCOMMUNICADO  +ONFERENZ VERÚFFENTLICHT VOM )NSTITUTE OF .ETWORK #ULTURES *ODPNNVOJDBEP3FBEFS HGVON'EERT,OVINKUND3OENKE:EHLE !MSTERDAM ).#  WWWNETWORKCULTURESORGINCOMMUNICADO

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Fido, und einem umständlichen, nur mit Unix-Befehlen zu bewerkstelligenden Zugang zum damals rein textbasierten Internet. Es kam nun zu einer Spaltung zwischen den Positionen des ›access for all‹ und des ›access for us‹. Antenna arbeitete hautsächlich mit NGOs in nicht-westlichen Ländern zusammen und unterstützte sie beim Auf bau von BBS’ und frühen Internet-Systemen. Aus ihrer Perspektive hatte die Versorgung mit individuellem Computerzugang wenig Bedeutung. Man erinnere sich, dies waren die Zeiten der knappen Bandbreite, auch im Westen. Als Erstes brauchte die Organisation InternetZugang, nicht der Einzelne. Einem solchen institutionellen Ansatz stand die anarcho-libertäre Perspektive von Gruppen wie Hacktick/xs4all gegenüber, die die Anrechte des einzelnen Users in den Mittelpunkt stellten. Angesichts begrenzter Bandbreiten und Hardware-Knappheit kann die Debatte über diese Alternative als grundlegend verstanden werden, sie hat aber auch einen taktischen Blickwinkel. Über die Jahre ist sie immer wieder aufgetaucht; seit ich an meiner ersten Hacker-Veranstaltung teilnahm, der Galactic Hacker Party 1989 im Amsterdamer Paradiso, ist mir dieses Problem, dieser Streit viele Male wieder begegnet. So äußerten 2006 z.B. Kritiker der MIT-MediaLab-Initiative »One Laptop per Child«, dass Schulkinder sich Computer-Zugang durchaus teilen könnten und die Idee, jedes Kind brauche seinen eigenen Computer, doch sehr westlich geprägt sei. In manchen pädagogischen Ansätzen werden nur Gruppen als User betrachtet, das Individuum als User dagegen ausgeblendet. Die Kosten für Geräte, und sei es nur ein billiges Radio, spielen immer noch eine Rolle, ganz zu schweigen von den Internet-Zugangskosten. In einem Telecenter oder Internetcafé ist Bandbreite immer noch teuer. Es wäre töricht, diese Realitäten im Namen eines höheren Ziels, in diesem Fall der (westlichen) Subjektidee, zu unterschlagen. Als wir uns 1999 um die Beschaffung von Fördergeldern für das Sarai kümmerten, stellten wir fest, dass im holländischen Entwicklungsministerium und mit ihm verbundenen Förderinstitutionen die Idee, eine vielgestaltige und anspruchsvolle Neue-Medien-Kultur zu unterstützen, noch ganz neu war. Die Konzentration auf Gesundheit, Frauen und Umwelt entsprach ja durchaus wertvollen NGO-Zielen – aber ICTs sollten dabei nicht nur als bloße Werkzeuge verstanden werden. In all diesen Nutzer-Kulturen steckt auch ein autonomes und kreatives Element, das erkannt und unterstützt werden sollte. ICT war (und ist oft noch) weltweit eine ungeheuer reduzierte Monokultur, die förmlich danach schrie, aufgebrochen zu werden. Wie auch immer, die Dinge waren in Bewegung. Nicht lange davor, 1997, war in Den Haag das Institute for Communication and Development (IICD) eingerichtet worden.2 Abgesehen von der Praxis der APC, westliche und südliche NGOs mit – oft über teure Fernverbindungen 2. ))#$ IST EINE UNABHËNGIGE GEMEINNàTZIGE 3TIFTUNG DIE  VOM NIEDERLËN DISCHEN -INISTERIUM FàR %NTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT EINGERICHTET WURDE )HRE WE SENTLICHEN&ÚRDERMITTELBEZIEHTSIEVONDEM.IEDERLËNDISCHEN'ENERALDIREKTORIATFàR INTERNATIONALE:USAMMENARBEIT$')3 DEM"RITISCHEN-INISTERIUMFàR)NTERNATIONALE %NTWICKLUNG$&)$ UNDDER3CHWEIZER$IREKTIONFàR%NTWICKLUNGUND:USAMMENARBEIT 3$# 

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verbundenen – Computern und Modems auszustatten, war die Entwicklung einer Kulturpolitik im Feld der Neuen Medien ein umstrittenes Thema. In den frühen neunziger Jahren herrschte noch die ›Wasserbrunnen-Politik‹ vor. Das hieß, dass die oberste (moralische) Priorität westlicher Entwicklungspolitik darin lag, die Ärmsten der Armen zu erreichen, die meist in ländlichen Gebieten lebten und vor allem Bedarf an Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung hatten. Computer und Internetzugang betrachtete man als westlichen Luxus, der nur den örtlichen urbanen Eliten und aufstrebenden Mittelschichten von Nutzen sei. Doch seit den späten neunziger Jahren hat sich diese Haltung rapide verändert, obwohl einige Erhebungen zeigen, dass für diejenigen, die keinen Internetzugang haben, andere Formen von Hilfe und Technologie tatsächlich auch eine höhere Priorität haben. Der »Digital Divide« (»Digitale Kluft«) wurde zu einem Schlagwort der späten Neunziger. Offiziell gilt der Bericht der Maitland Commission for the International Telecommunications Union (1984) als das Ausgangsdokument des ICT for Development-Diskurses.3 Den ersten Höhepunkt auf globaler Ebene erlebte dieser sich entwickelnde Bereich wohl mit der Global Knowledge-Veranstaltung in Toronto im Juni 1997, aus der wiederum das Multi-StakeholderNetzwerk Global Knowledge Partnership (GKP) hervorging, ein Netzwerk von ICT4D-Organisationen, das von Kuala Lumpur aus betrieben wurde. Dass viele der ICT4D-Organisationen aus Kanada stammen, ist kein Zufall. Es gibt nur eine Handvoll Ministerien oder angeschlossene Organisationen, die in diesem Feld eine innovative Rolle spielen. Zu ihnen gehören die Kanadier und ihr International Development Research Centre (IDRC) in Ottawa (Ontario), die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), das Department for International Development (DFID) und Panos in Großbritannien sowie Hivos in den Niederlanden. Merkwürdigerweise ist die US-amerikanische Regierung in diesem Kontext kaum präsent. Stattdessen sind hier eher Stiftungen aktiv, darunter die Soros Foundation (OSI), Project Harmony und Intermedia Foundations. Was aber nicht heißt, dass die US Agency for International Development (USAID) für ICT for Development-Projekte keine Dringlichkeit sieht. Ihr Leland-Projekt z.B. verbindet seit 1994 20 afrikanische Länder. Trotzdem gibt es auf der internationalen Ebene eine Menge Konkurrenz und Nicht-Kooperation. Und im Ergebnis stellt man einen deutlichen Einflussverlust der US-amerikanischen Regierungsagenturen fest – eine Situation, die im völligen Gegensatz zur Vorherrschaft amerikanischer Unternehmen wie Google, Microsoft, eBay und Yahoo steht. Wie mir ein ehemaliger Friedenskorps-Freiwilliger schrieb,

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Wir sollten nicht den Fehler machen und glauben, dass die US-Firmen nun (schon) in derselben Situation seien und blind den Wünschen und Befehlen des Weißen Hauses folgten. Das Engagement von Microsoft, Sun, Dell und HP im ICT4D-Zirkus ist von Gewicht. Vereinte Nationen hin oder her – hier kann Geld gemacht werden. Microsoft etwa wurde zum Hauptsponsor der globalen Telecenter-Supportaktivitäten von telecenter.org, einer kanadischen IDRC-Initiative. Ein weiterer erwähnenswerter WSIS-Vorläufer war die DOT Force (Digital Opportunity Taskforce), die auf den G8-Gipfel in Okinawa (2000) folgte, eine Veranstaltung zu globaler Politik, auf der Verwaltungsleute, NGOs, Wissenschaftler und Unternehmen zusammenkamen, um einen Plan zur Überwindung der Digitalen Kluft zu entwickeln. Ein ähnliches Forum war außerdem die 2001 gegründete UN ICT Task Force. Zwei Treffen in Kapstadt und Sienna verschlangen viel Geld und brachten doch nur ein mageres Ergebnis. In diesen Kreisen aber machten schon Gerüchte über einen künftigen UN-Gipfel, der sich mit Internet und globaler Telekommunikation befassen soll, die Runde. Für die, die schon einige Jahrzehnte dabei waren, wirkte es wie eine Neuauflage der in den siebziger und achtziger Jahren unternommenen Anstrengungen, eine ›Neue Internationale Informationsordnung‹ zu schaffen. Jene Bewegung war aus der post-kolonialen Phase hervorgegangen, als Länder, die erst kurz vorher ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, sich der ›kulturellen Synchronisation‹ mit dem Westen widersetzten. Die Nachrichtenagentur Inter Press Service in Rom, eine »unabhängige Stimme aus dem Süden«, ist unmittelbar aus diesen Bemühungen hervorgegangen, den einseitigen Nachrichtenfluss vom Norden in den Süden einzudämmen, und den »Geschichten von unten« den Weg zu bahnen. 4 Doch die globale politische Landschaft hatte sich geändert. Weltweit waren kaum noch linke Bewegungen oder Parteien am Ruder. Die meisten sozialistischen Projekte auf nationaler Ebene waren verschwunden. Und die UNESCO als Kulturorganisation der UN war für Medienfragen nicht mehr zuständig. Mit der Organisation der WSIS-Gipfel wurde nun die ITU (International Telecommunications Union) betraut, eine in die Jahre gekommene technische Behörde, die sonst für die Standards nationaler Telekomgesellschaften (PTTs) zuständig war. Dies war ein sehr unglücklicher Anfang, denn 4. WWWIPSORG 3IEHE AUCH #EES * (AMELINK  $VMUVSBM "VUPOPNZ JO (MPCBM $PN NVOJDBUJPOT .EW9ORK,ONGMAN 

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es war die ITU, die in den neunziger Jahren – allerdings erfolglos – versucht hatte, das Internet in Besitz zu nehmen, zu beschränken und zu regulieren. Man kennt noch die skurrilen Geschichten, wie die nationalen Telekoms damals versuchten, Modems zu beschlagnahmen, und für ISDN-Leitungen ein Vermögen verlangten. Die skandalöse Hexenjagd auf Hacker machte es auch unmöglich, eine breite Koalition gegen die Privatisierung der Telekom-Industrie zu bilden, zumal nun die Preise in den Keller gingen. Im Gegensatz zu anderen Bereichen wie Wasser, Elektrizität und Gesundheit hat die Masse der Bevölkerung ironischerweise von dem profitiert, was man auch als strategischen Verlust öffentlicher Infrastruktur betrachten kann. Noch 2005 hallte die Kontroverse zwischen Telekoms und Internet in den Konferenzräumen der WSIS wider. Die ITU, immer noch von den alten Telefonmanagern beherrscht, hatte für die Datenpaket-TCP/IP-Religion, die die Internet-Fürsprecher verfochten, wenig Unterstützung gezeigt. Diesen Mangel an Kooperationsbereitschaft konnte man z.B. erneut in dem mit der Zukunft der Internet-Telefonie (VoIP) befassten Teil des WSIS erleben, über den aber kaum berichtet wurde. Im Kontrast zu den Veranstaltungen der siebziger Jahre stand auch, dass die Debatte nicht mehr auf Regierungsbeamte beschränkt war. Da die Telekoms auf der ganzen Welt privatisiert waren, saßen gemeinsam mit der ITU auch Firmen am Tisch. Neben Regierungen und Privatwirtschaft waren zudem auch Interessenvertreter von Seiten der Zivilgesellschaft beteiligt. Bei letzteren zeigte sich eine wachsende Anti-Unternehmens-Haltung, die von einer Vielzahl von Personen zum Ausdruck gebracht wurde, u.a. dem Medienkritiker und Soziologen Herbert I. Schiller. In den neunziger Jahren war die strenge politische Vision allerdings einem wesentlich versöhnlicheren Menschenrechtsdiskurs gewichen, der als »Zusammenstellung universal akzeptierter moralischer Forderungen« gesehen wurde. Statt rebellischer Worte ging es den Aktivisten nun, in der Überzeugung, sich auf einen »internationalen politischen Konsens« berufen zu können, um legitime Anerkennung.5 Ich habe die Gipfel in Genf und Tunis nicht in der Eigenschaft eines Delegierten besucht und ebensowenig als Journalist mit der Verpflichtung, über die Veranstaltung zu berichten. Stattdessen genoss ich den Status eines Beobachters und konnte mich entspannt der ganzen Vielfalt an Präsentationen aus rund 200 Ländern widmen. Die meiste Zeit war ich in Konferenzen oder sprach mit Vertretern von Organisationen, die an der ICT4ALL-Messe teilnahmen. WSIS war die erste wirklich globale Konferenz, an der ich teilnahm, ein wahr gewordener Traum, mit Tausenden von Teilnehmern in einer wahrhaft futuristischen Veranstaltung. Seitdem habe ich selbst viel Zeit auf die Entwicklung von Festivals und Veranstaltungen mit einer ähnlichen Bandbreite an Teilnehmern und Ideen verwendet. Jahrzehntelang haben wir die politisch korrekte Kritik an der Unterrepräsentation von Frauen, Minderheiten oder Menschen aus dem südlichen Erdteil gehört – und sie war durchaus berechtigt. Die 5. #EES * (AMELINK w(UMAN 2IGHTS FOR THE )NFORMATION 3OCIETYi IN "RUCE 'IRARD3EÉN ¼ 3IOCHRÞ (G $PNNVOJDBUJOH JO UIF *OGPSNBUJPO 4PDJFUZ 'ENEVA 5. 2)3$  3

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meisten Internet-Konferenzen sind aber immer noch US-zentriert, mit ein paar Europäern hier und da. Web 2.0, Internet2, Grid-Technologie und WiFi stellen die neuesten Beispiele dieser weißen, männlichen Monokultur dar. Die meisten Lobbyisten im Bereich von Internet Governance und Cyber-Rechten sind ebenfalls angelsächsisch. Doch bei den Mediennutzern ist die Mehrheit inzwischen post-westlich. Es ist in diesem Zusammenhang schon eine Ironie, dass selbst die internationale Organisation Internet Society (ISOC) sich genau mit diesen Themen herumschlägt und Mühe hat, mit der Globalisierung Schritt zu halten, die gerade durch ihr eigenes Medium vorangetrieben wurde. Statt die Führung zu übernehmen, zahlt die Cyber-Elite jetzt den Preis für ihre Selbstherrlichkeit und ihre damit verbundene kulturelle Gleichgültigkeit. Damit stellt sich auch die Frage, wie man dann in Linux-Foren, Medienkunstfestivals und Taktische-Medien-Veranstaltungen Wandel durchsetzen und ›Globalität‹ zum Ausdruck bringen soll, Kontexten, die schon per Definition sehr begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung haben. Der Punkt ist, sich vom Modell eines Weltparlaments freizumachen. Es kann nicht mehr darum gehen, olympische Konferenzen zu organisieren, in denen alle Nationen, Minderheiten und sozialen Gruppen repräsentiert sind oder gar entscheiden können. Zeitgenössische Politik ist post-repräsentativ. Der beim WSIS so beherrschende Multi-Stakeholder-Ansatz verkörpert diesen Wandel. Die einzelnen Interessenvertreter haben ein aktives Anliegen, sind im Prozess engagiert und beschränken sich nicht darauf, eine abwesende Instanz zu repräsentieren. Es gibt zwar auch eine verbreitete Unzufriedenheit mit dem Multi-Stakeholder-Modell, aber diese Diskussion ist zu umfangreich und hat zu viele Aspekte, um hier angemessen auf sie eingehen zu können.6 Das WSIS war eine der ersten globalen Konferenzen, bei der es um die Vermehrung von Möglichkeiten ging. Anders als bei Gipfeln zu gewaltigen Problemen wie HIV, Urbanisierung, globaler Erwärmung, geschlechtlicher Diskriminierung oder Umwelt, war der Fokus in diesem Sinne ein luxuriöser. Einmal abgesehen von der offensichtlichen Gefahr eines Techno-Zentrismus lag doch eine echte Begeisterung darüber in der Luft, dass der Zugang zu Technologie und Kommunikation für Hunderte Millionen von Menschen verbessert werden könnte. Eine solche Größenordnung hatte es noch in keinem Projekt gegeben, mit dem ich bis dahin zu tun hatte. In den Verhandlungen wurde jedoch wenig erreicht, hauptsächlich, weil die Interessen und die Legitimität des WSIS nicht klar definiert waren. Ich glaube nicht an Resolutionen, und die machten auch nicht die Euphorie aus. Als einziges hartnäckiges Problemfeld entpuppte sich nach dem ersten Gipfel in Genf die Internet Governance, denn weder WSIS noch ITU oder UN hatten die Amtsgewalt über den Domain-Namensraum des Internets. Das lockte auch die globale Berater-Klasse an, die das WSIS und seine Vorbereitungstreffen (die sogenannten ›proconfs‹) wie einen weiteren Geschäftstermin wahrnahmen. Ich konnte mich mit den zynischen Empfeh6. :UWEITEREN)NFORMATIONENSIEHEDIEPPP L -AILINGLISTEUNDDIEDAZUGEHÚRIGE 7EBSITEàBER0UBLIC0RIVATE0ARTNERSHIPSIN)#4 DIEAUSDER)NCOMMUNICADO  +ONFE RENZHERVORGINGENWWWPPPWATCHORG

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lungen teurer Hotels und den großen Regierungsdelegationen afrikanischer Länder, die vor allem die Einkaufsmöglichkeiten genossen, nicht anfreunden. Für mich war es ausreichend, mir ausmalen zu können, wie eine post-westliche Techno-Kultur aussehen könnte. Der WSIS-Gipfel bot mir einen kurzen Blick auf das, was kommen wird. In meinem Karton mit gesammeltem WSIS-Material befinden sich Berichte wie »Mainstreaming ICTs: Africa Lives the Information Society«, »The Global Status of ICT Indicators«, »From Digital Divide to Digital Opportunities«, »Status of the Internet in Iran«, »Digital Review of Asia Pacific und African Media and ICT4D: Documentary Evidence«. Viele davon sind reine Untersuchungen, Statistiken und politische Analysen, aber es gab auch eine Reihe von Ausnahmen. In einer der Broschüren, »Global Process, Local Reality; Nigerian Youth Lead Action in Information Society«, fand ich eine Geschichte, die – weit weg von der Welt der Konferenzräume – alles zusammenbrachte, was für mich den WSIS ausmachte. Es ist die Geschichte von Mashi, einem Dorf in der Nähe von Duara, dem Ursprungsort der Hausa/Fulani-Volksgruppe, wo zehn junge Freiwilligenhelfer in der Mitte des Marktplatzes Computer installiert hatten. Die Dorf bewohner machten sich auf, dem Ereignis beizuwohnen. w6IELENVONIHNENWURDEGEZEIGT WIEMANEINEN#OMPUTERBENUTZT UNDDIEËLTEREN 4EENAGERBEKAMENDAZU&RAGEBÚGENUNDWURDENMIT4ONBANDUND6IDEOKAMERA IN TERVIEWT UMHERAUSZUlNDEN WASSIEVONEINERMÚGLICHEN%INBINDUNGVON)NFORMA TIONS UND +OMMUNIKATIONSTECHNOLOGIEN IN DAS !LLTAGSLEBEN IHRES $ORFES ERWARTEN )NSGESAMT$ORFBEWOHNERNAHMENANDER!KTIONTEILi

Was daran deutlich wird, ist die Rolle des WSIS als Kontext bildende Instanz, die zukünftigen Akteuren einen Rahmen für ihre Arbeit bereitstellt, die Kommunikation mit den Behörden rechtlich absichert und neue Plattformen und Kontakte schafft. Wenn man dies nicht berücksichtigt, ist es leicht, solche Gipfel als verschwenderische Zusammenkünfte ohne greifbare Ergebnisse zu kritisieren. Solche Anmerkungen haben natürlich auch ihre Berechtigung, und viele der Beiträge auf der Incommunicado-Mailingliste zielen auf (in)effektive Mittelverwendung, trotzdem sollte der Zynismus den echten Enthusiasmus nicht überschatten und, wieder einmal, ›alle anderen‹ Stimmen zum Schweigen bringen. Ein wertvoller Bericht kommt von Sylvestre Ouédraogo aus Ouagadougou in Burkina Faso, einem afrikanischen Land südlich der Sahara. In Der Computer und die Djembe, einer illustrierten und zweisprachigen (englisch/französischen) Sammlung von kurzen Geschichten und Beobachtungen erzählt der Ökonom Ouédraogo von seinen ersten Begegnungen mit dem Computer und seiner Auseinandersetzung mit ICT for Development. Ouédraogo sieht die Einführung von ICT in Afrika als einen tiefgreifenden Einschnitt. »Traditionelle Regeln sind immer noch eindeutig vorhanden, nicht nur im Dorfleben, sondern auch in städtischen Zentren, im Familienleben und in zwischenmenschlichen Bezie7. 'BENGA 3ESAN (G (MPCBM1SPDFTT -PDBM3FBMJUZ/JHFSJBO:PVUI-FBE"DUJPOJO *OGPSNBUJPO4PDJFUZ ,AGOS0ARADIGM)NITIATIVE.IGERIA  3

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hungen.«8 Es gibt zuwenig Stellungnahmen zu den Veränderungen von Seiten der Afrikaner selbst, meint Ouédraogo. Als Gründer der Organisation Yam Pukri (erwachende Intelligenz) beschäftigt Ouédraogo sich mit einem breiten Spektrum an Themen. In dieser Eigenschaft wurde er Teil der ICT4D-Arena, wo man zu Konferenzen geht, Anträge schreibt und sich um westliche Geldgeber kümmert. »Uns wurde gesagt, wenn wir Geld haben wollen, sollten wir Organisationen gründen, denn die Leute woanders dächten allgemein, dass Afrikaner kollektive Individuen seien, und dass es deshalb auch einfacher sei, eine Gruppe zu unterstützen statt Einzelpersonen mit individuellen Interessen.« Bald nach ihrer Gründung schon kamen Yam Pukris Bemühungen um Autonomie in Schwierigkeiten. Sie durften nur kostenlose Dienste anbieten, womit sie von den Geldgebern abhängig werden, ein Dilemma, das vielen ähnlichen Entwicklungsprojekten so vertraut ist. Ouédraogo liefert genaue Beobachtungen der frühen Internetkultur in Afrika. Erst erscheint der Computer als Black Box. »Mehrmals habe ich versucht, die Tonerkassette mit chinesischer Tinte zu füllen, aber es funktionierte nicht. Ich versuchte es sogar mit dem traditionellen Farbstoff, den meine Frau für Baumwollkleider verwendet, natürlich auch erfolglos. Wie kann ich dieses Gerät sinnvoll nutzen, das meinen Brüdern niemals eine Hilfe sein wird?« Ouédraogo fährt mit der Textilmetapher fort, wie seinerzeit auch Sadie Plant in Zeros + Ones, wo sie den Computer mit dem klassischen Webprozess verglich. w-ANGIBTEINFACHEINGEWàNSCHTES-USTERFàREIN,ENDENTUCHEIN UNDSOBEKOMMT MANESAUCH"ITTEIHNABERNICHTDARUM EIN+LEIDODEREINEN-ANTELZUMACHEN%RIST DAFàRGESCHAFFENWORDEN ,ENDENTàCHERHERZUSTELLEN7EI”TDUNUN WASEIN#OMPU TERWISSENSCHAFTLERIST%RISTIN7IRKLICHKEITEIN7EBER%RSPANNTDIE3TRËNGEUNDJUS TIERTDIE&ËDEN%RMACHTGENAUDAS,ENDENSCHURZMUSTER DASDUHABENMÚCHTESTi

Dann gibt es da auch die übliche Verwirrung des Mannes, der die E-Mail wiederhaben will, die er gerade verschickt hat. Oder eines anderen, der fröhlich mit einem großen Karton ankam und erzählte: »Ich habe gerade einen brandneuen Computer gekauft. Dann habe ich den Karton aufgemacht und festgestellt, dass er über 20 Jahre alt ist.« Die Diskrepanz zwischen Echtzeit-Kommunikation, die eine sofortige Antwort erwartet, und der Wirklichkeit anderer Nutzer kann groß sein. »Du bittest einen afrikanischen Korrespondenten, Dir auf Deine dringende E-Mail zu antworten, aber er kann es nicht, weil er gerade sein Internet-Guthaben im Cybercafé aufgebraucht hat.« Oder diese: »Du schickst eine E-Mail an einen afrikanischen Freund, der im Herzen der Savanne lebt. Er hat dir schon zwei Monate nicht geantwortet. Was du nicht weißt, ist, dass er 100 Kilometer vom nächsten Internet-Zugang entfernt ist, und er fährt nur alle drei Monate da hin!« In Bezug auf Internet und Entwicklung gibt es zwei Positionen, die nicht unbedingt im Widerspruch zueinander stehen. Im ersten ›holistischen‹ Ansatz 8. 3YLVESTRE /UÏDRAOGO -µPSEJOBUFVS FU MF EKFNCn5IF $PNQVUFS BOE UIF +FNCF 0ARIS,(ARMATTAN 

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wird Technologie, Medien und Telekommunikation keine besondere Rolle zuerkannt. Nicht einmal das Bruttoinlandsprodukt wird als eindeutiger Indikator betrachtet. Was zählt, sind die allgemeinen Lebensbedingungen: Gesundheit, Bildung, Arbeitsbedingungen, Kinderbetreuung – und für einige auch immaterielle Werte wie soziales Wohlbefinden oder ganz allgemein Glück. Unter diesem Aspekt wird Technologie oft als Teil eines größeren ›Modernisierungs‹Pakets gesehen, das zu einem Anstieg von Umweltverschmutzung, Stress, Arbeitszeit, Entfernung zur Arbeitsstelle und allgemein von Ausbeutung führt, im Austausch für eine wachsende Menge westlicher Produkte. Auch wenn einzelne Aktivisten ICTs effektiv einsetzen mögen, ist die Gesamtwirkung doch bestenfalls neutral. In der ICT for Development-Szene selbst hört man solche Bedenken jedoch selten. Dazu muss man eher das Weltsozialforum besuchen, dessen Wortführer gegenüber den positiven Wirkungen fast aller Technologien skeptisch sind. Der zweite Ansatz argumentiert aus dem Technologie-Diskurs selbst heraus und untersucht die Wirkung verschiedener Programme quantitativ. In diesem Zusammenhang fällt es natürlich leicht, das Versagen technokratischer Vorgehensweisen aufzuzeigen, bei denen es nur um Zugang geht. Wiederholt ist gesagt worden, dass Zugang unabdingbar ist – und doch nichts bedeutet. Das gilt auch für die allgemeine IT-Ausbildung, die oft nur darauf hinausläuft, das Heer der Microsoft-Arbeiter zu vergrößern, die lernen, wie sie das Web nach bekannten Inhalten, einschließlich Pornos, absuchen. Bislang waren ICT for Development-Projekte meist aber von geringer Größenordnung, so dass diese Kritik oft unberechtigt ist. Erst in letzter Zeit tauchen größere Initiativen auf, wie z.B. alle Schulen in Mazedonien miteinander zu vernetzen. Oder die MITInitiative »Ein Laptop pro Kind«, bei der es um die Herstellung extrem preisgünstiger Laptops geht, die in Millionenstückzahlen verkauft werden sollen und für Kinder in Entwicklungsländern bestimmt sind. Das Problem von ICT4D ist seine temporäre und konzeptuelle Natur, nicht seine Größenordnung. Bis jetzt waren die meisten ICT4D-Projekte nur Piloten, die sich auf Ausbildung, Auf bau von Telecentern und anderen Gemeinschaftseinrichtungen, politische Hilfestellung und Kapazitätsauf bau für NGOs konzentrierten. In der letzten Zeit ließ sich eine Tendenz unter Investoren beobachten, von reiner Ausbildung und Bereitstellung von Zugängen zu einem stärker politischen Ansatz überzugehen, der »die Offenheit und Freiheit des virtuellen Bereichs« in den Vordergrund stellt. Denn auch die Geldgeber haben kein Interesse mehr, dass weiter nur in Hardware und Verbindungsdichte investiert wird. Ihr habt im Jahr 2000 genug PCs bekommen, warum braucht ihr neue? Zum Teil sollten wir dies auch als Antwort auf die Welle der Anti-Terror-Gesetze nach dem 11. September betrachten. Im Gegensatz zum Eindruck, den Außenstehende manchmal haben, ergänzen sich alte und neue Medien in den meisten ICT4D-Projekten. Für autonome Aktivisten hat ICT4D im Vergleich zu anderen Themen bislang wenig Anziehungskraft gehabt. Außer bei der offiziellen MenschenrechtsAgenda der NGOs und der globalen Zivilgesellschaft hat man von den radikalen Gruppen erstaunlich wenig gesehen. Internet und Telekommunikation haben,

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anders als Biotechnologie und Genmanipulation, kaum oder gar keine Fundamentalkritik auf sich gezogen. Der real existierende Aktivismus konzentriert sich auf freie Software, Wireless Netzwerke und die Verbindung zwischen alten und neuen Medien (z.B. Internet und Radio). Einen Monat vor dem Gipfel 2003 wurde von einer Reihe taktischer Medien-Gruppen in einer Unterveranstaltung des Europäischen Sozialforums in Paris »WSIS? We Seize!« ins Leben gerufen. Diese Initiative sollte als externes Gegengewicht zum Genfer WSIS fungieren. Beteiligt daran war auch Alan Toner, der im Vorfeld der Veranstaltung einen Text im Mute Magazine veröffentlichte. Nachdem er die obligatorische Urheberrechts-Kritik geäußert hatte, schrieb er: w$ER %NTWURF FàR DIE $EKLARATION LËSST DEN FRAGWàRDIGEN 'EHALT DES +ONZEPTS DER k)NFORMATIONSGESELLSCHAFTj AN SICH ERKENNEN n ER UMFASST  VERSCHIEDENE 0UNKTE UNDLËSSTEINENALTEN4RICKWIEDERAUmEBEN DERANDIE(ÚHENDERNËRRISCHENkDOT COMj :EITENERINNERT(INZUFàGUNGDES0RËlXESw% iZUJEDEMERDENKLICHEN"EREICH MENSCHLICHER !KTIVITËTEN % !DMINISTRATION % ,EARNING ETC UND IHN SO ALS EIN k)#4 4HEMAj MARKIEREN 7ESENTLICHE -EDIENTHEMEN SIND UNTERDESSEN AN DEN 2AND GEDRËNGTWORDENi

Toner berichtete von Schwierigkeiten der NGOs, Zugang zu den WSIS-Verfahren zu bekommen, blieb jedoch eine Kritik des Menschenrechtsdiskurses oder des Konzepts der globalen Zivilgesellschaft schuldig. In den Monaten vor dem WSIS entwickelten sich zwischen den organisierenden autonomen Gruppen interessante strategische Debatten über den »Open Source, Open Borders«-Slogan. Wenn man für Open Source, Open Knowledge, Open Access usw. eintritt, warum soll man seine Forderungen nicht auch auf »Open Borders« ausdehnen, wie die Einwanderungs-Aktivistengruppe Was Tun vorschlug? Dieses Thema spaltete die We Seize-Kampagne in zwei Lager und sorgte für einige Auseinandersetzungen während der Vorbereitungstreffen und in den Chat-Rooms. Die Geschichte dieser Kontroverse muss noch geschrieben werden. Für einige lag die Beziehung zwischen Redefreiheit und Bewegungsfreiheit auf der Hand, während andere diese Verbindung nicht nachvollziehen konnten und die unrealistische ›Open Border‹-Forderung kritisierten. Der Begriff ›Freiheit‹ war durch neo-liberale Regierungen und gleichgesinnte Konservative schon so sehr diskreditiert worden, dass man ihn nicht mehr verwenden konnte. Es hatte sich in der Zwischenzeit aber auch keine autonome Position z.B. zu Internet Governance oder anderen WSIS-Themen gebildet.9 Die Beziehung zwischen ›außen‹ operierenden Aktivisten und ›intern‹ agierenden NGOs blieb von Anfang an unklar, und beim WSIS II in Tunis gab es aufgrund der massiven Polizeiüberwachung und der autoritären und repressiven tunesischen Regierungsgewalt überhaupt keine autonomen Räume mehr. 9. !LS-ITGLIEDDER).# )#4$ &ORSCHUNGSGRUPPESCHRIEB2OY0ULLENSEINEN"ERICHT àBER'RENZKONTROLLEALS)#4FOR$EVELOPMENTUNDàBERDIE2OLLEDER)NTERNATIONAL/RGA NISATIONOF-IGRATION)/- BEIM-ANAGEMENTDERGLOBALEN-IGRATIONWWWNETWORK CULTURESORGWEBLOGARCHIVESMIGRATION?MANAGHTML

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0OST $EVELOPMENTAL Gipfeltreffen sind bloße Kulminationspunkte. Als Langzeitentwicklung beobachten wir in diesem Feld eine Verschiebung weg von der Machtanalyse (wer hat Zugang zu Kommunikation und kontrolliert sie?) zu einer Sichtweise, die den befähigenden Aspekt von ICTs hervorhebt, z.B. in Bereichen wie Umweltschutz, dem Kampf gegen Aids, bei geschlechtlicher Diskriminierung oder Armutsbekämpfung durch verschiedene ökonomische Praktiken, wie z.B. Mikrofinanzierung. Da Technologie nie als ein neutrales Instrument operiert, halte ich eine aktualisierte Machtanalyse für nötig. Man muss über gute Absichten und deren kritische Standpunkte hinausgehen. Mein Ziel ist, eine gemeinsame Grundlage für strategische Debatten zu schaffen. Zu oft werden solche Diskussionen moralisch unterlegt. Es kommt darauf an, die versteckten Agenden sichtbar zu machen, die mit der unhinterfragten Befürwortung von ICT als einer Art unschuldiger Medizin verbunden sind – allerdings ohne dabei in eine technophobe Haltung zurückzufallen. Hilfe, Entwicklung und wohlmeinende NGO-Strukturen, sie alle kommen mit Agenden, die über die guten Absichten hinausgehen. Dieser klassischen Einsicht der Entwicklungskritik muss dringend wieder Gehör verliehen werden. Mein Ansatz wäre hierbei, die Entwicklungskritik von Arturo Escobar für den ICT4D-Kontext zu aktualisieren und umzuschreiben. Der Punkt ist nicht, dass Technologie generell schädlich ist, so wie mit ihr auch immer die Gefahr des Hypes heraufzieht – die Annahme, dass durch den Einsatz von Technologie soziale Probleme gelöst werden könnten. Aktivisten, Forscher und Politiker sollten, solange sie keine schlagenden Beweise in der Hand haben, hinsichtlich der Wirkung ihrer Projekte bescheiden bleiben und zumindest auch die neuen Machtstrukturen untersuchen, die durch ihre ICTs eingeführt werden. Es ist zudem auch immer noch sehr fraglich, ob die Armen der Welt von ICTs überhaupt profitieren. Insbesondere, da dieses Feld voller Leute ist, die, einschließlich meiner selbst, im Bereich der Neuen Medien engagiert sind, ist es manchmal schwer, zwischen persönlichen Einschätzungen und Hoffnungen und den grundlegenden Fakten und Zahlen zu unterscheiden. Viele von uns haben nicht die Erfahrung oder die Begabung, auf anderen Ebenen mitzuwirken, genauso wie umgekehrt Landwirtschafts-, Ernährungs- und Gesundheitsexperten vielleicht nicht erkennen, wie ICT ihre Ziele unterstützen kann. In seiner klassischen Studie Encountering Development (1995) schreibt Arturo Escobar: w$IELEERE6ERTEIDIGUNGVON%NTWICKLUNGMUSSDEN"àROKRATENDES%NTWICKLUNGSAPPARATS UNDDENEN DIEIHNUNTERSTàTZEN àBERLASSENWERDEN WIEDEM-ILITËRUNDDENMEISTEN DER 5NTERNEHMEN%SLIEGTINDESANUNS DAFàRZUSORGEN DASSDIE,EBENSSPANNEDER "àROKRATENUNDDER%XPERTENALS%RZEUGERUND6OLLSTRECKERTEURER'ESTENBEGRENZTIST %NTWICKLUNGZUNEUTRALISIERENBEDEUTET EINEN"RUCHEINZULEITENMITDERDISKURSIVEN0RA XISUNGLAUBLICHUNVERANTWORTLICHER0OLITIKUND0ROGRAMMEDERLETZTENVIERZIG*AHREi 10. %SCOBAR !RTURO &ODPVOUFSJOH %FWFMPQNFOU  5IF .BLJOH BOE 6ONBLJOH PG UIF 5IJSE8PSME 0RINCETON0RINCETON5NIVERSITY0RESS  3

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Escobar plädiert für eine hybride Modernität, die sich für eine Heterogenität von hypermodernen, prämodernen, a-modernen und sogar antimodernen Formen stark macht. Die Aufgabe des Kritikers sieht er darin, »hybride kulturelle Differenzen von politischer Relevanz sehen und erkennen zu lernen.« 11 Kulturelle Differenzen, so Escobar, »verkörpern Möglichkeiten, die Politik der Repräsentation zu transformieren, das heißt, das soziale Leben selbst zu transformieren. Aus hybriden oder minoritären kulturellen Situationen heraus entwickeln sich andere Wege, Ökonomien zu bauen, mit Grundbedürfnissen umzugehen und in sozialen Gruppen zusammenzukommen.« Das Ziel ist, »den Axiomen des Kapitalismus und der Modernität in ihren hegemonialen Formen zu widerstehen und sie zu untergraben.«12 Unabhängig davon, wie reizvoll diese Position erscheinen mag, müssen wir uns fragen, in welchem Verhältnis eine solche radikale Sicht zu aktuellen Debatten über Kampagnen wie Make Poverty History steht. Ist mehr Geld für Entwicklung, diesmal für ICTs, wirklich der beste Ansatz? Aus der Perspektive eines gegebenen Sektors mag man dem natürlich zustimmen, aber es sollte auch möglich sein, über solch eine begrenzte Sichtweise hinauszugehen, obwohl ich noch nicht erlebt habe, dass die Leute das auch tun. Um 2002 hatte ich die Gelegenheit, das Funktionieren der Info-Entwicklungs-Industrie von innen zu beobachten, als ich gemeinsam mit Ravi Sundaram eingeladen war, im Beirat des indisch-holländischen Programms für Alternativen in der Entwicklung (IDPAD) mitzuwirken. In dessen fünfter Phase (2002-2006) lag der Schwerpunkt auf ICTs. Das Gremium musste eine große Zahl von Forschungsanträgen durchsehen und einige von ihnen auswählen, die zu voll ausgearbeiteten Programmen weiterentwickelt werden sollten. Eine Vielzahl von Themen wurde abgedeckt – Telemedizin in Karnataka, Gender-Fragen in der Software-Industrie von Kerala, der Einsatz von ICTs und lokalem Radio für soziale Bewegungen und eine von Hyberabad aus durchgeführte Studie darüber, wie Frauen in städtischen und ländlichen Gebieten von Andra Pradesh ICT einsetzen. Dann gab es auch Vergleichsstudien zwischen den Niederlanden und Indien – z.B. eine Studie über die Arbeitsbedingungen in IT-gestützten Dienstleistungsbereichen. Was mir dabei deutlich wurde ist, wie weit die Wirklichkeit im Verhältnis zu den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, die behaupten, diese zu studieren, bereits fortgeschritten ist. Zum Ende des Auswahlverfahrens wurden die Projektvorschläge bei einer Konferenz in Bangalore präsentiert. Die meisten der Studien wollten den Einfluss von Technologien auf bestimmte Bereiche untersuchen und im engeren Sinne, wie ›vernetzungsbereit‹ sie sind. Dies sind alles relevante Fragestellungen, was aber oft unterschlagen wird, ist die strategische Frage, wie man die Richtung steuern kann, in die sich die Technologie selbst bewegt. Die große Gruppe der indischen Programmierer kann den Weg der Software-Industrie potenziell selbst bestimmen, denn das Outsourcing westlicher Programmierarbeit nimmt an Bedeutung ab. 11. %BD 3 12. %BD 3 :U %SCOBARS AKTUELLER 0OSITION KANN MAN SICH SEINE 2EDE VOM -ËRZANHÚRENw)NFORMATIONBEYOND-ODERNITY 'LOBALIZATIONAND$IFFERENCEi HTTPBROADCASTIUEDULECTURESESCOBARINDEXHTML

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Die ›Techno-Coolies‹ gibt es da tatsächlich, aber man kann dieses Image auch ebenso gut als einfache Copy-Paste-Übertragung von Kolonialstudien in die chaotische Wirklichkeit transnationaler Netzwerke interpretieren. Interessant sind Vergleiche mit China; z.B., inwieweit die These der Arbeitsteilung (Indien Software, China Hardware) stimmt, und wie lange noch.

