Zentralismus, Dezentralisation, Regionalismus und Föderalismus in Frankreich: Eine institutionen-, theorien- und ideengeschichtliche Darstellung [1 ed.] 9783428461158, 9783428061150

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Zentralismus, Dezentralisation, Regionalismus und Föderalismus in Frankreich: Eine institutionen-, theorien- und ideengeschichtliche Darstellung [1 ed.]
 9783428461158, 9783428061150

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 511

Zentralismus, Dezentralisation, Regionalismus und Föderalismus in Frankreich Eine institutionen-, theorien- und ideengeschichtliche Darstellung

Von Reinhard Sparwasser

Duncker & Humblot · Berlin

REINHARD

SPARWASSER

Zentralismus, Dezentralisation, Regionalismus und Föderalismus in Frankreich

Schriften zum Ö f f e n t l i c h e n Band 511

Recht

Zentralismus, Dezentralisation, Regionalismus und Föderalismus in Frankreich Eine Institutionen-, theorien- und ideengeschichtliche Darstellung

Von D r . Reinhard Sparwasser

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sparwasser, Reinhard: Zentralismus, Dezentralisation, Regionalismus und Föderalismus i n Frankreich: e. Institutionen-, theorien- u. ideengeschichtl. Darst. / v o n Reinhard Sparwasser. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1986. (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 511) I S B N 3-428-06115-2 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1986 Duncker Sc Humblot GmbH, Berlin 41 Gedruckt 1986 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06115-2

Vorwort Die Arbeit hat im Wintersemester 1985/86 dem rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereich der Universität Bayreuth als Dissertation vorgelegen. Wesentliche Änderungen wurden nicht mehr vorgenommen. Spätere Gesetzgebung, politische Entwicklungen und Literatur konnten teilweise bis Juli 1986 berücksichtigt werden. Bei all denen, die durch fachliche und menschliche Unterstützung zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben, darf ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken: bei meinem verehrten Lehrer Herrn Prof. Dr. Peter Häberle, Bayreuth/St. Gallen, der mich seit meiner Zeit als Student in Augsburg bis heute entscheidend geprägt und gefördert hat; bei seinem Augsburger und Bayreuther Seminar für wissenschaftliche Anregungen und menschliche Verbundenheit; bei meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Walter Schmidt Glaeser, Bayreuth, für weiterführende Gespräche; bei den Herren Direktoren des Institut de Droit Comparé der Université I I von Paris Prof. Dr. René Rodière und Prof. Dr. Michel Pédamon für die Arbeitsmöglichkeiten und Kontakte während meiner Zeit als Assistent an diesem Institut; bei den Bibliothekaren der Universitätsbibliothek Bayreuth für ihre stets gezeigte Geduld und Findigkeit; bei meinen Schreibkräften für die sorgfaltige Abschrift des schweren Manuskripts; bei der Studienstiftung des deutschen Volkes für ihre großzügige finanzielle Förderung; bei meinen Sozien in der Kanzlei Prof. Dr. Bernd Bender und Partner, Freiburg, für ihre Geduld mit mir während meiner abschließenden Arbeiten und schließlich bei meinen deutschen und französischen Freunden für viele anregende und kritische Gespräche, aber auch für aufopfernde Hilfe im technischen Bereich, an erster Stelle, aber auch stellvertretend für andere bei Frau cand. iur. Karen Kohler, Freiburg, und Herrn cand. iur. Detlef Horn, Bayreuth. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern. Freiburg i. Brg., im Juli 1986

Reinhard Sparwasser

Inhaltsverzeichnis

Einleitung I. Eingrenzung des Themas und Erkenntnisinteresse II. Methode

17 17 18

III. Darstellungsweise

19

A. Das Ancien Régime (bis 1789) I. Die Gebietsverwaltung des Ancien Régime: Rechtsentwicklung und Reformversuche 1. Die Straffung der Verwaltung durch die Monarchie a) Die königlichen Intendanten

21

21 23 24

b) Realität der Provinz und zentrifugale Kräfte am Ende des Ancien Régime

25

c) Parlamente und Städte

29

2. Zeitgenössische Kritik und (letzte) Reformvorschläge

30

3. Zusammenfassung und Ausblick

33

II. Freiheits- und Friedenssicherung in der politischen Theorie des 18. Jahrhunderts

35

1. Charles de Sécondat, Baron de La Brède et de Montesquieu

36

a) Die vertikale Gewaltenteilung durch corps intermédiaires

36

b) Föderative Republiken zur Friedenssicherung

39

c) Kritische Würdigung

41

2. Jean-Jacques Rousseau

42

a) Die ideale Größe der Republik

43

b) - und ihre Sicherheit

45

c) Kritische Würdigung

48

3. Zusammenfassung und Ausblick

49

nsverzeichnis

8

Β. Vom Beginn der Revolution (1789) bis zum Ende des II. Empire (1870) I. Revolutionszeit und weitere Entwicklung

51 51

1. Kommunale und föderale Bewegung

52

2. Das Werk der Verfassunggebenden Versammlung

53

a) Die Geburt der Departements

54

b) Aufbau und Funktion der Verwaltung

56

3. Das „Gespenst des Föderalismus" und die „Re"-Zentralisation: Die Auseinandersetzung zwischen Jakobinern und Girondisten a) Föderalismus in Montagne und Gironde

58 58

b) Die Souveränitätsfrage

60

c) Die Führungsrolle von Paris

60

d) Die Ausschaltung der Girondisten und die Diktatur der Jakobiner . . .

61

e) Folgerungen

62

4. Das Direktorium (1795-1799)

64

5. Konsulat (ab 1799) und I. Empire (1804-1815)

65

6. Restauration (ab 1815) und Julimonarchie (1830-1848)

68

7. II. Republik (ab 1848) und II. Empire (1851-1870)

69

8. Zusammenfassung und Ausblick

70

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie des 19. Jahrhunderts 1. Alexis Clérel de Tocqueville

71 71

a) Entwicklung und Kritik der Zentralisation aa) Die Zentralisation des Ancien Régime bb) Die Zentralisation der Revolution cc) Zentralisation und Demokratie dd) Folgen der Zentralisation

73 73 75 75 76

b) Dezentralisation und Föderalismus: Begriffe und Abgrenzung

78

c) Einrichtung und Garantien

79

d) Die politische Bedeutung der Dezentralisation aa) Dezentralisation und Gewaltenteilung bb) Dezentralisation und (Bürger-)Beteiligung Inkurs: L'esprit communal cc) Dezentralisation als ein Element einer freiheitlichen Ordnung . .

81 81 81 82 84

e) Kritische Würdigung

85

2. Pierre-Joseph Proudhon a) Grundlegung des Principe fédératif

87 88

b) Einrichtung und Ausgestaltung des föderalen Systems

89

c) Föderalismus und Wirtschaflsverfassung

92

d) Kritische Würdigung

93

nsverzeichnis

9

3. Weitere Reformvorschläge und Ansätze zur wissenschaftlichen Kritik . . .

95

4. Zusammenfassung und Ausblick

99

C. Die ΙΠ. Republik (1870-1940) Blütezeit des klassischen Regionalismus I. Rechtsentwicklung 1. Die Zweite Kommune von Paris

101 101 102

2. Die großen republikanischen Gesetze zur Dezentralisation von 1871 und 1884

104

a) Vorbereitungsarbeiten

104

b) Das „Grundgesetz der Departementverwaltung" von 1871 aa) Der Generalrat bb) Der Präfekt cc) Die Departementkommission c) Das Gemeindegesetz von 1884

104 105 106 106 107

3. Die Verwaltung departementübergreifender Angelegenheiten a) Die Verwaltung gemeinsamer örtlicher Interessen

107 108

b) Die Einrichtung des Wirtschaftsregionalismus

109

c) Die regionale Verwaltung von Staatsaufgaben

110

4. Zusammenfassung und Ausblick II. Die Reformbestrebungen politischer Bewegungen und im Parlament 1. Der „klassische Regionalismus"

111 111 112

a) Die FRF: Geschichte der Organisation

112

b) Regionalismus: Sammelbewegung, Kompromiß und Provisorium

113

c) Quellen der Inspiration und Querverbindungen

116

d) Kritische Würdigung

118

2. Der „Personalismus" der 30er Jahre

119

a) Ursprung, Organisation und Organe

119

b) Quellen und Ziele

120

c) Kritische Würdigung 3. Die Reformvorschläge zum Regionalismus im Parlament

122 122

a) Der Zuschnitt der Region und ihre Koexistenz mit dem Departement

123

b) Die institutionelle Ausgestaltung der Region aa) Parlamentarische Vorschläge bb) Regierungsvorschläge cc) Parlamentarische Kommissionen

124 124 127 128

c) Regionalismusbestrebungen und Staatsreform 4. Zusammenfassung und Ausblick

129 130

nsverzeichnis

10

III. Erkenntnisinteresse und Forschungsergebnisse der Staatsrechtslehre : Theoriebildung und Reformkritik 1. Der „Klassiker" zu Staatenbund und Bundesstaat: L.Le Fur a) Die „föderative" Form in Geschichte und Gegenwart, Politik und Recht aa) Bundesstaat, Staatenbund und Souveränität bb) (Rechtsvergleichende) Bestandsaufnahme, Zukunftsaussichten und Bewertung der föderalen Form

131 132 132 133 134

b) Dezentralisation und Regionalismus

136

c) Kritische Würdigung

136

2. Staatskriterium und Souveränitätsbegriff am Prüfstein des Bundesstaats: R. Carré de Malberg a) „Staatlichkeit" und Souveränität im (Bundes-)Staat

136 137

b) Einzelheiten zum Bundesstaat

144

c) Kritische Würdigung

145

3. Föderalismus und Dezentralisation gegen den „souveränen" Staat: L. Duguit

145

a) Der Bundesstaat als Prüfstein von Staats- und Souveränitätslehre und die „realistische Konzeption der Souveränität"

146

b) Dezentralisation im modernen Staat aa) Erscheinungsweisen der Dezentralisation bb) Reformkritik und -empfehlungen

149 150 150

c) Kritische Würdigung

152

4. Die politische Theorie der Dezentralisation: M. Hauriou

153

a) Der Bundesstaat - ein gelöstes Problem aa) Das Kennzeichen des (föderalen) Staats bb) Entstehung und Entwicklung des Bundesstaats und seine Besonderheiten

154 155

b) Dezentralisation und Regionalismus aa) Die „politische Theorie" der Dezentralisation (1) Dezentralisation, nationale Souveränität und Demokratie . . . (2) Gewaltenteilung, Öffentlichkeit und Parlamentarismus (3) Rechtsstaatsprinzip und Staatsbild bb) Vorbehalte, Abwägungen und Reformkritik

157 158 159 160 162 163

c) Kritische Würdigung

167

5. Föderalismus als Grundprinzip rechtlicher Ordnung: G. Scelle

156

169

a) Normativer und institutioneller Föderalismus

169

b) Föderalismus als nationale und internationale Ordnung aa) Föderalismus und Verfassung bb) Europäische und internationale (Friedens-)Gemeinschafi

171 171 172

c) Kritische Würdigung

173

6. Zusammenfassung und Ausblick

173

nsverzeichnis D. Vom „Etat Français" (1940-1944) bis zum Regierungswechsel 1981 I. Verfassungs- und Rechtsentwicklung 1. Der „Etat Français" - die Wiege des Neoregionalismus

11

175 176 176

a) Die Reform von Staat und Verwaltung

177

b) Die Pläne der Regierung von Vichy

178

c) Hintergründe und Inhalte der „Nationalen Revolution"

179

2. Die „Vorläufige Regierung der französischen Republik" (bis 1946)

180

a) Die Fortschreibung der Regionalstrukturen

180

b) Gründe des Scheiterns

181

3. Die IV. Republik (1946-1958)

182

a) Die Verfassungs- und Rechtsentwicklung in der „Metropole" aa) Der Verfassungskompromiß: Dezentralisation ohne Region bb) Die IG Α Μ Ε - Wiedergeburt der Region cc) Fehlanzeige zum Titel X der Verfassung von 1946 dd) Wirtschafls-Neo-Regionalismus und Planung

183 183 185 186 186

b) Reformvorschläge von Regierung und Parlament aa) Regierungsvorschläge bb) Parlamentarische Vorschläge

188 189 190

c) Die Rechtsentwicklung in den Kolonien aa) Die Ausgangslage vor der Verfassung von 1946 bb) Der „Föderalismus" der Union Française cc) Die Organisation der überseeischen Territorien (TOM) dd) Der koloniale Wirtschaftsregionalismus ee) Die Entkolonialisierung

190 191 191 193 194 195

4. Die V. Republik (ab 1958) bis 1981 a) Verfassungs- und einfachrechtliche Ausgangslage: die Aufgabe der Erneuerung von Staat und Verwaltung aa) Die Vorgaben der Verfassung bb) Die Kontinuität des einfachen Rechts

196 197 198 200

b) Die Reform 1964

201

c) Das (gescheiterte) Referendum 1969 aa) Inhalt der vorgeschlagenen Regionalreform bb) Gründe des Scheiterns cc) Kritische Würdigung d) Die Reform 1972 aa) Reforminhalte bb) Die wachsende Bedeutung der Region cc) Kritische Würdigung

204 205 207 208 209 210 212 212

e) Reformbestrebungen zwischen 1972 und 1981 aa) Schwerpunkte und Ertrag der Vorbereitungsarbeiten bb) Der Gesetzentwurf „PLDRCL" cc) Kritische Würdigung

213 213 216 217

nsverzeichnis II. Die politische Debatte in der Öffentlichkeit 1. Dezentralisation ohne Region? - Ausgangslage und Entwicklung in den nationalen politischen Parteien und wichtigen „Verbänden"

217 219

a) Die kommunistische Partei (P. C.)

220

b) Die nicht-kommunistische Linke

222

c) Das „Regierungslager" am Beispiel M. Debrés

224

d) Die „Betroffenheit" der Notabein

226

e) Anpassungszwänge im Präfekten-Corps

229

0 Kritik an und aus der Bürokratie

230

g) Zwischenergebnis

232

2. Die Erstarkung des Regionalismus: der politische „Frontenwechsel"

233

a) „Mikronationalismen"? - die Herausforderung der Regionalismusbewegungen an den Nationalstaat aa) Einzelne Regionalismusbewegungen bb) Die Regionalismen auf dem Weg zur Regionalisation

233 234 236

b) Die Entwicklung der Regionalismusidee bei den Sozialisten

240

3. Marginalisierung und Emigration der Föderalismusidee

244

a) Die frühe Verbindung von Europagedanke und Föderalismus

244

b) Der „integrale Föderalismus"

247

c) Föderalismus und Regionalismus in der weiteren Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft 4. Zusammenfassung und Ausblick III. Schwerpunkte der wissenschaftlichen Diskussion seit 1945 1. Die „reine Rechtstheorie" der Dezentralisation 2. „Föderalismus" im unitarischen Staat a) Die „koloniale Frage"

249 252 252 253 256 256

b) „Internationaler Föderalismus"

256

c) Entwicklung einer „föderal-unitarischen Konvergenztheorie" (?)

257

3. Dezentralisation im planenden Staat

260

4. Spiel der Kräfte statt Befehlsgewalt : Der Beitrag der Organisationssoziologie

263

5. Zusammenfassung und Ausblick

267

E. Das Reformwerk seit 1981 I. Verlauf und Inhalte der Reform

268 268

1. Die Umsetzung des Reformvorhabens

268

2. Der neue Rahmen

271

3. Die neuen Kompetenzen

274

4. Kritische Anmerkungen

276

nsverzeichnis

13

II. Die öffentliche (Reform-)Diskussion

278

1. Die parlamentarische Debatte

278

2. Die allgemeine Presse

280

3. Äußerungen der Parteien

282

4. Stellungnahmen von Verbänden und Gruppen

284

5. Zusammenfassung und Ausblick

286

III. Die wissenschaftliche Diskussion

286

1. Ausgewählte Verfassungsfragen

287

a) Verfassung und Föderalismus

288

b) Verfassungsrecht auf Selbstverwaltung

290

Exkurs: Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit

292

2. «Le pouvoir régional»: Region, Macht und Innovation

293

3. Zusammenfassung und Ausblick

295

Schlußbetrachtung

296

Résumé

297

Literaturverzeichnis

299

Personenregister

315

Sachregister

321

Abkürzungsverzeichnis a. a. Α. Abg. abgedr. Abs. Abschn. a. E. AJDA allg. Α. N. Anm. Art. Aufl. ausf. ausdr. Ausg. bes. Bd. Bde. Beitr. BR Bsp. Bspe. bspw. Bull. BZ bzw. d. dass. Déb. ders. d. h. dies. Doc. Pari. Doc. Sén. DÖV dt. ebd. ebso. Ed. EG EGKS

= = =

= =

= = = =

= = = = =

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auch anderer Ansicht Abgeordneter abgedruckt Absatz Abschnitt am Ende Actualité Juridique, Droit Administratif allgemein Assemblée Nationale Anmerkung Artikel Auflage ausfuhrlich ausdrücklich Ausgabe besonders Band Bände Beitrag Bundesrepublik Beispiel Beispiele beispielsweise Bulletin Badische Zeitung beziehungsweise der, die, das dasselbe Débat (Debatte) derselbe(n) das heißt dieselbe(n) Document Parlamentaire Document du Sénat Die öffentliche Verwaltung deutsch ebenda ebenso Edition Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

Abkürzungsverzeichnis eingeh Einl. einschl. ENA Entsch. Erl. etc. EuR EVG EWGV f. FAZ ff. Fn. FR franz. FS Ges. hg. Hg. Hbd. h. M. 1. f. IFRES i. S. Jhd.(s) J. 0 . JÖR (NF) Kap. krit. lat. m. Mio. Mrd. m. w. N. m. ζ. N. N. F. Nr. Nrn. N. R. S. Nw. 0. 0 . C. o. J. P. C. F. P. S. P. V R. RDP

= = = = = = = = = = = = = = = = = = .= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =

eingeleitet Einleitung einschließlich Ecole Nationale d'Administration Entscheidung Erläuterungen et cetera Europarecht Europäische Verteidigungsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung fortfolgende Fußnote Frankfurter Rundschau französisch Festschrift Gesetz herausgegeben Herausgeber Halbband herrschender Meinung im folgenden Institut Français de Recherches et d'Etudes Sociales im Sinne Jahrhundert(s) Journal Officiel Jahrbuch des öffentlichen Rechts (Neue Folge) Kapitel kritisch lateinisch mit Million Milliarde mit weiteren Nachweisen mit zahlreichen Nachweisen Neue Folge Nummer Nummern Nouvelle Revue Socialiste Nachweise oben Œuvres Complètes ohne Jahresangabe Parti Communiste Française Parti Socialiste Procès Verbal (Protokoll) Randnummer Revue du Droit Public

15

16 Reg. = Rev. adm. = RFS = RFSP = R.P.R. = RTDE = s. = S. = sc. = sogl. = Sp. = teilw. = u. = u. a. = u. a. m. = Übers. = UDF = u. ö. = usw. = u. v. m. = v. = Verf. = Verf. entw. = vgl. = Verw. Arch.= z. B. = zit. = zugl. = zus. =

Abkürzungsverzeichnis Regierung Revue administrative Revue Française de Sociologie Revue Française de Sciences Politiques Rassemblement pour la République Revue Trimestrielle de Droit Européen siehe Seite, Satz scilicet sogleich Spalte teilweise und und andere und andere mehr Übersetzung Union pour la Démocratie Française und öfter und so weiter und vieles mehr vom Verfassung Verfassungsentwurf vergleiche Verwaltungsarchiv zum Beispiel zitiert zugleich zusammen

Einleitung I. Eingrenzung des Themas und Erkenntnisinteresse Die vorliegende Arbeit versucht, die gegenwärtige Rechtsentwicklung zu Dezentralisation und Regionalismus1 in Frankreich vor ihrem Institutionen-, theorien- und ideengeschichtlichen Hintergrund verständlich zu machen und — in Deutschland meist unterschätzte —föderale und „präföderale" 2 Ansätze aufzuzeigen. Die Frage nach den Durchsetzungschancen und -hindernissen dieser Ideen soll erweisen, wieweit, unter welchen Bedingungen und gegen welche Gegner sich der Zentralismus über lange Zeit immer wieder behaupten konnte, wie sich aus einer Vielzahl von Strömungen, Gegenströmungen und Unterströmungen die konkret-gegenwärtige Ordnung herausgebildet hat und welche gesellschaftlichen Kräfte und Ideen in ihr „aufgehoben" sind. Darauf können auch eine kritische Würdigung des Reformwerks seit 1981 über (rechts-)technische Fragen hinaus und eine Einschätzung seiner Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten aufbauen. Untersuchungsfelder sind die Verfassungs- und Rechtsentwicklung, Aussagen von Bewegungen, Vereinigungen und Parteien und die öffentliche Meinung sowie die Beiträge der politischen Philosophie und die wissenschaftliche Diskussion (besonders in der Staatsrechtslehre). Ausgangspunkt ist das Werk der Einigung Frankreichs vor der Französischen Revolution 1789. Die breite Anlage ermöglicht, vielerlei Zusammenhängen nachzugehen und ein lebendiges Bild der Entwicklung und der auch heute wirksamen Kräfte entstehen zu lassen. Entsprechend sollen die das Thema bildenden Ideen auch nur als Arbeitsbegriffe vorausgesetzt werden. Eine (hier vorzeitige) Festlegung von Begriffselementen, ohne die eine weiterfuhrende theoretische Arbeit natürlich nicht auskommt, wird so vermieden. 1

„Regionalismus" u. „Regionalisation" werden oft nicht systematisch unterschieden; hier soll unter „Regionalismus" die Gesamtheit der auf die Schaffung, den Ausbau u. die Stärkung einer regionalen Ebene gerichteten Bestrebungen verstanden werden, in einem engeren Sinne unter „Regionalisation" die entsprechende Aktivität von Seiten des Staates; der Unterscheidung kommt aber wegen eines häufig abweichenden Gebrauchs große Bedeutung nicht zu, entsprechende Symmetrien für „Dezentralisation" und „Föderalismus" (etwa Dezentralismus und Föderalisation) sind weitgehend unüblich; vgl. dazu präzise u. instruktiv — aber mit den nämlichen Vorbehalten - P. Grémion, Régionalisation, régionalisme, municipalisation sous la V e République, in: Le débat (Quelle décentralisation?), 1981, S. 5ff. (7 f., 10). 2

2

So aber schon P. Häberle, AöR 101 (1976), S. 486 f. (487). Sparwasser

Einleitung

II. Methode Dem (diachronen) dogmengeschichtlichen Ansatz in der Zeitebene entspricht die funktionale Methode der (synchronen) Rechtsvergleichung in räumlicher Hinsicht. Die hier angesprochenen Begriffe werden nicht als feststehende, unveränderlich gültige rechtstechnische Gebilde betrachtet, sondern in ihrer Orts- und Zeitgebundenheit, ihrer Kontextbezogenheit und ihrer Abhängigkeit von der kulturellen Ambiance der sie interpretierenden Mitglieder der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten 3. Da die Möglichkeit der Erfassung der Rechtswirklichkeit mit wachsendem Traditionsgrad der untersuchten Normen und Prinzipien abnimmt, ist eine Kombination möglichst vieler Methoden und Ansätze geboten. Für eine systemimmanente Betrachtung ist der historische Rahmen aufzuzeichnen, in dem sich der Untersuchungsgegenstand befindet und der ihn beeinflußt; dogmatisch-deskriptiv ist die Information über den Inhalt des Rechts zu erarbeiten; die historische Betrachtungsweise zeigt Kontinuität und Wandel des Untersuchungsgegenstandes und relativiert so den systemimmanent aufgezeigten Befund 4 ; die funktionale Methode beschreibt das Funktionieren des politischen Systems und ermöglicht die Zuordnung von Funktionen und sie erfüllenden Institutionen 5 . Der kulturwissenschaftliche Ansatz endlich ergibt Gründe für das Funktionieren des Systems, sein Beharrungsvermögen und seinen Wandel6; gerade die Erörterung eines die kulturelle Identität territorialer Einheiten und damit immer auch menschlicher Gemeinschaften und zutiefst traditionsbeladene Probleme berührenden Themas kann darauf nicht verzichten. So wurde auch in Frankreich die kulturelle Dimension der Regionalismusdebatte politisch und wissenschaftlich (wieder-)entdeckt. Mit zunehmender Nähe zur Gegenwart und besserer Zugänglichkeit der Quellen immer breiter ausgreifend erschließt der kulturwissenschaftliche Ansatz die in den hier interessierenden Fragen in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung vertretenen Positionen ζ. B. aus Artikeln in der allgemeinen Presse und in besonderen (Verbands-)Organen, aus Programmen von Parteien 3 Vgl. zu „Kontext" u. „kultureller Ambiance" ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44 ff., u. ders., Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 342 ff.; grundlegend zur „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" ders., Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ1975, S. 297 ff., wieder in: Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 79 ff. 4 Zur Bedeutung der historischen Perspektive beispielhaft 0. Brunner, Herrschaft, 5. Aufl. 1965, S. Iff.

Land und

5 Zu diesem von G. Almond am Bsp. der Entwicklungsländer entwickelten Ansatz s. ders., A Functional Approach to Comparative Politics, in: ders. /J. S. Coleman, The Politics of the Developing Areas, 1960; s. a. E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 1960, S. 11 ff, 242 ff. 6

Zum kulturwissenschaftlichen Denken s. P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, bes. S. 33 ff, 57 ff, 68 f , 73 ff, unter Bezugnahme auf H. Heller, s. dazu P. Häberle, Verfassungslehre, S. 48 m. w. N. in Fn. 90.

III. Darstellungsweise

19

und Verbänden, aus (Politiker-)Reden und parlamentarischen Debatten. Neben der Institutionen- nimmt daher die Ideengeschichte einen breiten Raum ein. Die Theoriengeschichte vertieft diesen Ansatz unter Aufbereitung von Klassikertexten. Juristische und—allgemeiner—politikwissenschaftliche Klassikertexte sind ein Teil der (Verfassungs-, aber auch Verwaltungs-)Rechtskultur und damit des Rechts Jedenfalls seiner Interpretationszusammenhänge (geworden). Dabei geht es zum einen um den Aufweis, die Widerlegung von (manchem Klassikertext anhaftenden) Mythen, zum andern aber auch um die Erschließung bislang vielleicht vernachlässigter Zusammenhänge und um die wechselseitige Befruchtung verschiedener (Theorie-)Ansätze 7. Aus ideologiekritischen Rücksichten werden hier Klassikertexte nicht nur im Original, sondern (möglichst) immer auch im größeren Zusammenhang zitiert und dargestellt. Die aus diesen thematischen und methodischen Vorsätzen resultierende breite Anlage einerseits, die notwendige Beschränkung des Umfangs der Arbeit andererseits führten zur Konzentration auf einen (geschichtlichen) Längsschnittvergleich und des Querschnittvergleichs auf Frankreich, die deutsche wissenschaftliche Literatur ist daher nur sporadisch berücksichtigt. Der deutsch-französische Rechtsvergleich bedeutet eine systemexmanente Lernmöglichkeit für unser eigenes System. Er praktiziert Denken in Alternativen und ist damit im besten Sinne pluralistisch. Er fördert Information und Verständnis und vermindert damit im binationalen Rahmen wie auch auf europäischer Ebene Konfliktmaterial und erhöht Integrationschancen. Gerade der durchaus defizitär erscheinende deutsch-französische wissenschaftliche Austausch zu den Themen Föderalismus und Dezentralisation kann in der jetzt erst richtig beginnenden Ausbildung eines Verfassungsrechts der Gebietskörperschaften in Frankreich noch Großes leisten, wie umgekehrt das Hintergrundverständnis für die (Rechts-)Entwicklung Frankreichs Voraussetzung ist für die Fruchtbarmachung französischer Erkenntnisse und Erfahrungen für Deutschland. Nicht zuletzt in europäischer Perspektive liegt das Erkenntnisinteresse auf der Hand, über vordergründige Fragen einer europäischen Regionalpolitik hinaus in Hinblick auf die Schaffung einer Europäischen Union, die ohne ein Aufgreifen auch französischer föderaler Ansätze gar nicht denkbar ist.

III. Darstellungsweise Die Darstellung folgt dem zeitlichen Verlauf in Abschnitten, die lange genug, die geschichtliche Entwicklung deutlich, und überschaubar genug sind, um in einem Kapitel das Zusammenwirken von Zeitgeschichte und Ideengeschichte, von Recht und Politik sichtbar zu machen. Die Feingliederung ergibt sich aus den jeweils zu betrachtenden Zusammenhängen, der unregelmäßige Wechsel zwi7

Zu Bedeutung u. Verwendung von Klassikertexten s. P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, bes. S.40, 45 f , 51 ff, 79 ff, aber a. (zu den Grenzen) S. 55 ff. 2*

20

Einleitung

sehen positivem Recht, Reformansätzen und -Vorschlägen und Ideengeschichte wird dafür in Kauf genommen8. Daß die Reformprojekte in der III. Republik großenteils der Regionalismusbewegung, in der IV und V Republik eher Regierung und Verwaltung entstammten, erklärt ihre verschiedene Anordnung. Während jedenfalls bei den großen Staatsrechtslehrern der III. Republik jeder ein eigenes Theoriengebäude errichtet hat und so die Behandlung in einem je eigenen Abschnitt rechtfertigt, kann die in sich stärker verflochtene wissenschaftliche Diskussion seit 1945 verständlicher nach Themenbereichen gegliedert erfaßt werden. Insgesamt ist die Abschnittsbildung durch den Versuch bestimmt, der inneren Ordnung des Stoffes Rechnung zu tragen und die großen und kleinen Zusammenhänge deutlich werden zu lassen, und kommt ohne Kompromisse nicht aus. Der gesamte Text soll auch für NichtRomanisten lesbar sein. So wurden Begriffe und Zitate, die ihrer Wichtigkeit wegen im Text zitiert wurden, übersetzt, wenn nicht anders vermerkt, vom Verfasser. Soweit sie (ausnahmsweise) unübersetzt blieben, fügen sie dem Text inhaltlich nichts hinzu und belegen oder illustrieren nur die (deutschsprachige) Darstellung. Bei der erstmaligen Verwendung von Begriffen findet sich das Original in Klammern. Von Übersetzungen in den Fußnoten wurde dagegen weitgehend abgesehen. Die originale, vom modernen Französisch oft abweichende Schreibweise wurde beibehalten. Die Klassiker der politischen Philosophie sind nach dem jeweiligen Gesamtwerk zitiert, die Angabe von „Buch" und „Kapitel" neben der Seitenzahl erleichtert aber die Verwendung auch leichter zugänglicher Taschenbuchausgaben sowie von Übersetzungen.

8

Vgl. zu entsprechenden Darstellungsfragen G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. von Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reichs, 1983, S.7.

Α. Das Ancien Régime (bis 1789) Das Werk der Einigung Frankreichs und die Machtentfaltung der Monarchie mündeten in immer straffer zentralistische Strukturen. Die Durchsetzungschance zentraler (monarchischer) Politikvorgaben wuchs, während sowohl die örtlichen Widerstände auf den Ebenen von Gemeinden und Provinzen als auch andere Gegengewichte wie der (rivalisierende) Adel, die Generalstände und die Parlamente ihre Bedeutung einbüßten. Gleichzeitig schürten die außenpolitischen Abenteuer der Monarchie und die ungelösten, sich immer drängender stellenden nationalen Fragen im übrigen Europa das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung. Die Herrschaft der Bourbonen schien dem freiheits- und selbstbewußter werdenden Volke immer drückender, ihr Umschlagen in Despotismus immer gefährlicher. In diesem Kontext entstanden die beiden größten Entwürfe der französischen politischen Philosophie bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts: Montesquieus „Esprit des Lois" (1748) und J.-J. Rousseaus „Contrat social" (1762). Sie nahmen in unterschiedlicher Konkretheit und Radikalität die Fragen ihrer Zeit auf und haben in verschiedener Weise die Revolutionäre von 1787 bis 1795 und später sowie Politik und Wissenschaft bis heute entscheidend geprägt. Auch wenn die Namen C. de Montesquieus und J.-J. Rousseaus gemeinhin mit anderen Ideen als denen von Dezentralisation und Föderalismus assoziiert werden, haben doch beide zu den hier interessierenden Fragen Stellung bezogen und erste wesentliche Beiträge geleistet. Auch unter der Wirkung ihrer Ideen wuchs der revolutionäre Druck auf die Monarchie und erzwang nicht nur 1789 die (Wieder-)Einberufung der Generalstände nach Versailles, sondern schon ab 1778 auch den Versuch, mit der Wiedereinführung der Provinzständeversammlungen die Monarchie politisch zu entlasten. Ob diese Reformen „der letzten Stunde" und „Vorformen" von Regionalismus und Dezentralisation, die mit den Namen so bedeutender Politiker wie C. E. de Malesherbes , Α. M. Turgot und J. Necker verbunden sind, die Revolution beschleunigt oder verzögert haben, ist bis heute umstritten.

I. Die Gebietsverwaltung des Ancien Régime: Rechtsentwicklung und Reformversuche Um ihre Macht zu festigen, gewandelten Bedingungen zu entsprechen und wachsenden Ansprüchen zu genügen, bildete die erstarkende Monarchie neue Institutionen der Gebietsverwaltung heraus, die mit den bestehengebliebenen Einrichtungen ein nur noch schwer durchschaubares Geflecht bildeten. Als ab

22

Α. Das Ancien Régime

1789 die Verfassunggebende Versammlung sich anschickte, die Errungenschaften der Revolution und ihre Macht zu verankern und dem Land eine moderne Verwaltung zu geben, war das keineswegs ein Neubeginn: Ob in bewußter Abkehr verworfen oder unter anderem Titel übernommen — die Einrichtungen des Ancien Régime sind die Bezugspunkte ζ. B. für die Frage, ob der Zentralismus, in den die französische Revolution mit der blutigen Ausschaltung der Girondisten mündete, ein Erbe des Ancien Régime oder eine Erfindung der Revolution sei. Diese Frage nach Kontinuität und Diskontinuität ist nicht nur für das Verständnis der geschichtlichen Entwicklung wesentlich, die Antwort darauf war stets auch eine scharfe Waffe im politischen Kampf. An den Einrichtungen des Ancien Régime wurde das (Befreiungs- und Modernisierungs-)Werk der Revolution sowohl von denen, die dem Ancien Régime nachtrauerten, als auch von denen, die die Revolution unterstützten, gemessen. Die Emotionen, die die Revolution nicht bloß bei ihren Zeitgenossen entfachte, erfaßten auch das Ancien Régime und leisteten Glitterungen, nostalgischen Träumereien und revolutionärem (Anti-)Pathos Vorschub. Mindestens so sehr wie die Revolution wurde daher auch das Ancien Régime zum ideologischen Steinbruch, der für die verschiedensten Richtungen „Argumente" bereithielt — die bis heute verwendet werden. Ein Beispiel ist der nostalgisch beladene Begriff der „province". In ihrem Namen wurde das Departement nicht nur innerhalb Frankreichs und bis heute verketzert. Viel von ihrer emotionalen Besetzung mit konterrevolutionär-monarchistischem Gefühl, aber auch ethnisch-kulturellem und „demokratischem" Selbstbewußtsein konnte die Region vor allem der blühenden Regionalismusbewegungen der III. Republik auf sich ziehen. Die behauptete Stärke zentrifugaler Kräfte gegen Ende des Ancien Régime war aber schon damals auch die Rechtfertigung, die die Zentralisten aller Zeiten gebrauchen, die den Zerfall der nationalen Einheit und den Schrecken abbröckelnder autonomer Provinzen beschwören. Sogar die Föderalismusdiskussion knüpfte an das Ancien Régime an, wo P.-J. Proudhon den König Frankreichs einen föderalen Präsidenten nannte1. Krisensymptom und Kennzeichen wachsender Reflexion waren die Reformversuche in den letzten Jahren der Monarchie vor der Revolution; der demokratische Impuls der Zeit warf sein Licht auch auf die Verwaltungsstrukturen. Die Geschichte dieser Reformen zeigt Inhalt und Stärke der damals schon entwickelten Ideen zur Erneuerung des politischen Systems durch die Wiederbelebung des politischen Lebens der Provinz, aber auch die (mit dem Rücktritt zweier Minister bezahlten) Widerstände dagegen. Mit diesen Fragen nach dem Ausmaß der Zentralisation, der Realität der Provinzen, der Gefahr des Zerfalls und dem Inhalt der letzten Reformen ist das Ancien Régime der natürliche Ausgangspunkt der geschichtlichen Betrachtung. 1 P.-J. Proudhon, Du principe fédératif, in: Œuvres Complètes, hg. von C. Bouglé u. H. Moysset, Neue Ausg. Bd. XV, 1982, S. 253 ff. (550); s. dazu a. B. Voyenne, Histoire de l'idée fédéraliste, Bd. I, Les sources, 1976, S. 80.

I. Rechtsentwicklung und Reform versuche im Ancien Régime

23

1. Die Straffung der Verwaltung durch die Monarchie Das mittelalterliche Frankreich bestand nur aus einem losen Verband einzelner miteinander rivalisierender Staaten2. Die feudale Ordnung kannte als Beziehung zwischen „(Gebiets-)Körperschaften" nur das Lehensverhältnis zwischen „Feudalherren" und „Vasall"3. Der aufsteigenden Bourgeoisie gelang es in den Städten, einen Teil der „staatlichen" Macht an sich zu ziehen4 und sich Freiräume zu erkämpfen; diese Freiheiten beruhten freilich nicht auf der Gleichheit vor dem Gesetz und der Einheit der Rechtsordnung, sondern auf Privilegien 5. Schließlich gelang es einem Einzelstaat, seinen Anspruch auf die Vorherrschaft über die anderen durchzusetzen und damit die französische Monarchie zu begründen 6. Die Befreiung von der Feudalherrschaft erwies die Monarchie als die emanzipatorische Kraft des Fortschritts und begründete ihren Erfolg. Rechtsvereinheitlichung und Abbau von feudalen Privilegien mögen dem Wunsch der Bevölkerung nach Sicherheit und Gerechtigkeit entsprochen und eine gewisse Garantie inneren Friedens bedeutet haben. Seit dem 15. Jahrhundert unterhielt der König eine stehende Armee, die zugleich Machtzuwachs und Ausgabensteigerung bedeutete. Um stetig und zuverlässig über die ständig wachsenden nötigen Steuermittel zu verfügen, bedurfte es eines straff gefühlten, zuverlässigen und effizienten Verwaltungsapparats. Seit dem 16. Jahrhundert trieb die Monarchie die Zentralisation deshalb kraftvoll voran 7. Die Souveränität des Staates sollte gesichert, an die Stelle der (indirekten) Lehensverhältnisse die direkte Beziehung zwischen Zentralgewalt und Untergebenen gesetzt werden 8. Während die z.T. noch dem Feudalismus entstammenden alten Gebietsgrenzen, Titel und Ämter aus Vorsicht meist beibehalten wurden, entstand in Person der königlichen Intendanten ein „moderner", dem König ergebener „Beamtenap2

G. Hanotaux, Tableau de la France en 1614, 1898, S. 232. M. Bowjol, Les institutions régionales de 1789 à nos jours, 1969, S. 54 R. 58. — Zur Frage, inwieweit schon die feudale Ordnung Elemente einer föderalen Ordnung enthielt, in den großen Feudalgesellschaften der Prototyp des Bundesstaats erblickt werden kann, vgl. — unter Verweis auf das System der „Hierarchie von Souveränitäten" — A. Esmein, in: A. Hamilton U. Jay U. Madison, Le Fédéraliste, neue franz. Ausg., hg. von G. Jèze, 1902, S. XVIII, Vorwort. A. Esmein bedauerte, daß mit der mittelalterlichen Sozialordnung wegen der mangelnden Zivilisation zu jener Zeit und der Überlegenheit der Monarchie ein noch unbekannter und bruchstückhafter Föderalismus zerstört und durch unitarische Formen des politischen Lebens ersetzt worden sei, ebd., S. XIX. 3

4

G. Hanotaux, Tableau, S. 232. Ebd., S.233f.: «Une liberté c'est d'abord un privilège»; s.a. G. Vedel, Les grands courants de la pensée politique et le fédéralisme, in: G. Berger u. a., Le fédéralisme, 1956, S.31ff. (34 f.). 5

6

G. Hanotaux, Tableau, S. 232.

7

G. Vedel, Fédéralisme, S. 35.

8

G. Hanotaux, Tableau, S. 231.

24

Α. Das Ancien Régime

parat", der die wahre Macht in Händen hielt — und bis in die jüngste Verwaltungsgeschichte als Vorbild gewirkt hat! Die „Provinz-Verwaltung" lag in den Händen der (gewählten) Stände, verfiel aber immer mehr zu einem Verwaltungsinstrument der Monarchie, bis sie wichtige Reformvorschläge in den letzten Jahren des Ancien Régime zu neuem Leben erwecken sollten. Daneben ist — mag es auch erst befremden — auf die der Judikative zugehörenden Parlamente einzugehen. Die Städte schließlich verwandelten sich von „kleinen Republiken" im offenen Kampf gegen den König zu problemlosen und gut funktionierenden Verwaltungsschaltstellen. Bei all dem blieb aber ein effizienzhinderndes Neben- und Gegeneinander von Einzelverwaltungen, das nach Reformen rief. a) Die königlichen Intendanten Noch im 18. Jahrhundert gab es die Provinz-Gouverneure. Sie waren — meist erblich — Überbleibsel und Repräsentanten des feudalen Königtums. Nach dem Dreißigjährigen Krieg vom König mit umfassenden militärischen und polizeilichen Befugnissen ausgestattet, waren sie zeitweise regelrechte Vizekönige geworden und damit eine ernste Bedrohung für ihn. Inzwischen besaßen sie nur noch äußerliche Ehren und waren auf Repräsentationsaufgaben beschränkt 9. Die wahre Macht hatte der König seit dem 17. Jahrhundert den Intendanten übertragen. Schon ihre Vorläufer, die Militär-, Justiz- und Finanzintendanten, waren Ende des 16. Jahrhunderts als einfache Gesandte des Königs damit befaßt, zu mächtige Gouverneure und Beamte in ihre Schranken zu verweisen. A. Richelieu stärkte ihre Organisation und ihre Macht, sie bekamen ihr Gebiet zugeteilt, nahmen dort Wohnsitz und entwickelten trotz heftiger Opposition und Rückschlägen ihre Macht 10 . Seit 1653 residierten sie im gesamten Reich in 30 Generalitäten (généralités), jeweils von der dreifachen Größe eines heutigen Departements, verschieden von den zu brechenden feudalen Strukturen der Gouverneursbezirke (gouvernements) und klein genug, um eine effektive Kontrolle ausüben und zentrifugalen Kräften entgegenwirken zu können 11 . Die königlichen Intendanten verdankten Stellung und Einfluß nicht Geburt, Reichtum oder Ämterkauf, sondern wurden von der Regierung aus unteren Rängen des Staatsrats bestimmt. Sie wurden jung in ihnen fremde Gebiete geschickt und waren jederzeit abrufbar und versetzbar. Sie hatten umfangreiche Befugnisse, die vom Steuerwesen über allgemeine „polizeiliche" Aufgaben, Kommunalaufsicht und Militärverwaltung bis hin zur Rechtsprechung reichten 12 , und 9 J. Ellul, Histoire des Institutions, Bd. 4,1981, S. 165; M. Bourjol, Institutions, S. 55 R. 60; J. E Gravier, La question régionale, 1970, S. 18. 10

Vgl. zu Einzelheiten J. Ellul, Histoire 4, S. 166 f.; diese Abfolge: Zuteilung einer Aufgabe, dann eines Gebiets, schließlich Einrichtung eines festen Verwaltungssitzes findet sich seither immer wieder, s. z.B. unten B I 3abb. 11

M. Bourjol, Institutions, S.55f. R.61f.

I. Rechtsentwicklung und Reform versuche im Ancien Régime

25

bestimmten (zunächst) selbst ihre Subdelegierten 13. So waren sie einerseits fast „allmächtige" missi dominici in ihrem Gebiet 14 , andererseits aber unmittelbar von der Zentralgewalt abhängig. A m weitesten gingen die Befugnisse der Intendanten schon früh in den sogenannten „eroberten Ländern" (pays conquis ), die erst neu dem Königreich angehörten 15 und wo der Intendant mit seiner Verwaltung alleine alle Macht ausübte16. In den „Wahl-Ländern" (pays d'élection )λΊ trat der Intendant in Konkurrenz zu den als zu selbständig betrachteten alten Verwaltungsstrukturen 18 ; in den „Stände-Ländern" (pays d'Etats), die sich ihre Ständeversammlungen aus dem 16. Jahrhundert und eine gewisse Autonomie unter dem Rat des Königs hatten erhalten können, fungierte er als Kommissar des Königs in Abstimmung mit den Ständen19. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erschienen an der Seite der Intendanten aus Sachverständigen oder Bürgervertretern bestehende Räte (conseils) mit beratender Funktion 20 . — Der Intendant des Ancien Régime, „Schlußstein" der Verwaltung der Monarchie 21 , kündigte die Sonderkommissare (commissaires en mission) des Jahres 1793 und die Präfekten des napoleonischen Frankreich an und bereitete ihnen den Weg 22 . b) Realität der Provinz und zentrifugale Kräfte am Ende des Anden Régime Mit verschieden weit gehender Selbständigkeit bestanden nebeneinander „Stände-", „Wahl-" und „eroberte Länder" (pays d'Etats, pays d'élection und pays conquis). Von einer eigenständigen Provinzverwaltung und damit von einer „vermittelnden Gewalt" (pouvoir intermédiaire )23 läßt sich überhaupt nur noch in den Ständeländern mit einer gewählten ständischen Versammlung sprechen. Aber auch dort, wo die Provinzstände (Etats provinciaux oder Etats particuliers im 12 13

J. Ellul, Histoire 4, S. 167 ff. Später der König, / Ellul, Histoire 4, S. 169.

14

Freilich unter der Gerichtsbarkeit des Conseil du Roi, J. Ellul, Histoire 4, S. 167; gewöhnlich wurden die Intendanten aber vom König in allem gestützt, ebd., S. 170. 15

Roussillon, Elsaß, Lothringen, Burgund.

