This work closely examines Bonaventura’s († 1274) philosophical-theological concept of time and eternity. It focuses on
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German Pages 488 Year 2014
Table of contents :
Inhalt
Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
1 Zielbestimmung
2 Texte und Kontexte
2.1 Verwendete Texte
2.2 Kontexte
2.2.1 Kosmologie
2.2.1.1 Die ersten sieben Sphären und das Firmament
2.2.1.2 Der Kristallhimmel
2.2.1.3 Das Empyreum
2.2.2 Aristotelesrezeption und Aristotelismus im 13. Jahrhundert
2.2.2.1 Aristotelesübersetzungen und -kommentare
2.2.2.2 Bonaventura und Aristoteles
2.2.2.3 Philosophie und Theologie
3 Vordenker
3.1 Aristoteles
3.1.1 Die Untersuchung der Zeit
3.1.2 Die Spielarten von „Ewigkeit“
3.2 Augustinus
3.2.1 Zeit-Perspektiven
3.2.1.1 Das Verhältnis von Zeit und Geist in den Confessiones
3.2.1.2 Die Zeit als Naturbestand
3.2.2 Gottes Ewigkeit
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
1 Verschiedene Begriffe von Zeit
1.1 Tempus multipliciter accipitur – Zeitdefinitionen bei Bonaventura
1.2 Die Bedeutungen von „Zeit“ im Einzelnen
1.2.1 Mensura motus sive variationis successivae et continuae
1.2.2 Mensura variationis successivae
1.2.3 Exkurs: Das saeculum als Zeitmaß zwischen tempus und aevum
1.2.4 Mensura mutationis cuiuscumque
1.2.5 Mensura cuiuslibet durationis creatae
2 Philosophische Klärungen
2.1 Die Zeit als Maß
2.1.1 Der Maßbegriff
2.1.2 Die Zeit als extrinsisches und intrinsisches Maß
2.1.2.1 Tempus magis proprie dictum und tempus proprie dictum
2.1.2.2 Exkurs: tempus secundum esse und tempus secundum essentiam
2.1.2.3 Tempus communiter dictum und tempus communissime dictum
2.1.3 Fazit
2.2 Die Bedeutung des nunc
2.2.1 Das nunc als ganzes Wesen der Zeit
2.2.2 Einheit und Vielheit des nunc
2.2.2.1 Das kontinuierlich fließende nunc
2.2.2.2 Exkurs: continuum und successio
2.2.2.3 Die Vervielfältigung des nunc mit dem Träger
2.3 Zeit und Materie
2.4 Die Einheit der Zeit
3 Theologische Deutungen
3.1 Geschaffenes Sein als zeitliches Sein
3.2 Die Zeit als habitudo concreata und der Beginn der Zeit
Dritter Teil: Die Frage nach dem aevum
1 Vorüberlegungen zum Begriff «aevum»
2 Das aevum zwischen Zeit und Ewigkeit
2.1 Aevum und aeternitas
2.1.1 Die aeternitas Gottes
2.1.2 Die Absetzung des aevum von der aeternitas
2.2 Aevum und tempus
3 Einheit und Vielheit des aevum
4 Das aevum als die Zeit der Seligen
5 Fazit
Vierter Teil: Der Mensch und die Zeit – Erträge aus Bonaventuras Zeitkonzept
1 Bonaventuras Zugang
2 Der Anfang der Zeit: Protologische Aspekte
2.1 Der objektive Charakter der Zeit
2.2 Die Zeit als dem Menschen in Freiheit aufgegebene
2.3 Fazit
3 Die Mitte der Zeit: Christologische Aspekte
3.1 Die metaphysische Begründung der Zeit im verbum increatum
3.2 Die geschichtlich vermittelte Begründung der Zeit im verbum incarnatum
3.3 Christus als Fülle der Zeiten
4 Die Vollendung der Zeit: Eschatologische Aspekte
Anhang
1 Quellen- und Literaturverzeichnis
1.1 Quellen
1.2 Literatur
2 Abkürzungsverzeichnis
2.1 Einteilung von Schriften
2.2 Chronologie und Abkürzungen der Werke Bonaventuras
2.3 Quellenausgaben
3 Personenregister
4 Sachregister
5 Verzeichnis der Diagramme, Tabellen und Abbildungen
6 Verzeichnis zitierter Bibelstellen
Florian Kolbinger Zeit und Ewigkeit
Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät
Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Band 55 Begründet von Michael Schmaus†, Werner Dettloff und Richard Heinzmann Fortgeführt unter Mitwirkung von Ulrich Horst Herausgegeben von Richard Heinzmann und Martin Thurner (federführender Herausgeber)
Florian Kolbinger
Zeit und Ewigkeit Philosophisch-theologische Beiträge Bonaventuras zum Diskurs des 13. Jahrhunderts um tempus und aevum
ISBN 978-3-05-005666-1 eISBN 978-3-05-009349-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Unternehmen von De Gruyter Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde 2011 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation eingereicht. Ihre Drucklegung ist nun der letzte Schritt eines Weges, der vor vielen Jahren begonnen hat. Im Rückblick auf diesen Weg empfinde ich vor allem ein Gefühl der Dankbarkeit. Es waren viele Menschen, die mich auf ganz unterschiedliche Weisen unterstützt und dadurch die Arbeit überhaupt erst ermöglicht haben: durch fachliche Beratung, durch ihr Wohlwollen und durch immer wieder ausgesprochene Ermutigungen, durch Rücksichtnahme und eigene Mehrarbeit, damit ich Zeit für die Arbeit an der Promotion hatte, und durch noch viele andere kleinere und größere Hilfen. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle danken. Besonders verbunden bin ich Frau Prof. Marianne Schlosser, die den Anstoß zu der Arbeit gegeben und die sie die ganze Zeit über – auch als sie schon an der Universität Wien war – begleitet hat. Nicht weniger herzlich danke ich Herrn Prof. Martin Thurner, für die spontane Bereitschaft, die Arbeit anzunehmen, und für die ebenso rasche wie gründliche Korrektur. Auch dem Zweitkorrektor, Herrn Prof. em. Ulrich Horst op, bin ich in vielfacher Weise zu Dank verpflichtet, nicht zuletzt für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der „Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes“. Aufrichtig danke ich meinem Vater und insbesondere meiner Mutter. Es ist mir ein großer Schmerz, dass sie, die mich in jeder erdenklichen Weise unterstützt hat, die Fertigstellung nicht mehr erleben durfte. Einen nicht unerheblichen Anteil am Entstehen und Gelingen des Werkes hatte auch die finanzielle und ideelle Förderung der Hanns-SeidelStiftung. Vor allem an die gute Gemeinschaft und die interessanten Seminare in Wildbad Kreuth erinnere ich mich noch gerne zurück. Dem Bistum Augsburg danke ich für den gewährten Zuschuss zu den Druckkosten, dem Akademie-Verlag, insbesondere Herrn Manfred Karras, danke ich schließlich für die Begleitung in der Drucklegungsphase. Florian Kolbinger im November 2013
Inhalt
Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“ .................................................. 11 1
Zielbestimmung .......................................................................................................13
2
Texte und Kontexte ..................................................................................................22 2.1 Verwendete Texte ...............................................................................................22 2.2 Kontexte .............................................................................................................34 2.2.1 Kosmologie ..................................................................................................34 2.2.1.1 Die ersten sieben Sphären und das Firmament ......................................37 2.2.1.2 Der Kristallhimmel ................................................................................43 2.2.1.3 Das Empyreum.......................................................................................52 2.2.2 Aristotelesrezeption und Aristotelismus im 13. Jahrhundert........................67 2.2.2.1 Aristotelesübersetzungen und -kommentare ..........................................67 2.2.2.2 Bonaventura und Aristoteles ..................................................................72 2.2.2.3 Philosophie und Theologie.....................................................................81
3
Vordenker .................................................................................................................95 3.1 Aristoteles ..........................................................................................................96 3.1.1 Die Untersuchung der Zeit ...........................................................................99 3.1.2 Die Spielarten von „Ewigkeit“ ................................................................... 106 3.2 Augustinus........................................................................................................ 112 3.2.1 Zeit-Perspektiven ....................................................................................... 113 3.2.1.1 Das Verhältnis von Zeit und Geist in den Confessiones....................... 114 3.2.1.2 Die Zeit als Naturbestand..................................................................... 141 3.2.2 Gottes Ewigkeit .......................................................................................... 150
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit........................................................................... 163 1
Verschiedene Begriffe von Zeit.............................................................................. 165 1.1 Tempus multipliciter accipitur – Zeitdefinitionen bei Bonaventura................. 168
8
Inhalt 1.2 Die Bedeutungen von „Zeit“ im Einzelnen...................................................... 173 1.2.1 Mensura motus sive variationis successivae et continuae ......................... 174 1.2.2 Mensura variationis successivae................................................................ 179 1.2.3 Exkurs: Das saeculum als Zeitmaß zwischen tempus und aevum .............. 188 1.2.4 Mensura mutationis cuiuscumque .............................................................. 193 1.2.5 Mensura cuiuslibet durationis creatae ....................................................... 197
2
Philosophische Klärungen...................................................................................... 204 2.1 Die Zeit als Maß............................................................................................... 204 2.1.1 Der Maßbegriff........................................................................................... 205 2.1.2 Die Zeit als extrinsisches und intrinsisches Maß ....................................... 212 2.1.2.1 Tempus magis proprie dictum und tempus proprie dictum .................. 214 2.1.2.2 Exkurs: tempus secundum esse und tempus secundum essentiam ....... 217 2.1.2.3 Tempus communiter dictum und tempus communissime dictum .......... 223 2.1.3 Fazit............................................................................................................ 228 2.2 Die Bedeutung des nunc................................................................................... 229 2.2.1 Das nunc als ganzes Wesen der Zeit........................................................... 231 2.2.2 Einheit und Vielheit des nunc..................................................................... 237 2.2.2.1 Das kontinuierlich fließende nunc ....................................................... 239 2.2.2.2 Exkurs: continuum und successio ........................................................ 245 2.2.2.3 Die Vervielfältigung des nunc mit dem Träger .................................... 250 2.3 Zeit und Materie............................................................................................... 257 2.4 Die Einheit der Zeit .......................................................................................... 266
3
Theologische Deutungen........................................................................................ 275 3.1 Geschaffenes Sein als zeitliches Sein............................................................... 276 3.2 Die Zeit als habitudo concreata und der Beginn der Zeit ................................ 284
Dritter Teil: Die Frage nach dem aevum....................................................................... 291 1
Vorüberlegungen zum Begriff «aevum» ................................................................ 293
2
Das aevum zwischen Zeit und Ewigkeit ................................................................ 298 2.1 Aevum und aeternitas ....................................................................................... 300 2.1.1 Die aeternitas Gottes.................................................................................. 300 2.1.2 Die Absetzung des aevum von der aeternitas............................................. 306 2.2 Aevum und tempus............................................................................................ 310
3
Einheit und Vielheit des aevum.............................................................................. 315
4
Das aevum als die Zeit der Seligen ........................................................................ 319
5
Fazit........................................................................................................................ 330
Inhalt
9
Vierter Teil: Der Mensch und die Zeit – Erträge aus Bonaventuras Zeitkonzept ......... 333 1
Bonaventuras Zugang............................................................................................. 335
2
Der Anfang der Zeit: Protologische Aspekte.......................................................... 339 2.1 Der objektive Charakter der Zeit...................................................................... 339 2.2 Die Zeit als dem Menschen in Freiheit aufgegebene ....................................... 344 2.3 Fazit.................................................................................................................. 347
3
Die Mitte der Zeit: Christologische Aspekte.......................................................... 349 3.1 Die metaphysische Begründung der Zeit im verbum increatum ...................... 351 3.2 Die geschichtlich vermittelte Begründung der Zeit im verbum incarnatum .... 355 3.3 Christus als Fülle der Zeiten............................................................................. 370
4
Die Vollendung der Zeit: Eschatologische Aspekte ............................................... 397
Anhang ......................................................................................................................... 411 1
Quellen- und Literaturverzeichnis.......................................................................... 413 1.1 Quellen ............................................................................................................. 413 1.2 Literatur............................................................................................................ 422
2
Abkürzungsverzeichnis .......................................................................................... 430 2.1 Einteilung von Schriften .................................................................................. 430 2.2 Chronologie und Abkürzungen der Werke Bonaventuras ................................ 431 2.3 Quellenausgaben .............................................................................................. 432
3
Personenregister ..................................................................................................... 434
4
Sachregister............................................................................................................ 440
5
Verzeichnis der Diagramme, Tabellen und Abbildungen ....................................... 486
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Verzeichnis zitierter Bibelstellen............................................................................ 487
Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
1
Zielbestimmung
„Was ist Zeit?“ – Eine Frage, die wohl gestellt wurde seit Menschen den Lauf der Gestirne und der Jahreszeiten beobachten und seit sie dabei über sich selbst nachdenken. Eines kann dabei als sicher gelten: „Zeit“ ist ein äußerst komplexes Phänomen und entsprechend vielfältig sind die Möglichkeiten, sich ihm zu nähern. Die Antwort auf die Eingangsfrage wird stark davon abhängen, ob man sich ihr aus physikalischer, biologischer, historischer, soziologischer, philosophischer, … Perspektive nähert. Eine Vergleichbarkeit der verschiedenen Zugänge wird man dabei nicht ohne weiteres erwarten. Umgekehrt bedeutet das, dass die eigene Perspektive vorher möglichst genau umrissen werden sollte, bevor man sich an die Beantwortung einer solchen Frage macht. Das Ziel der vorliegenden Arbeit, eine einigermaßen systematische Darstellung der Gedanken Bonaventuras zu den Themen Zeit und Ewigkeit zu geben, ist gegenüber der Eingangsfrage sicherlich erheblich bescheidener, da nicht eine „absolute“, alle Aspekte umgreifende Antwort gefunden werden muss, sondern nur der Standpunkt dieser einen Person dargestellt werden soll. Doch auch hier gilt es, zunächst einmal den Rahmen abzustecken, von dem aus man einen angemessenen Zugang zu Bonaventuras Standpunkt gewinnen kann. Dabei klärt sich zugleich, was diese Untersuchung zu leisten imstande ist und was nicht. Im Hinblick auf Zeit und Ewigkeit ist dieser Rahmen gewissermaßen ein doppelter: Er ist sowohl theologisch als auch philosophisch. Bonaventura verstand sich in erster Linie als Theologe. Die Theologie wird man so wohl mit Recht als den vornehmlichen Horizont nehmen, innerhalb dessen die Zeitfrage für Bonaventura interessant war. Nimmt man nun beispielsweise die Definition des Breviloquium, so ist Theologie die Wissenschaft von Gott als dem ersten Ursprung und gliedert sich in folgende Teilgebiete: Gotteslehre, Schöpfungslehre, theologische Anthropologie, Christologie, Gnadenlehre sowie Pneumatologie, Sakramentenlehre und Eschatologie.1 Macht man sich die Inhalte der genannten Traktate bewusst, so fällt auf, 1
Vgl. Brev. I, 1 [V, 210a]: … theologia, quae principaliter agit de primo principio, … de septem agit in universo, scilicet primo, de Trinitate Dei; secundo, de creatura mundi; tertio, de corruptela peccati; quarto, de incarnatione Verbi; quinto, de gratia Spiritus Sancti; sexto, de medicina sacramentali, et septimo, de statu finalis iudicii. – Die Namen der einzelnen Traktate sind oben so wiedergegeben, wie man sie heute bezeichnen würde, dass dabei etwa 750 Jahre inhaltlicher Ent-
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
dass das Thema „Zeit“ (wenn man es so weit versteht, dass es auch die Ewigkeit einschließt) nicht einem einzelnen von ihnen angehört, sondern in jedem von ihnen eine gewisse Rolle spielt. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Zeit untrennbar mit dem humanum verbunden ist. Als Grundsignatur der Welt und des Menschen ist sie in (beinahe) jedem Gebiet der Theologie mitzubedenken. Als Gegenpol zur Zeitlichkeit (jetzt in einem engen Sinn verstanden) kommt dabei unweigerlich die Ewigkeit Gottes ins Blickfeld. Bei Bonaventura – aber nicht nur bei ihm, auch wenn es hier besonders auffällt – sind die beiden Fragen nach Zeit und Ewigkeit eng miteinander verbunden, und zwar sowohl in ihrer Zusammengehörigkeit als auch in ihrer Diastase: Das Wesen der Zeit kann nur der erfassen, der sie in ihrem Bezug auf die Ewigkeit hin sieht; umgekehrt wird das mit dem Wesen Gottes identische Wesen der Ewigkeit zwar nicht begriffen, aber doch „berührt“,2 indem die Kategorien der Zeitlichkeit „aufgehoben“ werden (sowohl im Sinn der via negativa, als auch im Sinn der via supereminentiae der dionysischen Theologie). Darin ist implizit enthalten, dass es um eine Verhältnisbestimmung geht, bei der die beiden Relate, Zeit und Ewigkeit, in die rechte Beziehung zueinander gesetzt werden müssen. Als selbstverständlich hat dabei zu gelten, dass Bonaventura dies nicht als ein reziprokes Verhältnis ansah. Im Grunde geht es ja dabei um nichts anderes als um die relatio des Geschöpfes zu seinem Schöpfer, und die ist von Grund auf verschieden von der umgekehrten relatio des Schöpfers zu seinem Geschöpf. Bei dieser Betrachtungsweise ist die theologische Problematik an der Schnittstelle von Zeit und Ewigkeit angesiedelt; wenn man hoch hinausgreifen will, kann man dies geradezu als eine Definition von Theologie verstehen. Näherhin wird man dann die Frage nach dem Anfang der Zeit als einen Aspekt der Protologie, die Frage nach ihrem Ende als Teil der Eschatologie begreifen. Vom Menschen ausgehend stellt sich hier die Frage, wie das Zeitliche des Ewigen teilhaftig werden kann – im Hier und Jetzt über die Sakramente sowie die mystische Erfahrung und in der kommenden Welt durch die Schau Gottes. Und weiter wird man auch in der Frage nach dem Wesen Gottes das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit mitbedenken, mindestens dann, wenn man dieses Wesen so bestimmen will, dass das Zeitliche nicht vom Ewigen völlig absorbiert wird. Oder noch einmal anders, wenn man nach der Beziehung Gottes zur Welt fragt: Wie können
2
wicklung der einzelnen Gebiete übersprungen werden, ist mir wohl bewusst, soll hier aber nicht weiter thematisiert werden. – Für die Abkürzungen der Werke Bonaventuras siehe die Übersicht auf S. 431; die Abkürzungen für Werke anderer Autoren sind an die jeweilige bibliographische Angabe im Quellenverzeichnis (ab S. 413) angeschlossen. Diese Einschränkung gilt für die Gotteserkenntnis insgesamt, da das Höhere vom Geringeren schlichtweg nicht begriffen werden kann; Étienne GILSON, Die Philosophie des heiligen Bonaventura, Köln – Olten 21960 (Übs. der frz. Ausgabe Paris 31953), 140f. gebrauchte dafür die mindestens bis auf AUGUSTINUS, De videndo Deo (= ep. 147) 9, 21 [CSEL 44, 295] zurückgehende Unterscheidung von „gedanklichem Begreifen“ und „gedanklichem Berühren“. Bonaventura sprach in I Sent. 3, 1, 1, 1, ad 1 [I, 69] von cognitio per comprehensionem et per apprehensionem. Auch in III Sent. 14, 1, 2, resp. [III, 300f.] benutzte er diese Unterscheidung.
Zielbestimmung
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Schöpfung, Vorsehung, Vorherbestimmung und Lenkung der Welt (providentia, praedestinatio, gubernatio) so gedacht werden, dass das Geschöpf dabei seinen Selbststand (am deutlichsten sichtbar in der Freiheit des menschlichen Willens) nicht verliert? Was Zeit ist, wird am deutlichsten sichtbar im Blick auf ihren Anfang und ihr Ende. Es bleibt die „Mitte der Zeit“. Gibt es auch für diese eine theologische Relevanz? Je nachdem, wie man Mitte der Zeit interpretieren möchte (eher punktuell oder den gesamten Raum zwischen Anfang und Ende erfüllend), ergeben sich hier zwei verschiedene Ausblicke. Zum einen kann man aus dieser Perspektive auf die Christologie blicken: Schon im Neuen Testament wurde das Christusereignis mit der „Fülle der Zeiten“ (plenitudo temporum, Eph 1, 10; Gal 4, 4) in Verbindung gebracht. Denkt man an die hypostatische Union, als das christologische Dogma schlechthin, so stellt sich hier die Frage nach der Verbindung von Zeit und Ewigkeit in verdichteter Form. Besondere Bedeutung gewinnt dieser Aspekt im Hinblick auf die christologische Zentrierung der bonaventurianischen Theologie.3 Zum anderen eröffnet sich hier das Feld der Geschichtstheologie als Versuch, den Lauf der Zeiten aus der Gotteserfahrung heraus zu deuten. Diese zeigt noch einmal eine andere Facette des Verständnisses von Zeit auf: Hier geht es nicht mehr um einen abstrakt-quantitativen Begriff von Zeit, sondern Zeit meint jetzt eine Geschichts-Zeit, die eine gefüllte, eine sinnerfüllte Zeit ist. Ein möglicher Versuch solcher Deutung besteht in der Strukturierung und Periodisierung der Geschichte. Als das (noch) im 13. Jahrhundert maßgebliche Grundkonzept wird man dabei die in Augustinus’ De civitate Dei vorgelegte Einteilung der Weltgeschichte in sechs (oder sieben) aetates ansehen.4 Auf ihr baute auch die Geschichtskonzeption Joachims von Fiore auf, die innerhalb des franziskanischen Ordens intensiv rezipiert wurde. Insgesamt erwies sich die Geschichtstheologie dieser Prägung als ein Brennpunkt, in dem ekklesiologische, eschatologische und christologische Fragestellungen aufeinandertrafen; „Brennpunkt“ auch insofern, als es hier nicht um einen von der Gelehrtenstube aus betriebenen theologischen Disput, sondern um einen handfesten Richtungsstreit innerhalb des Franziskanerordens ging, mit dem Bonaventura als Generalminister umzugehen hatte. So weit eine erste Beschreibung des theologischen Rahmens. Doch – wie gesagt – es ist nicht der einzige Rahmen, von dem aus die Zeitfrage bei Bonaventura zu behandeln ist. Das Thema Zeit geht nämlich nicht völlig in der Theologie auf. Vielmehr sind hier theologische und philosophische Fragestellungen miteinander verschränkt. Für das 13. Jahrhundert galt dies um so mehr, als unter dem Dach der (Natur-)Philosophie auch die physikalischen Aspekte abgehandelt wurden.5 Wenn man sich der Zeitfrage aus theolo3
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An dieser Stelle mag ein Satz aus Hex., princ., 1 (1), 10 [Ed. Delorme, 4] (vgl. Hebr 1, 2) als Beleg genügen: In Christo ergo, qui tenet medium in omnibus, incipiendum et per ipsum perveniendum est ad Creatorem … quia per ipsum, cum sit Verbum Patris, fecit Pater saecula. Zusammenfassend in Civ. XXII, 30 [CC.SL 48, 865f.] vorgetragen. Bestimmt man Physik innerhalb der Naturphilosophie als die Wissenschaft von dem, was entstanden ist (und vergeht), so gehört der Zeitbegriff zweifellos zu ihren Grundlagen. Vgl. etwa den
16
Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
gischer Perspektive nähert, dann können die philosophischen Probleme, die sich mit ihr verbinden – angefangen bei der Frage nach dem Wesen der Zeit –, nicht unbeachtet bleiben, will man nicht Gefahr laufen, von Dingen zu reden, die man nicht wirklich verstanden hat (es ist insofern ein Gebot der Vernünftigkeit der Theologie).6 Unversehens ist damit auch die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie aufgeworfen. Die besondere Relevanz dieses Aspektes wird deutlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Bonaventura nicht (wie beispielsweise Thomas von Aquin und Albertus Magnus) der Philosophie ein eigenständiges Gebiet zuwies, sondern sie als einen notwendigen „Durchgangsort zwischen reinem Glauben und der Theologie“ verstand.7 Auf die Frage nach dem Wesen der Zeit (exempli gratia) angewendet, bedeutete das, dass aus der theologischen Perspektive sicher ein vollendeteres Verständnis dafür erreicht werden sollte, dieses aber die philosophischen Einsichten nicht etwa entwertete, sondern sowohl voraussetzte als auch auf eine höhere Ebene stellte. Eine theologische Konzeption von Zeit und Ewigkeit ohne eine entsprechende philosophische Grundlegung lässt sich wohl für keinen Denker vorstellen. Für das 13. Jahrhundert kommt als besonderer Aspekt die fortschreitende Aristotelesrezeption hinzu.8
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Artikel von Silvia DONATI / Andreas SPEER, Physik und Naturphilosophie, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München 1993, 2111–2117, besonders 2112f. Bonaventura bestimmte die Physik entweder als Teilgebiet der Naturphilosophie (neben der Mathematik und der Metaphysik) oder er setzte sie mit Naturphilosophie gleich, ihr Gebiet sah er in der Erkenntnis der Seinsursachen (vgl. Red. 4 [V, 320]), in den „Naturen, Kräften und sich auswirkenden Tätigkeiten“ (de naturis, virtutibus et operationibus diffusivis, vgl. Itin. III, 6 [V, 305]) oder in der Bewegung der Körper (corpus mobile in quantum mobile et de motu corporum superiorum …, vgl. Hex., princ., 1 (1), 18 [Ed. Delorme, 7f.]). Vgl. dazu auch Hex. I, 1 (4), 17 [Ed. Delorme, 59; V, 352a]. Die aristotelische Grundlage dieser Bestimmung war die Definition von Physica III, 1 [200b 12f.] (und ähnlich ebd. VIII, 3 [253b 5f.]), durch deren Bestimmung von „Natur“ als „Prinzip der Bewegung und Veränderung“ (ἀρχὴ κινήσεως καὶ µεταβολῆς) die Betrachtung der Bewegung zum Gegenstand der Naturphilosophie erhoben wurde; vgl. hierzu auch THOMAS VON AQUIN, In Physic. III, c. 1, lect. 1, 1 [Ed. Leonina II, 102]: Postquam philosophus determinavit de principiis rerum naturalium, et de principiis huius scientiae, hic incipit prosequi suam intentionem determinando de subiecto huius scientiae, quod est ens mobile simpliciter. Bonaventura bestimmte Theologie unter methodischem Aspekt als „Hinzutreten der Vernunft zu den Inhalten des Glaubens“; vgl. I Sent., prooem., 1, resp. [I, 7b]: et sic [subiectum theologiae] est credibile, prout tamen credibile transit in rationem intelligibilis, et hoc per additionem rationis. Vgl. z. B. GILSON, Philosophie des hl. Bonaventura, 132f. – ergänzend ist anzumerken, dass auch die Theologie nur ein weiterer derartiger „Durchgangsort“ zur Gabe der Weisheit war. Für Näheres siehe den Abschnitt „Philosophie und Theologie“ ab S. 81, bes. S. 90. In umgekehrter Reihenfolge spiegelte auch die von Bonaventura im Hexaëmeron angegebene „Leseordnung“ (Heilige Schrift, Schriften der Heiligen, Schriften der Theologen, Schriften der weltlichen Wissenschaft) dieses Verhältnis wider: Die im Ursprung stehende Heilige Schrift braucht diese immer weiter werdenden konzentrischen Kreise, um verstanden zu werden; vgl. Hex. III, 7 (19), 6–10 [Ed. Delorme, 214–216; V, 421f.]. Für einen ersten orientierenden Überblick vgl. etwa Fernand Van STEENBERGHEN, Aristoteles. IV. Lateinisches Mittelalter, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, Mün-
Zielbestimmung
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Im vorliegenden Zusammenhang ist dabei vor allem auf folgende Faktoren innerhalb dieses Prozesses hinzuweisen: Ein Teil der logischen Schriften des Aristoteles war der lateinisch sprechenden Welt vor allem durch die Übersetzungen des Boethius schon seit dem Ausgang der Antike bekannt. Die entscheidenden Gedanken über Zeit und Ewigkeit fanden sich dagegen in den neu rezipierten Schriften, insbesondere der Metaphysik und der Physik (neben weiteren, wie z. B. den kosmologischen Schriften De caelo, De mundo, De generatione et corruptione oder De anima).9 Eine eigene Note bekam dieser Rezeptionsvorgang dadurch, dass diese Schriften der lateinischsprechenden Gelehrtenwelt zunächst vor allem über arabische Kommentierungen – namentlich durch Avicenna (Ibn Sīnā) und Averroes (Ibn Rušd) – bekannt wurden, bevor sie direkt aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen wurden. Die zwischen 1210 und 1277 in Paris ausgesprochenen Aristotelesverbote10 weisen auf die Spannungen hin, die im Verlauf dieses Prozesses zwischen Philosophie und Theologie – oder zwischen der Artistenfakultät und der theologischen Fakultät – bestanden. Die These von der Ewigkeit der Welt war dabei einer der Hauptstreitpunkte der sich Ende der 1260’er Jahre entwickelnden Auseinandersetzungen um den „heterodoxen Aristotelismus“ oder „Averroismus“.11 Thomas von Aquin, Siger von Brabant und Boethius von Dacien waren hier die Schlüsselfiguren. Bei diesem Disput, der zwischen den Magistri der Artes-Fakultät und der theologischen Fakultät ausgetragen wurde und in den Verurteilungen vom 10.12.1270 und vom 7.3.1277 durch Bischof Étienne Tempier gipfelte, stand Bonaventura als General-
9 10 11
chen 1980, 936–939, weitere Literatur siehe den Abschnitt „Aristotelesrezeption und Aristotelismus“ ab S. 67. Man denke nur an die berühmte Definition der Zeit als „Maßzahl der Bewegung hinsichtlich des Davor und Danach“ aus Physica IV, 11 [219b 2]. Im Überblick bei Ludwig HÖDL, Aristotelesverbote, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München 1980, 948f. Um die richtige Bezeichnung („heterodoxer Aristotelismus“, „Averroismus“, „radikaler Aristotelismus“) ist viel gestritten worden, vgl. etwa die Stellungnahmen von Ludwig HÖDL, Averroes, Averroismus. II. Lateinischer Averroismus, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München 1980, 1292–1295, hier 1292 zur Bezeichnung „Averroismus“ oder von B. Carlos BAZÁN, Radical Aristotelianism in the Faculties of Arts. The case of Siger of Brabant, in: Ludger Honnefelder u. a. (Hrsg.), Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter. Von Richardus Rufus bis zu Franciscus Mayronis (= Subsidia Albertina 1), Münster 2005, 585–625, hier 585–590, zum Begriff „radikaler Aristotelismus“ sowie Fernand Van STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, Louvain – Paris 21991, 354–359 („Aristotélisme hétérodoxe ou averroïsme?“). Definiert man die so bezeichnete geistige Strömung über die vertretenen Thesen (z. B. Einheit des Intellektes, Ewigkeit der Welt, intellektueller Determinismus, die Idee einer durch Philosophie erreichbaren [diesseitigen] Glückseligkeit; vgl. BAZÁN, Radical Aristotelianism, 590) so tritt ihr Profil einigermaßen deutlich hervor. Ich werde im folgenden den Ausdruck „heterodoxer Aristotelismus“ bevorzugen; er soll aber lediglich darauf hinweisen, dass es hier um eine kirchliche Auseinandersetzung ging und die oben bezeichneten Thesen eine amtliche Verurteilung erfahren haben; die historische und sachliche Berechtigung der Verurteilung soll damit nicht ausgesagt werden, sie wäre in den einzelnen Fällen gesondert zu untersuchen.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
minister des Franziskanerordens nicht in vorderster Front, gleichwohl bezog er in den Universitätspredigten aus dieser Zeit doch deutlich Stellung.12 Die Predigten des Hexaëmeron zeigten an einigen Stellen eine einigermaßen unverhohlene Kritik in Richtung einer philosophischen Wissenschaft, die ihre Grenzen überschreitet.13 Und in der Tat war das Verhältnis von Philosophie und Theologie insgesamt (oder die Frage nach der Autonomie der Philosophie) sicherlich der Kernpunkt der skizzierten Auseinandersetzung. Inhaltlich waren es für Bonaventura drei Punkte der Aristotelesinterpretation, an denen die Kollision zwischen Philosophie und Glaube oder Theologie manifest wurde: die Frage nach der Ewigkeit der Welt, nach der individuellen Vorsehung Gottes und nach der Unsterblichkeit der einzelnen Seele.14 Alle drei Fragen haben auf je spezifische Weise mit dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit zu tun, und sie liegen in jenem Bereich, in dem sich Philosophie und Theologie überschneiden.15 Vor der „Entdeckung“ des Aristoteles war Augustinus die unangefochtene Autorität für die Frage nach der Zeit, sowohl was ihr Wesen anging als auch was ihre Deutung in der Geschichtstheologie betraf. Charakteristisch für die Position des Kirchenlehrers in der ersten Frage war die in Confessiones XI vorgenommene Bestimmung der Zeit als einer innerseelischen Realität; er hatte dort seinen Begriff der Zeit aus einer Betrachtung der Vorgänge in der Seele gewonnen. Aristoteles dagegen war bei seiner Bestimmung des Wesens der Zeit aus einer völlig anderen Richtung gekommen: Er hatte es aus einer Analyse der Bewegung abgeleitet (vor allem im Blick auf die Himmelssphären). Dementsprechend war die aristotelische Zeit, die „Maßzahl der Bewegung“, von vorneherein stärker auf die Außenwelt bezogen, sie war eine physikalische Zeit im Gegensatz zur psychologischen Zeit des Augustinus. Aristoteles ging zwar nicht so weit, der Zeit ein substantielles Sein zuzusprechen, immerhin aber stellte sie ein „Etwas“ (τι)
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Näherhin in den Collationes de decem praeceptis (1267), den Collationes de septem donis Spiritus Sancti (1268) und im Hexaëmeron (1273). Vgl. etwa die Überblicksdarstellungen bei Marianne SCHLOSSER, Bonaventura begegnen (= Zeugen des Glaubens), Augsburg 2000, 76–89. GILSON, Philosophie des hl. Bonaventura, 42–52, versuchte den Anteil Bonaventuras an den Auseinandersetzungen eher zu minimalisieren und sah ihn vor allem im Hintergrund agieren, STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 179 sprach ihm dagegen eine „aktive Rolle“ zu. In jedem Fall stellten Bonaventuras Collationes von 1267 und 1268 sicherlich eine der ersten literarischen Reaktionen auf die heterodoxen Strömungen in der Artistenfakultät dar (vgl. ebd., 325–335, bes. 325f.). Z. B. Hex., princ., 1 (1), 24 [Ed. Delorme, 11]; I, 1 (4), 16 [Ed. Delorme, 58]; I, 2 (5), 21 [Ed. Delorme, 84]; III, 7 (19), 14 [Ed. Delorme, 217]. Hex. IV, 3 (22), 18 [Ed. Delorme, 255] äußerte zwar auch Zeitkritik, das scheint aber in eine andere Richtung zu gehen. Vgl. am deutlichsten Hex. I, 4 (7), 1 [V; 365; Ed. Delorme, 98f.], ähnlich in I, 3 (6), 4f.; I, 1 (4), 16 [Ed. Delorme, 92.59; V, 361 bzw. nicht in Rep. B], Praec. II, 25 [V, 514] sowie Don. VIII, 16 [V, 497]. Zur Thematik siehe auch SCHLOSSER, Bonaventura begegnen, 80. Gerade darum ist es notwendig zu sehen, wie Bonaventura das Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie bestimmte, siehe dazu den Abschnitt „Philosophie und Theologie“ ab S. 81.
Zielbestimmung
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an der Bewegung dar.16 Im 13. Jahrhundert wurde diese Frage nach dem Sein der Zeit heftig diskutiert, so wundert es nicht, dass auch sie in den Verurteilungen von 1277 ihren Widerhall fand.17 Die dahinterliegende Absicht „sowohl die Möglichkeit der Heilsgeschichte als auch die der Schöpfung zu verteidigen“18 – wobei hier notabene die der augustinischen (und averroistischen) Tradition innewohnende Tendenz einer allzu starken Verinnerlichung der Zeit abgelehnt wurde – zeigt die Querverbindung, die zwischen dem ontologischen und dem heilsgeschichtlichen Aspekt der Zeitfrage bestand.19 Aus dem Gesagten wird sichtbar, wie weit das Feld von Zeit und Ewigkeit ist, selbst wenn man alleine auf Bonaventura blickt. Auch da ist also eine nochmalige Einschränkung des Themas notwendig. Sie soll eng genug sein, um einigermaßen überschaubar zu bleiben, aber doch so weit, dass sich in etwa eine Gesamtperspektive auf das Thema Zeit und Ewigkeit ergibt. Dies soll dann auch den Unterschied ausmachen zu zahllosen bereits erschienenen Darstellungen einzelner Aspekte dieser Thematik, exemplarisch seien hier die Themen „Ewigkeit der Welt“, „aevum“ und „Geschichtstheologie“ genannt.20 Ich will mich im Folgenden auf die beiden Begriffe tempus und aevum konzentrieren. Diese Beschränkung bietet sich von daher an, weil diese – wie noch zu zeigen sein wird – in der Trias von tempus, aevum, aeternitas einerseits die geschöpfliche Seite zeitlicher Maße repräsentieren, sie aber andererseits ein Feld aufspannen, das doch weit genug ist, um sowohl dem Aspekt von Zeit wie auch dem von Ewigkeit gerecht zu wer16
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Vgl. Physica IV, 11 [218b 21 – 220a 26, bes. 219a 9f.]. Einen kurzen Überblick findet man bei Udo R. JECK / Burkhard MOJSISCH / Rudolf REHN, Zeit. I. Theologisch und Philosophisch, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 9, München 1998, 509–512; vgl. auch die Monographie von Udo JECK zu diesem Thema: Aristoteles contra Augustinum. Zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele bei den antiken Aristoteleskommentatoren, im arabischen Aristotelismus und im 13. Jahrhundert, Amsterdam – Philadelphia 1994. Heinrich DENIFLE / Émile CHATELAIN, Chartularium universitatis Parisiensis, Bd. 1, Paris 1889 (Nachdruck Bruxelles 1964), 554 (a. 200): Quod evum et tempus nichil sunt in re, sed solum in apprehensione. Ruedi IMBACH, Temps, in: Claude Gauvard / Alain de Libera / Michel Zink (Hrsg.), Dictionnaire du Moyen Âge, Paris 2002, 1370f., hier 1371b (eigene Übs.). Bereits Joseph RATZINGER, Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, München – Zürich 1959, 121 wies darauf hin, dass der Antiaristotelismus Bonaventuras sich weniger auf dem metaphysischen oder erkenntnistheoretischen Gebiet zeigte, als vielmehr in der Frage nach der Geschichtstheologie zu suchen ist (vgl. dazu das gesamte vierte Kapitel, 121–162). Vgl. auch das Urteil von STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 228. In dieselbe Richtung ging die Beobachtung von Paul ZAHNER, Die Fülle des Heils in der Endlichkeit der Geschichte. Bonaventuras Theologie als Antwort auf die franziskanischen Joachiten (= Franziskanische Forschungen 41), Werl (Westfalen) 1999, 15, der die „plakative Gegenüberstellung von Metaphysik und Heilsgeschichte als irreführend“ erkannte. Der einzige Versuch einer ähnlichen Gesamtdarstellung, auf den ich gestoßen bin, scheint die unveröffentlichte Dissertation von Rudolf THAUT, Zeit, Geschichte, Ewigkeit bei Bonaventura, Diss., Hamburg 1949 zu sein. Doch auch sie bleibt in vielerlei Hinsicht unvollständig, einmal abgesehen davon, dass die Arbeit sich selbst als philosophische, nicht als theologische versteht (ebd., 6).
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
den. Auch hier sind noch verschiedene Möglichkeiten denkbar, die Thematik anzugehen. Eine weitere Grundentscheidung besteht deshalb darin, die theologische Bedeutung der beiden Begriffe von einer naturphilosophisch-metaphysischen Seite herkommend aufzuschließen, während die vor allem für die Zeit ebenfalls mögliche heilsgeschichtliche und geschichtstheologische Perspektive eher in den Hintergrund treten soll. Insgesamt bedeutet es, dass die mit den beiden Begriffen verbundenen Fragen nach der Ewigkeit Gottes,21 nach der Ewigkeit der Welt (die schon seit langem Gegenstand intensiver Forschung ist)22 und nach der Geschichtstheologie23 zwar nicht völlig außen vor bleiben, aber doch nur insoweit behandelt werden, als es für das eben skizzierte Verständnis von tempus und aevum notwendig ist. Aus den genannten Beschränkungen ergibt sich schließlich die Gliederung des Themas. Im einleitenden Teil sollen zunächst die für die Untersuchung relevanten Texte sowie ihr geschichtlicher und sachlicher Hintergrund vorgestellt werden. Dazu gehört auch, dass die beiden wichtigsten Vordenker in dieser Sache – Aristoteles und Augustinus – zu Wort kommen. Es folgt dann in zwei weiteren Teilen je eine Einzeluntersuchung der beiden Begriffe tempus und aevum, wobei beim Zeitbegriff die (natur)philo21 22
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Vgl. hierzu vor allem den Abschnitt ab S. 306. Entsprechend umfangreich ist die Liste der Publikationen hierzu. Exemplarisch sei hier auf einige der umfangreicheren Darstellungen hingewiesen: Ernst BEHLER, Die Ewigkeit der Welt. Problemgeschichtliche Untersuchungen zu den Kontroversen um Weltanfang und Weltunendlichkeit im Mittelalter, München u. a. 1965 (nur erster Band erschienen); Luca BIANCHI, L’errore di Aristotele. La polemica contro l’eternità del mondo nel XIII secolo (= Pubblicazioni della facoltà di lettere e filosofia dell’Università di Milano 104), Firenze 1984; Rolf SCHÖNBERGER, Der Disput über die Ewigkeit der Welt, in: Bonaventura / Thomas de Aquino / Boethius de Dacia, Über die Ewigkeit der Welt, mit einer Einl. v. Rolf Schönberger, Übers. u. Anm. v. Peter Nickl, Frankfurt am Main 2000, VII–XXXII; Richard C. DALES, Medieval Discussions of the Eternity of the World (= Brill’s studies in intellectual history 18), Leiden u. a. 1990; ders., Medieval Latin Texts on the Eternity of the World (= Brill’s studies in intellectual history 23), Leiden u. a. 1991; Jozephus B. WISSINK (Hrsg.), The Eternity of the World in the Thought of Thomas Aquinas and his Contemporaries (= Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 27), Leiden u. a. 1990 (Sammelband). Außer in den beiden genannten von Rolf Schönberger und Jozephus Wissink herausgegebenen Bänden wird Bonaventuras Position unter anderem in folgenden Untersuchungen beleuchtet: Stephan BALDNER, St. Bonaventure on the Temporal Beginning of the World, in: The New Scholasticism 63 (1989) 206–228; Luca BIANCHI, L’inizio dei tempi. Antichità e novità del mondo da Bonaventura a Newton (= Biblioteca di storia della scienza 26), Firenze 1987; Bernardino BONANSEA, The Impossibility of Creation from Eternity According to St. Bonaventure, in: George F. MCLEAN (Hrsg.), Thomas and Bonaventure. A Septicentenary Commemoration (= Proceedings of the American Catholic Philosophical Association 48), Washington, D. C. 1974, 121– 135; Fernand Van STEENBERGHEN, Saint Bonaventure contre l’éternité du monde, in: Jacques Guy Bougerol (Hrsg.), S. Bonaventura 1274–1974, Bd. 3, Grottaferrata (Roma) 1973, 259–278. Ausführliche Bibliographien zum Thema findet man in den Bänden von Rolf Schönberger und Luca Bianchi (L’errore di Aristotele). Vor allem in dem Abschnitt über die christologischen Aspekte der Zeit (ab S. 349 und hier besonders ab S. 354) soll sie zur Sprache kommen.
Zielbestimmung
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sophischen und theologischen Aspekte getrennt betrachtet werden. Für das aevum erübrigt sich eine solche Zweiteilung, denn es ist vornehmlich in der Theologie, insbesondere der Angelologie, anzusiedeln. Ein abschließender Teil soll schließlich die Bedeutung der beiden Begriffe für eine theologische Anthropologie erhellen.
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Texte und Kontexte
Das Folgende stellt den Versuch dar, gewissermaßen eine Rampe zum Verständnis Bonaventuras zu bauen. Der erste, grundlegende Schritt dazu ist es, die Textbasis vorzustellen, von der die vorliegende Untersuchung ausgeht. In einem zweiten Schritt sollen diese Texte in einen größeren Rahmen gestellt werden. Zu diesen „Kontexten“ gehört einerseits die zeitgeschichtliche Situation, in der sich der Kirchenlehrer befindet, andererseits rechne ich dazu auch die der avisierten Thematik vorausliegenden Grundstrukturen in Bonaventuras eigenem Denken. Beides zusammen stellt den notwendigen hermeneutischen Hintergrund dar, auf dem seine Texte zu lesen sind. Ein dritter Schritt schließlich – dem wegen seines Umfangs ein eigenes Kapitel gewidmet ist – steckt das Feld noch einmal weiter ab, indem mit Aristoteles und Augustinus die beiden großen Traditionslinien, aus denen sich Bonaventuras Spekulation speiste, dargestellt werden.
2.1
Verwendete Texte
Von Bonaventura ist kein geschlossener Zeittraktat überliefert,1 vielmehr sind seine Anschauungen zum Thema Zeit und Ewigkeit aus verstreuten Stellen zu rekonstruieren. Diese Beobachtung fügt sich nahtlos in das oben bereits angerissene Bild,2 wonach Zeit nicht ein eigenständiges Thema der Theologie ist, sondern eher eine Voraussetzung und eine bestimmte Perspektive, aus der sich das theologische Gebäude, das Bonaventura errichtete, in den Blick nehmen lässt. Im Grunde könnte man daher fast das gesamte Œuvre des gelehrten Franziskaners an dieser Stelle vorstellen, ausgenommen nur einige Schriften, die sich speziell mit dem Franziskanerorden befassen. De facto gibt es freilich doch gewisse Konzentrationspunkte, an denen die Problematik von Zeit und Ewigkeit vor allem behandelt wird. Sie sollen im Folgenden in chronologischer Reihenfolge
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Wie bereits JECK, Aristoteles contra Augustinum, 274 bedauert hat. Siehe oben S. 14.
Texte und Kontexte
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vorgestellt werden. Zum größeren Teil gehören sie zu den wissenschaftlich-theologischen Schriften Bonaventuras.3 Das meiste Material findet man in Bonaventuras Sentenzenkommentar. Er entstand in den Jahren 1250–1252. Obwohl er eines der ersten Werke Bonaventuras ist und die Kommentierung der Sentenzen des Petrus Lombardus zum Pflichtprogramm jedes Baccalaureus („Assistenten“) gehörte, sucht er sowohl an Umfang wie an Klarheit und Geschlossenheit seinesgleichen.4 Die Anordnung des Stoffes ist durch die Sentenzen im Wesentlichen vorgegeben. Demnach handelt Buch I von Gott dem Einen und Dreieinen, Buch II von der sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung sowie dem Fall des Menschen und der Engel, Buch III behandelt die Menschwerdung und die Soteriologie (die auch die „Mittel“ der Erlösung, sprich die Tugenden, die Gaben des Heiligen Geistes und die Zehn Gebote einschließt), Buch IV schließlich enthält die Sakramentenlehre und die Eschatologie.5 Der Ertrag, den man von Buch I für die Frage nach der Ewigkeit Gottes vielleicht erwarten würde, fällt eher gering aus: Das Thema wird in einzelnen quaestiones eher gestreift (so etwa in 8, 1, 2, 1f. [I, 156–161] über die immutabilitas Gottes, oder in 31, 2, 1, 3 [I, 543–545] über die Appropriationsreihe des Hilarius aeternitas, species, usus, ferner in d. 37 [I, 638–666], die sich mit der ubiquitas und der incircumscriptibilitas Gottes auseinandersetzt).6 Die Distinctiones 1 und 2 [II, 14–86] des zweiten Buches sind dagegen eine wahre Fundgrube für verschiedene Aspekte der zu untersuchenden Thematik: Im Rahmen der Protologie und der Angelologie findet man hier nicht nur zwei umfangreiche Definitionen des Zeitbegriffs,7 dort werden auch die Fragen nach der Ewigkeit der Welt und dem aevum als dem „Zeit“-maß, unter dem die Engel stehen, abgehandelt; schließlich wird auch die Unsterblichkeit der menschlichen 3
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Ein vollständiges (wenn auch teilweise nicht ganz aktuelles) Verzeichnis der Werke Bonaventuras findet man etwa bei Balduin DISTELBRINK, Bonaventurae scripta, authentica, dubia vel spuria, critice recensita (= Subsidia Scientifica Franciscalia 5), Roma 1975; umfangreiche aktuelle biobibliographische Informationen enthält zudem der Internetbeitrag «Bonaventura da Bagnoreggio» von Maarten van der HEIJDEN / Bert ROEST, Franciscan authors, 13th – 18th century, a catalogue in progress, auf dieser Seite: http://users.bart.nl/~roestb/franciscan/franautb.htm#_Toc427589469 (2.1.2013). Für Martin GRABMANN, Die Geschichte der katholischen Theologie seit dem Ausgang der Väterzeit, Freiburg i. Br. 1933, 67 ist er „vielleicht der inhaltlich bedeutendste Sentenzenkommentar der Scholastik“. Vgl. etwa auch die Urteile von GILSON, Philosophie des hl. Bonaventura, 26 („ein wahres Meisterwerk, die Frucht eines jungen und starken Genies“), Fernand Van STEENBERGHEN, Aristotle in the West. The Origins of Latin Aristotelianism, übs. v. L. Johnston, Louvain 1970, 148–150, Reinhold RIEGER, Commentaria in IV libros Sententiarum, in: Michael Eckert u. a. (Hrsg.), Lexikon der theologischen Werke, Stuttgart 2003, 111f. oder SCHLOSSER, Bonaventura begegnen, 19f. Vgl. dazu etwa den Index quaestionum in den einzelnen Bänden des Sentenzenkommentars. Ergänzen könnte man noch d. 41, a. 2 [I, 736–742] (De sempiternitate divinae cognitionis) und d. 44, a. 2 [I, 790–793] (De immutabilitate divinae potentiae). Die d. 40 [I, 702–724] befasste sich mit Fragen einer ewigen oder zeitlichen Prädestination. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 64f.] und 1, 1, dub. 4 [ II, 38].
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Seele thematisiert (d. 19, a. 1 [II, 457–464]).8 Die in Buch III entfaltete Christologie (d. 1–22 [III, 8–506]) kann zwar Einzelaspekte erhellen,9 wirft aber aufs Ganze gesehen einen eher geringen Ertrag ab. Buch IV handelt bereits im Zusammenhang mit der Buße vom Purgatorium (d. 20, p. 1 [IV, 517–529]), das als Zwischenzustand zwischen irdisch-zeitlicher und verherrlicht-ewiger Existenz des Menschen im gegebenen Zusammenhang interessant ist. Die weiteren eschatologischen Fragen werden in den Distinctiones 43–50 [IV, 883–1054] abgehandelt. Die Quaestio disputata de mysterio Trinitatis stammt aus der Zeit, als Bonaventura bereits zum Magister promoviert war (1254–1257). Sie ist jedenfalls nach der Quaestio disputata de scientia Christi entstanden und könnte auf das Jahr 1255 zu datieren sein.10 Die Literaturgattung der Quaestio disputata geht auf die an der Universität übliche Unterrichtsform der Disputatio zurück.11 An den dafür vorgesehenen dies disputabiles legte der Magister dabei eine von ihm gewählte Frage aus seinem Fachgebiet zur Erörterung vor.12 Die vor der universitären Öffentlichkeit (Professoren, Assistenten, Studenten) stattfindende Diskussion wurde dann hauptsächlich von den Assistenten (baccalaurei) bestritten. Aufgabe des Magisters war es, am darauffolgenden Vorlesungstag eine Determinatio der von ihm gestellten Frage vorzulegen: Hier wurden die in der Diskussion vorgebrachten Argumente geordnet und eine Lösung der Frage samt Erwiderung auf die entgegenstehenden Einwände dargeboten. Diese Determinatio wurde später vom Magister noch einmal redigiert und in ihre endgültige Form gebracht. De mysterio Trinitatis gliedert sich dabei in acht Quaestionen, die mit Ausnahme der letzten, in jeweils zwei Artikel untergliedert sind. Diese Gliederung spiegelt einen in den ersten sieben Fragen wiederholten Zweischritt, bei der der jeweilige Punkt zuerst im Hinblick auf das Sein des einen Gottes und dann in Verbindung mit der Dreifaltigkeit Gottes erörtert wurde. An erster Stelle wurde die grundlegende Frage nach der Gewissheit unserer Erkenntnis der Existenz Gottes (a. 1) und nach der Glaubwürdigkeit des in der 8
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Für die gegebene Thematik sind auch die Frage nach dem freien Willen – sowohl bei den Engeln (d. 7, p. 1, a. 2 [II, 183–188]) als auch beim Menschen (d. 25 [II, 592–626]) – und die Frage nach der materia prima (d. 12 [II, 293–308]) relevant. Namentlich kann hier auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen zeitlicher und ewiger Geburt Christi (d. 8 [III, 185–197]) und die Frage nach der Prädestination Christi (d. 11 [III, 243–260]) hingewiesen werden. So Marianne SCHLOSSER, Einleitung, in: Bonaventura, Über den Grund der Gewißheit. Ausgewählte Texte, übs. u. m. Erl. vers. v. Marianne Schlosser (= Collegia), Weinheim 1991, 1–18, hier 9; Ebd., Anm. 24 bietet andere Datierungsversuche. Vgl. außerdem DISTELBRINK, Bonaventurae scripta, 10 (Datierung auf 1254/55). Für das Folgende vgl. summarisch: SCHLOSSER, Bonaventura begegnen, 22f.; Ludwig HÖDL, Disputatio(n). [1] Philosophie und Theologie, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, München 1986, 1116–1118; Jos N. J. DECORTE, Quodlibet, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1995, 377. Im Gegensatz zu der anderen, zweimal im Jahr stattfindenden Form der Disputatio, der Quaestio (disputata) de quolibet, bei der vom Magister kein bestimmtes Thema vorgegeben wurde.
Texte und Kontexte
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Offenbarung gegebenen Satzes von Dreifaltigkeit Gottes gestellt. Die Quaestiones 2–8 behandelten dann je eine Eigenschaft Gottes (unitas, simplicitas, infinitas, aeternitas, immutabilitas, necessitas, primitas).13 Im vorliegenden Fragenkreis ist die qu. 5 über die Ewigkeit Gottes von zentraler Bedeutung, wobei aber unmittelbare Bezüge zu den Fragen über die Einfachheit, die Unendlichkeit und die Unwandelbarkeit Gottes bestehen. Unter den gelegentlich Bonaventura zugeschriebenen Werken finden sich noch einige weitere Quaestiones disputatae, die für den betrachteten Themenkreis in Frage kämen: De productione rerum, de imagine Dei et de anima humana14 und De caritate et de novissimis.15 An deren Echtheit bestehen aber erhebliche Zweifel. Dass die letzteren von Bonaventura stammen, wurde von Hyacinthe-François Dondaine widerlegt.16 Bei ersteren handelt es sich um eine Serie von elf Quaestiones, die man als anonymes Werk in der Handschrift Florenz, Bibl. Naz. Conv. soppr. D 4.27, fol. 54ra–65va findet. Vier Quaestiones sind dem Thema De productione rerum gewidmet, die folgenden sieben behandeln die Seelenlehre. Victorin Doucet wollte sie als wahrscheinlich bonaventurianisch einstufen.17 Ignatius Bradys Untersuchung des Textes kam im Blick auf die darin enthaltene Seelenlehre jedoch zu dem Schluss, dass er kaum von Bonaventura stammen könne.18 Die vierte dieser Quaestiones mit dem Titel Utrum mundus productus fuerit ab aeterno wurde von Antonius Van de Sande ediert, er sah den Text als eine Reportatio an und rechnete sie der Schule Bonaventuras zu, ohne eine Autorschaft des Doctor seraphicus völlig auszuschließen.19 13
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Nahezu dieselbe Reihe bietet auch Itin. V, 5 & 7 [V, 309], letztere versucht, das Sein Gottes durch eine Reihe von superlativischen „Gegensatz“-Paaren zu beschreiben: est primum et novissimum, est aeternum et praesentissimum, est simplicissimum et maximum, est actualissimum et immutabilissimum, est perfectissimum et immensum, est summe unum et tamen omnimodum (Unterstreichungen von mir). Vgl. DISTELBRINK, Bonaventurae scripta, 12 (nr. 6). Vgl. DISTELBRINK, Bonaventurae scripta, 174 (nr. 188), der Text ist ediert von Palémon GLORIEUX, Questions disputées «De caritate», «De novissimis» (= France Franciscaine, Document 2), Paris 1950. Vgl. Hyacinthe-François DONDAINE, De l’attribution à S. Bonaventure des questions du MS. d’Arras 873, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 19 (1949) 313–378. Victorin DOUCET, Descriptio codicis 172 bibliothecae communalis Assisiensis, in: Archivum Franciscanum Historicum 25 (1932) 257–274.378–389.502–524, hier 514f., bes. Anm. 4. Ignatius BRADY, The Opera Omnia of Saint Bonaventure Revisited, in: George F. McLean (Hrsg.), Thomas and Bonaventure. A Septicentenary Commemoration (= Proceedings of the American Catholic Philosophical Association 48), Washington, D. C. 1974, 295–304, hier 300f.; er hielt eine Zuschreibung an Eustachius von Arras für wahrscheinlich. Zudem hatten bereits die Editoren von Quaracchi die Quaestiones als nicht bonaventurianisch eingestuft (Opp. V, v: fortasse Alexandri ab Alexandria). Herausgegeben von Antonius van de SANDE, Une „quaestio disputata“ attribué à Bonaventure, et commentaire, in: Francisco de Asís Chavero Blanco (Hrsg.), Bonaventuriana. Miscellanea in onore di Jacques Guy Bougerol ofm, Vol. II (= Bibliotheca Pontifici Athenaei Antoniani 28), Roma 1988, 507–533, hier 508f. Falls die Quaestio doch Bonaventura zuzuschreiben ist, so wäre sie auf 1254–57 zu datieren (529).
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Auch die Abfassung des Breviloquium, wahrscheinlich Ende des Jahres 1256,20 fällt in die Zeit Bonaventuras als Magister (1254–1257). Es ist „eine Art Grundkurs der Theologie“,21 mit dem er in konziser Form und geschliffener Sprache seinen (studierenden) Mitbrüdern die wesentlichen Glaubensinhalte nahebringen wollte. Aus dem ersten Teil sind in unserem Zusammenhang vor allem die abschließenden Kapitel interessant (c. 6.8–9, über die Appropriationen, die praedestinatio, die praescientia und die providentia Gottes), pars 2 behandelt die Schöpfungslehre, hier finden sich etliche Aspekte, die die Ausführungen des Sentenzenkommentars ergänzen (insbesondere ist auf c. 2 zu verweisen, das die körperliche Schöpfung hinsichtlich ihres Werdens behandelt). Die Christologie des Breviloquium (p. 4) erhält in c. 4 einen geschichtstheologischen Einschlag („Die Menschwerdung in der Fülle der Zeiten“), die Eschatologie wird detailreich in p. 7 dargestellt. Die Wahl Bonaventuras zum Generalminister des Franziskanerordens am 2. Februar 1257 bedeutete auch eine Zäsur innerhalb seines literarischen Werkes: Die akademische Laufbahn war damit beendet und die Leitung des Ordens nahm seine ganze Kraft in Anspruch. Die Sorge für das geistliche Wohl der ihm anvertrauten Brüder und Schwestern22 bestimmte den Inhalt und die Gattung der in dieser Zeit (sie dauerte fast bis zum Ende seines Lebens) verfassten Schriften. In Bonaventuras theologischen Anschauungen kann man dagegen nicht von einem Bruch sprechen, man beobachtet vielmehr eine große Kontinuität.23 Van Steenberghen bescheinigte ihm ein waches Interesse an der Entwicklung der (theologischen) Ideen, wovon vor allem die drei Reihen der in Paris vorgetragenen Collationes ein Zeugnis ablegen.24 In den Collationes de decem praeceptis (1267),25 den Collationes de septem donis Spiritus Sancti (1268) und den Collationes in Hexaëmeron (1273) bezog er Position zu den Auseinandersetzungen um Aristotelismus und Averroismus.
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Vgl. z. B. Marianne SCHLOSSER, Einleitung, in: Bonaventura, Breviloquium, übertr., eingel. u. mit einem Glossar versehen von Marianne Schlosser (= Christliche Meister 52), Freiburg 2002, 10–17, hier 11; ähnlich DISTELBRINK, Bonaventurae scripta, 4 („vor 1257“). SCHLOSSER, Bonaventura begegnen, 23. „Als Generaloberer der Minderbrüder hatte Bonaventura auch eine gewisse Verantwortung für den Orden der Klarissen“ (SCHLOSSER, Bonaventura begegnen, 65), literarisch schlägt sich das in der auf Bitten Isabellas von Longchamp verfassten Schrift De perfectione vitae ad sorores nieder. Vgl. z. B. SCHLOSSER, Bonaventura begegnen, 50. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 179: «Toutefois il demeura très attentif au mouvement des idées et … il prit une part active aux luttes doctrinales provoquées par les progrès inquiétants de l’aristotélisme.» Der averroistische Irrtum von der Ewigkeit der Welt wurde in Praec. II, 25.28 [V, 514f.] thematisiert.
Texte und Kontexte
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Im vorliegenden Zusammenhang sind vor allem die im Frühjahr 1273 gehaltenen Collationes in Hexaëmeron von Bedeutung.26 Der Terminus Collationes bedeutet in diesem Zusammenhang eine Reihe von unter einem Oberthema zusammengefassten, predigtähnlichen Vorträgen.27 Wie die beiden anderen Collationes auch, liegen sie nur in Form von Reportationes vor, also als Mitschriften der (studentischen) Zuhörer. Zwei inhaltlich deutlich voneinander abweichende Reportationes der Collationes in Hexaëmeron sind bisher ediert: Die in der Ausgabe von Quaracchi enthaltene längere Rezension (Reportatio B) und die von Delorme veröffentlichte kürzere Rezension (Reportatio A), eine private Mitschrift, die nach eigenen Angaben die Collationes so wiedergibt, wie sie vorgetragen wurden.28 – Die Ernennung Bonaventuras zum Kardinal am 23. Mai 1273 durch Gregor X. unterbrach die Vortragsreihe. Sein Tod am 15. Juli 1274 verhinderte einen Abschluss zu einem späteren Zeitpunkt, weshalb von den sieben geplanten Visiones (Illuminationes) die letzten drei fehlen. Man kann die 23 Collationes des Hexaëmeron sicherlich von verschiedenen Seiten betrachten,29 ein möglicher Ausgangspunkt zu dessen Verständnis ist das sich durch das Werk ziehende Schlüsselwort intellectus (oder intelligentia).30 Die sechs Visiones, die 26
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Für das Folgende vgl. vor allem Jacques Guy BOUGEROL, Introduction à S. Bonaventure, Paris 1988, 227–241, besonders 235–241. Das in die zwei edierten Redaktionen eingeflossene Verhältnis der Redaktoren zum Joachitismus beschreibt ZAHNER, Die Fülle des Heils, 139. Im christlichen Bereich bedeutet collatio ursprünglich die Zusammenkunft der Mönche am Abend, oder das (dabei stattfindende) geistliche Gespräch und die geistliche Lesung. Der Name dürfte auf die in der Regula Benedicti dazu empfohlene Lesung der Collationes Cassians zurückgehen; vgl. Karl Suso FRANK, Collatio, in: Walter Kasper u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2, Freiburg u. a. 31994, 1256f. Im 12. und 13. Jahrhundert wurde der Begriff in verschiedenen Bedeutungen verwendet: (1) für eine Predigt am Abend eines Sonn- oder Festtages, bei der das Thema der Homilie in der vormittäglichen Messe wiederaufgenommen wurde, (2) für eine Form des Diskussion unter Studenten über ein geistliches Thema, das zugleich als eine schulische Übung verstanden wurde. Durch die Institutionalisierung im 13. Jahrhundert verlor diese Form mehr und mehr ihren geistlichen Charakter und wurde zu einer Pflichtübung. (3) Die dritte Bedeutung ist die oben skizzierte Form einer Reihe von geistlichen Vorträgen. Man beachte, dass es sich dabei nicht um Predigten im strengen Sinn des Wortes handelt, obwohl sie denselben Regeln wie diese gehorchen. Vgl. hierzu Jacqueline HAMESSE, «Collatio» et «reportatio». Deux vocables spécifiques de la vie intellectuelle au moyen âge, in: Olga Weijers (Hrsg.), Actes du colloque „Terminologie de la vie intellectuelle au moyen âge“, Leyde / La Haye 20–21 septembre 1985 (= Civicima 1), Turnhout 1988, 78–87, besonders 78–82; vgl. auch BOUGEROL, Introduction, 227. So die Endglosse zu Hex. IV, 4 (23) [Ed. Delorme, 275]: … quae de quatuor visionibus notavi, talia sunt, qualia de ore loquentis rapere potui in quaternum. Vgl. etwa die Deutung von Pietro MARANESI, Verbum inspiratum. Chiave ermeneutica dell’Hexaëmeron di San Bonaventura (= Bibliotheca Seraphico-Capuccina 51), Roma 1996. Wobei intellectus hier nicht das spezifische Erkenntnisvermögen der menschlichen Seele meint, sondern die gewonnene „Einsicht“ als Akt dieses Erkennens. Insofern können hier intellectus und intelligentia in etwa gleichgesetzt werden (als verschiedene Stufen werden sie etwa in Itin. I, 6 [V, 297] angesehen). Die verschiedenen Bedeutungen von intellectus behandelte Bonaventura ausdrücklich in Don. VIII [V, 493–498].
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
das Werk gliedern, werden als intellectuales visiones, d. h. als eine von Verständnis/Einsicht durchdrungene Schau gezeichnet.31 Diese Schau erhebt sich stufenweise zu einer immer höher werdenden Perspektive: (1) zur intelligentia per naturam indita, (2) zur intelligentia per fidem sublevata, (3) zur intelligentia per Scripturam erudita, (4) zur intelligentia per contemplationem suspensa, (5) zur intelligentia per prophetiam illustrata, und (6) zur intelligentia per raptum in Deum absorpta, (7) ihre Vollendung erhält sie schließlich in einer letzten Visio: in der Anschauung der Herrlichkeit Gottes. Versucht man das, was Bonaventura unter intellectus versteht, näher zu umreißen, so wird man auf folgende Charakteristika hinweisen: intellectus ist, wie die sapientia, eine Gabe des Heiligen Geistes und insofern ein Gnadengeschenk.32 Die Disposition dafür besteht vor allem im Verlangen danach (desiderium),33 einem Verlangen, das sich freilich in vielen Mühen und Übungen als echt zu erweisen hat.34 Gegenstand der Einsicht ist – wie Bonaventura bereits im Sentenzenkommentar ausgeführt hatte – die ewige Wahrheit selbst,35 jedoch geschieht die Hinwendung zu ihr auf eine ganz bestimmte Art und Weise und mit einer ganz bestimmten Perspektive, es gilt nämlich das Geglaubte durch die Vernunft einzusehen und als „Hilfsmittel“ dazu dient die geistige Schöpfung, insofern sie in ihrer Ähnlichkeit zum Schöpfer angeschaut wird.36 Ihr Akt, ihre Wirkung ist auf Glaube und Liebe hingeordnet, denn er besteht darin, contemplari ipsum verum creditum, ut devotius credatur et ardentius diligatur.37 In einer Stufenordnung geistlicher Erkenntnis wird man den intellectus zwischen der scientia und der sapientia einordnen. Im Unterschied zum donum scientiae schaut der intellectus auf die Geschöpfe nicht secundum rationes creatas, sondern secundum ratio31 32
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Hex., princ., 3 (3), 23 [Ed. Delorme, 44; V, 347]; in den folgenden Abschnitten (24–31) wird der Aufbau des Werkes dargelegt. Ebd. 1 [Ed. Delorme, 33; V, 343], Bonaventura verwies dabei expressis verbis auf die vorangegangenen Collationes de septem donis Spiritus Sancti (Coll. 8: De dono intellectus, Coll. 9: De dono sapientiae [V, 493–503]). Hex., princ., 3 (3), 32 [Ed. Delorme, 47]; dasselbe gilt auch von der sapientia, vgl. ebd. 1 [V, 343]: Sapientia similiter non habetur nisi a sitiente, sowie Hex., princ., 2 (2), 2 [Ed. Delorme, 20; V, 336]; darauf verwies auch die Erwähnung Daniels in Hex., princ., 3 (3), 22f. [Ed. Delorme, 43f.; V, 347], denn Itin., prol., 3 [V, 296] (vgl. auch die folgende Anmerkung) nannte ihn vir desideriorum. Vgl. Hex., princ., 3 (3), 1 [Ed. Delorme, 33]: … multi praecedunt labores et exercitia; vgl. ebd. 32 [Ed. Delorme, 47]: … facit virum desideriorum intelligere visiones, … et in exercitio isto magis et magis anima sibi fit intimior usque dum ultimate per fidem efficitur beata. III Sent. 35, 1, 3, resp. [III, 778b]: … obiectum eius est ipsum Verum aeternum, in quantum intelligibile, non solum secundum proprias conditiones, sed etiam secundum proprietates creaturarum sibi similium. Ebd. [III, 778a]: … secundum est doni intellectus, cuius est credita per rationem intelligere … Quoniam ergo rationes, secundum quas iuvamur ad credita intelligenda, accipiuntur non solum a conditionibus Creatoris, sed etiam a conditionibus creaturae spiritualis, quae inter creaturas habet proximiorem assimilationem ad Creatorem. Vgl. auch ebd., ad 1 [III, 778b]. Ebd., resp. [III, 778b].
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nes aeternas, er richtet sich auf Ewiges, nicht auf Zeitliches.38 Den Blick auf das Ewige haben intellectus und sapientia gemeinsam; der Unterschied besteht darin, in welcher Hinsicht es angeschaut wird: Die sapientia schaut auf das Ewige in den rationes aeternae, insofern diese via ad gustum et experimentalem cognitionem sind,39 sie ist insofern eine Erfahrungserkenntnis. Der intellectus hingegen schaut die rationes aeternae als via ad cognitionem veritatis, er ist eine Erkenntnisform, die auf Schau und Betrachtung (speculatio, contemplatio) angelegt ist.40 Der intellectus ist auf die sapientia hingeordnet (womit nicht seine Eigenständigkeit und sein Eigenwert bestritten werden sollen), insofern er sowohl ihren rechten Gebrauch als auch den mit der sapientia verbundenen „Geschmack“ (gustus) vorbereitet. Letzteres zeigt sich auch darin, dass die Gabe der Einsicht mit einer ganz eigenen Erfahrung der Freude (delectatio) verbunden ist.41 So mag deutlich werden, in welchem Sinn die im Hexaëmeron dargelegten visiones intellectuales zu verstehen sind: Sie gleichen den sieben Schöpfungstagen, denn es sind von Gott her geschenkte Erleuchtungen (illustrationes).42 Die Besonderheit des gewählten Zugangs besteht dabei darin, dass er von der ratio mitgetragen wird. Daher kommt auch der typisch bonaventurianische Zug, die Wissenschaften der Zeit in ihrer ganzen Breite miteinzubeziehen. Diese stellen den Ausgangspunkt dar für einen Weg der Verinnerlichung43 und der Angleichung an Gott.44 Nicht zu Unrecht hat man die Absicht Bonaventuras in den Collationes in Hexaëmeron so verstanden, dass er seine Zuhörer zu einem Ideal der christlichen Weisheit, der sapientia christiana,45 führen wollte, die 38 39
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Vgl. ebd., sc. 1 & ad 1 [III, 777.778]. Ebd., ad 1 [III, 778]; sapientia kommt von sapere (schmecken), man denke dabei auch an die Bestimmung der sapientia im eigentlichsten Wortsinn (magis proprie) als cognitio Dei experimentalis (III Sent. 35, 1, 1, resp. [III, 774a]), die zur klassischen Definition der theologia mystica wurde. III Sent. 35, 1, 3, ad 1–3 [III, 778f.]; aufgrund der verschiedenen Ausrichtung steht die sapientia auch der Liebe näher, während der intellectus eher dem Glauben zugeordnet ist. Hex., princ., 3 (3), 1 [Ed. Delorme, 33; V, 343] bezeichnete das donum intellectus als clavis contemplationum caelestium. III Sent. 35, 1, 3, ad 3 [III, 779]: et haec est doni intellectus, quae quidem viam praebet ad usum doni sapientiae … et ulterius ordinat ad sapientiae gustum. Nihilominus tamen in ipso actu intellectus est quaedam delectatio, sed longe inferior quam in dono sapientiae. – Im Themasatz des Hexaëmeron steckt beides: … implevit eum Dominus spiritu sapientae et intellectus (Sir. 15, 5); vgl. die Entfaltung in der zweiten und dritten Collatio. Man wird visio mit dem „Refrain“ des ersten Schöpfungsberichtes zusammenlesen, der am Ende lautet: viditque Deus cuncta quae fecit, et erant valde bona (Gn. 1, 31). Hex. I, 1 (4), 1 [V, 349; Ed. Delorme, 48] fügte hier die Glosse an: Videre dicitur Deus, quia videre nos facit. Intellectus bedeutet intus legere; vgl. die Anmerkung 4 der Quaracchi-Editoren zu III Sent. 35, 1, 3, resp. [III, 778]. Vgl. oben Anm. 34, S. 28 und Hex., princ., 3 (3), 30 [Ed. Delorme, 46] über die sechste Stufe des raptus: facit animam Deo simillimam, quantum possibile est in statu viae. Sapientia ist hier in einem weiten Sinn zu verstehen, wo sie nicht mehr von der intelligentia abgesetzt wird, sondern sie einschließt; diese Absicht Bonaventuras – die so (u. a.) auch von BOUGEROL, Introduction, 237 oder STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 188 gesehen wurde – zeigte sich noch einmal im allerletzten Absatz des Hex. IV, 4 (23), 31 [V, 449; Ed.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
sowohl durch ihre Einheit wie auch durch ihre innere Differenziertheit besticht46 und die durch ihr Schöpfen aus den beiden Quellen des Glaubens und der Vernunft das Gegenbild zu einer sich absolut setzenden philosophischen Wissenschaft darstellt.47 Bonaventura bezog damit auch Stellung zu dem seit Ende der 1260’er Jahre ausgetragenen Streit um einen heterodox gewordenen Aristotelismus. Darauf ist im Folgenden noch etwas näher einzugehen, doch zuvor muss noch auf einen anderen für das Verständnis des Hexaëmeron wesentlichen Aspekt hingewiesen werden: die Christologie. In Christo sunt omnes thesauri sapientiae et scientiae Dei absconditi, et ipse est medium omnium scientiarum,48 das ist der Leitsatz des ganzen Hexaëmeron, den die einleitende erste Collatio entfaltet. Für Bonaventura war Christus die Antwort auf die Frage, worin das einheitsstiftende Moment der sapientia christiana besteht,49 denn er selbst ist ja die Weisheit Gottes (vgl. 1 Kor 1, 24). Von hier eröffnet sich noch einmal ein tieferes Verständnis von intellectus, nämlich als ein geschenktes Licht (oder als Erleuchtung), das der Schlüssel zur Schau (contemplatio) ist.50 Dieser Schlüssel ist durch Jesus Christus in dreifacher Weise gegeben, insofern er das Verbum increatum ist durch sein Sein im Schoß des Vaters, das Verbum incarnatum durch seine Geburt aus der Jungfrau und das Verbum inspiratum durch seine Gegenwart im Herzen des gläubigen Menschen.51 Der intellectus Verbi increati, per quod omnia producuntur führt dabei
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Delorme, 273], wo auf die sapientia contemplativa als die goldene Rückenlehne des Tragsessels von König Salomo (Hld 3, 9f.) verwiesen wurde. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 185 sah gerade in dem Moment der inneren Differenziertheit den entscheidenden Fortschritt gegenüber Augustinus; es ist zu verstehen als eine Antwort auf die (gerade durch die Aristotelesrezeption initiierte) Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 13. Jahrhundert. Zu diesem Urteil vgl. etwa: STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 189; BOUGEROL, Introduction, 236 & 239. Hex., princ., 1 (1), 11 [V, 331], vgl. auch ebd. 10 [V, 330]: Christus …, tenens medium in omnibus. Schon in Don. IX, 17 [V, 503] (über die Gabe der Weisheit) hatte Bonaventura Christus als die Hauptsäule (columna principalissima) der Weisheit gezeichnet – und zwar unter dem Aspekt der simplicitas in intentione –, er ist die Quelle der Weisheit, ihr Haus hat in ihm das Fundament und die Vollendung. Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass Bonaventura die erste Collatio des Hexaëmeron der Betrachtung Christi widmete. Vgl. auch Zachary HAYES, The Hidden Center. Spirituality and Speculative Christology in St. Bonaventure, New York u. a. 1981, 196–198. Vgl. Hex., princ., 3 (3), 2 [V, 343]: Clavis ergo contemplationis est intellectus triplex, scilicet intellectus Verbi increati, per quod omnia producuntur; intellectus Verbi incarnati, per quod omnia reparantur; intellectus Verbi inspirati, per quod omnia revelantur. Nisi enim quis possit considerare de rebus, qualiter originantur, qualiter in finem reducuntur, et qualiter in eis refulget Deus; intelligentiam habere non potest. Was die Lichthaftigkeit dieses intellectus angeht, so sprach dieselbe Collatio (ebd. 32 [V, 348]) vom Lichtstrahl, der jedes Haus erleuchtet, und in Don. VIII, 6 [V, 495] war die Rede von der multiformis radiositas intelligentiae: … scilicet quod intellectus est regula circumspectionum moralium, ianua considerationum scientialium et clavis contemplationum caelestium. Vgl. Hex., princ., 3 (3), 32 [V, 348]: illud Verbum, quod est in sinu Patris increatum, incarnatum in utero Virginis, inspiratum in corde tuo per fidem.
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zum Verständnis der Dinge,52 der intellectus Verbi incarnati, per quod omnia reparantur eröffnet das Verständnis der Heiligen Schrift, und der intellectus Verbi inspirati, per quod omnia revelantur schließlich gibt Einsicht in alle Arten der visio intellectualis, die das eigentliche Thema des Hexaëmeron sind. Der intellectus Verbi wird damit zur Grundvoraussetzung, zur Bedingung der Möglichkeit für die Einsicht in die Natur der Dinge, in die Heilige Schrift, in die visiones.53 Diese Schlüsselfunktion ist aber umgekehrt auch der Grund, warum in allen Wissenschaften (stellvertretend für die Gesamtheit der Wissenschaften betrachtete er sieben Einzeldisziplinen) Christus als die verborgene Mitte erkannt werden kann. Von jeder Wissenschaft aus führt so ein direkter Weg zur Betrachtung eines Geheimnisses des Lebens (bzw. der Person) Jesu Christi (vgl. Tabelle 1).54 Tabelle 1: Christus tenens medium in omnibus55 Wissenschaft Christus ist …
Hinsicht
Lebensstation Christi
Metaphysicus
medium essentiae
aeternali origine primarium
Physicus Mathematicus Logicus Ethicus Iurista Theologus
medium naturae medium distantiae medium doctrinae medium modestiae medium iustitiae medium concordiae
virtuali diffusione pervalidum centrali positione profundum rationali manifestatione praeclarum morali electione praecipuum iudiciali compensatione perpulcrum universali conciliatione pacatum
in aeterna personarum emanatione in incarnatione in passione in resurrectione in ascensione in futuro examine in aeterna beatitudine
Zu der christologischen Perspektive des Hexaëmeron gehört wesentlich auch die heilsökonomische Sicht:56 Christus ist die Mitte von allem, weil er das von Gott auserwählte „Mittel“ und Mittler der Erlösung ist, oder, wie es Bonaventura mit den Worten des Pseudo-Dionysius Areopagita ausdrückte: Lex Divinitatis est infima per media ad suprema reducere.57 52 53 54
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Man könnte auch sagen, es geht um die Erkenntnis der Schöpfung als Schöpfung. Biblische Belegstelle ist Röm 1, 20, die berühmte Stelle über die natürliche Gotteserkenntnis. Vgl. z. B. auch Hex., princ., 3 (3), 9 [V, 345]: … sic ab illo Verbo est varietas rerum. Unde non contingit intelligere, nisi per Verbum. Vgl. Hex., princ., 1 (1), 11 [V, 331; Ed. Delorme, 5], in den folgenden Abschnitten 12–39 wird dies dann näher erläutert. A fortiori gilt dasselbe von der Heiligen Schrift wie Hex., princ., 3 (3), 21 [Ed. Delorme, 43] ausführte: omnia ergo sacrae Scripturae miracula, dogmata, charismata, bella, dona, iudicia reducuntur ad ipsum. Nach Hex., princ., 1 (1), 11 & 12–39 [Ed. Delorme, 5–18; V, 331–335]; bei der Zuordnung der Wissenschaften gibt es in der Reportatio A (Delorme) bei dem 4. bis 7. medium Diskrepanzen: nr. 11 hat hier die Reihenfolge Ethicus, Politicus, Theologus, Logicus; die (zu bevorzugende) Durchführung in nr. 12ff. hat Logicus, Ethicus, Iurista, Theologus (wie oben angegeben und wie durchgehend in Reportatio B, die in nr. 11 Politicus und Iurista gleichsetzt). Vgl. Wilhelm NYSSEN, Einleitung, in: Bonaventura, Das Sechstagewerk, München 1964, 15–61, hier 15f. Hex., princ., 3 (3), 32 [V, 348].
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Reductio ist hier das Schlüsselwort, mit dem er das Heilsgeschehen beschrieb. Es war der ursprüngliche Sinn der sinnenfälligen Schöpfung den Schöpfer widerzuspiegeln und dadurch dem Menschen als Leiter zu dienen, um zu Gott aufzusteigen, d. h. ihn als Gott zu loben, zu verehren und zu lieben.58 Durch den Sündenfall verlor der Mensch die Fähigkeit in der Schöpfung Gott zu erkennen – das liber creaturae wurde unlesbar und es bedurfte eines anderen Buches, um dem Menschen und mit ihm der ganzen Schöpfung den Sinn zurückzugeben. Dieses Buch ist die Heilige Schrift59 oder auch Christus selbst, auf den hin die Schrift angelegt ist (s. o.) und der, indem in ihm die menschliche Natur mit der göttlichen vereint ist, den Menschen zu Gott zurückführt.60 Ein Bild aus der ersten Collatio verdichtet diesen Gedanken unter kreuzestheologischem Aspekt: Der Kreis der Welt hat seine Mitte verloren, er kreist gewissermaßen nur noch in sich und um sich selbst; um ihm aber seine Mitte wiederzugeben bedarf es des Kreuzes Christi.61 Das Kreuz wird so zum lignum vitae, weil es den Menschen zur Quelle des Lebens zurückführt.62 Die Weisheit, zu der das Hexaëmeron hinführen möchte,63 erweist sich so im Letzten als die Weisheit des Kreuzes (vgl. 1 Kor 2).
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Hex. III, 1 (13), 12 [V, 390]: Homo stans habebat cognitionem rerum creatarum et per illarum repraesentationem ferebatur in Deum ad ipsum laudandum, venerandum, amandum; et ad hoc sunt creaturae et sic reducuntur in Deum. – Unter dem Aspekt der Leiter wird dasselbe in Itin. I, 2 [V, 297] beschrieben; Brev. II, 11 [V, 229a] hieß es: primum principium fecit mundum istum sensibilem ad declarandum seipsum, videlicet ad hoc, quod per illum tanquam per speculum et vestigium reduceretur homo in Deum artificem amandum et laudandum. Die sinnenfällige Schöpfung wird dadurch selbst in einer Art „geistigem Kreis“ (circulus intelligibilis) zu ihrem Ursprung zurückgeführt, vgl. Brev. II, 4 [V, 221b], Hex., princ., 1 (1), 37 [V, 335; Ed. Delorme, 18]. Zum Aspekt der reductio insgesamt vgl. z. B. THAUT, Zeit, Geschichte, Ewigkeit, 13–17, zur reductio der Geschöpfe als Aufgabe der Seele, vgl. Konrad FISCHER, De Deo trino et uno. Das Verhältnis von productio und reductio in seiner Bedeutung für die Gotteslehre Bonaventuras (= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 38), Göttingen 1978, 331–335. So Hex. III, 1 (13), 12 [V, 390]. Vgl. Itin. II, 7 [V, 301b]: … ut per illam unionem nos reduceret ad Patrem sicut ad fontale principium et obiectum. Durch die hypostatische Union ist er selbst das liber scriptus intus et foris (vgl. Apc. 5, 1; Ez. 2, 9 [10]), vgl. auch Itin. VI, 7 [V, 312]; Brev. II, 11 [V, 229]; vgl. ferner Hex., princ., 1 (1), 38 [Ed. Delorme, 18]: Agnus ergo medius et mediator reducet nos in locum pascuae, scilicet ad visionem humanitatis et divinitatis … So bündig in Hex., princ., 1 (1), 24 [V, 333]: Medium enim, cum amissum est in circulo, inveniri non potest nisi per duas lineas se orthogonaliter intersecantes. Die Reportatio A [Ed. Delorme, 11] beschrieb an dieser Stelle genau das geometrische Verfahren, um durch ein Kreuz die verlorene Mitte des Kreises wiederzufinden (nämlich indem auf einer beliebigen Sekante die Mittelsenkrechte errichtet wird, der Mittelpunkt der so gewonnenen zweiten Sekante ist dann der gesuchte Kreismittelpunkt). Vgl. Hex., princ., 1 (1), 17 [V, 332]: et secundum hoc est lignum vitae, quia per hoc medium redimus et vivificamur in ipso fonte vitae. Hex. IV, 4 (23), 31 [V, 449], am Ende der letzten vollendeten Collatio, heißt es ausdrücklich: Ad hoc lignum vitae volui vos adducere.
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Nach dieser kurzen Charakterisierung des Hexaëmeron ist zu fragen, welche Passagen für die vorliegende Thematik von Interesse sind. Der wichtigste zusammenhängende Teil sind dabei sicherlich die Collationes von Hex. III, 2–4 (14–16). Hier vor allem entfaltete Bonaventura seine Geschichtstheologie, indem er verschiedene Modelle zur Gliederung der (Heils-)Geschichte in einzelne Zeiten (tempora, aetates) vorlegte. Hermeneutik der Geschichte und Hermeneutik der Schrift greifen hier ineinander und bedingen sich gegenseitig,64 wie auch die Visio 3 insgesamt unter der Überschrift der intelligentiae per Scripturam eruditae steht. Hintergrund sind die konkurrierenden Deutungsmodelle joachitischer Prägung, denen Bonaventura seine eigenen Entwurf entgegenstellte. In der Visio 4 (intelligentiae per contemplationem suspensae), Coll. 3 & 4 (22f.) kam er auf diese Thematik noch einmal unter einem anderen Blickwinkel zurück, nämlich wie der ordo contemplantium in seiner höchsten Stufe, dem ordo seraphicus, aussehen wird65 und wie am Ende der Zeiten die ecclesia contemplativa „gezeugt“ wird.66 Der zweite für uns interessante Themenkomplex ist die Auseinandersetzung mit den Irrtümern des Aristotelismus. Auf die Frage nach der Ewigkeit der Welt kam Bonaventura dabei innerhalb des Principium und der ersten Visio an mehreren Stellen zu sprechen,67 den Grundirrtum des Aristotelismus (auf den sich die oben, S. 18, genannten drei anderen Irrtümer zurückführen lassen) sieht er dabei in der Leugnung der rationes aeternae oder (gleichbedeutend) des Exemplarismus.68 Die Argumentation der Coll. I, 3 (6), die sich eingehend damit auseinandersetzt, ist dabei fast ausschließlich philosophisch, der theologische Aspekt, dass es Christus als das verbum increatum ist, durch das alle Dinge vorgebildet sind (exemplantur), wird an dieser Stelle bewusst ausgeblendet.69 Beide Zugänge werfen die Frage auf, wie das Verhältnis zwischen Zeit und Ewigkeit präzise zu fassen ist. Über die beiden genannten Hauptstränge (der Auseinandersetzung mit der joachitisch geprägten Geschichtstheologie und den philosophischen Irrtümern des Aristotelismus) hinaus könnte noch auf eine Fülle von Einzelaussagen zu den im ersten Kapitel aufgeworfenen Fragen hingewiesen werden. Es würde zu weit führen, sie alle hier bereits aufzuführen (z. B. die Betrachtung Gottes als esse primum, die auch seine aeternitas einschließt),70 man müsste ja dann gerechterweise auch alle entsprechenden Stellen aus den hier noch nicht genannten Werken aufführen.71 Dieser erste Überblick mag also 64
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Vgl. Hex. III, 3 (15), 20 [Ed. Delorme, 175; vgl. V, 401] heißt es z. B. über die Dreiteilung der Zeiten (tempus naturae, tempus legis, tempus gratiae): Qui haec seminaria temporum ignorat, ad expositionem sacrae Scripturae non est idoneus. Hex. IV, 3 (22), 20–23 [V, 440f.]. Hex. IV, 4 (23), 4 [V, 445]. Hex., princ., 1 (1), 15f.; princ., 3 (3), 6; I, 1 (4), 13.16; I, 2 (5), 21.28f.; I, 3 (6), 4; I, 4 (7), 2–6 [V, 332.344.351f.357.358f.361.365f.]. Hex. I, 3 (6), 2–5 [V, 360f.]. Ausführlich dagegen in Hex., princ., 3 (3), 3–9 [V, 343–345]. Hex. II, 3 (10), 11–18 [V, 378f.]. Im genannten Beispiel wäre das z. B. Itin. V, 5–8 [V, 309f.].
Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
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genügen, man sollte nur im Hinterkopf behalten, dass es zutreffend ist, mit Wilhelm Nyssen das Hexaëmeron als eine „Summe des Mittelalters … nur in einem anderen, ungewohnten Sinne“72 zu bezeichnen: Es ist ein Gesamtbild der sapientia christiana, das Bonaventura hier unter dem Aspekt der Schau (visio) vorstellte.
2.2
Kontexte
Im vorigen Abschnitt wurde die Textbasis für die vorliegende Untersuchung vorgestellt. Um den Ort des bonaventurianischen Denkens zu Zeit und Ewigkeit zu erfassen, ist es in einem zweiten Schritt notwendig, den umgebenden „Raum“ für die Deutung der vorgestellten Texte besser kennenzulernen. In diesem Abschnitt soll es dabei nur um die grundlegenden Aspekte gehen, die die Thematik insgesamt betreffen; auf einige speziellere Gesichtspunkte wird dann an den entsprechenden Stellen selbst noch einzugehen sein. Was macht diesen umgebenden Raum, den Kontext aus? Man kann sagen, er weitet sich in konzentrischen Kreisen. Den inneren Kreis bildet dabei das Denken Bonaventuras selbst, indem es sich durch bestimmte Grundentscheidungen und -positionen festlegt und so einen bestimmten Weg durch die Thematik vorgibt. Um diesen inneren Kreis herum legt sich ein weiterer, den man den zeitgeschichtlichen Rahmen nennen kann. Er gibt Fragestellungen und Perspektiven vor und bildet so einen weiteren Deutungsrahmen. Fasst man diesen Rahmen noch einmal weiter, so gehören alle Traditionen, alle vorausliegenden Denkmodelle, die auf Bonaventura einwirken und die er aufnimmt, hierher. Diesem dritten Kreis ist ein eigenes Kapitel gewidmet, im Folgenden soll es zunächst um die beiden inneren Kreise gehen. Vor allem zwei Themenbereiche schienen mir dabei interessant und wichtig. Der erste ist die Kosmologie Bonaventuras, die die Frage nach Zeit und Ewigkeit in gewisser Weise „ortet“, indem sie den Raum und die Körper beschreibt, mit denen sich das Phänomen Zeit verbindet. Der zweite Themenbereich ist die Aristotelesrezeption, die das geistige Klima des 13. Jahrhunderts insgesamt geprägt hat und aus der heraus sich viele der Positionen Bonaventuras erklären lassen.
2.2.1
Kosmologie
Bereits der in Platons Timaios 11 [38b] zu findende Gedanke, die Zeit sei mit dem Himmel entstanden, weist darauf hin, wie sehr die Erklärung des Phänomens Zeit mit der Erklärung der Welt als ganzer zusammenhängt und insofern einen integralen Bestandteil des Weltbildes ausmacht. Und auch wenn es in der vorliegenden Untersuchung nicht um einen naturwissenschaftlichen Zugang zur Zeitthematik geht, so ist es doch hilfreich 72
NYSSEN, Einleitung, 15.
Texte und Kontexte
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zu wissen, welche Vorstellung sich Bonaventura vom Aufbau der Welt machte, um so mehr, als eine solche Trennung von Theologie und Naturwissenschaft dem Denken des Mittelalters im Allgemeinen und Bonaventura im Besonderen fremd war. Hinzu kommt, dass gerade im 13. Jahrhundert noch recht verschiedene Auffassungen von der Zahl der Sphären und Himmel, sowie ihrer Ordnungs- und Bewegungsprinzipien verbreitet waren.73 Die zu dieser Zeit vertretene Kosmologie basierte dabei zum einen wesentlich auf aristotelischem Gedankengut, wobei neu zugänglich gewordenen Schriften – für diese Thematik sind namentlich die Physik, De caelo et mundo, De generatione et corruptione und die Meteorologica zu nennen – wesentliche Impulse beisteuerten. Insofern ließe sich dieser Abschnitt auch unter dem Kapitel „Aristotelesrezeption“ einordnen. Zum anderen aber ist gerade hier die eigene Prägung des mittelalterlichen Denkens zu betonen. Sie bestand vor allem darin, die Heilige Schrift und insbesondere die ersten Kapitel der Genesis als zusätzliche Quelle in diesen Fragen heranzuziehen.74 Taten sich die Kirchenväter mit dem antiken Weltbild und seinen Widersprüchen zu christlichen Glaubensvorstellungen noch schwer, so vermittelten vor allem Isidor von Sevilla, Beda Venerabilis und Hrabanus Maurus dessen Grundeinsichten – etwa die Kugelgestalt der Erde oder die Reihenfolge der Planeten – an das angehende Mittelalter.75 Springt man von da aus unmittelbar ins 12. Jahrhundert, so sind vor allem die Arbeiten der Schule von Chartres – Thierry von Chartres, Wilhelm von Conches, Bernardus Silvestris, Clarenbaldus von Arras – zu erwähnen; man bemühte sich hier den Kosmos secundum physicam et litteram, d. h. mit Hilfe natürlicher Prinzipien und der Heiligen Schrift, zu erklären. Zusammen mit den ab Mitte des 12. Jahrhunderts entstehenden lateinischen Übersetzungen der genannten aristotelischen Schriften76 verbreitete sich auch das darin vorgestellte Weltbild. Die Erde war darin der unbewegliche Mittelpunkt einer räumlich endlichen, aber ewigen Welt, um sie herum lagerten sich im sublunaren Bereich zunächst die Sphären der drei anderen Elemente (Wasser, Luft, Feu73
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Für das Folgende vgl. Léon ELDERS, Kosmologie, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München 1991, 1459–1461 sowie Erwin NEUENSCHWANDER, Weltbild. I. Astronomisch-kosmologisch, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, 2159–2162. Die Genesis-Kommentare stellen entsprechend eine wichtige Quelle für die Kenntnis der mittelalterlichen Kosmologie dar, für das 13. Jahrhundert kommen an den Universitäten besonders die Kommentierungen der aristotelischen Schriften (vor allem De caelo) und des Tractatus de sphaera des Johannes von Sacrobosco hinzu. Deren Quellen waren vor allem Plinius’ Historia naturalis, der Kommentar des Chalcidius zu Platons Timaios, Macrobius’ Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis und Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii. Siehe hierzu auch den folgenden Abschnitt ab S. 67, hinzu kommt der Einfluss arabischer und jüdischer Gelehrter wie al-Farġānī (Alfraganus), al-Chwarizmi, al-Kindī (Alkindus), al-Fārābī (Alfarabius), Ibn al-Haiṭam (Alhazen), Ibn Sīnā (Avicenna), Isaak Israeli, Maimonides und anderer. Vgl. hierzu auch Edward GRANT, Planets, Stars and Orbs. The Medieval Cosmos, 1200–1687, Cambridge u. a. 1994, 12–17.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
er). Jenseits dessen beginnt mit der Sphäre des Mondes der supralunare Bereich, er erstreckt sich in den konzentrisch angeordneten Sphären der Planeten und der Sonne bis zur Fixsternsphäre.77 Die Bewegung des Ganzen wird schließlich auf einen ersten unbewegten Beweger zurückgeführt, der aber nicht wie eine physische Ursache wirkt, sondern „wie ein Geliebtes“ (ὡς ἐρώµενον)78. Korrigiert und ergänzt wurde dieses System vor allem durch den Almagest und einige kleinere astronomische Schriften des Claudius Ptolemäus, wobei die wichtigste Änderung darin bestand, die Konzentrizität der Sphären aufzugeben und exzentrische Kreisbewegungen sowie Epizyklen zur Erklärung der Gestirnsbewegungen zu verwenden.79 Dieses Modell – das auch in Averroes Kommentar zu De caelo behandelt wurde80 – wurde zunächst nur zögerlich angenommen, denn es fiel schwer, darin die angenommene Vollkommenheit des Weltalls wiederzuerkennen.81 Nachdem es sich aber einmal durchgesetzt hatte, blieb das aristotelisch-ptolemäische Weltbild bis zur kopernikanischen Wende im 16. Jahrhundert gültig.
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79 80
81
So die Darstellung in Metaphysica XII (Λ), 8 [1073a 14 – 1074b 14]. Um die beobachteten Bewegungen der Planeten am Himmel zu erklären, nahm Aristoteles dabei insgesamt 55 Sphären an. Metaphysica XII (Λ), 7 [1072b 3]; vgl. BONAVENTURA, II Sent. 14, 1, 3, 1, ad 1 [II, 346]: … Philosophus non intellexit, quod primi orbis motor per modum efficientis esset Deus … Sed ponit, quod Deus moveat primum causatum metaphorice, sicut finis et desideratum. Vgl. GRANT, Planets, Stars and Orbs, 277–279. Vgl. In De Caelo II, comm. 35, in: Averrois Cordubensis commentum magnum super libro De celo et mundo Aristotelis, ex recogn. Francis James Carmody ed. Rüdiger Arnzen (= Recherches de Théologie et Philosophie médiévales. Bibliotheca 4.1.1–2), 2 Bde., Leuven 2003, hier Bd. 2, 330–334. Positive Aufnahme fand es etwa in dem wohl vor 1220 entstandenen, weit verbreiteten und oft kommentierten Tractatus de sphaera des Johannes von Sacrobosco (c. 4, in: Lynn Thorndyke, The Sphere of Sacrobosco and its Commentators, Chicago 1949, 76–117, hier 113–115; zur Datierung siehe ebd., 14); es findet sich auch in Roger Bacons naturphilosophischen Schriften und bei Albertus Magnus. Bonaventura dagegen favorisierte das aristotelische Modell der konzentrischen Sphären (Vgl. II Sent. 14, 2, 1, 2, resp. [II, 353f.]), obwohl ihm bewusst war, dass das mit Exzentern und Epizyklen arbeitende ptolemäische Modell die genaueren Ergebnisse lieferte (ebd. [II, 354]: licet positio mathematicorum secundum iudicium sensuum videatur esse verior …).
Texte und Kontexte
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Abbildung 1: Himmelssphären in Peter Apians Cosmographia (1539)82
2.2.1.1
Die ersten sieben Sphären und das Firmament
Wie alle Theologen der Zeit legte auch Bonaventura sein Bild des Kosmos innerhalb der Schöpfungslehre dar.83 Von Aristoteles übernahm er dabei die grundlegende Zweiteilung der Welt in den himmlischen und den irdischen Bereich (in die natura elementaris und die natura caelestis).84 Der irdische Bereich wird aufgebaut aus den vier Elementen als den einfachen Körpern. Er ist geprägt durch Gegensätzlichkeit – wie sie in den vier Elementarqualitäten heiß/kalt und feucht/trocken zum Ausdruck kommt –, aber auch durch die Mannigfaltigkeit aller Arten von Körpern (Steine, Pflanzen, Tiere, menschlicher Körper), die durch die verschiedene Mischung der Elemente zustande kommen. Die stete Umwandlung der Elemente ineinander sowie die Aufnahme bzw. der Verlust der substantialen Formen machten dabei den irdischen Bereich zu einem Bereich des Werdens und Vergehens.85 82
83 84 85
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Ptolemaicsystem-small.png (1.5.2007) aus PETER APIAN, Cosmographia, Antwerpen 1539. Man beachte, dass diese Darstellung nicht genau die Vorstellung Bonaventuras wiedergibt; dieser ging z. B. nur von neun beweglichen Sphären aus. Hauptquellen sind II Sent. 12–14 [II, 290–370] und Brev. II, 1–5 [V, 219–224]. Vgl. Brev. II, 3 [V, 220]. Vgl. etwa II Sent. 17, 2, 2, resp. [II, 422f.]. In der Frage, ob eine himmlische Elementarsubstanz an der Bildung des Körpers Adams beteiligt war, referierte er die (insgesamt abgelehnte) Position, die die Beteiligung einer solchen „feuerhaften“ Natur annimmt [II, 422b]: Haec autem natura ignis, etsi, prout aliis permiscetur, habeat agere et pati, et corrumpi et generari, et hoc, prout est hic inferius; prout tamen est in sphaera sua, tranquillitatem et quietem habet nec suscipit corruptiones nec peregrinas impressiones. – Wie also mit dem himmlischen Bereich und dem quintum corpus
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Im himmlischen Bereich dagegen gelten andere Gesetzmäßigkeiten. Unter „Himmel“ (caelum) wollte Bonaventura dabei eine durchsichtige, umgreifende und der Gegensätzlichkeit (der Elementarqualitäten) enthobene Natur verstehen.86 An anderer Stelle hob er außerdem die Lichthaftigkeit des Himmels im Gegensatz zur Undurchsichtigkeit der Erde heraus.87 Die Struktur des Himmels beschrieb der Doctor seraphicus folgendermaßen: In formaler Hinsicht lassen sich zunächst drei Bereiche unterscheiden, die ebenfalls im eigentlichen Sinn Himmel hießen: nämlich das firmamentum, das caelum crystallinum/aqueum und das caelum empyreum. Innerhalb des untersten Himmels, des firmamentum, befinden sich die sieben Sphären von Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn sowie die Fixsternsphäre (caelum stellatum).88 Insgesamt kommt Bonaventura damit auf zehn Sphären (sphaeras sive orbes).89 Man beachte dabei, dass sich die ersten acht Sphären tatsächlich innerhalb des Firmaments befinden, denn er stellte sich dieses als einen einzigen, kontinuierlichen Körper vor. Die unterschiedliche Bewegung der Planetensphären wird dabei durch die Feinstofflichkeit (subtilitas) des Himmelskörpers ermöglicht, die ihm eine Konsistenz wie von Wasser oder Luft verleiht.90
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die Unvergänglichkeit (incorruptibilitas) verbunden wird, so wird mit den vier Elementen des irdischen Bereichs die Vergänglichkeit assoziiert (vgl. II Sent. 14, 2, dub. 3, resp. [II, 367b]: mixta ex quatuor elementis sunt corruptibilia). Einstens, bei der Erneuerung der Welt, wird den Elementen genau diese Disposition genommen werden, vgl. IV Sent. 48, 2, 3, resp. [IV, 993b]: Manebunt ergo qualitates omnium elementorum quantum ad substantiam, sed quantum ad rationem corruptionis innovabuntur. II Sent. 14, 2, 1, 3, resp. [II, 355]: Caelum … de sua vero propria acceptione nominat naturam perspicuam, contentivam, supra contrarietatem elevatam. – In einem weiteren Sinn kann man auch einen Teil des sublunaren Bereichs (nämlich alles oberhalb der Wassersphäre; vgl. ebd. [356a]) als „Himmel“ bezeichnen. Auch die einzelnen Planetensphären, die insgesamt einen Teil des firmamentum bilden (siehe das Folgende), konnten als „Himmel“ (caelum planetarum) bezeichnet werden; vgl. II Sent. 14, 2, 1, 1, ad 3 [II, 352]. Um den Himmel unter- und oberhalb der Mondsphäre zu unterscheiden, gebrauchte Bonaventura für letzteren auch das Adjektiv supercaelestis (Brev. II, 3 [V, 221]; IV Sent. 48, 2, 2 passim [IV, 991f.]). Brev. II, 5 [V, 223a] zu Gn. 1, 1 (creavit Deus caelum et terram): Ubi nomine caeli insinuatur natura luminosa; nomine terrae, opaca. II Sent. 14, 2, 1, 3, resp. [II, 356b] sowie Brev. II, 3 [V, 220]. Dieselbe Einteilung bot auch ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 14, 4, sol. [Ed. Paris. 27, 263]. Bonaventura unterschied für den himmlischen Bereich nicht zwischen orbis und sphaera. Pierre d’Ailly und Christopher Clavius erklärten später den Unterschied so: Sphaera ist demnach eine Vollkugel, während orbis eine Kugelschale (mit zwei Oberflächen) bezeichnet. Vgl. GRANT, Planets, Stars and Orbs, 115, Anm. 37. Vgl. II Sent. 14, 2, 1, 1, resp. [II, 352]: Haec autem distinctio orbium … non venit ex distinctione formarum … nec venit ex discontinuatione superficiei … sed venit ex diversitate motuum. Diversitas autem motuum non tollit continuitatem in eo quod est subtile et ad motum habile, sicut manifeste apparet in aqua, quando secundum diversas sui partes ad diversas movetur positiones, et similiter in aëre. Vgl. ebd., arg. 2 [II, 351]: corpus caeli a luna usque ad caelum stellatum est uniforme … ergo omnia luminaria sita sunt in eodem corpore. Der Hintergrund ist die Erklärung von Gn. 1, 14 (fiant luminaria in firmamento caeli), wo mit den luminaria ja nicht nur die Sterne, sondern (mindestens) auch Sonne und Mond gemeint sind. – Das bedeutet auch, dass in der Vor-
Texte und Kontexte
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Während sich die ersten acht Sphären lediglich durch ihre Bewegung – also in einem Akzidens – unterscheiden, bestehen zwischen dem firmamentum, dem caelum crystallinum und dem Empyreum formale Differenzen (eine diversitas formarum). Bonaventura erklärte sie anhand eines doppelten Rasters, das einmal auf den Eigenschaften mobilitas und uniformitas, dann auf den Eigenschaften luminositas und perspicuitas aufbaute:91
91
stellung Bonaventuras die corpora caelestia nicht in erster Linie Sonne, Mond, Planeten und Sterne sind, sondern dass damit die drei Prinzipalsphären gemeint sind; das andere sind die „Lichter“ (luminaria), die durch eine Verdichtung (aggregatio) der Himmelsmaterie an dieser Stelle zustande kommen; vgl. II Sent. 14, 2, dub. 3 [II, 366–369, bes. 368], wo auch erklärt wird, dass die besondere Eigenschaft der Himmelsmaterie darin besteht, das Licht (die Lichtform) aufnehmen zu können, das tatsächliche Leuchten hängt dann davon ab, wie viel von dem erstgeschaffenen Licht ihnen von Gott „zugeteilt“ wurde (… luminaria in quantum constituuntur ex orbibus suis, per aggregationem plus habent idoneitatem ad suscipiendum quam ad diffundendum, quod vero lucent, hoc habent ex lucis primo creatae perfectione. Et ideo illud luminare, cui Deus multum dedit de illa luce, maxime lucet, sicut sol … [II, 368a]). Das erklärt schließlich, warum der Mond nicht selbst leuchtet, sondern ex susceptione solaris influentiae. – Eine ausführliche Diskussion der Frage, ob die unteren Sphären alle einen einzigen kontinuierlichen Körper bilden, findet sich in dem vielleicht um 1230 entstandenen, Michael Scotus zugeschriebenen Kommentar zu Sacroboscos Tractatus de sphaera, lect. 4, in: Lynn Thorndyke, The Sphere of Sacrobosco and its Commentators, Chicago 1949, 248–342, hier 279.281–284; zu Datierung und Autorschaft vgl. ebd., 21–23. Eine ähnliche Auffassung über die Ausdehnung des Firmaments findet man auch bei Robert Grosseteste in seinem um 1240 entstandenen Hexaëmeron III, 6, 1 [ABMA 6, 106]: firmamentum, quod videlicet est extentum in spissitudinem ab infima evagacione lune usque supra stellas fixas ubi collatae sunt superiores aquae. Wilhelm von Auvergne dagegen argumentierte sehr deutlich gegen die Vorstellung eines aus den verschiedenen Sphären gebildeten corpus continuum; vgl. die zwischen 1231 und 1236 entstandene Enzyklopädie De universo I, 1, 44, in: Guilielmi Alverni Opera omnia, Bd. 1, Frankfurt am Main 1963 (Nachdruck d. Ausg. Paris 1674), 593–1074, hier 652b F. Thomas von Aquin unterschied mit Albertus Magnus (vgl. II Sent. 14, 4, sol. [Ed. Paris. 27, 263b]) zwar auch die drei Himmel (empyreum, chrystallinum, sidereum; vgl. II Sent. 14, 1, 4, resp., in: Scriptum super libros Sententiarum magistri Petri Lombardi episcopi Parisiensis, Ed. nova cura Pierre Mandonnet, 4 Bde., Paris 1929–1956, hier Bd. 2, 355f.; S. th. I, 68, 4, resp. [Ed. Leonina V, 172f.]) und unterteilte den untersten (caelum sidereum) in acht Sphären, er scheint diesen aber nicht als einen einzigen Körper angesehen zu haben; dabei identifizierte er wahrscheinlich das am zweiten Tag geschaffene firmamentum mit der achten Sphäre, vgl. GRANT, Planets, Stars and Orbs, 99. Vgl. II Sent. 14, 2, 1, 3, sc. 3 & resp. [II, 355.356b]; ähnlich in Brev. II, 3 [V, 221]; für das Empyreum auch II Sent. 2, 2, 1, 1, resp. [II, 72]. Die Unterscheidung in d. 14 ist dabei ziemlich direkt übernommen aus der Summa Halensis II, 3, 2, 2, 1, 1, 1, 5 (270), sol., in: Summa theologica seu sic ab origine dicta «Summa fratris Alexandri», hrsg. v. Bernhardin Klumper, 4 Bde. in 5 Teilbden., Quaracchi 1924–1948, hier Bd. 2, 331; Thomas übernahm sie ebenfalls in II Sent. 14, 1, 4, resp. [Ed. cit. II, 355]; sie dürfte weiter zurückgehen auf den Michael Scotus zugeschriebenen Kommentar zu Sacroboscos Tractatus de sphaera, lect. 4 [Ed. cit., 283]; Albert der Große wies den Sphären zwar dieselben Eigenschaften zu (vgl. II Sent. 2, 3f. [Ed. Paris. 27, 50–54]), er baute seine Unterscheidung der drei Himmel aber anders auf (vgl. II Sent. 14, 4 [Ed. Paris. 27, 263])
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Tabelle 2: Unterschiede der caeli principales firmamentum caelum crystallinum caelum empyreum
mobile et multiforme mobile et uniforme immobile et uniforme
perspicuitas simul et luminositas perfecta perspicuitas perfecta luminositas
Neben diesen Unterschieden, auf die im Einzelnen noch näher einzugehen ist, bestanden auch eine Reihe von Übereinstimmungen, die die gemeinsame Bezeichnung „Himmel“ rechtfertigten: So wurden alle drei Himmel von Bonaventura als Körper angesehen,92 die sich aber vor den irdischen Körpern durch ihre Formvollendetheit und Vollkommenheit auszeichnen. Diese Vollkommenheit zeigt sich auf vielerlei Weise: Sie bedeutet zunächst, dass sich in der Himmelsnatur kein Streben nach weiteren Formen findet93 – Bonaventura deutet die Form ja als perfectio –, umgekehrt ist sie deswegen auch unvergänglich (incorruptibilis), denn ebenso ist ihr der Verlust der substantialen Form fremd.94 Alle Himmel haben ferner teil an der Lichtform, die die vollkommenste aller körperlichen Formen ist.95 Die Materie der Himmelskörper ist das quintum corpus (die quinta essentia).96 Sie besitzt keine der Elementarqualitäten (feucht, trocken, heiß, kalt) und ist deswegen der Gegensätzlichkeit enthoben (was als Charakteristikum für den gesamten himmlischen Bereich gelten kann);97 die Himmelsmaterie ist dabei nicht nur selbst incorruptibile und inalterabile, sie vermischt sich auch nicht mit den übrigen 92
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Für das Empyreum vgl. II Sent. 2, 2, 1, 2, resp. [II, 74b]: empyreum sit primum creatum inter corpora, quod est maximum mole et virtute … omnia corpora locat per ambitum et continentiam. Vgl. auch II Sent. 2, 2, 2, 1, resp. [II, 77a], und siehe S. 57 mit Anm. 179. Vgl. II Sent. 17, 2, 2, resp. [II, 422b]: Per proprietatem natura caelestis dicitur esse natura quinti corporis, quae sic perfecta est sua forma, ut nullo modo habeat appetitum ad aliam formationem, sic est activa, quod nullo modo potest pati et corrumpi; et sic est natura orbium et stellarum et firmamenti. Vgl. Brev. II, 3 [V, 221] (tres sint caeli incorruptibiles); II Sent. 14, 2, 1, 2, resp. [II, 354]. Erklärend ist allerdings hinzuzufügen, dass diese incorruptibilitas nur im Bezug auf natürliche Prozesse und nicht auf Gottes Handeln gilt (d. h., die Himmel „altern“ nicht). Insofern hat incorruptibilis eine andere Bedeutung als innerhalb des aristotelischen Weltbildes. In besonderer Weise wird dies auch deutlich in der Frage, ob die kreisförmige Bewegung der Himmel terminabilis ist: secundum intentionem naturae, quae est regulata secundum institutionem divinam, terminabilis est, licet non sit terminabilis ratione termini, qui respicit conditiones mobilis et spatii (IV Sent. 48, 2, 2, ad 4 [IV, 992]). Vgl. auch S. 62, Anm. 200. Das gilt bereits für das firmamentum (vgl. II Sent. 14, 1, 1, 2 resp. [II, 340a]: firmamentum … lucem participat in quadam puritate); zur Vollkommenheit der Lichtform vgl. II Sent. 14, 2, 2, 1, sc. 4 & ad 4 [II, 358f.]. Vgl. II Sent. 14, 1, 1, 2, resp. [II, 339f.] sowie die folgende Anmerkung. Die Frage war dabei vor allem, ob der „unterste“ Himmel, sprich das Firmament, noch aus den vier Elementarnaturen aufgebaut ist. Vgl. die Definition von „Himmel“ oben, dasselbe betonte Bonaventura wiederholt, vgl. z. B. Brev. II, 3 [V, 220f.] (talis est natura elongata a contrarietate); ebd. II, 5 [V, 223a] (supra contrarietatem elevata); II Sent. 14, 1, 1, 2, arg. 6 & resp. [II, 339f.]; II Sent. 17, 2, 2, resp. [II, 422b] (essentiam quintam, supra omnem contrarietatem elevatam).