$IE3OLAR IS $IALOGE Inspiriert von der Sarai-Kritik an der Informations-Entwicklung, wie sie von Ashis Nandy, Ravi Sundaram und anderen formuliert wurde, rief ich Ende 2001 gemeinsam mit dem kanadischen Forscher Michael Gurstein die Mailingliste Solaris ins Leben.13 Die Unzufriedenheit mit dem gewohnten Diskurs über IT und Entwicklung war seit einiger Zeit ständig gewachsen. Da die meisten, wenn nicht alle, NGOs in diesem Gebiet von staatlichen Geldern abhängig waren, gab es kaum unabhängige Forscher. Auch an unabhängiger Theorie mangelte es. Die Hauptarbeit in diesem Feld machten die selbständigen Berater, aber es war schwer zu sagen, wie offen sie ihre Erkenntnisse diskutieren konnten. 14 Die meisten ihrer Aufträge kamen von großen NGOs und Regierungsagenturen, und ihre Berichte sind oft der Sprache und der Struktur der geldgebenden Körperschaften angepasst. Vor Solaris hatte es kein institutionell unabhängiges Online-Forum gegeben. Was die Entwicklungs-Community aber brauchte, war freie Rede (freies Bier gab es sicher genug). In der Mailinglisten-Kultur bestand wenig Interesse daran, über die Digitale Kluft und die neuen Machtbeziehungen mit digitalen Technologien ausgerüsteter Ökonomien zu debattieren. Solaris forderte einen »kritischen Diskurs, der von ›innen‹ kommt und nicht darauf abzielt, eine neue Form von techno-kulturellem Pessimismus zu verbreiten. Das Letzte, was wir brauchen können, ist eine moralische Analyse des Internets als ›Werkzeug des US-amerikanischen Imperialismus.‹«15

13. 3IEHEDAS-AILINGLISTEN !RCHIVHTTPMAILSARAINETPIPERMAILSOLARIS 14. $ER !UTOR 0AUL 4HEROUX MACHTE EINE ËHNLICHE %RFAHRUNG ALS ER DIE %NTWICK LUNGSARBEITKRITISIERTE DIEERIN-ALAWIWËHRENDSEINERÄBERLANDREISEVON!LEXANDRIA NACH+APSTADTBEOBACHTETE)NDER5JNFTSCHRIEB4HEROUXw!LSICHINDER"ILL-ELINDA 'ATES 3TIFTUNG AUF DIE %RFOLGE VERANTWORTUNGSBEWUSSTER 0OLITIK IN "OTSWANA IM +ON TRASTZUR+LEPTOMANIEIHRER.ACHBARNHINWIES ERLEBTEICHEINESEHRUNKLARE2EAKTION 'ELDGEBERERMÚGLICHENOFT6ERUNTREUUNGUNDBLICKENàBERSCHLECHTE2EGIERUNGSARBEIT GEFËLSCHTE7AHLENUNDDIETIEFEREN5RSACHEN WARUMESINDIESEN,ËNDERNNICHTFUNKTIO NIERT HINWEG'ATESSAGTEFREIMàTIG IHMGEHEESDARUM SICHDER,ASTSEINER-ILLIARDEN ZUENTLEDIGEN%INERDERFàRIHNVERTRAUENSWàRDIGEN"ERATERIST"ONO'ATESWILL#OMPU TERNACH!FRIKASCHICKENnEINEUNPRODUKTIVE UMNICHTZUSAGENSCHWACHSINNIGE)DEE )CHWàRDEEHER"LEISTIFTEUND0APIER 3CHRUBBERUND"ESENZUR6ERFàGUNGSTELLEN$IE 3CHULEN DIEICHIN-ALAWIGESEHENHABE BENÚTIGENSIEDRINGENDERi*ANUAR 15. !USDER!NKàNDIGUNGDER3OLARIS%LECTRONIC-AILINGLIST )NITIATIVEFOR#RITICAL )SSUESOF)NTERNETAND$EVELOPMENT NETTIME LAT !PRIL

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Unsere Internet-Ära war vom Licht geblendet. Während die NetzwerkTechnologie noch ein expandierendes Universum darstellte, fiel es schwer, ihre Grenzen zu sehen oder ihre Schäden zu erkennen, ohne in Technophobie und Kulturpessimismus zurückzufallen. Eine engagierte Form der Forschung war nötig, um den trockenen Ökonomismus zu überwinden, wie auch seinen Gegenpart, den Technodeterminismus – die allzu oft vernommene Idee, dass Technologie automatisch das Heil mit sich bringe und in weltweiten Wohlstand für alle münde. Anfang des neuen Jahrtausends machte sich das Bedürfnis bemerkbar, die Agenden der involvierten Handlungsträger zu analysieren, einschließlich der G-8 DOT Force, amerikanischer Stiftungen (Markle, Soros, Rockefeller, Ford), des Wohltätigkeits-/Marketing-Einsatzes der IT-Firmen, der ICT4D-Regierungsprogramme, NGOs und Medienaktivisten. Zu den Themen auf Solaris gehörten, um nur einige zu nennen, die Entsorgung gebrauchter Computer, die Rolle des lokalen Radios im Verhältnis zum Internet, geistiges Urheberrecht in der NGO-Welt, das indische Handheld-Gerät Simputer und ähnliche billige Lösungen. In diesem Zusammenhang war es wichtig, festzuhalten, dass die Informationstechnologie das Armutsproblem der Welt nicht lösen konnte. Der Kampf gegen die Armut hat sich als äußerst mühsam erwiesen. Wir können das nicht dem Internet anlasten, aber die nackten Tatsachen zu ignorieren, wäre fahrlässig. Stattdessen sollten wir eher nach einer revolutionären Bescheidenheit suchen, die gewillt ist, die Fehler der Entwicklungs-Industrie ernstzunehmen. Leider ist die Frage, ob das in Computer und Netzwerke gesteckte Geld woanders nützlicher eingesetzt wäre, nicht zu beantworten. Eine Slum-Vorstadtgemeinde kann schlecht sagen: »Gib uns das Geld, und wir entscheiden, wie wir es verwenden.« Mit Sicherheit hat ITC auch seinen Anteil an der weiter wachsenden Ungleichheit der Einkommen, auf globaler wie nationaler Ebene, gehabt. Die Rhetorik von UN-Initiativen wie DOT Force sowie anderer Programme gegen die Digitale Kluft wie WSIS scheint veraltete neo-liberale Dotcom-Modelle wiederaufzubereiten. Gegen Kritiker wird gerne der PowerPoint-Optimismus erfolgreicher Projekte eingesetzt. Vor 2001 wurde an einer Kultur des ›Endes der Geschichte‹ gearbeitet, die vom fast religiösen Glauben getrieben war, dass Technologie, multipliziert mit marktorientierten Geschäftsmodellen, automatisch zu Demokratie und Wohlstand für alle führen wird. Die Debatten im Umfeld des WSIS haben an diesen maßgeblichen Parametern nichts geändert. Es gibt einen grundlegenden Konsens von Aktivisten bis zu Regierungsvertretern und Wirtschaftsführern, dass die ICTs eine insgesamt positive Wirkung haben. In einem solchen Klima fällt es allzu leicht, Kritik zu ignorieren und diejenigen, die sich für mehr Forschung und Reflexion einsetzen, als Spielverderber hinzustellen. Doch gibt es genug Beispiele. Die weltweiten Unterschiede bei den Bandbreiten werden immer größer. Während sich Afrika noch mit Modems abmüht, spielen westliche Wissenschaftler mit Grid-Technologie herum. Linux tritt als Windows-Alternative weiterhin auf der Stelle und beschneidet so seine Rolle als wettbewerbsfähiges Betriebssystem selbst, allzu oft wird es nur als Plattform für Server-Software eingesetzt. Die Solaris-Initiative stellte sich also die

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Frage, in welchen Bereichen strategische Software entwickelt werden könnte. Informationstechnologie kann nicht immer schlüsselfertige Komplettlösungen bieten. Das Gesamtbild ist komplex und oft paradox. Einerseits braucht man keinen Nord-Süd-Technologietransfer mehr. »Jeder ist ein Experte« ist keine bloße Phrase, sondern inzwischen tägliche Realität. IT-Spezialisten sind überall. Doch andererseits blockieren zahlreiche ökonomische Hürden weiterhin eine Softwareentwicklung von unten. Es ist Zeit, die strukturellen Hindernisse zu benennen und zu untersuchen – und die westlichen NGOs könnten eins von ihnen sein. Ein anderes wäre vielleicht unser hartnäckiger (Post-)Kolonialismus. Es wird zunehmend fragwürdig, ob wir weiterhin in Kategorien von technologischen Defiziten denken können. Die weltweite Nutzung der Informationstechnologie führt zu paradoxen, manchmal widersprüchlichen und verwirrenden Wirkungen, mit gelegentlichen Wundern und weit verbreiteten neuen Formen des Ausschlusses. Immer noch stellt sich vor allem ein Gefühl von Ermächtigung und Überraschung ein. Der Urtrieb, Technologie zu entdecken, anzupassen, zu verändern und weiterzuentwickeln ist ein wahrhaft globales Phänomen, das von keiner Kultur des Lamentierens oder von Unternehmensinteressen, die auf Entwicklung und Eroberung von Märkten zielen, ausgeschaltet werden kann. Die Initiatoren von Solaris hielten es für wichtig, die Komplexität der Situation deutlich zu machen und, wie sie im Aufruf schrieben, wALLEJENEZUBETEILIGEN DIESICHVONEINERREICHEN MULTIDISZIPLINËREN&ORMDESDIGI TALEN'ESCHICHTENERZËHLENSANGEZOGENFàHLEN JENSEITSVONDUMPFER0OLITIK STERILEM !KADEMISMUS 0SEUDO &àHRUNGSSTËBENUNDSELBSTREmEXIVENPOLITISCHEN+ONGLOMERA TEN%SIST:EIT DIEABGEDROSCHENE0HRASEk)4ISABOUTPEOPLE STUPIDjABZUSCHàTTELN UNDIHR!NLIEGENàBERDIESICHFàLLENDEN2ËNGEDER$IGITAL$IVIDE )NDUSTRIEHINAUS ZUTRAGENi

)NFORMATIONSTECHNOLOGIEFàRALLEANDEREN Anfang 2004 wurde der in relativ kleinem Rahmen geführte Gedankenaustausch auf Solaris in ein anderes Projekt integriert, die Mailingliste und Website Incommunicado, die ich gemeinsam mit dem deutschen Medienwissenschaftler Soenke Zehle gegründet hatte. Der Begriff »incommunicado« bezieht sich auf den Zustand, keine Mittel oder Rechte zur Kommunikation zu haben, insbesondere im Kontext von Internierung und massiv drohender Menschenrechtsverletzungen. Damit ist auch der rechtsfreie (Ausnahme-)Raum impliziert, in dem allzu oft Folter, Hinrichtung und Verschwinden das Leben und die Arbeit von Journalisten und Medienaktivisten auf der ganzen Welt – online oder offline – bedrohen. Verglichen mit Solaris hatte Incommunicado von vorneherein ein breiteres Programm und befasste sich mit globaler Zivilgesellschaft, Umweltthemen sowie wissenschaftlichen Texten, die über den Blog www. incommunicado.info verteilt wurden. Im Mittelpunkt von Incommunicado stand der ›Informationsrechts‹-Diskurs, der bereits im WSIS-Kontext ins Blick-

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feld gerückt war. Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der bilateralen Weltordnung war der Menschenrechtsdiskurs zu einem wichtigen Platzhalter für die Agenden sozialer Veränderung geworden, die in Dritte-Welt- oder trikontinentalen Begriffen nicht mehr artikuliert wurden. Die Informationsrechts-Agenda ist eine Copy-Paste-Strategie, die einer einfachen Logik folgt. Wenn die Menschenrechte für Aktivisten und NGOs solch einen erfolgreichen Kontext bilden, warum soll man dann nicht dieselben Argumente, Rhetoriken und Organisationsstrukturen auch für aufkommende Themen wie Telekommunikation nutzen? ›Search: human. Replace: info.‹ Warum nicht die Universale Menschenrechtsdeklaration umschreiben? Daraus erwuchs dann die Strategie einer kleinen Gruppe von Aktivisten, die meisten bei der ›APC‹ (Association for Progressive Communications) oder mit ihr verbundenen Organisationen, eine Kampagne in Gang zu setzen, die sich quasi von selbst während der Vorbereitungsphasen von WSIS I und II in die ITU- und UN-Strukturen vorarbeiten würde. Der Begriff ›Incommunicado‹ als Name für dieses Forschungsnetzwerk von Aktivisten, Wissenschaftlern und Computer-Spezialisten sollte signalisieren, dass auch wenn Info-Entwicklung und Info-Politik oft in einem breiteren Menschenrechts-Kontext betrachtet werden, dies nicht darauf hinausläuft, eine Politik des Rechts als solches zu vertreten. Eines der Ziele des Incommunicado-Projekts war es stattdessen, taktische Mobilisierungen von rechtsbasierten Ansprüchen auf Zugang, Kommunikation oder Information sowie die Grenzen jeglicher Politik des Rechts, seine Konzepte und seinen Absolutismus als politische Perspektive zu untersuchen. Das Programm der ersten IncommunicadoKonferenz, die in Amsterdam vom 15.-17. Juni 2005 stattfand, hatte einen explizit breiten und investigativen Charakter. Neben WSIS-Themen wie Internet Governance und Open Source setzte die Veranstaltung einige kritische Punkte auf die Tagesordnung, wie die Rolle der NGOs, Kritik der Entwicklung im InternetZeitalter und die Frage, welchen Sinn es eigentlich macht, über Inforechte zu reden. Einige Debatten waren auch neu und mussten erst näher eruiert werden, wie etwa die Rolle von ICT-Unternehmen als Entwicklungs-Partner innerhalb der UN oder die Rolle von Kultur und Sponsorschaft im ICT4D-Kontext. Während die Teilnehmer von Incommunicado 05 darin übereinstimmten, dass der übliche Blickwinkel der ICT4D-Debatten und -Forschungen erweitert werden müsste, blieb man sich uneins darüber, wie dies am besten geschehen solle. Sicher war nur, dass die Form von Kritik, auf deren Erforschung und Vermittlung das Incommunicado-Netzwerk ausgerichtet war, wohl kaum nach dem konsensbildenden Modell zivilgesellschaftlicher Ausschüsse und inter-institutioneller Netzwerke vorgehen sollte. Mit der Bindung an unterschiedliche, vielleicht einander sogar ausschließende Logiken und Modelle der Institutionalisierung, die die verschiedenen Lager von Medienaktivisten über EntwicklungsNGOs bis zu akademischen ICT-Forschern jeweils pflegten, hatte das wechselseitige Engagement im Geiste der Selbstkritik natürlich auch seine Grenzen. Aber dies ist nicht zwangsläufig eine Schwäche. Teil der Incommunicado-Agenda war die Annahme einer generellen Verständlichkeit und Angemessenheit der Bestrebungen, die sich unter dem Begriff ›Zivilgesellschaft‹ versammelten.

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ICT af ter Development: Das Incommunicado-Programm

Wie schon gesagt, war das Ziel nicht, zu einer realen Form der Repräsentation zu gelangen, sondern Machtbeziehungen zwischen real existierenden Akteuren deutlich zu machen.

Digitales Bandung Ein weiteres Diskussionsthema bei Incommunicado 05 war die Verschiebung in der technokulturellen Entwicklung des Web – eine Verschiebung von einem im Wesentlichen europäisch-amerikanischen postindustriellen Projekt zu einem komplexer zusammengesetzten Post-Dritte-Welt-Netzwerk. Diese neuen SüdSüd-Allianzen bringen unsere gewohnten Definitionen von Info-Entwicklung als einer exklusiven Nord-Süd-Angelegenheit schon durcheinander. Nennen wir sie die China-Indien-Brasilien-Achse oder einfach Bandung II, nach der Bandung-Konferenz 1955, auf der sich die Bewegung der blockfreien Staaten (›NonAligned Movement‹) formierte, mit dem Ziel, die afro-asiatische Zusammenarbeit voranzubringen. Vor der jüngsten »Einebnung der Welt«, wie sie Thomas Friedman beschrieb, befanden sich die meisten Computernetzwerke wie auch das IT-Expertenwissen im Norden. Das Aufkommen der Süd-Süd-Beziehungen stellt die traditionellen Beziehungen innerhalb der ICT4D in Frage, die sich auf Nordamerika und Europa und ihr Engagement in Afrika und, in geringerem Maße, in Asien und Lateinamerika konzentrieren. Wie reizvoll sie auch erscheinen mögen, die neuen Entwicklungen und insbesondere die entstehenden Allianzen sollten auf keinen Fall im Sinne eines neuen Trikontinentalismus romantisiert werden. Der Zusammenhalt dieser neuen Verbindungen rührt zum Teil vom gemeinsamen Widerstand gegen die europäisch-amerikanische Front bei den geistigen Urheberrechten und damit zusammenhängenden Maßnahmen her und profitiert zudem von den amerikanischen Problemen im Nahen Osten. In der ICT gibt es kein fertiges Rezept für Erfolg. Ambitionierte Info-Entwicklungs-Projekte müssen sich immer wieder bemühen, ihre Rolle zu finden – entweder in der Bereitstellung von Infrastruktur und Support für andere Entwicklungs-Aktivitäten oder als Ergänzung zu älteren Formen der Entwicklungsförderung von Infrastruktur und Dienstleistungen. Oft wird von ihnen erwartet, eine Unzahl widersprüchlicher Ziele zu erfüllen: die Armut zu lindern, die Landbevölkerung ins Informationszeitalter zu katapultieren, landessprachliche Inhalte zu produzieren, wissensbasierte Industrien zu fördern oder – über verbesserte Partizipation und Stärkung lokaler Kräfte – Demokratisierungsprozesse zu begünstigen. Mittlerweile unterstützt die Info-Entwicklung natürlich auch transnationale Firmenaktivitäten bei ausgelagerten IT-Aufträgen und Dienstleistungen in immer kürzeren Austauschzyklen. Dies stellt lokale Interessenvertreter oft ratlos vor die Entscheidung, ob sie die knappen öffentlichen Fördermittel auch noch dafür einsetzen sollen, Industrien anzulocken bzw. zu halten, die wahrscheinlich sowieso wieder weiterziehen werden. Indem sie Gemeinschaften untereinander in einen Wettbewerb bringt, erzeugt die Info-Entwicklung neue Konflikte. Aber ebenso schafft sie auch neue Allianzen und bringt NGOs und zivilgesellschaftliche Gruppierungen an den

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Verhandlungstisch. Unterhalb der traditionellen Schwellen der Staatsgewalt stellen Graswurzel-Aktivitäten das ganze Urheberrechts-System der Zugangsbeschränkung in Frage, auf das die kommerzielle Info-Entwicklung aufgebaut ist. Gemeingut- oder Open-Source-orientierte Organisationen fordern die nördlichen Länder bei ihrer vor allem ihnen selbst dienlichen Verpflichtung auf das Urheberrecht und ihrer Dominanz in info-politischen Schlüsselorganisationen heraus. Inzwischen beginnen weniger bekannte Mitglieder der UNFamilie wie die World International Property Organisation (WIPO), den Druck aktivistischer Kampagnen zu spüren, die das gesamte internationale Spektrum öffentlicher Akteure ins Visier nehmen, um die Institutionen der multilateralen Governance an eine Agenda der Rechenschaftspflicht zu binden. Infolge der zunehmend widersprüchlichen info-politischen Aktivitäten der großen Körperschaften wie ITU, UNDP, UNESCO und WIPO büßen sogar die UN allmählich ihre Aura ein. Ihre Verteidigung der profitorientierten Urheberrechte ist nicht mehr tragfähig und öffnet den Weg für ein neues Verständnis der digitalen ›Public Domain‹. Während sich die öffentliche Wahrnehmung der UN von ihrer positiven Rolle bei Governance, humanitären Fragen und Friedensengagement zu Korruption und internen Rivalitäten ihrer verschiedenen Abteilungen (sorgfältig begleitet von neo-konservativen Think Tanks) verschiebt, scheint das Ensemble überstaatlicher Apparate, die für den Erhalt der Vision einer postimperialen Ordnung zuständig sein sollten, plötzlich in einen beängstigenden Familienstreit geraten zu sein. Im Fall des Disputs zwischen ITU-Technokraten und den sogenannten progressiven UNESCO-Kultur-Bürokraten droht er gar außer Kontrolle zu geraten. Die Kritik der Entwicklung und ihrer institutionellen Ordnungen – ihres konzeptionellen Apparats wie der ökonomischen und sozialen Politiken, die in ihren Namen umgesetzt werden – bildet seit jeher theoretisches Projekt und Programm einer Vielzahl ›subalterner‹ sozialer Bewegungen. Doch im Fall von ICT4D haben wir davon bislang überraschend wenig mitbekommen.16 Der Grund hierfür könnte im langen Schatten der Technophobie der NGOs früherer Zeiten liegen. Ein Großteil der Aktivitäten im ICT4D-Bereich zeigt wenig Aufmerksamkeit oder Interesse für die Geschichte der Entwicklungs-Kritik. Tatsächlich bleibt die ICT4D-Debatte, deren Begriffe oft in einer Members-OnlySchleife einiger einflussreicher NGO-Netzwerke (APC, OneWorld oder Panos) und anderer Staaten und Organisationen reproduziert werden, in erstaunlichem Maße auf sich selbst gerichtet und unfähig oder unwillig, sich aktiv der Herausforderung eines hegemonialen ahistorischen Technodeterminismus zu stellen. Für diese globalen NGOs und Info-Entwicklungs-Abteilungen westlicher Regierungen ist es noch etwas ganz Neues, dass nun eine Vielzahl von Akteuren in ›ihrem‹ Bereich aktiv ist. Das Incommunicado-Projekt ist nur eine von vielen Initiativen, den ICT4D-Rahmen zu verbreitern, z.B. für Entwickler

16. %INE !USNAHME BILDET 2OBERTO 6ERZOLA  5PXBSET B 1PMJUJDBM &DPOPNZ PG *OGPS NBUJPO  4UVEJFT PO UIF *OGPSNBUJPO &DPOPNZ  1UEZON #ITY &OUNDATION FOR .ATIONALIST 3TUDIES )NC 

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freier Software, Drahtlosnetzwerk-Projekte und Blog-Portale wie Global Voices.17 Ein Teil dieses Prozesses ist die kritische Untersuchung der Rolle von Info-Entwicklungs-NGOs, und wie die Bürokultur solcher Organisationen in offene Netzwerke transformiert werden könnte, die Kampagnen initiieren und unterstützen. In diesem Prozess würde sich eine notwendige Verschiebung ergeben, weg von einer (globalen) Politik-Praxis und hin zu dezentralisierten Bürger-zuBürger-Netzwerken, bei denen nicht Hilfe, sondern Zusammenarbeit der entscheidende Antrieb ist. Viele glauben, dass ICT zu wirtschaftlichem Fortschritt und letztendlich zur Verringerung von Armut beiträgt, und dass diejenigen, die sich dazu kritisch äußern, das eben nur um der Kritik willen machen. Wir sollten uns dennoch fragen: Sind der Entwicklungsskeptizismus und die Vielzahl der alternativen Visionen, die er hervorgebracht hat, einfach vergessen worden? Es ist nicht zu akzeptieren, dass der Post-Kolonialismus in die Literaturinstitute ausgelagert wurde. Vielmehr sollten wir diese Einsichten in aktuelle Praktiken einfließen lassen und dazu ein begleitendes Denken entwickeln, das Antagonismen einschließt und dem Trend zum erzwungenen Optimismus entgegentritt, für den jede öffentliche Äußerung wie ein Verkaufsgespräch klingen muss. Müssen wir den Strategien der ›vorbeugenden‹ Entwicklung, die auf der engen Verbindung der Politik der Hilfe, der Entwicklung und der Sicherheit basiert, ewig weiter ihre Legitimität bestätigen? Können Analysen, die von der Annahme eines inhärent guten Internets und seines Versprechens der allgemeinen Vernetzung ausgehen, die existierenden Machtanalysen der globalen Medien- und Kommunikationsstrukturen bereits überschreiten? Wie können wir über die ICT4DIndustrie jenseits von ›Best Practice‹-Vorschlägen, wie sie in den vielen über die Jahre produzierten Berichten aufgelistet sind, nachdenken?

:IV ILGESELLSCHAF TVERSUS'RASWURZEL Wir haben uns daran gewöhnt, zivilgesellschaftliche Organisationen und NGOs als die natürlichen Akteure im Entwicklungs-Kontext zu sehen. Ihre Präsenz verweist jedoch auf eine fundamentale Transformation von einem ursprünglich auf den Staat zentrierten Entwicklungssystem zu einem System, in dem sie sich selbst als Repräsentanten von zivilgesellschaftlichen oder GraswurzelInteressen wahrnehmen. Ihr wachsender Einfluss wirft komplizierte Fragen in Hinblick auf ihre Beziehungen zu staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren auf. Trotz der ordentlichen soziologischen Grammatik ihrer Deklarationen und Manifeste folgen diese hybriden Akteure nicht mehr dem einfachen Schema von Staat, Markt oder Zivilgesellschaft, sondern beteiligen sich an sektorübergreifenden Allianzen. In Reaktion auf die Krise der älteren ›top-down‹Vorgehensweisen im Entwicklungs-Bereich haben sich Firmen und Geldgeber zunehmend darauf verlegt, die staatlichen und internationalen Dienststellen zu umgehen und direkt mit den kleineren NGOs zusammenzuarbeiten. Während 17. 'LOBAL6OICESWWWGLOBALVOICESONLINEORG

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nationale und internationale Entwicklungsorgane ihre Tätigkeit sowohl gegen pro- wie auch anti-neoliberale Kritiker verteidigen müssen, finden sich InfoNGOs, die bei Public-Private-Partnership-Projekten oder info-kapitalistischen Unternehmungen beteiligt sind, plötzlich inmitten einer weiteren aufgeheizten Kontroverse über ihre neue Rolle als Juniorpartner von sowohl Staaten als auch Unternehmen. Größere NGOs reagieren mit der Verstärkung ihres eigenen Markenschutzes und professionellem Reputationsmanagement, um schließlich festzustellen, dass es nicht mehr ihre Organisationskultur, sondern allein ihre Agenda ist, die sie noch von den privatwirtschaftlichen Akteuren unterscheidet. Die zwei Weltgipfel zur Informationsgesellschaft vereinten zahlreiche Cyber-Libertäre in ihren Befürchtungen hinsichtlich möglicher Eingriffe der UN in Schlüsselfragen der Internet Governance. Während viele Info-Aktivisten die versteckten Kosten von Multi-Stakeholder-Dialogen mit Mega-NGOs und Unternehmensverbänden noch abschätzten (und neu bewerteten), lehnten es andere bereits ab, untergeordnete oder Graswurzel-Agenden bei der organisierten Konsensfindung, die die Dynamik einer internationalen Zivilgesellschaft in geordnete Bahnen lenken soll, überhaupt zuzulassen. Noch andere, wie Bernardo Sorj aus Brasilien, spielen die Bedeutung der globalen Ebene überhaupt herunter und verweisen darauf, wie wichtig Initiativen und Gesetzgebung auf nationaler Ebene bleiben. Gipfel wie das WSIS ermöglichen im besten Falle den internationalen Austausch von Informationen und Ideen, haben aber kaum direkten Einfluss auf Politik oder Lebensalltag. Spiegelbildlich zum Rückzug von traditionellen Mechanismen der politischen Partizipation entwickelte sich eine wachsende Abneigung gegen die hohe Kunst des diplomatischen Multilateralismus als notwendiger Standardperspektive jeglicher gegenimperialer Politik. Unwillig, die Idiome der Souveränität zu akzeptieren, haben einige die den Gipfeln und Gegengipfeln eigene Logik ganz über Bord geworfen, um stattdessen post-souveräne Perspektiven zu artikulieren. Wenn sie auch sonst keinen Nutzen haben mögen, provozieren Gipfel wenigstens die Frage, wie eine postrepräsentative Politik aussehen könnte. Ist es möglich, in so geschlossenen Umgebungen wie Hotels und Konferenzzentren Kampagnen durchzuführen? Wie können Aktivisten in Runden, die sich ausschließlich der Formulierung von Deklarationen widmen, intervenieren, wenn sie selbst aktiv an den Verhandlungen teilnehmen? Oft wird der Raum der Kritik in den Begriffen einer fast mythologischen Graswurzel- und Populärdemokratie definiert. In dieser Kombination erscheinen sie als authentische Quellen der Legitimation und letzte Instanz aller Rechenschaftsfragen. Deshalb reicht es schon, wenn man zur Kritik von Zivilgesellschaft und NGOs lediglich ihre allmähliche (und, wie es scheint, fast unvermeidliche) Entfremdung von einer sozialen Graswurzel-Bewegung aufzeigt. Diese Kritik wird dadurch noch erleichtert, dass NGOs privatwirtschaftliche Modelle der Professionalisierung übernehmen und ihre Organisationsleistungen so entwickeln, dass sie mit einem professionellen zwischenstaatlichen Gipfeltreffen kompatibel sind. Derweil scheint die Gipfelmaschine weiter zu summen, von Aktionsplänen, Zivilgesellschafts-Deklarationen und Manifesten

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ICT af ter Development: Das Incommunicado-Programm

weitgehend unbeeindruckt. In unkritischem und unreflektiertem Handeln befangen, scheint sie ihre eigene Kritik zu produzieren.

IC Ts und die NGO-Frage Beim innovativen Einsatz von ICTs haben die NGOs im letzten Jahrzehnt an Boden verloren und unterscheiden sich von anderen Nutzern kaum noch. Der Vorsprung, den sie in den achtziger und frühen neunziger Jahren hatten (vor allem bei der Verwendung von E‑Mail), ist dahin. Es ist wohlbekannt, dass – vielleicht mit der Ausnahme von APC – die meisten NGOs sich gegen die innovative Nutzung des WWW bislang gesperrt haben und ihre Abneigung, Blogs, Wikis und soziale Netzwerke zu betreiben, weiterhin aufrechterhalten. Dies ist z.T. auch eine Generationenfrage. Bei der Aneignung von ICTs hat sich die Zivilgesellschaft alles andere als innovationsfreudig gezeigt. In vielen Fällen waren sie die Letzten und bleiben es auch. Es gibt kaum ein Interesse an neuer Software, anderen Plattformen oder überhaupt öffentlicher Diskussion. Die Skepsis gegenüber Open Source und freier Software ist weit verbreitet. Das Web wird meist nur im statischen Top-Down-Modus genutzt. Von Blogs ist nirgendwo etwas zu sehen. Eigene Software- oder Interface-Entwicklungen findet man so gut wie nicht. Es ist insofern fraglich, ob NGOs bei der Entwicklung von ICT in nicht-westlichen Ländern überhaupt eine Rolle spielen. Was sie am besten können und schon immer gemacht haben, ist, ihrem eigenen Personal und den Gemeinschaften in ihrem Umfeld Zugang und Schulung zu ermöglichen. NGO-Vertreter sind nicht dafür bekannt, ihre Ressourcen mit anderen zu teilen. Inzwischen sind immer mehr ihrer IT-Systeme aus der Unternehmenswelt kopiert. Ein Grund dafür ist die Verschiebung in der Beraterkultur. Infolge des Drucks von Professionalisierung und Rechnungslegungspflicht bekommen große Beratungsfirmen wie KPMG, PWC, Ernst & Young und Deloitte direkten Zugriff auf den NGO-Bereich. Es ist bekannt, dass NGOs ihre Arbeit immer mehr hinter geschlossenen Türen verrichten. Ihre ICT-Kultur ist ein Spiegel dieser Abkapselung und kann nicht unabhängig von solchen Entwicklungen diskutiert werden. Die Geschichte, die ich hier erzähle, steht im Zusammenhang mit allgemeineren Vorbehalten meinerseits gegenüber der Rolle, die die NGOs spielen, und ihren verbohrten Reaktionen, wenn man sie auffordert, darüber zu reflektieren. Aus meiner Sicht sind NGOs zu Stein und Papier gewordene Erinnerungen gegenwärtiger Kämpfe und Bewegungen. Sie sind institutionelle Rückstände, kondensierte Erinnerungen von Ereignissen, aber nicht selbst Motor sozialer Veränderungen. Wir können den NGOs ihr relikthaftes Dasein nicht vorwerfen. Doch diese Aspekte sind für den ICT-Kontext wichtig. Die heutigen Bewegungen sind auf dramatische Weise fließend und bestehen aus einer Vielfalt temporärer Elemente, die wir in den Neuen Medien finden und im NGO-Bereich nicht. Man muss natürlich sehen, dass NGOs vor allem zum Ende sozialer Prozesse ins Spiel kommen. Daran ist auch nichts falsch, aber man muss es festhalten, da es verdeutlicht, dass NGOs – trotz aller guten Absichten – nicht unbedingt zu denjenigen gehören, die soziale oder technologische Neuerungen

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antreiben. In Mainstream-Medien und Presse sowie konservativen Think Tanks werden NGOs beschuldigt, undemokratisch zu sein und nicht den Anforderungen an ihre Rechenschaftspflicht zu entsprechen. Aus der Perspektive von Bewegungen ist dies mehr oder weniger irrelevant. Viel interessanter ist, wie das NGO-Modell in virtuelle Netzwerke aufgelöst werden kann. Im letzten Kapitel dieses Buchs behandle ich die Frage, wie Netzwerk-Organisationen sich zu organisierten Netzwerken in Beziehung setzen könnten. Keine Tränen sind vergossen worden. NGOs sind nun Bestandteil des Establishments. Statt diesen Niedergang zu beklagen und uns der Enttäuschung hinzugeben, können wir genauso gut vorwärtsgehen und uns auf die Suche nach neuen Organisationsformen machen. Die NGO-Kritik dürfen wir den Konservativen überlassen, wie www.ngowatch.com, die schreiben: »NGO-Vertreter und ihre Aktivitäten werden in den Medien überall und ständig herangezogen, und Regierungsberichte berufen sich auf sie; Firmen konsultieren sie regelmäßig, bevor sie größere Investitionen unternehmen. Viele Gruppen haben sich über ihr eigentliches Mandat hinaus verirrt und Quasi-Regierungs-Rollen übernommen.« Da steckt viel Wahrheit drin. Man denke nur an die tragische Rolle, die NGOs bei den Verhandlungen zum Kyoto-Protokoll gespielt haben, und wie NGO-Unterhändler stumm geblieben sind, als die Polizei bei den Klimagipfeln in Den Haag (2000) und Bonn (2001) Demonstranten festnahm. Während einer Konferenz zur globalen Erwärmung in Marrakesch, Marokko (2002) haben es die lokalen Behörden in enger Zusammenarbeit mit den Organisatoren geschafft, öffentlichen Protest praktisch zu unterbinden.18 Es ist bemerkenswert, dass es keine globalen NGOs wie Greenpeace, Amnesty oder Oxfam gibt, die eine kritische Untersuchung des Internets und des NeueMedien-/Telekom-Bereichs leisten. Die Electronic Frontier Foundation hat den Versuch unternommen, sich zu globalisieren, aber es muss wohl klar geworden sein, dass ihre libertäre Weltsicht nicht gut in andere kulturelle Kontexte passt. Websites wie icannwatch.org, die wichtige Arbeit leisten, konzentrieren sich nur auf die USA. Für die meisten NGOs ist ITC ein Werkzeug, kein eigenes Feld der Auseinandersetzung, das weiter beachtet werden müsste. Dieses Defizit machte sich spätestens in der Dotcom-Ära und den darauffolgenden chaotischen Zeiten schmerzlich bemerkbar, in denen die Zivilgesellschaft praktisch keine Rolle spielte. Oft waren NGOs die Letzten, die sich den Entwicklungen anpassten, nicht die Ersten.19 Und weltweit gibt es nur wenige investigative Journalisten, die sich auf ICT-Themen spezialisiert haben. Das alles hat negative Folgen für das allgemeine Verständnis dieses Feldes. Es ist an der Zeit, die Vorstellung von ICT als einem bloßen Werkzeug hinter sich zu lassen und ein breit verteiltes

18. $ANKAN'ERBRAND/UDENAARDEN DERALS4AKTISCHE -EDIEN !KTIVISTDIE0ROTES TEIN$EN(AAGUND"ONNAUSUNMITTELBARER.ËHEBEOBACHTETHAT 19. %INENSACHKUNDIGEN)NSIDER "ERICHTGIBT*ONATHAN0EIZER DER*AHRELANG DAS)NTERNETPROGRAMMDER3OROS&OUNDATIONBETRIEB*ONATHAN0EIZER 5IF%ZOBNJDTPG 5FDIOPMPHZ GPS 4PDJBM $IBOHF  6OEFSTUBOEJOH UIF 'BDUPST UIBU *O¿VFODF 3FTVMUT -FTTPOT -FBSOFEGSPNUIF'JFME .EW9ORKI5NIVERSE )NC 

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Bewusstsein dieses entscheidenden Sektors zu entwickeln, das nicht nur auf das gerade Neueste gerichtet ist. Es herrscht eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem ICT- und Entwicklungs-Diskurs, vor allem in nicht-westlichen Ländern. Diese kritische Haltung ist weithin spürbar, aber auf der schriftlichen Ebene, in entsprechenden Schlüsseltexten, bislang kaum zum Ausdruck gekommen. Der Diskurs bekommt hier etwas fundamental Unaufrichtiges, und das nicht wegen der üblichen Kritik, dass für die Leute sauberes Wasser, Nahrung und eine vernünftige Gesundheitsversorgung wichtiger seien als Computer. Beim WSIS sah man viele Bürokraten und ihre ›Forscher‹, auch genannt Berater, aber wenige Initiativen. Solche Gipfel sind ›Incentives‹ für Apparate und ihre Mitarbeiter, aber kein Ort, um Netzwerke mit Netzwerken zu verbinden. Es ist eine interessante Ungereimtheit, dass Regierungen wie z.B. die indische einerseits die ICT4D-Pläne mitsamt ihrer Rhetorik bestätigen, um im gleichen Atemzug anzukündigen, westliche ICT-Entwicklungs-Unterstützung in Zukunft nicht mehr annehmen zu wollen. Universitäre Forschung und kritische Theorien kommen bemerkenswerterweise in diesem Feld bisher kaum vor. Die gesamte Forschung in der Art, so wie sie etwa das Social Science Research Institute in New York betreibt, war für die sich schnell wandelnde IT-Umgebung einfach zu langsam und steckte noch in Jahrzehnte alten akademischen Verfahren fest. 20 Die Weise, in der die meisten Wissenschaftler ihre Forschungen heute durchführen, lässt ihre Arbeit oft schon im Moment der Publikation irrelevant werden, vor allem aufgrund der schleppenden wissenschaftlichen Überprüfungsverfahren in Fachzeitschriften und Verlagen. Alle klagen darüber, aber es gibt tatsächlich recht effektive Wege, etwas dagegen zu unternehmen. So könnte z.B. die Auflage gemacht werden, dass Forschungsergebnisse ohne Verzögerung und unter Open-Access-Regeln online publiziert werden. Statt immer hinterherzulaufen, ist es für die Sozialwissenschaften an der Zeit, mal wieder die Führung zu übernehmen. Das ist gar nicht so schwierig. Ein Weg bestünde darin, die Sozialwissenschaft von einer Disziplin, die nur Daten zu den Langzeitwirkungen von ICT sammelt und auswertet, zum Modell eines Labors, das selbst erfindet, initiiert und verbindet, zu verändern. Es sollte ein wesentlich stärkeres Engagement für freie Software, Open Source, Wikipedia und drahtlose Netzwerke erfolgen, um nur ein paar Beispiele der vielfältigen sich entwickelnden Public Domain zu nennen. Diese Bereiche sind so einzigartig, dass wir das Entwicklung-Etikett ruhig fallen lassen und ein viel interessanteres Gebiet der Zusammenarbeit betreten können. Eins wurde beim WSIS deutlich: Diejenigen, die bereit und fähig sind, das Konzept der Informationsgesellschaft zu analysieren und zu kritisieren, bilden eine klare Minderheit. Die Luft in Genf war erfüllt vom Geist der Techno-Naivi20. 3IEHE DAS 332# )NFORMATION 4ECHNOLOGY AND )NTERNATION #OOPERATION )4)# 0ROGRAMM WWWSSRCORGPROGRAMSITIC)CHWARIM3TEUERUNGSKOMITTEEDER)4:I VILGESELLSCHAFTS 3EKTION UND HABE GEMEINSAM MIT *ODI $EAN AND *ON !NDERSON DIE !NTHOLOGIE 3FGPSNBUUJOH1PMJUJDT*OGPSNBUJPO5FDIOPMPHZBOE(MPCBM$JWJM4PDJFUZ 2OUT LEDGE  HERAUSGEGEBEN INDEREINIGEDER%RGEBNISSEGESAMMELTSIND

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tät, egal auf welcher Seite. Sowohl die hegemoniale als auch die alternative Sicht der Informationsgesellschaft ist von einem hartnäckigen Transzendentalismus geprägt – als ob die Verbreitung von ICT Entwicklung verstärken, Zugang zum Internet die Lebensbedingungen verbessern, freie Software den Kapitalismus überwinden, File Sharing den Altruismus aufleben und Open Publishing die Demokratie fördern würde. Als ob. Abgesehen von Amand Mattelarts The Information Society: An Introduction (2003) kann man behaupten, dass eine aus einer radikalen Innenperspektive geschriebene post-ludditische Kritik der Informationsgesellschaft noch nicht existiert. Es gibt die NGO-typische Zivilgesellschafts-Geschichte von den Menschenrechten und dem ungleichen Zugang, aber das wäre es dann auch schon. Der Schwachpunkt dieses Ansatzes ist seine Wohltätigkeitsmentalität: Spende bitte ein paar Computer und teile deine Bandbreite mit den Armen. Was jedoch fehlt, ist eine auf souveräne Autonomie ausgerichtete Perspektive. Sagen wir, ein Hardt und Negri der Internet-Generation. Hardt und Negri haben die politischen Erfahrungen der Baby-Boomer- und Kalten Kriegs-Generation verarbeitet, nun ist es Zeit, über 1989 hinauszugehen. Solche programmatischen Arbeiten hätten in den überschwänglichen Neunzigern geschrieben werden sollen, stattdessen haben wir immer noch die Reste des anti-imperialistischen Denkens und andere auf bereitete Konzepte einer Vergangenheit, die nicht die unsere ist, am Hals. Ein großer Teil des Anti-Globalisierungs-Diskurses stellt unsere Zeit zurück. Das einzige, was wir dafür bekommen, ist diese eigenartige Mischung von Utopie, Gewalt und Rückzug. Im letzten Jahrzehnt ist die kollektive Arbeit an Ideen durch informelles Networking ersetzt worden, eine Entwicklung weg von der Macho-Politik alter Schule zu Kunst und Kultur, die den Fokus auf Software, Interfacedesign oder einfach nur ›Herumspielen‹ verschiebt. Statt der Generation X ihr Desinteresse an Politik vorzuhalten, könnte man auch betonen, dass Theorie nur aus reflektierter Erfahrung entstehen kann. In diesem Sinne sind wir vielleicht zu ungeduldig. Die Frage sollte eher sein: Wie kann Theorie in einem Zeitalter der Echtzeit-Ereignisse überhaupt aussehen? Die große Mehrheit derjenigen, die den Gipfel nicht ignoriert haben, ergeht sich in einer Rhetorik des Idealismus und Don Quijotischer Projekte. Dies war das enttäuschende Ergebnis des WSIS-Prozesses, aber es kam nicht sehr überraschend. Was konnte es bedeuten, die Informationsgesellschaft unter radikale Kritik zu stellen? Man muss erst die materielle Basis von Information und Kommunikation aufdecken, bevor man den ganzen Diskurs auf den Kopf stellen kann. Man könnte z.B. die Auswirkung von prekärer Arbeit und Arbeitsmigration in den Hard- und Software-Industrien untersuchen, etwa bei den ServiceCallcentern und ihren Armeen temporärer Mitarbeiter. Dies würde bedeuten, die exklusive Vorstellung von Information als etwas Ephemerem, Spirituellem und Immateriellem zu zertrümmern und die dunkle Seite der Technologie mit ihrem Geruch von Öl und Metall sichtbar zu machen. Es wäre ein Fehler, dieser anderen, oder um genauer zu sein, realen Informationsgesellschaft mit einer Haltung der Nächstenliebe zu begegnen und in Mitleid zu verfallen für diese armen Leute, die so verdammt hart arbeiten müssen, damit wir uns mit unseren immer billigeren Computern vergnügen können.

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Oft fällt eine solche Perspektive mit einer romantischen, anti-technologischen Attitüde zusammen, die voller Ignoranz und Widerwillen gegenüber Informatisierung, Deregulierung und Globalisierung steckt. Diese Prozesse, die die gegenwärtige Situation ausmachen, sind direkte und indirekte Ergebnisse von Kämpfen (gegen den Arbeitstag, für ein besseres Leben oder für irgendeinen Job überhaupt), die von einer gemeinsamen Alltagserfahrung entkoppelt und abstrahiert sind. Eine radikale Kritik schließt immer praktische Konsequenzen ein. Es gibt keinen anderen Ausweg aus der Stagnation als unwahrscheinliche Begegnungen und unerwartete Allianzen zu inszenieren – zwischen Programmierern, Aktivisten und Forschern, Künstlern und Gewerkschaftern. Wir müssen irrelevante Momente hervorbringen und die programmierte Dichte der Ereigniszeit einfach außer Acht lassen. Sollte eine radikale Kritik der Informationsgesellschaft der gewohnten Vorstellung von Souveränität und ihrer medialen Sättigung vor allem nicht etwas entgegensetzen, das über die wachsende Banalität der Vernetzung hinausgeht? Was passiert, nachdem die Spannung der ersten Begegnung sich verflüchtigt hat? Sollte der Antrieb der Kreativität und Subversion weiterhin von einem sich immer neu ausrichtenden Fokus auf noch zu entdeckende (und bald auszubeutende) kulturelle Differenzen gespeist werden?

)NCOMMUNICADO &ORSCHUNG Bislang ist die Incommunicado-Agenda breit angelegt gewesen und verbindet verschiedene Stränge der Kritik auf einer Plattform. Die Themen, die Incommunicado im Jahr 2006 behandelt hat, reichen von Public Private Partnership, E-Müll, dem optimalen PC für die Armen, Internet Governance (mal wieder), Notfall-Technologien, drahtlosen ›First Mile Solutions‹, bis hin zu Design von Belang, ICTs und Überweisungen nach Afrika sowie Open Source. Eine so breite Herangehensweise ist sehr riskant, da eine solche Mischung verschiedenster Anliegen leicht als bohemienhaft, wenn nicht gar ›Radical Chic‹ verstanden werden kann. Wir müssen das enorme Ausmaß globaler Armut in ein Verhältnis zu den ein bis zwei Milliarden Leuten setzen, die in den nächsten zehn Jahren ein Handy bekommen und ins Internet geführt werden. In ICT4D gilt weder kritische noch visionäre Forschung als besondere Priorität. Was wir am ehesten finden, sind Geschichten von praktischen Lösungen, die in politische Konzepte eingeschleust werden. Es gibt sicher auch kritische Gutachten, aber die werden normalerweise nur für den internen Gebrauch geschrieben. Offen die Frage zu stellen, warum mein Projekt fehlgeschlagen ist, liegt jenseits aller Vorstellungskraft. Ministerien, Fördergremien, Stiftungen und NGOs sind nicht daran interessiert, ihr internes Wissen mit Außenstehenden zu teilen, da sie befürchten, dass jede negative Information ihre Position im Gerangel um die Geldmittel schwächen und so zu Budgetkürzungen führen könnte. Dies macht es schwer, wenn nicht gar unmöglich, offen über die gängigen Modalitäten zu diskutieren und neue Konzepte zu entwickeln.

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Über die Organisation von Treffen und das Einrichten von Listen und kollaborativen Weblogs hinaus ist Forschung auch ein Mittel, um den Raum zu öffnen, in Bezug auf Aktivismus wie auf Wissensproduktion. Das verlangt auch, die Sammlung von Leitbegriffen, die den Info-Entwicklungs-Diskurs konstituieren, in Frage zu stellen. Solche ›mots d’ordre‹ wie etwa Access, Capacity Building, Poverty Alleviation oder Stakeholderism dienen weniger dazu, die Debatte zu fördern, als einen allgemeinen Wahrnehmungskonsens darüber herzustellen, was Info-Entwicklung eigentlich ist. Wir haben dies im Kontext des WSIS erlebt, und aus diesem Kontext ist auch Incommunicado entstanden. Doch selbst wenn ein solches Projekt kritische Distanz zu dieser Wahrnehmung hält, wie mittlerweile fast alle involvierten Gruppen, bleibt es immer noch dadurch gekennzeichnet, sich auf die Kritik eines Politik-getriebenen Prozesses zu fokussieren, der um eine relativ konventionelle Gruppierung von Akteuren organisiert ist. Gleichzeitig aber bildet das, was unterhalb der Schwelle der Zivilgesellschaft wirklich stattfindet, eine reiche und dynamische Quelle neuer Formen des info-politischen Engagements und neuer konzeptioneller Ansätze. Somit muss die zukünftige Erforschung des Entwicklungsdiskurses solche Studien der Mikroebenen ebenso einbeziehen wie den Geberdiskurs, der dazu dient, derartige Aktivitäten jenseits der etablierten Forschungsmodelle herauszufiltern. Ein solches Engagement ist vor allem wichtig, als sich der Geberdiskurs in einem transnationalen System fortpflanzt, das staatliche und nicht-staatliche Gebilde ebenso einschließt wie philantropische und profitorientierte Aktivitäten. Gruppen wie IT for Change (Bangalore), Third World Institute (Montevideo) und Sarai (Delhi) leisten alle interessante Arbeit in dieser Richtung. Jetzt es ist an der Zeit, dass die kritischen wissenschaftlichen Entwicklungs-Studien gleichziehen und eine Langzeit-ICT-Forschung initiieren, die über die Beobachtung des WSIS hinausgeht. Schließlich muss die ICT4D-Forschung auch im Zusammenhang mit den Verschiebungen bei den Formen der Wissenschaftsproduktion betrachtet werden. Manche Soziologen behaupten z.B., dass wir uns in einem Übergang von einem akademisch zentrierten Modus, der Wert auf wissenschaftliche Autonomie und systemimmanente Expertenkontrolle legt, zu einem flexiblen Modus, der durch Partizipation und Transdisziplinarität gekennzeichnet ist, befinden. Solch ein flexibler Modus könnte eine Vielzahl von ökonomischen und sozialen Fragen aufgreifen und Forschungsmethoden einsetzen, die überprüf bar, offen und transparent sind. Flexible wissenschaftliche Produktion ist der ultimative feuchte Traum jener Geber, die eher auf einen vagen Begriff einer Wissensgesellschaft ausgerichtet sind als auf die kontroverse Frage, was eine solche neue wissenschaftliche Ethik eigentlich in der Praxis bedeutet. Hier wäre auch eine Kontroverse über die Kriterien von Relevanz und Glaubwürdigkeit zu führen, nach denen entschieden wird, ob Aktivitäten, die die vorherrschende Kombination der ›mots d’ordre‹ eher kritisch betrachten, immer noch Unterstützung erhalten. NGOs, Neue-Medien-Aktivisten und Künstler stehen mit der Formulierung ihrer Forderungen immer noch am Anfang. Offizielle Äußerungen gehen selten über das Thema des universalen Zugangs hinaus. Die Mitglieder-Beteili-

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gung bei ICANN, der privaten, von der US-Regierung kontrollierten Non-ProfitOrganisation, die die globale Domainnamen-Struktur verwaltet, hat kürzlich z.B. empfindliche Rückschläge erleben müssen, die noch nicht verdaut sind. Die Idee eines möglichen anderen Internets, das nicht mehr allein von einer wohlhabenden Klasse weißer männlicher Ingenieure beherrscht wird, die ihre geschlossene Konsenskultur schützen und gleichzeitig behaupten, dem Allgemeinwohl zu dienen, ist noch weit von ihrer Verwirklichung entfernt. Andererseits will auch keiner zu einem Modell zurück, in dem alle Entscheidungen durch zwischenstaatliche Beziehungen bestimmt werden. Eine radikale Kritik des Multi-Stakeholder-Ansatzes kann dieses Dilemma nicht einfach umgehen. Konkrete Vorschläge für eine alternative Global Governance der Neue-MedienSphäre stehen noch aus. Es ist sogar unklar, wer die Interessenvertreter eigentlich sind und wie nationale Regierungen, Telekoms und Zivilgesellschaft (wer auch immer das sein soll) zueinander in Beziehung stehen. Auf der formalen, politischen Ebene mag das WSIS kein Ergebnis bringen. Als einer von vielen Gipfeln wird das WSIS wohl der wesentlich größeren multilateralen Krise, die alle UN-Körperschaften betrifft, zum Opfer fallen. Aber das wird Tausende nicht davon abhalten, weiter heiß umkämpfte Debatten über die Themen und Definitionen der nächsten Neue-Welt-Netzwerk-Unordnung zu führen.