16

J. Ellul, Histoire 4, S. 165. Seit dem 17. Jhd. im Zentrum Frankreichs.

17 18

J. Ellul, Histoire 4, S. 165.

19

Näher dazu sogl. A I 1B.

20

J. Ellul, Histoire 4, S. 169.

21 «Sachez que le royaume est gouverné par trente intendants. Vous n'avez ni parlements, ni comités, ni Etats; ni gouverneurs; j'ajouterais presque ni Roi, ni ministres; ce sont trente maîtres des requêtes commis aux provinces de qui dépend le bonheur ou le malheur de ces provinces, leur abondance ou leur stérilité», Law an dArgenson, zit. nach A de Tocqueville, L'Ancien Régime et la Révolution, Œuvres Complètes, hg. von J.-P. Mayer, Bd. II1981, Buch I I Kap. II, S. 110. 22

s. unten BI3d, 14,15.

23

Dazu näher unten I I la.

Α. Das Ancien Régime

26

Gegensatz zu den Etats généraux (Generalständen) 24 wegen des heftigen Protests der Bevölkerung gegen ihre Abschaffung (zugunsten der Intendanten) bestehen blieben oder wiedereingeführt wurden 25 , verloren sie im 17. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit; so wurden die Wahlen abgeschafft, das Einstimmigkeitsprinzip eingeführt, Veto- und Budgetrecht entwertet und die Verwaltungskompetenzen beschnitten, womit die Stände zwischen die Mühlsteine der auf Effizienz bedachten Regierung und des endgültig nicht mehr repräsentierten Volkes gerieten 26. Im übrigen verschwanden sie ganz 27 . Selbst im Languedoc28 konnten sich die Stände nur auf ausdrücklichen Ordre des Königs versammeln, bedurften halbwegs wichtige Entscheidungen der Zustimmung des Conseil du Roi und mußten Steuern, Anleihen, Prozesse und Budgets vom König abgesegnet werden; wie in den anderen Provinzen gab es auch im Languedoc einen Intendanten 29 . Doch unterschied sich das Languedoc in drei Punkten vom übrigen Frankreich: Die Zusammensetzung und Arbeitsweise30 der Versammlung sicherten ihr den Respekt von König und Volk; öffentliche Arbeiten auf Kosten der Provinz sorgten für Wirtschaftswachstum und Reichtum, und die Steuern an König und Provinz wurden von dieser und nach ihrem Verteilungsschlüssel erhoben. Während aus den pays d'élection fast alle Steuern an den König flössen, wurden in den pays d'Etats erhebliche Steuermittel zusätzlich für die Provinz aufgebracht und für öffentliche Arbeiten (Flußregulierungen, Kanal- und Straßenbau, Hafenanlagen und -Unterhaltung) verwendet. Die Arbeiten wurden allein nach dem Kriterium ihres öffentlichen Nutzens unternommen, stützten das Lohnniveau und sicherten Arbeitsplätze 31. Das Languedoc war in drei Ebenen (communautés, diocèses und drei sénéchaussées) mit je eigener Versammlung und „Regierung" untergliedert—ein schönes Beispiel eines auch in sich dezentralisierten Aufbaus! Die öffentlichen Arbeiten im Interesse dieser kleinen politischen Gemeinschaften wurden nur auf deren Ersuchen hin

24

Die 1614 das letzte Mal vor 1789 getagt hatten.

25

In den „Provinzen" Bourgogne, Bretagne, Languedoc und vier erst annektierten und deshalb privilegierten pays im Norden und einigen seit Henri IV privilegierten pays in den Pyrenäen. 26 J. Ellul, Histoire 4, S. 85; M Bourjol, Institutions, S. 57 R.66ff. 27

J. Ellul, Histoire 4, S. 84.

28

Von A. de Tocqueville, Ancien Régime, S. 253 ff, in einem eigenen Anhang als Musterprovinz vorgeführt; auch dort waren 1629 die Stände abgeschafft, nach einer heftigen offenen Revolte aber 1632 wiedereingeführt worden; auch A. Richelieu hatte dort die Stände unter Hinweis auf den Mißbrauch ihrer Freiheiten und den Verstoß gegen das Allgemeinheit beanspruchende Recht aufgelöst, in der Kindheit Louis XIV lebten sie dann wieder auf, J. Ellul, Histoire 4, S. 84; A. de Tocqueville, Ancien Régime, S. 258; vgl. (krit.) a. G. Hanotaux, Tableau, S. 233, 242 f , 269. 29

Einzelheiten bei A. de Tocqueville,

30

Ebd, B u c h i l i Kap.VII, S.237.

31

Ebd, S. 255 ff. (Anhang).

Ancien Régime, S. 254 f. (Anhang).

I. Rechtsentwicklung und Reformversuche im Ancien Régime

27

unternommen; die nächst größere Gemeinschaft trug entsprechend ihrem Interesse an der vorgeschlagenen Maßnahme zu deren Verwirklichung bei, bei notwendigen und die Kräfte der Gemeinden übersteigenden Maßnahmen auch dann, wenn diese nur in deren Sonderinteresse lagen — nach dem „Verfassungsprinzip der Solidarität und der sukzessiven und gegenseitigen Hilfe"; alle Gemeinschaften waren vor der Ausführung an der Prüfung des Vorhabens beteiligt; die öffentlichen Arbeiten wurden gegen Geld ausgeführt, nicht in Fronarbeit; Enteignungsentschädigung wurde, anders als sonst, vor Baubeginn festgesetzt und im ersten Jahr der Ausführung bezahlt 32 . So waren viele Grundsätze modernen Verfassungs- und Verwaltungsrechts hier bereits verwirklicht. Aber die pays d'Etats wachten auch über ihre Freiheit: Wann immer Steuern neu eingeführt wurden, kauften sie das Recht der Erhebung teuer zurück, um bei der Verteilung der Steuerlast allein zuständig zu bleiben, und ebenso entgingen sie der Gefahr, die die Schaffung käuflicher (städtischer) Verwaltungsstellen durch den König für die Verfassung der Städte und Provinzen bedeutete33. Aufgrund seiner Erfolge 34 wurde das Languedoc von der Zentralregierung bewundert, seine Einrichtungen wurden teilweise auch im übrigen Frankreich eingeführt, jedenfalls den Intendanten zur Überlegung empfohlen, doch war es auch Kritik, Mißgunst und Habgier von König und Ministern ausgesetzt. Die Unterwerfung noch der freiesten der Provinzen unter die königliche Macht zeigt, wie weit die Zentralisation schon gediehen war. So ergibt sich das Bild einer fortgeschrittenen Zentralisation einerseits, einer sehr differenziert zu betrachtenden verbliebenen „Provinzautonomie" andererseits. Der unbestrittene historisch-soziologische Inhalt 35 , an den auch die Verwaltungssprache anknüpfen wollte, ist nur schwer genau zu erfassen. Äußerlich war die „Provinz" z.T. nicht mehr als ein ethnischer und sozialer Rahmen mit unbestimmten Grenzen 36 . I m nicht-technischen Sinne bezeichnete «province» seit dem 15. Jahrhundert, was früher „regio" oder «pays» (von lateinisch pagus) hieß, auch «langue » (wegen der „Sprachgrenze", vgl. «Langue d'oc») oder «nation » (ζ. Β. in: nation de Bretagne , nation provençale) 31.

32

Ebd., S. 258 (Anhang).

33

Ebd., u. G. Hanotaux, Tableau, S.233, s.a. unten Fn.57.

34

A. de Tocqueville,

Ancien Régime, S. 258 (Anhang).

35

s. dazu M. Marion, Dictionnaire des institutions de la France aux X V I I e et X V I I I e siècles, 1923/1979, «provinces», S.465:«... la division de la France en provinces était toujours une réalité: elle correspondait â de profondes différences de mœurs, d'esprit, de coutumes,...» 36

L. Trénard, Provinces et départements des Pays-Bas français aux départements du Nord et du Pas-de-Calais, in: C. Gras/G. Livet, u. a., Régions et régionalisme en France du XVIIP siècle à nos jours, 1977, S.55ff. (56). 37

(27).

A. Soboul, De l'Ancien Régime à la Révolution, in: C. Gras/G. Livet, Régions, S. 25 ff.

Α. Das Ancien Régime

28

Oft ist auch nicht mehr zu unterscheiden zwischen der Instrumentalisierung „provinzieller Identität" für politisch-soziale und „Klassen"-Zwecke und der Artikulation wirklicher soziokultureller Identität 38 . Insgesamt verkörperte die Provinz verbliebenes und neu erwecktes Autonomiebestreben mit unklarer Beziehung zur nationalen Einheit ohne genauen juristischen Inhalt. Ihre (juristische) Wiederentdeckung in den letzten Jahren des Ancien Régime war Krisensymptom und Chance zugleich. Als Rechtsbegriff tauchte die Provinz nämlich erst spät in der Verwaltungssprache auf, zum ersten Mal im Edikt vom Juni 1787 zur Schaffung der Provinzversammlungen in den „Wahlländern" 39. So war die Provinz einerseits durch ihre instrumentale Funktion als Verwaltungseinheit der absolutistischen Monarchie, andererseits durch ihre historische und ethnologische Bezugnahme gekennzeichnet, die der „neuen" Institution eine gewisse Verwurzelung ermöglichen sollte 40 . Das Ausmaß und die Stärke zentrifugaler Kräfte lassen sich in den Krisenjahren vor der Revolution nur schwer bestimmen. Sie mischten sich oft unentwirrbar mit der Kritik an der absolutistischen Monarchie und der Zentralisation und resultierten vielfach auch nur aus dem Chaos des kollabierenden Regimes und dem daraus entstehenden Machtvakuum. Die Monarchie jedenfalls versuchte in letzten Reformen durch Wiedereinsetzung der Ständeversammlungen den zentrifugalen Kräften den Wind aus den Segeln zu nehmen, während ihnen die Revolution — jedenfalls die des Jahres 1793 — im Gegenteil durch hartes Durchgreifen vom Zentrum aus beizukommen suchte (und verstand). Der unscharfe Begriffsinhalt und die vielfach unklare Entgegensetzung Provinz gegen Monarchie, Provinz gegen Nation, Provinz gegen Revolution, Provinz gegen Zentralismus prädestinierten Idee und Begriff der Provinz des Ancien Régime, Hoffnun38 Vgl. mit Beispielen aus dem Roussillon, der Gascogne, den franz. Niederlanden, der Provence und anderen Provinzen unter Bezugnahme auf historische und kulturelle (sprachliche) Faktoren der Einheitsbildung, aber unter Hervorhebung der sozialen (ständischen) Unterschiede und der Verbindung sozialer und wirtschaftlicher Forderungen mit Autonomiebestrebungen: A. Soboul, Ancien Régime, S. 28—36 m. w. N.; zum ganzen a. Ρ Legendre, Histoire de l'Administration, 1968, S. 113 f. — Eine Reihe von Einzeluntersuchungen zu den eben genannten Themen und Provinzen faßt der Band von C. Gras / G. Livet, Régions, zusammen. — Zum — noch wenig perfekten — Stand der Zentralisation 1614 vgl. die vielzitierte Studie G. Hanotaux', Tableau, S. 166 ff, u. zur Entwicklung insbesondere der Provinzen näher S. 226 ff, 233. 39

A. Soboul, Ancien Régime, S. 26; näher dazu unten 12. Diese neugeschaffenen Provinzen entsprachen meist a. nicht mehr den geschichtlichen, gewachsenen Provinzen, s. dazu mit Bsp. M. Marion, Dictionnaire, S. 465. 40

Vgl. dazu Bancal, Les provinces au X V I I I e siècle et leur division en départements, 1946, S. 61: «Les pays et provinces étaient d'anciens fiefs ayant eu, pendant le moyen âge, leur destin historique propre, générateur chez ses habitants appartenant déjà à un même groupe ethnique, d'une profonde communauté de mœurs, de caractère et de sentiments, et ayant ainsi constitué des unités géographiques traditionnelles, antérieures et extérieures à toute organisation administrative.» s. zum ganzen a. C. Beriet, Les tendances unitaires et provincialistes en France à la fin du X V I I I e siècle, 1913, S. 84 u. passim.

I. Rechtsentwicklung und Reform versuche im Ancien Régime

29

gen und Ängste jeder Richtung auf sich zu vereinen und damit als mustergültiges Schlagwort die Debatte für und gegen den Zentralismus zu beleben. c) Parlamente und Städte 41

Die Parlamente gehörten zwar der Judikative an, ihre Verwurzelung in der Provinz aber und ihre Repräsentativität einerseits sowie ihre Kompetenzen andererseits machten sie — mit aller Vorsicht — zu unabhängigen „Selbstverwaltungsorganen". Ihre Mitglieder waren (bodenständige) Eigentümer ihres (käuflichen und vererblichen) Amtes und damit unabhängig. Diese „souveränen Gerichtshöfe" hatten auch bestimmte legislative Befugnisse — eine richtige „Herrschaft der Richter" (gouvernement de juges). In den Händen der örtlichen Bourgeoisie bedeuteten sie so ein Stück „Dezentralisation" und Widerpart gegen den Zentralismus der Monarchie 42 . Manchen galten die Parlamente gar als Speerspitze der Autonomiebestrebungen der Provinzen und das Parlament von Paris 1770 als Wiege eines föderalen Staates43. Andererseits waren es gerade die Parlamente, an deren Status-quo-Denken die Reformen A. R. Turgots und Neckers 1775 bzw. 1779 und der Versuch 1785 scheiterten 44. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts blühte die Autonomie der Städte unter Führung des Bürgertums noch einmal auf, und manche wagten sogar die Revolte gegen den König. Dieser untergrub aber ihre Freiheit, während er die Stadtrechte gleichzeitig an neue Städte gewährte und insgesamt vereinheitlichte. Unbestreitbare Mißstände in den meisten städtischen Verwaltungen rechtfertigten das Eingreifen des Königs — durch die Hand seiner Intendanten —, der die Städte als wesentliche Bausteine von J. Colberts Industriepolitik brauchte und die örtlichen Oligarchien durch ihm geneigte Familien ersetzen wollte 45 . 1683 wurde eine strenge Aufsicht eingeführt 46.1692 wurden die Wahlen abgeschafft und die Stellenkäuflichkeit eingeführt. Zwar konnten sich die Städte das Wahlrecht zurückkaufen 47 , doch die erhebliche finanzielle Belastung durch den Rückkauf immer 41

Vgl. ausf. zu Zusammensetzung, Funktion und Entwicklung der Parlamente M. Marion, Dictionnaire, «parlements», S. 422 ff. 42 M. Bourjol, Institutions, S. 59 f. R.71ff.; J. Ellul, Histoire 4, S.80ff. 43

Nämlich M. Bourjol, Institutions, S. 66 R. 92. A. Aulard, Histoire politique de la Révolution française, 6. Aufl. 1926/1977, S. 16; dazu näher sogl. 12. 45 J. Ellul, Histoire 4, S. 86. 44

46

Tutelle, Erfordernis der Genehmigung örtlicher Entscheidungen durch den Intendanten, ebd., S. 88. 47 s. die heftige Kritik bei A. de Tocqueville, Ancien Régime, Buch I I Kap. III, S. 115 f. : «Et ce qui est bien digne de tous les mépris de l'histoire, cette grande révolution fut accomplie sans aucune vue politique. Louis X I avait restreint les libertés municipales parce que leur caractère démocratique lui faisait peur; Louis X I V les détruisit sans les craindre. Ce qui le prouve, c'est qu'il les rendit à toutes les villes qui purent les racheter. En réalité, il voulait moins les abolir qu'en trafiquer, et, s'il les abolit en effet, ce fut pour ainsi dire sans y penser,

30

Α. Das Ancien Régime

neu kreierter Verwaltungsstellen und der mit dem Handel verbundene Autoritätsverlust der Verwaltung untergruben Wohlstand und Freiheit der Städte. Symptomatisch für den Niedergang im 18. Jahrhundert war der Rückzug der Öffentlichkeit 48 . Die Verwaltung funktionierte nun reibungslos, aber die Vitalität der Städte war gebrochen 49. Danach blieb von dem ehrenvollen Stadt-Status nur noch eine leere Hülle übrig 50 . 2. Zeitgenössische Kritik und (letzte) Reformvorschläge Die Kritik an der Verwaltung nahm mit den wachsenden politischen Schwierigkeiten der Monarchie rapide zu und zeitigte immer neue Vorschläge von verändertem Gebietszuschnitt — eine Konstante der Reformdiskussion bis in die Gegenwart! 51 — bis zur Wiedergewährung politischer Freiheiten an Städte und Provinzen und Beteiligung der Bürger an der Verwaltung. Die Reformdiskussion war im wesentlichen durch zwei Ziele bestimmt. Die zentrifugale Kräfte begünstigenden feudalen Strukturen sollten verschwinden und neue, den Effektivitätserfordernissen moderner Verwaltung angepaßte Institutionen und territoriale Rahmen geschaffen werden; dazu kam in den Jahren kurz vor der Revolution auch der demokratische Impuls der Zeit. Den Boden des technokratisch inspirierten Reformeifers hatte die Philosophie der Ökonomisten und Physiokraten des 18. Jahrhunderts bereitet, deren Club sich bei Quesnay, später bei G. de Mirabeau und A. R. Tlirgot traf 52 . Für sie standen Rationalität, Überschaubarkeit und Effizienz der Verwaltung an erster Stelle. par pur expédient de finances ... Le moyen était sûr, mais ruineux pour ceux sur qui tombait cet étrange impôt.», u. Buch I I Kap.X, S. 165. 48 Von Adel und Bourgeoisie (!); A. de Tocqueville , Ancien Régime, S. 283, Anm. von Tocqueville: «abolition de toute représentation et de toute intervention du public dans les affaires»; vgl. dazu a. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 13. Aufl. 1982, S. 158 ff. 49

Ellul, Histoire 4, S. 88.

50

G. Hanotaux, Tableau, S.246ff.; A. de Tocqueville, Ancien Régime, Buchi Kap.IV, S. 93. — Die Verwaltung der Sprengel (paroisse) oblag bereits einer Zahl von Beamten, ernannt zum Teil vom Intendanten, gewählt zum anderen Teil von den Bauern selbst. Dazu zählten Steueraufteilung, Schulbauten, Vermögensverwaltung der Sprengel, Leitung ihrer Versammlung u. a. m. Diese Beamten standen unter der Leitung bzw. der Aufsicht der Zentralgewalt, der Feudalherr war nur noch «premier habitant», den seine Immunitäten und Privilegien von den anderen isolierten, A. de Tocqueville, Ancien Régime, Buch I I Kap. I, S. 102 f.; entsprechendes gilt auch für den Kanton, ebd. — Eine frühe Übersicht über die Gesetzgebung betreffs die Gemeinden seit 1683 findet sich bei de Cormenin, Droit Administratif, 5. Aufl. 1840 (!), Bd. 1, S. 357 ff.; eine entsprechende Rechtsprechungsübersicht S. 364 ff, mit Hinweisen auf früheste Literatur ab 1760, S. 434 f.; die Anordnung nach Stichworten entspricht Systematik und Stand der Rechtswissenschaften dieser Zeit. — 51

Vgl. die Zusammenstellung bei T. Flory, Le Mouvement Régionaliste Français, 1966, S. 113 f. 52 Vgl. zu ihm P. Renouvin, Les assemblées provinciales de 1787,1921, S. 15 ff, J. Habermas, Strukturwandel, S. 89, u. ausf. A. Esmein, La science politique des physiocrates, 1904.

I. Rechtsentwicklung und Reform versuche im Ancien Régime

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Demgegenüber traten Rücksicht auf Traditionen von Grenzen und Namen, der Gedanke der Selbstverwaltung und der Gegengewichte in den Hintergrund. Die Reformen sollten dementsprechend durch einen starken Staat mit einem Schlag verwirklicht werden 53 . A. de Tocqueville hat in seiner Studie über das Ancien Régime die Physiokraten zu seinen Lieblingsfeinden erkoren 54 . Tatsächlich sollten sich in diese „technokratisch" bestimmte Debatte bald neue Töne mischen: Das alte Staatsbild begann zu wanken. An warnenden Stimmen gegen die Zentralisation hat es am Vorabend der Revolution nicht gefehlt. 1771 forderte G. de Malesherbes die Einberufung der Stände und wurde deshalb amtsenthoben. Nach seiner Wiedereinsetzung durch LudwigXVI. sprach er vom Naturrecht, vom Vernunftrecht auf Selbstverwaltung der Körperschaften und der Gemeinschaften der Bürger, das der König ihnen genommen habe, und kritisierte den Verfall der Verwaltung in knabenhafte Auswüchse. Die Nation sei sozusagen untersagt und unter Vormundschaft gestellt worden 55 . G. de Malesherbes blieb ungehört und demissionierte 56. In seinem (geheimen) Bericht an den König klagte A. R. liirgot 571775 über das Zerbrechen jeder Gemeinschaft durch die zu weit gehende Kontrolle: Die Bürger besäßen untereinander keine Gemeinschaft mehr, jeder kümmere sich nur noch um seine eigenen Angelegenheiten, gemeinsame Anliegen seien nicht mehr sichtbar; im allgemeinen Kampf aller gegen alle erwarte man in jeder Sache Befehle des Königs, um zum öffentlichen Wohl beizutragen, die Rechte anderer zu achten und manchmal sogar, um seine eigenen auszuüben. A. R. Turgot schlug auch Abhilfe vor: Das Volk solle in stufenförmig aufeinander aufbauenden Wahlen in Gemeinde, Kreis, Provinz und Nation seine Vertreter in beratende Versammlungen entsenden58. Damit stellte sich der Reformer aber in Widerspruch zur Politik der Bourbonen; trotz des nur beratenden Charakters dieser Versamm53

s. dazu R Renouvin, Assemblées, S. 15 ff. m. w. Ν , J. Godechot, Les Révolutions (1770— 1799), 1963, S. 21 ff., 94 ff, A. de Tocqueville, Ancien Régime, Buch I I I Kap. III, S. 209 ff. m. vielen Zitaten. 54 Was die Richtigkeit und Gerechtigkeit seiner Urteile insoweit in Zweifel zieht, vgl. fur Bspe. A. de Tocqueville , Ancien Régime, ebd. 55 E. de Malesherbes, Mémoires pour servir à l'histoire du droit public, 1799, S. 654. 56

Vgl. dazu P. Foncin, Essai sur le ministère de Tlirgot, 1877, S.519ff.

57

A. R. Turgot (1727—1781) war einer der bedeutendsten Politiker des Ancien Régime und hat viele wichtige Reformen unternommen, rieb sich dabei freilich auch am Widerstand der Privilegierten. Vgl. zu seinem Leben und Werk die umfassende Darstellung von P. Foncin, Turgot, S. 1—31 u. passim. 58 Mémoire sur les municipalités, in: Œuvres, hg. von G. Scelle, Bd. IV, 1972, S. 568 ff. (m. Erl. d. Hg.); vgl. a. seine Zentralismuskritik in: Sur la Géographie politique, ebd. Bd. I, 1913/1972, S. 436 ff.; s. a. die Bezugnahmen u. Zitate bei A. de Tocqueville, Ancien Régime, Buch I Kap. X, S. 166 f.; zum ganzen P. Renouvin, Assemblées, S. 39 ff. m. w. Ν , zu den Vorläufern und der (begrenzten) Wirkung in der öffentlichen Meinung ebd, S. 43; ausf. L. de Lavergne, Les assemblées provinciales sous LouisXVI, 2. Aufl. 1879, S. 6ff, 18 ff.; L. Lachaze, L'assemblée provinciale du Bern sous Louis XVI, 1909, S. 90 ff, 96 ff.

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Α. Das Ancien Régime

lungen bezichtigte der König ihn der Subversion, da der Vorschlag gegen die Forderung ungeteilter Autorität verstoße 59, und entließ A. R. Thrgot 60. Die Entscheidung darüber, ob A.R. Turgot wirklich der gefährlichste Vorläufer der Convention von 1793 war oder der letzte große Reformer des Ancien Régime 61 , ist schwer—sie gleicht der Frage nach dem Einfluß des Zustands der Verwaltung und ihrer Reformen auf das Herannahen der Revolution insgesamt und nach ihrer Vermeidbarkeit; sie gehört damit eher ins Reich der Spekulation. 1778 schlug /. Necker im kleineren Maßstab Ähnliches 62 vor. Sein Bericht an den König ist ein ausführliches Plädoyer für die Wiedereinführung von Versammlungen (aus grundbesitzenden Bürgern). Die Verwaltung der Provinzen durch einen einzelnen müsse mangelhaft sein, während eine Versammlung die Vorteile größerer Kenntnis, ausgewogenerer Entscheidungen, der Stabilität der Verwaltung, der Anteilnahme der Öffentlichkeit, besserer Kontrolle und größerer Ehrlichkeit in sich vereine. Die Autorität der Zentralregierung nutze sich im Verwalten von Details ab, kluge Einrichtung und erster Anstoß würden genügen. Ehre und Patriotismus der Bürger könnten die Provinz zu neuem Leben und die Liebe zur öffentlichen Sache erwecken 63. Auch J. Neckers Werk war nur von kurzer Dauer, eingerichtet wurden immerhin (versuchsweise) die Provinzversammlungen von Berry und Haute Guyenne 64 .

59 Es war a. nicht weniger als der Versuch, schrittweise eine konstitutionelle Monarchie einzuführen, «appeler peu à peu la nation à participer au gouvernement,... une sorte de gouvernement représentatif», A. Aulard, Histoire, S. 16; s.a. C. J. Gigoux, Turgot, 1945, S. 225. — Beratende Versammlungen gab es übrigens auch schon an der Seite der Intendanten, s. ο. 1 b. 60

Auf Betreiben Marie Antoinettes im Mai 1776.

61

s. dazu G. Gojat, Les corps intermédiaires et la décentralisation dans l'œuvre de Tocqueville, in: R. Pelloux (Einl. u. Hg.), Libéralisme, traditionalisme, décentralisation, 1952, S. Iff. (16) m.w.N. 62

a. A. aber wohl A. R. Turgot brieflich an Du Pont de Nemours, in: Œuvres, Bd.V, 1923/ 1972, S. 562 f. (563): «... ressemble à mes idées ... comme un moulin à vent ressemble à la lune.» 63

J. Necker, Comte rendu au Roi, 1781, S. 51 ff., a. in: Œuvres Complètes, hg. von A. Louis deStaël-Holstein, Bd. 2,1820/1970, S. 96 ff.; vgl. näher zur Bestimmung der Mitglieder der Provinzversammlungen ders., De l'administration des finances de la France, ebd, Bd. 5, S. 54 ff, 62 ff. (zu den Widerständen durch die parlements). —J. Necker stellte sogar Überlegungen über die Möglichkeiten einer föderativen Verfassung an, s. ders., Du pouvoir exécutif dans les grands Etats, ebd. Bd. 8, S. 427 ff. (428): «avantages de la plus grande importance et de la plus haute considération», gemeint ist freilich der Zusammenschluß souveräner Staaten; s.a. ders., De la révolution française, ebd. Bd. 10, S.255ff. (257): «Admirable système! et le seul convenable ... à une vaste république démocratique», zum Beispiel der Vereinigten Staaten — immer noch mehr als 30 Jahre νοτ A. de Tocqueville!; schließlich ders., Dernières vues de politique et de finances, ebd, Bd. 11, S. 189 ff. (189): «gouvernement fédératif ... une des idées politiques les plus raisonnables et les plus libérales». 64 Zum Gründungsakt s. Arrêt du Conseil d'Etat du Roi v. 12.7.1778, in: P. Legendre, L'administration du X V I I I e siècle à nos jours, textes et documents, 1969, S. 27—29; zu den

I. Rechtsentwicklung und Reformversuche im Ancien Régime

33

Noch im Juni 1787 wurden Versammlungen auch auf den Ebenen von Generalitäten (généralités) und Sprengel (paroisses) eingerichtet. Die Provinz- und Ortsversammlungen (assemblées provinciales und municipales X deren Mitglieder teils gewählt, teils ernannt wurden, hatten nur begrenzte Zuständigkeiten und unterstanden einer engen Kontrolle durch den Intendanten des Königs 65 . Entgegen den Forderungen und Erwartungen der öffentlichen Meinung erwiesen sich diese Versammlungen schnell als bloßes Instrument der monarchischen Verwaltung, das die Ausbreitung des Systems der Provinzstówdteversammlungen auffangen sollte 66 . Ihr Vorgehen war entsprechend ängstlich, ihre Ergebnisse waren unbedeutend und jedenfalls ungeeignet, die in sie gesetzten Hoffnungen auf eine gerechtere Steuerverteilung, die Belebung der Wirtschaft und die Erneuerung des Vertrauens der Bevölkerung in den König zu erfüllen 67 . Auch wenn dieser letzte Versuch der Reform von Staat und Verwaltung Spuren im Werk der (revolutionären) Verfassunggebenden Versammlung hinterlassen hat, wurde er doch als „gescheiterter Versuch", als „Mißerfolg" angesehen68.

3. Zusammenfassung und Ausblick In Form des örtlichen Gewohnheitsrechts, das weder die königliche Gesetzgebung und die Parlamente im Süden noch der bestimmende Einfluß von Paris im Norden 69 ausräumen konnten, lebten — trotz aller Vereinheitlichung und Vereinfachung — örtliche Gewohnheiten und Übungen auf verschiedenen Ebenen weiter und sicherten ihnen so einen Rest an Autonomie. Die Monarchie hatte sich selbst wichtiger zentralistischer Steuerungsmittel durch Einführung des ÄmterEinzelheiten, zur Perspektive einer Assemblée Nationale (!), zum Widerstand der Parlamente (s. a. schon o. A I 1 c), zu den Kompetenzen und zum Funktionieren vgl. A. Aulard, Histoire, S. 16 f.; s. a. ausf. P. Renouvin, Assemblées, S. 46 ff. m. w. Ν.; positiv dazu die Tochter J. Neckers Mme. G. de Staël, Considérations sur la Révolution française, 1983, l.Teil Kap.VI, S. 97 f , u. L. de Lavergne, Assemblées, S. 11 ff, 18 ff. 65 Vgl. zu den Einzelheiten ausf. P. Renouvin, Assemblées, S. 79 ff.; s. a. J. Egret, La prérévolution française, 1787-1789,1962/1978, S. 109. - Vgl. zum begrenzten Stellenwert der Gemeindefreiheit in den Reformbestrebungen des Ancien Régime a. F. Burdeau, Affaires locales et décentralisation: Evolution d'un couple de la fin de l'ancien régime à la restauration, in: Le Pouvoir, Mélanges offerts à Georges Burdeau, 1977, S. 765 ff. (767 ff.). 66

Zum Kampf der Monarchie gegen die Provinzstände L. Lachaze, Assemblée, S. 44 ff.

67

P. Renouvin, Assemblées, S. 112; zum Funktionieren der Assemblées Provinciales aller französischen Provinzen am Vorabend der Revolution vgl. (kapitelweise) L. de Lavergne, Assemblées, passim. 68 P. Renouvin, Assemblées, S. 386ff.; zur Auseinandersetzung um die Bedeutung der Reform in der französischen Geschichtsschreibung (bes. zu L. de Lavergne) s. ebd., S. 385 ff. m. w. N. 69 Das maßlose Wachstum und die Ausstrahlung und Anziehungskraft der Hauptstadt sind Gegenstand zahlreicher Darstellungen und Kritiken, vgl. nur G. Hanotaux, Tableau, S. 397, u. G. Gojat, Corps, S. 7, u. A. de Tocqueville, Ancien Régime, Buch I I Kap.VII, S. 139 u. passim.

3

Sparwasser

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Α. Das Ancien Régime

kaufs begeben, war ihr doch damit versagt, nach eigener Willkür die Ämter neu zu besetzen. Auch die Ängstlichkeit und das Bestreben der noch jungen und von Leuten einfacher Herkunft getragenen (dekonzentrierten) Verwaltung, jedem (örtlichen) Widerstand möglichst aus dem Weg zu gehen, minderten den Einfluß der Monarchie. Schließlich ist auf die freiheitssichernde Rolle der Verfassung der Justiz hinzuweisen und auf die Ausstrahlung ihrer prozessualen Regeln in Verwaltung und Politik. Ebenso verdienen die im weiteren Sinne kulturverfassungsrechtlichen Aspekte wie Schulfreiheit und Erziehungswesen sowie die korporative Seite freiheitlicher Ordnung am Beispiel von Kirche und Religion Beachtung 70 . Auch die außerordentliche Kompliziertheit der Verwaltung minderte den Erfolg der Zentralisation. Verschiedene Sachgebiete bestanden mit je verschiedener Gebietsgliederung und verschiedenen Verwaltungsmethoden ohne Koordination nebeneinander. „Provinzen" und „Länder" (pays) besaßen verschiedene Verwaltungsstrukturen, und zwischen den verschiedenen Gerichtsbarkeiten gab es keine klaren Grenzen. So waren Kompetenzstreitigkeiten an der Tagesordnung, die Rechtssicherheit beeinträchtigt und Effizienz und Autorität der (Zentral·) Verwaltung geschwächt, ohne daß deswegen die Freiheit von Provinzen und Städten zu neuem Leben erwacht wäre 71 . So war einerseits ein hohes Maß an Zentralismus erreicht, während die Gegenpole der Macht zu stark waren zu sterben und zu schwach, ein politisches Gegengewicht zu bilden 72 . Die Verschachtelung überlieferter Zuständigkeiten und Verwaltungsräume mit einer aufgepflanzten modernen, auf Effektivität zielenden Organisation, von Zuständigkeiten königlicher Beamter mit denen lokaler Eliten, von Resten feudaler Privilegien mit dem Selbst- und Teilhabebewußtsein neuer Gruppen, von untergehenden sozialen Strukturen mit neuen Formen des Zusammenlebens spiegelt die Widersprüche einer auf Effektivität bedachten, aber durch veraltete, sie gleichwohl tragende Strukturen paralysierten Monarchie 73 . Der Ruf nach Reform war unausweichlich. Freilich war den erst spät und nur halbherzig unternommenen Versuchen, das Protestpotential aufzufangen, nachhaltiger Erfolg nicht beschieden. Immerhin belegen (angesichts der Nähe der Revolution) Zeitpunkt und Inhalt der Pläne zur Einrichtung von Versammlungen den Zusammenhang von demokratischer Idee und örtlichen „Autonomie"bestrebungen. Einrichtung und Einfluß von Versammlungen auf unterstaatlichen Ebenen sind seither die Speerspitze demokratischer Forderungen gegen ein autoritä-

70 Vgl. zum ganzen ausf. schon A. de Tocqueville, Ancien Régime, Buch I I Kap. XI, S. 168 ff. 71 Zu diesem Zustand am Ende des Ancien Régime («absence d'uniformité», «incertitude des inscriptions», «chaos») vgl. a. P Legendre, Histoire, S. 111 ff, u. J. Godechot, Institutions, S. 761, u. näher S. 93 ff. 72 E: Gojat, Corps, S. 16. 73 M. Bourjol, Institutions, S. 53 R. 56.

II. Freiheits- und Friedenssicherung in der politischen Theorie

35

res Regime, wie umgekehrt ein autoritäres Regime Autonomieforderungen Legitimation und Durchsetzungskraft verleiht. Den Zusammenhang von Demokratie und Freiheitssicherung mit Einrichtung und Einfluß von „vermittelnden Gewalten" reflektieren auch die noch in die Zeit vor den Reformen der „letzten Stunde" fallenden Werke C. de Montesquieus und J.-J. Rousseaus.

II. Freiheits- und Friedenssicherung in der politischen Theorie des 18. Jahrhunderts Die absolutistische Monarchie hatte von J. Bodins 1 umfassender naturrechtlicher Souveränitätslehre nur die Rechtfertigung der (allein einen Ausweg aus dem Chaos der ständigen Bürgerkriege versprechenden) starken Krongewalt übrigbehalten, die störenden Beschränkungen aber dem Vergessen anheimgegeben2. Schon J. Bodin war nämlich auf ein Gleichgewicht der Kräfte im Staat bedacht und hielt das Vorhandensein von „Ständen, Kollegien und Gemeinschaften" für den besten Beitrag, „Demokratien zu stärken und Tyrannenherrschaft zu vernichten" 3 . F. de Salignac de la Mothe-Fénélon A trat wohl als erster explizit für eine Begrenzung der königlichen Macht und der der Intendanten in den Provinzen durch „.Dezentralisation" in Verbindung mit einer Art sozialer Hierarchie ein. Klerus, Adel und Dritter Stand sollten in jeder Diözese eine Versammlung bilden und die Steuerlast, freilich unter Wahrung der Privilegien, verteilen. Die — wiederzuerrichtenden — Generalstände sollten alle drei Jahre zusammentreten und an der Regierung des ganzen Landes teilnehmen5. Diese Art,föderalistischen" Denkens zielte zwar auch auf die Festigung des Einflusses lokaler Eliten und des Adels ab — und war damit ein Stück „feudalistischer Nostalgie" —, sollte aber zugleich die Monarchie vor dem Verfall in Despotismus bewahren 6. Damit war Fénélon mit L. deRouvroy, dem Duc de Saint-Simon 1

1530 (oder 1529)-1596. J. Bodin, lat. Bodinus, der hervorragendste Staatsrechtler seines Jahrhunderts, setzte die Souveränität des Monarchen dem feudalen Chaos gegenüber, die Stoßrichtung seines politischen Denkens war insoweit auch auf die Stärkung der zentralen Macht auf Kosten der Untergliederungen gerichtet. Die Souveränität war aber religiösen und naturrechtlichen Bindungen unterworfen. Zum geschichtlichen Kontext vgl.H. Lutz, in: Proypläen der Weltgeschichte, hg. von G. Mann u. A. Heuss, Bd.VII, 1976, S. 107; H. Deuzer, in: H. Maier u.a., Klassiker des politischen Denkens, l.Bd., 1968, S.321. 2

3

J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat, übersetzt von B. Wimmer, hg. von P. C. Mayer Tasch, 1981, Buch i i i 7. Kap., S.543. 4

1651-1715. F. de Fénélon, Tables de Chaulnes ou Plans de Gouvernement, in: Œuvres, Bd. VI, 1854, S. 198 ff. 5

6

Vgl. dazu G. Vedel, Courants, S. 36; J.-J. Chevallier, Histoire de la pensée politique, Bd. 2, L'Etat-nation monarchique: vers le déclin, 1979, S. 49 f., 52. 3*

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Α. Das Ancien Régime

und dem Comte H. de Boulainvilliers, die alle die monarchische Zentralisation heftig kritisierten und ähnliche Vorschläge entwickelten 7 , einer der unmittelbaren Vorläufer C. de Montesquieus 8, der die Lehre von den „Zwischengliedern" (corps intermédiaires) zu einer der Hauptsäulen seiner Freiheitslehre machte.

1. Charles de Sécondat, Baron de La Brède et de Montesquieu* Das Schlagwort von der Gewaltenteilungslehre verdeckt manches, was Montesquieu in seinem außerordentlich ideenreichen und bei aller (politischen) Vorsicht (gerade wissenschaftlich) kühnen Werk der Ideengeschichte, den Politikwissenschaften und der Verfassungslehre darüber hinaus noch hinterlassen hat. Wesentlich gerade auch für sein Verständnis ist — schon wegen seiner (auch!) pragmatischen Sicht und wegen der Zensur! —, ihn in seiner Zeit und in Bezug auf die konkret anstehenden Probleme zu betrachten 9. „Föderalismus" und „Dezentralisation" beschäftigten Montesquieu in einem „innenpolitischen" und in einem „außenpolitischen" Zusammenhang, dem von Freiheits- und dem von Friedenssicherung. a) Die vertikale

Gewaltenteilung durch corps intermédiaires

Montesquieu suchte auf vielen Wegen, wie die Monarchie vor dem Verfall in den Despotismus, oder allgemeiner, wie die Machtausübung vor dem Mißbrauch geschützt werden könne 10 . Nur eine von Montesquieus Antworten ist die berühmte — wenn auch oft unzutreffend aufgefaßte oder dargestellte 11 — Gewaltenteilungslehre 12, die auf Äußerungen von Aristoteles zurückgreift und von J.

7

Vgl. dazu G. Vedel, Courants, S. 36; J.-J. Chevallier, Histoire 2, S. 52 m. w. N. - Gemeinsam ist diesen Vertretern eines „aristokratischen Liberalismus", daß sie die Zentralisation nicht um der Freiheit der Gemeinden und Provinzen willen bekämpften, sondern wegen ihrer Mißachtung der legitimen Vertreter der nationalen Freiheit, F. Burdeau, Affaires, S. 767. 8

Zum Einfluß Fénélons auf C. de Montesquieu vgl. A. Cherel, Fénélon au X V I I I e siècle en France, 1917/1970, S.322ff, auf/.-/. Rousseau S.398ff. * 1689-1755. 9 Vgl. dazu A. von der Heydte (Einl. u. Hg.), Montesquieu, S. 1 ff, Einführung. 10 Vgl. dazu U. Boillin, Die Lehre Montesquieus von den Ursachen der Größe und des Verfalls der Staaten, 1976, S. 116 ff. 11 12

Vgl. z.B. B. Falk, in: K. Rausch u.a., Politische Denker, S.36 (43).

Vgl. dazu K. Weigand (Einl. u. Hg.), Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1976, S.40f, U. Boillin, Montesquieu, S.IV, 118 ff, bes. 121, A. von der Heydte, Montesquieu, S. 69 ff.; zur ausf. Kritik der „klassischen Lehre" der Zuschreibung der Gewaltenteilungslehre an Montesquieu s. C. Eisenmann, L'esprit des Lois et la Séparation des pouvoirs, in: Mélanges R. Carré de Malberg, 1933/1977, S. 163 ff.; dort auch zum Kem der Lehre «le pouvoir arrête le pouvoir», S. 189 Fn. 1; s. a. R. Carré deMalberg, Contribution à la théorie générale de l'Etat, Bd.II, 1922/1975, S. Iff.

II. Freiheits- und Friedenssicherung in der politischen Theorie

37

Locke neu ins Bewußtsein gerückt worden war 1 3 . Bekanntlich ging Montesquieu nicht v o n den drei Gewalten unserer heutigen Gewaltenteilungslehre aus, sondern v o n einer doppelten Exekutive (aus König u n d Oberhaus) für Außen- u n d Innenpolitik — die Funktion der Judikative war dabei nur ein Teil der Exekutive — u n d v o n einer Legislative 1 4 , die sich alle gegenseitig Bindungen (durch das Vetorecht 1 5 ) unterwarfen. Die organisatorische Trennung der Staatsgewalten wurde allgemein verstanden u n d fand Eingang i n alle freiheitlichen Verfassungen der Welt. Sie ist z u m materiellen Verfassungskriterium schlechthin geworden. Anders erging es der Übertragung des Prinzips auf die gesamte Institutionenordnung, seiner Lehre v o n der machtausgleichenden W i r k u n g der „vermittelnden Zwischenglieder" (corps intermédiaires). Dabei durchzieht der Gedanke v o n Machtausgleich u n d Freiheitssicherung sein ganzes Werk. Freilich hat aber Montesquieu selbst diese Lehre v o n den corps intermédiaires weder als Verallgemeinerung des Gewaltenteilungsprinzips erkannt 1 6 noch systematisch ausgebaut 17 .