Texte und Kontexte
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Elementen.98 Die perfectio der Himmel zeigt sich weiter in ihrer äußeren Gestalt, denn die Sphären haben eine vollkommene Kugelgestalt.99 Die Vollkommenheit des Himmels bedeutet auch Aktualität und Aktivität,100 die sich nicht zuletzt in ihrem Einfluss (influentia) auf die irdischen Naturen zeigt. Dieser Einfluss ist bei Bonaventura sehr vielgestaltig und er ist auch je nach Sphäre verschieden.101 Zunächst bedeutete er dass jede bewegte Sphäre (d. h. alle mit Ausnahme des Empyreum) ihre Bewegung auf die jeweils unteren Sphären überträgt,102 ein anderer, leicht nachzuvollziehender Einfluss besteht darin, dass durch die Drehung der Sphären Tage, Monate, Jahre und „Zeiten“ festgelegt und unterschieden werden. Aus heutiger Sicht mag befremdlich erscheinen, dass sie auch auf die Elemente und die irdischen Körper einwirken, d. h. auf Mineralien, Pflanzen, Sinnenwesen und den menschlichen Körper.103 Weil dieser Einfluss von (im übrigen unbeseelten, s. u.) Körpern ausgeübt wird, kann er selbst nur als ein körperlicher verstanden werden.104 Dass dabei auch der oberste Himmel, das Empyreum, einen solchen Einfluss ausübt, bejahte Bonaventura nur sehr vorsichtig,105 während der Einfluss der beiden anderen Himmel für ihn außer Frage stand: Entsprechend der jeweiligen Natur hat dabei der Kristallhimmel einen kühlenden Einfluss, während dem Firmament eine erhitzende Kraft zukommt.106 Dem entspricht weiter, dass der zweite Himmel eine eher bewahrende Kraft ausübt, während 98 99
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Vgl. II Sent. 17, 2, 2, resp. [II, 423a]: … loquuntur de natura caelesti proprie dicta, quae est incorruptibilis et inalterabilis et immiscibilis. Vgl. II Sent. 14, 1, 2, 1 [II, 341f.] (orbicularis) – Die von Bonaventura diskutierte Alternative ist die einer Halbschale (semicircularis). ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 14, 5 [Ed. Paris. 27, 264f.] kam zu demselben Ergebnis; PETRUS VON TARENTAISE (Innozenz Pp. V.), II Sent. 14, 3, qc. 1, resp., in: In librum Sententiarum commentaria, 4 Bde., Richwood, N. J. 1964 (unv. Nachdruck d. Ausg. Tolosa 1649–1652), hier Bd. 2, 116 diskutierte noch weitere Möglichkeiten für die Gestalt des Himmels. Vgl. oben S. 40, Anm. 93. Für eine allgemeine Darstellung der Theorien des Einflusses der Himmelssphären auf die irdischen Naturen vgl. GRANT, Planets, Stars and Orbs, 569–617. Vgl. II Sent. 14, 2, 1, 1, ad 4 [II, 352]: motus influit a superioribus orbibus in inferiores; ferner II Sent. 14, 2, 1, 3, ad 3 [II, 357]. Vgl. Brev. II, 4 [V, 221]: caelestia influunt in terrestria et elementaria quantum ad distinctivam significationem temporum, scilicet dierum, mensium et annorum … [et] quantum ad effectivam productionem rerum generabilium et corruptibilium, scilicet mineralium, vegetabilium, sensibilium et corporum humanorum. Mit bestimmten „Zeiten“ (tempora) können dabei auch Planetenkonstellationen oder -stellungen gemeint sein, wie Bonaventura im Folgenden ausführte. Vgl. II Sent. 2, 2, 1, 2, resp. [II, 74a]: Cum enim sit corpus, necesse est, influentiam suam, si qua est, esse corporalem. Vgl. ebd. [II, 74bf.] – einen Einfluss auf den menschlichen Körper hinsichtlich der Disposition zur „Aufnahme“ der Vernunft (ad susceptionem rationalis) lehnte er strikt ab. Diese letztere Diskussion fand sich auch in der Summa Halensis, II, 3, 2, 2, 1, 1, 1, 1 (266), arg. 2 [Ed. cit. II, 327a] (der kritische Apparat verweist insbesondere auf Avicenna). Gedacht ist hier wohl vor allem an die Sonne (zur Auflösung des Widerspruchs, dass der Mond eher kühlend wirkt, vgl. II Sent. 14, 1, 1, 2, ad 6 [II, 341a]). Weitere Details siehe unten S. 47.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
dem ersten Himmel allgemein ein Veränderung bewirkender Einfluss zukommt,107 und ihm deswegen auch die Bildung der gemischten Körper zugeschrieben wird (indem er die von ihrer Natur her gegensätzlichen Elemente miteinander versöhnt und so zur Vereinigung bringt). Auch den Planeten (oder besser, den Himmelslichtern) gesteht Bonaventura ein gewisses Einwirken auf den irdischen Bereich zu, als Beispiel nennt er den Einfluss des Mondes auf das Feuchte, wie er sich insbesondere in Ebbe und Flut zeigt.108 Zum rechten Verständnis der influentia muss allerdings auch auf ihre Grenzen hingewiesen werden:109 Der genannte Einfluss ist lediglich ein dispositiver, d. h., er bildet für sich genommen keine notwendige oder hinreichende Ursache, er wirkt vielmehr so, dass die natürlichen Kräfte des irdischen Bereichs unterstützt werden.110 Besonders scharf war die Ablehnung des Doctor seraphicus, wenn es darum ging, ob der Charakter der Menschen oder zukünftige Ereignisse von ihnen verursacht werden: Dies widersprach für ihn sowohl dem Glauben wie auch der Erfahrung und der Vernunft.111
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Vgl. II Sent. 14, 2, 1, 3, resp. [II, 356b]: crystallinum [caelum] … quod quidem facit ad conservationem rerum corruptibilium. … caelum sidereum, quod quidem facit ad transmutationem rerum inferiorum. Sowie II Sent. 14, 1, 1, 2, sc. 6 [II, 339]: firmamentum … facit elementa contraria concurrere ad corpora mixta, und II Sent. 17, 2, 2, resp. [II, 423a]: virtus stellarum et orbium influendo facit elementorum conciliationem, quae veniunt ad humani corporis constitutionem secundum rem, dum actio elementorum regimen et directionem habet ab influentia corporum superiorum. – VINCENT VON BEAUVAIS, Speculum naturale III, 99, in: Vincentii Burgundi … Speculum quadruplex, naturale, doctrinale, morale, historiale, opera et studio Theologorum Benedictinorum Collegii Vedastini in Alma Academia Duacensis, Vol. I, Graz 1964 (Nachdruck d. Ausg. Duaci 1624), hier 227f. erklärte genauer, wieso der Kristallhimmel eine erhaltende Kraft auf die vergänglichen Dinge ausübt: Es ist die alles erhaltende Kraft Gottes, die hier einem (notwendig) uniformen Körper mitgeteilt wird. Vgl. II Sent. 14, 2, 2, 2, resp. [II, 360b], besonders: Conditor mundi corpora caelestia incorruptibilia posuit ad regulandum et regendum corruptibilia. Vgl. II Sent. 14, 2, 2, 3 [II, 361–365] sowie ad 1.2 & ad 3 [II, 360f.] der unmittelbar vorausgehenden Quaestio. II Sent. 14, 2, 2, 2, ad 3 [II, 361]: Praeterea, cum ponuntur corpora caelestia imprimere in haec inferiora et diversas qualitates aggenerare; hoc non est intelligendum, quod eis dent ex se, sed quod educunt illud quod est in potentia, in actum. Praeterea non est intelligendum, quod dent per se solum, sed adiuvando virtutem naturae inferioris. – Dies deckt sich etwa mit der Ansicht von ROBERT GROSSETESTE, Hexaëmeron III, 9, 1 [ABMA 6, 109]: firmamentum … magnum prestet iuvamentum generacioni et profectui rerum inferiorum. Habent enim illa celestia corpora lumen iuvativum caloris vitalis. Vgl. auch ebd. I, 17, 1 [ABMA 6, 75f.]. II Sent. 14, 2, 2, 3, resp. [II, 363a]: immo est haereticum et diabolicum figmentum, quia repugnat christianae religioni, repugnat sensui et repugnat etiam rationi. Vgl. auch Brev. II, 4 [II, 221b]: nec influant super liberum arbitrium per vim constellationum, quam dixerunt aliqui philosophi esse fatum … Et quoniam in illud tendit [scil. anima humana in Deum] per liberum arbitrium, ideo quantum ad arbitrii libertatem praecellit omnem virtutem corporalem; ac per hoc cuncta nata sunt sibi servire, nihil autem sibi dominare habet nisi solus Deus, non fatum seu vis positionis siderum.
Texte und Kontexte
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Eine wichtige Frage ist schließlich noch, wodurch die Bewegung der einzelnen orbes der Planeten und der Fixsterne zustande kommt.112 Bonaventura bot sich hier ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten an: Sie könnten unmittelbar von Gott bewegt werden,113 sie könnten eine von einer Intelligenz geleitete Seele besitzen, sie könnten durch die Kraft der eigenen, ihnen innewohnenden (Licht-)Form bewegt werden und schließlich könnten es geschaffene Intelligenzen, sprich Engel sein, die die Sphären im Auftrag Gottes bewegten. Die ersten beiden Alternativen wurden dabei von praktisch allen scholastischen Lehrern abgelehnt,114 wobei man die Vorstellung einer Beseelung der Sphären vor allem den arabischen Kommentatoren entnahm, sie wurde aber (z. B. bei Albert dem Großen) auch gerne mit Platon oder Aristoteles selbst in Verbindung gebracht.115 Die dritte und die vierte Alternative (Bewegung durch die propria forma bzw. durch Engel) hielt Bonaventura beide für möglich, er selbst neigte aber (aus theologischen und aus Vernunftgründen) mehr zu letzterer.116 – Nach diesem Überblick über die gemeinsamen Eigenschaften aller drei Himmel und über die Vorstellungen, die sich Bonaventura vom Firmament und dessen Sphären machte, soll im Folgenden auf die Besonderheiten der beiden obersten Himmel, des Kristallhimmels und des Empyreum eingegangen werden. 2.2.1.2
Der Kristallhimmel
Jenseits der Fixsterne liegt als neunte Sphäre und als zweiter Himmel der Kristall- oder Wasserhimmel (caelum crystallinum vel aqueum).117 Bonaventura äußerte sich darüber 112
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Vgl. II Sent. 14, 1, 3, 1f. [II, 345–350]. Zu beachten ist dabei auch, dass Bonaventura den Planeten keine Eigenbewegung gegenüber der Sphäre, in der sie sich befinden, zuschrieb; vgl. II Sent. 14, 2, 1, 2, resp. [II, 354]: planetae non moventur nisi motu suorum orbium, sicut clavus fixus in rota movetur motu rotae, non proprio. Nachdem Gott allgemeine und unmittelbare Ursache aller Dinge ist (vgl. I Sent. 45, 2, 2, resp.[I, 806f.]), ist die Frage so aufzufassen, ob er auch die ganze Ursache (tota causa) ist oder ob noch eine Partikularursache mitwirkt. – Die sich in der Sukzessivität der Bewegung zeigende Endlichkeit ließ Bonaventura auf die Mitwirkung einer geschaffenen Kraft schließen. Vgl. das Scholion zu II Sent. 14, 1, 3, 1 (Opp. II, 347a). Vgl. etwa AVICENNA, Metaphysica IX, 1, in: Liber de philosophia prima sive Scientia divina, ed. S. Van Riet, intr. G. Verbeke (= Avicenna latinus 3–4), 2 Bde., Louvain – Leiden 1977.1980, hier Bd. 2, 446, Z. 46–48 (oportet autem ut causa propinqua primi motus sit anima non intelligentia, et quod caelum est animal oboediens Deo) sowie AVERROES, De substantia orbis 2, ed. Arthur Hyman (= Medieval Academy Books 96), Cambridge, Mass. 1986, hier 75–83; zur Verbindung mit Plato und Aristoteles, vgl. ALBERTUS MAGNUS, S. th. II, 11, 53, 3, sol. [Ed. Paris. 32, 567a] sowie II Sent. 14, 6 [Ed. Paris. 27, 265] – Albert nannte hier eine Fülle von Philosophen, die die Beseelung der Himmelssphären vertreten haben sollen, im Letzten kam er aber zu derselben Lösung wie Bonaventura; der Doctor seraphicus verwies in II Sent. 14, 2, dub. 3, resp. [II, 367b] auf Plato als Vertreter dieser Ansicht. Vgl. neben II Sent. 14, 1, 3, 2, resp. [II, 349] auch Hex. I, 2 (5), 26 [V, 358; Ed. Delorme, 87]. Man beachte dabei, dass crystallum nicht nur den Bergkristall bezeichnete, sondern auch das aus Wasser gebildete Eis; der Zusammenhang ergab sich aus der Vorstellung, dass Bergkristall aus be-
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einigermaßen vorsichtig, denn da dieser sternlose Himmel mit den Sinnen nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, ist seine Existenz philosophisch nur indirekt zu erschließen,118 ausschlaggebend ist in dieser Frage vielmehr die Offenbarung.119 Die Überzeugung, dass das gestirnte Firmament von einer weiteren Sphäre, dem Kristallhimmel, umschlossen wurde, war zur Zeit Bonaventuras bereits weit verbreitet.120 Vonseiten der Offenbarung ging es dabei vor allem um die Auslegung von Gen 1, 6, wo es heißt, das am zweiten Tag geschaffene Firmament „scheide Wasser von Wasser“. Bereits die Kirchenväter in Ost und West hatten im Anschluss an diese Stelle über die Existenz von Wasser oberhalb des Firmamentes nachgedacht.121 Wie aber wurde aus den „Wassern oberhalb des Firmaments“ (Gen 1, 7) schließlich ein eigener Himmel? Zwar hatte Aristoteles lediglich acht (Haupt-)Sphären angenommen, aber bereits Johannes Philoponus berichtete in seinem Genesiskommentar von einer neunten Sphäre, deren Entdeckung er auf Hipparch und Ptolemäus zurückführte.122 Bis zur Postulierung des Kristallhimmels waren freilich noch weitere Schritte notwendig, denn er verband diese Sphäre mit dem nach Gen 1, 1 am ersten Schöpfungstag geschaffenen Himmel
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sonders reinem Wasser unter dem Einfluss des himmlischen Feuers und extremer Kälte entsteht. Vgl. hierzu die Anmerkung zu Basilius’ Homiliae in Hexaëmeron III, 4 [SChr 26, 209, Anm. 5]. II Sent. 14, 2, 1, 3, resp. [II, 355]: Dicendum quod est ponere, aliquod caelum moveri, quod caret luminarium et stellarum varietate … Ad cuius cognitionem etsi pauci philosophi pervenerunt, quia corporeum latet sensum, ratiocinando tamen pervenerunt aliqui. Vgl. auch ebd. [II, 356] (Text zitiert S. 49, Anm. 145). Die Möglichkeit ihn dennoch zu erkennen, beruht auf seiner Wirkung, vgl. ebd., ad 4 [II, 357b] (notificetur in effectu suo). Ebd., resp. [II, 355]: Communiter tamen ad cognitionem existentiae huius caeli pervenerunt omnes tractatores catholici, auctoritate sacrae Scripturae divinitus illustrati, quae ipsius existentiam expresse declarat. – II Sent. 14, 1, 1, 1, arg. 1 [II, 335f.] wurden die entsprechenden Schriftstellen aufgeführt. Vgl. etwa Summa Halensis II, 3, 2, 2, 2, 1–5 (276–280) [Ed. cit. II, 336–341]; THOMAS VON AQUIN, II Sent. 14, 1, 1 [Ed. cit. II, 346–349] (ebenso später in De potentia 4, 1, ad 5, in: S. Tommaso d’Aquino, Le questioni disputate, testo latino di S. Tommaso e trad. italiana, Vol. 8.9, a cura di Battista Mondin, Bologna 2003, hier Bd. 8, 522–526, S. th. I, 68, 4, resp. [Ed. Leonina V, 172f.] und ebd., a. 2, ad 2 [Ed. Leonina V, 171]); ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 14, 1 & 2 [Ed. Paris. 27, 256–260]. Eine ausführliche Darstellung gab VINCENT VON BEAUVAIS, Speculum naturale III, 90–101 [Ed. cit. I, 221–229]; für weitere Autoren vgl. das Scholion bei Bonaventura (nr. II, Opp. II, 338). – Eine sehr komplexe Lösung bot Wilhelm von Auvergne in De universo: Nach den sieben Planetensphären und dem caelum stellatum kannte er noch einen weiteren bewegten Himmel, das caelum aplanon, das auch eine gleichmäßige, aber nicht gegen die Ekliptik geneigte Bewegung ausführt (vgl. De universo I, 1, 42.43.44 [Ed. cit. I, 640a E–H.646a E.649b BC]); die „Wasser über den Himmeln“ siedelte er dann in einem Zwischenraum zwischen dem caelum aplanon und dem Empyreum als oberstem Himmel an (vgl. ebd. I, 38 [Ed. cit., 632f.]). Nur mit Bedenken wollte er diesen Zwischenraum als Kristall- oder Wasserhimmel bezeichnet wissen (ebd. I, 43 [Ed. cit., 645b BC]; vgl. auch ebd. I, 54 [Ed. cit., 672b H]). So (u. a.) Basilius, Gregor von Nyssa, Hieronymus, Ambrosius, Augustinus und Beda, vgl. GRANT, Planets, Stars and Orbs, 320f.; er wies dabei auch darauf hin, dass Aristoteles selbst die Existenz von Wasser jenseits der Mondsphäre ausschloss (leider ohne Stellenangabe). De opificio mundi I, 7 [FC 23.1, 102].
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und nicht mit der Scheidung der Wasser durch das Firmament am zweiten Tag. Ähnlich sprach dann Johannes Damascenus von einer am ersten Tag geschaffenen, sternlosen Sphäre.123 Als weitere Quelle kommen die arabischen Astronomen und Aristoteleskommentatoren in Frage, die zum Teil ebenfalls eine neunte Sphäre angenommen haben.124 Wann genau sich die Ideen einer neunten Sphäre, eines sternlosen Himmels und der Wasser über dem Firmament zu dem Konzept des Kristallhimmels verbunden haben, lässt sich nicht genau angeben,125 fest steht allerdings Folgendes: In der Glossa ordinaria zu Dtn. 10, 14126 – dort ist vom Himmel und dem „Himmel des Himmels“ (caelum caeli) die Rede – findet man eine Hrabanus Maurus zugeschriebene Aufzählung von sieben Himmeln (aëreum, aethereum, olympium, igneum, firmamentum, aqueum, caelum angelorum). Als vorletzter Himmel wird dort der Wasserhimmel genannt und 123
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Vgl. De fide orthodoxa II, 6 (20) [PTS 12, 50; PG 94, 880B]; THOMAS VON AQUIN, S. th. I, 68, 1, ad 1 [Ed. Leonina V, 169] nahm unmittelbar darauf Bezug. Nach Johannes Damascenus (d. h. spätestens seit der Glossa ordinaria) wurde der am ersten Tag geschaffene Himmel in aller Regel mit dem Empyreum identifiziert (siehe unten S. 52), und in diesem Zusammenhang verwies auch Bonaventura auf die Stelle bei Johannes Damascenus (z. B. II Sent. 2, 2, 1, 1, resp. [II, 71]). – Vgl. hierzu auch GRANT, Planets, Stars and Orbs, 98 mit Anm. 58. ROGER BACON, Communia naturalium II, 4, 2 (De numero caelorum), ed. Robert Steele (= Opera hactenus inedita Rogeri Baconi II–IV), Oxford 1911–1915, hier Bd. 4, 387f. wies bei der Frage nach einer neunten Sphäre zunächst auf Avicenna hin; vgl. dort Metaphysica IX, 2 [Ed. cit. II, 462, Z. 58–60]: … sed, secundum eum, qui peritus est in scientiis quas docuit Ptolemaeus, est sphaera praeter eam [scil. sphaeram fixarum stellarum] et circumdans eam non stellata. Bacon verwies ferner auf Thābit ibn Qurra und al-Biṭrūǧi (Alpetragius). Vgl. hierzu auch GRANT, Planets, Stars and Orbs, 322f. – Der Text von PETRUS LOMBARDUS’ Sententiae II, 14 [SpicBon 4, 395–400] stellte das Material zwar zusammen, die Verbindung wurde aber noch nicht gezogen. Auch der verbreitete Tractatus de sphaera des Johannes von Sacrobosco sprach zwar von einer neunten Sphäre als primum mobile, aber nicht vom Kristallhimmel (Tractatus de sphaera 1f. [Ed. cit., 77.86]), ähnlich ROBERT GROSSETESTE, Hexaëmeron III, 8, 1 [ABMA 6, 108] (et super illam [scil. sphaeram stellarum fixarum] celum sine stellis quod movet totum inferius motu simplici diurno, sicut aiunt, ita ut in universo sint novem caeli). Den Ausdruck coelum crystallinum habe ich das erste Mal bei HONORIUS AUGUSTODUNENSIS, De neocosmo, ed. by Robert Darwin Crouse, Diss., Cambridge, Mass, 1970, hier 188 gefunden, dort wurde er aber auf das Firmament bezogen: Firmamentum, quod in medio aquarum locatur atque coelum appellatur, de ipsis aquis in modum cristalli induratum affirmatur; quod ideo apud Iosephum cristallinum coelum nominatur. Der Verweis auf Josephus dürfte Antiquitates Iudaicae I, 30, in: Jewish Antiquities, ed. and transl. by H. St. J. Thackeray, Louis H. Feldman (= The Loeb Classical Library, Josephus in nine Volumes 4–9), 6 Bde., Cambridge, Mass. 1966–1969, hier Bd. 1 (4), 14 meinen (dort ist allerdings vom Firmament die Rede, das „von Kristall umgeben“ ist, der Ausdruck „Kristallhimmel“ als solcher findet sich dort nicht). In Imago mundi I, 145, ed. by Valerie I. J. Flint, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 57 (1982), 7–153, hier 91 nannte Honorius diesen Himmel auch caelum aqueum: Super firmamentum sunt aquae instar nebulae suspensae quae caelum in circuitu ambire traduntur, unde et aqueum caelum dicitur. Text der Glosse etwa bei PL 113, 462BC. Eine zusätzliche biblische Stütze bot ferner Ez. 1, 22: et similitudo super caput animalium firmamenti quasi aspectus cristalli horribilis et extenti super capita eorum desuper.
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sowohl Bonaventura als auch Thomas von Aquin nahmen expressis verbis auf diese Stelle Bezug.127 Neben der biblischen Begründung führte Bonaventura dabei die Vollkommenheit des Universums als weiteren Grund an. Sie fordert neben dem unbeweglichen, einförmigen Empyreum und dem beweglichen, vielgestaltigen firmamentum noch ein Mittleres, das heißt einen beweglichen, aber uniformen Himmel.128 War die Existenz dieses Himmels einmal gesichert, so erhoben sich weitere Fragen, insbesondere nach der Natur und nach dem Aggregatszustand des dort befindlichen Wassers. Der Text des Lombarden129 bot dabei bereits die beiden Meinungen, dass das Wasser dort entweder in gefrorenem Zustand (ut glacies solidatae, was sich auf die Meinung Bedas beziehen dürfte),130 oder in gasförmigem Zustand (vaporaliter) vorliegt.131 Bonaventura interessierte freilich mehr die Frage nach der Natur dieses Wassers. Dabei kam er zu der Feststellung (er selbst nannte es eher eine Vermutung),132 dass es sich zwar um wirkliches Wasser (vera aqua) handelt, dieses aber nicht mit dem Element Wasser im sublunaren Bereich identisch ist.133 Die Bezeichnung „Wasser“ kommt der Substanz des Kristallhimmels vielmehr aufgrund der mit dem Elementarwasser gemeinsamen Eigenschaften zu, nämlich Durchsichtigkeit (perspicuitas) und Kühle (frigiditas). Was letztere angeht, so besteht ein wichtiger Unterschied zwischen dem Wasser 127
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BONAVENTURA, II Sent. 14, 2, 1, 1, ad 3 und 14, 2, 1, 3, resp. [II, 352.356]; THOMAS VON AQUIN, II Sent. 14, 1, 4, arg. 1 & resp. [Ed. cit. II, 354.355f.]; ebenso ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 14, 4, ad 4 [Ed. Paris. 27, 263], der in arg. 4 explizit auf den Genesiskommentar des Hrabanus verwiesen hatte. Die Aufzählung selbst findet sich in dieser prägnanten Form nicht bei Hrabanus, sie kann aber aus Comm. in Gen., I, 1–6 [PL 107, 443–457] in etwa entnommen werden. – Die ersten vier Himmel sind dabei nur sensu largo als „Himmel“ zu verstehen, da sie sich unterhalb der Mondsphäre befinden. – Interessanterweise wird eine parallele Aufzählung der Anfangsglosse zur Genesis, die den Wasserhimmel auslässt (genannt werden: aer, aether, olympus, spatium vel igneum, firmamentum, coelum angelorum et Trinitatis [PL 113, 69B]) nicht aufgenommen. Diese Reihung wird von der Glossa ordinaria Beda zugewiesen, sie dürfte auf PS.-BEDA, Expositio in primum librum Mosis 1 [PL 91, 192B] zurückgehen (zur Nicht-Authentizität vgl. Alfred BAUDRILLART (Hrsg.), Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastiques, Bd. 7, Paris 1934, 400). Der Unterschied der beiden Aufzählungen wurde bereits von der Summa Halensis II, 3, 2, 2, 2, 5 (280), 2 [Ed. cit. II, 341b] bemerkt; VINCENT VON BEAUVAIS, Speculum naturale III, 84 [Ed. cit. I, 216] stellte schließlich beide Reihen nebeneinander. Stellen siehe oben S. 39, Anm. 91. Sent. II, 14, 4 (74) [SpicBon 4, 396]. Vgl. BONAVENTURA, II Sent. 14, 1, 1, 1, arg. 2 [II, 336]. Vgl. hierzu auch GRANT, Planets, Stars and Orbs, 332f. Wie bei der Frage nach der Existenz des Kristallhimmels äußerte sich Bonaventura auch in dieser Sache nur sehr vorsichtig (vgl. den Anfang von II Sent. 14, 1, 1, 1, resp. [II, 337a]). ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 14, 1, sol. [Ed. Paris. 27, 258] kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es sich bei besagtem Wasser nicht um das Element Wasser handelt, er verstand es aber als einen Teil der materia prima (die aufgrund der Gleichsetzung mit der Urflut auch „Wasser“ genannt werden konnte). Vgl. II Sent. 14, 1, 1, 1, resp. [II, 337b]: … sunt aquae, quae tamen non habent naturam et speciem aquae elementi, censentur tamen aquae nomine propter convenientiam in aliqua proprietate.
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über und dem unter dem Firmament: Das Elementarwasser besitzt nämlich die Form des Kühlen (d. h. die entsprechende Elementarqualität, es ist frigida formaliter), während dem himmlischen Wasser nur eine kühlende Wirkung (frigida effective) zukommt.134 Diese Wirkung des Wassers im Kristallhimmel ist im Rahmen des oben geschilderten Einflusses aller Himmel zu verstehen, wobei Bonaventura hier eine völlig parallele Lösung wie für das Firmament entwickelte: Der Wassernatur des caelum crystallinum entspricht dabei die Feuernatur des firmamentum, die als caliditas effectiva zu verstehen ist und nicht von einem Aufbau aus dem Element Feuer herrührt.135 Nachdem es sich bei den Wassern über dem Firmament nicht um das Element Wasser handelt, relativiert sich auch die Frage nach deren Aggregatszustand stark,136 der Doctor seraphicus gab zu dieser Frage entsprechend kein eindeutiges Urteil ab.137 134
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II Sent. 14, 1, 1, 1, resp. [II, 338a] nannte noch weitere Eigenschaften, die dem himmlischen Wasser fehlen: gravitas (d. h. die Schwere, was auch erklärt, warum sie nicht das natürliche Bestreben haben, sich im unteren Bereich bei den übrigen Wassern zu sammeln), ferner corruptibilitas, ignobilitas, grossities, possibilitas transfundendi. Waren es beim Wasser die drei Grundeigenschaften perspicuitas, frigiditas und gravitas, von denen die erste beiden „Wassern“ gemein ist, die zweite dem himmlischen Wasser nur in übertragener Bedeutung zukommt und die dritte überhaupt nicht, so sind es beim Feuer entsprechend luminositas, caliditas und levitas (Vgl. II Sent. 14, 1, 1, 2, ad 2.3 [II, 340], ebenso 14, 2, 1, 3, resp. [II, 356b]) – Überdies sind perspicuitas und luminositas gerade die beiden, mit der Lichthaftigkeit verbundenen Eigenschaften, die die drei Himmel (s. o.) in unterschiedlicher Weise auszeichnen. Auch in Brev. II, 5 [V, 223b] wird diese Parallele aufgestellt und zwischen calidum bzw. frigidum formaliter und effective unterschieden. – In diesem Sinn gilt auch, dass die himmlische Natur weder heiß noch kalt ist (II Sent. 17, 2, 2, ad 2 [II, 423]: dicendum quod calor caelestis non dicitur, quia sit in natura caelesti sicut in subiecto, quia illa neque calida est neque frigida). – Wenn es im Breviloquium heißt influeret super frigidum bzw. influat ad calorem, wird dabei auch noch einmal deutlich, wie Bonaventura sich die influentia vorstellte: Sie bedeutet nicht einen (materiellen) Fluss von Wärme oder Kälte, bei dem sich der himmlische Körper erwärmt und der irdische abkühlt (bzw. umgekehrt), sondern sie bedeutet die Mitteilung einer zusätzlichen regulierenden oder unterstützenden Disposition an die in dem irdischen Körper vorhandene Elementarqualität, vgl. auch II Sent. 14, 2, 2, 2, resp. sowie ad 3 und ad 6 [II, 360f.]. Insbesondere bedeutet das, dass der himmlische Körper, der den Einfluss ausübt, selbst keinen erleidet und sich durch die influentia auch nicht „verbraucht“ (vgl. II Sent. 14, 1, 1, 1, resp. [II, 338b]: nec tamen ex hoc sequitur, quod possit [scil. caelum crystallinum] calefieri vel consumi, sicut nec sol, quamvis calefaciat, habet formaliter infrigidari). Zugrundeliegen mag dabei die Sentenz aus den Auctoritates Aristotelis, Meteora I, nr. 5 [PhMed 17, 171]: Corpora caelestia motu suo generant calorem in istis inferioribus; ipsa tamen non recipiant peregrinas impressiones, quia calefieri non possunt. Bonaventura hatte ja II Sent. 14, 1, 1, 1, resp. [II, 337b] betont: non habent naturam et speciem aquae elementi (Unterstreichung von mir). Die Behauptung bei GRANT, Planets, Stars and Orbs, 333 (mit Anm. 25), dass Bonaventura von einem flüssigen Zustand ausgeht, scheint mir nicht ohne weiteres nachvollziehbar, II Sent. 14, 1, 1, 1 bietet jedenfalls keine Hinweise in dieser Richtung. Am ehesten spricht mir noch II Sent. 14, 1, dub. 1 [II, 350] dafür, wo der Hinweis des Lombarden auf die glacialis soliditas dieser Wasser beantwortet wird mit: comparat glaciali soliditate non propter gravitatem, sed propter continuitatem et stabilitatem, quia non fluunt nec refluunt nec deorsum descendunt. – Wobei die Intention der
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Die in unserem Zusammenhang wohl wichtigste Eigenschaft des caelum crystallinum ist seine Bewegung.138 Als Mittleres zwischen firmamentum und caelum empyreum hatte ihn Bonaventura als zugleich uniforme et motum charakterisiert (s. o.). Die uniformitas wird dabei als uniformitas in toto et in partibus verstanden,139 womit sowohl die vollkommene Kugelgestalt gemeint ist als auch die Tatsache, dass diese Sphäre keine Sterne besitzt.140 Man kann dem die Auslegung Alberts des Großen erhellend zur Seite stellen. Dieser setzte der vollkommenen Einförmigkeit des ersten und zweiten Himmels die nur in gewisser Hinsicht (nämlich in Bezug auf die äußere Gestalt und die Bewegung) bestehende Einförmigkeit des dritten Himmels, des caelum stellatum, gegenüber. Die Vielgestaltigkeit des letzteren zeigt ein Blick auf den nächtlichen Himmel, an dem sich nicht nur Sterne verschiedenster Helligkeit und Farbe, sondern auch die Milchstraße als besonderer Bereich ausmachen lassen.141 – Die Verbindung von uniformitas und Bewegtheit war für Bonaventura dabei aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch:142 Auf ein erstes Problem weist die Fragestellung der Quaestio selbst hin (Utrum aliquod carens stellis … est mobile). Hier ging es um die Autorität des Aristote-
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Aussage ja die ist, den Kristallhimmel als den natürlichen Ort dieses Wassers zu erweisen, so dass keine äußere Kraft notwendig ist, um sie dort zu halten; ob man daraus umgekehrt schließen darf, dass diese Wasser flüssig sein müssen, oder ob Bonaventura nicht eher von völlig anderen, nicht mit den irdischen Kategorien fest/flüssig/gasförmig zu erfassenden Verhältnissen ausgeht, bleibt fraglich. Als paralleles Beispiel kann man auf Bonaventuras Vorstellung von dem Firmament als einem einzigen zusammenhängenden Körper mit mehreren orbes verweisen: Der Franziskaner verglich es zwar mit Wasser oder Luft, sagte aber nirgendwo, dass es flüssig oder gasförmig wäre, auch wenn er den Vergleich mit einem festen Körper ablehnt (vgl. II Sent. 14, 2, 1, 1 resp. und ad 2 [II, 352]). Vgl. hierzu vor allem II Sent. 14, 2, 1, 3 [II, 354–357]. Das Scholion zu der Stelle weist darauf hin, dass die Frage in dieser speziellen Form selten diskutiert wurde; die grundsätzliche Frage nach der Bewegung wurde dabei durchaus gestellt (und bejaht), vgl. etwa Summa Halensis II, 3, 2, 2, 2, 3 (278) [Ed. cit. II, 340]; ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 14, 2, ad ob. 1.2 [Ed. Paris. 27, 260] und ausführlich in S. th. II, 11, 52, 2 [Ed. Paris. 32, 553–555]; RICHARD VON MEDIAVILLA, II Sent. 14, 1, 2, in: Super quatuor libros Sententiarum quaestiones subtilissimae, 4 Bde., Frankfurt am Main 1963 (unv. Nachdruck der Ausg. Brixen 1591), hier Bd. 2, 168f. Richard und vor allem Albert kommen dabei der Fragestellung des Doctor seraphicus am nächsten. PETRUS VON TARENTAISE, II Sent. 14, 3, qc. 2 [Ed. cit. II, 116f.] und THOMAS VON AQUIN, II Sent. 14, 1, 1 & 4 [Ed. cit. II, 346– 349 & 354–356] berühren die Frage nur beiläufig. II Sent. 14, 2, 1, 3, sc. 4 [II, 355b]. Vgl. ebd., arg. 1 [II, 354]: caelum, quod universaliter caret stellis, est uniforme, und ebenso sc. 1 [II, 355]: sed uniforme corpus non est, nisi quod caret omni luminari. Vgl. De caelo et mundo II, 2, 5 [Ed. Colon. V.1, 136, Z. 58–70]: Et dico, quod corpus primum et secundum et forte tertium est omnino uniforme in figura, sed primum uniforme est etiam in diaphanitate et simplicitate. Quam uniformitatem caelum stellatum non retinuit, licet in toto sit rotundarum superficierum … tamen non est retinens uniformitatem diaphanitatis et eiusdem simplicitatis in omnibus partibus; propter quod quiddam eius est stellatum et quiddam non et quiddam coloratum lacteum et quiddam non et stellarum alia est rubens ignei coloris et alia pallens et alia umbrosa quasi nubea, sicut apparet ad visum. Vgl. II Sent. 14, 2, 1, 3, arg. 1–3 [II, 354f.].
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les, dessen Kosmologie vorsah, dass die Bewegung der Sphären in der Bewegung der Sterne oder Planeten ihr Ziel hat.143 Von daher erschien die Annahme einer bewegten und sternlosen Sphäre widersprüchlich. Die zweite Schwierigkeit ergab sich aus der Analyse des Bewegungsbegriffs, denn Bewegung setzt ja eine Verschiedenheit des Zustandes vorher und nachher voraus. Man konnte also den Einwand erheben, dass die so verstandene Einförmigkeit schon vom Begriff her der Bewegbarkeit widerspricht, und außerdem wäre die kreisende Bewegung eines solchen idealen kugelförmigen Körpers überhaupt nicht feststellbar. Die Antwort des Doctor seraphicus auf diese zweite Schwierigkeit war leider nicht besonders stichhaltig,144 das erstgenannte Problem löste er, indem er den Kristallhimmel als das primum mobile etablierte, das durch seine Bewegung das Firmament und mittelbar auch alle anderen Sphären antreibt.145 Das brachte zugleich den Vorteil, dass die verschiedenförmigen Bewegungen wie auch die verschiedenen Einflüsse und Wirkungen der unteren Sphären auf ein einheitliches, gleichförmig (uniformis) bewegtes und bewegendes Prinzip zurückgeführt wurden.146 Die Bewegung, die dieses primum mobile ausführt, ist dabei nicht irgendeine Bewegung: Es dreht sich in 24 Stunden einmal um sich selbst und gibt dadurch nicht nur die Länge des natürlichen Tages vor, als völlig gleichmäßige ist sie auch das Richtmaß für alle anderen Bewegungen und stellt so gewissermaßen den Pulsschlag des Alls dar. In diesem Zusammenhang nannte der Franziskaner auch den astronomischen Grund, der zur Postulierung der neunten Sphäre geführt hatte: Beobachtet man den Himmel 143
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Vgl. Metaphysica XII (Λ), 8 [1074a 18f.], vgl. dazu etwa auch THOMAS VON AQUIN, In De caelo et mundo II, c. 12, lect. 19, 3 [Ed. Leonina III, 198a]: motus sphaerae non est nisi propter motum stellae. Die Lösung des Aquinaten ging in dieselbe Richtung wie bei Bonaventura: unde ille motus supremae sphaerae, quae caret stellis, ordinatur ad motum stellarum fixarum. Er verwies hier auf die diversitas secundum rationem dextrae et sinistrae per comparationem ad influentiam motoris (II Sent. 14, 2, 1, 3, ad 1.2 [II, 356]), – diese Verschiedenheit kommt aber ihrerseits nur durch die Bewegung der Sphäre (vgl. II Sent. 14, 1, 2, 2 [II, 344]) zustande, die Erklärung bewegt sich also im Kreis. Von dem Argument bleibt im Grunde genommen nur, dass doch eine (wie auch immer geartete) minimale diversitas in der Sphäre vorhanden sein muss, damit Bewegung möglich ist. II Sent. 14, 2, 1, 3, resp. [II, 356b]: caelum aqueum, quod est mobile primum, et quod uniformiter movetur ab oriente in oriens per occidens; et illius virtute trahitur firmamentum et omnes orbes inferiores, ut uno die naturali, scilicet per spatium viginti quatuor horarum, ab oriente in oriens revolvatur, quamvis nostro sensui non appareat … Der „natürliche Tag“ ist dabei der siderische Tag von 23 h 56 min, (also die Zeit zwischen zwei aufeinanderfolgenden Meridiandurchgängen eines beliebigen Fixsternes). – Auch Albert der Große verband mit der neunten Sphäre als primum mobile, die tägliche Umdrehung des Fixsternhimmels (II Sent. 14, 2, qc. 2 [Ed. Paris. 27, 259f.]). Vgl. II Sent. 14, 2, 1, 3, sc. 1 & 4 [II, 355], auch die im Responsum vorgebrachte Argumentation, die über die diversitas formarum der drei Himmel geht [II, 356b], schloss von dem ausgeübten Einfluss der Sphäre auf deren Beweglichkeit (crystallinum sive aqueum, quod quidem facit ad conservationem rerum corruptibilium, et ideo est habile ad motum), ähnlich ad 3 [II, 357]: Ad illud quod obiicitur, quod aequaliter influit, cum movetur et quiescit; dicendum, quod falsum est. Si enim quiesceret, non moveret orbes inferiores suo motu.
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über längere Zeit, so stellt man fest, dass die Sterne nicht nur eine von der täglichen Drehung der Erde um ihre eigene Achse verursachte Bewegung aufweisen, hinzu kommt (in moderner Diktion), dass die Erdachse in Bezug auf den stellaren Hintergrund nicht fest steht, sondern selbst eine Kreiselbewegung um die Achse der Ekliptik beschreibt (die Präzession). Diese langsame Rotation der Erdachse – für einen vollen Kreis werden etwa 25.800 Jahre benötigt, und die Astronomen haben dieser Periode den treffenden Namen „Platonisches Jahr“ gegeben147 – zeigt sich unter anderem darin, dass sich sowohl der Himmelspol (das scheinbare Zentrum der täglichen Drehung der Gestirne) als auch der Frühlingspunkt (der Schnittpunkt von Himmelsäquator und Ekliptik) im Laufe der Jahre verschieben.148 Im geozentrischen Modell führte man die so resultierende Gesamtbewegung der Fixsterne auf die Bewegung zweier konzentrischer Sphären zurück, von denen die eine knapp 24 Stunden für eine volle Drehung benötigt (hier: die neunte Sphäre des caelum crystallinum), die andere die besagten 25.800 Jahre (hier: die achte Sphäre, das firmamentum oder caelum stellatum); das entspricht dabei ungefähr dem von Bonaventura genannten Vorrücken um 1° in 100 Jahren.149 Als primum mobile kommt dem caelum crystallinum in der betrachteten Quaestio eine herausragende Bedeutung zu; allerdings bemerkt man auch, dass diese Bedeutung an anderen Stellen wieder zurückgenommen wurde, etwa wenn bei der Zeitdefinition Bonaventuras doch wieder die achte Sphäre als Regulativ und Maßstab fungierte.150 – Ein kurzer Seitenblick auf die entsprechenden Vorstellungen bei Thomas von Aquin hilft bei der Beurteilung dieses Schwankens. Auch Thomas bestimmte das caelum crystallinum als den zweiten Himmel, der uniforme et mobile ist,151 der aus der quinta essentia besteht und der sich besonders durch seine Durchsichtigkeit auszeichnet.152 Was 147
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In Erinnerung an das „vollkommene Jahr“ in Platons Timaios 11 [39d], nach dessen Ablauf alle Planeten ihre Umläufe gleichzeitig wieder vollenden und so der Kreis desselben von neuem beginnt. So lag vor etwa 5.000 Jahren der Himmelspol nicht im Sternbild kleiner Bär, sondern im Sternbild Drache. Die Entdeckung dieser Bewegung dürfte auf Hipparch zurückgehen. Für elementare Informationen vgl. etwa Karl SCHAIFERS / Gerhard TRAVIN, Meyers Handbuch Weltall, Mannheim u. a. 6 1984, 68–70. Denselben Wert hat bereits JOHANNES VON SACROBOSCO, Tractatus de sphaera 1 [Ed. cit., 79, Z. 17f.], ebenso ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 14, 2, qc. 2 [Ed. Paris. 27, 260a]; vgl. auch THOMAS VON AQUIN, In De caelo et mundo II, c. 12, lect. 17, 7 [Ed. Leonina III, 189a], dieser gab allerdings das Platonische Jahr zu 36.000 Jahren an. Vgl. etwa die Aussage von II Sent. 14, 2, 1, 3, ad 4 [II, 357] mit den Zeitdefinitionen ab S. 165. II Sent. 14, 1, 4, resp. [Ed. cit. II, 355]. Ebd. und II Sent. 14, 1, 1, resp. [347]: … non quidem de natura hujus aquae quae apud nos est, sed de natura quintae essentiae, habentes similitudinem cum hac aqua … Haec autem similitudo non potest attendi nisi secundum lucidum et diaphanum … Et ideo sicut caelum empyreum dicitur quod est simile igni in hoc quod est lucidum totum; ita etiam caelum chrystallinum vel aqueum dicitur, inquantum convenit cum aqua in hoc quod est diaphanum, sive quod sit aliqua pars ejus lucens (sicut est in caelo sidereo, cujus quaedam partes lucent, scilicet stellae) et aliqua pars diaphana; vgl. auch S. th. I, 68, 4, resp. [Ed. Leonina V, 173]. Die himmlischen Wasser liegen dabei
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aber die Bewegung des Kristallhimmels betrifft, so äußerte er sich – ähnlich wie Bonaventura – nicht eindeutig: Im Sentenzenkommentar wies er ihm die langsame Präzessionsbewegung zu, wobei er die tägliche Umdrehung auf eine nicht weiter spezifizierte zehnte Sphäre zurückführte,153 nach der Summa dagegen dreht sich der Kristallhimmel als primum mobile in einem Tag um sich selbst.154 – Man mag daran erkennen, dass die Theoriebildung hinsichtlich der neunten Sphäre noch deutlich im Fluss war: Eine allgemein geteilte Vorstellung, wie sie sich bewegte, existierte noch nicht. Die Äußerungen bei Thomas und Bonaventura gaben kein gesichertes Wissen wieder, sondern hatten eher den Rang von Vermutungen oder Hypothesen. Von daher wird verständlich, wenn der Doctor seraphicus sich in der Frage nach der Identifikation von Kristallhimmel und primum mobile – darauf läuft die Frage ja letztlich hinaus – nicht ganz konsequent verhielt: Er zögerte einfach, einem eher hypothetischen Konstrukt155 jene Bedeutung zuzugestehen, wie sie das primum mobile im damaligen Weltbild hatte.156 Erschwerend kam hinzu, dass sich die genannte Gleichsetzung nicht nur gegen die ältere Tradition – allen voran Aristoteles mit seinem Acht-Sphären-Modell –,157 sondern auch gegen den Augenschein durchsetzen musste: Wenn man aus den Ausführungen bei Bonaventura und Thomas eine gemeinsame Tendenz ausmachen kann, dann die, die Bewegung des primum mobile mit der Grundbewegung der täglichen Umdrehung zu verbinden (was sicherlich mit der Vorstellung zeitgenössischer Astronomen übereinstimmte). Für den nicht allzu kritischen Augenschein ist diese aber nichts anderes als die Bewegung des Sternenhimmels, sprich der achten Sphäre, denn zum einen ist die Präzessionsbewe-
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nach De potentia 4, 1, ad 5 [Ed. cit. VIII, 522–526] und S. th. I, 68, 2, ad 2 [Ed. Leonina V, 171] in fester Form vor. – Über den Einfluss der corpora caelestia auf die corpora inferiora äußerte sich Thomas nur allgemein in II Sent. 15, 1, 2 [Ed. cit. II, 370–373], ein wenig mehr erfährt man in S. th. I, 68, 2, ad 3 [Ed. Leonina V, 171]. Vgl. II Sent. 14, 1, 1, resp. [Ed. cit. II, 348]: Hoc autem caelum aqueum est nona sphaera, ad quam primo reducunt astrologi motum orbis signorum communem omnibus stellis, qui est de occidente in orientem; et iterum sphaeram decimam, ad quam reducunt motum diurnum, qui est de oriente in occidentem. – Nach GRANT, Planets, Stars and Orbs, 371 war das System mit zehn beweglichen Sphären das insgesamt am weitesten verbreitete – das Empyreum kommt in diesem Fall als elfte unbewegliche Sphäre hinzu (das entspricht dann genau den Verhältnissen von Abbildung 1, S. 37, aus Apians Cosmographia). S. th. I, 68, 2, ad 3 [Ed. Leonina V, 171]: … aquae sunt supra firmamentum, idest caelum totum diaphanum absque stellis. Quod quidam ponunt primum mobile, quod revolvit totum caelum motu diurno. Der Text von In Metaph. XII, 9, 2558 (6), in: S. Tommaso d’Aquino, Commento alla Metafisica di Aristotele, e testo integrale di Aristotele, trad. a cura di Lorenzo Perotto, 3 Bde., Bologna 2005, hier Bd. 3, 662 und ebenso von In De caelo et mundo II, c. 12, lect. 17, 7 [Ed. Leonina III, 188f.] bot schließlich eine mit Bonaventura völlig übereinstimmende Lösung an. Vgl. dazu noch einmal oben S. 44 mit Anm. 118. Sehr sprechend für dieses Zögern ist hier die Formulierung von II Sent. 14, 2, 1, 3, resp. [II, 356a]: … et illud [scil. caelum crystallinum] proprie dicendum est primum mobile. Mit dem „eigentlich“ (proprie) bejahte er die gezogene Konsequenz und offenbarte zugleich seine Vorbehalte. Bonaventura räumte in II Sent. 14, 2, 1, 3, resp. [II, 356b] denn auch ein: … [ut] aliqui philosophi hoc senserint, quod firmamentum sit mobile primum.
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gung ja so langsam, dass sie nur durch lange (mit damaligen Messmethoden über Generationen gehende) Beobachtungsreihen nachgewiesen werden kann, und zum anderen ist der Hintergrund, vor dem diese Bewegung stattfindet, – nämlich die sternlose neunte Sphäre – unsichtbar.158 Von daher liegt es nahe, wenn Bonaventura gelegentlich dort, wo er vom primum mobile sprach und damit eigentlich die neunte Sphäre meinen sollte, tatsächlich – sozusagen in erster Näherung – die achte Sphäre der Fixsterne meinte; die unmittelbare Wahrnehmbarkeit von deren Bewegung siegte hier gewissermaßen über die minimale Irregularität (d. h., dass sie keine vollkommene Kreisbewegung besitzt, sondern ihre Bewegung eine Überlagerung von zwei Kreisbewegungen ist). 2.2.1.3
Das Empyreum
Mit dem primum mobile war der mittelalterliche Kosmos noch nicht an sein Ende gelangt, dahinter befand sich noch eine letzte alles umfassende, unbewegliche Sphäre, das Empyreum.159 Im 13. Jahrhundert und weit darüber hinaus war die Existenz dieses Himmels allgemein anerkannt, ernsthafte Zweifel daran wurden erst im 17. Jahrhundert geäußert, als das aristotelisch-ptolemäische Weltbild bereits insgesamt erschüttert war.160 Der Begriff geht dabei auf die griechische Naturphilosophie zurück, wo er jene 158
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Vielleicht zur Verdeutlichung noch einmal anders gesagt: Ein gemeinsamer Grundgedanke der verschiedenen geozentrischen Modelle ist der, dass die Bewegung der äußersten Schale, d. h. des primum mobile, sich auf die inneren Sphären überträgt (heliozentrisch gedacht ist sie ja nichts anderes als die tägliche Umdrehung der Erde um ihre eigene Achse). Bei der Bewegung einer inneren Sphäre ist damit zu unterscheiden zwischen der Eigenbewegung der Sphäre und ihrer Gesamtbewegung, die die Summe aus ihrer Eigenbewegung und der Bewegung der umgebenden Sphäre ist. Auf das Modell Bonaventuras angewandt bedeutet dies: Die von Erde aus beobachtete Bewegung der achten Sphäre ist die tägliche Umdrehung in 23 h 56 min (als von der neunten Sphäre übertragene Bewegung) plus der Eigenbewegung, d. h. der Präzessionsbewegung (die eine Periode von 25.800 Jahren hat). Da die Eigenbewegung so langsam ist, fällt dem unbedarften Beobachter nur die tägliche Umdrehung ins Auge. – Noch einmal anders gesagt geht es bei dem Zögern, den Kristallhimmel als primum mobile zu akzeptieren, um das Problem, dass in dem Modell der neun Sphären die Bewegung des primum mobile nicht mehr maxime notus (vgl. II Sent. 14, 2, 1, 3, arg. 4 [II, 355]) und maxime evidens (vgl. I Sent. 37, 2, dub. 3, resp. [I, 665]) ist, sondern nur mehr mittelbar wahrgenommen wird. II Sent. 14, 2, 1, 3, ad 4 [II, 357] versuchte eine Erklärung. Diese berief sich etwas holprig darauf, dass bereits die Bewegung der achten Sphäre nur mittelbar durch die Sonne und die anderen Lichter wahrgenommen wird. Für einen Überblick vgl. auch den Artikel von P. BERNARD, Ciel, in: Alfred Vacant u. a. (Hrsg.), Dictionnaire de théologie catholique, Bd. 2, Paris 1905, 2474–2511, besonders Abschnitt III («Spéculations scolastiques»), 2503–2511. Die Begriffsgeschichte stellen Marian KURDZIAŁEK / Gregor MAURACH, Empyreum, in: Joachim Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt 1972, 478–480 dar. Vgl. GRANT, Planets, Stars and Orbs, 371.376.378. – Um so erstaunlicher mag erscheinen, dass etwa ROBERT GROSSETESTE, Hexaëmeron I, 16–17 [ABMA 6, 72–77] bei der Behandlung des am ersten Tag geschaffenen Himmels diesem caelum primum zwar die wesentlichen Eigenschaften des Empyreum zuschrieb (oberhalb der sternlosen, neunten Sphäre, unbeweglich, Wohnort der Se-
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oberste Weltgegend bezeichnete, in der sich das nach oben strebende Feuerelement sammelte. Das christliche Konzept des Empyreum gewann seine Konturen dagegen im Wesentlichen erst im 12. Jahrhundert, beginnend mit der im Umkreis der Schule von Laon entstandenen Glossa ordinaria, die den am ersten Schöpfungstag gebildeten Himmel mit dem Namen Empyreum belegte, und ihn als einen geistigen, lichthaften und mit Engeln erfüllten Ort beschrieb.161 Die ausführliche Zitation dieser Stelle in den Sentenzen des Petrus Lombardus162 war dabei ein zusätzlicher Faktor für deren allgemeine Verbreitung. Zugleich wurde hier der systematische Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen vom Empyreum zu sprechen ist: Es ist der Ort, in dem die Engel erschaffen wurden.163 Einen weiteren Bezugspunkt setzte die Magna Glossatura des Lombarden zu 2 Kor 12, 2, denn hier wurde der dritte Himmel, in den Paulus entrückt wurde, mit dem Empyreum identifiziert.164
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ligen, lichterfüllt …), den Namen selbst aber nicht verwendete, obwohl er ihn kannte, denn ebd. I, 16, 1 [ABMA 6, 73, Z. 1–4] zitierte er die Stelle aus der Glossa ordinaria zu Gen 1, 1. Glossa ordinaria zu Gen 1, 1 [PL 113, 68C]: Coelum non visibile firmamentum, sed empyreum, id est, igneum vel intellectuale, quod non ab ardore, sed a splendore dicitur, quod statim repletum est angelis. Gemäß der Glossa zu Dtn 10, 14 (siehe oben S. 45) wurde das Empyreum dann weiter mit dem biblischen caelum caeli und dem caelum angelorum in der Hrabanus zugeschriebenen Aufzählung verbunden. – Eine sehr eindringliche Beschreibung des obersten Himmels als coelum spirituale (das Wort „Empyreum“ fällt nicht) bot HONORIUS AUGUSTODUNENSIS, Imago mundi I, 146 [Ed. cit., 91f.]: Super quod est spiritale caelum, hominibus incognitum, ubi est habitatio angelorum … In hoc est paradysus paradysorum in quo recipiuntur animae sanctorum. Hoc est in caelum quod in principio legitur cum terra creatum; davon wird jedoch ebd. im Folgenden das caelum caeli noch einmal abgesetzt: Huic longe supereminere dicitur caelum caelorum, in quo habitat rex angelorum. Und in seinem Elucidarium III, 2, in: Yves Lefèvre, L’Elucidarium et les lucidaires. Contribution, par l’histoire d’un texte, à l’histoire des croyances religieuses en France au moyen âge, Paris 1954, 343–477, hier 443, erklärte er weiter: Non est locus corporalis, quia spiritus non habitant in locis [corporalibus], sed est spiritualis beatorum mansio quam aeterna sapientia perficit ab initio et est in intellectuali coelo, ubi ipsa Divinitas qualis est ab eis facie ad faciem contuetur. Sent. II, 2, 4 (10) [SpicBon 4, 340]. Sofern das Thema in den Summen und Sentenzen des 12. Jahrhunderts behandelt wurde, geschah es an dieser Stelle, vgl. etwa ROLAND VON BOLOGNA, Die Sentenzen Rolands nachmals Papstes Alexander III., hrsg. v. Ambrosius M. Gietl, Freiburg i. Br. 1891, hier 88, die die Schöpfung der Engel in und zugleich mit dem Empyreum beschrieben, ferner ALAIN VON LILLE, Summa «Quoniam homines» II, 1 (132), ed. Palémon Glorieux, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 28 (1953) 112–364, hier 271f., wo das Empyreum wegen seiner Nähe zu Gott, seiner subtilitas und seiner splendiditas als excellentior locus und deswegen den Engeln angemessen beschrieben wurde, schließlich die vielleicht von ODO VON LUCCA, dem Lehrer des Lombarden, stammende Summa sententiarum 2, 1 [PL 176, 81C], die sich allerdings im Wesentlichen auf die Zitation Bedas beschränkte. Siehe PL 192, 80AB: … usque ad tertium coelum, scilicet empyreum, quod statim factum angelis sanctis fuit repletum. … Tertium coelum spirituale, ubi angeli et sanctae animae fruuntur Dei contemplatione. – Auch das biblische Wort in Dtn 10, 14 (und anderen Stellen) vom caelum caeli wurde auf das Empyreum gedeutet.
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Die Mosaiksteine, aus denen im 12. Jahrhundert das Konzept des Empyreum gebildet wurde, findet man zunächst bei Augustinus, der in De civitate Dei X die Ansichten des Neuplatonikers Porphyrios und des Mittelplatonikers Apuleius referierte und dabei beiläufig auf die ätherischen oder empyreischen Räume (beides wurde nicht unterschieden) als Wohnung der Engel und Götter zu sprechen kam; dabei drückte er zugleich seine Zurückhaltung gegenüber diesen heidnischen Vorstellungen aus.165 Bei Augustinus fand sich auch die Verbindung zwischen den Engeln und dem am ersten Tag geschaffenen Himmel, indem er in Gen 1, 1 (In principio creavit Deus caelum et terram) das Wort caelum auf die geistige Kreatur, sprich die Engel, bezog.166 Eine dritte Linie, die unmittelbar zu der Vorstellung vom Empyreum hinführte, bildeten schließlich seine in Confessiones XII vorgetragenen Gedanken über den „Himmel der Himmel“ (caelum caeli), den er als einen unsichtbaren geistigen Himmel (caelum intellectuale) beschrieb, der dem Herrn gehört und wo die Freuden Gottes von den Bürgern seiner Stadt (Engeln und Seligen) geschaut werden.167 Wenig später stellte der heidnische Anwalt Martianus Capella in seinem enzyklopädischen Werk das Empyreum als eine jenseits dieser Welt liegende Sphäre der Glückseligkeit vor.168 Über dessen Kommentatoren (Johannes Sco165
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Vgl. Civ. X, 9 [CC.SL 47, 282, Z. 37–39]: Quamquam itaque discernat a daemonibus angelos, aeria loca esse daemonum, aetheria vel empyria disserens angelorum, und Civ. X, 27 [CC.SL 47, 301, Z. 4–10]: deos tamen caeli superiores ad aetheria spatia pertinentes, … ab omni labe istarum perturbationum quanta potuit disputatione secrevit! Tu autem hoc didicisti non a Platone, sed a Chaldaeis magistris, ut in aetherias vel empyrias mundi sublimitates et firmamenta caelestia extolleres vitia humana … Augustinus bezog sich dabei im ersten Text auf die nur fragmentarisch erhaltene Schrift des PORPHYRIOS, De regressu animae, im zweiten auf APULEIUS, De deo Socratis 3; vgl. den Kommentar in der Ausgabe Vom Gottesstaat (De civitate Dei), übertr. v. Wilhelm Thimme, eingel. u. komm. v. Carl Andresen, 2 Bde., München 1977.1978, hier Bd. 1, 613 (zu Seite 480) bzw. 618 (zu Seite 511). Z. B. in Civ. XI, 9 & 32 [CC.SL 48, 328–330.351f.] wird es als eine mögliche Interpretation angeboten, vgl. auch Conf. XII, 7, 7 [CC.SL 27, 219f.]. – Petrus Lombardus berichtete diese Anschauung in Sent. II, 2, 5 (11) [SpicBon 4, 341] (vgl. auch Sent. II, 2, 1 (7), 4 [SpicBon 4, 337]). Hier im Anschluss an Ps 115, 16 (113, 24); die Stellen bei Augustinus sind (v. a.) Conf. XII, 2, 2; 8, 8; 9, 9; 11, 12; 13, 16; 15, 20 [CC.SL 27, 217.220.221.222.223f.226]; ferner Civ. XI, 33 [CC.SL 48, 353, Z. 24]. Bedeutsam ist dabei weiter, dass Augustinus den „Himmel des Himmels“ (als weitere Auslegungsvariante) ebenfalls mit dem in principio, ante omnem diem geschaffenen Himmel aus Gen 1, 1 identifizierte (Conf. XII, 8, 8). Vgl. hierzu auch Aimé SOLIGNAC, Caelum caeli, in: Cornelius P. Mayer (Hrsg.), Augustinus-Lexikon, Bd. 1, Basel u. a. 1994, 702–704. KURT FLASCH, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie, Frankfurt am Main 22004, 94–98 wies vor allem auf die Bestimmungen des caelum caeli als creatura intellectualis und als mens pura hin, die sowohl durch Pluralität als auch durch Singularität gekennzeichnet sind; ähnlich Ursula SCHULTE-KLÖCKER, Das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit als Widerspiegelung der Beziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung. Eine textbegleitende Interpretation der Bücher XI–XIII der „Confessiones“ des Augustinus (= Hereditas. Studien zur Alten Kirchengeschichte 18), Bonn 2000, 159–164. De nuptiis Philologiae et Mercurii II, 202, in: Werke, hrsg. v. Adolf Dick, add. Jean Préaux Stuttgart 21969 (Nachdruck d. Ausg. v. 1925), hier 76: [Ipsa quippe Philologia] tanti operis tantaeque
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tus Eriugena und Remigius von Auxerre) dürfte so der Begriff dem Mittelalter tradiert worden sein. Ein weiterer Beitrag kam schließlich von Beda Venerabilis im 8. Jahrhundert: Ohne das Wort „Empyreum“ zu verwenden, sprach er von dem am ersten Tag geschaffenen caelum superius, als einer ruhenden, von der Herrlichkeit Gottes erfüllten Sphäre, die dem Blick der Sterblichen entzogen ist.169 Angesichts dessen, dass Bonaventura bereits eine breite Tradition vorlag, die die Existenz und die Eigenschaften des Empyreum darlegte,170 mag es verwundern, dass er sich in diesen Fragen zwar bestimmt, aber doch nur sehr knapp äußerte:171 Das Empyre-
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rationis patrem deumque non sciens ab ipsa etiam deorum notitia secessisse, quoniam extramundanas beatitudines eum transcendisse cognoverat, empyrio quodam intellectuali mundo gaudentem … In Genesim I, i, 2 [CC.SL 118a, 4, Z. 37–46]: Ipsum enim est caelum superius, quod, ab omni huius mundi volubilis statum secretum, diuinae gloria presentiae manet semper quietum … Non ergo superius illud caelum, quod mortalium est omnium inaccessibile conspectibus, inane creatum est et uacuum ut terra …, quia nimirum suis incolis mox creatum, hoc est beatissimis angelorum agminibus, impletum est. – Der Text wird dann sowohl bei HRABANUS MAURUS, Comm. in Gen. I, 1 [PL 107, 445AB] als auch bei REMIGIUS VON AUXERRE, In Genesim 1, 1 [CC.CM 136, 5, Z. 57– 60] und in der Glossa ordinaria in Gen 1, 2 [PL 113, 69CD] zitiert. Ein kurzes (nicht besonders aussagekräftiges) Kapitel über den oberen Himmel findet man bei Beda auch in De natura rerum 7 [CC.SL 123a, 197f.]. – Die Rede vom caelum superius findet sich auch schon in den Recognitiones der Klementinen (406 n. Chr. von Rufin übersetzt), dort wird auf die Frage Tu quid esse putas super caelos? geantwortet: … unum quidem confiteri convenit deum qui vere est; caelos autem esse qui ab eo facti sunt, sicut et lex dicit, quorum unum caelum sit superius, quo continetur etiam istud visibile firmamentum; illud esse perpetuum et aeternum cum his qui habitant ibi, istud autem visibile in consummatione saeculi resolvendum esse et transire, ut illud caelum quod est antiquius et excelsius post iudicium sanctis et dignis apparet (Clementina recognitiones II, 68, 2f. [GCS 251, 91f.]). Für Bonaventura mag man an erster Stelle sowohl an Alberts Ausführungen in II Sent. 2, 3–6 [Ed. Paris. 27, 50–56] als auch an die Summa Halensis II, 2, 1, 1, 3, 1–3 (101–103) [Ed. cit. II, 126– 130] sowie II, 3, 2, 2, 1, 1, 1 (266–270) [Ed. cit. II, 327–331] denken. Zuvor (um 1232) hatte bereits der Bischof von Paris, Wilhelm von Auvergne, in De universo I, 1, 31–44 passim [Ed. cit. I, 625b–653b] in aller Ausführlichkeit über das Empyreum gehandelt. II Sent. 2, 2, 1, 1, resp. [II, 71]: Dicendum, quod quamvis Sancti parum loquantur de hoc caelo, quia latet nostros sensus, et philosophi adhuc minus, tamen ponere est caelum empyreum. Ähnlich zurückhaltend war II Sent. 14, 2, 1, 3, resp. [II, 356a]: … caelum empyreum, de quo etsi Augustinus vix aut nunquam loquatur, Beda et Rabanus ipsum expresse testantur. – Die Stellen auf die sich Bonaventura hier bezog, sind oben alle genannt, bei „Augustinus“ kann man vielleicht an die pseudoaugustinische Schrift De spiritu et anima 4 [PL 40, 782] (Et sicut mundus … quadam distinctione est ordinatus; terra scilicet, aqua, aere et aethre sive firmamento, ipsoque supremo coelo, quod empyreum vocant) denken; sie wurde von Bonaventura auch in anderen Zusammenhängen zitiert (vgl. den Index in Opp. X, 269c). Auch Thomas begründete die Existenz des caelum empyreum mit der Autorität Bedas und der Glosse, er wies noch stärker als Bonaventura darauf hin, dass Augustinus in dieser Frage nicht als Gewährsmann gelten kann und bezog sich dabei ausdrücklich auf die Stellen in Conf. X (siehe S. 54 mit Anm. 165), vgl. S. th. I, 66, 3, resp. [Ed. Leonina V, 160]: Quod pro tanto dictum sit, ne aliquis opinetur Augustinum caelum empyreum posuisse sicut nunc ponitur a modernis. Zum Hintergrund vgl. Graziella FEDERICI VESCOVINI, Il «Luci-
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um ist jener am ersten Tag geschaffene Himmel, von dem die ersten Worte der Heiligen Schrift berichten; zusammen mit den in ihm erschaffenen Engeln, der materia prima und der Zeit gehört es zu den vier erstgeschaffenen Dingen (primo creata).172 Die Eigenschaften des Empyreum leitete Bonaventura aus dem dreifachen Zweck ab, den es erfüllen sollte (ein anderer Weg steht angesichts dessen Verborgenheit nicht offen): Es ist um der Vollkommenheit des Universums willen, wegen der Bewegung des Firmaments und als Wohnung für die Seligen geschaffen.173 – Aus der perfectio universi leitete der Doctor seraphicus die bereits beschriebene, mit dem Kristallhimmel gemeinsame Einförmigkeit (uniformitas) ab. Aus kosmologischer Sicht ist dann vor allem der zweite Zweck, die Bewegung des Firmaments, interessant.174 Er bedeutet nicht, dass das Empyreum die Bewegung der unteren Sphären verursacht (die Aufgabe des primum movens ist ja bereits für die neunte Sphäre vergeben), es ist vielmehr so zu verstehen, dass es den Ort für die unteren Sphären und deren Bewegung darstellt. Dabei ist vorauszusetzen, dass „Ort“ im aristotelischen Sinn verstanden wird als das, worin sich etwas befindet.175 „An einem Ort“ zu sein, bedeutet demnach für einen Körper, in einem größe-
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dator dubitabilium astronomiae» di Pietro d’Abano. Opere scientifiche inedite. Pres. di Eugenio Garin, Padova 1988, 200f.; dort wird allerdings nicht geklärt, wer die genannten moderni sind. – Dass sich die Einschätzung der Bezeugung des Empyreum durch die Väter hier innerhalb kurzer Zeit geändert hat, zeigt etwa der Blick auf ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 2, 3 [Ed. Paris. 27, 50–52], besonders arg. 3 [Ed. Paris. 27, 51a] (Item, Sancti dicunt expresse, et haec est ratio quare ponimus ipsum) und WILHELM VON AUVERGNE, De universo I, 1, 31 [Ed. cit. I, 626a E] (an sit aliud coelum supereminens … de quo soli sapientes Christianorum loquuntur). Ebd., c. 43 [Ed. cit. I, 645b D – 646a G] führt er eine Reihe von Gründen an, quia philosophos latuit esse coeli istius. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, sc. 2; 2, 1, 2, 1, sc. 1 & resp.; 2, 1, 2, 3, resp. [II, 55b.64ab.68a]. Das Wort von den quatuor primo creata wurde von Bonaventura abwechselnd der Glosse und Beda zugeschrieben, in dieser Prägnanz ist es aber weder da, noch dort zu finden; am ehesten kann man es aus PS.-BEDA, Expositio in primum librum Mosis 1 zu Gen 1, 1 [PL 91, 189D–192D] herauslesen. Bei THOMAS VON AQUIN, S. th. I, 66, 4, resp. [Ed. Leonina V, 161] wurde dieses Diktum als communis sententia angeführt (vgl. auch ebd. I, 46, 3, resp. [Ed. Leonina IV, 483]); vgl. so weit auch Vincenzo Cherubino BIGI, La dottrina della temporalità e del tempo in San Bonaventura, in: Antonianum 39 (1964) 437–488; 40 (1965) 96–151, hier 439, Anm. 1, sowie Alessandro GHISALBERTI, La concezione del tempo in San Bonaventura, in: Alfonso Pompei (Hrsg.), San Bonaventura maestro di vita Francescana e di sapienza cristiana. Atti del Congresso internazionale per il VII centenario di San Bonaventura da Bagnoregio, Tom. I, Roma 1976, 745–755, hier 747, Anm. 7. Die Schrift des ALBERTUS MAGNUS, De IV coaequaevis behandelte genau die vier genannten Dinge, wobei sie sich ebenfalls auf die Glossa bezog; siehe tr. 1, qu. 2, prooem. [Ed. Paris. 34, 319]: dicit enim Glossa super Genesim in principio, quatuor esse coaequaeva, scilicet materiam, tempus, coelum empyreum, et angelicam naturam. II Sent. 2, 2, 1, 1, resp. [II, 71]. Man bemerkt dabei eine kleine terminologische Ungenauigkeit, denn eigentlich sollte Bonaventura hier von dem Kristallhimmel als nochmals umgreifender und ebenfalls bewegter Sphäre sprechen. Die Begriffe Ort und Leere wurden von Aristoteles vor allem in Physica IV, 1–9 [208a 27 – 217b 28] abgehandelt. Zur Definition vgl. bes. c. 2 [209a 32] (τόπος ὁ µὲν κοινός, ἐν ᾧ ἅπαντα τὰ σώµατά ἐστιν); insofern wird er als Gefäß (ἀγγεῖον) und als Umfassendes (περιέχον) verstanden
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ren, umgreifenden Körper enthalten zu sein. Da sich insbesondere jede Bewegung an einem Ort abspielt – so Bonaventura unter Bezug auf Aristoteles, Physica V, 1 [225a 31] –, kann das Empyreum als letzter umgreifender, alles andere Geschaffene verortender Körper nur unbeweglich (immobile) sein.176 So sehr Bonaventura sich einerseits bemühte, die Abgeschiedenheit des Empyreum zu betonen,177 so sehr machte er es andererseits zu einem Teil dieser Welt:178 Es ist nicht ein jenseits der letzten Sphäre gelegener, rein geistig aufzufassender, transzendenter „Raum“, sondern es ist selbst die zehnte und letzte Sphäre, d. h., es ist ein Körper, wenn auch ein sehr edler und vollkommener, und es hat, indem es rund ist, eine körperliche Gestalt.179 Auch der oben bereits beschriebene Einfluss des Empyreum auf die niederen Körper entspricht dieser Vorstellung;180 die ihm zugeschriebene einerseits belebende und andererseits bewahrende Wirkung charakterisierte Bonaventura dabei näherhin als eine verborgene (occulta) und mittelbare (mediata), d. h., das Empyreum übt seinen Einfluss nur vermittels des Einflusses der anderen Himmel aus.181 Der Franziskaner ver-
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(c. 4 [212a 29]); zur Orientierung vgl. den Artikel „topos [phys.]“ in Christoph HORN / Christof RAPP (Hrsg.), Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002, 452f. Vgl. II Sent. 2, 2, 1, 1, resp. [II, 71f.] und besonders arg. 1 [II, 70]. Im Responsum stellte Bonaventura dabei fest, dass jede Kreisbewegung nicht nur einen, sondern zwei Fix-„punkte“ benötigt: das unbewegliche Zentrum, um das herum die Bewegung stattfindet, und den umgreifenden ruhenden Ort als notwendige Bezugsgröße (… ut motus mobilis fiat circa immobile, scilicet centrum, et intra continens immobile et locans, scilicet empyreum). Im Universum sind diese festen Punkte durch die Erde und das Empyreum gegeben. – Ähnliches fand sich bei ROBERT GROSSETESTE, Hexaëmeron I, 17, 1 [ABMA 6, 77, Z. 11f.]: … motus mundi duo habet fundamenta, quieta, que sint primum celum et infima terra. Vgl. II Sent. 2, 2, 1, 1, resp. [II, 71] (quia latet nostros sensus), und ebd., qu. 2, resp. [II, 74b]: regio illa et lux est a nobis remota et occulta, sicut et ipsa gloria, quam per gratiam exspectamus et amamus et credimus, licet non videamus. Er stand mit dieser Ansicht freilich nicht alleine da, sondern drückte damit nur die communis opinio aus; sehr deutlich brachte dies die Summa Halensis II, 3, 1, 2, 2 (253), arg. 3 [Ed. cit. II, 316b] zum Ausdruck, die im Argument ausdrücklich den Satz referierte: Caelum empyreum pars est mundi, prout mundus dicitur machina mundana. Zur Gestalt: II Sent. 2, 2, 1, 1 resp. [II, 71] (sine stellis sphaericae formae) & ad 3.4 [II, 72] (quia sphaericum); II Sent. 14, 1, 2, 1 [II, 341f.] behandelte die Gestalt aller Himmel, das Empyreum wurde insbesondere in ad 4 behandelt; arg. 5 nannte die Kugelgestalt die perfectissima omnium figurarum. – Zur Körperlichkeit: II Sent. 2, 2, 1, 2, resp. [II, 74b] (cum caelum empyreum sit primum creatum inter corpora, quod est maximum mole et virtute: omnia corpora locat per ambitum et continentiam), II Sent. 2, 2, 2, 1, resp. [II, 77a] (Deus fecit unum corpus nobilissimum, quod esset natum omnia ambire, et extra quod omnino nihil esset; et hoc est empyreum). – Als zehnte Sphäre wurde es sowohl in II Sent. 14, 2, 1, 3, resp. [II, 356a] als auch in Brev. II, 3 [V, 220f.] aufgeführt. Siehe oben S. 41. Vgl. II Sent. 2, 2, 1, 2, resp. und ad 1.2 [II, 74f.], und besonders ad 4 [II, 75]: virtus caeli inferioris et influentia adiuvatur per virtutem superioris, et virtus superioris operatur mediante virtute et influentia inferioris; ideo neutrum superfluit, sed ad haec inferiora conservanda et perficienda virtus utriusque concurrit.
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suchte dabei zu zeigen, dass der Einfluss des Empyreum zwar keine andere Wirkung besitzt als der der unteren Sphären, dass er aber dennoch als Unterstützung notwendig ist. Wenn er auf diese Weise die Notwendigkeit der Annahme dieser zehnten Sphäre zu erweisen suchte, so stellt dies gewissermaßen die andere Seite der Überzeugung von der Vollkommenheit des Universums dar, denn sie impliziert auch, dass Gott nichts Überflüssiges schafft. Insgesamt räumte Bonaventura der Frage der influentia einen relativ großen Raum ein, dies erklärt sich einerseits aus der Bedeutung, die er ihr beimaß, andererseits daraus, dass Bonaventura hier die Meinung einer Minderheit vertrat. Vergleichbare andere Darstellungen verwiesen auf die Unbeweglichkeit und die Abgeschiedenheit des obersten Himmels und wiesen damit jeden möglichen Einfluss zurück.182 Der dritte der obengenannten Zwecke des Empyreum bestand darin, der Ort für die Engel und die Wohnstatt der Seligen zu sein. Diese Bestimmung macht es zunächst zu einem geistigen Raum. Die großen Theologen des 13. Jahrhunderts – Bonaventura eingeschlossen – legten aber großen Wert darauf, den obersten Himmel auch als einen Körper und einen körperlichen Ort zu verstehen.183 Man kann darin die Gegenbewegung zu einer spiritualisierenden Tendenz sehen, die das Empyreum als einen rein geistigen Himmel aufgefasst wissen wollte und die sich im 12. Jahrhundert beispielsweise bei Honorius Augustodunensis zeigte.184 Die Verbindung zwischen der körperlichen und der 182
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Vgl. GRANT, Planets, Stars and Orbs, 378–382; um nur drei Beispiele herauszugreifen: (1) Die Summa Halensis II, 3, 2, 2, 1, 1, 1, 1 (266), sol. [Ed. cit. II, 328b]: caelum, quod dicitur empyreum, est, et propter aliquam causam. Causa vero illa non est ratione continuationis in generatione et corruptione vel continuationis in esse rerum corruptibilium, sed ut compleatur universum in genere corporum … (2) ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 2, 5, sol. [Ed. Paris. 27, 54] erklärte: dicimus, quod decimum caelum non habet influentiam super nonum, quia in alio ordine positum est … (3) Thomas von Aquin hat seine Meinung in dieser Frage geändert, in II Sent. 2, 2, 3, resp. [Ed. cit. II, 77] lehnte er noch jeden Einfluss des Empyreum ab – dabei bezog er sich sehr erhellend auf Moses Maimonides: Unde dicit Rabbi Moyses, quod caelum in universo est sicut cor in animali, cujus motus si ad horam quiesceret, corporis vita finiretur. Unde cum caelum empyreum ponatur immobile, non potest rationabiliter poni influentiam super corpora habere. In S. th. I, 66, 3 (bes. ad 2) [Ed. Leonina V, 160f.] und in Quodlibet 6, 11 [Ed. Leonina XXV, 314–316] (wo er seine alte Meinung ausdrücklich widerruft), gestand er dann einen solchen Einfluss zu, eben weil das Empyreum ein Teil dieser Welt ist (ebd., resp. [Ed. Leonina XXV, 315, Z. 39–41]: si celum empyreum non influeret in corpora inferiora, celum empyreum non contineretur sub unitate universi). Vgl. GRANT, Planets, Stars and Orbs, 372f.; auch die Summa Halensis II, 3, 2, 2, 1, 1, 1, 2 (267), sc. d [Ed. cit. II, 329] fasste das Empyreum als corpus sphaeriformae auf. Thomas entschloss sich in II Sent. 2, 2, 1, resp. [Ed. cit. II, 71f.] einigermaßen zögernd, es als corpus zu bezeichnen, an anderen Stellen (z. B. S. th. I, 61, 4, resp. [Ed. Leonina V, 109]) nahm er es als selbstverständlich an. Über die Form des Empyreum hatte er sich im Sentenzenkommentar nicht ausgelassen, die Fragestellung von Quodlibet 6, 2, 2 [Ed. Leonina XXV, 297f.] (Utrum angeli possint esse in convexu caeli empyrei) legt aber nahe, dass auch er ihm eine sphärische Gestalt zuschrieb. Siehe S. 53, Anm. 161; die Spannung zwischen Geistigkeit und Körperlichkeit drückte sich etwa auch in der Glossa interlinearis zu Ps 136 (135), 5 aus; sie zitierte PETRUS LOMBARDUS, Comm. in Ps. 135, 5 [PL 191, 1196B]: Qui fecit caelos in intellectu, id est intelligibiles, scilicet empyreum: quod etsi sit corporeum, tamen tantae est tenuitatis ut a mortali videri non possit. ROBERT
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geistigen Dimension des Empyreum bestand darin, dass dessen körperliche Eigenschaften gerade die Verfassung seiner Bewohner widerspiegelten.185 Neben der durch die immobilitas gegebenen Ruhe (quies, tranquillitas) gehört dazu vor allem die ihm von alters her zugeschriebene Lichthaftigkeit, die sich mit dem Verständnis des Lichtes als forma nobilissima inter corporalia aufs Beste verbindet.186 Auf eine verbleibende Schwierigkeit dieses Konzepts hatte dabei insbesondere Alexander von Hales hingewiesen: Wieso sollten die Engel als geistige Substanzen an einen körperlichen Ort gebunden sein?187 Bonaventura nutzte diese Frage, um das Verhältnis von Ort und Verortetem (locus et locatum) näher zu bestimmen.188 Unter Bezug auf Aristoteles wollte er „Ort“ dabei auf eine dreifache Weise verstanden wissen: (1) als continens ut vas, (2) als mensurans ut quantitas und als (3) conservans ut natura.189 „Ort“ der Engel ist das Empyreum nur im ersten Sinn, ihr Maß und ihre Begrenzung dagegen empfangen sie von der Begrenztheit der eigenen Substanz und Kraft, während der „bewahrende Ort“ unmittelbar die Kraft Gottes ist. Zur Begründung verwies Bonaventura auf die Geschöpflichkeit der Engel, die Endlichkeit und damit die Bindung an ein hic et nunc bedeutet. Um diese Ordnung zu wahren, müssen auch die Engel in-
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GROSSETESTE, Hexaëmeron I, 16, 1 [ABMA 6, 73, Z. 18–20] verwendete später ebenfalls diese Erklärung. – Man mag weiter an die Auslegung von Ps 148, 4 in De ordine creaturarum (eines anonymen, schon früh Isidor von Sevilla zugeschriebenen Werkes) denken, wo der geistige Raum der Engel von dem körperlichen Bereich der Wasser über dem Himmel abgegrenzt wird. De ordine creaturarum 3, 3, in: Liber de ordine creaturarum. Un anónimo irlandés del siglo VII, ed. Manuel C. Diaz y Diaz (= Monografias de la Universidad de Santiago de Compostela 10), Salamanca 1972, hier 100: Unde ostenditur post illa spiritualia spatia, qualiacumque sunt, ubi spirituales de quibus diximus ordines conmorantur, quae caelorum caelos propheta nominat, ante hoc visibile caelum aquas illas, velut initium corporalium rerum esse constitutas. Vgl. II Sent. 2, 2, 1, 1, resp. [II, 72]: … ponendum est ipsum [scil. empyreum] luminositatis perfectae, ut habitatio congruat suo habitatori. Ebd., ad 3.4 [II, 72b]: et sicut influentia Dei movet firmamentum, sic quietat empyreum. – Ratio autem huius est, quia locus ille est regio deputata his qui omni modo in statu sunt et quiete. Ebenso II Sent. 6, dub. 2, resp. [II, 169]: … ex quadam congruitate caelum empyreum est Angelis sanctis locus conveniens et aptus, tum ex luce tum ex spatiositate, ita ut recte possit dici palatium, attestans claritati et tranquillitati et amplitudini caritatis. Vgl. II Sent. 13, 2, 2, resp. [II, 321], vgl. auch II Sent. 14, 2, 2, 2, ad 4 [II, 359]. Super Sent. II, 2, 20 [BFSMA 13, 21]; vgl. auch Summa Halensis II, 2, 1, 1, 3, 1 & 3 (101.103) [Ed. cit. II, 126f.129f.] mit den Titeln Si necesse fuit esse locum corporalem in quo crearentur angeli und Qua ratione dicatur caelum empyreum repletum angelis. In II Sent. 2, 2, 2, 1 [II, 75–77] – Man beachte dabei auch, dass Bonaventura im Gegensatz zu Thomas den Engeln zwar Materialität zugestand, dass diese aber nicht mit Körperlichkeit gleichzusetzen ist (siehe unten S. 260), von daher bietet sich also kein Ansatzpunkt, um die Frage zu lösen. Vgl. ebd. sowie I Sent. 37, 1, 1, 2, arg. 3 [I, 640] (dort wird als viertes terminans ut finis hinzugefügt), die genannten Eigenschaften des Ortes beziehen sich zurück auf ARISTOTELES, Physica IV, 4 passim [210b 32 – 212a 30].
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nerhalb des einen, alles umfassenden Körpers angesiedelt werden.190 Bonaventura zeigte hier sehr eindringlich die gegenseitige Zuordnung von körperlicher und geistiger Substanz: Während letztere von Gott die Vollkommenheit der Einfachheit (simplicitas) empfangen hat und deswegen in allem sein kann, besitzt erstere die Vollkommenheit alles zu enthalten, beides zusammen ergänzt sich zu der vollkommenen Ordnung des Universums, das so in endlicher Weise seinen Schöpfer widerspiegelt (der sowohl in allem ist, als auch alles umfängt). – Die Beziehung zwischen beiden drückt sich schließlich auch darin aus, dass sie am ersten Schöpfungstag zusammen erschaffen wurden. Der in den Worten von Gen 1, 1 mit „Himmel“ bezeichnete Raum des Empyreum wurde dabei von Anfang an als vollkommen und (deswegen) unveränderlich erschaffen; er steht so unter dem Maß der geschaffenen Ewigkeit (aeviternitas). Mit „Erde“ hingegen wird dort die erstgeschaffene Materie bezeichnet, aus der Gott im Folgenden alles Weitere bildete, und die als unvollendete und (deswegen) veränderliche von der Zeit (tempus) gemessen wird.191 Während das Empyreum als Ort der Engel hauptsächlich unter protologischen Aspekten betrachtet wird, besteht seine eschatologische Rolle vornehmlich darin, die Wohnstatt der Seligen zu sein.192 Die kosmologische Dimension der Eschatologie Bona190
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Vgl. auch II Sent. 2, 1, 2, 3, resp. [II, 68]: sed [angelica natura] ordinem existentiae non habuit nisi in aliquo continente: ergo simul factum est caelum empyreum supremum corporum, et ideo capacissimum. – In diesem Sinn konnte vom caelum empyreum gelten: est continentia visibilium et invisibilium (II Sent. 2, 2, dub. 2 [II, 85a]), wie Bonaventura (und viele andere) mit einem abgewandelten Zitat aus JOHANNES VON DAMASKUS, De fide orthodoxa II, 6 (20) [PTS 12, 50; PG 94, 880A] feststellte. Man kommt auf diese Weise wieder zu den quatuor primo creata, vgl. noch einmal II Sent. 2, 1, 2, 3, resp. [II, 68] sowie II Sent. 12, dub. 1 [II, 307ab]: quia caelum empyreum completum erat et immutabile et habebat mensurari aeviternitate cum suis contentis; materia vero illa incompleta erat et subiecta mutabilitati, tam ipsa, quam ea quae ex ipsa futura erant; et ideo debet mensurari tempore. – Die immutabilitas ist dabei zwar eine substantielle, aber keine totale, denn sonst stünde das Empyreum völlig außerhalb der Zeit. Auf den Einwand, dass das Empyreum extra tempus et locum stehe, antwortete Bonaventura in I Sent. 8, 1, 2, 2, ad 3 [I, 160f.]: … recipit variationem … ratione contenti. Potest enim aliquid continere, quod non continet, et aliquid non continere, quod continet. – Als geschöpfliche Wirklichkeit kann es auch nicht völlig unwandelbar (omnino immutabile) sein, denn es ist ja vom Nicht-Sein ins Sein getreten und kann prinzipiell auch wieder ins Nicht-Sein zurückfallen (vgl. II Sent. 8, 1, dub. 3, resp. [II, 224]). In einer am 13. Januar 1241 vom Bischof von Paris (Wilhelm von Auvergne) und dem Kanzler der Universität ausgesprochenen Verurteilung von zehn Thesen, wurde das Empyreum sogar lehramtlich als der Aufenthaltsort der verherrlichten Seelen und Körper bestimmt. Vgl. DENIFLE / CHATELAIN, Chartularium universitatis Parisiensis I, 170–172 (nr. 128). FEDERICI VESCOVINI, Il «Lucidator dubitabilium astronomiae», 200 wies allerdings darauf hin, dass die offizielle Verurteilung erst 1244 erfolgte. Bonaventura zitierte den gesamten Text in II Sent. 23, 2, 3 [II, 547], die vierte verurteilte Position lautete dabei: quod animae glorificatae non sunt in caelo empyreo cum Angelis, nec corpora glorificata erunt ibi, sed in caelo aqueo vel crystallino. Von einer entsprechenden Position (der Wasserhimmel als Aufenthaltsort der verherrlichten Seelen) berichtete Wilhelm von Auvergne auch in De universo I, 1, 43 [Ed. cit. I, 645a D – 645b A]; vgl. auch ebd. I, 1, 39 [Ed.
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venturas baut dabei auf den beiden Grundprämissen auf, dass das Ziel des gesamten Universums die Verherrlichung Gottes durch den Menschen ist und dass eine Entsprechung zwischen dem Menschen als dem Mikrokosmos und dem Universum als dem Makrokosmos besteht.193 Das bedeutet, dass mit der Vollendung des Menschen auch der gesamte Kosmos einen Vollendungszustand erreichen wird.194 Um des Menschen willen sollte so auch die körperliche Natur eine Art von Vergeltung (remuneratio) oder Lohn (praemiatio) empfangen.195 Dies geschieht allerdings nur durch eine tiefgreifende Umgestaltung, bei der die „Gestalt dieser Welt vergeht“ (1 Kor 7, 31) oder vielmehr in ihre vollendete Gestalt „hinübergeht“ (transit).196 Für den sublunaren Bereich, in dem alles aus den vier Elementen aufgebaut ist, bedeutet dies, dass das Jüngste Gericht von einem Feuer, dem „Weltenbrand“, begleitet wird, der die Grundfesten der Erde erschüttert und dabei sowohl eine reinigende Wirkung besitzt, als auch zur Erneuerung (innovatio) der
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cit. I, 634a E–H]. Ausgangspunkt dieser Position könnte AUGUSTINUS, Conf. XIII, 15, 18 [CC.SL 27, 251f.] gewesen sein, wo unter Bezug auf Ps 148, 4 die „Wasser über dem Firmament“ in enger Verbindung mit den Engelsscharen gesehen wurden; eine entsprechende Identifikation (Hoc firmamento discernit aquas superiores, id est populum angelorum …) findet man in der Glossa ordinaria [PL 113, 73B]. Die PL verwies weiter auf die anonyme Schrift De ordine creaturarum, doch dort fehlt gerade die genannte Gleichsetzung. Später (nach 1285) begegnet sie als allegorische Deutung bei Wilhelm DURANDUS VON MENDE D. Ä., Rationale divinorum officiorum VI, 81, 2 [CC.CM 140a, 400, Z. 43–46]: Opus secundi diei fuit firmamentum, quod dividit aquas superiores ab aquis inferioribus, hoc est firmamentum sacre Scripture, quod dividit aquas superiores, id est angelos … ab aquis inferioribus, id est hominibus … Für das Folgende vgl. auch Hinrich STOEVESANDT, Die letzten Dinge in der Theologie Bonaventuras (= Basler Studien zur historischen und systematischen Theologie 8), Zürich 1969, 156–167. Vgl. Brev. VII, 4 [V, 284b–285a]: quod, ut omnia sibi invicem congruant, et habitatio cum habitatore habeat harmoniam, homine bene instituto, debuit mundus iste in bono et quieto statu institui; homine labente, debuit etiam mundus iste deteriorari; homine perturbato, debuit perturbari; homine expurgato, debuit expurgari; homine innovato, debuit innovari; et homine consummato debuit quietari. Wenig später erklärte Bonaventura (ebd. [V, 285b]): mundus iste debet consummari, homine consummato. Ähnlich IV Sent. 48, 2, 1, arg. 4 [IV, 990]: habitatio debet congruere habitatori: ergo si homo, propter quem factus est mundus, est nobilior factus; ergo et totus mundus: ergo et corpora mundi nobilissima. Vgl. auch IV Sent. 43, 1, 3, arg. 3 [IV, 886]. Vgl. IV Sent. 48, 2, 1, resp. [IV, 990b]: Secundum hoc praemiatur homo … in se ipso, in corpore suo et etiam in ipso mundo, qui eius est habitaculum. Unde dico, quod corpora supercaelestia praemiari non est aliud, quam hominem praemiari in illis, quia Dominus totum mundum hominis amore faciet pulcriorem. – Vgl. auch den Schlusssatz von Brev. VII, 4 [V, 286]: et ideo in ipsius [scil. hominis] innovatione et glorificatione possunt dici omnia innovari et quaedam modo praemiari. Bonaventura bevorzugte hier das von Mt. 24, 35 und 2 Pt. 3, 10 vorgegebene „Hinübergehen“ (transire) vor dem „Vergehen“ (praeterire) aus 1 Cor. 7, 31; so in Brev. VII, 4 [V, 284b] und IV Sent. 48, 2, 3, ad 1 [IV, 993]; insbesondere für die Himmelskörper betonte er dabei non dicuntur perire, quia desinant, sed quia pulcriora efficiuntur et innovantur (IV Sent. 48, 2, 1, ad 1 [IV, 990]).
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Elemente führt.197 Die Himmelskörper waren dabei von dem Feuerbrand ausdrücklich ausgenommen,198 in diesem Bereich geschieht die Erneuerung vielmehr dadurch, dass einerseits ihr Leuchten vermehrt wird,199 andererseits ihre Bewegung zur Ruhe kommt.200 Das Empyreum schließlich als der oberste Himmel bleibt von der eschatologischen Dramatik völlig unberührt. Da es in ursprünglicher Vollkommenheit erschaffen ist, wird es „zu keinem besseren Zustand geführt, sondern besteht in seiner erhabenen Gestalt unverändert fort.“201 Nun stimmt diese Vorstellung des über allem in vollkommener Ruhe verbleibenden Empyreum sicherlich sehr gut mit dem status perfectus und der Ruhe der dort wohnenden Seligen zusammen, und doch entsteht dabei gewissermaßen als Seiteneffekt ein ganz besonderes Problem, denn im Grunde konterkariert Bonaventura damit sein eigenes Prinzip, dass die Erneuerung des Kosmos auf den Menschen ausgerichtet ist und um seinetwillen geschieht. Die Situation sieht ja tatsächlich so aus, dass der Teil des Kosmos der die innovatio erfährt, ja gar nicht mehr die Wohnstatt der Seligen ist, während umgekehrt die eigentliche Wohnstätte, das Empyreum, gar keine Erneuerung erfährt (und auch nicht erfahren kann), der Sinn der innovatio 197
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Vgl. IV Sent. 47, 2, 1–4; 48, 2, 1–4 [IV, 975–980.989–995] sowie Brev. VII, 4 [V, 284–286]. – Dabei geht es nicht um eine destructio totalis, sondern per actionem illius ignis … consummentur vegetabilia et animalia, purgabuntur et innovabuntur elementa … ut sic … fiat quodam modo innovatio et praemiatio corporum mundanorum (Brev. VII, 4 [V, 284b]). Wie oben (S. 37, Anm. 85) bereits gesagt, bedeutet die Erneuerung der Elemente dabei, dass ihre Substanz erhalten bleibt, aber sowohl ihre aktiven Qualitäten (die ratio agendi et se multiplicandi) wie auch ihre Vergänglichkeit (die ratio corruptionis) aufgehoben werden (IV Sent. 48, 2, 3, resp. [IV, 993b]); vgl. auch Brev. VII, 4 [V, 285b] sowie IV Sent. 47, 2, 3, resp. [IV, 979a]. IV Sent. 47, 2, 3, resp. [IV, 979a]: Dicendum, quod, ille ignis ascendet tantum, quantum durant corpora consumtibilia et passibilia; et quia « corpora caelestia non sunt receptibilia alienae impressionis», dico, quod quantum durat spatium continens elementa, ascendet flamma et ulterius non procedet. IV Sent. 48, 2, 1, resp. [IV, 990b]: [Corpora supercaelestia] praemiantur, secundum quam sunt consona corporibus gloriosis; haec autem est lux: et ideo in luce et splendore augebuntur et crescent. – Im himmlischen Bereich geschieht die innovatio also nicht auch durch Entfernung und Vernichtung (abiectio) des Unvollkommenen, sondern nur durch Hinzufügung und Verbesserung (additio et melioratio), vgl. IV Sent. 47, 2, 4, ad 3 [IV, 979]. Insbesondere werden Sonne und Mond dann an einem festen Ort stehen, vgl. hierzu IV Sent. 48, 2, 2, resp. [IV, 992]: Quoniam igitur motus corporum caelestium ordinatur ad complendum numerum electorum; et illum necesse est compleri: ideo et motum terminari, quamvis per naturam non habeat terminum intra de se. Vgl. auch II Sent. 2, 2, 1, 1, resp. [II, 72b] und Brev. IV, 4 [V, 284b]. Dahinter steht auch das (bereits für das Empyreum angewandte) Axiom nobilior dispositio est quies quam motus; quod patet in Deo (IV Sent. 48, 2, 2, arg. 3 [IV, 991]). II Sent. 2, 2, 1, 2, resp. [II, 74b]: nec melioratur, sed uniformiter in sua dignitate subsistit (Bonaventura referierte hier zwar eine fremde Meinung, doch in diesem Punkt der Argumentation dürfte er ihr zustimmen). Umgekehrt verfinstert sich das Empyreum während des Jüngsten Gerichtes auch nicht wie die anderen Himmelslichter (vgl. III Sent. 22, dub. 1 [III, 464]). – Ähnliches sagte ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 2, 5, sol. [Ed. Paris. 27, 54]: Et haec est etiam causa (ut puto) quare non innovabitur in die judicii, … quia status ille non crescit nec emendatur, nisi forte in praemio accidentali, non substantiali.
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mag von daher nicht recht einleuchten. Bonaventura selbst hatte diese Schwierigkeit zwar durchaus erkannt, er bot aber nicht viel mehr als eine Verlegenheitslösung dazu an: Zur vollkommenen Herrlichkeit eines königlichen Palastes gehört eben auch eine schöne Küche, selbst wenn der König selbst sie nie betritt.202 – Das mit viel Akribie dargestellte kosmologische Szenario erweist sich so im Letzten als ein mehr oder weniger unbedeutender Nebenschauplatz des eschatologischen Geschehens. Stoevesandt kritisierte hier zu Recht dass Bonaventuras Eschatologie im Grunde „eher zu akosmistisch als zu kosmologisch“ ist.203 Das caelum empyreum ist nicht nur der Ort für die Engel, es ist auch die „Wohnstatt der Seligen“. Für Bonaventura bedeutete das, dass es bereits in dieser Zeit – das heißt seit Christus die Tore des Himmels geöffnet hat bis zum Jüngsten Gericht – die Seelen der Verstorbenen aufnimmt;204 freilich nicht aller Verstorbenen, sondern nur derer, die gemäß ihrer Verdienste (merita bona) würdig sind, an den Ort der Ruhe und des ewigen Lebens zu gelangen,205 der nichts anderes als das himmlische Paradies ist.206 In diesem Himmel befinden sich neben den Engeln und den Heiligen insbesondere Christus gemäß seiner menschlichen Natur und die Jungfrau Maria.207 Die Seligkeit, die dort genossen wird, besteht in der Schau (visio), der Liebe (dilectio) und dem Genuss (fruitio)
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IV Sent. 48, dub. 6, resp. [IV, 997b]: Sicut enim gloria est regi habere plurimas cameras in palatio et pulcram coquinam, quamvis non ingrediatur; sic electis erit gloria et honor, quod non solum aula paradisi et caelum empyreum sit pulcrum, sed etiam, quod caelum sidereum et antiquum habitaculum. STOEVESANDT, Die letzten Dinge, 166, Anm. 38. Vgl. IV Sent. 45, 1, 2, resp. [IV, 941f.] (Utrum animae post adventum Christi habeant receptacula sive loca determinata); ferner IV Sent. 21, 1, 3, 2 [IV, 557f.] (Utrum aliquis Sanctorum evolet in caelum ante iudicium); III Sent. 22, 1, 6 [III, 463f.] (Utrum Christus statim post mortem introduxerit animas liberatas in caelum). – Zum Jüngsten Gericht werden die Seelen dabei das Empyreum noch einmal verlassen, um ihren vollen Lohn, d. h. den verherrlichten Leib, zu erhalten (vgl. IV Sent. 45, 1, 3, resp. [IV, 942]). Vgl. II Sent. 14, 2, 1, 3, resp. [II, 356a]: … decimam sphaeram, in qua est quies et vita sempiterna, videlicet caelum empyreum. IV Sent. 45, 1, 2, resp. [IV, 941b]: … et sic est paradisus et locus caelestis. – Die mit Sünde belasteten Seelen werden entsprechend in der Hölle (infernum), im Limbus, im Schoß Abrahams oder im Reinigungsort (locus purgationis, purgatorium) aufgenommen. Letzteren hatte Bonaventura bereits ausführlich im Rahmen der Lehre von der Buße behandelt (IV Sent. 21, 1, 2–3 [IV, 550–558]). II Sent. 2, 2, dub. 2, resp. [II, 85b]: [Christus secundum humanam naturam] in empyreo ceteros excellit, tam Angelos quam homines, et loco et dignitate. Post ipsum credimus beatam Virginem super omnes alios; deinde ceteri ordinantur secundum dignitatem meritorum. – In typisch scholastischem Eifer machte er sich dabei im Folgenden auch Gedanken über die räumliche Anordnung der Heiligen im Empyreum (vgl. ähnlich auch II Sent. 14, 1, 2, 1, ad 4 [II, 342]). – Dass Christus in seiner menschlichen Natur im Empyreum weilt, findet man z. B. auch in der Summa Halensis II, 3, 2, 2, 1, 1, 1, 4 (269) [Ed. cit. II, 330a] oder bei VINZENZ VON BEAUVAIS, Speculum naturale III, 86 [Ed. cit. I, 219].
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Gottes.208 Dabei ist allerdings zu betonen, dass diese geistigen „Akte der Herrlichkeit“ nicht von dem Ort, an dem sich die Seligen befinden, abhängen,209 sondern es gilt vielmehr umgekehrt: Aufgrund ihrer Herrlichkeit befinden sie sich an einem diesem Zustand angemessenen Ort, und dies ist eben das Empyreum wegen seiner oben dargestellten Eigenschaften der Weite, der Ruhe, der Lichthaftigkeit.210 Gleich Dante Aligheri in seiner Divina commedia haben wir damit die körperlichen Himmel abgeschritten. Im Rahmen einer Darstellung der Kosmologie Bonaventuras könnte man es dabei sicherlich bewenden lassen, aber man hätte doch das Gefühl, dass dieser noch etwas fehlt. Allen bis hierher behandelten zehn Sphären war gemeinsam, dass sie auch als „Himmel“ bezeichnet werden konnten, und zwar (wie zu Anfang definiert) im Sinn einer durchsichtigen, umgreifenden und der Gegensätzlichkeit enthobenen Natur.211 Diese Definition geht von den physischen Eigenschaften der betrachteten Körper aus. Doch spätestens bei der Betrachtung des Empyreum sollte deutlich geworden sein, dass „Himmel“ auch eine über bloße Körperlichkeit hinausweisende Dimension besitzt: Das Verständnis des Empyreum als Ort der Seligkeit, schlägt die Brücke zu einem anderen, nicht mehr körperlichen Verständnis von Himmel, das darin zum Ausdruck kommt, dass Bonaventura mit der Tradition auch den dreieinigen Gott selbst als Himmel, als caelum Trinitatis bezeichnete.212 Was Honorius Augustodunensis bereits für das Empyreum reklamierte, nämlich ein geistiger Himmel (caelum spirituale) zu sein, das ist hier im Vollsinn erfüllt, denn Gott hat keinen Ort.213 Insofern ist durchaus 208 209
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Vgl. IV Sent. 49, 1, 1, 5, resp. [IV, 1009a]. Dies betonte insbesondere IV Sent. 45, 1, 3, resp. [IV, 942]: Rursus, poena dependet a loco, et gloria non, quia est a Deo, qui ubique est; sowie ebd., sc. 4 [IV, 942]: anima ubique potest aequaliter frui Deo: ergo si beatitudo est fruitio, potest beata anima ire quo vult. – Daran mag es auch liegen, dass Bonaventura die Bezeichnung des Empyreum als locus contemplationis kaum gebrauchte (nur II Sent. 2, 2, 2, 1, arg. 4 [II, 75]: locus maxime aptus contemplationi est empyreum); Thomas von Aquin verwendete diesen Ausdruck des Öfteren (I Sent. 37; 3, 2, arg. 3 & ad 3 [Ed. cit. I, 873. 875]; II Sent. 2, 2, 1, arg. 2 & ad 2 [Ed. cit. II, 70.72]; S. th. I, 66, 3, arg. 3 & ad 3 [Ed. Leonina V, 160.161]), allerdings nie ohne seinerseits darauf hinzuweisen, dass diese Sprechweise nicht im Sinn einer notwendigen Verbindung, sondern nur per congruentiam so verstanden werden darf (wie man die Kirche den Ort des Gebetes nennen kann). Vgl. S. 59, insbesondere Anm. 185 (Schluss). Siehe oben S. 38 mit Anm. 86. Vgl. II Sent. 2, 2, dub. 2, resp. [II, 85a]: Et quia haec triplex proprietas reperitur in celsitudine divinitatis, ideo ipsa dicitur caelum. Weiter hinten [II, 86b] wird die auch an anderer Stelle (siehe oben S. 45 mit Anm. 127) verwendete, Beda zugeschriebene Aufzählung von sieben Himmeln angeführt, die mit dem caelum Trinitatis endete; Ähnliches findet man in III Sent. 22, dub. 4 [III, 465]. – ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 2, 7f. [Ed. Paris. 27, 56–58] widmete der Frage nach dem caelum Trinitatis sogar zwei eigene Quaestionen. Er betonte darin unter anderem, dass zwar Gott und caelum Trinitatis real identisch sind, dass hier aber eine je andere Bezeichnungsweise (modus significandi) vorliegt (ebd., a. 8, ad 1 [Ed. Paris. 27, 58]). II Sent. 2, 2, dub. 2 [II, 85f.] bezeichnete den Himmel der Dreifaltigkeit mehrmals als caelum spirituale, und in I Sent. 37, 2, 1, 1–3 [I, 652–656] wurde gezeigt, dass Gott keinen Ort hat (obwohl er in gewisser Weise an einem Ort sein kann).