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5PDATEDERTAKTISCHEN-EDIEN  3TRATEGIENFàRDEN-EDIENAKTIVISMUS Updates durchzuführen, ist ein fester Bestandteil unserer technologischen Kultur und wird als notwendiges Übel akzeptiert. Wer die nötigen Patches nicht herunterlädt, gilt als lebensmüde. In der zeitgenössischen Theorieproduktion hat diese Praxis jedoch noch keinen Einzug gehalten. Von Wikis etwa machen Geistes- und Kulturwissenschaften kaum Gebrauch. Theorie wird immer noch verstanden als das Terrain des einsamen Autors, der die Welt betrachtet, vorzugsweise offline und ausgestattet mit einem Haufen Bücher, einem Füllhalter und einem Notizbuch. Dies ist natürlich eine Karikatur, aber im Ernst, wo liegen die Hindernisse? Während Texte zwar verschiedene Versionen durchlaufen, bevor sie erscheinen, lassen die meisten Autoren später entdeckte Ungereimtheiten und Fehler einfach stehen, obwohl Textverarbeitung und Online-Redaktion inzwischen doch so leicht zu beherrschen sind. Statt alte Texte zu aktualisieren, ist man sich einig, dass man besser gleich mit was ganz Neuem kommt. Dies befriedigt nicht nur Produzent und User, sondern auch den Markt. Der Radiomacher und Programmgestalter Alexander Klosch brachte mich auf die Unterscheidung von Updating und Upgrading. Wikipedia etwa ist ständig dabei, seine Artikel up- oder downzugraden. Während Updaten ein zeitliches Element beinhaltet, bezieht sich Upgraden (Hochstufen) normalerweise auf Qualität und Status. Eine Veränderung führt nicht automatisch zu einer Verbesserung oder Verschlechterung. Nach Klosch funktionieren Updates am besten innerhalb kollektiver Arbeitskontexte. Ein einzelner Verantwortlicher ist oft überfordert, eine komplexe Struktur auf dem aktuellen Stand zu halten. Hier kommt dann eine Gemeinschaft oder eine kleine Gruppe Aktiver ins Spiel. Bislang werden Online-Plattformen allerdings selten dafür genutzt, theoretische Konzepte zu entwickeln und auszutauschen. Nur wenige Theoriebücher erreichen eine zweite Auflage, geschweige denn, dass sie dafür noch einmal überarbeitet werden. Nach allgemeiner Auffassung sind veraltete Theorien schwer verwendbar, weisen Fehler und Beschränkungen auf und können eigentlich nur noch unter historischen Gesichtspunkten gelesen werden. In der ›Gesellschaft des Wandels‹ haben Konzepte von gestern nicht bloß ausgedient, sondern sind per Definition falsch, denn sie werden bereits im Moment ihres Erscheinens dekonstruiert. In diesem Kapitel mache ich Vorschläge für ein kritisches Update des Konzepts der taktischen Medien. Ich gebe einen subjektiven Überblick laufender

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Debatten über Neue Medien und der Rolle, die sie in globalen sozialen Medien spielen.1 Im ersten Teil betrachte ich den Stand des Mems der taktischen Medien, seit es seine bemerkenswerte Reise angetreten hat. Dann erörtere ich Strategien der größten politischen Kraft, die in den letzten Jahren entstanden ist – der sogenannten Anti-Globalisierungs-Bewegung – und diskutiere einige zu diesem Thema erschienene Bücher. Es ist oft betont worden, dass diese Bewegung nicht eine einzige ist, sondern viele Gesichter und Namen hat. So spreche ich mal von einer globalen Gerechtigkeits-Bewegung, dann wieder von Multitudes. Manche nennen diese vielköpfige Hydra die »Bewegung der Bewegungen«. Ein weiterer Name, »Bewegung für eine andere Globalisierung«, drückt den Wunsch aus, über die Anti-Haltung des Straßenprotests hinauszugehen und die gemeinsame Suche nach Alternativen in den Vordergrund zu stellen. Hier untersuche ich insbesondere die Strategien der kritischen Neue-Medien-Kultur in der post-spekulativen Phase nach dem Dotcom-Crash und 9/11, die großen Mobilisierungen von Seattle bis Gleneagles und vor allem das Verhältnis zwischen dem Realen und dem Virtuellen. Statt das Konzept der taktischen Medien zu begraben, was schon vor Jahren hätte getan werden können, kann man genauso gut seine Robustheit feiern. Haben Sie den Herbst der taktischen Medien verpasst? Dann steigen Sie doch bei der Renaissance der Taktiken ein!

7IEDERBEGEGNUNGMITDENTAKTISCHEN-EDIEN Schauen wir kurz zurück. Der Begriff ›taktische Medien‹ tauchte in der Folgezeit des Berliner Mauerfalls als eine Wiedergeburt des Medienaktivismus auf, in der sich Politarbeit alter Schule und künstlerischer Einsatz neuer Medien vermischten. Die frühen Neunziger zeichneten sich durch wachsende Aufmerksamkeit für Gender-Themen, exponentielles Wachstum der Medienindustrien und zunehmende Verfügbarkeit von billigem Do-it-yourself-Equipment aus, eine Mischung, die unter Aktivisten, Programmierern, Theoretikern, Kuratoren und Künstlern zu einer neuen Form der Selbstwahrnehmung führte. Medien wurden nicht mehr als bloße Mittel des Kampfes, sondern als virtuelle Umgebungen wahrgenommen, deren Parameter in ständigem Umbau waren. Dies war das goldene Zeitalter der taktischen Medien – offen für ästhetische Themen und das Experimentieren mit neuartigen Erzählformen. Doch übertrugen sich diese befreienden Techno-Praktiken nicht unmittelbar in sichtbare soziale Bewegungen, sondern traten eher als leuchtende Symbole der Medienfreiheit auf, die natürlich auch ein hohes politisches Ziel darstellt. Die unterschiedlichsten DIY-Medien kamen zum Einsatz, von Videos, DVDs, Kassetten über Fanzines und Flyer bis zu Musikstilen wie Rap und Techno – und ebenso facettenreich 1. &àRDIESES+APITELBENUTZTEUNDàBERARBEITETEICH4EILEDERFOLGENDEN4EXTEDIE %INLEITUNGDES#SB[JMJBO5BDUJDBM.FEJB3FBEFS 3ÎO0AOLO w!NOTHER7ORLDIS0OS SIBLEiMIT&LORIAN3CHNEIDER INMAKEWORLDPAPER 3EPTEMBERw2EVIEWOF4HE !GEOF#ONSENTi NETTIME 3EPTEMBER UNDw.OTESONTHE3TATEOF.ETWORKINGi MIT&LORIAN3CHNEIDER INMAKEWORLDPAPER &EBRUAR

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waren die Inhalte. Man bekam das Gefühl, dass politisch motivierte Aktivitäten, ob auf künstlerischer Ebene, forschend oder unmittelbar engagiert, nun nicht mehr auf einen geschlossenen und undurchsichtigen Insider-Kreis eingeschränkt sein mussten. Sie konnten sich in die Popkultur einschalten, ohne sich notwendigerweise dem System anpassen zu müssen. Wo alles zur Diskussion stand, waren auch neue Koalitionen möglich. Die Anfänge der taktischen Medien gehen zurück auf das Next Five Minutes Festival (N5M) in Amsterdam, eine Neue-Medien-Veranstaltung mit klarem politischen Standpunkt, die aus einem Zusammenschluss verschiedener kultureller Institutionen, Individuen und Gruppen entsprang. Mitte 1992 musste ein Name für ein Kunst-, Aktivismus- und Medien-Festival gefunden werden, und der lautete dann »N5M: Taktisches Fernsehen«. Das erste N5M fand im Januar 1993 statt und richtete seinen Blick auf die Camcorder-Revolution und die Ereignisse in Osteuropa nach dem Fall der Berliner Mauer. Die zweite Auflage fand im März 1996 inmitten des Internet-Booms und unter dem geänderten Label Taktische Medien statt. Der erste systematische Text zu dem Thema, geschrieben von David Garcia und mir, erschien 1997. 2 Das dritte Festival folgte im März 1999, wenige Tage vor Ausbruch des Kosovo-Krieges. Die vierte, post-9/11-Ausgabe schließlich gab es im September 2003. N5M wurde niemals zu einer Organisation weiterentwickelt. Weder etablierte es sich als jährliches oder zweijährliches Ereignis, noch erhielt es eine rechtliche Struktur oder eine dauerhafte Website. Von Anfang an war N5M eine temporäre Koalition von Individuen und Institutionen, die sich zusammentaten, um das Festival zu organisieren, und danach wieder getrennte Wege gingen. Ebenfalls bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Veranstaltung bis heute kein (dauerhaftes) Netzwerk gebildet hat. In gewisser Weise übernahm ab 2000 Indymedia diese Rolle, jedoch fehlt hier die imaginative und künstlerische Agenda, vor allem aufgrund der engen Ausrichtung auf Nachrichten. Die gegenwärtigen weltweiten Bewegungen können nicht unabhängig von ihrem vielfältigen und oft sehr persönlichen Bedürfnis nach digitaler Ausdrucksfreiheit verstanden werden. Taktische Medien sind ein Kurzzeit-Konzept, das aus dem Widerwillen gegen Ideologie geboren wurde und sich seiner Flüchtigkeit bewusst ist. Es surft auf den Wellen der Ereignisse und fühlt sich beim Erschließen von Szenen, Öffnen von Grenzen und Knüpfen neuer Verbindungen in seinem Element. Neugierig und ohne Angst vor Verschiedenheit, ist es weder an vorgegebene Formate noch an bestimmte Plattformen gebunden. Zu zeitgenössischer digitaler Technologie nimmt es eine positive Haltung ein. Es ist eher erforschend als auf Konfrontation gerichtet. Es will dem Aktivismus neuen Schub geben und ein breiteres Publikum erreichen. Aber, wie Paul Garrin warnt, »taktische Medien sind nicht nur etwas für Aktivisten. Es ist auch Werbung, die psychologische Kriegsführung des kommerziellen Wahrnehmungsmanagements.«3 Meine Kritik der taktischen Medien zielt nicht auf ihre 2. 'EERT,OVINKUND$AVID'ARCIA w4HE!"#OF4ACTICAL-EDIAi NETTIME -AI

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Kurzlebigkeit. Taktische Medien sind per Definition nicht nachhaltig, sondern immer am Rand des Verschwindens. Ihre unstete Natur erzeugt Situationen, aber setzt weiterem Wachstum gleichzeitig klare Grenzen. Wiederholen wir nicht die Definitionen, die schon alle im Umlauf sind. Seit Anfang 2006 gibt es sogar einen Wikipedia-Eintrag zu taktischen Medien. Erwähnenswert ist die Art und Weise, wie dieser Begriff von zahlreichen Gruppen und Individuen weltweit übernommen wurde. Neben der Taktische-MedienSzene in Brasilien könnte man an Tactical Tech, ein in Amsterdam ansässiges Netzwerk von Entwicklern freier Open-Source-Software in nicht-westlichen Ländern, denken oder an den slovenischen Künstlern Marko Peljhan, dessen Makrolab ebenfalls als taktisches Medium qualifiziert wurde. In seinem Buch Protocol erwähnt Alex Galloway einige weitere Projekte, von Computerviren bis zu Cyberfeminismus und Spielen. 4 Was diese Taktische-Medien-Initiativen verbindet, sind ihre sorgfältig gestalteten Funktionalitäten, ihre Ästhetik jenseits aller Geschmacksfragen. Weder hübsch noch hässlich, gut oder böse, tauchen taktische Medien einfach auf, schlagen zu und verschwinden wieder. Statt die traditionellen Rituale von Negation und Ablehnung zu bedienen, ziehen sie sowohl ihre Macher wie ihre Nutzer, Produzenten wie Zuschauer in ein Spiel des Erscheinens und Verschwindens. Kern der taktischen Medien ist ihre Mischung aus Kunst und Aktivismus und ein gemeinsames kritisches Stil-, Design- und Ästhetik-Verständnis. Was aber auch ihre größte Schwachstelle ist, denn die meisten Aktivisten, Journalisten und Intellektuellen schließen sich diesem Programm nicht automatisch an oder wissen oft nicht einmal von seiner Existenz. Taktische Medien pflegen die Desorganisation. Es gibt nicht mal eine Mailingliste, über die Nutzer taktischer Medien miteinander in Verbindung stehen. Nettime, Spectre, Fibreculture und IDC mögen da eine Rolle spielen, aber keine dieser Listen ist auf Medienaktivisten ausgerichtet. Zwar treffen die Protagonisten der taktischen Medien immer mal wieder zusammen, bilden aber selten untereinander Netzwerke, stattdessen gruppieren sie sich oft um spezielle Ereignisse oder Anlässe. Taktische-Medien-Arbeiter haben scheinbar andere Identitäten. Es ist ein bemerkenswertes historisches Indiz, dass eine Websuche nach »tactical media network« nur zu einer leeren roten Seite führt, produziert Mitte 1997 von N5M für die Documenta 10 in Kassel, eine Seite im Niemandsland. Was wir dort finden, sind Definitionen, kein Netzwerk. Betont wird ihr vorläufiger Charakter. Die taktische Generation ist wachsam gegenüber Institutionalisierung und operiert am liebsten verdeckt. Die schwachen Bande zwischen Aktivisten und Künstlern werden sorgsam konserviert. Was bedeutet es im Kontext der taktischen Medien, eine ›globale Plattform‹ zu schaffen? Ist das nicht reine Ideologie? Sind wir bloß nostalgische Revolutionäre, die davon träumen, die gute alte internationale Solidarität wiederzubeleben, die einst von kommunistischen Funktionären gepredigt wurde? Auf der kollaborativen Website von De Waag und Sarai können wir Folgendes lesen:

4. !LEX'ALLOWAY 1SPUPDPM #AMBRIDGE-ASS -)40RESS  3 

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Was wird zwischen Zentren für Neue Medien und Praktikern im wirklich globalen Maßstab ausgetauscht? Ist es nicht größenwahnsinnig, universale Repräsentation anzustreben? Taktische Medien können leicht auf Mikro-Ebenen operieren, aber warum sollten sie die Vereinten Nationen nachahmen? Wissen wir, bloß weil wir die Mittel haben, nun auch, wie wir sie nutzen, und laufen uns dabei die erstaunlichsten Landsleute über den Weg? Was hat es auf sich mit diesem promisken ›Kontakt der Kontinente‹? Was ist so anziehend an dieser essenziell christlichen Metaphorik? Wie kann ein Mem seine Kraft erhalten, wenn es sich in völlig verschiedenartigen Kulturen bewegt? Es ist nicht schwer, festzustellen, dass die Herausforderung für die taktischen Medien nicht mehr in der Technik liegt, sondern darin, zu lernen, wie in einer lockeren und temporären Netzwerkstruktur mit Differenzen umzugehen ist. Allzu leicht geht die Energie der Taktische-Medien-Praktiker an dem Ort, der Internet genannt wird und den wir alle gerne hassen, verloren. Es ist verführerisch, dort herumzuirren und zu glauben, das Internet sei ›das Medium, das mit allen anderen Schluss macht‹. Was Macher taktischer Medien tun, ist, den hohen Erwartungen an das befreiende Potenzial der Technologien, ob alter oder neuer, entgegenzutreten, ohne deshalb gleich in die Falle des Kulturpessimismus zu laufen. Stattdessen suchen wir nach Wegen, das Banale mit dem Exklusiven, populäre mit Elitekunst, billige Trash-Artikel mit teuren Markenwaren zu vereinbaren. Auf der technischen Ebene bedeutet das, Formen zu finden, um einen wahren Massenaufmarsch von Piratenradiofrequenzen, Videokunst, Animationen, Hoaxes, Wireless-Netzen, Jam Sessions, Kopierkulturen, Performances, Graswurzel-Robotik, Kino-Projektionen, Graffitis und – nicht zu vergessen – Computercodes zu verbinden, übertragen, trennen und neu zu verbinden. Es gibt viel gegenseitige Hilfe beim Aufbau von Zentren und Netzwerken, bis 5. HTTPWAAGSARAINETDISPLAYPHPID

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irgendwann wieder der Zeitpunkt gekommen ist, sie anderen oder der Geschichte zu überlassen und weiterzuziehen. Die Stärke der taktischen Medien ist, dass sie Leute zusammenbringen können. Ihre Schwäche ist das Fehlen von Grenzen und programmatischen Aussagen. Taktische Medien haben die Tendenz, in zahlreiche Mikroschwärme zu zerfallen. Dagegen ist nichts zu sagen, das ist die Natur solcher Zusammenschlüsse. Was passiert, findet global statt. Es gibt Wirklichkeiten, die Grenzen überschreiten und die alte Nord-Süd-Spaltung überwinden, wie Saskia Sassen bemerkt.6 Aktivisten in São Paulo und Manila teilen gleichermaßen eine im Entstehen begriffene Geographie der Zentralität, die sie, über recht instabile Kanäle, mit Gruppen in New York oder Paris verbindet. Kleine Organisationen mit geringen Finanzmitteln verbünden sich mit gleichgesinnten Initiativen dutzender anderer Länder, über den Planeten verstreut, von Lateinamerika bis Südasien. Die Entwicklung ähnlicher Verbindungen sehen wir auch in der bildenden Kunst, der Musik und der freien Software. Wie können wir kulturelle Sensibilität gewinnen? Wie bewältigen wir die arbeitsintensive Aufgabe, für afrikanische Teilnehmer Visa zu bekommen? Überlege lieber zweimal, ob du den Begriff ›global‹ wirklich in den Mund nehmen willst.

$IE:EITDER"EWEGUNG Verschiedene Phasen der globalen Bewegung werden sichtbar, die alle unterschiedliche politische, künstlerische und ästhetische Besonderheiten aufweisen. Ende der neunziger Jahre war die postmoderne ›Zeit ohne Bewegungen‹ zu Ende gegangen. Eine organisierte Unzufriedenheit begann sich gegen Neoliberalismus, globale Erwärmung, Ausbeutung von Arbeit und zahlreiche andere Missstände zu mobilisieren. Mit Netzwerken und Argumenten ausgerüstet, abgesichert durch jahrzehntelange Forschung, gewann eine hybride Bewegung – fälschlich als ›Anti-Globalisierung‹ etikettiert – an Schwung. Eine ihrer besonderen Eigenarten war ihre offenkundige Unfähigkeit und Unwilligkeit, jene Fragen zu beantworten, die für jede aufkommende Bewegung sonst typisch ist: Was tun? Es gab und gibt keine Antwort, keine Alternative – ob strategisch oder taktisch – zur existierenden Weltordnung und zur herrschenden Form der Globalisierung. Außerdem, und das ist vielleicht die wichtigste und befreiendste Schlussfolgerung: Es führt kein Weg zurück ins 20. Jahrhundert und zum schützenden Nationalstaat und den schaurigen Tragödien der ›Linken‹. Sich an die Vergangenheit zu erinnern, war gut, aber ebenso gut war es, sie über Bord zu werfen. Die Frage: »Was tun?« sollte nicht als Versuch interpretiert werden, ein bestimmtes leninistisches Prinzip wiederzubeleben. Themen wie Strategie, Organisation und Demokratie sind zu jeder Zeit aktuell. Wir wollen keine alten Politiken durch die Hintertür zurückholen, aber wir glauben auch nicht, dass diese wichtige Frage mit dem Verweis auf unter dem leninistischen Banner be6. $AS!RGUMENTISTEINE.EUFORMULIERUNG EIN4RIBUTAN3ASKIA3ASSEN )NTERVIEW IN4HE'UARDIAN *ULIWWWGUARDIANCOUKGLOBALISATIONSTORY   HTML

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gangene Verbrechen abgetan werden kann, so berechtigt diese Einwände auch sein mögen. Wenn Slavoj Žižek in den Spiegel schaut, mag er Vater Lenin sehen, aber das ist nicht bei jedem der Fall. Ist es möglich, aus der albtraumhaften Geschichte des Kommunismus aufzuwachen und zu fragen: Was tun? Kann auch eine Vielheit von Interessen und Hintergründen diese Frage stellen, oder ist die einzige Agenda heute diejenige, die vom Kalender der politischen Führer und der Wirtschaftselite bestimmt wird? Nichtsdestotrotz, die Bewegung der Bewegungen hat sich in Windeseile verbreitet. Auf den ersten Blick schien sie ein traditionelles Medium zu benutzen: die Massenmobilisierung von Zigtausenden in den Straßen von Seattle und Hunderttausenden in den Straßen von Genua. Netzwerke taktischer Medien spielten für diesen Entstehungsprozess eine große Rolle. Von nun an war die Vielgestaltigkeit der Themen und Identitäten eine unbestrittene Realität. Differenz wird bleiben und muss sich nicht mehr gegenüber höheren Autoritäten wie Partei, Gewerkschaft oder Medien legitimieren. Es gibt keine zentralen Bedeutungsstrukturen mehr. An die Stelle der Kirche ist eine endlose Parade von Berühmtheiten getreten, die uns mit Wohlgefühl und Hoffnung versorgen. Die Vielheiten sind kein Traum oder theoretisches Konstrukt, sondern Realität. Diese Welt ist dezentralisiert und fragmentiert. Und hier fängt das Problem an: Wie sollen Vielheiten über große Entfernungen kommunizieren – und in welcher Sprache? Wie schaffen sie eine gemeinsame Basis, ohne traditionelle Vermittlungsformen zu benutzen? Wie operieren sie im Markt der Mikro-Identitäten? Und vor allem, wenn sie einmal zusammenkommen, wie diskutieren sie und kommen zu Entscheidungen? Wenn es hier eine Strategie gibt, ist es nicht Widerspruch, sondern Ergänzung. Trotz theoretischer Vorbehalte besteht zwischen Straße und Cyberspace kein Gegensatz – sie beflügeln sich wechselseitig. Proteste gegen die WTO, neo-liberale EU-Politik und Parteikongresse sind ins Blickfeld der versammelten Weltpresse gebracht worden. Indymedia-Zentren tauchen als Parasiten der Mainstream-Medien auf. Anstatt um Aufmerksamkeit betteln zu müssen, finden die Proteste zu den Gipfeltreffen der Politiker und Wirtschaftsführer vor den Augen der internationalen Medien statt und suchen die direkte Konfrontation. Oder es werden symbolische Orte gewählt. Zu ihnen gehören Grenzregionen z.B. zwischen Ost- und Westeuropa, Südeuropa und Afrika oder USA und Mexiko, aber auch Abschiebegefängnisse im Amsterdamer und Frankfurter Flughafen, die zentrale Eurocop-Datenbank in Straßburg oder das Woomera Internierungslager in der südaustralischen Wüste. Der globale Anspruch der Bewegung beschränkt sich nicht darauf, gegen die herrschende Form der Globalisierung zu protestieren, sondern stellt ihr eine neue Ebene einer Globalisierung von unten gegenüber.

6ER W IRRUNGUND2ESIGNAT IONNACH Auf den ersten Blick scheint die Zukunft der Bewegung verwirrend und irritierend. Altlinke Weltpanoramen, die den Imperialismus der Willigen und seine

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aggressive unilaterale Politik erklären, wie sie von Chomsky, Pilger, Fisk und Roy kommen, werden zwar mit Enthusiasmus aufgenommen, aber bieten doch keine religiöse Gewissheit mehr. In einer polyzentrischen Welt gewähren Verschwörungstheorien, die sich nur auf einen Aspekt ausrichten (in diesem Fall das Öl und die amerikanische Außenpolitik), den Verwirrten nur eine vorübergehende Beruhigung. Eine moralistische Verurteilung des Kapitalismus ist gar nicht nötig, da die Fakten und Ereignisse für sich selbst sprechen. Reale Gegebenheiten treiben die Leute auf die Straße, nicht Theorien. Die wenigen übriggebliebenen Linken können der Bewegung keine Ideologie mehr bieten, da sie perfekt ohne eine solche funktioniert. Selbst für die fermentierten sozialen Bewegungen, die in den siebziger und achtziger Jahren auf kamen und sich inzwischen in ihren NGO-Strukturen eingeschlossen haben, wird es immer schwieriger, weiterzumachen. Neue soziale Formationen übernehmen die Straßen und Medienräume, ohne von irgendeiner höheren Autorität vertreten werden zu wollen – nicht einmal von den heterogenen Komitees in Porto Alegre. Bis jetzt war diese Bewegung an klar definierte Raum-Zeit-Koordinaten gebunden. Es braucht immer noch Monate, um Multitudes zu mobilisieren und die Logistik von Bussen und Flugzeugen, Camping-Flächen und Unterkünften bis zu unabhängigen Medienzentren zu organisieren. Bis jetzt war die globale Bewegung alles andere als spontan (und reklamiert das nicht einmal für sich). Die Leute, die Hunderte oder Tausende Kilometer weit reisen, um an einem Protestmarsch teilzunehmen, sind von einem echten Anliegen getrieben und nicht von irgendeiner romantischen Vorstellung von Sozialismus. Die abgenutzte Frage »Reform oder Revolution?« klingt eher wie eine Erpressung der politisch korrekten Antwort. Auf der lokalen wie der nationalen Ebene sehen wir jedoch ein anderes Bild – Gruppierungen, die schnell wachsen, manchmal innerhalb von Tagen. Der Euromayday andererseits versammelt sich einmal im Jahr und hat sich über den Kontinent in einer langsamen, aber stetigen Gangart ausgedehnt. Der Widerspruch zwischen Selbstsucht und Altruismus hat sich als falsch erwiesen. Staatlich gesponserte Wirtschafts-Globalisierung betrifft jeden. Internationale Organe wie WTO, IMF, das Kyoto-Protokoll oder die Privatisierung des Energiesektors sind keine abstrakten Bereiche mehr, die nur für einige Experten, Bürokraten und NGO-Lobbyisten eine Rolle spielen. Diese politische Einsicht stellt einen wesentlichen Quantensprung der letzten Jahre dar. Ist dies die Letzte Internationale? Es führt kein Weg zurück zum alten Nationalstaat, zu herkömmlichen Freiheitsbegriffen, zur Logik von Überschreitung und Transzendenz, Ausschluss und Einschluss. Kämpfe werden nicht mehr auf einen weit entfernten Anderen projiziert, der moralische und finanzielle Unterstützung benötigt. Endlich sind wir im post-solidarischen Zeitalter angekommen. Im Namen der Armen der Welt zu sprechen, wird als koloniale Beleidigung empfunden. Konsequenterweise sind nationale Befreiungskonzepte von einer neuen Analyse der Macht abgelöst worden, die gleichzeitig unglaublich abstrakt, symbolisch und virtuell ist wie auch schrecklich konkret, detailliert und vertraut. Genau diese Verknüpfung macht die Besonderheit und Vitalität der neuen Bewegungen aus.

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Die jüngste Herausforderung lag darin, die regressive Phase des randständigen Moralismus aufzulösen, der dem langsamen Niedergang der Massenproteste folgte. Zum Glück hatte der 11. September keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Bewegung. Die Wahl zwischen Bush und Bin Laden war irrelevant. Beider Programme wurden als zerstörerischer Fundamentalismus abgelehnt. Die allzu naheliegende Frage: »Wessen Terror ist schlimmer?« wurde sachte übergangen, lenkte sie doch nur ab von den drängenden Notlagen des Alltags: des Kampfes für ausreichende Löhne, vernünftigen öffentlichen Verkehr, Gesundheitsversorgung, Wasser und Bildung. Da sowohl die Sozialdemokratie als auch existierende Formen des Sozialismus massiv auf den Nationalstaat bauen, klingt eine Rückkehr des 20. Jahrhunderts ebenso verhängnisvoll wie all die Katastrophen, die es produzierte. Das Konzept einer digitalen Multitude ist grundverschieden von früheren Konzepten zur ›Vielheit‹ und baut gänzlich auf Offenheit. Über die letzten Jahre haben die kreativen Kämpfe der Multitudes Ergebnisse auf verschiedensten Ebenen hervorgebracht: die Dialektik der offenen Quellen (open sources), der offenen Grenzen, des offenen Wissens. Dabei stellt die tiefe Infiltration der Regeln des politischen Kampfs durch die Ideen von Offenheit und Freiheit in keiner Weise eine schnelle Übereinkunft mit der zynischen und gierigen neo-liberalen Klasse dar. Progressive Bewegungen haben sich immer schon mit einer radikalen Demokratisierung der Zugangsregeln und Entscheidungsprozesse und mit der Verteilung gemeinsamer Kapazitäten befasst. Normalerweise begann dies mit einer illegalen oder illegitimen Gemeinsamkeit. Innerhalb der analogen Welt führte dies zu allen möglichen Formen von Kooperativen und selbstorganisierten Unternehmen. Ihre spezifischen Rechtsvorstellungen folgten aus ihren Bemühungen, die brutale Macht des Marktes zu umgehen, und aus ihren andersartigen Methoden, mit knappen materiellen Ressourcen umzugehen.

$IE$EBAT TEW IRD-AINSTREAM 'EORGE-ONBIOT Dass die internen Strategie-Debatten der Bewegung der Anderen Globalisierung es inzwischen auch in die Mainstream-Öffentlichkeit schaffen, macht schon deutlich, wie sich die Zeiten geändert haben. Laut Amazon »sagte uns Naomi Klein’s No Logo, was falsch war. Jetzt zeigt uns George Monbiot’s The Age of Consent, wie wir es richtig machen.« Rupert Murdochs Verlag HarperCollins verkauft Monbiot als »maßgebliche und überzeugende Galionsfigur der Widerstandsbewegungen in Großbritannien«. Der Umweltaktivist Monbiot ist auch Kolumnist beim Guardian und Autor eines Bestsellers über britische Privatisierungsdesaster. Dank Murdochs Vertriebsnetz gelangte The Age of Consent sogar bis zu einem Zeitungsstand am Flughafen von Sydney, wo ich ein Exemplar erwarb.7 7. 'EORGE-ONBIOT 5IF"HFPG$POTFOU".BOJGFTUPGPSB/FX8PSME0SEFS ,ONDON &LAMINGO ,ONDON  "ESPRECHUNGEN DES "HF PG $POTFOU -ORAG &RASER 3YDNEY -ORNING (ERALD  *ULI  0ETER 4AAFFE 4HE 3OCIALIST  *ULI  -ICHAEL

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Der Wandel, der George Monbiot vorschwebt, lässt keine Erwartung an eine »metaphysische Mutation«, eine Idee, die er von dem französischen Schriftsteller Michel Houellebecq übernahm, unerfüllt. Oder eher noch eine erkenntnistheoretische Mutation, ein revolutionärer Prozess, der Thomas Kuhns Konzept des Paradigmenwechsels ähnelt.8 Monbiot sieht eine »globale Zivilgesellschaft«, die aus den Protestbewegungen gegen WTO, WEF und G8 sowie Gegengipfeln wie dem Weltsozialforum hervorgeht. Diese Bewegungen sollten die Gunst der Stunde nutzen und »zu den Katalysatoren der neuen Mutation werden«. Es ist oft gesagt worden: Globale Probleme brauchen globale Lösungen, die über das Wechselspiel zwischen den Nationen hinausgehen. Anders als Kritiker globaler Konzerne wie David Korten ist Monbiot kein Fürsprecher des Lokalen, der die Lösung in autarken Kleinunternehmen sieht. Dem Empire und seinen globalen Konzernen lässt sich nur mit einer globalen Demokratie beikommen. Für viele dieser Aktivisten steht eine Rückkehr zum Nationalstaat nicht zur Diskussion. Angesichts von Herausforderungen wie AIDS-Epidemie und Klimawandel sehen sie einen dringenden Bedarf, gemeinsam neue globale Instanzen zu entwickeln und sie auf dem umgekehrten Wege, von unten, aufzubauen. ›Small is beautiful‹ mag einer ehrenwerten Regung entstammen, benachteiligt letztlich aber gerade die Ärmsten. Globale Governance zu fordern und dann zu warten, bis die politische Klasse freiwillig solche Modelle einführt, ist pure Zeitverschwendung. Ich will Monbiots Argumente einmal genauer anschauen, denn die taktischen Medien sind bislang noch nicht in einen solchen globalen Kontext gestellt worden. Monbiot plädiert für Demokratie als das kleinste Übel. Da wir nichts Besseres haben, können wir auch unter ihren Rahmenbedingungen arbeiten. Aber Aktivisten schieben oft die Frage beiseite, wer die Wächter bewacht. In den Bewegungen und auch in der Internet-Kultur wird viel Demokratie gepredigt, aber wenig praktiziert. Das war auch ein Problem der früheren Linken. Mit NGOs, die zu globalen Gipfeln eingeladen werden, ist Rechenschaftspflicht wieder zu einem Thema geworden. Wen repräsentieren sie, wem gegenüber sind sie verantwortlich? Konservative ›Kunstrasen‹-Kampagnen (das Gegenstück zur Graswurzelbewegung) wie ngowatch.org bringen diesen Punkt auf – bisher allerdings hat es auf die Frage, wer eigentlich hinter NGO Watch steht, außer Verschwörungstheorien keine Antwort gegeben.9 Trotz dieser schwach ausgeprägten Demokratietradition fordert Monbiot eine »globale demokratische Revolution«, die den »hoffnungslosen Realismus« verdrängt. Monbiot glaubt an die Kraft momenthafter Geschehnisse oder auch – etwas abstrakter – ›des Ereig-EACHER 4HE 'UARDIAN  *UNI  4HE %CONOMIST  *UNI  3IEHE AUCH 'EORGE-ONBIOTS(OMEPAGEWWWMONBIOTCOM 8. 3IEHE4HOMAS+UHN 5IF4USVDUVSFPG4DJFOUJ¾D3FWPMVUJPOT #HICAGO5NIVERSITY OF#HICAGO0RESS  DEUTSCH4HOMAS+UHN %JF4USVLUVSXJTTFOTDIBGUMJDIFS3FWPMV UJPOFO &RANKFURTA-  9. $IESËNDERTESICHIM*UNI ALSELF6ERTRETERFàHRENDER.'/SEINEGLOBALE !CCOUNTABILITY #HARTAFàRDEN.ON 0ROlT 3EKTORUNTERZEICHNETEN3IEHEHTTPNEWS AMNESTYORGINDEX%.'0/,

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nisses‹, wie es in philosophischen Kreisen genannt wird. Er schreibt: »Realistisch ist, was stattfindet. Der Moment, in dem wir es stattfinden lassen. Es wird realistisch. Eine globale demokratische Revolution ist die einzige Wahl, die wir haben. Es ist die einzige Strategie, die uns von der globalen Diktatur versteckter Interessen befreien kann.« Nach der Ära des Widerspruchs »ist es an der Zeit, die Ära der Übereinkunft auszurufen«. Der Großteil seines Manifests ist drei von ihm vorgeschlagenen globalen Institutionen gewidmet: einem Weltparlament, einer internationalen Clearing-Gemeinschaft und einer Fair-Trade-Organisation. Die Idee eines Weltparlaments rührt her von der Klage über die fehlende Transparenz und Rechenschaftslegung bei den NGOs. Monbiot glaubt, dass die Lösung hierfür in einem globalen Forum liegt, das aus direkt gewählten Vertretern gebildet wird. Sein Weltparlament wäre keine gesetzgebende Körperschaft, zumindest nicht von Beginn an, sondern eine Instanz, der gegenüber globale Player Rechenschaft abzulegen hätten. Damit würde auch der Sicherheitsrat überflüssig, in dem nur fünf Staaten ein Vetorecht haben. Außerdem wäre die Regel ›eine Stimme pro Nation‹ der UN-Generalversammlung zu überdenken, nach der die Stimme der pazifischen Vanuata-Insel genau das gleiche Gewicht hat wie die von Indien oder China. Trotz meiner anfänglichen Skepsis angesichts seiner Murdoch-Verbindung habe ich Monbiots Geist zu schätzen gelernt. Dieses Manifest ist ein Beispiel für mutiges strategisches Denken ohne den üblichen New-Age-Hokuspokus, der ›positive‹ Literatur oft begleitet. Der organisierte Positivismus ist offenbar von den Dotcom-Unternehmerkreisen weitergezogen zu den translokalen Boten der Hoffnung. Monbiots rhetorisches Feuerwerk bietet auch ein weiteres Beispiel dafür, wie falsch Blairs Image-Berater Charles Leadbeater mit seinem Up the Down Escalator: Why the Global Pessimists are Wrong lag. Bewegungen wie ATTAC10 arbeiten wie verteilte Think Tanks, die die Aufgabe, Alternativen für die globalen Finanz- und Handelsstrukturen zu gestalten, angenommen haben. Man muss nicht mit allen Teilen der ATTAC-Geschichte übereinstimmen, aber die Richtung ist klar. Die heutigen Bewegungen spüren die Notwendigkeit, ihren Slogan »Eine andere Welt ist möglich« auch umzusetzen. Viele haben sich diese Aufgabe zu eigen gemacht und von der eher ›apokalyptischen‹ Form des Protests wegbewegt, um die Energie der wachsenden Bewegungen auf andere Ebenen zu übertragen. World Changing, Global Voices, Planetwork und Open Democracy wären hier als die populärsten Beispiele im US-amerikanischen Kontext zu nennen. Allein die vielen globalen post-politischen Arbeitsgruppen zu erfassen, ist schon für sich ein Großprojekt. Wir leben nicht mehr in den dunklen Achtzigern, Herr Leadbeater. Es mag massenhafte Fälle von Depression geben, aber diese Psycho-Pandemien werden schnell mit Prozac oder Viagra kuriert. Wenn wir im Zeitalter des Pessi10. !44!#STEHTFàR!SSOCIATIONPOURLA4AXATIONDES4RANSACTIONSPOURL!IDEAUX #ITOYENS ZUDEUTSCH6EREINIGUNGFàRDIE"ESTEUERUNGVON&INANZ 4RANSAKTIONENZUR 5NTERSTàTZUNGDER"àRGER UNDPROPAGIERTEINE3TEUERFàR$EVISEN 4RANSAKTIONEN)HR 3LOGANw$IE7ELTISTNICHTZUVERKAUFENi3IEHEWWWATTACORG

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mismus leben sollen, wer wäre dann der heutige Arthur Schopenhauer? Welcher zeitgenössische Denker käme Emile Cioran (»Der Mensch, das schlaflose Tier«) gleich? Wie können wir uns der dunklen Seele annähern, die schrieb, dass »die erste Freiheit des Geistes die Negation« ist? Es gibt in der Tat zu viel künstlichen Optimismus. Wir werden gezwungen, Alternativen zu nennen, die nicht existieren. Leadbeaters verpflichtend positiver Verkaufsjargon, der sich selbst als quasi-moderaten, ausgewogenen Blick auf die Tatsachen darstellt, ist in Wirklichkeit die heutige autoritäre Stimme des Staates. Seine Scheinheiligkeit liegt in der glatten Verleugnung von Zwang, Gewalt und der Realität der Macht. Es ist eine einfache Übung, die Utopien der letzten Jahrhunderte abzuservieren und die eigenen Gegner des Totalitarismus zu beschuldigen. In Wirklichkeit feiert Leadbeater aber den Tod der Ideen. Überlasst das Denken Experten wie Leadbeater! ›Innovation‹ ist für Leadbeater allemal besser als radikale Transformation, und so wirbt er für die Normalität seines Pyjama-Beraterlebens als Lösung der Weltprobleme. Leadbeater kann es nicht verstehen. Haben wir nicht alle ein schönes Leben? Worüber jammern all diese Kritiker wie Monbiot eigentlich? The Age of Consent ist weder utopisch noch idealistisch, auch wenn viele Monbiots Vorschläge in diesem Sinne abtaten. Sein Entwurf für eine neue Welt mag auch als zu detailliert, zu pragmatisch abgelehnt werden. Monbiot schreibt aus einer Insider-Perspektive der Bewegung für globale Gerechtigkeit. Genau diese eindeutige Position aber macht seine Pläne so reizvoll und potenziell einflussreich. Schließlich ist es auch beruhigend, festzustellen, dass es jemanden gibt, der die Quasi-Neutralität abgelegt hat, die den Nachrichtenjournalismus so kalt und zynisch macht und willkürlich von der Welt der Ideen abspaltet. Monbiots Manifest sollte als Beispiel einer sich entwickelnden Gattung gelesen werden. The Age of Consent erinnert an die nicht-akademischen sozialistischen und anarchistischen Pamphlete aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als die Frage »Was tun?« echte Dringlichkeit besaß und die Antworten darauf Einfluss auf das Weltgeschehen hatten. In seinem Schreiben kann man spüren, dass es wirklich um etwas geht. Mit Negri und Hardts Empire teilt Monbiot die Überzeugung, dass die Multitudes die Kraft haben, die Welt (neu) zu erschaffen. Alles mag zur Ware geworden und in das Spektakel eingebunden sein – bis auf die gemeinsame Vorstellungskraft. Wir können überall Spuren der menschlichen Souveränität entdecken. Das gleiche lässt sich auch von inspirierten Taktische-Medien-Gruppen, die experimentelle Software, Interfaces und Netzwerke entwickeln, behaupten. Das Keimen kann lange dauern.11 Die Saat mag ewig auf dem Erdboden liegen bleiben. Nicht, dass ich mit allem übereinstimme, was Monbiot vorschlägt, aber genau dies ist der Punkt. Bestimmte Texte können Räume und imaginative Möglichkeiten öffnen – das ist das Gefährliche an Ideen. Und es macht die Machthaber so misstrauisch gegenüber Ideen, die

11. 3IEHE DIE $EBATTEN AUF DEN /EKONUX -AILINGLISTEN àBER DAS k+EIMENj FREIER 3OFTWAREIN2ICHTUNGFREIER'ESELLSCHAFTSFORMENWWWOEKONUXORG UNDDASENTSPRE CHENDE+APITELINMEINEMLETZTEN"UCH.Z'JSTU3FDFTTJPO6?0UBLISHERS  

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die Innovations-Barriere durchbrechen und auf eine umfassende Umwandlung der Gesellschaft zielen. Nach Jahrzehnten eines ungezügelten Anti-Intellektualismus finden wir uns in einem Goldenen Zeitalter der Ideen wieder, und Monbiot ist Teil dieses Trends. Festivals für Ideen sind beliebt wie nie zuvor. 12 Ideen werden in dieser Phase als die ›Währung unseres Informationszeitalters‹ gehandelt. 9/11, wirtschaftliche Rezession, Klimawandel und die gewaltsame, unilaterale Politik der Bush-Administration beschleunigen diesen Prozess nur. Es sind haften bleibende Ideen, die über das Stadium der Anklage hinaus sind und Mediennutzer mobilisieren und in eine wachsende Vielfalt »intelligenter Mobs« (Howard Rheingold) überführen können. »Unsere Meinungen zählen nicht, solange wir nicht nach ihnen handeln.« schreibt Monbiot. Aber das ist immer weniger ein Problem. Die Leute sind verstärkt bereit zu handeln, und die globalen AntiKriegs-Proteste 2003 haben dies unmissverständlich deutlich gemacht. Bewegungen operieren zunehmend außerhalb des ritualisierten Bereichs der Politik. Den alten Massenmedien ist es unmöglich, ihren Einfluss zu erfassen. Im Netzwerk-Zeitalter sind Ideen sorgfältig entwickelte Meme, die auf weite Reisen gehen, ohne dabei ihre Kernaussage zu verlieren. Ganz gleich, wie beharrlich es unwissende und unterwürfige Nachrichtenredakteure auch versuchen mögen, Ideen lassen sich nicht in Lügen verwandeln. Bis vor kurzem konnten sie vielleicht noch ignoriert oder als marginal, akademisch oder irrelevant verworfen werden, aber der gegenwärtige Bedarf ist nicht mehr zu leugnen. Ideen können Fehlinterpretationen schlampiger Journalisten oder in die Jahre gekommener Kommentatoren leicht standhalten. Hauptgrund dafür ist, dass wir in der Ära der Post-Dekonstruktion stehen. Es ist nicht mehr unterhaltsam oder überhaupt noch notwendig, jeden einzelnen Satz oder Gedanken auseinanderzunehmen und jeden Begriff in der Ideengeschichte einzuordnen. Jede neue Idee kann leicht in ein Spektrum alter Ideen zerlegt werden. Die Medien-Kompetenz ist inzwischen so gewachsen, dass spannende Ideen ihr Publikum ohnehin finden. Dieser Mechanismus hat auch Folgen für die Arbeit der professionellen Meinungsverkäufer. Die Invasion im Irak 2003 kann auf zweierlei Art gelesen werden, als erfolgreiche Kampagne, die Weltmeinung zu manipulieren, und als Ende der Wirklichkeitsverdrehung durch die globalen Medien. Schon Monate vor dem Krieg lehnten es Millionen ab, dem medialen Rummel, der das Feuer des Krieges anfachte, zu trauen, und die öffentliche Wut wuchs nach Eintritt der Ereignisse noch weiter. Dies ist das Problem der Medien im Chomsky-Stil – ein Propaganda-Erbe, das von der Bewegung der Anderen Globalisierung immer noch hochgehalten wird. Der Punkt liegt nicht in der ›Wahrheit‹, die von Websites wie PR-Watch, GNN, Media Channel oder Adbusters aufgedeckt wird. Das Problem ist vielmehr, dass nur noch wenige an die Medien glauben. Wie ich vorher angedeutet habe, sind Blogs ein wesentliches Vehikel in diesem Prozess der Demystifikation der Massenmedien. Die Aufklärungsarbeit ist schon geleistet 12. WWWIDEASATTHEPOWERHOUSECOMAU "RISBANE WWWADELAIDEFESTIVALORGAU IDEASINDEXASP!DELAIDE 

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worden, jetzt sind es nur Zynismus und Angst, die den Populismus anheizen, nicht mehr die fabrizierte Wahrheit. Die mediale Täuschung hat nun selbst ein Verfallsdatum. Es ist nicht die Redefreiheit, um die es in erster Linie geht. Man mag alles sagen dürfen, außerhalb eines lebendigen sozialen Kontexts ist es nie eine Bedrohung, was auch immer zum Ausdruck gebracht wird. Wirklich subversiv ist die Freiheit der Ideen. Wenn man die Besprechungen liest, bemerkt man mit Interesse, wie Marxisten alter Schule genauso wie die Vertreter des freien Marktes Monbiots Argumente ablehnen, ohne sich mit seinen Ideen ernsthaft auseinanderzusetzen. Ein Bild, wie es der Economist zeichnet – die Kapitalisten kommen vom Mars und die Bewegung von der Venus – ist ein simpler rhetorischer Trick, der sich der ganz realen globalen Krise der Ökonomie, Ökologie und Politik nur entzieht. Der Abbruch der Freihandels-Gespräche bei der DohaRunde zeigt, dass die WTO am Rande des Zusammenbruchs steht – und dass NGOs in diesem Prozess inzwischen eine Schlüsselrolle spielen. Der Vorwurf andererseits, Monbiot sei ein Keynesianer und sein einziger Wunsch sei es, das kapitalitische System zu retten, macht keinen Sinn und widerspricht offensichtlich der Aussage des Buches. Monbiot drückt sich eindeutig aus: »Die bestehenden Institutionen können sich nicht selbst reformieren. Ihre Macht verdanken sie den ungerechten Regelungen, die sie emporgebracht haben, und diese Ungerechtigkeit zu bekämpfen hieße, ihre eigene Auflösung zu akzeptieren.« George Monbiot wagt es, groß zu denken, und genau das gefällt altbackenen Marxisten und forschen Neo-Liberalen an The Age of Consent nicht. »Unser Ziel« schreibt er, »liegt nicht darin, die Globalisierung zu Fall zu bringen, sondern sie zu bändigen und als Vehikel für die erste globale demokratische Revolution der Menschheit zu nutzen.« Sein Programm beinhaltet nicht weniger als die erste Demokratie auf globaler Ebene. Die traditionelle Linke wie auch die Neo-Konservativen reden ungern über die in den internationalen Beziehungen sogenannte ›Global Governance‹. Während die Linke sich mit dem Nationalstaat überidentifiziert hat, halten es Neo-Liberale für das alleinige Recht der globalen Business-Klasse, die Bedingungen des Handelns auf transnationaler Ebene zu bestimmen. Monbiot verweist richtig auf die strategische Gelegenheit für die Bewegung der Bewegungen, selbst Modelle für die globale Demokratie zu entwerfen. Niemand wird das für uns machen – außer man glaubt an die paranoide Verschwörungstheorie, dass eine geheime Weltregierung die Macht schon längst übernommen hat. Was aber, wenn es globale Parlamentswahlen gibt und keiner geht hin? Monbiot scheut sich nicht davor, solche Fragen zu stellen. Wahlbeteiligung ist ein Problem, schon für das Europäische Parlament, dem ähnlich wie dem Parlament Monbiots gesetzliche Verbindlichkeit und Macht fehlen. Verglichen mit den Albträumen des Marxismus im 20. Jahrhundert oder dem Anti-MachtModell westlicher Anarchisten mag die Demokratie ›das beste aller schlechten Systeme‹ sein. Aber das sollte einen Kritiker nicht davon abhalten, sich die realen Schwierigkeiten der repräsentativen Demokratie genau anzuschauen. Es wäre hilfreich, wenn Monbiot sich selbst in die aktuelle Demokratie-Debatte einschalten würde, etwa in Hinblick auf die Ideen, die der Konservative Fareed

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Zakaria in seinem Buch The Future of Freedom verbreitet. Für Zakaria ist mehr Demokratie nicht immer etwas Positives. Wenn es nach ihm geht, brauchen wir heute nicht mehr, sondern weniger Demokratie.13 Im Gegensatz zu Monbiots Vorstellungen verbindet Zakaria dies nicht mit einer Bevorzugung der globalen Wirtschaftseliten, zumindest ist das nicht das Argument. Es gibt eben auch zahlreiche Beispiele, wo durch Wahlen Diktatoren und Fundamentalisten an die Macht gekommen sind, und dieses Problem lässt sich nicht übersehen. Globale Demokratie sollte nicht mit Fortschritt und Gerechtigkeit gleichgesetzt werden. Ein Weltparlament könnte ohne weiteres für einen Krieg gegen Homosexualität stimmen oder z.B. für die Auflösung des Internets. Das wäre tatsächlich sogar recht wahrscheinlich. Am meisten hätten libertäre Paganisten von der Weltmeinung zu befürchten. Anstatt auf weitere leere Institutionen zu drängen, so argumentiert Zakaria, werde die aufstrebende globale demokratische Kultur eher durch einen weltweiten Zuwachs an Freiheitsrechten gestärkt. Einer Politik, die von kurzfristigen politischen und wahltaktischen Überlegungen beherrscht ist, würde vor allem die Ausdehnung und tiefere Verankerung von Freiheiten wie Pressefreiheit oder Bewegungsfreiheit entgegenwirken können. Dieses Argument ist in meinen Augen ohne Bezug zu der Frage, ob manche Leute »zur Demokratie unfähig« sind. Auf die eine oder andere Art müssen die westlichen Demokratien auch ihr Verhältnis zum Medien-Spektakel neu definieren. Es reicht nicht, sich für regelmäßige Online-Wahlen auszusprechen, dies könnte die Gefahr des Populismus nur erhöhen. Solche Aspekte werden bei Monbiot nicht erwähnt, und man kann nur mutmaßen, warum. Die Krise der Demokratie wird oft mit der Medienfrage verbunden. Eine andere interessante Gegenüberstellung wäre die von Monbiots Entwürfen globaler Institutionen und Chantal Mouffes agonistischem, konfliktbetonten Demokratiemodell. Wie bei vielen ›Anderen Globalisierern‹ ist Monbiots Verständnis für Medien und Technologie praktisch gleich null. Man sollte meinen, dass Monbiot als Journalist etwas über Medien zu sagen hätte, aber davon ist in The Age of Consent keine Spur zu finden. Fragt sich, warum – seine eigene Website sieht gut aus. Es ist auffällig, dass sein Bauplan nicht einen einzigen Bezug zu Neuen Medien oder Netzwerk-bezogenen Themen aufweist, geschweige denn zu taktischen Medien. Fairer Handel und globale Demokratie werden schon zum Erfolg führen, so scheint es. Auf eigenartige Weise fühlt man sich an den alten Marxismus erinnert, der ebenfalls davon ausgeht, dass aktuelle Probleme allein auf der Ebene der klassischen politischen Ökonomie zu lösen sind, so als ob kulturelle Differenzen, Rasse- und Gender-Themen, ethnische und religiöse Kriege schlicht ignoriert werden könnten. Ganze Forschungsjahrzehnte, von Gramsci, Althusser, Foucault, Postmodernismus bis zu Cultural und New Media Studies haben bislang keinen Eingang in die Globalisierungsdebatte gefunden. Die ideologische Ebene, zu der auch der Medienbereich gehört, bleibt ein Nebenschauplatz. Monbiot und mit ihm eine Vielzahl anderer zeitgenössischer Analytiker haben entweder den Cultural Turn nicht vollzogen oder es geschafft, ihn auf mysteriöse Weise zu überspringen. Man könnte aber auch diejenigen kritisieren, 13. &AREED:AKARIA 5IF'VUVSFPG'SFFEPN .EW9ORK77.ORTON 

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die sich in den postmodernen (institutionellen) Ghettos verbarrikadiert haben. Es ist Zeit zu begreifen, dass Medien mehr sind als nur Repräsentation oder Spektakel. Die Gesellschaften sind weit vernetzt. Es gibt keine Demokratien, nur Medien-Demokratien. Die Netzwerk-Gesellschaft ist eine Tatsache, keine Idee. Die Flüsse, über die Saskia Sassen und Manuel Castells reden, sind allzu real. Monbiots Perspektive mag genügen, wenn man kein Theorie-Fan ist, aber wenn der ganze Trend zu immaterieller Arbeit, Creative Industries und die wachsende Bedeutung von Wissen als Produktionsfaktor außer Acht gelassen werden, wird sie doch zu einem Problem. In vielerlei Hinsicht ist für heutige führende Denker immer noch das Jahr 1968. Wir sind nie postmodern gewesen.