13

Vgl. dazu E. Deuerlein, Föderalismus, 1972, S.41; U. Boillin, Montesquieu, S. 122; A. von der Heydte, Montesquieu, S. 33. 14 Montesquieu, De l'Esprit des Lois, Œuvres Complètes, hg. von R. Caillois, Bd. II, 1976, Buch X I Kap. 6, S. 227 ff. (396 f.): «Il y a dans chaque Etat trois sortes de pouvoirs: la puissance législative, la puissance exécutrice des choses qui dépendent du droit des gens, et la puissance exécutrice de celles qui dépendent du droit civil. Par la première, le prince ou le magistrat fait des lois pour un temps ou pour toujours, et corrige ou abroge celles qui sont faites. Par la seconde, il fait la paix ou la guerre, envoie ou reçoit des ambassades, établit la sûreté, prévient les invasions. Par la troisième, il punit les crimes, ou juge les différends des particuliers. On appellera cette dernière la puissance de juger, et l'autre simplement la puissance exécutrice de l'Etat Lorsque dans la même personne ou dans le même corps de magistrature, la puissance législative est réunie à la puissance exécutrice, il n'y a point de liberté; parce qu'on peut craindre que le même monarque ou le même sénat ne fasse des lois tyranniques pour les exécuter tyranniquement. Il n'y a point encore de liberté si la puissance de juger n'est pas séparée de la puissance législative et de l'exécutrice. Si elle étoit jointe à la puissance législative, le pouvoir sur la vie et la liberté des citoyens seroit arbitraire: car le juge seroit législateur. Si elle étoit jointe à la puissance exécutrice, le juge pourroit avoir la force d'un oppresseur. Tout seroit perdu si le même homme, ou le même corps des principaux, ou des nobles, ou du peuple, exerçoient ces trois pouvoirs: celui de faire des lois, celui d'exécuter les résolutions publiques, et celui de juger les crimes ou les différends des particuliers.» 15 Ebd., S. 405: «Le corps législatif y étant composé de deux parties, l'une enchaînera l'autre par sa faculté mutuelle d'empêcher. Toutes les deux seront liées par la puissance exécutrice, qui le sera elle-même par la législative. Ces trois puissances devroient former un repos ou une inaction. Mais comme, par le mouvement nécessaire des choses, elles sont contraintes d'aller, elles seront forcées d'aller de concert.» 16 s. dazu A. Brunner, Rechtsstaat gegen Totalstaat, 2 Bde. 1948, Teil 2, S.21, 175 u. passim. 17

Was freilich ebensogut für das Gesamtwerk gelten kann, in dem Ideenreichtum u. Lebendigkeit auf Kosten der Geschlossenheit gehen; dazu SL.K. Weigand, Montesquieu, S. 7; A. von der Heydte, Montesquieu, S. 62 f.

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Α. Das Ancien Régime

D u r c h Vermittlungskanäle 1 8 (canaux moyens) sollte die Macht abfließen 1 9 wie ein Sturzbach, der durch aufeinander folgende Kanäle seine zerstörerische Kraft verliert 2 0 . Diese Kanäle sind die schon aufgetauchten 2 1 vermittelnden Zwischenglieder 2 2 (corps intermédiaires )2\ Die Rolle dieser Zwischenglieder übernehmen i n der Monarchie (auf die Montesquieu seine Ausführungen — leider, w e n n auch verständlich — ausdrücklich beschränkte 2 4 ) A d e l u n d Klerus 2 5 , aber auch die Städte 2 6 . Deren („pluralisierende") „Vorrechte" seien der wirksamste Schutz vor Despotie 2 7 . 18 In der Übersetzung von K. Weigand—„vermittelnde Kanäle" in der Übersetzung von A. von der Heydte. 19

Montesquieu, Esprit, Buch I I Kap. 4, S. 247: «Ces lois fondamentales supposent nécessairement des canaux moyens par où coule la puissance: car, s'il n'y a dans l'Etat que la volonté momentanée et capricieuse d'un seul, rien ne peut être fixe, et par conséquent aucune loi fondamentale.» 20

So G. Vedel, Courants, S. 37.

21

s.o. I I b .

22

„vermittelnde Zwischenglieder" bei Κ. Weigand — „Zwischenglieder" bei A. von der Heydte. 23

Montesquieu, Esprit, Buch I I Kap. 4, S.247. Ebd.: «Les pouvoirs intermédiaires, subordonnés et dépendants, constituent la nature du gouvernement monarchique, c'est-à-dire de celui où un seul gouverne par des lois fondamentales.», s.a. ebd. BuchVIII Kap.6, S.354. — Die Auffassungen zu Monarchie und Republik und damit auch zum Adel sind in besonderem Maße zeitgebunden. So sprach Montesquieu einen Vorzug für die republikanische Staatsform nirgends direkt aus. Vielmehr gingen seine Überlegungen (pragmatisch gewiß sinnvoll) vom (bestehenden) monarchischen System aus, auf dessen Verbesserung sich daher seine Anstrengungen richteten. U. dennoch: Gerade die Ausklammerung der schon bald (1762 v o n / - / . Rousseau) machtvoll aufgenommenen Souveränitätsfrage deutet auf das Abrücken eben von der (noch) dominierenden Fürstensouveränität hin, trotz Montesquieu, Esprit, Buch I I Kap. 4, S. 247; s. dazu R. Caillois, in: Montesquieu, Esprit, S. 1498 f , Anm. zu S. 247; vgl. dazu a. Κ. Weigand, Montesquieu, S. 23: „ . . . absichtlich ... eine Lücke". 24

25 Montesquieu, Esprit, Buch I I Kap. 4, S. 247: «Le pouvoir intermédiaire subordonné le plus naturel est celui de la noblesse. Elle entre en quelque façon dans l'essence de la monarchie, dont la maxime fondamentale est: point de monarque, point de noblesse; point de noblesse, point de monarque. Mais on a un despote.»Falsch wäre sicher, in Montesquieu nur einen Vertreter seiner Klasseninteressen zu sehen, der die Privilegien des Adels gegen den mächtiger werdenden u. sich zum Schiedsrichter aufspielenden Staat verteidigt; zu viele Stellen legen Zeugnis ab von einem ehrlichen Anliegen, den gerechten u. freiheitssichernden Ausgleich zu finden zwischen Individuum u. Staat; ebenso G. Vedel, Courants, S. 37; Κ. Weigand, Montesquieu, S. 37,40. — Die gleiche Frage wird a. bei A. de Tocqueville wiederbegegnen, s. unten. Β I I 2. 26

Montesquieu, Esprit, Buch V I I I Kap. 6, S.354: «Comme les démocraties se perdent lorsque le peuple dépouille le sénat, les magistrats et les juges de leurs fonctions, les monarchies se corrompent lorsqu'on ôte peu à peu les prérogatives des corps ou les privilèges des villes. Dans le premier cas, on va au despotisme de tous; dans l'autre, au despotisme d'un seul.» 27

Ebd, Buch I I Kap. 4, S. 247: «Abolissez dans une monarchie les prérogatives des seigneurs, du clergé, de la noblesse et des villes: vous aurez bientôt un Etat populaire, ou bien

II. Freiheits- und Friedenssicherung in der politischen Theorie

39

Und im gleichen Zusammenhang (!) findet sich auch eine der frühesten Kritiken am französischen (hier noch monarchischen) Zentralismus (Ludwig des XIV) 2 8 . Inwieweit in der im Kontext verständlichen, in der Sache nicht zwingenden 29 Beschränkung auf die Monarchie oder in der Identifikation der Zwischenglieder mit Adel und Klerus 30 Gründe für die Nicht-Rezeption in republikanisch-rechtsstaatliche Traditionen liegen, ist mit Genauigkeit nicht zu sagen31. Entscheidend ist die Abweichung von der monistischen Souveränitätsauffassung, wie sie in der Gefolgschaft J. Bodins noch verkündet wurde. Die Suche nach überindividuellen, körperschaftsfreundlichen Freiheitssicherungen, die Anwendung des Gedankens der Gewaltenteilung nicht nur auf die Leitungs-, also horizontale Ebene des Staats, sondern auch vertikal im Verhältnis zu seinen Bürgern, und die institutionelle Sicherung von „Pluralismus"standen dem individualistischen Rationalismus der Aufklärer entgegen. b) Föderative Republiken zur Friedenssicherung Anders als im vorstehenden Abschnitt, wo Montesquieus Gedanken eher verstreut, allgemein, vorsichtig und „vorrepublikanisch" erschienen, war er zur föderativen Republik deutlicher 32 . Wenn Montesquieu dabei auch hinter seinen eigenen Plänen zurückblieb 33 , finden sich bei ihm doch schon wesentliche Ansätze zu einer ersten französischen Föderalismustheorie. Montesquieu beschrieb die föderale Form als einen Zusammenschluß politischer Gebilde, die so „Bürger eines daraus entstehenden größeren Staates" würden, als eine „Gesellschaft von Gesellschaften" und zielte damit durchaus schon auf einen föderalen Staat34. Diese Form bedeute die Versöhnung zwischen der un Etat despotique.»— gemeint ist Frankreich, R. Caillots, in: Montesquieu, Esprit, S. 1499, Anm. 2 zu S. 247; s. a. o. Fn. 26. 28 Montesquieu, Esprit, Buch V I I I Kap. 7, S.354f.: «La monarchie se perd, lorsque le prince, rapportant tout uniquement à lui, appelle l'Etat à sa capitale, la capitale à sa cour, et la cour à sa seule personne ... Ce qui perdit les dynasties des Tsin et de Soui, dit un auteur chinois, c'est qu'au lieu de se borner, comme les anciens, à une inspection générale, seule digne du souverain, les princes voulurent gouverner tout immédiatement par eux-mêmes. L'auteur chinois nous donne ici la cause de la corruption de presque toutes les monarchies.» s. a. ebd., Buch X X I I I Kap. 24: «... aujourd'hui tout se rapporte à ce centre, et ce centre est, pour ainsi dire, l'Etat même.» 29

Ebd., Buch I I Kap. 4, S. 247: «c'est-à-dire ... où un seul gouverne».

30

Vgl. aber a. hier schon: «le plus naturel» (w. o. Fn. 25), also wohl nicht der einzige. Die Frage stellt auch A. Brunner, Rechtsstaat, Teil 2, S. 175.

31 32

s. aber kritisch S. Brie, Der Bundesstaat, 1874, S. 30 f. : „Montesquieu in seinen geistreichen, aber vielfach unklaren Bemerkungen über Föderatiwerfassungen". 33 Vgl. ders., Dossier de l'Esprit des Lois, in: OC Bd. II, S. 996 ff. (1004): «Des différentes manières de s'unir», u. dazu die Anm. von R. Caillois, ebd., S. 1542, mit Notizen Montesquieus: «Peut-être faire un livre des Constitutions fédératives et des colonies», «C'est sur les Constitutions fédératives et les Colonies», u. weiter ebd.

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Α. Das Ancien Régime

notwendig geringen Größe einer Republik 3 5 u n d der militärischen Überlegenheit ausgedehnter (monarchischer) Territorialstaaten 36 . Der Zusammenschluß sichere Frieden nach innen u n d nach außen, inneren Ausgleich, Ruhe u n d Stabilit ä t 3 7 , eine Vorstellung, die ebenfalls eher m i t einer föderalen als m i t einer konföderalen Ordnung i n Einklang zu bringen ist. Dabei stellte Montesquieu auch die Vorteile der Republik heraus, als welche er innere Freiheit u n d Selbstverwaltung, Friedensliebe u n d Mäßigung ansah, i m Gegensatz zur zu Zentralisierung, Krieg u n d Machtausweitung neigenden Monarchie, u n d aus diesem Gegensatz folgerte er auch ein frühes „Homogenitätsgebot" 3 8 . Ä h n l i c h zeichnete Montesquieu, ohne eine allgemeine Theorie aufzustellen, nach der i h m eigenen Methode der Beobachtung 3 9 weitere wesentliche Züge dieser Staatsform wie das Gebot einheitlicher Bündnispolitik auf 4 0 .

34 Montesquieu, Esprit, Buch IX Kap. 1, S.369: «Cette forme de gouvernement est une convention par laquelle plusieurs Corps politiques consentent à devenir citoyens d'un Etat plus grand qu'ils veulent former. C'est une société de sociétés, qui en font une nouvelle, qui peut s'agrandir par de nouveaux associés qui se sont unis.», u. nicht nur auf eine Konföderation, wie G. Vedel, Courants, S. 38, meint; ebenso A. Esmein, Fédéraliste, S. XIV f , — Vgl. a. Montesquieu, Dossier de l'Esprit des Lois, III. Confédérations et Colonies, in: OC Bd. II, S. 1004 ff. 35 So das Dogma im 18. Jhd, Beispiel Genf; s.a. J.-J. Rousseau, Du Contrat social, in: Œuvres Complètes, hg. von B. Gagnebin/M. Raymond, Bd. III, 1975, III. Buch XV. Kap, S. 431, u. dazu unten 2a a.E. m.w.N.; vgl. a. G. Vedel, Courants, S. 38 f. 36 Montesquieu, Esprit, BuchIX Kap. 1, S.369: «Si une république est petite, elle est détruite par une force étrangère; si elle est grande, elle se détruit par un vice intérieur. Ce double inconvénient infecte également les démocraties et les aristocraties, soit qu'elles soient bonnes, soit qu'elles soient mauvaises. Le mal est dans la chose même; il n'y a aucune forme qui puisse y remédier. Ainsi il y a grande apparence que les hommes auroient été à la fin obligés de vivre toujours sous le gouvernement d'un seul, s'ils n'avoient imaginé une manière de constitution qui a tous les avantages intérieures du gouvernement républicain, et la force extérieure du monarchique. Je parle de la république fédérative»; s. a. E. Deuerlein, Föderalismus, S. 42. 37 Montesquieu, Esprit, Buch IX Kap. 1, S. 370: «Cette sorte de république, capable de résister a la force extérieure, peut se maintenir dans sa grandeur sans que l'intérieur se corrompe: la forme de cette société prévient tous les inconvénients. Celui qui voudroit usurper ne pourroit guère être également accrédité dans tous les Etats confédérés. S'il se rendoit trop puissant dans l'un, il alarmeroit tous les autres; s'il subjuguoit une partie, celle qui seroit libre encore pourroit lui résister avec des forces indépendantes de celles qu'il auroit usurpées, et l'accabler avant qu'il eût achevé de s'établir. S'il arrive quelque sédition chez un des membres confédérés, les autres peuvent l'apaiser. Si quelques abus s'introduisent quelque part, ils sont corrigés par les parties saines. Cet Etat peut périr d'un côté sans périr de l'autre; la confédération peut être dissoute, et les confédérés rester souverains. Composé de petites républiques, il jouit de la bonté du gouvernement intérieur de chacune; et, à l'égard du dehors, il a, par la force de l'association, tous les avantages des grandes monarchies.» 38

Ebd, Buch IX Kap. 2, S. 371: «L'esprit de la monarchie est la guerre et l'agrandissement; l'esprit de la république est la paix et la modération. Ces deux sortes de gouvernements ne peuvent que d'une manière forcée subsister dans une république fédérative.» 39

Vgl. dazu A. von der Heydte, Montesquieu, S. 57.

II. Freiheits- und Friedenssicherung in der politischen Theorie

c) Kritische

41

Würdigung

Ungeachtet ihrer relativen Unschärfe und Gebundenheit an Ort und Zeit übten die dargestellten Gedanken Montesquieus vielfältigen Einfluß aus. Zunächst begegnet Montesquieu als einer der Väter derföderalen amerikanischen Verfassung 41. Trotz des raschen Erfolges gleich nach dem Erscheinen des „Esprit des lois" in Genf 1748 breitete sich der Einfluß Montesquieus in Amerika erst einige Jahre später aus 42. Die Vorliebe Montesquieus für gemischte Systeme, wo jede Gewalt nur ihren bestimmten Platz hat und viel Raum läßt für corps intermédiaires und Privatinitiative, fand schließlich über A. Hamilton, J. Jay und J. Madison 43 als System der Checks and Balances ihren Weg in die amerikanische Verfassung ebenso wie der Gedanke des Ausgleichs zwischen freiheitlicher Republik und mächtiger Monarchie durch die Federt. Hamiltons, der zentrale Stellen von Montesquieus „Geist der Gesetze" (Buch IX Kap. 1) übernahm und darin ein „erleuchtetes Resümee der Hauptargumente zugunsten der Union" sah44. Zugleich von Montesquieu und J.-J. Rousseau beeinflußt war die Französische Revolution von 178945. Schließlich finden sich Montesquieus Ideen in den Verfassungen von 1795 und 1799 wieder 46 . Ganz wesentliche Anstöße hat Montesquieu A. de Tocqueville gegeben, der ein gutes Jahrhundert später seinem Lehrer in Thema und Methode treu die ersten umfassenden Werke der französischen politischen Literatur zu Dezentralisation und Bundesstaat geschrieben hat. Die Bindung Montesquieus an die monarchische Verfassung und eine ständische Gesellschaftsordnung, die Lückenhaftigkeit seiner „föderalen Verfassung" und Differenziertheit und Kompliziertheit seines ganzen Denkgebäudes mögen die Rezeption von Montesquieus hier vorgestellten Gedanken gebremst haben. Insbesondere überschattet der überwältigende Erfolg der Gewaltenteilungsidee, die freilich auch nicht in ihrer ursprünglichen Form umgesetzt wurde, Größe und Ausbreitung der Ideen vertikaler Gewaltenteilung durch die corps intermédiaires und der Verbindung kleiner freiheitlicher Republiken zu föderalen Gebilden. Dennoch sind Dezentralisation und Föderalismus über die Verallgemeinerung 40 Montesquieu, Esprit, Buch IX Kap. 3, S. 371: keine «alliance sans le consentement des autres»; s.a. Dossier, S. 1004 ff.; krit. aber S. Brie, Bundesstaat, S. 30 f. 41

Κ. Weigand, Montesquieu, S. 80.

42

B. Voyenne, Histoire I, S. 131.

43

A. Hamilton U. Jay U. Madison, Fédéraliste, Nr.XLVII.

44

Ebd., Nr. IX, S. 61-65; s. dazu a. A. Esmein, ebd., S. X V (Einl.). Vgl. dazu M. Regaldo, Le culte de Montesquieu au temps de la Révolution et de l'Empire: Jean Darcet et son entourage, in: L'académie Montesquieu (Bordeaux) (Hg.), Etudes sur Montesquieu, 1970, S.94ff.; s.a. die quantitative Analyse zum Einfluß Montesquieus 1789 bei R. Galliani, La fortune de Montesquieu en 1789: un sondage, 1981. — s. a .A. von der Heydte, Montesquieu, S. 67: „Was für den Jakobiner Rousseau ist, ist Montesquieu dem Girondisten", vgl. dazu aber differenzierter unten Β13 e. 45

46 Vgl. a. die Motive zur Charte von 1814, die im wesentlichen das Buch X I Kap. 6 des „Esprit" frei wiedergeben.

Α. Das Ancien Régime

42

der Gewaltenteilungsidee und über die auch wieder auf Europa zurückwirkende Einrichtung der Vereinigten Staaten von Amerika 47 mit dem Werk und Namen Montesquieus verbunden. 2. Jean-Jacques Rousseau* Im Mittelpunkt von J.-J. Rousseaus facettenreichen, nicht widerspruchsfreien und heute leider nicht mehr vollständigen48 Schriften zur politischen Philosophie stehen die Ordnung des Gemeinwesens und der Gedanke der Volkssouveränität 49, den radikaler vorher keiner der großen politischen Denker ausgedrückt hat; dieser Gedanke füllte zugleich eine entscheidende Lücke, die Montesquieu in seinem Werk — aus Unverständnis, Vorsicht oder Klugheit? — gelassen hatte. Den Gedanken des Repräsentativsystems lehnte J.-J. Rousseau als unvereinbar mit seiner Souveränitätskonzeption ab. Daraus wiederum ergab sich die Forderung nach der geringen Größe der Staaten, die sich aber verbinden müßten, um gegen außenpolitische Bedrohungen gewappnet zu sein. Auch die Ausführungen zu einer Verfassung für Korsika und Polen gaben Gelegenheit, über die ideale Größe der Staaten nachzudenken50, die je nach den besonderen Umständen zu bestimmen und aufrechtzuerhalten die Kunst von Staatsgründern, Verfassunggebern und Politikern sei und für deren Ermittlung J.-J. Rousseau wichtige Gesichtspunkte aufzeigen wollte 51 . Dabei ist es wichtig, sich seine historische Situation zu vergegenwärtigen; nicht, daß die europäische Landkarte zu seiner Zeit tabula rasa gewesen wäre, doch waren Eroberungskriege und die Gründung von großen Nationalstaaten noch „an der Tagesordnung", so daß seine Überlegungen seinen Zeitgenossen weniger theoretisch oder bloß auf die innere Organisation jedenfalls vorgegebener Staaten gerichtet erscheinen mußten als für unsere Augen. 47

s. unten Β I I I

* 1712-1778 48 s. J.-J. Rousseau, Contrat, S. 349, «Avertissement», u. J.-L. Windenberger, La République confédérative des petits états, 1899/1982, S. 14 u. passim; vgl. näher zum ganzen unten 2 b u. Fn. 66. 49 Vgl. dazu 0. Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, 1963, S. 280 ff. 50 J.-J. Rousseau, Considérations sur le gouvernement de Pologne et sur sa réformation projettée, OC Bd. III, S. 970: «... réformer le Gouvernement de Pologne, c'est-à-dire de donner à la constitution d'un grand royaume la consistance et la vigueur de celle d'une petite république.» 51

J.-J. Rousseau, Contrat, II. Buch IX. Kap, S. 386: «Comme la nature a donné des termes à la stature d'un homme bien conformé, passé lesquels elle ne fait plus que des Géants ou des Nains, il y a de même, eu égard à la meilleure constitution d'un Etat, des bornes à l'étendue qu'il peut avoir, afin qu'il ne soit ni trop grand pour pouvoir être bien gouverné, ni trop petit pour pouvoir se maintenir par lui-même. Il y a dans tout corps politique un maximum de force qu'il ne saurait passer, et duquel souvent il s'éloigne à force de s'aggrandir.», s.a. ebd, II.Buch X.Kap, S.388ff.

II. Freiheits- und Friedenssicherung in der politischen Theorie

43

a) Die ideale Größe der Republik Für J.-J. Rousseau war die Souveränität als Ausübung der volonté générale unveräußerlich 52, unteilbar 53 u n d unvertretbar, d. h. anders als bei der Ausübung der Macht konnte das Volk als Souverän bei der Gesetzgebung (das Gesetz ist nichts als Ausdruck der volonté générale) nicht (durch Abgeordnete) repräsentiert werden 5 4 . Daraus ergab sich die Forderung nach der geringen Größe der Staaten, da nur i n kleinen Staaten wie der griechischen Polis, der Heimatstadt J.-J. Rousseaus G e n f u n d allenfalls den Schweizer Kantonen die Bürgerschaft, der Souverän zur Volksabstimmung zusammengerufen werden könne. Gleiche Gesetze könnten auch nicht für alle Menschen i n so verschiedenen Gegenden m i t so unterschiedlichen Gebräuchen u n d Lebensweisen passen, wie sie ein Großstaat umfaßt; da aber die Einheit des Staates i m Souverän u n d das Wesen des Gesetzes die Einheit der Gesetzgebung forderten, blieb als Ausweg wieder nur die Beschränkung des Territoriums 5 5 . U n d nur der kleine Staat verbürge jene enge Vergemeinschaftung, Überschaubarkeit u n d Nähe, die notwendige Voraussetzung für politische Einheitsbildung u n d das gute Funktionieren einer Republik seien 5 6 . Die notwendig

52

J.-J. Rousseau, Contrat, II.Buch I.Kap., S.368.

53

Ebd., II. Buch II. Kap, S.369.

54

Ebd., III. Buch X V Kap, S.429f.: «La Souveraineté ne peut être réprésentée, par la même raison qu'elle ne peut être aliénée; elle consiste essentiellement dans la volonté générale, et la volonté ne se réprésente point: elle est la même, ou elle est autre; il n'y a point de milieu. Les députés du peuple ne sont donc ni ne peuvent être ses réprésentans, ils ne sont que ses commissaires; ils ne peuvent rien condurre définitivement. Toute loi que le Peuple en personne n'a pas ratifiée est nulle; ce n'est point une loi. Le peuple Anglois pense être libre; il se trompe fort, il ne l'est que durant l'élection des membres du Parlement; sitôt qu'ils sont élus, il est esclave, il n'est rien. Dans les courts momens de sa liberté, l'usage qu'il en fait mérite bien qu'il la perde», zu dieser Abrechnung mit dem politischen System Englands vgl. a. J.-J. Chevallier, Histoire 2, S. 144f.; vgl. dagegen Montesquieu, Esprit, Buch X I Kap. 6, S. 400 f.; dazu J.-J. Chevallier, Histoire 2, S. 144 f.; Ο. Vossler, Freiheitslehre, S. 350 ff, u. zur Rezeption bzw. Ablehnung dieses (der Assemblée Nationale gefährlichen) Gedankens in der Revolution von 1789 I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie — zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, 3. Aufl. 1981, S. 269 ff, 285. 55

J.-J. Rousseau, Contrat, II. Buch IX. Kap, S. 387: «Les mêmes loix ne peuvent convenir à tant de provinces diverses qui ont des mœurs différentes, qui vivent sous des climats opposés, et qui ne peuvent souffrir la même forme de gouvernement. Des loix différentes n'engendrent que trouble et confusion parmi des peuples qui, vivant sous les mêmes chefs et dans une communication continuelle, passent ou se marient les uns chez les autres et, soumis à d'autres coutumes, ne savent jamais si leur patrimoine est bien à eux.» 56 J.-J. Rousseau, Du contrat social ou essai sur la forme de la république (première version), OC Bd. III, S. 281 ff. (322): «Au reste, une régie fondamentale pour toute société bien constituée et gouvernée légitimement, seroit qu'on en put assembler aisément tous les membres toutes les fois qu'il seroit nécessaire; car on verra ci-après que les assemblées par députation ne peuvent ni représenter le corps ni recevoir de lui des pouvoirs suffisans pour statuer en son nom comme souverain. Il suit de là que l'Etat devroit se borner à une seule Ville tout au plus; que s'il en a plusieurs la Capitale aura toujours de fait la souveraineté et les autres seront sujettes, sorte de constitution où la Tyrannie et l'abus sont inévitables.»

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Α. Das Ancien Régime

großen Entfernungen i n einem Großstaat führten nämlich dazu, „daß das Volk seinen Führern, die es niemals sieht, u n d seinem Vaterland, das i n seinen Augen m i t der Welt identisch ist, sowie den Mitbürgern, die i h m z u m größten Teil fremd sind, weniger Zuneigung entgegenbringt" 5 7 . Je weiter sich die sozialen Bindungen ausdehnten, desto lockerer würden sie 5 8 . Ebenso könnten auch nur i n einem überschaubaren Gemeinwesen Talente u n d Tugenden bemerkt, Untugenden bestraft werden, wären die Bürger miteinander bekannt u n d könne die Regierung selbst sehen, was geschieht, u n d die Ausführung ihrer Anordnungen überwachen 5 9 . Schließlich koste die Verwaltung eines großen Staates m i t notwendigerweise mehreren sich überlagernden Verwaltungsebenen die Regierung mehr Energie u n d das Volk mehr Steuern als die Verwaltung eines kleinen Gebietes 6 0 . Nach all dem kann also eine demokratische Republik z u m W o h l ihrer Bürger nur funktionieren, w e n n sie sich auf ein kleines Gebiet beschränkt 6 1 . D o c h wie 57 Ebd.: «mais le peuple a moins d'affection pour ses chefs qu'il ne voit jamais, pour la patrie qui est à ses yeux comme le monde, et pour ses concitoyens dont la plus-part lui sont étrangers.» 58 Ebd, S. 386: «Plus le lien social s'étend, plus il se relâche, et en général un petit Etat est proportionnellement plus fort qu'un grand.» 59 Ebd, S. 387f.: «Les talens sont enfouis, les vertus ignorées, les vices impunis, dans cette multitude d'hommes inconnus les uns aux autres, que le siege de l'administration suprême rassemble dans un même lieu. Les Chefs accablés d'affaires ne voyent rien par eux-mêmes, des commis gouvernent l'Etat. Enfin les mesures qu'il faut prendre pour maintenir l'autorité générale, à laquelle tant d'Officiers éloignés veulent se soustraire ou en imposer, absorbe tous les soins publics, il n'en reste plus pour le bonheur du peuple, à peine en reste-t-il pour sa défence au besoin, et c'est ainsi qu'un corps trop grand pour sa constitution s'affaisse et périt écrasé sous son propre poids...», u. ebd.:«le Gouvernement a moins de vigueur et de célérité pour faire observer les loix, empêcher les véxations, corriger les abus, prévenir les entreprises séditieuses qui peuvent se faire dans des lieux éloignés»; s. a. ders., Pologne, S. 970: «Grandeur des Nations! Etendue des Etats! prémière et principale source des malheurs du genre humain, et surtout des calamités sans nombre qui minent et détruisent les peuples policés. Presque tous les petits Etats, républiques et monarchies indifféremment, prospèrent par cela seul qu'ils sont petits, que tous les citoyens s'y connoissent mutuellement et s'entreregardent, que les chefs peuvent voir par eux-mêmes le mal qui se fait, le bien qu'ils ont à faire; et que leurs ordres s'exécutent sous leurs yeux.» 60 Ders., Contrat, S.387:«... l'administration devient plus pénible dans les grandes distances, comme un poids devient plus lourd au bout d'un plus grand lévier. Elle devient aussi plus onéreuse à mesure que les degrés se multiplient;... Tant de surcharges épuisent continuellement les sujets; loin d'être mieux gouvernés par ces différents ordres, ils le sont moins bien que s'il n'y en avoit qu'un seul au dessus d'eux.» 61 Vgl. zum ganzen I. Fetscher, Rousseau, S. 175 ff.; J.-J. Chevallier, Histoire 2, S. 145; s. aber a. Ο. Vossler, Freiheitslehre, S. 351, der J.-J. Rousseaus Ausführungen zum Vorteil kleiner Staaten als „fixe Überzeugung" und „irrig" abtut. — Daß J.-J. Rousseau nur in Kleinstaaten eine legitime und das heißt republikanische politische Ordnung für möglich hielt, ist Gegenstand einer Auseinandersetzung I. Fetschers mit R. Derathé, Rousseau et la science politique de son temps, 1950, auf die hier nur verwiesen werden soll, vgl. I. Fetscher, Rousseau, S. 177 ff, m. w. N. — Auf die Darstellung J.-J. Rousseaus arithmetischer Methode zur Ermittlung der idealen Größe einer Republik — „klapperndes Musterbeispiel der von ihm

II. Freiheits- und Friedenssicherung in der politischen Theorie

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sollte sich eine kleine Republik bei aller relativen Stärke gegen übermächtige Nachbarn behaupten 6 2 ? b) — und ihre Sicherheit So ging es n u n darum, „die äußere Stärke eines großen Volkes m i t der guten Ordnung eines kleinen Staates zu verbinden" 6 3 . Aus diesem D i l e m m a sollte die „konföderale Form" helfen, die J.-J. Rousseau sich vornahm, i m Anschluß an den Contrat Social zu erörtern 6 4 — dabei zu Unrecht den Lorbeer des Erstentdeckers beanspruchend 6 5 . D a das hier angekündigte Werk zwar geschrieben wurde, dann aber verlorenging 6 6 , sind J.-J. Rousseaus Gedanken nur aus seinem übrigen Werk zu rekonstruieren.

selbst überwundenen mechanistischen Staatslehre", 0. Vossler, kann hier verzichtet werden. —

Freiheitslehre, S.351 —

62 J.-J. Rousseau, Contrat, III. Buch XV Kap, S. 431: «Tout bien examiné, je ne vois pas qu'il soit désormais possible au Souverain de conserver parmi nous l'exercice de ses droits si la Cité n'est très petite. Mais si elle est très petite elle sera subjuguée? Non. Je ferai voir ciaprés** comment on peut réunir la puissance extérieure d'un grand Peuple avec la police aisée et le bon ordre d'un petit Etat.», u. näher dazu sogl. 63

Ebd, a. E. Ders., Contrat, III. Buch X V Kap. I , S. 431 Anm.**: «C'est ce que je m'étois proposé de faire dans la suite de cet ouvrage, lorsqu'en traitant des rélations externes j'en serois venu aux confédérations. Matière toute neuve et où les principes sont encore à établir.» 64

65 Ebd.: «Matière toute neuve ...», u.ebd, IV Buch IX. Kap, S. 470. — s. schon Montesquieu, Esprit, Buch IX Kap. 1; vgl. zum ganzen J.-J. Chevallier, Histoire 2, S. 225 f. Anm. 21 m. w. Ν.; S. Stelling-Michaud, in: J.-J. Rousseau, OC, Bd. III, S. 1543, Anm.; R. Derathé, in: JJ. Rousseau, OC, Bd. III, S. 1489,1507, Anm. - An anderer Stelle schließlich bekannte J.-J. Rousseau, daß seine Entdeckung so ganz ohne Vorbild doch nicht war: «Je reponds encore que c'est toujours un mal d'unir plusieurs villes en une seule cité, et que, voulant faire cette union, l'on ne doit pas se flater d'en éviter les inconvénients naturels. Il ne faut point objecter l'abus des grands Etats à celui qui n'en veut que de petits: mais comment donner aux petits Etats assez de force pour résister aux grands? Comme jadis les villes grecques résistèrent au grand Roi, et comme plus récemment la Hollande et la Suisse ont résisté à la maison d'Autriche.», in: Contrat, III. Buch XIII. Kap, S. 427. — Übrigens hatte Montesquieu seinerseits den Abbé de St. Pierre mit keinem Wort erwähnt. 66

Dazu J.-L. Windenberger, République, S. 57 f , der das Zeugnis des Comte d'Antraigues (ders., Quelle est la situation de l'Assemblée Nationale, 1789, a. E , zit. nach J.-L. Windenberger, République, S. 55 f.): «J.-J. Rousseau avait eu la volonté d'établir, dans un ouvrage qu'il destinait à éclaircir quelques chapitres du Contrat social, par quels moyens de petits Etats pouvaient exister à côté des grandes puissances, en formant des confédérations. Il n'a pas terminé cet ouvrage, mais il en avait tracé le plan, posé les bases et placé à côté des seize chapitres de cet écrit quelques-unes de ses idées, qu'il comptait développer dans le corps de l'ouvrage. Ce manuscrit de trente-deux pages, entièrement écrit de sa main, me fut remis par lui-même, et il m'autorisa à en faire, dans le courant de ma vie, l'usage que je croirais utile ... Cet écrit, que la sagesse d'autrui m'a préservé de publier, ne le sera jamais: j'ai trop bien vu et de trop prés le danger qui en résulterait pour ma patrie. Après l'avoir communiqué à l'un des plus véritables amis de J.-J. Rousseau, qui habite prés du lieu où je suis, il n'existera plus que dans nos souvenirs.») nach ausgiebiger Prüfung fur glaubhaft erklärte.

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Α. Das Ancien Régime

A m ausführlichsten beschrieb J.-J. Rousseau seine Lösung noch i m Emile. Dabei beklagte er erst das durch den kriegerischen Umgang der Staaten miteinander ihren Bürgern entstehende Leid. Hätte m a n nicht bei der Staatengründung zu viel oder zu wenig getan, indem m a n zwar die Menschen anderen Menschen u n d den Gesetzen untergeordnet, die Gesellschaften untereinander aber i n völliger Unabhängigkeit voneinander belassen habe? U n d brächte nicht diese teilweise u n d unvollkommene Assoziation Tyrannei u n d Krieg u n d damit die größten Geißeln der Menschheit hervor? Dagegen böten vielleicht Bündnisse u n d Konföderationen Heilmittel, die j e d e m Staat nach innen seine Herrschaft beließen, i h n aber nach außen gegen ungerechten A n g r i f f schützten. „Wir werden untersuchen, wie m a n eine gute föderale Verfassung errichten kann, was sie dauerhaft machen u n d wie weit sich ihr Recht erstrecken kann, ohne dem der Souveränität zu schad e n " 6 7 . Sehr präzise ist das alles freilich noch nicht. U n d auch i n seinen Verfassungsvorschlägen für Polen ging er über die Markierung der Problemfelder—Autorität der gemeinsamen Gesetzgebung, Ausbildung einer jeweils selbständigen Verwaltung u n d klare Kompetenzabgrenzungen — nicht hinaus 6 8 .

67

J.-J. Rousseau, Emile ou de l'Education, OC, Bd. IV, 1969, V Buch, S. 848:«Après avoir ainsi considéré chaque espèce de société civile en elle-même, nous les comparerons pour en observer les divers raports. Les unes grandes, les autres petites; les unes fortes, les autres foibles, s'attaquant, s'offensant, s'entredétruisant et dans cette action et réaction continuelle faisant plus de misérables et coûtant la vie à plus d'hommes que s'ils avoient tous gardé leur première liberté. Nous examinerons si l'on n'en a pas fait trop ou trop peu dans l'institution sociale, si les individus soumis aux loix et aux hommes, tandis que les sociétés gardent entre elles l'indépendance de la nature, ne restent pas exposés aux maux des deux états sans en avoir les avantages, et s'il ne vaudroit pas mieux qu'il n'y eut point de société civile au monde que d'y en avoir plusieurs? N'est-ce pas cet état mixte qui participe à tous les deux et n'assure ni l'un ni l'autre, per quem neutrum licet, nec tanquam in bello paratum esse, nec tanquam in pace securum? N'est-ce pas cette association partielle et imparfaite qui produit la tyrannie et la guerre, et la tyrannie et la guerre ne sont-elles pas les plus grands fléaux de l'humanité? Nous examinerons enfin l'espèce de remèdes qu'on a cherchés à ces inconvéniens par les ligues et confédérations, qui, laissant chaque Etat son maître au dedans l'arme au dehors contre tout aggresseur injuste. Nous rechercherons comment on peut établir une bonne association fédérative, ce qui peut la rendre durable, et jusqu'à quel point on peut étendre le droit de la confédération sans nuire à celui de la souveraineté». 68 Ders., Pologne, VBuch, S. 971: «Que si ces retranchemens n'ont pas lieu, je ne vois qu'un moyen qui put y suppléer peut-être et ce qui est heureux, ce moyen est déjà dans l'esprit de votre institution. Que la séparation des deux Polognes soit aussi marquée que celle de la Lithuanie: ayez trois Etats reunis en un. Je voudrois, s'il étoit possible, que vous en eussiez autant que de Palatinats; formez dans chacun autant d'administrations particulières. Perfectionnez la forme des Dietines, étendez leur autorité dans leurs Palatinats respectifs; mais marquez-en soigneusement les bornes, et faites que rien ne puisse rompre entre elles le lien de la commune législation et de la subordination au corps de la République. En un mot, appliquez-vous à étendre et perfectionner le système des Gouvernements fédératifs, le seul qui réunisse les avantages des grands et des petits Etats, et par là le seul qui puisse vous convenir. Si vous négligez ce conseil, je doute que jamais vous puissiez faire un bon ouvrage.»

II. Freiheits- und Friedenssicherung in der politischen Theorie

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Welche der möglichen Formen (vom einfachen Beistandspakt bis zum Bundesstaat) J.-J. Rousseau vorgeschwebt haben muß, ist damit nur aus beiläufigen Äußerungen und allgemeinen Grundsätzen heraus zu beantworten. Wie wenig von der Souveränität der Kleinstaaten er außen- und sicherheitspolitischer Raison zu opfern bereit war, zeigt eine Stelle der lettres de la Montagne 69, wo er schon den zeitweisen Souveränitätsverzicht der Genfer (zugunsten der Vermittlungsmächte Zürich, Bern und Frankreich, um die Unterwerfung unter eine tyrannische Regierung zu vermeiden) nicht gutheißen konnte 70 . Um wieviel weniger hätte er dann einem dauernden Verzicht der Kleinstaaten auf ihre Souveränität zugestimmt! Damit bleibt als Lösung nur ein lockerer Staatenbund übrig 71 . Zum nämlichen Ergebnis führt auch eine Betrachtung seiner Souveränitätsund Demokratieauffassung 72. Wozu hätte er erst die geringe Größe seiner Republik verteidigen sollen, wenn dann doch wichtige Befugnisse auf die „Konföderation" übergingen? Schließlich waren weder die Übertragung von Hoheitsrechten einer Republik auf ein größeres Ganzes noch das Bestehen eigenständiger politischer Körper innerhalb der größeren Gemeinschaft mit seiner Konzeption der Souveränität als eins, unteilbar und unveräußerlich vereinbar. Was würde aus der Souveränität, die von Einzelinteressen und Fraktionierungen, der Gefahr des Auseinanderfallens der volonté générale und der volonté de tous bedroht sei 73 , erst in einem föderalen Staat? Die Existenz eines geschlossenen Staats-„wesens" war damit für/.-/. Rousseau ebenso unverrückbares Dogma seiner Politik wie die Einbeziehung des antagonistischen Prinzips von Spannung und Ausgleich darin undenkbar. Gerade darin liegt ja auch der später von anderen fruchtbar gemachte Ansatz J.-J. Rousseaus für totalitäre Staats- und Regierungsformen. So legt die Betrachtung J.-J. Rousseaus eigener Prinzipien nahe, daß er über eine bloß lockere Konföderation weder hinausgegangen ist noch gehen konnte. Freilich bleibt dabei der Widerspruch mit seiner Forderung nach einer starken gemeinsamen Gesetzgebung z. B. für Polen. Den Vertragsgedanken hat J.-J\ Rousseau — soweit ersichtlich — für die Grundlegung seiner „konföderalen Form", anders als für das Verhältnis der Individuen zum Staat, nicht fruchtbar gemacht. Dabei hätte die Parallele nahegelegen, denn

69

Ders., Lettres écrites de la montagne, Nr. IX, OC, Bd. III, 1975, S. 896.

70

s. dazu C. E. Vaughan (Einl. u. Hg.), The political writings of J.-J. Rousseau, 1915/1962, Bd. I, S. 99, Introduction: «whether the remedy is not worse than the disease». 71 Ebd, S. 100: «it is hard to believe that he would not have wished to make... the powers of the central Govemement as limited, as the needs of the case allowed.»; s.a. I. Fetscher, Rousseau, S. 179 ff. 72 J.-J. Rousseau, Contrat, Buch I I Kap. I ff, S. 368 ff.; s. a. ders., Discours sur l'économie politique, OC, Bd. III, 1975, S.244ff, 252. 73 s. dazu J.-J. Chevallier, Histoire 2, S. 134 u. weiter im folg, u. S. 224 Anm. 10 ff. m. w. N.

Α. Das Ancien Régime

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wie sich im nationalen (staatlichen) Bereich die Individuen zu ihrem Schutz, zur Sicherung ihrer freien und unabhängigen Existenz zusammenschließen (können) 74 , so vereinigen sich auch die souveränen Republiken, um gemeinsam einen sie bedrohenden Staat in seine Schranken verweisen zu können 75 . Während freilich das natürliche Individuum im Gesellschaftsvertrag alle seine natürlichen Rechte aufgibt, um fortan nur noch als Teil des Ganzen zu existieren—oder richtiger, um eine rechtlich moralische Existenz nur als Glied der Gemeinschaft zu gewinnen 76 —, geben die souveränen Republiken ihre „indépendance" in der Föderation gerade nicht auf. Die Parallele scheitert damit rasch an der Stärke des Souveränitätsdogmas, wie dieses sich — nicht nur bei J.-J. Rousseau — überhaupt verselbständigt und seinen ursprünglichen Schutzgedanken bald hinter sich gelassen zu haben scheint. c) Kritische

Würdigung

Auch J.-J. Rousseau hat den „in der Luft liegenden" Gedanken der internationalen Friedenssicherung verarbeitet. Statt eines (zum Glück?) utopischen Universalreichs faßte er konkrete Staatenverbindungen ins Auge, die — an verschiedene Adressaten gerichtet — auch verschieden ausgestaltet waren. Das mag ein Erklärungsansatz für unbestreitbare Widersprüche in seinen verstreuten Äußerungen zum Thema sein. Als Verfechter der geringen Größe der Staaten war für J.-J. Rousseau das Thema der außenpolitischen Sicherung auch um so dringlicher. Ganz anders als Montesquieu hat er aber die innenpolitischen Potenzen seines Gegenstandes kaum in Angriff genommen, konnte dies auch nicht, da ihm hier sein Souveränitäts- und Demokratiemodell selbst im Weg stand. Ob der Zusammenschluß aus der Einsicht in die Bedrohtheit der Kleinstaaten durch einen fremden (Groß-)Staat oder aus der Vorstellung des Antagonismus der Staaten insgesamt abgeleitet wird, ist auch eine Frage der geschichtsphilosophischen Überzeugung: Während I. Kant im Fortschrittsglauben der Liberalen, von T. Hobbes ausgehend, aus dem Konkurrenzkampf der einzelnen wie auch der Staaten den allen Frieden, Freiheit und Glück verschaffenden Zustand durch Natur oder Vorsehung hervorgehen sah, war der Zusammenschluß bei J.-J. Rousseau voraussetzungsvoller, daher labiler, und weniger universalistisch — was hier nicht gegen seinen Realitätssinn zu sprechen braucht.

74 J.-J. Rousseau, Contrat, Buchi Kap.VI, S.360ff. (360):«trouver une forme d'association qui défende et protège de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé, et par laquelle chacun s'unissant à tous n'obéisse pourtant qu'à lui-même et reste aussi libre qu'auparavant». 75 76

s.o. Fn.67.