Texte und Kontexte
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ernst zu nehmen, dass hier in einem anderen, weiteren Sinn von Himmel gesprochen wird,214 genauso wie umgekehrt Gott in seiner Gottheit auch nicht eigentlich in dem weiten, aber doch endlichen Raum des Empyreum wohnt.215 Bonaventura beabsichtigte mit dieser Redeweise also keineswegs, die Transzendenz Gottes aufzuheben.216 Was für ihn die Bezeichnung „Himmel“ schließlich doch rechtfertigt, ist eine gewisse Analogie zu den Eigenschaften des Empyreum, ein umgreifender, abgeschiedener und ruhiger (contentivum, secretum et quietum) Raum zu sein:217 Auf Gott treffen diese Aussagen in eminenter Weise zu, denn er ist ampla immensitate virtutis, secreta profunditate cognitionis, quieta tranquillitate delectationis.218 Man geht hier sicher nicht fehl, darin zunächst die Abwandlung der von Bonaventura gern gebrauchten Appropriationenreihe potentia, sapientia, bonitas zu erkennen.219 Doch es geht nicht nur um eine Beschreibung, wie Gott in sich ist, diese Eigenschaften weisen des weiteren darauf hin, dass Gott selbst (und nur er) der Ort der Seligkeit für den Menschen ist.220 Insbesondere die erste Eigenschaft des Umfassens (contentivus) – die außerdem den beiden Definitionen von „Himmel“ gemeinsam ist – weist dabei auf Gott als die letzte, alles umgreifende Realität hin, so dass „Himmel“ in diesem besonderen Verständnis letztlich nichts ande-
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In diesem Sinn heißt es II Sent. 2, 2, dub. 2, resp. [II, 85a]: caelum est nomen impositum corpori secundum suam primam impositionem. – Thomas von Aquin wies noch deutlicher als Bonaventura darauf hin, dass hier nur metaphorisch von „Himmel“ gesprochen werden kann (II Sent. 14, 1, 4, ad 1 [Ed. cit. II, 356]: caelum sanctae Trinitatis nominatur metaphorice ipsa celsitudo divinae Majestatis, et transumptiva similitudine). Nur bei einem endlichen Raum ist es z. B. sinnvoll, von Höhe zu sprechen (II Sent. 2, 2, dub. 2, resp. [II, 85b]). Insofern würde Bonaventura auch der Darstellung aus Apians Cosmographia (Abbildung 1, S. 37), in der der Raum jenseits der zehnten Sphäre mit caelum empireum, habitaculum Dei et omnium electorum bezeichnet ist, nicht ohne weiteres zustimmen. Ausgangspunkt der Frage in III Sent. 22, dub. 4 [III, 465] war gerade, was unter jenem Himmel zu verstehen sei, in den keiner hinaufstieg, außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist (vgl. Joh 3, 13), entsprechend wurde der Versuch Luzifers, in diesen Himmel hinaufzusteigen (Jes 14, 12f., vgl. auch den Anfang von II Sent. 2, 2, dub. 2 [II, 85a]), verstanden als die Anmaßung, Gott gleich sein zu wollen. Anders gesagt gilt mit II Sent. 2, 2, dub. 2, resp. [II, 85b]: In hoc autem caelo sunt solum tres personae, scilicet Pater et Filius et Spiritus sanctus … Omnia autem creata, sive corporalia sive spiritualia, intra empyreum sunt. Auch ALBERTUS MAGNUS, II Sent. 2, 7, sol. [Ed. Paris. 27, 57], verwies auf die entsprechenden Eigenschaften des Himmels: celsitudo (loci et dignitatis), continentia sowie quies et delectatio. II Sent. 2, 2, dub. 2, resp. [II, 85ab]. Vgl. nur etwa Brev. I, 6; II, 2.10; III, 11; IV, 1 [V, 215b.220a.228ab.240a.241a] oder Itin. I, 10– 14; III, 6 [V, 298f.305b]; in Brev. I, 6 [V, 215a] tritt auch die ähnliche Reihe omnipotentia, omniscientia, benevolentia auf. So wie Gott auch der „Ort“ der Engel genannt werden konnte (II Sent. 2, 2, 2, 1, ad 2 [II, 77]: Quod obiicitur, quod locus Angeli et animae Deus est; dicendum quod intelligit de loco conservante …). Hierin mag man schließlich auch den letzten Grund erkennen, warum das Empyreum nur „beiläufig“ (per congruitatem) mit der Seligkeit verbunden wurde: Gott allein ist der eigentliche Ort der Seligkeit.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
res bedeutet als „das Woher der Schöpfungsoffenbarung Gottes und das Woraufhin der Vollendung des Universums“.221 Versucht man das zur Kosmologie Bonaventuras Gesagte noch einmal kurz zusammenzufassen, so wird man auf folgende Kernpunkte hinweisen: Das Grundmodell, von dem der Doctor seraphicus ausgeht, ist die aristotelische Kosmologie mit ihren Leitgedanken des Aufbaus der Welt in konzentrischen Sphären und der strikten Trennung des sub- und supralunaren Bereichs. Die Erweiterungen und Modifikationen, die Bonaventura daran vornahm, sollten der Offenbarung Rechnung tragen, deren Verständnis das eigentliche Ziel Bonaventuras war (das aristotelische Weltbild hat in diesem Sinn nur den Rang eines Mittels zum Zweck). Dies gilt für das Firmament, das er sich (wegen Gen 1, 14) als einen einzigen zusammenhängenden Körper vorstellte, in dem sich die sieben Planetensphären befinden; es gilt für das caelum crystallinum, das zur Erklärung der Wasser oberhalb des Himmelsgewölbes (Gen 1, 7) eingeführt worden war und das als sternlose, unsichtbare Sphäre die Rolle des primum mobile innehat und für die tägliche Drehung des gestirnten Himmels verantwortlich ist. Und es gilt in besonderem Maße für das caelum empyreum, das als äußerste, aber immer noch körperlich vorgestellte Sphäre, die gesamte sichtbare und unsichtbare Schöpfung umfasst. Als abgeschiedener, ganz lichterfüllter Raum ist es der Ort für die Engel und das himmlische Paradies, in dem die Seligen wohnen. Das von dem Doctor seraphicus gezeichnete Bild des Universums hat dabei keine revolutionären Züge, zu weiten Teilen sind es dieselben Vorstellungen, die Albert der Große zuvor bereits in seinem Sentenzenkommentar vorgetragen hatte und die wenig später auch Thomas von Aquin übernehmen sollte. Der einzig nennenswerte Punkt, in dem Bonaventura sich von Albert entfernte, war die Frage nach dem Einfluss (influentia) des Empyreum auf den irdischen Bereich: Während Albert jeglichen Einfluss leugnete, gestand ihm der Franziskaner eine verborgene und mittelbare Einwirkung zu. Das strikt hierarchisch geordnete Universum weist dabei in seinen verschiedenen „Bereichen“ einen je unterschiedlichen Bezug zur Zeitlichkeit auf: angefangen bei der vollständig der Zeit enthobenen, einzig im strengen Sinn ewig zu nennenden Dreifaltigkeit, dem caelum Trinitatis, über das von der aeviternitas gemessene, unbewegliche, von der innovatio am Ende der Zeiten ausgenommene Empyreum und die bewegten, aber unvergänglichen neun unteren Sphären bis hinunter schließlich zum irdischen Bereich des Werdens und Vergehens, der ganz unter dem Maß der Zeit steht. Wenn man will, kann man in diesem abgestuften Modell der Zeitlichkeit die Variation und Verfeinerung eines aristotelischen Gedankens erkennen,222 um so wichtiger erscheint es also, den Zusammenhang von bonaventurianischem und aristotelischem Denken zuvor noch aus einer allgemeineren Perspektive zu betrachten. 221 222
Nikolaus WICKI, Himmel, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München 1991, 22f., hier 23. Vgl. unten ab S. 107 zur Stufenontologie des Stagiriten.
Texte und Kontexte
2.2.2
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Aristotelesrezeption und Aristotelismus im 13. Jahrhundert
Die Wiederentdeckung des Corpus Aristotelicum in seiner Gesamtheit ist für die westeuropäische Wissenschaftsgeschichte des 13. Jahrhundertssicherlich einer der bedeutendsten Einflussfaktoren. Im Folgenden soll es darum gehen, einige grundlegende Stationen dieses Prozesses nachzuzeichnen und deren Bedeutung für das Denken Bonaventuras aufzuzeigen. 2.2.2.1
Aristotelesübersetzungen und -kommentare
Im 12. und 13. Jahrhundert entstanden schrittweise lateinische Übersetzungen der einzelnen Werke des Aristoteles. Diese Übersetzungstätigkeit bildet vielleicht die beste Handhabe, um den Rezeptionsprozess insgesamt zu veranschaulichen, stellen doch die Übersetzungen die Grundlage für die Kenntnis und für die tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Stagiriten dar.223 Seit dem Ausgang der Antike waren die Kategorien (Categoriae, Praedicamenta) und die Hermeneutik (De interpretatione) in der Übersetzung des Boethius fester Bestandteil des Logikstudiums; etwa bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts beschränkte sich die Kenntnis des Corpus Aristotelicum im lateinischen Westen im Wesentlichen auf diese Werke.224 Es ist – so weit ich sehe – nicht ganz geklärt, unter welchen Umständen zu dieser Zeit dann die ersten weiteren Übersetzungen angefertigt wurden.225 Eine Schlüsselfigur in dieser Frühphase war die nicht ganz greifbare Gestalt des Jakob von Venedig, auf den sehr wahrscheinlich die Übersetzungen der II. Analytik (Analytica posteriora), eines Fragments Über die sophistischen Widerlegungsschlüsse (De sophisticis elenchis) sowie alte Übersetzungen der Physik, eines Teils der Metaphysik, Über die Seele (De anima) und einzelner Schriften aus den Parva naturalia zurückgehen.226
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225 226
Für das Folgende vgl. vor allem die gelungene Zusammenfassung bei David LUSCOMBE, Medieval thought (= A History of Western Philosophy 2), Oxford – New York 1997, 61–73; unter dem Aspekt eines neuen Wissenschaftsbegriffs vgl. Ulrich G. LEINSLE, Einführung in die scholastische Theologie (= Uni-Taschenbücher 1865), Paderborn u. a. 1995, 121–137. Dies ist cum grano salis zu verstehen; Dietrich BRIESEMEISTER, Aristoteles. C. Übersetzungen, Rezeption in den volkssprachlichen Literaturen, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München 1980, 942–945, hier 942, erwähnte erste lateinische Übertragungsversuche im normannischen Italien, die auf das Ende des 11. Jahrhunderts zurückgehen. Ferner hatte Boethius das komplette Organon ins Lateinische übertragen, die (inzwischen verlorene) Übersetzung der Analytica posteriora war im 12. Jahrhundert noch teilweise bekannt; vgl. hierzu Joachim GRUBER, Boethius, Anicius Manlius Severinus. I. Leben und Werke, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, München 1983, 308–312, bes. 310. Vgl. LUSCOMBE, Medieval thought, 61. Siehe Fernand BOSSIER / Jozef BRAMS, Préface. La translatio vetus de la Physique, in: Aristoteles latinus, Vol. VII.1.2, VII.2: Physica, Translatio Vetus – Physica, Translatio Vaticana, Leiden – New York 21990, IX–CIX, hier XV.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Hatte Jakob von Venedig seine Übersetzungen über Verbindungen an den byzantinischen Hof noch unmittelbar aus dem Griechischen angefertigt, so rekurrierten die nachfolgenden Übersetzer aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in der Regel auf arabische Vorlagen. Herausragende Gestalten waren hier zum einen Gerhard von Cremona, der am Hof des Erzbischofs Raimund von Toledo vorhandene arabisch-lateinische Übersetzungen revidierte (Analytica posteriora und physikalische Schriften),227 zum anderen Michael Scotus, zunächst ebenfalls in Toledo, ab 1220 im Umkreis Friedrichs II. in Bologna (vor allem die naturkundlichen Schriften).228 Die wiederum auf die griechischen Vorlagen zurückgreifenden Überarbeitungen und Neuübersetzungen des Dominikaners Wilhelm von Moerbeke, die fast das ganze aristotelische Œuvre und etliche antike Kommentare (Alexander von Aphrodisias, Themistios, Johannes Philoponus, Simplikios) umfassen, stellten einen gewissen Abschluss des mittelalterlichen Übersetzungsprozesses dar.229 Der Kontakt mit der arabischen Gelehrtenwelt, der unter anderem durch die fortschreitende Reconquista der Iberischen Halbinsel gefördert wurde, brachte es mit sich, dass nicht nur die aristotelischen Texte übertragen wurden, sondern zusammen mit ihnen auch die muslimischen Kommentare. An erster Stelle sind hier die Namen von Avicenna (Ibn Sīnā) und Averroes (Ibn Rušd) zu nennen. Ein Großteil der Werke des Arztes und Philosophen Avicenna wurde um 1160 in Toledo ins Lateinische übersetzt, unter anderem sein Hauptwerk, das Kitāb al-Šifāʾ (Buch der Heilung), das eine Synthese aus Logik, Naturphilosophie und Metaphysik darstellt, und verschiedene Kommentare zu aristotelischen Schriften (u. a. De philosophia prima, De anima, De generatione et corruptione).230 Sein philosophisches System verband aristotelische und neuplatonische Elemente (v. a. plotinische), was dadurch begünstigt wurde, dass zu seiner Zeit im arabischen Raum die Theologia Aristotelis und der bekannte Liber de causis, zwei neuplatonische Schriften, zum Corpus Aristotelicum gerechnet wurden. Die Lehre von der Entstehung der Intelligenzen kollidierte dabei sowohl mit dem islamischen wie mit dem christlichen Schöpfungsbegriff: Gott als notwendiges Sein und erste Ursache 227 228 229
230
Vgl. Egbert MEYER, Gerhard von Cremona, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München 1989, 1317f. Vgl. Silke ACKERMANN, Michael Scotus, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München 1993, 606f. Vgl. GEORG WIELAND, Aristoteles, Aristotelismus. III–IV, in: Walter Kasper u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, Freiburg u. a. 31993, 977–979, hier 978; Marc-Aeilko ARIS, Wilhelm von Moerbeke, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 9, München 1998, 175–176. Die von Dominicus Gundissalinus (Gundisalvi) übersetzte Paraphrase zu Aristoteles’ De caelo stammt von einem unbekannten Autor (in der Tradition von Ḥunayn Ibn Isḥāq); vgl. PS.-AVICENNA, Liber Celi et Mundi, ed. by Oliver Gutman (= Aristoteles Semitico-Latinus 14), Leiden 2003, xiii–xvii, bes. xvii. Für das Folgende vgl. LUSCOMBE, Medieval thought, 63f.; Simone van RIET, Avicenna, in: Walter Kasper u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, Freiburg u. a. 3 1993, 1314f.; STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 39f.
Texte und Kontexte
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bringt von Ewigkeit her eine einzige Wirkung hervor, die erste Intelligenz. Aus ihr emanieren die zweite Intelligenz und die erste Himmelssphäre. Dieser Prozess setzt sich bis zur zehnten, der letzten der getrennten Intelligenzen fort. Als dator formarum ist sie das unmittelbare Prinzip der menschlichen Seelen und der sublunaren Welt. Sie ist auch der eine, überindividuelle und allgemeine intellectus agens, von dem die menschliche Vernunft als intellectus possibilis erleuchtet werden kann. Averroes, der seit den 1240’er Jahren im lateinischen Westen als der Commentator schlechthin galt, hat das Corpus Aristotelicum insgesamt drei Mal kommentiert (kleiner, mittlerer und großer Kommentar, letzterer wurde etwa in den Jahren 1220–1224231 durch Michael Scotus ins Lateinische übersetzt).232 Seine Aristotelesinterpretation ist in vielen Punkten deutlich authentischer als die Avicennas, insbesondere bedeutete sie eine Abkehr von dessen neuplatonischen Einträgen. Seine Kosmologie kennt einen ersten Beweger, der zugleich Allursache ist (freilich nicht als physisches Agens), insbesondere ergibt sich daraus, dass das geschaffene Universum ewig ist. Die Vorsehung und die Erkenntnis Gottes richten sich nur auf das Allgemeine (Gattungen, Arten), nicht aber auf das Individuum. Zum Streitpunkt wurde im 13. Jahrhundert auch seine zum Teil unter dem Schlagwort „Monopsychismus“ abgehandelte Seelen- und Intellektlehre. Er vertrat hier nicht nur die Einheit und Einzigkeit des intellectus agens, für ihn hat auch „der passive Intellekt … keinen persönlichen Charakter: Er ist eine ausschließlich körperliche Tätigkeit, Formen aufzunehmen; er vergeht mit dem Körper.“233 – Diese besondere Interpretation des Liber de anima, die etwa von Siger von Brabant aufgenommen und (u. a.) von Albertus Magnus und Thomas von Aquin bekämpft wurde, spielte in den Auseinandersetzungen der 1260’er und 1270’er Jahre um den heterodoxen Aristotelismus eine wichtige Rolle,234 die anfängliche Hochschätzung des Averroes235 wurde dabei revidiert. Die von Bischof Étienne Tempier ausgesprochenen Verurteilungen von 1270 und 1277, die auch die als „averroistisch“ geltenden Thesen von der Einheit des Intel231
232 233
234
235
Vgl. Gudrun VUILLEMIN-DIEM, Metaphysica lib. I–XIV. Recensio et Translatio Guillelmi de Moerbeka. Praefatio (= Aristoteles latinus XXV.3.1), Leiden u. a. 1995, 7; HÖDL, Averroes, Averroismus, 1292 datierte die Übersetzung etwas später (etwa 1230). Für das Folgende vgl. HÖDL, Averroes, Averroismus; STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 40–43. Georges C. ANAWATI, Averroes, Averrroismus. I. Averroes. Leben, Werke und Lehre, in: RobertHenri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München 1980, 1291f., hier 1292; Nach BAZÁN, Radical Aristotelianism, 591 war diese Lehre von der Einheit des intellectus possibilis ein Spezifikum der Lehre des Averroes. Zur Deutung Sigers: STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 353; die entsprechenden Schriften waren ALBERTUS MAGNUS, De unitate intellectus (contra Averroem) (um 1267) und THOMAS VON AQUIN, De unitate intellectus contra Averroistas (1270), auch der Dominikaner Robert Kilwardby und der Franziskaner Johannes Peckham griffen diese Position als auf Averroes zurückgehende an. Auch Bonaventura präsentierte 1273 in Hex. I, 3 (6), 4 [V, 361 – nicht in Reportatio A] den Irrtum über die Einheit des intellectus als Aristoteli secundum Commentatorem. Vgl. HÖDL, Averroes, Averroismus, 1293; er verwies auf Alberts Kommentar zu De anima III, 3, 11 [Ed. Colon. VII.1, 221]: nos autem in paucis dissentimus ab Averroe.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
lekts, der Ewigkeit der Welt und der umfassenden Determination des Weltgeschehens (Nezessitarismus) betrafen,236 taten dabei ein Übriges. Umgekehrt wurde dadurch eine gewisse Avicenna-Renaissance begünstigt.237 Was hier für den De-anima-Kommentar von Averroes kurz aufgezeigt wurde, gilt entsprechend für seinen Physik-Kommentar: Er löste Debatten über die Natur der Bewegung, die außerseelische Realität von Zeit und Zahl und die Definition des Ortes aus.238 Averroes und Avicenna übten sicherlich den größten Einfluss auf die Aristotelesrezeption des lateinischen Westens aus, sie sind aber keineswegs die Einzigen. Namentlich seien hier genannt: (1) al-Kindī (Alkindus),239 genannt der „Philosoph der Araber“, der erste große islamische Philosoph, der in der Auseinandersetzung mit Aristoteles u. a. die Creatio ex nihilo und die Nicht-Ewigkeit der Welt vertrat; (2) al-Fārābī (Alfarabius),240 genannt der „zweite Lehrer“ (nach Aristoteles), der neben eigenen Schriften auch Bearbeitungen und Kommentare zu aristotelischen Werken hinterlassen hat. Indirekt wirkte er auch über Avicenna, von dem er sehr geschätzt wurde; wie dieser vertrat er eine stark neuplatonisch geprägte Metaphysik, das von ihm vorgestellte Emanationsschema beruhte auf dem Prinzip Ex uno non fit nisi unum; schließlich (3) al-Ġhazzālī (Algazel),241 von dem eine ins Lateinische übersetzte Zusammenfassung der Philosophie al-Fārābīs und Avicennas überliefert ist. Immer noch viel zu wenig untersucht ist der Beitrag jüdischer (vor allem sephardischer) Gelehrter zur Aristotelesrezeption im 13. Jahrhundert. Während es auf der islamischen Seite vor allem Aristotelesübersetzungen (oder Paraphrasen) und Kommentare waren, von denen entsprechende Impulse ausgingen, hat man es hier mit einer indirekteren, sekundären Form des Einflusses zu tun, indem aristotelisches Gedankengut schrittweise in die jüdische Philosophie übernommen wurde und von da aus im lateinischen Westen weiterwirkte.242 Eine wichtige Gestalt war hier der jüdische Dichter und Philosoph Avicebron (Ibn Gabirol).243 Ein Leitgedanke seines nur in lateinischer Über236
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Der Irrtum über die Einheit des Intellekts (z. B.) war die erste der am 10.12.1270 inkriminierten Thesen, in der Verurteilung vom 7. März 1277 findet man sie als nr. 32, siehe DENIFLE / CHATELAIN, Chartularium universitatis Parisiensis I, 487.545. Vgl. LEINSLE, Einführung, 127. Vgl. LUSCOMBE, Medieval thought, 65. Vgl. Georges C. ANAWATI, Al-Kindī, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München 1991, 1155f. Vgl. Hans DAIBER, Alfārābī, in: Walter Kasper u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, Freiburg u. a. 31993, 383; Max HAAS / Georges C. ANAWATI, al-Fārābī, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München 1989, 284f. Vgl. Helmut HUNDSBICHLER, al-Ġhazzālī, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München 1989, 1152f. Vgl. Hermann GREIVE, Aristoteles. III. Judentum, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München 1980, 936. Vgl. HANS DAIBER, Avicebron, in: Walter Kasper u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, Freiburg u. a. 31993, 1313f.; ROLF P. SCHMITZ, Gabirol, Salomo ben Jehuda ibn, in: RobertHenri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München 1989, 1072f.
Texte und Kontexte
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setzung vollständig erhaltenen Hauptwerks Fons vitae ist der universale Hylemorphismus, auch wenn seine Philosophie insgesamt noch vom Neuplatonismus bestimmt war. Vermittelt durch Dominicus Gundissalinus und von da über Alexander von Hales und Wilhelm von Auvergne mögen seine Gedanken von der materia spiritualis, der Mehrheit der forma substantialis sowie der Bedeutung der forma lucis auch auf Bonaventura nachgewirkt haben.244 Die Bewunderung des Maimonides (Rabbi Mose ben Maimon) für Aristoteles kannte kaum Grenzen, der Stagirite war für ihn „ein Mann mit göttlichen Eigenschaften. Seine Geisteskraft ist von einer höheren Art“.245 In seinem Führer der Unschlüssigen (Dalālat al-hāʾirīn) versuchte er „biblisch-talmudische Begriffe und Inhalte mit der mittlerweile bekanntgewordenen aristotelischen Philosophie zu harmonisieren.“246 Aufgrund der Verwendung eines Prinzips der bewussten Widersprüchlichkeit ist die Position des Maimonides oft nur sehr schwer zu bestimmen, etwa in der Frage nach der Ewigkeit der Welt.247 Dennoch entfaltete er eine vergleichsweise große Nachwirkung auf die lateinische Scholastik, so zeigten sich etwa Thomas von Aquin und Albertus Magnus in ihrer Schöpfungslehre von ihm beeinflusst. Zusammen mit den echten aristotelischen Schriften waren in dieser Zeit auch über 100 Pseudo-Aristotelica im Umlauf.248 Wegen seiner besonderen Bedeutung soll hier insbesondere auf den Liber de causis hingewiesen werden. Sein Ursprung ist eine arabi244
245 246
247
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Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 225f.227.238f.; zu den genannten Positionen vgl. z. B. GILSON, Philosophie des hl. Bonaventura, 352–354 (geistige Materie), 354–357 (Formenmehrheit), 306–318 (Lichtform); John F. QUINN, The Historical Constitution of St. Bonaventure’s philosophy (= Pontificial Institute of Medieval Studies. Studies and Texts 23), Toronto 1973, 219–319, kam in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Bonaventura vielmehr die Einheit der substantialen Form lehrt, diese aber anders zu verstehen ist als etwa bei Thomas von Aquin (vgl. 309–316); Quinn betonte auch, dass Avicebron oder die Fons vitae bei Bonaventura an keiner Stelle erwähnt werden (bei II Sent. 3, 1, 1, 3 [II, 102] handelt es sich um einen Zusatz von ungeklärter Authentizität; vgl a. a. O., 219, Anm. 1). Maurice-Ruben HAYOUN, Geschichte der jüdischen Philosophie, Darmstadt 2004, 104f. Rolf P. SCHMITZ / Ludwig HÖDL, Maimonides, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München 1993, 127f., hier 127; für das Folgende vgl. ferner Maurice-Ruben HAYOUN, Maimonides, in: Walter Kasper u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg u. a. 31997, 1207f. HAYOUN, Geschichte der jüdischen Philosophie, 117–121, kam zu dem Schluss, dass „Maimonides in Wahrheit immer eine ewige Schöpfung vertreten“ hat (121); anders SCHMITZ / HÖDL, Maimonides, 127 („kann er sich z. B. in der Frage nach der ‚Ewigkeit der Welt‘ … aufgrund der Tora für die ‚Schöpfung in der Zeit‘ entscheiden“). Vgl. die kurze Beschreibung bei LUSCOMBE, Medieval thought, 62.65f. sowie Hermann SCHNARR, Liber de causis, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München 1991, 1940f. und STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 78f. Andere bekannte pseudoaristotelische Schriften waren etwa die im arabischen Raum einflussreiche, aus Exzerpten der plotinschen Enneades bestehende Theologia Aristotelis (vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 170, Anm. 171; er wies darauf hin, dass sie erst in der Renaissance ins Lateinische übersetzt wurde, also nur einen indirekten Einfluss entwickeln konnte), ferner das Secretum secretorum und De plantis, De differentia spiritus et animae sowie De pomo.
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sche Abhandlung über das reine Gute aus dem 9. Jahrhundert, die von Gerhard von Cremona ins Lateinische übersetzt wurde.249 Hauptquelle für dieses Werk ist die Elementatio theologica des Neuplatonikers Proklos, doch dieser Zusammenhang wurde erst um die Mitte des 13. Jahrhunderts erkannt (1268 dann von Thomas von Aquin). Seiner Beliebtheit tat das freilich keinen Abbruch. Seit 1255 war es fester Bestandteil des Lehrplans in der Artes-Fakultät.250 Inhaltlich handelt es sich um eine lockere Aneinanderreihung von Propositionen, die in gewisser Weise als Ergänzung zum 12. Buch der Metaphysik (Λ) – Ursachenlehre, Transzendenz des ersten Bewegers, Aufbau des Universums – gelesen werden können. 2.2.2.2
Bonaventura und Aristoteles
In dem kurzen Überblick des vorigen Abschnitts mag deutlich geworden sein, auf wie vielen verschiedenen Wegen das aristotelische Denken Eingang in die Scholastik des 13. Jahrhunderts gefunden hat. Um 1200 herum war dabei das Textcorpus im Wesentlichen vollständig verfügbar (allerdings nicht immer in guter Qualität), die inhaltliche Auseinandersetzung freilich war damit erst am Anfang. Die Phasen dieses Prozesses hat Fernand Van Steenberghen in seinem Standardwerk La philosophie au XIIIe siècle ausführlich dargestellt. Sie lassen sich wie folgt charakterisieren: In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts herrschte ein eklektischer, aber doch einigermaßen homogener Aristotelismus vor, die intensive Auseinandersetzung mit Aristoteles an der Artistenfakultät brachte dann zunächst den heterodoxen (radikalen) Aristotelismus hervor, im Umkreis der Verurteilung von 1277 entstanden schließlich mehrere Schulen, die sich um die großen Lehrer der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gruppierten, so die thomistische und die neoaugustinische Schule, die schließlich in den Skotismus mündete.251 Auf diesem Hintergrund soll nun im Folgenden das Verhältnis Bonaventuras zu Aristoteles beleuchtet werden. Eine, aber nicht die einzige Ebene dieses Verhältnisses ist die Frage nach inhaltlicher Nähe oder Distanz. Eine andere Frage ist die, welches Urteil der Doctor seraphicus über die Positionen des Stagiriten fällte. Sie ist mit der ersten zwar eng verbunden, aber nicht unbedingt identisch (z. B. kann eine aristotelische Position vertreten werden, ohne dessen Namen zu nennen, oder unter dessen Namen genau das Gegenteil dessen, was er meinte, behauptet werden). Grundlage zur Beantwortung beider Fragen ist, welche Kenntnis Bonaventura von den aristotelischen Schriften hatte.
249
250 251
Edition des lateinischen Textes bei: Liber de causis. Das Buch von den Ursachen, mit einer Einl. v. Rolf Schönberger, Übs., Glossar, Anm., Verzeichnisse von Andreas Schönfeld (= Philosophische Bibliothek 553), Hamburg 2003. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 322. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 465–467.
Texte und Kontexte
73 Tabelle 3: Die akademische Laufbahn Bonaventuras252
1235–1243 1243–1248 1248–1250 1250–1252 1253–1254 1254–1257
Studium der Artes (6 Jahre Studium, 2 Jahre Bakkalaureat) Studium der Theologie Baccalaureus biblicus Baccalaureus sententiarius Baccalaureus formatus Magister regens ad scholas fratrum
Seine philosophische Ausbildung erhielt der junge Bonaventura während des Artes-Studiums (1235–1243). Sie fiel damit in die Zeit, in der noch die eklektische Aristotelesauslegung vorherrschte. Wer genau seine Lehrer waren, ist nicht bekannt,253 man kann sich jedoch ein allgemeines Bild der Situation in der Artistenfakultät zu dieser Zeit machen. Das 1210 von der Pariser Synode ausgesprochene Verbot, die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles samt der Kommentare publice vel secreto zu lesen,254 war 1215 in die Statuten der Universität aufgenommen worden.255 Formell blieb dieses Verbot, das auch Schriften wie die Metaphysik oder De anima betraf, mindestens bis 1252 in Geltung,256 auch wenn Gregor IX. im Anschluss an den Schulstreik von Paris bereits 1231 dessen Revision in Aussicht gestellt hatte.257 Der Blick auf die erhaltenen Werke der um 1240 herum an der Artes-Fakultät lehrenden Magistri, zeigt, dass sie vorwiegend die grammatischen und logischen Schriften des Aristoteles (inklusive der Kommentare von Porphyrios, Boethius und des Liber sex principiorum), aber auch die Ethik kommentierten.258 Das bedeutet, dass das kirchliche Verbot, über die libri naturales und die Metaphysik zu lesen, bis dahin im Wesentlichen respektiert wurde. Das schloss aber nicht aus, dass in den Vorlesungen summarisch auf jene Bücher eingegangen wurde.259 Spätestens um 1245 herum scheint sich die Situation geändert zu haben. Eine Bemerkung Roger Bacons und erhaltene Reportationes zeigen, dass er sowohl 252
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255 256
257 258 259
Diese Chronologie ist zwar noch mit leichten Unsicherheiten behaftet, scheint aber nach der Arbeit von BOUGEROL, Introduction, hier besonders 4–11, gut akzeptiert zu sein (vgl. etwa SCHLOSSER, Bonaventura begegnen, 5f. oder Ilia DELIO, Simply Bonaventure, Hyde Park, N. Y. 2001, 21–25). Vgl. BOUGEROL, Introduction, 48. Vgl. DENIFLE / CHATELAIN, Chartularium universitatis Parisiensis I, 70f. (nr. 11). «Legere» bedeutet dabei nicht die private Lektüre, sondern die Kommentierung im Rahmen einer Vorlesung (vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 85). Vgl. DENIFLE / CHATELAIN, Chartularium universitatis Parisiensis I, 78–80 (nr. 20). Vgl. DENIFLE / CHATELAIN, Chartularium universitatis Parisiensis I, 227–230 (nr. 201), ein Statut der angelsächsischen natio in der Artistenfakultät, das zur Erlangung der licentia docendi vorschrieb, dass man eine Vorlesung über Aristoteles’ De anima gehört haben musste; vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 321f. Vgl. HÖDL, Aristotelesverbote, 948; STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 98f. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 123–130, besonders die Zusammenfassung 130. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 110.121, im Anschluss an Martin Grabmann ging Van Steenberghen davon aus, dass die Situation sich wahrscheinlich bis um 1245 nicht änderte (ebd., 110); dies gegen BOUGEROL, Introduction, 48.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
über die Physik, wie auch über die Metaphysik des Aristoteles gelesen hat.260 Die von der Kurie erneut ausgesprochenen Aristotelesverbote von 1245 (Ausweitung auf die Universität von Toulouse) und noch 1263 (Bestätigung der Statuten und Privilegien der Universität Paris) scheinen dagegen ohne Wirkung geblieben zu sein,261 das Statut der Artes-Fakultät vom 19. März 1255 schrieb vielmehr alle bekannten Werke des Aristoteles auf den neugestalteten Lehrplan.262 Die Zeit Bonaventuras an der Artistenfakultät fiel damit jedenfalls in eine Umbruchzeit, in der sich das Studium des Aristoteles schrittweise auf dessen gesamtes Œuvre ausdehnte. Sicher ist dabei, dass die Schriften des Organon und die ethischen Schriften fester Bestandteil des Curriculums waren, hinsichtlich der übrigen Schriften (es geht dabei um die Metaphysik, die Physik samt den übrigen Libri naturales und um De anima) bewegt man sich auf eher unsicherem Terrain.263 Fragt man, welche Kenntnisse Bonaventura von den genannten Schriften hatte, so wird man zunächst darauf hinweisen, dass er – entsprechend dem Usus des Franziskanerordens zu dieser Zeit – zu keiner aristotelischen Schrift jemals einen Kommentar verfasst hat;264 als Gradmesser für seine Kenntnisse bieten sich also nur die in seinen Werken (freilich zahlreich) zu findenden Zitate aus den Schriften des Stagiriten an. Jacques Guy Bougerol hat diesen eine ausführliche Untersuchung gewidmet.265 Unter den insgesamt 1015 Aristoteleszitaten (in der Quaracchi-Ausgabe) finden sich demnach auch zahlreiche Referenzen auf die oben260
261
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264 265
Unsicher ist, wann genau Roger Bacon an der Artes-Fakultät lehrte, vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 130f.; Christoph FLÜELER, Roger Bacon, in: Franco Volpi (Hrsg.), Großes Werklexikon der Philosophie, Bd. 1, Stuttgart 1999, 134f. gab als Zeitraum 1241–1247 an (Bonaventura war zu dieser Zeit bereits Baccalaureus); ob vor ihm bereits Robert Kilwardby (Magister regens an der Artistenfakultät um 1237 – 1245) über die libri naturales und die Metaphysik las (vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 125), lässt sich ebenfalls nicht mit Sicherheit sagen. DENIFLE / CHATELAIN, Chartularium universitatis Parisiensis I, 185f. (nr. 149) und I, 427f. (nr. 384); vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 132–134; er stellte fest, dass sie einen gewissen Anachronismus darstellen und wohl nur «par la routine administrative qui sévissait dans les bureaux de la curie pontificale comme dans toutes les administrations» (134) zu erklären sind. DENIFLE / CHATELAIN, Chartularium universitatis Parisiensis I, 277–279 (nr. 246); vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 322f. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 130f. ging davon aus, dass bis um 1240 herum die kirchlichen Verbote respektiert wurden und die Vorlesungen Roger Bacons zu den libri naturales und der Metaphysik um 1245 die erste bezeugte Änderung dieser Sachlage darstellen, entsprechend stellte er fest: „Bonaventure a peut-être lu Aristote par lui-même, à cette époque, mais la manière dont il en parle trahit plutôt une connaissance superficielle de ses doctrines métaphysiques“ (203); Jacques Guy BOUGEROL, Dossier pour l’étude des rapports entre saint Bonaventure et Aristote, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 40 (1973) 135–222, hier 137 & 199, hielt dafür, dass Bonaventura bereits Vorlesungen über die Libri naturales und die Metaphysik hörte. Zu diesem „delikaten Element“ des Verhältnisses von Bonaventura zu Aristoteles vgl. BOUGEROL, Dossier pour l’étude des rapports, 136 & 221. Dossier pour l’étude des rapports, wie in der vorausgehenden Fußnote.
Texte und Kontexte
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genannten Schriften, näherhin auf die Metaphysik 125, auf die Physik 136, auf die übrigen Libri naturales 152 und auf De anima 138, der bei weitem überwiegende Teil davon steht im Sentenzenkommentar.266 Insgesamt kann man Bonaventura dabei „in Anbetracht der Rezeptionslage dieser Jahre eine gute Kenntnis der aristotelischen Werke“267 bescheinigen, hinsichtlich der obengenannten Werke, war er sicherlich mit dem Text von De anima am vertrautesten, doch auch von der Metaphysik hatte er eine genaue Kenntnis und er verstand es, sowohl mit ihr als auch gegen sie zu argumentieren; auch mit der Physik war Bonaventura zweifellos vertraut, doch hier scheint es am ehesten so zu sein, dass er deren Thesen zwar benutzt, ohne jedoch in die innere Struktur des Werkes einzudringen268 (das mag natürlich auch inhaltliche Gründe haben, denn die in De anima behandelten Probleme stehen dem Theologen Bonaventura jedenfalls näher als die Physik). Vor allem während seiner Universitätskarriere als Baccalaureus und Magister (1248– 1257)269 hatte er dann Gelegenheit, die erworbenen Kenntnisse der aristotelischen Philosophie zur Anwendung zu bringen. Seinen Lehrern in der Theologie – das waren Alexander von Hales, mit dem ihn ein besonders herzliches Verhältnis verband, Johannes von Rupella, Odo Rigaldi (Eudes Rigaud) und sein unmittelbarer Vorgänger auf dem Lehrstuhl der Franziskaner in Paris, Wilhelm von Melitona270 – verdankte er dabei eine gewisse Vertiefung seiner Kenntnisse der aristotelischen Positionen zu einschlägigen theologischen Fragen. Besonders wird man an Alexander von Hales’ Glossa super sententias und die in seinem Umkreis entstandene Summa Halensis denken, die Aristoteles in extenso zitierten,271 wobei auch hier einschränkend anzumerken ist, dass dabei sehr eklektisch vorgegangen wurde und man kaum auf die Kohärenz der Zitate achtete.272 Zahlreiche Aristotelesstellen, die Bonaventura anführte, kann man bereits bei seinen Lehrern finden, daneben hat er sich auch eines Florilegiums, der Auctoritates Aristotelis, bedient.273 Will man Bonaventuras Aristoteleskenntnisse insgesamt würdigen, so wird man ihm sicherlich einerseits eine umfassende Kenntnis der aristotelischen Texte
266 267 268 269 270 271
272 273
Ebd., 137f., Anzahl der De-anima-Zitate wurde korrigiert nach 171. SCHLOSSER, Bonaventura begegnen, 78. Vgl. jeweils die Fazits bei BOUGEROL, Dossier pour l’étude des rapports, 166 (Physik), 184 (De anima), 199 (Metaphysik). Es existieren auch keine Werke Bonaventuras, die vor dieser Zeit entstanden wären. Vgl. etwa BOUGEROL, Introduction, 4f. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 145f. (Glossa super sententias), 154f. (Summa fratris Alexandri); Van Steenberghen wies auch darauf hin, dass die Glossa auch das Liber de causis und Avicenna, aber nicht Averroes benutzte, die Summa Halensis verarbeitete Material von Avicenna und Avicebron. Vgl. die Zusammenfassung ebd., 157. Ediert als Les Auctoritates Aristotelis, un florilège médiéval, éd. par Jacqueline Hamesse (= Philosophes médiévaux 17), Louvain – Paris 1974. Zur Verwendung vgl. BOUGEROL, Dossier pour l’étude des rapports, 217–219.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
zugestehen,274 auch die Kommentatoren Avicenna, Averroes (sowie Eustratius von Nizäa) waren ihm nicht unbekannt; andererseits jedoch erreichte er bei der Durchdringung des aristotelischen Denkens nicht jene Tiefe, wie man sie etwa bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin findet.275 Man mag ihm dabei zugutehalten, dass er sich der Begrenztheit seines Wissens durchaus bewusst war und er deswegen oft nur vorsichtig über aristotelische Positionen urteilte.276 Das Jahr 1257 markierte eine Zäsur im Leben Bonaventuras, mit der Wahl zum minister generalis am 2. Februar war gleichzeitig das Ende seiner akademischen Karriere gekommen. Von nun an stand für ihn die Sorge für den Orden des heiligen Franziskus im Vordergrund. Auch wenn sich dadurch seine Einstellung und seine theologischen Positionen überraschend wenig geändert haben277 – das Umfeld, in dem er sie vertrat, war ein anderes, und entsprechend änderten sich auch die literarischen Gattungen, derer er sich bediente. Von daher mag es kaum verwundern, wenn in der literarischen Produktion aus dieser Zeit zunächst kaum Aristoteleszitate zu finden sind,278 erst in den Universitätspredigten von 1267, 1268 und 1273 (Praec., Don. und Hex.) nahm die Häufigkeit wieder etwas zu.279 Gerade im Hinblick auf die Collationes in Hexaëmeron kann man fragen, welche Unterschiede sich hier im Vergleich mit den Werken aus seiner Universitätszeit ergeben. Die Antwort steht dabei unter dem Vorbehalt, dass sie nur durch zwei Reportationes bezeugt sind, die durch ihre (unbekannten) Verfasser eine bestimmte „Färbung“ aufweisen, die nicht unbedingt der Position Bonaventuras entsprechen muss.280 Betrachtet man die Verweise auf aristotelische Positionen in der Reportatio A 274 275
276
277 278
279 280
Ob Bonaventura dabei tatsächlich alle bis dahin übersetzten Werke des Aristoteles kannte, zieht BOUGEROL, Introduction, 50 durchaus in Zweifel. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 215 wobei mir die Charakterisierung als „connaissance superficielle“ (ebd., 203) doch als etwas zu streng erscheint; Van Steenberghen reagierte hier etwas zu stark gegen die Bewertung von GILSON, Philosophie des hl. Bonaventura, der (z. B. 26) Bonaventuras systematische Kenntnis der aristotelischen Philosophie sicherlich zu hoch veranschlagte. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 215; als Beispiel kann man II Sent. 1, 1, 1, 2, resp. [II, 22f.] anführen: In der Frage, ob Aristoteles gelehrt habe, dass die (Ur-)Materie von Ewigkeit her existiert habe, führte er verschiedene einander widerstreitende Auslegungen an und bekannte schließlich: Quod horum magis verum sit, ego nescio. – Für weitere Belege vgl. STEENBERGHEN, a. a. O., 205–215 passim. Vgl. SCHLOSSER, Bonaventura begegnen, 50. BOUGEROL, Dossier pour l’étude des rapports, 138 gab für die Schriften nach 1257 kaum Hinweise, lediglich das Itinerarium von 1259 wird mit 2 Aristoteles-Zitaten angeführt, ein entsprechendes Bild kann man aber aus dem Index der Quaracchi-Ausgabe zu Aristoteles (Opp. X, 266f.) gewinnen: Der Band 8 der Opera omnia (der die mystischen Werke Bonaventuras enthält und den Zeitraum 1259–1269 abdeckt) taucht hier nur zweimal auf mit 7 Verweisen auf die Nikomachische Ethik und einen Verweis auf die Topik. Vgl. erneut den Index der Quaracchi-Ausgabe: Praec. ist mit 1 Referenz, Don. mit 9 und Hex. mit 38 Referenzen aufgeführt. So ist etwa Ulrich G. LEINSLE, Res et signum. Das Verständnis zeichenhafter Wirklichkeit in der Theologie Bonaventuras, München u. a. 1976, 74 aufgefallen, dass die Reportatio B gegenüber
Texte und Kontexte
77
und vergleicht sie mit Reportatio B, so kommt man für die ersten sieben Collationes (die das Principium und die Visio 1 bilden) zu folgendem Ergebnis:281 Tabelle 4: Aristoteleszitate in Hex., princ., 1 (1) – I, 4 (7) Collatio
Absatznummern
princ., 1 (1):
19 | 25: 2x, 1x | 26: 2x | 30 | 33
princ., 2 (2):
2: (1x), 1x | 10: 1x, 1x | 24 | 26 | 31: 2x
princ., 3 (3):
1–2 | 4 | 5: 1x, (1x)
I, 1 (4):
1: 1x, 2x | 2 | 6: (1x), 1x | 8: 1x, (1x) | (9) | (10) | 11 | 12 | 13: 2x | 16 | 17: 9x * | 18
I, 2 (5):
1 | 2: 1x, 3x | (7) | (8) | 10 | 12 | 13 | (24) | 26 | 29
I, 3 (6):
2: 2x | 3: 1x, 1x | 4 | 5 | 14 | (22)
I, 4 (7):
2: 3x
Zur Erklärung: (1) (2) (3) (4) (5) (*)
281
Aufgeführt werden die Nummern der Absätze in denen in Reportatio A Verweise auf aristotelische Positionen vorkommen. Eine Absatz-/Stellenangabe in Klammern bedeutet: Reportatio A führt eine aristotelische These an, ohne sie explizit als solche zu bezeichnen. Eine Stellenangabe ohne weitere Auszeichnung bedeutet: Die aristotelische These findet sich so nur in Reportatio A (mit Angabe der Herkunft, sofern nicht eingeklammert), in Reportatio B fehlt der entsprechende Text. Eine unterstrichene Stellenangabe bedeutet: Sowohl Reportatio A wie auch Reportatio B führen die Position an, aber in Reportatio B ohne Angabe der Herkunft (d. h., sie wird nicht explizit als aristotelische Position ausgegeben). Eine fett markierte Stellenangabe besagt: In Reportatio A und in Reportatio B wird die These angeführt und sie wird in beiden als aristotelische Position bezeichnet. Zu Hex. I, 1 (4), 17: Reportatio A nennt hier 9 Titel von Aristoteles, Reportatio B nennt 10 Titel (davon 1 unechtes Werk), 7 der aufgeführten Titel treten in beiden Reportationes auf.
Aristoteles eine deutlich reserviertere Haltung einnimmt. Der Verfasser von Reportatio A beteuerte zwar: Nec tamen apposui quidquam quod ipse non dixerat, nisi ubi distinctionem librorum Aristotelis logicalium amplius quam ipse dixerat, distinxi. Alia autem non apposui, nisi quod etiam loca auctoritatum aliquarum signavi (Ed. Delorme, 275; betrifft Hex. I, 1 (4) 18–24 nach Ed. Delorme, XIf.), doch dem wird man mit Vorsicht begegnen (siehe den Vergleich der Reportationes im Folgenden). Aus inhaltlichen Gründen ergibt sich, dass sich der Hauptteil der Aristoteles-Zitate im Principium (Coll. 1–3) und in der Visio 1 (Coll. 4–7) befindet (in der Visio 1 geht es um das natürliche Erkenntnisvermögen). Hier finden sich insgesamt 69 Verweise auf Aristoteles, in den folgenden Collationes der Visiones 2–4 sind es insgesamt nur noch 13 (beide Zahlen für Reportatio A). Für die Collatio I, 1 (4) ist dabei noch zu beachten: Die Absätze 21–24 (Reportatio B) fehlen in Reportatio A, Absatz 20 wurde vom Autor der Reportatio A erheblich ausgebaut (eine, wie er selbst bezeugte, eigenmächtige Ergänzung, vgl. vorausgehende Fußnote). An zwei Stellen in Reportatio A – princ., 3 (3), 9; I, 4 (7), 11 – wird der Name des Aristoteles genannt, aber keine These von ihm angeführt. Diese Stellen sind oben nicht berücksichtigt.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Es fällt auf, dass die Reportatio B – die ja länger als Reportatio A ist – zwar einige zusätzliche Verweise auf Aristoteles (überwiegend auf die Nikomachische Ethik) bietet,282 dass aber in Reportatio A der Name des Aristoteles wesentlich häufiger fällt: Wo es hier heißt ut dicit Aristoteles / Philosophus (meist sogar mit Angabe des Werkes oder der Übersetzung),283 fehlt in der Reportatio B oft der gesamte Kontext oder es wird nur die entsprechende These ohne Hinweis auf die Herkunft genannt. Daraus wird man schließen, dass der Verfasser der Reportatio A eine deutlich bessere Kenntnis der aristotelischen Werke besaß oder er wenigstens mehr Mühe aufwandte, um die entsprechenden Stellen zu recherchieren.284 Doch selbst wenn man zur Beurteilung von Bonaventuras Aristoteleskenntnissen nur die in beiden Reportationes vorkommenden „Zitate“ zugrunde legt, so wird man kaum einen Grund finden, das oben gebildete Urteil zu modifizieren: Auch im Hexaëmeron zeigt sich der minister generalis gut informiert, er kennt und unterscheidet die Positionen des Aristoteles, der Kommentatoren Averroes und Avicenna285 sowie der magistri aus der Artes-Fakultät (gegen die sich seine Argumentation hauptsächlich richtet).286 Eine andere Frage ist, ob sich die Einstellung Bonaventuras zu Aristoteles zwischen dem Sentenzenkommentar und dem Hexaëmeron verändert hat. Was aber war denn seine Haltung? Ich denke, hier sind zwei Ebenen zu unterscheiden. Zunächst kann man nach der Einschätzung der Person des Aristoteles fragen: Wenn er Aristoteles im Sentenzenkommentar als „Fürst und Führer“ der Peripatetiker und als „einer der herausragendsten Philosophen“ vorstellte,287 so drückte er dadurch zweifellos seine Hochachtung gegenüber Aristoteles aus (und dies gerade in der Frage nach der Ewigkeit der Welt, in der er ihm in der Sache widerspricht). Ähnliche Reverenzbezeugungen findet
282
283 284 285
286 287
Insgesamt 11 Verweise finden sich nur in Reportatio B: princ., 1 (1): 13*, (21); princ., 3 (3): (7); I, 1 (4): (20); I, 2 (5): (13: 3x*), 19*, 21*, (29); I, 3 (6): 4, 12; von diesen beziehen sich 5 (mit * gekennzeichnet) auf Positionen aus der Nikomachischen Ethik. So wird in Hex. I, 1 (4), 1f. [Ed. Delorme, 49] zwischen Vetus und Nova Metaphysica sowie zwischen der nova und vetus translatio der Vetus Metaphysica unterschieden. Wie es ja auch in der Endglosse heißt loca auctoritatum aliquarum signavi (siehe oben S. 76, Anm. 280). Z. B. in Hex. I, 2 (5), 26 [V, 358b] – wenn auch ohne explizite Namensnennung (alii); der Irrtum von der Einheit des Intellekts wurde Aristoteles nur in Reportatio B vorgeworfen, wobei ausdrücklich auf den Kommentar des Averroes hingewiesen wurde: I, 3 (6), 4; I, 4 (7), 2 [V, 361.365]. Ferner bemühte die Reportatio B in I, 3 (6), 4 [V, 361a] die commentatores Arabum als Gewährsmänner, dass Aristoteles die Ewigkeit der Welt lehrte. In I, 3 (6), 2 [V, 361a; Ed. Delorme, 91] verwiesen beide Reportationes auf einen Kommentar zur Ethik (nämlich den des Eustratius). Vgl. BOUGEROL, Dossier pour l’étude des rapports, 208–215 & 220f. II Sent. 1, 1, 1, 1, resp. [II, 17a]: Peripatetici, quorum princeps et dux fuit Aristoteles …; II Sent. 1, 1, 1, 2, resp. [II, 22b]: ille excellentior inter philosophos, Aristoteles; vgl. etwa auch Serm. theol. IV, 18 [V, 572]: Et ideo videtur, quod inter philosophos datus sit Platoni sermo sapientiae, Aristoteli vero sermo scientiae.
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man auch im Hexaëmeron, und zwar in beiden Reportationes.288 Ferner lässt sich die Tendenz, die Irrtümer des Aristoteles zu entschuldigen (vor allem mit dem Hinweis, dass er die Offenbarung nicht kennen konnte), die sich bereits im Sentenzenkommentar fand,289 in beiden Reportationes nachweisen – auch wenn diese Tendenz in Reportatio A deutlich stärker ist.290 Dieses Empfinden für Aristoteles kontrastiert freilich deutlich mit dem abschätzigen Urteil über diejenigen Zeitgenossen, die als Christen der peripatetischen These von der Ewigkeit der Welt anhängen; auch in dieser Hinsicht spricht die Reportatio A deutlicher als die Reportatio B.291 Als zweite Ebene kann man die Sachebene ansehen: Hier muss man zunächst die zahlreichen Stellen erwähnen, an denen Aristoteles explizit oder implizit als Autorität herangezogen wird (es sind zu viele, als dass man sie einzeln benennen könnte). Daneben steht freilich die Zurückweisung der bekannten Irrtümer des heterodoxen Aristotelismus (Leugnung der Ideen / rationes aeternae, Ewigkeit der Welt, Einheit des Intel288
289
290
291
So hieß es Hex. I, 3 (6), 5 [V, 361; Ed. Delorme, 92]: tantus fuit [Aristoteles]; Reportatio B sprach im folgenden Absatz 6 von der mens aliorum nobilium philosophorum, d. h., sie zählte auch Aristoteles zu den nobiles philosophi. Die Reportatio A ging etwas weiter als die Reportatio B, wenn sie dem contemplans, volens in dono intellectus exerceri das Studium des Aristoteles empfahl: qualem dat viam Philosophus in considerationibus topicis ad problemata de accidente, de proprio, de genere, de definitione (Hex., princ., 3 (3), 1–2 [Ed. Delorme, 34]) – eine ähnliche Empfehlung (allerdings auf die Philosophie im Allgemeinen bezogen) fand sich bereits Itin. IV, 5 [V, 307a] (mit Bezug auf III, 6 [V, 305]): Ad huius autem speculationis gradum specialiter et praecipue adminiculatur consideratio sacrae Scripturae divinitus immissae, sicut philosophia ad praecedentem. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 205–216 passim. Bereits Alexander von Hales gestand „Aristoteles zu, er habe eben nur nach natürlich-naturwissenschaftlichen Prinzipien entschieden und von einer Schöpfung als übernatürlichem Eingreifen Gottes nichts gewußt“ (LEINSLE, Einführung, 132), dessen Lehre sei also nach dem Kenntnisstand seiner Zeit zu interpretieren. Etwa zur Frage der Ewigkeit der Welt: Hex. I, 4 (7), 2: … excusari posset, quod intellexit hoc ut philosophus, loquens ut naturalis … [V, 365] bzw. … potest dici, quod secundum naturam verum sensit [Ed. Delorme, 99]. In der Reportatio A finden sich weitere Stellen: princ., 2 (2), 31 [Ed. Delorme, 31]: Deus est unus, sapiens et aeternus … non tamen sic tantummodo sicut intelligere poterat Philosophus … sed altiori modo valde; princ., 3 (3), 9 [Ed. Delorme, 38]: Per rationem enim non valet comprehendi. Unde nunquam dixit Philosophus …; allgemein zur Bestreitung der Ideen in I, 3 (6), 32 [Ed. Delorme, 98]: Ideo ad radium fidei est procedendum, quem Philosophi non habuerunt, sed tantum lumine naturali cognoverunt. Vgl. Hex. I, 1 (4), 16 [Ed. Delorme, 59]: aliqui nostri temporis … erecta cervice contra veritatem Scripturae … scriberent mundum aeternum (der Passus fehlt in Reportatio B), oder I, 2 (5), 21 [Ed. Delorme, 84]: quidam nimis ratiocinantes mundum posuerunt aeternum; in Reportatio B heißt es an dieser Stelle nur isti male senserunt de causa prima [V, 357a]. Die Feststellung von BOUGEROL, Dossier pour l’étude des rapports, 209 («L’ennemi visé est beaucoup plus Averroès qu’Aristote») ist im Bezug auf Aristoteles sicher richtig, unter „Averroes“ sollte man aber eher die „Averroisten“ verstehen. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 218: „l’hostilité de Bonaventure va bien plus aux disciples chrétiens d’Aristote qu’à Aristote lui-même“.
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lektes, rein diesseitige Seligkeit).292 Bei der Verbindung dieser Irrtümer mit dem Namen des Aristoteles sind sich die beiden Reportationes im Bezug auf den ersten Punkt (Leugnung der Ideen) völlig einig, was dagegen die Lehre von der Ewigkeit der Welt angeht, ist die Reportatio A deutlich vorsichtiger, sie kommt hier praktisch zu dem gegenteiligen Schluss wie die Reportatio B, nämlich: Cautius ergo est dicere quod Aristoteles non senserit mundum aeternum.293 Zusammenfassend wird man sagen, dass man in Reportatio A eine etwas freundlichere Haltung gegenüber Aristoteles gepaart mit einer schärferen Verurteilung des heterodoxen Aristotelismus findet. Doch auch wenn der Ton im Hexaëmeron insgesamt manchmal ins Polemische geht, inhaltlich ändert sich an den philosophischen Positionen wenig.294 Das eigentlich Neue wird man an anderer Stelle zu suchen haben, nämlich in der vor allem in denn Collationes III, 2–6 (14–18) und IV, 4 (23) entfalteten eschatologisch-geschichtstheologischen Vision.295 Entsprechend vorsichtig sollte man auch sein, das Hexaëmeron mit Etikettierungen wie „Antiaristotelismus“ oder „Antiphilosophismus“ zu versehen.296 Der wahre Kern daran ist, dass sich Bonaventura im Hexaëmeron sehr wohl der Gefahren einer sich absolut setzenden Philosophie bewusst war. Die Selbständigkeit der Philosophie (insofern sie eine nach eigenen Prinzipien verfahrende Wissenschaft ist) sollte damit jedoch nicht angegriffen werden. 292
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295 296
Vgl. bereits oben S. 18 und S. 33, Stellen sind vor allem Hex. I, 3 (6), 2–5; I, 4 (7), 2; erstere vergleicht diese pessimi errores (Reportatio B) mit dem puteus abyssalis aus Apc. 9, 1f. [Ed. Delorme, 92; V, 361], aus dem die Finsternis (d. h. finsterer Rauch) aufsteigt. Hex. I, 3 (6), 5 [Ed. Delorme, 92]; Reportatio B führte an derselben Stelle ein argumentum e silentio an, dass Aristoteles diese These vertreten hat: Nunquam invenies, quod ipse dicat, quod mundus habuit principium vel initium [V, 361a]. Im vorausgehenden Absatz verminderte Reportatio A auch die Anzahl der Autoritäten, die Aristoteles diesen Irrtum zuschrieben (es fehlen Johannes Damascenus und die commentatores omnium Arabum), ferner wird in Hex. I, 1 (4), 13 [Ed. Delorme, 55] jene Stelle aus Topica I, 11 [104b 12–16] angeführt, in der Aristoteles die Frage nach der Ewigkeit der Welt als nicht entscheidbar (weil nicht begründbar) einstuft. Hex. I, 4 (7), 2 ist eine Zusammenfassung der vorausgehenden Collatio, hier gehen beide Reportationes in eins, insofern sie die Positionen des Aristoteles mit der eigenen Position zu harmonisieren versuchen. Reportatio B stellt aber dennoch (vorsichtig) die aristotelische Urheberschaft dieser Irrtümer fest: Primam [scil. errorem de aeternitate mundi] videtur ponere Aristoteles, ultimam [scil. de poena et gloria] etiam …; de media autem [scil. de unitate intellectus] dicit Commentator, quod ipse hoc sensit [V, 365]. So bereits RATZINGER, Geschichtstheologie, 161 („In der inneren Auffassung der philosophischen und theologischen Probleme hat sich in der Tat auch beim späten Bonaventura praktisch nichts geändert.“). Vgl. bereits oben S. 19, Anm. 19. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 221f. Diese Schlagworte werden oft aus RATZINGER, Geschichtstheologie, 136–161, bes. 148f. und 153 zitiert; man sollte aber auch die Einschränkungen, die Ratzinger selbst beifügte (z. B. „daß sich Bonaventuras Polemik nicht primär gegen Aristoteles, sondern gegen die Aristoteliker seiner Zeit richtet“, 138) zur Kenntnis nehmen. Den „Antiphilosophismus“ des Hexaëmeron machte Ratzinger (ebd., 149–155) an verschiedenen bildhaften philosophiekritischen Äußerungen fest, darauf ist im folgenden Abschnitt noch einzugehen.
Texte und Kontexte
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Insgesamt ergibt sich für das Verhältnis Bonaventuras zu Aristoteles ein über seine gesamte Schaffensperiode ziemlich einheitliches Bild: Mit den meisten aristotelischen Schriften (d. h., so weit er sie zitiert) zeigte er sich hinlänglich vertraut. Anders etwa für seinen Schüler Petrus Johannis Olivi297 galt Aristoteles für den Doctor seraphicus als Autorität, der gegenüber er freilich sein eigenes Urteil bewahrte. Seine inhaltliche Position lässt sich als ein eklektischer Aristotelismus beschreiben, der mit zahlreichen neuplatonischen Elementen durchsetzt ist (vermittelt vor allem durch den Liber de causis, Avicenna, Avicebron sowie Augustinus und Pseudo-Dionysius Areopagita).298 Im Blick auf das Hexaëmeron schließlich bleibt festzuhalten, dass er sehr wohl zwischen den Positionen des Aristoteles und denen seiner früheren und zeitgenössischen Kommentatoren zu unterscheiden wusste, seine Polemik richtete sich ausschließlich gegen letztere. 2.2.2.3
Philosophie und Theologie
In diesem Abschnitt soll es darum gehen, Bonaventuras Sicht auf das Verhältnis von Philosophie und Theologie darzustellen. Dazu ist in erster Linie zu fragen, wie Bonaventura die Philosophie als Wissenschaft verstanden und beurteilt hat. Im vorliegenden Zusammenhang ist dies in zweierlei Hinsicht von Belang: Zum einen wurde bereits festgestellt, dass die Thematik von Zeit und Ewigkeit zu beiden Feldern, zur Philosophie und zur Theologie gehört,299 es bedarf also zunächst einer grundsätzlichen Klärung, wie die beiden Aspekte ineinandergreifen. Zum anderen spielt diese Frage ganz allgemein in Rahmen der Aristotelesrezeption eine nicht unbedeutende Rolle, denn dabei kam es zur Ausbildung eines neuen Modells von Wissenschaftlichkeit: Ἐπιστήµη (scientia) wird jetzt verstanden als ein „sicheres, bewiesenes Wissen, das auf Erfahrung gründet und als Mittel nur ein logisch sauberes Beweisverfahren mittels Syllogismen zuläßt.“300 Unter diesem neuen Paradigma gewann einerseits die Philosophie ein neues Selbstbewusstsein als autonome Wissenschaft, andererseits ergab sich daraus für die Theologie die Notwendigkeit, den Nachweis ihrer Wissenschaftlichkeit zu erbringen. Das Verständnis der Philosophie als ancilla theologiae, das noch im 12. Jahrhundert konsensfähig gewesen war, konnte unter diesen Voraussetzungen nicht aufrechterhalten werden. Entsprechende päpstliche Ermahnungen (so der Brief Gregors IX. vom 7. Juli 1228 an die Pariser Theologische Fakultät)301 änderten nichts an dieser Sachlage, das Verhältnis von Philosophie und Theologie musste auf einer grundsätzlichen Ebene neu 297
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Brüske Zurückweisungen der Autorität des Aristoteles wird man bei Bonaventura (meines Wissens) nirgends finden, bei Olivi hingegen waren sie häufig, vgl. z. B. II Sent. 16, ad 6 [BFSMA 4, 337]: … licet mihi non sit cura quid hic vel alibi senserit, eius enim auctoritas et cuiuslibet infidelis et idolatrae mihi est nulla oder II Sent. 31, resp. [BFSMA 4, 548].: Quod etiam Aristoteles hoc non senserit videtur, licet eius auctoritas mihi valde displiceat … Vgl. das Urteil von STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 225–240. Siehe oben S. 15. LEINSLE, Einführung, 122, Näheres siehe ebd., 121–123. Siehe DENIFLE / CHATELAIN, Chartularium universitatis Parisiensis I, 114–116 (nr. 59).
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
austariert werden. Die Auseinandersetzungen mit dem heterodoxen Aristotelismus kann man in gewisser Hinsicht als ein Ringen um genau diese Frage verstehen.302 Es wird dabei kaum verwundern, dass die entsprechenden Lösungsansätze eine große Bandbreite aufwiesen. Um so wichtiger ist es, die Position Bonaventuras in dieser Frage zu erfassen. Betrachtet man seine Äußerungen zum Stellenwert der Philosophie, so erhält man zunächst ein einigermaßen verwirrendes Bild, denn es findet sich sowohl ausdrückliches Lob über den Nutzen der Philosophie,303 wie auch deutliche Warnungen vor ihren Gefahren, etwa wenn die Philosophie mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gleichgesetzt wird.304 Nachdem die Anzahl der positiven Wertungen der Philosophie deutlich geringer ist, könnte man geneigt sein, das durch Joseph Ratzinger gezeichnete Bild von Bonaventuras Antiphilosophismus und Antirationalismus zu akzeptieren.305 Doch spätere Bonaventuraausleger haben dem (zum Teil energisch) widersprochen.306 302
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Vgl. LEINSLE, Einführung, 132f., der hierfür insbesondere auf die Ausführungen in Boethius’ von Dacien De aeternitate mundi verweist, v. a. I & VII in: Bonaventura / Thomas de Aquino / Boethius de Dacia, Über die Ewigkeit der Welt, mit einer Einl. v. Rolf Schönberger, Übers. u. Anm. v. Peter Nickl, Frankfurt am Main 2000, 104–171, hier 104–107.166–171. Hier können u. a. die oben bereits genannten Stellen über das donum intellectus angeführt werden; siehe oben S. 28, bes. Anm. 36 (III Sent. 35, 1, 3, resp. [III, 778]; Hex., princ., 3 (3), 1–2 [V, 343; Ed. Delorme, 34f.]) sowie S. 79, Anm. 288 (Itin. III, 6; IV, 5 [V, 305.307a]). Weiter könnte man die Bezeichnung der (alten) Philosophen als filii lucis (Hex. I, 1 (4), 1 [V, 349]) anführen. In der frühen Ep. trib. qu. 12 [VIII, 335b] (Datierung auf 1250–1252) findet sich ebenfalls eine ausdrückliche Empfehlung der Philosophie, dort heißt es u. a.: Quodsi verba philosophorum aliquando plus valent ad intelligentiam veritatis et confutationem errorum, non deviat a puritate aliquando in his studere, maxime cum multae sint quaestiones fidei, quae sine his non possunt terminari. So in einer Predigt vom Advent 1267 (Serm. temp., Dominica III. Adventus, Sermo 2 [IX, 63a]: sed philosophia est lignum scientiae boni et mali, quia veritati permixta est falsitas). Hex. III, 5 (17), 26f. [V, 413; Ed. Delorme, 201] unterschied beim donum scientiae eine notitia exterior, quae tantum quaerit ut sciat et ibi sistit [Ed. Delorme], von der notitia interior – erstere wird mit dem Baum der Erkenntnis gleichgesetzt. Die Irrtümer der Philosophie wurden öfters als Weg (in die Gefangenschaft) Ägyptens gebrandmarkt (vgl. Hex., princ., 1 (1), 9; princ., 2 (2), 7; I, 1 (4), 1; III, 5 (17), 27; III, 7 (19), 18; [V, 330b.337b.349.414.423]). Hex. III, 7 (19), 12 [V, 422; Ed. Delorme, 216] sah eine große Gefahr beim Heranziehen philosophischer Werke, um damit Glaubensfragen zu lösen: in descensu ad philosophiam est maximum periculum [Ed. Delorme, 216] (betonte aber zuvor, dass auch im Studium der theologischen Werke Gefahren liegen); ebd. 14 warnte, allzu viel Wasser der Philosophie dem Wein der Heiligen Schrift beizumengen. Hex. I, 4 (7) handelte insgesamt vom defectus virtutum cardinalium in philosophis und dass die philosophischen Tugenden nur Straußenfedern sind, die nicht zum Fliegen (d. h. zur Heilung der Seele und ihrer Seligkeit) taugen (I, 4 (7), 12 [V, 367; Ed. Delorme, 103]). Diese Liste könnte noch erweitert werden (weitere Stellen bei RATZINGER, Geschichtstheologie, 149–155). Vgl. RATZINGER, Geschichtstheologie, 153 („Antiphilosophismus“), 157 („antiintellektuellen Stimmung“), zur Relativierung siehe oben S. 80, Anm. 296. Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 220, SCHLOSSER, Bonaventura begegnen, 77 („Bonaventura war alles andere als philosophiefeindlich“), Andreas SPEER, Bonaventura. Die Ge-
Texte und Kontexte
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Nur wenn man erkennt, dass der Doctor seraphicus das philosophische Wissen (die philosophische Wissenschaft) als Teil eines Gesamtkonzepts der sapientia christiana verstand,307 kann man auch seine Warnungen vor der Philosophie richtig einordnen. Eine prägnante Darstellung dieses Konzepts gab Bonaventura in den Collationes de septem donis Spiritus Sancti IV (De dono scientiae).308 Menschliches Wissen entfaltet sich demnach in vier Stufen als scientia philosophica, scientia theologica, scientia gratuita, scientia gloriosa. Alle vier stehen unter dem gemeinsamen Begriff des Wissens als notitia veritatis, ihr Unterschied besteht in einem je verschiedenen Zugang zur Wahrheit. Die verschiedenen Formen des Wissens unterscheiden sich so nicht nur in dem, was gewusst wird, sondern auch darin, wie es gewusst wird und wie das entsprechende Wissen erlangt wird: Scientia philosophica nihil aliud est quam veritatis ut scrutabilis notitia certa. Scientia theologica est veritatis ut credibilis notitia pia. Scientia gratuita est veritatis ut diligibilis notitia sancta. Scientia gloriosa est veritatis ut desiderabilis notitia sempiterna.309
Innerhalb dieses Gesamtkonzeptes ist jede Form des Wissens zunächst als gut anzusehen, denn sie ist im Letzten auf Gott als den magnus dator scientiarum310 zurückzuführen, der den Menschen als vernünftiges Wesen geschaffen hat.311 Von daher kommt es auch, dass das Wissen den Glanz und das Licht (claritas) der Seele ausmacht.312 Zugleich wird es als menschliches Wissen dadurch unter eine Zielvorgabe gestellt: Es ist kein Selbstzweck, sondern dient in jeder seiner Formen dem Heil der Seele.313 Diese – sicherlich für Bonaventura typische – Vorgabe ist grundlegend, sie stellt die Richtschnur für alle weiteren Ausführungen dar und sowohl die Philosophie wie auch die Theologie haben sich an ihr zu messen.314 Oder, andersherum betrachtet: Das aristotelische Ver-
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wißheit der Erkenntnis, in: Theo Kobusch (Hrsg.), Philosophen des Mittelalters, Darmstadt 2000, 167–185, bes. 168f. Vgl. was bereits oben (ab S. 28) zur sapientia und zur intelligentia ausgeführt wurde. V, 473–479. Für das Folgende vgl. auch den Beitrag von Adolfo MUÑOZ-ALONSO, San Buenaventura y la filosofía, in: El Augustinismo de san Buenaventura. VII Centenario de su muerte (1274– 1974) (= Augustinus 19 (1974), Numero especial), Madrid 1974, 163–176. Don. IV, 5 [V, 474]. Don. IV, 1 [V, 473]; vgl. auch ebd. 4 [V, 474]: scientia philosophica et theologica est donum Dei. Don. IV, 2 [V, 474]: Deus naturam rationalem condidit et superaddidit gratiam. Don. IV, 2 [V, 474]: Claritas animae est scientia, econtra tenebra animae est ignorantia. Don. IV, 1 [V, 473]: … non petimus temporalia, sed utilitatem et salutem animae nostrae. An dieser Stelle könnten viele Querverbindungen ins Werk Bonaventuras gezogen werden, hier soll aber nur darauf hingewiesen werden, dass sich daraus insbesondere eine Ordnung dessen, was man wissen (und lernen) muss, ergibt: Quid dicit modum sciendi? Scire, quo ordine, quo studio, quo fine quisque addiscat: quo ordine, ut id prius addiscat quod maturius est ad salutem; quo studio, ut id ardentius, quod vehementius trahit ad amorem Dei; quo fine, ut non propter inanem gloriam, aut curiositatem, sed propter aedificationem suam et proximi addiscat (Don. IV, 23 [V, 478]).
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dikt, dass alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben,315 verstand Bonaventura als Ausdruck eines dreifachen Grundbedürfnisses des Menschen nach Weisheit (Erkenntnis), nach Seligkeit (Glück) und nach Frieden.316 Dieses Grundbedürfnis kann aber von keinem endlichen Gegenstand erfüllt werden,317 sondern erstreckt sich über jeden endlichen Gegenstand hinaus auf das unendliche Gut: nata est anima ad percipiendum bonum infinitum, quod Deus est, ideo in eo solo debet quiescere et eo frui.318 Bis zu diesem Gut muss auch die Philosophie aufsteigen, wenn sie ihrem Namen gerecht werden will, denn „die Philosophie ist letzten Endes eine Stufe in der Erkenntnis und Beschauung Gottes, und nur wenn der Verstand das sieht, ohne das er nicht das sehen kann, was er sieht, dann erfüllt die Philosophie ihren wesentlichen Auftrag.“319 Der so abgesteckte Rahmen bedeutet für die Philosophie eine relative Autonomie. Beide Aspekte dieser Bestimmung gilt es zu berücksichtigen: Denn erstens ist die Philosophie eine autonome Wissenschaft,320 was im Hinblick auf ihren Gegenstand und ihre Methode gilt. Ihr Objekt ist, wie oben gesehen, die veritas ut scrutabilis, d. h. die Wahrheit, insofern sie dem natürlichen Licht der Vernunft zugänglich ist.321 Von diesem Ausgangspunkt aus entfaltete Bonaventura dann die Systematik der Philosophie als veritas rerum, veritas sermonum und veritas morum.322 Die Prinzipien, nach denen die Philosophie bei der Erforschung der Wahrheit vorgeht, sind ebenfalls eigene,323 ihre Methode ist dabei in gewisser Weise der der Theologie gerade entgegengesetzt: Sie beginnt bei der (sinnlichen) Erfahrung und steigt von da aus schlussfolgernd zur ersten Ursache, dem primum principium auf, die Theologie hingegen nimmt das Höchste, Gott, als gegeben und steigt hinunter zu dessen Wirkungen.324 315 316 317 318 319 320 321
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Der berühmte Einleitungssatz, Metaphysica I (Α), 1 [980a 21]: Πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει. Vgl. Trin. 1, 1, arg. 6–8 [V, 46]; vgl. hierzu auch GILSON, Philosophie des hl. Bonaventura, 107f. Vgl. z. B. Serm. theol. II, 7 [V, 541]. I Sent. I, 3, 2, resp. [I, 41]; vgl. auch Serm. theol. II, 9 [V, 542]: Quid est intelligentia, quae nata est apprehendere Deum, summum bonum? MUÑOZ-ALONSO, San Buenaventura, 176 (eigene Übersetzung). Vgl. STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 194f. Vgl. etwa Brev., prol., § 3 [V, 205a]: philosophia quidem agit de rebus, ut sunt in natura, seu in anima secundum notitiam naturaliter insitam, vel etiam acquisitam. Vgl. auch Red. 4 [V, 320]: Tertium lumen, quod illuminat ad veritates intelligibiles perscrutandas, est lumen cognitionis philosophicae, quod ideo interius dicitur, quia interiores causas et latentes inquirit, et hoc per principia disciplinarum et veritatis naturalis, quae homini naturaliter sunt inserta. Vgl. Red. 4 [V, 320]; Don. IV, 7 [V, 474]; Hex. I, 1 (4), 2 [Ed. Delorme, 49f.; V, 349]; sie entspricht auch der Einteilung von Itin. III, 6 [V, 305] in die philosophia naturalis, rationalis und moralis. Vgl. Don. IV, 13 [V, 476]: sicut scientiae philosophicae super prima principia sua fundantur, ita scientia Scripturae fundatur super articulos fidei. II Sent. 30, 1, 1, resp. [II, 716a]: ratio in inquirendo dupliciter potest procedere: aut prout est adiuta radio fidei, et sic procedit aspiciendo ad causas superiores; aut prout iudicio proprio relicta est, et sic procedit inspiciendo ad naturas et causas inferiores, acquirit enim scientiam per viam
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Die Besonderheit ihres Gegenstandes und ihrer Methode gibt der Philosophie ein eigenständiges Profil gegenüber der Theologie, sie ist autonom, denn sie verfährt nach eigenen Regeln und ist nicht auf Theologie rückführbar. Gleichwohl – und das ist der zweite Punkt – ist die genannte Autonomie eine relative. Bonaventura sah nämlich nicht nur die Eigenständigkeit der Philosophie, er sah auch deutlich ihre Grenzen. Dies gilt insbesondere für den nobelsten Bereich der Philosophie, die Metaphysik. Der Ausgangspunkt seiner Argumentation ist dabei eine Analyse des Erkenntnisprozesses, wie er sich im Erfassen der Begriffe durch den Verstand darbietet.325 Dieses Erfassen geschieht, indem die Definition des durch den Begriff Bezeichneten angegeben wird, dazu ist aber ein Rückgriff auf höhere (allgemeinere) Begriffe notwendig. Die sich ergebende Aufstiegsbewegung führt schließlich zu den allgemeinsten Begriffen, nämlich dem des Seins an sich (ens per se) und seiner Grundbestimmungen (unum, verum, bonum), von deren Erfassung schließlich der gesamte Erkenntnisprozess abhängt.326 Ist damit aber die Struktur des Seienden vollständig aufgedeckt? Nein, für Bonaventura ist die notwendige resolutio, die Rückführung auf den letzten Grund noch nicht abgeschlossen, denn beim Bedenken des Seins treten neben den genannten noch weitere Bestimmungen (conditiones) zutage: Jedes (geschaffene) Seiende wird stets auch als unvollkommenes, vergängliches, abhängiges Seiendes wahrgenommen. Die Erkenntnis der genannten Privationen bzw. Defekte ist aber nur auf dem Hintergrund entsprechender positiver Bestimmungen möglich.327 Das bedeutet aber, dass jedes endliche (geschaffene) Seiende nur auf dem Hintergrund und unter der Voraussetzung eines vollkommenen, unvergänglichen, absoluten Seins erkannt werden kann. Kurz gesagt: „Das Ersterkannte ist nicht das Sein im Allgemeinen, sondern das erste, das göttliche Sein.“328 Erst mit dieser Feststellung ist der Begriff des Seins hinreichend bestimmt. Und an dieser Stelle zeigt sich die Grenze der Metaphysik: Denn um den „Begriff“ des göttlichen Seins zu bestimmen,
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sensus et experientiae. Vgl. auch Serm. theol. IV, 18 [V, 572]: indubitanter tamen verum est, secundum quod dicit Philosophus, cognitionem generari in nobis via sensus, memoriae et experientiae, … Ferner Brev. I, 1 [V, 210]: Ipsa etiam [scil. sacra doctrina] sola est sapientia perfecta, quae incipit a causa summa, ut est principium causatorum, ubi terminatur cognitio philosophica. Vgl. auch GILSON, Philosophie des hl. Bonaventura, 109. Vgl. vor allem Itin. III, 3 [V, 304]; für das Folgende beziehe ich mich vor allem auf SPEER, Bonaventura, 174–183, dessen Gedankengang ich hier zusammenfassend wiedergebe. Vgl. Itin. III, 3 [V, 304a]: Nisi igitur cognoscatur, quid est ens per se, non potest plene sciri definitio alicuius specialis substantiae. Nec ens per se cognosci potest, nisi cognoscatur cum suis conditionibus, quae sunt: unum, verum, bonum. So stellte Bonaventura fest mit Bezug auf AVERROES, In De anima III, txt. 25, in: Commentarium magnum in Aristotelis de anima libros, rec. S. Stuart Crawford (= Corpus commentariorum Averrois in Aristotelem 6.1), Cambridge, Mass. 1953, hier 462, Z. 26–28. SPEER, Bonaventura, 178 mit Bezug auf Hex. II, 3 (10), 6 [V, 378]: esse enim divinum primum est, quod venit in mente. Erst hier kommt es zur plena resolutio (Itin. III, 3 [V, 304a]) des Intellektes, vgl. I Sent. 28, dub. 1 [I, 504b]: Intellectu resolvente semiplene, potest intelligi aliquid esse, non intellecto primo ente. Intellectu autem resolvente perfecte, non potest intelligi aliquid, primo ente non intellecto.
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bedarf es einer besonderen Erleuchtung.329 Das bedeutet aber nichts anderes, als dass „die Metaphysik das Fundament unserer Erkenntnis letztlich nicht adäquat auszuweisen“ vermag,330 vielmehr bleibt sie dabei auf Vorgaben verwiesen, die jenseits ihrer selbst liegen. Diese von Bonaventura vorgenommene Grenzziehung gilt es, sehr sorgfältig auszuloten. Sie bedeutet nicht, dass Metaphysik dadurch grundsätzlich unmöglich wird. Unmöglich wird aus dieser Perspektive nur eine Form der Metaphysik, die von einem rein abstrakt-formalen Seinsbegriff ausgeht, der keine ontologische Füllung besitzt. Die von dem Doctor seraphicus favorisierte Gestalt der Metaphysik dagegen zeichnet sich durch ihren exemplaristisch-resolutiven Charakter aus:331 Im Bedenken der beiden Gestalten des Seins als causa und causatum, als notwendiges und kontingentes Sein gelangt sie zu einem Verständnis des ersten Seins als ex se, secundum se und propter se. Dieses erweist sich im Hinblick auf das kontingente Sein als Ursprung, Mitte und Ziel. Die „Mitte“ besteht dabei darin, Urbild (in ratione omnia exemplantis) und Wahrheit alles geschaffenen Seins zu sein.332 Der Exemplarismus erscheint so als die eigentliche Herzmitte der Metaphysik und in ihm scheint auf, inwiefern die Philosophie das Wahre an und für sich betrachtet.333 An dieser Stelle ist noch einmal zu betonen, dass hier zwar die Zusammengehörigkeit und auch die gegenseitige Verwiesenheit der beiden Wissenschaften Philosophie und Theologie betont wird, dass dabei aber keineswegs eine Rückführung der Philosophie auf Theologie propagiert wird, so wenig wie die obengenannte „Erleuchtung“ einfachhin mit dem Licht des Glaubens in eins gesetzt werden darf.334 Worum es Bonaventura bei seiner Erkenntnisanalyse ging, war nicht eine Destruktion philosophischen Wissens, 329
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Vgl. SPEER, Bonaventura, 178. In der Systematik der drei Erleuchtungsstufen des Itinerarium geschieht hier der Übergang von der zweiten Stufe (der Betrachtung Gottes intra nos) zur dritten Stufe (supra nos); dieser Betrachtung des göttlichen Seins widmete sich dann Itin. V [V, 308– 310]. SPEER, Bonaventura, 178. Die unter dem Stichwort Exemplarismus zu behandelnde Metaphysik Bonaventuras kann hier nur kurz angerissen werden. Ein Programm gab Bonaventura selbst in Hex., princ., 1 (1), 12–17 [V, 331f.; Ed. Delorme, 5–7], für das Folgende vgl. besonders nr. 13. Das Wesentliche in einem Satz zusammenfassend stellte Bonaventura fest: haec est tota nostra metaphysica: de emanatione, de exemplaritate, de consummatione, scilicet illuminari per radios spirituales et reduci ad summum (ebd. 17 [V, 332b]). Für einen Einblick in die Thematik vgl. den Artikel «Exemplar» in Jacques Guy BOUGEROL (Hrsg.), Lexique Saint Bonaventure, Paris 1969, 61–65. Hex., princ., 1 (1), 13 [V, 331]. Vgl. Brev., prol., § 1 [V, 203a]: … philosophia, quae non tantum de veritate morum, verum etiam agit de vero nuda speculatione considerato. So wurde Red. 1 [V, 319a] etwa unterschieden zwischen dem lumen interius, scilicet lumen cognitionis philosophicae und dem lumen superius, scilicet lumen gratiae et sacrae Scripturae. Dementsprechend wurden in Hex. I, 4 (7), 3f. [V, 365f.] (nur in Reportatio B) die Philosophen der platonischen Richtung „erleuchtet“ (illuminati) genannt, weil sie die Existenz der Ideen (und damit die exemplaritas) vertraten.
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was er forderte, war „eine klare Rechenschaftsabgabe über die Gewissheitsgründe jeglichen Wissens“.335 Diese Forderung ist ganz im Sinn des neuen Wissenschaftsbildes (auch wenn es natürlich eine sehr alte Forderung ist); sie ist dabei auch keine Frage einer aristotelischen oder augustinisch-neuplatonischen Ausrichtung der Philosophie, sondern es geht um den ihr gemäßen Ort im Ganzen der Wissenschaften und der sapientia christiana. Von diesem Ort her ist schließlich auch die zum Teil herbe Kritik zu verstehen, die Bonaventura in den drei Reihen der Collationes in decem praeceptis, de septem donis Spiritus Sancti und in Hexaëmeron übte. Bonaventura unterschied dabei sehr wohl zwischen der Wissenschaft an sich und dem menschlichen Umgang mit dieser Wissenschaft. Hinsichtlich des Ersten betonte er, dass sich die Philosophie nicht absolut setzen darf, das heißt: Sie muss, erstens, die vorgegebene Grenze anerkennen und darf sie nicht überschreiten. Für jene Wahrheiten, die supra rationem sind und zu deren Erkenntnis das Licht des Glaubens notwendig ist, kann sie keine Kompetenz beanspruchen.336 Sie darf aber, zweitens, auch nicht bei sich selbst stehenbleiben. Bonaventura mahnte eindringlich: Philosophica scientia via est ad alias scientias, sed qui ibi vult stare cadit in tenebras.337 Es geht hier nicht darum, die Philosophie zur Hilfswissenschaft zu degradieren, sie wird jedoch dazu verpflichtet, das Gesamt der Wahrheiten (eben auch jener theologischen Wahrheiten, die jenseits ihres Gebietes liegen) ernstzunehmen, ansonsten wird sie ihre eigene Wahrheit verfehlen.338 Zudem muss sie sich bewusst bleiben, dass sie die Glückseligkeit als das eigentliche Ziel des Menschen, in dem er zur Ruhe 335
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SPEER, Bonaventura, 180. Anstatt von der Erkenntnisanalyse Bonaventuras auszugehen, hätte man genauso gut die Frage nach der Gewissheit des (menschlichen) Wissens als Ausgangspunkt nehmen können; vgl. SPEER, Bonaventura, 172–174 oder Jean CHÂTILLON, Saint Bonaventure et la philosophie, in: Alfonso Pompei (Hrsg.), San Bonaventura maestro di vita Francescana e di sapienza cristiana. Atti del Congresso internazionale per il VII centenario di San Bonaventura da Bagnoregio, Tom. I, Roma 1976, 429–446, hier 442f. Bei Bonaventura finden sich entsprechende Analysen in Scient. 4 [V, 17–27] (Utrum quidquid a nobis certitudinaliter cognoscitur cognoscatur in ipsis rationibus aeternis) und in Serm. theol. IV, 6–10 [V, 568–570], wo Christus als der magister cognitionis, quae est per rationem vorgestellt wird. Vgl. ferner Itin. III, 3f.; II, 9 [V, 304f.301f.]. Der in Hex. III, 7 (19), 14 [V, 422; Ed. Delorme, 217] lancierte Vorwurf, dem Wein der Heiligen Schrift nicht zu viel Wasser der Philosophie beizumischen, hat so die Spitze, die beiden Wissenschaften sorgfältig(er) zu trennen. Am Anfang der Nummer 14 rekurrierte Bonaventura ja auf ein Franziskusdiktum, der mit einem Heiden de fide disputari non poterat, quia supra rationem est. – In dem Sinn einer Warnung vor Grenzüberschreitung wird man auch Hex. I, 1 (4), 1 [Ed. Delorme, 48] lesen: Similiter de philosophis antiquis: dicentes se plene sapientes in investigatione rerum per lucem naturalem, stulti facti sunt … (Unterstreichung von mir). Don. IV, 12 [V, 476]. Eine Philosophie, die von den geoffenbarten Wahrheiten völlig absieht, stellte für Bonaventura einen Rückfall in eine unzeitgemäße, längst überholte Gestalt der Philosophie dar, es war ihm eine Rückkehr zu den „Fleischtöpfen Ägyptens“ (Stellen siehe oben S. 82, Anm. 304). Vgl. auch SCHLOSSER, Einleitung [über den Grund der Gewißheit], 6: „Die Verabsolutierung von Ergebnissen einer Wissenschaft, welche nicht beanspruchen kann, den Blick auf das Ganze zu haben, führt in den Irrtum.“
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kommt, nicht zu geben vermag,339 und das, obwohl sie grundsätzlich (wie oben S. 84 ausgeführt) darauf ausgerichtet ist340 – die Scheidelinie zwischen scientia und sapientia, zwischen dem, was die Vernunft aus ihren eigenen Möglichkeiten heraus zu leisten vermag, und dem, was den Menschen erfüllt, wird hier noch einmal deutlich zu Bewusstsein gebracht.341 Was die zweite Frage des menschlich-praktischen Umgangs mit der Philosophie anlangt, so war Bonaventura von der Grundüberzeugung getragen, dass der Zugang zur Wahrheit auch davon abhängt, wie man sich ihr nähert. Gerade weil menschliches Wissen oft in einer Mischung aus Wahrem und Falschen begegnet (von daher auch der Hinweis auf das lignum scientiae boni et mali),342 ist die Haltung des Wahrheit Suchenden entscheidend: Die Wahrheit enthüllt sich nur dem, der ihr in Demut (humilitas) entgegengeht,343 wer dagegen von bloßer Neugier und Stolz getrieben ist, der verfehlt sie und fällt in Finsternis.344 Und auch hier gilt: Es geht nicht um das Wissen an sich (im Sinn einer reinen Anhäufung von Fakten), sondern um das Heilswissen als das entschei339
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Hex. I, 3 (7) warnte des Öfteren (Absätze 2, 3, 5, 12 [V, 365–367; Ed. Delorme, 99–103]) vor falschen Konzeptionen einer mehr oder weniger innerweltlichen Seligkeit. Ein solches Konzept diesseitiger Glückseligkeit fand man etwa auch bei Boethius von Dacien (Stellen siehe SPEER, Bonaventura, 183). Insofern kann sie durchaus einen Vorgeschmack davon vermitteln, es gilt hier dasselbe, was oben (S. 28) bereits über das Verhältnis von intellectus und sapientia gesagt wurde. – Die Philosophie untersucht ja auch nichts anderes als die sapientia diffusa in omni re (Hex., princ., 2 (2), 21 [V, 340]). Vgl. Scient. 4, ad 19 [V, 26]: … attingere rationes illas [scil. aeternas] non facit sapientem, nisi quis in eis quiescat et sciat, se illas attingere, quod quidem spectat ad sapientem. Huiusmodi enim rationes attinguntur ab intellectibus scientium ut ductivae, sed ab intellectibus sapientium ut reductive et quietative. Siehe oben S. 82, Anm. 304 – in der Vermischung von Wahrem und Falschem sah Bonaventura auch die eigentliche Gefahr in der Philosophie. Vgl. Itin., prol., 4 [V, 296]: ne forte credat, quod sibi sufficiat … scientia sine caritate, intelligentia sine humilitate … ne forte ex ipsa radiorum speculatione in graviorem incidas foveam tenebrarum. Vgl. auch die Empfehlung Christi als medium humilitatis in Hex., princ., 1 (1), 23 [V, 333; Ed. Delorme, 11] (dessen Verlust Bonaventura an ebendieser Stelle beklagte). Vgl. in diesem Sinn Praec. II, 24 [V, 514]: Omnes autem falsae et superstitiosae adinventiones errorum proveniunt aut ex improbo ausu investigationis philosophicae aut … Sehr deutlich auch Don. IV, 12 [V, 475]: Qui confidit in scientia philosophica et appretiatur se propter hoc et credit, se esse meliorem, stultus factus est, scilicet quando per istam scientiam sine ulteriori lumine credit, se apprehendere Creatorem; sicut si homo per candelas vellet videre caelum vel corpus solare. Vgl. auch Hex. I, 1 (4), 1 [V, 349; Ed. Delorme, 48]. Die Warnung vor der curiositas findet sich im Hexaëmeron vor allem in Reportatio A (Hex., princ., 1 (1), 24; I, 2 (5), 21 [Ed. Delorme, 11.84]), vgl. aber auch Hex., princ., 2 (2), 21 [V, 340; ähnlich Ed. Delorme, 27]: Quando enim per curiosam perscrutationem creaturarum dat se quis ad investigandam istam sapientiam, tunc longius recedit. – Die Warnung vor der curiositas im Zusammenhang mit der Philosophie ist auch kein neues Thema des Hexaëmeron, es fand sich bereits in dem zwischen 1254 und 1257 entstandenen Koheletkommentar (In Eccl. I, 2 [VI, 17–20] passim).
Texte und Kontexte
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dende Wissen.345 Der wahre Philosoph ist für Bonaventura nicht der, der alles über Aristoteles weiß und ihn als unhinterfragbare Autorität ansieht,346 „sondern derjenige, der nach der Wahrheit fragt.“347 Für einen Christen ist diese Wahrheit aber ein für alle Mal geprägt durch die Person Jesu Christi: Er ist die Mitte von der alle Wissenschaften auszugehen haben und auf die hin alle anderen Wahrheiten ausgerichtet sind.348 Es lässt sich nicht bestreiten, dass Bonaventura die Theologie höher ansetzte als die übrigen Wissenschaften (die Philosophie eingeschlossen).349 Den Hauptgrund dafür sah er darin, dass sie mit den obengenannten350 Grundbedürfnissen des Menschen nach Weisheit (Erkenntnis), nach Seligkeit (Glück) und nach Frieden in engerer Verbindung steht: Agit enim theologus de salute animae, quomodo inchoatur in fide, promovetur in virtutibus, consummatur in dotibus.351 In der Ausrichtung auf das höchste Gute, das nicht nur geschaut, sondern auch geliebt werden möchte, hat die Theologie einen „affektiven Charakter“ (habitus affectus) und wird zwischen den spekulativen (theoretischen) und den praktischen Wissenschaften eingeordnet,352 entsprechend bestimmt Bonaventura ihren Hauptzweck durch das ut boni fiamus.353 – Diese Überordnung sollte 345
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Es gibt Wissen, das den Menschen nährt und sättigt (reficit), und solches, das ihn innerlich leer lässt; vgl. Hex. III, 5 (17), 6f. [V, 410] (De refectione intellectus): Philosophus dicit, quod magna delectatio est scire, quod diameter est asymeter costae; haec delectatio sit sua; modo comedat illam. Anstelle der Inkommensurabilität von (Quadrat-)Seite und Diagonale hat Reportatio A ein anderes Beispiel (die Innenwinkelsumme im Dreieck), der springende Punkt ist aber beide Male derselbe: Non sic est de triangulo, de quo licet aliqualiter delectetur sciens quare tres habet angulos intrinsecus aequipollentes duobus rectis extrinsecis, tamen ignorans negative non contristatur [Ed. Delorme, 196]; vgl. auch ebd. 26 [V, 413; Ed. Delorme, 201] die Unterscheidung von notitia interior und exterior, letztere ist die notitia, de qua qui plus bibet plus sitit (Reportatio B) bzw. die notitia, quae tantum quaerit ut sciat et ibi sistit (Reportatio A). Vgl. auch oben Anm. 304, S. 82. Vgl. Serm. temp., Dominica III. Adventus, Sermo 2 [IX, 63a]: Sed si es aemulator Philosophorum, dicis: quomodo potuit decipi Aristoteles? SCHLOSSER, Bonaventura begegnen, 79. Vgl. Hex., princ., 1 (1), 10–39, insbes. 10 [Ed. Delorme, 4]: In Christo ergo, qui tenet medium in omnibus, incipiendum et per ipsum perveniendum est ad Creatorem. In diesem Sinn warnte Bonaventura in der oben (S. 89, Anm. 346) angeführten Predigt auch die Wissenschaftler vor der Gefahr, quod nesciunt Christum … propter curiositatem (Serm. temp., Dominica III. Adventus, Sermo 2 [IX, 63b]). Vgl. z. B. die Bezeichnung als scientia altissima et nobilissima (III Sent. 23, 1, 4, arg. 5 [III, 481]), ferner Don. IV, 13 [V, 476]: Ultra scientiam philosophicam dedit nobis Deus scientiam theologicam …, auch die in Hex. III, 7 (19) [V, 419–424; Ed. Delorme, 212–222], besonders in 9–12, vorgestellte Studienordnung legt davon Zeugnis ab. – STEENBERGHEN, La philosophie au XIIIe siècle, 241f. ging dabei für Bonaventura von einer sehr weit gehenden Unterordnung (subalternatio) der Philosophie unter die Theologie aus. Siehe oben S. 84. Hex., princ., 1 (1), 37 [V, 335]. Vgl. I Sent., prooem., 3, resp. [I, 13]. Ebd. – Vgl. auch Hex. III, 7 (19), 22 [Ed. Delorme, 220]; Brev., prol., § 5 [V, 206], wo dasselbe von der Lehre der Heiligen Schrift ausgesagt wird.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
nun freilich nicht dazu verleiten, die Grenzen, die auch die Theologie besitzt, zu übersehen. Die im vorigen Absatz formulierte, zeitbedingte Kritik Bonaventuras gilt für die Theologie in mindestens demselben Maße wie für die Philosophie:354 Auch hier ist die humilitas die entscheidende Grundhaltung,355 auch sie hat sich als dienende Wissenschaft zu verstehen,356 und auch sie hat einen transitorischen Charakter:357 Sowenig wie bei der Philosophie darf man bei der Theologie stehenbleiben, nach Don. IV, 19–24 [V, 477–479] muss sie abgelöst werden von der scientia gratuita als der Wissenschaft der Heiligen, in der sich die gewonnene Einsicht noch tiefer mit einem Tun in Liebe verbindet.358 Hex. III, 7 (19) [V, 419–424; Ed. Delorme, 212–222] betonte in ähnlicher Absicht die Bedeutung des studium sanctitatis, das als Mittel des Übergangs von der scientia zur sapientia dient.359 In beiden Schriften ist damit nicht eine Entwertung der 354
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So galt z. B. die Philosophenschelte in Hex. I, 1 (4), 1 [V, 349; Ed. Delorme, 48], sie seien durch ihren Hochmut gefallene Engel (luciferani), in gleicher Weise auch für den hochmütigen vir contemplativus (Hex. IV, 4 (22), 42 [V, 444; sinngemäß auch in Ed. Delorme, 264]). Vgl. z. B. Brev., prol., § 4 [V, 206a] über den „Hörer“ der Heiligen Schrift (nullus est conveniens eius auditor nisi humilis, mundus, fidelis et studiosus) und das Vorbild Christi (decebat ipsum et eius doctrinam habere humilitatem in sermone cum profunditatem in sapientiae), ähnlich auch Serm. theol. IV, 21f. [V, 572f.], weitere Anforderungen an einen Lehrer der Theologie wurden ebd., 24–28 [V, 573f.] beschrieben, die Schlussmahnung warnte u. a. vor der praesumtio sensuum als einem der Dinge, die das Erfassen der Wahrheit (perceptionem veritatis) verhindern. Vgl. Serm. theol. IV, 24 [V, 573]: … et ideo omnis doctrina ministerialis doctoris ad haec tria debet ordinari … Debet namque ministerialis magister intendere scientiae veritatis fidei … Auch hier traf die Kritik Bonaventuras beide Wissenschaften zugleich, wenn es Hex. III, 7 (19), 15 [V, 422] hieß: … similiter in scriptis magistorum et in scriptis philosophorum, sed transeundo et furando, quasi ibi non sit permanendum. Die Reportatio A [Ed. Delorme, 217f.] bezog sich dabei allerdings nur auf die scripta philosophorum. Darum ist sie die veritatis ut credibilis et diligibilis notitia sancta (siehe oben S. 83), man beachte besonders den Übergang 18f. [V, 477] von der Theologie zur scientia Sanctorum: Ista scientia [scil. theologia], si non adsit operis impletio, non est utilis sed damnosa … Ideo aliam claritatem oportet habere, scilicet scientiae gratuitae, quae est forma claritatum duarum praecedentium [scil. philosophiae et theologiae]. Vgl. besonders Absatz 3 [V, 420; ähnlich bei Ed. Delorme, 213 am Ende von Absatz 1–2]: Non est ergo securus transitus a scientia ad sapientiam, oportet ergo medium ponere, scilicet sanctitatem. Man beachte dabei, dass die Collatio III, 7 (19) den Übergang von der dritten zur vierten Visio herstellt. In der dritten Visio behandelte Bonaventura die intelligentia per scripturam erudita, die scientia meint in dem Zitat also sicher nicht allein die philosophische Wissenschaft, sondern schließt die Theologie mit ein. – Eine Stellung der Theologie als „Übergangswissenschaft“ findet man auch in früheren Schriften Bonaventuras, der konzeptuelle Rahmen ist hier allerdings ein anderer: Im Serm. theol. IV, 1.15 [V, 567.571] erschien die Theologie als Mittelglied eines dreifachen modus cognoscendi (per credulitatem piae assensionis – per approbationem rectae rationis – per claritatem mundae contemplationis) bzw. einer in drei Schritten aufgebauten Ordnung, um zur Weisheit zu gelangen (ut inchoetur a stabilitate fidei et procedatur per serenitatem rationis, ut perveniatur ad suavitatem contemplationis). Das Brev., prol. [V, 201f.] zeichnete einen Dreischritt von ortus, progressus und status sacrae Scripturae: Der Beginn ist per divinam revelationem, das Ende ist die plenitudo aeternae felicitatis, die das Ziel alles Studierens und Lehrens ist (Hoc igitur
Texte und Kontexte
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Theologie intendiert,360 wie bei der Philosophie geht es darum, ihr den rechten Platz innerhalb des Gesamtgebäudes der sapientia zuzuweisen, um so von Klarheit zu Klarheit (vgl. 2 Cor. 3, 18) fortzuschreiten.361 So viel zu den Gemeinsamkeiten von Philosophie und Theologie, sie sollten selbstverständlich nicht dazu verleiten, die Unterschiede zwischen beiden Wissenschaften zu verwischen. Diese liegen, wie oben (S. 84) bereits ausgeführt im Gegenstand und in der Methode. Vor allem Letzteres gilt es noch einmal hervorzuheben, denn die Theologie zeichnet sich zwar durch ein begründendes und insofern rationales Vorgehen aus,362 insofern aber der Glaube363 das in seinen wesentlichen Inhalten bereits vorgegebene Fundament darstellt, ist – im Gegensatz zur Philosophie – die von der Theologie zu erbringende Begründungsleistung (eben als Einsichtigmachen des bereits Geglaubten) etwas „Nachträgliches“. Dem korrespondiert sowohl die Feststellung, dass die Glaubensaussagen in einem Bereich anzusiedeln sind, zu dem sich die Vernunft nicht aus eigener Kraft erheben kann,364 als auch der im Vergleich zur Philosophie umgekehrte Weg der Theologie als einem Absteigen vom ersten Prinzip zu dessen Wirkungen.365 Auch die Natur der Begründungen ist dementsprechend eine andere als in der „profanen“ Wissenschaft: Sie gelangt (in der Regel) nur zu Wahrscheinlichkeitsgründen (rationes probabi-
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fine, hac intentione sacra Scriptura perscrutanda est et docenda et etiam audienda), die Theologie als Erforschung der Heiligen Schrift ist dabei ein Teil (!) des progressus sacrae Scripturae. Vgl. Hex. III, 7 (19), 3 [V, 420, ähnlich Ed. Delorme, 213]: ad sapientiam autem perveniri non potest nisi per disciplinam, nec ad disciplinam, nisi per scientiam, und sehr deutlich auch Don. IV, 18 [V, 477]: Si fundamenta Ecclesiae consistunt in scientia sacrae Scripturae, ideo qui sacram Scripturam nescit repellendus est ab officio et dignitate ecclesiastica. Darum hieß es im Anschluss an das in der vorausgehenden Anmerkung angeführte Zitat in Hex. III, 7 (19), 3 [V, 420]: non est ergo praeferendum ultimum primo. Malus esset mercator, qui stannum praeeligeret auro. Qui enim praefert scientiam sanctitati nunquam prosperabitur. – Darum wurde auch im Folgenden der modus und der ordo studendi mit seinen vier „Kreisen“ (Heilige Schrift, Zeugnisse der Heiligen, theologische und philosophische Schriften) dargelegt, und darum wurde in Don. IV, 23 [V, 478] dargelegt, dass die scientia gratuita auch den modus sciendi lehrt, nämlich quo ordine, quo studio, quo fine quisque addiscat. Vgl. I Sent., prooem., 2, resp. [I, 10]: Die Vorgehensweise des Theologen ist der modus ratiocinativus sive inquisitivus; vgl. auch I Sent., prooem., 1, resp. [I, 7b]: et sic [subiectum theologiae] est credibile, prout tamen credibile transit in rationem intelligibilis, et hoc per additionem rationis. Bonaventura dachte dabei nicht an einen natürlichen Glauben, sondern an die gnadenhafte fides infusa (vgl. Brev., prol. [V, 201ab]), dieser ist seinerseits inhaltlich rückgebunden an die Heilige Schrift und die Lehre der Kirche. Vgl. ferner Ulrich G. LEINSLE, Glaubensvermittlung in der scholastischen Theologie. Bonaventuras Breviloquium, in: Heinrich Petri u. a. (Hrsg.), Glaubensvermittlung im Umbruch. Festschrift für Bischof Manfred Müller, Regensburg 1996, 145–167, hier 147f. Vgl. z. B. Hex. I, 4 (7), 6 [V, 366b; sinngemäß Ed. Delorme, 101]: … cum [scil. philosophi] essent investigatores secundum potentiam rationis, ratio nostra non potest ad hoc pervenire, ut corpora resurgant … Siehe oben S. 84.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
litatis), zu Gründen der Konvenienz und der Angemessenheit.366 Zu dieser Konzeption von Theologie nötigte Bonaventura vor allem der Respekt vor Gottes Freiheit, dessen Handeln nicht in den Kategorien menschlichen Denkens deduzierbar sein kann.367 Die Nachträglichkeit der theologischen Begründungen bedeutet dennoch nicht, dass sie überflüssig oder nur ein schöner Schmuck wären. Im Gegenteil, denn das eigentliche Ziel, die sapientia als „das Schmecken, Verkosten des im Glauben Erkannten“, erreicht man „niemals ohne das Einsichtigmachen des Glaubensinhaltes.“368 Der transitus, den die Theologie darstellt, erweist sich so in gewisser Weise als notwendig – „in gewisser Weise“, denn Bonaventura ging nicht so weit, Theologie als heilsnotwendig für den einzelnen Christen hinzustellen –, und die Rationalität stellt somit ein wesentliches Element des Glaubens selbst dar. Damit aber ist auch die Einbeziehung des profanen Wissens nicht nur wünschenswert, sondern sogar gefordert.369 Zusammenfassend gilt es festzuhalten, dass Bonaventura sowohl die Philosophie als auch Theologie innerhalb eines Gesamtkonzeptes der sapientia christiana sah.370 Beide haben in diesem Konzept einen festumrissenen Platz, auf dem sie zu dem letztlich angezielten transitus ad sapientiam mitwirken. Die in den Spätschriften aus gegebenem Anlass geäußerte Kritik bezieht sich auf eine Absolutsetzung der Philosophie, die sie außerhalb dieses Ordnungsgefüges stellt,371 und auf „eine unkritische Übernahme vermeintlich erwiesener Ergebnisse aus der Philosophie in die Theologie“,372 durch die die christlichen Grundwahrheiten verdunkelt werden. Die gleichzeitig vorhandenen positiven Aussagen zeigen, dass sich an der grundsätzlichen Wertschätzung der Philosophie durch Bonaventura kaum etwas geändert hat. „Wer die Schrift liebt, liebt die Philosophie, um durch sie den Glauben zu bekräftigen“,373 diesen Satz Bonaventuras sollte man nicht als eine Instrumentalisierung der Philosophie zu Glaubenszwecken verstehen, sondern als ein Bekenntnis zu seiner Grundüberzeugung von der Rationalität des Glau366
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I Sent., prooem., 1, ad 5.6 [I, 8] (supra rationem veritatis et auctoritatis addit rationem probabilitatis); was den Aspekt der Konvenienz und der Angemessenheit angeht, so verwies LEINSLE, Glaubensvermittlung, 160f. beispielhaft auf Bonaventuras Diskussion der Frage De ratione, qua Verbum Dei debuit incarnari vel decuit (Brev. IV, 1 [V, 241f.]) und hierher gehört auch das Prinzip von Gott altissime et piissime zu denken, etwa in Trin. 1, 2, resp. [V, 55b–56a]; vgl. auch Hex. II, 2 (9), 24 [V, 376]; ebd. [Ed. Delorme, 123] hat piissime, verissime, optime. Vgl. LEINSLE, Glaubensvermittlung, 167. LEINSLE, Glaubensvermittlung, 154. Vgl. hierzu noch einmal III Sent. 35, 1, 3, resp. und ad 3 [III, 778f.] sowie Hex. III, 7 (19), 5 [V, 421]: Oportet scire, ut de fructibus sapientiae habeatur, et per portas civitatis possimus introire. Vgl. LEINSLE, Glaubensvermittlung, 165. Ob dieses „Ideal theologischer Wissenschaft und Weisheit … bereits zu seiner Zeit angesichts der universitären Entwicklung veraltet anmuten muß“ (LEINSLE, Einführung, 155), oder ob es nicht vielmehr das organischere Konzept darstellt, sei dahingestellt. Kritisiert werden die, qui totaliter se ibi incurvant in Hex. III, 7 (19), 13 [V, 422; ähnlich Ed. Delorme, 217]. SCHLOSSER, Einleitung [über den Grund der Gewißheit], 5. Serm. temp., Dominica III. Adventus, Sermo 2 [IX, 63a].