-YTHOLOGIEN ,OGOS 3LOGANS Auf der Suche nach einer Mythologie haben soziale Bewegungen in ihrer Geschichte immer Ereignisse hervorbringen müssen, auf die sich ihre späteren Aktivitäten beziehen konnten. Für die Bewegung der globalen Gerechtigkeit könnte dies der 1. Januar 1994 sein – der Beginn des Zapatista-Aufstands (symbolisiert im Ya Basta!-Slogan). Es reicht offenkundig nicht, auf vielgleisige Entwicklungen zu vertrauen, die alle in einem Moment die richtige Alchimie finden und den Lauf der Geschichte in Gang setzen. Die Multitudes brauchen immer noch einen Plot, wenn es zum Geschichtenerzählen kommt. ›Von überall her‹ zu kommen, verschafft keine ausreichende Befriedigung. Im Kontrast zur eigenen Philosophie war und ist die Bewegung, die Ende 1999 in Seattle den Medienraum erstürmte, immer noch heimlich auf der Suche nach einem plausiblen Ausgangspunkt, der dem globalen Auf begehren Bedeutung und Richtung geben könnte. Trotzdem gibt es gleichzeitig Hinweise darauf, dass diese Bewegung auch ohne Wurzeln und Führung sehr gut gedeihen kann. Dies ist ein Widerspruch, der zu untersuchen ist. Die Höhen und Tiefen des globalen Protests sind bislang nicht den üblichen Handlungsschemata gefolgt, andernfalls wäre die Bewegung infolge von Repression, Waffen, Drogen, Unterwanderung, sektiererischer Zwiste oder simpler Erschöpfung längst eingegangen. Das Bedürfnis nach einer linearen Geschichte von Aufstieg und Niedergang, mit Anfang, Mitte und einem notwendigen Ende kann als allzu menschliche Schwäche beiseite geschoben werden. Der britische Umwelt-Journalist Paul Kingsnorth hat die Mythenbildung nicht unbedingt aufgebrochen. Sein One No, Many Yeses liest sich wie ein rechtschaffener und repräsentativer Überblick über die Bewegung der Bewegungen, ohne große kritische Distanz oder Reflexion. 2002 reiste Kingsnorth, Anfang 30 und zuvor Redakteur beim Ecologist, um die Welt, von Chiapas in Mexiko zu den Krawallen in Genua (Italien), besuchte Reverend Billy in New York und Anti-Unternehmens-Gruppen in Kalifornien. Von seinen Reiseberichten ragen einige für mich heraus. Der erste beschreibt einen Besuch bei Gruppen aus Soweto, die sich der Privatisierung des Stromsektors durch den ANC widersetzen. Beim zweiten geht es um West-Papua, wo Kingsworth die auf kommende Unabhängigkeitsbewegung beobachtete. Auch der am Rande des Weltsozialforums

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in Brasilien entstandene Bericht über die Bewegung der landlosen Landarbeiter (MST) ist bemerkenswert. Die Abwesenheit eines theoretischen Gerüsts ist offenkundig, scheint aber nichts auszumachen. Einmal keine Deleuze- oder Foucault-Zitate, geschweige denn Negri oder Agamben. Das gleiche gilt auch für Kingsnorths Medienverständnis, das über Chomskys ›Medien gleich Propaganda‹ nicht hinausgeht. Medien werden von großen Konzernen kontrolliert, und unsere Nachrichtenagentur Indymedia ist darauf die Antwort. Dieses simple Verständnis von (Neuen) Medien ist weitverbreitet. In den Agenden der Weltsozialforen von Porto Alegre bis Florenz kommen Medienthemen gar nicht vor. Die erstaunlich geringe Wahrnehmung von freier Software und offenen Netzarchitekturen kann aber auch den mangelnden Kommunikationsfähigkeiten von Geeks, Hackern und Netzkünstlern angelastet werden, die bislang nicht zu ihren Baby-BoomFührern durchgedrungen sind. Trotz zahlloser Bemühungen der GraswurzelGruppen haben die Prinzipien freier Software und auch Internet-Themen im Allgemeinen keinen Eingang in die höheren Ebenen des Weltsozialforums und seiner regionalen und nationalen Ableger gefunden. Immer wieder sehen wir, dass es lokale Geschehnisse sind, die Bewegungen zusammenbringen, nicht allgemeine Ideen. In diesem Sinne ist die Bewegung in ihrer Ablehnung von Ideologien ›post-1989‹, und das ist ein Moment, das die Theoretiker, vor allem die aus Frankreich und Italien, noch in den Griff bekommen müssen. Die ›Protestivals‹ haben eine karnevaleske Militanz, die noch gar nicht angemessen beschrieben worden ist – Spinoza und Heidegger dürften hierfür nicht die richtigen Quellen sein. Obwohl wir aus Kingsnorths Geschichten einen starken Sinn für Dringlichkeit herauslesen, geht es dort nicht um einen ›Ausnahmezustand‹ oder gar eine andauernde Krisensituation. Paul Kingsnorth analysiert den Zustand des Globus zu Recht in seiner ganzen Potenzialität. Man könnte das auch als den naiven Optimismus der Jugend interpretieren, aber ein so einfaches Urteil übersieht die unbändige Vielfalt der weltweiten Protestteilnehmer. Dies ist keine Welle. Es ist eher eine Reihe von Eruptionen, die immer mehr in Schwingung kommen und sich allmählich in etwas anderes verwandeln. Während der späten Neunziger gewann die Seattle-Bewegung gegen die Wirtschaftsglobalisierung an Schwung, auf der Straße wie auch online. Aber kann man wirklich von einer Synergie zwischen Straßenprotest und Online›Hacktivism‹ sprechen? Was Straße und Netz gemeinsam hatten, war ihr Konzeptstadium. Die bloßen Möglichkeiten waren enorm. Aber sowohl realer wie virtueller Protest laufen Gefahr, im Demo-Design stecken zu bleiben und sich nicht mehr an den wirklichen Themen und lokalen Situationen zu orientieren. Das bedeutet, die Bewegung kommt nie aus ihrer Beta-Phase heraus. Nur auf einer abstrakten Ebene können wir die Kämpfe und Ereignisse miteinander verknüpfen, aber diese Art der Analyse ist eher religiöser Natur und soll den Leuten Hoffnung geben. Es gibt zwar eine vernetzte Solidarität, aber keinen Synergieeffekt. Auf den ersten Blick erscheint die Versöhnung des Virtuellen mit dem Realen eher als rhetorischer Akt. Radikale Pragmatiker haben oft betont, wie wichtig der Schritt von Online-Netzwerken ins reale Gesellschaftsleben ist, um

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den Widerspruch zwischen dem Realen und dem Virtuellen aufzulösen. Netzaktivismus wie auch das Internet selbst sind immer hybrid, eine Mischung aus alten und neuen Ein- und Ausgabegeräten, immer eingebunden in Geographie, Geschlecht, Rasse und andere politische Faktoren. Es gibt keine rein körperlose Zone der globalen Kommunikation, wie die Cyber-Mythologie der Neunziger behauptete. Aber können wir diese allzu einleuchtenden Feststellungen nicht überspringen? Statt politische Korrektheit zu fordern, wäre es vielleicht interessanter, Bildungsinitiativen zu initiieren, um soziale Bewegungen ins Zeitalter des Web 2.0 zu führen. Statt sich für die Nutzung komplizierter freier Software einzusetzen, wäre es vielleicht sinnvoller, leicht zu benutzende Blogs und Wikis zu installieren.

$IE'RENZENTAKTISCHER.ET ZWERKE Der Aufruf vieler Künstler und Aktivisten, ins ›wirkliche Leben‹ zurückzukehren, bringt uns der Lösung nicht näher, wie alternative Modelle neuer Medien auf die Ebene von Massen- oder Pop-Kultur gebracht werden können. Natürlich, Demonstrationen stärken die Solidaritätsgefühle und entheben uns der täglichen Einsamkeit unserer eingleisigen Medien-Schnittstellen. Trotzdem müssen wir uns auch fragen, »was kommt nach der Demo (und dem Design)?« – sowohl der Neuen Medien wie der Bewegungen. In seinem Text »Demoradical vs. Demoliberal Regulation« schlägt Alex Foti vor, die Post-Bewegungs-Aktivitäten als die ›Rosa Verschwörung‹ zu bezeichnen. 14 w$IE%MANZIPATIONDER&RAUUNDDAS%NDEDERPATRIARCHALEN&AMILIEMITIHRENUNGLEI CHEN'ESCHLECHTERROLLEN FEMINISTISCHE"EWEGUNGEN SCHWULE-OBILISIERUNGEN QUEERE 0OLITIK VOLLE"àRGERRECHTEFàR,ESBEN 3CHWULE "I UND4RANSSEXUELLE DIE&ESTSTELLUNG DER 2EPRODUKTIONSFREIHEIT GEGEN DIE PËPSTLICHE 2EAKTION UND DER GLEICHBERECHTIGTE :UGANGVON&RAUENZURPOLITISCHEN2EPRËSENTATIONSTEHENFàREINEEPOCHALE%RSCHàTTE RUNGDERWESTLICHEN0OLITIK)M"EWEGUNGS +ONTEXTWARDERROSA+ARNEVALDER2EBELLION DIEWICHTIGSTEINNOVATIVE&ORMDESPOLITISCHEN!USDRUCKS DIEAUSDEM0RAG 'ÚTEBORG 'ENUA (EXENKESSELHERVORGEGANGENIST NEBEN ABERGETRENNTVONDENWEI”EN/VERALLS UNDDENSCHWARZEN"LOCKS DENZWEIANDERENEINDEUTIGEN!USDRUCKSFORMENDESJUNGEN 0ROTESTSINDER!NTI 'LOBALISIERUNGS "EWEGUNG2OSA+RAGENSINDDIE'EGENWARTDER SOZIALEN!RBEITUNDROSA"EWEGUNGENDIE:UKUNFTDESSOZIALEN&ORTSCHRITTSi

Die rosa Koalition, sagt Foti,

14. !LEX&OTI w$EMORADICALVS$EMOLIBERAL2EGULATIONi NETTIME *ULI  WWWNETTIMEORG,ISTS !RCHIVESNETTIME L MSGHTML$ER-IT %RlNDERDES 4AKTISCHE -EDIEN +ONZEPTS$AVID'ARCIAKOMMTINSEINEMAUFDER-UTE7EBSEITEAM *ANUARVERÚFFENTLICHTEN%SSAYw,EARNINGTHE2IGHT,ESSONSi INDEMERDEN &EMINISMUS ALS wWESENTLICHES %RBE DER +ULTURPOLITIKi DARSTELLT ZU EINEM ËHNLICHEN %RGEBNISWWWMETAMUTEORGEN,EARNING THE 2IGHT ,ESSONS

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Alex Foti gibt aber auch zu, dass wir nicht in den rauschhaften Sechzigern sind. Die Sechziger-Bewegungen schufen ein breites Umweltbewusstsein, wo werden wohl die heutigen Bewegungen nach ihrer Jugendphase hinführen? Die negative, reine und modernistische Ebene des Konzeptuellen scheiterte schließlich beim Demo-Design, wie es Peter Lunenfeld in seinem Buch Snap to Grid beschrieb. Die Frage wird sein: wie über das einmalige Ereignis hinausgehen und Prototypen fabrizieren? Was kommt nach der Belagerung eines weiteren Gipfels der Vorstandsvorsitzenden und ihrer Politiker? Wie lange kann eine Bewegung wachsen und virtuell bleiben? Oder – in IT-Begriffen – was kommt nach Demo-Design, nach zahllosen Powerpoint-Präsentationen, Breitband-Tests und Flash-Animationen? Wird Linux jemals aus dem Geek-Ghetto ausbrechen? Der Wohlfühlfaktor der offenen, immer weiter wachsenden Masse, wie ihn der Erzähler und Theoretiker der Massen und der Macht, Elias Canetti, erfasst hat, wird sich verbrauchen, und die Demo-Müdigkeit wird kommen. So könnten wir fragen: Hat eure Utopia-Version ein Verfallsdatum? Beantworten lässt sich das aber nicht in den Kategorien der natürlichen Zyklen von Begeisterung – Erfahrung – Konflikt – Frustration. Kenneth Wirbin erörtert einen anderen Aspekt des Netzaktivismus, nämlich die Gefahr, Weiterleitung von Informationen mit Aktivismus zu verwechseln. w$IE,EUTEVERSTECKENSICHHINTER6ERWEISENUND4HEORIENUNDTENDIERENINUNSERER IMMERWEITEREXPANDIERENDENOFFENEN3OZIALORDNUNGAUCHDAZU SICHHINTERDEM7EI TERLEITENVON)NFORMATIONENZUVERSTECKENKEINEEIGENE0OSITIONINDEREINENODER ANDEREN2ICHTUNGMEHR SONDERNEINFACHNURNOCHWEITERLEITEN)NEINER7ELT DIE)N FORMATIONSWEITERLEITUNGDERPERSÚNLICHEN0OSITIONVORZIEHT WIRDDASKRITISCHE%NGA GEMENTNACHLASSENUNDIRGENDWANNGANZVERSCHWINDEN NICHTNURAUSDEN,ISTSERVERN ODER"LOGS SONDERNàBERALL$IESSINDDIE7IDERSPRàCHEUND$OPPELBÚDIGKEITEN WENN MANINEINER'ESELLSCHAFTSORDNUNGLEBT DIEDAS,EBENGERADEDURCHIHRESPEZIlSCHE /FFENHEITKONTROLLIERTi

Statt nun noch ein weiteres Konzept zu entwickeln, ist es eher an der Zeit, sich die Frage zu stellen, wie Software, Schnittstellen und alternative Standards in der Gesellschaft installiert werden können. Ideen können die Gestalt eines Virus annehmen, aber die Gesellschaft kann mit noch wirkungsvolleren Immunisierungsmaßnahmen zurückschlagen: Inbesitznahme/Vereinnahmung, Unterdrückung und allgemeine Vernachlässigung. Wir stehen vor einer Ska15. WWWNETWORKCULTURESORGWEBLOGARCHIVESFROM?LISTS?TO?BHTML 3IEHEAUCHMEINE$ISKUSSIONMIT+ENNETH7IRBIN w#RITIQUEOF2ANKINGAND,ISTINGi .ETTIME !UGUST

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lierbarkeits-Krise. Die meisten Bewegungen und Initiativen befinden sich in einer Falle. Die Strategie, ›kleiner‹ zu werden (wie in Deleuzes und Guattaris Konzept einer ›kleinen Literatur‹) ist keine aktive Option mehr, sondern nunmehr Standard. Man hat sich ganz auf kleine Gruppen eingerichtet – was jedoch unterstützt werden muss, ist die Möglichkeit, größer zu werden und temporäre Koalitionen zu bilden, die politische Macht beanspruchen können. Im Moment überschreiten das Design eines erfolgreichen kulturellen Virus oder tausende Besucher auf dem Weblog nicht die Dimension eines kurzlebigen Spektakels. Die Herausforderung liegt darin, die Medien zu benutzen und gleichzeitig über sie hinauszugehen. ›Culture Jammers‹ sind keine Gesetzlosen mehr, aber sollten doch als bewährte Rebellen-Experten in Guerilla-Kommunikation betrachtet werden.16 Die heutigen Bewegungen sind in Gefahr, in einem selbstzufriedenen Protestmodus steckenzubleiben. Da der Zugang zum politischen Prozess praktisch blockiert ist, scheint die einzige Option in der Vermittlung zu liegen. Mehr und mehr Markenwert im Sinne globaler Aufmerksamkeit zu bekommen, kann allerdings auch zur Überbewertung führen, genau wie bei Aktien: Sie können sich auszahlen oder am Ende als wertlos erweisen. Die Überheblichkeit des ›Wir haben es immer schon gesagt‹ spornt die Moral der minoritären Multitudes an, delegiert legitime Kämpfe aber an die Ebenen von Wahrheits- und VersöhnungsKommissionen (oft auf parlamentarischer Ebene), nachdem der Schaden längst eingetreten ist. Statt für eine Versöhnung von Realem und Virtuellem zu werben, würde ich eher für eine konsequente Synthese der Technologie sozialer Bewegungen plädieren. Im Gegensatz zur alten ›Die Zukunft ist jetzt‹-Haltung des Cyberpunk könnte eine radikale Neubewertung der Techno-Revolutionen der letzten zehn bis fünfzehn Jahre mehr einbringen. Die Dotcoms investierten ihr gesamtes Risikokapital in Werbung (und dies in den alten Medien). Ihr Glaube, dass mediengenerierte Aufmerksamkeit automatisch User anziehen und sie in Kunden verwandeln würde, erwies sich als unbegründet. Dies ist immer noch so. Soziale Netzwerke wie Flickr, Orkut und MySpace wuchsen nicht wegen eines gigantischen Fernseh-Werbebudgets. Alte und neue Medien neu zu mischen, klingt gut, ist aber nicht zwangsläufig der richtige Weg, wenn man Bewegungen ins Leben rufen will. Die Information formt uns. Aber ein neues Bewusstsein mündet immer weniger in messbares Handeln. Die Aktivisten beginnen gerade erst, die Bedeutung dieses Paradigmas zu verstehen. Was wäre, wenn die Information nur in ihrer eigenen Parallelwelt zirkulieren würde? Was soll man tun, wenn karnevaleske Demonstrationen nicht über die Ebene des Spektakels hinauskommen und der transnationale Demonstrant des GipfelHoppings müde wird? Der Hype der Netzwerke offenbart eine konzeptuelle Krise der Zusammenarbeit und Kooperation. Der irritierende Aspekt des Networkings liegt dabei in dem Umstand, dass große Machtformationen sich den Netzwerken offensicht16. 3IEHE *OSEPH (EATH  !NDREW 0OTTER 5IF 3FCFM 4FMM  8IZ $VMUVSF $BOµU #F +BNNFE 4ORONTO(ARPER#OLLINS 

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lich widersetzen. Es gibt eine wachsende Unklarheit darüber, ob Blogs und soziale Netzwerke nun Mainstream sind oder eher ein abseitiges Hobby, jenseits der realen Geldbewegungen. Das gleiche gilt für den Internet-basierten Aktivismus, bei dem auch nicht mehr klar ist, ob er für die heutigen Kämpfe wesentlich oder eher marginal ist. Habermas’ Beschreibung des Internets als einer informellen öffentlichen Sphäre, die sich der höheren Autorität der formellen Medien wie Verlagen, Zeitschriften oder Magazinen unterzuordnen habe, ist im Endeffekt ein moralisches Urteil darüber, wie die Welt funktionieren soll. Beide Haltungen haben ihre Gültigkeit. Das Internet kann zweitrangig sein und gleichzeitig seine Macht entfalten. Networking ist nichts Spektakuläres. Aber genau deshalb erkennen führende Intellektuelle und Theoretiker immer noch nicht die gegenwärtigen Machtveränderungen. Sie sitzen immer noch vor dem Fernseher und schauen Nachrichten, vielleicht haben sie irgendwann auch mal einen DVD-Player gekauft. Firmen und Institutionen sind immer noch in der Öffnungsphase. Die Einführung der Computervernetzung in Organisationen während der letzten Jahrzehnte hat zwar die Arbeitsflüsse verändert, aber immer noch nicht die Ebene der Entscheidungsprozesse erreicht. In dieser Zeit des Übergangs und der Konsolidierung erhalten wir auf die Frage, ob die Neuen Medien Teil der Mainstream-Popkultur sind, nur unklare Antworten, was die taktischen Medien – ähnlich wie die Neue-Medien-Kunst – in eine komplizierte, stagnierende Position bringt. Während man leicht feststellen kann, dass Netzwerke zum vorherrschenden Modus der Macht geworden sind, ist dies bei Macht im engeren Sinne noch nicht der Fall. Aus diesem Grund kann der Ruf nach Offenheit, Transparenz und Demokratie, auf Mikro- wie auf Makroebene, weiterhin fortschrittliche Impulse beinhalten und als Gegenpart zu gängigen Verschwörungstheorien fungieren, die geschlossene Eliten beklagen, im Bewusstsein, dass die neue Grenze der Machtbildung in der Offenheit liegt. Die klassischen Dichothomien von öffentlich/privat und global/lokal sind nutzlos und unzeitgemäß geworden. An die Stelle dieser Dualitäten ist eine Flexibilität im Umgang mit Singularitäten und fluiden Differenzen getreten: Vernetzte Umgebungen zielen nicht darauf, die Macht herauszufordern, sondern fungieren eher als Träger von virtuellem Selbstmanagement und Selbstkontrolle, bis zum Augenblick des Crashs. Sie sind grundsätzlich instabil, ihre Natur ist temporär, wie die von Ereignissen. Netzwerke sind dichte soziale Strukturen am Rande des Zusammenbruchs, und es ist nicht anzunehmen, dass es nachhaltige Modelle gibt, um sie zu fixieren. Vielleicht sollte man Networking eher als Synkope zur Macht verstehen, als temporären Verlust von Bewusstsein und Haltung, und nicht als Allheilmittel gegen Korruption, Verdinglichung, Feindseligkeit und die allgemeine Stumpf heit traditioneller Hierarchien. Das Ergebnis des Networkings ist oft ein zügelloser Wille zur Machtlosigkeit, der sich unter dem Vorwand von Partizipation, Fluidität, Weltflucht und Über-Engagement der Idee des kollektiven Fortschritts entzieht. Viele Aktivisten drohen in der Unmasse von E-Mails, Weblogs und Chats zu ertrinken. Das subjektive Gefühl, gegen einen Tsunami von Rauschen und ungeregelter Spannung anzuschwimmen, ist nicht mehr mit mangelnder Medien-Beherrschung zu erklären. Aktivisten kümmern sich nicht mehr um die

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neuesten Technologie-Trends bzw. nutzen sie einfach, ohne sich mit ihren Potenzialen oder der an sie geknüpften Politik näher zu beschäftigen. Software und Interface-Lösungen können hilfreich sein, den Usern oft aber nur vorübergehend dabei helfen, den komplexen Informationsfluss zu bändigen. Dies führt oft zu einem Aussetzen kollektiver Kommunikation auf halbem Wege und lässt die Online-Teilnehmer mit dem unbefriedigenden Gefühl zurück, dass ihr Austausch steckengeblieben, abgebrochen und irgendwie nicht zu einem Abschluss gekommen ist. Nach einer aufregenden Anfangsphase der Einführungen und Debatten müssen sich die Netzwerke dem Test stellen: Entweder entwickeln sie sich zu einem Körper, der handlungsfähig ist, oder sie verharren auf der Horizontalebene des Informationsaustauschs, mit der gelegentlichen Antwort eines Einzelnen, der zu widersprechen wagt. In der Zwischenzeit setzen die Ereignisse der Straße ein – die Anti-Irakkrieg-Demonstrationen, die Aufstände in den Pariser Vororten im November 2005 und die auch in Paris aufgeflammten Studentenproteste Anfang 2006 – und beweisen zwar, dass Netzwerk-Technologien Proteste unterstützen, nicht aber, dass sie sie auch entzünden können. Gleichzeitig erleben wir auf vielen Gebieten einen Rückfall in romantische und überholte Formen der Repräsentation, Hierarchien und Führerschaft. Aufgrund der konzeptuellen Barriere, die Online-Gemeinschaften nur schwer überschreiten können, und des Unvermögens, mit der eigenen Demokratie zurechtzukommen (und schon gar nicht mit derjenigen, die die Gesellschaft regiert), besetzen klassische, informelle Formen der Repräsentation die Lücke. Dies ist Teil eines größeren Prozesses der Normalisierung, in dem Netzwerke in bereits existierende Management-Stile und institutionelle Rituale integriert werden. Aber die Entwicklungen der Netzwerk-Technologie sind nicht linear und auch nicht irreversibel, wie es in der Techno-Naivität einiger NGOs erscheinen mag. Es ist oft schwer, zuzugeben, dass der Raum der Macht (Agenden bestimmen, Entscheidungen fällen) recht unabhängig von der Techno-Sphäre in direkten Face-to-Face-Meetings lokalisiert ist. Stattdessen hängen alle weiter der Vorstellung nach, dezentrale Netzwerke könnten über die Zeit irgendwie Machtstrukturen auflösen. Allerdings erzeugen Netzwerk-Umgebungen inzwischen auch selbst spezifische Dispositive, die neue, aus einer Vielzahl von Elementen zusammengesetzte Formen der Macht verbinden. Eine Untersuchung dieser neuen Elemente – der Äußerungen, Normen, Standards, Praktiken und Institutionen, als Ensemble, das die Übertragungen von Macht zu Wissen und von Wissen zu Macht organisiert – geht weit über die gängige Sicht auf die Informationsgesellschaft hinaus. Sie überschreitet auch die Versuche, Informationen zu finden und durch Wissen zu ersetzen, ebenso wie alle Versuche, einen Gegenstand, geschweige denn ein Ziel der Vernetzung zu lokalisieren und identifizieren.

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!XIOMEDERFREIEN+OOPERATION  /NLINE :USAMMENARBEIT AUFDEM0RàFSTAND Eine Schlüsselfrage der kritischen Internetkultur ist die Kunst der Zusammenarbeit.1 Das Internet wird nicht bloß für Datenübertragung zwischen Geräten (die technische Lesart) oder zügellose Eigenwerbung (die ökonomische Version) genutzt. Es gibt ein Leben jenseits des exhibitionistischen Weblogs. Leute haben miteinander zu tun, arbeiten an Aufgaben zusammen und tauschen Meinungen und Material aus. Sie helfen sich auch in technischen Angelegenheiten. Was das Internet und seine Protokolle ausmacht, ist nicht allein sein Öffentlichkeitspotential, sondern auch die tiefer liegende soziale Architektur dieses sich entwickelnden Mediums. Es ist mehr als ein Werkzeug – es ist eine soziale Umwelt. Auch wenn dieses Element schon seit den achtziger Jahren betont worden ist, steht ein kritisches Verständnis des sozialen Aspekts erst seit

1. )NDIESEM+APITELWIRDKEINESTRENGE5NTERSCHEIDUNGZWISCHENDEMGEBRËUCH

LICHEN"EGRIFF;VTBNNFOBSCFJUUNDDENBEIDENSPEZIlSCHERENDER,PMMBCPSBUJPOUNDDER ,PPQFSBUJPO GETROFFEN )M %NGLISCHEN STEHEN NUR DIE DEN LETZTEREN ENTSPRECHENDEN "EGRIFFE$PMMBCPSBUJPOUND$PPQFSBUJPOMITIHRENUNTERSCHIEDLICHEN+ONNOTATIONENZUR 6ERFàGUNG :WISCHEN IHNEN DIFFERENZIERT Z" AUCH &LORIAN 3CHNEIDER IN SEINEM 4EXT k#OLLABORATION 4HE $ARK 3IDE OF THE -ULTITUDEj UND ERKLËRT DASS wIM 'EGENSATZ ZU +OOPERATION +OLLABORATION EHER VON KOMPLEXEN 2EALITËTEN ANGETRIEBEN WIRD ALS VON ROMANTISCHEN "EGRIFFEN EINES GEMEINSAMEN "EWEGGRUNDES ODER EINER 'EMEINSCHAFT LICHKEIT%SISTEINAMBIVALENTER0ROZESS DERDURCHEIN3ETVONVERMEINTLICHPARADOXEN "EZIEHUNGEN ZWISCHEN +OPRODUZENTEN DIE EINANDER BEEINmUSSEN KONSTITUIERT WIRD ;x=+OLLABORATIONALSEINEVERRËTERISCHE+OOPERATIONMITDEM&EINDSTELLTEINEN'E GENBEGRIFFZUR6ERFàGUNGFàRDAS WASSEITDEN!CHTZIGERNDIE-ANAGEMENTTHEORIEALS 4EAMWORKPROPAGIERTi&LORIAN3CHNEIDERDElNIERT+OLLABORATIONALSwSCHWARZE,ÚCHER INNERHALB VON 7ISSENSREGIMEN +OLLABORATION PRODUZIERT .ICHTIGKEIT /PULENZ ODER SCHLECHTES"ENEHMEN%SGESCHIEHTNICHTAUSSENTIMENTALEN'RàNDEN 7OHLTËTIGKEIT NOCHUMDER%FlZIENZWILLEN SONDERNAUSREINEM%IGENINTERESSEiHTTPCONTRE CON FERENCENETDPQTAXONOMYTERM&RANZÚSISCHEÄBERSETZ $IEENGLISCHE&ASSUNG ISTVERÚFFENTLICHTIM3ARAI3FBEFS .EW$ELHI4URBULENCE 

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kurzem ganz oben auf der Agenda der Macher und Beweger. Soziale Software, soziale Netzwerke und soziale Medien sind alles Schlagworte, die auf die Einsicht verweisen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Das Soziale ist nicht das neueste Marketingkonzept, sondern geht an den Kern des Mediums und seine inhärente Architektur.2 Um diese Fragen anzugehen, haben der New Yorker Künstler Trebor Scholz und ich eine Konferenz über freie Kooperation organisiert, die auf dem Campus der State University of New York am 23. und 24. April 2004 stattfand.3 Ich hatte einen umfassenden Austausch mit Scholz über dieses Thema und sehe ihn als Koautor dieses Kapitels an. Anfang 2003, während wir an dem gemeinsamen Blog Discordia arbeiteten, haben Scholz und ich beschlossen, die Kunst der (Online-)Zusammenarbeit aus der Medienkunst- und Aktivistenperspektive eingehender zu untersuchen. Unser Ausgangspunkt war jedoch der technologische Wandel. Von Handys, E-Mail, Multiplayer-Online-Games, freier Software und Open-Source-Produktionen bis zu sozialen Netzwerken, Weblogs und Wikis – unser alltägliches Leben ist zunehmend in Technologie verstrickt, bei der Zusammenarbeit notwendig ist und nicht nur eine freie Option für die Gelangweilten. Dieses Ereignis, das eher einer wilden Ansammlung von Workshops ähnelte als einer nüchternen Folge von faden Theoriepräsentationen, diskutierte Themen wie die Einebnung des Elfenbeinturms, kollektives Schreiben, freie Inhalte, Ausdrucksformen für Frauen durch Pixel, soziale Netzwerkarchitekturen, die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft, Radio-Topographien, »wer sagt, dass Künstler nicht organisieren können?« und selbstorganisierte Universitäten. Brian Holmes gab einen präzisen Bericht über das kreative Chaos: w&REIE+OOPERATIONWARKEINE+ONFERENZ SONDERNEINEXPERIMENTELLER%VENTnWORUNTER ICHVERSTEHEWITZIG IMPROVISIEREND FASZINIEREND VOLLER,EUTEMITGUTEN)DEEN IM MEREINE#HANCEANBIETEND DIEALLTËGLICHEN!USDRUCKSSTILEUND FORMATEZUVERËNDERN )CH PRODUZIERTE EINE 2ADIOSENDUNG ULTRAKURZE 2EICHWEITE ABER MAN TUT ZUMINDEST SO ALS OB MAN kAUF 3ENDUNGj SEI EIN 6IDEOINTERVIEW EINE lNGIERTE 46 4ALKSHOW MITEINEM3IMULTANAUFTRITT)CHSCHAUTE-ONSTER &ILMMATERIALUNDHABEMICHMITDEN 2. 2UDY(OEBOERVONDER"ERATUNGSGESELLSCHAFT#ROSSING3IGNALSHATMIREINMAL ERKLËRT WARUM %UROPËER UNGERN IN EINEM KOMMERZIELLEN +ONTEXT àBER kDAS 3OZIALEj SPRECHEN 7ËHREND DER 53 AMERIKANISCHE "USINESS $ISKURS KEINERLEI 0ROBLEME HABE +ONZEPTEWIEDASDERSOZIALEN.ETZWERKEAUFZUGREIFENUNDDERENTECHNISCHE &ËHIG KEITHERAUSZUSTELLEN DIE6ERBINDUNGDER,EUTEUNTEREINANDERZUVEREINFACHEN WàRDEN %UROPËERkSOZIALjUNBEWUSST MIT3CHWËCHEUNDDEM.IEDERGANGDERGESCHEITERTEN SOZIALEN 7OHLFAHRTSSTAATEN ASSOZIIEREN $AS IST EINE BEMERKENSWERTE 7ENDUNG DA MANERWARTENWàRDE DASS53 -ANAGEMENTGURUSSICHNICHTAUFk3OZIALISMUSjBEZÚGEN IM'EGENSATZZUDEN%UROPËERN ZUMINDESTDENJENIGEN DIEDASk2HEINLAND -ODELLjUND SEINESOZIALEN%RRUNGENSCHAFTENNACHDEM))7ELTKRIEGVERTEIDIGEN 3. 3IEHEDIE+ONFERENZ 7EBSITEWWWFREECOOPERATIONORGMITDEM!RCHIVDER-AI LINGLISTEUNDDEM0ROGRAMM!UCHEIN0$&DERFREIEN:EITUNG DIEZUR6ERANSTALTUNG INEINER!UmAGEVON%XEMPLARENPUBLIZIERTWURDE KANNVONDIESER3EITEHER UNTERGELADENWERDEN

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Der Buffalo-Event brachte eine bunte Gruppe von rund 100 Künstlern und Aktivisten zusammen, die sich gerne in vage Territorien begeben. Wie können wir zu Unabhängigkeit gelangen und im Kontext der vernetzten Zusammenarbeit unsere Freiheit erweitern? Wie können wir kollektiv eine gemeinsame Ressource wie etwa ein Netzwerk organisieren und besitzen? Wir haben zu unterscheiden zwischen der Notwendigkeit, in Gruppen zu arbeiten – um z.B. große und komplexe Kunstwerke, Konferenzen, Festivals, Proteste oder Publikationen zu produzieren – und dem Bedürfnis, die Isolation des Alleinarbeitens zu überwinden. In beiden Fällen muss man die abstrakte Wirkung in Beziehung setzen zu den Freuden und Leiden der Arbeit mit und für andere. Die Filmindustrie etwa hat eine lange Geschichte der Geburt und der Kämpfe um die Credits. Wenn ich das Wort ›Kollaboration‹ höre, denke ich oft an die anonymen Maler der Frührenaissance und wie Individuen aus diesem Ateliersystem hervortraten. Heutzutage würde man sagen, es sei eine Mischung zwischen dem Wissen über Gruppendynamik und den legalen Vereinbarungen über kollektives Eigentum. Gruppenausstellungen sind im Kommen. Die Leute haben eine Neugier für die internen sozialen Dynamiken innerhalb von Kollektiven entwickelt. Zusammenarbeit provoziert diese Art von Voyeurismus, weil Leute Schwierigkeiten voraussetzen – was mich immer wieder überrascht. Seit mehr als 15 Jahren publizieren einige meiner Freunde und ich Material unter dem Namen Agentur Bilwet (oder Adilkno auf Englisch). Ein wichtiger Begriff in diesem Kontext war der ›Third Mind‹, eine Anspielung auf die Zusammenarbeit zwischen Brion Gysin und William S. Burroughs5, die impliziert, dass, wenn zwei Geister etwas erschaffen, das Resultat nicht die Summe der beiden ist, sondern etwas völlig anderes. Im Fall von Bilwet war es ein Leichtes, einen singulären Dritten Geist ins Leben zu rufen. Der Kunsttheoretiker Brion Gysin aus Melbourne nannte sein Buch über Zusammenarbeit in der zeitgenössischen Kunst The Third Hand und gebraucht auch den Ausdruck »Third Artist«. Allen Ginsberg sah das Zusammenarbeiten als eine »Reifung von gutem Karma« an. Was mir an 4. "RIAN (OLMES w&REE #OOPERATION AND !FTERi ERWEITERTE 4EXTFASSUNG UNVER ÚFFENTLICHT /KTOBERDIEERSTE6ERSIONISTAUF.ETTIMEAM-AIGEPOSTET WORDEN 5. 5IF 5IJSE .JOE IST DER 4ITEL EINER GEMEINSAMEN 6ERÚFFENTLICHUNG VON 'YSIN UND"URROUGHS PUBLIZIERTBEI6IKING0RESS*ON#ATESw4HE4HIRD-INDISTEINE :USAMMENSTELLUNG VON &RAGMENTEN 4EXTEN UND %XPERIMENTEN AN DENEN 'YSIN UND "URROUGHSWËHRENDVERSCHIEDENER0HASENIHRER&REUNDSCHAFTARBEITETEN%SISTWICH TIG SOWOHL'YSINALSAUCH"URROUGHSZUERWËHNEN DENN5IF5IJSE.JOEWAREHEREINE 3AMMLUNGKOLLABORATIVER"EMàHUNGENALSEININDIVIDUELLES0ROJEKTàBER:USAMMENAR BEITi%MPYRE &EBRUAR

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dem Third-Mind-Ansatz gefällt, ist der transformative Aspekt dieser Begriffe des ›Dritten‹, die etwas von einer völlig anderen Ordnung schaffen, ganz anders als (gemeinsame) Drogenerfahrungen.6 Man kann den problematischen Anteil solcher vagen und verträumten Ausdrücke nur erraten, aber zumindest erschließen sie Räume für die Imagination und zeigen im Detail, was passiert, wenn man leidenschaftlich etwas Gemeinsames erschafft. Aus meiner Bilwet-Erfahrung erwuchs eine enge Zusammenarbeit mit Pit Schulz. Mitte der Neunziger, auf dem Höhepunkt der Netz-Kritik, haben wir das Nettime-Projekt aufgebaut. Viele weitere Kooperationen folgten, und eine Reihe von ihnen sind in dieses Buch eingegangen. Heutzutage sind meine vielfachen Autorschaften meist virtuell. Meiner Ansicht nach sind eine Menge der Offline-Fragestellungen, ›in real life‹ (IRL) und online, dieselben. Ich empfinde das Arbeiten ›IRL‹ als einen Luxus und großen Spaß. Es ist einzigartig, wenn man mit einer Gruppe in der eigenen Stadt zusammenarbeiten und diese gemeinsame Aktivität auf einer langfristigen Basis fortsetzen kann. In den Monaten, die der Versammlung 2004 vorausgingen, fand eine interessante Online-Debatte im Umfeld des Events auf einer eigens auf die Beine gestellten E-Mail-Liste statt. Die dabei entstandenen Inhalte wurden in einer 32seitigen freien Zeitung veröffentlicht, die in einer Auflage von 10.000 Exemplaren gedruckt wurde. In seiner Einleitung für die Zeitung listete Trebor Scholz eine Reihe von Künstlerkollaborationen auf, u.a. bureau d’études, dorkbot, Luther Blissett, RTMark und Group Material.7 Wir könnten noch Mongrel, SubReal, Guerilla Girls, General Idea und natürlich Art & Language hinzuzählen. Gruppenarbeit macht nicht nur Spaß und stellt individuelle Autorschaft in Frage, sie wird auch in zunehmendem Maße durch Technologieanbieter erleichtert und gefördert. Da gibt es fast schon ein Element von Unausweichlichkeit hinsichtlich sozialer Medien, in denen Produktion, Rezeption und Remixing zu einem Strom kollektiver Erfahrungen werden. Dies macht es interessant, zu sehen, wie die anarchistische Tradition der gegenseitigen Hilfe – von Proudhon zu Kropotkin bis zu heutigen Kollektiven – auf diese Entwicklung innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise von Kultur reagieren wird. Vor Buffalo fanden zwei ähnlich ausgerichtete Konferenzen in Banff und in London statt. Zu den Teilnehmern von »The Diffusion: Collaborative Practice in Contemporary Art« am 25. Oktober 2003 in der Tate Modern in London gehörten u.a. bureau d’études, Eve Chiapello, Cornford & Cross, François Deck, Jochen Gerz, Charles Green, John Roberts und Stephen Wright. In seinem Londoner Vortrag bemerkte Brian Holmes, dass die Strategie, ein Kollektiv zu bilden, um ins Museumssystem zu gelangen, absurd ist.