J.-J. Rousseau, Contrat, Buchi Kap.VI, S.360: «aliénation totale de chaque associé avec tous ses droits à toute la communauté... chacun se donnant tout entier...», s. dazu a. J.-J. Chevallier, Histoire 2, S. 134 ff, 138 ff.

II. Freiheits- und Friedenssicherung in der politischen Theorie

49

J.-J. Rousseaus Einfluß auf die Französische Revolution ist nicht unbestritten, auch wenn er lange als ihr geistiger Vater galt 77 . Die körperschaftsfeindliche Lehre J.-J. Rousseaus jedenfalls kam dem aufklärerischen, rationalistischen Zeitgeist mehr entgegen, war wohl auch leichter zu verstehen und besaß mehr massenbewegende Kraft als Montesquieus differenzierte Lehre und hat daher die Französische Revolution jedenfalls in entscheidenden Phasen stärker geprägt 78. Mancherlei von dem, was hier zunächst als weit überholte, romantisierende „Kleinstaaterei" erscheint Ja als „fixe Idee", als schlicht „irrig" abgetan worden ist, kehrte in immer neu aktualisierten Wellen, „Bewegungen", „Initiativen" wieder— dieser Teil von J.-J. Rousseaus Werk könnte zur Unterscheidung von einer „totalisierenden" als „romantisierende" Richtung bezeichnet werden. Anonymität, Entfremdung, Isolation einerseits, Ausgeliefertsein an einen allwissenden, alles überwachenden und in seiner Allmacht doch wieder ohnmächtigen Staat sind die beiden Seiten einer nämlichen Medaille, aus der Staatsverdrossenheit, Technikfeindlichkeit und Zukunftsangst geschmiedet werden. So ist es gar nicht so abwegig, in J.-J. Rousseaus Kleinstaatsideal Parallelen zu sehen zur aktuellen Bewegung des „Zurück zur kleinen Einheit"... 3. Zusammenfassung und Ausblick Festzuhalten bleibt nach diesem Überblick über die Klassiker vor der Revolution von 1789, daß sich die „idéefèdérative" bereits explizit in den großen Werken der politischen Philosophie findet - eher unter Gewaltenteilungsaspekten bei Montesquieu, als Mittel zur Zähmung der Macht, mehr unter außenpolitischen Aspekten bei J.-J. Rousseau, dem sie gleichwohl zur Gewährleistung demokratisch-republikanischerYerhältnisse in seinen Kleinstaaten diente. Beiden Autoren ist so bei aller Gegensätzlichkeit die Erkenntnis gemeinsam, daß die geringe Größe politischer Einheiten eine wesentliche Voraussetzung für ihre freiheitlich-demokratische Verfassung sei. Während Montesquieu die große Einheit durch corps intermédiaires aufgliederte, verband J.-J. Rousseau seine Kleinstaaten zur Konföderation. Bei beiden fehlen genauere Konzepte über die Ausgestaltung ihrer Staaten(bund)gebilde.

77 Dabei ist freilich zu unterscheiden zwischen dem Rousseaukult und der wirklichen Kenntnis seiner Schriften; zur geringen Wirkung des Contrat social von 1762 bis 1790 vgl. D. Mornet, Les origines intellectuelles de la Révolution française, 1933, S. 96:«... à peu près inaperçu.»; J. Me. Donald, Rousseau and the french revolution 1789-1791,1965, S. 51: „ . . . keine wichtige Rolle bei der Bildung der Auffassungen der Gestalter der Ereignisse von 1789 gespielt hat"; s. a. I. Fetscher, Rousseau, S. 258 ff. m. w. N.; zur Rezeption und Kritik JJ. Rousseaus in England vgl. E. Dufjy, Rousseau in England, 1979. — Zu den Spuren J.-J. Rousseaus bei J. Madison vgl. E. Fraenkel, Regierungssystem, S. 108. 78

Der demokratisch-totalitäre Monismus J.-J. Rousseaus habe über die pluralistischrechtsstaatliche Auffassung Montesquieus gesiegt, so A. Brunner, Rechtsstaat, Bd. 2, S. 176 u. näher S. 175 ff. u. passim. 4

Sparwasser

50

Α. Das Ancien Régime

Montesquieu knüpfte—wie auch für seine nur sehr modifiziert wirksam gewordene Gewaltenteilungslehre — an die ständische Gliederung der Gesellschaft an. J.-J. Rousseau zog eine in der Zukunft noch bedeutungsvolle Grenze durch seine Souveränitätskonzeption der einen, unteilbaren, unvertretbaren und unübertragbaren Staatsmacht. Montesquieu steht in der Tradition englischer Staatstheoretiker und französischer Vordenker, er beeinflußte später wenig die Französische Revolution, stark wohl seinen bedeutendsten „Schüler" im 19. Jahrhundert A. de Tocqueville. J.-J. Rousseau, weniger originell als er selbst vorgab, spielte in der Französischen Revolution eine — wenn auch in der Literatur wohl oft überschätzte — Rolle durch seine Souveränitätskonzeption, eine lange wirksame Bremse gegen Föderalismus- und Dezentralisationsbestrebungen. R de Fénèlon ist bei Montesquieu, J. Bodin — bei aller Vorsicht — bei J.-J. Rousseau „aufgehoben".

Β. Vom Beginn der Revolution (1789) bis zum Ende des II. Empire (1870) Der lange hier zusammengefaßte Zeitraum zwischen dem Ausbruch der Revolution von 1789 und dem Beginn der III. Republik 1870 umfaßt in einer wechselvollen Geschichte Revolutionen und Restauration, Kaiserreiche und Republiken, Diktaturen und Demokratien, er ist aber insgesamt in einer zweifachen Kontinuität zu sehen: Zum einen schuf die Revolution keineswegs tabula rasa, sondern knüpfte in vielem an die Einrichtungen und Erfahrungen des Ancien Régime an — eine Feststellung, die mit großem Echo als erster A. de Tocqueville getroffen hat1. Zum anderen wirken viele Schöpfungen schon der ersten Jahre dieses Zeitraums bis in die Gegenwart fort, so das Departement der revolutionären Constituante und der Präfekt des I. Empire 2 . Die Umwälzungen auf Verfassungsebene spiegeln sich bei aller Kontinuität doch auch in der Ausgestaltung der Gebietsverwaltung, und so erlaubt gerade diese lange wechselvolle Periode (vor dem Hintergrund von 0. Mayers bekanntem Diktum 3 ), nach dem Zusammenhang zwischen (Verfassungs-)Entwicklung auf nationaler Ebene und der der Freiheit der unterstaatlichen Ebenen, zwischen Demokratie und Dezentralisation zu forschen. Die Unbeständigkeit der langen Entwicklung zur liberalen Demokratie der III. Republik hat auch Leben und Werk der beiden herausragenden Vertreter der politischen Philosophie Frankreichs im 19. Jahrhundert: A. de Tocquevilles und P.-J. Proudhons geprägt. Beide nahmen aktiv am öffentlichen Leben ihrer Zeit teil und repräsentieren ein Stück lebendiger Zeitgeschichte. Wie in einem Brennspiegel finden sich in ihren Schriften die Hoffnungen und Ängste des politischen Frankreich des II. Empire auf bzw. vor Demokratie und Sozialismus wieder, mit liberal-reformerischem Akzent beim ersten, mit sozial-revolutionärem beim zweiten. Dezentralisation und föderales Prinzip sind zum ersten Mal in Frankreich Gegenstand ausführlicher Darstellungen geworden.

I. Revolutionszeit und weitere Entwicklung Die erstaunliche Langlebigkeit mancher Einrichtungen schon der ersten Jahre nach 1789 trotz nie enden wollender Kritik ist mit dem Beharrungsvermögen der Verwaltung und der allmählichen Gewöhnung der Bevölkerung allein nicht zu 1 2

A. de Tocqueville,

Ancien Régime, 1856, näher dazu unten I I 1 a m. w. Ν.

Eingesetzt schon durch Ges. vom 28 pluviôse an V I I I (17.2.1800), zu voller Machtentfaltung gelangt aber erst unter Napoléon I., s. unten 15. 3 „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht". 4*

52

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

erklären. Die kultische Überhöhung der Revolution selbst4 erfaßte auch ihre Einrichtungen und festigte ihre Ideologien. So gibt es über die Umwälzungen und Neuerungen der Französischen Revolution eine Reihe von Mißverständnissen und Auseinandersetzungen, die bis heute nachwirken und zugleich eine rationale Diskussion für unser Thema zentral wichtiger Fragen und Begriffe erschwert haben. Es geht dabei neben der Frage nach der Kontinuität über die Revolution hinaus um den „künstlichen", „undemokratischen", „unmenschlichen" Charakter des Departements, die Identifikation von Revolution und Zentralisation und die Auseinandersetzung zwischen Jakobinern und Girondisten, die mit der zwischen Zentralismus und Föderalismus identifiziert wird. Viele zugkräftige Schlagworte und Klischees, die ungeachtet ihrer historischen Richtigkeit in der öffentlichen Auseinandersetzung bis heute wiederkehren 5, nehmen hier ihren Ausgang. So lohnt es sich, der Wahrheit die Ehre zu geben und Gründen ihrer (ideologischen) Verzerrung nachzuspüren 6. Der lange erkämpften Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts 7 folgten nur zögernd auch die Liberalisierung der (lokalen) Selbstverwaltung und die Dezentralisation. Erst die wachsende Opposition (auch in der politischen Literatur) während des II. Empire und dessen Liberalisierung in seiner zweiten Hälfte bereiteten den großen Gesetzen der Dezentralisation der III. Republik den Weg. 1. Kommunale und föderale Bewegung Nach der Einrichtung der Stadtverwaltung (municipalité) in Paris breitete sich mit der Revolution auch die sogenannte révolution municipalevon Paris aus in der Provinz aus. Die bestehenden (örtlichen) Verwaltungen wurden teils um gewählte Volksvertreter ergänzt, teils ganz durch diese ersetzt. Diese Munizipalitäten verwalteten ihr Gebiet im Namen der Nation. Sie verbanden sich untereinander, und diese Verbindungen schlossen sich auf einer nächsten Stufe ungeachtet alter Provinz- und neuer Departementgrenzen wiederum zusammen. Ebenso „föderierten" sich die Nationalgarden benachbarter Distrikte 8 . Die Nation sollte 4

Zu den Ursprüngen und Erscheinungsweisen der «cultes révolutionnaires», zur religionsgleichen Verherrlichung der Revolution vgl. /. Godechot, Institutions, S. 266 ff. m. w. N. 5

s. ζ. B. «Si J. J. S. S. continue d'être girondin, il finira guillotiné...», G. Pompidou in Paris-Match, Jan. 1971, zit. in: J.-J. Servan-Schreiber, Le pouvoir régional, 1971, S. 7. 6 s. a. schon//. Wallon, La Révolution du 31 mai et le fédéralisme en France, ou la France vaincue par la Commune de Paris, 2 Bde, 1886, Bd. I, S. IVf.: «Ces événements qui datent bientôt d'un siècle ont la vertu de nous intéresser comme s'ils s'étaient passés hier. C'est que la tradition ne s'en est jamais perdue... La lutte des partis en 1795 n'est donc pas chose entièrement du passé. Il est difficile de la raconter sans émotion et, par conséquent, de ne pas laisser poindre dans l'exposé des faits le sentiment qui les exalte ou les réprouve.» 7 8

Nämlich „endgültig" erst 1848.

A. Aulard, Histoire, S. 83. — A. Aulards Revolutionsgeschichte ist eines der Referenzwerke zu dieser Zeit; s. a. ders., Le Patriotisme Français de la Renaissance à la Révolution, 1921, S. 137 ff., 142 ff.

I. Revolutionszeit und weitere Entwicklung

53

wie eine Pyramide aus untereinander zu einer Föderation verbundenen gleichen Teilen entstehen und von dieser vertreten werden 9. Eine der Munizipalitäten erwarb sich besondere politische Macht, gründete eine Bürgermiliz 10 und wurde zum Staat im Staat: die spätere Erste Kommune von Paris 11. In ihrer demokratischen, dem allgemeinen Wahlrecht zuneigenden Ausrichtung, ihrer Verankerung im Volk und ihrem Souveränitätsanspruch trat diese Bewegung in Gegensatz zur bürgerlichen, am Zensus festhaltenden Constituante, die um ihre Autorität zu fürchten begann12. So mußte die Versammlung versuchen, diese Bedrohung „in geordnete Bahnen zu lenken" und unter ihre Kontrolle zu bringen. Zur Legalisierung der Bewegung verabschiedete sie vorab ein Kommunalgesetz13. Ebenfalls auf ihren Beschluß14 begründeten die bisher nebeneinander bestehenden Föderationen die „nationale Föderation" in einem großen Treffen auf dem Marsfeld am 14.7.179015. Man kann in dieser Bewegung ungeachtet ihrer bürgerlichen, von der Versammlung gesteuerten Wendung und ihrer höchstens embryonär republikanischen Einstellung 16 einen zweiten Versuch einer föderalen „Staatsgründung" sehen — nach den Provinzversammlungen des Ancien Régime. Während aber diesen ein nationales „unitarisches" Bewußtsein (vor 1789!) fehlen mußte, hielten jene neuen kommunal begründeten spontan-lockeren Föderierungen der Anstrengung der Constituante um ihre „Nationalisierung" und damit aber Entmachtung nicht stand. Die Gedanken von nationaler Souveränität und kommunaler Freiheit waren jetzt aber eine Bindung eingegangen, die ideengeschichtlich immer wiederkehrte und der Dezentralisierungsforderung demokratischen Schwung gab. 2. Das Werk der Verfassunggebenden Versammlung Die Verfassunggebende Versammlung hatte eine schwere Aufgabe in einer schweren Zeit 1 7 und mußte vielerlei einander widerstreitende Grundsätze und Forderungen miteinander versöhnen. Die Verwaltung sollte rationalisiert, anstelle der komplexen, unübersichtlichen und ineffizient gewordenen Strukturen des Ancien Régime die Grundlage für eine moderne, funktionierende Verwal9

J. Ellul, Histoire 5, 1979, S. 17 f.; Α. Aulard sprach der föderalen Bewegung durchaus «Patriotisme, à la fois unitaire et libérale» zu, ders., Patriotisme, S. 150, s. a. 166 f. u. passim, mit zahlreichen Zitaten aus zeitgenössischen Protokollen. 10

Vorläufer der späteren Nationalgarde.

11

J. Ellul, Histoire 5, S. 18.

12

Ebd., S. 17 f.

13

A m 14.12.1789; A. Aulard, Histoire, S. 83; J. Ellul, Histoire 5, S. 61 f.

14

Vom 9.6.1790.

15

Α. Aulard, Patriotisme, S. 203 ff.

16

A. Aulard, Histoire, S. 84. Zu ihr / Ellul, Histoire 5, S. 19 f.

17

54

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

tung geschaffen werden. Zwischen Konterrevolution und Radikalismus galt es zu vermitteln, und der Führungsanspruch von Paris in der revolutionären Bewegung sollte ebenso wie die Freiheit gewahrt werden, in deren Namen sich das Volk erhoben hatte. Schließlich war die nationale Einheit nicht überall selbstverständlich, traten Abspaltungstendenzen und Autonomieforderungen auf den Plan 18 . Die Forderung nach Wahl der Verwaltung und weitgehender Autonomie auf örtlicher Ebene war daher nicht unproblematisch. Die alten Verwaltungsstrukturen waren großteils zerfallen, neue revolutionäre traten zur Versammlung in Konkurrenz. Nach dem Sturm auf die Bastille und mit der Ausbreitung der Revolution hörten die alten Verwaltungseinrichtungen Intendant und Provinzversammlung auf zu funktionieren, während sich im ganzen Land Komitees und Ständige Komitees auf gemeindlicher Basis zu faktischen Autoritäten aufschwangen 19. Das Machtvakuum zwischen den in der Revolution erstarkten Gemeinden und Paris mußte gefüllt werden. Die Gemeinden richteten ihren Blick nun nicht mehr auf die alte Provinzhauptstadt, sondern auf Paris als Sitz der Revolution 20 . Ihr von der Provinz abgekehrter Geist schuf die unitarische Nation tatsächlich, noch bevor sie rechtlich bestand. So war der Weg auch für eine neue Zusammenfassung der Gemeinden frei, nachdem die alten Strukturen mit dem Ancien Régime zusammengebrochen waren. a) Die Geburt der Departements Die sechs Monate währende Arbeit der Verfassunggebenden Versammlung in Debatten und Kommissionen ist zum Ausgangspunkt unzähliger Angriffe auf das Departement geworden. Die Versammlung hatte sich neben der politischen Zielsetzung vorgenommen, die neuen Verwaltungsgebiete so zu begrenzen, daß man sich zwischen Sonnenaufgang und -Untergang vom Hauptort aus an jeden anderen Punkt des Gebietes bewegen konnte 21 . Als Arbeitsgrundlage diente zunächst eine Karte in Form eines Schachtbretts mit 81 Departements, ungefähr quadratisch, mit 18 Meilen Seitenlänge. Dieser Ausgangspunkt sollte Schnelligkeit und Leichtigkeit der Verwaltung ermöglichen, die Vervielfältigung der Ebenen zwischen Gemeinden und Versammlung vermeiden, ein Gleichgewicht zwischen der Ausdehnung des Departements und seiner Unterteilungen herstellen. Danach schienen dem Komitee 81 Departements der Oberfläche des Königreichs, der physischen Kraft der Versammlungen von Departements, Distrikten und Kantonen und dem Kräfteverhältnis zwischen den drei Unterteilungen am ehesten angemessen zu sein 22 . 18 19

Zum ganzen/. Ellul, Histoire 5, S.58ff.; M. Bourjol, Institutions, S.64 R.88. s. soeben 11, u. M. Bourjol, Institutions, S. 69 R. 100.

20

A. Aulard, Départements et Régionalisme, in: La Grande Revue, Nr. 17, 10.9.1912, S. 5 ff. (25). 21 So die Festlegung von E. Sieyès, dessen Ideen Thouret als Berichterstatter übernahm, vgl. dazu P. Legendre, Histoire, S. 114, u. ausf. Α. Aulard, Départements. 22

Ebd, u. M. Bourjol, Institutions, S.70f. R. 103 ff. m. w.N.

I. Revolutionszeit und weitere Entwicklung

55

In einer zweiten Phase wurde möglichst nahe den geometrischen Linien, aber von bestehenden Unterteilungen (in généralités , provinces und baillages) ausgehend, der tatsächliche Grenzverlauf bestimmt. Dann wurden in einer Konferenz mit einigen Bewohnern jeder Provinz Korrekturen vorgenommen. Das Teilungskomitee zog Abgesandte der betroffenen Provinzen und ihrer Untergliederungen hinzu, hielt Sondersitzungen mit den Abgeordneten benachbarter Provinzen ab und brachte Streitfragen vor die Versammlung. So nahm ganz Frankreich an den Arbeiten in Form von Petitionen, Delegationen usw. teil 23 , gingen geschichtliche, soziologische und menschliche Faktoren in die Teilung ein. Die Grenzen der alten Provinzen wurden im Ergebnis oft respektiert, wenn auch in ihrem Rahmen reformiert wurde 24 . Die politische Grundentscheidung der Versammlung, den alten Rahmen zu zerstören, taucht aber ζ. B. in der Weigerung auf, von der Größe her zur Umwandlung in ein Departement geeignete Provinzen vorab besonders zu berücksichtigen. Lokale Interessen sollten sich ausdrücken, nicht aber politische Grundentscheidungen in Frage stellen können 25 . Zu E. Sieyès' Gedanken hätte sicher besser gepaßt, tabula rasa und damit Platz für seine neuen Ideen zu schaffen; G. de Mirabeau aber war Opportunist oder jedenfalls realistisch genug, sich zu widersetzen, und stark genug, die Versammlung zu überzeugen 26 — und damit ging Rücksicht vor Rigidität. Insgesamt läßt das den Schluß zu, daß auch eine Versammlung effektiv eine Verwaltungsreform durchführen kann, daß optimales Entscheidungsniveau und „menschlicher" Rahmen nur in vorsichtigem Ausgleich erreicht werden können und daß jede Verwaltungsreform ein politisches Substrat besitzt, das sie bestimmt, hier die Erhaltung der nationalen Einheit 27 . Trotz der geschilderten Sachzwänge und versuchten Rücksichtnahmen wurde das Departement Zielscheibe unzähliger Angriffe, dabei aber wohl auch oft Vehikel für gegen ganz anderes gerichtete Kritiken, erklärbar durch seine Symbolwirkung für die Einrichtungen der Revolution, ihre Abkehr von Vorausgegangenem und schließlich für die Revolution, wenn nicht überhaupt für Neuerungen schlechthin. Ein fast beliebig vermehrbarer Zitatenschatz („barbarische Zerstükkelung ihrer Heimat" 28 , „geographische Katastrophe" 29, „Schachbrett von Fein23

Ebd., S. 72 R. 109.

24

L. Dubreuil, L'idée régionaliste sous la révolution, in: Annales Révolutionnaires, Bd. 9, 1917, S. 595 ff. (603), m. Bspen. 25 «... victoire de l'esprit unitaire... coup mortel au provincialisme.», so J.-L. Puech und T. Ruyssen, Le fédéralisme dans l'œuvre de Proudhon, in: P.-J. Proudhon, Principe, S. 59, Einführung; s. a. M. Bourjol, Institutions, S. 72 R. 109. 26 L. Dubreuil, Idée, Bd. 9, 1917, S. 601; dazu a. P.-J. Proudhon, Principe, Teil I I Kap.I, S. 366f.; ausf. A. Aulard, Départements, S. 12ff. 27

M. Bourjol, Institutions, S. 73 R. 112. - Vgl. zum ganzen a. J. Godechot, Institutions, S. 96 ff., m.w.N. S. 91 f. 28 Vgl. die zeitgenössischen Berichte eines der „klassischen" Zeugen der Franz. Revolution: E. Burke, Reflections on the revolution in France (1790), hg. von C. Cruise O'Brien,

56

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

den der geraden L i n i e " 3 0 ) belegt L. Z)wZ>rew/Zs lakonische Feststellung: «les départements ont une bien mauvaise presse» 31 . Dennoch finden sich auch Verteidiger 3 2 , u n d genauere Studien zeigen die Unhaltbarkeit der (ideologisch bestimmten) Vorwürfe — jedenfalls zu einem großen Teil 3 3 . Wesentlich ernster als der A n g r i f f gegen den „künstlichen" Charakter des Departements war u n d ist dagegen der gegen seine zu geringe (zu gering gewordene) Größe zu nehmen, der m i t fortschreitender Entwicklung v o n Wirtschaft u n d Technik auch i m m e r mehr Gewicht u n d Verständnis fand 3 4 . D a v o n zeugt die weitere Entwicklung 3 5 . b) Aufbau und Funktion der Verwaltung Die verschiedenen Ebenen der Verwaltung waren Gemeinde, Distrikt u n d Departement 3 6 . Keine dieser Ebenen besaß Körperschaftsstatus oder Rechtspersönlichkeit. Repräsentaten der souveränen N a t i o n waren nur K ö n i g u n d gesetzgebende Körperschaft 3 7 . N u r die Legislative gewährte enumerativ Zuständigkeiten an die örtlichen (Wahl-)Beamten. M a n darf i n dieser Beschränkung getrost die Reaktion der bürgerlichen Versammlung auf die „föderalen Aspirationen" der k o m m u n a l e n Bewegung sehen 3 8 . 1976, S. 29: «... I believe the present French power is the very first body of citizens, who, having obtained full authority to do with their country what they pleased, have chosen to dissever it in this barbarous manner. It is impossible not to observe, that in the spirit of this geometrical distribution, and arithmetical arrangement, these pretended citizens treat France exactly like a country of conquest. Acting as conquerors, they have imitated the policy of the harshest of that harsh race. The policy of such barbarous victors, who contemn a subdued people, and insult their feelings, has ever been, as much as in them lay, to destroy all vestiges of the antient country, in religion, in policy, in laws, and in manners; to confound all territorial limits.» 29 30 31

Graf B. di Cavour, zit. nach P. Legendre, Histoire, S. 108. Ο. von Bismarck, ebd. L Dubreuil, Idée, Bd. 9, 1917, S.595 (598).

32

J. Ellul, Histoire 5, S. 60: «sage et rationnelle»; L. de Lavergne, Assemblées, S. 490ff.; ausf. a. A. Aulard, Départements, S. 26: «... la division de la France en départements n'a pas été l'œuvre d'une philosophie géométrique, mais une œuvre de sagesse réaliste, une œuvre aussi prudente qu'il était possible en de tels temps, dans la crise d'une révolution, une œuvre qui n'est point au rebours de l'histoire et de la tradition, une œuvre qu'il s'agit bien plus de développer aujourd'hui que de contredire, une œuvre enfin dont l'esprit et la méthode, bien conformes au génie français, inspireront utilement les régionalistes démocrates, les régionalistes républicains.», u. passim. 33

L Dubreuil, Idée, Bd. 9, 1917, S. 599.

34

Vgl. (schon früh) A. Vivien, Etudes administratives, 1. Aufl. 1845,2. Aufl. 1852, näher unten I I 3 m. w. Ν. 35 Einen Überblick über erste Versuche in dieser Richtung gibt M. Bourjol, Institutions, S.91 f. R. 159 ff. 36 T i t e l l l Art. 1 Verf. 1791. 37 Titel I I I Art. 2 S.2 u. Kap. IV Abschn. I I Art. 2 S. 1 Verf. 1791. 38

s. schon ο. 11.

I. Revolutionszeit und weitere Entwicklung

57

Auf jeder Ebene fanden sich ein beschließendes Organ und eine doppelte Exekutive, für Departement und Distrikt Rat (conseil), Direktorium und „Obmann" (procureur syndic), für die Gemeinde Generalrat (conseil général), Büro und Bürgermeister (maire). Rat und „Obmann" bzw. Bürgermeister wurden von den (den Zensus erfüllenden) ,4Ät/vbürgern gewählt, das (kollektive) Direktorium bzw. Büro vom Rat bzw. einem Teil von ihm (corps municipale). Der Procureur beruhte auf einer Idee aus dem Ancien Régime und war eine Art Selbstkontrolle und direktdemokratischer (und damit das Mißtrauen gegenüber jeder Erscheinungsform repräsentativer Demokratie bezeugender) Aufsicht. (Als die Exekutive ebenfalls direkt vom Volk ausging, wurde der Procureur von der Exekutive ernannt und erbte unter dem Namen „Präfekt" die Stellung des Intendanten des Ancien Régime und des Procureurs der Revolution.) 39 . So sah denn auch die Organisation auf zentraler Ebene nach dem Verschwinden der monarchischen Exekutive aus: Einer allmächtigen Versammlung war eine kollegiale Exekutive untergeordnet. In den auf örtlicher Ebene geschaffenen Einrichtungen verriet die Versammlung, was sie heimlich auch auf zentraler Ebene wollte 40 . Die umfangreichen Zuständigkeiten des Departements für eigene und übertragene Angelegenheiten beinhalteten freilich weder Steuererhebungs- noch -verteilungsrecht, die der gesetzgebenden Versammlung vorbehalten blieben. Die Zuständigkeiten der Distrikte waren etwas geringer. Die Gemeinden wiederum hatten einen sehr weiten Zuständigkeitsbereich 41. Hier sind bereits die später erst erfolgende Unterscheidung zwischen Dezentralisation und Dekonzentration sowie die Doppelfunktion des Bürgermeisters als örtlicher Exekutive und Staatsbeamter angelegt42. Die Aufsicht war uneinheitlich und wenig systematisch. Die (staatliche) Exekutive behielt das Kontrollrecht über die Gebietsverwaltungen; die gesetzgebende Versammlung aber mußte Entlassungen zustimmen, hatte alleine das Auflösungsrecht für die Räte und kontrollierte auch das Finanzgebaren des Departementrats. Dieser wiederum konnte Akte der Distrikte aufheben und ihre Räte entlassen, wenn auch nur mit königlicher Zustimmung und legislativer Kontrolle 43 . Wirkungsvolle Volksaufsicht fand durch den Procureur statt, der schließlich der starke Mann des Departements werden und den Präsidenten des Departementrats ausstechen sollte 44 . 39

M. Bourjol, Institutions, S.75 R. 117.

40

Ebd., S.74 R. 116; vgl. dazu Art.63, 65 Verf. A n i (1793).

41

Vgl. zu Einzelheiten M. Bourjol, Institutions, S.74ff. R. 115 ff.

42

Vgl. J. Ellul, Histoire 5, S. 60 ff. Kap. IV Abschn. I I Art. 6 Verf. 1791.

43 44

M. Bourjol, Institutions, S.77 R. 121. — Vgl. zum ganzen a. P. Legendre, Histoire, S. 107 ff.; /. Imbert/G. Sautel/M. Boulet-Sautel, Histoire des institutions et des faits sociaux, 1956, S. 234 ff.

58

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

3. Das „Gespenst des Föderalismus" und die „Re-"Zentralisation: Die Auseinandersetzung zwischen Jakobinern und Girondisten Die Zeit der sich mit der Ausschaltung der Girondisten (1793) radikalisierenden Revolution wurde für die weitere Entwicklung außerordentlich wichtig. Nur vor ihrem Hintergrund ist die folgende autoritäre Herrschaft (mit Unterbrechungen bis zum Ende der ersten Hälfte des II. Empire) als Reaktion auf Chaos und Anarchie verständlich. Aber auch die bis in aktuelle Reformdiskussionen nachwirkenden Identifizierungen von Jakobinern mit „Revolutionären", „Republikanern" und „Zentralisten", von Girondisten mit „Konterrevolutionären", „Monarchisten" und „Föderalisten" nehmen hier ihren Ausgang; als die Auseinandersetzung zwischen Jakobinern und Girondisten ihren blutigen Höhepunkt erreichte, war Föderalismus das Synonym für die Gironde , so wie dann sein Schicksal mit ihrem besiegelt war. So stellen sich die Fragen nach der historischen Wahrheit dieser Entsprechungen und nach den Hintergründen des Machtkampfes. a) Föderalismus in Montagne und Gironde Man mag in den Provinzversammlungen des Ancien Régime und in der kommunalen und föderalen Bewegung zu Beginn der Revolution durchaus embryonäre „Bundesstaats"-Strukturen sehen45. Angesichts der Unerfahrenheit der gesetzgebenden Versammlung spielten die Departements von August 1790 bis August 1792 eine wichtige Rolle 46 , und mit dem neu erweckten demokratischen Bewußtsein waren Selbstbestimmungsforderungen der Provinzen (jedenfalls in den als „örtlich", als „eigen" empfundenen Bereichen gerade kultureller, aber auch wirtschaftlicher Prägung) natürlich verbunden. Inwieweit in dem revolutionären Chaos tatsächlich Abspaltungsbewegungen neu- und wiedererstanden und wie ernsthaft und aussichtsreich sie waren, ist umstritten 47 . Aber wenn man 45

Zu weitgehend aber wohl P.-J. Proudhon, Principe, Teil I I Kap. I, S. 365: «Cependant Pidèe fédérative, indigène à la vieille Gaule, vivait comme un souvenir au cœur des provinces, lorsque la Révolution éclata. La fédération, on peut le dire, fut la première pensée de 89. L'absolutisme monarchique et les droits féodaux abolis, la délimitation provinciale respectée, tout le monde sentait que la France allait se retrouver en confédération, sous la présidence héréditaire d'un roi. Les bataillons envoyés à Paris de toutes les provinces du royaume furent appelés fédérés. Les cahiers fournis par les Etats qui s'empressèrent de ressaisir leur souveraineté, contenaient les éléments du nouveau pacte.»; s. dazu J.-L. Puech / T.Ruyssen , Fédéralisme, S. 59: «erreur manifeste»; vgl. umfassend zum „Föderalismus" der Revolution H. Wallon, Révolution; Α. Metin, La Révolution et l'autonomie locale, 1905; Α. Aulard, Patriotisme. 46 47

L. Dubreuil, Idée, Bd. 10, 1918, S.231ff.

Vgl. dazu die auf umfassendem Quellenstudium beruhende, psychologische und ökonomische Faktoren einschließende Analyse entsprechender Bestrebungen bei L. Dubreuil, Idée, Bd. 9,1917, S. 595 (597), Bd. 11,1919, S. 50 ff, mit der Folgerung, S. 60: «En somme, de provincialisme, de régionalisme, l'on n'en trouverait nulle part. Les nécessités de la lutte exigent naturellement une organisation qui soit, autant que possible, régionale; mais aucun principe ne préside à cette organisation.»; ausf. a. A. Aulard, Patriotisme, S. 101 ff, der zu dem Ergebnis kommt, Partikularitätsbestrebungen hätten in den Provinzen nur in Grenz-

I. Revolutionszeit und weitere Entwicklung

59

auch in einzelnen Provinzen Selbständigkeitsbestrebungen feststellte, läßt sich insgesamt eine Gefahr für die nationale Einheit kaum bejahen; zu stark waren (National-)Patriotismus und unitarischer Geist schon verwurzelt 48 . Die Gleichsetzung von Föderalismus und Separatismus erwies sich aber als wirksame Waffe im politischen Kampf. Nach der Abschaffung der Monarchie mußte man an J.-J. Rousseaus Worte denken 49 , der die Errichtung einer Republik in einem großen Flächenstaat bekanntlich für unmöglich hielt 50 . So schlugen 1791 Billaud-Varenne und 1792 Lavicomterie — beide Jakobiner 51 — die Errichtung einer föderalen Republik in Frankreich vor und — scheinbar als einziger Politiker unter direkter Bezugnahme auf J.-J. Rousseau — ebenso Terasson im gleichen Jahr 52 . Nach ausführlichem Quellenstudium kommt A. Aulard zu dem Schluß, daß Buzet, einer der Chefs der Gironde, zwar einen „theoretischen Vorzug für den Föderalismus" hegte, insgesamt aber die Girondisten keineswegs föderalistischer waren als die Montagnards 53. Sicher stand die gemäßigtere Gironde „der Provinz" und föderalem Gedankengut näher als die in Paris tonangebende radikalere Montagne, die Girondisten hatten den Föderalismus aber durchaus nicht für sich gepachtet. Falsch ist auch — jedenfalls 1793 —, der Gironde pauschal royalistische Neigungen nachzusagen54. So wird der Unterschied in den politischen Auffassungen zwischen Montagne und Gironde meist übertrieben, ihn auf den Gegensatz Zentralismus/Föderalismus zu reduzieren ist jedenfalls falsch. Freilich gab es auch reale Unterschiede, die vor dem Hintergrund des zeitlichen Verlaufs der Revolution deutlich werden. regionen u. weit vom Zentrum entfernten oder erst kürzlich der Krone unterworfenen Gebieten bestanden (S. 106), s. a. S. 111 ff., bes. 120ff.; s. a. das Urteil/?-/ Proudhons, Principe, Teil I I Kap. I, S.368, u. o. Fn.45. 48 A. Aulard, Patriotisme, S. 107. 49

Vgl. zum Einfluß J.-J. Rousseaus auf die Französische Revolution schon ο. A I I 2 c, u. /. Fetscher, Rousseau, S. 258 ff. 50

s. ο. A I I 2 m. w. N.

51

Dazu A. Aulard, Histoire, S. 135 f., 264, 401. Der mit seinem Vorschlag im Club der Jakobiner aber nur auf Ablehnung stieß, I. Fetscher, Rousseau, S.263. 52

53

A. Aulard, Histoire, S. 401 f. m. w. Ν.; s. a. ebd., S. 413 f., dagegen finden sich manche Zeugnisse für den alten Streit Paris-Provinz, s. ebd., S. 402 m. w. N.; so a. G. Dupuy, in: C. Gras / G. Livet, Régions, S. 156, Aussprache: «Ce centralisme est marqué politiquement, il coincide avec la guerre mais aussi avec la Commune insurrectionnelle du 10 août. Le prétendu fédéralisme, c'est le contraste entre un Paris révolutionnaire de plus de 600 000 habitants et des élites provinciales modérés convaincues que la capitale veut les dévorer, telle Rome asservissant les provinces. C'est le premier acte d'un conflit province modérée-Paris révolutionnaire qui est une des caractéristiques majeures du X I X e siècle en France.»; vgl. ferner F. Burdeau, Affaires, S. 765 (775 ff., bes. 776). 54

In ihren Reihen befand sich ζ. Β. der bekannte Republikaner Condorcet, vgl. A. Aulard, Histoire, S. 397, mit einem Erklärungsansatz S. 398; der Vorwurf wurde durchaus a. umgekehrt erhoben, ebd., S. 414.

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

60

b) Die Souveränitätsfrage Die neuere französische Geschichtsschreibung unterscheidet deutlich drei Phasen der revolutionären Entwicklung: Die „aristokratische" Revolution von 1787 bis 1788, die „liberale"von 1789 bis 1791 und die „demokratische"bis 1793, die in die Diktatur der Jakobiner 1793/94 mündete 55 . Die Angelpunkte der Radikalisierung der Revolution waren die Forderung nach Gleichheit und allgemeinem Wahlrecht 56 . Die egalitäre Tendenz erstrebte die Befreiung der Menschen durch die Aufhebung der Privilegien in der sozialen Ordnung, aber auch die Abschaffung der Zwischenglieder (corps intermédiaires). Jedes Glied sollte unter der obersten Leitung des Gemeinwillens (volontégénérale) ein untrennbarer Teil des Ganzen werden 57 . In der Frage des Wahlrechts standen sich nach Überwindung der Fürstensouveränität zwei verschiedene Souveränitätskonzeptionen gegenüber: die der nationalen Souveränität war mit einem eingeschränkten Wahlrecht vereinbar 58, die der Volkssouveränität war Ausdruck der raschen Radikalisierung der revolutionären Bewegung und zielte auf ein allgemeines Wahlrecht 59. In diesen Fragen bestanden zwischen den Parteien verschiedene Auffassungen, wie auch zwischen Paris und „der Provinz". c) Die Führungsrolle

von Paris

Zahlreiche Provinzen waren von „Konservativen" und „Konterrevolutionären" beherrscht, die „dynamischen Kräfte" der Revolution in Paris konzentriert. Sollte das Land revolutioniert werden, dann mußte die Republik — unter Führung von Paris — „eins und unteilbar" sein 60 . Als die revolutionäre Versammlung (convention) 1792 daran ging, die Gebietsverwaltung nach ihren politischen Vorstellungen 55 Ebenso sind auch verschiedene Entwicklungsstadien bei den Jakobinern — wegen der erhöhten Anordnung ihrer Bänke in der Versammlung auch „Montagnards" genannt — zu unterscheiden: Zuerst dominierten adelige Parlamentarier im Club, dann republikanische Journalisten, darunter der frühe M. de Robespierre («jacobinisme des journalistes», GastonMartin, Les Jacobins, 1945, S. 49), und erst 1793 begann die Radikalisierung mit Dumas, A. de Saint-Just, Couthon u. dem sich ebenfalls radikalisierenden M. de Robespierre, die schließlich zum Thermidor führte; vgl. zum ganzen /. Fetscher, Rousseau, S. 276 ff. m. w. N. 56

I. Fetscher, Rousseau, S. 277.

57

Hier kommen in unterschiedlicher Weise die Ideen J.-J. Rousseaus und Montesquieus zur Wirkung, s. dazu schon o. A II. 58

Durch ein einkommensbezogenes indirektes Wahlsystem standen 45 000 Bürgern, die die Abgeordneten wählen konnten, 3 Mio. „passive Bürger" gegenüber. 59 M. Bourjol, Institutions, S. 78 R. 123; J.-P. Jacqué, La Souveraineté frannçaise et l'élection du Parlement Européen au suffrage universal direct, in: G. Ress (Hg.), Souveränitätsverständnis in den Europäischen Gemeinschaften, 1980, S. 71 ff. (73 f.). 60 Zur Rolle von Paris als Instrument der Revolution s. a. A. de Tocqueville, Ancien Régime, Buch I I Kap. VII, S. 141, unter Hinweis auf A. Youngs Reiseberichte, u. S. 142; zum „Stadt-Land"-Gegensatz in der Entwicklung der Revolution s. a. L. Dubreuil, Idée, Bd. 10, 1918, S. 469 (498 ff.).

I. Revolutionszeit und weitere Entwicklung

61

zu ordnen, ergaben die (vorzeitigen) Neuwahlen auf Gemeinde- und Departementebene wieder Vorteile für die Gironde, und erst eine nochmalige Neuwahl in Paris brachte diese Kommune in die Hand der Jakobiner 61. So standen sich die Zentralgewalt als Instrument der sich auf Paris stützenden Diktatur der Jakobiner und die örtlichen Kräfte, besonders auf Departementebene, gegenüber, die wegen des (bisher) beschränkten Wahlsystems Instrumente des gemäßigten Bürgertums waren 62 . Auch forderten die Jakobiner in Kriegszeiten für Paris die Führungsrolle, während die Girondisten die Vormacht von Paris fürchteten und ausnahmslos seine Gleichstellung mit den Departements verlangten 63. Da sich die Girondisten in Paris nicht durchsetzen und die Vormacht der (radikalen) Kommune über den Konvent fürchteten, riefen sie die Departements auf, sich gegen Paris zu „föderieren" 64 . Mit den gemäßigten Kräften in den Departements verbanden sich nun Konterrevolutionäre und Royalisten, vor allem in deren Hochburgen Lyon, Toulouse, Bordeaux und in der Vendée65. Der Aufstand brach in Lyon aus 66 , doch noch bevor die Nachricht in Paris eintraf 67 , hatte die Kommune gehandelt. d) Die Ausschaltung der Girondisten und die Diktatur der Jakobiner Als die Gironde am 2. Juni 1793 auf Betreiben der aufständischen Kommune aus dem Konvent geworfen wurde 68 , blieben einige ihrer Anführer in Paris (im Gefängnis), andere organisierten den Aufstand in der Provinz 69 . Zeitweiligen Erfolg hatten sie aber nur in Gebieten, wo sich schon Nationalprobleme stellten und die sich ohnehin im Aufstand befanden. Der Konvent entsandte Beauftragte (représentants en misson), die in den aufständischen Direktorien und Büros jakobinische Mitglieder ernannten und „Ordnung" schufen. Die Procureure wurden durch vom Wohlfahrtsausschuß (comité du salut public) abhängige Nationalbeauftragte (agents nationaux) ersetzt 70, die Departements zeitweise entmachtet 71 . Die ganze Gebietsverwaltung wurde so unmittelbar vom Wohlfahrtsausschuß bestimmt, nur die (dem Konvent direkt unterstellten) „revolutionären" 61

J. Ellul, Histoire 5, S. 112 f. Während sich die Gironde auf die Departements stützen konnte, wandten sich die Gemeinden gegen sie, vgl. A. Aulard, Histoire, S. 431 f.; zur Rolle der Gemeinden s. L. Dubreuil, Idée, Bd. 10, 1918, S.469 (498 ff.), u. ο. 11. 62

63 A. Aulard, Histoire, S. 402 f. m. w. Ν., u. nochmals nachdrücklich S. 418; zu den Einzelheiten, ebd., S. 426 ff. 64 J Ellul, Histoire 5, S. 112 f. 65

J.-L. Puech/T. Ruyssen, Fédéralisme, S. 60.

66

A m 29.5.1793; dazu A. Aulard, Histoire, S. 436 f.

67

Jedenfalls erst nach dem 2.6.1793, ebd., S. 437.

68

Zu den Einzelheiten ebd., S. 433 ff., bes. S.438f.

69

Ebd., S. 441 ff.

70

J. Ellul, Histoire 5, S. 112 f.

71

Α. Aulard, Histoire, S.51 If.

62

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

Distrikte erhielten neue Befugnisse 72. Die «sainte montagne», „Retterin des Volkes", hatte sich durchgesetzt, das „Gespenst des Föderalismus" war gebannt. Freilich war es nun auch um die Freiheit von Gemeinden und Departements geschehen73. Dabei hatte M. de Robespierre selbst vor dem Konvent von der Begrenzung der Macht der Regierungen zum Nutzen der Freiheit und des Glücks der Völker gesprochen, vor der „alten Manie der Regierenden, zu viel regieren zu wollen", gewarnt und gefordert, den Gemeinden selbst die Entscheidung ihrer eigenen Angelegenheiten zu überlassen 74. Freilich verlangte der Zustand innerer und äußerer Bedrohung durch Krieg und Anarchie, in dem sich das Land 1793 befand, nach einer straffen Führung 75 . So standen hinter der Entsendung der 82 Beauftragten und der folgenden Zentralisierung durch die Jakobiner Ordnungs- und Machtwille zugleich76. Doch gelang auch dem diktatorisch regierenden Wohlfahrtsausschuß nicht, das Land zu befrieden, die Revolution fraß ihre Kinder. e) Folgerungen So haben die Girondisten wohl zu Recht dem Vorwurf der Jakobiner widersprochen, sie wollten unter Ausbeutung separatistischer Gefühle einiger Provinzen aus Angst vor der Herrschaft der Hauptstadt — und das hieß: der Montagne — Frankreich teilen. Doch war dieser Vorwurf als Appell an den patriotischen Geist der französischen Mehrheit geeignet, eine den Jakobinern eher ungünstige Stimmungslage umzukehren 77 . Mit der Gefahr der Auflösung der nationalen Einheit 72

J. Ellul, Histoire 5, S. 112 f.

73

Α. Aulard, Histoire, S. 443 ff.