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bens (im oben dargelegten Sinn), zu der die Philosophie einen nicht zu vernachlässigen Beitrag zu leisten hat. Wenn es zwischen Theologie und Philosophie abzuwägen gilt, so ist das erkenntnisleitende Interesse Bonaventuras ohne Zweifel ein theologisches. Aus diesem Grund erscheint der Doctor seraphicus als einer, der die Philosophie zwar sehr intensiv benutzt (wie sich in seinen Schriften allenthalben zeigt),374 der aber nicht im strengen Sinn eine eigene philosophische Synthese entwickelt hat, vielmehr stehen „die philosophisch relevanten Aussagen Bonaventuras alle von vornherein in einem theologischen Kontext“.375 Von daher lassen sich zwar gewisse inhaltlich philosophische Fluchtlinien aufzeigen, die sich durch das Werk Bonaventuras hindurchziehen, daraus kann man aber nicht eine „Philosophie Bonaventuras“ konstruieren, die die Verbindung zu seiner Theologie und zu seinem Konzept der sapientia (als der eigentlichen Synthese) hinter sich lässt. Dem gilt es Rechnung zu tragen, wenn man die Thematik von Zeit und Ewigkeit bei Bonaventura untersuchen will: Das Interesse Bonaventuras an den rein philosophischen Aspekten ist auch in diesem Bereich nicht besonders groß, und insofern wird man hier keine außerordentlichen Syntheseleistungen erwarten, sondern den eher rezeptiven Charakter seiner Darstellung berücksichtigen.376 Gleichzeitig sollte dabei bereits deutlich geworden sein, dass Bonaventura zwar vorsichtig, aber durchaus kritisch Stellung bezog. Die eigentlichen Begründungszusammenhänge hat man auf der theologisch-sapi374
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Robert Elias ABU-SHANAB, Two Philosophically-oriented Theologians. Al-Ghazali and St. Bonaventure, in: Alfonso Pompei (Hrsg.), San Bonaventura maestro di vita Francescana e di sapienza cristiana. Atti del Congresso internazionale per il VII centenario di San Bonaventura da Bagnoregio, Tom. I, Roma 1976, 883–892, stellte in seinem Artikel die Ähnlichkeiten zwischen Bonaventura und al-Ġhazzālī heraus, die er beide als „grundsätzlich philosophisch orientierte Theologen und nicht theologisch orientierte Philosophen“ (891) einordnete. Die Gemeinsamkeiten sah er (1) in einer klaren Unterscheidung von Philosophie und Theologie hinsichtlich ihrer Methode und ihres Gegenstandes, (2) in der Sicht auf Glaube und Vernunft als zwei Erkenntnisweisen, die (bei sorgfältiger Unterscheidung ihrer jeweiligen Aufgaben) nebeneinander gleichberechtigt bestehen können, (3) in der Vorstellung der wahren Philosophie als einer Reflexion der Vernunft, die vom Licht des Glaubens geleitet werden muss (887–889). Während ich den ersten beiden Punkten voll zustimme, würde ich den letzten nur mit Einschränkungen akzeptieren: Der Glaube macht zwar inhaltliche Vorgaben, die von der Philosophie nicht übergangen werden dürfen, ansonsten ist das Licht der Philosophie aber eine eigene Erleuchtung (freilich innerhalb des größeren sapienzialen Zusammenhanges). SCHLOSSER, Einleitung [über den Grund der Gewißheit], 2; hier kann auch auf die Ergebnisse der Arbeit von Omar ARGERAMI, San Buenaventura frente al aristotelismo, in: Patristica et Mediaevalia 2 (1981) 21–36, hier 22f. hingewiesen werden: (1) Der heilige Bonaventura beabsichtigte weder, noch gab er einen Aufriss der Philosophie, (2) seine Haltung lässt sich weder als Pro- noch als Antiaristotelismus charakterisieren, vielmehr (3) ist die Philosophie im Kontext seines Werkes und seines Lebens in einem gewissen Maß ein indifferentes Element. Schließlich sind (4) seine philosophischen Positionen immer bedingt durch seine theologischen und pastoralen Intentionen. Was sich mit der bereits zitierten Feststellung Udo Jecks deckt, dass Bonaventura keine eigene Zeittheorie entwickelt hat (siehe oben S. 22, Anm. 1).
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enzialen Ebene zu suchen, wobei sich Bonaventura hier nicht von einer rationalen Durchdringung dispensierte, sondern vielmehr großen Wert auf sie legte.
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Vordenker
Die Frage nach Zeit bildet in der abendländischen Denktradition ein festes Gespann mit der Frage nach der Ewigkeit,1 als eines der „Standardthemen der mittelalterlichen Philosophie“,2 wurde sie seit dem 13. Jahrhundert unzählige Male erörtert. Dabei bildete sich keine einheitliche Theorie der Zeit heraus, vielmehr wurde die Diskussion immer komplexer und unübersichtlicher. Ein gewisses einheitsstiftendes Moment bildete dabei einerseits ein (offener) Katalog von Fragen, die etwa im Zusammenhang mit der Frage nach der Zeit erörtert wurden (z. B. die Frage nach Zeit und Bewegung, nach der Einheit der Zeit, nach der Realität der Zeit, nach dem Verhältnis von Zeit und Seele), andererseits existierte eine Basis von antiken Texten, die immer wieder herangezogen und gegebenenfalls durch zeitgenössische Beiträge ergänzt wurden. Zu diesen Texten gehörten etwa Platons Timaios (vor allem c. 10f. [37c–39e] über die Zeit als bewegliches Abbild der Ewigkeit), Aristoteles’ Physik (vor allem das vierte Buch über Raum, Leere und Zeit mit der bekannten Definition der Zeit als Maßzahl der Bewegung, ferner das achte Buch über Veränderung und den unbewegten Beweger), De caelo (vor allem das erste Buch) und seine Metaphysik (hauptsächlich das zwölfte Buch über die Substanz [οὔσία] als veränderlich-vergängliche und als unbewegte). Bei beiden Autoren konnte das 13. Jahrhundert bereits auf eine ganze Reihe antiker und auch mittelalterlicher (arabischer) Kommentare zurückgreifen.3 Weiter wird man hier auch Plotins 1
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Vgl. Josef SIMON, Zeit, Zeitlichkeit. II. Philosophisch, in: Walter Kasper u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10, Freiburg u. a. 32001, 1405–1409, hier 1405: „In der europäischen Philosophie wird der Begriff der Zeit von Anfang an im Zusammenhang mit dem der Ewigkeit erörtert“. JECK u. a., Zeit, 509, der Artikel bildet auch die Grundlage für die folgenden Ausführungen. Auf die Übersetzungstätigkeit Wilhelms von Moerbeke wurde oben bereits hingewiesen (siehe oben S. 68); die Verfügbarkeit und die tatsächliche Rezeption der Kommentare variiert freilich von Schrift zu Schrift, so wies etwa JECK, Aristoteles contra Augustinum, 5, Anm. 7 darauf hin, dass die antiken Kommentare zur Physik des Aristoteles, „den Philosophen des 13. Jahrhunderts unzugänglich“ waren, ein indirekter Zugang bestand vor allem über Averroes, der den Kommentar des Alexander von Aphrodisias als Hauptquelle benutzte und auch Themistios kannte (vgl. ebd., 4, Anm. 6). – Der wichtigste Kommentar zu Platons Timaios stammte von Chalcidius; auch in Gesamtdarstellungen der platonischen Philosophie, etwa bei APULEIUS VON MADAURA, De Platone et eius dogmate 10, in: Platon und seine Lehre, hrsg. v. Paolo Siniscalco, übs. v. Karl Albert, St.
Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
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Enneade III, 7 über Zeit und Ewigkeit anführen, ebenso wie das elfte Buch der Confessiones Augustins und das fünfte Buch von Boethius’ Consolatio philosophiae (mit der Definition der Ewigkeit als interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio).4 Ich denke, man muss gar nicht weiter ins Detail gehen, um zu erkennen, dass es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, wenn jeder der genannten Texte in seiner eigenen Aussageabsicht hier vorgestellt würde. Exemplarisch sollen aber wenigstens jene beiden Gestalten vorgestellt werden, die auf die mittelalterliche Diskussion den größten Einfluss hatten, nämlich Aristoteles und Augustinus.5
3.1
Aristoteles
Aristoteles war bei weitem nicht der Erste, der über Zeit und Ewigkeit nachdachte. Man mag hier zuerst an die in der griechischen Antike verbreitete zyklische Konzeption der Zeit denken, wie sie sich schon in den Epen Homers widerspiegelt und wie sie Pythagoras ausdrücklich gelehrt hat.6 Doch man findet auch noch weitere Ansatzpunkte: So sah bereits Heraklit von Ephesus die zeitlichen Dinge in einem steten Zustand des Werdens, bei dem alles in sein jeweiliges Gegenteil umschlägt (lebendig – tot, wach – schlafend, jung – alt),7 wobei gerade „die Unaufhaltsamkeit der Bewegung und deren Dialektik … das ewig-ruhende Seinsgesetz ist“.8 Anders sein Zeitgenosse Parmenides, der in seinem
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Augustin 1981, hier 33f., oder PROKLOS DIADOCHOS, Theologia platonica III, 16, in: Théologie platonicienne, hrsg. u. übs. v. Henri Dominique Saffrey u. L. G. Westerink, 6 Bde., Paris 1968– 1997, hier Bd. 3, 54–57 findet man weitere Deutungen des platonischen Zeitbegriffs. V, 6, 4 [CC.SL 294, 102]. Die Liste ließe sich noch fortsetzen, hier sei lediglich noch auf den Skeptiker Sextus Empiricus hingewiesen, dessen Schrift Πρὸς µαθηµατικούς (Adversus mathematicos) im zehnten Buch ebenfalls einen ausführlichen Zeittraktat enthielt; vgl. hierzu FLASCH, Was ist Zeit?, 109 und ausführlicher bei JECK, Aristoteles contra Augustinum, 74–77 & 86–89. Oder, wie Josef WEIS, Die Zeitontologie des Kirchenlehrers Augustinus nach seinen Bekenntnissen. Augustinus Confessiones, XI. Buch, 14.–28. Kapitel, Frankfurt am Main u. a. 1984 in seinem Vorwort formulierte: „die Zeitlehren beider Denker bilden zusammen den Grundstock der Forschungen des Mittelalters über das Wesen der Zeit“. Vgl. etwa Johannes HIRSCHBERGER, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Freiburg u. a. 141976, 25 oder AARON J. GURJEWITSCH, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 51997, 32– 35. William C. KNEALE, Time and Eternity in Theology, in: Proceedings of the Aristotelian Society 61 (1960/61) 87–108, hier 90f., zog die Verbindungslinie von den Pythagoräern zu Parmenides’ Seinsbegriff. Vgl. bei ARISTOTELES, De caelo III, 1 [298b 29–33]: οἱ δὲ τὰ µὲν ἄλλα πάντα γίνεσθαί τέ φασι καὶ ῥεῖν, εἶναι δὲ παγίως οὐθέν, ἓν δέ τι µόνον ὑποµένειν, ἐξ οὗ ταῦτα πάντα µετασχηµατίζεσθαι πέφυκεν· ὅπερ ἐοίκασι βούλεσθαι λέγειν ἄλλοι τε πολλοὶ καὶ Ἡράκλειτος ὁ Ἐφέσιος, ähnlich PLATON, Kratylos 1.24 [402a]; siehe auch Die Vorsokratiker, Ausw. d. Fragmente, Übs. u. Erl. v. JAAP MANSFELD, Stuttgart 1987, 264, frg. 67 [= DK I, 22 B 88]. Max MÜLLER / Alois HALDER, Philosophisches Wörterbuch, Freiburg i. Br. u. a. 1988, 129, vgl. MANSFELD, Vorsokratiker, 262, frg. 62 [= DK I, 22 B 30]: κόσµον τόνδε τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε
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Lehrgedicht gegen die Wirklichkeit der Veränderung argumentierte:9 Das „Seiende“, das im Zentrum seiner Lehre steht, ist „nicht hervorgebracht und unzerstörbar …, einzig, aus einem Glied, unerschütterlich, und nicht zu vervollkommnen, weder war es, noch wird es einmal sein, da es jetzt in seiner Ganzheit beisammen ist, eins, zusammengeschlossen.“10 Diesem absolut einen, unveränderlichen, zeitlos-ewigen Sein, dem allein Wirklichkeit und Wahrheit zukommt, stellte Parmenides im zweiten Teil seines Lehrgedichtes den Bereich der menschlichen Meinungen (δόξαι) gegenüber. In diesem letzteren Rahmen entfaltete er seine Kosmologie, die geprägt ist von der Dualität von Licht und Nacht, in der es Veränderung durch verschiedene Kombination der Elemente gibt11 und in der die Dinge entstehen und vergehen.12 Bei Zenon von Elea finden sich unter anderem die berühmten vier Paradoxien der Bewegung.13 Mit ihnen wollte Zenon zeigen, dass Bewegung und damit Zeit nichts Reales ist; allgemeiner gesprochen ging es ihm (im Weiterdenken des parmenideischen Seins- und Erkenntnisbegriffs) darum, zu zeigen, dass es unmöglich ist, „kognitiv-konsistente Aussagen über Erfahrungstatsachen zu machen“.14 Vor allem im Buch VI der Physik setzte sich Aristoteles intensiv mit den zenonschen Argumenten auseinander, dabei entwickelte er sowohl den Begriff des „potentiell Unendlichen“ (gegeben durch die in Gedanken beliebig oft teilbare zeitliche oder räumliche Strecke), als auch den einer „kontinuierlichen Zeit“ im Gegensatz zu dem Konzept der diskreten, atomistischen, aus „Jetzten“ zusammengesetzten Zeit, das er Zenon unterstellte.15 Die in der Scheidung von zeitlichen und ewigen Entitäten deutliche Spannung von Zeit und Ewigkeit ist von Anfang an ein Thema der abendländischen Philosophie, dabei
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τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ’ ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται· πῦρ ἀείζωον, ἁπτόµενον µέτρα καὶ ἀποσβεννύµενον µέτρα – „Die gegebene schöne Ordnung [Kosmos] aller Dinge, dieselbe in allem, ist weder von einem der Götter noch von einem der Menschen geschaffen worden, sondern sie war immer, ist und wird sein: Feuer, ewig lebendig, nach Maßen entflammend und nach [denselben] Maßen erlöschend“. Vgl. William C. KNEALE, Eternity, in: Donald M. Borchert (Hrsg.), Encyclopedia of Philosophy, Bd. 3, Detroit u. a. 22006, 356–359, hier 357. MANSFELD, Vorsokratiker, 319, frg. 11 [= DK I, 28 B 8, Z. 3–6]: … ὡς ἀγένητον ἐὸν καὶ ἀνώλεθρόν ἐστιν, µοῦνον, οὐλοµελές τε καὶ ἀτρεµὲς ἠδ’ ἀτέλεστον· οὐδέ ποτ’ ἦν οὐδ’ ἔσται, ἐπεὶ νῦν ἔστιν ὁµοῦ πᾶν, ἕν, συνεχές. Eine ausführliche Interpretation bietet Richard SORABJI, Time, Creation and the Continuum. Theories in Antiquity and the Early Middle Ages, London 1983, 99– 108. Vgl. MANSFELD, Vorsokratiker, 301–307, hier besonders 305. Vgl. MANSFELD, Vorsokratiker, 332, frg. 36 [= DK I, 28 B 19]: οὕτω τοι κατὰ δόξαν ἔφυ τάδε καί νυν ἔασι καὶ µετέπειτ’ ἀπὸ τοῦδε τελευτήσουσι τραφέντα … – „In dieser Weise also sind der Meinung nach die Dinge um uns entstanden und sind sie auch jetzt und werden sie künftig, nachdem sie sich voll entwickelt haben, ein Ende nehmen.“ Texte bei MANSFELD, Vorsokratiker, 364–377; Beschreibung ebd., 337–342. Ebd., 337. Vgl. Physica III, 6 [206a 9–18] (zum Begriff des potentiell Unendlichen) und ebd. VI, 1f. [231a 21 – 233b 32; besonders 232a 18f.; 232b 26] (zur Zeit als kontinuierlicher Größe).
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
ist es schwierig zu sagen, in welchem Ausmaß die Natur der Zeit selbst bereits Gegenstand der Reflexion der Vorsokratiker war.16 Ein Hinweis darauf findet sich etwa bei dem Sophisten Antiphon, der die Zeit für „einen Gedanken oder ein Maß, aber nicht eine Substanz“ hält.17 In Platons Dialog Timaios findet man dagegen bereits eine einigermaßen ausführliche Behandlung der Frage. Er sieht die Zeit als mit dem Himmel erschaffen und nach dem Vorbild der Ewigkeit gestaltet:18 Zeit ist demnach – so der später oft zitierte Satz – „ein in Zahlen fortschreitendes Abbild von dem in dem Einen verharrenden Ewigen.“19 Selbstredend ist dies im Kontext der platonischen Ideenlehre zu verstehen, die ihrerseits am parmenideischen Seinsbegriff anknüpfte, insofern die Ideen die gleiche zeitlos-ewige Existenzweise besitzen.20 Bei der Platon gern zugeschriebenen Abwertung des mundus sensibilis gegenüber dem mundus intelligibilis scheint es mir notwendig, die Positivität dieser Aussage zu unterstreichen:21 Die Zeit wird hier nicht als das Gegenteil von Ewigkeit begriffen, als Abbild stellt sie vielmehr ein Moment der Verähnlichung dar22 und ist in diesem Sinn eine Gabe des guten Schöpfergottes23 – im Kontrast etwa auch zur aristotelischen Bewertung der Zeit als der „Urheberin des Verfalls“.24 Doch nach diesem kurzen Vorausblick soll nun der Stagirite selbst zu Wort kommen.
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JECK, Aristoteles contra Augustinum, 74 führte aus, dass etwa „die Frage nach dem Sein der Zeit nicht nur ein Problem der Spätantike“ war, sondern auch „in die Frühzeit der griechischen Philosophie“ gehört. DK II, 87 B 9: … νοήµα ἢ µέτρον τὸν χρόνον, οὐχ ὑπόστασιν. Vgl. Timaios 11 [38bc]: Χρόνος δ’ οὖν µετ’ οὐρανοῦ γέγονεν, … καὶ κατὰ τὸ παράδειγµα τὴς διαιωνίας φύσεως. Siehe Timaios 10 [37d] (ich zitiere mit dem Kontext): εἰκὼ δ’ ἐπενόει κινητόν τινα αἰῶνος ποιῆσαι, καὶ διακοσµῶν ἅµα οὐρανὸν ποιεῖ µένοντος αἰῶνος ἐν ἑνὶ κατ’ ἀριθµὸν ἰοῦσαν αἰώνιον εἰκόνα, τοῦτον ὃν δὴ χρόνον ὠνοµάκαµεν. Vgl. KNEALE, Eternity, 357. Vgl. Carlos STEEL, The Neoplatonic Doctrine of Time and Eternity and its Influence on Medieval Philosophy, in: Pasquale Porro (Hrsg.), The Medieval Concept of Time. Studies on the Scholastic Debate and its Reception in Early Modern Philosophy (= Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 75), Leiden u. a. 2001, 3–32, hier 4. Das Motiv des Demiurgen für die „Ausstattung“ der Welt mit der Zeit ist nach Timaios 10 [37cd], das All „seinem Urbilde noch ähnlicher zu gestalten“ (Übs. Müller / Schleiermacher VII, 57), vgl. auch ebd. 11 [38bc]: „daß jene ihm so ähnlich wie möglich sei“ (Übs. Müller / Schleiermacher VII, 57). Vgl. Timaios 5 [29a]: ὁ [scil. κόσµος] µὲν γὰρ κάλλιστος τῶν γεγονότων, ὁ [scil. δηµιουργὸς] δ’ ἄριστος τῶν αἰτίων. – In dieser Sichtweise einer grundsätzlich „guten“ Welt liegt etwa auch der Unterschied zur parmenideischen Kosmologie, die vor allem das Element der Täuschung und des Fehlurteils betonte (vgl. MANSFELD, Vorsokratiker, 303f.); ähnlich lag in der neuplatonischen Tradition der Akzent dann darauf, dass die Zeit nur ein Abbild der Ewigkeit ist und es „aus der zeitlichen Welt zu fliehen gilt, um das ewige Ziel zu erreichen“ (STEEL, Neoplatonic Doctrine, 4, eigene Übs.). Physica IV, 12 [221b 1f.]: φθορᾶς γὰρ αἴτιος καθ’ ἑαυτὸν µᾶλλον ὁ χρόνος (Übs. vgl. Zekl I, 223).
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3.1.1
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Die Untersuchung der Zeit
Die wichtigste zusammenhängende Darstellung des aristotelischen Zeitbegriffs findet man im vierten Buch der Physik.25 Hier fragt er sich, „ob sie [die Zeit] zum Seienden gehört … und was denn ihr Wesen sei.“26 Der Text bietet eine Fülle von neuen Gedanken, er steckt aber auch voller Schwierigkeiten und Aporien, die den Aristotelesauslegern bis heute Schwierigkeiten bereiten;27 im Folgenden möchte ich mich deshalb auf einige ganz grundlegende Aspekte beschränken. Der Ansatz des Philosophen, das Wesen der Zeit zu bestimmen, beginnt damit, eine damals verbreitete These zurückzuweisen, nämlich die Auffassung, Zeit sei identisch mit Bewegung oder, eingeschränkter, Zeit sei die Bewegung des Alls, d. h. der Himmelssphäre(n).28 Dies könne nicht richtig sein, denn – so der Philosoph – Bewegung kann grundsätzlich schneller oder langsamer ablaufen, Zeit dagegen nicht. Da andererseits Zeit auch nicht ohne Veränderung oder Bewegung sein kann – es wird ja die Verschiedenheit zweier Augenblicke an der Veränderung erkannt29 – so muss Zeit offenbar „etwas an der Bewegung“, also ein Akzidens der Bewegung sein.30 Bei seiner Bestimmung des Wesens der Zeit konzentrierte sich Aristoteles dann ganz auf die Analyse der Bewegung. Wie er dabei vorging, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen:31 Der Athener Koriskos geht vom Lykeion (dem Gymnasion im Nordosten Athens) auf die Agora. – Als Erstes ist nun die Raumstruktur der Bewegung zu beachten, denn sie ist verbunden mit mehreren Orten: Dem Ort „Koriskos im Lykeion“, dem Ort „Koriskos auf der Agora“ und außerdem einer unendlichen Anzahl von Zwischenpunkten. An der Bewegung erkennt man nun aber noch eine zweite Struktur: Sie findet immer statt von etwas fort und zu etwas hin (ἔκ τινος, εἴς τι).32 Man kann also unterscheiden zwischen einem Initialzustand, dem Finalzustand, und den Zwischenzuständen, die in einer gewissen Abfolge stehen. Und genau das war für Aristoteles das Zeitmoment: an der Bewegung (unendlich viele) verschiedene Zustände zu entdecken, die jeder für sich ein „Jetzt“ repräsentieren und die insgesamt in einer Sukzession stehen, so 25 26 27
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Physica IV, 10–14 [217b 29 – 224a 17]. Physica IV, 10 [217b 31f.]. Nicht umsonst verwies etwa SORABJI, Time, 84 auf Aristoteles’ „definition of time as number, which has proved very hard to understand“, und Gernot BÖHME, Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant (= Philosophische Abhandlungen 45), Frankfurt am Main 1974, begann seine Darstellung der aristotelischen Zeittheorie mit einer Liste der Schwierigkeiten (159–165). Dies legt sich etwa aus PLATONS, Timaios 11 [39d] nahe, dort heißt es, dass die Wanderungen der Planeten Zeit sind (χρόνον ὄντα τὰς τούτων πλάνας). Vgl. Physica IV, 11 [218b 21 – 219a 2]. SORABJI, Time, 81–83, verweist auf einige interessante Zeitkonzepte der Antike (v. a. Jamblichus, Galen), die Zeit vom Aspekt der Bewegung oder Veränderung loslösen. Ich habe es in Anlehnung an Physica IV, 11 [219b 20ff.] konstruiert. Physica IV, 11 [219a 10–13].
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
dass dadurch die Unterscheidung eines „Davor“ und „Danach“ ermöglicht wird. Oder mit seinen eigenen Worten: Wenn wir nämlich die Enden als von der Mitte verschieden begreifen und das Bewußtsein zwei Jetzte anspricht, das eine davor, das andere danach, dann sprechen wir davon, dies sei Zeit.33
Wer gewohnt ist, in den Kategorien der klassischen Physik zu denken,34 von dem verlangt diese erste, rein qualitative Definition ein Umdenken: Während dort ein absoluter Raum und eine absolute Zeit die Vorgaben darstellen, in denen sich Bewegung abspielt, so verteilt Aristoteles die Prioritäten anders: Raum ist das Grundsätzlichste, in ihm findet (zweitens) Bewegung statt, die Zeit aber ist (drittens) zu begreifen als Folgemoment an dieser Bewegung.35 Die logische Konsequenz dieser Anschauung ist, dass die Zeit die Struktur des (idealen) Raumes widerspiegelt; das heißt, sie ist kontinuierlich,36 und es gibt keinen kleinsten Teil der Zeit. Wie eine beliebig kleine Strecke durch einen Zwischenpunkt in kleinere Abschnitte unterteilt werden kann, so auch die Bewegung und mit ihr dann die Zeit. Außerdem legt sich eine Analogie nahe, nämlich der Vergleich der Zeit mit einer Linie: Jedem Abschnitt auf der Linie entspricht dabei eine gewisse Zeitspanne (ein Zeitraum), und den Punkten auf der Linie entspricht jeweils ein Augenblick, ein Jetzt (τὸ νῦν).37 Und wie der Punkt die Linie in zwei Teilstücke scheidet (gleichzeitig aber gerade das Verbindungsstück zwischen ihnen darstellt), so ist das „Jetzt“ zugleich Trennstelle und Verbindungspunkt von Vergangenheit und Zukunft.38 Der Zusammenhang zwischen dem „Jetzt“ und der Zeit ist dabei sicherlich einer der am schwierigsten zu erfassenden Gesichtspunkte der Zeittheorie. Zur Verdeutlichung der Ansicht des Aristoteles soll deshalb noch auf Folgendes hingewiesen werden: Die Zeit (als kontinuierliche) ist nicht aus den Jetzten wie aus Atomen zusammengesetzt. Oder andersherum ausgedrückt: Das „Jetzt“ ist kein Teil der Zeit,39 wie der Punkt kein 33 34 35
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Physica IV, 11 [219a 26–29]: ὅταν γὰρ ἕτερα τὰ ἄκρα τοῦ µέσου νοήσωµεν, καὶ δύο εἴπῃ ἡ ψυχὴ τὰ νῦν, τὸ µὲν πρότερον τὸ δ’ ὕστερον, τότε καὶ τοῦτό φαµεν εἶναι χρόνον (Übs. Zekl II, 211). In der modernen, relativistischen Physik sieht die Situation noch einmal anders aus, insofern hier jedes bewegte System seine Eigenzeit besitzt. Vgl. Physica IV, 11 [219b 15f. und 219a 10–12]. Zu dem Aspekt der „räumlichen Bestimmung der Zeit“, vgl. Gerhard SCHWARZ, Raum und Zeit als naturphilosophisches Problem, Wien u. a. 1972, 165. Vgl. dazu auch die Definition von „kontinuierlich“ (τὸ συνεχές, continuum) und dessen Gegensatz, „diskret“ (τὸ διωρισµένον, discretum) innerhalb der Kategorie Größe (τὸ ποσόν, quantitas) in Categoriae 6 [4b 20 – 6a 35]. Zu beachten ist, dass Aristoteles hier keinen Unterschied machte zwischen dem „Augenblick“ als einen beliebigen Punkt auf der Zeitgeraden und dem „Jetzt“ im strengen Sinn, das einen ganz speziellen Punkt, nämlich den gerade gegenwärtigen Augenblick, bezeichnet. Vgl. Physica IV, 13 [222a 10–20]. Physica IV, 10 [218a 6]: τὸ δὲ νῦν οὐ µέρος, d. h., es entsteht nicht durch eine endliche fortgesetzte Teilung eines Zeitabschnitts; vgl. auch ebd., c. 11 [220a 19].
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Teil der Linie ist, vielmehr ergibt sich das Jetzt als Grenze, d. h. Anfang oder Ende, eines willkürlich herausgegriffenen Zeitabschnitts.40 Das Jetzt (im Sinn eines Augenblicks) wird damit operativ verstanden, denn es ist der Verstand, der diese Grenze setzt; dies ist einer der Aspekte, weswegen Wolfgang Wieland die aristotelische Zeit als „operativen Erfahrungsbegriff“ bezeichnen konnte: „Denken und Wahrnehmen treffen hier ebenso zusammen wie Kontinuität und Diskontinuität“.41 Wenn das Jetzt kein Teil der Zeit ist, dann kann es auch nicht Maß der Zeit sein.42 Damit aber ist man bei einer weiteren Eigenschaft, die die Zeit mit dem Raum verbindet: Sie lässt sich messen, oder wie es die berühmt gewordene Definition sagt: Sie ist „die Maßzahl der Bewegung hinsichtlich des ‚Davor‘ und ‚Danach‘“43. – Dieser quantitative Aspekt der Zeit war in der ersten Definition wohl bewusst44 noch nicht berücksichtigt worden, um so mehr bedarf er jetzt einer Erklärung: Unter Zahl will Aristoteles nämlich nicht die abstrakte Zahl (τὸ ᾧ ἀριθµοῦµεν, numerus numerans, die man heute als natürliche Zahl bezeichnet: 1, 2, 3, u. s. w.), sondern als konkrete Zahl (τὸ ἀριθµούµενον, numerus numeratus) verstanden wissen. Bei letzterer wird der Zahlanteil noch nicht von dem Gezählten abgespalten. Um es wieder an einem Beispiel zu verdeutlichen: „Drei Pferde“ bezeichnet eine (An-)Zahl und diese ist (als numerus numeratus) verschieden von „drei Menschen“ – sie muss es sein, denn die zugrundeliegende Einheit, die das Zählen allererst ermöglicht, ist verschieden: „ein Pferd“ auf der einen, „ein Mensch“ auf der anderen Seite. Dieselbe Sichtweise lässt sich auch auf kontinuierliche Größen anwenden und hat hier sogar ein modernes Pendant: die einheitenbehaftete Zahl, z. B. 1 m, 1 kg, 1 s. Auch hier gilt: Ermöglichungsgrund für das Zählen einer beliebigen Größe ist die jeweilige Einheit.45 Die zweite Definition expliziert von neuem, womit Aristoteles begonnen hatte: Zeit ist nicht Bewegung, sondern ein Akzidens der Bewegung. Jetzt erweist sie sich genauer als das zahlhafte Moment an der Bewegung. Problematisch bei dieser Definition ist 40 41
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Physica IV, 10 [218a 24]: τὸ δὲ νῦν πέρας ἐστίν. Wolfgang, WIELAND, Die aristotelische Physik, Göttingen 1962, 326 mit Bezug auf Physica IV, 11 [220a 5f.]; vgl. auch SCHWARZ, Raum und Zeit, 168: „In diesem Sinne ist auch das Jetzt ein Konstruktionsbegriff des Verstandes … Das Jetzt, der Augenblick, ist somit nur eine begriffliche Abstraktion.“ Sofern hier „Maß“ im engeren (modernen) Sinn verstanden wird, zum weiteren Verständnis vgl. den Abschnitt unten ab S. 205. Physica IV, 11 [219b 2]: ἀριθµὸς κινήσεως κατὰ τὸ πρότερον καὶ ὕστερον (Übs. Zekl I, 213). Es ging Aristoteles zunächst darum, die Zeit als ein Allgemeines der Bewegung (vgl. SCHWARZ, Raum und Zeit, 164) zu etablieren, die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Messbarkeit der Zeit (siehe folgender Abschnitt) sollten noch außen vor gelassen werden, oder andersherum: Auch wenn Zeit so irregulär ablaufen würde, dass sie nicht gemessen werden könnte, so bliebe doch das allgemeinere Moment, dass sie einen Zusammenhang des Früher und Später bildet. Wobei hier der Terminus „Einheit“ im modernen und nicht im antiken Sinn zu verstehen ist, außerdem ergibt sich, dass im kontinuierlichen Fall die Einheit innerhalb der zu messenden Größe frei wählbar ist (1 Sekunde, 1 Stunde, 1 Tag sind alles mögliche Einheiten der Zeit), während sie im diskreten Fall auf natürliche Weise vorgegeben ist (1 Stück).
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
unter anderem46 eine gewisse Zirkularität, die sich daraus ergibt: Die Zeit misst die Bewegung (hinsichtlich eines schneller oder langsamer), umgekehrt kann die Zeit selbst nur durch Bewegung gemessen werden.47 Um Zeit tatsächlich messen zu können, muss also eine bestimmte Bewegung vor anderen ausgezeichnet werden, die als Maßstab (sprich als „Uhr“) fungiert. Hier kommt die Bewegung der Himmelssphäre nun doch wieder ins Spiel:48 Aufgrund ihrer gleichmäßigen Kreisbewegung und ihrer allgemeinen Zugänglichkeit bietet sie sich als dieses ausgezeichnete Referenzmaß an.49 Die aristotelische Bestimmung der Zeit als „Zahl der Bewegung“ hatte auch Konsequenzen für das Verhältnis von Zeit und Bewusstsein (oder Seele), denn die Zahl setzt notwendig einen Zählenden voraus. Auf dieses Problem wurde in Physica IV, 14 [223a 21–29] hingewiesen, und es ist in der Forschung als eine der „aristotelischen Zeitaporien“ bekannt:50 Ohne die Seele und ihren νοῦς gäbe es wohl die der Zählung zugrundeliegende Bewegung – insofern ist Zeit auch nicht nur eine Kategorie, die die Seele ihren Sinneseindrücken aufprägt51 – Zeit im eigentlichen Sinn des Wortes wird diese Bewegung erst, wenn sie gezählt, d. h. mit anderen Bewegungen verglichen wird; es bleibt freilich die Frage, ob dieses Zugrundeliegende (ὅ ποτε ὄν) in einem allgemeineren Sinn auch Zeit genannt werden kann. Die von Aristoteles an anderen Stellen dargebotenen Lösungsansätze52 für das ähnlich gelagerte Problem des Verhältnisses von sinnlich Wahrnehmbarem und Wahrnehmendem geben einen Rahmen und eine Richtung für mögliche Interpretationen vor. Zum einen ist dabei die relationale Struktur zu beachten (d. h. die Sicht der Wahrnehmung bzw. der Zeit als eines Verhältnisses von Wahrgenommenem und Wahrnehmendem), in die Aristoteles zusätzlich einen δύναµιςἐνέργεια-Aspekt einbrachte, indem er z. B. beim aktuellen Sehen die Einheit von Sehen und Farbe heraushob (insofern gibt es keine Farbe ohne Sehen), im „Modus der Potentialität – bei Abwesenheit des aktuellen optischen Wahrnehmungsprozesses – bleibt jedoch allein die Farbe bestehen“;53 zum anderen setzte Aristoteles offensichtlich bei der 46
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Ein anderes Problem – auf das ich hier nicht eingehen möchte – ist die Frage, was und wie denn genau gezählt wird (immerhin ist für Aristoteles die Zahl etwas Diskretes, während die Zeit kontinuierlich ist), siehe dazu etwa SORABJI, Time, 85–89; BÖHME, Zeit und Zahl, 165–187. Physica IV, 12 [220b 14–16]: οὐ µόνον δὲ τὴν κίνησιν τῷ χρόνῳ µετροῦµεν, ἀλλὰ καὶ τῇ κινήσει τὸν χρόνον διὰ τὸ ὁρίζεσθαι ὑπ’ ἀλλήλων; zur Problematik des Messens der Zeit vgl. etwa BÖHME, Zeit und Zahl, 192f. Physica IV, 14 [223b 19–20]: ἡ κυκλοφορία ἡ ὁµαλὴς µέτρον µάλιστα, ὅτι ὁ ἀριθµὸς ὁ ταύτης γνωριµώτατος. Vgl. auch Metaphysica X (Ι), 1 [1052a 26–28]. Physica IV, 14 [223a 29–33] betonte, dass sie die Zahl einer beliebigen Bewegung ist, die Wahl der Bewegung der Himmelssphäre als Referenzmaß ist also nicht absolut zwingend. Zur Problematik, wie bei der vorliegenden zirkulären Definition eine Bewegung als gleichmäßig erkannt werden kann, vgl. SORABJI, Time, 72–74. Vgl. für das Folgende JECK, Aristoteles contra Augustinum, 6–13. Vgl. WIELAND, Aristotelische Physik, 316. Metaphysica IV (Γ), 5 [1010b 30 – 1011a 2] sowie De anima III, 2 [426a 15–26]; II, 7 [418a 26– 33]. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 11 zu De anima III, 2 [426a 15–26].
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Zeit wie bei der Wahrnehmung ein Zugrundeliegendes (das ὑποκείµενον bzw. ὅ ποτε ὄν) voraus, für das er im Falle der Zeit aber keine nähere Bestimmung gab. Bei dieser Frage geht es letztlich um nichts anderes als um das Grundproblem der Zeitphilosophie überhaupt – nämlich die Frage nach dem Sein der Zeit: Existiert sie außerhalb des Bewusstseins oder ist sie (mit Antiphon) „nur“ ein Gedanke? Trotz der vorsichtigen Formulierung in Physica IV, 14 gesteht das aristotelische Konzept der Zeit ein vergleichsweise hohes Maß an Sein zu,54 die Position des Stagiriten steht dabei gegen die vieler anderer Philosophenschulen.55 So heißt es von den Stoikern, dass sie „die Zeit nur als eine einfache Vorstellung (ἐπίνοιαν ψιλήν) bezeichnet haben“;56 die Skeptiker, allen voran Sextus Empiricus, von dem der erste vollständig erhaltene Traktat über das Sein der Zeit stammt, gingen sogar noch weiter: Sie sahen den Ausweg aus der aristotelischen Zeitaporie darin, das Sein der Zeit insgesamt zu leugnen.57 Die epikureische Auslegung geht nicht so weit, aber auch sie hat „den Seinsgehalt der Zeit abgeschwächt“:58 So soll Epikur selbst mit Aristoteles die Zeit als „Akzidens der Bewegung“, aber auch als „Akzidens der Akzidenzien“ (σύµπτωµα συµπτωµάτων) bezeichnet haben.59 Die Aristotelesausleger Alexander von Aphrodisias, Themistios und Simplikios suchten dagegen einen Ausweg aus der Zeitaporie, indem sie die Zeit mit der kosmischen Seele verbanden:60 Die ψυχή verursacht nämlich einerseits die Rotation des Alls und damit das der Zeit zugrundeliegende (außerseelische) Fundament (ὑποκείµενον), andererseits zählt sie diese bereits zahlenhaft vorstrukturierte Bewegung auch und erhebt so daraus die Zeit als Zahl.61 Auf diese Weise wird sowohl an der noetischen Struktur der Zeit festgehalten, als auch die Reduzierung auf ein bloß innerseelisches Phänomen vermieden.
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Vgl. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 72. In Physica IV, 10 [217b 29 – 218a 30] befasste sich Aristoteles mit den Anschauungen seiner Vorgänger; JECK, Aristoteles contra Augustinum, 73f. äußerte die Vermutung, die ganze Passage sei eine Kritik an den Zeitaporien Zenons, welche letztlich darauf hinzielen, das Sein der Zeit zu bestreiten. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 79, auf Seite 83 wies er auf einige Querverbindungen hin, die zwischen Augustinus (Confessiones XI) und Seneca bestehen. Ebd., 86–89, besonders 88. Die aristotelische Zeitdefinition wurde dabei von Sextus Empiricus als widersprüchlich verworfen; sein Hauptargument war, dass ein in Ruhe verharrendes Seiendes außerhalb der Zeit sein müsste, wenn die Zeit die Maßzahl der Bewegung ist; vgl. Adversus mathematicos X, 176, in: Sextus Empiricus in Four Volumes, ed. by R. G. Bury (= The Loeb Classical Library), Bd. 2–4, Cambridge – London 1967–1971, hier Bd. 3, 298. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 85, ebenso für das Folgende. Nach SEXTUS EMPIRICUS, Adversus mathematicos X, 219f. [Ed. cit. III, 318f.]. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 71 & 95 – anders etwa der Aristoteleskommentator Boethos (vgl. ebd., 14–16); SORABJI, Time, 95 betonte die Uneinigkeit der Aristotelesausleger in dieser Frage. Simplikios etwa begriff dabei die Zahl als eine Form (εἶδος) und bemerkt, „daß jede natürliche Form durch Maß und Zahl geordnet ist“ (JECK, Aristoteles contra Augustinum, 95).
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
In der Scholastik hat die Frage nach dem Sein der Zeit eine lebhafte Diskussion ausgelöst, in deren Folge nicht nur der aristotelische Text, sondern auch das elfte Buch der Confessiones Augustins, in dem das Sein der Zeit ganz in den menschlichen Geist verlegt wird,62 neu gelesen wurden.63 Die antiken Kommentare zur Physik des Aristoteles waren dabei weithin unbekannt,64 als Vermittlungsinstanz dienten aber vor allem die arabischen Kommentatoren, Avicenna und Averroes. Avicenna bot dabei in seinem Tractatus de tempore im Buch II der Sufficientia65 zunächst „eine Bestandsaufnahme und Quellensichtung“ des vorhandenen Materials.66 Er selbst distanzierte sich dabei weitgehend von der aristotelischen Linie, indem er eine außerseelische, absolute Weltzeit postulierte.67 Averroes dagegen suchte bewusst die Kontinuität zu den antiken Kommentatoren, vor allem Alexander von Aphrodisias, aber auch Themistios.68 Die Zeit war ihm demnach weder ein reines Natur- noch ein reines Gedankending, sondern steht gewissermaßen zwischen beiden: „Außerhalb der Seele ist die Zeit in Potenz. Sie erreicht erst innerhalb der Seele die ihr eigentümliche Aktualität.“69 Der charakteristische Unterschied zwischen Averroes und den antiken Auslegern ist darin zu suchen, dass er hier nicht von der kosmischen, sondern von der menschlichen Seele ausging.70 Die aristotelische Auffassung der Zeit als Akzidens der Bewegung birgt noch ein weiteres Problem: Es müsste dann nämlich ebenso viele verschiedene Zeiten geben, als es Bewegungen gibt, denn accidens multiplicatur ad multiplicationem subiecti.71 Aristoteles selbst antwortete auf diese Schwierigkeit mit einer Unterscheidung:72 Vergleicht man zwei aufeinanderfolgende gleiche Bewegungsabläufe (etwa den heutigen und den 62
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Vgl. Conf. XI, 26, 33 [CC.SL 27, 211, Z. 19–21]: Inde mihi visum est nihil esse aliud tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi. Zu der mittelalterlichen Diskussion vergleiche JECK u. a., Zeit, 509f. Vgl. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 16. Vgl. oben S. 95, Anm. 3. Sufficientia II, 10–13, in: Avicenna latinus. Liber primus naturalium, tractatus secundus de motu et de consimilibus, éd. par S. van Riet, J. Janssens, A. Allard, introd. par G. Verbeke, Louvain-laNeuve – Leiden 2006, hier 304–369. Für die Frage nach der Zeit ist ferner relevant: Metaphysica III, 10 [Ed. cit. I, 173–183]. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 105. Vgl. ebd., 100.110–113. Nebenbei wurde den Scholastikern durch Averroes (und Maimonides’ Dux neutrorum) auch Galens Kritik an der aristotelischen Zeittheorie bekannt (vgl. ebd., 101, 171–173). Ebd., 101; auch IMBACH, Temps, 1371a zu AVERROES, In Phys. IV, comm. 131, in: Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Bd. 4, Frankfurt am Main 1962 (unv. Nachdruck der Ausgabe Venedig 1562–1574), hier fol. 202r F: tempus igitur in actu non erit, nisi anima sit; in potentia vero erit, licet anima non sit. Vgl. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 130. Speziell für die Zeit drückte Averroes später diese Problemstellung so aus: tempus multiplicaretur secundum multiplicationem motus (In Phys. IV, comm. 98 [Ed. cit. IV, fol. 178v G]). Drei Mal ging Aristoteles auf dieses Problem ein: Physica IV, 11; IV, 12; IV, 14 [219b 5–33; 220b 5–14; 223a 29 – 223b 12].
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morgigen Tag, gemessen an dem jeweiligen Sonnenumlauf), so sind die zugehörigen Zeiten zwar ihrem spezifischen Gehalt nach gleich, in ihrem konkreten Sein sind sie jedoch wohlunterschieden. Betrachtet man hingegen zwei synchrone Bewegungen (etwa ein Schiff, das in einem Tag von A nach B fährt und den Sonnenumlauf an diesem Tag), so liegen – nach Meinung des Stagiriten – nicht zwei verschiedene Zeiten vor, sondern ein und dieselbe.73 Leider gab Aristoteles keine eigentliche Begründung für diesen (an sich plausiblen) Sachverhalt. Die Stelle in Kapitel 11 spielte das Problem zwar auf die zugrundeliegenden „Jetzte“ (sprich die Start- und Endzeitpunkte der Bewegungen) zurück, die einzig logische Antwort, dass nämlich im Falle zweier synchroner Bewegungen das jeweilige Jetzt dasselbe ist (obwohl die Bewegungen nicht am selben Ort stattfinden), während bei der sich wiederholenden Bewegung die „Jetzte“ nicht identisch sind (außer auf der abstrakten Ebene ihres begrifflichen Gehaltes, d. h. in dem, was das Jetztsein ausmacht) – diese Antwort, muss man mehr in den Text hineinlegen, als dass man sie daraus erheben kann.74 Statt dessen verweist der folgende Text (im Widerspruch zu der vorausgehenden Bestimmung der Zeit als numerus numeratus, nicht als numerus numerans der Bewegung) darauf, dass bei zwei gleichen Anzahlen (im Beispiel: 7 Hunde, 7 Pferde) die (zählende!) Zahl jeweils dieselbe sei. Den Kommentatoren blieb diese Schwäche nicht verborgen und bot Anlass zu entsprechenden Diskussionen. Eine Lösungsmöglichkeit bestand darin, die Zeit nicht mit jeder Bewegung, sondern nur oder vor allem mit der Bewegung der Himmelssphäre zu verbinden. Ansatzpunkte dafür konnte man sowohl in Physica IV, 14 [223b 12 – 224b 2] (über die Besonderheit der Kreisbewegung der Himmelssphäre) als auch in Physica IV, 10 [218a 33 – 218b 9] (über die Frage, warum die Zeit nicht die Bewegung der Himmelskugel ist) finden, doch dabei taten sich auch neue Schwierigkeiten auf.75 Entsprechend unterschiedlich waren die Antworten, mit denen die Einheit der Zeit begründet wurde. Da auch 73
74
75
Dies ergibt sich aus der Auswertung der drei obengenannten Stellen. Näherhin hat man die Aussage von Physica IV, 11 [219b 9f.] (καὶ ὥσπερ ἡ κίνησις αἰεὶ ἄλλη καὶ ἄλλη, καὶ ὁ χρόνος) und die von Physica IV, 12 [220b 5–8] (καὶ [χρόνος] ὁ αὐτὸς δὲ πανταχοῦ ἅµα· πρότερον δὲ καὶ ὕστερον οὐχ ὁ αὐτός, ὅτι καὶ ἡ µεταβολὴ ἡ µὲν παροῦσα µία, ἡ δὲ γεγενηµένη καὶ ἡ µέλουσα ἑτέρα). Hat man in der ersten Aussage rein den Fall einer sich zyklisch wiederholenden Bewegung vor sich, so differenziert die zweite bereits. Die dritte Stelle Physica IV, 14 ist am präzisesten: Hier legte sich Aristoteles selbst die Frage vor, wie es sich verhält, wenn zwei verschiedene Bewegungen gleichzeitig beginnen und enden: … ἅµα δύο ἴσοι χρόνοι ἂν εἶεν· ἢ οὔ; ὁ αὐτὸς γὰρ χρόνος καὶ εἷς ὁ ἴσος καὶ ἅµα· εἴδει δὲ καὶ οἱ µὴ ἅµα [223b 3f.]. Vgl. Anneliese MAIER, Scholastische Diskussionen über die Wesensbestimmung der Zeit, in: Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie 26 (1951) 520–556, hier 521. Augustin MANSION, La théorie aristotelicienne du temps chez les péripatéticiens médiévaux. Averroès – Albert le Grand – Thomas d’Aquin, in: Revue néoscolastique de philosophie 36 (1934) 275–307, hier 277, verwies darauf, dass die weitere Begründung des Aristoteles die zuvor aufgestellte Definition der Zeit als numerus numeratus der Bewegung wieder zu vergessen scheint. Auf eine hatte bereits Augustinus, Conf. XI, 23, 29 [CC.SL 27, 208, Z. 3f.] hingewiesen: An vero, si cessarent caeli lumina et moveretur rota figuli, non esset tempus …?
106
Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Bonaventura hierfür eine sehr spezielle Lösung fand, wird an späterer Stelle noch einmal darauf zurückzukommen sein.76 Versucht man die aristotelische Zeittheorie insgesamt noch einmal kurz zu charakterisieren, so kann man zwei Dinge in den Vordergrund stellen. Das Erste ist ihr objektiver Charakter:77 Zeit wird verstanden als Akzidens der Bewegung und hat von daher ihre physische Grundlage. Als Phänomen des Bewusstseins kommt Zeit nur über den Aspekt des Zählens in den Blick. Damit verbindet sich ein zweiter Grundzug, der in der Betonung der statischen Aspekte der Größe „Zeit“ liegt, das will sagen: Der Aspekt des (Ver-)Fließens der Zeit steht nicht im Vordergrund seiner Reflexionen, und obwohl Veränderung und die Verschiedenheit der „Jetzte“78 die Voraussetzung für die Zeit darstellen, liegt der Fokus auf einer Darstellung der Zeit als dem messbaren Ergebnis dieser Veränderungen. Der Interpretationsrahmen ist so im Grunde der eines Beobachters, der auf ein vergangenes Stück Zeit zurückblickt und dieses im Ganzen analysiert. Nicht umsonst bemühte Aristoteles das statische Bild der Zeit als einer Linie, während er das Bild der Zeit als Fluss vermied.79 Die neuplatonische und in der Folge die augustinische Interpretation verteilte die Prioritäten hier völlig anders – doch darauf wird im übernächsten Abschnitt noch näher einzugehen sein.
3.1.2
Die Spielarten von „Ewigkeit“
War die Analyse des Zeitbegriffs der Physik als der Wissenschaft vom Bewegten zuzuordnen, so betritt man mit dem Ewigkeitsbegriff metaphysisches Terrain.80 Die Überschrift deutet es dabei bereits an, dass Aristoteles den Begriff Ewigkeit (ἀϊδιότης) nicht 76 77 78 79
80
Vgl. den Abschnitt über die Einheit der Zeit, S. 266. In diesem Sinn betonte WIELAND, Aristotelische Physik, 316 & 322 auch, dass die Zeittheorie des Aristoteles nicht subjektivistisch ist. Vgl. Physica IV, 11 [218b 21 & 27f.]. WIELAND, Aristotelische Physik, 327 wies darauf hin, dass die „vertraute Flußmetapher bei Aristoteles im Hinblick auf die Zeit nicht vorkommt“ und „vor allem versteht Aristoteles die Zeit nicht von einem ‚fließenden‘ Jetztpunkt aus“. – SORABJI, Time, 46–51 (I, Kap. 4) untersuchte die Zeitterminologie bei Aristoteles auf statische und dynamische Begrifflichkeiten. Sein Ergebnis lautete erstens, dass der Philosoph die statische und die dynamische Terminologie nicht sauber unterscheidet (in IV, 11 überwiegt die dynamische, während er in Kap. 12f. zu einer statischen Terminologie übergeht – das Übergewicht liegt dabei meines Erachtens auf der letzteren). Sorabjis zweites Ergebnis war: „he [scil. Aristoteles] does not consider the flowing terminology inessential for time“ (50, Einfügung von mir) – die vorsichtige Formulierung zeigt dabei, wie die Prioritäten verteilt sind. – Und schließlich geht in diese Richtung auch, dass Aristoteles die Zeitstruktur auf die Raumstruktur zurückführte (vgl. etwa Physica IV, 11 [219a 14f.]: τὸ δὴ πρότερον καὶ ὕστερον ἐν τόπῳ πρῶτόν ἐστιν). Dies zeigt sich bereits an der Textgrundlage der folgenden Erörterung, die im Wesentlichen aus Metaphysica XII (Λ), 5–7 besteht; hinzu kommen: Physica VIII, 6–10; De caelo I & II; De mundo 2 und 5.
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in einem univoken Sinn gebrauchte (obwohl er darauf nicht eigens reflektierte). Grundgelegt ist die analoge Verwendung des Terminus in einer Stufenontologie, die nach Metaphysica XII (Λ), 1 [1069a 30–34] folgende Arten von Substanzen (οὐσίαι) kennt: 1) Die unbewegliche (ἀκίνητος), d. h. die nicht der Bewegung fähige, damit zeitlose und ewige Substanz, nämlich der „erste unbewegte Beweger“ (τὸ πρώτον κινοῦν ἀκίνητον), Gott. 2) Die sinnlich wahrnehmbaren (αἰσθητός), der Bewegung fähigen und bewegten Substanzen. Sie lassen sich noch einmal scheiden in die ewigen (ἀΐδιος) – die Himmelskörper nämlich – und die vergänglichen (φθαρτός). Zu Letzteren zählt alles, was im irdischen Bereich vorkommt: Pflanzen, Lebewesen, etc. Jede dieser drei Substanzen hat ihren Ort im aristotelischen Weltbild: Die vergänglichen Substanzen finden sich im sublunaren Bereich, die ewigen Substanzen im „Himmel“, das heißt von der Sphäre des Mondes bis zur äußersten Sphäre, der Fixsternsphäre, die unbewegte Substanz schließlich „außerhalb des Himmels“ (ἔξω τοῦ οὐρανοῦ81 – dies nicht unbedingt in einem räumlichen Sinn). Ebenso aber haben sie alle ihre je eigene Art und Weise des Dauerns: Der unterste Bereich der vergänglichen Substanzen ist geprägt von Werden und Vergehen. Was hier vorgefunden wird, ist „in der Zeit“ (ἐν χρόνῳ) in dem Sinn, dass die Dauer seiner Existenz einer bestimmten endlichen Zeitspanne entspricht und dass die Zeit selbst in ihrer Unendlichkeit dieses endliche Sein einfasst und umgibt, denn „es wird immer eine Zeit ergriffen, die größer ist, als ein jedes in der Zeit befindliche.“82 Im Gegensatz zu den ewigen Dingen geschieht diesen Substanzen etwas durch die Zeit: Sie blühen auf, existieren eine Weile, altern und vergehen zuletzt wieder.83 Die Betonung liegt dabei – in einer für die nachfolgende metaphysische Tradition beinahe typischen Abwertung des Vergänglichen gegenüber dem Ewigen – auf den letzteren Stadien dieses Prozesses, denn, so heißt es, „an und für sich genommen ist die Zeit Urheberin eher von Verfall“.84 Dabei sollte freilich nicht übersehen werden, dass, wenn auch das Einzelne vergänglich sein mag, dem Ganzen bereits Unvergänglichkeit zukommt:
81 82
83
84
Vgl. De caelo I, 9 [279a 12]. Physica IV, 12 [221a 27]: ληφθήσεταί τις πλείων χρόνος παντὸς τοῦ ἐν χρόνῳ ὄντος. Ebenso Physica IV, 12 [221b 30f.]: ἔστιν γὰρ χρόνος τις πλείων, ὃς ὑπερέξει τοῦ τε εἶναι αὐτῶν καὶ τοῦ µετροῦντος τὴν οὐσίαν αὐτῶν. Vgl. Physica IV, 12 [221a 30–32]: καὶ πάσχει δή τι ὑπὸ τοῦ χρόνου, καθάπερ καὶ λέγειν εἰώθαµεν ὅτι κατατήκει ὁ χρόνος, καὶ γηράσκει πάνθ’ ὑπὸ τοῦ χρόνου, καὶ ἐπιλανθάνεται διὰ τὸν χρόνον, … Negativ formuliert wird dasselbe in De caelo I, 9 [279a 18–22]. Physica IV, 12 [221b 1f.]: φθορᾶς γὰρ αἴτιος καθ’ ἑαυτὸν µᾶλλον ὁ χρόνος (Übs. Zekl I, 223).
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Das Werden tut dem Vergehen Einhalt und gleicht es aus, das Vergehen erleichtert neues Werden. Ein Heil aber erwirkt sich aus allem, indem beständig die Dinge einander ablösen und bald obsiegen, bald unterliegen; so bleibt das Ganze behütet in Ewigkeit.85
Konkret fassbar wird die Ewigkeit der Welt in dem Kreislauf der Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Luft), die sich – von den beiden Gegensatzpaaren feucht/trocken und heiß/kalt geprägt – unaufhörlich wechselseitig ineinander verwandeln.86 Dieser Prozess aber – und hier schlägt wieder die platonische Vorstellung von der Zeit als beweglichem Abbild der Ewigkeit durch – ist Abbild der ewig kreisenden Bewegung der Gestirne.87 Wenn das Werden und Vergehen insgesamt weder Anfang noch Ende kennt, so folgt daraus unmittelbar, dass auch die Zeit unendlich sein muss.88 Man fragt sich natürlich, woher Aristoteles diese Vorstellung, die per se kein Erfahrungswissen sein kann, nimmt. Nun, sicherlich ist er dem damals gängigen Weltbild gefolgt,89 er untermauert diese seine Ansicht aber mit zwei Begründungen: Der erste Beweisgang erfolgt aus der Analyse der Bewegung (Veränderung): Diese kommt demnach immer zustande, wenn zwei Dinge zusammentreffen, eines, das die Bewegung anstößt („verursacht“), und ein anderes, das die Fähigkeit hat, diesen Impuls aufzunehmen und dadurch etwas, was es vorher nur der Möglichkeit nach war, nun in Wirklichkeit zu sein. Sollte nun irgendeinmal nirgendwo auf der Welt eine solche Konstellation zu finden gewesen sein, so würde für immer ein totaler Stillstand eintreten (denn jede weitere Veränderung würde zunächst eine Änderung dieses Zustands voraussetzen). Da faktisch aber Bewegung existiert, kann es diesen Fall nie gegeben haben, ergo, Bewegung hat immer bestanden, damit aber auch die Zeit.90 Der zweite Beweis ist etwas abstrakter, er untersucht die Struktur der Zeit mit ihrer Trichotomie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hier kam er zu dem Schluss, dass ein „Jetzt“, als der Verbindungspunkt von Vergangenheit und Zu85
86 87
88
89 90
De mundo 5 [397b 3–6]: καὶ αἱ µὲν γενέσεις ἐπαναστέλλουσι τὰς φθοράς, αἱ δὲ φθοραὶ κουφίζουσι τὰς γενέσεις. Μία δὲ ἐκ πάντων περαινοµένη σωτηρία διὰ τέλους, ἀντιπεριισταµένων ἀλλήλοις καὶ τοτὲ µὲν κρατούντων τοτὲ δὲ κρατουµένων, φυλάττει τὸ σύµπαν ἄφθαρτον δι’ αἰῶνος (Übs. Strohm, 251). Vgl. De generatione et corruptione II, 1 [329a 35f.]. Metaphysica IX (Θ), 8 [1050b 28f.]: µιµεῖται δὲ τὰ ἄφθαρτα καὶ τὰ ἐν µεταβολῇ ὄντα, οἷον γῆ καὶ πῦρ – „Dem Unvergänglichen nähert sich aber nachahmend auch das in Veränderung Begriffene, z. B. die Erde und das Feuer“ (Übs. Bonitz II, 129). Aristoteles trug diesen Gedanken auch separat vor, etwa in Physica III, 4 [203b 16], wo er die Existenz des Unendlichen begründete ἐκ τε τοῦ χρόνου (οὗτος γὰρ ἄπειρος). Und Physica VIII, 1 [251b 13] schloss sogar umgekehrt: εἴπερ ἀεὶ χρόνος ἔστιν, ἀνάγκη καὶ κίνησιν ἀΐδιον εἶναι. Vgl. Physica VIII, 1 [251b 14–18]: ἀλλὰ µὴν περί γε χρόνου ἔξω ἑνὸς ὁµονοητικῶς ἔχοντες φαίνονται πάντες· ἀγένητον γὰρ εἶναι λέγουσιν. … Πλάτων δὲ γεννᾷ µόνος. Dies ist eine Zusammenfassung des Gedankenganges von Physica VIII, 1 [250b 11 – 251b 10], der Kernpunkt der Argumentation findet sich 251b 4–7. Metaphysica XII (Λ), 6 [1071b 6–9] nahm genau darauf Bezug (ἀλλ’ ἀδύνατον κίνησιν ἢ γενέσθαι ἢ φθαρῆναι· αἰεὶ γὰρ ἦν. οὐδὲ χρόνον· οὐ γὰρ οἷόν τε τὸ πρότερον καὶ ὕστερον εἶναι µὴ ὄντος χρόνου). Auch die Überlegungen zur Ewigkeit der Welt in De caelo I, 12 [281a 28 – 283b 22] lassen sich letztlich auf den genannten Gedankengang zurückführen.
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kunft, ohne Zeit davor und Zeit danach unmöglich ist. Daraus schloss er, dass die Zeit selbst unendlich sein muss.91 Richtet man den Blick vom irdischen weg auf den himmlischen Bereich, so zeigt sich, dass ein in ihm vorgefundenes Seiendes nicht mehr „in der Zeit“ ist, „es wird ja nicht von der Zeit eingefaßt, und es wird nicht die Dauer seines Seins von der Zeit gemessen“,92 obwohl natürlich, wenn man etwa an die Bewegung der Sonne und des Mondes denkt, ihre Bewegung der vorzüglichste Maßstab für die zeitlichen Vorgänge im irdischen Bereich ist.93 Die materielle Grundlage einer solcherart ewigen Existenz ist die quinta essentia, der Äther, dessen Bezeichnung Aristoteles nicht von „feurig glühen“ (αἴθεσθαι), sondern von „immerfort laufen“ (ἀεὶ θεῖν) abgeleitet wissen wollte.94 Seiner Art nach unterscheidet sich dieses von den vier übrigen Elementen: Es ist unvermischt (ἀκήρατος), von den obengenannten Eigenschaften (feucht/trocken, heiß/kalt) kommt ihm keine zu. Und aufgrund dieser Einfachheit ist es unvergänglich und göttlich. Die Tatsache freilich, dass die Himmelskörper einen Stoff haben, impliziert, dass auch sie noch durch die Dualität von ἐνέργεια und δύναµις geprägt sind. Zwar ist ihre Natur nicht so beschaffen, dass sie auch einmal nicht (mehr) sein könnten – ihrem Wesen nach sind sie also immer in Wirklichkeit (in wirklicher Tätigkeit)95 –, insofern sie sich aber fortbewegen, d. h. zu jeder Zeit einen je anderen, bestimmten Ort einnehmen, sind sie nicht frei von Potentialität.96 Nach dem, was über die Zeit als Akzidens der Bewegung gesagt wurde, kann es weiter nicht verwundern, wenn mit dem beständigen Sein der supralunaren Substanzen auch eine besondere Art der Bewegung verbunden ist: Der ewigen Dauer entspricht eine andauernde, ununterbrochene Bewegung (wobei noch einmal die Natur dieses Bereichs als Zwischenbereich zwischen Vergänglichem und absolut Ewigem, zwischen Bewegtem und Unbewegtem deutlich wird). Da Aristoteles sich eine unendliche geradlinige Bewegung nicht vorstellen konnte,97 kam nur die unendliche, gleichmäßige Kreisbewe91 92 93 94 95 96
97
So in Physica VIII, 1 [251b 20–23]: τὸ δὲ νῦν ἐστι µεσότης τις, καὶ ἀρχὴν καὶ τελευτὴν ἔχον ἅµα, ἀρχὴν µὲν τοῦ ἐσοµένου χρόνου, τελευτὴν δὲ τοῦ παρελθόντος, ἀνάγκη ἀεὶ εἶναι χρόνον. Physica IV, 12 [221b 4f.]: οὐ γὰρ περιέχεται ὑπὸ χρόνου, οὐδὲ µετρεῖται τὸ εἶναι αὐτῶν ὑπὸ τοῦ χρόνου (Übs. Zekl I, 223). Physica IV, 14 [223b 19f.]: ἡ κυκλοφορία ἡ ὁµαλὴς µέτρον µάλιστα, ὅτι ὁ ἀριθµὸς ὁ ταύτης γνωριµώτατος. De mundo 2 [392a 5–9]. Vgl. etwa Metaphysica IX (Θ), 8 [1050b 22f.]: διὸ αἰεὶ ἐνεργεῖ ἥλιος καὶ ἄστρα καὶ ὅλος ὁ οὐρανός. Anders ausgedrückt: „auch die ewigen Wesen, welche nicht dem Entstehen, wohl aber der Bewegung unterworfen sind, haben einen Stoff, nicht aber für Entstehung, sondern nur für Bewegung“ (Übs. Bonitz II, 237f.), so Metaphysica XII (Λ), 2 [1069b 25f.]: καὶ τῶν ἀϊδίων ὅσα µὴ γεννητὰ κινητὰ δὲ φορᾷ, ἀλλ’ οὐ γεννητήν, ἀλλὰ πόθεν ποῖ. Denn, wie gesagt, eine Bewegung geht immer „von etwas“ und „zu etwas“, was insbesondere einen räumlichen Anfangs- und Endpunkt voraussetzt, der bei einer unendlichen geradlinigen Bewegung nicht gegeben ist.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
gung in Frage. Man findet sie in ihrer Einfachheit in den Umdrehungen der äußersten Sphäre, der Fixsternsphäre, aber auch in den Umläufen der Planeten kann man sie entdecken, da diese sich nach damaliger Vorstellung als Summe mehrerer konzentrischer Kreisbewegungen verstehen ließen. Die Kreisbewegung in ihrer Einfachheit und Ebenmäßigkeit ist dabei zugleich Vorbild für die unvollkommenen Bewegungen (geradlinige oder irgendwie aus Bögen zusammengesetzte), die sich im sublunaren Bereich finden.98 Steigt man noch eine Stufe höher hinauf, so gelangt man zum ersten unbewegten Beweger (πρώτον κινοῦν ἀκίνητον). Der Name beinhaltet dabei bereits sein grundsätzliches Verhältnis zur Zeit: Als unbewegte, nicht affizierbare Substanz steht er außerhalb der Zeit, als erste Ursache, die die Bewegung des Himmels hervorruft, ist er Ursache der Ewigkeit des Himmels und des Alls, dann aber (mittelbar) auch der Zeit. Was das eigene Sein der ersten Substanz angeht, so heißt es, „dass der Gott das ewige, beste Lebewesen ist, so dass Gott Leben und ein zusammenhängender, ewiger Aion zukommen, das nämlich ist Gott.“99 Hier zeigt sich die dritte Bedeutung von Ewigkeit: Nicht in der defizienten Weise eines Prozesses, der keinen sich durchhaltenden Träger besitzt und in dem je eine Substanz eine andere ablöst; auch nicht im Sinn jener bewegten Ewigkeit der immerfort kreisenden Gestirne; Aristoteles benutzte zur Kennzeichnung der überzeitlichen, dauerhaften Existenzweise des Göttlichen das Wort vom αἰὼν ἀΐδιος. „Aion“, diese Bezeichnung ist im vorliegenden Zusammenhang praktisch nicht übersetzbar, sie vereinigt in sich vielmehr die Bedeutungen von Dauer, Ewigkeit, Lebenszeit und Leben.100 Ich will im Folgenden eine Annäherung an dieses Wort versuchen: In einem allgemeinen, unspezifischen Sinn bezeichnet es zunächst einfach eine endliche Zeitspanne. Dann aber wird damit speziell die Dauer des (menschlichen) Lebens bezeichnet. „Leben“ bedeutet es insofern, als in dieser Dauer die Gesamtheit dessen, was das Leben ausmacht, einbeschlossen liegt. Die Vollkommenheit und Vollendung eines geglückten Lebens – die nun nicht mehr primär von der Anzahl der Lebensjahre abhängt – klingt in dieser Bedeutung
98
99 100
Vgl. De caelo II, 1 [284a 7]: καὶ αὕτη ἡ κυκλοφορία τέλειος οὖσα περιέχει τὰς ἀτελεῖς … – wobei περιεχεῖν zunächst im räumlichen Sinn verstanden werden darf; die Kreisbewegung der Planetensphären gibt ja auch den mechanischen Anstoß für die sublunaren Bewegungen, wie Aristoteles selbst wenige Zeilen später bemerkte [284a 10f.]. Περιεχεῖν hat aber auch noch eine andere Konnotation: Es ist das Allgemeine, das das Einzelne umfasst (vgl. Physica II, 3 [195a 33.35]) und es ist die Form, die die Materie umfasst (vgl. Physica III, 7 [207a 35f.]). Damit ist man aber wieder bei einem Urbild-Abbild-Schema angelangt; vgl. auch Hermann SCHMITZ, Aristoteles. Ontologie, Noologie, Theologie (= Die Ideenlehre des Aristoteles, Bd. 1/2), Bonn 1985, 266. Metaphysica XII (Λ), 7 [1072b 28–30]: φαµὲν δὲ τὸν θεὸν εἶναι ζῷον ἀΐδιον ἄριστον, ὥστε ζωὴ καὶ αἰὼν συνεχὴς καὶ ἀΐδιος ὑπάρχει τῷ θεῷ· τοῦτο γὰρ ὁ θεός (eigene Übersetzung). Weiteres zur Begriffsgeschichte von αἰών/aevum siehe unten S. 293. Vgl. ferner Max SECKLER, Aevum, in: Theodor Klauser (Hrsg.), Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 1, Stuttgart 1980, 193 sowie Hermann SASSE, Aion, in: Theodor Klauser (Hrsg.), Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 1, Stuttgart 1950, 193–204.
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an.101 Auf Gott angewandt entfaltet die Bezeichnung schließlich ihre volle Kraft, denn nicht ein endliches Leben wird dann umgriffen, sondern ein unendliches, weswegen Aristoteles das Wort auch von ἀεὶ εἶναι abgeleitet wissen wollte. Die Vollendetheit (τέλος) dieses Lebens besagt hier zweierlei: sowohl, dass es Ziel für andere ist, als auch, dass es sein Ziel in sich selbst hat (und zwar als erreichtes Ziel); in dem letzteren Sinn stiftet der τέλος-Gedanke die Analogie von endlichem und unendlichem Aion, im ersteren Sinn gilt, dass der unendliche Aion alles umfasst: das gesamte Himmelsgebäude, die Zeit und die Unendlichkeit.102 Zur obigen Stelle (Metaphysica XII (Λ), 7 [1072b 28–30]) zurückkehrend bemerkt man weiter, dass die so verstandene Aion-Ewigkeit Gott nicht nur zukommt, vielmehr, dass Gott diese Ewigkeit, dieses vollendete Leben selbst ist.103 Oder, anders ausgedrückt – wie es auch den anderen Bestimmungen des ersten unbewegten Bewegers entspricht – sein Leben ist nicht von einem anderen her bestimmt oder richtet sich auf ein Ziel außerhalb seiner, umgekehrt, er selbst ist letztes Ziel und Vollendung für alles andere, das er „wie ein Geliebter“104 zu bewegen vermag. Versucht man die aristotelische Theorie von Zeit und Ewigkeit mit einem Blick auf die spätere Entwicklung zusammenzufassen, so treten folgende Aspekte hervor: Zunächst die der Ontologie und Kosmologie entsprechende Gliederung seines Konzepts; Zeit und Ewigkeit sind nicht absolute Größen, sondern Folgemomente der Bewegung bzw. der Unbewegtheit der zugrundeliegenden Substanz. „Zeit“ mit der berühmten Definition tempus est numerus motus secundum prius et posterius ist dabei eingeschränkt auf den Bereich endlicher Bewegungen; jenseits dessen beschreibt „Ewigkeit“ die Dauer aller nicht zählbaren Bewegungen und des Unbewegten. Das (notwendig folgende) nicht zeitliche Verständnis von „Dauer“ orientiert sich am τέλος-Gedanken, wie er insbesondere bei der Betrachtung der göttlichen Substanz und deren Dauer, dem αἰῶν, hervortritt. Hier zeigt sich zugleich der Hauptunterschied zwischen der unbewegten, ihr Ziel in sich selbst besitzenden Ewigkeit des πρώτον κινοῦν und der bewegten, noch auf anderes ausgerichteten Ewigkeit des Himmels und der Planeten. 101
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In diesem Sinn definierte Aristoteles in De caelo I, 9 [279a 23–25]: τὸ γὰρ τέλος τὸ περιέχον τὸν τῆς ἑκάστου ζωῆς χρόνον, οὗ µηθὲν ἔξω κατὰ φύσιν, αἰὼν ἑκάστου κέκληται. Vgl. auch SCHMITZ, Aristoteles, 265–269 sowie Pasquale PORRO, Forme e modelli di durata nel pensiero medievale. L’aevum, il tempo discreto, la categoria «quando» (= Ancient and Medieval Philosophy I, 16), Louvain 1996, 59. Vgl. De caelo I, 9 [279a 25–27]: τὸ τοῦ παντὸς οὐρανοῦ τέλος καὶ τὸ τὸν πάντα χρόνον καὶ τὴν ἀπειρίαν περιέχον τέλος αἰών ἐστιν. – Dass man sehr sorgfältig zwischen den einzelnen Bedeutungen von αἰών differenzieren muss, zeigt eine Stelle in De caelo II, 1 [283b 27–29], wo ganz ähnlich von dem Aion als Dauer des Himmels gesprochen wird, die ja gleichfalls ewig (im Sinn von ohne Anfang und ohne Ende) ist, aber nicht an die Qualität des Aions des unbewegten Bewegers heranreicht: [οὐρανὸς] ἔστιν εἷς καὶ ἀΐδιος, ἀρχὴν µὲν καὶ τελευτὴν οὐκ ἔχων τοῦ παντὸς αἰῶνος, ἔχων δὲ καὶ περιέχων ἐν αὑτῷ τὸν ἄπειρον χρόνον … Wie es heißt: τοῦτο γάρ ὁ θεός. Das bekannte ὡς ἐρώµενον aus Metaphysica XII (Λ), 7 [1072b 3].
Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
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3.2
Augustinus
„Keiner hat das Wesen der Zeit und der Materie besser beschrieben als Augustinus, der sie im Buch der Confessiones untersucht und diskutiert“105 – so stimmte der Baccalaureus Bonaventura das Lob des großen Kirchenvaters an. Wenn man an die ungeheuere, bis heute andauernde Nachwirkung des elften Buches der Confessiones denkt, so kann man ihm darin nur zustimmen. Um so schwieriger freilich erscheint es, auf einigen wenigen Seiten die augustinische Konzeption von Zeit und Ewigkeit darzustellen; im Folgenden kann hier nicht viel mehr als ein einigermaßen grobes Mosaik gelegt werden. Es soll ein Bild von den im vorliegenden Zusammenhang wesentlichen Punkten abgeben.106 Auf einige Einschränkungen, die für die folgende Darlegung gelten, möchte ich dabei besonders hinweisen: Ich versuche hier, die Texte Augustins im Wesentlichen aus sich selbst heraus zu verstehen und für sich selbst sprechen zu lassen. Sowohl was die Quellen als auch was die Rezeption Augustins durch die Jahrhunderte angeht, beschränke ich mich auf einige knappe Bemerkungen, denn beide Felder bedürften an sich einer eigenen eingehenden Untersuchung.107 Zu ersterem Punkt sei hier lediglich der (Kurt Flasch zu verdankende) Hinweis angebracht, dass einerseits die großen Zeittheorien der Antike – zu finden etwa bei Platon, Aristoteles, dem Skeptiker Sextus Empiricus, dem Neuplatoniker Plotin, dem Stoiker Seneca – einen wichtigen Verständnishintergrund bilden,108 dass es aber andererseits einen methodischen Fehler darstellt,109 wollte man Augustinus direkt und unvermittelt mit den griechischen Vorlagen in Verbindung bringen; es waren die römische Bildungstradition, Augustins Berufshintergrund sowie seine Polemik gegen Zeitgenossen, die als Vermittlungsinstanz und unmittelbarer Hintergrund für die Ausführungen des Bischofs von Hippo fungierten.110 Ein zweiter Punkt, der für sich genommen ebenfalls sehr interessant wäre, aber weit über die Absicht der vorliegenden Arbeit hinausgehen müsste, um einigermaßen befrie105 106
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Ep. trib. qu. 12 [VIII, 335]: Nam nullus melius naturam temporis et materiae describit quam Augustinus, inquirendo et disputando in libro Confessionum. Wichtige Anregungen dazu habe ich vor allem den beiden Artikeln “Eternity” und “Time” von John M. QUINN in Allan D. FITZGERALD (Hrsg.), Augustine through the Ages, Grand Rapids (Mich.) u. a. 1999, 318–320 bzw. 832–838 sowie aus Gerard J. P. O’DALY, Aeternitas, in: Cornelius P. Mayer (Hrsg.), Augustinus-Lexikon, Bd. 1, Basel u. a. 1994, 159–164 entnommen. Einige Beispiele aus der reichen Rezeptionsgeschichte von Conf. XI bot FLASCH, Was ist Zeit?, 27–75; die Hintergründe des Textes (Flasch nannte sie vorsichtig „Traditionsbezüge“) werden ebd., 109–159 dargestellt. WEIS, Zeitontologie, 109–147 untersuchte die Bezüge zu den Zeitlehren Platons, Plotins und des Aristoteles. „Platon, Aristoteles, die Skeptiker und Plotin haben die großen Muster der Zeittheorie geschaffen. Ohne deren Kenntnis läßt sich die Augustinische Philosophie der Zeit schwerlich in ihrem theoretischen Gehalt charakterisieren“ (FLASCH, Was ist Zeit?, 150). Ebd., 110.150 nannte es Kurt Flasch eine „Überforderung“ des Textes. Ebd., 109f.; er wies darüber hinaus auf die Bedeutung Ciceros für Augustinus hin.
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digende Ergebnisse präsentieren zu können, betrifft die Entwicklung des Zeitverständnisses Augustins. Neben den in Confessiones XI enthaltenen Ausführungen findet sich in den übrigen Schriften eine Fülle weiteren Materials, das sich keineswegs nahtlos zu einem einheitlichen Gesamtkonzept von Zeit und Ewigkeit zusammenfügen lässt.111 Es soll hier kein Versuch unternommen werden, die vorhandenen Unebenheiten durch ein Modell der Genese des augustinischen Denkens auszugleichen; ein einfacher Hinweis auf deren Vorhandensein (sofern sie im Rahmen der hier untersuchten Aspekte überhaupt relevant sind), muss statt dessen genügen. Ein letzte Einschränkung schließlich gilt in thematischer Hinsicht: Das Gewicht, das das elfte Buch der Confessiones innerhalb der Zeittheorie des Bischofs von Hippo besitzt, bringt es mit sich, dass das Verhältnis von Geist/Seele und Zeit einen besonderen Schwerpunkt der folgenden Ausführungen darstellt. Erklärtes Ziel ist es dabei, die Zeittheorie Augustins vor einer subjektivierenden und einseitig „psychologisierenden“ Auslegung zu bewahren. Dazu dient nicht zuletzt der Abschnitt über die Zeit als Naturbestand, der auch das Material außerhalb der Confessiones berücksichtigt. Weitgehend ausgespart wurde dagegen Augustins Begriff einer geschichtlichen Zeit,112 der selbstredend in enger Verbindung mit seiner etwa in De civitate Dei entfalteten geschichtstheologischen Konzeption zu behandeln wäre. Er stellt ein relativ selbständiges Thema innerhalb der vielen verschiedenen Aspekte von Zeit dar,113 auch wenn es natürlich nicht an Querverbindungen fehlt. Der Verzicht auf dessen Darstellung liegt vor allem darin begründet, dass der vorliegenden Studie im Blick auf Bonaventura im Wesentlichen dieselbe Beschränkung auferlegt wurde.114
3.2.1
Zeit-Perspektiven
Nicht weniger als fünf Mal hat sich Augustinus im Laufe seines Lebens mit der Auslegung des Schöpfungsberichtes befasst und dabei setzte er sich auch jedes Mal mehr oder weniger ausführlich mit dem Thema Zeit auseinander, so in De Genesi adversus Manichaeos (388/390), in De Genesi ad litteram liber imperfectus (393/394), in den
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Flasch sprach von drei Zeittheorien, die sich bei dem Bischof von Hippo finden, vgl. die Ausführungen im folgenden Abschnitt unten. Ulrich DUCHROW, Der sogenannte psychologische Zeitbegriff Augustins im Verhältnis zur physikalischen und geschichtlichen Zeit, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 (1966) 267–288, deckte in seiner an Confessiones XI orientierten Untersuchung bereits innerhalb dieses Textes Brüche auf; sehr hart urteilte er, dass Augustin dort „in unlösbaren Aporien und Widersprüchen endet“ (286). Knapp dargestellt z. B. in QUINN, Time, 837. Zum Spektrum dieser Aspekte vgl. etwa FLASCH, Was ist Zeit?, 196–228. Vgl. die Einleitung, oben S. 20, auch wenn die Abschnitte ab S. 354 und ab S. 370 die Geschichtstheologie Bonaventuras im Rahmen der christologischen Perspektive mitbehandeln.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Confessiones (397–401),115 in De Genesi ad litteram (401–414),116 und schließlich noch einmal in De civitate Dei (412–426).117 Der Entstehungszeitraum der Schriften, der länger als 25 Jahre ist, lässt von vorneherein nicht erwarten, dass man aus den genannten Schriften ein Gesamt-Zeitkonzept konstruieren kann. Kurt Flasch wollte vielmehr „insgesamt von drei verschiedenen Zeittheorien Augustins sprechen“,118 wobei allerdings auch zu betonen ist, dass Augustinus innerhalb der Entwicklung seines Denkens in dieser Frage keine radikalen Brüche vollzogen hat, man wird eher von Akzentverschiebungen sprechen, bei denen jeweils neue Aspekte in den Vordergrund traten, während andere zurücktraten oder ganz verschwanden.119 Wenn im Folgenden einige Aspekte des facettenreichen Bildes von Zeit bei Augustinus vorgestellt werden, soll jedenfalls nicht der Eindruck entstehen, dass sich diese Aspekte zu einem bruchlosen Ganzen zusammenfügen ließen; insbesondere gilt diese Kautele für den im folgenden Abschnitt vorgestellten „psychologischen“ Aspekt, der sich bei Augustinus so nur in den Confessiones XI findet. 3.2.1.1
Das Verhältnis von Zeit und Geist in den Confessiones
Versucht man die wesentliche Erkenntnis der Zeitlehre des Augustinus in einem Satz auf den Punkt zu bringen, so wird man wohl auf seine berühmte Bestimmung der Zeit als distentio animi verweisen.120 Um dieses Wort richtig zu verstehen, sollen zunächst die Überlegungen kurz nachgezeichnet werden, die Augustinus zu dieser Charakterisierung geführt haben. a) Der Gedankengang Augustins Die Bücher XI–XIII stellen nach Augustinus’ eigenen Worten den zweiten Teil der Confessiones dar, der der Auslegung der Heiligen Schrift, das heißt des ersten Schöpfungsberichtes (Gen 1, 1 – 2, 4a) gewidmet ist,121 das Buch XI befasste sich dabei mit 115 116 117
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Neben Buch XI bieten vor allem die Bücher XII und XIII weiteres Material zu Augustins Zeitkonzept. Die Aussagen zur Zeit sind vor allem in den Büchern I–V enthalten. Hier sind die Bücher XI–XIV relevant, die deutlich nach 414 entstanden sein dürften; vgl. FLASCH, Was ist Zeit?, 105. In der Datierung der Schriften folge ich im übrigen Wilhelm GEERLINGS, Augustinus, in: Siegmar Döpp / Wilhelm Geerlings (Hrsg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg i. Br. 32002, 78–98. FLASCH, Was ist Zeit?, 196. Kritik an Flaschs Formulierung von drei „konkurrierenden Theoremen“ in Augustins Zeitlehre übte insbesondere Norbert FISCHER, Confessiones 11, in: Norbert Fischer / Cornelius Mayer (Hrsg.), Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den dreizehn Büchern (= Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 1), Freiburg u. a. 1998, 489–552, hier 494. Conf. XI, 26, 33 [CC.SL 27, 211, Z. 20f.]. Vgl. Retr. II, 6 (32), 1 [CC.SL 57, 94]: A primo usque ad decimum de me scripti sunt, in tribus ceteris de scripturis sanctis …
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der Auslegung der ersten vier Worte von Gen 1, 1 (In principio creavit Deus), während Buch XII dann erklärt, was mit den folgenden Worten caelum et terram gemeint ist, und Buch XIII summarisch die folgenden Verse abhandelt. Anders gesagt geht es in Buch XI zunächst darum, den Begriff „Schöpfung“ zu klären. Bereits mit dem Eingangsgebet gab der Kirchenlehrer seiner Auslegung dabei eine sehr spezielle Wendung, indem er sich an Gott wandte, der die Ewigkeit ist und doch um das Zeitliche weiß.122 Die Frage nach der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf wird damit in die nach dem Verhältnis von Ewigem und Zeitlichem gekleidet,123 und in diesem Zusammenhang stellte Augustinus die bedeutungsschwere Frage „Was ist Zeit?“124 Klar war dabei zunächst nur der Gegensatz zwischen der ewig stehenden, durch Gegenwart und Bleiben gekennzeichneten Ewigkeit und der niemals stillstehenden Zeit.125 Wiederholt betonte Augustinus dabei, dass er seine verschiedenen Ansätze, das paradoxe Wesen der Zeit – die nur dadurch ist, dass sie dem Nicht-Sein zustrebt126 – zu fassen, als eine Suche, nicht als eine letztgültige Antwort verstanden wissen will.127 Die vorsichtigen Formulierungen, derer sich Augustinus bediente, sollen jedoch umgekehrt nicht bedeuten, dass seine Suche ohne Ergebnis blieb.128 Um dieses zu fassen, gilt es zunächst, die bestehende Paradoxie etwas genauer zu betrachten: Für Augustinus bestand sie vor allem darin, dass die Analyse der drei „Zeiten“ (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) auf der einen Seite erweist, dass keiner der drei Teile der Zeit in Wahrheit ist: nicht die Vergangenheit, die nicht mehr ist, nicht die Zukunft, die noch nicht ist, und in gewissem Sinn nicht einmal die Gegenwart, denn sie strebt allezeit dem Nicht122 123
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Conf. XI, 1, 1 [CC.SL 27, 194, Z. 1f.]: Numquid, domine, cum tua sit aeternitas, ignoras, quae tibi dico, aut ad tempus vides quod fit in tempore? Klaus KIENZLER, Gott in der Zeit berühren. Eine Auslegung der Confessiones des Augustinus, Würzburg 1998, 278–287 stellte dies als eigentliches Thema des elften Buches vor. Vgl. ferner die Zusammenfassung von FISCHER, Confessiones 11, 546f. SCHULTE-KLÖCKER, Das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit, 377–389 sah das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit als die Gesamtperspektive der Bücher XI–XIII. Conf. XI, 14, 17 [CC.SL 27, 202, Z. 4f.]: Quid est enim tempus? Vgl. Conf. XI, 11, 13 [CC.SL 27, 201, Z. 6–8]: … semper stantis aeternitatis et comparet cum temporibus numquam stantibus et videat esse incomparabilem; ebd. 13, 16 [CC.SL 27, 202, Z. 15– 17]: Nec tu tempore tempora praecedis: … Sed praecedis omnia praeterita celsitudine semper praesentis aeternitatis; ebd. 14, 17 [CC.SL 27, 202, Z. 2f.]: Et nulla tempora tibi coaeterna sunt, quia tu permanes; at illa, si permanerent, non essent tempora. Und wenig später [CC.SL 27, 203, Z. 14–16]: Praesens autem, si semper esset praesens nec in praeteritum transiret, non iam esset tempus, sed aeternitas. Vgl. Conf. XI, 14, 17 [CC.SL 27, 203, Z. 18f.]: … ut scilicet non vere dicamus tempus esse, nisi quia tendit non esse? Man vgl. nur ebd. 17, 22 [CC.SL 27, 205, Z. 1]: Quaero, pater, non affirmo. Auf diesen Vorbehalt des augustinischen Zeittraktates wies etwa FLASCH, Was ist Zeit?, 196f. hin; FISCHER, Confessiones 11, erkannte in Conf. XI im wesentlichen zwei Anläufe, das Sein der Zeit zu bestimmen, die beide „aporetisch enden“ (547; ausführlicher 497). Insofern darf man „den aporetischen Charakter von Conf. XI“ nicht überbewerten (FLASCH, Was ist Zeit?, 386).
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Sein zu und existiert nur in dem unteilbaren Augenblick.129 Auf der anderen Seite stellt man fest, dass Zeit ganz selbstverständlich gemessen wird; gemessen werden kann aber (so die nicht weiter hinterfragte Prämisse) doch nur etwas, das ist.130 Um aus diesem Dilemma herauszukommen, formulierte Augustinus seine Ausgangsfrage um. Auf dem Umweg über die beiden Fragen (1) „Wo ist die Zeit?“131 und (2) „Was wird gemessen, wenn man die Zeit misst?“132 hoffte er, zu einer Lösung seines Problems zu kommen. Nachdem Augustinus Sein als Gegenwärtigsein bestimmt hatte,133 lautete die Antwort auf die erste Frage: Nur in der Seele (in anima) ist die Zeit und zwar als Gegenwart von Vergangenem, als Gegenwart von Gegenwärtigem und als Gegenwart von Zukünftigem; diese dreifache Gegenwart ist dabei nichts anderes als die Dreiheit von Erinnern (memoria), Anschauen (contuitus) und Erwarten (expectatio).134 Zur Beantwortung der zweiten Frage wird zunächst negativ festgestellt: Zeit ist nicht Bewegung, weder die Bewegung der Gestirne noch die eines beliebigen Körpers;135 vielmehr ist Zeit das Mittel, wodurch wir Bewegung messen (quo metimur).136 Indem, anders gesagt, die 129
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Conf. XI, 14, 17 (zitiert oben, Anm. 126) und ebd. 15, 20 [CC.SL 27, 204, Z. 48–50]: Si quid intelligitur temporis, quod in nullas iam vel minutissimas momentorum partes dividi possit, id solum est, quod praesens dicatur. Vgl. ebd. 16, 21 [CC.SL 27, 204f.], und ebd. 21, 27 [CC.SL 27, 207, Z. 6f.]: Scio, quia metimur, nec metiri quae non sunt possumus. – So wie man für die Zeit insgesamt behaupten kann manifestissima et usitatissima sunt, et eadem rursus nimis latent … (Conf. XI, 22, 28 [CC.SL 27, 208, Z. 18f.]). Ebd. 15, 20 [CC.SL 27, 204, Z. 53f.]; Sein wird hier im Sinn von Existieren und näherhin als Gegenwärtigsein aufgefasst. Vgl. vor allem die Fragen in ebd. 21, 27 [CC.SL 27, 207, Z. 7f.13f.]: Praesens vero tempus quomodo metimur … Quid autem metimur …? Vgl. ferner ebd. 27, 35 [CC.SL 27, 212, Z. 38]: Quid ergo est, quod metior? und ebd. 26, 33 [CC.SL 27, 211, Z. 21]. Ebd. 18, 23 [CC.SL 27, 205, Z. 6f.]: Ubicumque ergo [scil. futura et praeterita] sunt, quaecumque sunt, non sunt nisi praesentia. Ebd. 20, 26 [CC.SL 27, 207, Z. 3–7]: tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non video, praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio. Die beiden Thesen (Zeit ist Bewegung der Gestirne und Zeit ist Bewegung eines beliebigen Körpers) werden in Conf. XI, 23, 29 – 24, 31 [CC.SL 27, 208–210] nacheinander widerlegt. – Dass die Bewegung der Gestirne das Vergehen der Zeit nicht begründet, sondern lediglich manifestiert, hatte Augustinus bereits in Gen. adv. Man. I, 14, 21 [CSEL 91, 88, Z. 5–11] eindrücklich festgestellt: … quia si currant tempora; et nullis distinguantur articulis, qui articuli per siderum cursus notantur, possunt quidem currere tempora atque praeterire, sed intellegi et discerni ab hominibus non possunt. Vgl. Conf. XI, 23, 30 [CC.SL 27, 209, Z. 33f.]: quid sit tempus, quo metientes solis circuitum … und ebd. 24, 31 [CC.SL 27, 210, Z. 15–17]: Cum itaque aliud sit motus corporis, aliud, quo metimur, quandiu sit, quis non sentiat, quid horum potius tempus dicendum sit? – Ein zusätzliches Argument gegen die Gleichsetzung von Zeit und Bewegung gewann Augustinus daraus, dass nicht nur die Bewegung, sondern auch die Ruhe von der Zeit gemessen wird.
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Bewegung der Körper in der Zeit stattfindet,137 umgeht Augustinus auch die bei Aristoteles auftretende Zirkularität, dass Zeit durch Bewegung gemessen wird und umgekehrt.138 Doch damit ist noch nicht geklärt, was bei der Zeitmessung gemessen wird. Die Antwort, die Augustinus präsentiert, kommt einigermaßen überraschend und hat fast den Charakter einer Intuition: Wenn es allein auf den Zeitraum ankommt, in dem eine Bewegung stattfindet, dann ist Zeit eine gewisse Ausdehnung und zwar eine Ausdehnung des Geistes selbst (distentio ipsius animi).139 Nimmt man die Antworten auf die beiden Fragen zusammen, so ergibt sich schließlich die Lösung des Zeitproblems, die Augustinus in Confessiones XI, 27, 36 – 28, 38 vorstellte: In te anime meus, tempora metior,140 das heißt, der Ort, wo allein die Zeiten gegenwärtig sind und gemessen werden können, ist der Geist selbst in seinen drei Vermögen der memoria, der attentio und der expectatio.141 Das Zeitmaß wird nicht an die sich verändernden Dinge selbst angelegt, sondern an die bleibenden Inhalte der memoria bzw. der expectatio.142 In diesem Sinn findet man einen Zeitraum, eine zeitliche Erstreckung nicht als etwas in der Natur, sondern als eine distentio animi, das heißt als „eine Quasi-Strecke in der Seele“,143 wobei mit distentio zweierlei ausgesagt wird: sowohl das Auseinander, die Distinktheit von (zeitlichem) Anfang und Ende, als auch die Verbindung beider, indem diese als Bestimmungen eines einzigen Vorgangs begriffen werden. Wenn der Bischof von Hippo weiter ausführte, dass der Geist in seinem Gedächtnis den Eindruck (affectio) misst, den die Dinge in ihrem „Vorübergehen“ dort hinterlassen haben, so wies er damit einerseits noch einmal auf die Differenz hin, die zwischen der 137 138 139
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Conf. XI, 24, 31 [CC.SL 27, 210, Z. 2f.]: Nam corpus nullum nisi in tempore moveri audio. Vgl. oben S. 102. Augustinus kam dazu in zwei Anläufen: (1) In Conf. XI, 23, 29 – 30 [CC.SL 27, 208f.], hier (Z. 43) kam er bei der Betrachtung der Gestirnsbewegungen zu der Feststellung: Video igitur tempus quandam esse distentionem. (2) Der zweite Anlauf, wo er Bewegung allgemein betrachtete, ebd. 24, 31 – 26, 33 [CC.SL 27, 210f.], hier 26, 33 [CC.SL 27, 211, Z. 19–21], ergab schließlich: Inde mihi visum est nihil esse aliud tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi. Ebd. 27, 36 [CC.SL 27, 213, Z. 46]. Die oben, Anm. 134, angeführte Trias von memoria, contuitus, expectatio wurde in Conf. XI, 28, 37f. [CC.SL 27, 213f.] als memoria, attentio, expectatio wieder aufgenommen. Vgl. den in Anm. 145 zitierten Text, in diesem Sinn sagte Augustinus dann in Conf. XI, 28, 37 [CC.SL 27, 214, Z. 10–14]: Non igitur longum tempus futurum, quod non est, sed longum futurum longa expectatio futuri est, neque longum praeteritum tempus, … sed longum praeteritum longa memoria praeteriti est. – Nicht die Zukunft selbst, sondern die entsprechende Erwartung heißt also bei Augustinus lang (entsprechend für die Vergangenheit). Vgl. auch FISCHER, Confessiones 11, 532; FLASCH, Was ist Zeit?, 390 ging bei der Interpretation dieser Stelle noch weiter: „Was allein die langdauernde Zukunft als etwas Reales sichert, ist ein langdauerndes Erwarten der Zukunft“, insbesondere da Augustinus „die Vorstellung eines objektiven Vorrats künftiger Ereignisse verworfen“ hat. FLASCH, Was ist Zeit?, 382.
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vergehenden Zeit selbst (den praetereuntia tempora)144 und den entsprechenden Inhalten der memoria besteht;145 andererseits zeigte er den Zusammenhang beider auf. Die affectiones sind hier das Bindeglied zwischen dem im weitesten Sinn physikalischen Aspekt der Zeit (als unabhängig vom Geist vergehender) und ihrem „psychologischen“ Aspekt (als im Geist durch expectatio, attentio und memoria fassbarer). Wie sehr beides zusammenhängt, wird deutlich, wenn Augustinus andernorts die unmittelbare Wahrheit der so aufgenommenen Eindrücke betont.146 Die Enge dieser Verbindung und die Feststellung, dass die Zeiträume im Geist, nicht in der Natur gemessen werden, machen deutlich, wie Augustinus letztlich zu dem Schluss kommen kann, dass die genannten Eindrücke selbst nichts anderes als die Zeiten sind.147 Erscheint in diesem Kontext die memoria zunächst als ein passives Vermögen, ein Aufnahmevermögen für die bleibenden Eindrücke,148 so wäre es doch falsch sie nur als eine Art Raum oder Behältnis zu verstehen. Dasselbe gilt für die expectatio, wobei es dort sicherlich noch unmittelbarer einsichtig ist, denn der Geist selbst schafft diese Räume ja allererst, und konstituiert dadurch die Zeiten (das heißt die Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). Mehr noch, der Geist ist in gewisser Weise sogar identisch mit diesen „Räumen“, denn „der animus ist gar nichts anderes als die Aufbewahrung von Außenspuren, als das aktuale Auffassen ihrer Präsenz in ihm, als die Erwartung neuer vorüberziehender Weltdinge.“149 Versteht man die memoria, attentio und expectatio so als tätige Vollzüge (Akte) des Geistes – Augustinus verdeutlichte das in Confessiones XI, 28, 38 am Beispiel des Singens eines Liedes –, wird auch sichtbar, wie sich die Dynamik der Zeit im Geist wiederfindet: In der Hinwendung auf das Ge-
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Vgl. Conf. XI, 26, 33 [CC.SL 27, 211, Z. 26f.]: Quid ergo metior? An praetereuntia tempora, non praeterita? Sic ergo dixeram. Diese Lösung, zu der er in c. 16, 21 und c. 21, 27 gekommen war, unterzog er im Folgenden der Kritik. Angedeutet wurde diese Lösung bereits in Conf. XI, 18, 23 [CC.SL 27, 205], wo es umgekehrt hieß, dass aus dem Gedächtnis nicht die vergangenen Dinge selbst (res ipsae) hervorgeholt werden, sed verba concepta ex imaginibus earum, quae in animo velut vestigia per sensus praetereundo fixerunt (Z. 8–10). Am Beispiel des Gesichtssinnes in Vera rel. 33, 62 [CC.SL 32, 227, Z. 1f.]: Sed ne ipsi quidem oculi fallunt. Non enim renuntiare animo possunt nisi affectionem suam. Vgl. Conf. XI, 27, 35f. [CC.SL 27, 213, Z. 44–52]: Non ergo ipsas, quae iam non sunt, sed aliquid in memoria mea metior, quod infixum manet. In te, anime meus, tempora metior. … Affectionem, quam res praetereuntes in te faciunt et, cum illae praeterierint, manet, ipsam metior praesentem, non ea quae praeterierunt, ut fieret; ipsam metior, cum tempora metior. Ergo ipsa sunt tempora, aut non tempora metior. Vgl. Civ. XII, 18 [CC.SL 48, 374, Z. 52]: Patitur quippe qui afficitur. FLASCH, Was ist Zeit?, 221. Vgl. auch SCHULTE-KLÖCKER, Das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit, 105f.: „Die ‚memoria‘ ist nicht einfach rezipierend; ‚affectio‘ bezeichnet die Art, wie die ‚memoria‘ bzw. der ‚animus‘ sich vollzieht. … Damit bindet er [scil. Augustinus] die vom Geist gezeitigte Zeit unmittelbar an den Selbstvollzug des ‚animus‘“ (Ergänzung von mir).
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genwärtige bewirkt (agit) der Geist in sich zugleich eine Übersetzung des Zukünftigen in die Vergangenheit, einen Übergang von der expectatio in die memoria.150 Der menschliche Geist erscheint dabei nicht nur als seinsgebender Ort dessen, was noch nicht und was nicht mehr ist, er selbst schlägt auch die verbindende Brücke zwischen der Zukunfts- und der Vergangenheitsdimension der Zeit.151 Umgekehrt bedeutet dies jedoch für den Geist: Solange eine Tätigkeit (actio) andauert, kann er deren Totalität nur in der gleichzeitigen Ausrichtung auf den bereits gewesenen und den noch zu erwartenden Teil dieser Handlung erfassen. Jedes Tätigsein erscheint so als ein Ausgespanntsein (distentio) zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Erwarten und Erinnern.152 Diese distentio zeigt sich bereits in der kleinsten einzelnen Handlung (in seinem Beispiel: dem Vortrag der einzelnen Silben des Liedes); fortschreitend zu immer größeren Handlungszusammenhängen erkennt sie der Kirchenvater schließlich auch im Leben des Menschen insgesamt und darüber hinaus in der ganzen Menschheitsgeschichte. Man steht hier am vorläufigen Zielpunkt der Zeitanalyse Augustins (die Konsequenzen, die er selbst daraus zog, sind weiter unten noch genauer zu bedenken): Ausgehend von der Frage „Was ist Zeit?“ und einer Kritik des alltäglichen Sprachgebrauchs der drei Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft über die Messung von Zeiträumen als einer Erstreckung im Geist, einer distentio animi, gelangte er schließlich zur Erkenntnis der zeitlichen Handlungsstruktur des menschlichen Geistes, die er gleichfalls als distentio verstand, gerade weil sie sich im dreifachen Präsens von Erwarten, Erfassen und Erinnern vollzieht.
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Vgl. vor allem Conf. XI, 28, 37 [CC.SL 27, 213, Z. 1–5]: Sed quomodo minuitur aut consumitur futurum, … aut quomodo crescit praeteritum, … nisi quia in animo, qui illud agit, tria sunt? Nam et expectat et attendit et meminit, ut id quod expectat per id quod attendit transeat in id quod meminerit; ähnlich ebd. 27, 36 [CC.SL 27, 213, Z. 65f.]: … atque ita peragitur, dum praesens intentio futurum in praeteritum traicit deminutione futuri crescente praeterito …; und ebd. 28, 38 [CC.SL 27, 214, Z. 18–20]: praesens tamen adest attentio mea, per quam traicitur quod erat futurum ut fiat praeteritum. Vgl. FLASCH, Was ist Zeit?, 388. Vgl. Conf. XI, 28, 38 [CC.SL 27, 214, Z. 14–18]: Dicturus sum canticum, quod novi, antequam incipiam, in totum expectatio mea tenditur, cum autem coepero … distenditur vita huius actionis meae in memoriam propter quod dixi et in expectationem propter quod dicturus sum. Vgl. das Résumé ebd. 29, 39 [CC.SL 27, 214, Z. 2]: ecce distentio est vita mea. – Man sollte dabei (denke ich) diese distentio nicht vorschnell mit der distentio animi aus c. 26, 33 ineins setzen: Bei letzterer geht es um die Messung einer zeitlichen Ausdehnung im Geist (z. B. der Länge einer Silbe), dabei wird diese Ausdehnung in der Regel ganz der Vergangenheit oder ganz der Zukunft angehören (zumindest wies Augustinus hier nicht explizit auf den Fall eines sich von der Vergangenheit in die Zukunft erstreckenden Zeitraumes hin); die in c. 28, 38 beschriebene distentio jedoch ergibt sich aus der gleichzeitigen Ausrichtung auf die beiden disjunkten Räume der Erwartung und Erinnerung. Gemeinsam ist beiden, dass sie das Streben des Geistes von dem Einen weg auf das Viele lenken (vgl. ebd. 29, 39 passim).
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b) Subjektivierung und Psychologisierung der Zeit? Es kann hier nicht darum gehen, das augustinische Konzept einer philosophischen Kritik zu unterwerfen,153 im Folgenden sollen vielmehr die Charakteristika und die Bedeutung dieses Zeitkonzeptes noch etwas genauer in den Blick genommen werden. Augustins Bestimmung der Zeit als distentio animi – wobei mit animus eindeutig nicht die Weltseele, sondern der individuelle Geist des Menschen gemeint ist154 – wurde dabei bisweilen so interpretiert, dass es hier zu einer „völligen Subjektivierung“ der Zeit kommt, bei der dieser „keinerlei außermentale Realität“ mehr zugesprochen wird.155 Dabei begegnet diese Deutung nicht erst im 20. Jahrhundert, schon Robert Grosseteste und Albertus Magnus hatten Augustin auf die Seite derer gestellt, die das Sein der Zeit ausschließlich in der Seele gegeben sahen, und sich deswegen gegen ihn gestellt.156 Vor allem die „scharfe Verurteilung durch Albert“157 bewirkte, dass man die Zeittheorie des Kirchenvaters in den 1240’er und 1250’er Jahren eher stiefmütterlich behandelte (obwohl natürlich die Confessiones weiterhin gelesen wurden). Interessanterweise war es 153
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Zahlreiche Ansätze dazu findet man im Kommentar von Kurt FLASCH, Was ist Zeit?, 282–413. Zwei Punkte seien dennoch wenigstens angedeutet: Zum einen der Aspekt, ob es „Zukunft“ nur als Erwarten gibt: Dies begrenzt Zukunft auf das Erwartbare und trägt so ein subjektives Moment in die Zeitbetrachtung, das nur schwer mit der objektiven Seite einer kausalen Verknüpfung zukünftiger Ereignisse mit Gegenwärtigem zu harmonisieren ist (vgl. ebd., 391); zum anderen ergibt sich das Problem, wie die von Augustinus beanspruchte „Welthaftigkeit und Intersubjektivität der Zeit“ (ebd., 223) damit vereinbart werden kann, dass der individuelle menschliche Geist und nicht – wie vor allem in der neuplatonischen Spekulation – eine Weltseele die Zeitmodi konstituiert. Vgl. QUINN, Time, 834f.; FLASCH, Was ist Zeit?, 384f. – er verwies dabei auf Conf. XI, 27, 36 [CC.SL 27, 213, Z. 46]: In te, anime meus, tempora metior (Unterstreichung von mir). Dass sich im animus Augustins dennoch „ein Restbestand älterer Geistphilosophien und Weltseelenspekulationen“ erhalten hat, betonte (und problematisierte) FLASCH, Was ist Zeit?, 223f. Das hatte etwa Anneliese MAIER, Die Subjektivierung der Zeit in der scholastischen Philosophie, in: Philosophia naturalis 1 (1950) 361–398, hier 364, behauptet; kritisch bereits DUCHROW, Der sogenannte psychologische Zeitbegriff, 267: „Seit Heideggers ‚Sein und Zeit‘ … ist fast allen Publikationen die Tendenz gemeinsam Augustin als den Vater eines subjektivistischen oder … existential-ontologischen Zeitbegriffs zu verstehen.“ Er hielt gleichwohl an einer „Lokalisierung der Zeit allein in der Seele“ (ebd., 287) durch Augustinus fest. Dagegen QUINN, Time, 834a sowie FISCHER, Confessiones 11, 521 („… verdecken alle Interpretationen den Sinn der Zeitabhandlung, die ihr eine Psychologisierung oder Subjektivierung der Zeit zuschreiben“). Vgl. ROBERT GROSSETESTE, Commentarius in VIII libros Physicorum Aristotelis IV, ed. Richard C. Dales, Boulder (Colorado) 1963, 95: Quidam autem, ut invenirent tempus esse aliquod, putaverunt quod tempus esset affeccio relicta in anima ex transitu rerum mobilium. Et sic videtur velle Augustinus … Albertus Magnus urteilte bereits in De IV coaequaevis 2, 5, 1 [Ed. Paris. 34, 365b]: His rationibus consentit Augustinus dicens, quod tempus non nisi in anima est …; ebenso in Physica IV, 3, 3 [Ed. Colon. IV.1, 264, Z. 51–68]. Für das Verhältnis von Robert Grosseteste zur augustinischen Zeitspekulation vgl. ferner JECK, Aristoteles contra Augustinum, 210f.; entsprechend zu Albertus Magnus ausführlich ebd., 222–228.231 sowie 235–266 passim, bes. 243–245; 340 resümierte er, dass „die scharfe Verurteilung durch Albert … dem Ansehen der Zeitphilosophie des Augustinus doch erheblich geschadet“ hatte. Vgl. ferner bei FLASCH, Was ist Zeit?, 165–173. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 340.