6. %INESVONVIELEN"EISPIELEN DIEAUFGEZËHLTWERDENKÚNNTEN ISTDER$OKUMEN TARlLM VON 7ILLEM 4YLER 3MITH àBER DIE +OLLABORATION ZWISCHEN DEN 3CHRIFTSTELLERN UND-USIKERN-ICHAEL-C#LUREUND2AY-ANZAREKHTTPMCCLURE MANZAREKCOMTHIRD MINDHTML 7. 3IEHE&U”NOTE

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w$IE 7ERTE DES TRANSNATIONALEN 3TAATSKAPITALISMUS HABEN DIE +UNSTWELT DURCHDRUN GEN NICHTNURDURCHDIE7ARENFORM SONDERNAUCHUNDSOGARINERSTER,INIEDURCHDIE ÄBERNAHMEVON-ANAGEMENTTECHNIKENUND-ARKENSUBJEKTIVITËTENSEITENSDER+àNST LER)NDIESEM3INNHATDERZEITGENÚSSISCHE+APITALISMUSDIEKàNSTLERISCHE+RITIKDER SECHZIGER*AHREABSORBIERT UMSIEINDIEVERNETZTE$ISZIPLINDESk.EOMANAGEMENTSjZU VERWANDELN WIE%VE#HIAPELLOINIHRER!RBEITSAGT ODERINDEN/PPORTUNISMUSDESSEN WASICHkDIEmEXIBLE0ERSÚNLICHKEITjNENNEi

Das Soziale als solches zu feiern, kann leicht in Moralismus umschlagen. Gemeinden, Gruppen, Netzwerke und andere Formen von Zusammenschlüssen haben keine wesentlichen subversiven Qualitäten, genausowenig wie sie die Verherrlichung des einsamen Power-Users haben würde. Neben anderen luden Scholz und ich den in Bremen lebenden Medienkritiker Christoph Spehr ein, der den Begriff ›freie Kooperation‹ in seinem überlangen Essay Gleicher als andere eingeführt hat.9 2003 hatte ich ein Online-Interview mit Spehr geführt und seine kritischen Studien über Zusammenarbeit entdeckt.10 Zu dieser Zeit waren die meisten von Spehrs Schriften nicht ins Englische übersetzt, und Buffalo war eine Gelegenheit, seine Ideen in den anglophonen Diskurs einzuführen. Spehr verwendet Anspielungen auf die ScienceFiction-Filme der Sechziger, um über zeitgenössische Kooperation nachzudenken und auf die Möglichkeit der Weigerung, Unabhängigkeit, Verhandlung und Wiederverhandlung mit Alien-Konzernen oder Staatsmonstern zu insistieren. Spehrs Schreiben ist eine kühne Mischung aus subversiv utopischer ScienceFiction und einer radikalen Sozialanalyse des zeitgenössischen globalen Kapitalismus. Spehr schreibt Theoriefiktion für das post-dekonstruktive Zeitalter, in dem die Frage »Was tun?« neue Räume der kollektiven Imagination und Aktion eröffnet. Was Spehr, Historiker und Politikwissenschaftler, einzigartig macht, ist sein freier, nichtakademischer Schreibstil. Als Theoretiker bringt er zeitgenössische Sozialwissenschaft und die praktischen Dinge des alltäglichen Lebens mit Strategien für autonome Bewegungen zusammen. Spehr hat die Fähigkeit, Begriffe mit neuen Bedeutungen aufzuladen. In seinem Theorieroman Die 8. "RIAN(OLMES w!RTISTIC!UTONOMYANDTHE#OMMUNICATION3OCIETYi .ETTIME /KTOBER 9. #HRISTOPH 3PEHR (G (MFJDIFS BMT BOEFSF "ERLIN $IETZ 6ERLAG  WWW ROSALUXDECMSlLEADMINRLS?UPLOADSPDFSTEXTEPDF  $ER %SSAY WAR GESCHRIEBEN ALS "EITRAG ZUM 7ETTBEWERB DER 2OSA ,UXEMBURG 3TIFTUNG "ERLIN  UM DIE "E ANTWORTUNG DER &RAGE w5NTER WELCHEN "EDINGUNGEN KÚNNEN SOZIALE 'LEICHHEIT UND POLITISCHE&REIHEITKOMPATIBELSEINi:USEINER6ERWUNDERUNGGEWANN#HRISTOPH3PEHR DEN0REIS&àR3PEHRFALLEN'LEICHHEITUND&REIHEITINDER)DEEDERFREIEN+OOPERATION ZUSAMMEN$ER%SSAYWURDEINS%NGLISCHEàBERSETZTUNDINDEN3ITZUNGSBERICHTENVON "UFFALOPUBLIZIERT4REBOR3CHOLZ'EERT,OVINK(G 5IF"SUPG0OMJOF$PMMBCP SBUJPO "ROOKLYN!UTONOMEDIA  10. .ETTIME  *UNI  w3CIENCE &ICTION FOR THE -ULTITUDESi WWWNETTIME ORG

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Aliens sind unter uns! (1999) macht er die Unterscheidung zwischen drei sozialen Kategorien: Aliens, Maquis und Zivilisten. Genau wie in einer SienceFiction-Erzählung haben alle drei ihre eigene Zivilisation. Es wäre zu einfach, Aliens als üble Kapitalisten zu beschreiben. Aliens sind nach Spehrs Ansicht vor allem freundliche Parasiten, Post-1945-Kreaturen, die an jeglicher Form von Mehrwert interessiert sind, den sie aus den Menschen herausziehen können. Aliens tun dies nicht auf die alte Weise, indem sie die Leute angreifen oder unterdrücken, sondern indem sie ihnen helfen. Macht ist nicht mehr persönlich, sondern abstrakt und kann nicht mehr auf Eigenschaften von Individuen reduziert werden. Alien-Macht ist frei, offen und vor allem auf der ständigen Suche nach kreativen, neuen Ideen. Typische Aliens wären Mittelsmänner, wie etwa Kulturunternehmer, sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatsbeamte, NGOs oder Parteimitglieder der Grünen, und sie alle leben von den Bewegungen, Veranstaltungen, Ideen und Ausdrucksformen anderer. Was alle Aliens gemeinsam haben, sind ihre guten Absichten. Die Hegemonie der Aliens ist politisch korrekt, multikulturell, feministisch, ökologisch und beinahe unschlagbar auf der diskursiven Ebene. In Spehrs Science-Fiction sind die Gegenspieler der Aliens die Maquis, das französische Wort für Gebüsch, das von der Resistance im Zweiten Weltkrieg verwendet wurde, um Gebiete zu beschreiben, die nicht von den Nazis besetzt waren. Maquis kann als Synonym für Multitude gelesen werden. Die Maquis experimentieren mit postökonomischen Modellen der freien Kooperation – ein Thema, das Spehr nach Beendigung seines politischen Romans eingehender untersuchte. Das Modell der freien Kooperation, das die Möglichkeiten einer Etablierung einer »GPL-Gesellschaft« diskutiert, die auf der »Gnu Public License« basiert, den Grundsätzen, unter denen gegenwärtig ein großer Teil der freien Software entwickelt wird, 11 brachte ihn in Kontakt mit der Freie-Software-Bewegung in Deutschland. Spehrs Schlüsselgedanke ist, dass jeder die Freiheit haben sollte, eine Zusammenarbeit jederzeit wieder aufzulösen. Es ist wichtig, eine Sprache zu definieren, in der wir offen über Unterschied und Macht innerhalb von Gruppen sprechen können oder, was das betrifft, auch in Online-Netzwerken. Spehr: w&REIE+OOPERATIONBERUHTDARAUF DASSDIEVORGEFUNDENEN2EGELNUNDDIEVORGEFUNDE NE6ERTEILUNGVON6ERFàGUNGUND"ESITZEINVERËNDERBARER&AKTSINDUNDIHNENKEINERLEI HÚHERES OBJEKTIVIERBARES2ECHTZUKOMMT&REIE+OOPERATIONBESTEHTDARIN DASSALLE "ETEILIGTENDIESER+OOPERATIONSIEAUFGEBEN IHRE+OOPERATIONSLEISTUNGEINSCHRËNKEN UNDUNTER"EDINGUNGENSTELLENKÚNNEN UMAUFDIE2EGELNDER+OOPERATIONINIHREM 3INNEEINZUWIRKEN UNDZWARZUEINEMVERGLEICHBARENUNDVERTRETBAREN0REIS UNDDASS SIEDIESINDIVIDUELLUNDKOLLEKTIVAUCHWIRKLICHTUN&REIE+OOPERATIONBEDARFEINER0O LITIK DIESIEIMMERWIEDERAUFS.EUEREALISIERT INDEMSIEDIE'RENZENDER&REIHEITUND DIE2EALITËTDER'LEICHHEITPRAKTISCHERPROBTUNDINDEMSIEDIEËU”ERENUNDINNEREN 6ORAUSSETZUNGENDESkVERGLEICHBARENUNDVERTRETBARENj0REISESDURCHSETZTi 11. 6GLDAS+APITELàBERDIEDEUTSCHE/EKONUX #OMMUNITYINMEINEM"UCH.Z 'JSTU3FDFTTJPO  12. #HRISTOPH3PEHR (MFJDIFSBMTBOEFSF 3

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Für Spehr ist es wichtig, individuelle und kollektive Erfahrungen zu theoretisieren, um zu erkennen, dass es eine Freiheit geben muss, die Zusammenarbeit abzulehnen. Es muss eine Exit-Strategie geben. Auf den ersten Blick mag dies als ein mysteriöses und etwas paradoxes Statement erscheinen. Warum sollte die Idee der Verweigerung als ein Apriori, als die entscheidende Grundlage aller Zusammenarbeit gefordert werden, wie Spehr es vorgeschlagen hat? Es klingt schon fast wie ein neues Dogma, eine neue Regel, noch ein weiteres Menschenrecht. Die Frage der freien Kooperation ist im Wesentlichen eine der Organisation und kommt infolge der Krise des (fordistischen) Fabrikmodells und seines politischen Spiegelbilds, der politischen Partei, auf. Das mag auf der Hand liegen. Der italienische Fokus auf den (Post-)Fordismus ist aber zu eng mit der Erfahrung des 20. Jahrhunderts verbunden. Es ist an uns, im 21. Jahrhundert diese Konzepte auf den neusten Stand zu bringen und packende Geschichten zu erzählen von verborgenen Machtstrukturen in sozialen Netzwerken, NGO-Bürokultur, Dotcom-Freizeitarbeit, Callcenter-Langeweile, dem Projektmanagement von Events und den Arbeitsbedingungen der freiberuflichen Arbeiterschaft. Spehrs freie Kooperation ist kein alternatives Konzept, das vom Himmel fiel, als ob freie Subjekte sich einfach zusammenscharen würden, um gemeinsam zu arbeiten. Kooperation ist die zentrale Grundlage aller gesellschaftlichen Arbeit. Es ist nur die Frage, wie wir das sichtbar machen. Spehr: w)NDIVIDUALISTISCHE,EBENSWEISENSINDMÚGLICH WEILDIE'ESELLSCHAFTSICHSOENTWI CKELTHAT DASSDAS,EBENNICHTMEHRPREKËRIST7IRBRAUCHENDIE'EWËHREINER'RUND SICHERHEITUND:UGANGZUMÚFFENTLICHEN7OHLSTAND$IEUNMITTELBARESOZIALE+ONTROLLE WIRDSCHWËCHER WEILDIE-ËRKTEUNSERLAUBEN +OOPERATIONENZUVERËNDERN DIE3TADT ZUWECHSELN EINE&IRMAZUVERLASSEN)M)NTERNETKANNMAN'EWALTIGESERREICHEN WEIL ESSCHONAUFGEBAUTISTUNDINSTANDGEHALTENWIRD%SISTDIESES3TADIUMDERkABSTRAKTEN +OOPERATIONj DAS)NDIVIDUALISIERUNGERMÚGLICHTnUNDNICHTNURFàREINIGEWENIGE%IN ZELPERSONEN SONDERNAUCHALS-ASSENPHËNOMEN NICHTNURINDERKULTURELLEN3PHËRE SONDERNAUCHALS0RODUKTIVKRAFTàBERHAUPT6ONDIESEM0UNKTANWIRKT+OOPERATION SO ALSOBSIEETWAS3PEZIELLES FREIWILLIG%INGEGANGENESSEI ALSOBWIR-ONADENWËREN DIEZUSAMMENKOMMEN UMGEMEINSAMZUARBEITEN7OHINGEGENWIRIN7AHRHEITDOCH NURAUFDIESEMONADENARTIGE7EISEHANDELNKÚNNEN WEILWIRINEINEHOCHENTWICKELTE ABSTRAKTE+OOPERATIONEINGEBETTETSINDUNDSOVIELE2ESSOURCENUND3TRUKTURENVER FàGBARHABENi

Auf den ersten Blick machen postmoderne Formen der Kooperation den Eindruck, anti-institutionell zu sein. Spehr: »Wir haben eine anti-institutionelle Haltung, aber darin liegt auch ein merklicher Geschmack von Neoliberalismus. Wir neigen dazu, die Institution als schwarz und Autonomie als weiß zu sehen. Doch so einfach ist es nicht.« Spehr ruft dazu auf, »die Komplizenschaft zwischen Neoliberalismus und Institutionen zu untersuchen und ihre Aura der ›Freiheit für alle‹ zu zerstören, indem man die wahre Geschichte und ihre Fak13. /NLINEAUSTAUSCH ZWISCHEN #HRISTOPH 3PEHR UND 'EERT ,OVINK !PRIL *UNI



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ten wiedererzählt. Zweitens müssen wir über neue Formen nachdenken, uns Institutionen und Märkte vorzustellen.« Es muss uns klar sein, dass eine neue Einstellung, die, dass wir in einer Gesellschaft leben, die die unsrige ist, ohne Institutionen nicht erreicht werden kann. »Soziale Macht besteht nicht nur in der Tatsache, dass es uns erlaubt ist, dies oder jenes zu tun, oder was auch immer tun zu können. Viel wichtiger ist, dass soziale Macht in der Tatsache besteht, dass wir andere daran hindern können, dies oder jenes zu tun, und dass wir andere dies oder jenes zu tun zwingen können. Das ist wirkliche Macht.« Spehr versucht nicht, eine neue politische Utopie zu formulieren. Aber er ist auch kein Pragmatiker. Er glaubt, dass durch Erfahrung geformte Ideen uns helfen können, zu verhandeln, so dass das Ergebnis sowohl für den Einzelnen wie auch für die ihn umgebenden Anderen von Vorteil sein wird. Spehr fasst sein Grundkonzept so zusammen: w!LLE2EGELNINDER+OOPERATIONKÚNNENVONALLENIN&RAGEGESTELLTWERDEN ES GIBT KEINEHEILIGEN2EGELN DIEDIE,EUTENICHTIN&RAGESTELLENODERZURàCKWEISEN AUS UND VERHANDELNKÚNNENnWASBEIDENMEISTEN+OOPERATIONENUND/RGANISATIONSFORMEN DIEWIRKENNEN NICHTDER&ALLIST$ANNKÚNNENDIE,EUTEDIESE2EGELNIN&RAGESTELLEN UNDVERËNDERN INDEMSIEDIESEPRIMËREELEMENTARE-ACHTDER!BLEHNUNGDER+OOPERA TIONEINSETZEN INDEMSIEIHRE+OOPERATIONEINSCHRËNKEN INDEMSIEZURàCKHALTEN WAS SIEFàRDIESE+OOPERATIONTUN INDEMSIE"EDINGUNGENSTELLEN UNTERDENENSIEBEREIT SIND ZU KOOPERIEREN ODER INDEM SIE DIE +OOPERATION VERLASSEN %S MUSS IHNEN DAS 2ECHTGARANTIERTSEIN DIESE-A”NAHMENEINZUSETZEN UMDIE2EGELNZUBEEINmUSSEN UNDDASSDIESJEDEMINDER+OOPERATIONMÚGLICHIST$ER0REISDES.ICHTKOOPERIERENS DER0REIS DENESKOSTET WENNMANSEINE+OOPERATIONEINSCHRËNKTODERWENNDIE+O OPERATIONSICHSPALTET SOLLTENICHTEXAKTGLEICH ABERDOCHFàRALLE4EILNEHMERDIESER +OOPERATIONËHNLICHUNDAUCHTRAGBARSEINi

Was so tief ›alteuropäisch‹ an Spehrs Ansatz ist, ist seine Leidenschaft für negatives Denken. Sein Vorschlag besteht in der Untersuchung der Gruppendynamik gescheiterter Kollaborationen. Lasst uns an sie zurückdenken und sie in unserem Gedächtnis rekonstruieren. Lasst uns die sozialen Abläufe rekonstruieren, anstatt wiederholt die Ideologie der Harmonie zu propagieren und uns nur auf die aufregenden Anfänge zu konzentrieren. Je mehr vernetzte Technologie wir benutzen, umso wichtiger wird es, die Psychoanalyse der Zusammenarbeit ganz oben auf den Lehrplan jeder Schule zu setzen. Der Wohlfühlfaktor des Erfolgs findet Anklang bei jedermann, und das ist der Grund, warum es so unpopulär ist, Fehler zu studieren. Warum wirkliche, existierende und ungelöste Konflikte unterdrücken? Wir wissen doch, dass sie irgendwann massiv ausbrechen werden, wenn wir sie nicht richtig in Angriff nehmen. Dies ist ein Aufruf zu mehr Forschung im Studium von Kooperationen. Je mehr soziale Online-Werkzeuge verfügbar und im weltweiten Maßstab genutzt werden, desto mehr Material können wir untersuchen und desto zwingender werden die Er14. #HRISTOPH 3PEHR 'SFF$PPQFSBUJPO 4RANSKRIPTION AUS EINEM 6IDEO VON /LIVER 2ESSLER WWWREPUBLICARTNETDISCAEASSPEHR?ENHTM

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gebnisse sein. Diese Arbeit sollte auf einer kritisch begrifflichen Ebene und mit zusätzlichen Fallstudien geleistet werden. Wir können ihre Einsichten in gemeinsame Untersuchungen über (Online-)Konfliktsituationen einbinden. Das mag eher profan klingen, doch man bedenke nur einmal, wie viele Künstler bei der Herstellung eines Werkes kollaborativ arbeiten. Fast alle. Wie sichtbar wird dieses Gemeinsame in dem Kunstwerk? Kaum. Und wie viel wissen wir über den Prozess des Zusammenarbeitens? Beinahe nichts. Aus Kanada kam ein Bericht von Tobias van Veen, gepostet auf der EmpyreMailingliste, wo im Februar 2004 eine monatelange Debatte über freie Kooperation stattfand.15 Nach van Veen kann man sich nicht einfach ausschalten. Es kommt darauf an, zu verhandeln. w$AMIT:USAMMENARBEITFUNKTIONIERT SCHEINTESMIR DASSDASEIGENE6ERHËLTNISDA ZUNURkFREIjIST INSOFERNMANEINE7AHLTRIFFT AUFEINE7EISEZUkKOOPERIERENj DIE VIELLEICHTNICHTGANZFREIIST!NEINEMBESTIMMTEN0UNKTSTELLTMANFEST DASSMAN EIGENTLICH GEHEN SOLLTE ABER WENN MAN WILL DASS ETWAS HERAUSKOMMT MACHT MAN BESSERGUTE-IENEZUMBÚSEN3PIEL;x=7IEGEHTMANMIT3TREITFRAGENWIE4RITTBRETT FAHRENUM WENN7EGGEHENHIE”E GLEICHDASGANZE0ROJEKTàBER"ORDZUWERFEN-IR GEFËLLTDIE)DEE SICHINEINENSICHEREN(AFENZUBEGEBEN UMEINSOLCHES'EBIETZU VERHANDELNESKOMMTMIRFASTWIEEINE!RT3EELENLANDSCHAFTVOR WENNDAS'LEICH GEWICHTSCHONDURCHEINESUBTILE-AHNUNGAN:AUNGËSTEUND3CHMAROTZER IHREN0ART BEIZUSTEUERN GEKIPPTWERDENKANNi

Vor dem Hintergrund seiner DJ-Erfahrung fragt er, wie kollektiv organisierte Ravekultur in die Idee der ›dritten Entität‹ passt. Der Event selbst sei die dritte Entität, sagt van Veen. Er gibt zu, dass die wirkungsvollsten Gruppen »diejenigen waren, die einen totalitären, kurzzeitigen Anführer einsetzten – dies hat zu den spektakulärsten Projekten geführt, aber auch zu den gravierendsten Konsequenzen für Freundschaften, die schwerer Belastung ausgesetzt wurden«. In welchem Verhältnis stehen die totalitären Mythen der Kunst zu vernetzten, kollaborativen Praktiken? Van Veen fragt genau dies und führt das Beispiel des DJs versus kollaborativer Laptop-Musik an. w$ER$*ISTTOTALITËRAUCHWENNEINE2àCKKOPPLUNGSSCHLEIFEZWISCHEN4ËNZERUND$* VERMITTELT LIEGENDIE'RENZENDIESER3CHLEIFEDOCHINDEM7UNSCHUNDDER&ËHIGKEIT DES$*S DIE2àCKKOPPLUNGAUFEINER%BENE DIESICHMITDEM5NBEWUSSTENUNDDEM!F FEKTIVENVERMISCHT ZULESENUNDEINZUSETZEN%SGIBTEINEN0ROZESSDES!USHANDELNS ABEROFTNURIM3INNEVONkFEEDINGTHEmOORjk&àTTERNDER4ANZmËCHEj MITDEM WAS SIEHÚRENWILL VERSUS6ERSUCHEN DIE-ENGEZUNEUEN3TILENZUkERZIEHENj$ANNGIBT ESGEMEINSAME JAZZARTIGE FREIIMPROVISIERENDE3ITUATIONEN WIEZ",APTOP 0LUG IN *AMSESSIONS DIEAUFANDEREN%BENENVON2àCKKOPPLUNGOPERIEREN3IESINDTOLLUND MACHEN3PA” AUCHWENNIHREEINZIGEN:UHÚREROFTDIE-USIKERSELBERSIND$AS0UBLI KUMISTIHNENWEGGELAUFEN WEILDAS2ESULTATHËUlGEINEHERCHAOTISCHESUNDUNOR CHESTRIERTES$URCHEINANDERIST-ITGENUG3TRUKTURKÚNNENDIE%RGEBNISSEJADURCHAUS 15. HTTPSMAILCOFAUNSWEDUAUPIPERMAILEMPYRE &EBRUARYTHREADHTML

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ANSPRECHENDSEINnABEROFTBESTEHTDAS&EEDBACKNURZWISCHENDEN-USIKERN UNDDAS 0UBLIKUMBLEIBTAU”ENVOR$IEMASSIVE.AROD .IKI *AMBEIM-54%+IN-ONTREAL Z" DARGEBOTENVONACHT4ECHNOHEADS DIEAUFIHREN,APTOPSABJAMMTEN WARAUFRE GENDUNDWUNDERBAR ABERLIE”ESAMFEINFàHLIGEN2EAGIERENUNDDER0RËZISIONEINES ERSTRANGIGEN4URNTABLISTENFEHLEN$IE&RAGEIST-àSSENWIRUNSERE/HRENUMSTIMMEN UMDAS#HAOSZUHÚREN ODERLIEGTESNURDARAN DASSNICHTJEDEREIN-USIKERIST UND NICHTJEDERSOFORTLOSSPIELENSOLLTEi

Je mehr die Menschen online arbeiten, desto wichtiger ist es zu verstehen, dass die technische Architektur der Werkzeuge, die wir benutzen, unsere sozialen Erfahrungen formt. Es wäre viel gewonnen, wenn es ein größeres Bewusstsein für die Grenzen der Neuen Medien gäbe. Aber wir sollten das Technische nicht abtrennen und es außerhalb der sozialen Interaktionen stellen. Es ist z.B. entscheidend, Genderaspekte einzubeziehen sowie die Beziehungen von rein männlichen, rein weiblichen und gemischten Arbeitskonstellationen zur Produktivkraft. Der deutsche Theoretiker Klaus Theweleit hat einige meiner Gedanken über Zusammenarbeit in dieser Hinsicht geprägt. In den frühen achtziger Jahren arbeitete er in der gleichen Fakultät wie Friedrich Kittler in Freiburg. Ihre Auseinandersetzung mit Gender, Medien und Zusammenarbeit hat auffallende Ähnlichkeiten, und ich bin sicher, dass sie dieses Thema damals viel diskutiert haben. Sowohl Theweleit als auch Kittler betonen die Wichtigkeit des (Deleuzianischen) produktiven Elements des Dreiecks Mann-Frau-Maschine. Das wesentliche Bild hier wäre der männliche Schriftsteller, der seine OrpheusGedichte seiner weiblichen Geliebten diktiert, die zufälligerweise eine schnelle und bemerkenswert akkurate Schreibkraft ist. Dies kann auch eine Mann-Medium-Mann- oder Frau-Medium-Frau-Verbindung sein, aber offensichtlich ist in männlich dominierten heterosexuellen Gesellschaften das Mann-Frau-Maschinen-Szenario das vorherrschende. Theweleit untersucht den gewaltsamen Aspekt, dass Männer weibliche Körper als ihr Medium ›opfern‹. Der Mann, der eine Frau benutzt, um seine Produktion zu beginnen und sie dann opfert, um in einen neuen produktiven Zyklus einzutreten, ist ein wohlbekanntes Motiv. Allein kann er keine Lieder erschaffen. Die Frage hier wäre, wie den Anderen in einer kreativen und nicht-repressiven Weise benutzen, die Kraft zurückgibt und darauf achtet, nicht zu missbrauchen oder auszubeuten, geschweige denn, den Anderen zu töten (auf reale oder symbolische Weise) – etwas, das in vielen von Theweleits Fallstudien passiert. Wenn Künstler beständig wirkliche Kunst machen wollen, müssen sie sich fortwährend erneuern. Ich frage mich, ob solche (grausamen) Geschichten noch immer passieren.16 Vorstellbar ist, dass der Genderaspekt weiterhin da ist, aber nicht über die Computertechnologie ausgespielt wird. Wenn ich über PC oder Internet nachdenke, denke ich an die ›Junggesellenmaschine‹, nicht an den männlichen, genialen Autor, der seine Gedichte seiner Sekretärin/Geliebten diktiert. Ich mag jedoch auch falsch lie16. 6GL"ILWETS"ESPRECHUNGVON+LAUS4HEWELEITS #VDIEFS,zOJHF IN!GENTUR "ILWET  .FEJFO"SDIJW "ENSHEIM "OLLMANN  3  HTTPTHINGDESKNL BILWET!GENTUR"ILWET-EDIENARCHIVTHEWELEITXT

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gen. Warum war der Übergang von der Schreibmaschine zur PC-gestützten Textverarbeitung in dieser Hinsicht so entscheidend? Während der Empyre-Debatte hat uns Anna Munster davor gewarnt, das polymorphe Feld der Zusammenarbeit auf das alltägliche Psychodrama zwischen Partnern zu verengen. Künstlerische (und intellektuelle) Zusammenarbeit wird oft sozial und diskursiv auf das Modell des Paars zurückbezogen. »Im Paar wird für gewöhnlich einer gegenüber dem anderen privilegiert (Deleuze über Guattari), andernfalls kommt es nur in der unendlichen Reflektiertheit des Paars und ihrer Handlungen zum Ergebnis (Ulay und Abramovic). Oftmals muss ein Teil des Paars ausbrechen, um wieder arbeiten zu können. Es ist notwendig, fortwährend gegen diese Stabilisierung anzuarbeiten, vielleicht mit vervielfachten Kollaborationen mit verschiedenen Leuten, indem man fortfährt, außerhalb dieser in einem eigenen Bereich zu arbeiten und indem man sich eher an die Leidenschaft hält, die in ihnen erzeugt wird, als dass man sich in der Sicherheit ihrer Identität verliert.«17 Lloyd Sharp fügt hinzu: »Es ist in Kunst-/Technologie-basierten kollaborativen Arbeiten oft der Fall, dass die Beteiligten, die mehr technische Erfahrung zu haben scheinen, und deren Beitrag folglich eher auf der ›praktischen‹ Seite liegt, feststellen, dass sie in diesem Verhältnis zum bloßen Techniker degradiert werden, der für den anderen ›denkenden‹ Part die Produktionsseite übernimmt.« Einen anderen Ansatzpunkt könnten die italienischen Debatten über Multitude, Prekarität und Zusammenarbeit bieten. In A Grammar of the Multitude beschreibt Paulo Virno die Natur der zeitgenössischen Produktion. Die diskutierten Fragen sind subjektiv und kommen gerade nach dem Akt der ›Verweigerung‹ auf. Was bedeutet Zusammenarbeit, wenn wir zu dem Schluss kommen, dass das Leben auf Arbeit reduziert worden ist? Ich würde behaupten, dass es wichtig ist, das anfängliche, entscheidende Stadium der Verweigerung hinter sich zu lassen, da man sonst bei einem individuellen Anarchismus oder Egoismus vom Typ eines Max Stirner endet, in dem nichts mehr übrigbleibt, woran man zusammenarbeiten könnte. Es muss einen grundlegenden Konsens darüber geben, was auf der Agenda steht und was getan werden muss. Die Frage der Zusammenarbeit folgt daraus und kann nicht in einem politischen Vakuum diskutiert werden, andernfalls verwandelt sie sich in eine Managementfrage. Es ist ein untergeordneter Aspekt mit nichtsdestoweniger bedeutenden Konsequenzen. Auf jeden Fall sollten wir im Kopf behalten, dass die Zusammenarbeit als solche keine Themen generiert, die dann einfach in Kampagnen übertragen werden könnten. Virno sieht die Krise der Arbeitsgesellschaft in der Multitude selbst reflektiert. Wir können dies erweitern und sagen, dass Multitudes generell eine problematische Kategorie sind, nicht nur für das Kapital oder für die Kontrollgesellschaft. Die Multitudes selbst sind als Organisationsformen für diese soziale Gruppenfindung noch unscharf und nicht wirklich existent. Die Multitude ist ›im Werden‹, um es diplomatischer ausdrücken. Es wird eine Weile dauern, sich an die Tatsache zu gewöhnen, dass es kein Bewusstsein um seiner selbst 17. !NNA-UNSTER %MPYRE &EBRUAR

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willen gibt, und dass Revolutionäre Misstrauen – und Langeweile – gegenüber ihren eigenen potenziellen Revolutionen entwickeln können. Es wird von einer kollektiven Ekstase ohne große Resolution geredet. Für die Multitudes ist Fragmentierung keine romantische Agonie, sondern der primäre Zustand des politischen Lebens. Nach Virno »wird sozialer Reichtum durch Wissenschaft und allgemeinen Intellekt geschaffen, weniger durch die Arbeit, die von einzelnen Individuen geleistet wird. Die erforderliche Arbeit scheint auf einen praktisch unbedeutenden Anteil eines Lebens reduzierbar zu sein. Wissenschaft, Information, Wissen generell, Kooperationen: Diese präsentieren sich als die wesentlichen stützenden Systeme der Produktion – weit eher als Arbeitszeit.« Kooperation wird so zu einem Ausnahmezustand. Sie ist nicht die Regel, nicht die Kondition des alltäglichen Lebens, sie ist rar, ungewiss und immer am Rande der Auflösung. Für Virno greift die Unterscheidung zwischen Arbeitszeit und Nichtarbeitszeit zu kurz. Das ist auch genau der Grund, warum es soviel Ungewissheit (und Neugier) bezüglich Zusammenarbeit gibt. In welcher Handlung, Werk, Geste oder Idee sind nicht die Spuren der Zusammenarbeit vorhanden? Die Unterscheidung zwischen Zusammenarbeit und Nicht-Zusammenarbeit zu treffen wird immer schwieriger. Das Gegensatzpaar des einsamen Genies und des multidisziplinären Teams klingt mehr wie eine sonderbare Lebensstilentscheidung und ist nicht relevant.18 Ich fragte den italienischen Theoretiker Matteo Pasquinelli, wie Mulititude, Prekarität und freie Kooperation als Begriffe zusammenhängen. w-ULTITUDE IST DAS GEISTIGE +IND DES ITALIENISCHEN 0OSTOPERAISMUS UND DES FRANZÚ SISCHEN 0OSTSTRUKTURALIMUS $ELEUZE .EGRI UND 6IRNO DIE ALLE 3PINOZA LESEN  %S ENTSTAND AUS DER 3UCHE NACH EINEM NEUEN SOZIALEN 3UBJEKT n EINEM MULTIPLEN UND NICHT IDENTISCHENnNACHDEM+OLLAPSDER!RBEITERKLASSEINDENWESTLICHEN,ËNDERN UNDDEM!UFSTIEGDES0OSTFORDISMUS%SISTEHEREINETHEORETISCHEALSEINEHISTORISCHE +ATEGORIE3AGENWIR ESISTEINENEUE-ASKEFàREINEIMMERNOCHLEBENDIGEALTE"EWE GUNG0REKARITËTDAGEGENHABENWIRDIREKTVOR!UGEN DIETËGLICHE!RBEITSBEDINGUNG DERJàNGSTEN'ENERATIONUNDEIN%FFEKTDESWILDEN4URBOKAPITALISMUS$IEPOLITISCHE !NERKENNUNGDER0REKARITËTUNDDER!UFSTIEGDER"EWEGUNGDERPREKËREN!RBEITERFAND IM GLEICHEN KULTURELLEN +ONTEXT STATT DER DEN !USDRUCK k-ULTITUDEj PRODUZIERT HAT nNICHTINDERANGELSËCHSISCHEN7ELT SONDERNIM!LTEN%UROPAUND)TALIEN$IE)DEE DERFREIEN+OOPERATIONANDERERSEITSISTVONDER)NTERNETREVOLUTION BESONDERSVONDEN %NTWICKLERNFREIER3OFTWAREPROPAGIERTWORDENi

18. 7EITERESZUM4HEMA4EAMUND4EAMWORKIN!LAN,IU 5IF-BXTPG$PPM ,OPXM

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Verbinden sie sich? Matteo: w)CHSEHEDIE-ULTITUDEUMMICHHERUMNICHT)CHSEHEEINE-ENGEPREKËRER!RBEITER UND-IGRANTENINMEINERTËGLICHEN%RFAHRUNGHIERIN"ARCELONA)CHSEHEKEINEWIRK LICHEnEFFEKTIVEn¾KONOMIE DIEAUFFREIER:USAMMENARBEITBASIERT)CHSEHEGRO”E KULTURELLE"EWEGUNGEN DIESICHUMDIE7ERTEVON+OOPERATION "ETEILIGUNG 6ERNET ZUNGUND'EMEINGUTHERUMBILDEN)CHSEHEABERAUCH0ROGRAMMIERER DIEIMMATERI ELLE-ASCHINENFàRDAS-ANAGEMENTUNDDIE!USBEUTUNGDER:EITARBEITERVONMORGEN ENTWICKELN)CHBEDAURE ABERMEINE&LITTERWOCHENMITKOLLEKTIVER3UBJEKTIVITËTSIND VORBEI *ETZT WILL ICH VIELMEHR HERAUSlNDEN WO +ONmIKT PRODUZIERT WIRD UND SU CHEAUFEINERMOLEKULARENUNDNICHT KOLLEKTIVEN3KALANACHDEN2EIBUNGSPUNKTENDER POSTFORDISTISCHEN 0RODUKTION -EINER BESCHEIDENEN -EINUNG NACH KLINGT !UTONOMIE OHNE+ONmIKTWIE0LAYSTATION)M2EICHDERDIGITALENUNDkFREIENj+OOPERATIONERWARTE ICHEINENkIMMATERIELLENj"àRGERKRIEGi

Was auf dem Spiel steht, ist die Art, in der Verhandlungen innerhalb jeder einzelnen ›Kredit‹-Ökonomie stattfinden. Welche Spuren bleiben von einer Zusammenarbeit sichtbar? Können Eigentumsregelungen zu einem späteren Zeitpunkt (nach)verhandelt werden, oder sind die Formen des Eigentums und der Arbeitsteilung vom Tag Eins an festgelegt? Wie viele ›gescheiterte Kollaborationen‹ kann man verkraften? Menschen mögen einstmals soziale Tiere gewesen sein, aber das bedeutet nicht, dass wir immer wie Ameisen handeln. Die Herdenmentalität ist weit genug verbreitet, und dies macht es schwer, wenn nicht unmöglich, Zusammenarbeit als eine Tugend zu fördern. Doch sowohl Weisheit wie Wissen haben den Rückweg ins Land Zarathustras blockiert. Es ist nicht die Gesellschaft, die uns von der Individuation fernhält – die hauptsächliche Sorge gilt eher der Bewertungsmethode. Blicken wir zurück im Zorn, wenn Gruppen auseinanderfallen? Zusammenarbeit und insbesondere freie Kooperation klingt etwas idealistisch. Sie wird wahrgenommen als Therapie für diejenigen, die durch geringere Fertigkeiten eingeschränkt sind. Menschen bleiben letzten Endes soziale Tiere, und es ist an der nächsten Generation, diese primitive Vermischung mit anderen hinter sich zu lassen. Amüsanterweise jedoch fördern unsere Technologien eine gesteigerte Differenziertheit der sozialen Interaktion. Das individualisierte Subjekt wird Stämmen zugeordnet, neu etikettiert als virtuelle Gemeinschaft, kluge Menge, smarter Mob, soziale Vernetzung und Ähnliches. Man schaue nur, wie Unternehmen Angestellte dazu zwingen, in Teams zu arbeiten. Professionalisierung (höhere Gehälter und soziale Sicherheit) kann nicht von der unausweichlichen Arbeitsteilung getrennt werden. Der Fokus auf neue soziale Bewegungen oder autonome Gruppen (neubenannt als Maquis, Multitude oder Prekariat) in Spehrs oder Virnos Texten mag zu eng sein und sollte durch gegenwärtigere Brüche bereichert werden. Was bedeutet das Politische nach seiner Dezentralisierung? Vielleicht sollte man nicht mehr über Bewegungen sprechen (wie in ›Bewegung der Bewegung‹). Bewegung könnte zu viel Einheit und Kontinuität 19. 0RIVATER% -AIL !USTAUSCHMIT-ATTEO0ASQUINELLIVOM*UNI

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suggerieren. Während der Begriff treffend ist, wenn wir politische und kulturelle Diversität ausdrücken wollen, beinhaltet er immer noch dieses Verspechen von Kontinuität – und suggeriert so auch, dass Niedergang und Verschwinden aufgehalten werden können: Die Bewegung soll niemals aufhören. Die Energie des Ereignisses, die der Bewegung ihren Charakter und ihre Richtung gab, darf nicht sterben. An diesem Punkt tritt die Gestalt des wahren Gläubigen in die Geschichte. Rituale werden erfunden, um die Massen um jeden Preis zurück auf die Straßen zu bringen. Aber lässt sich das notwendigerweise auch auf das Internet übertragen? Dies wird besonders interessant, wenn informelle Netzwerke und Peer-toPeer-Kollaborationen eine kritische Masse erreichen und sich in etwas komplett anderes verwandeln. Es ist ein wunderbarer, mysteriöser Moment, wenn kleine und versprengte Gruppen in eine größere soziale Bewegung zusammenlaufen und ein Ereignis hervorrufen (wie Alain Badiou es nennt). Das ist jedoch die Ausnahme. Individuelle Kollaborationen sind darauf ausgerichtet, historische Ereignisse herzustellen. Ich sehe darin eher einen klassischen Ansatz des 20. Jahrhunderts, in dem kreative Arbeit immer als Teil eines größeren metaphysischen Geschichtsprozesses angesehen wurde. Im Internet weiß niemand, dass man eine Multitude ist. Gemeinschaftliche Anstrengungen müssen sichtbar gemacht werden. Im vorigen Kapitel habe ich dies in Bezug auf den Stand des Medienaktivismus erörtert. Eins ist klar: Soziale Bewegungen entstehen nicht aus dem Netz. Ihre Anfänge liegen irgendwo anders, nicht im Akt der Online-Kommunikation. Technologie unterstützt unsere Abwicklung. Wir bauen soziale Vorrichtungen, und diese konstruieren uns im Gegenzug. Unsere Sprache wird von der Technologie, die ihre Übertragung ermöglicht, gefiltert und verändert. Wie wir lernen und was wir lernen, verändert sich durch die Art, in der es verteilt wird. Ereignisse jedoch, kollektiv visualisiert, wie die Anti-Irakkrieg-Demonstration vom 15. Februar 2003, folgen eher der Grammatik der Straße als den Protokollen des World Wide Web. Es ist schwer, zwischen der Notwendigkeit, in Gruppen zu arbeiten, und dem Bedürfnis, der Isolation des individuellen Arbeitens zu entfliehen, zu unterscheiden. Für viele Neue-Medien-Kunstwerke ist Kollaboration ein absolutes Erfordernis, weil einzelne Künstler einfach nicht alle benötigten Fertigkeiten haben, Visuals, 3D, Sound, Editing und Performance zu realisieren, und erst recht nicht den ganzen Prozess in Bezug auf Personal und Finanzen allein organisieren können. Die Frage ist daher eine der ›Ökonomie der Anerkennung‹ – ob also Arbeiten unter dem Namen eines einzelnen Künstlers (z.B. des Videokünstlers Bill Viola) produziert werden, oder ob man mit der Verwendung eines Gruppennamens der Wirklichkeit Rechnung trägt. In unserer Zeit wird es als etwas Einzigartiges betrachtet, wenn Individuen überhaupt erst einmal zusammenarbeiten können. Ein Künstler mit sozialer Kompetenz wird gerühmt. Das ganz gewöhnliche künstlerische Genie aber muss von einer Armee von Assistenten, Produzenten, Praktikanten, Geliebten und Freunden geschützt werden, weil sie (a) alleine nicht überleben können und (b) fortwährend Energie in Sozialmanagement und Networking investiert werden muss, infolge des laufenden irreparablen Schadens, den der übelgelaunte Künstler verursacht.

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Es hat keinen Sinn, Zusammenarbeit lediglich hochzuloben, als ob sie ein Produkt wäre – oder sie umgekehrt als bloß eine weitere Ideologie (die sie auch ist) zu dekonstruieren. Wir halten nach nichts Geringerem Ausschau als nach Gesetzen, zugrundeliegenden Mechanismen, gemeinsamen Erfahrungen, die zu starken, unvergänglichen Memen eingekocht werden können; Empfehlungen und Redewendungen, die uns für die kommenden Zeiten erhalten bleiben. Das Problem ist, dass wir wenig zu lernen scheinen, wenn es um verfeinerte soziale Interaktion geht, besonders weil es, zumindest im Westen, schwer geworden ist, diese von einer Generation zur nächsten zu übermitteln. Das Wissen um Zusammenarbeit ist kein passives, das man sich erwirbt und dann anwendet. Die Frage ist nicht: Wie passe ich da hinein? Wir sind nun einmal menschlich und sowieso dazu bestimmt zu versagen. Viel eher sollten wir uns fragen, welche Formen sozialer Interaktion in größeren Gruppen zu finden sind. Es gibt Raum für soziale Verfeinerung. Wie dem auch sei, mit einem Sinn für Selbstreflexion können wir uns weiterentwickeln. Mit dem Aufstieg der Individualisierung wird Zusammenarbeit zunehmend etwas, das wir als freiwillig wahrnehmen, fast wie eine Ware, die wir kaufen können. Man kann eine wachsende Neugier beobachten, als ob sie ein altes, vergessenes Ritual oder eine exotische Erfahrung wäre. »Kollaboration? Klingt interessant. Kann ich es ausprobieren? Aber gerne – wir bieten eine 30tägige freie Testversion an.« Die Herausforderung für internetbasierte Kooperation liegt in der Schnittstelle zur wirklichen Welt. Es ist schwer, online zusammenzuarbeiten, ohne sich im wirklichen Leben zu treffen. Onlinearbeit kann sehr ineffektiv und langsam sein. Um auf dieser Ebene Erfolg zu haben, bedarf es einiger Geduld. Manche Leute glauben an die Dotcom-Phrasen über »Kommunizieren mit Lichtgeschwindigkeit«, aber das ist ganz und gar nicht der Fall, wenn man an komplizierteren Projekten mit einer Gruppe aktiv beteiligter Leute arbeitet, die über den ganzen Globus verstreut sind. Es gibt ein wachsendes Verlangen nach offenen Formen der Partizipation. Als ein Anreiz für Online-Beteiligung werden immer häufiger kooperative Projekte eingesetzt. Der Punkt ist, zwischen Top-down-Teamwork in der Arbeitsmühle und der Managementrhetorik, die sich darum rankt, zu unterscheiden. »Bitte entleere dein Tablett im Müll – vielen Dank für deine Kooperation« ist keine freie Kooperation. Es ist ›freundlicher Faschismus‹ (Bertram Gross). Zwischen frei und gezwungen gibt es eine wachsende Grauzone von Projekten, Anwendungen und Praktiken, die weder auf Produktivitätsgewinne abzielen, noch gänzlich autonom und dissident sind. Es gibt keine schneeweiße Unschuld. Es gibt keine absolute Autonomie kollaborativer Projekte, die behaupten, außerhalb des Systems zu funktionieren. Natürlich werden Menschen von sozialen Mechanismen immer fasziniert bleiben. Je mehr wir vernetzte Technologien verstehen, desto mehr werden wir herausfinden können, wie Menschen zu mobilisieren und Massen zu generieren sind. Aber noch wichtiger, je mehr wir vernetzte Technologien verstehen, desto mehr können wir uns auch von den Zwängen dieser Technologien und ihrem einschüchternden und verführerischen Charakter befreien. Ein Prozess der Normalisierung ist erforderlich, um den magischen Bann zu brechen, der auf den Apparaten und Anwen-

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dungen liegt, und auf den unzähligen Menschen, die zwischen den heutigen Maschinen leben. Romantiker preisen die Kooperation. Sie denken, sie sei so etwas wie eine Liebesaffäre. Böse Pragmatiker auf der anderen Seite beten einfach ihre To-DoListen herunter. Sie denken, so können sie auf den Gesichtern der Teamplayer ein aufrichtiges Lächeln erzwingen. Eine solch mechanische Anwendung von Regeln funktioniert einfach nicht! Kooperation kann in der Tat einem Flirt oder einer neuen Freundschaft ähneln. Sie kann eine überwältigende Begegnung sein. Aber es gibt kein Rezept für so eine Verkupplung. Es ist ein Ereignis. Man kann solche Umstände nicht für elf Uhr vormittags planen, gefolgt von einem Geschäftsessen. Das Ereignis wahrer Zusammenarbeit führt an einen Ort, an dem man noch nie war. Es lässt die Zeit vergessen. In anderen Fällen kommt eine Zusammenarbeit erst richtig in Gang, wenn Vertrauen aufgebaut ist, und Vertrauen aufzubauen braucht Zeit. Professionelle und persönliche Interessen müssen beruhigt werden. Die Beteiligten müssen gewillt und in der Lage sein, Zeit zu opfern. Das kann eine schwierige Entscheidung bedeuten. Es ist hart, wenn man an vielen Projekten gleichzeitig arbeitet. Zusammenarbeit verlangt Konzentration. Online-Zusammenarbeit kann für manche einen bitteren Nachgeschmack haben; es mag ihnen wie reine Zeitverschwendung vorkommen. Endloser E-Mail-Austausch, lärmende Chats, ermüdende Zeitunterschiede, überholte oder inkompatible Software und instabile Bandbreite sind alle Teil dieser nicht gerade einladenden Vorstellung. Und dabei bleibt es nicht. Der ausbeutende, prekäre Charakter der immateriellen, vernetzten Arbeit kommt zu diesem geschäftigen Szenario noch hinzu. Es gibt zweifellos so etwas wie die hohe Kunst der Zusammenarbeit. Es ist möglich, Erfahrungen und Reflexionen auszutauschen und sie zu theoretisieren. Oft bekommen diese Thesen dann jedoch einen reglementierenden Charakter. Sie münden in Verfahrensweisen, denen Folge zu leisten ist. Kollaboration ist die Wissenschaft der Listen. Die ›Do’s and Don’ts‹ können als normative Aussagen gelesen werden. Aber wir können sie auch als lockere Richtlinien interpretieren, etwa wie das Laufen durch unwegsames Terrain mit einem Kompass – man nähert sich der Richtung an. Häufig ist Zusammenarbeit eine heikle Sache. Sie ist kein ›Highway to Heaven‹. Das menschliche Bedürfnis nach Anerkennung mischt sich in sie ein. Sie schreit nach Beachtung genau dann, wenn man gerade zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt ist. Es ist wie die Überlegung, ein Kind zu bekommen – nie scheint ein passender Zeitpunkt da zu sein. Eine wichtige Rolle bei Kollaborationen spielt das Thema der unsichtbaren Arbeit. Allzu oft geht die Anerkennung nur an die sichtbarste Person in einer Kollaboration, was das ganze Projekt an die Belastungsgrenze führt. Gruppendynamik ist auch ein wesentlicher Bestandteil in diesem Kontext. Und ein weiteres heißes Eisen sind Führungsqualitäten. Es gibt immer Hierarchien und Regeln in Kollaborationen. Sie müssen eingeräumt werden, und die Kapitäne an Deck sollte man zwingen, sich abzuwechseln. Wenn über Online-Beisammensein gesprochen wird, fällt häufig der Ausdruck spontan. Aber internetgestützte Zusammenarbeit ist fast nie spontan, sondern eher bedächtig. Durch persönliche Treffen kann sie jedoch beschleunigt werden. In Gestalt kommen dann oft nur eine Handvoll von Leuten zusammen.