74

Rede vor der Convention am 10.5.1793, zit. nach M Bourjol, Institutions, S. 80 Fn. 1.

75

s. dazu a. Gaston-Martin, Jacobins, S. 58: «nécessité du despotisme de la liberté»; M. Dendias, Le Gouvernement local, 1930, S. 129: «il était devenu urgent de rétablir, par n'importe quels moyens, une centralisation qui seule pouvait sauver le pays.» 76

Vgl. dazu Λ. Soboul, in: C. Gras / G. Livet, Régions, S. 156, Aussprache: «Ce sont les circonstances, la contre-révolution et la guerre qui ont forcé les jacobins à l'instauration du gouvernement révolutionnaire et donc à la centralisation. La centralisation jacobine doit être replacée très précisément dans son cadre historique: en 1793, à l'heure du plus grand péril de la nation révolutionnaire.» So meinte a. /. Godechot, Histoire, S. 761, die Convention sei in ihrem Werk der Verwaltungsreform nicht mehr frei gewesen und der Krieg habe ihr ein Programm exzessiver Zentralisation aufgezwungen; ebenso betonte /. Fetscher, Rousseau, S. 258, „daß die französischen Revolutionäre in erster Linie praktische Aufgaben u. Probleme zu lösen hatten." — s. aber a. die Frage P.-J. Proudhons, Principe, Teil I I Kap. I, S. 368 f.: «D'autre part, si les Jacobins, demeurés seuls au pouvoir, ont pu, dans une certaine mesure, se glorifier d'avoir sauvé la Révolution et vaincu la coalition à Fleurus, ne sauraiton avec tout autant de justice leur reprocher d'avoir créé eux-mêmes, en partie, le danger pour le conjurer ensuite; d'avoir par leur fanatisme, par une terreur de quatorze mois et par la réaction qu'elle provoqua, fatigué la nationn, brisé la conscience publique et déconsidéré la liberté?»

I. Revolutionszeit und weitere Entwicklung

63

konnte auch die Ausschaltung eines jeden begründet werden, der sich den politischen Vorstellungen der sich z u m H ü t e r der nationalen Einheit aufschwingenden Jakobiner u n d ihrer zentralistischen Diktatur i n den Weg stellte 7 8 . Letztlich war die Zuflucht der Gironde zur Föderation der Departements ebenso nur M i t t e l z u m Zweck wie die Zentralisation der Jakobiner. Nach alldem sind Jakobinismus u n d Zentralismus nicht i n eins zu setzen. Der Jakobinismus war unitarisch, aber dezentralistisch; er wurde zentralistisch erst aufgrund der politischen Umstände 7 9 . Ebenso war die Gironde nicht aus Prinzip föderalistisch, u n d schon gar nicht etwa separatistisch 80 . Gleichwohl begründeten diese falschen Gleichungen einen noch lange wirkenden M y t h o s 8 1 u n d den Beigeschmack des Föderalismus nach Konterrevolution, fast Verrat 8 2 .

77

So L. Le Fur, Etat fédéral et Confédération d'Etats, 1896, S. 303 ff.

78

s. a. H. Wallon, Révolution, Bd. I, S. IV: «Mais un mot était trouvé pour ruiner cette entreprise généreuse: Fédéralisme!et c'est avec les mots, celui-là ou un autre, que l'on a toujours réussi en France à se défaire d'un adversaire.» 79

s. L. Dubreuil, Idée, Bd. 9,1917, S. 595 (597): «Mais il m'a semblé que les plus ardents d'entre eux n'ont été que des centralisateurs de circonstance et que leur rêve — qui est le rêve de plus d'un d'entre nous — consistait à créer un municipalisme puissant, assez souple pour ne pas exclure la constitution de régions, pour ne pas porter atteinte à l'intégrité et à l'unité du pays.» 80

s. a. P.-J. Proudhon, Principe, Teil I I Kap. I, S. 369: « . . . j e dirai franchement que la nation française, constituée depuis quatorze siècles en monarchie de droit divin, ne pouvait du soir au matin se transformer en république quelconque; que la Gironde, accusée de fédéralisme, représentait mieux que les Jacobins la pensée de la Révolution, mais qu'elle fut insensée si elle crut à la possibilité d'une conversion subite; que la prudence, nous dirions aujour-d'hui la loi du progrès, commandait les tempéraments, et que le malheur des Girondins fut d'avoir compromis leur principe en l'opposant à la fois à la monarchie de Sieyès et de Mirabeau et à la démocratie des Sans-Culottes, devenues en ce moment solidaires. Quant aux Jacobins, j'ajouterai avec la même franchise qu'en s'emparant du pouvoir et en l'exerçant avec la plénitude des attributions monarchiques, ils se montrèrent, pour la circonstance, plus avisés que les hommes d'Etat de la Gironde; mais qu'en rétablissant, avec un surcroît d'absolutisme, le système de la royauté sous le nom de république une et indivisible, après avoir sacré cette république du sang du dernier roi, ils sacrifièrent le principe même de la Révolution et firent preuve d'un machiavélisme du plus sinistre augure. Une dictature temporaire pouvait s'admettre; un dogme, qui devait avoir pour résultat de consacrer tous les envahissements du pouvoir et d'annuler la souveraineté nationale, était un véritable attentat. La république une et indivisible des Jacobins a fait plus que détruire le vieux fédéralisme provincial, évoqué peut-être mal à propos par la Gironde; elle a rendu la liberté impossible en France et la Révolution illusoire.» 81 Zu dieser und anderen ideologischen Befrachtungen der aktuellen Debatte vgl. Y. Mény, Centralisation et Décentralisation dans le débat politique français, 1974, S. 60 u. passim. 82 P.-J. Proudhon, Principe, Teil I I Kap. I, S. 367: «Comme il l'avait été à Versailles après l'ouverture des Etats-Généraux, le fédéralisme fut vaincu pour la seconde fois à Paris dans la journée du 31 mai 1793. Depuis cette date néfaste tout vestige de fédéralisme a disparu du droit public des Français; l'idée même est devenue suspecte, synonyme de contre-révolu-

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Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

Der Einfluß der „Klassiker" sollte bei all dem auch nicht überschätzt werden. Die französischen Revolutionäre hatten in erster Linie praktische Aufgaben und Probleme zu lösen und bedienten sich theoretischer Argumente meist nur zur Selbstverständigung oder zur nachträglichen Rechtfertigung ihres Vorgehens; als Arsenal standen dabei neben J.-J. Rousseaus politischer Philosophie G. deMably, D. Diderot und andere zur Verfügung, doch aus mancherlei Gründen war die Berufung auf J.-J. Rousseau besonders verführerisch und erfolgversprechend 83, jedenfalls seine Souveränitätskonzeption war zeitweilig gut benutzbar. So teilt J.-J. Rousseau (neben J. Bodin und sogar C. de Montesquieu) das Schicksal vieler Klassiker, als „Waffenlager" mißbraucht, als unbequeme Mahner aber verschwiegen zu werden. Insgesamt zeigt sich, daß Entsprechungen zwischen politischen Richtungen und der Auffassung zu Föderalismus und Dezentralisation genau wie zur Souveränität nicht so sehr inneren Zusammenhängen, sondern eher pragmatischen Machterwägungen folgen. Demnach müßten sich stets föderalistische, wenigstens dezentralisatorische Opposition und zentralistisch/unitarische Regierung egal welcher Couleur gegenüberstehen: Wer Paris hat, hat die Macht, wer sie streitig machen will, braucht die Provinz.

4. Das Direktorium (1795-1799) Das Direktorium markiert die Übergangsphase von der sich radikalisierenden Revolution, der es Einhalt gebot, zum Kaiserreich, die Rückeroberung der Vormacht der Exekutive und die Schwächung der Versammlungen, schließlich die Rückkehr zum beschränkten Wahlrecht 84. Die Verfassung des Jahres I I I (1795) war sehr zentralistisch und etatistisch, sie bestimmte ausführlich 85 und vorsichtig 8 6 den Aufbau der Verwaltung. Das Departement wurde verfassungsrechtlich abgesichert 87, die Distrikte als Instrumente der Diktatur der Jakobiner 88 wurden aufgehoben, die kleinen tion J'ai presque dit de trahison. La notion s'est effacée des intelligences: on ne sait plus en France ce que signifie le mot de fédération, qu'on pourrait croire emprunté au vocabulaire sanscrit.» 83 Vgl. näher I. Fetscher, Rousseau, S. 258 ff. m.w.N. 84 Art. 35 Verf. an I I I (1795); Souverän ist jetzt nicht mehr das — „nicht genügend aufgeklärte" —Volk, sondern sind die citoyens : Festigung der Macht der Bourgeoisie; allgemein zur politischen Situation vgl. J. Ellul, Histoire 5, S. 130 ff, u. ausf. A. Aulard, Histoire, S. 543 ff, bes. 570 ff. 85

Art. 174-210 Verf. an I I I (1795). «contre les aventures, populaires ou dictatoriales», J. Ellul, Histoire 5, S. 130; vgl. ζ. Β. Art. 199 Verf. an I I I (1795)! 86

87 88

Art. 3 Verf. an I I I (1795).

Zur Sicherung ihrer Vormacht gegenüber den sich auf die Departements stützenden Girondisten, s. o. 3 c

I. Revolutionszeit und weitere Entwicklung

65

Gemeinden (unter 5000 Einwohner) im Kanton zusammengefaßt 89: Geburtsstunde der «municipalité de canton». Die Entscheidung verlagerte sich also vom Distrikt zum Departement und von der Kommune zum Kanton, d. h. weg vom Bürger. Die Gemeinden von 5000 bis 100 000 Einwohner wurden autonom verwaltet, größere aufgeteilt 90: „die Gironde nahm ihre Rache"91. Dem Departement stand jetzt ein fünfköpfiges, indirekt und nach eingeschränktem Wahlrecht gewähltes Direktorium vor, der Kanton wurde von den (ebenso gewählten) Gemeindebeauftragten (agents municipaux) der zusammengefaßten Gemeinden verwaltet, ihr Präsident besonders gewählt 92 . Auf jeder Verwaltungsebene gab es einen Regierungskommissar (commissaire du gouvernement Ρ als Nachfolger des Procureur, der sich praktisch an die Stelle der örtlichen Autorität setzte und die eigentliche Macht besaß94. Nur das Departement kontrollierte noch die Kantonalverwaltung — Erbe der Revolution 95 . In Widersprüchen zwischen Erbstücken der Zentralisation und der Saat der Dezentralisation, zwischen aufsteigender Exekutive und geschwächter Legislative, zwischen beschränktem Wahlrecht und dem Aufbegehren des Volkes (germinal, prairial 1795) wurde das Direktorium geschwächt. Die örtlichen Strukturen entwickelten sich nun entsprechend dem vorhergegangenen Ablauf, nur in umgekehrter Richtung, entsprechend dem Kräfteverhältnis auf zentraler Ebene, bis hin zu den Reformen von Konsulat und Empire 96 .

5. Konsulat (ab 1799) und I. Empire (1804-1815) Die formelle Starrheit der Verfassung des Jahres I I I (1795) hatte schon eine Reihe von „kleinen Staatsstreichen" 97 provoziert und verlangte nach einer Revolution zur Anpassung der Verfassung an die geänderten Verhältnisse und die wachsenden Nöte von Regierung und Volk. Nach dem Staatsstreich (18 brumaire des Jahres V I I (1799)98 arbeiteten die Konsuln 99 in pragmatischer Arbeit eine autoritäre Verfassung auf der Basis der Texte des Jahres I I I (1795) aus 100 . Die Verfas89

Art. 5 Verf. an I I I (1795).

90

Art. 183, ebd. M. Bourjol, Institutions, S. 84 R. 134.

91 92

Art. 177-181 Verf. an I I I (1795).

93

Art. 192, ebd.

94 Vgl. Art. 191, ebd.; s. a. M. Hauriou, Etude sur la décentralisation, 1892, S. 29 R.59; J. Ellul, Histoire 5, S. 140f.; im einzelnen A. Aulard, Histoire, S. 605 ff. 95 96 97

J. Ellul, Histoire 5, S. 152.

98

Dazu Α. Aulard, Histoire, S. 701.

99

General Bonaparte war nun Erster Konsul. A. Aulard, Histoire, S. 704 ff.

100

5

Art. 193 Verf. an I I I (1795). M. Bourjol, Institutions, S.85 R. 141.

Sparwasser

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Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

sung des Jahres V I I I (1800) wurde nach der Rückkehr innerer und äußerer Stabilität im Jahr X (4.8.1802) und im Jahr X I I (18.5.1804) „modifiziert" durch Einführung des Konsulats auf Lebenszeit und (mit der Einführung der Vererblichkeit der Macht Bonapartes) des (I.) Empire 101 . Der autoritäre Staat hatte Gestalt angenommen. Der Ausgestaltung der Verwaltung in dieser Zeit kommt besondere Bedeutung zu, weil sie als Muster eines autoritären Regimes gilt 1 0 2 , aber auch, weil sie, nach einer Zeit der Unruhe, des Umbruchs und vieler Reformen wieder eine relative Stabilität und Ruhe in die Verwaltung bringend, von der Bevölkerung gut aufgenommen wurde und bis in die V Republik hinein ausstrahlt. Departement und Gemeinden wurden beibehalten, das Bindeglied dazwischen änderte sich wieder, die Entscheidung für das Arrondissement 103 beendete das Zögern des Gesetzgebers zwischen Distrikt und Kanton 104 . Der Inhalt dieses Rahmens (aus Departement, Arrondissement und Gemeinde) wurde den Erfordernissen eines autoritären Regimes angepaßt, die Vormacht der Exekutive gesichert und die Allmacht der Versammlung beendet. Der Präfekt war der starke Mann des Depârtements und „Schlußstein" des gesamten Verwaltungsgebäudes. Schon nach den Materialien erscheint er als der Erbe des Intendanten des Ancien Régime 105 . Er verkörperte den Gedanken der „Handlungseinheit" (unité d'action), der die Verwaltung zu kennzeichnen habe 106 . Ursprünglich von der Regierung aus einer Liste von Honoratioren (notabilités) des Departements bestimmt, wurde er seit dem Jahr X I I (1804) vom Kaiser frei ernannt und war jederzeit absetzbar. Meist wurde er nach seinen technischen und administrativen Fähigkeiten ausgewählt, weniger nach seiner politischen Richtung 1 0 7 . Dem Präfekten oblagen zwar alle Verwaltungsaufgaben (außer Finanzwesen), darunter auch die Gemeindeaufsicht 108, andererseits war aber seine Abhängigkeit von Paris so groß, daß er eher als Vollstrecker der Zentralgewalt

101 Zu den Einzelheiten A. Aulard, Histoire, S. 712 ff. u. 748 ff, u. / Ellul, Histoire 5, S. 155 ff. 102 «première administration cohérente et rationnelle d'un Etat autoritaire, parfait instrument de centralisation», /. Ellul, Histoire 5, S. 164. 103

Art. 1 e r Verf. an V I I I (1799). M. Bourjol, Institutions, S. 85 R. 145; der Kanton wurde ohne eigene Verwaltungsaufgaben beibehalten, s. dazu J. Ellul, Histoire 5, S. 165. 104

105

R Legendre, Histoire, S. 138 ff.

106

Ebd, S. 142. J. Ellul, Histoire 5, S. 164: «premier magistrat».

107 108

Das circulaire vom 21 ventôse an V I I I gab dem Präfekt eine umfassende Kontrollgewalt von militärischen über Verwaltungs- bis hin zu wirtschaftlichen Angelegenheiten. «Votre mission s'étend à toutes les branches de l'administration intérieure. Vos attributions embrassent tout ce qui tient à la fortune publique, à la prospérité nationale, au repos de vos administrés», zit. nach M. Bourjol, Institutions, S. 87 R. 150.

I. Revolutionszeit und weitere Entwicklung

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denn als ihr Vertreter angesehen werden mußte 109 . Freilich sicherten ihm die Zwänge der Entfernung und die Schwierigkeiten der Kommunikation eine gewisse Unabhängigkeit, so daß Napoleon sagte: „Erst einmal hundert Meilen von der Hauptstadt, haben die Präfekten mehr Macht als ich selbst" 110 . Daneben bestanden auf Departementebene Präfekturrat (conseil de préfecture) und Generalrat (conseil général). Der Präfekturrat unter Vorsitz des Präfekten hatte zum einen verwaltungsgerichtliche, zum anderen beratende Aufgaben: „beratende Verwaltung - Tochter des Zentralismus" 111 . Dem Generalrat oblag die Verteilung der Steuereinnahmen, er tagte nur einmal jährlich und wurde mehr und mehr übergangen. Seine Mitglieder wurden (wie die der Arrondissementund Gemeinderäte auch) zunächst aus einer Vertrauensliste (liste de confiance) ernannt 112 , später wurden wenigstens die Gemeinderäte kleiner Gemeinden (bis 5000 Einwohner) direkt gewählt; für die übrigen Räte blieb es bei der Ernennung aus einer Vorschlagsliste: «la confiance vient d'en bas, l'autorité d'en haut» 113 . Arrondissement- und Gemeinderat entsprachen dem Generalrat in Aufgaben und Bedeutungslosigkeit. Die Bürgermeister wurden vom Präfekt bzw. auf seinen Vorschlag vom Staatschef ernannt (unter bzw. über 5000 Einwohner). Zunächst in allen Städten mit über 100 000 Einwohner, später nur noch in Paris gab es für jedes Viertel (quartier, in Paris: arrondissement) einen eigenen Bürgermeister 114, aber einen gemeinsamen Stadtrat (conseil municipal, in Paris den—neben dem Polizeipräfekten machtlosen — Conseil général de la Seine) 115. Diese Ausgestaltung bedeutete die Zentralisation aller Macht in der Hand eines einzigen, plebiszitär bestimmten regierenden Mannes. Sie entsprach seinem mäßigen Interesse an der Innenpolitik, wenn er erst einmal den Anstoß gegeben hatte und die Präfekten die zur Führung seiner Außenpolitik notwendigen Soldaten zur Verfugung stellten 116 . Trotz der Schwierigkeiten, in kleinen Gemeinden eine funktionierende Verwaltung einzurichten (viele Rücktritte und Nachlässigkeiten), scheint diese Verwaltung insgesamt sehr ordentlich gearbeitet 109

Ebd., R. 149.

110

Zit. nach M. Bourjol, ebd. 111 M. Hauriou, Précis de droit administratif, 2. Aufl. 1911, S. 224; s. a. J. Ellul, Histoire 5, S. 164 f. 112

Art. 7 f. Verf. an V I I I (1799).

113

Art. 10,11,28,30 Verf. an X (1802), Einzelheiten bei J. Ellul, Histoire 5, S. 165 f. Dabei wählten die Bewohner des Arrondissement 10% unter sich auf Vertrauenslisten, diese Vertrauensleute eine Departementsliste u. entsprechend entstand die liste de confiance nationale. 114 Einzelheiten bei J. Ellul, Histoire 5, S. 166. — Die Frage des ob seiner (Selbst-)Darstellungsmöglichkeiten politisch bedeutsamen Bürgermeisteramtes in Paris war auch 1982 Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen, vgl. noch unten Ε I I 3. 115 Dazu / Ellul, Histoire 5, S. 166. - Wohl in Erinnerung an die aufständische Kommune von 1793. 116

5*

M. Bourjol, Institutions, S. 87 Fn. 1.

68

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

zu haben 117 , wie überhaupt neben Napoleons I. Kriegs(un)taten und (plebiszitärem) Autoritarismus seine Ordnungsleistungen für Frankreich nicht vergessen werden sollen 118 . So bestärkte sich die Verwurzelung des Departements, wenn es sich auch vom Sitz dezentralisierter Entscheidung zu dem des Befehls, zur Schaltstelle für die Ausführung von Entscheidungen der Zentralgewalt wandelte. Der Präfekt überlebte das Empire. Seine Macht wuchs mit jedem zentralistischen und verringerte sich mit jedem dezentralistischen Regime. Hier tauchte auch endgültig die Unterordnung der örtlichen Versammlungen unter die Exekutive auf, und das Pyramidalsystem der Kontrolle durch die jeweils nächsthöhere Versammlung verschwand. Zusammen mit den schon beschriebenen Prinzipien der Ein-MannExekutive, der Trennung von Handlung und Beratung und der hierarchischen Einordnung des Präfekten stand damit das Erbe bis 1981 fest 119 . Wenn die Bevölkerung die Rückkehr zur Zentralisation des Ancien Régime letztlich mit Befriedigung aufgenommen hat, so ist das mit ihrem Bedürfnis nach Ordnung und Ruhe zu erklären — und vielleicht damit, daß die Landgemeinde (commune rurale) wiederhergestellt wurde, «groupement naturel, auquel un législateur ne doit pas toucher» 120 . 6. Restauration (ab 1815) und Julimonarchie (1830-1848) Die Restauration ab 1815 brachte trotz wiederholter Vorstöße in der Nationalversammlung 121 keinerlei Rücknahme des rigiden napoleonischen Systems. Die Unterdrückung der Gemeindefreiheit mag so mitursächlich geworden sein für die Revolution von 1830122. Erst die Charte von 1830 versprach die Einrichtung von Departement- und Gemeindeverwaltung auf Wahlbasis123, was für die Räte von Gemeinden 124 , Departements und Arrondissements 125 schließlich umgesetzt wurde; freilich wurden die Bürgermeister und Präfekten weiterhin ernannt 126 . Die Kompetenzen wurden immer noch eng abgegrenzt 127,1838 erhielt das Departement (die für die Gemeinde schon länger anerkannte) Rechtspersönlichkeit 128. 117

J. Ellul, Histoire 5, S. 166 f.

118

Gerade auf dem Gebiet von Verwaltung u. Rechtspflege (Code Napoléon, 1807), vgl. dazu u. zu weiteren Bsp. J. Ellul, Histoire 5, S. 167 ff. 119

M; Bourjol, Institutions, S.88 R. 152.

120

M. Hauriou, Etude, S. 29 R.59. Nachw. bei B. Basdevant-Gaudemet, La commission de décentralisation de 1810,1973, S. 17; s. a. F. Burdeau, Affaires, S. 779 ff. m.w.N. 121

122

Vgl. näher F. Ponteil, Les institutions de la France de 1814 à 1870, 1966, S. 30 ff.

123

Art. 69 Ziff. 7, freilich bloß durch das am höchsten besteuerte Zehntel der Gesamtbevölkerung. 124

Ges. v. 21.3.1831.

125

Ges. v. 22.6.1833; dazu a. M. Hauriou, Etude, S. 11 R.24. Davon wenigstens ersterer aber aus dem Kreis der gewählten Räte.

126 127

Ges. von 18.7.1837 u. v. 10.5.1838.

I. Revolutionszeit und weitere Entwicklung

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Bemerkenswert ist ein Gesetz, das die Loi Treveneuc von 1872 bereits vorwegnahm: als Napoleon von Elba ablegte, ermächtigte LudwigXVIII. per Ordonnanz 129 die Generalräte, jede nötige Maßnahme für das öffentliche Wohl zu ergreifen 130. Damit waren freilich längst nicht alle Forderungen befriedigt. Die nächste Gelegenheit voranzukommen brachte aber erst die Revolution von 1848.

7. II. Republik (ab 1848) und II. Empire (1851-1870) Die Verfassung von 1848 vertagte die Fragen der Bestimmung des Bürgermeisters und der Zuständigkeiten der Räte auf ein späteres Gesetz und hielt sich in der Frage der Dezentralisation auch sonst zurück 131 . Föderalismus stand weder in den vorbereitenden Beratungen noch in Wahlprogrammen noch in der Verfassunggebenden Versammlung zur Diskussion. Zu sehr drängten soziale und andere politische Fragen 132 . Der Staatsrat (conseil d'Etat) und eine parlamentarische Kommission befaßten sich mit Fragen der Dezentralisation, ihre Arbeit unterbrach der Staatsstreich vom 2.12.1851, der das II. Empire unter Napoleon III. einleitete. Die Verfassung vom 14.1.1852 bestimmte in Art. 57 S. 2 die Ernennung der Bürgermeister (auch von außerhalb des Rats) durch die Exekutive. Trotz dieser an das Jahr V I I I (1800) erinnernden klaren Zentralisationstendenz Louis Napoleons sah sich der „Bürgerprinz" zu Zugeständnissen genötigt. Mit dem irreführend «de la décentralisation» genannten Dekret vom 25.3.1852 setzte eine umfassende Dekonzentrationsbewegung ein, die die Alleinentscheidungskompetenz des Präfekten weit ausdehnte. Über die politische Richtung lassen die Motive (considérants) des Dekrets 133 in Widerspruch zu seinem Titel keinen Zweifel: Dezentralisation stand nicht zur Debatte 134 . Diese Entwicklung führten die Dekrete vom 13.4.1861 und das Gemeindegesetz vom 24.7.1867 fort 135 . 128

Ges. v. 10.5.1838. - Zum ganzen auch F. Ponteil, Institutions, S. 156 ff.

129

Vom 11.3.1815.

130

Dazu M. Bourjol, Institutions, S. 89 R. 154.

131

Die Präfekten wurden in Erinnerung an das Jahr II durch Kommissare ersetzt, die örtlichen Organe wurden in allgemeiner Wahl bestimmt — freilich nicht lange, vgl. näher M. Hauriou, Etude, S. 11 R.24; M. Bourjol, Institutions, S. 89 f. R. 155 f. 132

J.-L. Puech/T. Ruyssen, Fédéralisme, S. 61.

133

«qu'on peut gouverner de loin, mais qu'on n'administre bien que de près; qu'en conséquence, autant il importe de centraliser l'action gouvernementale de l'Etat, autant il est nécessaire, de décentraliser l'action administrative», in: M. Duvergier, Receuil, 1852, S. 253. 134

Das hat auch die zeitgenössische Kritik klar erkannt: «C'est toujours le même marteau qui frappe, seulement on a raccourci le manche», zit. nach B. Basdevant-Gaudemet, Commission, S. 21. — Dem entsprachen a. die in den folgenden Jahren verabschiedeten

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Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

Während dies die Rückkehr zu den cäsarischen Wurzeln in der ersten Hälfte des II. Empire deutlich macht, stand die zweite Hälfte, etwa ab 1865, — unter zunehmendem Druck der Opposition 136 — im Zeichen wachsender Liberalisierung. So brachten die Gesetze vom 18.7.1866 über die Generalräte und vom 24.7.1867 über die Gemeinderäte durch Erweiterung der Zuständigkeit der Räte die ersten Reformen in Richtung Dezentralisation 137 . Damit bereitete sich langsam, in Schüben und von Rückschlägen begleitet, das System gestärkter Strukturen in Gemeinden und Departements, des allgemeinen Wahlrechts und der an die Stelle direkter Verwaltung tretenden Aufsicht (tuteile) vor, das die III. Republik zwischen 1871 und 1884 endgültig ausgeformt hat. 8. Zusammenfassung und Ausblick Das zum Ende des Ancien Régime immer drückender spürbare Fehlen effizienter Verwaltungsstrukturen und die Forderung nach Beteiligung der Bürger an der Verwaltung ihrer Angelegenheiten bedeuteten eine große Aufgabe für die Verfassung- und Gesetzgeber der Revolution, der sie sich in pragmatischer, nur wenig theoriegesteuerter Arbeit erfolgreich stellten. Abspaltungstendenzen in einzelnen (Rand-)Gebieten und die daraus resultierende Angst um die nationale Einheit verhinderten die Durchsetzung föderaler Bewegungen. Dem Führungsanspruch der in der Hauptstadt der Revolution dominierenden Jakobiner und der aufständischen Kommune von Paris hielten die in „der Provinz" und vor allem auf Departementebene einflußreichen Girondisten nicht stand. Ihre historisch nicht haltbare Identifizierung mit Föderalismus einerseits, mit Monarchie, Konterrevolution und Separatismus andererseits haben die föderale Idee nachhaltig diskreditiert. Napoleon /. befriedete das Land und schuf mit der Entmachtung der Versammlung und der Einrichtung einer hierarchisch organisierten Verwaltung mit dem Präfekt als „Schlußstein" das Muster der Verwaltung eines autoritären Staates. Während die autoritäre Herrschaft zunächst gut aufgenommen wurde, wuchs im Laufe der Jahrzehnte der Reformstau, die Forderung nach Dezentralisation (Status der Gebietskörperschaften, Wahl von Räten und Bürgermeistern, Umfang ihrer Kompetenzen, Beschränkung der Macht der Präfekten und der Aufsicht) wurde nur unvollkommen erfüllt, dabei aber zunehmend mächtiger und eine der Speerspitzen gegen den autoritären Staat. Dezentralisation und Demokratie waren damit eine Einheit eingegangen. Das II. Empire mit einer ersten, autoritären und einer zweiten, liberalen Phase war Nährboden für die ersten großen Veröffentlichungen zu Dezentralisation und Föderalismus. Texte. — s. dazu a. G. Debeyre, Les Libertés communales et le statut du 23 avril 1852, in: L'évolution du droit public, Etudes offertes à Achille Mèstre, 1956, S. 147 ff. 135 136 137

Zur Kritik der Reformen 1852 u. 1861 s. a. M. Hauriou , Etude, S. 10 R.22. Dazu sogl. unten II. Zum ganzen F. Ponteil, Institutions, S. 371 ff.

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

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II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie des 19. Jahrhunderts Im Abstand von nur sechs Jahren entstanden die wohl wichtigsten Beiträge der französischen politischen Theorie des 19. Jahrhunderts zu Föderalismus und Dezentralisation. Dabei fielen A. de Tocquevilles Studie über das Ancien Régime von 1856 und P.-J. Proudhons «Principe fédératif» von 1862 gewiß nicht zufällig in die erste, autoritäre Phase des II. Empire. Aus dem nämlichen Impuls der Suche nach den Bedingungen und Sicherungen der Freiheit im Angesicht eines autoritären Regimes (Napoleons III.) oder schon in Folge der beiden großen Werke entstanden bis zum Ende des II. Empire, insbesondere in seiner zweiten, liberalen Phase noch eine Reihe weiterer Schriften und Bewegungen, die schließlich in die publizistische Flut und organisatorische Betriebsamkeit münden sollten, die im folgenden Abschnitt unter dem Stichwort Regionalismusbewegungen zur Erörterung stehen. Dabei war A. de Tocqueville in der französischen politischen Theorie wohl der erste, der Zentralismus und Dezentralisation zu Hauptgegenständen seines Werkes machte. Nicht als einziger, wohl aber am kraftvollsten drückte er den liberalkonservativen Impuls seines Jahrhunderts aus. Dabei ging es ihm in erster Linie um die Bedingungen der Freiheit des Individuums und weder um Fragen der Effizienz der Verwaltung noch darum, die Grundstrukturen des Staates in Frage zu stellen, wie dies bald nach ihm in radikaler Weise P.-J. Proudhon tat. Dieser sprengte bei weitem den Rahmen dessen, was als Reform zu seiner Zeit erwartet werden konnte, gleichwohl reicht auch seine Ausstrahlung über Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung bis weit in die Gegenwart. 1. Alexis Clérel de Tocqueville* Im Mittelpunkt von A. de Tocquevilles Werk stehen das Individuum und die Gefährdung und Sicherung seiner Freiheit unter den Bedingungen der modernen Massendemokratie 1. Die Demokratie 2 war für ihn die Gesellschaftsform der * 1805-1859 1 Zu deren visionärer Beschreibung s. A. de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, (1835/40), in: Œuvres Complètes, hg. von J.-P. Mayer, Bd. 1,1979,2. Hbd., IVTeil Kap.VI, S. 324: «je vois une foule innombrable d'hommes semblables et égaux qui tournent sans repos sur eux-mêmes pour se procurer de petits et vulgaires plaisirs, dont ils emplissent leur âme. Chacun d'eux, retiré à l'écart, est comme étranger à la destinée de tous les autres: ses enfants et ses amis particuliers forment pour lui tout l'espèce humaine; quant au demeurant de ses concitoyens, il est à côté d'eux, mais il ne les voit pas; il les touche et ne les sent point; il n'existe qu'en lui-même et pour lui seul, et, s'il lui reste encore une famille, on peut dire du moins qu'il n'a plus de patrie. Au-dessus de ceux-là s'élève un pouvoir immense et tutélaire, qui se charge seul d'assurer leur jouissance et de veiller sur leur sort. Il est absolu, détaillé, régulier, prévoyant et doux. Il ressemblerait à la puissance paternelle si, comme elle, il avait pour objet de préparer les hommes à l'âge viril; mais il ne cherche, au contraire, qu'à les fixer irrévocablement dans l'enfance; il aime que les citoyens se réjouissent, pourvu

72

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

Zukunft, er fürchtete aber ihren Verfall i n Despotie. Das demokratische Zeitalter sah er durch das Gleichheitsprinzip gekennzeichnet u n d zur Zentralisation unwiderstehlich hingezogen. I n diesen beiden Tendenzen zu Gleichheit u n d Zentralisation lag für ihn die entscheidende Gefahr, die es durch geeignete Lehren zu bannen galt. Dabei wurde die Dezentralisation zu einer natürlichen Säule seiner Freiheitslehre, gestützt auf eine starke kommunale Selbstverwaltung i m Verein m i t einem noch unscharf beschriebenen föderalen System: Dezentralisation als Regierungsform. Z u A. de Tocquevilles geistigen Vätern zählt vor allem Montesquieu 3, dessen Themen u n d Methoden er treu blieb, nicht ohne sie freilich weiterzuentwickeln 4 . Wichtige Einsichten gewann er aus praktischer Erfahrung u n d persönlicher A n schauung durch seine Reisen i n die i m 19. Jahrhundert vielfach als Vorbild geltenden Länder Amerika u n d England 5 , seine «patrie intellectuelle »6, sowie aus dem politischen Leben seinen eigenen Landes 7 . Wo er über Vergangenes schrieb, galt sein Interesse doch Gegenwart u n d Z u k u n f t 8 , wo über fremde Länder, seiner eigenen Heimat 9 . qu'ils ne songent qu'à se réjouir. Il travaille volontiers à leur bonheur; mais il veut en être l'unique agent et le seul arbitre; il pourvoit à leur sécurité, prévoit et assure leurs besoins, facilite leurs plaisirs, conduit leurs principales affaires, dirige leur industrie, règle leurs successions, divise leurs héritages; que ne peut-il leur ôter entièrement le trouble de penser et la peine de vivre?» 2 Verstanden einmal als egalitäre Gesellschaft, dann wieder als Staatsform unter Teilhabe des Volkes an der Willensbildung, vgl. dazu M. Taupier, La décentralisation dans l'œuvre d'Alexis de Tocqueville, 1967, S. 7. 3 Vgl. A. de Tocquevilles eigenen Verweis auf Montesquieu, Sur la grandeur et la décadence des Romains, in: A. de Tocqueville, Brief an den Comte L. de Kergorlay v. 15.12.1850, in: A. de Tocqueville, LAncien Régime et la Révolution, hg. von J.-P. Mayer, 1967, Ed. Gallimard, S. 14; vgl. a C h e v a l l i e r , Histoire 2, S. 122: Λ. de Tocqueville als Montesquieu des XIX. Jhds. 4

A. de Tocqueville selbst, Brief, ebd, a. E.

5

G. Vedel, Courants, S. 54.

6

H. de Fontmichel, La pensée politique d'Alexis de Tocqueville, 1968, S. 151.

7 A. de Tocquevilles Vater war Präfekt, er selbst studierte Rechtswissenschaften und wurde Richter in Versailles; nach der Revolution von 1830 schien es ihm geraten, sich von Paris und der Politik etwas weiter zu entfernen, und er unternahm mit seinem Freund G. de Beaumont die Reise nach Amerika, der wir sein erstes großes Werk verdanken; auch als Außenminister unter dem Prinz-Präsident, als Mitglied des Verfassungskomitees der II. Republik und als Abgeordneter von Valognes nahm er am politischen Leben teil; erst nach dem Staatsstreich vom 2.12.1851 begannt, de Tocqueville seine Souvenirs zu schreiben und sein Meisterwerk über das Ancien Régime. 8 9

G. Vedel, Courants, S. 53.

Vgl. dazu A. de Tocqueville selbst, Démocratie, 1. Hdb., S. XLIV, Vorwort zur 12. Aufl. 1848: «Ne tournons pas nos regards vers l'Amérique pour copier servilement les institutions qu'elle s'est données, mais pour mieux comprendre celles qui nous conviennent, moins pour y puiser des exemples que des enseignements, pour lui emprunter les principes plutôt que les détails de ses lois.»

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

73

Dabei gleichen sich die beiden großen Werke von 1835/40 und 1856 in Anliegen und Grundgedanken 10, sind aber verschieden in Methode, Tragweite und Tiefe 11 . Dem zwar in der Beschreibung genauen, in der politischen Bewertung aber eher allgemein gehaltenen „Jugendwerk" steht die monographische Studie über Ancien Régime und Revolution als reifes Alterswerk gegenüber. Während die Beobachtungen und Erfahrungen in Amerika und England in eher eklektizistischer Weise Anstöße zur Gestaltung der freiheitlichen Ordnung in Frankreich gaben, untermauerte die umfassende Analyse des Ancien Régime, der Gründe seines Verfalls und der Bedingungen der Revolution die nämlichen Gedanken mit großer systematischer Kraft. Auch wenn sich die Idee des Föderalismus eher im Amerikabuch findet und das Thema von Zentralisation und Dezentralisation das «Ancien Régime» wie ein roter Faden durchzieht, gibt es vielfach Überschneidungen — schon deshalb, weil A. de Tocqueville zwischen Föderalismus und Dezentralisation nicht systematisch unterschied. Hier geht es zunächst um A. de Tocquevilles Darstellung der Entwicklung und seiner Kritik der Zentralisation, dann um sein Verständnis von Dezentralisation (und Föderalismus) und ihre politischen Konsequenzen. a) Entwicklung

und Kritik

der Zentralisation

Für die von ihm heftig angegriffene Zentralisation seiner Zeit machte A. de Tocqueville im wesentlichen das Ancien Régime, den Mythos Revolution und Entwicklungsbedingungen der („notwendig egalitären") Demokratie verantwortlich. aa) Die Zentralisation des Ancien Régime Die Zentralisation habe sich als einziges Element der politischen Verfassung des Ancien Régime dem neuen politischen Umfeld anzupassen vermocht, und das so perfekt, daß man schließlich die Zentralisation für eine Schöpfung der Revolution anzusehen bereit war. Tatsächlich habe diese nur das zentralistische Erbe zielstrebig ausgebaut, insoweit aber Neues nicht geschaffen 12. Dabei verdient Hervorhebung, wie A. de Tocqueville hier mit dem bis dahin herrschenden Geschichtsverständnis brach, nach dem die Revolution tabula rasa geschaffen habe. Erst seine Kontinuitätsthese gestattet Einsichten in Zusammenhänge und 10 A. de Tocqueville, Ancien Régime, S. 73, Vorwort: «... ce penchant est chez moi fort ancien. Il y a plus de vingt ans que, parlant d'une autre société, j'écrivais presque textuellement ce qu'on va lire.» 11 Vgl. dazu G. Gojat, Corps, S.3f. 12 A. de Tocqueville, Ancien Régime, Buch II Kap. II, S. 107: «Je veux bien que la centralisation soit une belle conquête, je consens à ce que l'Europe nous l'envie, mais je soutiens que ce n'est point une conquête de la Révolution. C'est, au contraire, un produit de l'ancien régime, et, j'ajouterai, la seule portion de la constitution politique de l'ancien régime qui ait survécu à la Révolution, parce que c'était la seule qui pût s'accommoder de l'état social nouveau que cette Révolution a créé.»

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Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

Verständnis von Einrichtungen und Entwicklungen, wo vordem Ideologie und revolutionärer Mythos geherrscht hatten 13 . Nach A. de Tocquevilles Analyse war die Entwicklung im 18. Jahrhundert durch den Niedergang der politischen Rolle der Feudalherrschaft gekennzeichnet, der nur noch ihre Immunitäten und Privilegien blieben, während die politische Macht im wesentlichen beim Hof und bei den königlichen Intendanten lag 14 . Die Verwaltung sei immer mächtiger, aktiver und zentralisierter geworden, ständig beschäftigt, zu helfen und zu hindern, zuzulassen, zu versprechen und zu geben, einflußreich auf tausend Arten — nicht nur, was die großen Linien angeht, sondern auch in Familien- und ganz privaten Angelegenheiten15. Dank ihrer Ausdauer, ihrer Geschicklichkeit und Erfahrung habe die Verwaltung immer weitere Einflußbereiche geräuschlos, aber effektiv besetzt. Der Fortschritt habe auch immer neue Bedürfnisse erzeugt und Möglichkeiten geschaffen, die nur die Zentralverwaltung zu befriedigen bzw. zu nutzen in der Lage gewesen sei. Sie wurde detaillierter und umfassender, regelmäßiger und wissender, «elle opprime moins, elle conduit plus» 16 . Weiter unterstrich A. de Tocqueville den verderblichen Einfluß der politischen Literatur. Eine Abscheu vor allen Traditionen und eine durch keine Praxis und Erfahrung gebremste Lust an allgemeinen und abstrakten, allein auf die „Vernunft" ihrer Schreiber gegründeten Theorien habe sich breitgemacht 17. Diese Art des ungeschichtlichen, praxisfernen und abstrakten Denkens bei Autoren wie Lesern und die aus der zentralistischen Politik folgende Passivität, Unerfahrenheit in politischer Praxis und Unfähigkeit in der Bewältigung ganz alltäglicher Verwaltungsprobleme bedingten und verstärkten sich wechselseitig. So sei Politik zur reinen Theorie, zum leidenschaftlichen, letztlich aber uninteressierten Philosophierertum und zum geistreichen Zeitvertreib geworden 18. 13 Seine Sicht über den wahren Ursprung der Zentralisation im Ancien Régime statt in der Revolution bestätigten a. H. Taine, LAncien Régime, 3. Aufl. 1876, S.99, u. A. Sorel, L'Europe et la Révolution française, 8 Bde., 1885-1904, passim. 14 A. de Tocqueville, Ancien Régime, Buch I I Kap. I, S. 102 f , 106. — Für seine Geschichtsstudien kann hier auf die Bestandsaufnahme ο. A I verwiesen werden, die sich vielfach a. auf A. de Tocqueville stützt. Hervorhebung verdient, wie er immer wieder auf das Auseinanderfallen von Schein u. Wirklichkeit von Macht verweist u. dabei hinter den Fassaden sucht, denn «Presque tous les princes qui ont détruit la liberté ont tenté d'abord d'en maintenir les formes: cela s'est vu depuis Auguste jusqu'à nos jours; ils se flattaient ainsi de réunir à la force morale que donne toujours l'assentiment public les commodités que la puissance absolue peut seule offrir», aber auch «Presque tous ont échoué dans cette entreprise, et ont bientôt découvert qu'il était impossible de faire durer longtemps ces menteuses apparences là où la réalité n'était plus.», ebd. Buch I I Kap. III, S. 117 f , u. ebd, S. 121: «Quand on compare ces vaines apparences de la liberté avec l'impuissance réelle qui y était jointe, on découvre déjà en petit comment le gouvernement le plus absolu peut se combiner avec quelques-unes des formes de la plus extrême démocratie, de telle sorte qu'à l'oppression vienne encore s'ajouter le ridicule de n'avoir pas l'air de la voir.» 15

Einzelheiten bei A. de Tocqueville,

16

Ebd, Buch I I Kap.V, S. 128 f. Ebd, Buchili Kap.I, S. 193ff.

17

Ancien Régime, S. 70 f , Vorwort.

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

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bb) Die Zentralisation der Revolution Der sich schon bald m i t dem Gedanken an die Revolution verbindende Mythos habe das republikanische Ideal m i t der (fälschlich) der Revolution zugeschriebenen Zentralisation assoziiert. Unterschiedslos habe die Revolution alles, was ihr voranging, Monarchie u n d Gegengewichte, i n einen Topf geworfen u n d an Stelle der schon früher zerfallenen oder noch verbliebenen u n d jetzt zerstörten Gegengewichte jedenfalls keine neuen aufgebaut 1 9 . Die (idealisierende) Verbindung v o n Revolution u n d Republik m i t der Zentralisation aber hätten sich seither alle Zentralisten zu eigen gemacht 2 0 . Bei aller Kontinuität habe die Revolution aber doch auch ein V a k u u m geschaffen. D u r c h die Überwindung der alten Strukturen u n d die Entwertung der hergebrachten Ordnung habe die Revolution den Weg für allmächtige u n d ungebremste, aber doch nicht verwurzelte u n d daher anfällige Regierungen freigemacht 2 1 . cc) Zentralisation u n d Demokratie Neben diesen historischen Bedingungen sah A. de Tocqueville die Zentralisat i o n auch i n Wesen u n d Durchsetzung der egalitären Demokratie begründet. Das Gleichheitsprinzip sei Grundprinzip der demokratischen Gesellschaftsordnung schlechthin 2 2 . D i e Revolution wurde v o n Menschen gemacht, die gegen die alten 18

Ebd., S. 195 ff.