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dann gerade die Pariser Verurteilung von 1277, in deren 200. Artikel eben jene These eines rein innerseelischen Seins der Zeit verurteilt wurde,158 die die Auseinandersetzung mit Augustinus erneut anregte.159 Da die Philosophen gegen Ende des 13. Jahrhunderts dieses Verdikt mehr oder weniger einhellig auf Augustinus und Averroes bezogen,160 wandte man sich – angeführt von Heinrich von Gent mit einem an Ostern 1278/9 vorgetragenen Quodlibet161 – erneut den Quellen zu, wobei auch Heinrich zu dem Schluss kam, dass für Augustinus die Zeit nirgendwo anders als in der Seele zu finden ist.162 Nun gibt es zweifellos Stellen in Confessiones XI, die in Richtung eines Zeitsubjektivismus interpretiert werden könnten,163 ein genauerer Blick offenbart jedoch, dass es Augustinus hier nicht um das Sein der Zeit an sich geht, sondern er vielmehr auf die „subjektiven Bedingungen der Zeitmessung, die ohne die einheitsstiftende Zusammenfügung der Seele unmöglich ist“,164 abhebt. Dies wiederum darf weder als transzendentalphilosophischer Ansatz missverstanden werden, bei dem die Zeit als eine apriorische Form der Anschauung konzipiert würde, noch sollte man hier eine quasi-neuzeitliche Trennung von Innen- und Außenwelt unterstellen und Confessiones XI als eine Abhandlung über die „innere Zeiterfahrung“ lesen.165 Augustinus zweifelte vielmehr keinen 158 159 160
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DENIFLE / CHATELAIN, Chartularium universitatis Parisiensis I, 554 (a. 200): Quod evum et tempus nichil sunt in re, sed solum in apprehensione. Vgl. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 339: „Das Verbot steigerte vielmehr die Qualität des Diskurses mit einer bis dahin unbekannten Intensität des Quellenstudiums.“ So JECK, Aristoteles contra Augustinum, 409f.; PORRO, Forme e modelli di durata, 10–14 diskutierte weitere mögliche Adressaten der Verurteilung in a. 200; so kann sie unter anderen auch in Verbindung mit der These von der Ewigkeit der Welt gesehen werden. Dass dieser Zusammenhang durchaus nicht konstruiert ist, zeigt etwa Raimundus Lullus, der unter ausdrücklichem Bezug auf den genannten Artikel feststellte: … probatum est, quod mundus creatus est et inceptus de novo. Cuius initium esset impossibile, si tempus non esset ens reale (Declaratio Raimundi, per modum dialogi edita contra aliquorum philosophorum et eorum sequacium opiniones erroneas et damnatas a venerabili patre domino episcopo Parisiensi, c. 200 [CC.CM 79, 391, Z. 4–6]). – Eine weitere Möglichkeit, um Augustinus von der Verurteilung des Jahres 1277 auszunehmen, bestand auch im Hinweis auf die außerhalb von Conf. XI vertretenen Zeittheorien, die die Realität der Zeit stärker betonen; vgl. hierzu FLASCH, Was ist Zeit?, 395 sowie den Abschnitt unten über die Zeit als Naturbestand (ab S. 141). Vgl. HEINRICH VON GENT, Quodlibet 3, q. 11 Utrum tempus possit esse sine anima – kritisch ediert in JECK, Aristoteles contra Augustinum, 463–476, ausführliche Diskussion des Textes ebd., 339– 398. Vgl. Quodlibet 3, q. 11 [Ed. cit., 468, Z. 2–5]: Ecce plane, quid de proposita quaestione sensit Augustinus, videlicet, quod non esset nisi in anima et nihil aliud quam affectio seu conceptus transitus rerum pertranseuntium manens in anima … Z. B. Conf. XI, 20, 26 [CC.SL 27, 207, Z. 5]: Sunt enim haec [scil. praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris] in anima tria quaedam et alibi ea non video. Oder ebd. 27, 36 [CC.SL 27, 213, Z. 51f.], wo es von den im Geist hinterlassenen Eindrücken (affectiones) hieß: Ergo aut ipsa sunt tempora, aut non tempora metior. Kurt FLASCH, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, 279; Hervorhebung von mir. Vgl. hierzu auch FLASCH, Was ist Zeit?, 220–222; ähnlich QUINN, Time, 834b.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Augenblick an dem außerseelischen Ursprung der Zeit:166 Die tempora praetereuntia sind eine von der menschlichen Seele unabhängige Gegebenheit, genauso wie das unteilbare Jetzt der Gegenwart.167 Dem Urteil von der Subjektivierung der Zeit wird man also entgegenhalten, dass der Kirchenvater den „Objektivismus der stoischen Erkenntnislehre“ teilte:168 Die natürlichen Prozesse existieren demnach unabhängig vom Menschen, und auch der Zusammenhang zwischen dem Prozess selbst und den von ihm bewirkten Eindrücken (affectiones) wird nicht problematisiert.169 Zeit ist insofern nicht weniger objektiv gegeben als Bewegung auch. Die eigentliche Schwierigkeit, mit der Augustinus rang, besteht darin, dass zeitliches Sein nicht mit sich selbst identisch bleibt. Weil dessen vergangene und zukünftige Zustände nicht gegenwärtige Wirklichkeit sind, muss der Bischof von Hippo auf das Bleiben der Eindrücke in der memoria ausweichen, um den zeitlichen Prozess in seiner Totalität erfassen zu können und dadurch die Zeitmessung zu ermöglichen. Vor allem im Blick auf die zeitkonstituierenden seelischen Akte des Erinnerns, Anschauens/Erfassens und Erwartens (memoria, contuitus/attentio, expectatio) wurde gern von einer „psychologischen Zeit“ oder von einer „psychologisierenden Zeittheorie“ Augustins gesprochen.170 Wenn man bei diesem Ausdruck bleiben möchte,171 ist es nötig, sich darüber klarzuwerden, was mit diesem „Etikett“ ausgesagt werden soll. Das eben Ausgeführte steckt dabei bereits einen gewissen Rahmen ab: So ist klar, dass, wenn die Zeit ein vom Geist unabhängiger Naturbestand ist, sie als solche nicht von ihm konstituiert werden kann.172 Aus ontologischer Perspektive mag die Zeit ein schwaches Sein haben, weil sie ständig in einer Vielzahl vorbeigehender Fristen verfließt173
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Vgl. auch FISCHER, Confessiones 11, 522. Zu den praetereuntia tempora, vgl. Conf. XI, 16, 21; 21, 27; 26, 33; 27, 34 [CC.SL 27, 205.207. 211.211f.]; zum „Jetzt“: ebd. 15, 20 [CC.SL 27, 204, Z. 49f.] (siehe oben S. 116, Anm. 129). Man vgl. ferner das ohne Bezug auf den menschlichen Geist Gesagte: … longum tempus non nisi ex multis praetereuntibus morulis, quae simul extendi non possunt (ebd. 11, 13 [CC.SL 27, 201, Z. 8f.]). Vgl. FLASCH, Augustin, 279. Siehe oben S. 117. So QUINN, Time, 833–835 (unter der Überschrift “Psychological Time”); zur Kritik vgl. FLASCH, Was ist Zeit?, 218–220. Kurt Flasch möchte (ebd.) – sicherlich richtiger, auch im Blick darauf, dass Augustinus selbst den Ausdruck animus (statt anima) vorzieht – vom geistphilosophischen Aspekt der augustinischen Zeitlehre sprechen. In diesem Sinn spreche auch ich hier zumeist von Geist anstatt von Seele. Anders etwa SCHULTE-KLÖCKER, Das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit, 108f.: „Zeit findet sich nicht in der Außenwirklichkeit, sondern nur in der einen Zeitraum konstituierenden Innerlichkeit des Geistes. Nur durch die Aktivität des Geistes, die sich manifestiert in seiner ‚distentio‘, seiner Ausdehnung, wird ein Zeitraum geschaffen.“ Conf. XI, 11, 13 [CC.SL 27, 201, Z. 8f.]: … et videat longum tempus nisi ex multis praetereuntibus morulis, quae simul extendi non possunt …; was das Sein der Zeit im Vergleich zum Sein der Ewigkeit angeht, vgl. etwa Conf. VII, 11, 17 (zitiert unten S. 132, Anm. 227).
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und ihr somit das semel, simul et semper der Ewigkeit Gottes fehlt,174 aber sie ist ebenso weit davon entfernt, ein reines Produkt unseres Geistes zu sein. In dieser Hinsicht war für Augustinus allein Gott der Wirker und Gründer aller Zeit,175 und die Aufgabe und Leistung des menschlichen Geistes ist es nicht, die Zeit zu begründen, sondern sie zu erfassen.176 Und gerade dazu bildet der Geist die Zeiten, das heißt, die Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.177 Indem er in sich das Vergangene als Erinnerung und das Zukünftige als Erwartung gegenwärtig setzt, kann er zeitliche Vorgänge in ihrer Gesamtheit ergreifen und auf diese Weise der verfließenden Zeit habhaft werden. Fasst man den „psychologischen“ Zug der Zeitlehre in diesem Sinn auf, dass der menschliche Geist die Zeiten im besagten Sinn konstituiert, so wird man weiter darauf hinweisen, dass im Verständnis Augustins der animus in dieser Rolle nicht frei ist: Trotz der aktiven Funktion, die er bei der Bildung der Zeiten in seinem Inneren hat, ist er nicht – oder nur in sehr eingeschränktem Sinn – der Herr der Zeit(en).178 Dies ergibt sich bereits aus dem strikten Bezug auf die Eindrücke (affectiones) als Bindeglied zwischen „Außen“-Welt und den im Inneren daraus gebildeten Zeiten.179 Am deutlichsten aber zeigt es sich darin, dass der Geist in diesem Tun der Zeitenbildung selbst „zerdehnt“ wird: So wahr es ist, dass der Geist den zeitlichen Dingen in sich eine, wenn auch vorläufige, Beständigkeit gibt und sie dadurch in sich zu einer Ganzheit führt, die sie außerhalb seiner nicht besitzen,180 so wenig nahm Augustinus dies zum Anlass, die 174 175 176
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Vgl. Conf. XII, 15, 18 [CC.SL 27, 224f., bes. Z. 5]; zum ontologischen Aspekt insgesamt vgl. FLASCH, Was ist Zeit?, 212–216. Vgl. Conf. XI, 13, 15 [CC.SL 27, 202, Z. 7–11]: Aut quae tempora fuissent, quae abs te condita non essent? … Cum ergo sis operator omnium temporum, … Id ipsum enim tempus tu feceras. Vgl. auch FLASCH, Augustin, 285: „… erschiene es als Selbstüberhebung, sollte das menschliche Denken die Zeitlichkeit seiner Erfahrungsinhalte selbst konstituieren wollen“; und ders., Was ist Zeit?, 386: „Es ist nicht der Geist allein, in freier Tätigkeit, der die Zeiten setzt. Es ist die Einwirkung der Dinge auf den Geist auf dem Wege über die Sinne, die Zeiten zu messen erlaubt.“ Vgl. FLASCH, Was ist Zeit?, 22 („Es bildet sie, jedenfalls was die Zeitmodi angeht“), 220 („der die Zeitdimensionen bewirkt“), 382f. („das Erinnern, das aktuelle Anschauen und die Erwartung als Tätigkeiten der Zeitbildung“), 386 („Die Eindrücke im Geist sind die Zeiten. Von Zeit im Singular ist nicht die Rede …“). Vgl. FLASCH, Was ist Zeit?, 224: „Obgleich die Zeit vom animus gebildet wird, erliegt der Mensch der Zeit; er beherrscht sie nicht.“ – In diesem Sinn erscheint es mir eher unglücklich, von einer „Zeitmächtigkeit des Geistes“ (etwa SCHULTE-KLÖCKER, Das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit, 108) zu sprechen. Der Geist mag Herr über seine Handlungen und Vollzüge sein, die Zeit selbst hat er dadurch nicht im Griff. Für die memoria und die attentio ist dies wohl unmittelbar einsichtig, schwieriger – wie Augustinus selbst zugab (vgl. Conf. XI, 18, 23 [CC.SL 27, 205, Z. 13–15]) – ist diese Bindung für die expectatio einzusehen. Ansatzweise kann man hier auf folgende Aspekte verweisen: (1) Die expectatio ist ihrerseits in gewisser Weise an die memoria zurückgebunden (vgl. das Beispiel der Erwartung des Sonnenaufgangs aufgrund der Morgenröte in Conf. XI, 18, 24) und (2) Augustinus stellte sich die expectatio auch als eine Art Wahrnehmungsprozess vor, wie der Gebrauch der Vokabel praesensio nahelegt (ebd. 18, 23f. [CC.SL 27, 205f., Z. 15.22]). Zu diesen beiden Aspekten vgl. auch FISCHER, Confessiones 11, 532–534.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
vom Geist hierin erbrachte Syntheseleistung zu bewundern oder darin gar einen Aspekt seiner Gottebenbildlichkeit zu erkennen.181 Die distentio bedeutet ihm nicht ein Sichausstrecken-Können, sondern ein Ausgestreckt-Sein,182 eine Spannung, die den menschlichen (und von daher endlichen) Geist in bestimmter Hinsicht sogar „zerreißt“.183 Bei aller Freiheit der (Selbst-)Vollzüge des Geistes wird man sein Verhältnis zur Zeit also kaum als Herrschaft beschreiben können, viel eher ist es ein Der-Zeit-Erliegen, eine Verlorenheit an die Zeit,184 auf deren Hintergrund „die Sehnsucht nach dem Bleiben des Zeitlichen“185 nur um so stärker hervortritt.186 c) Die Vollendung des Menschen als Überwindung von distentio und Vergänglichkeit Wie gesagt, erreichte die Analyse der Zeit mit Confessiones XI, 28, 38 einen vorläufigen Zielpunkt. Mit dem Übergang zum folgenden Kapitel (29, 39) und der vor Gott gebrachten Erkenntnis Ecce distentio est vita mea187 wurden dann die vorausgehenden Überlegungen sowohl zusammengefasst wie auch auf eine andere Ebene gebracht: … et me suscepit dextera tua in domino meo, mediatore filio hominis inter te unum et nos multos, in multis per multa, ut per eum apprehendam, in quo et apprehensus sum, et a veteris diebus conligar sequens unum, praeterita oblitus, non in ea quae futura et transitura sunt, sed in ea quae ante sunt, non distentus, sed extentus, non secundum distentionem, sed secundum intentionem sequor ad palmam supernae vocationis, ubi audiam vocem laudis et contempler delectationem tuam nec venientem nec praetereuntem.188
Der Text nimmt Elemente der vorausgegangenen Zeitanalyse auf und gibt ihnen in Form einer Paraphrase von Phil 3, 12–14 eine theologische Deutung.189 Im Folgenden soll zunächst die sich hier auftuende eschatologische Perspektive in ihrem Bezug zur 181 182 183 184
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Vgl. auch FLASCH, Was ist Zeit?, 22f. Man beachte die passiven Wendungen distenditur, distentus in Conf. XI, 28, 38; 29, 39; 31, 41 [CC.SL 27, 214, Z. 17; 214, Z. 7; 216, Z. 15]. Vgl. Conf. XI, 29, 39 [CC.SL 27, 215, Z. 12–14]: ego in tempora dissilui, quorum ordinem nescio, et tumultuosis varietatibus dilaniantur cogitationes meae, intima viscera animae meae. Vgl. auch FLASCH, Was ist Zeit?, 24: „… erscheint die soeben noch mächtige Seele als postmodernes Trümmerfeld. Ihre Zeiterschaffung ist nicht ihr Krafterweis, sondern ihr Selbstverlust“, ähnlich auch ebd., 224. FISCHER, Confessiones 11, 533. Vgl. auch unten den Abschnitt über die Bewertung der Zeitlichkeit ab S. 132. Conf. XI, 29, 39 [CC.SL 27, 214, Z. 2]. Ebd. [CC.SL 27, 214f., Z. 2–10]. In der späteren Vulgatafassung lautete Phil. 3, 12–14: non quod iam acceperim aut iam perfectus sim; sequor autem si conprehendam in quo et conprehensus sum a Christo Iesu. Fratres, ego me non arbitror conprehendisse, unum autem quae quidem retro sunt obliviscens, ad ea vero quae sunt in priora extendens me, ad destinatum persequor: ad bravium supernae vocationis Dei in Christo Iesu. Die Paulusstelle wurde auch im Rahmen der Ostia-Vision (Conf. IX, 10, 23 [CC.SL 27, 147, Z. 7f.]) zitiert, um deren ekstatischen Charakter deutlich zu machen; ferner wurde sie in Conf. XI, 30, 40; XII, 16, 23; XIII, 13, 14 [CC.SL 27, 215, Z. 10; 227, Z. 10; 249, Z. 5–7] erneut aufgenommen; zur Bedeutung vgl. KIENZLER, Gott in der Zeit berühren, 278f.
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Zeitlichkeit näher betrachtet werden. Dies bildet zugleich die Grundlage für den nächsten Abschnitt, in dem gefragt wird, wie Augustinus Zeit und Zeitlichkeit insgesamt bewertete. Zunächst bemerkt man dabei, dass der Neueinstieg in Confessiones XI, 29, 39 mit dem Übergang zu einem weiteren Zeitbegriff verbunden ist. Dies wird etwa daran deutlich, dass distentio hier nicht mehr nur im Sinn einer neutralen Feststellung verwendet wird (wie noch in 28, 38), sondern eindeutig einen zu überwindenden Zustand kennzeichnet, der mit Hilfe einer Reihe von Gegensatzpaaren beschrieben wird, deren erstes Element jeweils die gegenwärtige conditio beschreibt, während das zweite Element das Ziel benennt. Man rückt damit in die Nähe dessen, was John M. Quinn “moral time” nannte.190 Er sah in der „moralischen Zeit“ einen äquivoken Begriff von Zeit gegeben,191 wobei die Verbindung mit dem „physikalischen“ Zeitbegriff auf einer metaphorischen Ebene hergestellt wird: Sie besteht in der mutabilitas als Veränderlichkeit der körperlichen Gegenstände beziehungsweise des Menschen, die beide Male die Voraussetzung für die Zeitlichkeit darstellt. „Zeit“ und „Zeitlichkeit“ werden dabei in hohem Maße mit dem Menschen selbst identifiziert192 und fungieren als Symbol sowohl für dessen Geschöpflichkeit wie auch für dessen Situation nach dem Sündenfall. – Verfolgt man den Text etwas weiter, so spricht Augustinus von der gegenwärtigen „Zersplitterung“ seines Seins in die Zeiten, die eine ihm unbekannte Ordnung besitzen. Hier scheint mir als weiteres, den ursprünglichen Zeitbegriff ausweitendes Element der Aspekt einer geschichtlichen Zeit mindestens angedeutet.193 In einer konsequent heilsgeschichtlichen Perspektive, die das Leben des Individuums in den Lauf der Welt als ganzer einbettet, liegen die beiden von Augustinus vorgenommenen Erweiterungen des Verständnisses von Zeit schließlich gar nicht so weit auseinander, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.194 190 191 192 193
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QUINN, Time, 836f.; FLASCH, Was ist Zeit?, 204–212 behandelte den „moralisch-religiösen Aspekt“ der Zeit. Time, 836a: „Strictly, as no more than a measure of change, it is only equivocally associated with moral time, understood as disorder“. Man vgl. etwa das bekannte Diktum aus Sermo 80, 8 [PL 38, 498]: Bene vivamus et bona sunt tempora. Nos sumus tempora: quales sumus, talia sunt tempora. Conf. XI, 29, 39 [CC.SL 27, 215, Z. 12f.]: … at ego in tempora dissilui, quorum ordinem nescio, et tumultuosis varietatibus dilaniantur cogitationes meae, intima viscera animae meae. – Als weiteren Aspekt des augustinischen Zeitverständnisses behandelte dies QUINN, Time, 837. – Gegen eine ausschließliche Deutung des ordo temporum auf die geschichtliche Zeit vgl. etwa Sol. I, 4 [CSEL 89, 8, Z. 1–9], wo er ausdrücklich auf die Gestirnsbewegungen, Tage, Monate und Jahreszeiten bezogen wird. Ähnliches dürfte für Conf. XII, 12, 15 [CC.SL 27, 223, Z. 18f.] gelten, siehe unten S. 133, Anm. 234. In Trin. II, 5, 9 [CC.SL 50, 91f., Z. 89–95] (teilweise zitiert unten S. 144, Anm. 301) hingegen hat der ordo temporum einen klar geschichtlichen Bezug, indem in ihm der Zeitpunkt der Inkarnation festgelegt ist. Man mag hier auch noch einmal an Conf. XI, 28, 38 [CC.SL 27, 214, Z. 25–27] denken, wo Augustinus schon einmal die Perspektive von einer einzelnen Handlung auf das Leben des Einzelnen und schließlich auf die Weltgeschichte als ganze ausgezogen hatte.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Der hier skizzierte, im folgenden Abschnitt noch näher zu untersuchende heterogene Zeitbegriff bildet die Negativfolie, auf der Augustinus die im obigen Text als „himmlische Berufung“ (superna vocatio) bezeichnete Vollendung des Menschen darstellte.195 Das wesentliche Element dieses Vollendungszustandes ist die weithin als Schau vorgestellte Ausrichtung auf Gott. Mit dieser sind im Hinblick auf die Zeitlichkeit des Menschen zwei Folgen verbunden, nämlich die Aufhebung der distentio und die Überwindung seiner Vergänglichkeit. Diese drei Aspekte sollen im Folgenden etwas näher ausgeführt werden. Das endgültige Ziel des Menschen besteht nach Confessiones XI, 29, 39 im Hören des Gotteslobes und in der Schau der unvergänglichen himmlischen Freude.196 Wie dies näherhin vorzustellen ist, erfährt man in Confessiones XII, wo die Erreichung dieses Zieles als Aufnahme in das Haus Gottes beschrieben wird.197 Bei diesem Haus Gottes handelt es sich nicht eigentlich um einen Ort, sondern es ist die geistige Schöpfung selbst,198 die ihre Seligkeit daher bezieht, dass sie unablässig das Angesicht Gottes schauen darf (contemplatio/visio).199 In einem anderen Bild beschrieb Augustinus dies auch als Anhangen an Gott (se tenere, cohaerere, inhaerere),200 wobei die Liebe das
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Dabei ist noch anzumerken, dass Augustinus ursprünglich – später, in Retr. I, 14 (13), 2 [CC.SL 57, 42f., Z. 40–47] wollte er den genauen Sachverhalt lieber offen stehen lassen – zwei „Stufen“ der Seligkeit für den Menschen kannte: Die Seelen der verstorbenen Heiligen ruhen zunächst im Schoß Abrahams, wo sie bereits Christus als Gott schauen dürfen, aber noch auf die Erlösung ihres Leibes warten (vgl. Conf. IX, 3, 6 [CC.SL 27, 136, Z. 28]; Div. qu. 67, 5 [CC.SL 44a, 168–170]); nach dem Jüngsten Gericht dann werden die Seligen den Engeln gleich sein und in Ewigkeit Gott von Angesicht zu Angesicht schauen; vgl. En. Ps. 36, 1, 10 [CC.SL 38, 345, Z. 33f.]: … securus expectas iudicii diem, quando recipias et corpus, quando immuteris ut angelo aequeris; ähnlich Civ. XXII, 1 (zitiert unten S. 152, Anm. 347). Vgl. dazu auch QUINN, Eternity, 320a. – Im Folgenden geht es nur um die letztere, vollendete Form der Seligkeit. Siehe den angeführten Text oben S. 124: … audiam vocem laudis et contempler delectationem tuam nec venientem nec praetereuntem. Conf. XII, 15, 21 [CC.SL 27, 226, Z. 59–62]: O domus luminosa et speciosa, … Tibi suspiret peregrinatio mea, et dico ei, qui fecit te, ut possideat et me in te … Vgl. auch ebd. 11, 12 [CC.SL 27, 222, Z. 24]. Vgl. Conf. XII, 2, 2 [CC.SL 27, 217, Z. 4]: Sed ubi est caelum caeli? – Für die Realität des caelum caeli kannte Augustinus in Confessiones XII viele Namen und Bezeichnungen: creatura intellectualis (9, 9), mens pura, domus [Dei], civitas [Dei] (11, 12), caelum intellectuale (13, 16), sublimis creatura, sapientia, mens rationalis et intellectualis (15, 20), Hierusalem, patria mea, mater mea (16, 23), caelum intelligibile (21, 30). Vgl. Conf. XII, 15, 21 [CC.SL 27, 226, Z. 55] (faciem tuam semper videre) und ebd. 17, 24 [CC.SL 27, 228, Z. 4f.] (semper faciem Dei contemplantem); ähnlich ebd. 9, 9; 11, 12; 12, 15; 15, 19; ferner ebd. XI, 22, 28; XIII, 14, 15. Vgl. Conf. XII, 11, 12 [CC.SL 27, 222, Z. 18f.] (te sibi semper praesente, ad quem toto affectu se tenet), ferner ebd. 9, 9; 11, 13; 15, 19. Andere Vokabeln, um diese besondere Verbindung des Geschöpfes mit seinem Schöpfer zu beschreiben, sind haurire (Conf. XII, 11, 12) oder (per)frui (Conf. XII, 12, 15; XIII, 9, 10).
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verbindende Band ist, das dieses Anhangen ausmacht.201 Zur Eigenart der Gottesschau gehört weiter, dass zwar bereits in dieser Zeit eine anfanghafte Erfahrung davon möglich ist, sie sich aber andererseits in ihrer vollendeten Form – eben als Erfahrung der Fülle – in unausdenkbarer Weise von dieser, ihrem Vorgeschmack, unterscheidet.202 So kann sich der gläubige Mensch zwar durchaus bereits im Hier und Jetzt als einer, der Gott gefunden hat, verstehen,203 gleichwohl ist dieser „Besitz“ partiell, vorläufig, angefochten und immer wieder entgleitend.204 Im vorliegenden Zusammenhang ist dabei besonders der letzte Aspekt von Bedeutung, da er besagt, dass in der gegenwärtigen Zeit eine dauerhafte Erfahrung der Fülle nicht möglich ist.205 201
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Vgl. z. B. Conf. XII, 15, 21 [CC.SL 27, 226, Z. 58]: amore grandi tibi cohaerens …; man vgl. auch die Aussage in Conf. XIII, 9, 10 [CC.SL 27, 246f., Z. 16f.]: Pondus meum amor meus; eo feror, quocumque feror. Vgl. (im Kontext des in Anm. 204 Zitierten) Conf. X, 40, 65 [CC.SL 27, 191, Z. 22f.]: … dulcedinem, quae si perficiatur in me, nescio quid erit, quod vita ista non erit. Conf. XII, 13, 16 [CC.SL 27, 223f., Z. 5–9]: schilderte die Schau der rein geistigen Kreatur, deren Elemente im wesentlichen auch auf die visio beatifica des Menschen übertragen werden können: … illud caelum caeli, caelum intellectuale, ubi est intellectus nosse simul, non ex parte, non in aenigmate, non per speculum, sed ex toto, in manifestatione, facie ad faciem; non modo hoc, modo illud, sed … nosse simul sine ulla vicissitudine temporum. Vgl. Conf. X, 24, 35 passim [CC.SL 27, 174]; ebd. 26, 37 [CC.SL 27, 174, Z. 1] (Ubi ergo te inveni …); ebd. 40, 65 [CC.SL 27, 190, Z. 8] (inventor). Dies wurde in Conf. X auf vielerlei Weise beschrieben: 27, 38 [CC.SL 27, 175, Z. 7f.]: gustavi, et esurio et sitio, tetigisti me, et exarsi in pacem tuam; 28, 39 [CC.SL 27, 175, Z. 1–7]: Cum inhaesero tibi ex omni me … quoniam tui plenus non sum, oneri mihi sum. Contendunt laetitiae meae flendae cum laetandis maeroribus, et ex qua parte stet victoria nescio; 36, 58 [CC.SL 27, 186, Z. 3]: quoniam coepisti mutare nos …; 37, 60 [CC.SL 27, 187, Z. 1]: Temptamur his temptationibus cotidie … Am eindrücklichsten wohl in 40, 65 [CC.SL 27, 191, Z. 18–21]: Neque in his omnibus … invenio tutum locum animae meae nisi in te, quo conligantur sparsa mea nec a te quidquam recedat ex me. … Sed recido in haec aerumnosis ponderibus et resorbeor solitis et teneor … Schließlich kann man hier auch noch einmal auf die Ostia-Vision Conf. IX, 10, 23 [CC.SL 27, 147] verweisen. Man beachte hier vor allem die Schilderung in Conf. X, 40, 65 (vgl. Anm. 204). Denselben Sachverhalt (im Kontext der Möglichkeit einer Erkenntnis der Ewigkeit) sprach Conf. XI, 11, 13 [CC.SL 27, 200f.] an; vgl. besonders den Hinweis auf das stare und videre (Quis tenebit cor hominis ut stet et videat …? [Z. 14]). – Anders als Norbert Fischer, der im Anschluss an Martin Heidegger die oben formulierte Erkenntnis „als Appell zu entschlossener Übernahme seiner selbst als Suchenden, der das Gesuchte nur im Vollzug des Suchens findet, ohne sein letzterstrebtes Ziel zu erreichen, so daß ihm das menschliche Leben, solange es währt, als stete Versuchung begegnet“ (Confessiones 11, 537), möchte ich die Situation des glaubenden Augustinus dabei eher weniger als eine Suche denn als ein Finden verstehen, das allerdings noch nicht abgeschlossen und bei dem das Gefundene noch nicht fester Besitz geworden ist, so dass zu ihm notwendig auch die Haltungen des Hoffens und des Ausharrens in Geduld gehören. Man kann dabei etwa an Conf. XI, 9, 11 [CC.SL 27, 200, Z. 12–16] denken: … redimes de corruptione vitam meam … quoniam renovabitur iuventus mea sicut aquilae. Spe enim salvi facti sumus et promissa tua per patientiam expectamus (Vgl. Rom. 8, 24f.).
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Betrachtet man die Stellen, an denen Augustinus in Confessiones XI–XIII von der Schau Gottes sprach, so fällt auf, dass innerhalb dieser sehr oft auf die Überwindung von Elementen der Zeitlichkeit, nämlich der distentio, mutatio und variatio,206 hingewiesen wird, ja, dies scheint geradezu eine Wirkung oder Folge des Schauens oder des Anhangens an Gott zu sein. Insbesondere im Blick auf Confessiones XI, 29, 39 wird man dabei sagen dürfen: Solange der Mensch sich auf Zeitliches ausrichtet, bleibt er notwendig zerrissen, während die Ausrichtung auf Gott, den Einen,207 seine Zerrissenheit heilt und ihm – entgegen der Flüchtigkeit seines Seins – Beständigkeit und Festigkeit verleiht.208 Dabei zeigt sich erneut der Aspekt, dass die Überwindung der distentio bereits im irdischen Sein des Menschen ihren Anfang nimmt, wobei sie zum einen durch die notwendige Zuwendung Gottes zu seinem Geschöpf (durch den Mittler Jesus Christus), zum anderen durch die ebenfalls notwendige Umkehr des Menschen
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Vgl. Conf. XI, 29, 39 (zitiert S. 124 oben), dem man Conf. XII, 11, 12 [CC.SL 27, 222, Z. 18–21] unmittelbar gegenüberstellen kann: [illa creatura] te sibi semper praesente, ad quem toto affectu se tenet, non habens futurum quod expectet nec in praeteritum traiciens quod meminerit, nulla vice variatur nec in tempora ulla distenditur; ferner ebd. 9, 9 [CC.SL 27, 221, Z. 5–8]: particeps tamen aeternitatis tuae valde mutabilitatem suam prae dulcedine felicissimae contemplationis tuae cohibet et … inhaerendo tibi excedit omnem volubilem vicissitudinem temporum; 12, 15 [CC.SL 27, 223, Z. 4–7]: … ut sine ullo defectu contemplationis, sine ullo intervallo mutationis, quamvis mutabile, tamen non mutatum tua aeternitate atque incommutabilitate perfruatur; 15, 21 [CC.SL 27, 226, Z. 55f.]: … est idonea faciem tuam semper videre nec uspiam deflectitur ab ea; quo fit, ut nulla mutatione varietur. Indirekt auch in Conf. XI, 22, 28 [CC.SL 27, 208, Z. 12–15] und XIII, 14, 15 [CC.SL 27, 250, Z. 11f.] (Mane astabo et contemplabor, semper confitebor illi). Ähnlich für die Stellen an denen von cohaerere gesprochen wird Conf. XII, 11, 13 [CC.SL 27, 222, Z. 36f.]: tamen indesinenter et indeficienter tibi cohaerendo nullam patitur vicissitudinem temporum, 15, 19 [CC.SL 27, 225, Z. 22–25]: sublimem … creaturam tam casto amore cohaerentem deo … ut … in nullam tamen temporum varietatem et vicissitudinem ab illo se resolvat et defluat, sed in eius solius veracissima contemplatione requiescat; 19, 28 [CC.SL 27, 230, Z. 7–9]: Verum est nulla tempora perpeti quod ita cohaeret formae incommutabili, ut, quamvis sit mutabile, non mutetur. Die Aussage von Conf. XI, 29, 39 [CC.SL 27, 214, Z. 5] a veteris diebus conligar sequens unum schlägt dabei eine gedankliche Brücke zur Gegenüberstellung von Zeit und Ewigkeit in Conf. XI, 13, 16 [CC.SL 27, 202, Z. 23], wo es von den „Jahren Gottes“ heißt: Anni tui dies unus, et dies tuus non cotidie, sed hodie. Man setze der in Conf. XI, 28, 38 geschilderten distentio durch die Ausrichtung auf die Zeit das Et stabo et solidabor in te (vgl. auch unten S. 136, Anm. 256) gegenüber. A fortiori zeigt sich die in der Ausrichtung auf Gott gewonnenen Beständigkeit auch bei der rein geistigen Kreatur, vgl. Conf. XII, 11, 12 [CC.SL 27, 222, Z. 16–21]: [illa creatura] cuius voluptas tu solus es teque perseverantissima castitate hauriens mutabilitatem suam nusquam et numquam exerit et te sibi semper praesente, ad quem toto affectu se tenet, … nulla vice variatur nec in tempora ulla distenditur. Vgl. auch ebd. 15, 22 [CC.SL 27, 226f., Z. 68–70]: Supergreditur enim omnem distentionem et omne spatium aetatis volubile, cui semper inhaerere Deo bonum est. Ähnlich auch ebd. 9, 9; 11, 13; 15, 19 [CC.SL 27, 221, Z. 5–8; 222, Z. 36f.; 225, Z. 22–25]. Vgl. ferner Conf. IV, 10, 15 [CC.SL 27, 48] (siehe unten S. 131, Anm. 222).
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bedingt ist.209 Insgesamt bedeutet sie eine der Zerstreuung durch die Zeit entgegengerichtete Sammlungsbewegung,210 so dass dem Zerfließen in der Zeit das „Zusammenfließen“ in Gott gegenübersteht.211 Die Aufhebung der distentio ist für Augustinus eine Folge der Abwendung vom Vergänglichen und der Hinwendung zum Ewigen. Der sich daraus ergebende neue Zustand ist nach Confessiones XI, 29, 39 durch die extentio und die intentio gekennzeichnet, worin das gemeinsame Element des tendere als bleibende Perspektive aufscheint. Erinnert man sich daran, dass zuvor die Zeit durch das tendit non esse bestimmt worden war,212 so kann man hierin eine neue Form der „Zeitlichkeit“ erkennen, die sich dadurch auszeichnet, dass die Tendenz, die Bewegungsrichtung umgekehrt wird: Statt in die Zerstreuung führt sie in die Sammlung, statt zum Nicht-Sein tendiert sie zum Sein. Dass dies nicht selbst nur eine zeitliche (d. h. für das irdische Leben gültige) Perspektive ist und dieses tendere im Vollendungszustand schließlich aufgehoben sein wird, mag man an den Ausführungen in Confessiones XIII, 9, 10 erkennen, wo die Liebe als dasjenige „Gewicht“ beschrieben wird, das den Menschen an den ihm eigenen Ort der Ruhe in Gott zieht213 und auch dann erhalten bleibt, wenn dieser Ruhezustand erreicht ist.214 – Dem entspricht, dass die dem Geschöpf qua Geschöpf (das heißt als einer eine bestimmte Form besitzenden, endlichen Wirklichkeit) eigene mutabilitas auch im Zustand der Schau Gottes nicht aufgehoben sein wird,215 sie wird lediglich „überdeckt“ durch 209 210 211
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Das Zueinander beider Bewegungen drückt die Wendung ut per eum apprehendam, in quo et apprehensus sum (vgl. Phil. 3, 12) des oben, S. 124, zitierten Abschnitts aus Conf. XI, 29, 39 aus. Conf. XI, 29, 39 [CC.SL 27, 214, Z. 4f.7f.]: ut … conligar … non distentus, sed extentus, non secundum distentionem, sed secundum intentionem … Vgl. Conf. XI, 2, 2 [CC.SL 27, 194, Z. 8f.]: Et nolo in aliud horae diffluant … und ebd. 29, 39 [CC.SL 27, 215, Z. 14]: … donec in te confluam … Wenn auch nicht primär zeitlich verstanden, so vergleiche man doch die Aussage von Conf. X, 29, 40 [CC.SL 27, 176, Z. 5f.]: Per continentiam quippe colligimur et redigimur in unum, a quo in multa defluximus. Ähnlich ebd. XII, 10, 10 [CC.SL 27, 221, Z. 2f.]: Defluxi ad ista et obscuratus sum, sed hinc, etiam hinc adamavi te. Für die Schöpfung und die Zeit insgesamt kann Augustinus von einem ex- bzw. recurrere sprechen, vgl. Conf. XI, 11, 13 [CC.SL 201, Z. 13f.] (… omne praeteritum ac futurum ab eo [scil. Deo] … creari et excurrere) und ebd. XII, 28, 38 [CC.SL 27, 238, Z. 10f.] ([temporalis creatura] quae formaretur per similitudinem tuam recurrens in te unum pro captu ordinato, quantum cuique rerum in suo genere datum est) – eine Figur, die hier zwar mehr angedeutet als ausgeführt ist, die aber im Denken Bonaventuras später eine besondere Rolle spielen sollte. Conf. XI, 14, 17 [CC.SL 27, 203, Z. 19]. Conf. XIII, 9, 10 [CC.SL 27, 246f., Z. 8–17]. Auch wenn diese Tendenz dann nicht mehr mit einer Bewegung verbunden ist. Von daher mag sich umgekehrt auch erhellen, warum Augustinus bei seiner Analyse in Confessiones XI die Zeit von der Bindung an die Bewegung (23, 29) abkoppelte und ihm wichtig war, dass auch die Ruhe (23, 30) und die Stille (27, 36) von der Zeit gemessen werden. Vgl. Conf. XII, 15, 21 [CC.SL 27, 226, Z. 56–58]: inest ei tamen ipsa mutabilitas, unde tenebresceret et frigesceret, nisi amore grandi tibi cohaerens … und ebd. 1, 25 [CC.SL 27, 228, Z. 28f.]: inest quaedam mutabilitas omnibus, sive maneant, sicut aeterna domus dei, sive mutentur, sicut anima hominis et corpus.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
die in dem Anhangen an Gott erreichte Festigung (confirmatio, solidatio).216 Die bleibende Notwendigkeit des besagten Strebens (tendere) ist so im Letzten der Ausdruck dessen, dass das Geschöpf sein Sein nicht aus sich selbst hat, sondern bleibend auf seinen Schöpfer angewiesen ist.217 Die zweite wichtige Perspektive, die sich mit der Vollendung des Menschen verbindet, ist die Überwindung der Vergänglichkeit des Menschen. In Confessiones XI, 30, 40 drückte Augustinus dies durch das Et stabo atque solidabor in te aus. Die dahinter stehende Problematik hatte er bereits im zehnten Buch beschrieben: Die Liebe zu Gott erscheint dort als etwas, das uns die Zeit nicht nehmen kann.218 Doch dazu genügt nicht, dass das geliebte Gut ein ewiges ist, auch das eigene Sein muss von der Sterblichkeit befreit sein, denn sonst begrenzte der Tod die Dauer dieses Besitzes und der Mensch könnte niemals selig sein.219 Die Sterblichkeit des Menschen ist dabei in zwei Kontexten zu sehen. Zum Ersten im Rahmen seiner Geschöpflichkeit: Dass der Mensch sein Sein nicht aus sich selbst hat, bedeutet hier, dass sein Bestehen vom erhaltenden Willen Gottes abhängig ist, der sich selbst in seiner Freigebigkeit als die Quelle unvergänglichen Lebens erweist. Anders ausgedrückt: Wenn Gott nicht um sein Geschöpf wüsste, wenn er sich der Zeit nur auf Zeit angenommen hätte,220 so wäre das menschliche Mühen aus der Vergänglichkeit auszubrechen und festen Stand zu gewinnen vergeblich. Dem oben skizzierten Streben (tendere) entspricht damit umgekehrt die als Erbarmen, als Gnade zu verstehende Tat
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Vgl. vor allem Conf. XII, 11, 12 [CC.SL 27, 222, Z. 17f.]: [illa creatura] mutabilitatem suam nusquam et numquam exerit, ähnlich ebd. 9, 9: mutabilitatem suam … cohibet; 12, 15: quamvis mutabile, tamen non mutatum; 19, 28: ita cohaeret formae incommutabili, ut, quamvis sit mutabile, non mutetur [CC.SL 27, 221, Z. 6f.; 223, Z. 5f.; 230, Z. 8f.]. Auch hier scheint mir ein kurzer Verweis auf Bonaventura angebracht: Auf den Einwand, dass die Seligen in ihrem vom aevum gemessenen Sein keinerlei zeitliche Abfolge mehr kennen sollten, da sie ja nichts mehr zu erwarten haben, sondern bereits alles besitzen, antwortete er II Sent. 2, 1, 1, 3, ad 7 [II, 63]: sicut est successio non per novi acquisitionem, sed per prius dati continuationem, ita etiam est exspectatio non novi habendi, sed continuationis prius habiti, quod quia iam habent, et certi sunt se habituros, ideo potius dicitur tentio et comprehensio quam exspectatio. Vgl. Conf. X, 6, 8 [CC.SL 27, 158f., bes. Z. 16] (quod non rapit tempus); man mag dabei auch an Conf. IV, 9, 14 [CC.SL 27, 47, Z. 6–8] denken, wo er die Bedeutung dieses festen Besitzes angesichts des Todes seines Freundes hervorgehoben hatte: Beatus qui amat te [scil. Deum meum] et amicum in te … Solus enim nullum carum amittit, cui omnes in illo cari sunt, qui non amittitur. Vgl. Conf. VI, 16, 26 [CC.SL 27, 90f.], deutlicher in Trin. XIII, 8, 11 [CC.SL 50a, 396, Z. 6f.]: immo vero [scil. beatitudo in hac vita] fingitur, dum immortalitas desperatur sine qua vera beatitudo esse non potest. Man beachte dazu auch die Überlegungen von Trin. V, 4, 5 (zitiert unten S. 158, Anm. 384). Vgl. ferner Div. qu. 35, 2 [CC.SL 44a, 52, Z. 43f.58f.]: Aeternum est enim, de quo solo recte fiditur, quod amanti auferri non potest; … Quocirca ea demum vita beata quae aeterna est. Vgl. die Eingangsfrage von Conf. XI, 1, 1 [CC.SL 27, 194, Z. 1f.]: Numquid … ignoras, quae tibi dico, aut ad tempus vides quod fit in tempore?
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Gottes, die sich dem Menschen zuwendet und ihn auf die eine Ewigkeit hin „sammelt“.221 Der zweite Kontext, in dem die Vergänglichkeit des Menschen zu sehen ist, ist die Sünde: Das Bestehen-Bleiben des Menschen ist nicht allein vom Willen Gottes abhängig, sondern ebenso von seiner Hinkehr zu Gott. Im Gegensatz zu der übrigen vergänglichen Schöpfung hat die Seele die Wahl, wohin sie sich ausrichtet: Sie kann sich auf die vergänglichen Dinge ausrichten, denen sie im Letzten – trotz der Verstetigung in ihrem Inneren durch die Dreiheit von expectatio, contuitus, memoria – keinen Halt zu geben vermag und in denen sie selbst keine Ruhe, keinen Stand findet,222 oder sie kann sich auf den ewigen Gott ausrichten, in dem sie zu der gesuchten Beständigkeit kommt.223 Es liegt in der Logik der Sache, dass Sünde als Abwendung von Gott hier gleichbedeutend wird mit Sterben-Müssen, Vergehen-Müssen. Umgekehrt herum betrachtet heißt das aber, dass die Vergänglichkeit an sich nicht zur Natur des Menschen gehört, sondern in dessen gegenwärtigem Zustand die Folge der Sünde ist,224 die aber durch die – in Christus Wirklichkeit gewordene – erneute Zuwendung Gottes und die Umkehr des Menschen überwunden wird.225 Versucht man nun aus dem Gesagten das Fazit zu ziehen, so wird man zunächst festhalten, dass Augustinus die Vollendung des Menschen unbestreitbar nach dem Vorbild der beständigen Ewigkeit (stans aeternitas) denkt: In Angleichung an die rein geistige 221
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Vgl. das conligar der oben, S. 124, zitierten Passage, die eingeleitet wird durch Sed quoniam melior est misericordia tua super vitas … (Conf. XI, 29, 39 [CC.SL 27, 214, Z. 1f.]); ähnlich in Conf. XI, 16, 23 [CC.SL 27, 227, Z. 17–19]: … conligas totum quod sum a dispersione et deformitate hac et conformes atque confirmes in aeternum, deus meus, misericordia mea; vgl. auch Conf. I, 3, 3 [CC.SL 27, 2, Z. 6–8]: Et cum effunderis super nos, non tu iaces, sed erigis nos nec tu dissiparis, sed conligis nos. Vgl. Conf. IV, 10, 15 [CC.SL 27, 48], ebd. [Z. 15–23] hieß es von den vergänglichen Dingen: [anima mea] non in eis infigatur glutine amore … Eunt enim quo ibant, ut non sint, et conscindunt eam desideriis pestilentiosis, quoniam ipsa esse vult et requiescere amat in eis, quae amat. In illis autem non est ubi, quia non stant: fugiunt … [Sensus carnis] ad illud autem non sufficit, ut teneat transcurrentia ab initio debito usque ad finem debitum. Vgl. entsprechend Conf. IV, 11, 16 [CC.SL 27, 48f., Z. 6–13]: Ibi fige mansionem tuam … et non perdes aliquid, … et sanabuntur omnes languores tui et fluxa tua reformabuntur et renovabuntur et constringentur ad te et non te deponent, quo descendunt, sed stabunt tecum et permanebunt ad semper stantem ac permanentem deum. Vgl. auch unten S. 136, Anm. 251. Dass diese Zuwendung bereits Wirklichkeit geworden ist, zeigt das me suscepit (Perfekt!) der S. 124 zitierten Passage aus Conf. XI, 29, 39 und der Hinweis auf Christus, den Augustinus in neuplatonisch gefärbter Sprache als den notwendigen Mittler vorstellt, der allein den Einen und das Viele, den Ewigen und die Zeitlichen, Schöpfer und Geschöpf zusammenbringen kann. Dass diese Mittlerfunktion in beiden genannten Kontexten eine Rolle spielt, zeigte Conf. XI, 7, 9 – 9, 11, wo Christus als jener „Anfang“ gedeutet wurde, in dem Gott Himmel und Erde schuf, bzw. Conf. X, 42, 67 – 43, 68, wo Christus als der Mittler zwischen den sterblichen Sündern und dem unsterblichen Gerechten (vgl. ebd. 43, 68 [CC.SL 27, 192]) betrachtet wurde.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Schöpfung hat er darin teil an der Ewigkeit und ist so auf seine Weise selbst „ewig“.226 Ganz im Rahmen der antiken Metaphysik bleibend, galt für Augustinus die Ewigkeit als das eigentliche, wahre Sein gegenüber dem veränderlichen und vergänglichen zeitlichen Sein.227 Dabei ist ohne weiteres klar, dass die Ewigkeit selbst allein dem Schöpfer eignet und für jegliches Geschöpf unerreichbar bleibt.228 Strenggenommen steht die Vollendung also zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit: Aufgehoben sind insbesondere all jene Aspekte der Zeitlichkeit, die mit Sünde und Tod assoziiert werden (die distentio und die Vergänglichkeit), während die durch Geschöpflichkeit bedingten Charakteristika (hingewiesen wurde auf die Elemente der mutabilitas und des tendere) erhalten bleiben. Das geistige Geschöpf ist so in keiner Weise gleichewig mit Gott, aber es erreicht einen Zustand, in dem es in der Verbindung mit Gott als seinem Ursprung ein gefestigtes, beständiges Sein besitzt, in dem die in dieser Zeit nur momenthaft erfahrbare Glückseligkeit als vita aeterna zu einem dauerhaften Besitz wird. d) Die Bewertung der Zeitlichkeit Im vorigen Abschnitt wurde deutlich, dass Augustinus sich den Vollendungszustand so vorstellte, dass in ihm die negativen Aspekte der Zeitlichkeit – im Kern sind das die mit dem tendit non esse verbundene Vergänglichkeit und die distentio als Hinwendung zu Nichtigem – überwunden sein werden. Dies legt die Frage nahe, wie Augustinus die Zeitlichkeit des Menschen insgesamt beurteilte. Die möglichen Antworten darauf fielen sehr unterschiedlich aus. Kurt Flasch etwa beurteilte die Haltung des Bischofs von Hippo zur Zeitlichkeit als durchweg negativ;229 so ist die Vollendung zu verstehen als eine „Entzeitlichung“ im Sinn einer Flucht aus der Zeit, worin sich zeigt, dass „Zeit für 226
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Vgl. (auf die geistige Schöpfung bezogen) Conf. XII, 9, 9; 15, 19 [CC.SL 27, 221, Z. 5; 225, Z. 28] (particeps aeternitatis) bzw. ebd. 15, 22 [CC.SL 27, 226, Z. 67] (secundum modum suum aeterna). Vgl. z. B. Conf. XI, 13, 16 [CC.SL 27, 202, bes. Z. 26f.]: … et ante omnia tempora tu es …; umgekehrt heißt es Io. ev. tr. 38, 10 [CC.SL 36, 343, Z. 19–22]: res enim quaelibet, prorsus qualicumque excellentia, si mutabilis est, non vere est; non enim est ibi verum esse ubi est et non esse. Ähnlich Conf. XI, 14, 17 (zitiert unten S. 134, Anm. 239) sowie Conf. VII, 11, 17 [CC.SL 27, 104, Z. 1–4]: Et inspexi cetera infra te et vidi nec omnino esse nec omnino non esse: esse quidem, quoniam abs te sunt, non esse autem, quoniam id quod es non sunt. Id enim vere est, quod incommutabiliter manet. – FLASCH, Was ist Zeit?, 226 sprach von der „Prävalenz der aeternitas“. Den Unterschied schärfte Conf. XI, 30, 40 [CC.SL 27, 215, Z. 11–13] ein: … et intellegant te ante omnia tempora aeternum creatorem omnium temporum neque ulla tempora tibi esse coaeterna nec ullam creaturam, etiamsi est aliqua supra tempora. Vgl. auch ebd. 7, 9; 14, 17 sowie Conf. XII, 9, 9; 11, 12f.; 12, 15; 15, 19.22; 22, 31. Am deutlichsten wurde die Begründung wohl in Conf. XII, 15, 19 [CC.SL 27, 225, Z. 30f.] ausgesprochen: Nec tamen tibi coaeterna, quoniam non sine initio: facta est enim. – In Conf. XI, 11, 13 [CC.SL 27, 201, Z. 5–17] lotete Augustinus überdies die erkenntnistheoretische Konsequenz dieser radikalen Differenz aus: Wenn das Herz des Menschen aus der Unruhe und dem Verfließen der Zeit nicht zur Ruhe gebracht wird, dann kann es die allzeit stehende Ewigkeit auf keine Weise erfassen. Vgl. auch unten ab S. 152. FLASCH, Was ist Zeit?, 227 betonte Augustins „durchgängig negative Bewertung der Zeit“.
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Augustin doch nur den einen Sinn haben kann, daß die wenigen Auserwählten ihr für immer entgehen“.230 Ganz anders etwa Norbert Fischer, er interpretierte den Vollendungszustand als „Entflüchtigung des Zeitlichen, worunter das Ende der Flüchtigkeit der für kostbar gehaltenen Zeit zu verstehen ist“.231 Den Grund für die starke Divergenz der Urteile mag man unter anderem in dem heterogenen Zeitbegriff erkennen, der verschiedene, von Augustinus nicht immer klar getrennte Bedeutungen in sich vereinigt (psychologische Zeit, physikalische Zeit, moralische Zeit, historische Zeit); eine zusätzliche Komplikation ergibt sich dadurch, dass Augustinus die Sünde als eine Wirklichkeit ansah, die alle Bereiche des gegenwärtigen Lebens beeinflusst. Nimmt man also die Identifikation der Zeit mit dem Menschen ernst,232 so heißt das insbesondere, dass die Zeit, wie sie ist, nicht unbedingt so sein muss, wie sie sein soll; es gilt also, die faktischen und die normativen Anteile getrennt zu sehen und zu beurteilen. Vor allem dieser letzte Aspekt soll die folgende Darstellung leiten; die Zeit soll dazu in den drei Dimensionen als von Gott geschaffene, als von Sünde affizierte und als in der Vollendung aufgehobene angeschaut werden. Beginnt man bei der ursprünglichen Verfasstheit der Zeit, so stößt man zunächst auf die grundlegende, von Augustinus niemals in Zweifel gezogene Aussage, dass die Zeit von Gott geschaffen ist und mithin etwas Gutes darstellt.233 Mag zeitlich-vergängliches Sein so auch einen größeren Abstand von der Ewigkeit besitzen als bleibendes Sein, so eignet der Zeitlichkeit damit doch eine nicht zu übersehende Positivität. Diese manifestiert sich vor allem in den beiden Aspekten der Ordnung,234 zu der auch gehört, dass Gott selbst über ihren Lauf verfügt,235 und der Schönheit.236 Beide Gedanken baute 230
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Ebd., 222; ähnlich 227 „es geht [scil. für den Menschen] darum, daß sein überzeitlicher Kern in seine zeitfreie Heimat hinübergerettet werde“; ebd. zur Vision von Ostia als Muster dafür, dass wir uns „in der Zeit aus der Zeit heraus bewegen sollen oder vielmehr durch die Gnade herausreißen lassen sollen.“ FISCHER, Confessiones 11, 506. Siehe oben S. 125 mit Anm. 192. So in Gen. adv. Man. I, 2, 4 [CSEL 91, 70, Z. 9–11]: … deus est ante tempora qui fabricator est temporum; sicut omnia quae fecit deus bona sunt valde, sed non sic bona sunt, quomodo bonus est deus … Vgl. ferner Conf. XI, 13, 15 (cum ergo sis operator omnium temporum); 14, 17 (ipsum tempus tu feceras) [CC.SL 27, 202, Z. 9; 202, Z. 1f.] und öfter. In Conf. XI, 29, 39 (siehe oben S. 125, Anm. 193) beklagte Augustinus ja gerade die Unkenntnis der Ordnung der Zeiten. Conf. XII, 12, 15 [CC.SL 27, 223, Z. 18f.] wurde die Zeitlichkeit aller Geschöpfe auf die ordinatas commutationes motionum atque formarum zurückgeführt. Siehe auch unten Anm. 236. – Die Feststellung von Helmut ECHTERNACH, Ewigkeit, in: Joachim Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt 1972, 838–844, für Augustin sei die Zeit insgesamt „undurchschaubar, unerklärlich, irrational wie alles Böse und Nichtige“ (841), bedarf von daher einer Korrektur. Vgl. Conf. XI, 11, 13 [CC.SL 27, 201, Z. 14f.]: … et videat, quomodo stans [scil. aeternitas] dictet futura et praeterita … Etwa in Conf. XII, 28, 38 [CC.SL 27, 238, Z. 12–14]: … et fierent omnia bona valde, sive maneant circa te, sive gradatim remotiore distantia per tempora et locos pulchras variationes faciant aut
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Augustinus in anderen Schriften, z. B. in De Genesi ad litteram noch wesentlich weiter aus.237 Alles zusammen läuft darauf hinaus, dass – wie es in De Genesi adversus Manichaeos liber imperfectus hieß – die Zeit selbst eine Art Zeichen oder Spur der Ewigkeit ist.238 Im Blick auf den Menschen fällt weiter auf, dass bei Augustinus Zeitlichkeit und Vergänglichkeit nicht so eng verbunden sind, wie es zunächst – immerhin wird in Confessiones XI der Begriff der Zeit(lichkeit) ausdrücklich mit Vergehen und mit Streben zum Nicht-Sein assoziiert239 – scheinen mag, denn im Gegensatz zur Vergänglichkeit gehört die Zeitlichkeit zur ursprünglichen Natur des Menschen,240 das Junktim ist, was den Menschen angeht, erst eine Folge des Sündenfalls. Dies verbietet, die Zeitlichkeit in einem ausschließlich negativen Licht zu sehen, und verlangt nach einer positiven Würdigung, ganz zu schweigen davon, dass die Zeitlichkeit ja sogar die Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch aus der Gefallenheit wieder zur Seligkeit aufstehen kann.241 Dies schließt freilich nicht aus, dass in der Vollendung die Zeitlichkeit des Menschen erneut eine Wandlung erfährt, die nicht einfach als Zurückversetzung in den ursprünglichen Zustand zu verstehen ist.242 Gegenüber dieser ursprünglichen Gutheit erscheint die gegenwärtige Zeit in den Confessiones als etwas Ambivalentes.243 Die positive Seite scheint dabei auf, wenn
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patiantur. Vergleiche ferner (auch zu weiteren positiven Aspekten der Zeit) unten S. 134; in De Genesi ad litteram und in De civitate Dei (z. B. XII, 4f. [CC.SL 48, 358f.]) trat der Aspekt der Schönheit der zeitlichen Ordnung – trotz ihrer Vergänglichkeit – noch wesentlich deutlicher hervor, vgl. hierzu FLASCH, Was ist Zeit?, 102 und 106f. (dort auch weitere Stellenangaben). Vgl. hierzu FLASCH, Was ist Zeit?, 102f., Augustinus ging hier sogar so weit, die Zeit „als die erfahrbare Schönheit der vorherbestimmten Weltordnung“ (ebd., 102f.) zu verstehen. Vgl. Gen. litt. imp. 13, 38 [BA 50, 466] zu Gen 1, 14: Haec enim nunc dicit tempora, quae intervallorum distinctione aeternitatem incommutabilem supra se manere significant, ut signum, id est quasi vestigium aeternitatis, tempus appareat. – FISCHER, Confessiones 11, 533 verwahrte sich dabei gegen die „Behauptung eines Gegensatzes zwischen der Zeitauslegung des elften Buches und der sogenannten ersten, platonisch gefärbten Zeittheorie Augustins“. Conf. XI, 14, 17 [CC.SL 27, 203, Z. 14–19]: Praesens autem si semper esset praesens nec in praeteritum transiret, non iam esset tempus, sed aeternitas … ut scilicet non vere dicamus tempus esse, nisi quia tendit non esse? Dies gegen Kurt Flasch, der in Was ist Zeit?, 222 konstatierte, dass „Zeitlichkeit und Vergänglichkeit nicht zur Natur des Menschen gehören“. Vgl. Trin. XIV, 15, 21 [CC.SL 50a, 449, 2–5]: Quod ideo certe non dubitat quoniam misera est et beata esse desiderat, nec ob aliud fieri sperat hoc posse, nisi quia est mutabilis. Nam si mutabilis non esset, sicut ex beata misera sic ex misera beata esse non posset. Auch wenn Conf. IV, 11, 16 (vgl. im Kontext unten S. 139, Anm. 273) mit der Feststellung fluxa tua reformabuntur et renovabuntur die Verbindung von Ursprungs- und Finalzustand betonte. In einer anderen als der im Folgenden dargelegten Perspektive zeigt sich das auch an dem Begriff der distentio animi selbst: Zu dem in Conf. XI, 21, 27 – 28, 38 entwickelten Gedankengang bemerkte FISCHER, Confessiones 11, 535: „Die gefundene Antwort ist also unbefriedigend, weil sie eine Zweideutigkeit des Sinnes der Zeit mit sich bringt, aus der Augustinus sowohl den Impuls zur Überwindung als auch zur Bewahrung der Zeit gewinnt.“ Ähnlich SCHULTE-KLÖCKER, Das Ver-
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Augustinus seine persönliche Zeit durchaus als etwas Kostbares ansehen kann,244 die ihm Gutes gebracht hat und die sein Leben Gestalt gewinnen ließ.245 Mit „Zeit“ verknüpften sich für ihn aber auch andere, eindeutig negative Assoziationen: Die distentio bedeutet nicht nur eine Aufspaltung der verschiedenen Zeitdimensionen, sie kennzeichnet zugleich einen inneren Zustand des Zerrissenseins durch das Viele und des Abgezogenseins von der Ausrichtung auf den einen Gott;246 und schließlich ist Zeitlichkeit in der gegenwärtigen Situation immer auch mit der Flüchtigkeit und der Vergänglichkeit des Seins verbunden.247 Konzentriert man sich auf die negativen Aspekte, so erscheint die Zeitlichkeit eng verbunden mit der gegenwärtigen, von Tod und Sünde geprägten conditio humana. Das zuvor konstatierte tendit non esse alles Zeitlichen248 bekommt dabei ein bedrohliches Gewicht, indem es die Todesverfallenheit des Menschen ausdrückt und sein Leben als ein Leben zum Tod charakterisiert.249 Die Sünde wiederum korrespondiert mit der distentio, insofern sie als Abwendung von Gott, dem Einen, und als Unordnung zu verste-
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hältnis von Ewigkeit und Zeit, 387: „Es gilt, die Ambivalenz der Zeit, ihre Wahrheit und ihre Unwahrheit, zu sehen.“ Vgl. Conf. XI, 2, 2, [CC.SL 27, 194, Z. 5]: … caro mihi valent stillae temporum. Vgl. auch ebd. [Z. 8–11]. Für FISCHER, Confessiones 11, 506 war der „Gedanke der Kostbarkeit der ständig verrinnenden Zeit“ ein „Leitmotiv, das bis zum Ende der Confessiones immer wieder aufgenommen wird.“ Vgl. FISCHER, Confessiones 11, 535f.; von den dort angeführten Stellen sei hier nur auf Conf. IV, 8, 13 [CC.SL 27, 46, Z. 1f.] hingewiesen, wo es hinsichtlich des Schmerzes über den Tod des Freundes heißt: Non vacant tempora nec otiose volvuntur per sensus nostros: faciunt in animo mira opera. Vgl. Conf. XI, 29, 39 (zitiert oben S. 124) das nos multos, in multis per multa; in Conf. VIII, 10, 24 [CC.SL 27, 128, Z. 59] verwendete Augustinus die Bezeichnung distentio auch für den Widerstreit der verschiedenen Willensstrebungen in der Seele. Das Zerrissensein schilderte er vor Conf. XI, 29, 39 (vgl. oben S. 124, Anm. 183) bereits Conf. IV, 6, 11 [CC.SL 27, 45, Z. 2–4]: miser est omnis animus vinctus amicitia rerum mortalium et dilaniatur, cum eas amittit, et tunc sentit miseriam, qua miser est et antequam amittat eas. Die Gegenperspektive entwickelte der Bischof von Hippo für die himmlische Schau Conf. XII, 11, 12 [CC.SL 27, 222, Z. 24]: … contemplantem delectationem tuam sine ullo defectu egrediendi in aliud … Vgl. Conf. XII, 9, 9 [CC.SL 27, 221, Z. 7f.]: [caelum caeli] inhaerendo tibi excedit omnem volubilem vicissitudinem temporum; sowie Conf. XI, 7, 9 [CC.SL 27, 198f., Z. 4f.8–10]: alioquin iam tempus et mutatio et non vera aeternitas nec vera immortalitas … novimus, quoniam in quantum quidque non est quod erat et est quod non erat, in tantum moritur et oritur; den Zustand vor seiner Bekehrung kennzeichnete Augustinus schließlich als devorans tempora et devoratus temporibus (Conf. IX, 4, 10 [CC.SL 27, 139, Z. 85f.]); weitere negative Aspekte zählte FISCHER, Confessiones 11, 536 auf. Conf. XI, 14, 17 [CC.SL 27, 203, Z. 19]. Vgl. etwa Conf. I, 6, 7 [CC.SL 27, 4, Z. 5f.]: nescio, unde venerim huc, in istam dico vitam mortalem an mortem vitalem. – Sehr deutlich wurde dies auch in den En. Ps. 101, 2, 10 [CC.SL 40, 1445, Z. 17–19] ausgedrückt: Omnis enim dies in hoc tempore ideo venit, ut non sit; omnis hora, omnis mensis, omnis annus: nihil horum stat. Antequam veniat, erit; cum venerit, non erit.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
hen ist.250 Beides erscheint schließlich dadurch verbunden, dass die Sterblichkeit – im Sinn von Sterben-Müssen – selbst eine Folge der (Erb-)Sünde ist.251 Nebenbei bemerkt bekommt das Nachdenken über Zeit durch die Verbindung mit dem Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit (oder mindestens des Angefochtenseins) und der Sterblichkeit bei Augustinus einen sehr persönlichen Bezug. Existentiell ist diese Weise der Darstellung in dem Sinn, dass es sich hier nicht um einen „abstrakten Traktat“ handelt, der „mit der Person des Verfassers nichts zu tun hätte“,252 sondern dass Augustinus hier insbesondere die Zeitlichkeit des eigenen Seins auslotet. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine modern-existentialistische Sicht der Dinge, so als ob es hier darum ginge „die erfahrene Problematik des eigenen Lebens“253 wiederzuerkennen, sehr wohl aber bedeutet es ein Einschwenken in die auch für die Bücher XI–XIII gültige Gesamtperspektive der Confessiones, die darin besteht, dass der Verfasser sich selbst und sein Leben im Licht Gottes betrachtet. Der Aufbau der Confessiones hat so die Gestalt,254 dass Augustinus in den ersten neun Büchern seine Vergangenheit, die Wege und Umwege seiner Gottsuche, reumütig und dankbar bekannte, im zehnten Buch seine Gegenwart, das heißt seine „innere Situation zur Abfassungszeit“,255 schilderte, während er in Confessiones XI–XIII eine (eschatologische) Zukunftsperspektive seiner Gottesbeziehung entwickelte, wobei diese Zukunft in dem Sinn eine „absolute“ Zukunft ist, als sie für den Bischof von Hippo gerade darin besteht, sich nicht einer selbst wieder vergänglichen Zukunft zuzuwenden, sondern der Ewigkeit als dem quae ante sunt, das heißt der unvergänglichen Ursache allen Seins.256 250
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Conf. I, 12, 19 [CC.SL 27, 11, Z. 15] kennzeichnete Augustinus den Sünder als einen inordinatus animus; vgl. auch Sermo 125, 7 [PL 38, 694], besonders: Non enim potest amare quod aeternum est, nisi destiterit amare quod temporale est. – QUINN, Time, 836a bezeichnete entsprechend die „moralische Zeit“ selbst als „source of disorder“. Zum Zusammenhang mit Tod und Sünde vgl. ebd., 836b. Vgl. z. B. Civ. XIV, 12 [CC.SL 48, 433, Z. 4–6]: … et per hanc subiaceret et morti ac tot et tantis tamque inter se contrariis perturbaretur et fluctuaret affectibus. FLASCH, Was ist Zeit?, 206 wies darauf hin: „Diese Theorie hat Augustin kurz vor der Abfassung der Confessiones entwickelt; sie klingt im Text immer wieder an.“ – Vgl. ferner Conf. I, 1, 1 [CC.SL 27, 1, Z. 3f.]: et homo circumferens mortalitatem suam, circumferens testimonium peccati sui … FLASCH, Was ist Zeit?, 205. Vgl. auch ebd., 208f. Richard SCHAEFFLER, Die Struktur der Geschichtszeit (= Philosophische Abhandlungen 21), Frankfurt am Main 1963, 199. Vgl. für das Folgende auch die Ergebnisse von FISCHER, Confessiones 11, bes. 498–508. Annemarie C. MAYER, Confessionum libri tredecim, in: Michael Eckert u. a. (Hrsg.), Lexikon der theologischen Werke, Stuttgart 2003, 124–126, hier 125b. Vgl. Conf. X, 4, 6 [CC.SL 27, 157, Z. 1f.]: Hic est fructus confessionum mearum, non qualis fuerim, sed qualis sim, ut hoc confitear … Vgl. Conf. XI, 29, 39 (zitiert oben S. 124) und ebd. 30, 40 [CC.SL 27, 215, Z. 10]. Zur Interpretation der Stelle vgl. Ernst A. SCHMIDT, Zeit und Geschichte bei Augustin (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse), Heidelberg 1985, 41–47; er betonte zu Recht den Gegensatz von zeitlicher Zukunft und absoluter Zukunft der Ewigkeit, die ja gerade eine Aufhebung der Zeit bedeutet. Dennoch war die Ewigkeit für Augustin eine Art „Zukunft“, und in diesem Sinn konnte er, ohne sich selbst zu widersprechen,
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Damit gelangt man zum Dritten der oben angeführten Aspekte der Zeitlichkeit, nämlich als in der Vollendung aufgehobener. Auf den ersten Blick präsentiert sich hier ein sehr klares Bild: So verstand Augustinus den Vollendungszustand weitgehend als Negation der Zeitlichkeit. Es fehlen hier gerade die wesentlichen Momente der Zeitlichkeit – die mutatio, die variatio, die distentio und die Vergänglichkeit257 – und die unablässige Schau und das Ruhen in Gott treten an die Stelle der vicissitudo temporum.258 Darüber hinaus kann man darauf verweisen, dass Augustinus in anderen Schriften die Vollendung des Menschen als Befreiung von der Zeit charakterisierte.259 In dieselbe Richtung geht es schließlich, wenn der Bischof von Hippo das Leben in dieser Zeit als Entfremdung, als Pilgerschaft in der Fremde (peregrinatio) verstand,260 während das Ziel dieser Wanderungen, das „Haus Gottes“, der „Himmel des Himmels“, als ein zeitfreier, ja „ewiger“ Raum aufgefasst wurde.261 Sieht man den Vollendungszustand so an, so scheint es ein Leichtes, zu einem grundsätzlich negativen Urteil über die Zeitlichkeit zu kommen262 und der guten Ewigkeit eine ausschließlich schlechte Zeit gegenüberzustellen.
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in En. Ps. 101, 2, 4 [CC.SL 40, 1440, Z. 9–11] feststellen: … extendentes nos non ad praesens quod est, sed ad id quod futurum est. Man kann ferner auch in Conf. XI, 30, 40 [CC.SL 27, 214, Z. 1] auf die futurische Wendung Et stabo et solidabor in te hinweisen. – FISCHER, Confessiones 11, 502f. interpretierte die letzten drei Bücher der Confessiones als Frage „nach einem bleibenden Sinn des dargestellten zeitlichen Geschehens angesichts der nur negativ antizipierten Ewigkeit Gottes.“ Vgl. den vorausgehenden Abschnitt ab S. 124 insgesamt sowie besonders S. 128, Anm. 206. Dieses immer wieder angesprochene Ziel nennen bereits die ersten Zeilen der Confessiones: inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te (Conf. I, 1, 1 [CC.SL 27, 1, Z. 7]). Z. B. Io. ev. tr. 31, 5 [CC.SL 36, 296, Z. 18–21]: Denique ubi venit plenitudo temporis, venit et ille, qui nos liberaret a tempore. Liberati enim a tempore, venturi sumus ad aeternitatem illam ubi non est tempus. Ähnlich Sermones Guelf. 32, 5 in: Sancti Augustini sermones post Maurinos reperti, studio ac dilig. D. Germani Morin, Bd. 1, Rom 1930, 439–585, hier 567, Z. 16–19: Venit humilis creator noster, creatus inter nos: qui fecit nos, qui factus est propter nos: deus ante tempora, homo in tempore, ut hominem liberaret a tempore. Vgl. Conf. XII, 11, 13; 15, 21 [CC.SL 27, 222.226]. Vgl. insgesamt Conf. XII, 11, 13 [CC.SL 27, 222, bes. Z. 36f.]: [domus tua] tamen indesinenter et indeficienter tibi cohaerendo nullam patitur vicissitudinem temporum. – Das Haus Gottes ist seinerseits nichts anderes als die geistige Schöpfung, die in Conf. XI, 30, 40 [CC.SL 27, 215, Z. 13] als überzeitlich (supra tempora) und in Conf. XII, 12, 15 [CC.SL 27, 223, Z. 3] als zeitfrei (carens temporibus) beschrieben wird. Vgl. oben S. 133 mit Anm. 230, vgl. ferner z. B. FLASCH, Was ist Zeit?, 214 und 399, wo er dezent andeutete, dass für Augustinus Zeit etwas sei, das allenfalls für die Hölle taugt. Er verwies dabei auch auf das Verdikt des Thomas In Inferno non est vera aeternitas, sed magis tempus (S. th. I, 10, 3, ad 2 [Ed. Leonina IV, 98]). Ganz anders urteilte etwa WILHELM VON AUVERGNE, De universo I, 2, 7 [Ed. cit. I, 690b E–F]: … status iste indubitanter non est status temporalitatis, quin potius multum similis statui aeternitatis, sicut et foelicitas sanctorum, et hoc est omnibus opinionibus magis congruens doctrinae Christianorum. Zum weiteren Kontext vgl. unten S. 192, besonders Anm. 122.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Doch hält dieses rigorose Urteil einer genaueren Überprüfung stand? Sowohl die unter den vorigen beiden Aspekten dargestellten positiven Beurteilungen der Zeitlichkeit als auch die Beobachtung, dass Augustinus in anderen Schriften die Vollendung (sicherlich in einem übertragenen Sinn, aber immerhin) auch als eine „Zeit“ darstellen kann,263 sind geeignet, hieran Zweifel aufkommen zu lassen. In Form von zwei Anfragen soll daher ein erneuter Blick auf die entsprechenden Stellen in den Confessiones geworfen werden. Die erste Anfrage knüpft sich an jene Stelle, wo es als Idealzustand der Bewohner des Himmels dargestellt wird, dass sie keine Zukunft und keine Vergangenheit haben (non habens futurum quod expectet nec in praeteritum traiciens quod meminerit).264 Beachtet man den Kontext, so erkennt man, dass hier das Anhangen der himmlischen Wesen an Gott beschrieben wird. Es geht also um nichts anderes als die auch an anderen Stellen beschriebene unablässige Schau Gottes,265 die sich in einer bleibenden Gegenwart vollzieht.266 Speziell dieser eine Akt ist es, der keine Zukunft und keine Vergangenheit kennt, und es ist nicht selbstverständlich, dass dadurch jede andere Art von Veränderung ausgeschlossen wird. In den Confessiones wird dies nicht weiter thematisiert (und insofern ist es schwierig hier zu einem abschließenden Urteil zu kommen), aber für De civitate Dei und De Genesi ad litteram kann man auf das Konzept des motus spiritalis als einer den Engeln eigenen Form der – in De civitate Dei sogar ausdrücklich als zeitlich vorgestellten – Bewegung verweisen.267 Das Hauptgewicht der augustinischen Argumentation scheint mir überdies – was den Vollendungszustand angeht – auf der Überwindung nicht der Zeitlichkeit, sondern der Vergänglichkeit zu liegen,268 was nicht zuletzt für das obengenannte Peregrinatio-Motiv gilt: Eigentliche Ursache der „Fremdheit“ ist das Entbehren der Schau Gottes, dessen Auswirkung darin besteht, dass der Mensch mit seiner leib-seelischen Verfasstheit – entgegen seiner ursprünglichen Bestimmung – in eine vergängliche (zeitliche) Ordnung eingebunden ist.269 263
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So En. Ps. 101, 2, 10 [CC.SL 40, 1444, Z. 6f.]: et perfice mihi dies exiguos, ut dones mihi postea dies aeternos; oder Sermo 254, 1, 1 [PL 38, 1182]: Sic se habet, … ut tempus moestitiae tempus laetitiae praecedat: id est ut … prius sit tempus laboris, posterius quietis; prius sit tempus calamitatis, posterius felicitatis. Und ebd. 4, 5 [PL 38, 1184] Significantur enim nobis duo tempora: unum ante resurrectionem Domini, alterum post resurrectionem Domini; unum in quo sumus, alterum in quo nos futuros esse speramus. Tempus moeroris, quod significant dies Quadragesimae, et significamus et habemus; tempus autem laetitiae et quietis et regni, quod significant dies isti [scil. paschales]. Vgl. Conf. XII, 11, 12 [CC.SL 27, 222, Z. 18–21] (zitiert S. 128, Anm. 206). Vgl. oben S. 126 mit Anm. 199f. Vgl. Conf. XII, 11, 12 [CC.SL 27, 222, Z. 18] das vorausgehende te sibi semper praesente. Vgl. unten S. 147 sowie SORABJI, Time, 31 und FLASCH, Was ist Zeit?, 100f. Was natürlich die oben, S. 134, ausgeführte Trennung von Zeitlichkeit und Vergänglichkeit voraussetzt; vgl. ferner oben ab S. 130. Gegen FLASCH, Was ist Zeit?, 210: „Wenn die Zeitlichkeit und Sterblichkeit des Menschen eine Folge der Sünde ist, erscheinen Zeit und Zeitlichkeit als das Fremde: Die Zeit ist einer unsterblichen Seele prinzipiell unangemessen“. – Auch hier äußerte sich Augustinus in De civitate Dei
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Eine zweite Anfrage betrifft den oben (S. 124) zitierten Passus aus Confessiones XI, 29, 39, dass man die Vergangenheit vergessen (oblitus praeterita) und sich nicht nach der vergänglichen Zukunft ausstrecken soll (non in ea quae futura et transitura sunt … extentus).270 Muss man hier das oblitus in einem wörtlichen oder absoluten Sinn verstehen, so als ob der Mensch seine gesamte zeitliche Existenz verleugnen solle und sie in der Vollendung schließlich ausgetilgt sein werde? – Selbstverständlich ging es Augustinus um die (oben bereits geschilderte) Hinwendung zu Gott, dem Ewigen, was insbesondere bedeutet, dass der Mensch sein Herz nicht an Zeitliches hängen soll (insbesondere nicht an jenes, das Unordnung und Sünde darstellt) und diesem nicht eine Zielhaftigkeit zuschreiben soll, die es von sich aus nicht besitzt.271 Daraus folgt aber noch nicht, dass alles Zeitliche per se wertlos ist, vielmehr ist die Perspektive in diesem Leben, Gott in den zeitlichen Dingen zu lieben,272 und im kommenden Leben wird die zeitliche Existenz in einer erneuerten, bleibenden Form aufgehoben sein, was etwa daran sichtbar wird, dass auch im ewigen Leben eine Erinnerung an das zeitliche Leben und damit zumindest Vergangenheit existiert.273 Über diese beiden Anfragen hinaus lässt sich noch auf weitere Sachverhalte aufmerksam machen – ich will sie im Folgenden nur kurz andeuten –, die der von Augustinus konstatierten „Zeitlosigkeit“ des Vollendungszustandes entgegenlaufen. So kann man fragen, wie (ewiges) Leben ohne eine, wenn auch sublime, Form der Zeitlichkeit vorzustellen ist, insbesondere da der Begriff „Leben“ ja gerade in der platonisch-neuplatonischen Tradition – neben den Aspekten des Denkens und der Glückseligkeit – auch das
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deutlicher als in den Confessiones, vgl. etwa Civ. XII, 4 (zitiert unten S. 149, Anm. 331); vgl. aber Conf. XIII, 21, 30 [CC.SL 27, 259, Z. 43–45]: … discedendo a fonte vitae moritur atque ita suscipitur a praetereunte saeculo et conformatur ei. Vgl. den oben, S. 124, zitierten Text. Das oblivisci entspricht so in der Negation dem extendere. In diesem Sinn bedeutet es einen Willensakt des Sich-Ausrichtens auf das, was allem Zeitlichen vorausliegt (ea, quae ante sunt). Vgl. Conf. IX, 10, 25 [CC.SL 27, 148, Z. 43], wo es in Bezug auf die (zeitliche) Schöpfung hieß: ipsum [scil. Deum], quem in his amamus; ähnlich Conf. XI, 8, 10 [CC.SL 27, 199, Z. 12f.]: Quia et per creaturam mutabilem cum admonemur, ad veritatem stabilem ducimur; umgekehrt konnte er (im Hinblick auf seinen kurz zuvor verstorbenen Freund) den seligpreisen, der seinen Freund in Gott liebt: Beatus, qui amat te et amicum in te … (Conf. IV, 9, 14 [CC.SL 27, 47, Z. 6f.]) In diesem Sinn würde ich die oben angesprochene Sammlungsbewegung (das colligor von Conf. XI, 29, 39) verstehen: Es ist das Zeitliche, das nicht mehr ins Nichts strebt, sondern auf Gott hin gesammelt wird (was freilich auch eine gewisse Wandlung bedeutet). Vgl. auch Conf. XII, 16, 23 [CC.SL 27, 227, Z. 17–19]: conligas totum quod sum a dispersione et deformitate hac … (Unterstreichung von mir), sowie Conf. IV, 11, 16 [CC.SL 27, 48f., Z. 8–12], wo zur Seele gesprochen wird: non perdes aliquid … et fluxa tua reformabuntur et renovabuntur et constringuntur ad te et … stabunt tecum. Noch konkreter kann man an die Schilderung in Trin. XIV, 9, 12 [CC.SL 50a, 440, Z. 42–50] denken, wo es hieß, dass die (auf Erden begangenen) Werke der Tugenden im kommenden Leben im Gedächtnis erhalten bleiben werden.
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Moment der (Selbst-)Bewegung beinhaltet.274 Ähnliches gilt für die fortbestehende Leiblichkeit/Materialität des Menschen.275 Insgesamt bleibt die grundsätzliche Frage, bis wohin die Negation der verschiedenen Aspekte der Zeitlichkeit getrieben werden kann, ohne den Rahmen der Geschöpflichkeit zu verlassen, man denke dabei etwa an das bleibende Element des Sich-Ausstreckens (tendere) nach Gott oder an die Ausführungen in Civ. XIV, 9,276 wonach bestimmte Affekte ([Ehr-]furcht, Freude, Liebe) auch im ewigen Leben erhalten bleiben werden. Anders ausgedrückt, wird man fragen, ob Augustinus, wenn er in Confessiones XII dem „Himmel der Himmel“ die vicissitudo temporum, mutatio und variatio abspricht, jeweils in voller Allgemeinheit spricht oder ob er nicht den Wechsel von guten und schlechten Zeiten bzw. jeweils bestimmte mutationes/variationes im Blick hat; entsprechend muss auch das zukünftige „Stehen“ (stare) des Menschen nicht gegen jede Form der Dynamik gewendet werden, sondern wird eher als Antonym von „Fallen“ zu verstehen sein. In summa bleibt festzuhalten: Wenn Augustinus davon spricht, dass Gott den Menschen in seiner Zeitlichkeit zur Ewigkeit beruft,277 so möchte er damit herausstellen, dass Gott sich selbst dem Menschen in der Vollendung auf eine nicht mehr verlierbare Weise schenkt, wobei insbesondere dessen Todesverfallenheit zugunsten eines ewigen Lebens überwunden wird. Die in der gegenwärtigen Situation des Menschen als ambivalent erfahrene Zeitlichkeit wird dabei in einem positiven Sinn aufgehoben – im Sinn einer Befreiung von deren negativen Aspekten und Auswirkungen (etwa der distentio, der Unordnung und der Vergänglichkeit). Im Einzelnen bleiben dabei noch viele Fragen offen, wo genau zwischen der Zeitlichkeit dieser Welt und der Ewigkeit Gottes der Vollendungszustand des Menschen anzusiedeln ist. – Und nebenbei bemerkt, waren es genau diese offenen Fragen, die nachfolgende Kommentatoren herausforderten und zum Weiterdenken anregten.278 – Klarheit scheint mir jedoch insofern zu bestehen, dass für 274
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Vgl. Pierre HADOT, Leben I. Antike, in: Joachim Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Darmstadt 1980, 52–56, hier besonders 53f. – Dasselbe Problem stellt sich auf einer anderen Ebene auch im Blick auf Gottes Ewigkeit, die ja ebenfalls als Leben vorgestellt wird (siehe unten S. 156, besonders Anm. 377), wobei man in einem – auf Augustinus freilich nur bedingt anzuwendenden – neuplatonischen Denkhorizont beachten muss, dass die Begriffe Bewegung und Leben in der Sphäre der Seele (ψυχή) und in der des Geistes (νοῦς) je anders konnotiert sind. Ausführlich in Civ. XXII passim dargestellt, vgl. z. B. c. 26 [CC.SL 48, 854, Z. 34f.]: Non ergo, ut beatae sint animae, corpus est omne fugiendum, sed corpus incorruptibile recipiendum. – Man denke außerdem an die Charakterisierung der materia prima als mutabilitas rerum mutabilium ipsa (Conf. XII, 6, 6 [CC.SL 27, 219, Z. 26]). CC.SL 48, 425–430. Vgl. etwa den auf S. 124 zitierten Passus aus Conf. XI, 29, 39; sehr pointiert auch in En. Ps. 101, 2, 10 [CC.SL 40, 1446, Z. 58–60]: O Verbum ante tempora, per quod facta sunt tempora, natum et in tempore, cum sit vita aeterna, vocans temporales, faciens aeternos! DUCHROW, Der sogenannte psychologische Zeitbegriff, 286 sah es gerade „als das Fruchtbarste an der Beschäftigung mit Augustins Zeitbegriff“ an, „daß er Aporien nicht verdeckt, sondern sich lange bei ihnen aufhält und sein Scheitern auch zugesteht.“
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Augustins Beschreibung der Vollendung zwar die Ewigkeit das Vorbild lieferte, dass damit aber keine prinzipielle und umfassende Verneinung der Zeitlichkeit intendiert war,279 so dass man statt von „Entzeitlichung“ besser von einem Zur-Ruhe-Kommen der Zeitlichkeit280 oder von einer „Entflüchtigung des Zeitlichen“ spricht.281 3.2.1.2
Die Zeit als Naturbestand
Im vorigen Abschnitt stand das Verhältnis der Zeit zum menschlichen Geist im Mittelpunkt der Untersuchung, dabei wurde bereits deutlich, dass Augustinus kein Vertreter einer rein subjektivistischen Zeittheorie ist, der die Zeit völlig ins Innere der menschlichen Seele verlegt, sondern dass er sie vielmehr als eine zunächst von der menschlichen Seele unabhängige Gegebenheit betrachtet. Dieser Aspekt soll im Folgenden noch einmal etwas genauer betrachtet werden. Einiges wurde dabei im vorigen Abschnitt bereits angesprochen, so dass hier Verweise darauf genügen; die Betrachtung beschränkt sich jetzt jedoch nicht mehr auf die Confessiones allein, sondern es werden auch die zeittheoretischen Passagen aus anderen Schriften (insbesondere den Genesiskommentaren und De civitate Dei) herangezogen. Innerhalb der Zeittheorie Augustins kommt dem elften Buch der Confessiones ein besonderes Gewicht zu, da es sicherlich die umfangreichste und geschlossenste Darstellung der Thematik innerhalb des umfangreichen Œuvres Augustins darstellt. Gleichwohl sollte man nicht vergessen, dass der dort fokussierte Zusammenhang von Zeit und menschlichem Geist lediglich eine mögliche Perspektive auf die Zeitproblematik ist und die dort beschriebene „Psychologisierung“ der Zeit ein Spezifikum dieses Textes darstellt.282 Der Ausgangspunkt war bereits dort der „Objektivismus der stoischen Erkenntnislehre“,283 der auf der Zeit als einem vom Menschen unabhängigen Naturbestand aufruht. Erst die Problematisierung des Seins der Zeit machte es erforderlich auf den menschlichen Geist als Zeiten-„Bildner“ zurückzugreifen, denn nur durch das Bleiben der Eindrücke in der memoria wird es möglich, einen zeitlichen Prozess in seiner Totalität zu erfassen, wird Zeit (gewissermaßen) sichtbar, greifbar und messbar. – Außerhalb von Confessiones XI erklärte Augustinus die Zeit unmittelbar aus der Bewegung (aus dem motus oder der mutabilitas der Geschöpfe), ohne die zeitbildende Tätigkeit des Geistes überhaupt zu erwähnen. Bereits in Confessiones XII & XIII ist von einem Ursprung der Zeit in der Seele nicht mehr die Rede, vielmehr hieß es lapidar: rerum muta-
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Vgl. auch FISCHER, Confessiones 11, 536. Man kann hier an das Bild der Welt als Meer denken, vgl. Civ. XX, 16 [CC.SL 48, 727, bes. Z. 32–34]: Iam enim tunc non erit hoc saeculum vita mortalium turbulentum et procellosum, quod maris nomine figuravit. Vgl. noch einmal oben S. 133. Siehe den Abschnitt oben ab S. 120. Vgl. FLASCH, Augustin, 279.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
tionibus fiunt tempora.284 Und mit aller nur wünschenswerten Klarheit stellte De civitate Dei später fest, dass das Phänomen „Zeit“ bereits existierte, als es den Menschen noch gar nicht gab: erat tempus, quando non erat homo.285 Durch die genannten Beobachtungen tritt auch die Richtung des Abhängigkeitsverhältnisses von „psychologischer“ Zeit und „physikalischer“ Zeit286 noch einmal klar zutage: Die psychologische Zeit beruht auf der physikalischen Zeit, sie ist die durch die affectiones vermittelte Repräsentation der physikalischen Zeit, auch da, wo der Geist nicht nur einen äußeren Vorgang beobachtet (wie bei dem Beispiel des Sonnenaufgangs in Conf. XI, 18, 24), sondern sich auf sein eigenes Tun (wie den Vortrag eines Liedes, Conf. XI, 27, 34 – 28, 38 passim) zurückbeugt.287 Weder stehen also die physikalische Zeit und die psychologische Zeit unverbunden nebeneinander,288 noch kann man die psychologische Zeit als die eigentliche Zeit einem an sich zeitlosen Weltgeschehen – das gleichwohl eine objektive Abfolge von Bewegungen kennen mag – gegenüberstellen.289 Im Blick auf den ontologischen Status der Zeit wird dabei auch deutlich, dass 284
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Conf. XII, 8, 8 [CC.SL 27, 220, Z. 24f.]; anders gesagt, ist die Zeit durch den Übergang von einer Form in eine andere bedingt. Vgl. ebd. 12, 15 [CC.SL 27, 223, Z. 7–9], wo es umgekehrt von der materia prima heißt: quod ita informe erat, ut ex qua forma in quam formam vel motionis vel stationis mutaretur, quo tempori subderetur, non haberet. Vgl. ausführlich bei FLASCH, Was ist Zeit?, 92–98, besonders 93, ferner ebd., 394–396. Civ. XII, 16 [CC.SL 48, 371, Z. 60f.]. Einige weitere Beispiele: Gen. adv. Man. I, 2, 4 [CSEL 91, 70, Z. 5–7]: Mundum quippe deus fecit, et sic cum ipsa creatura quam fecit deus, tempora esse coeperunt. Ähnlich Gen. litt. V, 5, 12 [BA 48, 390]: Factae itaque creaturae motibus coeperunt currere tempora. Zur Zeittheorie in De Genesi ad litteram und in De civitate Dei vgl. FLASCH, Was ist Zeit?, 99–108. Mit diesem Begriffspaar möchte ich die beiden Aspekte einer von der Seele durch memoria, intuitus, expectatio vergegenwärtigten Zeit und einer als Naturbestand von der Seele unabhängigen Zeit auseinanderhalten, wobei es schwierig scheint, sie jeweils durch ein einziges Adjektiv zu beschreiben, denn man hat bei der „physikalischen“ Zeit ja nicht nur an die Bewegung von (Himmels-)Körpern zu denken. Wenn ich mich hier der Terminologie etwa von DUCHROW, Der sogenannte psychologische Zeitbegriff oder von QUINN, Time anschließe, so nur in Ermangelung einer besseren (die eigentlich nötigen Anführungszeichen werden im Folgenden deshalb weggelassen). Die Begriffspaare innere Zeit – äußere Zeit, subjektive Zeit – objektive Zeit oder die von SCHMIDT, Zeit und Geschichte, 54–56 vorgenommene Unterscheidung von personaler Zeit und Zeit der Kreatur erscheinen mir mindestens genauso problematisch (vgl. etwa auch FLASCH, Was ist Zeit?, 49f.). In diesem Sinn verstehe ich es, wenn Augustinus auch ein nur in Gedanken vorgetragenes Lied oder Gedicht an dem „tatsächlichen“, mit der Stimme vollzogenen Vortrag maß (Conf. XI, 27, 36 [CC.SL 27, 213, Z. 53f.]: cogitationem tendimus ad mensuram vocis, quasi sonaret). So DUCHROW, Der sogenannte psychologische Zeitbegriff, 281f.: „Diese ordo-Zeit der physikalischen Abläufe läßt sich nun aber nicht mit der Zeit in der Seele verbinden, die ja gerade unter der Voraussetzung gewonnen war, daß die Zeit außerhalb der Seele im Nichtsein versinkt.“ – Dagegen schon SCHMIDT, Zeit und Geschichte, 55. So WEIS, Zeitontologie, 98: „… daß auch das Weltgeschehen in seiner Dauer, Bewegung und Folge vom Anfang bis zum Ende an sich zeitlos ist.“ Dem korrespondiert, dass Augustinus nach Weis
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Augustinus im Letzten nicht so weit von Aristoteles entfernt war, wie es auf den ersten Blick scheinen mag290 (auch wenn er den entscheidenden Text Physica IV, 14 [223a 21– 29] wohl nicht kannte).291 Die zentrale Aussage, um die herum sich alle übrigen Erwägungen Augustins zur Zeit in der Natur gruppieren lassen, ist die, dass Gott die Zeiten erschaffen hat.292 Mit diesem Satz wollte er zunächst aussagen, dass Zeit etwas ist, das allein die geschöpfliche Wirklichkeit betrifft: Ohne Geschöpfe gibt es auch keine Zeit, sondern nur die über den Zeiten stehende, unwandelbare Ewigkeit Gottes.293 Liest man dies zunächst als Aussage über Gott, so ist darin enthalten, dass es sinnlos ist, an die Handlungen und den Willen Gottes einen zeitlichen Maßstab anzulegen. Zeit lässt sich nicht über den Augenblick der Schöpfung hinaus „zurück“-verlängern: Weder kann man daher fragen, was Gott vor der Schöpfung getan habe,294 noch bedeutet es eine Veränderung im Willen Gottes, wenn die Schöpfung zu einem bestimmten Augenblick ins Dasein trat.295 In dem Gedanken von der Schöpfung der Zeit durch Gott ist für Augustinus weiter enthalten, dass der Ablauf der Zeiten insgesamt präformiert ist.296 Dies wird auf verschiedene Art und Weise zum Ausdruck gebracht: So erscheint Gott nicht nur als der „Ordner der Zeiten“ (ordinator temporum)297 – wobei etwa in De Genesi ad litteram die
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„in der Seele sozusagen die primäre Bedingung des Entstehens und Seins der Zeit, in der Bewegung die sekundäre“ (ebd., 147) sieht. Zur Kritik vgl. FLASCH, Was ist Zeit?, 394. So auch das Ergebnis des Vergleichs von WEIS, Zeitontologie, 146. Vgl. hierzu DUCHROW, Der sogenannte psychologische Zeitbegriff, 271. Zum Verhältnis von Zeit und Seele bei Aristoteles vgl. oben S. 102. Das ergibt sich auch daraus, dass Augustinus seine Zeittheorie stets im Rahmen der Genesisauslegung darlegte. Als Belege siehe etwa Gen. litt. IV, 20, 37 [BA 48, 330]: … si tempus est, quis creavit, nisi omnium temporum creator oder Civ. XII, 16 [CC.SL 48, 371, Z. 54]: Neque enim et ipsa tempora creata esse negabimus …; für die Conf. vgl. oben S. 133, Anm. 233. Vgl. z. B. Civ. XI, 6 [CC.SL 48, 326, Z. 1–4]: Si enim recte discernuntur aeternitas et tempus, quod tempus sine aliqua mobili mutabilitate non est, in aeternitate autem nulla mutatio est: quis non videat, quod tempora non fuissent, nisi creatura fieret, quae aliquid aliqua motione mutaret …, sowie Conf. X, 25, 36 [CC.SL 27, 174, Z. 13f.]: et commutantur haec omnia, tu autem incommutabilis manes super omnia …, oder Conf. XII, 11, 13 [CC.SL 27, 222, Z. 34f.]: Hinc ergo intellegat anima, quae potest, quam longe super omnia tempora sis aeternus … Vgl. Conf. XI, 10, 12 – 14, 17; 30, 40 [CC.SL 27, 200–203.215]; Civ. XI, 4f. [CC.SL 48, 323– 326]; vgl. auch Gen. adv. Man. I, 2, 3 [CSEL 91, 69, Z. 14–16]: Deus enim fecit et tempora, et ideo antequam faceret tempora, non erant tempora. Vgl. Conf. XI, 10, 12; 31, 41 [CC.SL 27, 200.215f. ]; Civ. XII, 15 [CC.SL 48, 369f.]. Vgl. FLASCH, Was ist Zeit?, 102: „Gottes Erschaffen legt fest, was die Dinge zu sein und wie sie sich zu bewegen haben; es präformiert folglich auch den Ablauf der Zeiten.“ – „Zeit“ wird in diesem Kontext in einem weiten Sinn gebraucht: Man hat sowohl an Vorgänge in der Natur, als auch an die geschichtliche Zeit zu denken. Civ. XI, 6 [CC.SL 48, 326, Z. 9]: creator sit temporum et ordinator … – dies ist lediglich die andere Seite der Feststellung, dass die Zeiten Ordnung und Schönheit in der Welt repräsentieren, vgl. oben S. 133 mit Anm. 234 und S. 133, Anm. 236.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Zahl das herausragende Mittel dieser Ordnung darstellt298 –, vielmehr ist alles, „was in den Zeiten geschieht, … vorgegeben und vorgeformt im genauen Plan des göttlichen Denkens“.299 Baut dies auf den Vorstellungen Augustins auf, dass die Urgründe (causae, origines) der zeitlichen Schöpfung auf nicht-zeitliche Weise in Gott aufgehoben sind300 und dass ihm die gesamte Zeit zugleich und beständig gegenwärtig ist,301 so scheint dabei stellenweise ein voluntaristisches Gottesbild durch, in dem das, was in der Natur der Dinge noch nicht eindeutig als Entwicklung festgelegt ist, durch den Willen Gottes näher bestimmt wird.302 Schließlich kommt hier auch der – bei Augustin vor allem für die Gnadenlehre wichtige – Prädestinationsgedanke ins Spiel: Die zeitlichen Ereignisse erscheinen als eine Durchführung des von ihm Vorausbestimmten oder – aus der Perspektive des Menschen gesehen – als ein Offenbarwerden der verborgenen Ratschlüsse Gottes.303
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Als Beispiel vgl. nur Gen. litt. IV, 33, 52 [BA 48, 360]: Hos enim numeros tempora peragunt, quos cum crearentur, non temporaliter acceperunt. Ferner ebd. V, 4, 9f. [BA 48, 384–388] (ähnlich auch Civ. XI, 30 [CC.SL 48, 350]), Näheres bei FLASCH, Was ist Zeit?, 102. FLASCH, Was ist Zeit?, 103. Vgl. etwa Civ. X, 12 [CC.SL 47, 287, Z. 28f.]: … in cuius dispositione iam tempora facta sunt quaecumque futura sunt. In Ag. chr. 27, 29 [BA 1, 420] wurde dadurch auch die Ausdrucksweise der Heiligen Schrift erklärt, zukünftige Ereignisse in der Zeitstufe der Vergangenheit zu berichten: Non intellegunt sic loqui Scripturas ut praeteritum tempus pro futuro tempore insinuent: … quia certissime est futurum, ita dictum est quasi jam factum sit. Vgl. Conf. I, 6, 9 [CC.SL 27, 4f., Z. 34–40]: Tu autem, domine, qui et semper vivis et nihil moritur in te, … et deus es dominusque omnium, quae creasti, et apud te rerum omnium instabilium stant causae et rerum omnium mutabilium immutabiles manent origines et omnium inrationalium et temporalium sempiternae vivunt rationes … – Z. B. Io. ev. tr. 1, 16f. [CC.SL 36, 9f.] wurden diese rationes speziell in Christus, das Wort und die Weisheit Gottes, gelegt (dies entsprach der mittelplatonischen Tradition, die Ideen in der divina intelligentia zu verorten – vgl. O’DALY, Aeternitas, 161). Vgl. z. B. Civ. XI, 21 [CC.SL 48, 339, Z. 14–22]: non enim more nostro ille vel quod futurum est prospicit, vel quod praesens est aspicit, vel quod praeteritum est respicit … Ille quippe non ex hoc in illud cogitatione mutata, sed omnino incommutabiliter videt; ita ut illa quidem, quae temporaliter fiunt, et futura nondum sint et praesentia iam sint et praeterita iam non sint, ipse vero haec omnia stabili ac sempiterna praesentia comprehendat. – Die Verbindung mit dem vorausgehenden Gedanken zeigt sich etwa in Trin. II, 5, 9 [CC.SL 50, 92, Z. 94f.]: Ordo quippe temporum in aeterna dei sapientia sine tempore est. Vgl. Gen. litt. VI, 15, 26 [BA 48, 486]: manifestum est etiam sic non factum esse hominem contra quam erat in illa prima conditione causarum, quia ibi erat etiam sic fieri posse, quamvis non ibi erat ita fieri necesse esse. Hoc enim non erat in conditione creaturae, sed in placito creatoris, cuius voluntas rerum est necessitas. Conf. XIII, 34, 49 [CC.SL 27, 271, Z. 5f.]: Ubi autem coepisti praedestinata temporaliter exequi, ut occulta manifestares …, vgl. auch Civ. XII, 17 [CC.SL 48, 373, Z. 15f.]: praedestinatione fixum erat, quod suo tempore futurum erat. – Gegen eine allzu rigorose Deutung des Prädestinationsgedankens wird man darauf hinweisen, dass Augustinus den freien Willen des Menschen aus der von Gott vorausverfügten Ordnung der Zeiten ausdrücklich ausnimmt – so zumindest in den um 387 entstandenen, also sehr frühen Sol. I, 4 [CSEL 89, 8, Z. 12f.] (zitiert unten S. 151, Anm. 344).
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Der Bischof von Hippo präzisierte seine Ausdrucksweise, wenn er die Zeit näherhin als „mit-geschaffene“ (concreatum) bezeichnete.304 Mit dieser Bezeichnung, die er sonst für die formlose materia prima und die Form als die allen Dingen zugrundeliegenden Seinsprinzipien verwendete,305 wollte er ausdrücken, dass es die Zeit gibt, seit es Geschöpfe gibt und vice versa, weswegen die Zeit selbst auch „ewig“ (in Sinn von immer-bestehend) heißen kann.306 Oder noch einmal anders mit den Worten von De civitate Dei XI, 6: Die Welt ist mit der Zeit (cum tempore) und nicht in der Zeit (in tempore) erschaffen worden.307 Zugleich ist damit ausgesagt, dass die Zeit ontologisch nicht selbständig ist, sondern akzidentellen Charakter besitzt; in einer kausalen Ordnung gebührt daher den geschaffenen Substanzen, von deren Bewegung ja die Zeit abhängt,308 der Vorrang vor der Zeit.309 Wie bereits gesehen gründet die Zeitlichkeit in der mit der Geschöpflichkeit verbundenen mutabilitas,310 die ihren letzten Grund darin findet, dass die geschaffenen Dinge nicht gleichewig mit Gott oder aus göttlicher Substanz sind, sondern sie aus Nichts (de 304 305
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So in Gen. litt. IV, 20, 37 [BA 48, 330]: Sed etiam temporis spatium creaturae temporali concreatum est. Vgl. Gen. litt. I, 15, 29 [BA 48, 120]: Non quia informis materia formatis rebus tempore prior est, cum sit utrumque simul concreatum …; ähnlich ebd. II, 15, 31 [BA 48, 198] sowie Conf. XIII, 33, 48 [CC.SL 27, 271, Z. 6–12]: [Opera tua] de concreata, id est simul a te creata materia, quia eius informitatem sine ulla temporis interpositione formasti … simul tamen utrumque [scil. mundi speciem et informem materiam] fecisti, ut materiam forma nulla morae intercapedine sequeretur. Z. B. Gen. adv. Man. I, 2, 4 [CSEL 91, 70, Z. 5–7]: mundum quippe deus fecit, et sic cum ipsa creatura quam fecit deus, tempora esse coeperunt, et ideo dicuntur aeterna tempora. – Der Ausdruck aeterna tempora ist die eine mögliche Übersetzung von χρόνοι αἰώνιοι (im Neuen Testament in Röm 16, 25, 2 Tim 1, 9, Tit 1, 2), die andere ist tempora saecularia; vgl. hierzu auch Div. qu. 72 [CC.SL 44a, 208] und Civ. XII, 17 [CC.SL 48, 373, Z. 3–11] sowie unten S. 151. Civ. XI, 6 [CC.SL 48, 326, Z. 16–22]: Procul dubio non est mundus factus in tempore, sed cum tempore. Quod enim fit in tempore, et post aliquod fit et ante aliquod tempus … Cum tempore autem factus est mundus, si in eius conditione factus est mutabilis motus … – An dieser Stelle sei auch noch auf den dritten Ausdruck dieser Art hingewiesen, die Bezeichnung ex tempore (z. B. Conf. XIII, 33, 48 [CC.SL 27, 270, Z. 2]; Civ. X, 31 [CC.SL 47, 309, Z. 21]; Trin. II, 5, 9.10; IV, 20, 28; V, 15, 16; V, 16, 17 [CC.SL 50, 91, Z. 84; 93, Z. 119; 198f., Z. 74.77.84; 224, Z. 11f.; 224, Z. 2] und öfter): Sie stellt das Antonym zu ab (ex) aeterno dar und kennzeichnet einen Begriff oder eine Aussage – insbesondere über die göttlichen Personen – als zeitlich (konnotiert) im Gegensatz zu einem nicht-zeitlich, insofern „von Ewigkeit her“ geltenden Verständnis. Z. B. in der angegebenen Stelle aus Conf. XIII wird damit deutlich gemacht, dass initium hier als Anfang in einem zeitlichen Sinn zu verstehen ist und nicht ein kausales oder ein Ursprungsverhältnis bedeutet. Vgl. Civ. XI, 6 [CC.SL 48, 326, Z. 3–8]: quis non videat, quod tempora non fuissent, nisi creatura fieret, quae aliquid aliqua motione mutaret, cuius motionis et mutationis cum aliud atque aliud, quae simul esse non possunt, cedit atque succedit, in brevioribus vel productioribus morarum intervallis tempus sequeretur? Vgl. Gen. litt. V, 5, 12 [BA 48, 390]: Potius ergo tempus a creatura quam creatura coepit a tempore, utrumque autem ex Deo. Siehe oben S. 129.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
nihilo) erschaffen wurden.311 Ist die mutabilitas grundsätzlich allen Geschöpfen zu eigen, so bietet Augustinus durchaus unterschiedliche Konzepte, wo tatsächlich Bewegung und damit Zeit zu finden ist. Im Hintergrund stehen hier die beiden Fragen, wie die sechs Tage der Schöpfung insgesamt zu interpretieren sind und mit welchem der darin genannten Werke die Zeit begonnen hat, ob mit der geistigen Schöpfung (den Engeln), mit der körperlichen Schöpfung oder mit der Bewegung des Himmels. In De Genesi adversus Manichaeos vertrat der Kirchenlehrer dabei noch ein einigermaßen wörtliches Verständnis der sechs Schöpfungstage,312 so dass der Beginn der Schöpfung und der Beginn der Zeit wie selbstverständlich zusammenfielen.313 Der nächste Anlauf zur Interpretation des Sechstagewerkes in De Genesi ad litteram liber imperfectus brachte zwei wichtige neue Gedanken ein: zum einen, dass die gesamte Schöpfung – gemäß Sir. 18, 1: qui vivit in aeternum creavit omnia simul – in einem einzigen Augenblick stattgefunden hat,314 und zum anderen, dass nicht nur körperliche, sondern auch geistige Bewegungen innerhalb der Zeit stattfinden.315 Falls sich diese am 311
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Vgl. v. a. Civ. XII, 1 [CC.SL 48, 356, Z. 37–39]: ea vero, quae fecit, bona quidem esse, quod ab illo, verum tamen mutabilia, quod non de illo, sed de nihilo facta sunt, sowie Gen. litt. imp. 1, 2, 1 [BA 50, 398]: … ita ut creatura omnis sive intellectualis sive corporalis, … non de Deo nata, sed a Deo sit facta de nihilo … Quapropter creaturam universam neque consubstantialem Deo neque coaeternam fas est dicere aut credere. Im Blick auf Sonne und Mond hieß es ebd. 12, 36, 2 [BA 50, 462]: possunt deficere, quia de nihilo facta sunt, et in quantum non deficiunt, non est eorum materiae, quae ex nihilo est, sed eius qui summe est et illa facit esse in genere atque ordine suo. Vor allem deutlich in Gen. adv. Man. I, 14, 20–22 [CSEL 91, 86–89], wo er die Schöpfung der Gestirne behandelte; der Morgen und der Abend der Tage davor besagt dann jeweils den zeitlichen Anfang bzw. das Ende des entsprechenden Werkes; vgl. ebd. 14, 20 [CSEL 91, 87f., Z. 26–29]: … in ipsa quidem mora temporis ipsas distinctiones operum sic appellatas: vesperam propter transactionem consummati operis et mane propter inchoationem futuri operis; sowie das Argument aus 14, 21 (zitiert oben, S. 116, Anm. 135). Gen. adv. Man. I, 2, 4 (zitiert oben S. 145, Anm. 306). – Gen. adv. Man. I, 23, 35–41; 25, 43 [CSEL 91, 104–111; 112–114] bot darüber hinaus noch zwei allegorische – und deswegen hier nicht auszuwertende – Interpretationen der sechs Schöpfungstage: Zum einen wurden sie auf die (etwa auch in Civ. XXII, 30 [CC.SL 48, 865f.; Z. 124–148] dargestellten) sechs Weltalter (aetates) gedeutet, zum anderen auf den geistigen Weg des einzelnen (ein Konzept das sich, wenn auch in abgewandelter Form, ebenso in Bonaventuras Hexaëmeron erkennen lässt): Er beginnt mit dem Empfang des Glaubenslichtes (1. Tag) und über die Unterscheidung der Geister (2. Tag) und verschiedene Erleuchtungen (spiritales intelligentiae; 4. Tag) fortschreitend führt er schließlich zur ewigen Ruhe in Gott. Prägnant in Gen. litt. imp. 9, 31, 3 [BA 50, 454]: … significat morarum intervalla non esse in operatione Dei, quamvis in ipsis inveniantur operibus; ausführlicher ebd. 7, 28 [BA 50, 444–446]. Gen. litt. imp. 3, 8, 4f. [BA 50, 406]: Quod si admittimus, quaerendum est utrum praeter motum corporum possit esse tempus in motu incorporeae creaturae, veluti est anima vel ipsa mens: quae utique in cogitationibus movetur et in ipso motu aliud habet prius, aliud posterius, quod sine intervallo temporis intellegi non potest. Quod si accipimus, etiam ante coelum et terram potest intellegi tempus fuisse, si ante coelum et terram facti sunt Angeli. Erat enim iam creatura quae motibus incorporeis tempus ageret, et recte intellegitur cum illa etiam tempus esse, ut in anima quae per
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menschlichen Denken gewonnene Beobachtung auf die Erkenntnisweise der rein geistigen Kreatur übertragen lässt – was Augustinus allerdings für nicht entscheidbar hielt –, so ist Zeit bereits mit der Erschaffung der Engel und nicht erst mit der Bewegung des Himmels verbunden. Diese letztere Überlegung wurde allerdings in den Confessiones wieder zurückgedrängt,316 und der Kirchenlehrer bemühte sich, der (rein) geistigen Schöpfung – die er hier unter dem Begriff des caelum caeli sehr stark als eine Einheit sah, möglichst keine aktuelle Bewegung zuzuschreiben: Sie ist mutabile non mutatum317 und von daher zeitfrei (carens temporibus).318 Entsprechend dieser Konzeption betonte er dabei ebenfalls, dass der Erkenntnisvollzug des caelum caeli alles gleichzeitig (simul) erfasst.319 In De Genesi ad litteram stellte Augustinus die Dinge noch einmal etwas anders dar: Zur Gleichzeitigkeit des Geschaffenwerdens durch Gott kommt jetzt hinzu, dass das durch die Genesiserzählung vorgestellte prius und posterius eine nicht zeitlich, sondern im weitesten Sinn kausal aufzufassende Ordnung der Kreatur bedeutet.320 Die mit dem Lauf der Zeiten wahrnehmbare zeitliche Ordnung ist dann zu verstehen als Explikation und als Offenbarwerden des im Schöpfungsakt Empfangenen.321 Der Beginn der Zeit fällt dann mit dem Beginn der Bewegung zusammen, wobei Augustinus sich ausdrücklich sowohl auf körperliche wie geistige Bewegung (motus vel corporalis vel spiritalis) bezog.322 Unter „körperlicher Bewegung“ ist dabei die Ortsbewegung zu verstehen, die per se mit Zeit verbunden ist, während umgekehrt die „geistige Bewegung“ keines
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corporeos sensus corporeis motibus assuefacta est. Sed fortasse non est in principibus et creaturis supereminentibus. Der andere Gedanke, dass Gott alles zugleich schuf, wurde in Conf. XIII, 33, 48 [CC.SL 27, 270f.] wiederholt. Vgl. Conf. XII, 12, 15; 19, 28 (zitiert bereits oben S. 130, Anm. 216), vgl. auch S. 128, Anm. 206. Vgl. Conf. XII, 12, 15, siehe oben S. 137, Anm. 261. Vgl. Conf. XII, 13, 16 [CC.SL 27, 223f., Z. 5–9]: … ubi est intellectus nosse simul … non modo hoc, modo illud, sed, quod dictum est, nosse simul sine ulla vicissitudine temporum. Vgl. Gen. litt. V, 5, 12 [BA 48, 392]: quemadmodum operatus est omnia simul, praestans eis etiam ordinem, non intervallis temporum, sed conexione causarum, ut ea, quae simul facta sunt, senario quoque illius diei numero praesentato perficerentur. Sowie ebd. IV, 35, 56 [BA 48, 368]: … quo ordine scientiae, qua et in verbo Dei facienda praenosceret et in creatura facta cognosceret non per intervallorum temporalium moras, sed prius et posterius habens in conexione creaturarum, in efficacia vero creatoris omnia simul. Sic enim fecit, quae futura essent, ut non temporaliter faceret temporalia, sed ab eo facta currerent tempora. Augustinus sprach hier einmal von rationes seminales, etwa Gen. litt. IV, 33, 51 [BA 48, 360]: … ut hoc, quod nunc videmus temporalibus intervallis ea moveri ad peragenda, quae suo cuique generi competunt, ex illis rationibus insitis veniat, quas tamquam seminaliter sparsit Deus in ictu condendi, ein andermal waren es empfangene „Zahlen“, die mit den Zeiten offenbar werden, vgl. ebd. V, 5, 14 [BA 48, 394]: accipiens omnes numeros eorum, quos per tempora exereret secundum suum genus. Ähnlich ebd.: … quorum numeros tempus postea visibiliter explicaret. Siehe Gen. litt. V, 5, 12 [BA 48, 390]: Motus enim si nullus esset vel spiritalis vel corporalis creaturae, quo per praesens praeteritis futura succederent, nullum esset tempus omnino.