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Online dagegen gehen sie in die Tausende. Internetkollaborationen werden am intensivsten, wenn die Beteiligten nah beieinander leben und die Kommunikation über das Netz als Ergänzung zu ihren persönlichen Treffen nutzen. Studien des Kommunikationswissenschaftlers Barry Wellman von der University of Toronto zeigten, dass Internetzugang die Häufigkeit der Kommunikation zwischen Menschen, die in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander leben, erhöht.20 Clay Shirky bemerkte, dass heutige Medienkünstler oft Software-Tools entwickeln, die Geographie-spezifisch sind. Er nennt solche Tools ›situierte Software‹.21 Ortsspezifische Software, die eine bestimmte Gemeinschaft oder einen bestimmten Standort adressiert, stellt das Überall und Nirgendwo des Internets in Frage. Für die Wirtschaftsanalystin Chris Shipley steht Online-Zusammenarbeit für soziales Networking durch fortschrittliche E-Mail-Systeme mit gemeinsamen Adressbüchern oder gemeinsamem Zugriff auf eine Datenbank. In ihrem Essay »2006, The Year of Collaboration« erinnert sie uns an relativ junge Spielarten der Zusammenarbeit, etwa an ›Friends of Friends‹-Netzwerke wie Friendster. 22 Shipley behauptet, dass diese Formen, etwas miteinander zu machen, sich nicht wirklich als Zusammenarbeit qualifizieren. Bedeutet das gemeinsame Einfügen und Entnehmen von Daten aus einer Box schon Zusammenarbeit? Zusammenarbeit ist eine riskante Sache, bei der vieles miteinander verbunden ist. Es ist eine intensive Angelegenheit, bei der Individuen, die einer Gruppe zugehören, ein gemeinsames Ziel verfolgen. Gewinne wie Verluste werden geteilt. Kooperation ist eine deutlich weniger vereinnahmende Angelegenheit, bei der einzelne, unabhängige Teilnehmer sich getrennt voneinander entwickeln. Konsultation schließlich stellt das lockerste Modell gemeinsamen Arbeitens dar. Bald werden wir genuinere Formen der Zusammenarbeit sehen. Männer und Frauen erzeugen riesige Mengen von Online-Content. Wir beschränken uns nicht darauf, Waren online individuell anzupassen, zu nutzen und zu kaufen. Wir werfen auch unsere eigenen Bestände, Gedanken und Gefühle hinein. Die Kultur des ›Free Sharing‹ blüht. Aber die Mentalitäten bezüglich des Teilens variieren noch stark. Einige stellen fest, dass sie davon profitieren, alles zu verschenken. Andere dagegen fühlen sich durch solche Offenheit bedroht. Sie pressen die Dinge lieber fest an sich, da sie fürchten, im Gedränge des Austauschs den Kürzeren zu ziehen. Kreativität ist geographisch verteilt. Wir sind die Produzenten. Wir sind die Autoren. Wir sind die Kolumnisten und Initiatoren. Wir unterstützen andere und bekommen Hilfe zurück. Die Leute gewöhnen sich an die Tools sozialer Software und machen unerwarteten Gebrauch von ihnen. Die Bumplist des Wissenschaftlers und Künstlers Jonah Brucker Cohen ist ein gutes Beispiel. Auf dieser Mailingliste kann nur eine begrenzte 20. 7ELLMAN "ARRY&RAMPTON +EITH w.EIGHBORINGIN.ETVILLE(OWTHE)NTER NET3UPPORTS#OMMUNITYINA7IRED3UBURBi #ITY#OMMUNITY  $EZEMBER 3 6GLAUCHWWWCHASSUTORONTOCA^WELLMANPUBLICATIONSINDEXHTML 21. WWWSHIRKYCOMWRITINGSSITUATED?SOFTWAREHTML%RSTMALSVERÚFFENTLICHTAM -ËRZAUFDER.ETWORKS %CONOMICS AND#ULTURE -AILINGLISTE 22. WWWKOLABORACOMNEWSTHE?YEAR?OF?COLLABORATIONHTM

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Anzahl an Teilnehmern gleichzeitig eingeschrieben sein. Wenn neue Teilnehmer dazukommen, werden bisherige Mitglieder, die über das Limit der Liste hinausgehen, abserviert (›bumped off‹). Partizipatorische, kreative Onlinewerkzeuge beherrschen die Medienkunst. Das gilt zumindest für Kollaboration und Kooperation. Künstler richten kulturelle Kontexte ein, zu denen andere beitragen. Es gibt eine lange Tradition der Partizipation in der Kunst, der Inke Arns in einem Essay nachgegangen ist. 23 Sie verweist auf einen kurvenartigen Verlauf von den frühen Sechzigern bis heute, der Figuren wie Duchamp, Kaprow, Cage und Lyotard (Les Immateriaux) einschließt. Wir sehen viele solcher Projekte partizipatorischen Designs online entstehen. Das statische, geschlossene Onlinekunstprojekt ist nicht mehr gefragt. In der Kunst stehen Kollaborationen oft am Anfang einer künstlerischen Entwicklung, wenn im Anschluss an das Studium Koalitionen gebildet werden, die den Eintritt in die Kunstwelt erleichtern. Manche Künstler steigen aus der Kunstwelt aus, um alternative Foren für Auftritt und Dialog zu suchen. Kollaborationen im Kleinen in Form von Konsultationen sind das tagtägliche Brot der Technologen. Künstler, die mit Technologien arbeiten, sind auf die Hilfe von Programmierern angewiesen, da niemand allein das nötige Wissen haben kann, um ein Projekt fertigzustellen. Während die Zahl derer, die an das Modell des ›einsamen Sterns‹ (lone star) glauben, zurückgeht, ist die Idee des individuellen Künstlergenies äußerst lebendig. Nicht jeder ist für Zusammenarbeit geschaffen! Und sie kann missbraucht werden! Kollaborationsschwindler blähen nur zu häufig ihr soziales Kapital auf, indem sie die Beiträge ihrer Mitstreiter unterschlagen. Die Zusammenarbeit von Künstlern und Wissenschaftlern ist auch kein neues Phänomen. In diesen Arbeitsszenarien übernehmen Künstler nicht selten die Rolle des Illustrators. Sie visualisieren die Resultate der Wissenschaftler und helfen so, ihre Errungenschaften der Öffentlichkeit zu vermitteln. Aber Unterschiede im professionellen Sprachgebrauch und vielleicht sogar politische Neigungen können einander zuwiderlaufen. Müssen Künstler und Wissenschaftler das gleich Ziel haben, wenn sie zusammen arbeiten? Es dauert lange, eine echte Verbindung zwischen Künstlern und Wissenschaftlern zu etablieren, die zu entsprechenden Ergebnissen führen kann. Was macht nun die Online-Zusammenarbeit so attraktiv? Im Wesentlichen ist es die Möglichkeit, geographisch verstreute Teammitglieder zu finden, die genau die Fähigkeiten mitbringen, die das Projekt verlangt. Auf der anderen Seite sind Kritiker schnell dabei, die Netzwerk-Knechtschaft der immateriellen Arbeit zu verdammen, die aus verstreuten Arbeitskräften Laptop-Schoßhündchen macht, die bereit sind, überall und zu jeder Zeit zu arbeiten. Die Netzwerkgesellschaft erlaubt dem Kapital, sich in jede Minute unseres Tages einzuschleichen. Es gibt keinen Ort, der nicht zu einem kollaborativen Arbeitsplatz werden kann. Ruhezeit (Downtime) wird zur Download-Zeit. Krankenversicherungen und Pensionen werden für die, die Howard Rheingold ›part-of-the-solution wor23. 6GLWWWMEDIENKUNSTNETZDETHEMENMEDIENKUNST?IM?UEBERBLICKKOMMU NIKATION

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kers‹ nennt, auch nicht fällig. Arbeit und Freizeit gehen fließend ineinander über. Computer durchdringen jeden Winkel unserer Existenz. Der Wolf der vernetzten Ausbeutung muss erst einmal erkannt werden, wenn er im Schafsfell glänzender, lokativer Gadgets daherkommt. Generation auf Generation werden Erfahrungen in Kollektiven, Gruppen, Firmen und Bewegungen gemacht. Wie soll man eine Darstellung kollektiver Handlungen schreiben? Wie kann man der Komplexität kollektiver Produktion gerecht werden? Diese wird selten erfasst und theoretisiert, geschweige denn aufbereitet, um sie auf andere soziale Kontexte zu übertragen. Bruno Latours Actor-Network-Theory bringt uns bis hierher und nicht weiter. Schauen wir uns die Funktionsweise der Zusammenarbeit noch mal ganz genau an. Ein überraschend großer Anteil dessen, was zur Theorie der Kollaboration geschrieben wird, läuft auf eine Unterstützung der Amazon.coms dieser Welt hinaus. Die Theoretiker denken darüber nach, wie Gruppenkoordination und Konsensbildung funktionieren – das einzige Ziel ist, die Dinge noch besser zu erledigen. Der Schlüsselbegriff ist Effizienz. Da fragen wir uns, ob diese Wirtschaftskonglomerate wirklich unsere Hilfe brauchen. Ist soziale Software das zeitgenössische Äquivalent zu Fords Montagestraße? Werden wir Selbsthilfeanleitungen und Psychopharmaka brauchen, um uns von der Welt zu heilen, die diese Instrumente geschaffen hat? Wie verändern neue Instrumente wie SMS, IM, VoIP, Skype, Writely, Opinity, Facebook und MySpace die Art und Weise, wie wir agieren? Die Sirenen der Konzerne locken Millionen in die Netze ihrer interaktiven Unternehmen. Aber was können wir daraus lernen? Wie entkommen wir der zynischen Wahrheit, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als entweder das gestrige Wissen der Beraterklasse zu übernehmen oder selbst übernommen zu werden? Was gibt es jenseits von Web 2.0, das nicht in Besitz genommen werden kann? Uns auf Zusammenarbeit vorbereiten, das ist alles, was wir tun können. Wir können nicht voraussagen, ob es dazu kommt. Im besten Fall verbreitet sich in einer Gruppe ein stimulierender Geist. Wir stehen nicht einfach auf, trinken Kaffee und arbeiten dann zusammen. Wir müssen uns eine Reihe von Werkzeugen aneignen und die Kunst der Zusammenarbeit erlernen, von der wir dann bei Bedarf Gebrauch machen können. Rheingold definiert das Vermögen, an technologisch erweiterten sozialen Netzwerken teilzunehmen, als eine Schlüsselkompetenz des nächsten Jahrzehnts. Wir versuchen es immer und immer wieder, überzeugt, dass die Summe aller Teile größer ist als die Zahl ihrer Einzelteile. Die Zusammenarbeit kann gedeihen, wenn die Teammitglieder mit solchen Situationen Erfahrung haben. Zusammenarbeit braucht Vertrauen. Sie braucht Zeit. Auch die Größe spielt eine Rolle. Wie gelingt es einem kleinen Team, sich nach außen zu erweitern? Charles Green erinnert uns daran, Zusammenarbeit nicht mit Freundschaft zu verwechseln. w&REUNDSCHAFTISTIMMERZERBRECHLICH DAIHRE6ERBINDLICHKEITNICHTERZWUNGENWERDEN KANN &REUNDSCHAFTSANSPRàCHE BLEIBEN LETZTENDLICH UNVERBàRGT SOLANGE DIE &REUND SCHAFTNICHTUNTERDER(ERRSCHAFTEINER¾KONOMIEDER(ÚmICHKEITSTEHT:USAMMENAR BEITERFORDERTSEHRVIELMEHR UNDZWARDIE&ORMULIERUNGVERTRAGLICHER"EZIEHUNGENi

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4HESENZURVER TEILTEN¯STHETIK Dieses Kapitel beschäftigt sich mit einem Konzept, das ursprünglich in der australischen Fibreculture Group entstanden ist 1. Bei der Vorbereitung des Fibreculture Journals zum Thema der verteilten Ästhetik stellten die Herausgeberin Anna Munster und ich eine Reihe von Thesen auf. Diese bildeten die Grundlage eines Workshops, den wir zusammen am 11./12. Mai im Berliner Wissenschaftskolleg2 durchführten. Die Thesen, wie sie hier vorgestellt werden, wurden zunächst Mitte 2005 gemeinsam mit Anna Munster formuliert und danach im Anschluss an den Workshop noch einmal überarbeitet. Dieser Text kann als klassisches Beispiel einer multiplen Autorenschaft betrachtet werden. Nach dem Niedergang der Netzkunst und dem Aufstieg des Web 2.0, lokativer Medien und verschiedener Mapping-Initiativen war der Wunsch aufgekommen, ein neues Forschungsfeld zu eröffnen. In den wilden Neunzigern hatte die Netzkunst neue Räume erschlossen, Leute zusammengeführt und interessante Arbeiten und Kollaborationen angestoßen. Diese kreative und subversive Energie löste sich jedoch wieder auf, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem (erfolglosen) Versuch, auch in der Museums- und Galerienwelt Anerkennung zu finden. Dotcom-Gelder, die sich im Umlauf befanden, gingen an MBAs, nicht an Netzkünstler. Es endete damit, dass die ›Kunst‹ die Leute auseinanderbrachte. Trotzdem, viele der Themen und Wünsche sind noch lebendig. Wie kann Ästhetik in einer Netzwerkgesellschaft definiert werden, ohne gleich wieder fragen zu müssen, ob nun diese oder jene Website, Blog oder Anwendung Kunst ist oder nicht? Auch heute noch gibt es viele einzelne Künstler 1. 3IEHE'JCSFDVMUVSF+PVSOBM $ISTRIBUTED!ESTHETICS HTTPJOURNALlBRECULTURE ORGISSUEISSUE?MUNSTER?LOVINKHTML$ER"EGRIFFENTSTANDWËHRENDDER6ORBEREITUN GEN DES $ISTRIBUTED $IFFERENCE $AY DEN DAS &IBRECULTURE .ETWORK ALS 4EIL DER "%!0 +ONFERENZIN0ERTH!USTRALIEN AM3EPTEMBERAUSGERUFENHATTE3IEHEAUCH )NGRID2ICHARDSONS"ERICHTAUFDER&IBRECULTURE ,ISTEVOM3EPTEMBER$IESE EINTËGIGE 6ERANSTALTUNG UND DIE FOLGENDE !USGABE DES &IBRECULTURE *OURNALS WURDEN VON,IA'YE !NNA-UNSTERUND)NGRID2ICHARDSONPRODUZIERT 2. $ER7ORKSHOPWARORGANISIERTVON'EERT,OVINKUND!NNA-UNSTER4EILNEHMER 'ISELLE"EIGUELMANN "RIAN(OLMES 2ICHARD2OGERS 7ARREN3ACK -ERCEDES"UNZ 3E BASTIAN ,àTGERT .ILS 2ÚLLER *UDITH 2ODENBECK #LARA 6ÚLKER 3ABINE .IEDERER ,INDA 7ALLACE 4REBOR3CHOLZAND/LGA'ORIUNOVA3IEHE4REBOR3CHOLZ"ERICHTWWWCOLLEC TIVATENETJOURNALISMSDISTRIBUTED AESTHETICSHTML

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oder Gruppen, die überragende und provokative Arbeiten machen. Aber das ist nicht der Punkt. Entscheidend ist vielmehr, wie und wo die Arbeiten sich verbinden. Die hier gesammelten Ideen wollen eine neue, gemeinsame Reflexion der (sinnlichen) Erfahrung – der ›Aisthesis‹ – vernetzter Prozesse anregen. Wie erleben wir die aktuelle Welle der Blogs, Podcasts und Handyspiele? Mit welcher Netzwerktheorie arbeiten wir, und hilft sie uns, Netzwerke ihren Eigenschaften entsprechend zu nutzen? Offenkundig geht es uns nicht um ›ewige Schönheit‹. Genauso wenig hilft es uns, ›Aisthesis‹ über die optische Wahrnehmung zu definieren – es gibt keinen Grund für ein Privileg des Visuellen. Kommunikation betreiben Menschen ebenso mit Händen wie mit Augen und Ohren. So ist z.B. der manuelle Aspekt beim ›Simsen‹ zu beachten. Eine SMS zu schreiben ist gleichermaßen eine manuelle Übung wie eine textuelle, und es findet über ein Display statt. Die Ortserfassung mittels GPS muss wiederum nicht auf eine Bilddarstellung hinauslaufen. Es gibt also keinen Grund, immer wieder die Vorherrschaft des Visuellen zu diskutieren. Alle Versuche, Medien und Kunst auf ›Bildwissenschaften‹ zu reduzieren, sollten wir zurückweisen. Wir reden nicht über ›Screen Culture‹, um dann doch nur über Malerei, Film oder Fernsehen zu reden. Mit dem ›Verteilten‹ kommen auch das Abstrakte, Konzeptuelle, Nicht-Gesehene und Immanente ins Spiel. Machen wir uns nichts vor, wir haben den Aesthetic Turn hinter uns, und kein Weg führt zurück. Hier ist eine Verbindung zu Nicolas Bourriauds ›relationaler Ästhetik‹ zu ziehen, die Kunstwerke im Zusammenhang der zwischenmenschlichen Beziehungen, die sie repräsentieren, produzieren oder anstoßen, betrachtet. Dennoch, solch ein humanistischer, subjekt-zentrierter Ansatz muss immer wieder mit ›maschinischer‹ Logik verunreinigt werden. Warren Sack, Teilnehmer des Workshops, spricht sich für ein non-visuelles und konzeptuelles Modell künstlerischer Arbeit im Feld visualisierter Information aus. Er stützt sich dabei auf das, was Benjamin Buchloh in Bezug auf konzeptuelle Kunstpraktiken eine ›Ästhetik der Verwaltung‹ nannte.3 Was wir brauchen, sind neue Einstiegspunkte, radikale und erfinderische Konzepte, mit denen wir das, was um uns herum geschieht, erfassen können. Was bedeutet ›sinnliche Erkenntnis‹ im Zeitalter der Netzwerke, und welche kritischen Begriffe müssen entwickelt werden, um unsere (medial) vermittelten Erfahrungen richtig zu beschreiben? Ein anderer Ausgangspunkt für eine verteilte Ästhetik läge auch in der schon lange währenden Unzufriedenheit mit einem Interface-Design, das nur als statisches Bild erscheint. Wie können Blogs, Wikis und soziale Netzwerke zu einem interessanteren Design kommen, ohne dabei die kritische Masse preiszugeben, die viele dieser Websites aufgebaut haben. Anders ausgedrückt: Wie kann man, nachdem die User sich inzwischen nicht mehr von pseudo-interessanten Tricks an der Nase herumführen lassen wollen, so etwas wie Benutzerfreundlichkeit umsetzen? Wie können wir zwar die Übersicht verlieren, umherschweifen, ab3. 7ARREN 3ACK w!ESTHETICS OF )NFORMATION 6ISUALIZATIONi IN #HRISTIANE 0AUL 6ICTORIA6ESNA -ARGOT,OVEJOY(G $POUFYU1SPWJEFST #AMBRIDGE-ASS -)40RESS NOCHNICHTERSCHIENEN 

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tauchen, aber trotzdem noch in der Lage sein, diese verdammte Telefonnummer, E-Mail oder Postadresse zu finden? Müssen sinnvolle Informationen und verführerische ›Links to Lorelei‹, die uns von wichtigen Aufgaben weg locken, ein Widerspruch sein? Das Codewort ›verteilte Ästhetik‹ steht für den Wunsch, von einem virtuellen und visuellen zu einem integrierten Ansatz zu gelangen – zu einem Ansatz, der nicht mehr das Revolutionäre oder Widerständige der Technologie in den Vordergrund stellt, sondern sich auf eine übergreifende Architektur von Strömungen und Unterbrechungen richtet, ob immateriell, mechanisch, aerodynamisch oder statisch. In der Kunst der Verteilung können wir neue Nutzungsformen aufspüren, die über die techno-determinstische Lesart hinausgehen, welche uns unbedarften Trash-Usern nur einen begrenzten Spielraum zugestehen will. Das Element der Verteilung bezieht sich nicht nur auf dezentrales und paralleles Computing, im Sinne von »Nutzen zweier oder mehrerer über ein Netzwerk kommunizierender Computer, um gemeinsam eine Aufgabe oder ein Ziel zu realisieren« (Wikipedia). Es verweist auch auf soziale Formationen, die sich auf mobile Technologien stützen, wie Gruppen, Mobs, Mengen (Crowds) oder Schwärme. Die Verteilung über ein Netzwerk von Objekten, Kräften, Arbeit und Menschen fördert zwar Vielfältigkeit und individuelle Freiheit, führt aber auch zu Anonymität und Isolation. Der Schritt von räumlich getrennter Zusammenarbeit, Solidarität und Freundschaft zu realen Situationen und echtem sozialen Wandel ist so schwierig geworden, dass das Soziale bereits zu einem exotischen Wesen fetischisiert worden ist. Niemand würde das im entferntesten mit der ›Sozialen Frage‹ in Verbindung bringen, und noch viel weniger mit Klassenkampf oder Sozialismus. Beim Berliner Seminar hat Brian Holmes angemerkt, dass Institutionen die Funktion haben, Menschengruppen zu einer Zivilbürgerschaft mit berechenbaren Normen zusammenzufügen. Er behauptete, dass Mengen, Mobs und Multitudes etwas Vor-Politisches und Ungezähmtes an sich hätten. Die Idee der Massen wird dagegen mit Zivilordnung verbunden. In jeder Menge gibt es Individuen, die ihren Algorithmus prägen. Die Macht liegt bei denen, die in der Lage sind, die Themen zu bestimmen. 4 Das ist der Grund, weshalb die Ausarbeitung von Konzepten solch eine strategische Rolle spielt. Anstatt uns Begriffe aus dem antiquierten Fach der Massenpsychologie auszuleihen, sollten wir lieber Beschreibungen für das finden, was wir tatsächlich wahrnehmen, wie Warren Sack, der die vernetzten Dialoge der Mailinglisten, Newsgroups, Chat-Rooms und Blogs als »Konversationen in sehr großem Maßstab« bezeichnete, da sie oft Gesprächsformen bildeten, die viel mehr Personen in weitaus komplexere soziale und semantische Dynamiken einbinden, als das früher der Fall war.5

4. !US4REBOR3CHOLZ3EMINARBERICHT 5. 7ARREN3ACK w7HATDOESAVERYLARGE SCALECONVERSATIONLOOKLIKEi IN,EONAR DO*OURNALOFTHE)NTERNATIONAL3OCIETYFOR!RTS 3CIENCES AND4ECHNOLOGY #AMBRIDGE -ASS -)40RESS 6OL )SSUE !UGUST 3 

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&ORM &ORMIER EN &ORMATIEREN Unsere Prämisse besagt, dass wir vom Leben, Analysieren und Abbilden der zeitgenössischen Kultur als einer Informationsgesellschaft, die technisch auf dem Computer basiert, zum Bewohnen und Imaginieren aufeinander folgender und ineinander verschlungener und fragmentierter techno-sozialer Netzwerke übergehen. Neue Medien sind zunehmend verteilte Medien, und sie bedürfen einer Neufassung ihrer Ästhetik jenseits der Dualität von Form und Medium, von der die Analyse des Sozialen und des Ästhetischen immer noch geprägt ist.6 D.h., sie bedürfen einer ›verteilten Ästhetik‹. Verteilte Ästhetik muss sich sowohl auf das Verstreute wie das Feste beziehen, auf asynchrone Produktion von und Multi-User-Zugang zu (materiellen wie immateriellen) Artefakten einerseits und die hoch individualisierte und dosierte Zuteilung von Information/Medien andererseits. Die Ästhetik von verteilten Medien, Praktiken und Erfahrungen ist dabei nicht aus den formalen Prinzipien ihrer Streuung abzuleiten. Diese zeigen uns nur, unter welchen Umständen Informationen über ein Netzwerk zum Endverbraucher gelangen, und reduzieren den Vorgang auf das vereinfachende Schema des Server-Netzwerk-User-Kommunikationsmodells. Wir können verteilte Ästhetik aber auch nicht einfach aus der Anwendungsperspektive ableiten. Es gibt keinen einzelnen oder finalen Sinn der Information, sondern eine endlose Weiterübertragung von Medien, Praktiken und Erfahrungen in Form sukzessiver Verstreuung. Verteilte Ästhetik könnte eher charakterisiert werden als ein sich gerade entwickelndes Projekt, zwischen der Ablösung von der Kohärenz der Form auf der einen und der Annäherung der Ästhetik an soziale und vernetzte Gefüge auf der anderen Seite. Netzwerke können nicht wirklich untersucht werden, wenn man sie nur als bloße Instrumente sieht, die man schematisieren und in Diagrammen abbilden kann. Man muss sie begreifen als komplexe Umgebungen, die im Kontext komplexer vernetzter Ökologien stehen, in denen sie sich entwickeln. Dies kann natürlich leicht zu einer leeren Behauptung werden. Unter komplex verstehen wir hier unvorhersehbare, oft dürftige, harsche und nicht gerade opulente Ausdrucksformen des Sozialen. Netzwerke mit idealistischen Voraussagen, Hoffnungen und Wünschen zu belegen ist irreführend, da dabei oft nur auf die erste euphorische Gründungsphase geblickt wird. Mit diesem Positivismus wäre man 6. $ENUMFANGREICHSTEN"EITRAGZUEINER&ORM !NALYSEDER.EUEN-EDIENlNDEN WIR IN DER !RBEIT VON ,EV -ANOVICH VOR ALLEM IN SEINEM "UCH 5IF -BOHVBHF PG /FX .FEJB#AMBRIDGE;-ASS=-)40RESS  INDEMEREIN3ETVONFORMALEN0RINZIPIEN FàRDIE!NALYSE.EUER-EDIENVORSCHLËGT ABERAUCHINNEUEREN4EXTENWIE5IF4IBQFPG *OGPSNBUJPOWWWMANOVICHNET  /BWOHL-ANOVICHNICHTBEHAUPTET DASS.EUE -EDIENIN(INBLICKAUFEINEUNIVERSALE&ORMODER¯STHETIKANALYSIERTWERDENKÚNNEN ISTDIETHEORETISCHE%NTWICKLUNGSEINER!RBEITVONDER&RAGEANGETRIEBEN WIEENTSTE HENDEKULTURELLE&ORMENVON)NFORMATIONPROZESSENUND màSSENBESTIMMTWERDEN$ER MEDIENSPEZIlSCHE !NSATZ lNDET SICH BEISPIELHAFT IN EINEM 4EXT WIE *ANET -URRAYS %SSAYw)NVENTINGTHE-EDIUMi IHRER%INLEITUNGZU5IF/FX.FEJB3FBEFS .OAH7ARD RUIP &RUINAND.ICK-ONTFORT(G #AMBRIDGE-ASS -)40RESS  3 

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schlecht ausgerüstet, um sich dem Konflikt, der Langeweile, der Verwirrung, der Stagnation und den anderen Ausdrucksformen unserer nihilistischen Kultur zu stellen, die in unmoderierten Kanälen wie Mailinglisten, Blogs und Chatrooms auftreten. Wenn wir eine verteilte Ästhetik fordern, dann muss sie solche Erfahrungen der Stagnation in vernetzten Strukturen berücksichtigen. Sie sollte aber auch in der Lage sein, diese Netzerfahrungen mit einem Potenzial des Netzwerks zur Transformation und Mutation in etwas noch gar nicht ganz Kodifiziertes zu verbinden. Es reicht nicht, Netze als gesellschaftliche Realität zu verherrlichen. Uns geht es vielmehr um eine systematische Reflexion der Distributionsformate, die wir benutzen. Was zählt, sind Kulturen des Gebrauchs, die über genug Wissen verfügen, um gegebene Software, Schnittstellen und Inhalte in etwas umzubauen, was es zuvor nicht gab. Kann der User wirklich zu einem Netzarchitekten werden und über die Rolle eines vereinzelten Subjekts, das lediglich Spuren hinterlässt, hinausgehen? Wie werden User zu Entwicklern? Und, nicht zu vergessen, wie entwickeln sie die kritische Fähigkeit, in entscheidenden Momenten nicht zu reagieren? Neben diesen Möglichkeiten müssen wir auch das Konsumverhältnis zur technischen Verteilung – das andächtige Verfolgen des Downloads von P2P-Files – untersuchen (wie Sebastian Lütgert im Berliner Seminar empfohlen hat). Hier bleibt nicht viel übrig von der Autonomie des Users, und auch nicht vom westlichen Subjekt ganz allgemein. Es ist wichtig, den Status des Users neu zu bestimmen, wie es Pit Schultz in seinem Essay »The Producer as Power User«7 getan hat.

$IE+AR TEISTNICHTDAS.ET ZWERK Ein konkreter Fall verteilter Ästhetik zeigt sich im verbreiteten Drang, Karten zu produzieren. Warum ist Mapping so faszinierend?8 Wenn wir jetzt mit einer Frage angefangen haben und gleich darauf eine verneinende Geste folgen lassen, dann liegt das genau daran, dass das Netz – undurchsichtig, allgegenwärtig und informell – für verschiedene Strategien der Repräsentation eingesetzt wird. Karten von Netzwerken im Überfluss: Software zur Visualisierung krimineller Netzwerke wie ›PatternTracer‹ sind problemlos online zu beschaffen; ein ganzes Diskursfeld – die Analyse sozialer Netzwerke – ist um das Mapping von 7. 0IT3CHULTZ w4HE0RODUCERAS0OWER5SERi .ETTIME *UNI%RBESCHREIBT HIERDEN0OWER 5SERALSJEMANDEN DERwWEDER0ROlNOCH,AIEIST WEDER(OBBYISTNOCH 3ELBSTËNDIGER DER SICH ZWISCHEN 3OFA UND +àCHENTISCH BEWEGT MANCHMAL %XPERTE MANCHMAL$ILETTANT DERDIE6ORSTËDTEVERLËSST UMINS3TADTZENTRUMODERAUFS,AND ZUZIEHEN DER:UGUND&LUGZEUGBENUTZT ABERKEINEIGENES!UTOHAT3ICHVON0ROJEKT ZU0ROJEKTHANGELND IM7ECHSELZWISCHEN!RBEITSLOSIGKEITUNDPLÚTZLICHEM'ELDSEGEN HATDER0OWER 5SERDEN&ABRIKENUND"àROHËUSERNSCHONLANGEDEN2àCKENGEKEHRT UM ZUHAUSEZUBLEIBENUNDDERPOST INDUSTRIELLE!NTI (ELDZUSEINi 8. :UR WEITEREN $ISKUSSION DIESES 4HEMAS SIEHE *ANET !BRAHAMS  0ETER (ALL (G &MTFXIFSF .BQQJOH /FX $BSUPHSBQIJFT PG /FUXPSLT BOE 5FSSJUPSJFT -INNEAPOLIS 5NIVERSITYOF-INNESOTA$ESIGN)NSTITUTE 

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Firmen- bis zu Terrornetzwerken herum entstanden; auch der Karten-Amateur kann sich nun bei einer ›Karte des gesamten Internets‹ anmelden und die eigene Computer-Adresse als 3D-Darstellung im Netzwerk aller Adressen unterbringen und verlinken.9 Richard Rogers weist darauf hin, dass das Mapping von Netzwerken, insbesondere als Aufgabe von Geheimdiensten, mehr mit sich bringt als nur ein ästhetisches Ergebnis; wir stehen mitten in einem technoepistemologischen Umbruch, in dem Form und Format der Karte eine strukturierende Wirkung darauf haben, wie wir die Organisation (Struktur) und die Dynamik (Bewegung) von Netzwerken verstehen.10 Die theoretische Beschreibung von Netzwerken (im Gegensatz zu ihrer direkten Visualisierung) hat sich dagegen der Abstraktion verstreuter Elemente zu stellen – Elemente, die nicht in einem Bild erfasst werden können. Überhaupt steht der Begriff des Netzwerks im Konflikt mit dem Bedürfnis, den Überblick zu behalten. Mapping Software als technologische Antwort auf dieses Problem führt naturgemäß zur Reduktion von Komplexität und erzeugt eine begrenzte Zahl allgemeiner Kategorien, die sich auf die Karte anwenden und verbinden lassen. Die Kunst der Netzwerk-Visualisierung muss verschiedene Einschränkungen berücksichtigen, des Bildschirms, der Algorithmen und der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Wir können nur eine begrenzte Anzahl verbundener Elemente lesen und verstehen. Um Karten von Netzwerken durchschauen und nutzen zu können, müssen wir uns mit einem ›Wolken-Denken‹ vertraut machen, mit dem wir uns aus der Ebene der unmittelbaren Relationen herauszoomen, um ein ›größeres Bild‹ zu gewinnen. Nachdem wir uns von einem chaotischen Cluster entfernt haben, können wir später wieder zur ›Wolke‹ zurückkehren und die spezifischen Verbindungen zwischen einzelnen Elementen untersuchen. Karten machen sichtbar, was wir schon vorher ›gespürt‹ haben. Karten wecken einen Sinn für Erkenntnis. Und Karten von Netzwerken können auch unsere Wahrnehmung eines sich bildenden sozialen Gegenstandes strukturieren, ohne dabei allerdings die Voraussetzungen offenzulegen, auf denen dieser Impuls zur Organisation beruht. Netzwerk-Mapping offenbart ein Bedürfnis, ›im Bilde zu sein‹, »Dinge in Erfahrung zu bringen und spezielle Behauptungen aufzustellen, allein mithilfe eines technologischen Apparats, der immer weiter wächst, nur um das Verlangen, etwas ›wirklich zu wissen‹ und insbesondere ›wirklich zu wissen, was auch unsere Geheimdienste wissen oder wissen soll-

9. 0ATTERN4RACERISTEIN3OFTWARE 0AKETFàRPROFESSIONELLE%RMITTLER DESSEN!NA LYSENUND+ARTIERUNGENwSCHNELLUNDAUTOMATISCH#LUSTERUNDVERBORGENE-USTERAUF DECKENi0RODUCT/VERVIEWnI)NVESTIGATIVE!NALYSIS3OFTWARE WWWIINCCOM0RO DUCTS0ATTERN?4RACERDEFAULTASP  $AS MARKANTESTE "EISPIEL DAFàR WIE HEUTZUTAGE SOZIALE.ETZWERKEANALYSIERTWERDEN LIEFERT6ALDIS+REBS DERAUCHFEDERFàHRENDBEIM +ARTIERENDES.ETZWERKSDER"ETEILIGTENDES!NSCHLAGSAUFDAS7ORLD4RADE#ENTERWAR $IE7EBSITEDER+ARTEDES)NTERNETSISTHTTPMAPOFTHEINTERNETCOM 10. 2ICHARD 2OGERS w7HY -AP 4HE 4ECHNO EPISTEMOLOGICAL OUTLOOKi HTTP PZWARTWDKAHRONLMDRPUBSFOLDERWHYMAP

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ten‹, zu befriedigen«, wie es Richard Rogers ausdrückt. 11 Das Mapping von Information – die Ästhetik der zeitgenössischen Visualisierung – verschafft ein Gefühl der Erleichterung, dass die verdrehten und unstrukturierten Teilchen, die in unserem Unterbewusstsein herumtreiben, endlich in eine Ordnung und zur Ruhe kommen. Ein wildes Tier wird gezähmt. Gegen die heute unterstellte Transparenz der Karten betonte Nils Röller beim Seminar in Berlin jedoch ihre Tradition, ein Geheimnis zu verbergen. Oft eröffnete der Besitz von Karten dem Forscher exklusiven Zugang zu Ressourcen und Macht. Warum sollte man eine Karte benötigen, wenn man schon weiß, wohin man will, fragte Röller. Er schlug vor, stattdessen den Begriff ›Kompass‹ zu verwenden.Die Faktoren, die die Computer-Umgebung bestimmen, werden zu oft so wahrgenommen, als wären sie lediglich an der Ebene der Schnittstelle orientiert. Ist es der Ausschlussmechanismus, der die Open-Access-Bewegung weiter antreibt? Ist es noch relevant, danach zu fragen, welche Information aufgedeckt wird und welche versteckt? Offensichtlich haben heutige Aufzeichnungsmedien, von Satelliten bis zu Handykameras, andere Grenzen. Wie sieht es mit dem kühnen Anspruch von Archive.org aus, einen »universalen Zugang zum menschlichen Wissen« bereitzustellen? Was passiert, wenn die Schnittstellen zu komplex und die Datenbanken von Nonsense-Information überwuchert werden? Der Drang, den vollständigen Überblick zu gewinnen, schlägt an diesem Punkt in Wahn oder Missmut um. In den späten neunziger Jahren erfuhr das Netzwerk-Mapping eine signifikante Veränderung in seiner Geometrie und Visualisierung. 12 Während wir von der Übertragung von Strömen auf den geopolitischen Raum zu einer abstrakten Topologie übergingen, hat sich gleichermaßen unsere Vorstellung von Netzwerken verschoben. Wir entwickelten Interesse an Beziehungen, Dynamiken und Soziabilität im Gegensatz zu Datenverkehr, Verbindungen und Online-Gemeinschaft. Dieser Wandel in der Visualisierung des Netzwerk-Mappings hatte Vorund Nachteile – wir wissen heute, dass Netzwerke andere Strukturen darstellen, die nicht den alten Unterscheidungen zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft entsprechen. Aber die zunehmend abstrakte topologische Visualisierung von Netzwerken hält uns davon ab zu analysieren, wie Netzwerke sich in gegenwärtigen politischen, ökonomischen und sozialen Zusammenhängen einmischen oder eingesetzt werden. Auf jeden Fall enthüllen Karten die Art und Weise, wie wir die Dinge in einem gegebenen historischen Moment wahrnehmen. Wenn man die MerkatorKarte (1569) jetzt, von einem Moment ›nach‹ ihrer speziellen Wahrnehmungsaufteilung entlang kolonialer Achsen aus, analysiert, enthüllt sich, was mit der Ordnung der Welt entlang einer Nord-Süd-Kartographie politisch und ökonomisch auf dem Spiel stand. Vielleicht wird Netzwerk-Mapping auf ähnliche Weise die Logik offenbaren, die hinter seinem Drang steht, Komplexität einzudämmen und die inneren Abläufe einer Netzwerkgesellschaft nachvollziehbar 11. %BD 12. $ODGE -UND+ITCHIN 2 "UMBTPG$ZCFSTQBDF ,ONDON2OULEDGE  3



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zu machen. Es könnte dann interessanter sein, nicht einfach nur die Karte zu betrachten, sondern auch die zugrunde liegenden Bedürfnisse, die NetzwerkMapping zu befriedigen versucht. Wenn die Kartographie in der Vergangenheit mit imperialer Raumeroberung verbunden war, welcher Raum kann heute noch erobert werden – der Raum zwischen den Knotenpunkten, oder gar der Raum aller möglichen Verbindungen und Links? Genau wie Netzwerkstrukturen Hinweise darauf liefern, dass eine unklare Umbildung der Kategorien für das Verstehen des Sozialen sich selbst aushebelt, zeigt das Mapping dieser sich neu ordnenden Sozialität eine Ästhetik, die sich eher mit wilden, mutierenden Formen entstehender sozialer Beziehungen verbindet. Es überrascht nicht, dass der Anstoß zum Netzwerk-Mapping heute einerseits von den Sozialwissenschaften ausgeht und andererseits von der Analyse, Ermittlung und Verfolgung von Verbrechen.13 Wir sollten dem um sich greifenden Willen zum Netzwerk-Mapping selbst gegenüber ebenso misstrauisch sein. Für Brian Holmes gibt es andererseits keinen Grund, die Bedeutung des Erstellens von Karten herabzusetzen. Und für das bureau d’études sind ihre Karten Werkzeuge wie alle anderen, die in Workshops für spezifische Zwecke eingesetzt werden.14

$ER&OU #ODE Während der letzten zwei Jahrzehnte ist die Ästhetik ausgeweitet, gedehnt und auf den Kopf gestellt worden, um sich von einer Disziplin, die sich der Interpretation von Bedeutung und Struktur des Schönen widmet, zu einer philosophischen Praxis zu entwickeln, der es unmittelbar um die Umstände des zeitgenössischen Lebens geht. Ästhetik ist nicht die Wissenschaft der verführerischen Bilder, die Geschmack auf eine reine Angelegenheit von Statistiken und Anschauungsbeispielen reduziert. Stattdessen müssen wir die Aisthesis heutiger vernetzter Erfahrung untersuchen. Wie nehmen wir die unsichtbaren, aber doch allzu realen Beziehungen wahr, die uns immer mehr umgeben? Das Projekt Verteilte Ästhetik soll als partizipatorische Reise von Netzbenutzern verstanden werden, mit dem Ziel, das Noch-nicht-Beschriebene und Noch-nichtVeranschaulichte einzufangen und über die Unterscheidungen von real-virtuell, neu-alt, offline-online, global-lokal hinauszugelangen. Wir sollten aufhören, die Verbindungen darzustellen, die sowieso schon da sind, sondern mit den Möglichkeiten einer vernetzten Logik Verbindungen zu den Elementen herstellen, die zwar schon im Netzwerk sind, aber noch kein fester Bestandteil von ihm. Es geht darum, ein Projekt anzuregen, das eher einer sozialen Ästhetik oder Ais13. 3IEHE -ARK 'RANOVETTER w4HE 3TRENGTH OF 7EAK 4IESi 4HE !MERICAN *OUR

NAL OF 3OCIOLOGY M -AI  3  UND 0HIL 7ILLIAMS w4RANSNATIONAL #RIMINAL.ETWORKSi IN/FUXPSLTBOE/FUXBST5IF'VUVSFPG5FSSPS $SJNF BOE.JMJUBODZ *!RQUILLAAND$2ONFELDT(G 3ANTA-ONICA2!.$#ORPORATION  14. -EHR ZU .ETZWERKEN UND +ARTEN IN *ANET !BRAMS  0ETER (ALL (G &MTF XIFSF.BQQJOH /FX$BSUPHSBQIJFTPG5FSSJUPSJFT -INNEAPOLIS 5NIVERSITY OF -INNESOTA $ESIGN)NSTITUTE 

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thesis entspricht und auf die kollektive Erfahrung zurückgreift, gleichzeitig in Netzwerke verstrickt und aktiver Teil ihres Entwicklungsprozesses zu sein. Wir können dies in Gegensatz zur abstrahierten Tätigkeit des reinen Mappings von Datenmengen stellen, wie z.B. bei Karten sozialer Netzwerke, die von den Codes und Konventionen der Konnektivität schon besetzt sind. Wir brauchen keine allegorischen Lesarten von Netzwerken. Netzwerke sind keine Vorschläge, Konstruktionen, Metaphern oder gar Alternativen zu bestehenden sozialen Einheiten wie Kirche, Unternehmen, Schule, NGO oder politische Partei. Stattdessen sollten wir den Aufstieg von Netzwerken als ein allzu menschliches Unterfangen mit allen tragischen Aspekten analysieren, nicht als posthumane Maschinen, die automatisch die Verbindungen zwischen uns schalten. Netzwerke sind weder die Antwort auf globale Probleme noch ein Ersatz für vergessene Religionen oder zerfallene Gemeinschaften. Sie sind auch keine Modelle, die von einer politischen Situation oder Krisenlage auf eine andere übertragen werden können. Richtig ist sicher, dass Technologie Vernetzung vorantreibt. Aber dieser Zusammenhang ist nicht das Ein und Alles eines Netzwerks. Wir dürfen nicht auf Techno-Widersprüche hereinfallen wie bei der sozialen Software, wo suggeriert wird, dass Technologie die Menschen (wieder) vereinigt.15 Eher sollten wir Netzwerke interpretieren – und genießen – als ›Info-Wolken‹, die die Sonne verdecken und das strahlende Licht der Massenmedien zerstreuen. Netzwerke funktionieren als ›Fragmentierer‹. Sie zerlegen starke Zeichen und Erfahrungen in zahllose Stränge. Die vielen Info-Teilchen mögen in sich selbst bedeutungslos sein, aber ihre Summe bietet zusammengenommen genug Zerstreuung, um das Aufmerksamkeitsmonopol von Tageszeitungen und Fernsehen zu kippen. Dies passiert nicht durch die klassische aktivistische Strategie, parallele Gegenwelten aufzustellen. Listen, Blogs, Chatrooms und soziale Netzwerke sind der »lange Schwanz« der Medienlandschaft. 16 Die Netzwerke zerstören die Medien nicht, sondern besetzen die Hauptbühne und produzieren weiter das Hintergrund-Geräusch der geschwätzigen Klassen. Es zählt nicht, welche Größe sie erreichen. Statt einer Übernahme durch die Unternehmenswelt entgegensehen und Maßnahmen gegen das Ableben vernetzter und lokativer Medien ergreifen zu müssen, ist es eher wahrscheinlich, dass bestimmte Teilstücke der Blogosphäre in kommerzielle Interessen integriert werden. Der Rest des Online-Rauschens wird mit hoher Wahrscheinlichkeit im digitalen 15. %S GIBT KEINE STANDARDISIERTE 6ERWENDUNG ODER )NTERPRETATION DES "EGRIFFS kSOZIALE3OFTWAREj%RWIRDVON-ARKETING -ANAGERNUND%NTWICKLERNRADIKALER3OFTWARE BENUTZT UMZWEIPOLARISIERTE6EKTORENIN.ETZWERKENZUKLASSIlZIERENnDASSOZIALE UNDKOLLEKTIVE6ERSTËNDNISUNDDIE0RODUKTIONVONVERTEILTER3OFTWAREUNDDENDIREKTEN %INSATZVON3OFTWAREZUR(ERSTELLUNGSOZIALER"EZIEHUNGENZWISCHEN%INZELSUBJEKTEN 5NSER)NTERESSEHINSICHTLICHDES'EBRAUCHSUNDDER7EITERENTWICKLUNGDES3OZIO 4ECH NISCHENLIEGTBEIDERZWEITEN6ERWENDUNG3IEHEZ"DEN!RTIKELVON3TOWE"OYD w!RE 9OU 2EADY FOR 3OCIAL 3OFTWAREi IN $ARWIN )NFORMATION FOR %XECUTIVES -AI  WWWDARWINMAGCOMREADSOCIALHTML 16. #HRIS!NDERSON w4HE,ONG4AILi IN7IRED  /KTOBER WWWWIRED COMWIREDARCHIVETAILHTML

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Vergessen enden. In der Zwischenzeit werden Blogs, Wikis, Podcasting – und was immer folgen mag – unter der Rubrik Mediendiversifikation weiter laufen. Nichts ist so fließend, fragil – und kurzlebig – wie die heutige Netzwerk-Landschaft. Derweil könnten wir die Informationsteilchen, die unseren Weg kreuzen, als kurzfristige Lösungen für die systemischen Krisen behandeln, welche der Zusammenbruch sowohl der massenmedialen Absatzmärkte als auch der digitalen High-End-Ästhetik mit sich bringt. Daten fließen ›Peer-to-Peer‹ durch Netze, die die Behörden kaum erfassen können. Bis der Rechtsstaat – und mit ihm auch die Akademiker – dann irgendwann mal vorstellig geworden sind, sind die Herden längst zu cooleren Weideplätzen weitergezogen. Lasst uns keine Heilserwartung in diese ganze Verteilung legen. Verteilte Medien sind einerseits zu lose und andererseits auch zu umfangreich, um ein neues Utopia auf sie zu bauen. Ihre fragmentarische Natur wird Wirkungen zeigen, aber es gibt keinen Grund, dem wir sie zuordnen können. Es wird uns kaum gelingen, all die endlosen Linklisten, unbeantworteten Anrufe und E-Mails, hübschen Blogs und stagnierenden Konversationen unter dem Banner umfassender sozialer und medialer Transformation zusammenzubringen. Nichtsdestotrotz werden wir einen Modus finden müssen, ihren täglich wachsenden Anteil an unserer Wahrnehmung einzuordnen, die Art, wie sie kleine Veränderungen in unseren sozialen Beziehungen zu anderen, aber auch zu größeren Einheiten wie den Mainstream-Medien bewirken. Was Netzwerk-Theorie – und mit ihr verteilte Ästhetik – als Erstes in Angriff nehmen muss, ist der Mythos vom nahtlosen und fortwährenden Wachstum. Damals in den goldenen Dotcom-Tagen stellte man sich Netzwerke als dynamische, ewig wachsende Gebilde vor. Heutzutage haben wir uns darauf verlegt, obsessiv die Mikropolitik von Netzwerken in Netzwerken zu untersuchen. Zu erfahren, dass unser soziales Netzwerk uns mit 371.558 ›Freunden‹ verbindet, ist beeindruckend, aber nutzlos. An diesem Punkt werden Freunde zu einem bloßen Effekt eines Netzwerks, bilden aber keine konstituierenden Verbindungen mehr.17 Die Soziologen legen mit ihrer Rede von ›egozentrischen‹ Netzwerken eher den Antrieb offen, der ihre eigenen Gedankenbewegungen bei der ›Analyse sozialer und organisatorischer Netzwerke‹ prägt. Die Mikroebene ist von atomisierten Individuen überflutet, und wir verschwenden nur unsere Kapazitäten, wenn wir versuchen, die Umrisse und Ausprägungen von Netzwerken durch Nachzeichnen der Link-Linien zwischen den Knotenpunkten zu erfassen. In Wirklichkeit können diese Linien, die so verbunden, nahtlos und glatt auf den Netzwerk-Karten erscheinen, niemals die im Herstellen und Pflegen eines Links steckende menschliche Arbeit wiedergeben, seinen plötzlichen Tod, oder den Richtungswechsel eines Netzwerks, wenn starke Linien verschwinden. Rhizome haben in der Tat merkwürdige Formen, und es sind kleine Wur17. 3IEHEVORALLEMDAS&RIENDSTER .ETZWERK DASDARAUFZIELT wDIE-ACHTDERSO ZIALEN 6ERNETZUNG IN JEDEN ,EBENSASPEKT HINEINZUTRAGEN UND SO DIE 7ELT KLEINER ZU MACHENkJEDESMALEINNEUER&REUNDji)N!BOUT&RIENDSTER WWWFRIENDSTERCOMINFO INDEXPHPSTATPOSFOOTER

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zeln, die irgendwann wieder wegsterben. Aber so ist es auch mit Bäumen. Das Problem des naiven Klonens von Deleuzes und Guattaris Botanik im NetzwerkKontext liegt im notorischen Bekenntnis zum ›Wachstum‹. Die Möglichkeiten, die die Traummaschine des Netzwerks zu eröffnen scheint, machen blind. Netz und Info-Kapital tendieren hier eher dazu, sich anzunähern, anstatt Reibung, Komplikationen oder gar Vergiftung zu schaffen. Demgegenüber könnten wir sagen, dass Wachsen nicht bloß Expansion, sondern auch Erwachsen-Werden bedeuten kann. Es gibt zu viel Quantität im Medienraum, und Wachstum ohne Veränderung und Sterben bedeutet nur die Multiplikation und das Klonen weiterer Netzwerke verbundener atomisierter Einheiten. Nötig haben Netzwerke aber Ideen und ästhetische Projekte, die ihnen eine Richtung geben, wie sie reifen und sich transformieren können. Das Konzept der Verteilung z.B. impliziert nicht automatisch nahtlose Ausdehnung. Ziehen wir einmal einen Unterschied zwischen Wachstum und Fortdauer. Wachstum ernährt den Lebenszyklus des Kapitals, und das Kapital liebt Wachstum jeder Art, ob nach oben, unten oder nach außen. Fortdauer andererseits zeichnet sich dadurch aus, dass etwas hartnäckig überlebt, und sein Wachstum oder Zerfall von anderen Kräften, Umständen und eigener Anstrengung abhängt. Teile des Netzwerks brechen ab und verdorren, und möglicherweise kann wegen dieses kleinen Todes etwas anderes wieder überleben. Aber vielleicht wird dieses ganze kleine Biotop auch eines Tages eingehen, und dann gibt es kein Netzwerk mehr im Hintergarten. Soziale Online-Strukturen sind mehr wie Ranken, die hervorschießen und wieder verschwinden – die Mailingliste z.B. lebt nur, solange ihre Mitglieder Inhalte eingeben. Sie stecken Arbeit in ihr Profil und ihre Entwicklung und liefern neue Impulse, während die übergreifende Form stets mitläuft. Aber schließlich erlischt ihre Energie und es wäre sinnlos, sie weiter zu pflegen. Zwischen einigen Teilnehmern bleibt noch etwas übrig, oder es entsteht woanders ein neues Projekt, aber dann ist dieses Etwas, dieses Netzwerk auch zu etwas anderem geworden. Diese Prozesse sind nicht alle Teil desselben wachsenden ›Organismus‹ oder sich selbst organisierenden Systems. Versuche, Prozesse als singuläre Kräfte des Wachstums zu homogenisieren oder dauerhaft zu machen, sind typisch für das Kapital. Die Prozesse selbst dagegen sind laterale, kumulative und mit reduzierter Energie betriebene Formen der Arbeit; auch typisch für das Kapital, aber zum größten Teil auf der unbezahlten Seite seines Kreislaufs.