19

Ders., Démocratie, l . H b d , l.Teil Kap.V, S.97.

20 Ebd.: «Ce double caractère de la révolution française est un fait dont les amis du pouvoir absolu se sont emparés avec grand soin. Lorsque vous les voyez défendre la centralisation administrative, vous croyez qu'ils travaillent en faveur du despotisme? Nullement, ils défendent une des grandes conquêtes de la Révolution. De cette manière, on peut rester populaire et ennemi des droits du peuple; serviteur caché de la tyrannie et amant avoué de la liberté.» 21

Ders., Ancien Régime, Buch I Kap. II, S. 85 f.: «Mais écartez ces débris: vous aperçevez un pouvoir central immense qui a attiré et englouti dans son unité toutes les parcelles d'autorité et d'influence qui étaient auparavant dispersées dans une foule de pouvoirs secondaires, d'ordres, de classes, de professions, de familles et d'individus, et comme éparpillées dans tout le corps social. On n'avait pas vu dans le monde un pouvoir semblable depuis la chute de l'empire romain. La Révolution a créé cette puissance nouvelle, ou plutôt celle-ci est sortie comme d'elle-même des ruines que la Révolution a faites. Les gouvernements qu'elle a fondés sont plus fragiles, il est vrai, mais cent fois plus puissants qu'aucun de ceux qu'elle a renversés; fragiles et puissants par les même causes, ainsi qu'il sera dit ailleurs.»; vgl. a. ders., Démocratie, 2.Hbd., 4. Teil Kap. IV, S. 306. 22 Ders., Démocratie, l.Hbd., S. 1, Einführung: «Ainsi donc à mesure que j'étudiais la société américaine, je voyais de plus en plus, dans l'égalité des conditions, le fait générateur dont chaque fait particulier semblait descendre, et je le retrouvais sans cesse devant moi, comme un point central où toutes mes observations venaient aboutir.»; doch beschränkte er sich nicht auf Amerika: «Le développement graduel de l'égalité des conditions est donc un fait providentiel, il en a les principaux caractères: il est universel, il est durable, il échappe chaque jour à la puissance humaine; tous les événements, comme tous les hommes, servent à son développement», ebd., S. 4; zu Freiheit und Gleichheit bei A. de Tocqueville s. a. F.

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Mächte und Privilegien ihre Freiheit und Unabhängigkeit erkämpften, um sich in „Gleichheit" und „Brüderlichkeit" zu verwirklichen; die in aristokratischen Gesellschaften natürliche Entfaltung der pouvoirs secondaires sei aber mit dem Gleichheitsprinzip demokratischer Gesellschaften nicht vereinbar 23. Auch würden in demokratischen Gesellschaften in Politik, Philosophie und Religion überhaupt nur noch einfache und allgemeine Ideen geschätzt und komplizierte Systeme verschmäht 24. So sah A. de Tocqueville mit zunehmendem Sieg der Gleichheit die Freiheit immer schwieriger werden — und die Zentralisierung immer weiter voranschreiten — bis hin zur Unterdrückung 25 . Darin sah er die Tendenz moderner Demokratie schlechthin, ihren „naturgesetzlichen" Verfall; der moderne demokratische Staat zentralisiere „instinktiv", Demokratie und Zentralisation seien unvermeidlich miteinander verbunden 26 . Schließlich würde die Entwicklung zum Zentralismus durch das Fehlen längerer freiheitlicher Tradition 27 , durch das Fortbestehen von Privilegien 28 und durch Krieg bzw. Kriegsgefahr begünstigt 29 — alles Faktoren innerer und äußerer Instabilität. dd) Folgen der Zentralisation A. de Tocqueville beklagte als Folgen der Zentralisation die Veränderung der Einstellung der Bürger und die Verwandlung der Verwaltung selbst. Immer mehr werde alles nur noch „von oben" erwartet, machten sich „Individualismus", Uniformität und Desinteresse an öffentlichen Angelegenheiten breit 30 und schwinde Monconduit, Liberté et égalité dans la pensée d Alexis de Tocqueville, in: Le Pouvoir, Mélanges offerts à G. Burdeau, 1977, S.315ff. 23 A. de Tocqueville, Démocratie, 2. H b d , 4.Teil Kap. II, S. 297: «L'idée de pouvoirs secondaires, placés entre le souverain et les sujets, se présentait naturellement à l'imagination des peuples aristocratiques, parce que ces pouvoirs renfermaient dans leur sein des individus et des familles que la naissance, les lumières, les richesses, tenaient hors de pair et semblaient destinés à commander. Cette même idée est naturellement absente de l'esprit des hommes dans les siècles d'égalité pour des raisons contraires; on ne peut l'y introduire qu'artificiellement, et on ne l'y retient qu'avec peine.» 24

Näher ebd, S.297ff.

25

Ebd, Kap. I, S. 295: «L'égalité produit en effet deux tendances: l'une mène directement les hommes à l'indépendance et peut les pousser tout à coup jusqu'à l'anarchie, l'autre les conduit par un chemin plus long, plus secret, mais plus sûr vers la servitude.» 26

So dränge die Entwicklung aller demokratischen Gesellschaften zu einem «Gouvernement unique, uniforme et fort»; «l'indépendance individuelle et les libertés locales seront toujours un produit de l'art. La centralisation sera le gouvernement naturel.», ebd, Kap. IV, S. 303. 27

Ebd, S. 304. Ebd, S. 306. 29 Ebd, S. 307: «Dans la guerre, le succès dépend bien plus de la facilité qu'on trouve à porter rapidement ses ressources sur un certain point que de l'étendue même de ces ressources. C'est donc principalement dans la guerre que les peuples sentent le désir et souvent le besoin d'augmenter les prérogatives du pouvoir central. Tous les génies guerriers aiment la centralisation qui accroît leurs forces, et tous les génies centralisateurs aiment la guerre qui oblige les Nations à resserrer dans la main de l'Etat tous les pouvoirs.» 28

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

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die Achtung vor dem Gesetz 3 1 —aus dem Bürger werde ein Untertan 3 2 . Gleichzeitig wurde die Verwaltung i m m e r selbstherrlicher und verschwendungssüchtiger 33 . A. de Tocqueville beschrieb ihre Allgegenwart u n d ihre Allwissenheit, ihren Hunger nach i m m e r neuen Regeln u n d ihr Bedürfnis nach immer neuen Ausnahm e n 3 4 , ihre Schwerfälligkeit u n d Langsamkeit, ihre Liebe zu Formularen, Fragebögen u n d Statistiken 3 5 , (eher beiläufig) Öffentlichkeitsdefizite i m Verwaltungsh a n d e l n 3 6 u n d selbst den besonderen Sprachstil 37 — u n d damit kenntnisreich u n d einfühlsam verwaltungswissenschaftliche u n d verwaltungsrechtliche Probleme nicht nur seiner Zeit! D a n u n die den modernen Demokratien gemeinsame Entwicklung zu Gleichheit u n d Zentralisation die Freiheit unterdrückte, lag nahe, i n der Dezentralisat i o n den wichtigsten Pfeiler der Freiheit zu suchen. 30

Ebd., Kap. III, S. 300ff.; zu A. de Tocquevilles Verständnis von „Individualismus" vgl. die Studie J.-C. Lambertis, La notion d'individualisme chez Tocqueville, 1970. 31 A. de Tocqueville, Démocratie, l.Hbd., l.Teil Kap.V, S. 93 f.: «Cet homme, du reste, bien qu'il ait fait un sacrifice si complet de son libre arbitre, n'aime pas plus qu'un autre l'obéissance. Il se soumet, il est vrai, au bon plaisir d'un commis; mais il se plaît à braver la loi, comme un ennemi vaincu, dès que la force se retire. Aussi le voit-on sans cesse osciller entre la servitude et la licence.» 32 Ebd., S. 94: «on y trouve encore des sujets, mais on n'y voit plus de citoyens.» — Bemerkenswerterweise heißt auch heute der französische Bürger „im Verwaltungsgebrauch" «administré» — nicht mehr als ein sprachliches Kuriosum? 33 Ders., Ancien Régime, Buch I I Kap.V, S. 127, m. vielen Details aus der Erfahrung des Ancien Régime ebd., Kap. III, S. 116ff.; s. a. ders., Démocratie, 2.Hbd., 4.Teil Kap.V, S. 310 ff., m. vielen Bspen. u. dem Schluß, S. 319: «... dans ce même temps d'anarchie et chez ces mêmes peuples si indociles, le pouvoir social accroît sans cesse ses prérogatives; il devient plus centralisé, plus entreprenant, plus absolu, plus étendu. Les citoyens tombent à chaque instant sous le contrôle de l'administration publique; ils sont entraînés insensiblement, et comme à leur insu, à lui sacrifier tous les jours quelques nouvelles parties de leur indépendance individuelle, et ces mêmes hommes qui de temps en temps renversent un trône et foulent aux pieds des rois, se plient de plus en plus, sans résistance, aux moindres volontés d'un commis. Ainsi donc, deux révolutions semblent s'opérer de nos jours, en sens contraire: l'une affaiblit continuellement le pouvoir et l'autre se renforce sans cesse: à aucune époque de notre histoire il n'a paru ni si faible ni si fort.» 34 Ders., Ancien Régime, Buch I I Kap.VI, S. 134: «On voit par les lettres des contrôleurs généraux et des intendants que le gouvernement permet sans cesse de faire par exception autrement qu'il n'ordonne. Il brise rarement la loi, mais chaque jour il la fait plier doucement dans tous les sens, suivant les cas particuliers et pour la grande facilité des affaires», woraus sich natürlich eine verbreitete Mißachtung des Gesetzes ergibt; ebd., S. 134 f.: «L'ancien régime est là tout entier: une règle rigide, une pratique molle; tel est son caractère.» 35 36

Ebd., S. 131.

Ebd., S. 70, Vorwort. Ebd., Buch I I Kap.VI, S. 131: «Il n'y a pas jusqu'à la langue administrative des deux époques qui ne se ressemble d'une manière frappante. Des deux parts le style est également décoloré, coulant, vague et mou; la physionomie particulière de chaque écrivain s'y efface et va se perdant dans une médiocrité commune. Qui lit un préfet lit un intendant.» 37

78

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

b) Dezentralisation

und Föderalismus: Begriffe

und Abgrenzung

A. de Tocquevilles Interesse galt nicht technischen Gesichtspunkten der Dezentralisation, er zeichnete vielmehr nur die großen Linien 3 8 und widmete sich vor allem den Auswirkungen insbesondere auf politische Freiheit, Bürgersinn und Lebendigkeit der Demokratie 39 . Die später noch so viel diskutierte Abgrenzung zwischen Dezentralisation und Föderalismus kümmerte ihn wenig. Er traf keine genaue Unterscheidung, faßte vielmehr Föderalismus als einen Teilaspekt von Dezentralisation auf, einen Gliedstaat als große dezentralisierte Einheit 40 . Auch Föderation und Konföderation unterschied er nicht systematisch41. Mit Gebietskörperschaft (collectivité locale) bezeichnete er nicht nur die Gemeinde, sondern jede Ebene auf territorialer Basis unterhalb derer des Nationalstaats. Er ging auch hier nicht auf Einzelheiten ein, sondern begnügte sich mit der Unterscheidung des Prinzips und im übrigen fast schon mit der Aufzählung der verschiedenen Ebenen im amerikanischen Beispiel. So lag ihm auch wenig daran, ob die höchste „dezentralisierte" Ebene Provinz, Region oder Gliedstaat sei, wenn sich nur überhaupt außer der Gemeinde notfalls künstlich zu schaffende weitere Einheiten fanden. Um seinem darin ja ganz unerfahrenen französischen Publikum das amerikanische Regierungssystem nahezubringen, ging A. de Tocqueville von einer Beschreibung der Funktion der Teilstaaten (états) aus und kam dann zum «grand corps de l'Union». Die Einzelstaaten beschrieb er als kleine souveräne Nationen, deren Regierungen sich um die täglichen Anliegen der Gesellschaft kümmerten, während die Unionsregierung nur ausahmsweise und in genau beschriebener Weise für besondere gemeinsame Interessen tätig würde 42 . Entsprechenden Wert legte er auf die Unterscheidung von „Regierungszentralisation" und „Verwaltungszentralisation". Nur die „Regierungszentralisation" erlaube die Konzentration der Energie einer Nation auf ein gemeinsames Ziel — im Bereich allen Teilen der Nation gemeinsamer Interessen, der Gesetzgebung und Außenpolitik sei sie unverzichtbar; dagegen gelinge der „Verwaltungszentralisation" zwar, alle verfügbaren Kräfte einer Nation zu sammeln, doch schade sie der Reproduktion ihrer Stärke und schwäche auf Dauer die Nation, sie nütze dem 38

Was ihm wie Montesquieu gelegentlich den Vorwurf der Ungenauigkeit einbrachte, M. Taupier, Décentralisation, S. 21. 39 A. de Tocqueville, Démocratie, 1. H b d , l.Teil Kap.V, S. 95: «Ce que j'admire le plus en Amérique ce ne sont pas les effets administratifs de la décentralisation, ce sont ses effets politiques.» 40

Föderale Form als «modification de la république», ebd, S. 57.

41

Zur Föderalismuslehre A. de Tocquevilles vgl. E. Borei, Etude sur la souveraineté et l'Etat fédératif, (1866) 2. Aufl. 1886, S. 108 ff, zugleich als Bsp. von Tocquevilles Einfluß, ebso. G. Waitz, Grundzüge der Politik, 1862; s. a. die Kritik bei M. Mouskhéfy, La théorie juridique de l'Etat fédéral, 1931, S. 155 ff. 42

A. de Tocqueville,

Démocratie, l . H b d , l.Teil Kap.V, S.57f.

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

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kurzlebigen Ruhm eines Mannes und schade dem Wohl seines Volkes auf längere Sicht 43 . Um Staat und Mensch in Einklang zu bringen, bedürfe es daher gleichzeitig einer starken (Zentral-)Regierung und lebendiger und starker «autonomie locale». Die Bestimmung der jeweiligen Zuständigkeit von Staat und Gebietskörperschaften blieb dann aber — A. de Tocquevilles beschreibender Methode entsprechend, doch in Widerspruch zu der der Unterscheidung von ihm selbst beigemessenen Bedeutung — eher unscharf: Dem Staat „untergeordnet" seien die Gemeinden in Fällen eines Gemeininteresses («intérêt social, c'est-à-dire qu'elles partagent avec d'autres» und «qui n'a pas rapport qu'à elles seules»), im übrigen bestimme—wo er aktiv wird — der Staat nur das Prinzip, in der Ausführung sei die Gemeinde frei 44 . Auch schien A. de Tocqueville selbst wieder vor seiner energischen Forderung nach Dezentralisation zurückzuweichen 45. Den Schlüssel zu diesem Widerspruch mag wieder die Furcht vor der außenpolitischen und militärischen Überlegenheit großer zentralisierter Staaten enthalten, eine Annahme, die ja schon von Montesquieu und J.-J. Rousseau her nicht fremd ist und sich auch später wiederfinden wird 46 . Daneben wollte A. de Tocqueville hier wohl schon erwartete Kritik vorwegnehmen, den Vorwurf entkräften, seine politische „Ordnung" führe unvermeidlich in die Anarchie. So legte er denn großen Wert auf das Nebeneinander von effektiver Dezentralisation und begrenzter, aber starker Zentralgewalt. c) Einrichtung und Garantien Zum Vorgang der Dezentralisation blieb A. de Tocqueville widersprüchlich 47 und insgesamt recht vage, zeigte eher die Bedingungen als die konkrete Umset43

Ebd., S. 86ff., u. 2.Teil Kap.VIII, S. 273; vgl. ebd., S. 87: «Certains intérêts sont communs à toutes les parties de la nation, tels que la formation des lois générales et les rapports du peuple avec les étrangers. D'autres intérêts sont spéciaux à certaines parties de la nation, tels que les entreprises communales. Concentrer dans un même lieu ou dans une même main le pouvoir de diriger les premiers, c'est fonder ce que j'appellerai la centralisation gouvernementale. Concentrer de la même manière le pouvoir de diriger les seconds, c'est fonder ce que je nommerai la centralisation administrative.» — Vgl. fur die entsprechende Beschreibung der Kompetenzabgrenzung im Ancien Régime: ders., Ancien Régime, Buch I I Kap. II, S. 111 ff. — A m Bsp. Amerikas führtet, de Tocqueville dann seinem Publikum die Wohltaten der Dezentralisation weiter vor Augen, s. ebd., S. 92 ff. 44

Ebd., S. 64. Vgl. z.B. ebd., S.89f.: «Nous avons vu que les Américains avaient presque entièrement isolé l'administration du gouvernement; en cela ils me semblent avoir outrepassé les limites de la saine raison; car l'ordre, même dans les choses secondaires, est encore un intérêt national.» 45

46

s. o. A I I 1 b bzw. 2 b m. w. N. bzw. (andeutungsweise) unten C I I I 2 a u. öfter. A. de Tocqueville, Etat social et politique de la France avant et depuis 1789, in: OC, Bd. I I (zugl. mit Ancien Régime), 2.Teil, S.54: «par réflexion» einerseits, ebd., S.57: «qu'une marche naturelle instinctive et pour ainsi dire forcée» andererseits. 47

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zung auf 48 . Die föderale Form war für ihn Resümee schon vor ihrer institutionellen Umsetzung verbreiteter Prinzipien 49 : Föderalismus als allgemeines Strukturprinzip — 27 Jahre vor P.-J. Proudhons Principe fédératif! Er ging aber auch davon aus, daß demokratische Regierungen selbst, also „von oben" dezentralisieren 50 (können), auch wenn das nicht ganz freiwillig zu geschehen brauche 51, sah dabei aber die Risiken fehlender Garantien 52 und unterstrich die Bedingungen ihrer Verwurzelung 53, der Sache nach die Bedeutung der—bei aller Vorsicht gegenüber der „rückwirkenden Anwendung" dieses ideengeschichtlich Jungen" Begriffs — politischen Kultur 5\ und — wenn auch nicht immer zwingend — die Kontextbezogenheit in geographischer 55, geschichtlicher 56 und soziologischer Hinsicht 57 . Neben Kontext, Tradition und Kultur vernachlässigte A. de Tocqueville auch die juristische Absicherung nicht. So forderte er unter Bezugnahme auf amerikanische Erfahrungen Bestimmungen in einfachen Gesetzen und der Verfassung. Letztere müßten genau und mit der gesamten Verfassung von hoher moralischer und rechtlicher Autorität sein. Dabei kommt entsprechend dem oben Gesagten der Dezentralisation (als Regierungsform) ein gleich hoher Rang zu wie heute dem Föderalismus. Über die Einhaltung dieser Bestimmungen müsse ein starkes und unabhängiges Gericht wachen58. 48 Vgl. z. B. A. de Tocqueville, Démocratie, 1. Hbd., l.Teil Kap.V, S. 59: «La liberté communale échappe donc, pour ainsi dire, à l'effort de l'homme. Aussi arrive-t-il rarement qu'elle soit creée; elle naît en quelque sorte d'elle-même. Elle se développe presque en secret au sein d'une société demi-barbare. C'est l'action continue des lois et des mœurs, les circonstances et surtout le temps qui parviennent à la consolider»; vgl. dazu M. Taupier, Décentralisation, S. 34 f. m. w. N. 49

A. de Tocqueville, Démocratie, ebd., S. 57. Ders., Etat social, 2. Teil, S. 55: «Chez les peuples démocratiques le gouvernement local est souvent une création du pouvoir central, qui souffre qu'on lui enlève quelques-uns des ses privilèges, ou qui s'en dépouille volontairement lui-même». 50

51

Ebd., S. 54: «Quelquefois aussi la puissance suprême, succombant sous le poids de ses prérogatives, essaie de localiser l'administration publique, et cherche par des combinaisons plus ou moins savantes à constituer artificiellement sur les différents points du territoire une sorte d'aristocratie élue». 52 Ebd.: «Mais ... la liberté provinciale ainsi fondée est toujours exposée à de grands hasards.» 53 Ders., OC, Bd.VIII, 1866, S. 321 f.: «La décentralisation, comme la liberté, est une chose que les chefs du peuple promettent, mais ne donnent jamais. Pour l'obtenir et la garder le peuple ne doit compter que sur ses propres efforts, et si lui-même n'a pas le goût de la chose, le mal est sans remède.» 54 Vgl. zum Begriff und zur Sache der „politischen Kultur" P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, S.347, 352, 402, jeweils m.w.N. 55 Als Schüler Montesquieus!, vgl. dazu A. de Tocqueville, Démocratie, l.Hbd., 2.Teil Kap. X, S. 413. 56

Ebd., l.Teil Kap. II, S.39 u. 27. Vgl. a. ebd., l.Hbd., 2.Teil Kap.IX, S.322: «On attribue trop d'importance aux lois, trop peu aux mœurs.» 57

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d) Die politische Bedeutung der Dezentralisation Was nun die unbestreitbare Schlüsselrolle der Dezentralisation in der umfassenden und die Föderalismusidee einschließenden Bedeutung, die A. de Tocqueville ihr gab, ausmacht, ist ihre doppelte Funktion für die Gewährleistung der Freiheit in einem politischen System: Die Zwischenglieder sollen einen wirksamen Schutzschild des Bürgers gegen die Staatsgewalt bilden und das Individuum in die demokratische Ausübung der Macht durch Teilhabe an den es von nah oder fern betreffenden Entscheidungen einbeziehen. Im Mittelpunkt stand dabei der esprit communal — Ausdruck wiederum von A. de Tocquevilles Verständnis von der Bedeutung der Demokratie als Erlebnis und der politischen Kultur. aa) Dezentralisation und Gewaltenteilung Ausdrücklich findet sich der Gedanke der Gewaltenteilung als Grundlage der Dezentralisation 59. Die Zentralgewalt solle „geschwächt", diese Schwächung freilich kompensiert werden durch die Konzentration der Macht. A. de Tocqueville wollte die Zentralgewalt begrenzt und/aber stark. Zwischen Souverän und Untertan stellten sich in aristokratischen Gesellschaften pouvoirs secondaires , die einen Schutzschild gegen die immer weiter ausgreifende Zentralgewalt bilden. Die Funktion dieses Schutzschildes müßte in der Demokratie die Dezentralisation übernehmen; sie habe die Zentralgewalt durch Teilung zu schwächen und Zusammenschlüssen von Individuen die Macht zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten zu lassen60. bb) Dezentralisation und (Bürger-)Beteiligung Folgerichtig nach der hohen Einschätzung von Kontext und (politischer) Kultur für die Freiheit des Gemeinwesens sind Erziehung und Erfahrung Schlüssel58

Ebd, l . H b d , l.Teil Kap.VIII, S. 153: «Dans les mains des sept juges fédéraux reposent incessamment la paix, la prospérité, l'existence même de l'Union. Sans eux, la constitution est une œuvre morte; c'est à eux qu'en appelle ... l'Union, pour se faire obéir des Etats; les Etats, pour repousser les prétentions exagérées d l'Union.» 59 Die beste Art, die Machtausübung zu beschränken, «ne consiste pas à dépouiller la société de quelques-uns de ses droits, ou paralyser ses efforts, mais à diviser l'usage de ses forces entre plusieurs mains... En partageant ainsi l'autorité, on rend, il est vrai, son action moins irrésistible et moins dangereuse, mais on ne la détruit point.», ebd, 2. H b d , 4. Teil Kap.VII, S. 329. 60 Ebd.: «Au lieu de remettre au souverain seul tous les pouvoirs administratifs qu'on enlève à des corporations ou à des nobles, on peut en confier une partie à des corps secondaires temporairement formés de simples citoyens; de cette manière, la liberté des particuliers sera plus sûre, sans que leur égalité soit moindre.» Im einzelnen bedeutet Gewaltenteilung bei A. de Tocqueville die Trennung des Rechts der Entscheidung u. des Rechts der Ausführung, die nicht in einer Hand liegen dürften. Gerade das scheint ihm die wichtigste Lehre aus seinen Amerikaerfahrungen u. in der amerikanischen politischen Praxis gewährleistet zu sein, vgl. ebd, l . H b d , 2.Teil Kap.VIII, S.273f.

6 Sparwasser

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worte i n A. de Tocquevilles Freiheitslehre 6 1 . Sie werden durch Beteiligung (participation) an den öffentlichen Angelegenheiten i n die Praxis umgesetzt 6 2 . Er unterstrich den Gedanken der Volkssouveränität (nicht ohne Abrechnung m i t J.-J. Rousseau), den es freilich erst z u m Leben zu erwecken u n d der Manipulation i h n geschickt für sich verbiegender Machthaber durch eine wirkliche Beteiligung des Volkes an der Entscheidung seiner Angelegenheiten zu entreißen gelte 6 3 . Dieses politische Postulat entspreche auch der sozialen Erfahrung, daß grundsätzlich jeder selbst seine Interessen a m besten wahrt 6 4 . U n d doch zielte A. de Tocqueville damit nicht auf einen als „Individualismus" mißverstandenen Liberalismus, i m Gegenteil solle „ S e l b s t v e r w a l t u n g i m überschaubaren Bereich (der Gemeinde) am ehesten den Ausgleich zwischen individualistischem Eigennutz u n d öffentlichem Interesse vermitteln 6 5 . Inkurs: L'esprit communal I m einzelnen — aber doch nur beispielhaft auch für andere Ebenen — entwikkelte A. de Tocqueville Funktionsweise und Vorteile der Dezentralisation insge-

61 Vgl. ebd, 2.Teil Kap. IX, S. 329: «Il est difficile de faire participer le peuple au gouvernement; il est plus difficile encore de lui fournir l'expérience et de lui donner les sentiments qui lui manquent pour bien gouverner», u. ebd, 2. H b d , 4.Teil Kap.V, S. 311: «L'éducation ... aussi bien que la charité, est devenue, chez la plupart des peuples de nos jours une affaire nationale. L'Etat reçoit et souvent prend l'enfant des bras de sa mère pour le confier à ses agents; c'est lui qui se charge d'inspirer à chaque génération des sentiments, et de lui fournir des idées. L'uniformité règne dans les études comme dans tout le reste; la diversité, comme la liberté, en disparaissent chaque jour.» 62

Ebd, l . H b d , 2.Teil Kap.VI, S.247: «Je suis assurément loin de prétendre que pour arriver à ce résultat on doive accorder tout à coup l'exercice des droits politiques à tous les hommes; mais je dis que le plus puissant, et peut-être le seul qui nous reste, d'intéresser les hommes au sort de leur patrie, c'est de les faire participer à son gouvernement. De nos jours, l'esprit de cité me semble inséparable de l'exercice des droits politiques.» 63

Ebd, l.Teil Kap. IV, S. 54: «Le principe de la souveraineté du peuple, qui se trouve toujours plus ou moins au fond de presque toutes les institutions humaines, y demeure d'ordinaire comme enseveli. On lui obéit sans le reconnaître, ou si parfois il arrive de le produire un moment au grand jour, on se hâte bientôt de le replonger dans les ténèbres du sanctuaire. La volonté nationale est un des mots dont les intrigants de tous les temps et les despotes de tous les âges ont le plus largement abusé. Les uns en ont vu l'expression dans les suffrages achetés de quelques agents du pouvoir; d'autres dans les votes d'une minorité intéressée ou craintive; il y en a même qui l'ont découverte toute formulée dans les silences des peuples, et qui ont pensé que du fait de l'obéissance naissait pour eux le droit de commandement.» 64

Ebd, Kap.V, S. 81: «que chacun est le meilleur juge de ce qui n'a rapport qu'à luimême, et le plus en état de pourvoir à ses besoins particuliers.» 65 Ebd, Kap. VII, S. 111 : «On tire difficilement un homme de lui-même pour l'intéresser à la destinée de tout l'Etat, parce qu'il comprend mal l'influence que la destinée de l'Etat peut exercer sur son sort. Mais faut-il faire passer un chemin au bout de son domaine, il verra d'un premier coup d'oeil qu'il se rencontre un rapport entre cette petite affaire publique et ses plus grandes affaires privées, et il découvrira, sans qu'on le lui montre, le lien étroit qui unit ici l'intérêt particulier à l'intérêt général.»

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samt am Beispiel der Gemeinde. Mehr als die Institution um ihretwillen interessierte ihn dabei wieder das politische Erlebnis, die politische Kultur 66 . Die Gemeinde sei eine natürliche Gemeinschaft 67, die Gemeindefreiheit aber dennoch eine seltene und zerbrechliche Sache und werde mit zunehmendem Entwicklungsgrad der Gesellschaft immer schwieriger. Ihre einzige Chance bestehe in der Verwurzelung in den nationalen Ideen, Gewohnheiten und Sitten, wozu sie aber erst einmal auch lange im Gesetz verankert gewesen sein müsse. Und mit dem wohl meistzitierten Abschnitt seines gesamten Werks unterstrich A. de Tocqueville die Bedeutung der Gemeindefreiheit für die Demokratie 68 : «Les institutions communales sont à la liberté ce que les écoles primaires sont à la science; elles la mettent à la portée du peuple; elles lui en font goûter l'usage paisible et l'habituent à s'en servir. Sans institutions communales une nation peut se donner un gouvernement libre, mais elle n'a pas l'esprit de la liberté.»

Nähe und Überschaubarkeit des Gemeindlichen formten eine spezifische Art der Öffentlichkeit, in der sich politischer Ehrgeiz und soziales Empfinden in besonders glücklicher Weise verbänden und entfalteten, in der die Gesellschaft ständig, aber ruhig fortschreite und wo der Bürger alle Tugenden lerne, die ihn im Gemeinwesen glücklich und dieses harmonisch machten 69 . Die Gelegenheit, gemeinsam zu handeln, und das politisch wache Leben in allen Teilen des Landes brächten die Menschen einander näher und widerständen dem Trend zu Entfremdung, Anonymität und Gleichgültigkeit 70 . A. de Tocqueville hielt sich mit der Widerlegung vorgeblicher Nachteile der Dezentralisation, wie fehlender Objektivität der Verwaltung und Verschwendung öffentlicher Mittel, die noch heute in jeder einschlägigen Diskussion auftauchen, nicht auf: Die politischen Vorteile schienen ihm allemal überwiegend 71. Der Zentralisation gelängen sicher die Organisation eines regelmäßigen Laufs alltäglicher Angelegenheiten wie auch die Aufrechterhaltung des status quo zwi66 Ebd., Kap.V, S. 65: «En Amérique non seulement il existe des institutions communales, mais encore un esprit communal qui les soutient et les vivifie.» — Zum Begriff und zur Sache der „politischen Kultur" s. schon oben Fn. 57. 67 Ebd., Kap.V, S. 58: «La commune est la seule association qui soit si bien dans la nature, que partout où il y a des hommes réunis, il se forme de soi-même une commune... la commune paraît sortir directement des mains de Dieu.» 68

A. de Tocqueville,

69

Ebd., S. 65.

70

Ebd., 2. Hbd., 2.Teil Kap. IV, S. 110.

71

Démocratie, l.Hbd., l.Teil Kap.V, S.59.

Ebd., 1. Hbd., l.Teil Kap.V, S. 93,95: «J'admettrai, du reste, si l'on veut, que les villages et les comtés des Etats-Unis seraient plus utilement administrés par une autorité centrale placée loin d'eux, et qui leur resterait étrangère, que par des fonctionnaires pris dans leur sein. Je reconnaîtrai, si on l'exige, qu'il régnerait plus de sécurité en Amérique, qu'on y ferait un emploi plus sage et plus judicieux des ressources sociales, si l'administration de tout le pays était concentrée dans une seule main. Les avantages politiques que les Américains retirent du système de la décentralisation me le feraient encore préférer au système contraire.» 6*

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sehen Verfall und Fortschritt, «une sorte de somnolonce administrative que les administrateurs ont coutume d'appeler le bon ordre et la tranquillité publique. Elle excelle, en un mot, à empêcher, non à faire» 72. Die größere Autorität des Gesetzes, der Einsatz für das Gemeinwohl, Patriotismus und Bürgersinn (civisme) und die kreative Kraft, die sich alle in einer dezentralisierten Verwaltung leichter fänden, verbürgten auch ihre Überlegenheit. Denn der Mensch brauche «liberté dans ses allures, de la responsabilité dans ses actes»73. Und wie in einem Brennspiegel («comme dans un microscope») stellte A. de Tocqueville noch einmal das Beispiel der französischen Kolonien und die nach englischem Vorbild regierten Vereinigten Staaten einander gegenüber, den durch „keinen Schatten kommunaler oder provinzieller Institutionen" getrübten Zentralismus und das «système de décentralisation des Anglais» mit fast unabhängigen Gemeinden als einer Art demokratischer Republiken, in denen sich die Bürger frei verbänden und selbst für ihr Wohl sorgten 74. Dabei ist klar, welchem System seine ganze Sympathie gehört 75 . cc) Dezentralisation als ein Element einer freiheitlichen Ordnung Wie sehr A. de Tocqueville die Dezentralisation als ein Element einer freiheitlichen (Gesamt-)Ordnung begriff, wird zum einen aus inhaltlichen Parallelen deutlich, zum anderen wies er auch ausdrücklich darauf hin, so für den Zusammenhang von Vereinigungsfreiheit (liberté d'association) und Gemeindefreiheit (liberté communale) 16. Auch in der Darstellung der association dans la vie civile ging es ihm darum, ein Gegengewicht gegen die mögliche Tyrannei der Mehrheit zu schaffen, die sonst aus wachsender Gleichheit und dem Verschwinden herkömmlicher Gegenkräfte zu erwachsen drohte 78 . Und so wie sich die politischen Vorteile der Freiheit von Gemeinden und Provinzen einerseits, der von (politischen) Vereinigungen andererseits entsprächen, so glichen sich auch ihre Voraussetzungen, deren wichtigste er in einem Grundkonsens darüber sah, daß jede Minderheit eine reale, nicht auf Gewalt, sondern auf Überzeugung gegründete Chance besitzen müsse, Mehrheit zu werden 79 . Im nämlichen Zusammenhang steht auch das Lob des (grundbesitzenden) Klerus 80 . Ganz allgemein ist darin ein frühes Beispiel für das Bewußtsein von der Bedeutung der korporativen Seite von „Grund-"Rechten zu sehen. 72

Ebd., S. 91.

73

Ebd., S.92.

74

Ders., Ancien Régime, S. 286 f., Anm. zu S. 127 Zeile 16. s. a. ders., Démocratie, l.Hbd., l.Teil Kap.V, S.93ff.

75

76 Vgl. ausf. zur association politique in den Vereinigten Staaten ebd., l.Hbd., 2.Teil Kap. IV, S. 195 ff., bes. 197: «ce que j'ai dit autre part à l'occasion des libertés communales». 77

Ebd., 2. Hbd., 2.Teil Kap.V, S. 113 ff.

78

Ebd., S. 116; vgl. zur Versammlungsfreiheit a. ebd., 4.Teil Kap.VI, S. 318. Ebd., l . H b d , 2.Teil Kap.IV, S. 199.

79

77

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

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Schließlich ist auf A. de Tocquevilles Empfehlung der (in Amerika kennengelernten) Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer freiheitssichernden Wirkung hinzuweisen. Er erkannte den Zusammenhang zwischen der Entwicklung einer Verfassungsgerichtsbarkeit und dem Bestehen eines föderalen Systems, doch nahm er auch hier eher beschreibend als theoretisch analysierend Zuflucht zu konkreten Beispielen81. e) Kritische

Würdigung

Der Einfluß A. de Tocquevilles ist in Breite und Tiefe so groß, daß es schwerfällt, ihn anhand einzelner Namen zu belegen. Neben der Geschichtsschreibung verdanken ihm Politikwissenschaften und Verfassungslehre gerade in Frankreich und Deutschland sehr viel. Auf die Wichtigkeit der Kontinuitätsthese für das Verständnis von Revolution und Ancien Régime wurde schon hingewiesen82. Der revolutionäre Glanz mancher Ideologien und Institutionen fiel ihr zum Opfer, auch wenn A. de Tocqueville gelegentlich falsche Dogmen selbst da nicht mehr auszuräumen imstande war, wo er an Klarheit nichts zu wünschen übrig gelassen hatte 83 . Für A. de Tocquevilles Einfluß in der französischen Geschichtswissenschaft stehen die Namen H. Taine, Fustel de Coul anges und A. Sorel u. Sein unmittelbarer Einfluß in Sachen Dezentralisation ist wohl bei seinem getreuen Schüler A. Prévost-Paradol als erstem noch im einzelnen zu spüren 85. Auf die deutsche Bundesstaatstheorie hat er namentlich über S. Waitz 86 einge80

Vor 1789! Gestützt auf die cahiers de Vordre du clergé ; vgl. dazu ders., Ancien Régime, Buch 2 Kap. XI, S.172f. 81

Vgl. ausf. ders., Démocratie, l . H b d , l.Teil Kap.VI, S. 100ff.

82

s. o. aaa.

83

Vgl. dazu Y. Mény, Débat, S. 61 u. passim. 84 Vgl. dazu näher J.-P. Mayer, in: Ancien Régime, Ed. Gallimard, 1967, S. 28 ff, Einführung, m. w. N.; s. a. ders., in: Démocratie, Ed. Gallimard, 1980, S. 11 ff, Einführung, m. w. N. 85

Vgl. nur A. Prévost-Paradol, La France Nouvelle, (1868) 3. Aufl. 1981, hg. von P. Guiral, S. 155 ff. (182): «Le self-government ou gouvernement de soi-même doit pénétrer jusque dans nos communes rurales, et il faut qu'elles apprennent à se gouverner à leurs risques et périls par le moyen des conseils qu'elles auront librement élus.», u. S. 184: «L'ensemble de ces réformes aurait pour principaux résultats de changer la commune, le canton, le département en autant d'écoles pratiques de la vie publique; de donner satisfaction sur place par des travaux utiles et par la juste distinction qui en serait la suite à des ambitions légitimes qui se consumment aujourd'hui dans le mécontentement et l'obscurité, ou qui assiènt inutilement les avenues encombrées du pouvoir central; d'intéresser enfin un grand nombre de citoyens à la bonne administration de la chose publique, et de répandre, par la pratique ou par l'exemple, les salutaires habitudes de libre discussion et de responsabilité personnelle jusque dans les rangs les plus humbles de la nation.»; vgl. zu A. Prévost-Paradol noch unten I I 3 m. w. .Ν. 86

Vgl. S. Waitz, in: Allgemeine Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur, 1853, S. 494 ff, wenig verändert wiederabgedruckt in: ders., Grundzüge der Politik, 1962, S. 153 ff.; s. a. die Zusammenfassung ebd, S. 42-46; vgl. zum ganzen a. S. Brie, Bundesstaat, S. 93 ff.

86

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

wirkt, mit dem Vorbehalt freilich, daß es ihm ja nicht um eine Institutionenlehre im technischen Sinne ging. Im übrigen sind die liberal-konservativen Elemente seiner Freiheitslehre in späteren Werken einzeln nicht mehr aufzuzeigen. Seine Gedanken finden sich — nachgewiesen oder nicht 87 — in fast allen Arbeiten zur Dezentralisation und weit darüber hinaus, wie überhaupt A. de Tocqueville wohl als der meist-zitierte Autor in unserem Zusammenhang gelten kann. Vieles von seinem Einfluß wird im folgenden noch sichtbar werden, so wie sein Ancien Régime schon die Betrachtung der vorrevolutionären Ausgangslage88 begleitet hat. A. de Tocquevilles Zentralismuskritik hat einen Markstein in der französischen politischen Literatur gesetzt. Die Dezentralisation verbürgt die Pluralität der öffentlichen Gewalt; erst damit kann die staatliche Gewalt vom einzelnen, von Minderheiten wirksam in Frage gestellt werden, sie wird als „Parteiinteresse neben anderen" erfahrbar. Daraus erwachsen auch der Gerichtsbarkeit eine neue Rolle und größere Autorität, indem sie nicht mehr mit der Zentralgewalt in eins gesetzt werden kann. Und daraus wiederum gewinnt die Verfassung ihre moralische und juristische Kraft, da sie nicht mehr der einzigen Zentralgewalt zur Disposition steht, sondern mit eigenen Durchsetzungschancen ausgestattet ist. Damit hat A. de Tocqueville wesentliche Züge einer modernen freiheitlichen Verfassungslehre vorgezeichnet. Ungeachtet seiner melancholisch-passeistischen Trauer um den Bedeutungsverlust seiner eigenen, der aristokratischen Klasse ist es ihm gelungen, ein manchmal atemberaubendes Bild der sich ankündigenden Massendemokratie zu zeichnen. Mit großem Scharfblick erkannte er Kontinuität, wo seine Zeitgenossen noch ohne Zusammenhang dachten, projizierte er unbekümmert um Ideologien und Ideale gefahrliche Entwicklungen und markierte die Chancen und Sicherungen, die ihm zur Erhaltung der Freiheit des Individuums zu bleiben und sein aktives Eintreten für sie zu rechtfertigen schienen. Auch wenn er seine Herkunft in seinen Sehnsüchten nicht leugnen konnte, war er doch dem Verstand nach Demokrat, während Montesquieu die nämlichen Probleme noch mit einem Zurück-zur-Vergangenheit, der Stärkung des Adels lösen wollte 89 . Trotz des Denkens in großen Zusammenhängen war A. de Tocquevilles Geschichtsverständnis nie mechanistisch. Mit großer Sorgfalt widmete er sich dem Prozeß zunehmender Zentralisation, der Erscheinungsweise differenzierter Dezentralisation und insbesondere kommunaler Freiheit. Das föderale System — studiert und dargestellt am Beispiel Amerikas — galt ihm zwar als hervorragende Freiheitsgarantie, er erkannte auch — gerade im Zusammenhang mit der Dezentralisation — seine wesentlichen Züge und verlor sich — auch hier — nicht in begrifflichen Verkünstelungen und Abgrenzungsproblemen. Insgesamt bleibt aber 87

s. z.B. unten C I I I 4 Fn. 182.

88

o. A I . Dazu schon ο. A I I 1 a.

89

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

87

seine Darstellung eigentümlich vage und distanziert: Zu genau wußte A. de Tocqueville , ein bißchen Politiker und ganz Realist, wohl, was er seinem französischen zeitgenössischen Publikum noch zumuten konnte. 2. Pierre-Joseph Proudhon* Neben dem Aristokraten A. de Tocqueville war der Revolutionär P.-J. Proudhon der zweite bedeutende Vertreter der politischen Theorie Frankreichs im 19. Jahrhundert. Auch sein Interesse galt dem Individuum in der Gesellschaft und den Bedingungen seiner Freiheit. Bei aller Unstetigkeit in seinem Leben und Werk lassen sich einige Grundthemen feststellen, die den Gang der Entwicklung und letztlich auch den großen Zusammenhang markieren: Unter dem Stichwort Anarchie lehnte der junge P.-J. Proudhon jede Herrschaft des Menschen über den Menschen ab; dann befaßte er sich näher mit den Bedingungen von Freiheit und Selbstbestimmung; schließlich problematisierte er zentral das Verhältnis von Ökonomie und Politik. Als Frucht seiner unzähligen Fragen und Reflexionen entwickelte er sein Principe fédératif unter den Stichworten garantisme, mutualisme und fédéralisme. Es ist in der Tat sein letztes großes Werk und hebt seine früheren Gedanken in bestem Hegehchsn Sinne auf; so ist es naheliegend, die folgende Darstellung darauf zu konzentrieren. Den ersten Teil widmete P.-J. Proudhon der Entwicklung der Prinzipien, den zweiten (in Anwendung auf das Problem der Einheit Italiens) der Abrechnung mit „dem Wahnsinn und der Verderblichkeit der unitarischen Politik" und den dritten der Auseinandersetzung mit der Presse. Er hielt sich nicht mit Begriffen und Symbolen auf, sondern suchte nach dem Wesen der Dinge mit Sinn für Mischformen und Nuancen 90 . Methodisch ging er so vor, daß er immer wieder um den gleichen Kern neue Ideen entwickelte. Dabei war er höchst originell und scheute keinen Widerspruch. Das formale Spiegelbild seines beißenden Zugriffs ist die Polemik seiner Formulierung. Seine grundsätzlichen Überlegungen mündeten immer wieder in konkrete Vorschläge, die er an gegenwärtigen Beispielen gedanklich erprobte. Wichtige Anregungen bezog er neben dem politischen Tagesgeschehen und der immer drängender werdenden sozialen Frage aus der Außenpolitik, insbeson* 1809-1865 90 Das Wesen der Monarchie z. B. sei nicht Königswürde noch ihre Vererblichkeit, sondern liege in der «indivision gouvernementale et administrative, dans Pabsolutisme du prince, un ou collectif, et dans son irresponsabilité», P.-J, Proudhon , Principe, l.Teil Kap. III, S. 286, Anm. a); s. a. ebd, Kap.V, S. 304: «IJne république unitaire et une monarchie constitutionnelle sont une seule et même chose: il n'y a qu'un mot de changé et un fonctionnaire de moins.» — Die Konfrontation der Idealtypen — das Wort ist noch nicht da, wohl aber die Sache, vgl. z. B. ebd, S. 303 f. — monarchie u. démocratie mit der Wirklichkeit zeige eine ganze Reihe von gouvernements de faits , die sich nicht einordnen lassen, P.-J. Proudhon nannte sie «gouvernements composites ou mixtes», ebd, S. 295.