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Ortes bedarf.323 Als Beispiele für „geistige Bewegungen“ galten für Augustinus einerseits die geistigen Akte des Erinnerns, des Lernens und eventuell auch des Erkennens, andererseits die Willensbewegungen.324 Ziemlich eindeutig äußerte sich der Kirchenlehrer in De civitate Dei XIf.: Ohne das Zugleich der Schöpfung aufzugeben,325 stellte er fest, dass den geistigen Kreaturen eine Form von Bewegung zu eigen ist, die Zukunft und Vergangenheit kennt und insofern zeitlich genannt werden kann.326 Im Vergleich zu den Confessiones hat Augustinus also eine Kehrtwende vollzogen; damit korrespondiert die Beobachtung, dass sich auch der Blick auf die geistige Kreatur insgesamt gewandelt hat: Stellten die Confessiones noch deren Einheit heraus, so dominiert in De civitate Dei die Vorstellung von den Engeln als 323
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Gen. litt. VIII, 20, 39 [BA 49, 68.70]: … quod spiritalis [scil. creatura] tantummodo per tempora mutari posset, corporalis autem per tempora et locos. … Omne autem, quod movetur per locum, non potest nisi et per tempus simul moveri; at non omne, quod movetur per tempus, necesse est etiam per locum moveri. Vgl. Gen. litt. VIII, 20, 39 [BA 49, 68]: Exempli enim gratia per tempus movetur animus vel reminiscendo, quod oblitus erat, vel discendo, quod nesciebat, vel volendo, quod nolebat. FLASCH, Was ist Zeit?, 101 wies in diesem Zusammenhang allgemein darauf hin: „Spiritalis heißt alles, was die Engel betrifft.“ Ebd., Anm. 6 (ähnlich SORABJI, Time, 31) führte er die Engelserkenntnis als einen (weiteren) solchen motus spiritalis ein, wobei FLASCH und SORABJI auch die damit verbundene Problematik sahen: So kennt die Engelserkenntnis auf zwei Weisen ein prius et posterius, nämlich einerseits im Bezug auf das, was der Bericht der Genesis mit Tag, Abend und Morgen (dies, vespera, mane) bezeichnete und was Augustinus als die dreifache Erkenntnis, die die Engel von allen Dingen besitzen, auslegte: (1) in den ewigen Gründen im Wort Gottes (Tag), (2) in der je eigenen Natur (Abend) und (3) im Rückbezug dieser Natur auf das Lob Gottes (Morgen) – vgl. z. B. Gen. litt. IV, 22, 39 – 24, 41 [BA 48, 334–342] – und andererseits in der genannten Ordnung der Dinge (oder der connexio creaturarum), die in den Werken der einzelnen sechs Schöpfungstage zum Ausdruck kommt, wobei sich die dreifache Engelerkenntnis in den verschiedenen Werken jeweils wiederholt (vgl. z. B. Gen. litt. IV, 26, 43 [BA 48, 344]). Die Schwierigkeit besteht darin, dass Augustinus ebenso das simul dieser Erkenntnis herausstellte (vor allem Gen. litt. IV, 29, 46 – 32, 49 [BA 48, 350–356]) und er das prius et posterius ausdrücklich als nicht zeitlich, sondern kausal verstanden wissen wollte, z. B. Gen. litt. IV, 32, 49 [BA 48, 354]: An etiam tunc simul omnia, quoniam non secundum temporum moras, … sed secundum potentiam spiritalem mentis angelicae cuncta quae voluerit simul notitia facillima conprehendente? Nec ideo tamen sine ordine, quo adparet conexio praecedentium sequentiumque causarum. Von daher erscheint es eher unwahrscheinlich, dass diese Engelserkenntnis ein Beispiel für die in Gen. litt. V, 5, 12 [BA 48, 390] genannte geistige Bewegung aufzufassen ist, denn dort heißt es ja gerade: Factae itaque creaturae motibus coeperunt currere tempora. – Bonaventura, der die Morgenerkenntnis der Engel als cognitio in Verbo deutete, behandelte die beiden Formen der Engelserkenntnis ausführlich in II Sent. 4, 3, 1–2 [II, 138–142]. Vgl. Civ. XI, 30 [CC.SL 48, 350, Z. 2–5]. Vgl. Civ. XII, 16 [CC.SL 48, 372, Z. 85–89]: Ac per hoc etiamsi inmortalitas angelorum non transit in tempore, nec praeterita est quasi iam non sit, nec futura quasi nondum sit: tamen eorum motus, quibus tempora peraguntur, ex futuro in praeteritum transeunt. Vgl. auch ebd. [CC.SL 48, 371, Z. 43–45], wo er (etwas vorsichtiger formulierend) die Möglichkeit einer zeitlichen (!) Bewegung in Betracht zog: si ergo ante caelum in angelicis motibus tale aliquid fuit et ideo tempus iam fuit atque angeli, ex quo facti sunt, temporaliter movebantur.
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himmlischen Scharen.327 – Daneben gestand der Bischof von Hippo auch zu, dass die Zeiten sich in ihrem gewöhnlichen und eigentlichen Sinn (usitate ac proprie) – das heißt, wenn man von Stunden, Tagen, Jahren spricht – von der Bewegung der Sterne ableiten.328 Schließlich gehörte für Augustinus zu der gegenwärtigen zeitlichen Ordnung der körperlichen Welt auch, dass sie insgesamt vergänglich (transiturus) ist.329 So wie ihm als ausgemacht galt, dass die Welt vor einer endlichen Zeit (er geht von knapp 6.000 Jahren aus) geschaffen wurde,330 so wird die gegenwärtige Ordnung des Entstehens und Vergehens, in die auch der Mensch eingebunden ist,331 nach dem Jüngsten Gericht in einen neuen Zustand, eine neue Gestalt hinübergehen (transire), in der auch die Elemente – deren stetes Sich-ineinander-Verwandeln der Vergänglichkeit zugrunde liegt – neue,
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Das Problem, dass Augustinus hier offenbar seine Meinung geändert hat, musste auch Bonaventura bewältigen, er tat es freilich auf ganz andere Weise: Die beiden zeitfreien Wirklichkeiten aus Conf. XII, 12, 15 sind bei ihm einerseits das Empyreum, als caelum caeli, das als die Engel aufnehmender Raum unbewegt und in diesem Sinn zeitfrei ist (vgl. den Abschnitt über das Empyreum oben ab S. 52 und Tabelle 2, S. 40) und andererseits als die im Sinn des metaphysischen Konstitutionsprinzips verstandene materia prima, die als abstraktes Seinsprinzip natürlich ebenfalls „zeitfrei“ ist (in dem speziellen Sinn, dass zwar das Wesen der Zeit an die materia prima gebunden ist, dass jedoch ihr Sein an eine konkret verwirklichte, also bereits geformte Materie gebunden ist); vgl. den Abschnitt über Zeit und Materie unten ab S. 257. Civ. XII, 16 [CC.SL 48, 371, Z. 37–39]: nam istae dimensiones temporalium spatiorum, quae usitate ac proprie dicuntur tempora, manifestum est, quod a motu siderum coeperint. – QUINN, Time, 835b, nannte die sich aus der Himmelsbewegung ableitenden Zeiten ein „quasi-natürliches“ Maß; man vgl. hiermit insbesondere auch das proprie in den Zeitdefinitionen Bonaventuras (unten ab S. 165). Vgl. etwa Conf. XIII, 35, 50; 36, 51 [CC.SL 27, 272, Z. 3–5 & Z. 1f.]: Omnis quippe iste ordo pulcherrimus rerum valde bonarum modis suis peractis transiturus est: et mane quippe in eis factum est et vespera. Dies autem septimus sine vespera est nec habet occasum, quia sanctificasti eum ad permansionem sempiternam. – Von dieser Vergänglichkeit hebt sich die Unvergänglichkeit der geistigen Schöpfung (Engel, Seelen) ab. Vgl. z. B. Civ. XII, 15 [CC.SL 48, 369, Z. 5f.]: cum ipse sit aeternus et sine initio, ab aliquo tamen initio exorsus est tempora et hominem. In Civ. XII setzte sich Augustinus mit den verschiedenen Fragen der Schöpfungslehre, die insbesondere die Erschaffung des Menschen und die Geschichte betreffen, auseinander. Dabei verwarf er unter anderem den Gedanken einer Welt, die schon immer (semper) existiert hat (c. 10.16), die eine vieltausendjährige Geschichte hat (c. 11), die immer wieder entsteht und vergeht (c. 12) oder in der sich immer das Gleiche wiederholt (c. 14.18.21). Auch die im Mittelalter häufig diskutierte Frage, ob Gott eine ältere Welt als die bestehende hätte schaffen können (vgl. z. B. BONAVENTURA, I Sent. 44, 1, 4 [I, 787–789]), hat hier ihre Vorlage (c. 13). Vgl. Civ. XII, 4 [CC.SL 48, 358, Z. 9–14]: Cum ergo in his locis, ubi esse talia competebat, aliis alia deficientibus oriuntur et succumbunt minora maioribus atque in qualitates superantium superata vertuntur, rerum est ordo transeuntium. Cuius ordinis decus nos propterea non delectat, quoniam parti eius pro condicione nostrae mortalitatis intexti … Ähnlich auch Conf. IV, 10, 15 [CC.SL 27, 48].
Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
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dem unsterblichen Auferstehungsleib angepasste Qualitäten besitzen werden.332 Diese Zeitordnung war für Augustinus prophetisch vorausbedeutet in den sechs Schöpfungstagen von Gen 1, die jeweils einen Morgen und einen Abend, das heißt einen Anfang und ein Ende, besitzen333 und die den Lauf der Welt vom Beginn der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht bedeuten. Wenn sie vollendet sind, gehen sie in den siebten, abendlosen, unvergänglichen Tag über.334
3.2.2
Gottes Ewigkeit
Die vorausgehenden Überlegungen sollten zur Genüge gezeigt haben, dass Augustinus Zeit fast immer im Horizont der Ewigkeit betrachtete. Mit dem Vollendungszustand des Menschen wurde auch schon eine Form von Ewigkeit behandelt, die aber nicht den Inbegriff dessen darstellt, was Augustinus unter „ewig“ verstanden wissen wollte. Im Folgenden sollen die verschiedenen Aspekte und Bedeutungen des Begriffs Ewigkeit bei Augustinus herausgearbeitet werden. Da das deutsche Wort „ewig“ im Lateinischen (und im Griechischen) mehrere Entsprechungen besitzt, lohnt zunächst ein Blick auf die Vokabeln, die Augustinus im Sinn von ewig bzw. Ewigkeit verwendete: Es sind die Adjektive aeternus, sempiternus, perpetuus samt der entsprechenden Substantive sowie das Nomen aevum.335 Aeternus/aeternitas ist dabei die mit Abstand am häufigsten verwendete Bezeichnung, während der Ausdruck aevum nur ganz selten vorkommt. Die Differenzierung in der Bedeutung ist dabei nicht so ausgeprägt, wie man vielleicht erwarten würde, denn sempiternus336 und perpetuus337 können im gleichen Sinn und mit dem gleichen Bedeutungs332
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Vgl. Civ. XX, 16 [CC.SL 48, 726f., Z. 15–19]: Illa itaque, ut dixi, conflagratione mundana elementorum corruptibilium qualitates, quae corporibus nostris corruptibilibus congruebant, ardendo penitus interibunt, atque ipsa substantia eas qualitates habebit, quae corporibus immortalibus mirabili mutatione conveniant. Zu Morgen und Abend als „Sinnbild für die Vergänglichkeit der Welt“ vgl. auch SCHULTE-KLÖCKER, Das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit, 364. Dabei scheint es mir die bewusste Hereinnahme der leiblich-materiellen Dimension zu sein, die Augustinus dazu brachte, das etwa in Conf. XIII, 35, 50 – 37, 52 (vgl. oben Anm. 329) vertretene Schema der sieben Tage in Civ. XXII, 30 um einen achten, ewigen Tag zu erweitern, in den der siebte übergeht: haec tamen septima erit sabbatum nostrum, cuius finis non erit vespera, sed dominicus dies velut octavus aeternus, qui Christi resurrectione sacratus est, aeternam non solum spiritus, verum etiam corporis requiem praefigurans. Ibi vacabimus et videbimus, videbimus et amabimus, amabimus et laudabimus. Ecce quod erit in fine sine fine (Civ. XXII, 30 [CC.SL 48, 866, Z. 142–147]). Vgl. (auch für das Folgende) O’DALY, Aeternitas, hier besonders 159, sowie QUINN, Eternity. Z. B. für Gott (Sermo 261, 4, 4 [PL 38, 1204]: [Deus] fecit temporalia sempiternus; fecit mutabilia, qui nescit mutari; Trin. V, 1, 2 [CC.SL 50, 207, Z. 42–44]: [Deum] sine tempore sempiternum, sine ulla sui mutatione mutabilia facientem); für die ewigen Urgründe der Dinge (sempiternae rationes) in Conf. I, 6, 9 [CC.SL 27, 5, Z. 37–40], für das ewige Leben (sempiterna vita) in Conf. IX,
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spielraum (insbesondere sowohl für das göttliche Sein als auch für geschöpfliche Wirklichkeiten) verwendet werden. Im Rahmen der bereits beschriebenen Absetzung der (hier in einem weiten Sinn zu verstehenden) Zeitlichkeit der Geschöpfe von der Ewigkeit Gottes kann semper von aeternus abgesetzt werden, indem sich semper auf die nicht anfangslose Dauer der Schöpfung bezieht und aeternus auf die dieser verursachend vorausliegende Ewigkeit Gottes.338 Das Bedeutungsspektrum von aevum schließlich entspricht ziemlich genau dem griechischen αἰών,339 obwohl der biblische Terminus nicht mit aevum, sondern abwechselnd entweder mit aeternitas oder mit saeculum übersetzt wurde.340 In diesem Sinn kann aevum zunächst sowohl das Leben341 wie das Lebensalter342 bedeuten (hier ergibt sich zudem eine Bedeutungsüberschneidung mit aetas);343 für die Bedeutung im Sinn von „ewig“ gibt es bei Augustinus nur zwei eindeutige Belege, wobei beide Male die (von da wohl in die mittelalterlichen Diskussionen übernommene) Eigenschaft der stabilitas im Gegensatz zur Veränderlichkeit (mutabilitas) der Zeit betont wird.344
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10, 25 [CC.SL 27, 148, Z. 48] oder Civ. X, 14 [CC.SL 47, 288, Z. 26], ebenso für die ewige Seligkeit (sempiterna felicitas) Civ. XXII, 30 [CC.SL 48, 862, Z. 9], aber auch für den ewigen Tod und die ewigen (Höllen-)Strafen (Civ. XXI, 3.4 [CC.SL 48, 760, Z. 28; 761, Z. 9]). – QUINN, Eternity, 318a wies darauf hin, dass sempiternus auch so viel wie „ohne Ende“ bedeuten kann, doch dadurch wird kein Unterschied zur Bedeutung von aeternus konstituiert (aeternus erscheint in diesem Sinn etwa ausdrücklich in Civ. XXII, 1, (zitiert unten S. 152, Anm. 347), vielmehr ist beides hier als Gegensatz zu temporalis (im Sinn von zeitlich begrenzt) zu verstehen. Z. B. Io. ev. tr. 1, 8 [CC.SL 36, 5, Z. 31f.]: … quando cogitas [Deum esse] quamdam substantiam vivam, perpetuam, omnipotentem, infinitam …; Civ. XII, 16 [CC.SL 48, 372, Z. 96f.]: [Deus creaturam] manente perpetuitate praecedens; ebd. XXI, 23 [CC.SL 48, 788, Z. 45–47]: [supplicium aeternum et vita aeterna] aut utrumque cum fine diuturnum aut utrumque sine fine perpetuum debet intellegi. Ag. chr. 26, 28 [BA 1, 418]: beatitudo perpetua … miseria perpetua; Conf. XI, 2, 3 [CC.SL 27, 195, Z. 35f.]: … usque ad regnum tecum perpetuum sanctae civitatis tuae. Civ. XII, 16 [CC.SL 48, 371, Z. 31–33] hieß es zur Frage, ob die Engel – obwohl nicht gleichewig (coaeternus) mit Gott – immer existiert haben: Quo modo non semper, cum id, quod est omni tempore, non inconvenienter semper esse dicatur? – Semper kann außerdem auch in nicht-zeitlicher Bedeutung verwendet werden („immer“ im Sinn von „in jedem Fall“), vgl. Civ. XII, 13 [CC.SL 48, 367, Z. 44]. – Zum Verhältnis von Zeitlichkeit und Ewigkeit vgl. oben S. 132 mit Anm. 228. Siehe oben ab S. 110 und unten S. 293. Vgl. oben S. 145, Anm. 306. So in Trin. XIV, 9, 12 [CC.SL 50a, 438, Z. 10f.] (wenn auch innerhalb eines Cicero-Zitates): Si nobis, inquit, cum ex hac vita migraverimus, in beatorum insulis immortale aevum, ut fabulae ferunt, degere liceret, … Etwa in Civ. XXII, 8 [CC.SL 48, 822, Z. 286f.]; das Adjektiv coaevus kann sowohl „gleichalt“ (Conf. IV, 4, 7 [CC.SL 27, 43, Z. 3]) wie „gleichewig“ (Gen. adv. Man. I, 2, 4 [CSEL 91, 70, Z. 3– 5]) bedeuten. Vgl. Bernhard KÖTTING / Wilhelm GEERLINGS, Aetas, in: Cornelius P. Mayer (Hrsg.), AugustinusLexikon, Bd. 1, Basel u. a. 1994, 150–158, hier 150. Sol. I, 4 [CSEL 89, 8, Z. 9–13]: Deus, cuius legibus in aevo stantibus motus instabilis rerum mutabilium perturbatus esse non sinitur frenisque circumeuntium saeculorum semper ad similitudinem
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Nach diesem kurzen Blick auf das Vokabular kann nun der Begriffsinhalt von aeternus geklärt werden. Dabei zeichnen sich drei Verwendungsweisen ab: Erstens und im eigentlichen Sinn ist aeternus ein Attribut Gottes oder der göttlichen Personen.345 In einem zweiten, vom ersten deutlich unterschiedenen Sinn346 können auch geschaffene Wirklichkeiten ewig genannt werden. Schließlich kann aeternus in einem uneigentlichen Gebrauch auch einen langen, aber endlichen Zeitraum bezeichnen und ist dann gleichbedeutend mit diuturnus.347 Interessant sind vor allem die ersten beiden Bedeutungen. Bevor wir uns der Ewigkeit Gottes als dem Hauptthema dieses Abschnittes zuwenden, sollen – bereits Gesagtes zusammenfassend – noch einige Worte über die zweite Bedeutung von aeternus gesagt werden. Diese „geschaffene Ewigkeit“ (um einen späteren Ausdruck zu gebrauchen)348 ist nur aufgrund der Teilhabe an der Ewigkeit Gottes als ewig zu begreifen,349 denn an sich schließen sich Geschöpflichkeit und Ewigkeit aus.350 Die Intention dieser Unterscheidung lag darin, sich dem manichäischen Prinzipiendualismus entgegenzusetzen, vor allem im Hinblick auf ein gleichewiges böses Prinzip.351 Anders gesagt, die göttliche und die geschaffene Ewigkeit unterscheiden sich
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stabilitatis revocatur. , cuius legibus arbitrium animae liberum est …, sowie sehr prägnant in Div. qu. 72 [CC.SL 44a, 208, Z. 8–10] zu dem Ausdruck tempora aeterna aus Tit. 1, 2: An aeterna tempora aevum significavit, inter quod et tempus hoc distat, quod illud stabile est, tempus autem mutabile. – Als Eigenschaft Gottes wurde stabilis z. B. in Conf. I, 4, 4 [CC.SL 27, 2, Z. 5] aufgeführt. Die Verbindung von aevum und aeternitas zeigt sich, wenn man an die Charakterisierung der Ewigkeit als semper stans aeternitas (Conf. XI, 11, 13 [CC.SL 27, 201, Z. 6]) denkt. Vgl. z. B. nur Conf. XI, 1, 1 [CC.SL 27, 194, Z. 1] (tua sit aeternitas); XII, 11, 11 [CC.SL 27, 221, Z. 2] (quia tu aeternus es); XII, 15, 18 [CC.SL 27, 224f., Z. 8f.] (deus autem noster aeternus est). Vgl. Gen. adv. Man. I, 2, 4 [CSEL 91, 70, Z. 3–5]: non enim coaevum deo mundum istum dicimus, quia non eius aeternitatis est hic mundus, cuius aeternitatis est Deus. Vgl. hierfür z. B. Civ. XXII, 1 [CC.SL 48, 805f., Z. 2–12], wo zugleich verschiedene Auffassungen von aeternus diskutiert wurden: … de civitatis Dei aeterna beatitudine continebit, quae non propter aetatis per multa saecula longitudinem tamen quandocumque finiendam aeternitatis nomen accepit, sed quem ad modum scriptum est in evangelio, regni eius non erit finis; nec ita ut aliis moriendo decedentibus, aliis succedentibus oriendo species in ea perpetuitatis appareat, sicut in arbore, quae perenni fronde vestitur, eadem videtur viriditas permanere, dum labentibus et cadentibus foliis subinde alia, quae nascuntur, faciem conservant opacitatis; sed omnes in ea cives inmortales erunt, adipiscentibus et hominibus, quod numquam sancti angeli perdiderunt. Ähnlich auch En. Ps. 101, 2, 10 [CC.SL 40, 1446, Z. 61–68]. Vgl. etwa BONAVENTURA, II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56b]. Die geistigen Kreaturen sind particeps aeternitatis oder secundum modum suum aeterna, vgl. oben S. 132, Anm. 226. Vgl. Conf. VII, 15, 21 [CC.SL 27, 106, Z. 6] (qui solus aeternus es), entsprechend ist kein Geschöpf gleichewig (coaeternus) mit Gott, vgl. oben S. 132, Anm. 228 sowie S. 146, Anm. 311. Vgl. z. B. C. Iul. I, 5, 17 [PL 44, 651]: Dictum est enim adversus Manichaeos, putantes atque affirmantes, de gente tenebrarum, quam malam naturam dicunt Deo bono coaeternam, habere originem corpora, et esse etiam ipsa immutabilia mala. Vgl. auch ebd. I, 8, 36.38; 9, 42; V, 6, 24 [PL 44, 666.667.670.799]. – Ähnlich machte Augustinus in Conf. XII, 12, 15 [CC.SL 27, 223, Z. 3f.]
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eben darin, dass letztere immer einen durch die Schöpfung aus dem Nichts gegebenen Anfang besitzt,352 während erstere als Ursache allem Geschaffenen vorausliegt.353 Die Gemeinsamkeit der beiden ersten Bedeutungen von aeternus besteht im Hinblick auf das Ende, das in beiden Fällen fehlt.354 Für Engel und Menschen sind darin zwei – ebenfalls von der ungeschaffenen Ewigkeit abgeleitete – Aspekte mitbedeutet: zum einen die Negation der Vergänglichkeit (immortalis, incorruptibilis), zum anderen die Negation der Veränderung (mutatio).355 Auch hier bleibt ein Unterschied zwischen der geschaffenen und ungeschaffenen „Endlosigkeit“ bestehen. Er zeigt sich in dem nur im Lateinischen möglichen Wortspiel, dass Gott in seiner „Endlosigkeit“ zugleich das „Ende“, das heißt Ziel (finis), der Kreatur ist.356 Wie aber sieht Augustinus die Ewigkeit Gottes, von der nun schon so viel gesprochen wurde? Die Unmöglichkeit das Wesen Gottes zu begreifen,357 erlegt diesem Ansinnen
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darauf aufmerksam, dass weder die geschaffene geistige Natur, noch die ungeformte materia – obwohl zeitfrei (carens temporibus) – gleichewig mit Gott ist. Vgl. noch einmal Conf. XII, 15, 19 [CC.SL 27, 225, Z. 30f.]: Nec tamen tibi coaeterna, quoniam non sine initio: facta est enim. Umgekehrt C. Iul. I, 8, 36 [PL 44, 666]: … catholica fides, Dei tantummodo sine initio naturam praedicat. Vgl. das ea, quae ante sunt (Conf. IX, 10, 23; XI, 29, 39; 30, 40 [CC.SL 27, 147, Z. 8; 214, Z. 6f.; 215, Z. 10]), in diesem Sinn (und zur Abwehr eines zeitlichen Verständnisses des ante) hieß es von Gott auch, er sei ante omnia tempora (z. B. Gen. litt. V, 16, 34 [BA 48, 420]; Conf. XI, 13, 16 [CC.SL 27, 202, Z. 26f.]). Für Gott vgl. Trin. XV, 5, 7 [CC.SL 50a, 469, Z. 29–31]: Ipsa est etiam vera aeternitas qua est immutabilis deus sine initio, sine fine, consequenter et incorruptibilis. Im Bezug auf die ewige Seligkeit des Menschen vgl. z. B. En. Ps. 101, 2, 8 [CC.SL 40, 1443, Z. 27f.]: Non a te quaero illos dies aeternos: illi sine fine sunt, ubi ero. – Sermo 254, 6, 8 [PL 38, 1185]: Videbimus, amabimus, laudabimus. Nec quod videbimus deficiet, nec quod amabimus peribit, nec quod laudabimus tacebit; sempiternum totum erit, sine fine erit. – Civ. X, 31 [CC.SL 47, 309, Z. 25–29]: Illa igitur omnis argumentatio dissoluta est, qua putatur nihil esse posse sine fine temporis, nisi quod initium non habet temporis. Inventa est enim animae beatitudo, quae cum initium temporis habuerit, finem temporis non habebit. Genauer müsste man sagen: Die Ewigkeit Gottes ist nicht nur unbewegt (immutatum), sondern auch unbeweglich (immutabilis) – bei der der Kreatur eigenen Ewigkeit wird nur die erstere Bestimmung aufgehoben (vgl. oben S. 129 und S. 128 mit Anm. 206), wobei gleichzeitig nachzufragen ist, wie weit die Negation der Veränderung für eine geschöpfliche Wirklichkeit bei Augustinus tatsächlich geht oder gehen kann (siehe oben S. 140). Vgl. Civ. XXII, 30 [CC.SL 48, 863, Z. 33–35]: Ipse finis erit desideriorum nostrorum, qui sine fine videbitur, sine fastidio amabitur, sine fatigatione laudabitur. – Ebd. [CC.SL 48, 866, Z. 147f.]: Ecce quod erit in fine sine fine. Nam quis alius noster est finis nisi pervenire ad regnum, cuius nullus est finis? Vgl. oben S. 14, Anm. 2; in Trin. IV, 20, 28 [CC.SL 50, 198f.] wurde daraus ein Grund für die Inkarnation gewonnen, in diesem Zusammenhang hieß es dann Z. 87–89: Quia et nos secundum quod mente aliquid aeternum quantum possumus capimus, non in hoc mundo sumus …
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
von vorneherein Grenzen auf.358 Da es unmöglich erscheint, den positiven Gehalt von aeternitas als „totale Seins- und Wertfülle“359 adäquat zu erfassen, wird man sich ihrer Bedeutung zunächst durch Negationen annähern, die aus der Abgrenzung gegen die Zeitlichkeit gewonnen werden. Erschwert wird dieser Zugang dadurch, dass nicht eindeutig auszumachen ist, ob und inwieweit Augustinus vermittelnde Zwischenstufen zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit annahm; die Konzeption in den Confessiones legt dies nahe, wenn dort von zeitfreien (carens temporibus) oder überzeitlichen (supra tempora), aber nicht ewigen (aeterna) Entitäten die Rede ist; andere Darstellungen, etwa in De civitate Dei, insinuieren dagegen einen kontradiktorischen Gegensatz von Zeit und Ewigkeit.360 Unabhängig davon ist jedoch klar, dass dem Ewigen die Trichotomie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in jeder Hinsicht fremd ist;361 es kennt weder ein Gewesen-Sein, noch ein Wird-Sein, sondern nur das Sein schlechthin, was für Augustinus auch in der Offenbarung des Gottesnamens als Sum qui sum oder Qui est (Ex. 3, 14) zum Ausdruck kommt.362 „Ewigkeit“ ist damit – wie das Sein selbst – als Gegenwart (praesens) zu verstehen.363 In diesem Gegenwärtig-Sein ist unter anderem beinhaltet, dass das Ewige ein ausdehnungsloses, unteilbares Ganzes darstellt.364 Während jedoch die zeitliche Gegenwart ständig verfliegt (transvolat) und niemals still-
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Nachdem Augustinus auf die Unvergleichbarkeit von Zeit und Ewigkeit hingewiesen hatte (vgl. oben S. 115, Anm. 125) bekannte er Conf. XI, 11, 13 [CC.SL 27, 201, Z. 16f.]: Numquid manus mea valet hoc aut manus oris mei per loquellas agit tam grandem rem? ECHTERNACH, Ewigkeit, 840. Man denke etwa an Civ. XII, 16 [CC.SL 48, 370–373, bes. Z. 88f.], wo den Engeln eine zeitliche Bewegung zugeschrieben wurde, siehe oben S. 148, Anm. 326; auch Div. qu. 19 [CC.SL 44a, 24, Z. 2–4] (Quod imcommutabile est aeternum est; … Quod autem commutabile est tempori obnoxium est) kannte keine Zwischenstufen. Vgl. z. B. Conf. IX, 10, 24 [CC.SL 27, 147, Z. 26f.]: … nam fuisse et futurum esse non est aeternum oder ebd. XI, 11, 13 [CC.SL 27, 201, Z. 15f.]: … nec futura nec praeterita aeternitas. Ferner Io. ev. tr. 38, 10 [CC.SL 36, 43, Z. 40–44]: in veritate quae manet praeteritum et futurum non invenio, sed solum praesens, et hoc incorruptibiliter, quod in creatura non est. Discute rerum mutationes, invenies fuit et erit; cogita deum, invenies est, ubi fuit et erit esse non possit. Sowie Div. qu. 19 [CC.SL44a, 24, Z. 15–18]: Aeternum enim, cum proprie dicitur, neque quidquam praeteritum quasi transierit, neque quidquam futurum quasi nondum sit, sed quidquid est tantummodo est. Ähnlich En. Ps. 101, 2, 10 [CC.SL 40, 1445, Z. 27–31]. Vgl. etwa Gen. litt. V, 16, 34 [BA 48, 420] (zitiert unten S. 157, Anm. 381) oder Trin. I, 1, 2; V, 2, 3 [CC.SL 50, 29, Z. 57; 208, Z. 6f.], ferner Sermo 6, 3, 4 (zitiert unten Anm. 366). Interessanterweise wird dabei das alle Zeitstufen vereinigende Dominus Deus qui est et qui erat et qui venturus est aus Apc. 1, 8 zwar für die rationes aeternae geltend gemacht (Trin. XII, 14, 23 [CC.SL 50, 376, Z. 46–48]: et propter eam aeternitatem in qua sunt et fuisse et esse et futura esse dicuntur sine ulla mutabilitate temporum), aber für Gott selbst – soweit ich sehe – nicht aufgenommen. Vgl. Conf. XI, 11, 13 [CC.SL 27, 201, Z. 9f.] (non autem praeterire quidquam in aeterno, sed totum esse praesens) sowie erneut S. 115 mit Anm. 125 und S. 116 mit Anm. 133. So der Gedankengang von Conf. XI, 15, 18 – 15, 20, vgl. oben S. 116, Anm. 129.
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steht,365 ist es das Bleiben (manere)366 oder Stehen (stare, stabilis esse),367 das die ewige Gegenwart auszeichnet. Und weiter bedeutet es, dass sich die aeternitas Gottes ohne jede Sukzession vollzieht; ihr semel, simul et semper368 ist nicht ein sich ohne Ende wiederholendes „Täglich“, sondern ein bleibendes „Heute“.369 Dementsprechend schließlich besitzt Gott das Wissen um seine Schöpfung und den Lauf der Zeiten nicht auf die zeitliche Weise des Vorauswissens der Zukunft und des Erinnerns der Vergangenheit, sondern alles steht vor ihm in einer einzigen ungeteilten Gegenwart.370 Blickt man auf die übrigen, die Zeitlichkeit verneinenden Attribute der Ewigkeit, wie unsterblich (immortalis), unvergänglich (incorruptibilis) und unveränderlich (in[com]mutabilis),371 so zeigt sich auch hier hinter den formalen Negationen der eminent positive Gehalt des Ewigkeitsbegriffs. Die Unsterblichkeit (immortalitas) Gottes ist so nur ein anderer Ausdruck für sein Leben,372 ein Leben, das die höchste Form des Lebens darstellt, weil es sich selbst besitzt und Quelle des Lebens für alles andere Lebendige ist;373 und mehr noch, alles, was in ihm ist, ist selbst Leben – gedacht ist dabei einerseits an die göttlichen Personen, besonders den Sohn als Wort und Weisheit Gottes, andererseits an die rationes aeternae alles geschaffenen Seins.374 Man denkt hier fast unmit365
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Vgl. Conf. XI, 15, 20 [CC. SL 27, 204, Z. 51]: … raptim a futuro in praeteritum transvolat. Die Zeiten insgesamt sind deshalb flüchtig (volubilis), siehe Conf. XII, 9, 9 [CC.SL 27, 221, Z. 8]. Vgl. auch oben S. 115, Anm. 125. Vgl. z. B. Div. qu. 19 [CC.SL 44a, 24, Z. 5f.] (Quod enim mutatur non manet; quod non manet non est aeternum) oder Conf. IV, 11, 16 (zitiert oben S. 131, Anm. 223); Sermo 6, 3, 4 [PL 38, 61] hieß es in Bezug auf den Gottesnamen: Quid est, «Est» vocor? Quia maneo in aeternum, quia mutari non possum. Ea enim quae mutantur, non sunt, quia non permanent. Quod enim est, manet. Vgl. oben S. 151, Anm. 344. In Conf. XII, 15, 18 [CC.SL 27, 224, Z. 5] wurde der göttliche Wille als ewiger mit diesen Attributen belegt. Vgl. Conf. XI, 13, 15 [CC.SL 27, 202, Z. 20–25] an Gott gerichtet: Anni tui omnes simul stant. … Anni tui dies unus, et dies tuus non cotidie, sed hodie, quia hodiernus tuus non cedit crastino; neque enim succedit hesterno. Vgl. oben S. 144 mit Anm. 301, ähnlich Div. qu. 17 [CC.SL 44a, 22, Z. 3–5]: Apud Deum autem nihil deest, nec praeteritum igitur nec futurum, sed omne praesens est apud Deum. Von den vielen möglichen Belegen sei hier nur Trin. XV, 5, 7 [CC.SL 50a, 469, Z. 31–33] angeführt: Una ergo eademque res dicitur sive dicatur aeternus deus sive immortalis sive incorruptibilis sive immutabilis … Vgl. Div. qu. 19 [CC.SL 44a, 24, Z. 7]: omne aeternum immortale est. Vgl. (z. B.) Io. ev. tr. 48, 6 [CC.SL 36, 416, Z. 42f.]: … sic habet vitam, ut sit ipse vita faciatque viventes. Hoc est quod maius est omnibus; sowie Conf. III, 6, 10 [CC.SL 27, 32, Z. 42f.]: … sed tu vita es animarum, vita vitarum, vivens te ipsa et non mutaris, vita animae meae; ferner ebd. X, 6, 10 [CC.SL 27, 160, Z. 60]: Deus autem tuus etiam tibi vitae vita est; und Vera rel. 11, 21 [CC.SL 32, 200, Z. 1f.]: … quia deus utique summa vita est et ipse fons vitae. Den Unterschied zwischen dem ewigen Leben Gottes und dem der geistigen Geschöpfe betonte etwa Trin. I, 6, 10 [CC.SL 50, 39, Z. 27–36]. Sehr prägnant etwa in Gen. litt. II, 6, 12 [BA 48, 164]: … haec ipsa dictio verbum est patris, unigenitus filius, in quo sunt omnia, quae creantur, etiam antequam creantur, et quidquid in illo
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
telbar auch an die berühmte Definition des Boethius der Ewigkeit als Besitz des Lebens, deren gemeinsame Quelle – ob unmittelbare, sei dahingestellt – Plotins Enneade III, 7 sein dürfte, in der die Ewigkeit als das Leben des Seins dargestellt wurde (während die Zeit das Leben der Seele ist).375 Sowohl Augustinus wie Plotin betonten dabei den Zusammenhang dieses Lebens mit dem Denken,376 wobei diese höchste Form des Denkens – anders als das diskursive Denken, das eine Bewegung vom einen zum anderen darstellt – ohne jede Veränderung im Selben verharrt.377 Damit aber ist man bei der immutabilitas als weiterem Kennzeichen der aeternitas angelangt. Wenn Augustinus auch bisweilen schwankte, ob immortalitas und aeternitas koextensiv gebraucht werden, so waren ihm die Begriffe Ewigkeit und Unveränderlich-
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est, vita est; quia quidquid per eum factum est, in ipso vita est, et vita utique creatrix, sub illo autem creatura? Aliter ergo in illo sunt ea, quae per illum facta sunt, quia regit et continet ea; aliter autem in illo sunt ea, quae ipse est. Ipse enim vita est, quae ita in illo est, ut ipse sit … Vgl. ferner besonders Io. ev. tr. 1, 16f. [CC.SL 36, 9f.] unter dem schönen Bild der göttlichen Kunst (ars) und auch Conf. I, 6, 9 [CC.SL 27, 5, Z. 40] (beides siehe oben S. 144, Anm. 300). So das Fazit von Enn. III, 7, 3 [PhB 214a, 312, Z. 36–38]: γίνεται τοίνυν ἡ περὶ τὸ ὂν ἐν τῷ εἶναι ζωὴ ὁµοῦ πᾶσα καὶ πλήρης ἀδιάστατος πανταχῇ τοῦτο, ὃ δὴ ζητοῦµεν, αἰών. – Zur Zeit als Leben der Seele vgl. Enn. III, 7, 11 [PhB 214a, 338, Z. 43f.]: … χρόνον … ψυχῆς ἐν κινήσει µεταβατικῇ ἐξ ἄλλου εἰς ἄλλον βίον ζωὴν εἶναι. Es ist die klassische neuplatonische Triade von Sein, Leben und Denken; über deren Zusammenhang mit dem Ewigkeitsbegriff handelte Werner BEIERWALTES, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Plotin. Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7) (= Quellen der Philosophie 3), Frankfurt am Main 1967, 7–88, hier 39–43 (besonders 40). Für Augustinus vgl. etwa Trin. VI, 10, 11 [CC.SL 50, 241, Z. 16–22]: ubi est prima et summa vita cui non est aliud vivere et aliud esse, sed idem et esse et vivere, et primus ac summus intellectus cui non est aliud vivere et aliud intelligere, sed id quod est intelligere, hoc vivere, hoc esse est, unum omnia tamquam verbum perfectum cui non desit aliquid et ars quaedam omnipotentis atque sapientis dei … Für Plotin vgl. Enn. III, 7, 3 [PhB 214a, 310, Z. 16–18]: … ζωὴν µένουσαν ἐν τῷ αὐτῷ ἀεὶ παρὸν τὸ πᾶν ἔχουσαν, ἀλλ’ οὐ νῦν µὲν τόδε, αὖθις δ’ ἕτερον, ἀλλ’ ἅµα τὰ πάντα, καὶ οὐ νῦν µὲν ἕτερα, αὖθις δ’ ἕτερα, αλλὰ τέλος ἀµερές … – Was das Problem angeht, Leben und Denken mit Unveränderlichkeit des Seins zusammenzubringen, so wies BEIERWALTES, Einleitung, 39 auf die Dialektik hin, die in der „unscheidbaren Einheit von Sein, Bewegung, Ständigkeit, Andersheit und Selbigkeit“ die Dynamik der Ewigkeit ausmacht. In der Vorstellung Plotins war dieses Leben und Denken eine Bewegung, die sich „in und durch Ständigkeit“ vollzieht (ebd., 40). Für Augustinus boten solche Überlegungen eine Steilvorlage zur Entfaltung seiner Trinitätstheologie (insbesondere des Verhältnisses von Vater und Sohn); vgl. etwa Trin. XV, 14, 23 [CC.SL 50a, 496f., Z. 24–31]: Sciunt ergo invicem pater et filius, sed ille gignendo, ille nascendo. Et omnia quae sunt in eorum scientia, in eorum sapientia, in eorum essentia unusquisque eorum simul videt, non particulatim aut singillatim velut alternante conspectu hinc illuc et inde huc et rursus inde vel inde in aliud atque aliud ut aliqua videre non possit nisi non videns alia, sed ut dixi simul omnia videt quorum nullum est quod non semper videt. – Die incommutabilitas des Lebens Gottes wurde etwa Trin. I, 12, 26; II, 1, 3; III, 8, 15 [CC.SL 50, 66, Z. 115f.; 83, Z. 45; 143, Z. 113] und öfter herausgestellt; die Verbindung von immortalitas und incommutabilitas betonte Trin. XV, 5, 7 [CC.SL 50a, 469, Z. 27–29].
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keit jedenfalls austauschbar;378 insbesondere verwendete er sie gerne zur Unterscheidung der geschöpflichen und der ungeschaffenen Ewigkeit,379 denn das kontingente Sein kann auch dann, wenn es keine reale Veränderung aufweist, nicht dieselbe reine Aktualität besitzen wie das göttliche Sein. – Der in der immutabilitas erkennbare positive Gehalt, lässt sich als Selbstidentität380 fassen, die ihrerseits in der Selbsthabe gründet:381 Denn Gott bleibt nicht nur stets derselbe, während die zeitliche Kreatur in ihren Bewegungen je eine andere wird,382 sondern – weil er das Sein in sich hat – leidet er auch nicht wie das sich wandelnde geschaffene Sein an der Diastase von Wesen und Sein, von Essenz und Existenz, die ja ein mögliches Nicht-Sein und damit ein Nichtmit-sich-selbst-identisch-Sein bedeutet. Auf der (onto)logischen Ebene folgerte Augustinus dann aus der immutabilitas den Satz, dass alle von Gott ausgesagten Qualitäten in die Kategorie der Substanz oder der Relation fallen müssen,383 denn im Begriff des „Akzidens“ ist bereits die Möglichkeit des Verlustes und damit der Veränderung des
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So Div. qu. 19 [CC.SL 44a, 24], wo die menschliche Seele als immortalis, aber eben nicht als aeterna erkannt wurde; anders in Trin. XV, 5, 7 [CC.SL 50a, 469, Z. 28–31] (und öfter in Trin.), wo die vera immortalitas ihrerseits mit der incommutabilitas (und damit mit der aeternitas) gleichgesetzt wurde; vgl. das sich anschließende Fazit oben S. 155, Anm. 371. Vgl. oben S. 153, Anm. 355; zur mutabilitas der Geschöpfe vgl. vor allem S. 129, Anm. 215 und S. 128 mit Anm. 206. Vgl. auch Trin. V, 2, 3 [CC.SL 50, 208, Z. 12–17], wo die Verbindung mit dem Seinsbegriff betont wird: Quod enim mutatur non servat ipsum esse, et quod mutari potest, etiamsi non mutetur potest quod fuerat non esse, ac per hoc illud solum quod non tantum non mutatur verum etiam mutari omnino non potest sine scrupulo occurrit quod verissime dicatur esse. Vgl. auch Trin. I, 1, 1.2; II, 8, 14 [CC.SL 50, 27, Z. 12f.; 29, Z. 62–64; 99, Z. 12f.] und öfter. Vgl. das Tu autem idem ipse es aus Ps. 101 (102), 28, das Augustinus etwa in Conf. XI, 13, 16; XII, 11, 13; XIII, 18, 22 [CC.SL 27, 202, Z. 18f.; 222, Z. 33; 254, Z. 23] hierzu anführte. Vgl. ferner Div. qu. 19 [CC.SL 44a, 24, Z. 9f.]: … tamen si mutabilitatem patiatur, non proprie aeternum appellatur, quia non semper eiusdem modi est. Vgl. Gen. litt. V, 16, 34 [BA 48, 420]: Quamvis ergo illa aeterna incommutabilisque natura, quod Deus est, habens in se, ut sit, sicut Moysi dictum est [Ex. 3, 14]: «Ego sum qui sum», longe scilicet aliter, quam sunt ista, quae facta sunt, quoniam illud vere ac primitus est, quod eodem modo semper est nec solum non commutatur, sed commutari omnino non potest, nihil horum, quae fecit, existens et omnia primitus habens, sicut ipse est. Vgl. Civ. XI, 6 [CC.SL 48, 326, Z. 5–8]: … cuius [scil. creaturae] motionis et mutationis cum aliud atque aliud, quae simul esse non possunt, cedit atque succedit, … tempus sequeretur; oder Gen. litt. V, 5, 12 [BA 48, 390]: … cum sit [scil. tempus] creaturae motus ex alio in aliud … Und andererseits etwa Conf. VII, 20 26 [CC.SL 27, 109, Z. 6f.] über Gott: … vere te esse, qui semper idem ipse esses, ex nulla parte nulloque motu alter aut aliter; sowie Trin. XV, 14, 23 (zitiert oben S. 156, Anm. 377). Vgl. Trin. V, 5, 6 [CC.SL 50, 210, Z. 3f.]; man beachte, dass Augustinus im Rahmen seiner Trinitätsspekulation die Kategorie Relation nicht zu den Akzidenzien zählte. – Zum Zusammenfall von Substanz und Qualität vgl. z. B. auch Civ. XI, 10 [CC.SL 48, 330–332, bes. Z. 68–70]: Secundum hoc ergo dicuntur illa simplicia, quae principaliter vereque divina sunt, quod non aliud est in eis qualitas, aliud substantia …
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Subjektes, dem es inhäriert, enthalten.384 Daraus wiederum ergab sich schließlich, dass auch die Ewigkeit selbst als die Substanz Gottes aufzufassen ist, denn der Zusammenfall von Substanz und (nicht-relationalen) Eigenschaften Gottes gilt auch für sie.385 Wurde bis hierher Gottes Ewigkeit in sich betrachtet, so soll abschließend ihr Verhältnis zur Schöpfung thematisiert werden. Dabei ist zunächst festzustellen, dass Augustinus sehr stark die Transzendenz der Ewigkeit gegenüber der Zeit und der Schöpfung allgemein betonte:386 Als in die Reihe jener Begriffe gehörend, die das Wesen Gottes beschreiben,387 ist die Ewigkeit in ihrer zeitlosen Selbstpräsenz in keiner Weise von der Zeit oder den der Zeit unterworfenen Geschöpfen abhängig, während umgekehrt die Zeit als Abbild der Ewigkeit bleibend auf diese bezogen und von ihr abhängig ist, was sich nicht zuletzt im Konzept der creatio continua zeigt.388 Ist Letzteres bereits ein Beleg dafür, dass Augustinus sich nicht einen Gott vorstellte, der sich selbstgenügsam-deistisch von seiner Schöpfung zurückzieht, so gibt es noch weitere Weisen, wie sich die aeternitas auf die Zeit bezieht: Gottes Leben als Denken besteht nicht allein darin, dass es sich selbst denkt,389 in den rationes aeternae, den „transzendenten Formalprinzipien aller geschaffenen Erscheinungen“390 ist ihm vielmehr die gesamte Schöpfung auf nicht-zeitliche Weise präsent. Inniger noch verbindet sich Ewigkeit mit der Zeit in der Inkarnation des Sohnes391 und in der Sendung (missio) des 384
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Vgl. Trin. V, 4, 5 [CC.SL 50, 209, Z. 1–17]: Accidens autem dici non solet nisi quod aliqua mutatione eius rei cui accidit amitti potest. Nam etsi quaedam dicuntur accidentia inseparabilia, … sicuti est plumae corvi color niger; amittit eum tamen, non quidem quamdiu pluma est, sed quia non semper est pluma. … Nihil itaque accidens in deo, quia nihil mutabile aut amissibile. En. Ps. 101, 2, 10 [CC.SL 40, 1445, Z. 27–29]: aeternitas, ipsa Dei substantia est; quae nihil habet mutabile; ibi nihil est praeteritum, quasi iam non sit; nihil est futurum, quasi nondum sit. Non est ibi nisi: Est. Siehe etwa auch Trin. XV, 5, 8 [CC.SL 50a, 470, Z. 45–52]. Vgl. dazu auch QUINN, Eternity, 318b sowie KIENZLER, Gott in der Zeit berühren, 281. Z. B. in Conf. XI, 13, 16 [CC.SL 27, 202, Z. 15–17]: Nec tu tempore tempora praecedis: alioquin non omnia tempora praecederes. Sed praecedis omnia praeterita celsitudine semper praesentis aeternitatis et superas omnia futura … Vgl. z. B. die Aufzählung Trin. XV, 5, 8 [CC.SL 50a, 470, Z. 45–47]: Aeternus, immortalis, incorruptibilis, immutabilis, vivus, sapiens, potens, speciosus, iustus, bonus, beatus, spiritus. Vgl. Gen. litt. IV, 11, 21 – 12, 22, besonders 12, 22 [BA 48, 308]: Creatoris namque potentia et omnipotentis atque omnitenentis virtus causa subsistendi est omni creaturae: quae virtus ab eis, quae creata sunt, regendis si aliquando cessaret, simul et illorum cessaret species omnisque natura concideret. Neque enim, sicut structor aedium, cum fabricaverit, abscedit, atque illo cessante atque abscedente stat opus eius, ita mundus vel ictu oculi stare poterit, si ei Deus regimen sui subtraxerit. Ein Vorwurf, den etwa Bonaventura zu Recht Aristoteles und seinem Konzept des höchsten Wesens als νόησις νοήσεως machte (vgl. Metaphysica XII (Λ), 9 [1074b 15 – 1075a 11] bzw. Hex. I, 3 (6), 2f. [Ed. Delorme, 91]). O’DALY, Aeternitas, 161 (eigene Übs.); zu den rationes aeternae vgl. auch oben S. 144 mit Anm. 301. Vgl. z. B. En. Ps. 101, 2, 10 (zitiert oben S. 140, Anm. 277) sowie die auf S. 137, Anm. 259 zitierten Stellen.
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Heiligen Geistes;392 die Zuwendung des Ewigen zum Zeitlichen – die vom Geschöpf aus gesehen ihren höchsten Ausdruck in der Schau Gottes findet – bedeutet dabei stets zugleich eine in Gnade geschenkte „Verewigung“ des Zeitlichen.393 Doch wie sieht die umgekehrte Relation der Zeit zur Ewigkeit aus? Gibt es nicht nur in der Vollendung, sondern bereits im gegenwärtigen Zustand des Menschen eine Brücke aus der Zeit in die Ewigkeit? Dass der Mensch Gott hier und jetzt nicht zur Gänze erfassen kann,394 dass sein vom Strom der Zeiten mitgerissenes Herz nichts hat, womit es die stehende Ewigkeit in Beziehung setzen und sie so begreifen könnte,395 wurde bereits gesagt. Die Gegenwart der Ewigkeit mag so für ihn eine verborgene Gegenwart sein;396 und doch kann er mit seinem Geist etwas davon erfassen,397 indem er sich auf das Gute und das Wahre ausrichtet. Es ist die Wahrheit selbst, die sich Augustinus im Rahmen seiner Illuminationslehre als ein über dem veränderlichen menschlichen Geist stehendes unveränderliches Licht (incommutabilis lux) vorstellte398 und die diesem die rationes aeternae als Kriterien (Regeln, Gesetze) für Urteile im theoretischen und praktischen Bereich einprägt.399 Die in Confessiones XI, 29, 39 gezeichnete400 Umkehr von der distentio durch die Zeit zur Ausrichtung (extentio) auf die Ewigkeit ist so nichts anderes als die bewusste Hinwendung zu diesem Licht, das der Mensch zuerst anteilhaft in sich, dann aber in Wahrheit über sich erkennt.401 392
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Vgl. z. B. Trin. II, 5, 10 [CC.SL 50, 93, Z. 126–131]: … missio spiritus sancti dicta est; non ut appareret eius ipsa substantia qua et ipse invisibilis et incommutabilis est sicut pater et filius, sed ut exterioribus visis hominum corda commota a temporali manifestatione venientis ad occultam aeternitatem semper praesentis converterentur. Vgl. noch einmal S. 137, Anm. 259; die Gnadenhaftigkeit betonte Trin. XV, 23, 43 [CC.SL 50a, 521, Z. 39–42]: Et quando inter se aequalia fuerint ab omni languore sanata, nec tunc aequabitur rei natura immutabili ea res quae per gratiam non mutabitur quia non aequatur creatura creatori, et quando ab omni languore sanabitur mutabitur. Siehe oben S. 153. Vgl. noch einmal Conf. XI, 11, 13 [CC.SL 27, 201, Z. 5–8]: Quis tenebit illud [scil. cor] et figet illud, ut paululum stet et paululum rapiat splendorem semper stantis aeternitatis et comparet cum temporibus numquam stantibus et videat esse incomparabilem. Vgl. Trin. II, 5, 10 (zitiert oben Anm. 392). Vgl. Div. qu. 35, 2 [CC.SL 44a, 52, Z. 45–50]: Omnium enim rerum praestantissimum est quod aeternum est; et propterea id habere non possumus nisi ea re qua praestantiores sumus, id est, mente. Quidquid autem mente habetur, noscendo habetur; nullumque bonum perfecte noscitur, quod non perfecte amatur. Vgl. z. B. Trin. XIV, 15, 21 [CC.SL 50a, 449–451]; Conf. VII, 10, 16; 17, 23; XII, 25, 35 [CC.SL 27, 103f.107.235f.]. Z. B. Trin. XIV, 15, 21 [CC.SL 50a, 451, Z. 49–53]: Ubi ergo scriptae sunt [scil. illae regulae immutabiles], nisi in libro lucis illius quae veritas dicitur unde omnis lex iusta describitur et in cor hominis qui operatur iustitiam non migrando sed tamquam imprimendo transfertur, sicut imago ex anulo et in ceram transit et anulum non relinquit? Weitere Stellen vgl. O’DALY, Aeternitas, 162. Vgl. noch einmal oben S. 124. Vgl. Conf. X, 24, 35 [CC.SL 27, 174, Z. 4–7]: Ubi enim inveni veritatem, ibi inveni deum meum, ipsam veritatem … Itaque ex quo te didici, manes in memoria mea, et illic te invenio. Und dann
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Erster Teil: Zugänge zum Thema „Zeit und Ewigkeit“
Erlösung erscheint in dieser Perspektive zunächst als ein Erkenntnisprozess,402 der von Christus als dem Wort Gottes, der ewigen Wahrheit initiiert wird403 und der den Menschen zu seinem ewigen Ursprung zurückführt.404 Dabei ist es gerade die Unwandelbarkeit, das Bleiben der sich darbietenden Wahrheit, das inmitten der im Fluss befindlichen Welt den Rettungsanker darstellt, um zur Ewigkeit zurückzufinden.405 Weil aber die höchste Wahrheit auch das höchste Gut ist, vollendet sich dieses Erkennen in der Liebe als der gegenüber dem Guten einzig angemessenen Haltung.406 Im Letzten ist es die caritas (oder dilectio)407 als mit dem Erkennen verbundene Kraft – denn sie setzt einerseits Erkenntnis voraus und andererseits führt sie auch zu immer tieferem Erkennen des Geliebten408 –, die bis zur aeternitas vordringt, so dass Augustinus erklären kann: Caritas novit eam!409 Dieses liebende Erkennen, dieses erkennende Lieben schafft eine Verbindung zwischen der Seele und Gott, die stark genug ist, um den Menschen aus der unglücklichen Vergänglichkeit heraus in die beseligende Ewigkeit zurückzureißen und dort zu halten.410 Am Anfang dieses Kapitels wurde auf die Wertschätzung hingewiesen, die Bonaventura für Augustinus empfand. Ich denke jetzt, am Ende, lassen sich die Bezüge zwischen beiden noch einmal etwas klarer sehen. Aus dem Gesagten sollte hervorgegangen
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ebd. 26, 37 [CC.SL 27, 174f., Z. 1–3]: Neque enim iam eras in memoria mea, priusquam te discerem. Ubi ergo te inveni, ut discerem te, nisi in te supra me? Vgl. Conf. XI, 8, 10 [CC.SL 27, 199, Z. 16–18]: Cum autem redimus ab errore, cognoscendo utique redimus; ut autem cognoscamus, docet nos, quia principium est et loquitur nobis. Oder Div. qu. 35, 2 [CC.SL 44a, 52, Z. 42f.]: Quae cum ita sint, quid est aliud beate vivere, nisi aeternum aliquid cognoscendo habere? Vgl. ebd. [CC.SL 44a, 52f., Z. 60–67] und Conf. VII, 18, 24 [CC.SL 27, 108, bes. Z. 9–11]: Verbum enim tuum, aeterna veritas, … subditos erigit ad se … Vgl. Conf. XI, 8, 10 [CC.SL 27, 199, Z. 11–15]: Quis porro nos docet nisi stabilis veritas? Quia et per creaturam mutabilem cum admonemur, ad veritatem stabilem ducimur, … reddentes nos, unde sumus. Vgl. Conf. XI, 8, 10 [CC.SL 27, 199, Z. 15f.]: Et ideo principium quia nisi maneret, cum erraremus, non esset quo rediremus. Vgl. Civ. XI, 28 [CC.SL 48, 347, Z. 8f.]: Neque enim vir bonus merito dicitur qui scit quod bonum est, sed qui diligit. Vgl. Div. qu. 35, 2 [CC.SL 44a, 52, Z. 61f.]: Amor autem rerum amandarum caritas vel dilectio melius dicitur. Vgl. Io. ev. tr. 96, 4 [CC.SL 36, 571, Z. 9–12]: Non enim diligitur quod penitus ignoratur. Sed cum diligitur quod ex quantulacumque parte cognoscitur, ipsa efficitur dilectione ut melius et plenius cognoscatur. Im Kontext von Conf. VII, 10, 16 [CC.SL 27, 103, Z. 11–13]: Qui novit veritatem, novit eam [scil. incommutabilem lucem], et qui novit eam, novit aeternitatem. Caritas novit eam. O aeterna veritas et vera caritas et cara aeternitas! Tu es deus meus, tibi suspiro die ac nocte. Div. qu. 35, 2 [CC.SL 44a, 52, Z. 56–58]: Et quoniam id quod amatur afficiat ex se amantem necesse est, fit ut sic amatum quod aeternum est aeternitate animum afficiat. Quocirca ea demum vita beata quae aeterna est. Quid vero aeternum est quod aeternitate afficiat animum nisi deus? Vgl. auch oben S. 127.
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sein, dass die meisten Themen, die Bonaventura (und die Zeitgenossen) im Rahmen der Zeitreflexion aufnahmen, von Augustinus bereits angedacht waren. Vermittelt dann vor allem durch die Sentenzen des Petrus Lombardus gab der Bischof von Hippo zudem die Schöpfungslehre und innerhalb ihrer noch einmal besonders die Engellehre als den systematischen Ort vor, an dem die Zeitfrage behandelt wird, wobei Fragen der Eschatologie (in der Frage nach der Zeitlichkeit des Vollendungszustandes) und der Christologie (in der Frage nach der coaeternitas der zweiten göttlichen Person und in der Frage nach Christus als dem Mittler zwischen Zeit und Ewigkeit) ebenfalls eine gewisse Rolle spielen. Der exegetische Kontext – im Wesentlichen die Erklärung des ersten Schöpfungsberichtes – ist dabei in den Ausführungen des Bischofs von Hippo noch deutlich präsenter als in den scholastischen Abhandlungen. Weder bei Bonaventura noch bei Augustinus wurde die Frage nach Zeit und Ewigkeit in einem strikten Sinn systematisch abgehandelt, vielmehr muss ihr Standpunkt aus verschiedenen, unterschiedlich ausführlichen Äußerungen rekonstruiert werden. Bei Augustinus kommt dabei die Schwierigkeit hinzu, dass seine Ausführungen – trotz einer gewissen durchgehaltenen Grundlinie411 – nicht immer kohärent sind. Hinsichtlich der von ihm verwendeten Begrifflichkeit fällt außerdem auf, dass der Begriff des aevum als einer Zwischenstufe zwischen Zeit und Ewigkeit noch nicht vorhanden ist und dass von einer möglichen Bedeutungsdifferenzierung zwischen den Bezeichnungen aeternus, sempiternus, perpetuus kein Gebrauch gemacht wird. Auf der inhaltlichen Ebene bemerkt man, dass Bonaventura sich unter der Vorgabe tempus est dispositio rei extra, non fictio animae412 in seinen Ausführungen ganz auf den objektiven Charakter der Zeit einschwor; auf die bei Augustinus durch die distentio animi gegebene innere Repräsentation der Zeit ging er nicht ein. Seinen deutlichsten Ausdruck findet dieser unterschiedliche Blickwinkel auf die empirische Zeit wohl darin, dass Augustinus sie durch das tendit non esse bestimmte,413 während Bonaventura sie aus dem Streben der Materie nach Form (und damit nach Vervollkommnung) erklärte.414 Was die beiden Theologen bei allen Divergenzen schließlich wieder verbindet, ist das Grundanliegen, die Zeitlichkeit aus der Geschöpflichkeit heraus zu verstehen.415 – Doch wenden wir den Blick auf Bonaventura selbst und seine Gedanken zu Zeit und Ewigkeit.
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Man mag dabei etwa an den platonischen Gedanken des Urbild-Abbild-Verhältnisses zwischen Zeit und Ewigkeit und die durch die Geschöpflichkeit vorgegebene mutabilitas als Grundlage der Zeitlichkeit denken. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]. Vgl. oben S. 115, 129 und 135. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: Tempus autem habet esse ex hoc, quod materia tendit ad formam. Das Urteil von Klaus KIENZLER, Gott in der Zeit berühren, 287 über das elfte Buch der Confessiones („Wer Schöpfung radikal als Schöpfung Gottes denkt, der versteht auch, was Zeit ist.“) ließe sich genau so auch über Bonaventuras Zeittheorie sprechen.
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
1
Verschiedene Begriffe von Zeit
Die Komplexität des Phänomens „Zeit“ sollte bereits in der Zielbestimmung am Anfang dieser Arbeit deutlich geworden sein,1 entsprechend vielfältig ist das, was mit dem Begriff „Zeit“ gemeint sein kann. Daraus resultiert eine doppelte Problematik bei der Behandlung des Zeittraktates: einerseits ihn nach außen hin abzugrenzen und dadurch seinen Umfang zu bestimmen, andererseits ihm eine geeignete innere Struktur zu geben. Bei Bonaventura kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Er hat weder eine eigene zusammenhängende Abhandlung De tempore (oder Ähnliches) noch einen Kommentar zu einem Zeittraktakt – z. B. dem vierten Buch der Physik des Aristoteles2 – verfasst. Seine Position ist vielmehr aus verstreuten Aussagen hauptsächlich innerhalb des Sentenzenkommentars zu rekonstruieren.3 Als pragmatische Lösung für die erste Schwierigkeit bietet sich an, Bonaventuras Definition aus II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 64f.] zugrunde zu legen, in der insgesamt vier verschiedene Begriffe von Zeit unterschieden werden.4 Der Zeitbegriff erscheint hier innerhalb des Gesamtrahmens der quasikanonischen Trias tempus – aevum – aeternitas der im weitesten Sinn zeitlichen Maße.5 Der Vorteil ist dabei die Vergleichbarkeit mit 1 2
3 4 5
Siehe oben ab S. 13. Oben, S. 74, wurde dabei schon darauf hingewiesen, dass Aristoteles-Kommentare im franziskanischen Orden nicht üblich waren – ganz im Gegensatz zur dominikanischen Praxis, man denke nur an Thomas von Aquin oder Albertus Magnus. Vgl. hierzu auch oben S. 23; die zweitwichtigste Quelle ist De mysterio Trinitatis. Ausführlich unten in dem Abschnitt über die verschiedenen Bedeutungen von Zeit ab S. 173. Bei Bonaventura ergibt sich das, wie gesagt, nur aus dem Kontext, man kann aber etwa auf die nach 1240 entstandene Schrift Alberts des Großen De IV coaequaevis hinweisen. Deren zweiter Traktat De tempore behandelt ebendiese drei Größen (vgl. die Einleitung von De IV coaequaevis 2, 3 [Ed. Paris. 34, 338]: Deinde quaeritur de secundo coaequaevo quod est tempus. Sed quia quibusdam creatis adjacet tempus, et quibusdam aevum, et quibusdam aeternitas, ut dicunt Sancti, et hoc per eandem rationem mensurae in genere, ideo disputandum est de his tribus). Ähnlich existieren aus der Mitte der 1230’er Jahre von Alexander von Hales Quaestiones disputatae de aeternitate, aevo et tempore; zum Inhalt des unveröffentlichten Textes vgl. Richard C. DALES, Time and Eternity in the Thirteenth Century, in: Journal of the History of Ideas 49 (1988) 27–45, hier 29–31; vgl. auch Palémon GLORIEUX, Répertoire des maîtres en théologie de Paris aux XIIIe siècle, 2 Bde., Paris 1933–1934, hier Bd. 2, 15. Die Summa Halensis I–1, 1, 2, 4 (56–71) [Ed. cit.
166
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
anderen zeitgenössischen Konzepten von Zeit. So können auf dieser Basis auch die im Rahmen anderer Zeittraktate üblichen Fragen beantwortet werden: etwa die Frage nach der Einheit der Zeit und die Frage nach der Objektivität der Zeit, bei der es im Wesentlichen um das Verhältnis von Zeit und Seele geht. In der besagten Definition des Franziskaners wird die Grundfrage „Was ist Zeit?“ dabei – gut aristotelisch – im Blick auf das Phänomen des Werdens, der Bewegung und der Veränderung erklärt; es geht hier also um einen abstrakten, überwiegend quantitativen Begriff von Zeit, der sowohl in seinen kosmologischen wie in seinen anthropologisch-theologischen Bezügen zu entfalten ist.6 Weitgehend außen vor – weil von dieser Definition nicht unmittelbar erfasst – bleibt dagegen ein „qualitatives“ Verständnis, das unter tempus eine geschichtliche Zeit versteht:7 Diese wird nicht zuerst von ihrer Begrenzung oder Definition her begriffen – so wie man ein Zeitintervall von den es begrenzenden Zeitpunkten her erfasst –, vielmehr wird Zeit dabei von dem her verstanden, was sie erfüllt und was ihr eine bestimmte, charakteristische Prägung gibt (wie man etwa von der Zeit König Salomos sprechen mag). Die Verfolgung dieser Linie liefe auf die Geschichtstheologie Bonaventuras hinaus, doch sie soll hier nicht unser Thema sein.8 Auch das zweite Unterfangen, dem Zeittraktat eine systematische Struktur zu geben, erweist sich als schwierig. Gerade weil das Thema „Zeit“ so häufig diskutiert wurde und eine Vielzahl an klassischen Vorlagen existierte,9 hatte sich der Zeittraktat zu einem Konglomerat verschiedener heterogener Fragestellungen ausgewachsen.10 Allein schon
6
7 8 9 10
I, 84–111] schließlich ging in der Behandlung der aeternitas Gottes ähnlich vor, wenn sie aevum und tempus als Vergleichspunkte nahm. – Die spätere „Zeit“-Diskussion verstieg sich zum Teil zu noch komplexeren Systemen, so kannte der Dominikaner Dietrich von Freiberg in seinem Tractatus de mensuris eine Hierarchie von fünf zeitlichen Maßen von der superaeternitas über aeternitas, aevum und aeviternitas bis hinab zur Zeit (tempus) der vergänglichen Dinge, wobei das Gemessene jeweils durch ein geringeres Potential an Gegenwärtigkeit (praesentialitas) gekennzeichnet war. Siehe hierzu DIETRICH VON FREIBERG, Tractatus de mensuris 2, nr. 7–32, ed. Rudolf Rehn, in: Schriften zur Naturphilosophie und Metaphysik, hrsg. v. Jean-Daniel Cavigioli u. a. (= Opera omnia 3), Hamburg 1983, 203–240, hier 218–222; vgl. ferner auch DALES, Time and Eternity, 42–44. Die von Joseph RATZINGER, Der Mensch und die Zeit im Denken des Heiligen Bonaventura, in: L’Homme et son Destin d’après les penseurs du Moyen Âge. Actes du premier congrès international de philosophie médiévale, Louvain – Bruxelles, 28 août – 4 septembre 1958, Paris – Louvain 1960, 473–483, getroffene Abgrenzung von (aristotelischer) kosmologischer Zeit und (augustinischer) anthropologischer Zeit verläuft also innerhalb des hier vorgestellten naturphilosophischen Zeitbegriffs. Diesen Begriff der Zeit findet man etwa im Hex. III, 3f. (15f.) [V, 400–408; Ed. Delorme, 172– 193]. Siehe aber weiter unten den Abschnitt ab S. 370. Vgl. oben ab S. 95. Ein gutes Beispiel dafür liefert der Aufbau der Abhandlung des Dominikaners Robert Kilwardby De tempore. Sie stammt aus der Zeit Kilwardbys als Leiter der Theologischen Fakultät in Oxford, Ende der 1250’er Jahre (Datierung nach Franco VOLPI, Robert Kilwardby, in: Ders. (Hrsg.), Großes Werklexikon der Philosophie, Bd. 1, Stuttgart 1999, 834f.).
Verschiedene Begriffe von Zeit
167
die Komplexität der bei Bonaventura – ähnlich aber auch in der Summa Halensis oder bei Albertus Magnus – zu findenden11 Definitionen des Begriffs „Zeit“ zeugt von der fehlenden Einheit des Zeittraktates. Am ehesten lässt sich in diesem noch eine Unterscheidung philosophischer und theologischer Fragestellungen erkennen. Diese Unterscheidung findet ihre institutionelle Entsprechung darin, dass die Zeitfrage sowohl an der Artistenfakultät als auch an der theologischen Fakultät behandelt wurde (grob gesagt geht es dann um die Auslegung des Corpus Aristotelicum auf der einen Seite, um die Auslegung der Sentenzen des Petrus Lombardus auf der anderen). Dem entspricht es, wenn etwa Albertus Magnus (aber auch andere) einen philosophischen und einen theologischen Zeitbegriff kannten.12 Der theologische Zeitbegriff wurde als mensura cuiuscumque mutationis bestimmt, Albert verstand ihn als eine Verallgemeinerung des naturphilosophischen („aristotelischen“) Zeitbegriffs mit dem Ziel, dass auch die affektiven und intellektiven Bewegungen der Engel dadurch erfasst werden. Bei Bonaventura fällt demgegenüber auf, dass er zwar ähnliche Definitionen verwendete, aber nicht ausdrücklich zwischen einer philosophischen und einer theologischen Sichtweise unterschied. Das dürfte so zu erklären sein, dass Bonaventura sich in dieser Frage ganz als Theologe verstand, der philosophische Überlegungen zwar mit einbezog, diese aber nicht zum Zielpunkt seiner Darstellung machte.13 Anders gesagt, Bonaventura ging es um theologische, nicht um philosophische Systematik; dies sollte man nicht vergessen, wenn im Folgenden die theologischen und die philosophischen Fragen dennoch getrennt behandelt werden, denn auf der sachlichen Ebene lassen sich die Frage nach dem Wesen der Zeit (und dem, was damit zusammenhängt) und deren theologische Implikate und Voraussetzungen ja durchaus trennen. Damit ergibt sich der Aufbau der folgenden Darlegungen: Die Vorstellung der Zeitdefinitionen soll den Rahmen abstecken, innerhalb dessen Bonaventura die Zeitfrage behandelte. In dem folgenden philosophischen Teil wird dann einerseits die in den Definitionen enthaltene Begrifflichkeit vertieft, andererseits wird Bonaventuras Standpunkt zu einigen zeitphilosophischen Grundfragen dargelegt. Auch wenn es nicht jedes Mal betont wird, so geht man sicher nicht fehl in der Auffassung, dass seine Ausführungen dabei im Wesentlichen von der (theologischen) Absicht getragen sind, die Schöpfung in ihren Details zu verstehen. Die Schöpfungstheologie ist die Klammer, die den philosophischen und den theologischen Teil verbindet. Letzterer zeichnet sich dabei dadurch aus, dass es nicht mehr um Einzelfragen, sondern um das große Ganze geht: die Frage nach der zeitlichen Grundstruktur der Schöpfung. Geschaffenes Sein ist immer auch zeitlich strukturiertes Sein und umgekehrt, diese Grundannahme prägte die Überlegun11 12 13
Vgl. Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 1 (68), resp. [Ed. cit. I, 105f.] und ebd. 2 (69), sol. & ad 5 [Ed. cit. I, 107.108]; ALBERTUS MAGNUS, De IV coaequaevis 2, 5, 2, sol. [Ed. Paris. 34, 369b]. Siehe unten S. 167 und S. 179. In diesem Sinn wird man dann auch die Bewertung der aristotelischen Zeitdefinition als coarctata temporis acceptio (II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 65a]) verstehen. – Vgl. auch was oben (ab S. 81) über das Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Bonaventura gesagt wurde.
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
168
gen des Franziskaners. Von dieser Identität ausgehend ergibt sich nicht nur die Abgrenzung von Zeit und Ewigkeit, sondern auch das theologische Bild der Zeit, das über die inhaltlich-philosophische Bestimmung hinausgeht und die Zeit als habitudo concreata, das heißt als intrinsisches Maß, als mit der Geschöpflichkeit gegebene Disposition versteht.14
1.1
Tempus multipliciter accipitur – Zeitdefinitionen bei Bonaventura
Dicendum, quod tempus accipi consuevit quadrupliciter in scripturis Sanctorum, scilicet communissime, communiter, proprie et magis proprie.15 – Mit diesen Worten leitete Bonaventura seine komplexe, insgesamt vier verschiedene Zeitbegriffe unterscheidende Definition der Zeit ein. Die einzelnen Bedeutungen, die er im Rahmen eines Vergleichs von Zeit und aevum in II Sent. 2, 1, 2, 1 herausarbeitete, differenzierte er dabei wie folgt:16 1) communissime
mensura cuiuslibet durationis creatae
2) communiter
mensura mutationis cuiuscumque, sive illius quae est de non-esse in esse, sive alterius, quae est de uno esse in aliud esse
3) proprie
mensura variationis successivae, sive sit successiva successione regulari et continua sive non
4) magis proprie
mensura motus sive variationis successivae et continuae et regulatae secundum regulam motus octavae sphaerae
Dabei entspricht es guter scholastischer Manier, eine Frage zunächst mit einer Definition zu beantworten und diese im Folgenden in ihrer ganzen Tragweite zu erschließen. Auch für die Erforschung von Bonaventuras Zeitbegriff bietet sich ein solches Vorgehen an, erlaubt es doch, einen Überblick über den Zugang des Franziskaners zur Frage nach der Zeit zu geben. Die Situation ist allerdings verwickelter, als es auf den ersten Blick scheint, denn die hier gegebene Definition ist nicht die einzige, die sich bei ihm findet. 14 15
16
Vgl. die beiden Abschnitte unten ab S. 276 und ab S. 284. II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 64b]; in der folgenden Quaestio 2, resp. [II, 66] wurde diese Unterscheidung ausdrücklich noch einmal aufgegriffen: [scil. tempus] dupliciter potest accipi, aut scilicet prout dicit mensuram cuiuslibet durationis variae sive variationis successivae; … Aliter vero accipitur tempus prout est mensura variationis, in qua est successio habens continuationem et regulationem a motu orbis primi. Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 64f.].
Verschiedene Begriffe von Zeit
169
So bietet allein der Sentenzenkommentar noch zwei weitere Definitionen. Die eine steht fast unmittelbar vor der bereits angegebenen in den Dubia der Distinctio 1; der – bereits von Augustinus her bekannte – Hintergrund ist die Deutung von Gen 1, 1, näherhin die von der Glossa interlinearis gegebene Erklärung: In principio, id est in principio temporis.17 Sie verlangte eine differenzierte Betrachtung des Zeitbegriffs, die Bonaventura mit der Unterscheidung von drei Bedeutungen des Zeitbegriffs leistete:18 a) communissime
mensura exitus de non-esse in esse
b) communiter
mensura cuiuslibet mutationis, maxime illius quae fuit ante primum mobile
c) proprie
mensura motus primi mobilis
Eine weitere Definition ist im ersten Buch des Sentenzenkommentars enthalten. Sie steht – wie die erste Definition – im Kontext der Engellehre. Näherhin geht es um die Frage, ob die Bewegungen der Engel von der Zeit gemessen werden. Hier wurden zwei Zeitbegriffe unterschieden:19 a) proprie dictum
mensura rei mutabilis in quantum mutabilis, tamen sub ratione continui
b) alio modo
mensura cuiuslibet rei mutabilis, secundum quod mutabilis, sive moveatur instantanee sive continue
In dem aus seiner Magisterzeit (1254–57) stammenden Kommentar zum Koheletbuch schließlich veranlasste die zu Beginn des dritten Kapitels getroffene Feststellung Omnia
17
18 19
Ebenso die Glossa ordinaria [PL 113, 68B] aus BEDA, In Genesim I, i, 1 [CC.SL 118a, 3, bes. Z. 4]; vgl. auch PETRUS LOMBARDUS, Sent. II, 1, 3, 5 [SpicBon 4, 331, Z. 26]; die Feststellung scheint weiter auf AMBROSIUS, Hexaëmeron I, 6, 20 [CSEL 32.1, 16, Z. 18] zurückzugehen. In II Sent. 1, 1, dub. 2 [II, 36f.] diskutierte Bonaventura die Alternativen zu diesem Verständnis: (1) Das in principio in einem Ordnungssinn zu verstehen, d. h. als Anfang einer Aufzählung, die nicht notwendig zeitlich zu verstehen ist. „Als Erstes“ bedeutet dann, dass die gesamte Welt unmittelbar von Gott geschaffen wurde und nicht durch ein Mittelwesen, z. B. die Engel. (2) Man könnte ihm alternativ einen metaphysisch-kausalen Sinn geben. Der Ursprung, in dem die Welt erschaffen wurde, ist dann das Wort Gottes, der Sohn als die zweite göttliche Person. Bereits Augustinus ging in seinen Kommentaren zu der Stelle ausführlich auf die verschiedenen Interpretationen ein; z. B. Gen. adv. Man. I, 2, 3f. [CSEL 91, 68–71]; Conf. XI, 9, 11 [CC.SL 27, 199f.]; Civ. XI, 4.6.9.32f. [CC.SL 48, 323–325.326.328–330.351–354]; sehr klar war auch AMBROSIUS, Hexaëmeron I, 4, 12 [CSEL 32.1, 10, Z. 2f.]: … principium aut ad tempus refertur aut ad numerum aut ad fundamentum. – Schließlich wird man noch auf das IV. Laterankonzil (1215) verweisen, das im Cap. 1 (Firmiter credimus) [DS 800] festgestellt hatte: … qui sua omnipotenti virtute simul ab initio temporis utramque de nihilo condidit creaturam, spiritualem et corporalem … II Sent. 1, 1, dub. 4 [II, 38]. I Sent. 37, 2, dub. 3 [I, 665].
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
170
tempus habent (Ecl. 3, 1) Bonaventura zu der Frage, ob dies auch für die Engel gilt. Er antwortete mit einer weiteren dreigeteilten Zeitdefinition:20 a) communiter
secundum quod dicit mensuram exitus de nonesse ad esse
b) proprie
prout importat variationem sive in substantia sive in affectione
c) magis proprie
prout est mensura excellens
Schließlich bleibt noch auf eine Bestimmung in I Sent. 14, 1, 121 hinzuweisen, in der geklärt wurde, was unter „zeitlich“ (temporale) zu verstehen ist. Dabei handelt es sich nicht eigentlich um eine Zeitdefinition, vielmehr setzt sie einen bestimmten Zeitbegriff voraus und unterscheidet aufgrund dessen verschiedene Arten von zeitlichem Sein: a) quod habet initium et variationem et actum in tempore …[et] quod est corruptibile et variabile b) quod habet initium essendi in tempore, sed non variationem, ut anima c) quod habet initium in tempore, sed actum extra tempus … [scil.] temporalis processio vel gratiae donatio
Nimmt man diese letzte, aus der Reihe fallende Bestimmung heraus, so zeigt bereits der erste Blick auf die verschiedenen Definitionen, dass sie zwar strukturell ähnlich aufgebaut sind, dass aber insgesamt keine einheitliche Terminologie vorliegt, vielmehr wurde sie an die Erfordernisse der jeweiligen Problemlage angepasst. Betrachtet man die drei ersten Definitionen zunächst insgesamt und vergleicht sie mit anderen Autoren, so findet man in der Summa Halensis eine Vorlage, die Bonaventuras Ausführungen, insbesondere der Definition aus II Sent. 1, 1, dub. 4 ziemlich nahe kommt.22 Auch dort wurde ein allgemeiner (communiter) und ein eigentlicher (proprie) Gebrauch des Zeitbegriffs unterschieden:23
20 21 22 23
In Eccl. III, qq. ad v. 1, resp. [ VI, 28b]. ad 5 [I, 246]. In der Bemerkung zu der Einteilung in II Sent. 1, 1, dub. 4 [II, 38] (ut communiter consuevit distingui) bezog sich Bonaventura auf Vorgänger. Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 1 (68) [Ed. cit. I, 105b]; die Fragestellung dieses Artikels (Quomodo se habeant aevum et tempus secundum extensionem durationis) schlägt dagegen eine Verbindung zu Bonaventuras Zeitdefinition aus II Sent. 2, 1, 2, 1 (Utrum aevum praecedat aliquo modo tempus). Im folgenden Artikel der Summa Halensis (Utrum sit aliqua mensura durationis media inter aevum et tempus) werden in der Solutio [Ed. cit. I, 107b] die zweite und dritte Bedeutung noch vertieft, indem auf die Kontinuität bzw. Diskontinuität der jeweils zugrundeliegenden Bewegung eingegangen wird. Ebd., ad 4 [Ed. cit. I, 108a] wird noch einmal tempus communiter als mensura cuiuslibet variationis und alio modo als mensura secundum determinationem motus caeli unterschieden.
Verschiedene Begriffe von Zeit a) communiter et improprie
171 respicit primam mutationem a non esse in esse
b) communiter et minus proprie respicit mutationem quae est de uno esse in aliud sine continuo c) proprie
respicit mutationem quae determinatur secundum magnitudinem primi mobilis et spatii, secundum quam est motus, quae est de uno in aliud continue et successive
Blickt man in den dominikanischen Bereich, so findet man eine ähnlich aufgebaute Definition auch bei Albertus Magnus in De IV coaequaevis,24 während sich Thomas von Aquin an den einschlägigen Stellen ganz an die aristotelische Bestimmung der Zeit als numerus motus secundum prius et posterius hielt.25 Freilich konnte auch Thomas an den anderen „Arten“ von Zeit nicht einfach vorbeigehen,26 er ging aber dabei so vor, dass er 24
25
26
De IV coaequaevis 2, 5, 6, sol. [Ed. Paris. 34, 379–380] wurden drei Zeitbegriffe unterschieden: [1] accipitur tempus generaliter pro mensura cujuscumque mutationis vel fieri … [2] Aliter accipitur tempus pro mensura mutationis quae est super materiam, sive sit subito, sive non subito … [3] Aliter autem dicitur tempus mensura motus primi mobilis et per consequens aliorum motuum qui causantur ab illo (Nummerierung von mir eingefügt). Weiter kann man auf De IV coaequaevis 2, 5, 2, sol. [Ed. Paris. 34, 369b–370a] verweisen, wo ein theologischer und ein philosophischer Zeitbegriff unterschieden wurden (vgl. unten S. 179, und oben S. 167): Secundum Theologos dicitur mensura cujuscumque mutationis, sive divisibilis, sive indivisibilis: sive corporalis, sive spiritualis … Secundum alium modum dicitur tempus mensura motus vel mutationis continuae: et sic consideratur a Philosophis tempus, et de hoc tempore datur diffinitio Aristotelis supra dicta [scil. quod est numerus motus secundum prius et posterius]. Eine (unvollständige) Liste der Stellen, an denen die aristotelische Definition bei Thomas vorkommt, bot Friedrich BEEMELMANS, Zeit und Ewigkeit nach Thomas von Aquino (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen 17, 1), Münster i. W. 1917, 14, Anm. 2. – Auffällig ist, dass bei Bonaventura diese Bestimmung der aristotelischen Zeit als Zahl nur sehr selten vorkommt (nur in II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b] und indirekt auch ebd. 2, 1, 1, 1, sc. 4 & ad 4 [II, 55.57]). Eine zweigeteilte, ebenfalls eine philosophische und eine theologische Zeit unterscheidende Definition, die sich aber gleichwohl sehr stark an der aristotelischen Bestimmung orientiert, findet man in I Sent. 8, 3, 3, ad 4 [Ed. cit. I, 216]: tempus dupliciter dicitur: uno modo numerus prioris et posterioris inventorum in motu caeli; et istud tempus continuitatem habet a motu, … Et hoc modo tantum accipitur a philosophis. Alio modo, ut IV Phys., text. 101 et 102, dicitur tempus magis communiter numerus ejus quod habet quocumque modo prius et posterius: et sic dicimus esse tempus mensurans simplices conceptiones intellectus, quae sunt sibi succedentes: et istud tempus non oportet quod habeat continuitatem, cum illud secundum quod attenditur motus, non sit continuum. Et sic accipitur hic tempus, et frequenter a theologis. Auf jene letztere, diskrete Zeit ging Thomas insbesondere in I Sent. 37, 4, 3, resp. [Ed. cit. I, 888–890] näher ein. Im Rahmen des erwähnten Diktums der Glosse zu Gen 1, 1 (in principio, id est in principio temporis) und der Frage nach einer sukzessiven oder instantanen Schöpfung ging Thomas in II Sent. 1, 1, 6, ad 3 [Ed. cit. II, 42] auch kurz auf die „Schöpfungszeit“, d. h. die mutatio de non-esse ad esse, ein. Er stellte sie dabei lediglich als eine Meinung vor: Sed secundum aliam opinionem, quae ponit res formatas per tem-
172
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
sie (wenigstens zum Teil) in die aristotelische Definition aufnahm, indem er deren Bestandteile (motus, prius et posterius) in einem weiten Sinn verstand. Im Blick auf den Inhalt der verschiedenen Definitionen erkennt man, in welchem Horizont ein Theologe um die Mitte des 13. Jahrhunderts die Zeitfrage behandelte. Der Zusammenhang der Größen tempus, aevum, aeternitas lieferte zunächst gewissermaßen den Gesamtrahmen, wobei das aevum je nach Autor einmal mehr auf der Seite der Zeit und einmal mehr auf der Seite der Ewigkeit stand. Auf diesem Hintergrund wurden dann mit „Zeit“ folgende Größen verbunden: (1) Die (wenn man so will) physikalische Zeit oder Weltzeit, die sich auf die Ortsbewegung der Körper gründete, wobei hier stets der kontinuierlichen Bewegung des primum mobile eine herausragende – im Einzelnen jedoch unterschiedlich bestimmte – Stellung zukam. Von dieser Definition ausgehend konnte der Zeitbegriff in verschiedenen Hinsichten verallgemeinert werden. (2) Ein Zeitbegriff, der nicht an die Bewegung des primum mobile gebunden war; dessen Notwendigkeit ergab sich daraus, dass die Bewegung der äußersten beweglichen Sphäre einerseits erst mit dem zweiten oder vierten Schöpfungstag begonnen hatte und sie andererseits mit der Vollendung der Welt beim Jüngsten Gericht enden sollte.27 (3) Eine andere, der aristotelischen Definition inhärierende Beschränkung wurde gelöst, indem man auch die Bewegung (Veränderung) nicht-körperlicher Substanzen wie der Engel und der menschlichen Seele in die Betrachtung einbezog, wodurch man zu der „diskreten Zeit“28 der intellektiven und voluntativen geistigen Akte gelangte. (4) Das grundsätzlichste Problem freilich bestand darin, die Schöpfung selbst einerseits als einen Akt Gottes – der nur ewig sein kann – zu sehen und sie andererseits als eine passio des Geschöpfes in ihrer Zeitlichkeit zu begreifen. Die Geschöpflichkeit der Welt, ihr Geschaffen-worden-Sein beinhaltet so in sich einen Bezug zu einer die obengenannten Bedeutungen übersteigenden Form von Zeit, insofern hierin eine ganz eigene Form des Werdens – in der Terminologie Bonaventuras eine supernaturalis mutatio de non-esse ad esse – ausgesagt ist. Die letzteren beiden Ansätze beinhalten dabei zugleich den Versuch, das aristotelische Zeitkonzept nicht nur auf Ortsbewegung anzuwenden, sondern es konsequent auf
27
28
porum successionem, non intelligitur de tempore quod est mensura illius motus, sed de tempore quod est numerus illius vicissitudinis, qua esse mundi succedit ad non esse ejusdem. Vgl. dazu auch unten Anm. 79 auf S. 182, S. 197 und S. 279 mit Anm. 21. Vgl. etwa Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 2 (69), ad 5 [Ed. cit. I, 108a]: Primo modo tempus, secundum theologos, coepit ante motum caeli, sicut et variatio, quae facta est ante quartam diem in materia, et erit cessante motu caeli; ähnlich bei Bonaventura (in Zusammenhang mit dem saeculum-Begriff) in II Sent. 2, 1, 2, 2, resp. [II, 66], vgl. ebd. auch sc. 1 (ante quartum diem non erat tempus …) und sc. 2 (post diem iudicii non erit tempus …); vgl. hierzu oben S. 62; zur Frage nach dem Beginn der Zeit am zweiten oder vierten Schöpfungstag vgl. unten S. 175. Ich gebrauche hier den Ausdruck von PORRO, Forme e modelli di durata, 267–383 – Bonaventura ging zwar auf den Sachverhalt ein, er gab dieser „Zeit“ aber keinen eigenen Namen, sondern fasste sie unter dem Oberbegriff der „eigentlichen Zeit“ mit der kontinuierlichen Zeit zusammen.
Verschiedene Begriffe von Zeit
173
alle sechs bekannten Bewegungsarten auszudehnen.29 Bereits an dieser Stelle fällt dabei auf, dass der „psychologische“ Zeitbegriff Augustins aus dem elften Buch der Confessiones im gegebenen Kontext bei keinem der hier betrachteten zeitgenössischen Autoren eine herausragende Rolle spielt.30 Dagegen fanden in diesem Zusammenhang dessen Aussagen über die Materie und die Engel – also just jene Größen, die er in Confessiones XII als zeitfrei (carentia temporibus) eingestuft hatte31 – intensive Beachtung.
1.2
Die Bedeutungen von „Zeit“ im Einzelnen
Im Folgenden sollen die verschiedenen Bedeutungen, die Bonaventura mit dem Zeitbegriff verband, genauer betrachtet werden. Als Grundlage soll dabei die vierteilige Definition aus II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 64f.] dienen.32 Sie bietet sich schon deswegen als Richtschnur an, weil sie die ausführlichste der von Bonaventura gegebenen Bestimmungen ist. Die in den übrigen Definitionen vorgestellten Bedeutungen von Zeit sollen dabei nicht unterschlagen werden, sie werden vielmehr in den Rahmen der dort getroffenen Unterscheidungen eingeordnet. Wie sich aus der Bezeichnung der einzelnen Zeitbedeutungen in II Sent. 2, 1, 2, 1 (communissime, commune, proprie, magis proprie) ergibt, ging Bonaventura bei seiner Definition so vor, dass er den Zeitbegriff schrittweise einengte,33 wobei er zuletzt bei dem aristotelischen Verständnis anlangte. Da dieses letztere nach den vorausgehenden 29 30 31 32
33
Zu den Bewegungsarten vgl. unten S. 182, besonders Anm. 78 und 79. Zum Zusammenhang mit dem Urteil des Albertus Magnus über die augustinische Zeittheorie siehe oben S. 120. Vgl. Conf. XII, 12, 15 [CC.SL 27, 223]. BIGI, La dottrina della temporalità, 438–442 ging ähnlich vor – eine Kurzfassung des ausführlichen Artikels bietet Vincenzo Cherubino BIGI, Tempo e temporalità in San Bonaventura, in: Doctor Seraphicus 39 (1992) 65–74; vgl. auch den Artikel «Tempus» in BOUGEROL, Lexique Saint Bonaventure, 126f. Wenn im Folgenden von Zeit im allgemeinen (communiter) oder eigentlichen (proprie) Sinn (und ähnlichem) die Rede ist, so wird dabei – sofern nicht ausdrücklich auf eine andere Definition hingewiesen wird – die Einteilung von II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. zugrunde gelegt. Einen orientierenden Überblick über das Verhältnis zu den anderen Zeitdefinitionen gibt die Tabelle in Anm. 132 auf S. 194 unten. Die Überlegung von GHISALBERTI, La concezione del tempo, 747 (vgl. auch 745f.), ob die Reihe auch als ein schrittweises Vordringen zum Wesenskern der Zeit (die dann, wohlgemerkt, in der aristotelischen Definition gegeben wäre) verstanden werden kann, scheint mir – vor allem wegen der Qualifizierung des letzteren Zeitbegriffs als coarctata temporis acceptio – wenig für sich zu haben. Vgl. dagegen auch Luciano COVA, Tempus non erit amplius. Moto e temporalità nei corpi gloriosi secondo Bonaventura, in: Guido Alliney / Luciano Cova (Hrsg.), Tempus, Aevum, Aeternitas. La concettualizzazione del tempo nel pensiero tardomedievale, Firenze 2000, 37–66, hier 41: «Bonaventura teorizza un quadruplice senso di ‹tempus› secondo un ordine di generalità decrescente».
174
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Darlegungen das vertrauteste ist, soll es im Folgenden als Ausgangspunkt genommen werden.
1.2.1
Mensura motus sive variationis successivae et continuae
Die vierte der in II Sent. 2, 1, 2, 1 vorgestellten Arten und Weisen, Zeit zu verstehen, gab Bonaventura an als mensura motus sive variationis successivae et continuae et regulatae secundum regulam motus octavae sphaerae. Allein schon die Länge der Definition zeigt an, dass es sich hierbei um einen durch zahlreiche Nebenbedingungen eingeschränkten Zeitbegriff handeln muss. Der Franziskaner verband ihn expressis verbis mit der Auffassung des Aristoteles.34 Genauer müsste man sagen, dass die hier gegebene Definition aus verschiedenen in Physica IV, 14 [223b 12–21] genannten Elementen zusammengesetzt ist. Auf die wichtigsten Begriffe dieser Definition, den Maßbegriff, die successio und die Kontinuität, soll im Folgenden kurz eingegangen werden (genauere Erörterungen folgen noch an späterer Stelle).35 Der so verstandene aristotelische Zeitbegriff kommt in allen oben aufgeführten Definitionen als der jeweils engste (proprie bzw. magis proprie) vor, wobei aber jeweils andere Aspekte hervorgehoben werden und keine der übrigen Definitionen so viele Nebenbedingungen kennt.36 Zunächst fällt auf, dass Bonaventura „Zeit“ in fast allen Bestimmungen als Maß (mensura) einführte, während er es offenbar vermied, sie unter dem engeren Begriff der Zahl einzuordnen, obwohl er diese – gewissermaßen klassisch aristotelische – Definition z. B. sowohl in der Summa Halensis37 als auch in den ansonsten von ihm gern herangezogenen Auctoritates Aristotelis38 lesen konnte. Die Gründe dafür kann man nur vermuten. Sei es, dass er die verschiedenen Arten von Zeit unter einem einheitlichen Begriff sammeln wollte, sei es, dass er (wie es in anderer Weise die Summa Halensis tut) die Verbindung der kontinuierlichen Zeit mit der diskontinuier34
35 36 37
38
Wenn im Folgenden von der „aristotelischen Definition der Zeit“ die Rede ist, so soll damit die hier behandelte Definition der magis proprie verstandenen Zeit bezeichnet werden, wohl wissend, dass diese eine Interpretation Bonaventuras darstellt. Siehe unten ab S. 205 zum Maßbegriff und unten ab S. 245 zu den Begriffen continuum und successio; zum motus-Begriff vgl. S. 182. II Sent. 1, 1: mensura motus primi mobilis; I Sent. 37: mensura rei mutabilis in quantum mutabilis, tamen sub ratione continui; In Eccl. III: mensura excellens. Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 1 (68), resp. [Ed. cit. I, 105b] und ebd. 2 (69), sol. [Ed. cit. I, 107b], wobei diese Definition von Alexander nicht auf die kontinuierliche physikalische Zeit, sondern auf die diskontinuierliche Engelszeit bezogen wurde. Auctoritates Aristotelis, Physica IV, nr. 137 [PhMed 17, 151]: Tempus est numerus motus secundum prius et posterius …; ebd., nr. 139 bot eine alternative, auf den Maßbegriff bezogene Definition: Tempus est mensura motus rerum mobilium. Die erste Definition entsprach ziemlich genau Physica IV, 12 [220a 24f.]: ὁ χρόνος ἀριθµός ἐστιν κινήσεως κατὰ τὸ πρότερον καὶ ὕστερον; die zweite hat ihre sinngemäße Entsprechung ebd. [220b 32f.]: … ἐστὶν ὁ χρόνος µέτρον κινήσεως καὶ τοῦ κινεῖσθαι.
Verschiedene Begriffe von Zeit
175
lichen Größe „Zahl“ vermeiden wollte, oder sei es, dass er im Hinblick auf die weiter gefassten Zeitbegriffe den quantitativen Aspekt des Zählens (oder der mensura determinata) zugunsten einer auf die qualitativen Merkmale der Zeit ausgerichteten Sichtweise zurückdrängen wollte. Als definitorische Merkmale der aristotelischen Zeit nannte Bonaventura die successio und die Kontinuität der zugrundeliegenden Bewegung.39 Mit ersterer wird allgemein die Zeit (und bei Bonaventura auch das aevum) gegen die als einfach (simplex) vorzustellende Ewigkeit Gottes abgegrenzt. Die Kontinuität dagegen unterscheidet die vor allem an der Ortsbewegung orientierte „physikalische“ Zeit40 von der auf die affektiven und voluntativen Akte geistiger Substanzen bezogenen Zeit, wie sie die dritte Bestimmung der Definition von II Sent. 2, 1, 2, 1 vorstellte. Zugleich wird dadurch auf das Mittel zur Bestimmung der Zeit vorausverwiesen, denn allein die Kreisbewegung des Firmamentes41 erfüllt im strengen Sinn die Bedingung der Kontinuität (jede geradlinige Bewegung besitzt ja notwendig einen Anfang und ein Ende).42 In der dritten Bestimmung der hier betrachteten Definition verband Bonaventura die aristotelische Zeit expressis verbis mit der Bewegung der achten Sphäre, d. h. mit der Fixsternsphäre. Bei genauer Betrachtung erweist sich dies als nicht ganz konsistent mit der entsprechenden Definition in II Sent. 1, 1, dub. 4. Dort ist das primum mobile das Maß der aristotelischen Zeit,43 und dieses ist im Weltbild des Doctor seraphicus nicht die achte, sondern die sternlose neunte Sphäre.44 Auch bei der Definition von In Eccl. III, qq. ad v. 1 kann man sich entsprechend fragen, was genau die dort genannte mensura excellens ist: Ist es die Bewegung des primum mobile, die Bewegung des Fixsternhimmels oder etwa die Bewegung der Sonne (d. h. der vierten Sphäre, die den natürlichen Rhythmus von Tag und Jahr vorgibt)? Bonaventura entschied sich nicht eindeutig für eine dieser drei Bewegungen, eine Erklärung für diese Ungenauigkeit wurde bereits oben gegeben.45 39
40 41 42 43
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Vgl. hierzu auch THOMAS VON AQUIN, I Sent. 8, 3, 3, resp. [Ed. cit. I, 216], der – im Anschluss an die beim Lombarden zitierte Augustinus-Stelle aus Gen. litt. VIII, 20, 39 [BA 49, 68–70] (teilweise zitiert oben S. 148, Anm. 323) – continuitas und successio als die grundlegenden Merkmale der Ortsbewegung vorstellte. Vgl. oben S. 97, besonders Anm. 15. Eigentlich „des primum mobile“, doch dazu im folgenden Absatz. Vgl. schon ARISTOTELES, Physica VIII, 8 [262a 13]: ἀδύνατον εἶναι συνεχῆ τὴν ἐπὶ τῆς εὐθείας κίνησιν. Ebenso hieß es in I Sent. 37, 2, dub. 3 [I, 665]: tempus per prius est mensura motus primi mobilis und im zugehörigen Responsum wurde dies dann explizit mit der Definition von tempus proprie dictum in Verbindung gebracht; in II Sent. 7, 2, 1, 2, ad 3.4 [II, 193] wurde Zeit im engeren Sinn ebenfalls als motus primi mobilis mensura bestimmt; ferner vgl. die in Anm. 48, S. 214 zitierten Stellen, wo stets die Bewegung des primum mobile als der entscheidende Zeitmaßstab angegeben wurde. Vgl. oben den Abschnitt zum „Kristallhimmel“ ab S. 43. Auf S. 50 werden die Gründe genannt, warum es so schwer fiel, die neunte Sphäre anstelle der achten als primum mobile zu akzeptieren. Im hier betrachteten Zusammenhang dürfte dabei beson-
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Welche Funktion hat diese dritte Bestimmung (d. h. das regulatae secundum regulam motus octavae sphaerae) innerhalb der Definition der aristotelischen Zeit? Mit ihr wird der Maßstab dieser Zeitform angegeben. Der Begriff der regula (oder an anderen Stellen regulatio)46 ist genau in diesem Sinn zu verstehen. Er bezeichnet ein vorzügliches, ja ein vollkommenes Maß (und nicht etwa eine irgendwie geartete Kausalität hinsichtlich der Bewegungen im irdischen Bereich).47 Der Idee nach denkt man dabei zunächst an eine ideale, vollkommen gleichmäßige Kreisbewegung, wie sie nur das primum mobile aufweist.48 Doch in gewissem Sinn kann es sich der Franziskaner leisten, in diesem Punkt etwas ungenau zu sein und statt auf das primum mobile auf andere, nicht in gleichem Maße (aber doch hinreichend) reguläre, dafür aber deutlich wahrnehmbare Bewegungen wie den Lauf der Sterne oder der Sonne zurückzugreifen: Die aristotelische Zeit zeigt sich für ihn zwar am primum mobile, sie wird aber durch dieses weder verursacht noch ins Dasein gesetzt.49 Dennoch sollte die Bedeutung dieses Maßstabes auch bei Bonaventura nicht unterschätzt werden. So betonte er zwar in II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59], dass die Zeit un-
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49
ders ins Gewicht fallen, dass die Bewegung der neunten Sphäre wegen ihrer Sternlosigkeit nicht sichtbar ist und sie deswegen kaum als Zeitmaß dienen kann. – Ergänzend ist Folgendes zu bemerken: Die Konfusion von solarem Tag (24 h, die Zeit zwischen zwei aufeinanderfolgenden Meridiandurchgängen der Sonne) und der Bewegung des primum mobile (die ja – von der Präzession abgesehen – dem siderischen Tag von 23 h 56 min, der Zeit zwischen zwei Meridiandurchgängen eines beliebigen Sterns, entspricht) findet sich auch noch an anderen Stellen, etwa in II Sent. 2, 1, 1, 2 resp. [II, 59a] (anima omnes motus et mutationes numeret aspiciendo ad mensuram motus primi mobilis, scilicet per diem, annum et horam) oder in II Sent. 14, 2, 1, 3, ad 4 [II, 357] (Sic etiam non percipimus revolutionem octavae sphaerae ab oriente in oriens manifeste nisi per solem et alia luminaria. Per hunc modum uniformitas quantum ad spatium horarum nobis motum caeli uniformis expresse indicat; hunc tamen percipimus per varietatem diei et noctis). II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b] hieß es: omnia numerantur et mensurantur per mensuram motus regularis et certi et nobis notissimi, scilicet motus mobilis primi. Die Definition von tempus proprie in II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 65] sprach von successione regulari et continua, die folgende Quaestio 2, resp. [II, 66] von successio habens continuationem et regulationem a motu orbis primi. In II Sent. 14, 2, 1, 3 schließlich sprach arg. 4 [II, 355] vom motus caeli als perfectissimus omnium motuum und omnium motuum regula und desgleichen in ad 4 [II, 357] (regula aliorum motuum). Vgl. dazu oben S. 41 zur influentia und unten S. 270 zur Kausalität; wobei Bonaventura unter der Bezeichnung influentia/influere sehr wohl eine Einwirkung der Himmelssphäre(n) auf den irdischen Bereich kannte, dieser ist aber kein kausaler, sondern ein dispositiver. Vgl. II Sent. 14, 2, 1, 3, arg. 4 [II, 355]: Motus caeli est perfectissimum omnium motuum, et ideo est omnium motuum regula: ergo si per regulam mensurantur omnia quae sunt in genere illo, anima mensurat omnes motus per motum primi mobilis. – Dies verweist weiter auf das von Averroes im Anschluss an Aristoteles’ Metaphysica X (I), 1 [1052a 15 – 1053b 8] aufgestellte Axiom, dass das erste Seiende einer jeden Gattung das Maß für alle anderen darstellt (vgl. Anm. 4 zu II Sent. 3, 1, 1, 2, arg. 2 [II, 94] sowie unten S. 205). Zur maßgebenden Bedeutung des primum mobile vgl. einerseits die Diskussion in Physica IV, 14 [223b 12–21], andererseits die Frage nach der Einheit der Zeit (besonders die Position des Averroes) ab S. 266. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59]. In der unten dargestellten Diskussion um die Einheit der Zeit (ab S. 266, hier besonders S. 267) wird dies noch ausführlich besprochen werden.