'EGEN"IOLOGISMUS Netzwerke entstehen nicht aus dem Nichts. Es sind kybernetische Konstrukte, die, einmal gegründet und eingeführt, hervorbrechen und dann wieder vor sich hin schlummern, abnehmen, immer weiter machen, einschlafen und wieder aufwachen, bevor sie eines plötzlichen Todes sterben oder einem entropischen Niedergang entgegengehen. Netzwerke folgen nicht dem vereinfachenden Modell der linearen Mechanik oder der Evolutionsentwicklung. Eine kritische Theorie der Skalierbarkeit oder der Nachhaltigkeit muss über die biologischen

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Metaphern der Ansteckung, der Copy-Paste-Epidemie und der Meme hinausgehen. Wir müssen unterscheiden zwischen real existierenden Mustern und Verhaltensweisen innerhalb technischer Netzwerke und den feuchten Träumen (oder Albträumen) der Marketingabteilungen, die den unvorhersehbaren Bewegungen ihrer Blogger-Kunden einen positiven Drall zu geben versuchen. Komplexität – von Daten, von Verbindungsstrukturen – ist als Entschuldigung, wenn es zu schwierig wird, technische und kulturelle Phänomene nachzuvollziehen, schon reichlich ausgewalzt worden. Da erscheint es verlockend, die Komplexität gänzlich in die Maschine zurückzuleiten, damit die sie doch selbst analysiert. Zahlen sind zu mühsam, wenn wir stattdessen auch ein Bild bekommen können. Komplexität sollte aber keine Entschuldigung sein, um die Arbeit des menschlichen Gedankens und der menschlichen Schöpfung – theoretisch und ästhetisch – auf Netzwerk-Software abzuschieben. Komplexität ist schwierig und anstrengend, aber trotzdem ästhetisch zu bewältigen. Wir dürfen die Komplexität des vernetzten Lebens nicht an technische Verfahren abtreten. Wenn wir Ideen suchen, wie diese komplexe Netzwerk-Ästhetik geleistet werden kann, sollten wir weniger in die Karten und mehr auf Skizzen und Rohentwürfe blicken, die auf eine Kategorie des ›Relationalen‹, das aus Möglichkeiten gebildet wird, hinweisen. Das wäre etwas anderes, als reale Beziehungen verkürzten Modellen von Nutzwert und Konnektivität zu unterwerfen. Schauen wir z.B. auf eine Arbeit wie Graham Harwoods Research-Software NetMonster. 18 Hier werden variable Keywords, die in Beziehung zu aktuellen Bild-Interessen oder -Obsessionen eines Users stehen, eingesetzt, um eine Suche nach Webseiten zu starten, die diesen Wörtern entsprechende Texte oder Bilder enthalten. Die Suche bringt von diesen Seiten nur blanken Text und Bilder zurück, die dann um eine nach den Bild-Obsessionen des Users erstellte Bildmaske arrangiert und so collagiert und neu dargestellt zu werden, dass sie in ihren verschlungenen Verbindungslinien mit sich selbst zusammenprallen. Die Links, die Text und Bild in NetMonsters re-collagierter Darstellung verbinden, ergeben sich aus einem Differenzial zwischen dem, was online schon vorher verlinkt ist – den ›(medial) vermittelten Voraussetzungen der eigenen Existenz‹ des Bildes – und den Variablen, die der User über die Maske mit seinen Keywords in diese Verbindungen einbringt. Es gibt noch weitere Aspekte dieser Software, wenn der Webcrawler z.B. automatisch versucht, die Telefonnummern und E-Mail-Adressen der gesammelten Seiten zu spammen, um Leute darauf aufmerksam zu machen, wie ihre Informationen mit einem Link oder einer Verbindung in widersinniger Weise verknüpft sind. So führt diese Arbeit zu einer anti-navigatorischen und unauflösbaren ästhetischen Oszillation. Ihre Informationsleistung ist eher monströs, zügellos und pathologisch als freundlich und soziabel. Wie Harwood nahelegt, bewegt sich das Bild in den unbestimmten und unimaginierbaren Verhältnissen der verteilten Information. »Das Bild agiert als Vorschlag – frustriert – unbestimmt oszillierend zwischen der Fähigkeit, etwas zu sagen und zu zeigen.«19 18. WWWSCOTOMAORGNOTESINDEXCGI.ET-ONSTER 19. 'RAHAM (ARWOOD .ET -ONSTER n 2ESEARCH 3ITE (OW)T7ORKS WIKIZU lNDEN

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Wir brauchen eine komplexere Vorstellung von Netzwerk-Gemeinschaft als das Konzept sozialer Software, das gegenwärtig mit der Charakterisierung von Freundes- oder Partner-Netzwerken im Rahmen von Online-Dating-Datenbanken verbunden wird. Wir brauchen ein komplexeres Verständnis der visuellen Ebene von Information als nur die abbildende Karte des Netzwerks. Netzwerke sind nicht durch Software miteinander verbunden, und Software macht uns nicht sozial. Netzwerke sind nicht in beliebig skalierbare Landschaftsdetails auflösbar, die genau ins Browser-Fenster passen. Aber ebenso können wir das Soziale auch nicht von der Software trennen; tatsächlich müssen wir uns einfach spezifischer damit befassen, wie das Soziale und seine unzähligen Ästhetiken mit und in der Software agieren. Wie wird ein Netzwerk – auf technischer Ebene und durch kreative Leistung – tatsächlich aufrechterhalten? Wie soll die Netzwerkerfahrung reflektiert und empfunden werden? Wessen Arbeit – kreativ, manuell, qualifiziert, desorganisiert etc. – hält es am Laufen? Welche rhetorischen Eingriffe anderer Bilder neo-liberaler Demokratietheorie und ihrer Vorstellungen individuell zugeschnittener Partizipation dringen ein und infiltrieren die fragilen Verbindungen, die sich zögernd innerhalb der vernetzten Erfahrung entwickeln?

7OHINGEHSTDU Netzwerke sollten nicht über die auf dem Display sichtbaren Links definiert werden. Die ›Verlinkung‹ zu einem Netzwerk kommt nicht aufgrund von (digitaler) Information zustande. Deshalb ist es so trügerisch, einen Computer zu bitten, ein Netzwerk zu visualisieren, oder überhaupt Linklisten zu vertrauen. Einen Link zu setzen ist Arbeit, eine mühsame Tätigkeit, die Präzision und Hingabe verlangt. Nur wenige von uns entwickeln eine Routine, die uns zur ›gefühlten Erfahrung‹ des wirklichen Verlinkens in einem Netz führt. Die heutige Netzwerkexistenz springt von einem Medium zum nächsten, verlangt aber auch, dass wir zu unseren Links zurückkehren, und unsere Arbeit des Verbindens immer weiterführen. Was macht das Verlinken aus, und wie sollten wir sein Spiegelphantom, oder eher, seinen Schatten beschreiben? Ein Link als Hinweis auf ein anderes Objekt der Informationssphäre kann nur Ergebnis eines bewussten Akts sein. Es gibt kein automatisiertes Verfahren, mit dem Links gesetzt werden. Und es gibt auch kein unbewusstes oder unterschwelliges Verlinken. Dies könnten alles Anreize für wissenschaftliche Untersuchungen sein, aber bislang gibt es sie nicht. Verlinken ist harte Arbeit. Es ist ein Kraftaufwand und sollte als Spezialtätigkeit betrachtet werden. Es gibt keine Routine des Verlinkens. Es ist ein Präzisionsjob, der ständiger Kontrolle bedarf. Aber das Gegenteil des bewusst gesetzten Links ist nicht der kaputte, sondern der fehlende Link. Wir suchen jedoch nach einer Ästhetik, die mit Konflikt, Langeweile, UNTER WWWSCOTOMAORGNOTESINDEXCGI(OW)T7ORKS 0LUS 2ESEARCH 3ITE $ESCRIPTI ON WIKIZUlNDENUNTERWWWSCOTOMAORGNOTESINDEXCGI.ET-ONSTER$ESCRIPTION

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Konfusion und Stagnation zurechtkommt – und soziale Komplexität (im Gegensatz zu Bio-Komplexität) einbezieht. Gleichzeitig beschäftigen wir uns in Bezug auf Netzwerke mit einer non-visuellen Ästhetik oder zumindest einer visuellen Ästhetik, die nicht bildhaft ist und als solche nicht abgebildet werden kann. Von welcher Art Ästhetik also kündet das Netzwerk? Wir sollten nicht vergessen, dass unsere Debatten nicht aus heiterem Himmel kommen, sondern auf bestimmte Software-Konfigurationen reagieren, die geändert werden können. Eine zukünftige Generation von Blogs mag vielleicht nicht mehr die Option bieten, von außen auf Postings zu antworten. Infolge zu vieler Spams könnte bei Wikis die Möglichkeit abgeschafft werden, den Text zu verändern. Gleichzeitig könnten wir einen enormen Zuwachs beim Datenfluss durch mobile Kommunikationsräume erleben. Diese Konfigurationen stellen nicht bloß technische Neuerungen oder Entwicklungen dar. Auf Software-Ebene sind sie leicht zu schreiben und zu implementieren. Ihre innovative Kraft liegt nicht in der Komplexität ihres Codes, sondern darin, dass sie auf der techno-sozialen Ebene so einfach und nahtlos eingefügt werden können. Diese Simplizität kommt von vielen Seiten und Kräften gleichzeitig – Effizienz, Standardisierung, wirtschaftliche Realisierbarkeit, aber auch von den Umgehungsstrategien und Erfindungen der Nutzer. Wir beschränken uns nicht nur auf Reflexion, Abbildung oder Imagination, wenn wir auf eine verteilte Ästhetik zugreifen, wir konfigurieren sie auch und gestalten sie neu. Soziale Netzwerke sind keine losgelösten Einheiten, die irgendwo draußen als parallele Realitäten herumschweben. Eher reflektieren – und beschleunigen – sie Tendenzen, die schon existieren. Das müssen wir beachten, wenn wir die narkotische und depressive Kultur sozialer Netzwerke wie Orkut, Friendster und MySpace erörtern. Traurigkeits-Management ist eine Schlüsseldisziplin in dieser ›Prozac-Gesellschaft‹. Soziale Angst, Gadget-Sucht und Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom sind alle Teil eines komplexen Zusammenhangs von Phänomenen. Elektronische Einsamkeit und entfesseltes Networking sind bei weitem keine Gegensätze. Netzwerke können uns runterziehen und sind keinesfalls als Lösung für den herrschenden Geisteszustand zu verstehen. In diesem Sinne kann verteilte Ästhetik auch als Medizin zur Belebung unserer Stimmung gesehen werden. Konzepte sollten Spannungen nicht nur erfassen, sondern auch kreieren. Verteilte Ästhetik hat bewiesen, dass sie in der Lage ist, die Isolation der Vorstädte zu überwinden. Lasst uns auch die Leiden des jungen Bloggers lindern. Statt die Leute mit der Frage festzunageln: »Wo bist du?« können wir genauso gut Wunschziele ausarbeiten: »Wohin gehst du?« Also Matrizen des Möglichen zeichnen und einen Bereitschaftszustand erreichen, wie ihn Jordan Crandall beschrieben hat: »Es ist ein Zustand, der sowohl auf der Wahrnehmungs- als auch der körperlichen Ebene wirksam wird, wo man nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv beteiligt ist. Eine Form von Wachheit im Übergang zur Handlung, wo der aufmerksame und optimierte MaschinenKörper geweckt und darauf eingestellt ist, in Aktion zu treten.«20 20. *ORDAN #RANDALL w7AR $ESIRE AND THE k3TATE OF 2EADINESSji .ETTIME  *UNI

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Eine Netzwerk-Theorie, die technologisch im Bilde ist, muss den eingeschränkten Kanon, der die verbreitete Netzwerk-Literatur durchzieht, überschreiten. Wie die Medici ihr Imperium führten oder wie gewisse Schüler-Cliquen später als Lenker mächtiger Unternehmen in Erscheinung treten, das sind alles interessante Beispiele, aber sie tragen herzlich wenig zu der Erklärung bei, wie die heutige Online-Welt funktioniert. Kurz gesagt, ein stabiles Old Boys Network bietet keine Vergleichsbasis für die Instabilität großer sozialer Netzwerke, die von einem Moment auf den anderen zum nächsten Anbieter weiterziehen. Es ist leicht, der amerikanischen Kultur einen außerordentlich inflationären Einfluss auf den Begriff ›Freund‹ vorzuwerfen. Gegen das manische Sammeln von Freunden auf Orkut und MySpace (aber z.B. auch dem Business-Netzwerk LinkedIn) gerichtet, können wir uns darüber verständigen, was wirkliche Freundschaft bedeutet und dazu Foucault zitieren. Wir können solche naheliegenden Stellungnahmen aber auch sein lassen und einfach zugeben, dass Freundschaft im Internet keinerlei romantische Konnotation besitzt. Die Freunde-Option dient vor allem dazu, eine soziale Umgebung auszugestalten und Beziehungen zu homogenisieren. Das Soziale ist hier nichts Gegebenes, das durch Familie, Schule, Kirche, Arbeit oder Gesellschaft definiert wird, sondern etwas, das man auf persönliche Weise erst konstruieren muss. Verteilte Ästhetik kann ein Stichwort, ein kritisches Konzept und ein Projekt sein. Immer wieder hat es sich als produktiv erwiesen, philosophische Begriffe zu verwenden und sie als Metapher einzusetzen, die uns bei der Reise zu einem unbestimmten Ziel unterstützen. Es ist nun höchste Zeit, Kunstgeschichtler und -kritiker und viele andere aus diesem Feld einzuladen und sie mit dem Umstand der Vernetzung zu konfrontieren. Dabei mag deprimieren, dass viele Aktivitäten nicht über den Erwerb von Waren und Diensten hinausgehen, deren Entwicklung lange Jahre zurückliegt. Selbst jene, die an vorderster Front stehen, müssen erkennen, dass wir uns die ganze Zeit mit Konsumgütern von gestern beschäftigen. Die Kluft zwischen Unternehmen und Regierungen, bei denen innovative Anwendungen längst im Einsatz sind, und der kulturellen ›Arrièregarde‹ ist größer als je zuvor. Verteilte Ästhetik ist eines unter vielen Projekten, die sich für eine radikale Beschäftigung mit heutigen TechnologiePlattformen einsetzen. Das Mindeste, was wir tun können ist, wieder Anschluss zu gewinnen.

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$IE%INFàHRUNGORGANISIER TER.ETZWERKE   !UFDER3UCHENACH NACHHALTIGEN+ONZEPTEN Auf den ersten Blick erscheint das Konzept ›organisierter Netzwerke‹ selbstevident. Technisch gesprochen, sind alle Netzwerke organisiert. Es gibt Gründer, Administratoren, Moderatoren und aktive Mitglieder, die alle spezifische Rollen übernehmen. Netzwerke bestehen aus beweglichen Beziehungen, deren Anordnung wiederum in jedem Moment vom ›konstitutiven Außen‹ des Feedbacks oder des Rauschens geprägt wird. 2 Die Ordnung von Netzwerken bildet sich aus einem Kontinuum von Beziehungen, geleitet von Interessen, Leidenschaften, Einflüssen und pragmatischen Notwendigkeiten verschiedener Akteure. Das Netzwerk der Beziehungen ist nie statisch, aber auch nicht zu verwechseln mit einer Art fortwährender Fluidität. Das Bedürfnis nach praktischen und konzeptionellen Untersuchungen organisierter Netzwerke rührt her vom Widerspruch zwischen dem Auftauchen einer Netzwerkgesellschaft (Castells) und dem untergeordneten und unsichtbaren Status, den Netzwerke in der Gesellschaft weiterhin haben. Nun, warum sollten Netzwerke sich organisieren? Ist ihre chaotische, desorganisierte Natur nicht etwas Positives, das man erhalten muss? Warum sollte die informelle Öffentlichkeit eines Netzwerks gestört werden? Der einfache Grund, weshalb Netzwerke organisiert sein sollten, ist, dass ihre Größe, Bedeutung und potenzielle Macht von Tag zu Tag wächst. Aber keine Sorge. Organisierte Netzwerke gibt es noch nicht. Das Konzept, das ich mit meinem Freund, 1. $IESER4EXTISTEIN2EMIXEINES%SSAYS DENICHGEMEINSAMMIT.ED2OSSITERGE SCHRIEBENHABE VERÚFFENTLICHTUNTERDEM4ITELw4HE$AWNOF/RGANIZED.ETWORKSiIN &IBRECULTURE*OURNAL HTTPJOURNALlBRECULTUREORGISSUELOVINK?ROSSITER HTML%INEITALIENISCHEÄBERSETZUNGLIEGTVORUNTERWWWCYBERCULTURAITBLOGP 3IEHEAUCH.ED2OSSITER 0SHBOJ[FE/FUXPSLT .FEJB5IFPSZ $SFBUJWF-BCPS /FX*OTUJUV UJPOT 2OTTERDAM.ETHERLANDS!RCHITECTURE)NSTITUTE  2. :UEINEMWEITERAUSGEARBEITETEN+ONZEPTDESKONSTITUTIVEN!U”EN IN"EZIEHUNG ZU -EDIENTHEORIE UND )NFORMATIONSPOLITIK SIEHE .ED 2OSSITER w#REATIVE )NDUSTRIES #OMPARATIVE-EDIA4HEORY ANDTHE,IMITSOF#RITIQUEFROM7ITHINi 4OPIA!#ANADIAN *OURNALOF#ULTURAL3TUDIES 3PRING  3 

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dem australischen Theoretiker Ned Rossiter, entwickelt habe, soll als Vorschlag verstanden werden, als ein im Werden begriffener Entwurf, der auf aktive Steuerung durch Widerspruch und kollektive Ausarbeitung zielt.3 Unnötig zu erwähnen, dass organisierte Netzwerke schon seit Jahrhunderten existieren. Man denke nur an die Jesuiten, die italienische Mafia, den weltweiten Drogenhandel oder globale Terrornetzwerke. Aber auch subjektive Geisteszustände lassen sich organiseren, wie z.B. ›organisierte Unschuld‹, die die Agentur Bilwet in dem Buch Elektronische Einsamkeit beschrieben hat. 4 Die Archäologie der organisierten Netzwerke kann und wird geschrieben werden, aber das bringt unsere Untersuchung im Moment nicht weiter. Das Spezifische der Netzwerke, über die wir sprechen, ist, dass sie sich im Raum der digitalen Medien befinden. Sie lassen sich charakterisieren durch ihre bewegliche Irrelevanz und ihre Unsichtbarkeit für die alten Medien und die herrschenden Mächte. Eine allgemeine Netzwerktheorie, wie sie von Duncan Watts and Albert-László Barabási ausgeführt wurde, könnte zu Aufklärungszwecken nützlich sein, wird aber nicht die Fragen beantworten, vor die sich die sozialen Netzwerke der kommenden Medien gestellt sehen. Es geht um eine allmähliche Verwandlung: Wie können Netzwerke, während sie sich in die Gesellschaft integrieren, zu etwas Anderem mutieren? Werden Netzwerke generell außerhalb bleiben oder werden sie sich verbinden? Aus der Perspektive organisierter Netzwerke heraus hätte Yochai Benkler sein Buch nicht Der Reichtum der Netzwerke, sondern Die Armut der Netzwerke nennen sollen, denn es gibt, zumindest bis heute, kaum Reichtum (in harter Münze), der sich in den Internet-basierten Netzwerken findet und den einzelnen Mitgliedern zugänglich wäre. Der unterstellte Reichtum ist, wie ich schon in der Einleitung angedeutet habe, ein Mem, das geschaffen wurde, um immer mehr einheitliche Amateure hervorzubringen. Eine mögliche Verbindung mit Bruno Latours Actor-NetworkTheorie muss noch untersucht werden, ist aber auch nicht selbstverständlich. Ist es befriedigend, wenn man weiß, dass Moleküle und DNA-Muster sich auch vernetzen? Die heutige Analogie-Industrie, die Natur mit Kultur und Kunst mit Wissenschaft vergleicht, verschafft ihren Autoren einen mächtigen Reputationsschub, ist aber in diesem Zusammenhang von geringem Nutzen. Tatsächlich lenkt sie nur ab von der dringenden Frage: Wie können Netzwerke organisiert werden und Sichtbarkeit sowie Erträge erzeugen? Es gibt keine Netzwerke außerhalb der Gesellschaft. Wie alle menschlichtechnischen Gebilde sind sie mit Macht infiziert. Netzwerke sind ideale Fou3. 3IEHEDIE$ISKUSSIONàBER'OVERNANCE :ENSURUNDORGANISIERTE.ETZWERKEAUF DER &IBRECULTURE -AILINGLISTE IM .OVEMBER$EZEMBER  WWWlBRECULTUREORG )N JàNGERER:EITHABEN$ISKUSSIONENAUFDER3PECTRE-AILINGLISTEZU-EDIENKUNSTUND+UL TURIN%UROPADAS4HEMADERNEUENINSTITUTIONELLEN&ORMENUND/RGANISATIONSMODELLE IM &ELD DER -EDIENKUNST ANGESCHNITTEN 3IEHE HIERZU DEN 4HREAD àBER k)## AND FOR THEMEDIAARTCENTEROF#j !UGUSTUNDDAS+APITELàBERDIE+RISEDER.EUEN -EDIENKUNSTINDIESEM"UCH 4. 3IEHE !GENTUR "ILWET &MFLUSPOJTDIF &JOTBNLFJU +ÚLN 3UPPOSÏ  WWW THINGDESKNLBILWET!GENTUR"ILWET%LEKTRONISCHE%INSAMKEIT.IHILTXT

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cault-Maschinen. Sie untergraben Macht, während sie sie produzieren. Die Netzwerke, mit denen wir uns beschäftigen, sind ein Produkt einer Befehlsund Kontrolllogik, und doch unterminieren sie diese gleichzeitig. Im Moment scheint es, als ob die Netzwerke, die sich im Internet gebildet haben, mehr als alles andere traditionelle Machtstrukturen einreißen. Es ist zu früh, um zu wissen, ob sie die Macht übernehmen oder klassische Formen der Macht besetzen, aber wir müssen es vermuten. Vorläufig feiern sie ihr eigenes Versagen im politischen Raum (wie die Kampagne Howard Deans, von der im ersten Kapitel die Rede war) und präsentieren sich im Umfeld der alten Medien als aufstrebende Agenten des Wechsels. Es ist einfach, Karrieren und Wahlkampagnen zu zerschlagen. Aber können Blogs auch über eine Nebenrolle hinausgehen und selbst soziale Prozesse initiieren? Das Ergebnis mag fraglich sein, doch damit man nicht den Zug verpasst, legt Hugh Hewitt in seine Warnung einen autoritären Unterton: »Die meisten Leute wissen, wer Luther ist. Nicht viele wissen, wer Leo X. ist. Weil Luther Leo nämlich bezwungen hat. Sei kein Leo!«5 Das Gegenstück zu organisierten Netzwerken ist nicht das regellose Feld des Chaos. Organisierte Netzwerke greifen durchgängig in die radikale Zeitlichkeit der gegenwärtigen Mediensphäre ein. Aufgrund kurzfristiger Interessen zu handeln ist das vorherrschende Muster, das sich bei Regierungen, Unternehmen und im Alltagsleben etabliert hat. Wir reagieren die ganze Zeit im Dauermodus von Panik und Krisenmanagement, und, wie Bifo aufzeigte, ist die Psychopharmakologie das bio-technische Gegenstück dieses Zustands.6 Organisierte Netzwerke drücken das Bedürfnis aus, sich heraus- und wegzubewegen von den bio-sozialen Mob- und Schwarm-Metaphern der neunziger Jahre und in eine höhere Ordnung zu gelangen, in der die außergewöhnliche Macht von Netzwerken erkannt und gewürdigt wird. Netzwerke brauchen nicht noch mehr Informalität (davon wird es immer genug geben), sondern eher eine Umgestaltung hin zu stärker formalen Beziehungen. Netzwerk-Nutzer betrachten den Kreis der Mitbeteiligten nicht als eine abgeschottete Sekte. Sie sind keine Art lebenslange Parteimitglieder, ganz im Gegenteil. Die Bande sind locker, bis zur möglichen Trennung. Um Netzwerke zu verstehen, müssen wir uns mit Nachlässigkeit und dem Vergnügen an der Resignation beschäftigen. Der Standard-User ist der passive ›Lurker‹. Engagement ist der Ausnahmefall, und wie in der politischen Philosophie in der Tat ein interessanter. Die Ausnahme ist weder selten noch die Regel. Anstatt sie überzubewerten oder zu unterschätzen, sollte man die Frage nach dem Signal-/ Rausch-Verhältnis von moralischen Überlegungen befreien und den Geist und die Figur des Prosumers als das sehen, was sie ist, nämlich Ideologie.

5. (UGH (EWITT #MPH 6OEFSTUBOEJOH UIF *OGPSNBUJPO 3FGPSNBUJPO 5IBUµT $IBOHJOH :PVS8PSME .ASHVILLE 4.4HOMAS.ELSON )NC  3XI 6. 3IEHE "IFO w"IOPOLITICS AND #ONNECTIVE -UTATIONi IN #ULTURE -ACHINE   HTTPCULTUREMACHINETEESACUK!RTICLESBIFOHTM

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,ÚSCHE 5NSCHULD Die Ontologie des Users spiegelt die Logik des Kapitals auf so viele Weisen. Der User verkörpert beispielhaft die Identität des Kapitals, das danach strebt, sich aus dem rigiden System der Regulierung und Kontrolle herauszulösen. Zunehmend ist User zu einem Begriff geworden, der mit der automatischen Konfiguration der Selbst-Erfindung korrespondiert. Manche würden sagen, der User ist bloß ein Konsument, still und zufrieden – zumindest solange, bis irgend etwas versagt, und dann bricht die Hölle aus. Der User ist die Identität der Kontrolle mit anderen Mitteln. In dieser Hinsicht ist er das leere Gefäß, das auf die geisterhafte Verlockung der digitalen Warenkulturen und ihres Versprechens von Mobilität und Offenheit wartet. Kein Platz für falsche Phantasien! Sozialität ist eng verbunden mit dem dynamischen Angebot an Techniken, die von der Macht des Kapitals zum Einsatz gebracht werden. Netzwerke sind überall. Die Herausforderung für die absehbare Zukunft liegt darin, die nächsten Öffnungen, Möglichkeiten, Zeitlichkeiten und Räume zu erschaffen, in denen das Leben sein Beharren auf eine ethisch-ästhetische Existenz geltend machen kann. Das organisierte Netzwerk ist zu verstehen als ein radikalerAnsatz, der darauf zielt, den problematischen Begriff der ›virtuellen Gemeinschaft‹ zu ersetzen. Organisierte Netzwerke lassen auch die Ebene des individuellen Bloggens überflüssig werden, deren Netzwerklogik dem hier entwickelten Konzept nicht entspricht. Es ist eine dringende Aufgabe, die internen Machtbeziehungen innerhalb von Netzwerken auf die Tagesordnung zu setzen. Erst dann können wir einen klaren Schlussstrich unter die unsichtbaren Arbeitsweisen der elektronischen Netzwerke ziehen, die die Konsens-Ära bestimmt haben. Organisierte Netzwerke sind Wolken sozialer Beziehungen, in denen die Loslösung an die Grenze getrieben wird. Gemeinschaft ist ein idealistisches Konstrukt und suggeriert Verbundenheit und Harmonie, die oft einfach nicht vorhanden sind. Dasselbe ließe sich auch auf den Ruf nach Vertrauen übertragen. Netzwerke schreien förmlich nach imaginären Formen der Unsicherheit. Netzwerke sehnen sich nach Höhepunkten an Aktivität und Rhetorik und sind doch ganz darauf eingestellt, lange, dumpfe Perioden von Sendepausen und niemals endenden Strömen von Banalitäten durchzustehen. Netzwerke gedeihen durch Unterschiedlichkeit und Konflikt (der ›notworking‹-Aspekt), nicht durch Einigkeit, etwas, worüber Gemeinschaftstheoretiker zu reflektieren nie in der Lage gewesen sind. Gemeinschafts-Verfechter setzen Streit mit dem Zusammenbruch des konstruktiven Dialogflusses gleich. Es kostet Anstrengung, Misstrauen als produktives Prinzip zu verstehen. Gleichgültigkeit unter Netzwerken ist einer der Hauptgründe, sich nicht zu organisieren, dieser Aspekt ist also ernst zu nehmen. Interaktion und Beteiligung sind idealistische Konstrukte. Organisierte Netzwerke stellen auch die mutmaßliche Unschuld der plappernden und klatschenden Netzwerke in Frage. Netzwerke sind nicht das Gegenteil von Organisationen, genauso wenig wie das Virtuelle das Gegenteil des Realen ist. Wir sollten sie stattdessen als aufkommende soziale und kulturelle Form analysieren. Netzwerke sind prekär, und ihre Verletzbarkeit sollte gleichermaßen als ihre Stärke und ihre Schwäche gesehen werden.

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*ENSEITSDER)NTER VENTION Nach Henk Oosterling wird die Informationsgesellschaft von Interpassivität beherrscht.7 Browsen, Gucken, Lesen, Warten, Denken, Löschen, Chatten, Überspringen und Surfen sind die Standardzustände des Online-Lebens. Grenzenlose Beteiligung bedeutet Wahnsinn. Aber wir bleiben cool. Netzwerke sind definiert durch einen gemeinsamen Sinn für ein Spektrum an Möglichkeiten, das nicht realisiert werden muss. Millionen Beiträge aus der ganzen Welt würden jedes Netzwerk, egal welche Architektur es hat, zusammenbrechen lassen. In allen Netzwerken gibt es längere Phasen der Passivität, die dann wieder durch Aktivitätsschübe abgelöst werden. Netzwerke fördern und vervielfachen lockere Beziehungen – dieser Tatsache sollte man ins Auge schauen. Sie sind hedonistische Maschinen für promiske Kontakte. Vernetzte Vielheiten erzeugen vorübergehende und freiwillige Formen der Zusammenarbeit, die über das Zeitalter der Unverbindlichkeit hinausreichen, es aber nicht notwendigerweise aufheben. Das Konzept der organisierten Netzwerke lässt sich gut für strategische Zwecke in Anspruch nehmen. Nach einem Jahrzehnt der taktischen Medien ist die Zeit gekommen, die Operationen radikaler Medienpraktiken auszuweiten und sich mit dem schwierigen Thema der Organisation zu beschäftigen. Inzwischen dürften wir alle aus der Retrophantasie des Wohlfahrtsstaats und seiner opulenten Förderung von Medien, Bildung, Kultur und Kunst aufgewacht sein. Netzwerke werden nie belohnt und in gut finanzierte Strukturen eingebettet werden. So wie die modernistische Avantgarde ihrem Selbstbild nach die Ränder der Gesellschaft auf brach, so haben es sich die taktischen Medien in der Idee gezielter Mikro-Interventionen gemütlich gemacht. Das Fort-Da-Spiel, das die Kommunikationsguerilla mit den alten Medien spielt, hängt wesentlich von den Aufs und Abs sozialer Bewegungen ab. Taktische Medien reproduzieren zu oft die kuriose raumzeitliche Dynamik und strukturelle Logik des modernen Staats und des industriellen Kapitals: Differenz und Erneuerung von den Peripherien. Dahinter steckt jedoch ein Paradox. So wirkungsvoll ihre Störaktionen oft auch sein mögen, bestätigen taktische Medien doch gleichzeitig den zeitlichen Modus des postfordistischen Kapitals: Kurzfristigkeit. Im Wesentlichen brechen sie nicht mit den Strategien des Verschwindens. Es ist rückschrittlich, wenn taktische Medien in einer postfordistischen Ära weiterhin im Sinne der Kurzlebigkeit und der Logik des Taktischen operieren. Seit das diskontinuierliche Angriffsschema zum vorherrschenden Modell geworden ist, sind die taktischen Medien in fatale Nähe zu dem geraten, wogegen sie Widerstand leisten wollen. Deshalb werden taktische Medien auch mit milder Toleranz behandelt. Es gibt eine neurotische Tendenz zum Verschwinden. Alles was sich verfestigt, ist an das System verloren. Das Ideal ist, ein kurzer, vorübergehender Störimpuls zu sein, ein Moment des Rauschens oder der Interferenz. Taktische Medien richten sich auf ihre Ausbeutung ein, in derselben Art und Weise wie ›Modder‹ in der Game-Industrie: Beide geben kostenlos ihr Wissen über die Schlupflöcher des Systems preis. Sie intervenieren, zeigen das Problem 7. 3IEHEWWWHENKOOSTERLINGNL

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auf und verschwinden wieder. Das Kapital ist erfreut und dankt dem taktischen Medienverein und dem Nerd-Modder für’s Heimwerken. Das Paradigma des Neoliberalismus dehnt sich über den ganzen Komplex des sozialen Lebens aus. Diese Situation ist den Operationen der radikalen Medienkulturen immanent, ob sie es zugeben wollen oder nicht. Die Alarmglocke wird erst schrillen, wenn die taktischen Medien ihre Aktivitäten ankurbeln. Wenn das passiert, wird das organisierte Netzwerk sich als der Modus Operandi herausschälen. Dann können radikale Medienprojekte dem benebelten Paternalismus des Unternehmerstaats entkommen. Aber Vorsicht, das Auf kommen der organisierten Netzwerke läuft auf die Erklärung eines Info-Krieges hinaus. Diese Schlacht dreht sich gegenwärtig um das Thema der Nachhaltigkeit. Es ist kein Zufall, dass Nachhaltigkeit das Mem des Moments ist, denn es bietet neoliberalen Regierungen und Institutionen, die sich von der Rechenschaftspflicht gegenüber lästigen Wählerschaften befreien möchten, den nötigen diskursiven und strukturellen Nutzeffekt. Organisierte Netzwerke müssen Modelle der Nachhaltigkeit entwickeln, die über den neuesten Aktionsplan, der am Ende doch nur im Reißwolf von Mitgliedsstaaten und bürgerfreundlichen Unternehmen landen wird, hinausgehen. Das leere Zentrum des Neo-Liberalismus ist Sozialität. Beim Gerangel um diese Lücke wird das organisierte Netzwerk dabeisein. Man muss nur einen Blick auf die neue Legitimität werfen, die die Kirche durch ihre Bereitstellung sozialer Dienste erlangt. Kurz gesagt, die Zivilgesellschaft erneuert den Boden des Sozialen. Doch die Behauptung des Sozialen ist gestützt auf fortlaufende Antagonismen. Der Aufstieg des rechten Populismus ist ein Beispiel dafür, wie bereitwillig ein leeres Zentrum Toleranz gegenüber Fundamentalismus entwickelt. Organisierte Netzwerke konkurrieren mit etablierten Institutionen in Bezug auf Marken- und Identitätsbildung, aber den eigentlichen Wettbewerbsvorteil haben sie als Orte der Wissensproduktion und Konzeptentwicklung. Heutzutage können die meisten ›Brick & Mortar‹-Institutionen (der alten Ökonomie) Werte aus Netzwerken nur abziehen. Sie sind nicht bloß unwillig, sondern tatsächlich unfähig, etwas zurückzugeben. Virtuelle Netzwerke treten bei Verhandlungen über Budgets, Zuschüsse, Investments und Anstellung von Arbeitskräften nicht in Erscheinung. Im besten Fall werden sie von Gleichgesinnten als Inspirationsquelle gesehen. Dies ist das wahre Potenzial virtueller Netzwerke – sie sind ›Verbesserungsmaschinen‹. Wenn sie gut funktionieren, können sie zu neuen Ausdrucksweisen, neuen Sozialitäten, neuen Techniken inspirieren. Das organisierte Netzwerk entsteht aus einer hybriden Formation: zum Teil taktisches Medium, zum Teil institutionelles Gebilde. Aus beiden Linien sind Vorteile zu ziehen. Das klare Unterscheidungsmerkmal des organisierten Netzwerks ist, dass seine institutionelle Logik in der sozio-technischen Dimension des jeweiligen Kommunikationsmediums verankert ist. Das heißt, dass es keine universelle Formel dafür gibt, wie ein organisiertes Netzwerk die Bedingungen seiner Existenz erfindet. Es wird für Netzwerke keinen ›Internationalismus‹ geben.

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$IE/RGANISATIONSPIEGELN Irgendwann werden organisierte Netzwerke gegen die vernetzte Organisation gespiegelt werden. Aber so weit sind wir noch nicht. Es wird keine einfache Synthese geben. Grob gesagt, kann man eine Konvergenz zwischen der Informalität virtueller Netzwerke und der Formalität von Institutionen beobachten. Dieser Prozess ist jedoch alles andere als harmonisch. Der Zusammenprall zwischen Netzwerken und Organisationen geschieht direkt vor unseren Augen. Konflikte sind Bedingung und wesentlicher Bestandteil bei der Entwicklung neuer institutioneller Formen. Die Trümmer verteilen sich in alle möglichen Richtungen, je nach Örtlichkeit. Man könnte sagen, als Teil dieses Prozesses wird die organisierte Vielheit geschaffen – und zersplittert. In diesem Sinne braucht man ein neues politisches Subjekt, eines, das aus dem gegenwärtigen Zustand der Desorganisation, der die Multitude definiert, hervorgeht. Es ist naiv zu glauben, dass die Netzwerke unter den gegebenen Umständen diese Schlacht gewinnen werden (wenn es tatsächlich überhaupt noch nützlich ist, in diesen Begriffen zu denken). Genau deshalb brauchen Netzwerke ihre eigene Form der Organisation. In diesem Prozess werden sie mit den folgenden drei Aspekten zu tun haben: 1. Rechenschaftspflicht, 2. Nachhaltigkeit, 3. Skalierbarkeit. Fangen wir mit der Frage an, wen Netzwerke eigentlich repräsentieren bzw. ob sie überhaupt diese Fähigkeit haben, und welche Form interner Demokratie sie ins Auge fassen. Formelle Netzwerke haben Mitglieder, aber die meisten Online-Initiativen nicht. Machen wir uns klar: Netzwerke lösen traditionelle Formen der Repräsentation auf. Genau dies macht die Frage »Haben Blogs die USWahlen von 2004 beeinflusst?« so irrelevant. Die Blogosphäre hat bestenfalls eine Handvoll von Fernseh- und Zeitungsredakteuren beeinflusst. Statt eine Botschaft zu verbreiten, hat das Internet die Autorität in Frage gestellt – jede Autorität – und war deshalb gar nicht von Nutzen, um Ratings oder Wählergunst dieses oder jenes Kandidaten hochzutreiben. Die Rolle von Blogs ist interessant, aber doch begrenzt auf die eines Katalysators. Netzwerke, die weiter aufsteigen, werden irgendwann scheitern, da sie einverleibt und angegliedert werden, um im kapitalistischen Mainstream schließlich zu zerfallen. Egal wie viel man von Derrida hält, Netzwerke dekonstruieren nicht die Gesellschaft. Verteilte Medienmodelle unterminieren oder korrigieren vielleicht auch den Kapitalismus, aber haben noch lange nicht die Fähigkeit, ihn auch zu überwinden. Auf tiefe Verflechtungen kommt es an, nicht auf irgendeinen symbolischen Staatsstreich. Wenn es ein Ziel gäbe, dann wäre es, so etwas wie Hegemonie zu erreichen, was aber nur gelingen kann, wenn die zugrundeliegenden Prämissen von den Initiatoren des nächsten techno-sozialen Innovationsschubs ständig überprüft werden. Der Aufstieg der Gemeinschafts-Informatik (›community-informatics‹) als Forschungsfeld und Bauprojekt könnte als beispielhafte Plattform für den Umgang mit den hier behandelten Fragen gesehen werden.8 Wie groß nun das Interesse der Gemeinschafts-Informatik, Projekte von unten aufzubauen, auch 8. %INES VON VIELEN #ROSSOVERN ZWISCHEN #OMPUTER UND 'EISTESWISSENSCHAFTEN

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immer sein mag, es wird doch ein wesentlicher Teil der Forschung innerhalb dieses Feldes in Fragen der E-Demokratie investiert. Wir müssen die Illusion aufgeben, dass die Mythen der repräsentativen Demokratie irgendwie in vernetzte Umgebungen transferiert und verwirklicht werden könnten. Dies wird nicht passieren. Im Endeffekt werden die Leute, die von solchen Unterfangen profitieren, nicht die Graswurzel-Initiativen sein, die in diesem Prozess eigentlich repräsentiert sein sollten, sondern vor allem jene, die in den Diskussionsund Geldgeberrunden sitzen. Nötig aber wäre die Finanzierung informeller und unsichtbarer Netzwerke, die neue Logiken der Politik praktizieren. Es ist eine Sackgasse, nur eine handverlesene Auswahl von NGOs zu unterstützen, die sich selbst als globale Zivilgesellschaft deklariert haben und diesen Begriff strategisch nutzen, um andere auszuschließen, die nicht dem NGO-Organisationsmodell anhängen – eine Form freundlichen Ausschlusses allerdings, da er ohne böse Absichten geschieht.