88

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

dere aus der italienischen Frage 91. Dennoch kam er — abgesehen von seinem Brüsseler Exil — nie ins Ausland und kannte auch keine fremden Sprachen 92. Gleichwohl nahm P.-J. Proudhon insbesondere auf drei Länder rechtsvergleichend Bezug: Die Schweiz lieferte ihm das ideale Beispiel einer funktionierenden föderalen Verfassung. Amerika, das er eindeutig nicht mochte, mußte für heftige Kritik an der „realen" Demokratie herhalten 93 — jedenfalls für das, was er als ihre gegenwärtige Ausgestaltung ansah94; insbesondere verwies er auf die dem amerikanischen Föderalismus innewohnende Tendenz zur Zentralisation. Das dritte Beispiel — gleichsam gedankliches Experimentierfeld seiner verfassungspolitischen, staatenstiftenden Visionen — war Italien, dessen Einheit, die „italienische Frage", ihn (wie viele Zeitgenossen) stark beschäftigt hat. Ihr widmete er auch weite Strecken des zweiten Teils des Principe fédératif 95. P.-J. Proudhon zitierte den Abbé St. Pierre, hatte aber sonst die einschlägige Literatur kaum gelesen96. Das mag auch erklären, warum er selbst seine «théorie du principe fédératif» für «toute nouvelle» und «... présentée par personne» hielt 97 . Mindestens ist aber festzustellen, daß die Idee schon „in der Luft lag" 98 . a) Grundlegung des Principe fédératif P.-J. Proudhon selbst sah die vielfältigen — und oft widersprüchlichen — Gedanken seines reichen schriftstellerischen Lebens in seinem letzten großen Werk «Du principe fédératif» aufgehoben, in dem er den Beweis der Notwendigkeit und Gerechtigkeit des föderalen Prinzips zu bringen hoffte und wesentliche Elemente der Theorie eines umfassenden Föderalismus als Staat, Wirtschaft und Gesell91 Vgl. dazu P.-J. Proudhon, La fédération et l'unité en Italie u. Nouvelles observations sur l'unité é Italiénne, in: Œuvres Complètes, nouvelle édition, hg. von C. Bouglé u. H. Moysset, Bd. XV, 1982, S. 77 ff. bzw. 203 ff. - Zu P.-J. Proudhons Quellen s. a. ders., Principe, l.Teil Kap. I, S. 270, u. J.-L. Puech/T. Ruyssen, Fédéralisme, S. 62ff. 92

Anders dagegen Montesquieu und A. de Tocqueville.

93

P.-J Proudhon, Principe, l.Teil Kap. IX, S. 338.

94

P.-J. Proudhons abschätziges Urteil über Amerika erklärt sich wohl zuallererst aus Unkenntnis; immerhin datieren A. de Tocquevilles Amerikabücher aus den Jahren 1835 u. 1840, sie konnte er also kennen; vgl. dazu a. J.-L. Puech / T. Ruyssen, Fédéralisme, S. 66 f , u. in: Principe, S. 338, Anm. 48 bis. 95 Ein föderal geordnetes Italien schien P.-J. Proudhon zugleich Anwendungsfall seiner politischen Lehren und die Erfüllung von «Liberté», «Souveraineté du peuple», «Contrat social» und «République», vgl. ders., Principe, 2. Teil Kap.V, S. 388 ff. 96 Jedenfalls nicht zitiert, so fehlen fällige Hinweise auf J.-J. Rousseau, Montesquieu, A. de Tocqueville, St. Simon u. A. Comte, vgl. dazu J.-L. Puech / T. Ruyssen, Fédéralisme, S. 67 ff, aber a. S. 30; s. a. die Nachweise einschlägiger Schriften, die P.-J. Proudhon jedenfalls teilweise gekannt haben muß, bei T. Ruyssen, in: Principe, S. 393, Anm. 68; s. a. G. Scelle, ebd., S. 9, Einführung. 97 P.-J: Proudhon, Principe, l.Teil Kap.I, S.270; dazu J.-L. Puech/T. Ruyssen, Fédéralisme, S. 62 ff. 98 J.-L. Puech/T. Ruyssen, Fédéralisme, S.66.

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

89

schaft strukturierenden Prinzips entwickelte. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der Gegensatz von Autorität und Freiheit, der allen sozialen Strukturen zugrunde liege und deren allgegenwärtiges Spannungsverhältnis er zunächst diskutierte". Ihr Ausgleich sei Gegenstand aller Politik 100 . Diesen Ausgleich schaffe das „föderale Prinzip" (principe fédératif). Es bedeutet den Zusammenschluß sozialer Einheiten auf verschiedenen Ebenen durch einen Vertrag als Norm und als Strukturprinzip, der in der Demokratie gegenseitig und gleichgewichtig (synallagmatique und commutative) zu sein habe 101 . Einen solchen politischen Vertrag, in dem der Bürger vom Staat so viel erhält wie er ihm gibt, und in dem er im übrigen all seine Freiheit, seine Souveränität und Initiative behält 102 , nannte P.-J. Proudhon fédération 103 und später contrat fédératif 104. Im Begriff der fédération ging für ihn auch die Dezentralisation auf 105 , wie umgekehrt A. de Tocqueville Föderalismus als eine Erscheinungsweise der Dezentralisation betrachtete 106. Als Vertragspartner nannte P.-J. Proudhon „die Chefs von Familien, Gemeinden, Kantonen, Provinzen und Staaten"; entscheidend sei bei allem, daß auf jeder Ebene die Vertragschließenden mehr Rechte behalten als sie geben 107 . b) Einrichtung und Ausgestaltung des föderalen Systems Als Pragmatiker, der P.-J. Proudhon bei aller analytischen und visionären Kraft war, schenkte er auch den Entwicklungsbedingungen und Durchsetzungshinder99 P.-J. Proudhon, Principe, I.Teil Kap. I, S.271: «Mordre politique repose fondamentalement sur deux principes contraires, PAUTORITE et la Liberté : le premier initiateur, le second déterminateur; celui-ci ayant pour corollaire la raison libre, celui-la la foi qui obéit.», u. näher im folgenden. 100

Ebd, S. 272: «... toutes les conditions politiques, tous les systèmes de gouvernement, la fédération y comprise, peuvent se ramener à cette formule, le Balancement de lAutorité par la Liberté, et vice versa.» 101

Ebd, 2.Teil Kap. II, S. 371.

102

Ebd, l.Teil Kap.VIII, S. 324: «nous avons reconnu que le contrat social par excellence était un contrat de fédération, que nous avons défini en ces termes: Un contrat synallagmatique et commutatif, pour un ou plusieurs objets déterminés, mais dont la condition essentielle est que les contractants se réservent toujours une part de souveraineté et d'action plus grande que celle qu'ils abandonnent.» 103 104

Ebd, Kap.VII, S. 318. Ebd, S. 319.

105

Ebd, Kap. XI, S. 361: «Toutes mes vues politiques se réduisent à une formule semblable: Fédération politique ou Décentralisation.» 106 107

s. o. l b .

P.-J. Proudhon, Principe, l.Teil Kap.VII, S. 319: «Ce qui fait l'essence et le caractère du contrat fédératif, et sur quoi j'appelle l'attention du lecteur, c'est que dans ce système les contractants, chefs de famille, communes, cantons, provinces ou Etats, non seulement s'obligent synallagmatiquement et commutativement les uns envers les autres, ils se réservent individuellement, en formant le pacte, plus de droits, de liberté, d'autorité, de propriété, qu'ils n'en abandonnent.», u. ebd, Kap.VIII, S. 326: «... l'essence est de réserver toujours plus aux citoyens qu'à l'Etat, aux autorités municipales et provinciales plus qu'à l'autorité centrale.»

90

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

nissen des föderalen Prinzips Beachtung. Er sah Staat und Gesellschaft in Bewegung und betonte das dynamische Prinzip. Bei zunehmender Bevölkerung und größerem Staatsgebiet sah er autoritäre Regime immer unerträglicher werden, während freiheitliche Regierungen bei gleicher Entwicklung sich immer mehr ihrem Ideal näherten und mit wachsender Komplexität der Beziehungen und fortschreitender Wissenschaft die Freiheit gestärkt werde. Dabei entstünde erst der Ruf nach einer Verfassung, dann nach Dezentralisation und schließlich werde die «idée de fédération» ertstehen 108 . Damit wüchse die Macht von der Zentralgewalt immer weiter über die Stufen von Provinzen, Departements und Gemeinden deren Bürgern zu, die freiheitliche Verfassung setze sich durch. Diese naturgegebene, fortschreitende und freiheitliche Entwicklung bedürfe als Grundlage nur eines Systems, in dem die Hierarchie, statt auf ihrem Gipfel aufgestellt zu sein, auf ihrer Basis ruhe, also eines föderativen Systems109. Auch Frankreich könne föderalisiert werden 110 , trotz des „reaktionären Komplotts" ringsherum, wo die fédération auf Mißverständnis und Ablehnung stoße 111 . Dabei entspreche das föderative System mit der nötigen Anpassung auch jeder Entwicklungsstufe und bedeutete ein flexibles und gleichsam universelles Prinzip 1 1 2 . Es wurde bei P.-J. Proudhon zum Inbegriff der freiheitlichen Verfassung demokratischer Republiken 113 . Schließlich präsentierte P.-J. Proudhon sein Resümee („der gesamten Verfassungswissenschaft") in drei Vorschlägen: „Bildung untereinander souveräner und durch einen Föderationspakt verbundener Gruppen; Organisation der Regierung in jedem Einzelstaat nach den Prinzipien der Gewaltenteilung . . , der Öffentlichkeit und der Kontrolle;... Beschränkung der Zentralgewalt auf eine Rolle allgemeiner Initiative, wechselseitiger Garantie und Überwachung .. " 1 1 4 .

108

Ebd, Kap.VI, S.310.

109

Ebd, Kap.Vili, S.330.

110

Ebd, conclusion, S. 550: «La nation française est parfaitement disposée pour cette réforme. Accoutumée de longue main à des gênes de toute sorte et à de lourdes charges, elle est peu exigeante; elle attendra dix ans l'achèvement de l'édifice, pourvu que chaque année l'édifice s'élève d'un étage. La tradition n'y est pas contraire: ôtez de l'ancienne monarchie la distinction des castes et les droits féodaux; la France, avec ses Etats de province, ses droits coutumiers et ses bourgeoisies, n'est plus qu'une vaste confédération, le roi de France un président fédéral. C'est la lutte révolutionnaire qui nous a donné la centralisation. Sous ce régime, l'Egalité s'est soutenue, au moins dans les mœurs; la Liberté s'est progressivement amoindrie.»; s. dazu näher aber a. schon ο. I. 111

Ebd, avant-propos, S. 262.

112

Ebd, l.Teil Kap.VIII, S. 331.

113

Ebd, Kap. VII, S. 321 : «En résumé, le système fédératif est l'opposé de la hiérarchie ou centralisation administrative et gouvernementale par laquelle se distinguent, ex aequo, les démocraties impériales, les monarchies constitutionnelles et les républiques unitaires.» 114

Ebd, l.Teil Kap.VIII, S.330f.

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

91

Neben (theoretischer) Grundlegung u n d Einrichtung des föderalen Staats schenkte P.-J. Proudhon aber auch Einzelheiten seiner Ausgestaltung seine Aufmerksamkeit. Zunächst ging es u m die richtige Abgrenzung der Rolle des Staats gegenüber dem Bürger: Aufgaben v o n Staat u n d Regierung seien Richtungsbestimmung u n d Anregung, die Ausgestaltung u n d Ausführung dann Sache der Bürger u n d der örtlichen K r ä f t e 1 1 5 . Die „Gewaltenteilung", „Wesen der D e m o k r a t i e " 1 1 6 , hielt P.-J. Proudhon i n ihrem traditionellen horizontalen Verständnis für ungenügend 1 1 7 . I m N a m e n der Exekutive sei der Staat i n Bereiche eingedrungen, die seine Aufgaben weit überstiegen, u n d habe damit die höchste Gefahr für die Freiheit heraufbeschworen 1 1 8 . Aber schon die Regierungsgewalt müsse auch m i t den Provinzen u n d Gemeinden geteilt w e r d e n 1 1 9 . 115 Ebd, S.326f.: «Dans une société libre, le rôle de l'Etat ou Gouvernement est par excellence un rôle de législation, d'institution, de création, d'inauguration, d'installation;— c'est, le moins possible, une rôle d'exécution...»; s. a. die Bspe. ebd. u. ähnlich a. schont. de Tocqueville, dazu ο. 1 b m. w. N. u. ebd. a. Bspe. 116

P.-J. Proudhon, Principe, l.Teil Kap. III, S.285f.: «En revanche, une grande idée a surgi, l'une des plus grandes de la science, l'idée de la Division ou Séparation des Pouvoirs. Grâce à cette idée, la Société prend une forme décidément organique, il y a en elle quelque chose qui ne périra plus, c'est cette belle constitution de la puissance publique par catégories, Justice, Administration, Guerre, Finances, Culte, Instruction publique, Commerce, etc.» — a. P.-J. Proudhon hat also ein eigenes Verständnis von Gewaltenteilung! s. a. ebd, S. 286, Anm. a) von P.-J. Proudhon: «Ce qu'il importe de bien retenir, c'est que les gouvernements se distinguent par leur ESSENCE, non par le titre donné au magistrat. Ainsi l'essence de la monarchie est dans l'indivision gouvernementale et administrative, dans Γabsolutisme du prince, un ou collectif, et dans son irresponsabilité. L'essence de la démocratie, au contraire, est dans la séparation des pouvoirs, dans la distribution des emplois, le contrôle et la responsabilité. La couronne et l'hérédité elle-même ne sont ici que des accessoires symboliques. Sans doute c'est par le père-roi, par l'hérédité et par le sacre, que la monarchie se rend visible aux yeux: ce qui a fait croire au vulgaire que, le signe manquant, la chose n'existait plus. Les fondateurs de la démocratie, en 93, crurent avoir fait merveille de couper la tête au roi, pendant qu'ils décrétaient la centralisation. Mais c'est une erreur qui ne doit plus tromper personne.» 117

Ebd, Kap.VIII, S. 326: «... quant à la compétence de l'Etat en elle-même, à son étendue, à son objet, on ne voit pas que personne s'en soit beaucoup inquiété. On a songé au partage ...; quant à la chose à partager, il a paru généralement que plus il y en aurait, plus la fête serait belle. Et pourtant la délimitation du rôle de l'Etat est une question de vie ou de mort pour la liberté, collective et individuelle.» 118

Ebd, S. 326 f.: «... le nom de pouvoir exécutif , a singulièrement contribué à fausser les idées. L'Etat n'est pas un entrepreneur de services publics... L'Etat, soit qu'il édicté, soit qu'il agisse ou surveille, est le générateur et le directeur suprême du mouvement; si parfois il met la main à la manœuvre, c'est à titre de première manifestation, pour donner l'impulsion et poser un exemple.» 119

Ebd, S. 331 : «Ce n'est pas seulement entre sept ou huit élus, sortis d'une majorité parlementaire, et critiqués par une minorité opposante, que doit être partagé le gouvernement d'un pays, c'est entre les provinces et les communes: faute de quoi la vie politique abandonne les extrémités pour le centre, et le marasme gagne la nation devenue hydrocéphale.»

92

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

Für föderale Interessen betreffende Fragen verlangte P.-J\ Proudhon eine föderale Gerichtsbarkeit 120. Schließlich gelte das föderative Prinzip auch als ein allgemeines Rechtsprinzip mit der Folge, daß ein diesem entgegengesetztes Recht praktizierender Staat Mitglied eines föderativen Verbandes nicht sein könne 121 . Ebensowenig könnten wegen der Unvereinbarkeit von unitarischem und föderativem Prinzip Staaten eine Konföderation miteinander eingehen, die sich zum Verzicht auf einen Teil ihrer Souveränität und zur Anerkennung eines Richters über sich nicht bereitfänden 122 . c) Föderalismus und Wirtschaftsverfassung P.-J. Proudhon hatte schon zuviel über den bestimmenden Einfluß der wirtschaftlichen Verhältnisse und Macht nachgedacht, als daß er seine politischen Reflexionen zum föderativen Prinzip auf den Staat beschränkt hätte. Die zunehmende Entmachtung des Individuums gegenüber dem Moloch Staat fände ihr Spiegelbild in der Konzentration der Wirtschaftsmacht; Etatisierung und Zentralisierung gingen Hand in Hand. So müsse auch das föderative Prinzip ins Leere laufen, wenn es nicht durch entsprechende Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft aufgefangen würde. Er begnügte sich auch nicht mit der Erklärung der Verwaltungszentralisation durch politischen Opportunismus, sondern rückte das ökonomische Interesse der Bourgeoisie in den Blick: Die Gewaltenteilung halte die Krone im Zaum, das beschränkte Wahlrecht die Masse, während die Zentralisation Arbeitsplätze und Teilhabe an der Macht und am Staatssäckel garantiere, das Ortsleben erdrücke, jede Unruhe leicht ersticke und so die friedliche Ausbeutung der Massen erleichtere 123. So hielt P.-J. Proudhon die Reform der Wirtschaft für das notwendige Komplement der politischen Reform. Zum Schutz von Handel und Industrie forderte er eine Zollgemeinschaft, zur Verbesserung der Infrastruktur einen Zusammenschluß von mehreren Staaten124 {«fédération agricole-industrielle »)ns auf der 126 Grundlage eines föderativen Vertrags . Diese Idee sei auch nichts anderes als 120

Ebd, Kap.VII, S.323.

121

A m Bsp. der Sklaverei u. des durch sie ausgelösten amerikanischen Sezessionskrieges «Pésclavage d'une partie de la nation étant la négation même du principe fédératif», ebd, S. 321 Anm.a). 122 Ebd, S. 321; so könnten Frankreich, Österreich, England, Rußland u. Preußen wohl Beistands- und Handelsverträge schließen, niemals aber eine Konföderation bilden. Dagegen sei die «confédération germanique» auf dem Wege zu Freiheit u. nationaler Einheit u. drohe, die ihr im Wege stehenden Dynastien eines Tages zum Verschwinden zu bringen, ebd, S.321 f. — So alt ist also die Angst vor der deutschen Einheit. — 123

Ebd, Kap.V, S.303.

124

Ebd, Kap. XI, S.357.

125

Ebd, S.361: «Toutes mes idées économiques, élaborées depuis vingtcinq ans, peuvent se résumer en ces trois mots: Fédération agricole-industrielle.»

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

93

die Anwendung der (Wirtschafts-)Prinzipien der Gegenseitigkeit, Arbeitsteilung und Solidariät auf ihrer höchsten Stufe: der Wirtschaftsverfassung 1 2 7 . d) Kritische

Würdigung

P.-J. Proudhons literarische Hinterlassenschaft ist schillernd und voller Widersprüche. Das macht und machte es seinen Gegnern leicht, in seinem facettenreichen Werk etwas zu finden, das als Beleg für fast jede Anschuldigung gegen ihn verwendet werden konnte, jedenfalls aber auf innere Widersprüche hinzuweisen und damit seine „Unwissenschaftlichkeit", wenn nicht „Unlauterkeit" zu „beweisen". Auch sein Principe fédératif wurde erst einmal von allen Seiten bekämpft. Dennoch war P.-J. Proudhons Einfluß schon früh beträchtlich, ist hinter manchen Texten der Zweiten Kommune von Paris erkennbar 128 und war groß in der Ersten Internationalen 129 und in der Gewerkschaftsbewegung 130. Eine regelrechte Renaissance erlebte P.-J. Proudhon nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Schrecken von vielen als Bestätigung seiner Voraussagen 131 verstanden wurden. Auch die Regionalismusbewegungen der III. Republik beriefen sich auf ihn 1 3 2 — nicht immer gewiß im tiefsten Verständnis —, und er fand in L. Duguit und dessen Schüler G. Scelle 112, ([staats- und völker-]rechts-)wissenschaftliche Erben und Eingang in die französische Staatsrechtslehre.

126

Ebd, S. 358.

127

Ebd, S. 359.

128

s. näher unten CI1.

129

P.-J. Proudhon hielt sich selbst aus der Arbeiterbewegung weitgehend heraus, inspirierte aber ihre führenden Köpfe in Frankreich, vgl. B. Voyenne, Histoire de l'idée fédéraliste, Bd. III, Les lignées proudhoniennes, 1981, S. 26 ff.; näher J.-L. Puech, Le Proudhonisme dans l'Association Internationale des Travailleurs, 1907. 130

Die Gedanken P.-J. Proudhons haben auch die Struktur der franz. Arbeiterbewegung — freilich nicht dauerhaft — geprägt. Nach ihrer fast völligen Zerschlagung nach dem Ende der Zweiten Kommune erstand sie langsam wieder als politisch und gewerkschaftlich tätige «Fédération du parti des travailleurs socialistes de France», die auf der Basis von sechs autonomen Regionen 1879 auf dem Arbeiterkongreß in Marseille in Form und Geist des Föderalismus gegründet wurde. Doch schon 1880 führten die Auseinandersetzungen zwischen J. Guesde für eine streng zentralistische Struktur und P. Brousse für die Idee des Föderalismus, zwischen etatistischem Sozialismus u. socialisme autogestionnaire zu einer neuen Spaltung, aus der die «Fédération des travailleurs socialistes» hervorging. In reiner Form führten schließlich die am 5.11.1886 gegründeten Bourses du travail mit ihrem Protagonisten F. Pelloutier die Proudhonsche Föderalismusidee weiter. Vgl. zum ganzen ausf. B. Voyenne, Histoire III, S. 105 ff. — Zur neueren Situation vgl. S. Chatillon, Pourquoi la division syndicale, 1977; vgl. zur Organisation der C.G.T. B. Voyenne, Histoire III, S. 114 m. w. N. 131

«Le X X e siècle ouvrira l'ère des fédérations, ou l'humanité recommencera un purgatoire de mille ans», P.-J. Proudhon, Principe, l.Teil Kap. XI, S. 355 f. 132 133

Vgl. unten C U l e u . 2 b. Vgl. unten C H I u. V

94

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

Das föderative Prinzip wurde für P.-J. Proudhon bei der Ausgestaltung der Staats- und Gesellschaftsordnung vom Struktur- schließlich zum (obersten) Gerechtigkeitsprinzip demokratischer Republiken schlechthin 134 . Wenn er dabei den Föderalismus als eine Folge des republikanischen Prinzips begreift, wird man ihm entgegenhalten können, daß es durchaus auch föderalistisch organisierte Diktaturen gibt 1 3 5 . Sieht man freilich Föderalismus nicht nur als eine Organisationsform, sondern als materiales Verfassungsprinzip im umfassendsten Sinne — und gerade das hat er ja in radikalster Weise gewollt —, bleibt nur, eben das Fehlen dieses Prinzips in den angeführten Beispielsfallen festzustellen. Unbestritten können in allen Organisationsformen sozialer Systeme Teilaspekte des föderalen Prinzips verwirklicht sein. Die weiteren Gleichungen Föderation und Freiheit, Föderation und Republik, Föderation und Sozialismus136 entsprechen P.-J. Proudhons Suche nach Gesetzmäßigkeiten und inneren Zusammenhängen, sind aber durchaus anfechtbar 137. Solche Entsprechungen können gleichwohl auf einem hohen Abstraktionsniveau „stimmen", sie kennzeichnen jedenfalls P.-J. Proudhons analytischen Blick und seine Gabe, politische Probleme umfassend in ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhängen zu sehen; sie stehen natürlich auch für sein politisches Engagement. Eine weitere kritische Anmerkung verdient P.-J. Proudhons Unterscheidung seiner Vertragskonzeption von der — von ihm heftig angegriffenen — Konzeption J.-J. Rousseaus, der er zwar ihre positive Funktion der Gründung einer politischen Konzeption auf die Vernunft — statt auf Naturrecht oder Religion — im Jahr 1764 nicht absprach, der er aber doch vorwarf, nichts als eine Fiktion zu sein 138 . Zu hinterfragen bleibt dabei, ob P.-J. Proudhon wirklich den Vertragsgedanken J.-J. Rousseaus berichtigt hat, wie er selbst meinte. Sicher hat er ihn auf eine niedrigere Stufe der Abstraktion gestellt, auf der er eher konkretisierbar, gleichwohl aber 134 Vgl. zu den — später bes. von G. Scelle weitergeführten — internationalrechtlichen Ansätzen schon bei P.-J. Proudhon die Studie N. Bourgeois', Les théories du Droit international chez Proudhon, 1927. 135

G. Scelle, in: Principe, S. 16, unter Hinweis auf die UDSSR u. südamerikanische Staa-

ten. 136 P.-J. Proudhon, Principe, 2.Teil Kap. III, S. 383: «En résumé, qui dit liberté, dit fédération, ou ne dit rien; Qui dit république, dit fédération, ou ne dit rien; Qui dit socialisme, dit fédération, ou ne dit encore rien.» 137 Ebenso idealisiert P.-J. Proudhon, wenn er aus der Natur der föderalen Bindung die unbedingte Friedlichkeit eines Gemeinwesens folgert, vgl. Principe, l.Teil Kap. IX, S. 334 f.; zutreffend ist aber sicher der Zusammenhang im Grundsatz. In der Tat sieht P.-J. Proudhons föderativer Pakt nur die wechselseitige Verteidigung vor, ebd, S. 335, doch greift das Argument zu kurz; abgesehen von der Schwierigkeit der Differenzierung zwischen Angriff und Verteidigung ist auch der Mißbrauch des Pakts zu einem offensiven Zweck jederzeit denkbar; zutreffend ist freilich, daß die föderale Pflicht der Abstimmung mit den anderen Bündnispartnern jedenfalls mäßigend u. damit friedensfördernd wirkt. 138

Ebd, Kap.VIII, S. 318, mit Anm. a); vgl. a. T. Ruyssen, in: Principe, S. 318, Anm. 40.

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

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nicht mehr nachweisbar ist. So öffnete er diesen Vertrag der Nachprüfbarkeit an (sogar quantifizierbaren) Gerechtigkeitskriterien. Diese werden zwar bei der Ausgestaltung einer Verfassung im einzelnen wieder nicht weiterhelfen, doch weist die Aufmerksamkeit, die P.-J. Proudhon der Gegenseitigkeit der Beziehungen und Balancierung der Macht widmete, sicher in die richtige Richtung 139 . Sicherlich hat er auch viele Aspekte des Föderalismus noch nicht gesehen140. Abgesehen von den heute oft schon nicht mehr nachweisbaren Anregungen, die er den verschiedensten Gruppen und Bewegungen, Parteien und Gewerkschaften, Wissenschaftlern und Politikern gegeben hat, bleiben als zentrale Botschaften das freiheits- und fortschrittsfördernde Prinzip der Spannung, die Bedingung von Machtausgleich und -gleichgewicht für eine freiheitliche pluralistische Ordnung und die Allgemeingültigkeit des föderalen Prinzips nicht nur für die Staatsorganisation, sondern auch in Wirtschaft und Gesellschaft festzuhalten. 3. Weitere Reformvorschläge und Ansätze zur wissenschaftlichen Kritik Die Kritik an der für zu gering gehaltenen Größe des Departements durchzog schon das ganze 19. Jahrhundert, in der Zweiten Republik und im II. Empire häuften sich die Reformvorschläge. Sie umfaßten die Schaffung „Großer Departements" und von sieben bis zu 25 Regionen, teils auf „geologischer", „botanischer", „natürlicher" und wirtschaftlicher Grundlage; unter den Reformern befanden sich Raudot (1851), A. Comte (1854) und F. Le Play (1864) 141. Seit dieser Zeit wurden die Argumente, die gegen das Departement ins Feld geführt wurden, weiter angereichert, ohne jedoch gänzlich neue Aspekte hinzuzugewinnen. Seit dieser Zeit bestand auch die Zerrissenheit des „Regionalismus" zwischen Dezentralisation und Dekonzentration 142 . Eine der frühesten wissenschaftlichen Studien zur Dezentralisation schrieb A. Vivien schon 1845143. Er betrachtete zwar die Entstehung des Departements in ihrem zeitgeschichtlichen Zusammenhang, was allein ihm gerecht wird, hielt aber auch die Zeit für Reformen für gekommen 144 . Er sah in der zentralistischen Verwaltung die Ursachen von Mißverständnissen, Unzufriedenheit und Krisen 145 , 139

Vgl. zu der Frage G. Scelle, in: Principe, S. 22.

140

Ebd, S. 10.

141 Vgl. F. Le Play, La réforme sociale en France (déduite de l'observation comparée des peuples Européens), 1864/1982, S. 381 ff.; A. Comte, Système de politique positiviste, Bd. IV, La société positiviste, 1929, S. 420 f.; s. a. M. Bourjol, Institutions, S.91f. R. 159 m. w. N , u. S. 92 R. 159: «la fièvre du découpage gagne les géographes, les économistes, les journalistes. Plus prudents, les hommes politiques se réservent.» 142

M. Bourjol, Institutions, S. 93 R. 162.

143

A. Vivien, Etude administrative, 2 è m e partie, l.Aufl. 1845, 2. Aufl. 1852 (hier zit.), 3. Aufl. verschwunden. 144 Ebd, S. 110. 145

Ebd, S. 14 f.

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

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des wechselseitigen Mißtrauens zwischen Bürgern und V e r w a l t u n g 1 4 6 u n d des Fehlens v o n Verantwortungsbewußtsein u n d Bürgersinn 1 4 7 . Unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Vereinigten Staaten, Belgiens u n d Englands rief er zu maßvollen Reformen a u f 1 4 8 . Insbesondere müßten die Selbstverwaltung gestärkt u n d Foren interkommunaler Zusammenarbeit geschaffen w e r d e n 1 4 9 . Seine ins einzelne gehenden Gesetzesvorschläge (zu Fragen des Rechtsschutzes, der Rechts- u n d Fachaufsicht u n d des Haushalts 1 5 0 ) gingen i n die Arbeit der (gesetzgebenden) Versammlung 1852 e i n 1 5 1 . Schon A. Vivien setzte sich für die Schaffung „Großer Departements" ein — u n d m i t dem V o r w u r f des Föderalismus auseinander152. 146 Ebd, S. 89: «On peut signaler en France depuis longues années deux dispositions contraires, qui se sont réciproquement entretenues, et ont eu plus de part qu'on ne croit à l'instabilité du pouvoir. Les gouvernements se sont presque toujours méfiés des populations et attachés à les tenir en tutelle. Les populations de leur côté, considérant trop souvent le gouvernement comme un ennemi et non comme un guide bienveillant, ont cherché toutes les occasions de le contrarier dans sa marche. Est-ce en agrandissant le pouvoir central, qu'on vaincra cette disposition? Nous ne le pensons pas.» 147 Ebd, S. 89f.: «On fait perdre ainsi aux citoyens, nous ne pouvons trop le répéter, le sentiment de la responsabilité; on crée et l'esprit de servitude et l'esprit d'opposition, et l'on tue cette solidarité éclairée, qui unirait ensemble, par les liens de la confiance et de l'affection, les gouvernants et les gouvernés.» 148

Ebd, S. 18 ff, 23 ff.

149

Ebd, S. 74 f.

150

Ebd, S. 48 f , 58 ff, 97 f.

151

Vgl. dazu ebd, S. 107 Fn. 1.

152 Ebd, S. 110 f.: «Serait-il possible d'y constituer une des ces forces intermédiaires dont nous avons parlé et qui pourraient placer notre organisation politique sur des assises plus solides? Grave question; la poser seulement soulève l'inquiétude de ceux qui, pénétrés du besoin de maintenir l'unité politique, repoussent toute idée de fédéralisme; la résoudre, en faisant à ces préoccupations une juste part, est le but de ceux qui cherchent à opposer des barrières aux brusques révolutions par lesquelles la face entière du pays a été si souvent bouleversée. Nous ne partageons pas les craintes des premiers. La constitution de départements forts et doués d'une véritable indépendance pouvait être un péril pour l'Etat au début de la Révolution, quand les anciennes provinces, rayées de la carte par un simple article de loi, vivaient encore de leurs souvenirs, de leurs traditions, et pouvaient de nouveau former des états dans l'Etat. Il n'en est plus ainsi, et quels que fussent les changements que l'organisation départementale reçût, il n'y a désormais et il ne peut y avoir qu'une France, à laquelle ses enfants sont heureux d'appartenir et dont aucun ne songerait à se détacher ... Ce qui offrait des périls il y a soixante ans, en serait exempt aujourd'hui.», u. S. 112: «Ne craignons donc pas de créer sur le territoire ces pouvoirs intermédiaires dont l'absence a été si souvent regrettable. Mais on se demande si la division actuelle des départements se prête à l'accomplissement de cette pensée? Il ne nous le parait point. Leur territoire est trop étroit et par suite leur nombre trop grand. Déjà des circonscriptions plus larges ont été adoptées pour l'administration militaire, pour la justice, pour l'instruction publique et récemment pour l'organisation de la police, organisation que nous discutions à part. Pourquoi ne pas suivre cet exemple à l'égard de l'administration locale. De la réunion de plusieurs départements, groupés d'après la communauté des intérêts, la position géographique, le climat, résulterait une concentration d'efforts, de capacités, de ressources financières, et par suite la création

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

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Als Verteidiger der Zentralisation trat (ebenfalls schon früh) C. Dupont White m i t mehreren Schriften a u f 1 5 3 . Er markierte den Gegenpol i n der lebendigen öffentlichen Debatte u n d wurde bis weit in die Zeit der III. Republik z u m Kronzeugen der Zentralisation 1 5 4 . M i t den schädlichen Folgen der Zentralisation setzte sich wiederum 0. Barrot auseinander, der auf der Basis von Familie, Gemeinde (und Gemeindezusammenschlüssen) u n d Departement eine Lösung suchte u n d die Einrichtung einer A r t v o n Senat nach amerikanischem Vorbild vorschlug 1 5 5 . Z u den wichtigsten liberalen Vordenkern am Ende des II. Empire zählt A. Prévost-Paradol, der ebenfalls die politischen Vorteile der Dezentralisation als Quelle politischer K u l t u r u n d Schutz vor Diktatur u n d Revolution aufzeigte 1 5 6 . I n den Demokratiedefiziten i n Gemeinden u n d Departements sah er die Ursache des Staatsstreichs v o n 1852 u n d forderte Reformen zur Dezentralisation als für die Demokratie nötige Basis 1 5 7 . Schon finden sich auch die Forderung eines Regionalrats zur Konzertierung departementübergreifender Interessen u n d der Bestellung einer zweiten K a m m e r 1 5 8 . de grands travaux, d'établissements importants, une amélioration féconde du territoire et une force politique sur laquelle s'appuieraient le gouvernement dans les temps de repos, et l'ordre aux époques de troubles. Le temps seul peut amener cette nouvelle distribution, et nous reconnaissons qu'elle n'est pas encore entrée dans les esprits.» 153

C. Dupont-White, L'individu et l'Etat, 1. Aufl. 1858, 2. Aufl. 1861; La centralisation, 1860, u.a.m. 154 Vgl. z.B. bei M. Hauriou, Précis de Droit Constitutionnel, 2. Aufl. 1929, S. 191. 155 0. Barrot (a. Odilon-Barrot), De la centralisation et de ses effets, 1. Aufl. 1861, dt. Übers. 1862, 2. Aufl. 1870, hier zit, S. 205 ff, bes. S.219f. 156 A. Prévost-Paradol, France, S. 182ff.; s. a. ders., Eloge de la décentralisation, ebd, S. 116 ff. 157 Ders., France, S. 78 f.: «... leurs affaires communales et départementales dépendent absolument de l'autorité administrative, et qu'ils ne sauraient eux-mêmes faire un pas ni ouvrir la bouche sans l'autorisation préalable de fonctionnaires tirés de leur sein, tel est le spectacle contradictoire et extraordinaire que notre pays a offert au reste du monde, jusqu'à ce que, par un mouvement aussi violent et aussi inévitable que les convulsions de la nature, cet édifice politique s'écroulant, faute de base, la suppression du régime parlementaire en 1852 ait enfin ramené à la symétrie et à l'unité l'ensemble de la société française. .. Cette leçon si éclatante n'a pas été perdue, et il est bien peu de bons esprits qui n'aient aujourd'hui à cœur de réformer notre système administratif et de remanier nos institutions communales et départementales, afin de les rendre enfin capables de porter et de soutenir un gouvernement ... ». 158 Ebd, S. 82 f.: «Il y a, de plus, certains intérêts communs entre des départements voisins que peuvent rapprocher leur constitution géographique, leur industrie, l'usage et l'entretien de certaines voies de communication, ou de certains établissements d'utilité publique: cette heureuse communauté d'intérêts peut donner lieu à des réunions périodiques d'un certain nombre de conseils généraux ou de délégués de conseils généraux qui formeraient un conseil régional, chargé de délibérer sur les voies et moyens nécessaires pour assurer l'accomplissement de l'œuvre commune. Il est facile de déterminer le sujet de ces délibérations et de les restreindre à leur objet légitime, qui est d'agrandir l'action et l'u-

7

Sparwasser

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Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

Sammelpunkt dieser verschiedenen liberalen Ansätze und einer der wichtigsten (geschichtlichen) Bezugspunkte des späteren „klassischen" Regionalismus wurde das als „Programm von Nancy" bekanntgewordene Büchlein «Un projet de décentralisation» (1865). Seine 19 Unterzeichner—mehr hätten sich ohne behördliche Genehmigung nicht versammeln dürfen — bildeten (neben anderen) die «école de Nancy» 159. Sie forderten die Stärkung der Gemeinden, die Aufhebung von Arrondissement und Kanton, die „Emanzipation" des Departements und die Abschaffung der Präfekten und verbanden in dem Programm politische Perspektive und konkrete Vorschläge 160. Die Gedanken der Schule von Nancy wirkten in der «commission de décentralisation» von 1870 fort, die den liberalen Impuls des ausgehenden Empire und den „Geist von Nancy" in einen Reformplan mit stark demokratischen und dezentralisatorischen Zügen, freilich nicht ohne Kompromisse und mit einer klaren Absage an den Föderalismus umsetzte 161 . Die 62 Mitglieder umfassende Kommission unter Vorsitz 0. Barrots richtete ihr Hauptaugenmerk auf die Kompetenzen des Generalrats und die Wahl des Bürgermeisters, kümmerte sich aber nur wenig um die Region. Wenn auch die Wirkungen dieser durch den Krieg und den Sturz Napoleons III. abgebrochenen Arbeit durch die Reaktionen auf die Zweite Kommune 1871 einstweilen verschüttet wurden und kaum etwas in die Gesetzgebung der jungen III. Republik Eingang fand 162 , wirkte ihr Geist doch nach. Ebenfalls eine (gedanklich und personell) wichtige Quelle des Regionalismus war die mit dem Namen des provençalischen Poeten F. Mistral 163 verbundene traditionalistische Bewegung. In Anknüpfung an die europäische Romantik und den Nationalismus ging es ihr zunächst um die Verteidigung ihrer Muttersprache («langue d'oc») gegen die kulturelle Entfremdung und Bevormundung durch Paris, gegen den Konformismus im Namen der Nation selbst in der Poesie, doch bald schon wurden dabei der Zusammenhang von Poesie und Politik, von kultureller Freiheit und Freiheit insgesamt gesehen164. Das Selbstbewußtsein der Protile autorité des assemblées départementales sans diminuer l'autorité, supérieure à toute autre, du Parlement national. Ces réunions de plusieurs conseils généraux en conseil régional auraient encore un autre objet que nous expliquerons plus tard quand nous traiterons de la formation de la Chambre haute.» 159

Eine Liste mit Namen und Berufen der Unterzeichner findet sich a. bei B. BasdevantGaudemet, Commission, S. 104 f. 160

s. dazu a. M. Bourjol, Institutions, S. 126 R.213.

161

Vgl. zu den Einzelheiten B. Basdevant-Gaudemet, Commission, S. 52 ff.

162

Ebd, S.91 ff.

163

1830-1914.

164

«Car, de mourre-bourdoun qu'un pople toumbe esclau, / Se tèn sa lengo, tèn la clau / Que di cadeno lou delieùro.» (Car, face contre terre, qu'un peuple tombe esclave / S'il tient sa langue, il tient la clef / Qui le délivre de ses chaînes), F. Mistral, Aux poètes catalans, août 1861, in: Lis Isclo d'Or (Les Iles d'or), 1. Aufl. 1876, zit. nach B. Voyenne, Histoire III, S. 83.

II. Liberale und revolutionäre Ansätze in der politischen Theorie

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vence erwachte zu neuem Leben. Geschichte, Sprache und Dichtung bildeten die kulturelle Dimension einer später um wirtschaftliche und soziale Problemstellungen ergänzten Bewegung, die der französischen Nation lange als ernste Bedrohung ihrer Einheit erscheinen sollte. Dabei war F. Mistral kein Separatist, bekräftigte im Gegenteil seinen Patriotismus für Frankreich 165.1865 fand P.-J. Proudhons Föderalismusidee Eingang in und Verbreitung durch die um F. Mistral gesammelte Gruppe des «fèlibrige »166, dem später auch F. Amouretti und C. Maunas angehörten, ebenso wie in das antireligiöse und revolutionäre mouvement languedocien »La Lauseto« um den Dichter L.-X. de Ricard 167 in Montpellier, der freilich ab 1870 die vollständige Autonomie des Südens forderte 168 . Wenn F. Mistral sich auch vom Republikaner mit Sympathien für den Sozialismus 1848, enttäuscht vom Empire, dann aber auch vom wachsenden Zentralismus der III. Republik, zum Befürworter der Institutionen des alten Frankreich mit Sympathien für die Monarchie wandelte, war er doch auf die Koexistenz verschiedener politischer Richtungen in seinem «fèlibrige» bedacht 169 . Die provençalische Bewegung war lange Zeit eine treibende Kraft des Regionalismus, ihr kulturelles Anliegen gab ihr sicher mehr Selbstbewußtsein, als es wirtschaftliche und soziale Fragestellungen je geben können. Doch auch wenn sie sich gegen die anmaßende Pariser „Hochkultur" zur Wehr setzte, war sie doch selbst eine „elitäre" Versammlung, der die Schubkraft von „wirtschaftlich" und „sozial" bestimmten Massenbewegungen fehlte. 4. Zusammenfassung und Ausblick Die Saat der Lehren C. de Montesquieus, die in der französischen Revolution nur unvollkommen aufgegangen war, hatte nun auf dem Umweg über die Vereinigten Staaten von Amerika und durch die Vermittlung von A. de Tocquevilles Amerikabuch doch Eingang gefunden in ihre alte Heimat. Die „Übersetzung" in Dezentralisation und Föderalismus hatte sie zugleich von ihrer zeitgeschichtlichpolitischen Bindung an Aristokratie und Monarchie gereinigt. A. de Tocqueville hat Montesquieus Lehren aber auch um wesentliche Elemente einer modernen pluralistischen Verfassung ergänzt und den Sinn für den geschichtlichen Zusammenhang aller Politik geschärft. Seine Lehren sind unmittelbar wirksam geworden 165

Zur Ablehnung separatistischer Tendenzen durch F. Mistral s. a. die Quellenstudie von C. Goyard, Séparatisme ou nationalisme, une alternative éclairée par les correspondances de Maillane, in: Le Pouvoir, Mélanges offerts à G. Burdeau, 1977, S. 281 ff. (286 ff.), m. ζ. N. \F. Mistral war ein unermüdlicher Briefeschreiber, wie die genannte Sammlung von 60 000 (sechzigtausend) Autographen belegt. 166

Zum Gebrauch der Begriffe fédéralisme und décentralisation im «fèlibrige» vgl. die Studie C. Goyards, ebd, S.284; zum Einfluß P.-J. Proudhons vgl. noch B. Voyenne, Histoire III, S.86. 167 168 169

7*

Vgl. zu ihm J. M. Carbasse, Les idées et l'action politique de L.-X. de Ricard, 1975. B. Voyenne, Histoire III, S.86 f. Ebd, S. 88 f.

100

Β. Vom Beginn der Revolution bis zum Ende des II. Empire

und dürften den Reformdruck auf das autoriäre zentralistische Regime Napoleon III. maßgeblich mitbestimmt haben. Origineller, radikaler, aber auch ungeschichtlicher als sein aristokratischer Zeitgenosse unternahm P.-J. Proudhon die Rehabilitation des 1793 mit der Ausschaltung der Gironde aus der französischen Geschichte verabschiedeten föderalen Gedankens und entwarf auf seiner Grundlage eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung. Wenn sich auch viele spätere Reformer auf A. de Tocqueville und P.-J. Proudhon gemeinsam beriefen, teilte sich doch ihre Wirkungsgeschichte: A. de Tocqueville wurde in Politik und Wissenschaft Kronzeuge für Reformen zur Dezentralisation des bürgerlichen Staats. P.-J. Proudhon wurde eher für die Organisation der Wirtschafts- und Sozialordnung, von Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen rezipiert, muß als einer der wichtigsten geistigen Väter der Zweiten Kommune von Paris (1870) gelten und fand auch Eingang in die Wissenschaft. Auf die Umsetzung der Reformideen zielten die während des II. Empire immer zahlreicher werdenden politischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen von einzelnen und von Gruppen. Kaum etwas davon ging in die Rechtspolitik Napoleon III., viel aber in die Regionalismusbewegungen und die allgemeine und die wissenschaftliche Diskussion der III. Republik ein.