Verschiedene Begriffe von Zeit
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abhängig von der Bewegung des primum mobile existiert, doch an anderen Stellen wies er auf den engen Zusammenhang hin, der zwischen der aristotelischen Zeit und der Bewegung dieser Sphäre besteht. Dieser zeigt sich etwa darin, dass es besagte Zeitform im Empyreum „oberhalb“ des primum mobile nicht gibt,50 das primum mobile stellt die Scheidegrenze des Gültigkeitsbereichs der aristotelischen Zeit dar. Das galt nicht nur in räumlicher Hinsicht. Tempus coepit cum motu primi mobilis,51 diese Aussage verband den Anfang der aristotelischen Zeit mit der Erschaffung der ersten beweglichen Sphäre. Ebenso endet sie am Jüngsten Tag, wenn auch die Bewegung der neunten (und aller darunter liegenden Sphären) aufhören wird.52 Bonaventura vermied eine eindeutige Festlegung, wo genau der Anfang der aristotelischen Zeit liegt, (ähnlich wie bei der Frage, ob nun die Bewegung der vierten, der achten oder der neunten Sphäre ihr eigentlicher Maßstab ist). Zur Auswahl stehen der erste, der zweite und der vierte Schöpfungstag. Dies war ein Problem der Exegese von Gen 1, das – wie die Frage nach dem Kristallhimmel als der neunten Sphäre – bereits eine längere Tradition hatte. Näherhin ging es um die Interpretation von drei Punkten: (1) Was ist in v. 1 mit dem Satz In principio creavit Deus caelum et terram mit caelum gemeint? Bezeichnet es eine bestimmte Himmelssphäre? Im 13. Jahrhundert war diese Frage so weit geklärt, dass man darunter entweder im Anschluss an Augustinus die gesamte immaterielle (geistige) Schöpfung verstand,53 oder man es auf das am ersten Tag geschaffene, unbewegliche Empyreum bezog.54 Der erste Schöpfungstag schied damit als Beginn der aristotelischen Zeit aus. Damit deckt sich auch die Beobachtung, dass das aevum früher beginnt als die magis proprie verstandene Zeit.55 – (2) Was ist dann in v. 6 mit dem am zweiten Schöpfungstag geschaffenen firmamentum gemeint? In aller Regel verstand man darunter die zum Zeitpunkt ihrer Erschaffung noch nicht mit dem Schmuck der Sterne ausgestattete achte Sphäre alleine oder das Gesamt der ersten acht Sphären.56 Die durch das Firmament geleistete Scheidung der Wasser bedeutete dabei 50
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53 54 55 56
Das liegt nicht zuletzt an der besonderen Raumstruktur des Empyreum: Es ist kein „Ort“ im üblichen Sinn des Wortes. Vgl. hierzu oben den Abschnitt zum Empyreum (ab S. 52, besonders S. 60 mit Anm. 191). Da die Vollkommenheit der Sphären wächst, je höher man „hinaufsteigt“, kann zudem die niedrigere Sphäre auf die höhere keinen Einfluss ausüben oder in irgendeiner Weise als Maßstab fungieren (vgl. hierzu unten S. 185 mit Anm. 94). Vgl. II Sent. 1, 1, dub. 4 [II, 38]; 2, 1, 2, 1, arg. 4 [II, 64], sinngemäß auch in II Sent. 2, 1, 2, 2, sc. 1 & resp. [II, 66]. Dies zeigte sich in der Frage nach dem saeculum, II Sent. 2, 1, 2, 2, resp. [II, 66]: haec mensura [scil. temporis magis proprie dicti] habet finem et desinet esse … qualis erit in inferno post diem extremum. Vgl. auch ebd., sc. 2 [II, 66]: … post diem iudicii non erit tempus. So etwa die Sentenzen des Petrus Lombardus (Sent. II, 2, 1 (7), 2.4 [SpicBon 4, 336f.]). Vgl. oben S. 45, Anm. 123. Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 65] über die vier verschiedenen Zeitbegriffe: Si autem quarto modo, sic aevum praecedit tempus et duratione et dignitate. Man bedenke, dass Bonaventura sich ja das Gesamt der beweglichen Himmelssphären als einen kontinuierlichen Körper vorstellte, vgl. oben S. 38.
178
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
zugleich die Entstehung des Wasser- oder Kristallhimmels als der neunten Sphäre.57 Einerlei, welche Sphäre man nun als Maßstab für die Zeit im aristotelischen Sinn zugrunde legt, der zweite Schöpfungstag ist ein möglicher Beginn für die magis proprie verstandene Zeit. 58 – (3) Die in v. 14f. berichtete Erschaffung von Sonne, Mond und Sternen, die „zur Bestimmung von Zeiten, Tagen und Jahren“ dienen, gehört zum Werk des vierten Schöpfungstages. Schon die explizite Nennung der Zeit legt es nahe, den eigentlichen Beginn der (aristotelischen) Zeit hierher zu setzen. Da aber, wie gesehen, sowohl die achte als auch neunte Sphäre bereits am zweiten Tag geschaffen wurden, muss man sich dies wohl so vorstellen, dass die Zeit dadurch begann, dass die Bewegung der Sphären am vierten Tag einsetzte.59 Und in der Tat schien Bonaventura diese letzte Variante etwas zu favorisieren. Wenn sich in die Ausführungen des Doctor seraphicus zum aristotelischen Zeitbegriff in den Details manche Ungenauigkeit eingeschlichen hat, so zeigt das nicht nur, dass Bonaventura hier als Theologe und nicht als Naturphilosoph oder Astronom spricht, ihren tieferen Grund mögen sie darin haben, welche Bedeutung er der so verstandenen Zeit beimaß. Einerseits scheint sie ja in praktischen Belangen das wichtigste Zeitmaß zu sein – das magis proprie, das diesen Zeitbegriff qualifiziert, ist auch in diesem Sinn durchaus ernst zu nehmen –,60 andererseits wird in seiner Bewertung dieser Zeit als coarctata temporis acceptio61 ein theoretisches Defizit deutlich, das – wie im Folgenden ersichtlich werden wird – dessen Anwendung und damit auch dessen Relevanz in theologischen Fragen stark einschränkt. Die folgenden Zeitdefinitionen sollen genau diesem Mangel abhelfen. Der Feststellung Joseph Ratzingers, „dass die eigentliche Zeit des Menschen die Zeit des vierten Tages, d. h. die auf dem primum mobile gründende Zeit ist, während es sich in den anderen Fällen um Massverhältnisse handelt, 57
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60 61
Vgl. auch II Sent. 2, 2, 1, 1, resp. [II, 71], wo auf die Meinung „Strabos“ (d. h. der Glossa ordinaria, die hier aus Ps.-Remigius von Auxerre genommen ist; vgl. den Kommentar in der Ausgabe der Sentenzen, SpicBon 4, 340, Anm. 1) hingewiesen wird, dass das Firmament und der Wasserhimmel am zweiten Tag erschaffen wurden. II Sent. 1, 1, dub. 4 [II, 38] stellte deshalb fest: … tempus coepit cum primo mobili, et illud coepit in secundo die. Die Bewegung der Sphären ergibt auch erst mit der Erschaffung der Gestirne (der „Lichter“) einen Sinn (vgl. oben S. 49 mit Anm. 143). Die in Bezug auf den Beginn der Zeit noch zögerliche Feststellung in II Sent. 2, 1, 2, 1, arg. 4 [II, 64] (tempus coepit cum motu primi mobilis, qui incepit, ut dicitur, die quarto, vel saltem ante secundum diem non potuit incipere) kann man in diesem Sinn interpretieren. In II Sent. 2, 1, 2, 2 äußerte sich Bonaventura dann eindeutig (vgl. sc. 1 [II, 66]: Ante quartum diem non erat tempus; im Responsum [II, 66] bemerkte er entsprechend, dass in triduo conditionis rerum die regulatio primi motus noch fehlte). – Zu der Feststellung, dass die aristotelische Zeit erst mit dem Beginn der Bewegung des primum mobile begann, vgl. man auch II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23] (zitiert in Anm. 65, S. 218). Vgl. auch die Feststellung in I Sent. 37, 2, dub. 3 [I, 665]: tempus per prius est mensura motus primi mobilis (Unterstreichung von mir). II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 65a].
Verschiedene Begriffe von Zeit
179
die den Menschen nicht unmittelbar betreffen“,62 wird man so nur bedingt zustimmen: Von einer empirischen und auf die sinnliche Wahrnehmung bezogenen Warte aus betrachtet, mag dies korrekt sein, doch Bonaventura wollte dabei nicht stehenbleiben, ihm ging es um die schrittweise zu enthüllenden Tiefendimensionen des Zeitbegriffs – gerade diese aber betreffen den Menschen,63 und zwar im Kern seiner Existenz als Geschöpf.
1.2.2
Mensura variationis successivae
Der Übergang von der vierten zur dritten Bedeutung von Zeit markiert auch den Schritt von der physikalischen zur „theologischen“ Zeit. Diese Unterscheidung, auf die oben bereits hingewiesen wurde,64 begegnete im Ansatz bereits in der Summa Halensis.65 Im Sentenzenkommentar des Thomas von Aquin wurde sie eher beiläufig erwähnt,66 während sie bei Albertus Magnus ein wichtiges, sich durchhaltendes Element seines Zeitkonzeptes darstellte.67 Roger Bacon benutzte diese Unterscheidung hauptsächlich dazu, um sich in seinen Darlegungen auf die naturphilosophische Sichtweise beschränken zu können.68 Vor diesem Hintergrund erscheint es um so auffälliger, wenn Bona62 63 64 65
66 67
68
RATZINGER, Der Mensch und die Zeit, 478. Auch wenn vielleicht der gegebene Rahmen der Engellehre, in dem diese weitergehende Zeitspekulation vorgetragen wird, dies zunächst nicht so scheinen lassen mag. Siehe oben S. 167. Vgl. Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 2 (69), ad 5 [Ed. cit. I, 108a]: tempus duplicem habet radicationem et secundum hoc duplex esse, prout tempus dicitur mensura variationis corporalis. Una est in variatione materiae … alia vero radicatio est in motu caeli. … Primo modo tempus, secundum theologos, coepit ante motum caeli. Siehe oben S. 171, Anm. 26. Vgl. De IV coaequaevis 2, 5, 2, sol. [Ed. Paris. 34, 369b]: Dicimus, quod tempus multipliciter accipitur. Uno modo secundum Theologos, alio modo secundum physicos. VINCENT VON BEAUVAIS, Speculum naturale III, 62 [Ed. cit. I, 200B] schloss sich dieser Unterscheidung an und gab diesen Passus wörtlich wieder. – Zu dem doppelten Zeitkonzept Alberts vgl. auch die beiden Artikel: Henryk ANZULEWICZ, Aeternitas – aevum – tempus. The Concept of Time in the System of Albert the Great, in: Pasquale Porro (Hrsg.), The Medieval Concept of Time. Studies on the Scholastic Debate and its Reception in Early Modern Philosophy (= Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 75), Leiden u. a. 2001, 83–129, besonders 118–123 (“An Integrated Theologico-philosophical Conception of Time”) sowie Ralf BLASBERG, Duplex tempus. Il duplice concetto di tempo in Alberto Magno, in: Guido Alliney / Luciano Cova (Hrsg.), Tempus, Aevum, Aeternitas. La concettualizzazione del tempo nel pensiero tardomedievale, Firenze 2000, 241–251. Ebenso unterschied auch Roger Bacon in seinem älteren Physikkommentar (der mit dem jüngeren in die Zeit 1241–1245 zu datieren ist, vgl. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 212) zwischen der theologischen und „physikalischen Sicht“, vgl. Questiones supra libros quatuor Physicorum Aristotelis IV, ed. Ferdinand M. Delorme & Robert Steele (= Opera hactenus inedita Rogeri Baconi VIII), Oxford 1928, hier 240, Z. 6–16: … duplex est tempus; quoddam est tempus quod est tempus et est mensura cujuslibet tam spiritualis quam corruptibilis, et tale est mensura
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
ventura zwar den aristotelischen Zeitbegriff als coarctata temporis acceptio einführte, ihn aber nicht ausdrücklich als philosophischen Zeitbegriff bezeichnete und entsprechend von den anderen drei Bedeutungen von Zeit absetzte.69 Das heißt doch, dass es ihm in der Frage nach der Zeit offenbar darauf ankam, nicht zwei unverbunden nebeneinanderstehende Zeitbegriffe zu etablieren, denn im Letzten liefe das auf eine Trennung der Bereiche der materiellen und der geistigen Wirklichkeit hinaus. Sein Anliegen war vielmehr – durchaus im Sinn des von ihm vertretenen Gesamtkonzepts einer sapientia christiana70 – den naturphilosophisch-physikalischen Zeitbegriff im theologischen aufgehoben sein zu lassen oder umgekehrt diesen als eine Ausweitung von jenem zu sehen. Vergleicht man nun die in diesem Abschnitt betrachtete Zeitdefinition mit der des vorausgehenden Abschnitts, so fällt auf, dass sich erstere bereits in ihrer äußeren Gestalt als Verallgemeinerung der letzteren zeigt, indem nämlich die Restriktion auf kontinuierliche und „reguläre“ Bewegungen ausdrücklich wegfällt: 3) mensura variationis successivae, sive sit successiva successione regulari et continua sive non 4) mensura motus sive variationis successivae et continuae et regulatae secundum regulam motus octavae sphaerae
Jede der vier in II Sent. 2, 1, 2, 1 vorgestellten Bedeutungen von Zeit wurde mit dem Namen einer Autorität verknüpft (Aristoteles, Augustinus, Richard von Sankt Viktor und Beda Venerabilis). Dies ist – vielleicht mit Ausnahme von Aristoteles – nicht so zu verstehen, dass die einzelnen Personen auf den jeweiligen Zeitbegriff (gar als den einzig von ihnen vertretenen) festgelegt werden sollen; vielmehr ist das jeweils beigefügte Zitat als Beispiel zu verstehen, das den jeweiligen Zeitbegriff illustriert und dessen „Notwendigkeit“ aufzeigt.71 Für die hier betrachtete Definition beruft sich der Doctor
69
70 71
affectionum substantiarum angelicarum et omnium operationum earum … et tale tempus est tempus creationis quod est theologice considerationis … et de hujusmodi tempore hic ad presens non intendimus; aliud est tempus physice considerationis vel physicum, de quo hic intendimus. Hujusmodi autem tempus numerus est vel mensura primo et principaliter motus localis, qui prior est aliis motibus et est secundum prius et posterius … – Schließlich kann auch noch auf Robert Kilwardby hingewiesen werden, der in De tempore 2, 10 [ABMA 9, 8, Z. 23–27] den metaphysischen Zeitbegriff Augustins vom physikalischen Zeitbegriff des Aristoteles (wörtlich: secundum phisicam considerationem Aristotelis) unterschied. Hinzu kommt: Bei der Frage nach der Materie (und ihrem Verhältnis zur Zeit) trennte Bonaventura durchaus die naturphilosophische („physikalische“), die metaphysische und die theologische Perspektive voneinander (vgl. II Sent. 3, 1, 1, 2, resp. [II, 97]; siehe auch unten ab S. 261); dies wäre eine passende Gelegenheit gewesen, bei der Zeit selbst entsprechend zu verfahren. Vgl. oben den Abschnitt zum Verhältnis von Philosophie und Theologie ab S. 81, besonders S. 83. „Notwendigkeit“ soll hier bedeuten: Der jeweilige Zeitbegriff wird gebraucht, weil es in der theologischen Literatur Belegstellen gibt, wo „Zeit“ in dieser Bedeutung verwendet wird.
Verschiedene Begriffe von Zeit
181
seraphicus dabei auf den pseudoaugustinischen Dialogus quaestionum LXV Orosii.72 Das „Zitat“ Affectiones variae Angelorum mensurantur tempore et omnis variatio rerum macht dabei deutlich, in welche Richtung die neue Bedeutung von Zeit zielt und welche Bandbreite sie besitzt. Demnach geht es zunächst um die Regungen (affectiones) der einfachen Substanzen, d. h. in erster Linie der Engel.73 Man erkennt dahinter unschwer eine verfeinerte Version des augustinischen Konzepts der „geistigen Bewegungen“, das dieser in De Genesi ad litteram an verschiedenen Stellen behandelt hatte.74 Als Bewegungen, die nur in der Zeit stattfinden (moveri per tempora) setzte er sie dabei in VIII, 20, 39 von der sowohl Raum als auch Zeit beanspruchenden Ortsbewegung (moveri per loca et tempora) ab. Bereits Petrus Lombardus hatte in seinen Sentenzen darauf Bezug genommen, und das moveri per tempora als per affectiones mutari gedeutet.75 Bonaventura (und den anderen Kommentatoren der Sentenzenbücher) bot dies Anlass, ein ausgefeiltes Konzept der Engelsbewegungen vorzulegen. Zum Verständnis dieses Konzeptes ist auf zwei entscheidende Punkte hinzuweisen: Als Erstes ist zu betonen, dass die so verstandene Zeit nur die affectiones der Engel messen soll; um das esse, d. h. die auf die Substanz zu beziehende unendliche (Lebens-)Dauer der Engel, zu messen, steht mit dem aevum ein eigenes Maß zur Verfügung.76 Letzteres lässt sich nur in einem sehr allgemeinen Sinn (communissime) als „Zeit“ verstehen, denn das Sein der Engel zeichnet sich gegenüber den affectiones ja gerade durch Unveränderlichkeit (im Sinn von Unvergänglichkeit) aus. Dem entspricht auch, dass in der vorliegenden Definition – wie auch 72
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Vgl. Dialogus quaestionum, qu. 40f. [CSEL 99, 388–392], dort wurde festgestellt, dass die Gedanken der geschaffenen Geister, sowohl der Engel, wie auch der Menschen der Zeit unterliegen; das „Zitat“ Bonaventuras fasste den Inhalt der beiden Abschnitte zusammen. – Hier ergibt sich auch eine Querverbindung zu der Zeitdefinition in I Sent. 37, 2, dub. 3 [I, 665], denn die dort behandelte Frage (Utrum spiritualis creatura per tempus moveatur) ist genau die der pseudoaugustinischen Quaestio 41. Aus dem Kontext der Distinctio 2 dürfte sich dabei erklären lassen, dass die menschliche Seele als weitere einfache Substanz hier nicht ausdrücklich genannt wird, obwohl sie sicherlich mitgemeint ist, vgl. hierzu etwa die obige Bestimmung b) von „zeitlich“ (S. 170). Vgl. oben S. 147, wobei ergänzend auch auf Civ. XI, 6 [CC.SL 48, 326f.] verwiesen werden kann. Die genannten beiden Quaestiones des Dialogus quaestionum stellen ihrerseits einen Kommentar zu AUGUSTINUS, Gen. litt. VIII, 20, 39 [BA 49, 68–70] dar. So in Sent. I, 8, 2 (22), 2 [SpicBon 4, 97] (Per tempora moveri est per affectiones commutari); die Stelle hängt ihrerseits von der Summa sententiarum I, 5 [PL 176, 50B; vgl. PL 171, 1076B, dort c. 3] ab: Moveri per tempus, est moveri per affectiones, ut de tristitia in gaudium, discendo etiam quae nescit, ut in angelis, in hoc enim prius et posterius consideratur. Vgl. auch Sent. I, 37, 6f. (169f.) [SpicBon 4, 271f.], besonders c. 7 (170) [SpicBon 4, 271, Z. 20–23]: Mutari autem per tempus est variari secundum qualitates interiores vel exteriores quae sunt in ipsa re, quae mutatur, ut quando suscipit vicissitudinem gaudii, doloris, scientiae, oblivionis, vel variationem formae sive alicuius qualitatis exterioris. Bonaventura nahm vor allem in I Sent. 37, 2, 2, 2, sc. 1 & ad 1 [I, 660f.] und ebd. 37, 2, dub. 2 [I, 664f.] dazu Stellung. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56a]: distinguendum est, quia aut loquimur de mensura spiritualium secundum esse, quod non mutatur, aut secundum affectiones.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
in dem Pseudo-Augustinus-Zitat – nur noch der Begriff variatio (statt motus sive variatio) verwendet wird, denn er besagt eine mutatio secundum accidens, d. h., ein Werden oder Vergehen der Substanz fällt nicht darunter.77 Der Begriff motus – als Übersetzung des aristotelischen κίνησις-Begriffs78 – hingegen ist mehrdeutig, er kann (1) im weitesten Sinn auf jede Art von natürlicher Veränderung (mutatio) beziehen – wobei dieser Gebrauch bei Bonaventura eher selten zu sein scheint –,79 oder er kann sich (2) auf eine Veränderung hinsichtlich der Form (motus ad formam) oder der Lage beziehen (Ortsbewegung, motus ad situm),80 wobei in diesem Falle der Unterschied zur variatio zwar gering, aber doch vorhanden ist. So verbindet man mit dem Begriff motus eher eine sukzessive und kontinuierliche Veränderung81 und er steht mehr als die variatio unter dem
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Vgl. I Sent. 8, 1, 2, 2, resp. [I, 160a], wobei sich Bonaventura nicht immer an diese Bestimmung hielt, so sprach er In Eccl. III, qq. ad v. 1, resp. [VI, 28b] von Werden und Vergehen als variatio in substantia. Vgl. etwa die Übersetzung von Categoriae 14 [15a 12f.] durch Boethius [Aristoteles latinus I.1.5, 39], wo die sechs Arten von Bewegung/motus (γένεσις, φθορά, αὔξησις, µείωσις, ἀλλοίωσις, κατὰ τόπον µεταβολή – generatio, corruptio, crementum, diminutio, commutatio et secundum locum translatio) aufgezählt wurden. – Man beachte dabei allerdings, dass Aristoteles in Physica V, 1 [224b 35 – 225b 5] anders urteilte und die γένεσις und die φθορά aus dem κίνησις-Begriff herausnahm. Am eindeutigsten in diese Richtung dürfte II Sent. 1, 1, 1, 2, arg. 2 [II, 19] gehen (Omne quod exit in esse, exit per motum vel mutationem), wobei die Formulierung motus vel/et mutatio noch öfter vorkommt. In II Sent. 1, 1, 3, 1, resp. [II, 32] werden dagegen motus und mutatio voneinander abgehoben: Motus verlangt eine vorausgehende dispositio, die man mit der Materie verbinden wird, während mutatio sich auf die Vermittlung einer neuen Form bezieht – Bonaventura wollte hier darauf hinaus, dass man die creatio ex nihilo als eine (supernaturalis) mutatio beschreiben kann, bei der es per se kein sich durchhaltendes Subjekt geben kann (vgl. auch unten S. 197). Andersherum gesagt, beschränkt sich die Verwendung des Begriffs motus (wie oben gesagt) auf den natürlichen Bereich. Hier mag auch der größte Unterschied in der „Bewegungslehre“ zwischen Bonaventura und Aristoteles liegen. Er unterschied bei den aristotelischen Veränderungsformen γένεσις und φθορά noch einmal: Es gibt generatio und corruptio, die innerhalb des natürlichen Rahmens bleiben (d. h. innerhalb des Akt-Potenz-Schemas, in dem ein mögliches Seiendes in Wirklichkeit überführt wird bzw. umgekehrt), und es gibt creatio und (con)versio, die einen übernatürlichen Akt darstellen, bei dem die gesamte Substanz (tota rei substantia) betroffen ist (vgl. I Sent. 8, 1, 2, 2, resp. [I, 160a] sowie IV Sent. 11, 1, 1, 3, resp. [IV, 246]). – Eine andere Unterscheidung traf III Sent. 4, 3, 1, resp. [III, 111b]: motus enim est transmutatio successiva; mutatio instantanea. Es handelt sich dabei um ein verkürztes Zitat aus den Auctoritates Aristotelis, Physica V, nr. 150 [PhMed 17, 152] (motus enim est transmutatio successiva quae fit in tempore, sed mutatio est transmutatio subitanea quae fit in instanti); der Text findet sich allerdings so nicht in Physica V. Vgl. I Sent. 37, 2, dub. 2 [I, 664b], wo der motus ad situm als motus secundum locum von den übrigen fünf aristotelischen Bewegungsarten als motus ad formam abgegrenzt wird. Vgl. ferner II Sent. 1, 1, 3, 1 [II, 30–33], Trin. 6, 1, resp. [V, 99a]. Vgl. oben Anm. 79 sowie II Sent. 14, 2, 1, 3, arg. 2 [II, 354]: ubicumque est motus, ibi est continuitas et variatio (unter Bezug auf Physica III, 1 [200b 16f.]).
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Vorbild einer örtlichen Veränderung; deswegen meint motus (3) in der engsten Bedeutung nur die Ortsbewegung als die „vollkommenste“ Form der Bewegung.82 Die Unterscheidung von motus und variatio ist auch insofern von Belang – und das ist der zweite wichtige Punkt in der Lehre von den Bewegungen der Engel – als die Veränderung der affectiones auch gegenüber der Ortsbewegung abzugrenzen ist, denn sie gehört in dem obengenannten, im weiteren Sinn aristotelischen Schema83 zum motus ad formam.84 Dabei ist zunächst daran zu erinnern, dass im scholastischen Denken die Ortsbewegung der Engel separat abgehandelt wurde: Ein Engel kann sich sowohl mit Körper (corpore assumpto) als auch ohne Körper bewegen.85 Für die erstere Bewegung gelten die allgemeinen Bedingungen der Bewegung von Körpern, d. h., sie ist sukzessiv und kontinuierlich, wobei sie als Bewegung per accidens eingestuft wurde, denn die Verbindung eines Engels mit dem von ihm angenommenen Körper trägt gleichfalls nur akzidentellen Charakter (so wie ein Matrose sich bewegt, wenn das Schiff, auf dem er steht, in Bewegung ist).86 Doch auch ohne Körper sollen (um nicht zu sagen müssen) Engel zu Ortsbewegungen fähig sein, denn ihr Wirken, ihre Kraft (virtus) ist endlich und deswegen an einen Ort gebunden.87 Diese Rückbindung des Ortes an die Kraft trägt dabei dem Verständnis Rechnung, dass die Engel als einfache, geistige Substanzen auf andere Weise einen Ort einnehmen als ein Körper: Ein Körper wird – gemäß der aristotelischen Bestimmung88 – von einem Ort „umfasst“, während die endliche geistige Sub82
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Vgl. I Sent. 37, 2, 1, 2, sc. 1 [I, 654]: perfectissimus motuum est motus secundum locum. – Das scheint sich an ARISTOTELES, Physica VIII, 7 [261a 27] anzulehnen, wo es heißt, dass die Ortsbewegung die erste von allen Bewegungsarten ist (vgl. auch die Anm. 83). Die Einteilung der Bewegungsarten, die die Ortsbewegung von den übrigen fünf Bewegungsarten absetzt, war von Physica VIII, 7 [260a 20 – 261b 26] inspiriert, wo der Vorrang der Ortsbewegung aufgezeigt wird. Vgl. I Sent. 37, 2, dub. 2 [I, 664f.]. Vgl. etwa bei BONAVENTURA, I Sent. 37, 2, 2, 1, resp. [I, 658] – Parallelstellen bei anderen Autoren gibt das folgende Scholion an; die Lehre Bonaventuras war in dieser Frage sehr stark an die Summa Halensis II, 2, 3, 2, 2, 2 (177–193) [Ed. cit. II, 229–247] (De actu potentiae motivae exterioris angeli) angelehnt. Vgl. I Sent. 37, 2, 2, 1, ad 2 [I, 658]. Woran Bonaventura konkret dachte, wurde in I Sent. 37, 2, 2, 2, resp. [I, 660] deutlich: Certum enim est, quod Angelus, qui est custos hominis, potest ita custodire, quod non deserat ipsum, et sine corpore custodire potest: ergo potest inseparabiliter comitari eum. Auf einer abstrakteren Ebene wurde das Konzept des Ortes eines Engels in II Sent. 2, 2, 2, 1–4 [II, 75–84] behandelt; vgl. dort etwa die Argumentation von II Sent. 2, 2, 2, 1, fund. 4 [II, 75]: nulla substantia operatur, nisi ubi est eius virtus; sed nulla virtus potest elongari a substantia nisi distantia proportionali. … Ergo cum [scil. angelus] operatur in loco corporali, ut patet in corpore, quod movet, ergo ibi est, vel in loco proximo est. Thomas von Aquin betonte diesen letzten Aspekt noch wesentlich stärker: Während der Ort für einen Körper eine quantitas dimensiva darstellt, ist er für den Engel eine quantitas virtualis (S. th. I, 52, 1, resp. [Ed. Leonina V, 20]). I Sent. 37, 3, 1, resp. [Ed. cit. I, 870] stellte fest: Relinquitur ergo quod Angelus definiri vel determinari non potest ad locum aliquem, nisi per actionem et operationem. Vgl. oben S. 56, besonders Anm. 175 zum „Gefäßcharakter“ des Ortes.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
stanz von ihm lediglich „begrenzt“ wird; terminologisch unterschied man dies als esse in loco circumscriptive bzw. esse in loco definitive,89 wobei Letzteres einen uneigentlichen Gebrauch (minus proprie) des Ortsbegriffs darstellte.90 Auf der Grundlage dieser Unterscheidung erfolgte bei Bonaventura die Untersuchung der zugehörigen Bewegung; er kam dabei zu dem Schluss, dass auch diese besondere Form der Bewegung einer geistigen Substanz kontinuierlich und sukzessiv erfolgt.91 – Es bleibt schließlich zu fragen, zu welcher Zeitdefinition dieser motus gehört, zu der hier betrachteten „augustinischen“ oder zu der aristotelischen. Bonaventura äußerte sich dazu nicht direkt, im Rahmen der in I Sent. 37, 2, dub. 3 [I, 665] vorgetragenen Zeitdefinitionen ließ er jedoch durchblicken, dass der motus der Engel nicht der Bewegung des primum mo89
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Vgl. BONAVENTURA, I Sent. 37, 2, 2, 1, resp. [I, 658]; THOMAS VON AQUIN, I Sent. 37, 3, 1, resp. und ad 5 [Ed. cit. I, 869–871.872] sowie S. th. I, 52, 2, resp. [Ed. Leonina V, 25]; Summa Halensis II, 2, 3, 2, 2, 2, 1, 2, 3 (182), sol. [Ed. cit. II, 237b] – Dem entsprechen bei Bonaventura zwei (von insgesamt drei) Funktionen des Ortes, nämlich lediglich zu enthalten (continens ut vas) oder auch zu bemessen (mensurans ut quantitas); siehe II Sent. 2, 2, 2, 1, resp. [II, 76b] und vgl. I Sent. 37, 1, 1, 2, resp. [I, 641]. Bonaventura gab dabei keine eigene Definition der Begriffe circumscriptive bzw. definitive, die Bemerkung der letztgenannten Stelle (Spiritualia autem minus proprie [scil. sunt in loco]; nam non sunt commensurative respectu partium, sunt tamen definitive respectu totius) und in II Sent. 2, 2, 2, 3 [II, 81b] (est in loco corporali, sed intelligibiliter, non figuraliter, quia hoc solum capit intellectus, quomodo videlicet substantia tota sit in partibus et tota in toto) legt nahe, dass das esse in loco circumscriptive eines Körpers bedeutet, dass der entsprechende Raum von ihm so ausgefüllt wird, dass den Teilen des Körpers auch die Teile des Raumes entsprechen. Das esse in loco definitive hingegen besagt dann, dass die geistige Substanz unteilbar (tota in partibus et tota in toto) an einem bestimmten Ort gegenwärtig ist, ohne ihn im eigentlichen Sinn auszufüllen (vgl. II Sent. 2, 2, 2, 4, resp. [II, 84a]: per praesentiam Angeli nulla removetur indigentia loci), aber so dass dadurch die gleichzeitige Gegenwart an einem anderen Ort ausgeschlossen ist. Vgl. auch das Scholion bei Bonaventura (Opp. I, 641) sowie Ludwig SCHÜTZ, ThomasLexikon, Stuttgart 1958 (Neudruck der 2. Aufl.), 450. Ähnliche Bestimmungen findet man sowohl in dem anonymen (früher Thomas zugeschriebenen) Traktat De sacramento eucharistiae 8, in: Doctoris angelici divi Thomae Aquinatis … opera omnia, ed. Stanislaus Eduard Fretté, Bd. 28: Opuscula varia, Paris 1875, 242–253, hier 249b, Z. 8–14: corpus quod est in aliquo loco, definitur et circumscribitur illo loco, et ei commensuratur, ita quod totum corpus superficialiter toti loco, et partes corporis partibus loci commensurantur, ita quod singulae partes locati, singulis partibus loci assignantur. Vgl. ähnlich THOMAS VON AQUIN, IV Sent. 10, 1, ad 5 [Ed. cit. 2IV, 405] und S. th. I, 52, 2, resp. [Ed. Leonina V, 25] (Nam corpus est in loco circumscriptive: quia commensuratur loco. Angelus autem non circumscriptive, cum non commensuretur loco, sed definitive: quia ita est in uno loco, quod non in alio. Ähnlich auch I Sent. 37, 3, 1, resp. [Ed. cit. I, 869–871]. Vgl. noch einmal BONAVENTURA, I Sent. 37, 2, 2, 1, resp. [I, 658]. Siehe I Sent. 37, 2, 2, 2f. [I, 659–664], wo die beiden Fragen der Kontinuität und der Sukzessivität der Reihe nach behandelt wurden. Nach der Angabe des Scholions (Opp. I, 661a) favorisierte Bonaventura, was die Frage der Kontinuität der Bewegung anlangt, die allgemeine Meinung, während Thomas von Aquin eine Sonderposition einnahm, wenn er an der entsprechenden Stelle (I Sent. 37, 4, 2 [Ed. cit. I, 882–885]) lehrte, dass die Bewegung eines Engels – immer unter der Voraussetzung, dass er nicht einen Körper angenommen hat – sowohl kontinuierlich als auch „sprunghaft“ (non pertranseundo medium) erfolgen könne.
Verschiedene Begriffe von Zeit
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bile unterliegt,92 obwohl sukzessiv und kontinuierlich wird er demnach – da nicht der regulatio primi mobilis unterliegend – nicht von der aristotelischen Zeit gemessen.93 Nach diesem Exkurs über die örtliche Bewegung der Engel wenden wir den Blick wieder auf Veränderungen der affectiones. Beinahe selbstverständlich erscheint hier die Feststellung, dass sie nicht der regulatio octavae sphaerae unterliegen, für die Engel folgt das schon deswegen, weil sie ihren eigentlichen Ort in der übergeordneten Sphäre des caelum empyreum haben.94 Der tiefere Grund aber ist ein anderer: Wie gesehen, sind hier affectiones in einem weiten Sinn zu verstehen, es geht nicht nur um das, was man sich für gewöhnlich unter Empfindungen vorstellt, sondern auch um die Akte des freien Willens und des Denkens.95 Die betrachteten Akte der Engel (und der menschlichen Seele) weisen nicht dieselbe Struktur wie die körperlichen Veränderungen oder Bewegungen auf: Zwar sind auch sie nicht zeitlos, insofern sie eine eindeutige VorherNachher-Ordnung (successio) aufweisen, doch hat man es dabei nicht unbedingt mit kontinuierlichen Abläufen zu tun, sondern (worauf die Zeitdefinition hinweist) es sind
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Vgl. unten Anm. 94. Man könnte höchstens einwenden, dass Bonaventura an der bezeichneten Stelle bei motus nur an die affectiones denkt, wobei motus dann in seiner weiten Bedeutung gebraucht wäre. Das erscheint mir jedoch eher unwahrscheinlich, da es ja im vorausliegenden Teil der Distinctio 37 gerade um die örtliche Bewegung der Engel ging). Vgl. hierzu auch (trotz der Unterschiedenheit des Bewegungskonzeptes) THOMAS VON AQUIN, S. th. I, 53, 3, resp. [Ed. Leonina V, 35] zu der mit der Bewegung der Engel verbundenen Zeit: Sed istud tempus, sive sit tempus continuum sive non, non est idem cum tempore quod mensurat motum caeli, et quo mensurantur omnia corporalia, quae habent mutabilitatem ex motu caeli. Motus enim Angeli non dependet ex motu caeli. Zum Ort der Engel vgl. II Sent. 2, 2, 2, 1, resp. [II, 76f.]. Vgl. ferner I Sent. 37, 2, dub. 3 [I, 665]: tempus per prius est mensura motus primi mobilis: ergo illud solum mensuratur tempore, quod subiacet illi motui; sed tale non est Angelus nec eius motus. Ferner II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59a]: tempus est in affectionibus et cogitationibus liberi arbitrii, quod non subest motui caelesti. Vgl. auch Anm. 95. Vgl. die Aufzählung in den Sentenzen oben S. 181, Anm. 75. Anders gesagt, als Übersetzung des griechischen πάθος zielt affectio hier auf den gesamten Umfang des menschlichen „Leide“-Vermögens. – Insbesondere die natürliche Erkenntnis der Engel wurde ausführlich in II Sent. 3, 2, 2, 1–2 [II, 117–124] behandelt; auf deren zeitliche Strukturiertheit ging II Sent. 11, dub. 2 [II, 290b] ein: … etsi cognitio beatitudinis tempori non subiaceat, tamen cogitationes et affectiones et etiam cognitiones Angelorum circa haec creata nihil impedit variari per tempora. Auch die Erkenntnis der Dämonen wird in II Sent. 7, 2, 1, 2, ad 3.4 [II, 193] ausdrücklich unter den im vorliegenden Abschnitt behandelten Zeitbegriff gestellt: Ad illud quod obiicitur, quod intelligere cadit in tempore; dicendum, quod cadit in tempore, extenso nomine temporis, non prout est motus primi mobilis mensura, quia nec daemonum esse nec intelligere pendet ex illo. – ALBERTUS MAGNUS, De IV coaequaevis 2, 5, 6, sol. [Ed. Paris. 34, 379] differenzierte dabei sogar noch etwas feiner, indem er nur die auf die eigene Natur der Dinge ausgerichtete „Abenderkenntnis“ der Engel (vgl. oben S. 148, Anm. 324) als zeitlich einstufte: quod Angeli … intelligunt in tempore secundum discursum angelicae intelligentiae super res intelligibiles in cognitione vespertina, quia secundum matutinam cognitionem attingunt aeternitatem.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
auch instantan vollzogene qualitative Sprünge möglich.96 Das aristotelische Paradigma, das in der Bewegung zuallererst eine Raumbewegung sieht, und diese von ihrem Anfangspunkt und ihrem Endpunkt aus in beliebige Teilstücke zerlegt, (was sich dann auf die Zeit überträgt) versagt bei der Betrachtung immaterieller (geistig-psychischer) Vorgänge. Ja, die Diskretheit erscheint hier geradezu als ein charakteristisches Merkmal dieser Art von Bewegung.97 Bonaventura legte jedoch Wert darauf, dass sich nicht alle Eigenschaftsveränderungen plötzlich (subito) vollziehen, es kommen auch allmähliche (paulative), d. h. über Zwischenstufen verlaufende, Prozesse vor.98 Am Rande bemerkte Bonaventura außerdem, dass diese Diskretheit der Veränderungen nicht nur bei den affectiones beobachtet werden kann. In dem Pseudo-Augustinus-„Zitat“ in II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 65] Affectiones variae Angelorum mensurantur tempore ergänzte er et omnis variatio rerum. Dahinter dürfte die Überlegung stehen, dass sich diskrete Veränderungsprozesse natürlich nicht nur bei geistigen Substanzen finden, sondern überall dort, wo eine nicht teilbare Eigenschaft angenommen wird.99 Das hier gewonnene Bild von dem, was unter „Zeit im eigentlichen Sinn“ zu verstehen ist, wird noch etwas differenzierter, wenn man die an den anderen drei Stellen gegebenen Zeitdefinitionen Bonaventuras zum Vergleich heranzieht. Obwohl anders formuliert, besagt die im Koheletkommentar gegebene Definition von tempus proprie dictum100 nichts anderes als in II Sent. 2, 1, 2, 1. Auch dort umfasst sie die mit den affectiones der geistigen Substanzen verbundene Zeit und die aristotelische Zeit. Letztere wird hier durch das Werden und Vergehen der Substanzen (variatio in substantia) charakterisiert und dadurch deutlich vom aevum abgesetzt. – Die Definition aus I Sent. 37, 2, dub. 3 zieht die Grenzen dagegen etwas anders: Zeit im eigentlichen Sinn ist dort nur die aristotelische Zeit,101 die durch die Kontinuität der zugrundeliegenden Bewegung definiert wird. Dagegen fällt das, was in II Sent. 2, 1, 2, 1 proprie unter Zeit verstanden wird, hier gerade mit jener anderen Bedeutung (alio modo) von Zeit zusammen.
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Vgl. auch I Sent. 37, 2, dub. 3 [I, 665]: aevum est mensura Angelorum quantum ad esse substantiale, quod est invariabile et incorruptibile; sed tempus quantum ad proprietates, quae variantur, et quaedam subito, quaedam successive, sicut patet in Angelis per naturam paulative intendi aliqua affectio. Was wiederum zu der aristotelischen Erkenntnis aus Physica VIII, 7 & 8 [261a 31f; 264b 28 – 265a 2] passt, dass nur die Ortsbewegung kontinuierlich sein kann; vgl. auch die Auctoritates Aristotelis, Physica VIII, nr. 220 [PhMed 17, 158]: Solus motus localis est continuus vere …; vgl. auch noch einmal I Sent. 37, 2, dub. 3 [I, 665] (zitiert oben Anm. 96). Vgl. noch einmal Anm. 96. Als Beispiel par excellence könnte man hier die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi anführen, die in IV Sent. 11, 1, 1, 5 [IV, 248–250] diskutiert wurde (vgl. dazu den Abschnitt ab S. 250). Die Beschreibung lautete: importat variationem sive in substantia, sive in affectione. Also genau jenes Verständnis, das in den Definitionen von II Sent. 2, 1, 2, 1 und In Eccl. III als magis proprie qualifiziert wurde.
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Für diese Definition ist die Unterscheidung von continuus und instantaneus leitend,102 die ihrerseits auf die unter dem Vorbild des primum mobile stehende Ortsbewegung bzw. die Veränderung der affectiones (der Engel) zurückverweist.103 Während es in I Sent. 37, 2, dub. 3 also gerade um die Unterscheidung von aristotelischer Weltzeit und augustinischer Engelszeit geht (das sind die beiden eigentlichen Bedeutungen von Zeit im Sinn von II Sent. 2, 1, 2, 1), stehen schließlich bei der Definition in II Sent. 1, 1, dub. 4 die mit der Frage nach der Schöpfung verbundenen verallgemeinerten Bedeutungen (communiter, communissime) von Zeit im Vordergrund. Deswegen wird dort auch Zeit im eigentlichen Sinn (proprie) nicht weiter differenziert, sondern als mensura motus primi mobilis schlichtweg mit der aristotelischen Zeit identifiziert. Betrachtet man den hier vorgestellten Zeitbegriff noch einmal insgesamt, so ergibt sich ein Dreifaches: Zum einen erkennt man deutlich die – in einem weiten, nicht-exklusiven Sinn zu verstehende – augustinische Wurzel, die diese Art der Zeit mit den (akzidentellen) Bewegungen der Engel verband und sie als theologische Zeit von dem aristotelisch-physikalischen Zeitbegriff abgesetzte. Zum anderen wird umgekehrt das Bemühen sichtbar, eine Strukturgleichheit der beiden Zeitbegriffe aufzudecken, indem beide als Maß der Bewegung und letzterer als Erweiterung des ersteren verstanden wird. Das Mittel dazu ist die aristotelische Bewegungslehre selbst: Zeit wird jetzt nicht mehr nur im Hinblick auf die Ortsbewegung betrachtet, sondern sie wird auf die anderen Bewegungsarten (ausgenommen das Werden und Vergehen) ausgedehnt. Neben der kontinuierlichen Zeit der Ortsbewegung enthält dieser Zeitbegriff damit auch eine auf Eigenschaftsveränderungen bezogene diskrete Zeit. Als Drittes ist auf den immer wieder betonten Unterschied zwischen dieser Zeitform und dem aevum zu verweisen: Die Zeit im engsten Sinn (die aristotelische Zeit) ist das Maß der körperlichen Dinge,104 und zwar sowohl ihrer substantiellen als auch ihrer akzidentellen Veränderungen, sie hat keine Gemeinsamkeit mit dem aevum. Der hier behandelte weitere Zeitbegriff ist mit dem aevum insofern verbunden, als er auch die Veränderungen geistiger Substanzen einschließt, doch während letzteres das Sein (d. h. die Dauer) der geistigen Substanzen misst, betrifft ersterer lediglich deren akzidentelle Veränderungen (affectiones). Ersterer ist Zeit in einem eigentlichen Sinn, denn die affectiones sind vergänglich, das aevum dagegen ist nur in einem weiten Verständnis Zeit, denn das hier betrachtete Sein ist unvergänglich.
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Wobei mit dem Scholion zu I Sent. 37, 2, 2, 3 (Opp. I, 664a) darauf hinzuweisen ist, dass „kontinuierlich“ nicht das Gegenteil von „instantan“, sondern von „diskret“ ist. In Zusammenhang mit dem Dubium I Sent. 37, 2, dub. 2 [I, 664f.] ergab sich daraus eine sehr elaborierte Deutung der augustinischen Unterscheidung von per tempus et locum moveri und per tempus moveri. Vgl. oben S. 148 mit Anm. 323 sowie S. 181 mit Anm. 75. Vgl. II Sent. 2, 1, 2, prol. [II, 64]: Consequenter quaeritur de mensura substantiae spiritualis in comparatione ad mensuram rei corporalis.
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1.2.3
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Exkurs: Das saeculum als Zeitmaß zwischen tempus und aevum
In Verbindung mit den beiden zuvor betrachteten Bedeutungen von Zeit führte Bonaventura im Sentenzenkommentar in einer eigenen kurzen Quaestio das saeculum als ein weiteres zeitliches Maß ein.105 Unter der Fragestellung, ob das saeculum zwischen tempus und aevum anzusiedeln ist, charakterisierte er dieses Zeitmaß näherhin dadurch, dass darin zwar Verschiedenheit (variatio) auftritt, diese jedoch nicht notwendigerweise mit einem Aufhören (desitio) oder der regulatio des primum mobile verbunden ist.106 Die in der sed-contra-Reihe aufgeführten Anwendungsfälle erlauben es, eine genauere Vorstellung davon zu gewinnen, was er darunter verstanden wissen wollte; die völlig parallele, und zugleich ausführlichere Behandlung in der Summa Halensis hilft zusätzlich, die Hintergründe weiter aufzuhellen.107 Dabei wird deutlich, dass der Doctor seraphicus den Begriff nicht in seinem allgemeinen, sondern in einem recht speziellen technischen Sinn verwendet wissen wollte.108 105 106 107
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II Sent. 2, 1, 2, 2 [II, 65f.]. Ebd., resp. [II, 66]: … est ponere mediam mensuram, in qua est variatio, nec oportet quod sit desitio, vel primi motus regulatio. Vgl. Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 2 (69) [Ed. cit. I, 106–109] (Utrum sit aliqua media mensura durationis inter aevum et tempus) – die besondere Nähe zeigt sich darin, dass die Pround Contra-Argumente von Bonaventura fast eins zu eins übernommen werden (wenn auch knapper und in vertauschter Reihenfolge), nur das letzte Contra-Argument der Summa Halensis wird weggelassen und das erste Pro-Argument wechselt die Seite (arg. 2 bei Bonaventura, er folgte dabei der Erwiderung in der Summa Halensis). Einen weiteren wichtigen Vergleichstext stellt ROBERT KILWARDBY, De tempore 19 [ABMA 9, 39f.] dar. Er behandelte dieselbe Frage und stützte sich dabei ebenfalls auf die Summa Halensis. Der Bedeutungsspielraum von saeculum ist gewaltig, neben verschiedenen begrenzten Zeiträumen (33, 50, 100 Jahre) kann es (insbesondere als biblischer Begriff) auch die Weltzeit und die Welt oder das irdische Leben insgesamt bezeichnen. Vgl. auch Karl Ernst GEORGES, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 2 Bde., Darmstadt 1998 (Unv. Nachdruck d. 8. verb. u. verm. Auflage von Heinrich Georges), Bd. 2, 2447f. Besonders zu erwähnen ist außerdem die Überschneidung mit dem aetas-Begriff in der Bedeutung „Zeitalter“ – schon ISIDOR VON SEVILLA, Etymologiae V, 38, in: Etimologie o Origini, a cura di Angelo Valastro Canale, Bd. 1: Libri I–XI, Torino 2006, hier 446f. behandelte beide Begriffe zusammen, dasselbe tat WILHELM VON AUVERGNE, De universo I, 2, 7 [Ed. cit. I, 689f.], die bei ihm zu findende Einteilung der Weltgeschichte in saecula entspricht dabei genau der sonst (etwa bei Augustinus und Isidor) üblichen aetates-Gliederung. Weiter war dem Mittelalter bewusst, dass saeculum neben aevum, aeternitas und sempiternitas auch eine der verschiedenen möglichen Übersetzungen des αἰών-Begriffes darstellt (woher auch die Verbindung zu der Bedeutung „Lebenszeit“ und den damit verknüpften Zeiträumen kommen dürfte); vgl. hierzu bereits oben S. 145, Anm. 306 sowie S. 151, ferner ISIDOR VON SEVILLA, ebd. sowie THOMAS VON AQUIN, In De caelo et mundo I, c. 9, lect. 21, 9 [Ed. Leonina III, 86f.]; De potentia 3, 17, ad 23 [Ed. cit. VIII, 470] und S. th. I, 10, 2, ad 2 [Ed. Leonina IV, 96]. Bei Thomas entsprach dem auch, dass er in II Sent. 2, 2, 3, exp. [Ed. cit. II, 78] den saeculum-Begriff anstelle von aevum verwendete: Praeterea. In quo differt saeculum, tempus, et aeternitas? Ad hoc dicendum, quod in angelo est tria considerare: scilicet esse ejus, cujus mensura dicitur saeculum –
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Insgesamt vier verschiedene Situationen stellte er vor, deren Zeitlichkeit weder durch den aevum-Begriff noch durch den tempus-Begriff abgedeckt zu sein schien:109 (1) die Veränderungen an Körpern vor dem vierten Schöpfungstag, (2) die der Höllenstrafen nach dem Jüngsten Gericht, (3) die der affectiones der Engel und schließlich (4) die der Hinwendung der Engel zu Gott (conversio ad Deum) mit der darin empfangenen Erkenntnis, die sie einerseits über die Zeit erhebt, andererseits aber zugleich etwas enthält, das mindestens möglicherweise ein Ende hat.110 – Die Gemeinsamkeit dieser ansonsten ja recht disparat erscheinenden Sachverhalte besteht darin, dass die in den einzelnen Situationen vorauszusetzenden Veränderungen nicht von der Zeit im eigentlichsten Sinn (magis proprie) gemessen werden können, da diese an die Bewegung der Himmelssphäre gebunden ist und somit begrenzt wird durch den Beginn dieser Bewegung am vierten Schöpfungstag und durch deren Ende beim Jüngsten Gericht.111 Geht man dagegen von der Zeit im eigentlichen Sinn (proprie) als mensura variationis successivae aus, so stellte Bonaventura fest, dass das saeculum demgegenüber kein neues, anderes Maß darstellt. Mit Blick auf die ähnlichlautenden Begriffsbestimmungen von saeculum und tempus proprie sowie auf die unter (3) aufgeführten affectiones der Engel wird man dies kaum als eine Überraschung bezeichnen können. Dennoch besteht ein Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Größen, denn das saeculum betrifft – mindestens vorzugsweise – Substanzen, deren Sein über der Zeit steht,112 die Zeit im
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ansonsten sprach er in dieser Distinctio nur vom aevum (vgl. besonders II Sent. 2, 1, 1, resp. [II, 63]: Esse autem angeli, quod aevo mensuratur …). II Sent. 2, 1, 2, 2, sc. 1–4 [II, 66], das Responsum verwies insbesondere noch einmal auf die erste und zweite Situation: … cuiusmodi fuit in triduo conditionis rerum, et qualis erit in inferno post diem extremum. Et haec ab antiquis doctoribus appellata est saeculum. Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 2, sc. 4 [II, 66]: Angelus cum convertitur ad Deum, elevatur supra tempus: ergo illa conversio, et illud quod in illa conversio accipit, supra tempus est; et mensura supra tempus debet mensurari; sed Angelus ibi aliquid cognoscit quod potest desinere cogitare. – Bei der conversio ad Deum wird man zunächst allgemein an die contemplatio denken, näherhin an die cognitio matutina, die Bonaventura in II Sent. 4, 3, 1, resp. [II, 139] als ad Deum conversio bezeichnete (mit deren Zeitlichkeit hatte ja bereits Augustinus gerungen, vgl. oben S. 148, Anm. 324). – Die Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 3 (67), ad 3 [Ed. cit. I, 105f.] äußerte sich präziser über die Art der in der contemplatio möglichen Veränderungen, sie schloss mit der Feststellung: Et hanc durationem voluerunt quidam appellare saeculum. – Ebd. I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 2 (69), ad 3 [Ed. cit. I, 108a] hieß es ausdrücklich, dass diese Veränderungen von der Zeit (tempus) gemessen werden: Quantum vero ad operationem contemplationis intensae vel remissae vel contemplationis huius rei desinentis esse, si respiciatur essentia actus qui non mutatur, mensurabitur aevo; si respiciatur circumstantia sive materia actus, mensurabitur tempore. Dies stellte auch das Responsum ausdrücklich fest. Zu der Problematik, ob die aristotelische Zeit wirklich am vierten Schöpfungstag begann, vgl. die Ausführungen oben S. 175. Die Eindeutigkeit, mit der sich Bonaventura hier äußerte, dürfte wenigstens teilweise auf die Vorlage der Summa Halensis zurückzuführen sein (vgl. a. a. O. besonders arg. 4 und ad 5 [Ed. cit. I, 107a.108a]). Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 2, resp. [II, 66]: … sic inter aevum et tempus non est medium re, sed solum ratione; non, inquam, est medium differens ab utroque in genere mensurae, sed medium in genere mensuratorum, participans utrumque, ut est illa substantia, quae est in confinio aeternitatis et
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
eigentlichen Sinn enthält dagegen auch die aristotelische Zeit (tempus magis proprie). – Ob das saeculum dabei genau jenen Raum zwischen tempus magis proprie und tempus proprie ausfüllt,113 wird offenbleiben müssen, denn es zeichnet sich nach Bonaventura zwar durch die fehlende regulatio des primum mobile aus, doch hinsichtlich der zweiten Bedingung, die er an tempus magis proprie gestellt hatte, nämlich die Kontinuität der zugrundeliegenden Veränderungen, machte er keinerlei Aussage über das saeculum.114 Sieht man die Ausführungen Bonaventuras noch einmal im Licht der Fragestellung der Quaestio, so erkennt man, wie diplomatisch seine Antwort ausfiel,115 der eigentliche Ertrag ist der, dass das saeculum in der Zeit im eigentlichen Sinn aufgeht. Aufgrund dieses Inklusionsverhältnisses wird auch klar, warum der saeculum-Begriff in dem hier vorliegenden technischen Sinn für die weiteren Zeitspekulationen des Doctor seraphicus keine Rolle mehr spielte. Nicht zuletzt verrät auch die Kürze der Quaestio das geringe Interesse des Baccalaureus an diesem Zeitbegriff. Es scheint geradezu, dass er ihn nur aus einer gewissen Reverenz gegenüber den antiqui doctores, die ihn gebrauchen, aufnahm – auch wenn er die wichtigste auctoritas, die zum saeculum in der Regel ange-
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temporis. – D. h., es gibt zwar real (re) kein viertes zeitliches Maß (neben tempus, aevum, aeternitas), es gibt aber eine Substanz, die gewissermaßen zwischen Zeit und aevum steht, weil sie an beidem teilhat (und zwar auf substantielle Weise und nicht nur akzidentell wie die Engel), nämlich die menschliche Seele. Mit dem Ausdruck in confinio aeternitatis griff er dabei die Propositio II, 22 aus dem Liber de causis [PhB 553, 6] auf: Esse vero quod est post aeternitatem et supra tempus est anima, quoniam est in horizonte aeternitatis inferius et supra tempus. Gegen eine strikte Beschränkung auf „ewige“ Substanzen kann man sc. 1 anführen, wo unter den vor dem vierten Tag geschaffenen Körpern auch Gräser und Sträucher genannt werden. Im Hintergrund der Bindung des saeculum an „ewige“ Substanzen/Zustände scheint mir die Autorität des Johannes Damascenus (vgl. unten Anm. 116) zu stehen, denn er betonte, dass das saeculum dieselbe Erstreckung wie die ewigen Dinge hat (protenditur cum aeternis) und sich zu ihnen so verhält, wie die Zeit zu den zeitlichen Dingen. Davon scheint etwa RATZINGER, Der Mensch und die Zeit, 477, Anm. 19 auszugehen. Bemerkenswert ist diese Leerstelle vor allem deswegen, da die Vorlage der Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 2 (69), ad 5 [Ed. cit. I, 108b] ausdrücklich eine auf die Diskontinuität abhebende Definition des saeculum bot: consequenter est duratio, in qua aliquid consequitur, sed tamen sine continuatione, et hanc dicunt saeculum, et est iterum duratio, in qua aliquid antecedit et sequitur secundum continuitatem motus, et haec est tempus. – Man beachte dabei, dass der eben zitierte Passus nicht die eigentliche Meinung der Summa Halensis wiedergibt, sondern eine fremde Meinung (Aliquibus autem aliter visum est quod esset ponenda mensura inter aevum et tempus media …) als alternative Sichtweise zitiert wird. – Ganz ähnlich berichtet ROBERT KILWARDBY, De tempore 19, 122 [ABMA 9, 40, Z. 1–5] als Meinung, dass es drei geschaffene Maße gibt: das aevum, das keine successio kennt, das saeculum, in dem es successio sine continuatione gibt, und schließlich das tempus, worin successio cum continuatione begegnet. – Auf einen weiteren unklaren Aspekt machte COVA, Tempus non erit amplius, 45f. aufmerksam: Ist das saeculum ein Zeitmaß, das nur eine unendliche Dauer misst, oder darf es auch ein Ende (ein Aufhören, eine desitio) geben? Bonaventura legte sich auch in diesem Punkt nicht eindeutig fest (auch wenn Letzteres vielleicht etwas wahrscheinlicher ist, vgl. Anm. 112 oben). Nämlich: Ob das saeculum ein Mittleres zwischen Zeit und aevum ist, hängt davon ab, in welchem Sinn man Zeit versteht (proprie oder magis proprie).
Verschiedene Begriffe von Zeit
191
führt wurde, nämlich Johannes Damascenus, De fide orthodoxa II, 1 (15), gar nicht erwähnte.116 Relativ schweigsam verhielt sich Bonaventura übrigens, was die Höllenqualen als den (in der obigen Zählung) zweiten Anwendungsfall des saeculum angeht.117 Dass die Dauer dieser Strafen kein Ende kennt, darin bestand für Bonaventura wie für jeden anderen Theologen dieser Zeit, keine Frage,118 die in II Sent. 2, 1, 2, 2, sc. 2 angesprochene variatio (und successio) kann sich also nur auf deren Akzidenzien beziehen. Doch in den einschlägigen eschatologischen Passagen kam Bonaventura darauf nicht mehr zurück: Die Frage, welches zeitliche Maß dort gelten wird, blieb offen, er vermied dort nicht nur den Begriff saeculum,119 sondern auch den Begriff Zeit (in Frage käme dabei – wie gesehen – nur tempus proprie und nicht tempus magis proprie); im Widerspruch zu der Darstellung in II Sent. betonte er dabei zumeist, dass die beiden „positiven“120 Strafen der Verdammten, der geistige (Gewissens-)Wurm und das körperliche Feuer ihre beständige Wirkung ohne jede Veränderung entfalten.121 An der Spekulation über die 116
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Vgl. PTS 12, 43f.; PG 94, 861.864; die Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 2 (69), ad 5 [Ed. cit. I, 108f.] zitierte den entsprechenden Passus, bei dem insgesamt vier Bedeutungen von saeculum unterschieden wurden; zur letzten Bedeutung hieß es: dicitur rursus saeculum, non tempus nec temporis aliqua pars, a solis motu et cursu mensuratum, scilicet per dies et noctes consistens, sed quod simul protenditur cum aeternis, velut quidam temporalis motus et spatium: quod enim est iis quae sunt sub tempore tempus, hoc est aeternis saeculum … Ante vero mundi constitutionem, cum neque sol erat dividens diem a nocte, non erat saeculum mensurabile, sed quod simul protenditur cum aeternis, velut temporalis motus et spatium. – Denselben Text bot auch ALBERTUS MAGNUS, De IV coaequaevis 2, 6, 4 [Ed. Paris. 34, 394b], er merkte zu jener letzten Bedeutung von saeculum außerdem an: et omnes plani sunt praeter ultimum. Der Doctor universalis entschied sich dafür, das saeculum als Ersatzbegriff für aevum oder aeternitas zu verstehen (ebd.: et ibi accipitur saeculum pro aeternitate et aevo secundum quod protenditur cum tempore). In seinem relativ knapp gehaltenen Kommentar zur zweiten Distinctio des zweiten Buches der Sentenzen [Ed. Paris. 27, 42–58] ging Albert auf die Frage nach dem saeculum gar nicht ein. Der biblische Beleg dafür, dass sie unter dem Maß des saeculum stehen, wurde aus Apc. 14, 11 genommen: … et fumus tormentorum eorum in saecula saeculorum ascendit. Vgl. z. B. Brev. VII, 6 [V, 288a]: … poena debet esse perpetua; weiter unten im Text [V, 288b] gebrauchte er dafür auch die Ausdrücke aeternitas, aeternaliter. Vgl. auch IV Sent. 44, 2, 1, 1, resp. [IV, 921f.]. Zumindest – so muss man einschränkend ergänzen –, wenn man von der technischen Bedeutung ausgeht; wenn z. B. in Brev. VII, 6 [V, 287f.] die Fundierung und die angegebene Ratio jeweils mit tormentorum fumus ascendat in saecula saeculorum (vgl. Apc. 14, 11) enden, so gehe ich hier von einem nicht-technischen Gebrauch aus, d. h., es wird lediglich auf die ewige Dauer der genannten Qualen hingewiesen. D. h. im Gegensatz zu der privativen, nämlich der Entbehrung der Anschauung Gottes. Zu den drei Strafen vgl. z. B. Brev. VII, 6 [V, 287b]; hierzu auch STOEVESANDT, Die letzten Dinge, 114f. Die invariabilitas des Gewissenswurmes wurde in IV Sent. 50, 2, 2, 3 [IV, 1053] eigens untersucht und bejaht, denn fiet, ut mali simul omnia peccata memorentur, ut de omnibus continue torqueantur. In ad 3 wurde dabei auf das Bild des Lichtstrahls im Gegensatz zum Wasserstrahl verwiesen (Bonaventura gebrauchte es sonst für das aevum, vgl. unten S. 200 mit Anm. 163). Zu dem Höllenfeuer vgl. Brev. VII, 6 [V, 288b]: Quoniam autem illa peccati distinctio et reatus … in eodem
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Frage, ob es im infernum in irgendeiner Form „Zeit“ gibt, wollte sich der Doctor seraphicus also offenbar nicht beteiligen. Darin unterschied er sich sowohl von der Vorlage der Summa Halensis als etwa auch von Thomas von Aquin.122 Insgesamt entspricht diese Zurückhaltung einer bei Bonaventura zu beobachtenden Tendenz, wesentlich ausgiebiger über die eschatologische Herrlichkeit als über die Verdammnis zu spekulieren,123 hinzukommen mag eine grundsätzliche Wertschätzung der Zeit (in einem
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est uniformis et nunquam crescit nec decrescit nec mutatur; hinc est, quod [scil. ille ignis] divino imperio ordinante, ille sic agit, quod semper urit et non consumit, semper affligit et non interimit. In IV Sent. 44, 2, 3, 1, ad 2 [IV, 930] hieß es – wiederum nach einem Hinweis auf das Bild des Lichtstrahls: Sic ignis dicitur semper damnatos affligere, non quia novam dispositionem de novo afferat, sed quia continue agendo a priori afflictione non cessat. – Es gibt allerdings auch einen Hinweis in die andere Richtung, so hieß es zu dem von der Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 2 (69), arg. 5 [Ed. cit. I, 107a] für die Veränderung (variabilitas) der Höllenstrafe angeführten Bibelwort ad calorem nimium transeat ab aquis nivium (Iob 24, 19) in IV Sent. 44, 2, 2, 2, ad 1.2 [IV, 928]: … patet, quia simul utrumque [scil. ignis et aqua] affliget secundum diversas partes [scil. corporis] aut si successive secundum easdem, … sentietur maior acerbitas quam contemperetur. Das „Zugleich“ der Wirkung von Wasser und Feuer entspricht dabei auch dem Umstand, dass die irdischen Elemente nach dem Jüngsten Gericht nicht mehr geschieden sein werden, sondern vermischt (confusa) vorliegen (ebd., resp.), es wird aber immerhin zugestanden, dass möglicherweise auch eine sukzessive Einwirkung (und damit natürlich variatio) stattfindet. Ihren Ausgang nahm die Spekulation hierüber von den beiden widersprüchlich scheinenden Schriftstellen Ps. 80 (81), 16, Et erit tempus eorum [scil. inimicorum Dei] in saeculo, und Apc. 10, 6, iuravit [scil. angelus] … tempus amplius non erit. WILHELM VON AUVERGNE, De universo I, 2, 7 [Ed. cit. I, 690b E] hatte deswegen die Frage nach Zeit im infernum noch offengelassen: In inferno quippe, si erit ibi vicissitudo tormentorum, … erit et ibidem veri nominis tempus. Si vero non fuerit ibi vicissitudo hujusmodi, sed omnia tormenta simul cruciabunt illos, et hoc absque fluxu ullo, et transitu ipsorum, forte multis non videri possit esse apud infernum veri nominis tempus. Man vgl. aber auch den oben (S. 137, Anm. 262) zitierten, wenig später folgenden Passus, der vor allem den Ewigkeitsaspekt betonte. – Die Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 2 (69), ad 5 [Ed. cit. I, 108a] antwortete deutlich: de poenis inferni dicendum quod quantum ad perpetuitatem mensurabuntur aevo, quantum vero ad variationem tempore, wobei sie unter Zeit ausdrücklich die nicht an die Bewegung gebundene theologische Zeit (siehe oben S. 179 mit Anm. 65) verstanden wissen wollte (während Offb 10, 6 auf die „physikalische“ Zeit zu beziehen ist). – ROBERT KILWARDBY, De tempore 19, 127 [ABMA 9, 40] folgte der Summa Halensis. – Auch THOMAS VON AQUIN, S. th. I, 10, 3, ad 2 [Ed. Leonina IV, 98] vertrat eine entsprechende Meinung, wenn er erklärte: Ad secundum dicendum quod ignis inferni dicitur aeternus propter interminabilitatem tantum. Est tamen in poenis eorum transmutatio, secundum illud Iob XXIV [v. 19], ad nimium calorem transibunt ab aquis nivium. Unde in inferno non est vera aeternitas, sed magis tempus; secundum illud Psalmi [80 (81), 16]: erit tempus eorum in saecula. Vgl. etwa STOEVESANDT, Die letzten Dinge, 130f.: „Doch zeigt sie, daß Bonaventuras theologisches Interesse nun doch nicht eigentlich an diesem düsteren Kapitel haftet, sondern daß er es mehr um der unerläßlichen Vollständigkeit willen absolviert, um dann die Hände frei zu haben für das, was in der Eschatologie die Hauptsache ist.“ Er verwies dabei auf II Sent. 27, 2, 3, resp. [II, 667b]: gloria multo plus excellit in bono quam poena in malo. Man mag ferner auch an den Dialog von Mensch und Seele in Sol. III, 10f. [VIII, 55] denken. Er zeugt von Bonaventuras optimistischem Menschenbild: Anima: … dic quaeso, o homo, ad quid valet tam lamentabilis meditatio? –
Verschiedene Begriffe von Zeit
193
Sinn, der auch das saeculum umfasst),124 die vor allem die positiven Konnotationen dieses Begriffs herausstreicht.125
1.2.4
Mensura mutationis cuiuscumque
Kehrt man zu der vierteiligen Zeitdefinition von II Sent. 2, 1, 2, 1 zurück, so ist die nächste zu behandelnde Bedeutung von Zeit die der mensura mutationis cuiuscumque, sive illius quae est de non-esse in esse, sive alterius quae est de uno esse in aliud esse. Worauf sich dieser neue Sinn von Zeit bezieht, zeigt sich an den beiden Belegstellen, die Bonaventura dafür heranzog: Es ist zum einen der bereits mehrfach zitierte Kommentar der Glossa ordinaria zu Gen 1, 1 In principio, id est in principio temporis, zum anderen das bei Richard von Sankt Viktor, De trinitate gefundene Diktum omne quod coepit, ex tempore coepit.126 In beiden Fällen geht es um den Schöpfungsakt und darum, den in ihm gegebenen Beginn als einen (ex parte creati) zeitlichen Beginn aufzuweisen. Die Absicht Richards war dabei, den bereits bei Augustinus anzutreffenden Gegensatz von ex tempore und ab aeterno127 für seine Trinitätsspekulation auszuwerten (wobei ihn, seinem Thema entsprechend, eher der letztere Ausdruck interessierte). Indem er esse ab aeterno / ex tempore mit esse a semetipso bzw. esse ab alio gleichsetzte,128 stellte er es in den Horizont der Differenz von göttlicher und geschaffener Substanz. Mit dem esse a se verband er die beiden Aspekte der immutabilitas und der Anfangslosigkeit, aus denen sich als Drittes die Endlosigkeit und somit die (wahre) Ewigkeit Gottes ergab.129 – Spielen sich diese trinitätstheologischen Überlegungen ganz auf der Ebene
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Homo: O anima, puto, quod praedictorum continua et devota meditatio est peccatorum medela et ad quaeque bona agenda et mala sustinenda salutifera excitatio. … Anima: … Attende ergo, homo, quam generosus est animus hominis; saepe enim facilius ducitur lenis et blandis quam terribilibus et adversis; saepe magis allicitur promissis consolatoriis quam cogatur minis et terroribus. Vgl. dazu auch unten S. 341 und S. 344. Saeculum („Weltzeit“) konnte ja auch in einem sehr abschätzigen Sinn verwendet werden, dies begegnet, so weit ich sehe, bei Bonaventura nicht. Vgl. Trin. II, 9 [TPMÂ 6, 115]: Omne itaque creatum ex tempore esse cepit; quod autem increatum est, omne tempus precessit; ebd. I, 6 [TPMÂ 6, 91]: Omne quod est vel esse potest, aut ab eterno habet esse, aut esse cepit ex tempore; … Quicquid enim ex tempore esse cepit, fuit quando nichil fuit; ebd. V, 3 [TPMÂ 6, 197]: quod quicquid esse cepit aliquando non fuit, quod quicquid est, quod aliquando non fuit, hoc ipsum ex tempore esse cepit; vgl. auch ebd. I, 7 [TPMÂ 6, 93]. Vgl. oben S. 145, Anm. 307. Vgl. Trin. I, 6 [TPMÂ 6, 91]. Vgl. Trin. II, 9 [TPMÂ 6, 116]: Quod autem est incommutabile, sicut non potest mutari de esse ad non esse, sic non potest mutari de esse ad aliud esse. Quod vero non potest mutari de esse in non esse, durat sine fine. Quod non potest mutari de esse in aliud esse, manet sine omni mutatione. Itaque quod increatum est non solum initio caret, verum etiam sine fine et omni mutabilitate manet. Carere autem initio, et fine, et omni mutabilitate, dat eternum esse. Vgl. auch ebd. I, 11 [TPMÂ 6, 95f.]. Bei Bonaventuras Zeitdefinition ist dieser Ursprung in II Sent. 2, 1, 2, 1 [II, 64f.]
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
194
der göttlichen Substanz ab, so ist für die personale Ebene darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der Ursprungsbeziehungen sehr wohl ein esse ab alio geben kann, welches freilich in keiner Weise zeitlich oder als ein Werden aufgefasst werden kann.130 Die Differenz des esse ab aeterno und des esse ex tempore markiert in diesem Kontext, wie sich die generatio der zweiten göttlichen Person von der creatio der Welt unterscheidet. Als unmittelbare Vorlage für Bonaventura wurde oben bereits die Zeitdefinition der Summa Halensis ausgemacht.131 Dies zeigt sich auch bei dem hier betrachteten Verständnis von Zeit, das die dort vorkommenden beiden Bedeutungen communiter et improprie (respicit primam mutationem a non esse in esse) und communiter et minus proprie (respicit mutationem quae est de uno esse in aliud sine continuo) zu einem einzigen Zeitbegriff zusammenführt.132 Dabei werden verschiedene Punkte deutlich: Erstens erkennt man noch einmal den Aufbau der bonaventurianischen Reihung der Zeitbegriffe, dem eine schrittweise Einschränkung des Begriffsumfangs zugrunde liegt. Die beiden folgenden Zeitbegriffe (proprie und magis proprie) sollen dabei unter der Bestimmung
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131 132
noch sichtbar in den beiden aus Trin. II, 9 genommenen Bestimmungen der mutatio de non esse in esse bzw. de uno esse in aliud esse. Die Unterscheidung der beiden Ebenen ist bei der Einführung der beiden Seinsweisen des esse ab aeterno et a semetipso und des esse ab aeterno nec a semetipso in Trin. I, 6 [TPMÂ 6, 91f.] noch nicht besonders deutlich, der Bezug letzterer auf die zweite (und dritte) göttliche Person wurde in I, 9 [TPMÂ 6, 94] hergestellt, die theoretische Aufarbeitung erfolgte in IV, 11 [TPMÂ 6, 173f.], wo zwischen den Eigenschaften der göttlichen Substanz als „Seinsqualitäten“ (ratio essendi; consideratio circa modum essendi) und „Herkunftsbestimmungen“ (ratio obtinentiae; consideratio circa modum obtinendi) unterschieden wurde. – Das oben zitierte Buch II handelte ausschließlich und ausdrücklich von den Attributen Gottes und nicht von personalen Bestimmungen. Siehe S. 170 – es zeigt sich auch daran, dass dieselben auctoritates (Richard von Sankt Viktor, Boethius, Glossa ordinaria) herangezogen wurden. Blickt man noch etwas genauer auf das, was die Summa Halensis communiter et minus proprie unter Zeit versteht, so erkennt man, dass der dort betonte Aspekt der Diskretheit (sine continuo) sich in dem wiederfindet, was bei Bonaventura in II Sent. 2, 1, 2, 1 in die Bestimmung von Zeit im eigentlichen Sinn (proprie) eingegangen ist. Die Entsprechungsverhältnisse der verschiedenen Zeitbegriffe gibt dann in etwa die folgende Übersicht wieder: Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 1 (68)
Bonav., II Sent. 2, 1, 2, 1, resp.
Bonav., II Sent. 1, 1, dub. 4
Bonav., I Sent. 37, 2, dub. 3
Bonav., In Eccl. III
proprie
magis proprie
proprie
proprie
magis proprie
comm. & minus proprie
(proprie)
communiter
(alio modo)
(proprie)
comm. & improprie
communiter
communissime
—
communiter
—
communissime
—
—
—
Dabei gibt diese Tabelle nur an, welche Zeitbegriffe in etwa vergleichbar sind (nicht berücksichtigt ist z. B., dass in I Sent. 37, 2, dub. 3 der Zeitbegriff alio modo nicht als Überbegriff zu Zeit im eigentlichen Sinn gedacht ist, er enthält nur die diskrete Engelszeit).
Verschiedene Begriffe von Zeit
195
der mutatio de uno esse in aliud esse subsumiert sein, während das Proprium des hier betrachteten Zeitbegriffs in der Betrachtung der mutatio de non-esse in esse besteht. Daraus erklärt sich zweitens, warum dieser weitere Zeitbegriff überhaupt notwendig ist: Bei dem Schöpfungsakt geht es in keiner Weise um akzidentelle Veränderungen, sondern um ein substantielles Werden. Er weist eine ganz besondere Struktur auf, denn hier findet nicht ein Übergang von einem Sein zu einem anderen Sein statt,133 sondern es entsteht etwas aus dem Nichts (ex nihilo). Besondere Beachtung verdient dabei, drittens, der Augenblick der Schöpfung selbst, denn dieses erste nunc ist zwar ebenfalls eine Grenze,134 es unterscheidet sich von jedem anderen aber dadurch, dass es nicht zugleich Anfang und Ende, d. h. Anfang des Zukünftigen und Ende des Vergangenen, ist.135 Es ist allein Anfang, nämlich der Anfang der Zeit (principium temporis)136 – in diesem Sinn ist dann auch der genannte Kommentar der Glossa zu verstehen. Aus dem bisher Gesagten wird außerdem deutlich, warum die Definition hier von Zeit in einem allgemeinen Sinn (communiter) spricht: Die Wahl der Bezeichnungen in II Sent. 2, 1, 2, 1 gliedert die vier verschiedenen Zeitbegriffe ja in zwei Gruppen, wobei dem eigentlichen Verständnis von Zeit (proprie, magis proprie) die beiden allgemeinen Bedeutungen (communiter, communissime) gegenüberstehen. Den ersten beiden Bestimmungen ist dabei gemeinsam, dass Zeit als Akzidens der geschaffenen Substanzen begriffen wird; in den folgenden beiden Bedeutungen dagegen wird Zeit als eine essenzielle, die Substanz betreffende Bestimmung jedes geschaffenen Seins begriffen.137 Diese Form der Zeit ist also „allgemein“, denn jedes Geschöpf ist von ihr betroffen,138 andererseits ist es gerade keine Zeit im eigentlichen Sinn. Ähnlich wie die Einheit (die Eins) keine Zahl, sondern das Prinzip der Zahl ist,139 und wie man sich den Punkt als Prinzip der Linie140 vorstellte, so stellt jenes nunc primum das Prinzip der Zeit dar und fällt gerade deswegen aus ihrer gewöhnlichen Bedeutung heraus.141 133 134 135 136 137 138 139 140
141
In II Sent. 1, 1, 3, 2, resp. [II, 34b] wurde dies als mutatio ad esse der natürlicherweise vorkommenden mutatio in esse gegenübergestellt; vgl. auch unten S. 279. So hatte ARISTOTELES, Physica IV, 10 [218a 24] das nunc bestimmt: τὸ δὲ νῦν πέρας ἐστίν. Vgl. ARISTOTELES, Physica IV, 13 [222a 33 – 222b 2]: ἐπεὶ δὲ τὸ νῦν τελευτὴ καὶ ἀρχὴ χρόνου, … τοῦ µὲν παρήκοντος τελευτὴ, ἀρχὴ δὲ τοῦ µέλλοντος. Vgl. auch oben S. 109, besonders Anm. 91. Vgl. II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 3 [II, 23]: et in ipsa productione temporis fuit nunc primum, ante quod non fuit aliud, quod fuit principium temporis, in quo omnia dicuntur esse producta. In diesem Sinn konstatiert In Eccl. III, qq. ad v. 3, resp. [VI, 28b]: et hoc modo [scil. «communiter»] est in omnibus, quia omnia initum habuerunt. Vgl. ebd.: Et hoc videtur littera innuere, quia ipse dicit, quod omnia tempus habent, … Vgl. z. B. I Sent. 2, 1, 4, resp. [I, 57b]: unitas, quae est principium et completio omnis numeri; dazu etwa ARISTOTELES, Metaphysica V (∆), 6; X (Ι), 1 [1016b 17f.; 1052b 23f.]. Vgl. I Sent. 27, 1, 1, 2, ad 3 [I, 471a]: … quod prima in generibus sunt principia aliorum, … sicut punctus respectu linearum, et unitas respectu numerorum; speziell zum Vergleich von Punkt und zeitlichem nunc vgl. Trin. 5, 1, sc. 14 & ad 14 [V, 89.92]. Bereits HUGO VON SANKT VIKTOR, De sacramentis christianae fidei I, 1, 10 [CV.TH 1, 45, Z. 12– 14] konstatierte (mit Bezug auf die Schöpfungstage von Gen 1): Ergo illud primum momentum temporis quando creata est omnium uisibilium inuisibiliumque natura nec nox fuit nec dies. Et
196
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Es dürfte ohne weiteres klar sein, dass der hier behandelte Zeitbegriff, eine eminente theologische Bedeutung besitzt; auf die entsprechenden Implikationen ist weiter unten ausführlich einzugehen.142 An dieser Stelle soll nur der in der entsprechenden Definition neu auftretende Begriff der mutatio noch etwas näher betrachtet werden. An ihm wird zunächst deutlich, dass Bonaventura auch bei diesem Verständnis von Zeit versuchte, es in einen aristotelischen Kontext einzubetten. So erschien in den Auctoritates Aristotelis die mutatio als Überbegriff für die beiden Bewegungsarten der generatio und corruptio – also just jene beiden, die in den oben erörterten Bedeutungen von Zeit noch außen vor gelassen wurden – und weiter wird die generatio ihrerseits als mutatio de non esse ad esse bestimmt.143 Anders gesagt, die drei bisher behandelten Verständnisse von Zeit decken zusammen das gesamte Spektrum der aristotelischen Bewegungsarten ab. – Ein an den mutatio-Begriff gebundenes Verständnis von Zeit im angestrebten Kontext anzuwenden setzt voraus, dass der Doctor seraphicus die Schöpfung (genauer die creatiopassiva, das Geschaffenwerden) selbst als mutatio versteht;144 in diesem Sinn war sie in einer vorausgehenden Quaestio als supernaturalis mutatio beschrieben worden.145 Bonaventura äußerte sich hier überraschend eindeutig, während sich etwa die Summa Ha-
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tamen tempus fuit quia mutabilitas fuit. – In derselben Absicht ist sprach die Zeitdefinition der Summa Halensis hier von einem uneigentlichen Verständnis von Zeit (communiter et improprie) und verdeutlichte: Primo modo tempus non est tempus, sed temporis initium (a. a. O., siehe oben S. 170 mit Anm. 23). Siehe den Abschnitt über geschaffenes Sein als zeitliches Sein ab S. 276. Siehe Auctoritates Aristotelis, Physica V, nr. 151 [PhMed 17, 152]: Mutationes proprie dictae sunt duo species, scilicet generatio et corruptio; die Bestimmung der generatio findet sich in der folgenden Nummer. Die Bestimmungen sind angelehnt an Physica V, 1 [224b 35 – 225b 5], wo allerdings als dritte Form von mutatio (µεταβολή) der Wandel aus Zugrundeliegendem in Zugrundeliegendes angeführt wird; das entspricht den bei BONAVENTURA, II Sent. 1, 1, 3, 2, resp. [II, 34b] vorgestellten drei Formen der mutatio ad esse, mutatio ab esse und der mutatio in esse. Zu weiteren Bestimmungen vgl. S. 182, Anm. 79; dort wird auch die nr. 150 der Auctoritates Aristotelis zur Physik zitiert mit der bei Aristoteles nicht nachzuweisenden Bestimmung der mutatio als einer – im Gegensatz zum motus – instantanen Veränderung; dies passt ebenfalls zu dem Bild einer Einbettung des vorliegenden Zeitbegriffs in einen „aristotelischen“ Kontext. Siehe auch unten S. 279. In II Sent. 1, 1, 3, 1, resp. [II, 32] ging es um die Frage, ob die Schöpfung als mutatio verstanden werden kann, dazu wurden drei Arten von productio unterschieden: (1) ex materiali principio (die natürliche Weise des Hervorbringens), (2) ex nihilo (die Schöpfung) und schließlich (3) die einzigartige Weise, wie Gott-Vater seinen Sohn von Ewigkeit her gezeugt hat. Nur die ersten beiden Weisen haben dabei den Charakter einer mutatio. Verständlich wird dies, wenn man den Blick auf das „Produkt“ der Hervorbringung richtet, dieses verhält sich nämlich entsprechend den drei obigen Weisen: (1) aliter nunc et prius (oder: prius sub una dispositione, et nunc est sub alia), (2) omni modo nunc et nullo modo prius, (3) aeque omnino nunc et prius; vgl. auch oben S. 182, Anm. 79.
Verschiedene Begriffe von Zeit
197
lensis146 und Thomas in dieser Frage vorsichtiger gaben.147 Der Unterschied zu Bonaventura war dabei jedoch nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, denn der Doctor seraphicus betonte ja seinerseits die Übernatürlichkeit dieser mutatio.148 Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in der parallelen Zeitdefinition von II Sent. 1, 1, dub. 4, die nur scheinbar der in diesem Abschnitt behandelten Bestimmung von II Sent. 2, 1, 2, 1 gleicht: Wenn an der ersteren Stelle communiter von Zeit als mensura cuiuslibet mutationis gesprochen wird, so beschränkt sich die Bedeutung von mutatio dort auf im weitesten Sinn natürliche Veränderungen, wie der Vergleich mit der dort allgemeinsten (communissime) Bedeutung von Zeit als mensura exitus de non-esse in esse zeigt.
1.2.5
Mensura cuiuslibet durationis creatae
Die Erörterung des vorausgehenden Zeitbegriffs hat die zeitliche Grundstruktur alles Geschaffenen aufgedeckt. „Zeit“ wurde dabei mit dem Beginn der Schöpfung selbst verbunden. Versteht man die Reihung der einzelnen Bedeutungen von Zeit so, dass nicht nur die Begriffe immer allgemeiner werden, sondern dass „Zeit“ immer weiter in Richtung des Ursprungs aller Dinge rückt, scheint man mit dem allgemeinen Begriff (communiter) bereits am äußersten Punkt angelangt zu sein, an den man dieses Maß noch anlegen kann. Um so mehr verwundert es, wenn Bonaventura selbst diesen Zeitbegriff noch einmal übersteigt. Der Grund für diese nochmalige Erweiterung liegt in dem Verhältnis der vorausgehenden Zeitbegriffe zum aevum, das in der in Frage stehenden Quaestio II Sent. 2, 1, 2, 1 ja ausdrücklich behandelt wird, denn keines der drei bisherigen Verständnisse von Zeit beinhaltet das aevum.149 Für die aristotelische Zeit ist dies unmittelbar klar, denn
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Vgl. Summa Halensis II, 1, 1, 2, 2, 1, 1 (41) [Ed. cit. II, 50f.]; sie behandelte dieselbe Frage wie II Sent. 1, 1, 3, 1 und kam zu dem Schluss, dass hier nur in allgemeinem (communiter), nicht im eigentlichen Sinn (proprie) eine mutatio vorliegt. Vgl. bei Thomas von Aquin zum einen II Sent. 1, 1, 2 [Ed. cit. II, 17–20], wo zwar implizit (im Responsum) der mutatio-Begriff für die Schöpfung akzeptiert wurde, aber in ad 2 [Ed. cit. II, 19] betont wurde creatio non est factio quae sit mutatio proprie loquendo; deutlicher war dann S. th. I, 45, 2, ad 2 [Ed. Leonina IV, 466], wo es hieß: creatio non est mutatio nisi secundum modum intelligendi tantum (Unterstreichung von mir). – Albertus Magnus hatte in De IV coaequaevis 2, 5, 2, sol. & 2, 5, 6, sol. [Ed. Paris. 34, 369f.379f.] sein Verständnis der theologischen Zeit ebenfalls auf den mutatio-Begriff aufgebaut (als mensura cuiuscumque mutationis, oben S. 171, Anm. 24 zitiert) – ohne allerdings den mutatio-Begriff eigens zu bedenken –; auch bei ihm war der mutatioBegriff so weit, dass er damit auch den Schöpfungsakt als zeitlich begreifen konnte, vgl. z. B. ebd. 2, 5, 6, sol. [Ed. Paris. 34, 379b]: Hoc modo etiam dicimus, quod fieri creationis, quod nihil aliud est quam creaturam nunc esse et ante nihil fuisse, est in tempore. Vgl. vor allem II Sent. 1, 1, 3, 1, ad 4.5.6 [II, 32f.] (zitiert unten S. 279, Anm. 25). So wie es umgekehrt von dem hier verhandelten Zeitverständnis II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 65] hieß: si tempus accipiatur primo modo, sic includit aevum. Und II Sent. 2, 1, 1, 1, ad 2 [II, 57] hieß
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
sie misst nur vergängliche Dinge, bei der Zeit im eigentlichen Sinn (proprie) wurde ausdrücklich festgestellt, dass sie nur das Maß für die affectiones der geistigen Substanzen ist, während deren Sein (esse) – d. h. die unendliche Dauer ihrer Existenz – vom aevum gemessen wird.150 Für die Zeit communiter dictum scheint die Situation zunächst nicht so klar, denn man kann ja mit Recht darauf hinweisen, dass die mutatio ad esse das Sein der Engel genauso bestimmt, wie das jeder anderen Kreatur. Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Begriff aevum immer eine Zeitspanne, eine Dauer, bedeutet und niemals einen Zeitpunkt. Demgegenüber ist „Zeit“ zunächst für beide Bedeutungen offen. Der allgemeine Zeitbegriff des vorigen Abschnitts allerdings fokussierte im Begriff der mutatio gerade das punktuelle Verständnis, deswegen ist er ungeeignet, das aevum mit zu beinhalten.151 Der allgemeinste Zeitbegriff dagegen ermöglichte die Inklusion, weil hier die Zeit als das Maß der Dauer (duratio) erscheint, während die drei anderen Zeitarten sich jeweils auf einen Bewegungsbegriff (mutatio, variatio, motus) bezogen.152 Die Notwendigkeit eines Zeitbegriffs, der nicht nur die bisher erklärten Zeitarten enthält, sondern auch noch das aevum einschließt, gründet wiederum auf einer auctoritas, nämlich dem Beda oder der Glosse zugeschriebenen Diktum von den quatuor primo creata. Diese Aufzählung umfasst das Empyreum, die Engel, die materia (prima) und die Zeit.153 In dieser Reihe wurde das aevum vermisst, das ja mit den Engeln als Maß für deren Sein erschaffen worden sein musste und somit ebenfalls an den Anfang der Schöpfung heranreichte.154 Es blieb also nur der Ausweg, „Zeit“ hier so zu verstehen, dass sie das aevum umfasst. In der Deutung dieser Sentenz „Bedas“ wies Bonaventura auf die Konsequenzen hin, die mit einem solchen weiten Zeitbegriff verbunden sind:155 Zunächst beobachtete er dabei, dass in der genannten Aufzählung die Zeit als Maß neben drei Substanzen (res) angeführt wird.156 Das verweist auf ein Verständnis der Zeit
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es vorausgreifend: … nomen temporis extenditur ibi ad omnis durationis mensuram, cuius est ponere principium; unde valde large accipitur et comprehendit aevum. Siehe oben S. 181. Zugleich ist damit plausibel, dass keines der beiden Maße – aevum und tempus proprie dictum – dem anderen in der Dauer vorangeht, denn sie sind ja auf dieselben Substanzen bezogen (vgl. II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 65]: simul sunt duratione). Genau in diesem Sinn konnte Bonaventura auch feststellen, dass die Zeit in ihrer allgemeinen Bedeutung dem aevum (und natürlich auch den anderen engeren Zeitbegriffen) dem Verständnis nach vorangeht, so wie das Geschaffen-Werden dem Geschaffen-Sein vorausliegt. Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 65]: si autem secundo modo, sic tempus praecedit aevum secundum rationem intelligendi, sicut creatio esse creatum. – Anzumerken ist dabei, dass die „Zeit im allgemeinen Sinn“ an dieser Stelle nicht als Übergriff für die anderen beiden Zeitbegriffe genommen wird, sondern von dem her verstanden wird, was in diesem Verständnis neu ist (nämlich die Betrachtung der mutatio ad esse). Zum Begriff der Dauer vgl. unten S. 199 mit Anm. 161 und S. 217 mit Anm. 60. Siehe oben S. 56 mit Anm. 172 sowie S. 60, Anm. 191. Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 1, sc. 1 [II, 64] sowie ebd. 2, 1, 1, 1, sc. 2 & ad 2 [II, 55.57]. Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 3, resp. [II, 68]. Man beachte hier auch noch einmal: Es ist der Maßbegriff, der bei Bonaventura die verschiedenen Bedeutungen von Zeit eint und dem insofern grundlegende Bedeutung zukommt.
Verschiedene Begriffe von Zeit
199
als habitudo concreata, das heißt, sie ist nicht selbst Substanz, sondern eine der Substanz inhärierende und mit ihr zusammen geschaffene Disposition.157 Als erstgeschaffenes Maß ist sie das erste aller Maße überhaupt.158 Der Doctor seraphicus begründete diese Sonderstellung an dieser Stelle ausdrücklich damit, dass sie mensura egressionis ist. Dabei bezog er sich auf die bereits im vorausgehenden Zeitbegriff (d. h. communiter) enthaltene „Schöpfungszeit“ des exitus de non-esse in esse. Im Hinblick auf die körperliche Substanz wird dieser besondere Rang der so verstandenen Zeit auch darin deutlich, dass die Zeit aus den anderen Größen als unmittelbar mit der Materie verbundene herausgehoben wird.159 In Übereinstimmung mit der gegebenen Definition betonte Bonaventura weiter, dass Zeit in ihrem weitesten Sinn sowohl das Maß der Entstehung der Dinge (mensura egressionis) als auch das Maß ihrer Dauer (mensura durationis) ist.160 Bedenkt man, dass Bonaventura die duratio als continuatio in esse verstand,161 so wird der Zusammenhang der beiden Bedeutungen von Zeit deutlich: Erstere blickt auf den Zeit-Punkt der Schöpfung, die creatio ex nihilo als jenen Moment des Umschlags vom Nicht-Sein zum Sein, der als mutatio ad esse begriffen wird, die Zeit im letzteren Sinn hingegen schließt durch die Betrachtung der Zeit-Dauer auch die creatio continua ein. Anders gesagt: Erstere betont den Aspekt des Ins-Dasein-Tretens, letztere den des Im-Daseingehalten-Werdens. Auch aus dieser Perspektive wird verständlich, warum die Zeit im ersten Sinn dem aevum (logisch) vorausgeht, während es in dem zweiten Sinn dieses enthält. Und es wird klar, dass die Definition der Zeit communissime dictum tatsächlich eine Verallgemeinerung der Zeit communiter dictum ist (auf den ersten Blick fällt ja eher auf, das es sich um verschiedene Aspekte der Zeit handelt): „Dauern“ enthält nämlich, vom Geschöpf ausgesagt, implizit auch den Anfang des Dauerns,162 einerlei, ob die Dauer selbst so beschaffen ist, dass am Ende etwas irgendwie anderes steht (tempus), oder ob der einmal gesetzte Anfang sich bis zum Ende durchhält (aevum). Die letztere 157 158
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Vgl. den Abschnitt unten ab S. 284. II Sent. 2, 1, 2, 3, resp. [II, 68a]: prima inter mensuras est tempus, quia non tantum dicit mensuram durationis, sed etiam egressionis. – Mensura ist im engeren Sinn zu verstehen, d. h., die aeternitas als ungeschaffenes, uneigentliches Maß wird hier nicht betrachtet. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: Si autem quaeras, quare non sic est in aliis quantitatibus, cum omnes respiciant materiam; dicendum, quod omnes aliae, etsi esse incompletum habeant in materia … tamen esse completum ipsarum est a materia existente sub forma. – Hierbei ist vorausgesetzt, dass der Maßbegriff seinerseits vom Begriff der quantitas abhängt, vgl. hierzu I Sent. 24, 2, 2, ad 1 [I, 427]: quantitatis est mensurare oder II Sent. 2, 1, 1, 3, sc. 4 [II, 62]: sed mensura secundum veritatem est in genere quantitatis. Vgl. noch einmal oben Anm. 158; in dem letzteren Sinn, als mensura durationis, wurde Zeit etwa auch in II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b] verstanden, wenn es hieß: tempus autem respicit ipsam durationem variam et successivam … Vgl. II Sent. 37, 1, 2, fund. 2 [II, 864]: Si ergo creatura continue est, et continuatio in esse non est aliud quam duratio, cum esse eius non possit esse nisi a Deo, omnis rei conservatio est a Deo. Vgl. hierzu auch die Umschreibung der mensura durationis creatae als omnis durationis mensuram, cuius est ponere principium in II Sent. 2, 1, 1, 1, ad 2 [II, 57].
200
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Charakterisierung des Unterschieds von Zeit und aevum brachte Bonaventura auch in ein sehr sprechendes Bild: Das unter dem Maß der Zeit stehende Existieren gleicht einem Bach, der von der Quelle her stets mit neuem Wasser versorgt wird. Eine vom aevum gemessene Existenz ist dagegen einem Sonnenstrahl vergleichbar; das Licht, aus dem er besteht, durchströmt ihn nicht, sondern ist während der Zeit seines Bestehens einfach gegenwärtig.163 In beiden Fällen ist es dabei die Quelle, an der die gesamte Existenz des Strahls hängt. Als letzter Punkt in diesem Abschnitt ist zu betrachten, wie Bonaventura in dem allgemeinsten Zeitbegriff tempus (im engeren Sinn) und aevum aufgehoben lassen sein konnte und doch beides zugleich von der aeternitas absetzte.164 Fragt man, worin die Gemeinsamkeit der drei „zeitlichen“ Größen besteht, so stellt man fest: Alle drei sind Maße165 und alle drei bezeichnen eine duratio,166 deren Wesen (essentia durationis) im 163
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II Sent. 2, 1, 1, 3, resp. [II, 62b]: … rivulus sic egreditur a fonte, quod nova aqua semper exit, non eadem; radius a sole continue egreditur, non quia semper novum aliquid emittatur, sed quia quod emissum est continuatur; unde solis influentia non est aliud quam continuatio dati. Similiter in motu, et in esse rei mobilis aliqua proprietas habita amittitur, vel non habita acquiritur; sed in esse rei aeviternae quod primo datum est per continuam Dei influentiam continuatur. – RICHARD VON SANKT VIKTOR, Trin. I, 9 [TPMÂ 6, 94] gebrauchte dasselbe Bild des Strahls um die coaeternitas von erster und zweiter göttlicher Person zu verdeutlichen. – Ein modernes Verständnis, das um die endliche Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichtes weiß, kann den Unterschied zwischen Lichtstrahl und Wasserstrahl nicht erfassen; Bonaventura dagegen verstand die Ausbreitung des Lichtes als einen instantan zu denkenden Fortpflanzungsprozess, bei dem das Licht den ihm zur Verfügung stehenden Raum auf einmal und zugleich mit seiner Quelle ausfüllt; vgl. hierzu I Sent. 37, 2, 2, 3, ad 1 [I, 663]: … aliter potest dici, quod lux subito movetur, quia motus lucis in medio non est motus localis tantum, sed est motus diffusionis, qui est generatio, sicut generatur idolum ab obiecto; et quia lux simul est et lucet, simul cum est, generat splendorem, et ita in eodem instanti; similiter de illo intelligi potest, et sic deinceps. Unde si simul esset homo et generaret, in primo instanti fuisset mundus plenus hominibus. Erhellend ist hierzu auch I Sent. 9, 1, 4, resp. [I, 186]: Quaedam sunt, in quibus est idem fieri et esse et factum esse, ut sunt illa, quae habent esse permanens et totaliter dependent a principio producente, existente in sua actualitate per eundem modum, per quem in principio, non tantum in se, sed etiam respectu producti, ita quod consimilis modus actualitatis attendatur quantum ad utrumque; et talia sunt influentiae sive coporales sive spirituales. Unde Augustinus octavo super Genesim ad litteram dicit, quod lumen semper nascitur et, dum nascitur, est, unde aër semper est illuminatus et semper illuminatur. Er zitierte hier frei AUGUSTINUS, Gen. litt. VIII, 12, 26 [BA 49, 48]. Darum sprach Bonaventura bei dem hier vorliegenden Zeitbegriff von der mensura cuiuslibet durationis creatae. Für die Zeit dürfte dies hinreichend klargeworden sein, für das aevum vgl. z. B. II Sent. 2, 1, 1, 1; 2, 1, 1, 3, sc. 4 [II, 55–57.62]; für die aeternitas vgl. Trin. 5, 1, sc. 1 & ad 1 [V, 88.90] (wobei die Ewigkeit nicht in einem univoken Sinn „Maß“ ist). Vgl., was bereits oben S. 165, Anm. 5 zu der Trias tempus – aevum – aeternitas gesagt wurde, vgl. ferner S. 207 über die immensitas Gottes und S. 299. Für das aevum vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, fund. 4 & ad 2 & ad 6 [II, 55.57]; für die aeternitas Trin. 5, 1, ad 1 [V, 90] (significat divinum esse per modum durationis, quae quidem duratio, etsi omnem creaturam in infinitum excedat).
Verschiedene Begriffe von Zeit
201
nunc besteht.167 Ihr Unterschied besteht in dem je verschiedenen modus durandi der göttlichen Substanz, der geschaffenen geistigen Substanzen und der vergänglichen körperlichen Substanzen.168 Lässt sich dieser Unterschied im modus durandi noch etwas genauer fassen? Man mag ja versucht sein anzunehmen, die die Inklusion ermöglichende Gemeinsamkeit von tempus im engeren Sinn und von aevum beruhe auf dem nunc, d. h., das nunc aevi und das nunc temporis wären wesentlich dasselbe169 und der Unterschied bestünde in einer endlich dauernden Folge von Augenblicken hier und in einer unendlichen dort. Bei näherem Hinsehen erweist sich dies jedoch als Irrweg,170 schon allein deswegen, weil sich auf diese Weise die aeternitas nicht vom aevum trennen ließe. Die die Dauer konstituierenden „Jetzte“171 sind keineswegs dieselben:172 Das nunc 167 168 169
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Vgl. Trin. 5, 1, ad 14 [V, 92b]: nunc autem est tota essentia durationis. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, fund. 6 [II, 55]: mensura durationis respicit modum durandi; vgl. auch BIGI, La dottrina della temporalità, 112f. Bonaventura diskutierte II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56] zwei Meinungen, die er ablehnte: (1) idem est nunc aevi et temporis und (2) nunc temporis et aevi idem est per essentiam, non sicut individuum, sed ad modum materiae idem per essentiam, differens autem solum quantum ad esse. Bonaventura hob dagegen die wesentliche Verschiedenheit sowohl der nunc als auch der Maße heraus: … quod spiritualia habent mensuram diversam a tempore, non solum in genere mensurae, verum etiam in genere entis; et hoc non solum comparatione, sed etiam secundum substantiam et formam. – Ähnlich äußerte sich Bonaventura hinsichtlich der Ewigkeit in III Sent. 8, 2, 1, ad 6 [III, 193a]: Aeternitas enim et tempus sunt diversae mensurae per essentiam. – Die gegenteilige Position der wesentlichen Gleichheit der beiden (oder aller drei) Maße wurde auch bei anderen Autoren als (abgelehnte) Meinung zitiert, etwa bei WILHELM VON AUVERGNE, De universo I, 2, 1 [Ed. cit. I, 683a AB]: opinati sunt quidam aeternitatem aliud non esse in essentia, quam tempus (vgl. hierzu auch Anna RODOLFI, Tempo e creazione nel pensiero di Bonaventura da Bagnoregio, in: Studi Medievali, 3. Ser. 37 (1996) 135–169, hier 145f., Anm. 25); oder THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 2, 321, in: Divi Thomae Aquinatis Opuscula philosophica, cura et studio P. Fr. Raymundi M. Spiazzi, Turin – Rom 1954, 111–117, hier 114: Et quidam referunt hoc ad instans aevi dicentes ipsum esse idem secundum rem cum instanti temporis, differens tamen ratione. Eine interessante Begründung dieser Position findet sich bei ALBERTUS MAGNUS, De IV coaequaevis 2, 6, 1, sol. [Ed. Paris. 34, 390b]: Sunt tamen qui dicunt, quod … idem est nunc istorum trium [scil. temporis, aevi et aeternitatis]. Dicunt enim, quod tempus substantiam non habet a motu, sed quod sit numerus, et ideo volunt, quod idem nunc est stans in comparatione ad aeternum et aeviternum, et numeratum in comparatione ad temporalia … Ähnlich wie schon bei Aristoteles die ewig dauernde Bewegung der Planeten und des Fixsternhimmels nicht nur als eine Perpetuierung der irdischen Vorgänge verstanden werden konnte. Das Problem besteht beide Male darin, dass Zeit nicht so sehr unter dem quantitativen, als vielmehr unter qualitativen und teleologischen Aspekten betrachtet wurde. «Nunc» ist in diesem übergreifenden Zusammenhang schwer zu übersetzen. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56b]: Nam, sicut dicit Augustinus in libro Octoginta trium Quaestionum, hoc, scilicet nunc aevi, est stabile, illud, scilicet nunc temporis, est fluxibile; sed impossibile est, quod unum et idem et secundum idem simul moveatur et stet. Bonaventura zitierte hier frei AUGUSTINUS, Div. qu. 72 [CC.SL 44a, 208], siehe Anm. 344, S. 151. Vgl. auch II Sent. 2, 1, 2, 1, ad 1 [II, 65b]: [Tempus] defluit continua deperditione; sed in aevo est fixio sine deperditione et novi acquisitione. Man vgl. weiter das Scholion nr. 1 zu I Sent. 39, 2, 3 [I, 697a] Aliud est nunc
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
temporis fließt, es kann nicht gehalten werden und bewirkt, dass das von ihm gemessene Sein stets ein neues, stets anders wird; das nunc aevi dagegen ist stabil, die dadurch geschenkte Existenz ist eine dauerhafte, dem Wandel entzogene, mit sich selbst identische. Das nunc aeternitatis schließlich ist mit der Ewigkeit real identisch und teilt sowohl deren Einfachheit und Gleichzeitigkeit wie auch deren Unendlichkeit (interminabilitas).173 Zeit und aevum vergleichend konstatierte Bonaventura: … in aevo est ponere prius et posterius, et est ponere aliquam successionem, aliam tamen successionem quam in tempore. In tempore enim est successio cum variatione, et prius et posterius cum inveteratione et renovatione. In aevo vero est prius et posterius, quod dicit durationis extensionem, quod tamen nullam dicit variationem nec innovationem.174
Hier wird nicht nur deutlich, was für Bonaventura aevum und tempus miteinander verbindet, sondern auch, was sie trennt: Es ist die im prius et posterius bestehende Abfolge (successio), die beiden gemeinsam ist und die sie von der aeternitas trennt. Die variatio hingegen macht den Unterschied des Dauerns von Zeit und aevum aus.175 Nach diesem Überblick über die verschiedenen Bedeutungen, die der Zeitbegriff bei Bonaventura annimmt, dürfte man eine Idee davon bekommen haben, wie weit das Areal ist, das hier mit dem Begriff „Zeit“ abgesteckt wurde. Insbesondere jener letzte, allgemeinste Zeitbegriff geht über die Vorgaben der vergleichbaren Definitionen bei Alexander von Hales und Albertus Magnus hinaus.176 Auch Bonaventura selbst ging in keiner der an anderen Stellen gegebenen Bestimmungen von Zeit so weit, die „Schöpfungszeit“ als mensura mutationis ad esse noch einmal zu übersteigen.177 Man mag da-
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(sive instans praesens) temporis, aliud nunc aevi, aliud nunc aeternitatis mit dem Hinweis auf die Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 3 (70) [Ed. cit. I, 109f.]. Siehe Trin. 5, 1, ad 13 [V, 92], besonders: secundum rem nihil quidem addit, sed solum secundum rationem intelligendi. Ferner I Sent. 5, dub. 8, resp. [I, 121f.] (zitiert Anm. 166, S. 239). – Selbstverständlich ist auch das nunc aeternitatis ein „stehendes“ nunc. Das hatte bereits Boethius festgestellt, vgl. Quomodo trinitas unus deus 4 [LCL 74, 22]: … nostrum «nunc» quasi currens tempus facit et sempiternitatem, divinum vero «nunc» permanens neque movens sese atque consistens aeternitatem facit. II Sent. 2, 1, 1, 3, resp. [II, 62b], man denke auch noch einmal an das unmittelbar auf diese Ausführungen folgende Bild vom Wasserstrahl und vom Lichtstrahl. Sehr klar führte Bonaventura dies auch in I Sent. 8, 1, dub. 7, resp. [I, 163] über den Gebrauch der grammatikalischen Zeitstufen aus: … quod verba diversorum temporum aliter dicuntur de aeterno, aliter de aeviterno, aliter de temporali. Nam respectu temporalis important mutabilitatem et successionem et durationem. Secundum vero quod de aeviternis dicuntur, duo tantum important, successionem et durationem, sicut vult Hieronymus, Augustinus et Anselmus. Secundum vero quod dicuntur de Deo, important solum durationem. Siehe oben S. 170 mit Anm. 23 und 24. Man vgl. auch noch einmal die Tabelle in Anm. 132, S. 194. Ergänzend ist zu bemerken, dass der Doctor universalis in De IV coaequaevis 2, 3, prooem. [Ed. Paris. 34, 339] den Traktat De tempore in die Abschnitte aeternitas, aevum und tempus im engeren Sinn untergliederte, wobei er alle drei Begriffe unter den gemeinsamen Blickpunkt des allgemein zeitlichen Maßes stellte (per eandem rationem mensurae in genere); vgl. oben S. 165, Anm. 5. Damit legte er zwar für den Gesamttrak-
Verschiedene Begriffe von Zeit
203
hinter die dezidierte Absicht erkennen, einerseits das aevum näher an die Zeit heranzuführen und stärker von der Ewigkeit zu trennen und andererseits im Zeitbegriff auch die creatio continua noch einzuholen. Es sind die theologischen Vorgaben – insbesondere die Lehre von der Schöpfung und von dem Sein und der Bewegung der Engel – die den aristotelischen Rahmen des Zeitbegriffs sprengten und ihn letztlich als eine coarctata temporis acceptio erwiesen. Die Grundentscheidung des Doctor seraphicus, die geschaffenen zeitlichen Maße tempus und aevum, zusammen zu betrachten (in strikter Absetzung von der aeternitas Gottes) schränkte die Möglichkeiten, die Zeitphilosophie des Stagiriten in seine eigenen Darlegungen zu übernehmen, deutlich ein, obwohl der Doctor seraphicus sich auch darum erkennbar bemühte. Thomas von Aquin fiel es vergleichsweise leichter einen systematisch aristotelischen Ansatz zu verfolgen, denn er stellte das aevum mehr auf die Seite der aeternitas.178 Im Blick auf die Bestimmung der aristotelischen Zeit als coarctata temporis acceptio erscheint es mir schließlich nicht angebracht, diese als den eigentlichen Zeitbegriff Bonaventuras anzusehen, der von ihm favorisiert würde.179 Der „eigentlichste“ (magis proprie) Zeitbegriff ist er in dem Sinn, dass er der natürlichste, d. h. zuerst auf die physische Welt bezogene Zeitbegriff ist, doch eben darin liegt auch seine Beschränktheit; es ist der jeweilige Kontext, der schließlich vorgibt, welcher Zeitbegriff der angemessene ist.180 Die verschiedenen Zeitbegriffe stellen damit keine der Freude an distinctiones entsprungene scholastische Spielerei dar, vielmehr entsprechen sie einer sachlichen Notwendigkeit; nicht umsonst wiederholte Bonaventura die Definition an verschiedenen Stellen seines Werkes.
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tat einen noch weiteren „Zeit“-Begriff als der Doctor seraphicus zugrunde, dieser wurde aber nicht in einer eigenen Definition eingefangen. Die Zeitdefinitionen Alberts fanden sich vielmehr in dem Unterabschnitt über die Zeit im engeren Sinn, sind also klar der Unterscheidung von aeternitas, aevum und tempus untergeordnet (was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass keine der in den beiden Definitionen vorgestellten Bedeutungen von Zeit das aevum enthält). Vgl. auch unten den Abschnitt ab S. 306, insbesondere S. 308 mit Anm. 53. Vgl. RATZINGER, Der Mensch und die Zeit, 476f. mit Bezug auf die Zeit magis proprie: „Man muss indes fragen, ob es nicht doch sein eigentlicher Zeitbegriff ist, zumal er anderwärts die angegebenen weiteren Verwendungen des Wortes tempus nur mit Einschränkungen gestattet.“ Vgl. bereits oben S. 178. Und darum wird, wenn von der Bewegung der Sphären die Rede ist (etwa in der von Ratzinger im Zusammenhang der vorigen Anmerkung angegebenen Stelle II Sent. 14, 2, 1, 3, resp. [II, 355f.]), der aristotelische Zeitbegriff zugrunde gelegt, während die Diskussion der Erkenntnis der Dämonen (vgl. oben S. 185, Anm. 95) explizit den weiteren Zeitbegriff (proprie im Sinn der Definition) erfordert und die Schöpfung (creatio-passio) nur unter Zugrundelegung des allgemeinen Zeitbegriffs als zeitlich verstanden werden kann (vgl. unten S. 278).