$AS+AR TIERENDES0OST $EMOKRATISCHEN Netzwerke sind keine Einrichtungen der repräsentativen Demokratie, auch wenn man oft von ihnen erwartet, dass sie sich solch gescheiterten Institutionen angleichen. Stattdessen gibt es eine Suche nach nicht-repräsentativen demokratischen Entscheidungsmodellen, die die klassischen Modelle der Repräsentation und der damit verbundenen Identitätspolitik vermeiden. Das auf kommende Thema der nicht-repräsentativen Demokratien legt den Schwerpunkt auf den Prozess – und weniger auf den Folgeeffekt des Konsenses. Prozessorientierte Formen des Regierens haben sicherlich eine spezielle Anziehungskraft. Letztendlich ist das Prozessmodell aber ungefähr so nachhaltig wie eine Erdskulptur, die in ein Beet aus Dreck, genannt die Siebziger, gegraben wird. Prozess ist in Ordnung, solange er eine Vielzahl von Kräften in ein Netzwerk integriert. Aber die primären Fragen bleiben: Wohin geht es? Wie lange hält es? Wieso macht man’s überhaupt? Wer spricht eigentlich? Was kümmert’s mich? Insofern ist es wichtig, das Augenmerk auf die vitalen Kräfte, die das sozio-technische Leben konstituieren, zu richten. Hierin liegen die Variabilität und die offenen Potenziale organisierter Netzwerke. Dass Streit und Uneinigkeit weitergehen, kann als sicher gelten. Rationale Konsensmodelle der Demokratie haben bewiesen, und zwar durch ihr Versagen, dass solche grundlegenden Bedingungen des soziopolitischen Lebens nicht beseitigt werden können. Organisierte Netzwerke müssen sich mit ihrer eigenen Nachhaltigkeit befassen. Netzwerke sind keine Hypes. Sie entstehen nach der Orgie. Wir haben die Neunziger hinter uns gelassen, und diese Potlatsch-Ära wird nicht wiederkehren. Netzwerke mögen als etwas Vorübergehendes erscheinen, aber ihre Wirkung auf die Gesellschaft bleibt, trotz ihrer ständigen Transformationen. Einzelne Zellen sterben vielleicht eher früher als später ab, doch es gibt eiWIEESVON-ICHAEL'URSTEINUNDANDERENVORGESCHLAGENWURDE%INIGEIHRER4EXTESIND ZUlNDENUNTERWWWNETZWISSENSCHAFTDESEMPOOLHTM

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nen Willen, sich zu verbinden, der schwer zu unterdrücken ist. Links mögen irgendwann tot sein, aber das ist nicht das Ende der Daten selbst. Trotzdem sind Netzwerke extrem zerbrechlich. Dies mag alles offenkundig erscheinen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Pragmatismus auf die Leidenschaften, Freuden und Erregungen des Erfindens gegründet ist. Die Zeit für sorgfältige Planung ist gekommen. Denn es gibt einen Hang zur Selbstzerstörung, wenn Netzwerke sich vor die Herausforderung der Organisation gestellt sehen. Organisierte Netzwerke müssen eine Sicherheit entwickeln, ihr Wertesystem so zu definieren, dass es für die internen Operationen ihres sozio-technischen Komplexes Bedeutung und Relevanz hat. Das ist an sich auch nicht so schwierig. Die Gefahr liegt in Ghettoisierung und lähmender Routine. Das Geheimnis ist, wie man ein kollaboratives Wertesystem entwickelt, das mit Dingen wie Finanzierung, internen Machtspielen und Forderungen nach Verantwortlichkeit und Transparenz auch dann noch zurechtkommt, wenn das Netzwerk sich ausweitet und seine Abläufe verändert.

7ERDETMONETËR Organisierte Netzwerke müssen als Erstes mal ihr virtuelles Haus in Schuss halten. Es ist von strategischer Wichtigkeit, einen Non-Profit-Provider (ISP) zu nutzen, Backups durchzuführen und vielleicht noch einen Spiegelserver in einem anderen Land zu betreiben. Auch ist es klug, nicht auf kommerzielle Dienste wie Yahoo!Groups, Hotmail, Geocities oder Google zurückzugreifen, da diese unzuverlässig und immer wieder von Sicherheitsproblemen betroffen sind. Wenn man denkt, etwas verstecken zu müssen, sollte man NGO-in-a-Box besuchen und sich das Passende zusammenstellen.9 Die Kosten für Domainnamen, E-Mail-Adressen, Speicherplatz und Bandbreite sind zu berücksichtigen, auch wenn sie relativ gering sind. Oft entstehen Konflikte, wenn Passwörter und Eigentümerrechte eines Domainnamens in der Hand einer Person liegen, und diese die Gruppe im Streit verlässt. Dies kann buchstäblich das Ende des Projekts bedeuten, wie es bei der Digitalen Stadt in Amsterdam passiert ist, die im Streit darüber zerbrach, wem der Domainname (www.dds.nl) gehörte. Netzwerke sind nie zu 100 Prozent virtuell und immer auch irgendwo an die Geldökonomie angekoppelt. Genau da fängt die Geschichte der organisierten Netzwerke an. Vielleicht ist eine offizielle Gründung nötig. Wenn man das Netzwerk nicht mit lästigen Rechtsangelegenheiten belasten will, sollte man auch die Kosten bedenken, die daraus entstehen können, wenn man es unterlässt. Fördermittel für Online-Aktivitäten, Meetings, Redaktionsarbeit, Programmieren, Design, Forschung/Recherche oder Publikationen können durch verbundene Institutionen geschleust werden. Man sollte daran denken, dass, je weiter sich die Online-Aktivitäten entfalten, für Design, Redaktionsarbeit und Netzwerk-Administration irgendwann auch eine Bezahlung erfolgen muss. Die nach innen gerichtete Welt der freien Software wendet ihre paradiesischen Re9. 3IEHEWWWNGOINABOXORGODERWWWFRONTLINEDEFENDERSORG

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geln unbezahlter Arbeit nur auf ihre eigenen Programmierprojekte an. Auch kulturelle, künstlerische und aktivistische Projekte passen in diese Logik und haben alle eine lange Geschichte freiwilliger Arbeit, dasselbe gilt für ContentRedakteure und Webdesigner. Idealerweise haben Online-Projekte einen ausgeprägten kommunitaristischen Geist und sind in der Lage, die benötigten Fähigkeiten zu entwickeln. Aber je weiter der Moment der Initiation zurückliegt, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Arbeit auch bezahlt werden muss. Organisierte Netzwerke müssen sich dieser ökonomischen Realität stellen, oder sie rutschen, egal wie avanciert ihre Dialoge oder ihre Netzwerkpraxis auch sein mögen, an den Rand. Über das Auf kommen immaterieller Arbeit und prekärer Verhältnisse zu reden mag nützlich sein, aber könnte sich tot laufen, wenn man nicht auch den Schritt von der spekulativen Reflexion zur politischen Tagesordnung macht und darlegt, wie Netzwerke auf Dauer gefördert und mobilisiert werden können. Organisierte Netzwerke werden immer Schwierigkeiten haben, über das traditionelle Geldsystem Finanzmittel aufzutreiben. Es ist nicht einfach, von irgendeinem der angestammten Bereiche des Staates, des Mäzenatentums oder der freien Wirtschaft Fördermittel an Land zu ziehen. Also müssen Alternativen geschaffen werden. Der größte Aktivposten organisierter Netzwerke liegt dabei wohl in dem, was sie (originär) tun: Informationen austauschen und über Mailinglisten Debatten führen; öffentliche Bildungsprogramme durchführen und Wissensquellen archivieren; Magazine, Zeitschriften und Bücher offen publizieren; individuellen Websites, Wikis und Blogs eine Plattform bieten; Workshops, Treffen, Ausstellungen und Konferenzen organisieren und eine Infrastruktur bereitstellen, die sich für schnelle Kontakte und Kollaborationen unter den Beteiligten und den potenziellen Partnern eignet.Wenn man sich entscheiden und eine feindliche Herausforderung wählen müsste, dann wäre es die techno-libertäre Religion des Freien. Wie ich schon in der Einleitung hervorgehoben habe, ist es höchste Zeit, die zynische Logik der wohltätigen ›Vulture-Kapitalisten‹ anzugreifen, die den kostenfreien Austausch von Inhalten predigen, um im gleichen Atemzug mit der von den Massen ahnungsloser Amateure benötigten Hardware, Software und Infrastruktur Millionen zu verdienen. Organisierte Netzwerke sind solchen Gurus, die andere dazu verleiten, sich mit dem Verkauf von T-Shirts über Wasser zu halten, gegenüber misstrauisch. »Du armes Arschloch, mach nur deinen Quatsch mit deinem abgefahrenen freien Content, wir machen inzwischen mit dem, was du dafür brauchst, das große Geld.« Es ist Zeit, diese Logik aufzudecken und sie öffentlich zu bekämpfen. Wissen ist in diesem Fall nicht genug. Man braucht Zivilcourage, um es offen auszusprechen, besonders, wenn die Gegner eigentlich Freunde sind. Es geschieht oft mit den besten Absichten, dass die Leute etwas Falsches tun. Die Zeiten, als wir im Kapitalisten nur einen hässlichen Ausbeuter mit schwarzem Hut und Zigarre im Mund gesehen haben, sind vorbei. Wenn wir wissen, dass wir eine Software, Musik oder ein Buch umsonst bekommen können, warum sollen wir es dann kaufen? Warum für die Britannica bezahlen, wenn Wikipedia ein vergleichbares, aber kostenloses Angebot hat? Wir sind bereit, mit den vielen Problemen dieser freien Enzyklopädie zu leben (und an ihnen zu arbeiten), da

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vergießen wir keine Tränen um diese Pfeife rauchenden Britannica-Herausgeber. So werden sie ›auskollaboriert‹ von der Free Cooperation Multitude. Aber wie glücklich können wir über diesen kurzfristigen Sieg sein? Bis zu welchem Grad können kollektiv geschaffene Inhalts-Lagerstätten die Content-Hoheit der klassischen Institutionen herausfordern oder mit ihnen gleichziehen? Howard Rheingold beschreibt, wie Wissenskollektive Informationen aufspüren und zusammenstellen.10 Diese akkumulativen Kollaborationen sind inspirierend. Sie rufen auch Firmenhaie auf den Plan, die allzu gerne ihre Zähne in diese vollen, von Usern geschaffenen Content-Silos versenken möchten. Auch all die verteilte Kreativität, die ganzen Geeks, die die Spuren ihrer Ideen auf Blogs und in Wikis hinterlassen, gefallen ihnen gut. Das Beste an diesen Praktiken ist, dass enorme Mengen an Wissen in den Bereich des unregulierten Gemeinguts (›unregulated commons‹), wie es Yochai Benkler nennt, verschoben werden. Hier ist es frei verfügbar für alle, die einen Internetanschluss und die nötige Medienkompetenz haben, die Dateien befinden sich nun auf einem anderen Terrain. Zu einem Großteil können sie verändert oder kreativ aufgebessert werden, aber oft ist die Vermarktung dieses Contents blockiert. Man muss jedoch abwarten, ob die Lizenzierungen rechtlich gültig bleiben. Die Eigentumsfragen kollaborativer Praktiken im öffentlichen Bereich spielen eine große Rolle. Sie sind deutlich komplexer als das traditionelle Schema des einzelnen Autors, der an das System verkauft. Wir könnten z.B. darlegen, wie Google Inc. aus Tausenden von unbezahlten Wikipedianern Profit zieht. Im gleichen Sinne werden wohl auch die Kader der Freie-Software-Entwickler zu Cash-Cows für die jungen GoogleZaren, die ihr Geld mit Anzeigen verdienen, nicht mit Software (geschweige denn mit Content). Die Massen-Amateurisierung, wie sie von Lawrence Lessig, Joy Ito und zahllosen anderen Cyber-Libertären propagiert wird, ist eine verführerische, ermächtigende Ideologie, die einen breiten Kreis anspricht. Sie ist ein Mem, das gestaltet wurde, um einem deprimierenden Bild einen positiven Anstrich zu geben. Die Tausende von freiwilligen Wikipedia-Mitarbeitern haben kommerzielle Unternehmungen einfach auskollaboriert. Was ist also das Problem mit »extremer Demokratie« (wie Ratcliffe und Lebkowsky ihre Anthologie genannt haben) in einer Zeit, die sonst nur vom Verlust individueller Freiheiten und massenhafter Irreführung und Manipulation geprägt ist? Hier müssen wir über die guten Absichten hinausblicken und die ökonomischen Langzeitfolgen der löblichen Ideologie des Freien betrachten. Nachhaltige Zusammenarbeit zielt natürlich auf Massen-Professionalisierung. Menschen wollen von der Arbeit, die sie lieben, auch leben. Die Frage ist dann, wie wir die zynische Logik der liberalen Kommunisten, die die Internet-Agenda immer wieder bestimmt hat, umkehren? Der Kernpunkt bei den Netzwerken ist weniger, dass sie eine Organisation bilden, als vielmehr die Tatsache, dass jetzt ihr Geschäftsmodell auf der Tagesordnung steht. Ein Geschäft für alle, darum geht es. Die vernetzte Organisation 10. (OWARD 2HEINGOLD 5FDIOPMPHJFT PG $PPQFSBUJPO 0ALO !LTO )NSTITUTE FOR THE &UTURE WWWRHEINGOLDCOMCOOPERATION4ECHNOLOGY?OF?COOPERATIONPDF

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stellt die Weichen für den Eintritt in die ökonomische Nachhaltigkeit. Die Vorgänger des organisierten Netzwerks – Listen, kollaborative Blogs und alternative Medien – sind es gewohnt, mit ihren Themen und ihrer Praxis an vorderster Front zu stehen. Gleichzeitig gibt es ein unbestreitbares Misstrauen gegenüber der auf das eigene Geschäft ausgerichteten Mentalität vernetzter Organisationen. Zu lange hat das Ghetto des Usenets und der Listen-Kulturen zu einer Selbstaffirmation geführt, die nun ein wesentliches Hindernis dafür bildet, sich zu erweitern. Was benötigt das organisierte Netzwerk, um sich zu öffnen und größer zu werden? Eine transparente Formalisierung und eine Verschiebung bei der Arbeitsverteilung? Es ist wohlbekannt, dass formelle vernetzte Organisationen die Lieblinge der Fördergremien sind, während die real existierenden Netzwerke aufgrund unzureichender Lobbyarbeit und der mangelnden Fähigkeit, sich adäquat darzustellen, leer ausgehen. Welche Ironie, dass gerade die globale Natur von Netzwerken ihre Förderung so gut wie verhindert. Trotz aller Neunziger-Jahre-Rhetorik gibt es keine globalen Gelder für globale Netzwerke. Wenden wir uns dem vielleicht am wenigsten untersuchten Aspekt der Skalierbarkeit zu. Warum haben Netzwerke solche Schwierigkeiten, ihre Größenordnung zu verändern? Es scheint eine Tendenz zu geben, sich in Tausende Mikro-Konversationen aufzusplittern. Dies gilt sogar für soziale Netzwerke wie Orkut, Friendster, LinkedIn und MySpace, die Millionen Mitglieder auf der ganzen Welt haben. Bislang ist es nur der stupide Slashdot, der die Dialoge zentralisiert, unterstützt von einer Schar professioneller (bezahlter) Editoren unter den Zehntausenden Online-Usern. Elektronische Mailinglisten scheinen nicht über ein paar tausend Mitglieder hinauszukommen, bevor der mit viel Aufwand moderierte Dialog erlahmt. Die ideale Größe für in die Tiefe gehende, offene Diskussionen scheint weiterhin irgendwo zwischen 50 und 500 Teilnehmern zu liegen. Was bedeutet dies für die vernetzten Vielheiten? Inwieweit sind dies Fragen von Zugang oder Software? Könnten die nötigen Protokolle wirklich von jedem Beliebigen geschrieben werden? Welche Protokolle würden in diesem Fall gewählt werden? Können wir uns Unterhaltungen von sehr großem Umfang vorstellen, die nicht nur sinnvoll wären, sondern auch eine Wirkung hätten? Welche Art von Netzwerkkulturen können zu großen, transformativen Institutionen werden? Vielleicht werden organisierte Netzwerke sich auch immer nur ihrer reinen Potenzialität hingeben. Diese Option sollte nie fallen gelassen werden. Auch wenn geschmeidige Fluidität und ewige Metamorphose zu gut sind um wahr zu sein, könnte es durchaus passieren, dass sie niemals stattfinden. Netzwerke bleiben oft an einem Punkt stehen und kollabieren in massive Feindseligkeiten. Es gibt keine innere Notwendigkeit, sich in der ›Brick & Mortar‹-Welt zu institutionalisieren. Vielleicht können organisierte Netzwerke im Zusammenwirken mit existierenden institutionellen Strukturen gar nicht funktionieren. Wenn das so ist, wie könnte dann das Virtuelle formalisiert werden? Hiermit meine ich keine Formalisierung im traditionellen Sinne, dass ein Netzwerk etwa eine hierarchische Struktur annimmt, mit Direktor, ausgesuchtem Sekretariat und so weiter. Dieses Modell wurde von den Graswurzelbewegungen der sechziger und siebziger Jahre adaptiert und ist nun der Hauptgrund, weshalb ihre

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Organisationen unfähig sind, mit den Realitäten und den Anforderungen der vernetzten Gesellschaft zurechtzukommen. Wie könnte nun – anders als im Modus der Formalisierung – eine informell organisierte Reaktion auf die Unberechenbarkeit der Bedürfnisse, Krisen und Rhythmen des globalen Kapitals aussehen? So haltlos dieses Modell auch klingen mag, vielleicht ist es die Form, die dem Habitus von Netzwerken, wie oben skizziert, am ehesten entspricht. Es ist letztendlich nötig, die Charakteristiken, Tendenzen und Grenzen, anders ausgedrückt, die kurze Geschichte des Netzwerks zu erfassen und von da aus einen Plan zu entwickeln. Man kann nicht davon ausgehen, dass etablierte Muster der Kommunikation und Praxis sich irgendwie verflüchtigen und kommende Projekte noch mal ganz von vorne anfangen. So etwas zu machen hieße, ein neues Netzwerk zu erfinden und damit die zeitraubende Aufgabe auf sich zu nehmen, Praktiken und Protokolle durch Experimente, Versuch und Irrtum, neu zu definieren. Natürlich sollte man auch verfolgen, wie neue Netzwerke entstehen – sie werden mit Sicherheit kommen. Dennoch ist es keine Lösung, die harte Arbeit, die angehäuften Ressourcen und die seltsamen Netzwerk-Personas – oder Markenzeichen, wenn man so will – die schon kultiviert worden sind, einfach über Bord zu werfen. Während es so scheint, als ob wir uns für ewig in einer Dauerkrise und in einer Übergangsphase befinden, ist für das organisierte Netzwerk nun wirklich der Zeitpunkt gekommen, den Boden vorzubereiten, auf dem neue Politiken, neue Ökonomien und neue Kulturen innerhalb der Dynamik des sozio-technischen Systems entstehen können. Auf diese Weise öffnet sich das Netzwerk für eine ganz neue Skala externer Variablen, die im Gegenzug wieder das interne Funktionieren des Netzwerks transformieren. Dies ist die Arbeit des konstitutiven Außens – ein Prozess der Postnegativität, in dem Bruch und Gegensatz das zukünftige Leben des Netzwerks bestätigen. Die Spannung zwischen internen Dynamiken und externen Kräften enthält den neuen Boden für das Politische. Demokratietheoretiker sind eher langsam und noch weit davon entfernt, dieses neue Feld der Techno-Sozialität zu erkennen. Wo sie eine Negation sozialer Antagonismen innerhalb solcher Ideologien wie der des Dritten Weges behaupten und folglich die Auflösung liberaler demokratischer Prinzipien feststellen, wird die Herausbildung organisierter Netzwerke im Gegenteil gerade über diese Leugnung von Antagonismen durch die Kultur der liberalen Demokratie konstituiert. Die institutionellen Strukturen der liberalen Demokratie haben sich vom Feld der Sozialität abgekoppelt und dabei die Fähigkeit verloren, die Antagonismen des Politischen anzusprechen. Es ist nicht so, dass diese sich von der Bühne zurückziehen, eher flüchten sie in neue Kommunikationsfelder. Das organisierte Netzwerk ist offen für Antagonismen, die in sozio-technischen Beziehungen liegen. Aus diesem Grund müssen organisierte Netzwerke sich dringend den Anforderungen an ihre Größe und Nachhaltigkeit stellen, und neue institutionelle Horizonte schaffen, wo Konflikte zum Ausdruck kommen können und auf erfinderische Fähigkeiten treffen. Teil einer solchen Transformation ist das Erkennen von Machtstrukturen sowie der Tatsache, dass organisierte Netzwerke immer von ihnen ausgeschlos-

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sen sein werden. Es gibt auch interne Machtstrukturen – und diese als solche aufzudecken, ist der erste Schritt hin zu Transparenz. Allzu oft verhindert die Leugnung bestehender Strukturen eine Diskussion darüber, wie sich neue Organisationsformen bilden könnten. Die überwiegende Zustimmung zur Dezentralisierung würgt die Debatte ab und lässt alternativen Vorstellungen, wie die Dinge anders gemacht werden könnten, keinen Raum. Darüber hinaus reproduziert sie die absolute und zentrale Macht der Geeks, für die das alles kein Thema ist – sie können abgesichert in ihrer Ingenieurswelt weitermachen und müssen sich nicht mit der Dringlichkeit von Übersetzungen für Netzwerke im Getümmel neuer Sozialitäten auseinandersetzen. Auf ähnliche Weise leugnen auch die Strukturen, die sich selbst Netzwerke nennen, wie zentralisiert sie sind. Man betrachte die Ausbreitung von Forschungsnetzwerken im Hochschulwesen. Es existiert eine erstaunliche Unklarheit darüber, was Netzwerke in diesen Konstellationen eigentlich sind, und in vielen Fällen ist eine solche Verdunkelung durchaus beabsichtigt. Dass wir diesen jüngsten Versuch der Augenwischerei erleben, ist kein Wunder, denn die Institution der Universität – eine vernetzte Organisation – ist nicht mehr reparabel und zeigt eine chronische Unfähigkeit, sich mit den Komplexitäten der informatisierten Gesellschaft auseinanderzusetzen. Es gibt die bizarre Vorstellung, dass, wenn Regierungen oder Förderinstitutionen Projekte unterstützen, die eine Übereinstimmung mit Netzwerken – was auch immer das heißen mag – demonstrieren, aufgrund irgendwelcher besonderer magischer Prozesse spontan Innovation zum Vorschein kommt. Und was weiß man? Das Verfahren, Anträge einzureichen, Forschungspartnerschaften zu entwickeln, Budgets zu begründen, Zeitpläne zu entwerfen, Recherchen zu unternehmen usw. ist in jedem Erntejahr exakt dasselbe, und das Ergebnis auch: Bestehende Eliten werden belohnt und Macht konsolidiert mithilfe des wesentlich zielgenaueren Modells des ›Clusters‹ (ein ziemlich übles Wort, das seinen Ursprung auf dem schulischen Pausenhof nahm). Es besteht keine Gefahr, dass sich solche sogenannten Netzwerke anstecken. Quarantäne-Studien sind das, worum es diesen Forschungsnetzwerken eigentlich geht. Warum? Weil vor allem völlig auf die Nutzung der technischen Kommunikationsmedien verzichtet wird und man sich über das Abhängigkeitsmodell der Förderung, das nur dazu dient, dieselbe Sache wieder und wieder zu reproduzieren, einfach ausschweigt. Unabhängig vom Institutionen-Blues haben organisierte Netzwerke auch eigene Probleme, denen sie sich stellen müssen. Der Mangel an Transparenz, wer für Betrieb und Projektentwicklung zuständig ist, bremst sie erheblich aus. Dies ist zum Teil eine Frage der Software-Architektur; z.B. die Tatsache, dass wir eigentlich nicht jeden Monat über den Moderator des Monats oder den Eigentümer des Domainnamens abstimmen können. Man stelle sich nur vor, das Eigentumsrecht an www.google.com würde unter den Usern rotieren oder verteilt werden, oder auch nur unter den Mitarbeitern von Google. Es gibt keinen technischen Grund, das nicht zu tun. Vielmehr verweist es wieder auf die Kultur von Netzwerken – in Bezug auf Anwendungen können sie sich schnell verändern, aber nicht in Bezug auf ihre Ideologie. Um diese Theorie zu veranschaulichen, befassen wir uns einmal mit Blogs, Wikis und Creative Commons.

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Das Blog ist eine andere Technologie des Netzwerks, und seine Logik ist die des Links. Links erhöhen die Sichtbarkeit mittels eines Ranking-Systems. Das ist die Methode, wie Blogger das Problem der Größenordnung lösen. Es hilft jedoch nicht, diese Frage auf den Aspekt der Knappheit zu reduzieren. Die Techniken des Blogs summieren sich grundsätzlich nicht zu dem, was wir organisierte Netzwerke nennen. Der Blogger hat keine unbegrenzten Möglichkeiten. Geleitet wird er jedoch von einem Moment der Entscheidung, und dieses entspringt keinem Mangel, denn Maschinen haben die Fähigkeit, andere Maschinen zu lesen. Die Grenzen liegen eher bei der Aufmerksamkeitsökonomie und bei der Anziehungskraft: Ich teile deine Kultur, ich teile deine Kultur nicht; ich mag dich, ich mag dich nicht. Hier sehen wir eine neue Kartographie der Macht, die für eine symbolische Kultur der Netzwerke eigentümlich ist. Ein wichtiger Punkt: Der ›Dezisionismus‹ des Links konstituiert ein neues Feld des Politischen. Genau hier kommt die Schizo-Produktion zu einem Ende. Deleuzomanen würden sagen: »Alles verbindet sich mit allem.« Unter technischen Gesichtspunkten gibt es keinen Grund, warum man nicht alle Links der Welt einbeziehen sollte – genau dies macht auch das Archiv des Internets. Das Blog allerdings ist dazu nicht in der Lage – nicht weil es zu wenig Raum hat, denn Raum ist der Logik des Links gemäß unendlich erweiterbar. Es ist auch nicht wirklich eine Frage der Mittel. Hier geht es vielmehr um ein Problem, das mit der Inselkultur der Blogs zusammenhängt. Es gibt Zonen der Affinität, die ihre eigene Schutzpolitik haben. Wenn man auf der Blog-Skala begehrenswerter Verbindungen weit oben steht, artikuliert sich das Politische in endlosen Verlinkungsanfragen. Diese können aber nicht alle erfüllt werden, und so werden Groll, wenn nicht gar Feindschaften in die Welt gesetzt. Der Feind bleibt außen vor. Unsichtbar. Der Wandel des Blogs kommt zum Stillstand. Blogs können darum als inzestuöse Netzwerke der Selbst-Reproduktion verstanden werden. Da organisierte Netzwerke neue institutionelle Formen einschließen, deren Beziehungen den Kommunikationsmedien immanent sind, können wir sagen, dass Blogs letztendlich mit dem organisierten Netzwerk nicht korrespondieren. Das Außen spielt für organisierte Netzwerke bei der Bestimmung der Richtung, Gestalt und Handlungen immer eine konstitutive Rolle. Für das Blog gilt das nicht, der Feind ist nie präsent, nie sichtbar, denn das Netzwerk des Blogs ist der Link, und der Link ist der Freund. Nach dieser Feststellung fragt man sich natürlich, warum das Blog in den Mainstream-Medien viel sichtbarer ist als das organisierte Netzwerk. Blogging begann als Kommentar zu den Mainstream-Medien: Fernsehen, Zeitungen und deren Websites. Auf einer diskursiven Ebene operierte das Blog in einem internen Verhältnis zu ihnen. Im genealogischen Sinn war das Blog Teil der Nachrichtenindustrie. Die wesentliche Kontroverse innerhalb der Nachrichtenindustrie war die, ob Blogger als qualifizierte Journalisten betrachtet werden können. Dies ist Teil eines breiteren Problems der Kategorisierung von Bloggern: Sie sind weder Dichter noch Autoren noch Wissenschaftler. Bloggen ist heutzutage zu einem Beruf mit professionellem Ethikkodex und Jobprofil geworden, dennoch arbeiten Blogger immer noch unter Bedingungen, die wir mit postfordistischer flexibler Arbeit verbinden. Paradoxerweise wird der Blogger gegenwärtig

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durch vernetzte Organisationen in derselben Weise in Frage gestellt und ausgemustert, wie sich Firmen dadurch bedroht sehen, dass Software für soziale Netzwerke eine Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitern beflügelt, die über die starr festgelegten Aufgaben innerhalb des Teams hinausgeht. Die tiefe Notwendigkeit oder Grundbedingung des Bloggers/sozialen Netzwerkers liegt gar nicht so sehr in seiner Vernetzungsfähigkeit, da es vor allem um die Selbst-Performance geht. Vernetzung ist zweitrangig. Aber wenn man einen ›Nichtwerker‹ (›notworker‹) hätte, der sich selbst ›performt‹, ohne verlinkt zu sein, würde er unsichtbar bleiben. Ohne die richtigen Links und Tags ist man inexistent. Darum wird die Selbst-Performance mit der Verlinkung identisch. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen Vernetzen und Verlinken. Unter den Web-Arbeitern existiert ein starkes soziales Netzwerk, das sehr intim ist und sehr viele persönliche Details preisgibt. In diesem Sinne besteht eine Korrespondenz zwischen dem Blog und Reality-TV, wobei Letzteres natürlich das Gegenteil der Logik von Netzwerken darstellt. Inwieweit also, im Sinne von Remediatisierung, überträgt sich der Anti-Vernetzungs-Charakter des Reality-TV auf Blogs? An dieser Stelle muss die Idee des Politischen neu aufgegriffen werden. Wie beim Blog festgestellt, korrespondiert das Politische mit dem Moment des Verlinkens, der technisch – in dem, wie es funktioniert und welche Entscheidungen zu treffen sind – durch die Software ermöglicht wird. Genauso wie das Blog eine Selbst-Performance ist, so ist es auch die Exemplifizierung des Politischen. Beides sind unsichtbare Unterfangen. Die Tatsache, dass ich keinen Link zu Dir setze, bleibt unsichtbar. Die unbeantwortete E-Mail ist der bezeichnendste Fall. So ist das Blog, obwohl es einige Eigenschaften des Netzwerks besitzt, nicht offen und kann sich, da es sich selbst den Möglichkeiten des Wandels und der Intervention verschließt, nicht verändern. Mit dem Blog kann man kommentieren, aber nicht posten. Externe Kommentare können sogar gelöscht werden. Das Blog ist, in einer Reihe mit den sozialen Netzwerken, letzten Endes durch die Software charakterisiert, die Antagonismen nicht zulässt. Die frühe Version von Orkut hatte ein Interface, das das Thema gleich auf den Punkt brachte: »Bist du mein Freund? Ja/Nein«. Nur wenige haben den Mut, jemandem ins Gesicht »Nein« zu sagen. Mal im Ernst, welche Wahl gibt es dann noch, außer eine Inflation von Freunden zu produzieren? Wir alle wollen sie. Wir finden uns wieder bei den 17 Stufen der Wonne und treten ins Nirwana ein. Hier hat die Wiedererweckung von New Age eingesetzt, verzweifelt und verunsichert auf der Suche nach einem ›Freund‹. Wikis bieten ein weiteres Beispiel für organisierte Netzwerke mit ihren jeweils spezifischen sozio-technischen Charakteristiken. Es wird eine kollektive Intelligenz geschaffen, als eine Ressource, die der Medienform immanent ist. Dennoch ist es wichtig zu verstehen, dass das Wiki-Modell nicht in allen Kulturen und Ländern funktionieren wird. Das Wiki ist eine spezifisch kollaborative Unternehmung. Man kann so viele Ideen haben, wie man will, das heißt noch lange nicht, dass sie auch allgemein verfügbar werden. Die technische Einrichtung allein kann die Geschichte nicht erklären. So schätzen japanische und chinesische Kulturen z.B. volle Sichtbarkeit nicht, es wird eher vermieden, in der Öffentlichkeit gesehen, gehört oder gelesen zu werden. Stattdessen bilden

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sich kleine, intime Bereiche jenseits der öffentlichen Domäne, und diese privaten Gehäuse können sich paradoxerweise in Web-basierten Blogs, Chatrooms oder sozialen Netzwerken befinden, solange sie kein offizielles Erscheinungsbild haben. Warum soll man also bei kollaborativen Projekten mitmachen? Dazu ist auch die politische Geschichte der Länder zu bedenken. Das Wiki geht von einer Bereitschaft aus, im Öffentlichen zu arbeiten und Wissen zu teilen. Dies sind keine universalen Werte und Ziele. Der Schlüssel zu Netzwerken liegt in der Spannung zwischen offenen und geschlossenen Systemen der Kommunikation, der Ideen und des Handelns. Die E-Demokratie-Szene besteht zum größten Teil aus eingefleischten Techno-Libertären, in der Creative-Commons-Bewegung ist diese Figur so präsent, als ob wir noch im Jahr 1999 wären. Und zunehmend erklären die Fürsprecher der CreativeCommons-Lizenz, sie seien nicht politisch, so als ob diese Geste sie für traditionelle Institutionen und die Verlagsindustrie, die sie auf ihre Seite ziehen wollen, irgendwie attraktiv machen würde. Es gibt die naive Vorstellung, Creative Commons könnte als vorherrschende Alternative zu den Beschränkungen der IP-Ordnungen erfolgreicher vorangebracht werden, wenn die Verbindung zu linken Bewegungen gekappt würde. Doch der Politik lässt sich nicht entkommen, und das libertäre Ethos von Lessig und seinen Kollegen wäre gut beraten, hier klarer zu sein. Die Rhetorik der Offenheit, die die Advokaten von Creative Commons mit den Libertären teilen, hat Einfluss auf Regierungen, die ihr Geschäft ebenfalls mit politischem Populismus betreiben. Doch sie verkleidet die politischen Motive und ökonomischen Interessen, die in diesen Projekten am Werk sind. Die libertäre Techniker-Elite hat Netzwerke bislang erfolgreich daran hindern können, eigene Finanzquellen zu erschließen. Bestes Beispiel hierfür ist das Unvermögen der Netzwerke, effektive Micropayment-Systeme einzuführen, z.B. für Mitgliedsbeiträge. Die Option des libertären Geeks lässt einem nur eine Wahl: Gib alles umsonst her, und wir nehmen das Geld. Professionelle Datenbanken bilden eine Ausnahme, hier ist Content (Geschäftsdaten, Berichte, Artikel) nur gegen eine beträchtliche Abonnementsgebühr zugänglich. Die Bibliotheken haben bisher noch nicht genug protestiert und sind weiter gezwungen, geldhungrige Informationsdienste und Verlagsindustrien wie ElsevierReed zu subventionieren. Die Open-Access-Bewegung für Fachartikel wissenschaftlicher und akademischer Zeitschriften sieht sich ähnlichen Fragen gegenüber, etwa wie man sich vergrößert oder eine allgemeine Politik durchsetzt. 11 Den Telekoms und Hardware-Herstellern geht es indes auch gut – es sind die Forscher, Aktivisten, Künstler und freischwebenden Intellektuellen, die ausgezehrt werden. Die Herausforderung organisierter Netzwerke liegt darin, diese Mechanismen der Kontrolle und des Widerspruchs aufzudecken, die Macht der Geldflüsse zu hinterfragen und Fördergelder umzuleiten. Das organisierte Netzwerk ringt mit seiner eigenen Informalität. Hier geht es nicht darum, ein Stück vom Kuchen abhaben zu wollen – organisierte Netzwerke bekommen nicht mal einen Geschmack davon. Dafür aber wollen sie die ganze Bäckerei zu Open 11. 3IEHEZ"DAS%JSFDUPSZPG0QFO"DDFTT+PVSOBMT WWWDOAJORG$ElNITIONEN SINDZUlNDENUNTERWWWEARLHAMEDU^PETERSFOSOVERVIEWHTM

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Source machen! Sie liefern keine Beispiele für Netzökonomie. Selbst im Fall von Creative Commons, wo es ein Betamodell der finanziellen Umverteilung gibt, ist dieses rückschrittlich, denn es multipliziert die Notwendigkeit von Zwischenstellen – eine Funktion, die in der postfordistischen Ökonomie abgeschafft wurde. Man kann mit Content kein Geld verdienen; man kann nur Dienstleistungen drum herum anbieten. In diesem Neunziger-Jahre-Modell einer Informationsökonomie wird die Sache selbst beinahe zu einem unberührbaren und heiligen Objekt, trotz ihrer eigentlichen Banalität. Aber organisierte Netzwerke werden mit der »Information will frei sein«-Logik brechen und sich in Richtung Nachhaltigkeit bewegen. Da organisierte Netzwerke offenbar in einem Zustand des fortdauernden Ausgeschlossenseins von konventionellen, institutionellen Formen der Finanzierung sind, bleibt wirklich nur eine Option übrig: das Netzwerk zu verlassen oder, alternativ, die Logik des Verbrechens zu verstehen. Von den Open-Source-Gurus ist nicht viel zu bekommen. Wenigstens haben sie noch nicht die gesamte Aufmerksamkeit der sogenannten Internet-Kultur und -Forschung auf sich gezogen. Sie sind stattdessen abgewandert zu den klassischen Kulturinstitutionen, die nun Open Source für das vorrangige Modell halten. Es wird interessant, dieses Experiment zu beobachten, denn das Open-Source-Modell ist gegen die Grenzkontrollen traditioneller Institutionen gerichtet. Ob solche Institutionen in der Lage sein werden, die Logik der offenen Distribution voll anzunehmen und dabei ihr Markenzeichen und ihre Förderkapazitäten beizubehalten, bleibt abzuwarten. Netzwerke repräsentieren sich selbst und keine externe Gefolgschaft, deren Interessen in eine parteipolitische Form extrahiert werden müssen. Es gibt immer wieder die Versuchung, Netzwerke als Gefolgschaften darzustellen, die irgendwie in der Lage sein sollen, die Bedürfnisse und Interessen von etwas zu artikulieren, was nach seiner Definition auf der sozio-technischen Ebene ein veränderliches Gebilde ist. Es gibt hier keine Dauerhaftigkeit. Leute kommen und gehen, je nachdem, was für sie eine vorübergehende Anziehungskraft oder ein Interesse darstellt. Dies ist vielleicht mehr als alles andere die primäre Bedingung, die Netzwerke ins Auge fassen müssen, wenn sie den Weg zur Organisation beschreiten wollen. Was ist ›Commitment‹ und wie kann es sich aus einem einmaligen Engagement heraus entwickeln, in einer Zeit, wo Politik vom Ereignis getrieben und langfristiger Einsatz ein rares Gut ist? Geht man davon aus, dass organisierte Netzwerke noch keine finanzielle Basis für ihre Aktivitäten haben, warum ist dann Rechenschaftspflicht hier ein Thema? Dies bezieht sich natürlich wieder auf die Frage nach Transparenz, Governance und Kontrolle, und damit nach der strukturellen Dynamik von Netzwerken. Die Fähigkeiten des Netzwerks zum Wandel sichtbar zu machen, mag genauso viel aufdecken, wie die Rechenschaftspflicht Grenzen aufdeckt. Was bedeutet Rechenschaftspflicht außerhalb des Bezugssystems der Repräsentation? Was bedeutet Repräsentation innerhalb eines post-repräsentativen politischen Systems? Diese Fragen führen weit über die Internet-Forschung hinaus und werden eher früher als später auf der Agenda der Demokratietheorie auftauchen.

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"IBLIOGRAPHIE (ËUF IGVER WENDETE-AILINGLISTEN "LOGSUND /NLINE *OURNALE Nettime-l, internationale Mailingliste für Netzkritik, www.nettime.org Nettime-nl, niederländische Liste für Internetkultur und -kritik, www.nettime. org Syndicate, europäische Liste für Neue-Medien-Kunst und -Kultur, www.v2.nl/ syndicate Rohrpost, deutschsprachige Liste für Neue-Medien-Kultur, www.nettime.org/ rohrpost Fibreculture, australische Liste für kritische Internet-Forschung und -Kultur, www.fibreculture.org Fibreculture Journal, in Australien erscheinende Fachzeitschrift aus dem Umfeld der Fibreculture Communitiy, http://journal.fibreculture.org/ Oekonux, deutsches (und parallel englisch geführtes) Diskussionsforum zu Freier Software und gesellschaftlichen Themen, www.oekonux.org LINK, australisches Diskussionsforum zu IT-Politik, http://sunsite.anu.edu. au/link/ JUST-WATCH-L, internationale Liste zu Menschenrechten und Medien, http:// listserv.acsu.buffalo.edu/archives/justwatch-l.html LBO-talk, Mailingliste des Left Business Observer, www.leftbusinessobserver. com/lbo-talk.html IDC, Mailingliste des Institute for Distributed Creativity, http://mailman.thing. net/cgi-bin/mailman/listinfo/idc Air-l, Mailingliste der Association of Internet Researchers, www.aoir.org Reader-list, Diskussionsforum des Sarai New Media Centre, New Delhi, www. sarai.net Bytes for All-Liste, ICT for development-Diskussionsforum, www.bytesforall. org iMomus, Blog and Tagebuch des Elektronik-Musikers und Kritikers Momus (Nick Currie). http://imomus.livejournal.com/ Streamtime, Website der internationalen Unterstützungskampagne für irakische Blogger, www.streamtime.org/ Always On, soziales Netzwerk und kollektives Blog der Silicon Valley Unternehmenskultur, www.alwayson.goingon.com/

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Birgit Althans, Kathrin Audem, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)

Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 € ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007) und Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Transpositionen des Televisiven Fernsehen in Literatur und Film Dezember 2008, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-938-1

Sandra Poppe, Thorsten Schüller, Sascha Seiler (Hg.) 9/11 als kulturelle Zäsur Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien Dezember 2008, ca. 294 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-8376-1016-1

Gerald Kapfhammer, Friederike Wille (Hg.) »Grenzgänger« Mittelalterliche Jenseitsreisen in Text und Bild Dezember 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-888-9

Thomas Weitin (Hg.) Wahrheit und Gewalt Der Diskurs der Folter November 2008, ca. 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-8376-1009-3

Alma-Elisa Kittner Visuelle Autobiographien Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager Oktober 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-872-8

Daniel Gethmann, Susanne Hauser (Hg.) Kulturtechnik Entwerfen Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science Oktober 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-901-5

Margreth Lünenborg (Hg.) Politik auf dem Boulevard? Die Neuordnung der Geschlechter in der Politik der Mediengesellschaft Oktober 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-939-8

Ramón Reichert Amateure im Netz Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0. YouTube – MySpace – Second Life Oktober 2008, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-861-2

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts

Susanne von Falkenhausen KugelbauVisionen Kulturgeschichte einer Bauform von der Französischen Revolution bis zum Medienzeitalter

Oktober 2008, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-420-1

Oktober 2008, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 15,80 €, ISBN: 978-3-89942-945-9

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) StreitKulturen Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart Oktober 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-919-0

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Oktober 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-873-5

Marcus S. Kleiner Im Widerstreit vereint Kulturelle Globalisierung als Geschichte der Grenzen September 2008, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-652-6

York Kautt Image Zur Genealogie eines Kommunikationscodes und zur Entwicklung des Funktionssystems Werbung September 2008, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-826-1

Ulrike Haß, Nikolaus Müller-Schöll (Hg.) Was ist eine Universität? Schlaglichter auf eine ruinierte Institution September 2008, ca. 160 Seiten, kart., ca. 12,80 €, ISBN: 978-3-89942-907-7

Özkan Ezli, Dorothee Kimmich, Annette Werberger (Hg.) Wider den Kulturenzwang Kulturalisierung und Dekulturalisierung in Literatur, Kultur und Migration September 2008, ca. 290 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-987-9

Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Performative Grundlegungen eines bürgerlichen Habitus im 18. Jahrhundert

Uwe Seifert, Jin Hyun Kim, Anthony Moore (eds.) Paradoxes of Interactivity Perspectives for Media Theory, Human-Computer Interaction, and Artistic Investigations

September 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-803-2

September 2008, ca. 350 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-842-1

Christian Pundt Medien und Diskurs Zur Skandalisierung von Privatheit in der Geschichte des Fernsehens

Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (Hg.) Stimm-Welten Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven

September 2008, ca. 400 Seiten, kart., ca. 36,80 €, ISBN: 978-3-89942-994-7

August 2008, ca. 216 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-904-6

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Christa Sommerer, Laurent Mignonneau, Dorothée King (eds.) Interface Cultures Artistic Aspects of Interaction August 2008, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-884-1

Annette Bitsch Diskrete Gespenster Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit August 2008, 552 Seiten, kart., ca. 42,80 €, ISBN: 978-3-89942-958-9

Michael Schetsche, Martin Engelbrecht (Hg.) Von Menschen und Außerirdischen Transterrestrische Begegnungen im Spiegel der Kulturwissenschaft August 2008, 284 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-855-1

Ines Kappert Der Mann in der Krise oder: Eine konservative Kapitalismuskritik in der Mainstreamkultur

Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls August 2008, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-721-9

Dorothee Kimmich, Wolfgang Matzat (Hg.) Der gepflegte Umgang Interkulturelle Aspekte der Höflichkeit in Literatur und Sprache August 2008, ca. 180 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-820-9

Simone Loleit Wahrheit, Lüge, Fiktion: Das Bad in der deutschsprachigen Literatur des 16. Jahrhunderts Juli 2008, 390 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN: 978-3-89942-666-3

Antonia Wunderlich Der Philosoph im Museum Die Ausstellung »Les Immatériaux« von Jean François Lyotard Juli 2008, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-937-4

August 2008, ca. 232 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-897-1

Hans Dieter Hellige (Hg.) Mensch-Computer-Interface Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung

Geert Lovink Zero Comments Elemente einer kritischen Internetkultur

Juni 2008, 400 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-564-2

August 2008, 330 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-804-9

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Claudia Lillge, Anne-Rose Meyer (Hg.) Interkulturelle Mahlzeiten Kulinarische Begegnungen und Kommunikation in der Literatur Juni 2008, 370 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-881-0

Matthias Bruhn, Kai-Uwe Hemken (Hg.) Modernisierung des Sehens Sehweisen zwischen Künsten und Medien Mai 2008, 374 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-912-1

Peter Seibert (Hg.) Samuel Beckett und die Medien Neue Perspektiven auf einen Medienkünstler des 20. Jahrhunderts

Thomas Ernst, Patricia Gozalbez Cantó, Sebastian Richter, Nadja Sennewald, Julia Tieke (Hg.) SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart März 2008, 406 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-677-9

Ronald Kurt, Klaus Näumann (Hg.) Menschliches Handeln als Improvisation Sozial- und musikwissenschaftliche Perspektiven März 2008, 238 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-754-7

Mai 2008, 224 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-843-8

Michael Dürfeld Das Ornamentale und die architektonische Form Systemtheoretische Irritationen Mai 2008, 160 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-898-8

Derrick de Kerckhove, Martina Leeker, Kerstin Schmidt (Hg.) McLuhan neu lesen Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert April 2008, 514 Seiten, kart., zahlr. Abb., inkl. DVD, 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-762-2

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