C. Die III. Republik (1870-1940) Blütezeit des klassischen Regionalismus Die verfassungsrechtliche Entwicklung der III. Republik ist gekennzeichnet durch die allmähliche Festigung der gleichwohl eher überraschend durchgesetzten republikanischen Staatsform. Das allgemeine Wahlrecht, 1848 theoretisch eingeführt, aber praktisch ausgehöhlt unter dem II. Empire, wurde nun Wirklichkeit. Technischer Fortschritt, wirtschaftlicher Aufschwung und die soziale Frage — alle drei auch schon in der Erbmasse des II. Empire — und die mit ihnen einhergehenden wirtschaftlichen und politischen Krisen stellten den Staat vor ständig wachsende neue Aufgaben. Der l.Weltkrieg und seine Folgen, ebenso wie die Spannungen zwischen den beiden Kriegen, verlangten und legitimierten Infrastrukturleistungen des Staates in bisher ungekanntem Ausmaß. In einer ersten Phase der III. Republik (bis 1877) stabilisierte sich die Herrschaft, scheiterte die Zweite Kommune und verlor der grundbesitzende Adel seine Macht, wurden die politischen Institutionen durch die „Verfassungsgesetze" von 1875 begründet und das große Gesetz zur Dezentralisation auf der Ebene des Departements verabschiedet (1871). In eine zweite Phase (1877—1929) fallen die großen Arbeiten in der Hauptstadt, koloniale Eroberungen, der Boulangismus, die Affare Dreyfus, die großen Streiks (1906), der Aufstand der Winzer im Süden sowie der l.Weltkrieg. Einige große republikanische Gesetze wurden verabschiedet (Dezentralisation, Versammlungs-, Presse-, Koalitionsfreiheit). Dies ist auch die Zeit des klassischen Regionalismus. Zahlreiche Gesetzesvorschläge wurden entwickelt und in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Die Staatsrechtslehre entfaltete sich zu ihrer größten Blüte. In einer dritten Phase (ab 1929) spitzten sich die Gegensätze vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise zu. Die Konzentrationsbewegung in Industrie und Banken beschleunigte sich. Nach der kurzen Erfahrung der Volksfront setzte sich wieder die Rechte durch. Die in diese Zahl fallende zweite Regionalismuswelle war von der ersten recht verschieden; man suchte neue, eher autoritäre Strukturen in Richtung eines dekonzentrierten Regionalismus mit wirtschaftlicher Zielsetzung. Diese Phasen sind der Hintergrund der folgenden Darstellung der Verfassungs- und Rechtsentwicklung, der Regionalismusbewegungen und ihres rechtspolitischen Ertrags sowie der rechtswissenschaftlichen Diskussion.

I. Rechtsentwicklung Nach der Niederlage bei Sedan und dem Sturz des II. Empire wurde am 4.9.1870 die Republik ausgerufen. Die aus den Wahlen am 8.2.1871 hervorge-

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C. Die III. Republik — Blütezeit des klassischen Regionalismus

hende Nationalversammlung erhob sich zur Verfassunggebenden Versammlung und bestimmte A. Thiers zum Regierungschef. Während sie wegen der Unruhen in Paris nach Bekanntwerden der Friedensbedingungen in Versailles tagte, erhob sich in Paris die (Zweite) Kommune (18.3. bis 25.5.1871) — erste große Herausforderung an die junge Republik. Die seit 1830 in Wellenbewegungen sich ankündigende, zum Ende des II. Empire stärker werdende gemäßigte (!) Dezentralisation schlug sich in den „großen republikanischen Gesetzen zur Dezentralisation" 1871 (für das Departement) und 1884 (für die Kommune) nieder, die so den liberalen Impuls der Verfassung auch in die Gebietsverwaltung umsetzten. Die Pfeiler der französischen Gebietsverwaltung blieben dabei Kommune, Arrondissement und Departement; das Arrondissement fiel erst später den Sparmaßnahmen der Regierung R. Poincaré zum Opfer. Der zu eng werdende Rahmen des Departements verlangte zumindest nach neuen Formen der Zusammenarbeit, doch erst, als der 1. Weltkrieg in aller Deutlichkeit die Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft zu organisieren, aufgezeigt hatte, nahm sich der Gesetzgeber der Verwaltung departementübergreifender Interessen in Form des Wirtschaftsregionalismus an. 1. Die Zweite Kommune von Paris Von dem entstandenen Machtvakuum profitierend wie von der Not der Situation gedrängt beschloß die Kommune von Paris erneut, das Schicksal der Nation in die Hand zu nehmen. Ihre Machtentfaltung war Höhepunkt einer lange unterdrückten sozialen Entwicklung, die durchaus bis in ihre revolutionäre Vorläuferin, die Erste Kommune von Paris, zurückreichte. Zugleich strahlte sie auch schon in die Gesetzgebung der jungen Republik aus und belastete die Gemeinde im allgemeinen, Paris im besonderen mit einer Hypothek, die den liberalen Impuls der jungen — nun vorsichtigeren — Republik in Sachen Dezentralisation bremste. So erscheint auch die Zweite Kommune als ein ideengeschichtlicher Kulminationspunkt, dessen Verständnis freilich durch ihre politische Komplexität — und die kurze ihren Redakteuren und Akteuren verbliebene Zeit — nicht erleichtert wird. Initiatoren und aktive Teilnehmer waren das Zentralkomitee der Förderation der Nationalgarde und Mitglieder der (Ersten) Internationalen. Die vielfältigen Motive umfaßten nationales, patriotisches, aber auch soziales Gedankengut, das in den letzten Jahren des II. Empire mit Hunger und Elend gewachsen war 1 , schließlich auch eine republikanische Ablehnung der konservativen, monarchischen Versammlung in Versailles und der zentralistischen, immer noch autoritären Erscheinungsform des Staates2. Entsprechend bildeten sich drei Richtungen 1

Zu sehen vor dem Hintergrund der Industriegesellschaft in einer (frühen) Wachstumskrise und des beginnenden Selbstbewußtseins der Arbeiterklasse (Gründung der Internationale 1864 in London, s. schon ο. Β I I 3 Fn. 130). 2 Dessen zentralistische Erscheinungsweise für die Ausbeutung der Arbeiter verantwortlich gemacht wurde; vgl. dazu G.Sautel, Histoire des institutions politiques, 5. Aufl. 1982, S. 508.

I. Rechtsentwicklung

103

heraus: Blanquisten (für Republik, starken Staat und Zentralisation), ProudhonAnhänger (für Förderalismus und Dezentralisation) und Internationalisten (für autonome Kommune und Arbeiterselbstverwaltung) 3. Die vorläufige (Kriegs-)Regierung hatte die Gemeinde- und Departementräte aufgelöst, Neuwahlen wegen des Kriegszustandes aufgeschoben und dafür selbst vorläufige Verwaltungen ernannt. Darauf bildete sich spontan ein Zentralkomitee aus Delegierten der Nationalgarden der 20 Pariser Arrondissements, das Ende Oktober 1870 (Neu-)Wahlen und Handlungsfreiheit für die Pariser Kommune forderte. Durch teilweises Entgegenkommen konnte die Regierung den Aufstand zunächst abwiegeln4, doch trat dieses Zentralkomitee ab 1.3.1871 erneut gegen die Regierung A. Thiers auf und setzte sich am 18.3. an ihre Stelle: Es veröffentlichte (am 19.4.) das Manifest der Kommune und setzte von sich aus für Paris Neuwahlen an5. Dieses gleichsam offizielle Manifest der aufständischen Kommune (Déclaration de la Commune au Peuple français) vom 19.4.1871 forderte nahezu volle Autonomie der Gemeinden, Steuererhebungsrecht und eigene Gerichtsbarkeit, Polizei und Streitkräfte; eine Zentralverwaltung sollte aus Delegationen der föderierten Gemeinden entstehen; die Gemeindefreiheit sollte die Freiheit der Bürger, die Föderation das Funktionieren der Wirtschaft sichern 6. Ob die aufständische Kommune (systemgerecht) nur anderen Städten ein Beispiel zu freiwilliger Befolgung geben oder (traditionsgemäß) von der Hauptstadt aus die (konservative) Provinz befehligen sollte, scheint zwischen ihren Mitgliedern selbst nicht klar gewesen zu sein7. Angesichts der teilweisen Besetzung und der gestörten Kommunikationswege gelang es nur wenige Städte zum Aufstand zu bewegen, die die Regierung auch rasch wieder unter Kontrolle brachte. Der Aufstand in Paris endete blutig erst am 26.5.1871. Gemeindefreiheit und föderale Idee hatten erneut die Grundfesten des Staates erschüttert — diesmal war „die Rechte" stärker. Alle Richtungen aber haben aus der Erfahrung — ganz verschiedene — Lehren gezogen, hinsichtlich der politischen Rolle von Verwaltungseinheiten, des richtigen Ausmaßes der Dezentralisation und der für Paris zu beachtenden Vorsicht 8. Inwieweit die Zweite Kommune von P.-J. Proudhon inspiriert war und umgekehrt dieser in ihr die Erfüllung seiner politischen Vorstellungen und Wünsche 3

J. Ellul, Histoire 5, S. 346. Dabei stand ausgerechnet/. Ferry als Regierungsvertreter im Amt des maire central von Paris der Kommune gegenüber; näher G. Sautel, Histoire, S. 508. 5 Für den 26.3.1871, die a. eine „revolutionäre" Mehrheit brachten. 4

6 Vgl. näher G. Sautel, Histoire, S. 510; zu weiteren Manifesten, Erklärungen u. Programmen U. Ellul, Histoire 5, S. 346 ff. 7 G. Sautel, Histoire, S. 509 f. 8 Zum ganzen vgl. ebd, S. 508 ff, u. J. Ellul, Histoire 5, S. 345 ff.

104

C. Die III. Republik — Blütezeit des klassischen Regionalismus

gesehen haben würde, ist nicht mit Gewißheit zu sagen. Sicher aber finden sich wesentliche Ideen der Zweiten Kommune schon bei ihm 9 . 2. Die großen republikanischen Gesetze zur Dezentralisation von 1871 und 1884 a) Vorbereitungsarbeiten Noch während des Aufstands der Zweiten Kommune führte die Nationalversammlung wieder Wahlen für die Räte ein 10 ; grundsätzlich nur in Städten mit über 20000 Einwohnern 11 wurde der Bürgermeister („vorläufig") ernannt 12 ; erst ab dem 28.3.1882 wurde er überall von den Räten gewählt. Einen Gesamtbürgermeister für Paris gab es nicht 13 . Die Wahlen Ende April 1871 brachten eine republikanische Mehrheit, während in den Wahlen für die Versammlung kurz zuvor monarchistische Strömungen dominiert hatten, sie sind so ein frühes historisches Beispiel für den Ausdruck national bedeutsamer Tendenzwenden in örtlichen Wahlen! Erneut wurde eine Dezentralisationskommission eingesetzt14, in der der Abgeordnete Raudot sich mit dem Vorschlag von 24 Provinzen zwar nicht durchsetzen konnte 15 , liberale und dezentralisationsfreundliche Vorschläge sich aber gegenseitig überboten 16. Raudots älterer Vorschlag 17, den Präfekt auf die Verwaltung „allgemeiner Interessen" zu beschränken, die örtlichen Interessen aber dem Rat (zum Beschluß) und einem ihm entsprungenen Organ (zur Ausführung) zu übertragen, gewann Anhänger 18 . Aus der Arbeit der Kommission entstanden die — vorsichtigeren — Gesetze. Dabei verrät das frühe Datum der DepartementGesetzgebung ebenso Reformstau und liberalen (dezentralisatorischen) Impuls, wie der Aufschub für die Gemeindegesetzgebung die Spuren der Zweiten Kommune trägt. b) Das „Grundgesetz der Departementverwaltung"

von 1871

19

Das Gesetz vom 10.8.1871 zog die Grenzlinie zwischen Departements- und Staatsangelegenheiten, zwischen Generalrat und Präfekt und kreierte — vielleicht 9

Vgl. näher schon soeben, o. 1. m. w. N.

10

Durch Ges. v. 29.3.1871 für conseil général u. conseil d'arrondissement, den conseil municipal.

ν. 14.4.1871 für

11

Darüber hinaus in den Hauptrollen von Arrondissements und Departements.

12

Ges. v. 12.8.1876, vorher überall, Ges. v. 20.1.1874. s. schon ο. B I 5 u. unten Ε I I 3. Zur Commission de Décentralisation Napoléons III vgl. ο. Β16.

13 14 15

Dazu näher unten II 3 b aa.

16

G.Sautel, Histoire, S. 512.

17

Noch aus der Zeit des II. Empire, s.o. Β II 3. Näher dazu G. Sautel, Histoire, S. 512. Später ergänzt durch Ges. v. 15.2.1872.

18 19

I. Rechtsentwicklung

105

wichtigste Neuerung — die Departementkommission (commission départementale). Das Departement wurde (wieder) juristische Person. aa) Der Generalrat Die Entscheidungen des Generalrats im Bereich enumerativ aufgeführter Zuständigkeiten, darunter die Verabschiedung des Haushalts20, unterlagen nur der (nachträglichen) Aufsicht durch die Regierung — Rechtsaufsicht in Angelegenheiten örtlichen Interesses 21, Fachaufsicht (contrôle d'opportunité) im übrigen 22 . Einen Schritt in Richtung „politischer Dezentralisation" bedeutete die Möglichkeit, „über alle wirtschaftlichen Fragen und solche der allgemeinen Verwaltung" Vorschläge zu beschließen23. Trotzdem — und entgegen den Vorschlägen der Kommission 24 — verweigerte der Gesetzgeber dem Departement grundsätzlich die Einmischung in „politische Angelegenheiten" 25. Nur zwei wesentliche politische Aufgaben wurden den Departementräten anvertraut: die Teilnahme am Wahlgremium für den Senat (wobei wegen des Zuschnitts der Kantone diese zweite Kammer zu einer Art „Landwirtschaftsrat" mit erdrückender Mehrheit des „Landes" wurde 26 ) und später eine Art Notstandsrecht 27, nach dem sich bei ungesetzlicher Auflösung oder einem Versammlungshindernis der Nationalversammlung Delegierte der Generalräte versammeln konnten, um für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen 28. Interdépartementale Konferenzen wurden — auf Interessen des Departements beschränkt — jetzt immerhin vorgesehen 29. Das Verbot von „Politik" einerseits und die Zulassung der Zusammenschlüsse („Föderalismus"!) andererseits, auch das Notstandsgesetz „Le Trèveneuc" zeigten die Nationalversammlung zwischen der Angst vor politischer Konkurrenz in den Departements und dem Sicherungsbedarf vor einer Dritten Kommune oder einer 20

Aber erst das Ges. v. 18.7.1892 sicherte eine gewisse finanzielle Autonomie des Departements, bis dahin war das Budget des Departements Staatsangelegenheit. 21 In Fällen eines «excès de pouvoir» und der Rechtsverletzung innerhalb von zwei Monaten durch Dekret des Conseil d'Etat, Art. 47 des Ges. 1871. 22

Art. 49 des Ges. 1871. «d'administration générale», Art. 51 des Ges. 1871, vgl. dazu a. Art. 6 Verf. an V I I I (1799). 24 «sur toutes les questions qui concernent l'intérêt général du pays». 23

25 26 27

«Tous vœux politiques lui sont interdits», Art. 51 des Ges. 1871. M. Bourjol, Institutions, S. 106 f. R. 186. Mit Ges. v. 22.2.1872, Loi Le Trèveneuc, s. schon O.BI6.

28

Das Gesetz hatte die noch frische Kriegserfahrung, die Organisation der nationalen Verteidigung, die Vorkehr gegen die Rückkehr des Bonapartismus und den Schutz durch die Provinz vor einem möglichen Aufstand in Paris im Auge; vgl. dazu M. Bourjol, Institutions, S. 107 R. 186. 29

Art. 89 ff.; vgl. aber Art. 91: Auflösungsrecht des Präfekten, Gefahr des „Föderalismus"! — Vgl. zur späteren Einrichtung der freiwilligen interkommunalen Zusammenarbeit (Ges. v. 22.3.1890) G. Sautel, Histoire, S. 521.

106

C. Die III. Republik — Blütezeit des klassischen Regionalismus

interkommunalen Föderation hin und her gerissen. Vor dem nämlichen Hintergrund der politisch noch instabilen Lage und der (der Versammlung nahen) konservativen Mehrheiten in den Departements ist auch die Möglichkeit des Zusammenschlusses der Departements zu erklären — die départementale Föderation mußte der Versammlung immer noch der kommunalen Föderation vorzugswürdig erscheinen. Dieses (moderate) Zugeständnis einer politischen Rolle verlor sich mit wachsender politischer Stabilität 30 . bb) Der Präfekt Aufgrund ihrer enormen Privilegien 31 und ihrer besonderen politischen Rolle unter Napoleon III. war die Beibehaltung der Präfekten in den Debatten der Nationalversammlung stark umstritten. Wenn die Präfekten nach diesen leidenschaftlichen Debatten auch überlebten, mußten sie doch zwischen 1871 und 1877 drei Reinigungswellen über sich ergehen lassen — in je entgegengesetzter Richtung 32 . Der Präfekt hatte gegenüber seiner Stellung unter dem II. Empire an Macht verloren. Er war nicht mehr Statthalter des Staatschefs, sondern, nach der Errichtung des parlamentarischen Systems, der Regierung 33. So behielt er eine politische Rolle 34 und blieb auch an der Spitze der Exekutive des Departements. Freilich unterstand er jetzt der Kontrolle der Departementkommission (commission départementale ). Das Problem der Exekutive stand in allen Debatten seither im Vordergrund. Dazu kamen die Einrichtung — und Autorität — gewählter Versammlungen des Departements und die „Fatalität" des parlamentarischen Systems, in dem ein Mitglied des Generalrats oft gleichzeitig Abgeordneter oder Senator und damit ein mächtiger Gesprächspartner war, mit dem man um so mehr rechnen mußte, als er vielleicht eines Tages Minister wurde 35 . Immer noch war aber allein der Präfekt mit Weisungs- und Initiativrecht ausgestattet. cc) Die Departementkommission Die Wurzeln der Departementkommission reichen in die Reformdiskussion noch unter dem Ancien Régime und in die Vorschläge der oben erwähnten Dezentralisationskommission unter dem II. Empire zurück 36 ; die Auseinander30 31

Ebd, S. 514 f. J. Barthélémy, Le gouvernement de la France, 2. Aufl. 1939, S. 153.

32

M. Bourjol, Institutions, S. 109 R. 189 m. w. N.

33

Art. 3 des Ges. 1871.

34

Die politische Rolle des Präfekten hat sich mit dem Sturz des II. Empire nicht wirklich geändert, weiterhin erwartete man von ihm, daß er in der gesamten Verwaltung Meinung u. Willen der Regierung zur Geltung brächte, so daß es a. nicht so sehrauf technische Kompetenzen ankam, sondern auf Gehorsam, Anpassungsfähigkeit u. politischen Einklang ihres Handelns mit der Regierung, vgl. näher J. Barthélémy, Gouvernement, S. 154 ff. 35

M. Bourjol, Institutions, S. 108 R. 188.

36

Ebd, Institutions, S. 110 R.190 u. Fn.2 m.w.N.

I. Rechtsentwicklung

107

Setzungen in der Nationalversammlung waren lebhaft und reichten bis zum „Vorwurf 4 des Föderalismus 37. Die vier- bis siebenköpfige Kommission wählte der Generalrat aus seinen Reihen. Ihre Rolle umfaßte vor allem eigene Aufgaben in bestimmten Bereichen, die Vertretung des Generalrats und die Aufsicht über den Präfekt 38, der ihr gegenüber umfassend zur Unterrichtung verpflichtet war. Die Einrichtung dieser Kommission verstärkte das demokratische Element in der Verwaltung des Departements entscheidend und sicherte so im Verein mit dem gestärkten Generalrat ein gewisses Gleichgewicht zwischen örtlichen und staatlichen Interessen 39. c) Das Gemeindegesetz von 1884 Neben dem späten Datum des Gesetzes40 ist hier die Sorge der Versammlung hervorzuheben, die örtlichen Interessen eng zu bestimmen und die Gemeinde unter eine straffe Aufsicht zu stellen 41 . Besonderheiten galten für Paris: Der Bürgermeister und seine drei Vertreter wurden von der Zentralregierung ernannt 42 . Das (liberale) Dezentralisierungsgesetz von 1884 war für Paris nicht anwendbar. Der Präfekt des Departement Seine und der Polizeipräfekt hatten Anwesenheitsund Rederecht in den Sitzungen. Das Mißtrauen gegen Paris blieb eine Konstante der französischen Verwaltung 43. Das Arrondissement spielte nur eine untergeordnete Rolle, hatte auch keinen Körperschaftsstatus und entfiel schließlich ganz 44 . Nach den hier dargestellten Grundlegungen änderte sich in der Verwaltung von Gemeinden und Departements während der III. Republik kaum mehr etwas45.

3. Die Verwaltung departementübergreifender Angelegenheiten Das Problem der Verwaltung departementübergreifender Angelegenheiten bestand für die Verwaltung gemeinsamer örtlicher Interessen, für Wirtschaftsverwaltung und Planung sowie für weitere großräumige staatliche Verwaltungsaufgaben. 37

Ebd, S. I l l R. 191, m.w.N.

38

Art. 77 - 81 Ges. 1871.

39 Vgl. zum ganzen/. Ellul, Histoire 5, S. 336 f , F. u. Y Luchaire, Le droit de la décentralisation, 1983, S. 52 ff. 40

Vom 5.4.1884, dazu schon soeben, ο. 11.

41

Vgl. Art. 61: Gemeindeangelegenheiten, Art. 68: Genehmigungserfordernis, s. a. Art. 90—92 für den Bürgermeister; zum ganzen: G. Sautel, Histoire, S. 516 ff. 42 43

Ges. v. 14.4.1871. M. Bourjol, Institutions, S. 113 R. 193; vgl. näher/. Barthélémy, Gouvernement, S. 178 ff.

44 Zur Einsparung von Beamten wurden 1926106 Souspréfectures geschlossen, 1944 verschwanden sie ganz. 45 Vgl. dazu G. Sautel, Histoire, S. 521 f.; vgl. aber immerhin das Verordnungs-Ges. v. 26.11.1926 zur Einführung einer (Kompetenz-)Generalklausel.

1 0 8 C .

Die III. Republik — Blütezeit des klassischen Regionalismus

a) Die Verwaltung gemeinsamer örtlicher Interessen 1871 wurde durch Gesetz ein System interdepartementaler Zusammenarbeit „föderalen" Charakters geschaffen. Mindestens zwei Generalräte konnten durch Vermittlung ihrer Präsidenten und nach Meldung an ihre Präfekten eine Vereinbarung über Gegenstände gemeinsamen Nutzens und Interesses im Rahmen ihrer Zuständigkeit schließen und gemeinsame Einrichtungen schaffen oder unterhalten. Die Beschlüsse der interdepartementalen Konferenz mußten von den jeweiligen Generalräten ratifiziert und der höheren Stelle zur Genehmigung vorgelegt werden. Die jeweiligen Präfekten konnten an den Arbeiten teilnehmen. Bei Überschreitung ihrer Zuständigkeit konnte die Konferenz aufgelöst und der Auflösungsbeschluß dem Staatsanwalt zur Strafverfolgung übermittelt werden 46 . Mangels Interesses der Departementversammlungen erwies sich das Gesetz schließlich als wenig zufriedenstellend. Zuerst stießen diese Kooperationsformen auf Feindschaft, später auf Gleichgültigkeit der Regierung und der Präfekten. Die fehlende Lebenskraft dieser neuen Einrichtungen wurde aber auch auf ihre ungenügende Ausstattung zurückgeführt 47. Der viel weitergehende Vorschlag aus den Reihen der Regionalismusbewegung hatte 24 Provinzen mit je einem Gouverneur, einem gewählten Rat und beträchtlichen Zuständigkeiten vorgesehen (Vorschlag Raudot) 48. Er wurde verworfen, da keinerlei gegenwärtiges Bedürfnis dafür bestehe; die öffentliche Meinung würde im Gegenteil darin eine Rückkehr zu Vergangenem, eine Bedrohung der nationalen Einheit (!) und eine neue Verwaltungsstufe mit schon wieder einer Reihe neuer Beamter sehen — über der Möglichkeit der interdepartementalen Zusammenarbeit könne man den „reaktionären" Gedanken an die Provinz vergessen49. Durch Verordnungsgesetz vom 5.11.1926 richtete die Regierung R. Poincaré Departementverbände {syndicats-interdépartementaux) ein, entsprechend dem Modell der Gemeindeverbände {syndicats-intercommunaux). Diese öffentlichrechtliche Anstalt {établissement public) war zunächst auf eine Aufgabe beschränkt, konnte jedoch durch Zustimmung aller beteiligten Generalräte ihre Kompetenzen ausweiten. Wenn auch der Innenminister nur von der Schaffung sehr flexibler Regionen nach Bedarf sprach, unterstrich doch die «Fédération Régionaliste Française» die Bedeutung dieser Einrichtung 50 . Schon das Gesetz vom 9.1.1930 hob den Text wieder auf und ersetzte die „Verbände" {syndicats) durch (weniger selbständige) «institutions ou organismes interdépartementaux », 46

Art. 58 Code Pénal, Gefängnisstrafe zwei bis fünf Jahre, vgl. dazu M. Bourjol, Institutions, S. 114 R. 196. 47

Ebd, S. 115 R. 196.

48

Gesetzesvorschlag Nr. 183, v. 29.4.1871.

49

Vgl. dazu m. Nw. aus der Debatte v. 28.6.1871M. Bourjol, Institutions, S. 114 f. R. 196.

50 Ebd, S. 115 R. 196 m. w. N. - Zur Reform 1926 vgl. a. M. Dendias, Le Gouvernement local, 1930, S. 146 ff.

I. Rechtsentwicklung

109

ließ ihnen aber Verwaltungs- und Finanzhoheit 51 , und das Dekret vom 28.7.1931 stellte das Prinzip der Spezialität (der Aufgabe) wieder her. Auch hier belegen die Parlamentsdebatten den festen Vorsatz des Widerstandes gegen jede Form von Regionalismus. Die Reform sollte kein „Gefahrenherd für die nationale Einheit" werden, vielmehr „gefährliche Äußerungen gewisser regionaler Partikularismen beseitigen, indem die Zusammenschlüsse nicht einer bestimmten einzelnen Region entsprechen sollten"; die Wiederherstellung der „Provinz" wurde ausdrücklich zurückgewiesen; Gegenstand der Vereinbarungen konnten auch nur örtliche Interessen, keinesfalls „staatliche" Aufgaben sein 52 . Immerhin erleichterte das Gesetz durch die Schaffung einer spezialisierten (!) Anstalt des öffentlichen Rechts die interdépartementale Zusammenarbeit 53. Die meisten Regionalisten empfanden das Gesetz aber als Kehrtwendung gegen die Region. Doch wurde auch von einer neuen Regionalismuslehre gesprochen, einem Neoregionalismus ohne Sentiments und Mystik, von den Möglichkeiten eines „funktionalen und begrenzten Wirtschaftsregionalismus" («régionalisme économique fonctionnel partiel») 5*. b) Die Einrichtungen

des Wirtschaftsregionalismus

Anders als im Vorstehenden war den Einrichtungen des Wirtschaftsregionalismus eine günstigere Entwicklung beschieden; sie wurden nicht nur nicht schon bald wieder zurückgeschnitten, sondern sogar noch ausgebaut und durch weitere Einrichtungen ergänzt. So entstanden zunächst die ,,C/éme/îte/-Regionen", später weitere Anstalten des öffentlichen Rechts für bestimmte Staatsunternehmen im Zuge funktionaler Dezentralisation 55. Die beiden Entwicklungsschwerpunkte bestanden in der Zuerkennung der Rechtsfähigkeit und finanzieller Autonomie mit einem eigenen Budget an diese neuen Einrichtungen. 1917 wies der Handelsminister E. Clémentel 56 auf die Vorteile hin, die der Zusammenschluß der Handelskammern auf regionaler Ebene versprach 57. Das Ziel war, geeignete Organisationsformen zu finden, die der Entstehung von Ballungsgebieten, Wirtschaftszentren, großen Häfen und Verkehrsknotenpunkten Rechnung trugen. Durch Erlaß (arrêté) vom 25.4.1919 wurden dann 15 solcher Zusammenschlüsse ins Leben gerufen in der Weise, daß je zwei Vertreter der betroffe51 52

M. Bourjol, Institutions, S. 115 R. 197. Vgl. m. ausf. Auszügen aus den Debatten ebd, S. 116 ff. R. 198 ff.

53 Danach wurden zwischen 1930 und 1940 immerhin sechs Einrichtungen (Sanatorien und ein Hospital) geschaffen, vgl. ebd, S. 118 R. 198. 54

Vgl. die Nw. ebd, S. 118 f. R. 196.

55

M. Dendias, Gouvernement, S. 146. — Vgl. näher zur wissenschaftlichen Diskussion um die funktionale, die décentralisation par service, die vor allem L. Duguit propagierte, unten III 3 b. 56 57

Initiator der Internationalen Handelskammern. Circulaire ν. 25.8.1917

110

C. Die III. Republik — Blütezeit des klassischen Regionalismus

nen Handelskammern und ein Generalsekretär der Region ein „Regionalkomitee" bildeten. Dieses sollte Einrichtungen zur Entwicklung und Förderung von Handel und Industrie gründen. Es wurde durch ein „beratendes Wirtschaftsaktionskomitee" {comité consultatif d'action économique) unterstützt, das sich aus Vertretern militärischer und ziviler Dienste des Staats und von Handel, Industrie und Landwirtschaft zusammensetzte58. Die Befugnisse des Regionalkomitees wurden im Laufe der Zeit erweitert, die Region schließlich zur Anstalt des öffentlichen Rechts und damit rechtsfähig 59, finanziert aus Pflichtabgaben der darin zusammengeschlossenen Handelskammern. Die solcherart gesicherten Komitees spielten eine wichtige Rolle für die Entwicklung ihrer Regionen, hinter den Forderungen der Regionalismusbewegungen blieben sie natürlich weit zurück 60 . Damit sind die Grundgedanken dieser Form des Wirtschaftsregionalismus erkennbar: Nach dem liberalen Grundsatz der Trennung von Wirtschaft und Verwaltung sollten spezielle Organe in Sachen Wirtschaftsentwicklung sonst den Gebietskörperschaften zukommende Aufgaben übernehmen; Anstaltsform und (eigene) Finanzausstattung sicherten eine relative Selbständigkeit gegenüber Staat und Bevölkerung, aber auch der Wirtschaft; die Ablehnung eines starren Gebietsrahmens zugunsten von Zusammenschlüssen entsprechend den jeweiligen Erfordernissen entsprach wohl Vorstellungen der Wirtschaft — insgesamt kamen demokratische, regionalistische (und damit auch kulturelle) und wohl auch (in einem größeren Zusammenhang) planerische Gesichtspunkte zu kurz 61 . c) Die regionale Verwaltung von Staatsaufgaben Das Departement wurde bei seiner Entstehung als idealer Gebietszuschnitt mit Allzuständigkeit betrachtet, für örtliche ebenso wie für staatliche Verwaltungsangelegenheiten. Trotzdem spielte sich das meiste 20 Jahre später auf regionaler Ebene ab. So hatten sich Justiz-, Universitäts-, Strafvollzugs-, Militär-, Polizeiangelegenheiten, Wasser- und Forstwirtschaft und Straßenwesen aus dem Departementrahmen entfernt. Mit fortschreitender Technik und zunehmenden Staatsaufgaben verstärkte sich diese Tendenz62.1940 bestanden mehr als 20 nach Ministerien verschiedene regionale Gebietseinteilungen. Diese Verwirrung erinnert stark an das Ende des Ancien Régime. So schlugen die Regionalisten vor, aus der Region die neue Verwaltungseinheit für verschiedene örtliche wie staatliche Angelegenheiten zu machen und die im Jahre VHI (1800) auf Departementsebene eingerichtete „Aktionseinheit" auf Regionalebene durch einen Präfekt 58

Arrêté ν. 6.4.1919.

59

Verordnungs-Ges. ν. 14.6.1938. Vgl. dazu noch näher unten I I 1 b.

60 61 62

Vgl. zum ganzen M. Bourjol, Institutions, S. 119 f. R. 199 f.

Vgl. zu den Gründen u. Erscheinungsformen dieser Entwicklung A. de Laubadère, Traité élémentaire de droit administratif, Bd. 3, 1966, S. 53 f.

II. Die Reformbestrebungen politischer Bewegungen und im Parlament

111

oder Gouverneur zu sichern, doch aus politischen Gründen verweigerte die III. Republik die Einrichtung von „Prokonsuln" in ihren „Provinzen", aus praktischen die Schaffung eines neuen einheitlichen Rahmens für die gesamte Verwaltung 63. 4. Zusammenfassung und Ausblick Mit Abstrichen aus Vorsicht nach dem Abenteuer der Zweiten Kommune von Paris löste die Gesetzgebung der jungen III. Republik zur Departement-, erst später zur Gemeindeverwaltung den Reformstau auf, den das II. Empire im Nebeneinander autoritärer Strukturen und einer liberalen, ja revolutionären Opposition in brisanter Weise sich hat entwickeln lassen. Dabei gelang ein (relatives!) Gleichgewicht zwischen örtlichen und staatlichen Interessen. Die Permanenz demokratischer Ausdrucks- und Kontrollmöglichkeit auf Departementebene durch Generalrat und Departementkommission jedenfalls in örtlichen Angelegenheiten entsprach den parlamentarisch bestimmten Strukturen auch des Staates — der seinerseits aber durch einen starken Präfekten im Departement vertreten war. Der staatlichen Zurückhaltung im (Wirtschafts-)Liberalismus entsprechend entwickelte sich erst allmählich die Bedeutung der regionalen Ebene, die schließlich als auf Wirtschaftsförderung spezialisierte öffentlich-rechtliche Anstalt Eingang in das positive Recht fand. Schon damit ist klar, daß dem großen publizistischen Aufwand der Regionalismusbewegung bis in die 20er Jahre trotz zahlreicher Gesetzesvorschläge ein großer Erfolg nicht beschieden war. Das gilt auch für den Personalismus der 30er Jahre, der dem Regionalismus nachfolgte, erst recht für seine Föderalismusambitionen. P.-J. Proudhons „föderale Idee" scheint mit der Zweiten Kommune erneut aus dem Bereich praktischer Politik verbannt worden zu sein, auch die Dezentralisation hatte mit der Verwirklichung der demokratischen Republik einen Teil ihrer Stoßkraft verloren.

II. Die Reformbestrebungen politischer Bewegungen und im Parlament Anders als in den Institutionen war die Zeit der III. Republik für die Ideengeschichte des Regionalismus außerordentlich fruchtbar. Nach der Blütezeit des „klassischen Regionalismus" der «Fédération Régionaliste Française» (FRF) (1900 bis 1920) fand die föderale Idee im „Personalismus" der „Nonkonformisten der 30er Jahre" neue Anhänger. Wenn auch nur wenig davon verwirklicht wurde, geben die juristisch ausgefeilten und gut dokumentierten Texte zahlreicher Gesetzesvorschläge zu Dezentralisation und Regionalisation einen Überblick über die rechtspolitischen Vorstellungen der Regionalismusbewegung.

63

M. Bourjol, Institutions, S. 122 R. 205.

112

C. Die III. Republik — Blütezeit des klassischen Regionalismus

1. Der „klassische Regionalismus" Wie schon „Regionalismus" alleine ein schillernder Begriff ist und meist auch in Verbindung mit mindestens einem Attribut als „klassischer" oder „Neo-", als „Wirtschafts-", „Verwaltungs-", als „autoritärer", „funktioneller", „partieller" oder „reiner" Regionalismus auftaucht, bezeichnet auch der „klassische Regionalismus" noch eine Reihe verschiedener, ja gegensätzlicher Strömungen 1. So ist er eher Sammelbegriff als klare Abgrenzung. Immerhin kann sich die Darstellung an der Organisation orientieren, die sich selbst als Sammelbecken (und Motor) zahlreicher (oft nur örtlich verbreiteter) Einzelbewegungen verstand: an der «Fédération Régionaliste Française» (FRF). Von ihr aus sind auch Abgrenzungen vorzunehmen. a) Die FRF: Geschichte der Organisation Schon vor 1900 war eine Reihe örtlich begrenzter Regionalismusbewegungen entstanden, ζ. B. in der Bretagne 2 und in der Provence3. Um diese verstreuten Kräfte zu sammeln und ihnen in einem nationalen Rahmen mehr Wirksamkeit zu geben, gründete J. Charles-Brun 4 im Jahr 1900 die FRF als Zusammenschluß von Vereinigungen und Individuen. Als ihr langjähriger Generaldelegierter, als Verfasser ihres berühmt gewordenen Manifests (1901)5, zahlreicher Artikel in ihrer Zeitschrift LAction régionaliste 6 und (neben anderem) eines Hauptwerkes der Bewegung (Le Régionalisme, 1911) sowie als Herausgeber von P.-J. Proudhons „Principe Fédératif' 7 war er die Triebfeder und wichtigster Theoretiker der FRF. Sie vereinigte Persönlichkeiten unterschiedlichster politischer Herkunft, von der Linken bis zur republikanischen (und selbst monarchistischen) Rechten, stützte sich aber immer auf Führungskräfte und auf hervorragende Persönlichkeiten, auf Geographen 8, Philologen und Juristen 9, auf Künstler 10 und Politiker 11 , nicht auf eine breite Bewegung in der öffentlichen Meinung 12 . 1 So a./. Charles-Brun, Le Régionalisme, 1911, S. 2: «Néanmoins, parmi cette vogue, la notion du régionalisme reste encore assez embrouillée, et le terme recouvre les plus diverses conceptions.» 2 Union régionaliste bretonne, gegründet 1898 in Morlaix, u. a. von C. Le Gofflc; unten D I I 2 a aa. 3 Fèlibrige u. La Lauseto, s. schon ο. Β I I 3 , u. noch unten D U 2 a . 4 5

s. noch

1870 (Montpellier) - 1946. Dazu sogl.

6

Seit Februar 1902 bis Dezember 1962, monatlich, offizielles Organ der FRF unter Leitung von J. Charles-Brun. 7 8 9 10 11

1921, u. zus. m. / Hennessy, 1940. Vidal de la Blache, J. Brunhes. L. Rolland, M. Prélot, M. Brun, B. Appert. M. Barrés, F. Mistral,

V. d'Indy.

P.Deschanel, P.Doumer, A.Lebrun, J. Paul-Boncour, J. Hennessy, A. Ri bot, L. Marin, E. Clémentel, A. Tardieu; zit. nach T.Flory, Mouvement, S.3f.

II. Die Reformbestrebungen politischer Bewegungen und im Parlament

113

Auf parlamentarischer Ebene gab es nur zur Demokratischen Volkspartei (parti démocrate populaire) engeren Kontakt 13 . Auch einige Sozialisten haben Sympathien für den Regionalismus gezeigt (wie LBlum, A. Millerand und A. Briand), doch folgten den Worten mit zwei Ausnahmen keine Taten 14 . Dagegen gehörten die meisten Autoren der Gesetzesvorschläge eher der Rechten oder dem rechten Zentrum an 15 . Die FRF verstand sich selbst als „unpolitisch" Jedenfalls als „über den Parteien stehend"16. b) Regionalismus: Sammelbewegung, Kompromiß und Provisorium Den genauen Inhalt von „Regionalismus" ließ die FRF absichtlich im Dunkeln, ihrem Selbstverständnis als Sammelbewegung entsprechend, die möglichst viele Bundesgenossen vereinen und niemand ausschließen wollte 17 . So finden sich viele Umschreibungen, aber kaum klare Bestimmungen. Das Manifest der FRF von 1901 nennt als Ziele die „Wiedergeburt örtlichen Lebens" und eine „heilsame Dezentralisation" und entwickelte ein „Minimalprogramm" zu Verwaltung, Wirtschaft und Kultur («point de vue intellectuel»). Eine (Verwaltungs-)Reform sollte homogene Regionen und Regionalzentren schaffen, Gemeinden, Regionen und Staat jeweils ihre eigenen Angelegenheiten überlassen 18 und eine „Schiedsgerichtsbarkeit" (juridiction arbitrale) für Konflikte zwischen Individuen, Gemeinden, Regionen und Staat einrichten. Eine Wirtschaftsreform 19 hätte Gemeinden und Regionen freie Initiative einzuräumen und die Wirtschaftsinteressen verschiedener Regionen auszugleichen («conciliation»). Das „Kulturprogramm" 20 forderte die Dezentralisation des Bildungswesens und die Entwicklung privater (Kultur-)Initiativen. Als Mittel und Ziele zugleich werden (u. a.) die „Erneuerung des regionalen Lebens" und die Aufwertung von Traditionen und von lokaler Geschichte und Folklore (!) genannt21. 12 Ebd, S. 96: «En effet, le mouvement régionaliste a finalement été plus un mouvement de cadres qu'un mouvement d'opinion. N'ayant réussi à rassembler que quelques personnalités isolées, le mouvement régionaliste, sous la I I I e République, n'a pas su créer un véritable courant d'esprit.» 13

M. Bourjol , Institutions, S. 125 R. 210.

14

Vgl. immerhin Vorschlag Rognon 1916 und Millerand /Marraud unten 3 b aa. 15

1921, näher u. m. w. N. s.

M. Bourjol, Institutions, S. 125 R.210.

16

«au dessus et en dehors de tous partis politiques», Manifeste de la FRF, 1901, abgedruckt bei T.Flory, Mouvement, S. 111 f , Anhang. 17

Vgl. ζ. B. J. Charles-Brun, Régionalisme, S. 236: «A des aspirations confuses, ils offrent un terme commode pour s'exprimer: à des volontés, non point contraires, mais peut-être divergentes, ils offrent un terrain commun, sur lequel, provisoirement, l'entente peu se faire.» 18

Vgl. ähnl. schon das Programm von Nancy, 1865, dazu ο. Β I I 3.

19

Näher dazu J. Charles-Brun, Régionalisme, S. 175 ff. Näher dazu ebd, S. 139 ff.

20 21

Vgl. den Text bei T.Flory,

8 Sparwasser

Mouvement, S . U l f , Anhang.

114

C. Die III. Republik — Blütezeit des klassischen Regionalismus

Die Allgemeinheit des Programms hatte aber Methode. Zwar bestand Einigkeit über die Ablehnung des zentralistischen Staats 22 u n d des Departements 2 3 u n d über das Ziel der Einrichtung „großer Regionen" 2 4 , aber sonst blieb alles offen 2 5 . Führende Mitglieder der F R F traten für die Verwirklichung des Föderalismus ein, zu dem die Einrichtung von Regionalversammlungen nur ein Durchgangsstadium darstelle, so neben J. Charles-Brun auch J. Paul-Boncourund J. Hennessy 26, doch sollten nicht überzogene Forderungen die unerwartet große Anteilnahme der Öffentlichkeit 2 7 verspielen. So wurde „gegen den Föderalismus u n d gegen die Dezentralisation, oder genauer: zwischen beiden das Wort Regionalismus angenommen" 2 8 . Sein genauer Ursprung war nicht ganz klar — es scheint, daß schon der provençalische Dichter u n d Anhänger des Fèlibrige L. de BerlucPerussis 1874 den Begriff verwendet hat 2 9 . Jedenfalls hatte er den Vorteil, m i t seiner Unschärfe Richtungskämpfe zu vermeiden, bot einen (kleinen, aber) gemeinsamen Nenner u n d hatte offenbar so viel positiven Beiklang, daß m a n sich damit wohlfuhlen konnte 3 0 .

22 Vgl. dazu ausf. J.Charles-Brun, Régionalisme, S.9ff. m.w.N.; s.a. P.Deschanel, La décentralisation, 1895, S. 21: «Aussi la France n'est elle pas une démocratie, c'est une bureaucratie», u. T.Flory, Mouvement, S.3ff. m.w.N. 23

J. Charles-Brun, Régionalisme, S.87ff. m.w.N.

24

«Or, qu'on le veuille ou non, la forme convenable à la France d'aujourd'hui, paraît être la constitution de grandes régions, dotées de centres, et présentant une vie propre: c'est le régionalisme », J. Charles-Brun, Régionalisme, S. 47; s. a. S. 81: «Divergeant, comme on le verra, sur la signification à donner au mot et sur la manière de constituer les divisions territoriales nouvelles, les régionalistes sont d'accord sur la nécessité de ces