2
Philosophische Klärungen
Der Überblick über die verschiedenen Bedeutungen, die der Zeitbegriff bei Bonaventura annimmt, hat gewissermaßen das Feld geöffnet für die Fragestellungen, die sich mit dem Phänomen Zeit verbinden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich Bonaventura als Theologe verstand, wenn er von Zeit sprach;1 gemäß dem Verständnis, das er von dem Verhältnis der beiden Wissenschaften hatte, sollte dabei ebenso klar sein, dass dies die Behandlung der (natur)philosophischen Aspekte des Zeitproblems nicht aus- sondern einschloss. Die Art seines Zugangs wirkte sich dabei weniger auf der materialen Seite aus (d. h. auf die Frage, welche Themen im Rahmen der Erörterung der Frage nach der Zeit behandelt werden) als vielmehr auf der formalen, nämlich unter welcher Systematik das Zeitproblem angegangen wurde. Die so verstandene Prävalenz des Theologischen hat zur Folge, dass die Rekonstruktion seiner philosophischen Positionen immer wieder an Grenzen stoßen wird. Dennoch erscheint sie als notwendig (damals wie heute), allein schon, um sich im Rahmen des komplexen mit Zeit verbundenen Begriffsapparates verständlich machen zu können. Die Klärung der mit „Zeit“ verbundenen Begrifflichkeit soll dabei auch in den folgenden Darlegungen am Anfang stehen, bevor die komplexeren Probleme wie die Frage nach der Bedeutung des nunc, nach dem Bezug der Zeit zur Materie und nach der Einheit der Zeit angegangen werden.
2.1
Die Zeit als Maß
Eine erste Antwort auf die Frage „Was ist Zeit?“ könnte lauten: Die Zeit ist ein Maß. Bei Bonaventura findet man diese Antwort insofern, als die oben vorgestellten verschiedenen Bedeutungen von Zeit allesamt unter dem Maßbegriff stehen, der dann im Einzelnen näher bestimmt wird. Schon ein oberflächlicher Blick auf die Inhalte der einzelnen Zeitbedeutungen zeigt dabei, dass der Maßbegriff hier nicht in seiner heutigen technisch-quantitativen Bedeutung verstanden werden kann.
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Siehe oben S. 167.
Philosophische Klärungen
2.1.1
205
Der Maßbegriff
Fragt man, was Bonaventura und seine Zeitgenossen unter mensura verstanden, so ist man sicherlich nicht schlecht beraten, sich zunächst die Merkmale ins Gedächtnis zu rufen, die Aristoteles mit dem Maßbegriff verband.2 Die grundlegendste Bestimmung, die den Zugang zu dessen Verständnis eröffnet, findet man in Metaphysica X (Ι), 1, wo „Maß“ als das definiert wird, „wodurch als Erstes ein jedes [Ding] erkannt wird“.3 In diesem allgemeinen erkenntnistheoretischen Sinn kann dann etwa auch die Wissenschaft oder die Sinneswahrnehmung als das jeweilige Maß ihrer Gegenstände bezeichnet werden.4 Das principium (die ἀρχή) einer Sache wurde so in einem hervorragenden Sinn als „Maß“ verstanden. Dies setzte sich fort in dem Gedanken, dass es das Erste (Ding) in jeder Gattung ist, das innerhalb dieser Gattung das Maß für alle übrigen darstellt. Insofern besaß jede Gattung ihr eigenes Maß und so konnte z. B. das Weiße als das Maß aller Farben angesehen werden.5 So weit die allgemeine Bestimmung des Maßbegriffs. Im eigentlichen Sinn des Wortes findet man das Maß in der Kategorie der Größe (quantitas): Maß ist das, wodurch die quantitas einer Sache erkannt wird.6 Da jede quantitative Größe als solches aber durch die Zahl und damit durch das Eine als
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Man vgl. für das Folgende die Zusammenfassung bei Wolfgang BREIDERT, Zum maßtheoretischen Zusammenhang zwischen Indivisibile und Kontinuum, in: Albert Zimmermann (Hrsg.), Mensura. Maß, Zahl, Zahlensymbolik im Mittelalter, 1. Halbband (= Miscellanea Mediaevalia 16/1), Berlin u. a. 1983, 145–152, bes. 145f. – ein (stark auf Metaphysica X (Ι), 1 bezogenes) Konzentrat zum Maßbegriff findet man auch bei THOMAS VON AQUIN, I Sent. 8, 4, 2, ad 3 [Ed. cit. I, 223]. 1052b 25: λέγεται µέτρον τε ᾧ ἕκαστον πρώτῳ γιγνώσκεται. Vgl. ebd. [1053a 31–33]; unmittelbar darauf erklärte Aristoteles den berühmten Satz des Protagoras „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ so, dass dies dem Menschen aufgrund seiner Erkenntnis- und Wahrnehmungsfähigkeit zukommt. – Von da eröffnet sich auch ein weiteres (hier allerdings nicht angesprochenes) Anwendungsfeld des Maßbegriffes in der (antiken) Ethik und Tugendlehre: Auch dort geht es – in Verbindung mit dem delphischen „Erkenne dich selbst“ – um die Erkenntnis des rechten Maßes. Vgl. Metaphysica X (Ι), 1 [1052b 18f.31f.], in den Auctoritates Aristotelis, Metaphysica X, nr. 239 [PhMed 17, 135] wiedergegeben als: In unoquoque genere est dare aliquod primum et minimum quod fit metrum et mensura omnium illorum quae sunt in illo genere. Ähnlich in Metaphysica (transl. media) 5 (∆), 6 [Aristoteles Latinus XXV.2, 93, Z. 10f.; 1016b 18–20]: … prima namque mensura principium, nam quo primo cognoscimus, hoc est prima mensura cuiusque generis. – Bei Bonaventura ist dies z. B. II Sent. 3, 1, 1, 2, arg. 2 & sc. 6 [II, 94.96] zu finden; sc. 6 betont dabei außerdem, dass dieses erste Maß zugleich das vollkommenste Seiende in der betrachteten Gattung ist (illud unum, quod est mensura generis, debet esse perfectissimum in genere illo). Vgl. Metaphysica X (Ι), 1 [1052b 20]; THOMAS VON AQUIN, In Metaph. X, 2, 1938 (2) [Ed. cit. III, 166]: Mensura autem nihil aliud est quam id quo quantitas rei cognoscitur; ähnlich I Sent. 8, 4, 2, ad 3 [Ed. cit. I, 223]. – Im genannten Kontext machte Aristoteles auch darauf aufmerksam, dass die vorgenannten allgemeinen Bestimmungen des Maßbegriffs durch Übertragung von diesem eigentlichen Verständnis des Maßes zustande kommen.
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
206
Prinzip der Zahl erkannt wird, stellt dieses gewissermaßen das Urbild des Maßes dar.7 Die übrigen quantitativen Maße ergeben sich aus dem weiteren Aufbau der Kategorie quantitas, die die diskreten Größen Zahl und „Rede“ sowie die kontinuierlichen Größen Strecke, Oberfläche, Raum(inhalt), Ort und Zeit enthält.8 Als grundlegende Bestimmung des Quantitativen wird dessen Teilbarkeit (im Sinn von Zerlegbarkeit in mehrere Teile) verstanden, wobei Aristoteles die Menge (multitudo) als das Zählbare von der Größe (magnitudo) als dem Messbaren unterschied.9 Tabelle 5: Aufbau der Kategorie quantitas discreta
quantitas
numerus oratio linea superficies
continua
corpus locus tempus
Aus diesen allgemeinen Bestimmungen des Maßbegriffes ergaben sich weitere Eigenschaften und Forderungen an ein (quantitatives) Maß: Das Maß muss in der gleichen Gattung wie das Gemessene sein, d. h., es muss ihm gleichartig sein (Homogenitätsforderung).10 Weiter müssen Maß und Gemessenes in einem ganzzahligen Verhältnis zu-
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Vgl. Metaphysica X (Ι), 1 [1052b 22f.]: ὥστε πᾶν τὸ ποσὸν γιγνώσκεται ᾗ ποσὸν τῷ ἑνί, καὶ ᾧ πρώτῳ ποσὰ γιγνώσκεται, τοῦτο αὐτὸ ἕν. Vgl. Categoriae (transl. Boethii) 6 [Aristoteles latinus I.1.5, 13; 4b 22–25]: Est autem discreta quantitas ut numerus et oratio, continua vero ut linea, superficies, corpus, praeter haec vero tempus et locus. – Im Folgenden wird außerdem zwischen den Größen unterschieden, deren Teile eine Lage (positio) besitzen, nämlich Strecke, Fläche, Raum und Ort, und denen, deren Teile eine Ordnung (ordo) aufweisen, das sind die verbleibenden: Zahl, Zeit und Rede (als kleinste Teile der Rede wurden die Silben angesehen). – Die Parallelstelle in Metaphysica V (∆), 13 [1020a 7–32] teilte die Kategorie des ποσόν nur in die Größen Zahl, Strecke, Fläche, Raum. Zeit und Bewegung werden dort nur in einem akzidentellen, d. h. nicht eigentlichen Sinn Größen genannt, denn Zeit lässt sich auf Bewegung zurückführen und diese wiederum auf den Ort. Metaphysica V (∆), 13 [1020a 7–10]: ποσὸν λέγεται τὸ διαιρετὸν εἰς ἐνυπάρχοντα, … πλῆθος µὲν οὖν ποσόν τι ἐὰν ἀριθµητὸν ᾖ, µέγεθος δ’ ἐὰν µετρητὸν ᾖ. – Bonaventura nahm den Bezug zwischen Maß, Größe (quantitas) und Teilbarkeit z. B. in II Sent. 2, 1, 1, 3, sc. 4 [II, 62] auf: … mensura secundum veritatem est in genere quantitatis, et talis est divisibilis, ergo habens partes … Vgl. Metaphysica X (Ι), 1 [1053a 24f.]: αἰεὶ δὲ συγγενὲς τὸ µέτρον.
Philosophische Klärungen
207
einander stehen (Kommensurabilitätsforderung).11 Aus Letzterem ergab sich insbesondere, dass ein Maß endlich sein muss, denn das Unendliche steht zum Endlichen in keinem Verhältnis, es ist unerkennbar.12 Schließlich soll gelten: Das Maß ist (a) eine gewisse Einheit, näherhin die erste (oder kleinste) in der betrachteten Gattung;13 (b) als Anfang oder Prinzip (principium) ist es damit auch unteilbar (indivisibile).14 Die Unteilbarkeit ist der entscheidende Unterschied zwischen Maß und Gemessenem. – Da die beiden Bedingungen insbesondere bei kontinuierlichen Größen ein Problem darstellen, präzisierte Aristoteles, in welchem Sinn er hier „Unteilbarkeit“ verstanden wissen wollte:15 nämlich entweder (a) schlechthin (indivisibile simpliciter) oder (b) für die Wahrnehmung (indivisibile secundum sensum, ununterscheidbar) oder (c) gemäß Konvention (indivisibile secundum institutionem).16 Auch in allen diesen weiteren Bestimmungen ist es das Verhältnis der Eins (Einheit) zu den Zahlen, das Modellcharakter besitzt und in dem die vorgestellten Forderungen am besten erfüllt sind.17 Die Vorstellung Bonaventuras vom Maßbegriff folgte über weite Strecken der aristotelischen Vorgabe, er setzte aber durchaus auch einige eigene Akzente. Ein Maß zu besitzen ist demnach ein Kennzeichen des Geschaffenen, während die immensitas gerade
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Vgl. Metaphysica X (Ι), 1 [1053a 14–18]; die Kommensurabilität ergibt sich dabei nicht schon aus der Homogenität, wie die bekannten Beispiele des irrationalen Verhältnisses von Quadratseite und Quadratdiagonale, von Kreisdurchmesser und Kreisumfang zeigen – in beiden Fällen wird also das eine jeweils nicht durch das andere gemessen. Vgl. z. B. De caelo I, 6 [274a 7f.]: λόγος δ’ οὐθείς ἐστι τοῦ ἀπείρου πρὸς τὸ πεπερασµένον; ebd. (transl. Guillelmi de Moerbeke) [ALD2 ]: Proportio autem nulla est infiniti ad finitum; ferner Physica I, 4 [187b 7f.]: … ἄπειρον ᾗ ἄπειρον ἄγνοστον; sowie die Ausführungen in Metaphysica II (Α ἐλ.), 2 [994b 20–31]. Das ganze erste Kapitel von Metaphysica X steht unter dem Anspruch, die Bedeutungen des „Einen“ zu erfassen. Aus dieser Forderung der Einheit des Maßes wird bei Bonaventura etwa der (innerhalb einer Gegenargumentation vorgetragene) Gedankengang verständlich, die Einheit der Materie daraus zu begründen, dass sie das Maß in der Gattung der Substanzen ist (vgl. II Sent. 3, 1, 1, 2, sc. 6 & ad 6 [II, 96.98]); vgl. auch unten S. 271. Vgl. Metaphysica X (Ι), 1 [1052b 31f.]: ἐν πᾶσι δὴ τούτοις µέτρον καὶ ἀρχὴ ἕν τι καὶ ἀδιαίρετον. Vgl. ebd. [1052b 33 – 1053a 14]. Der Text des Aristoteles scheint mir die beiden letzteren Aspekte (indivisibile secundum sensum oder secundum institutionem) nicht deutlich zu trennen; dass er aber durchaus in diesem Sinn verstanden wurde, zeigt AVERROES, In Metaphysicam X, 1 [Ed. cit. VIII, fol. 252v H]: Et intendit declarare, quod in ista non invenitur aliquod unum, scilicet indivisibile per naturam; sed, cum homines voluerint mensurare in istis rebus, posuerunt unum per institutionem, et inspexerunt, quod esset valde simile uni numerali. – THOMAS VON AQUIN, I Sent. 8, 4, 2, ad 3 [Ed. cit. I, 223] unterschied im Blick auf die Maße ein minimum simpliciter und ein minimum secundum positionem. Ähnlich ROBERT KILWARDBY, De tempore 11, 50 [ABMA 9, 21, Z. 19f.] zu der Aristotelesstelle: … dicit quod in continuis non est minimum simpliciter set positione. In diesem Sinn nannte Aristoteles das Maß der Zahl auch das genaueste (ἀκριβέστατον); vgl. Metaphysica X (Ι), 1 [1053a 1].
208
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
zu den Attributen Gottes gehört.18 Die Gott zukommende immensitas schließt dabei weder aus, dass Gott sich selbst Maß ist,19 noch dass er für die Geschöpfe (in supereminenter Weise) Maß ist, da ihm als Prinzip sowie aufgrund seiner Einheit, Einfachheit und Vollkommenheit alle Kennzeichen eines Maßes zukommen.20 Die Verbindung des Maßbegriffs mit dem geschaffenen Sein zeigt sich darin, dass dieses als begrenztes (d. h. von anderem Seienden verschiedenes, in mannigfacher Weise zusammengesetztes) immer zugleich ein gemessenes ist, wobei das Maß nichts anderes ist als das Erkenntnismittel, das diese Begrenztheit offenbart.21 Darin drückt sich die göttliche Ordnung aus, denn er hat alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet (Weish 11, 20 [21]),22 so dass diese, durch das Maß angezeigte Begrenztheit, nicht einen Defekt darstellt, sondern vielmehr auf ihre Weise auf die Vollständigkeit (completio) und Vollkommenheit (perfectio) alles Geschaffenen hindeutet.23 18
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Vgl. z. B. Brev. I, 2 [V, 211a]; Itin. V, 7 [V, 309] und besonders Trin. 4, 1 [V, 79–84], z. B. ad 10 [V, 83]: unitas divina … nec limitata est nec mensurata, sed potius immensa, quia nec coarctans nec coarctata, nec ab alio nec a se ipsa; im Responsum [V, 81a] werden infinitas und immensitas gleichgesetzt (infinitatem sive immensitatem), aufgrund der absoluten Einfachheit Gottes gilt dies in jeder Hinsicht (ebd. [V, 81b]: quia simpliciter summum, necesse est esse omnino immensum). Allerdings weicht dieser Gebrauch etwas von der Verwendung in I Sent. ab, denn dort wurde bisweilen die immensitas auf die Privation des örtlichen Maßes bezogen (im Gegensatz zur aeternitas im Hinblick auf zeitliche Ungemessenheit); vgl. z. B. I Sent. 37, 1, 2, 2, resp. [I, 645]: et sic idem est Deum esse ubique quod Deum esse immensum; ebd. 8, 1, 2, 1, resp.; 19, 1, 1, 2, resp. [I, 157. 345a]; ferner Itin. V, 8 [V, 310a]: Quia perfectissimum et immensum, ideo est intra omnia, non inclusum, extra omnia, non exclusum, supra omnia, non elatum, infra omnia, non prostratum. Z. B. in der aeternitas, vgl. Trin. 5, 1, ad 1.2 [V, 90]: non per conterminationem, quia immensum non habet terminum, sed per mutui excessus privationem. Vgl. z. B. II Sent. 1, 2, 1, 1, resp. [II, 40]. Vgl. besonders II Sent. 2, 1, 1, 1, fund. 5 [II, 55]: omne quod habet esse limitatum actu, habet mensuram, per quam potest cognosci eius limitatio; sed tale est esse omnis creati. Ferner I Sent. 24, 2, 2, ad 1 [I, 427]: Distinctio in creaturis est per alicuius proprietatis vel qualitatis appositionem, et ita per additionem; ubi autem additio, ibi limitatio; ubi limitatio, ibi unius ab alio divisio, et ubi haec sunt, ibi aggregatio diversorum et mensuratio. Et quia quantitatis est mensurare, ad distinctionem in inferioribus sequitur numerus et est modus essendi consequens materiam cum forma. – Dass insbesondere die zeitliche Messbarkeit zur Geschöpflichkeit hinzugehört, besagte Serm. temp., De Trinitate [IX, 353b]: Impossibile enim est, aliquid esse immensum, quod habet esse post non esse; et ideo nulla creatura est immensa secundum durationem, sed mensurata. Vgl. dazu auch John A. Wayne HELLMANN, Ordo. Untersuchung eines Grundgedankens in der Theologie Bonaventuras (= Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Philosophie und Theologie. Neue Folge 18), München u. a. 1974, 97f. Itin. I, 11 [V, 298b]: … res in se ipsis considerans, videt in eis pondus, numerum et mensuram: pondus quoad situm, ubi inclinantur, numerum, quo distinguuntur, et mensuram, qua limitantur. Ist die (recht verstandene) infinitas für Gott eine Vollkommenheit (vgl. Trin. 4, 1, resp. [V, 81a]: Infinitum vero per abnegationem termini circa quantitatem virtutis non dicit aliquam imperfectionem, sed summam perfectionem; vgl. auch ebd., ad 1 [V, 82]), so stellt sie für das Geschöpf – in seiner Hinordnung auf Gott – einen gefährlichen Mangel dar, vgl. III Sent. 13, 1, 2, sc. 3 [III, 279]: … infinitas in creatura tollit bonum et perfectionem, quia quod est infinitum caret fine et termino,
Philosophische Klärungen
209
Auch für den Doctor seraphicus war dabei „Messen“ mit Quantität verbunden (mensura est in genere quantitatis),24 wobei er diese quantitas im engeren Sinn als eine quantitas molis auffasste, im Gegensatz zur ungemessenen quantitas virtutis Gottes.25 Deswegen ist das geschöpfliche Gemessen-Sein auch verbunden mit der compositio aus Form und Materie.26 Näherhin hält sich die quantitas dabei an die (je nach der betrachteten Größe) unter einer bestimmten Form existierende Materie – ausgenommen allein die Zeit, die ihr Sein aus dem Streben der Materie nach der Form empfängt und keiner bestimmten vorhandenen Form bedarf.27 Von daher wird verständlich, dass für Bonaventura jedes einem Seienden eigene Maß durch ein bestimmtes Entsprechungsverhältnis (proportio) gegeben ist.28 In dieser Sichtweise ist eingeschlossen, dass jedes Maß zunächst eine intrinsische Disposition (habitudo) des betrachteten Seienden darstellt, denn es wird aufgrund einer Betrachtung dieses Seienden an sich (in se) erkannt.29 Bonaventura war sich indes be-
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ergo bonitate et complemento. Umgekehrt gilt (ebd., resp. [III, 279]): Finitas enim et mensuratio circa creaturam potius dicit complementum quam imperfectionem. – Brev. II, 1 [V, 219a] sagte am Ende der Fundierung: Quae quidem [scil. pondus, numerus et mensura] reperiuntur in omnibus creaturis tanquam vestigium Creatoris, sive corporalibus, sive spiritualibus, sive ex utrisque compositis. Vgl. bereits oben S. 206, Anm. 9 (nebenbei bemerkt: Die Teilbarkeit weist dort auch auf die kreatürliche Zusammensetzung hin) sowie Anm. 21 und öfter. Vgl. z. B. I Sent. 19, 1, 1, 1, resp. [I, 343]: Quantitas autem dicitur dupliciter: proprie, scilicet quantitas molis, et translative, quantitas virtutis. … Haec autem quantitas virtutis ponitur in spiritualibus et summe reperitur in divinis, quia haec quantitas non repugnat simplicitati, sed consonat. Ferner ebd., qu. 2, resp. [I, 345a]: Quia enim in divinis non est extensio molis nec aggregatio multitudinis, ideo non est ibi quantitas continua intrinseca nec discreta, sed loco eius est quantitas virtutis, quae tangitur per hoc membrum, quod est potentia. Vgl. oben Anm. 21: Et quia quantitatis est mensurare, … est modus essendi consequens materiam cum forma. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59f.]: Si autem quaeras, quare non sic est in aliis quantitatibus, cum omnes respiciant materiam; dicendum, quod omnes aliae, etsi esse incompletum habeant in materia – nam sunt in materia dimensiones infinitae – tamen esse completum ipsarum est a materia existente sub forma. Tempus autem habet esse ex hoc, quod materia tendit ad formam, propter hoc quod causatur a motu, qui est «entelechia entis in potentia», et ideo tenet se maxime ex parte materiae et ideo minime distinctum. Vgl. I Sent. 3, 1, dub. 3, resp. [I, 78f.]: … dicendum quod res creata habet tripliciter considerari: aut (1) in se, aut (2) in comparatione ad alias creaturas, aut (3) in comparatione ad causam primam. Et secundum hos omnes modos contingit reperire trinitatem dupliciter. Si enim consideretur (1) quantum in se vel (a) quantum ad se, hoc est, aut quantum ad substantiam principiorum; et sic est illa trinitas; materia, forma, compositio, quae ponitur in libro de Regula fidei; aut (b) quantum ad habitudines; et sic est illa, Sapientiae undecimo [v. 21 (20)]: Omnia in numero, pondere et mensura disposuisti. In numero enim intelligitur principiorum distinctio, in pondere propria ipsorum inclinatio, in mensura eorum ad invicem proportio. … (Gliederungsnummern sind von mir eingefügt). Vgl. die vorausgehende Anmerkung und Anm. 22; zur Bedeutung von habitudo vgl. unten S. 286, Anm. 73.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
wusst, dass diese Perspektive die Bandbreite der Bedeutungen von „Maß“ nicht voll ausschöpft, er unterschied daher zusätzlich zwischen intrinsischem und extrinsischem Maß (mensura intra/intrinseca bzw. extra/extrinseca).30 Den Ansatz zu dieser Unterscheidung bietet die Beobachtung, dass mit „Maß“ sowohl die bestimmte, in einem Seienden verwirklichte Quantität bestimmter Art gemeint sein kann (z. B. die Körpergröße eines Menschen) als auch der in der Regel außerhalb des so gemessenen Seienden liegende, der Messung zugrundeliegende Maßstab (etwa die Elle, mit der die Größe des Menschen gemessen wird). In dem ersteren Fall ist das Maß ein dem einzelnen Seienden inhärierendes Akzidens und es vervielfältigt sich entsprechend dem Axiom accidens multiplicatur ad multiplicationem subiecti31 zusammen mit dem Gemessenen, letzteres dagegen ist als Maß im Normalfall ein einziges innerhalb der betrachteten Gattung, wenn es mehrere geben muss, dann nur aufgrund einer in den gemessenen Gegenständen liegenden Notwendigkeit oder Inkompatibilität (incompossibilitas).32 Außer an der bereits zitierten Stelle ging Bonaventura nirgends näher auf die Unterscheidung zwischen mensura intrinseca und mensura extrinseca ein, von daher scheint ein kurzer Seitenblick auf den Gebrauch bei Thomas von Aquin hilfreich. Auch er betonte zunächst, das unterschiedliche Verhältnis von Maß und Gemessenem,33 das er vor allem im Hinblick auf die Zeit als Maß alternativ durch die Ausdrücke sicut accidens ad subiectum bzw. sicut mensura ad mensuratum beschrieb34 und das sich am 30
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Vgl. IV Sent. 49, 2, 2, 3, 1, ad 3 [IV, 1029] … dicendum, quod duplex est mensura, scilicet intra et extra. Mensura intra est propria et multiplicatur secundum multiplicationem mensurati, quia est unigenea mensurato; mensura extra non oportet, quod multiplicetur in quantum mensura; sed si multiplicatur, hoc est propter indigentiam vel incompossibilitatem mensuratorum. Vgl. unten S. 266 mit Anm. 288 (bei der Frage nach der Einheit der Zeit). Vgl. IV Sent. 49, 2, 2, 3, 1, ad 3 [IV, 1029] (zitiert in Anm. 30). Die von Bonaventura genannte Notwendigkeit (indigentia) zur Vervielfachung kann sich aus verschiedenen Sachverhalten ergeben: Im vorliegenden Fall ging es darum, dass zwar jeder Körper seinen eigenen Ort (als intrinsisches Maß) hat, dass aber daraus nicht schon folgt, dass zwei Körper nicht denselben Ort (als extrinsisches Maß) einnehmen können, dies ergibt sich vielmehr erst aus der besonderen zusätzlichen Eigenschaft der materiellen Körper, sich nicht gegenseitig durchdringen zu können. Weiter konnte die Vervielfältigung des Maß(stab)es durch die Inkommensurabilität zweier Größen in derselben Gattung erzwungen werden (vgl. oben Anm. 11). Und schließlich konnte man auch an das Nebeneinander von aristotelischer Zeit und aevum denken, die zwar beide die Dauer eines Seins messen, wo sich aber dieses Sein eben dadurch unterscheidet, dass es einmal ein „verfließendes“, das andere Mal ein stabiles Sein ist (vgl. z. B. II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56f.]). Vgl. II Sent. 2, 1, 2, ad 1 [Ed. cit. II, 67]: dicendum, quod mensura est duplex. Quaedam intrinseca, quae est in mensurato sicut accidens in subjecto; et haec multiplicatur ad multiplicationem mensurati; sicut plures lineae sunt quae mensurant longitudinem plurium corporum aequalium. Est etiam quaedam mensura extrinseca; et hanc non est necesse multiplicari ad multiplicationem mensuratorum, sed est in uno sicut in subjecto ad quod multa mensurantur, sicut multi panni mensurantur ad longitudinem unius ulnae. Vgl. S. th. I, 10, 6, resp. [Ed. Leonina IV, 104]: Sic ergo tempus ad illum motum [scil. primi mobilis] comparatur non solum ut mensura ad mensuratum, sed etiam ut accidens ad subiectum; et sic ab eo recipit unitatem. Ad alios autem motus comparatur solum ut mensura ad mensuratum. Unde
Philosophische Klärungen
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augenfälligsten in der Vervielfältigung bzw. der Einheit des Maßes zeigt. Als vom Gemessenen verschiedenes Seiendes ist das extrinsische Maß außerdem eine mensura separata, als zum gleichen Genus wie das Gemessene gehörend und alle in diesem Genus vorfindbaren Seienden (inklusive sich selbst) messendes ist es mensura communis.35 – Für Thomas bedeutete mensura intrinseca und mensura extrinseca ein je verschiedenes Verständnis von Maß (ratio mensurae), nach dem sich die in der Kategorie quantitas vorliegenden (kontinuierlichen) Maße einteilen lassen: So gehören linea, superficies und profunditas (im Sinn von räumlicher Tiefe) zu den intrinsischen Maßen, während Zeit und Ort extrinsische Maße darstellen.36 Die Funktion der Terminologie besteht also darin, eine Typologie der Maße zur Verfügung zu stellen. Dagegen kommt der Aspekt, dass man grundsätzlich jedes Maß unter diesen beiden Hinsichten (Maßstab bzw. im Einzelseienden verwirklichte Quantität) betrachten kann, bei ihm so nicht vor, auch wenn der Doctor angelicus im Bezug auf den eine Strecke begrenzenden geometrischen Punkt feststellte, dass er sowohl intrinsisches als auch extrinsisches Maß der Linie sein kann.37 Nachfolgende Magistri, die die Unterscheidung von mensura extrinseca und
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secundum eorum multitudinem non multiplicatur, quia una mensura separata multa mensurari possunt; ähnlich II Sent. 2, 1, 2, resp. [Ed. cit. II, 67]; IV Sent. 11, 1, 3, 2, ad 2 [Ed. cit. 2IV, 449, nr. 91]. Vgl. Quodlibet 2, 3, resp. [Ed. Leonina XXV, 219, Z. 40–44]: Cum autem mensura sit homogenea mensurato, ut dicitur in X Metaphisice; manifestum est quod omnia que sunt unius generis possunt habere mensuram communem, non autem que sunt generum diversorum. Hier wie bei BONAVENTURA, IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250], ging es dabei um die Bewegung des primum mobile als Maß aller übrigen kontinuierlichen und regulären Bewegungen. – Die Unterscheidung von mensura propria (als mensura intrinseca) und mensura communis (als mensura extrinseca) begegnete ebenfalls bei BONAVENTURA, IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250]; obwohl die Konnotation dieser beiden Unterscheidungen (intrinseca/extrinseca – propria/communis) je eine verschiedene ist, möchte ich sie – mit BIGI, La dottrina della temporalità, 119f. – doch sachlich weitgehend miteinander identifizieren. Dies legt sich im Übrigen auch von daher nahe, da Thomas bei exakt derselben Frage (IV Sent. 11, 1, 3, 2, ad 2 [Ed. cit. 2IV, 448, nr. 89]; S. th. III, 75, 7, ad 1 [Ed. Leonina XII, 175b]) die Terminologie der mensura extrinseca/intrinseca gebrauchte. Man beachte ferner, dass die Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 3 (67), ad 2 [Ed. cit. I, 104b] oder ROBERT KILWARDBY, De tempore 15, 84 [ABMA 9, 31] die Unterscheidung von eigentlichem und allgemeinem Maß in einem anderen Sinn gebrauchten, wenn sie für einen bestimmten Prozess (z. B. das Tun eines Engels oder die Schöpfung) die Zeit als die mensura propria, die Ewigkeit dagegen als die mensura communis (transcendens) bestimmten (hier geht es um die Frage einer Hierarchie der zeitlichen Maße, sofern sie denselben Vorgang messen). Vgl. De veritate 1, 5, resp. [Ed. Leonina XXII.1, 18, Z. 188–192]; ferner auch S. th. III, 75, 7, ad 1 [Ed. Leonina XII, 175b]; In Metaph. V, 15, 986 (10) [Ed. cit. II, 208]. – BONAVENTURA, II Sent. 2, 1, 1, 2, sc. 3 [II, 58] berichtete dieselbe Ansicht, ohne sie zu teilen: Positio enim multorum est, quare tempus unum potest esse: quia, quamvis sit accidens, tamen est mensura extrinseca, sicut locus. Vgl. IV Sent. 11, 1, 3, 2, ad 2 [Ed. cit. 2IV, 448, nr. 89]: Sed illud non potest stare: quia cum punctum sit terminus lineae, quae potest esse mensura et intranea et extranea, possibile est puncta assignare et intrinseca et extrinseca; sed instans est terminus temporis quod nunquam est nisi mensura extrinseca. – De veritate 1, 4, ad 1; 1, 5, resp; 1, 6, resp. [Ed. Leonina XXII.1, 14, Z.
212
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
mensura intrinseca aufnahmen, interpretierten sie jedoch zum Teil genau in der letztgenannten Richtung.38 Ob wiederum Bonaventura jedes Maß unter dieser doppelten Perspektive sah, muss (meines Erachtens) aufgrund der zu geringen Textbasis offenbleiben. Da es hier aber in erster Linie um die Frage nach der Zeit als Maß geht, lohnt sich für diesen Fall durchaus eine Untersuchung.
2.1.2
Die Zeit als extrinsisches und intrinsisches Maß
Bei Thomas von Aquin fällt auf, dass es bei den meisten Stellen, an denen er von der Unterscheidung von intrinsischem und extrinsischem Maß sprach, um die Zeit und insbesondere um ihr Verhältnis zur Bewegung des primum mobile ging.39 Näherhin lautete seine Frage, ob die Zeit unterschiedslos alle Formen von Bewegung misst oder ob ein besonderer Bezug zur Bewegung der Himmelssphäre besteht. Thomas’ Position war dabei denkbar klar: Per se misst die Zeit die Bewegung des primum mobile40 und ist so deren Akzidens (und damit mensura intrinseca); im Bezug auf die übrigen Bewegungen
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210–226; 18, Z. 184–255; 23, Z. 54 – 24, Z. 168] legte dar, dass die Wahrheit sowohl mensura intrinseca (als den Dingen inhärente ontologische Wahrheit) als auch mensura extrinseca (im Sinn Gottes als der maßgebenden prima veritas) verstanden werden kann; dies ist insofern kein besonders treffendes Beispiel, als hier ein je verschiedener Wahrheitsbegriff zugrunde gelegt wird. Vgl. z. B. GOTTFRIED VON FONTAINES, Quodlibetum XV, 9, resp., in: Le Quodlibet XV et trois Questions ordinaires de Godefroid de Fontaines, éd. par Odon Lottin (= Les philosophes belges 14), Louvain 1937, hier 48: Sciendum est quod mensura alicuius potest duobus modis accipi. Uno modo pro quantitate sua formaliter sibi inhaerente quae facit ipsum formaliter quantum, sicut si longitudo corporis qua formaliter est longum dicitur eius mensura. Alio modo dicitur mensura magis usitate illud quod ex sua applicatione ad alterum facit certitudinem de quantitate alterius, sicut si dicatur quod ulna est mensura panni. (Unterstreichung von mir). – RICHARD VON MEDIAVILLA, II Sent. 2, 2, 1, resp. [Ed. cit. II, 41f.] griff beide Aspekte auf. In einer umfangreichen Tafel unterschied er sechs Arten ein Wesen (essentia) zu betrachten und wies diesen Arten jeweils drei Maße zu: eine mensura intrinseca, eine mensura extrinseca in genere und eine mensura extrinseca extra genus (Letzteres ist immer das göttliche Wesen in einer bestimmten Hinsicht); in dieser Tafel traten dann (unter anderem) die Größen aus der Kategorie quantitas auf. Z. B. dem Ort als mensura extrinseca (in genere) entsprechen die räumlichen Größen Strecke, Fläche, Körper (als continuae quantitates permanentes) als mensurae intrinsecae. Die Zeit im eigentlichen Sinn ist extrinsisches Maß, in einem uneigentlichen Sinn (als propria continuatio eines Seienden) ist sie intrinsisches Maß. Dasselbe gilt für das aevum. – Man erkennt, dass hier bereits eine deutlich ausgearbeitetere Terminologie vorlag als im Vergleich zu der Zeit, da Bonaventura seinen Sentenzenkommentar schrieb. Ausgangspunkt für die gesamte Fragestellung war die entsprechende Zeitaporie bei Aristoteles, Physica IV, 14 [223a 29 – 223b 12], vgl. auch oben S. 102 mit Anm. 48. Vgl. I Sent. 19, 2, 1, ad 4 [Ed. cit. I, 469]: tempus per se est mensura motus primi; unde esse rerum temporalium non mensuratur tempore nisi prout subjacet variationi ex motu caeli. Ebenso II Sent. 2, 1, 2, ad 1 [Ed. cit. II, 67]: hoc modo [scil. mensurae extrinsecae] multi motus mensurantur ad numerum unius primi motus, qui numerus est tempus.
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dagegen ist sie mensura extrinseca.41 Wenn auch in etwas anderer Begrifflichkeit, so ist seine Antwort damit im Grundzug genau die des Averroes, der auf diese Weise die Allgegenwart und die Einheit der Zeit zum Ausgleich bringen wollte:42 Für den arabischen Philosophen misst die Zeit primo et essentialiter die Bewegung des primum mobile (und von daher ist sie eine einzige);43 per accidens dagegen kann sie auch die übrigen Bewegungen messen.44 Seine Überlegung wurde dabei durch die oben bereits vorgestellte Überzeugung geleitet,45 dass es in jedem Genus genau ein (sich durch seine Einheit und Vollkommenheit auszeichnendes) Erstes gibt, das das Maß für alle übrigen Seienden in diesem Genus ist. Im Falle der Bewegungen wurde dies auf die vollkommene Kreisbewegung des primum mobile angewandt, so dass sich die mit ihr verbundene Zeit auch als das erste Maß der übrigen Bewegungen erwies.46 – Nun sind bei Thomas und Averroes die Verhältnisse relativ einfach, da sie die Zeit ganz von der aristotelischen Definition des numerus motus secundum prius et posterius verstanden. Doch wie sieht die Situation bei Bonaventura aus? Hier hat man die verschiedenen Bedeutungen von Zeit einzeln zu untersuchen.
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Vgl. S. th. III, 75, 7 ad 1 [Ed. Leonina XII, 175b]: Quia instans et tempus particularibus motibus non est mensura intrinseca, sicut linea et punctus corporibus: sed solum extrinseca, sicut corporibus locus. Ausführlicher und differenzierter unten in dem Abschnitt zur Einheit der Zeit ab S. 266, besonders ab S. 267. Auch ROBERT KILWARDBY, De tempore 8, 35 [ABMA 9, 16, Z. 15–17] verstand Averroes genau in diesem Sinn: … dicit Auerroes quod motus circularis primus diurnus est subiectum temporis, et ipse sumitur in sua diffinitione. Er problematisierte anschließend ebd. 10, 39 [ABMA 9, 18, Z. 4–6]: … videtur esse contra sermonem Aristotilis. Dicit enim in capitulo de tempore, quod tempus est simul et ubique apud omnes. Vgl. In Phys. IV, comm. 132 [Ed. cit. IV, fol. 203v G]: … quod secundum hoc, quod in definitione temporis accipitur motus, sequitur unum motum, et est numerus illius primo et essentialiter, et secundum quod mensurat omnes motus, est numerus cuiuslibet motus. Vgl. hierzu auch unten S. 269, Anm. 300. Vgl. z. B. In Phys. IV, comm. 133 [Ed. cit. IV, fol. 204v K]: … quod tempus mensuratur per motum, licet sit mensuratio accidentalis … – ALBERTUS MAGNUS, Physica IV, 3, 17 [Ed. Colon. IV.1, 291, Z. 55–64] erklärte die Unterscheidung von mensurare per se / per essentiam / essentialiter und mensurare per accidens / accidentaliter so: Mensuratur enim unumquodque non univoca mensura, et hoc dupliciter, scilicet quando per quantitatem mensurae accipimus quantitatem mensurati, sicut mensuramus per ulnam pannum et cado oleum et lagena vinum; mensuratur etiam aliquando accidentaliter, sicut quando per mensuratum accipimus quantitatem mensurantis, sicut per quantitatem vini, cuius quantitas est nobis nota, accipimus quantitatem lagenae. Vgl. oben S. 205. Vgl. AVERROES, In Phys. IV, comm. 133 [Ed. cit. IV, fol. 204v L]: Cum manifestum est, quod prima mensura et indivisibilis in aliquo genere est illud, per quod mensurantur omnia, quae sunt in illo genere, dignius motuum, ut suum tempus sit primum tempus, est motus circularis aequalis … – Entscheidend ist dann freilich, wie weit man das Genus „Bewegung“ fasst.
214 2.1.2.1
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit Tempus magis proprie dictum und tempus proprie dictum
Beginnt man bei der Zeit im engsten Sinn (magis proprie), so findet man erwartungsgemäß zunächst eine gewisse Nähe zur Position des Aquinaten, denn hier bewegt man sich ja gerade auf dem Boden der aristotelischen Zeitdefinition. Die aristotelische Zeit Bonaventuras ist Maß der Bewegung (mensura motus), sofern dieser motus den oben näher spezifizierten Bedingungen (sukzessiv, kontinuierlich und unter der regulatio des primum mobile) genügt.47 Die durch das primum mobile vorgegebene Zeit war dabei auch für Bonaventura ein allgemeines Maß (mensura communis – im Sinn eines für alle zugänglichen Maßstabes) durch das alle Bewegungen der beschriebenen Art gemessen werden,48 und insofern wird man nicht fehlgehen, diese Zeit als extrinsisches Maß für die von ihr gemessenen Zeiten anzusehen. 49 Gleichzeitig jedoch distanzierte sich Bonaventura von der Lösung des Averroes, denn per se ist das primum mobile nicht das Subjekt der Zeit, es ist nicht einmal dasjenige, an dem sie zuerst erscheint (apparet).50 Die Regularität der Bewegung der Himmelssphäre und ihre allgemeine Zugänglichkeit (nobis notissimum)51 mögen ihr zwar in praktischer Hinsicht als Maß einen gewissen Vorrang einräumen, zum eigentlichen Träger der Zeit wird sie dadurch jedoch nicht. Wenn Bonaventura statt dessen auf die Materie als das Einheitsprinzip der Zeit zurückgriff, so zeigt sich darin auch, dass für ihn Zeit in glei47 48
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Vgl. oben den Abschnitt zu tempus magis proprie ab S. 174; kurz in II Sent. 2, 1, 2, 1, ad 3 [II, 65]: nam sicut tempus mensurat motum, sic nunc temporis mensurat mobile inquantum mobile. Vgl. IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250b]: Si autem accipiatur instans secundum communem mensuram, quae est tempus continuum, non intercisum, ut est mensura motus primi mobilis, … – In demselben Sinn ist die Argumentation von II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59] zu verstehen: quia etsi omnia habeant proprias periodos, tamen omnia numerantur et mensurantur per mensuram motus regularis et certi et nobis notissimi, scilicet motus mobilis primi. – Das „alle“ ist dabei auf die nach Stunden, Tagen und Jahren gemessenen Zeiten (siehe den unmittelbar vorausliegenden Text) zu beziehen. Der extrinsische Maßstab (die Bewegung des primum mobile) ist also zu unterscheiden von den von ihm gemessenen Zeiten, gleichwohl ist beides Zeit im engsten Sinn des Wortes. Das sind die beiden Thesen, die in II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59] sukzessive als falsch bzw. ungenügend abgelehnt werden. Der Abschnitt über die Einheit der Zeit geht hierauf ab S. 267 ausführlich ein. – Bonaventuras (aus Aristoteles selbst genommenes) Argument, dass es zwei prima mobilia geben könnte, erweist die daraus abgeleitete Einheit der Zeit als eine rein zufällige (vgl. dazu auch unten S. 270 mit Anm. 305). Im Hintergrund dieses Gedankenexperiments mag die Überlegung stehen, dass nicht nur die Bewegung der Sonne, sondern auch die des Mondes als ebenbürtiges zeitliches Maß dienen kann. Augenscheinlich wird das z. B. am jüdischen Kalender (vgl. II Sent. 14, 2, dub. 4 [II, 369b]). Auf das Schwanken Bonaventuras, welche Sphäre mit ihrer Bewegung nun genau das herausragende Zeitmaß ist (Sonnenbewegung, Sternbewegung oder die Bewegung des primum mobile) wurde oben (S. 175) bereits hingewiesen: Die Bewegung des primum mobile übertrifft zwar an Gleichförmigkeit die übrigen, da sie aber im Gegensatz zum täglichen Umlauf der Sonne und der Sterne für Bonaventura nur indirekt wahrnehmbar ist, wird man sie höchstens theoretisch als notissimum oder als mensura communis bezeichnen können, bei diesen Bestimmungen denkt Bonaventura insofern wohl eher an die achte Sphäre als an das primum mobile.
Philosophische Klärungen
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cher Weise mit allen Bewegungen verbunden ist. Da dies aber insbesondere auch für jene Bewegungen gilt, die nicht der regulatio des primum mobile unterliegen, wird man weiter fragen, wie die Verhältnisse bei der Zeit im eigentlichen Sinn liegen. Den Schlüssel zu der Frage, ob die Zeit im eigentlichen Sinn (proprie dictum) extrinsisches oder intrinsisches Maß ist, findet man in der Aussage Bonaventuras, dass die zu verschiedenen Bewegungen gehörige Zeit zwar in ihrem Wesen eine ist, sie sich in ihrem Sein aber mit diesen vervielfältigt.52 Noch einmal deutlicher gesagt: Blickt man auf das Sein der Zeit, so gilt: «unumquodque propria periodo mensuratur», quae quidem cum re incipit et desinit.53 Das heißt aber nichts anderes, als dass jede Bewegung und jedes Ding seine eigene Zeit, sein eigenes Maß hat, das in der ihm je eigenen Dauer besteht.54 In ihrem Sein betrachtet ist die eigentliche Zeit (tempus proprie) damit zweifellos ein intrinsisches Maß. Dies steht in bester Übereinstimmung mit der aristotelischen Vorstellung von der Zeit als Akzidens der Bewegung. Sieht man weiterhin – wie in der Definition von II Sent. 2, 1, 2, 1 geschehen – die „eigentlichste“ Zeit (tempus magis proprie) als einen Spezialfall der eigentlichen Zeit (tempus proprie), so ist auch diese als intrinsisches Maß anzusehen. Anders gesagt: das tempus magis proprie hat einen extrinsischen Maßstab in der Bewegung des primum mobile, gleichwohl ist die einzelne davon gemessene Dauer – nicht als abstrakte Größe (z. B. 80 Jahre), sondern als Dauer eines Seins (z. B. die Lebenszeit dieses oder jenes Menschen) – ein intrinsisches Maß. Ein Unterschied zwischen tempus proprie und tempus magis proprie besteht dann insofern, als bei ersterem durch die Ausweitung auf beliebige, nicht notwendig unter der regulatio des primum mobile stehende Bewegungen kein herausragender Maßstab mehr existiert.
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Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: Et si quaeras, unde est hoc, quod tempus est unum, cum tamen motus sint varii; … ideo tempus non tantum est unum specie in omnibus temporalibus, immo etiam quantum ad essentiam unum numero, differens per esse. – Ausführlich dazu in dem Exkurs ab S. 217. Den Zusammenhang zwischen tempus proprie, Sein der Zeit und intrinsischem Maß betonte auch RODOLFI, Tempo e creazione, 162; vgl. aber bereits BIGI, La dottrina della temporalità, 120f. IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250]; Bonaventura zitierte hier eine Sentenz des Stagiriten aus De generatione et corruptione II, 10 [336b 10–15] – vgl. auch Auctoritates Aristotelis, De generatione, nr. 46 [PhMed 17, 170] –, die er bereits in II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59] verwendet hatte (siehe oben Anm. 48). Der Kontext des eben zitierten Satzes aus IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250] lautet (es geht dabei um die Frage, ob die Transsubstantiation eine sukzessive oder instantane Veränderung ist): Et ideo dicendum est ultimo, quod tempus sive instans mensura ultimi esse panis et primi esse corporis, potest dupliciter accipi: vel in duratione propria uniuscuiusque, sicut dicit Philosophus, quod «unumquodque propria periodo mensuratur», quae quidem cum re incipit et desinit; et sic sunt diversae mensurae discontinuae et diversa instantia consequenter se habentia sicut sunt duo esse, esse scilicet panis et corporis … – Was hier für die zwei Zustände (Brot bzw. Leib Christi) gesagt ist, beschrieb II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b] im Hinblick auf verschiedene Bewegungen (Kontext vgl. oben Anm. 52): tempus autem respicit ipsam durationem variam et successivam.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Von einer etwas anderen Richtung her gedacht, löst diese Bestimmung der Zeit als intrinsisches Maß auch die aristotelische Frage, ob sie – als Zahl der Bewegung – konkrete gezählte Zahl (numerus numeratus) oder abstrakte, zählende Zahl (numerus numerans) ist:55 Als dispositio rei extra, non fictio animae ist sie die in der Sache selbst gegebene gezählte Zahl.56 Die regelmäßige Bewegung des primum mobile ermöglicht dabei für die im strengen Sinn „aristotelische“ Zeit (tempus magis proprie) die Zählung. Bei den anderen Zeitformen dagegen kann „Zahl“ nur mehr in einem weiten Sinn verstanden werden, das heißt als eine die Vergleichbarkeit der Sukzession und der Dauer der betrachteten Bewegungen repräsentierende Größe. Diese Aufweitung des Zahlbegriffs ergibt sich als notwendige Konsequenz aus Bonaventuras Sicht der Zeit als eines intrinsischen Maßes aller natürlichen Bewegungen. Von daher wird aber auch verständlich, warum der Doctor seraphicus für seine zahlreichen Zeitdefinitionen den Maßbegriff gegenüber dem Zahlbegriff bevorzugte:57 Der Maßbegriff – der, wie gesehen, die Begrenzung (limitatio) einer Sache deutlich macht – umfasst den Zahlbegriff und ist deutlich weiter als dieser.58 Gleichwohl dachte Bonaventura auch die eigentliche Zeit als quantitas (Größe).59 Innerhalb der kontinuierlichen Größen der Kategorie quantitas, ergibt sich dabei eine 55 56
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Zu Aristoteles vgl. oben ab S. 101. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: … quia tempus non est numerus numerans, sed numeratus, ut Philosophus vult, et tempus est dispositio rei extra, non fictio animae. – Bonaventura bezog sich dabei auf ARISTOTELES, Physica IV, 11.14 [219b 5–9; 223a 29 – 224a 15] (zu der bereits bei Aristoteles gegebenen Unklarheit vgl. oben S. 101 und S. 105); was die Konsequenzen hinsichtlich des Verhältnisses von Zeit und Seele anlangt, siehe unten S. 267 und S. 339. Vgl. dazu bereits oben S. 171, Anm. 25. Auch im Vergleich mit ROBERT KILWARDBY, De tempore 6 [ABMA 9, 13–15] wird dies deutlich. Er lehnte sich enger an die aristotelische Zeitdefinition an und verstand die Zeit als Zahl und nicht (so sehr) als Maß der Bewegung; mit zwei Argumenten begründete er seine Position: (1) in nr. 26 [ABMA 9, 13, Z. 24–29]: Ratio enim mensure conuenit omni quantitati; mensurare autem numerabiliter conuenit soli quantitati discrete aut quantitati continue suscipienti aliquo modo discretionem. Sic autem est tempus mensura, ut iam patebit, scilicet ut continuum et discretum, et ideo ponitur «numerus» in sua definitione et non «mensura», quia nomen «numeri» importat idem quod «mensura» et amplius; und (2) in nr. 27 [ABMA 9, 14, Z. 1–3]: Item, «mensura» nichil aliud dicit absolute nisi manifestationem determinate quantitatis; «numerus» autem et idem dicit et modum numerosum circa hoc. – So wie Robert für den zahlhaften Aspekt der Zeit plädierte und dabei ihre Bedeutung einengte, so wollte umgekehrt Bonaventura den Zeitbegriff – und hier ist die Rede von der Zeit im eigentlichen Sinn – von vorneherein in einem weiteren Rahmen sehen, der gewissermaßen eine natürliche Ausrichtung auf die beiden allgemeinen Zeitbegriffe (communiter, communissime) besitzt. Man vgl. hierzu auch noch einmal I Sent. 24, 2, 2, ad 1 [I, 427] (zitiert oben S. 208, Anm. 21), wo die numeratio als ein die mensuratio voraussetzendes Moment beschrieben wird; ähnlich I Sent. 43, 1, 3, resp. [I, 772a]: Quoniam igitur ordo praesupponit numerum, et numerus praesupponit mensuram, quia non ordinantur ad aliud nisi numerata, et non numerantur nisi limitata; ideo necesse fuit, Deum facere omnia in numero, pondere et mensura. Vgl. oben S. 209 mit Anm. 26; der weite quantitas-Begriff Bonaventuras zeigte sich auch dort, wo er das aevum als eine quantitas ansah; vgl. z. B. II Sent. 2, 1, 1, 1, ad 6 [II, 57].
Philosophische Klärungen
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Zweiteilung, bei der die räumlichen Größen (linea, superficies, corpus, locus) als durch ihre Ausdehnung (extensio) gemessene, der Zeit als durch ihre Dauer (duratio) gemessener gegenüberstehen.60 Der Unterschied zwischen den beiden Größen ist fundamental, denn extensio bedeutet immer eine Zusammensetzung aus zugleich und nebeneinander liegenden Teilen, während die Dauer nichts anderes besagt als ein ununterbrochenes Sein (esse non intercisum), das keine gleichzeitig bestehenden Teile besitzt.61 Diese im Begriff der Dauer selbst implizierte Einfachheit war nebenbei bemerkt für Bonaventura auch der Grund, warum die Engel als einfache Substanzen zwar eine Dauer, aber keine räumliche Ausdehnung besitzen.62 Die Sonderstellung der Zeit innerhalb der kontinuierlichen quantitates spiegelt sich darin wider, dass sie den geringsten „Abstand“ zu der alle Größen verursachenden Materie besitzt: Zwar ist auch sie nicht in der völlig formlosen materia prima zu finden, doch anders als die räumlichen Größen setzt sie keine bestimmte Formung der Materie voraus, sondern bezieht ihr Sein allein aus dem Streben der Materie nach der Form.63 2.1.2.2
Exkurs: tempus secundum esse und tempus secundum essentiam
Zeit kann sowohl als extrinsisches wie auch als intrinsisches Maß verstanden werden, ersteres ist ein einziges, letzteres vervielfältigt sich mit dem von ihm Gemessenen. Im Hinblick darauf erscheint hier der geeignete Ort eine weitere grundlegende Unterscheidung Bonaventuras in den Blick zu nehmen. Wie oben bereits angesprochen64 kann Zeit sowohl in ihrem Sein (secundum esse) als auch in ihrem Wesen (secundum essentiam) angeschaut werden. Die gemeinsame Linie aller Stellen, an denen der Doctor seraphi-
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Bonaventura betonte dabei eigens, dass die Dauer gerade keine Ausdehnung besitzt; vgl. Trin. 5, 1, ad 10 [V, 91b]: extensio semper dicit partem extra partem, ac per hoc corporeitatem, quantitatem et partibilitatem; duratio autem dicit esse non intercisum, quod quidem non solum reperitur in compositis, verum etiam in simplicibus. Vgl. erneut Anm. 60 sowie S. 199, Anm. 161 (Dauer als continuatio in esse) und Trin. 5, 1, ad 14 [V, 92]; schließlich II Sent. 2, 1, 1, 3, ad 4 [II, 63]: Quod obiicitur, quod substantiae simplicis proprietas non potest esse composita; dicendum, quod verum est, si illa proprietas habeat compositionem partium simul entium; nunc autem non est sic, immo de aevo nunquam est nisi nunc, sicut et de tempore dicitur. Et ita bene potest esse in simplici, ut in composito; unde tantam extensionem habet duratio unius grani milii, sicut et unius montis. In diesem Sinn auch II Sent. 2, 1, 1, 1, ad 3 [II, 57] (auf das aevum bezogen): … dicendum, quod Angelus vere habet durationem, sed non habet extensionem; et ideo habet mensuram durationis, non extensionis. Vgl. oben S. 209, Anm. 27, der dort zitierte Text aus II Sent. 2, 1, 1, 2 [II, 59f.] fuhr fort: Nec dico, quod tempus sit in materia ipsa, omni forma circumscripta, quia hoc esset contra Augustinum duodecimo Confessionum, quia non est vicissitudo aliqua in materia, nisi cum in ea est aliqua forma; sed quamvis sit in materia, quae est sub forma et ab ipsa causetur, magis tamen causatur a materia ut tendit ad formam, et hoc est in materia ratione suae potentiae. Siehe S. 215.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
cus diese Differenzierung gebrauchte,65 besteht dabei in der Feststellung: Secundum essentiam ist die Zeit eine einzige, während es dem Sein nach betrachtet viele Zeiten gibt.66 Um Missverständnissen vorzubeugen, wird dabei eigens hervorgehoben, dass es sich dabei nicht nur um eine spezifische Einheit (unum specie, d. h. so, wie die Individuen einer Art durch ein gemeinsames Wesen verbunden sind), sondern um eine numerische Einheit (unum numero) handelt.67 Weitere Beobachtungen ergänzen dieses Bild: Die nach ihrem Wesen verstandene Zeit stellt für Bonaventura ein einziges, ununterbrochenes Kontinuum dar, in dem das nunc eine besondere Rolle spielt, denn in ihm ist das ganze Wesen (tota essentia) der so verstandenen Zeit gegeben.68 Bei diesem nunc, welches das Wesen der Zeit ausmacht, wird dabei nicht an ein beliebiges nunc gedacht, sondern an das allererste, das Schöpfungs-nunc, das das principium alles Geschaffenen und ebenso der Zeit ist. Die genannten Aspekte machen deutlich, in welchem Sinn hier von essentia die Rede ist: Man hat sich dieses „Wesen“ nicht als ein rein abstraktes, nur im Denken gegebenes Allgemeines vorzustellen, sondern es ist als ein in einem Sein verwirklichtes Wesen zu verstehen.69 Eindrucksvoll kam dies etwa in einer (frühen) Marginalie zu IV Sent. 11, 1,
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So in II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23]: Potest tamen et aliter dici, quod dupliciter est loqui de tempore: aut secundum essentiam, aut secundum esse. Si secundum essentiam, sic nunc est tota essentia temporis, et illud incepit cum re mobili, non in alio nunc, sed in se ipso, quia status est in primis, unde non habuit aliam mensuram. Si secundum esse, sic coepit cum motu variationis, scilicet nec coepit per creationem, sed potius per ipsorum mutabilium mutationem, et maxime primi mobilis. – Dann in II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: Sicut igitur materia una est per essentiam, differens per esse, una non unitate universalitatis nec singularitatis, sed medio modo, sic et tempus in omnibus temporalibus; … ideo tempus non tantum est unum specie in omnibus temporalibus, immo etiam quantum ad essentiam unum numero, differens per esse, sicut posuerunt omnes sapientes, qui circa hanc materiam locuti sunt. Ferner ebd., ad 1 [II, 60]: … cum tempus, quantum est de se, respiciat variationem et motum, consequitur ipsa, quorum est mensura, ratione illius principii, per quod sunt entia in potentia; et quia illud unicum dicitur esse per essentiam, ideo et tempus. Und schließlich IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250b] (zitiert Anm. 226, S. 254). Bei den Stellen in II Sent. wird dies ausdrücklich hervorgehoben, in IV Sent. kommt deren Einheit darin zum Ausdruck, dass die secundum essentiam verstandene Zeit kontinuierlich und ununterbrochen ist und dass sie den vielen verschiedenen Eigenzeiten gegenübergestellt wird. Vgl. hierzu außerdem S. 215 mit Anm. 52 und Anm. 54. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b] (zitiert z. B. Anm. 52, S. 215). Die beiden Vorstellungen, dass die Zeit secundum essentiam sowohl ein continuum darstellt als auch mit einem nunc zusammenfällt, lassen sich aus heutiger Sicht schwer zusammendenken, vgl. dazu aber den Abschnitt ab S. 231. So auch BIGI, La dottrina della temporalità, 125. Für diesen Gebrauch des Begriffs essentia, der sich dem der substantia annähert, kann man auf Hex., princ., 2 (2), 22 [V, 340] verweisen: Opus autem Dei tripliciter dicitur: primo modo essentia, quodcumque illud sit et in quocumque genere, sive substantiae, sive accidentis; alio modo essentia completa, scilicet sola substantia; tertio modo essentia ad imaginem Dei facta ut spiritualis creatura. Die Reportatio A [Ed. Delorme, 27] spricht an derselben Stelle von substantia completa.
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1, 5, ad 4 zum Ausdruck.70 Sie bemühte den Vergleich mit dem Lichtstrahl, der in seinem Wesen ein einziger ist, aber beim Durchgang durch verschiedenfarbige transparente Körper ein – in der Farbe deutlich sichtbares – je anderes Sein annimmt. In dem Gedanken vom nunc als tota essentia temporis wird darüber hinaus auch der Unterschied zwischen den Verhältnissen im Raum und in der Zeit, zwischen extensio und duratio augenfällig: Weil die Zeit keine gleichzeitig existierenden Teile besitzt, sondern nur in dem einen unteilbaren Augenblick gegenwärtig ist, darum stellt das nunc das ganze Wesen, die gesamte Substanz der Zeit (tota essentia temporis) dar, während der Punkt zwar auch principium und insofern mensura71 der von ihm erzeugten räumlichen Größe ist,72 er ist aber – im Hinblick auf die übrigen, gleichzeitig existierenden Punkte – nicht ihr ganzes Wesen und er stellt auch keinen konstitutiven Teil von ihr dar.73 Die Unterscheidung von essentia und esse temporis stellt ein Novum in der Behandlung der Zeit dar, das der Doctor seraphicus nicht von Aristoteles lernen konnte.74 Fragt man sich, welche Vorstellungen ihn bei diesem Konzept geleitet haben, so wird man zuerst an die bei Anselm von Canterbury vorgetragenen Ausführungen über die Einheit der Zeit denken, die bei diesem parallel zu der durch sich subsistierenden Wahrheit gesehen wurde.75 Er zeichnete dort das Bild einer einzigen, die verschiedenen Zeiten 70 71
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Vgl. die Anm. 3 der Quaracchi-Edition (Opp. IV, 250b). Bonaventura sagte genauer, der Punkt ist principium mensurae; vgl. II Sent. 2, 1, 1, 3, sc. 4 [II, 62]: Si tu dicas, quod [scil. aevum] est quantitatis principium sicut punctus; contra: punctus non habet complete rationem mensurae, sed est principium mensurae … In erster Linie wird man hier an den (Anfangs-)Punkt einer Linie denken, in erweitertem Verständnis gilt dies dann auch für (begrenzte) Flächen und Körper. Vgl. Trin. 5, 1, ad 14 [V, 92]: Ad illud, quod obiicitur, quod licet punctus sit principium et medium et terminus extensionis, impossibile est intra ipsum intelligere extensionem; dicendum, quod non est simile: quia licet punctus sit principium extensionis, non tamen est tota extensionis essentia nec etiam pars constitutiva; nunc autem est tota essentia durationis … Et ratio huius est: quia extensio habet omnes partes simul, et quia «punctus est substantia posita» … ideo, cum sit indivisibile non potest esse totius divisibilis essentia nec pars constitutiva, cum quaelibet pars continui sit continua. Secus autem est de duratione, quia de ipsa nunquam est nisi praesens et indivisibile, etiam in duratione successiva. Et ideo non est mirum, si in nunc claudi potest essentia durationis et potissime illius, in qua non differt essentia et esse, sicut est in aeternitate. Vgl. hierzu auch unten S. 233 samt der vorausgehenden Erörterung. Vgl. GHISALBERTI, La concezione del tempo, 755 sowie RODOLFI, Tempo e creazione, 159 («La distinzione tra essenza ed essere del tempo … costituisce senz’altro l’elemento di maggiore novità della trattazione bonaventuriana della temporalità»). De veritate 13 [PhB 535, 74f.]: [Veritas] improprie «huius vel illius rei» esse dicitur, quoniam illa non in ipsis rebus aut ex ipsis aut per ipsas in quibus esse dicitur habet suum esse. Sed cum res ipsae secundum illam sunt, quae semper praesto est iis quae sunt sicut debent: tunc dicitur «huius vel illius rei veritas», ut veritas voluntatis, actionis, quemadmodum dicitur «tempus huius vel illius rei», cum unum et idem sit tempus omnium quae in eodem tempore simul sunt; et si non esset haec vel illa res, non minus esset idem tempus. Non enim ideo dicitur tempus huius vel illius rei, quia tempus est in ipsis rebus, sed quia ipsae sunt in tempore. Et sicut tempus per se consideratum non dicitur tempus alicuius, sed cum res quae in illo sunt consideramus, dicimus «tempus huius
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
dieses oder jenes Einzelseins umgreifenden Zeit. Ein zweiter Leitgedanke bestand darin, dass die Unterscheidung von Sein und Wesen der Zeit auf das entsprechende Verhältnis von Sein und Wesen der Materie gegründet wird.76 Wie weiter unten noch näher auszuführen ist,77 kommt dieses Entsprechungsverhältnis dadurch zustande, dass nicht mehr die Bewegung (motus), sondern die Materie als das Subjekt der Zeit verstanden wird. Die Materie, wie sie hier angeschaut wird, nämlich ut mutabilis oder ut ens in potentia, ist durch ihr Wesen eine einzige. Wiederum wird dabei das Wesen nicht als ein abstraktes aufgefasst – auf diesem Wege käme man zu einer materia informis, die zwar ein metaphysisches Seinsprinzip darstellt, aber zu keiner Veränderung fähig und damit der Zeit enthoben wäre.78 Ebenso falsch wäre es aber, dieses Wesen der Materie einfach als eine individuelle Substanz zu konzipieren, denn so gelangt man genau wieder zur materia secundum esse, die eine je verschiedene ist.79 Der Mittelweg besteht darin, die Materie nicht nur in ihrem Entblößtsein von der Form (ihrer informitas) zu sehen, sondern auch ihre Hinordnung auf die Form (als potentia suscipiendi formam) zu beachten. Diese Hinordnung, die Bonaventura als ein aktives Streben nach Formung (materia ut tendit ad formam) verstand, macht die Potentialität, das Potential der Materie aus und ist die eigentliche Ursache der Zeit. Die „numerische“ Einheit dieser Essenz der Materie wird verstanden als unitas homogeneitatis,80 das soll heißen, die so verstandene essentia ist gleichermaßen und ununterscheidbar in allen geschaffenen Dingen anwesend (simul in diversis) – ähnlich wie ein einziger Barren Gold nach der Verar-
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vel illius rei»: ita summa veritas per se subsistens nullius rei est … – Dieses Vorbild liegt deswegen nahe, weil in II Sent. 2, 1, 1, 2, sc. 1 [II, 58] ausdrücklich darauf Bezug genommen wurde: Sicut se habet tempus ad temporalia, ita aevum ad aeviterna; sed tempus est unum, quod mensurat omnia temporalia, sicut Anselmus dicit et Philosophus. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59] (zitiert oben Anm. 65, S. 218). Im Abschnitt über die Einheit der Zeit (ab S. 266). Vgl. erneut II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 60a]: Nec dico, quod tempus sit in ipsa materia, omni forma circumscripta, quia hoc esset contra Augustinum, duodecimo Confessionum, quia non est vicissitudo aliqua in materia, nisi cum in ea est aliqua forma; sed quamvis sit in materia, quae est sub forma et ab ipsa causetur, magis tamen causatur a materia, ut tendit ad formam, et hoc est in materia ratione suae potentiae. Ferner I Sent. 8, 1, 2, 2, sc. 1 & ad 1 [I, 159.160]: Im Argument war hier darauf hingewiesen worden: invariabilitas conveniat creaturis, utpote principiis. Nam Augustinus ostendit in duodecimo Confessionum, quod materia informis est invariabilis; quia quod caret forma, caret ordine, et quod caret ordine, caret vicissitudine, ergo variatione. Die Antwort darauf unterschied: Ad illud ergo quod obiicitur in contrarium, quod principia rerum sunt invariabilia; dicendum, quod verum est, si considerentur secundum essentiam abstractam; sed si considerentur secundum esse naturae, sic de necessitate habent accidentia coniuncta et possunt variari … (Unterstreichung von mir). In diesem Sinn hieß es in II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59]: … materia una est per essentiam, … non unitate universalitatis nec singularitatis, sed medio modo, wobei diese „mittlere Art“ die im Folgenden beschriebene unitas homogeneitatis ist. Vgl. unten zur Einheit der Zeit, besonders S. 272.
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beitung in verschiedenen Gefäßen aufgeht.81 Entsprechendes wird man dann für die secundum essentiam genommene eine Zeit veranschlagen: Sie ist ein homogener, mit der res mobilis und deren mutabilitas gegebener Zeitfluss, der den gesamten Bereich des Geschaffenen einschließt. Sie ist Zeit „an sich“, insofern sie nur an eine ebenfalls als homogen zu denkende Materie gebunden ist, nicht aber an eine bestimmte Bewegung oder an die Dauer eines bestimmten Gegenstandes – im Gegensatz zu den vielen secundum esse verstandenen „Eigen“-Zeiten der Dinge, die auf die verschiedenen mutationes mutabilium bezogen sind.82 Insofern das beschriebene Wesen der Zeit auf ein metaphysisches Grundprinzip – die Materie – zurückgeführt wird, kann es sicherlich zu Recht als „metaphysische“ Zeit charakterisiert werden.83 Diese metaphysische Zeit begründet die in den verschiedenen Bewegungen gegebene „physische“ Zeit, das tempus secundum esse. Bei Bonaventura findet man einen Rückhalt für diese Bezeichnungen darin, dass er Entsprechendes für die Materie gelten lässt: Der Physiker betrachtet sie secundum esse, während das Geschäft des Metaphysikers in der Untersuchung des Wesens der Materie besteht.84 Die entscheidende Frage ist freilich, wie sich dieses „neue“ Zeitkonzept zu den vier Zeitdefinitionen in II Sent. 2, 1, 2, 1 verhält. Ein Vorschlag dazu, wie er sich so ähnlich auch bei Anna Rodolfi findet, verbindet auf der einen Seite die physische Zeit, das Sein der Zeit und die Zeit im eigentlichen Sinn (proprie) sowie auf der anderen Seite die metaphysische Zeit, das – durch das (primum) nunc repräsentierte – Wesen der Zeit und die allgemeine Bedeutung (communiter) von Zeit.85 Die Zusammengehörigkeit von tempus secundum esse und tempus proprie lässt sich dabei relativ einfach erkennen: Beide messen die aktuelle Veränderung und Bewegung eines Seins und vervielfältigen sich (als intrinsisches Maß) mit dem Gemessenen.86 Unter diesem Blickwinkel erkennt man dabei auch die Zusammengehörigkeit von tempus proprie und magis proprie: Insofern letzteres lediglich einen Spezialfall des ersteren darstellt, verbindet sich das Sein der Zeit auch mit der aristotelischen Zeit.87 81
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Vgl. II Sent. 3, 1, 1, 3, resp. [II, 100f.], besonders [II, 100b]: Haec autem unitas simul manet in diversis, sicut patet: si de eodem auro fiant multa vasa, illa sunt de eodem auro per homogeneitatem; sed aurum, quod est in uno, differt ab auro, quod est in alio adeo, ut non sint unum per continuitatem. Vgl. noch einmal II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23] (zitiert Anm. 65, S. 218). So etwa RODOLFI, Tempo e creazione, 142f. und bes. 168 sowie GHISALBERTI, La concezione del tempo, 754. Siehe unten S. 261. Vgl. RODOLFI, Tempo e creazione, 162 & 168. Zur Definition der „metaphysischen Zeit“ bei ihr, vgl. ebd., 142f. Vgl. vor allem noch einmal II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59f.]. Dies wird insbesondere deutlich in Bonaventuras Bemerkung über den Beginn des tempus secundum esse in II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23]. Er fällt nicht mit dem ersten nunc der Schöpfung zusammen, sondern: [tempus secundum esse] coepit cum motu variationis, scilicet nec coepit per creationem, sed potius per ipsorum mutabilium mutationem, et maxime primi mobilis (Unter-
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Etwas differenzierter muss das Verhältnis von tempus secundum essentiam und tempus communiter dictum angeschaut werden. Gemeinsam ist beiden Konzepten vor allem der Blick auf das nunc (primum) der Schöpfung.88 Sowohl das Wesen der Zeit als auch die im allgemeinen Sinn verstandene Zeit sind nur zu verstehen, wenn man die Zeit selbst als Geschaffene, ja – um mit Beda zu sprechen – als Erstgeschaffene versteht. Allerdings sind die Akzente in beiden Konzepten durchaus etwas verschieden: Beim tempus communiter dictum ist es vor allem der als supernaturalis mutatio verstandene Übergang vom Nicht-Sein zum Sein, der die Begründung für dieses Zeitverständnis liefert, bei der secundum essentiam verstandenen Zeit steht dagegen die Parallele zur Materie als Begründungsinstrument im Vordergrund. Das Verständnis des Wesens der Zeit geschieht so über eine metaphysische Begründung, während für die allgemeine Zeit ein theologischer Zugang gewählt wurde. Das sind freilich Nuancen, die die Konvergenz der beiden Zeitbegriffe nicht verdecken sollen.89 Wie oben bei tempus proprie und tempus magis proprie kann auch hier die Zusammengehörigkeit der beiden Verständnisse von tempus communiter und tempus communissime betrachtet werden. Vor allem im Schöpfungsbezug der im allgemeinsten Sinn genommenen Zeit als mensura egressionis wird dies überdeutlich.90 In Verbindung mit der secundum essentiam genommenen Zeit könnte man die beiden Zeitbegriffe dann als ein Vordringen zum Wesen der Zeit91 (nämlich als geschaffene) begreifen. Dabei sollte man allerdings die Verschiebung der Perspektive zwischen dem allgemeinen und dem allgemeinsten Verständnis von Zeit nicht aus dem Blick verlieren, denn das eine Mal steht eher der Aspekt des Entstehens der Dinge (egressio) und das andere Mal steht mehr der ihres (Fort-)Dauerns (duratio) im Vordergrund.92 Zwar sind beide Perspektiven dadurch verbunden, dass das nunc sowohl das Wesen der Zeit als auch das Wesen
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streichung von mir). Ferner kann man auf IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250b] hinweisen, wo das mit verschiedenen Eigenzeiten verbundene esse panis und esse corpus schließlich unter das Maß des primum mobile gestellt wird (ausführlich diskutiert in dem Abschnitt ab S. 250). Nimmt man dieses primum nunc als Verständnisschlüssel, so erscheint auch die Einheit dieser Zeit noch einmal in einem neuen Licht. Es fällt auch nicht schwer, die Brücken zwischen den beiden Zugängen zu erkennen: Im Materiebegriff verbinden sich die metaphysische Spekulation über die Seinprinzipien und die Schöpfungsgeschichte. Als Mittleres zwischen Sein und Nichts kann die Materie zudem selbst als ein sprechender Hinweis auf den in der Schöpfung erfolgten Übergang von Nicht-Sein zu Sein gesehen werden. Vgl. den Abschnitt oben ab S. 197. Bei einer Zusammennahme der Zeitbegriffe magis proprie und proprie einerseits sowie communiter und communissime andererseits ist allerdings schon deswegen etwas Vorsicht geboten, weil die Grenze zwischen tempus proprie und tempus communiter nicht zu den sich durchhaltenden Konstanten der bonaventurianischen Zeitdefinitionen gehört; man vgl. dazu nur noch einmal die Tabelle in Anm. 132 auf S. 194. Für diese Sichtweise vgl. auch die Anfrage bei GHISALBERTI, La concezione del tempo, 747, ob das Schema der vier Zeitdefinitionen in II Sent. 2, 1, 2, 1 nicht verstanden werden könnte als «progressiva rigorizzazione, che va alla ricerca del nucleo essenziale del tempo». Vgl. oben S. 199.
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der Dauer verkörpert93 – vom Wesen der Zeit aus hat man also Zugang zu beiden Perspektiven, sowohl der des tempus communiter als auch der des tempus communissime –, dennoch muss hier eine klare Grenze zwischen dem Konzept des tempus secundum essentiam und des tempus communissime dictum gezogen werden. Sie liegt in der Besonderheit der allgemeinsten Form von Zeit, auch das aevum noch zu enthalten. So weit geht der Begriff vom Wesen der Zeit nicht: Dessen Bedeutungsspielraum endet bei den Zeitformen, die ein fließendes nunc besitzen. Die für die Einheit des Wesens der Zeit konstitutive essenziale Einheit der Materie kann nicht herangezogen werden, um das nunc aevi und nunc temporis unter einem gemeinsamen Wesen zusammenzuführen.94 Zusammenfassend wird man Folgendes festhalten: Die für Bonaventura eigentümliche Unterscheidung von essentia und esse temporis deckt sich im jeweiligen Begriffsumfang großenteils mit der von tempus proprie dictum und tempus communiter dictum. Dabei möchte ich nicht so weit gehen, eine völlige Deckungsgleichheit zu behaupten. Schon die unterschiedliche Zielsetzung (der Hinweis auf die essentia temporis soll vor allem die Einheit der Zeit erklären) ließ Bonaventura die Akzente anders verteilen. Auch darf man nicht vergessen, dass die vier Zeitdefinitionen von II Sent. 2, 1, 2, 1 gedacht sind als eine aufsteigende Reihe von Zeitbegriffen, bei der jeweils der allgemeinere den weniger allgemeinen enthält. Das Begriffspaar von Sein und Wesen der Zeit hingegen ist gekennzeichnet durch die Entgegensetzung der Begriffe. Die Zusammenschau der beiden Konzepte bringt gleichwohl eine neue Qualität in die Unterscheidung von tempus proprie und tempus communiter, insofern sich das Geschaffensein der Zeit als ihr eigentlicher Wesenskern herausstellt. 2.1.2.3
Tempus communiter dictum und tempus communissime dictum
Zur Frage nach dem Maßcharakter der Zeit zurückkehrend steht noch die Betrachtung der beiden verallgemeinerten Bedeutungen von Zeit (communiter, communissime) aus. Die im vorigen Abschnitt herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten des allgemeinen Ver93 94
Vgl. oben Anm. 73, S. 219 sowie unten S. 235. Im Argumentationsgang von II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56] (Utrum angelica natura habeat mensuram propriam diversam a tempore) wurde gerade folgende These abgelehnt [II, 56b]: Sicut igitur materia in omnibus est eadem per essentiam, differens per esse; sic nunc temporis et aevi idem est per essentiam, non sicut individuum, sed ad modum materiae idem per essentiam, differens autem solum quantum ad esse. Zwar haben auch die Engel eine metaphysische Materie, doch diese begründet nur, dass die affectiones der Engel von der Zeit (nämlich dem tempus proprie dictum) gemessen werden, das aevum dagegen ist eine Zeitform, die nicht von der Materie, sondern von der Form her verstanden werden muss – entsprechend ist auch die wesentliche Einheit des aevum auf die einer abstrakten Allgemeinheit beschränkt. Vgl. ebd.: quod aevum non possit sic accipi ex parte materiae, quidquid sit de tempore; ähnlich II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 60b]: sicut unitas temporis conformatur materiae, sic unitas aevi conformatur formae sowie ebd., ad 1: et ideo [aevum] magis respicit formam; et ideo non habet unitatem nisi universalitatis sive conformitatis, sicut et alia accidentia. Vgl. auch oben S. 201.
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ständnisses von Zeit mit der secundum essentiam genommenen Zeit, lassen einerseits die hier vorgestellten Ergebnisse für beide Zeitbegriffe gültig sein, andererseits helfen sie bei der Frage, ob ein intrinsisches oder ein extrinsisches Maß vorliegt. Im Blick auf die allgemeine Bedeutung (communiter) wird vor allem die besondere Dignität dieses Zeitmaßes deutlich. Bonaventura betonte hier: et prima inter mensuras est tempus, quia non tantum dicit mensuram durationis, sed etiam egressionis.95 „Zeit“ gewinnt hier den Rang des Maßes schlechthin. Begründet wird dies dadurch, dass der im ersten Moment der Schöpfung gegebene Umschlag von Nicht-Sein zu Sein bereits als eine Form von Zeit verstanden wird und diese mutatio jeder weiteren innerhalb des Schöpfungsprozesses stattfindenden Formung mindestens verständnismäßig (secundum rationem intelligendi) vorangeht.96 In der durch diesen Umschlag gesetzten Grenze (zum Nichts hin) wird außerdem die Bedeutung des Maßes als eines die Begrenztheit (limitatio) aufzeigenden Prinzips in vollem Umfang deutlich.97 Seine konkrete Gestalt besitzt diese, allem geschaffenen Sein innewohnende limitatio, die sich in dem nunc primo esse98 ausdrückt, in dem (primum) nunc. Auch dieses nunc ist Zeit, doch wiederum nicht in einem eigentlichen, sondern nur im hier betrachteten verallgemeinerten Sinn. Insofern es der erste Augenblick, das principium alles Geschaffenen inklusive der Zeit im eigentlichen Sinn ist, ist es das allererste Maß.99 Das so beschriebene nunc misst die egressio des Seins aus dem Nichts, die jedes geschaffene Sein betrifft. Durch diesen exitus de non-esse in esse wird die dem Wesen alles Geschaffenen inhärente Beweglichkeit offenbar. Während die Zeit im eigentlichen Sinn (proprie) die aktuelle Bewegung misst, obliegt es dem (primum) nunc, das zugleich das Wesen der Zeit verkörpert, die Beweglichkeit des Seins als solchem (das mobile in quantum mobile) zu „messen“, das heißt bekanntzumachen.100 Für die Zeit im 95 96
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II Sent. 2, 1, 2, 3, resp. [II, 68a]. Bonaventura erklärte dies am Beispiel des aevum in II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 65]: sic tempus praecedit aevum secundum rationem intelligendi, sicut creatio esse creatum. – Secundum rationem intelligendi, denn im Blick auf das im ersten Moment Geschaffene könnte man auch von einer Gleichzeitigkeit sprechen. Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 3, resp. [II, 68a] im Bezug auf die drei erstgeschaffenen Substanzen (Empyreum, Engel und Materie): … quia omnis productio est in aliqua mensura, haec tria de necessitate consequitur tempus. Vgl. unten S. 280 (auch für das Folgende). Vgl. II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23] (zitiert in Anm. 65, S. 218) sowie den vorausgehenden Abschnitt über Sein und Wesen der Zeit (ab S. 217) und unten S. 287. Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 1, ad 3 [II, 65]: nam sicut tempus mensurat motum, sic nunc temporis mensurat ipsum mobile in quantum mobile. – Dies entspricht auch der Vorstellung, dass das nunc, der instans, gerade die Grenze der Bewegung darstellt, indem es einen Zustand markiert (z. B. den terminus a quo oder den terminus ad quem), so dass innerhalb eines einzigen nunc keine (kontinuierliche) Bewegung stattfinden kann. Vgl. dazu etwa bei Bonaventura die Argumentation zur Bewegung eines Engels in I Sent. 37, 2, 2, 3, arg. 1 [I, 662]: In aliquo instanti est in termino a quo, et in alio instanti est in termino ad quem; sed inter quaelibet duo instantia cadit tempus medium, et in medio illorum instantium est moveri. In diesem Sinn kann man auch die Auctoritates Aristotelis,
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eigentlichen Sinn bedeutet dies weiter, dass in diesem Wesen bereits das (Ver-)Fließen alles Zeitlichen – sei es in der Dauer und Bewegung der körperlichen Dinge, sei es in den affectiones der Engel – angelegt ist. Das nunc aevi ist von dem nunc temporis zwar wesentlich verschieden – in diesem nunc gründet die Stabilität des aevum, die zwar ohne ein stetes Neu- und damit Anderswerden auskommt, aber in der Erhaltung des einmal Gegebenen ebenfalls eine successio kennt101 – doch im Hinblick auf den Anfang erweisen sich beide als vergleichbar, denn beide Male wird ein durch das nunc primo esse gekennzeichnetes Sein gemessen. Die (jetzt communissime zu verstehende) „Schöpfungszeit“ ist in beiden Fällen dasjenige Maß, durch das diese je verschiedene dynamische Komponente des Seins bekannt wird. Weiter ergibt sich die Frage, ob Bonaventura die communiter verstandene Zeit – die wie gesehen mit der secundum essentiam verstandenen Zeit ungefähr identisch ist – als ein extrinsisches oder ein intrinsisches Maß ansah. Die behauptete Einheit dieser Zeit spricht dabei zunächst für ein extrinsisches Maß. Dennoch möchte ich bezweifeln, dass der Doctor seraphicus hier diesen Terminus gebrauchen würde,102 dagegen spricht die besondere Art dieser Einheit als unitas homogeneitatis. Sie bezeichnet ja nicht die Einheit eines Individuums – welches als selbständiges Sein einem anderen Sein „äußerlich“ sein kann –, sondern es ist die Einheit eines in den Dingen verwirklichten Seinsprinzips. Und die hier als Vorbild fungierende Materie wurde nicht als extrinsisches, sondern als intrinsisches Prinzip verstanden.103 Dementsprechend wird man auch das Wesen der
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Physica VI, nr. 173 [PhMed 17, 154; zu 232b 20] verstehen: Omnis motus est in tempore. Noch deutlicher war Aristoteles selbst in Physica VI, 3 [234a 24–31, hier 31]: οὐκ ἄρα ἔστιν κινεῖσθαι ἐν τῷ νῦν. Darum heißt es II Sent. 2, 1, 2, 1, ad 1 [II, 65]: neutra enim harum mensurarum est ab alia, sed a Deo producente utrumque indivisibile, scilicet nunc aevi et nunc temporis. Unde quod dicitur, quod tempus exit ab aevo, hoc dicitur, quia deficit ab illo et defluit continua deperditione; sed in aevo est fixio sine deperditione et novi acquisitione. Vgl. auch II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56b]: nunc aevi, est stabile, illud, scilicet nunc temporis, est fluxibile und ferner II Sent. 2, 1, 1, 3, resp. [II, 62f.]. – Bei dem Vergleich von Zeit und aevum beachte man, dass es sich (genau wegen der oben beschriebenen verschiedenen Eigenschaften) um verschiedene Maße und um ein substantiell und formell verschiedenes nunc handelt (vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56]). Anders etwa BIGI, La dottrina della temporalità, 125, wobei er selbst einschränkend anmerkte: «si dice misura estrinseca non perché sia esteriore alla pluralità degli esseri misurati, ma perché è anteriore e posteriore a tale pluralità, la antecede e la trascende.» Auch RODOLFI, Tempo e creazione, 162 sprach sich dafür aus, die Zeit im allgemeinen Verständnis als extrinsisches Maß anzusehen. Insbesondere denke ich an jene Stelle, wo Bonaventura nach dem einheitlichen ersten Maß in der Gattung „Substanz“ suchte und argumentierte (II Sent. 3, 1, 1, 2, fund. 2 [II, 94]): ergo in genere substantiae est unum aliquod, quo mensurantur omnia in illo genere. Sed illud non potest esse principium extrinsecum, cum secundum huius maiorem et minorem participationem intrinsecam res illius generis magis et minus sint: ergo cum principium intrinsecum non sit nisi forma, vel materia, erit vel materia, vel forma. Im Blick auf IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250] wird man betonen, dass Bonaventura hier zwei verschiedene Wege aufzeigte, um aus den zu zwei verschiedenen Zuständen gehörigen, je eigenen nunc zur Einheit zu gelangen: (1) indem man die beiden Eigen-nunc auf das extrinsische Maß der Bewegung des primum mobile bezieht und sie mit dessen
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Zeit in den Dingen suchen, anders als das äußerlich gegebene allgemeine Maß der Bewegung des primum mobile. Wenn überhaupt, wird man also in der secundum essentiam genommenen Zeit ein intrinsisches Maß sehen, ich halte allerdings für wahrscheinlicher, dass Bonaventura die Unterscheidung intrinsisch oder extrinsisch für diese Art von Maß mit seiner besonderen Form der Einheit abgelehnt hätte. Schließlich ist der Blick noch auf die Zeit im allgemeinsten Sinn (communissime) zu richten. Deren Besonderheit bestand vor allem darin, dass in ihr auch das aevum noch enthalten ist.104 Es gilt also unter dem Aspekt des Maßes auf das aevum zu blicken. Die erste Feststellung ist dabei: Bonaventura verstand es ohne Einschränkung als Maß.105 Und weil es ein wahres Maß ist, stellt es auch eine Größe (quantitas) dar,106 die sich aber – als ein Maß (des Seins) geistiger Wesen – einerseits zusammen mit der Zeit von den übrigen Größen der Kategorie quantitas spezifisch unterscheidet und andererseits auch von der Zeit im eigentlichen Sinn noch einmal abhebt.107 Ausdrücklich wird dabei festgestellt, dass der Unterschied zwischen tempus und aevum nicht nur auf der Ebene des Maßes, sondern auch auf der Ebene des Seins liegt:108 Die Maße müssen verschieden sein, denn der endlichen Dauer alles Zeitlichen steht die endlose Dauer der vom aevum gemessenen Substanzen gegenüber. Doch dieser Unterschied liegt für den Doctor seraphicus gewissermaßen nur an der Oberfläche, in ihm tritt zutage, dass sich das Sein der vergänglichen und der unvergänglichen Substanzen grundlegend unterscheidet. So ist die Unvergänglichkeit nur der Ausdruck eines esse stabile et quietum, das heißt eines Seins, das eben deswegen stabil und unbewegt ist, weil es im Gegensatz zu dem im Fluss befindlichen zeitlichen Sein nicht von Potentialität, sondern von Aktualität geprägt ist.109 Oder anders gesagt, während die Zeit von der Materie und ihrer Unvollkommenheit her zu verstehen ist – was sich im Hunger der Materie nach der Form sehr deutlich zeigt110 –, wird man umgekehrt das aevum aus der Formvollendetheit der von ihm gemessenen Substanz erklären.111
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nunc in Beziehung setzt oder (2) indem man gewissermaßen den Weg nach innen geht und auf das gemeinsame Wesen der Zeit blickt. Vgl. oben S. 197. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56f.]; vgl. auch II Sent. 2, 1, 1, 3, sc. 4 [II, 62]: aevum autem vere et proprie est mensura. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 3, sc. 4 [II, 62]: sed mensura secundum veritatem est in genere quantitatis. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, ad 6 [II, 57]: quod sicut tempus ponitur in substantiis spiritualibus quantum ad affectiones … sic et [scil. aevum] mensura ponitur differens specie ab aliis quantitatibus, … Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56b]: Et ideo est tertia positio, quod spiritualia habent mensuram diversam a tempore, non solum in genere mensurae, verum etiam in genere entis; et hoc non solum comparatione, sed etiam secundum substantiam et formam. Wobei dies jeweils im Sinn eines „mehr“ zu verstehen ist, denn weder ist das Sein der geschaffenen geistigen Substanzen reine Aktualität, noch ließe sich ein körperliches Sein auf reine Potentialität reduzieren. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59f.] (zitiert oben S. 209, Anm. 27) oder z. B. auch I Sent. 37, 1, 3, 1, arg. 3 [I, 646]: Item, unicuique rei intima est materia et forma; sed forma non unitur materiae nisi mediante appetitu, appetitus autem ortum habet ab essentia … Man beachte dabei insbeson-
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Obwohl also beide Maße, die Zeit im eigentlichen Sinn und das aevum, im allgemeinsten Begriff von Zeit aufgehoben sind, lassen sie sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Eigenschaften nicht aufeinander zurückführen.112 Gleichwohl ist ein Bezug zwischen den beiden Maßen möglich, insofern über die Grenzen von tempus und aevum (und auch noch der aeternitas) hinweg, von Gleichzeitigkeit (simultas) gesprochen werden kann.113 Auf diese Weise lassen sich etwa die Existenz eines Menschen, eines Engels und Gottes in zeitlicher Hinsicht aufeinander beziehen, wobei jedoch zu beachten ist, dass dieser Bezug (im Gegensatz zu der Gleichzeitigkeit innerhalb der Zeit im eigentlichen Verständnis) sich nur auf das jeweilige nunc, nicht aber auf die von diesem begründete Dauer erstreckt. Anders gesagt, das simul esse von zeitlichem nunc und nunc aeternitatis bedeutet nicht, dass die zeitlichen Geschöpfe die unendliche Dauer Gottes teilen.114 Bonaventura sprach in diesem Zusammenhang davon, dass das nunc temporis, das nunc aevi und das nunc aeternitatis koexistieren oder dass die verschiedenen zeitlichen Maße einander „begleiten“ (concomitantia). Da andererseits das nunc aeternitatis zugleich mit der ganzen Dauer der Ewigkeit zusammenfiel,115 konnte diese
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dere auch das folgende Scholion nr. 1 (Opp. I, 647). – In diesem Sinn konnte RODOLFI, Tempo e creazione, 160 die bonaventurianische Materie als «un principio reale di imperfezione delle creature» bezeichnen. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56b]: Cum enim aevum esse stabile et quietum respiciat, quod quidem habet materia a forma perfecta, et haec mensura non respiciat nisi esse actuale et modum essendi completum; videtur, quod aevum non possit sic accipi ex parte materiae, quidquid sit de tempore. Cum ergo modus durandi essentialiter et formaliter differat hinc inde, patet etiam, quod mensura propria. Ähnlich II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 60b]: tamen aevum respicit esse actuale et esse stabile, sed tempus materiam ut in potentia, sowie ebd., ad 1: Aevum autem de sui ratione propria respicit esse completum et stabile, et ideo magis respicit formam … Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 1, ad 1 [II, 65] (zitiert oben S. 225, Anm. 101). Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, ad 4 [II, 60]: Quod ergo obiicitur: ergo in eodem nunc; dicendum, quod esse simul in duratione est dupliciter: aut per mensurae concomitantiam, aut per mensurae unitatem et indifferentiam. Cum autem dicitur Deus, homo et Angelus esse simul; dicendum, quod hoc dicitur per mensurae concomitantiam. Cum autem dicitur: Petrus et Paulus simul sunt vel currunt, hoc potest dici per mensurae unitatem et indifferentiam … Ähnlich II Sent. 2, 1, 2, 3, resp. [II, 68]: Concedendum igitur, quod quatuor sunt primo creata, et quod angelica natura et corporea simul sunt creatae quantum ad mensurarum concomitantiam, quia simul incepit duratio materiae et intelligentiae, sicut probatum est. Vgl. auch Trin. 5, 1, ad 13 [V, 92]. Vgl. Trin. 5, 1, ad 13 [V, 92]: sic non sequitur, quodsi aliquid coëxistit cum nunc aeternitatis, quod coëxistat cum aeternitate interminabili. His enim, quae in Deo idem sunt, correspondent in creatura varia et diversa … Eine ausführlichere Darstellung dieses Konzeptes der concomitantia fand sich in der Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 3 (70), resp. [Ed. cit. I, 109b]. In der Hauptthese dieses Artikels wird noch einmal die eigentliche Problematik der hier diskutierten Frage deutlich: Propterea dicendum quod in eodem nunc dicitur esse motus et angelus et Deus, non tamen ex hoc sequitur idem esse nunc temporis et aevi et aeternitatis (Unterstreichungen von mir). – Zur Frage der coexistentia der nunc vergleiche man außerdem das Scholion der Quaracchi-Ausgabe zu I Sent. 39, 2, 3, hier nr. I/3 (Opp. I, 697). Trin. 5, 1, ad 13 [V, 92]: nunc aeternitatis nominat illam durationem quantum ad simplicem simultatem, aeternitas vero quantum ad interminabilem immensitatem … Et sicut non sequitur, quod
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
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Koexistenz auch so gedeutet werden, dass sowohl das nunc temporis als auch das nunc aevi im nunc aeternitatis enthalten sind.116
2.1.3
Fazit
Fasst man die Erkenntnisse dieses Abschnitts über die Zeit als Maß zusammen, so sind folgende Punkte im Verständnis Bonaventuras festzuhalten: Der Maßbegriff ist ein wesentliches Element der Zeitdefinition Bonaventuras, wobei die verschiedenen Bedeutungen von „Zeit“ in unterschiedlicher Weise auf diesen Maßbegriff Bezug nehmen. Die wichtigste Beobachtung ist dabei wohl die, dass die eigentliche Zeit (proprie) ein intrinsisches Maß darstellt und sich mit den von ihr gemessenen Entitäten vervielfacht. Für die Zeit im eigentlichsten Sinn (magis proprie) gilt zunächst dasselbe, da sie ein Spezialfall der proprie verstandenen Zeit ist. Allerdings steht hier mit der Bewegung des primum mobile ein herausragender allgemeiner Maßstab zur Verfügung, der ein extrinsisches Maß darstellt. Mit dem Fehlen eines solchen Maßstabes für die eigentliche Zeit geht einher, dass diese zwar als quantitas verstanden wird, aber nur in einem weiten, nicht strikt numerischen Sinn. Die Besonderheit der Zeit gegenüber den anderen kontinuierlichen Größen der Kategorie quantitas lässt sich auch in anderen Zusammenhängen erkennen. Sie besteht erstens in einer größeren Einfachheit, insofern die Dauer (duratio) als esse non intercisum im Gegensatz zur räumlichen Ausdehnung (extensio) keine gleichzeitig existierenden Teile besitzt, so dass das gegenwärtige, allein existierende nunc das ganze Wesen der Zeit ausmacht. Damit hängt zweitens ihre enge Verbindung zur Materie zusammen, denn die übrigen räumlichen Größen setzen eine bestimmte Formung der Materie voraus, nicht so die Zeit, sie hat ihr Sein aus dem allgegenwärtigen Streben der Materie nach der Form. Bei der Betrachtung der beiden eigentlichen Bedeutungen von Zeit geht es – entsprechend der von Bonaventura eingeführten Unterscheidung von essentia und esse temporis – immer um das Sein der Zeit. Die beiden verallgemeinerten Bedeutungen, vor allem das tempus communiter dictum nehmen dagegen das Wesen der Zeit in den Blick. Dieses Wesen besitzt seine konkrete Gestalt im primum nunc. Als principium limitationis scheint an ihm auf, inwiefern auch die verallgemeinerte Zeit ein Maß darstellt, ja sogar das erste Maß überhaupt ist. Während die Zeit im eigentlichen Sinn die Bewegung misst, obliegt es dem nunc die grundsätzliche Beweglichkeit des geschaffenen
116
creatura capit Deum simplicissimum: ergo capit Deum ut immensum; sic non sequitur, quodsi aliquid coëxistit cum nunc aeternitatis, quod coëxistat cum aeternitate interminabili. His enim, quae in Deo idem sunt, correspondent in creatura varia et diversa … Vgl. III Sent. 8, 2, 1, ad 6 [III, 193b] (una clauditur in altera), ferner I Sent. 41, 2, 1, ad 4 [I, 738b]: … quia nunc aeternitatis, quod est semper praesens, complectitur omnia temporalia; ähnlich I Sent. 39, 2, 3, resp. [I, 696b].
Philosophische Klärungen
229
Seins bekanntzumachen. Auch wenn das tempus communiter dictum und mit ihm das Wesen der Zeit ein einziges ist, kann man es nicht als ein extrinsisches Maß verstehen, da es sich hier um eine besondere Form der Einheit handelt: Es ist die unitas homogeneitatis oder indifferentiae, die sich von der zugrundeliegenden entsprechenden Einheit der Materie (in der Bonaventura die Ursache der Zeit erkannte) herleitet.117 Wenn man die Unterscheidung von extrinsischem und intrinsischem Maß auf diesen Zeitbegriff anwenden möchte (ich bezweifle allerdings, dass man damit Bonaventura entspricht), dann wird man diese Zeit unter die intrinsischen Maße einordnen.
2.2
Die Bedeutung des nunc
Der vorige Abschnitt hat unter anderem gezeigt, dass auch der Augenblick, das nunc,118 in einem verallgemeinerten Sinn Zeit darstellt. Versteht man Zeit dagegen im engeren Sinn, so treten die beiden Größen tempus und nunc einander gegenüber; im Folgenden soll es darum gehen, das Verhältnis zwischen Zeit und Augenblick näher in den Blick zu nehmen. Auch in dieser Frage waren es die aristotelischen Ausführungen,119 die seinerzeit als maßgeblich angesehen wurden und den Ausgangspunkt für weitergehende Reflexionen darstellten.120 Von dem Stagiriten lernte man insbesondere die elementaren Eigenschaften des nunc. Dazu gehört Folgendes: (1) Wie der geometrische Punkt ist auch das nunc unteilbar.121 (2) Anders als etwa der Tag oder die Stunde stellt es keinen Teil der Zeit dar, denn es lässt sich zu keiner gegebenen Zeitspanne ins Verhältnis setzen.122 Allgemeiner gesprochen gilt: Ein ausgedehntes Kontinuum wie die Zeit123 lässt 117 118
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Vgl. hierzu unten S. 271. Zur Übersetzung von nunc mit „Augenblick“ vgl. oben S. 100, Anm. 37. So weit ich außerdem sehe, wird gewöhnlich auch nicht deutlich zwischen nunc und instans (oder gelegentlich auch momentum) unterschieden, vgl. aber z. B. ALBERTUS MAGNUS, Physica IV, 3, 12 [Ed. Colon. IV.1, 284, Z. 9–12]: Sciendum etiam, quod quidam distinguunt inter instans et nunc dicentes, quod nunc dicit substantiam temporis, instans autem dicit id quod est sub forma praesentialitatis, et hoc est idem, quod nunc, licet differat ratione ab ipso. Alii autem dicunt, quod instans dicitur quasi non stans, et ideo dicit ipsum nunc, prout est sub fluxu, et sic iterum idem est cum ipso nunc in substantia, licet differat ratione. Namentlich in Physica IV, 10f. [217b 29 – 220a 26] und VI, 3.10 [233b 33 – 234b 9; 240b 8 – 241b 20]. Als Hintergrund kann ferner auf Physica III, 6f. [206a 9 – 208a 4] verwiesen werden. Rezipiert wurden außerdem die Ausführungen Avicennas in Sufficientia II, 12f. [Ed. cit., 333–369] sowie die Kommentare des Averroes zu den genannten Stellen. Vgl. oben S. 100 sowie die Ausführungen bei PORRO, Forme e modelli di durata, 28–36. Siehe Physica VI, 3 [233b 33 – 234a 24, z. B. 233b 33f.]: Ἀνάγκη δὲ καὶ τὸ νῦν … ἀδιαίρετον εἶναι. Vgl. z. B. Physica IV, 10.11 [218a 6–8; 220a 19f.]; bei BONAVENTURA, II Sent. 7, 1, 1, 1, ad 2 [II, 177b]: … sicut linea improportionabiliter excedit punctum et tempus instans sowie I Sent. 37, 2, 2, 3, arg. 3 [I, 662].
230
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
sich nicht als (endliche) Summe von unteilbaren, ausdehnungslosen Punkten verstehen. (3) Das nunc ist vielmehr als Grenze (terminus) aufzufassen und zwar sowohl im Hinblick auf den Anfang oder das Ende eines (endlichen) Zeitabschnittes als auch bei der Betrachtung der Trichotomie der Zeit, in der das gegenwärtige Jetzt den Anfang der Zukunft und das Ende der Vergangenheit darstellt.124 Im letzteren Kontext kommt dem nunc als Grenze hinsichtlich der beiden disjunkten Teile der Zeit eine doppelte Funktion zu, denn einerseits trennt es Vergangenheit und Zukunft, doch andererseits verbindet es sie auch (nunc continuans).125 Diese kontinuierende Wirkung des nunc zeigt sich unter anderem darin, dass das Zeitkontinuum von dem Jetzt als dem einzig existierenden Teil der Zeit gebildet oder begründet wird (obwohl es, wie gesagt, kein Teil der Zeit ist).126 Auf dem Hintergrund dieser Aussagen gilt es nun zu entfalten, welche Vorstellung Bonaventura von dem nunc besaß. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass sich bei ihm nirgends eine zusammenhängende Ausführung – etwa in Form einer Quaestio innerhalb des Sentenzenkommentars – über das nunc findet. Seine Position ist vielmehr aus verschiedenen Einzelbemerkungen zu rekonstruieren.127 Da sich daraus kein vollständiges Bild gewinnen lässt, beschränke ich mich auf zwei Themenkreise, die das Grundgerüst für die folgenden Darlegungen bilden:128 Den ersten Komplex bildet die Grundfrage nach dem Wesen des nunc. Der zweite Abschnitt befasst sich mit einem speziellen Pro123 124 125
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Wie auch die geometrischen Größen Linie, Fläche und Raum, die ein ähnliches Verhältnis zu den in ihnen enthaltenen Punkten besitzen. Vgl. Physica VI, 3 [233b 35 – 234a 6]; bei BONAVENTURA, II Sent. 1, 1, 1, 2, arg. 3 [II, 20]: … omne instans temporis ita est principium futuri, quod terminus praeteriti. Vgl. oben S. 100 mit Anm. 38 sowie die Ausführungen Alberts des Großen in Physica IV, 3, 12 (siehe unten S. 238, Anm. 162); vgl. auch BONAVENTURA, IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 249b]: Et praeterea, si praeteritum in sui termino esset, et futurum esset in sui initio; nunquam continuarentur per unum instans, sed essent simul. – Man vgl. ferner die Bemerkungen bei ARISTOTELES, Categoriae (transl. Boethii) 6 [Aristoteles latinus I.1.5, 14; 5a 1f.6–8]: Linea vero continua est; namque est sumere communem terminum ad quem partes ipsius coniunguntur, hoc est autem punctum, … Sunt autem talium et tempus et locus; praesens enim communis est terminus ad quem coniunguntur praeterita vel futura. Vgl. Physica IV, 11 [220a 4f.]: καὶ συνεχής τε δὴ ὁ χρόνος τῷ νῦν, καὶ διῄρηται κατὰ τὸ νῦν; und ebd. 13 [222a 10]: Τὸ δὲ νῦν ἐστιν συνέχεια χρόνου, der folgende Abschnitt [222a 10–20] legte dies dann näher dar. Der dort angestellte Vergleich mit den Verhältnissen von Punkt und Linie zeigt die andere Möglichkeit, die kontinuierende Eigenschaft des nunc zu verstehen: Das Ende der Vergangenheit und der Anfang der Zukunft sind nicht zwei verschiede Zeitpunkte, sondern sie fallen in dem einen Jetzt der Gegenwart zusammen. Die Textbasis besteht im Wesentlichen aus folgenden Stellen: I Sent. 37, 2, 2, 3, arg. 1 & arg. 3 & ad 1 [I, 662f.]; II Sent. 1, 1, 1, 2, arg. 3 & ad 3 [II, 19f.23]; 2, 1, 1, 1, arg. 4 & resp. [II, 55–57]; 2, 1, 1, 3, ad 4 [II, 63]; 2, 1, 2, 1, ad 1 & ad 3 [II, 65]; IV Sent. 11, 1, 1, 5, passim [IV, 248–250]; Trin. 5, 1, sc. 13.14 & ad 13.14 [V, 89.92]. Dies entspricht – nebenbei bemerkt – auch den beiden Grundfragen, denen Albertus Magnus in De IV coaequaevis 2, 5, 3 [Ed. Paris. 34, 372–375] hinsichtlich des nunc nachging, nämlich ebd. [Ed. Paris. 34, 372b]: Utrum ipsum sit substantia temporis? et consequenter, Utrum sit unum nunc vel plura? Zur letzteren Frage vgl. auch Physica IV, 3, 7 [Ed. Colon. IV.1, 272, Z. 5–83].
Philosophische Klärungen
231
blem, das Aristoteles aufgeworfen hatte und das die zeitgenössische Diskussion in diesem Zusammenhang bewegte.129 Die Frage lautete: Bleibt dieses nunc, das das Zeitkontinuum aufspannt, die ganze Zeit über dasselbe, oder wird es je ein anderes? Anders formuliert: Ist Zeit zu verstehen als der Fluss eines einzigen Augenblicks oder vielmehr als successio unendlich vieler verschiedener Augenblicke? Oder noch einmal anders: Ist das nunc – nicht spezifisch, sondern real und numerisch – ein einziges, oder gibt es zahllose verschiedene nunc? – Bevor solche Fragen beantwortet werden können, muss zunächst klar sein, was das nunc überhaupt ist, deshalb soll zuerst eine Wesensbestimmung des nunc vorgenommen werden.
2.2.1
Das nunc als ganzes Wesen der Zeit
Was ist das nunc? Bonaventura hatte hierauf eine eindeutige Antwort: Das nunc ist die ganze essentia der Zeit.130 Im Hintergrund dieser Position steht der Vergleich zwischen den Verhältnissen in Raum und Zeit: Die verbreitete Aussage sicut punctus se habet ad lineam, ita se habet nunc ad tempus131 bedarf dabei einer sorgfältig differenzierenden Betrachtung.132 Richtet man den Blick zunächst auf das Verhältnis von Punkt und Linie, so bemerkt man, dass im zeitgenössischen Diskurs zwei Sichtweisen – eine dynamische und eine statische – sorgfältig auseinandergehalten wurden.133 Das erste Bild beruht auf
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Vgl. hierzu ARISTOTELES, Physica IV, 10 [218a 8–30]; 11 [219b 9–33], wobei erstere Stelle das nunc als Grenze von Vergangenheit und Zukunft behandelte, während letztere auf die Analyse des Bewegungsablaufes ausgerichtet war und das nunc auf die jeweilige Grenze der Bewegung (Initial- und Finalzustand) bezog. Darauf wurde oben bereits hingewiesen, vgl. S. 219 mit Anm. 73, wo auch der entscheidende Passus aus Trin. 5, 1, ad 14 [V, 92] zitiert wird. Man vgl. auch II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23]: … sic nunc est tota essentia temporis (ausführlich zitiert in Anm. 65, S. 218). Hier zitiert nach THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 2, 320 [Ed. cit., 113]; der Vergleich wurde dort im Folgenden näher ausgeführt und dabei sehr klar dargestellt; vgl. ähnlich ALBERTUS MAGNUS, De IV coaequaevis 2, 5, 3, arg. 1 [Ed. Paris. 34, 372] (hier wird der Satz als Argument dafür verwendet, dass das Jetzt nicht die Substanz der Zeit darstellt) sowie THOMAS VON AQUIN, In Physic. VIII, c. 1, lect. 2, 13 [Ed. Leonina II, 370]. Thomas bezog diese Erkenntnis dabei ausdrücklich auf die Darlegungen bei ARISTOTELES, Physica VI (sinngemäß zu finden in VI, 1 [231a 21 – 232a 22]). Bei Bonaventura ist der Satz in dieser prägnanten Form nicht zu finden. Dies bemerkte bereits Albert, De IV coaequaevis 2, 5, 3, ad 1 [Ed. Paris. 34, 374a] … dicimus quod punctum ad lineam et nunc ad tempus in quibusdam similiter se habent, in quibusdam dissimiliter. In terminando enim et continuando quodammodo similiter se habent: sed in essentiando, ut ita dicam, sive substantificando non habent se similiter: quia punctum non facit lineam nec fluens neque non fluens, sed nunc fluxu suo facit tempus et ideo punctum non est substantia lineae … Eine Aufnahme dieser beiden Perspektiven (wenn auch in anderem Kontext) kann man bei Bonaventura in der Unterscheidung von II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 3 [II, 23] wiederfinden (vgl. unten S. 289, Anm. 89): Er unterschied dort bei einem Kreis die Situation der Entstehung des Kreises (durch die Bewegung eines Punktes) und den Blick auf das fertige Gebilde und einen darin enthalten Punkt.
232
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
der Vorstellung einer Linie, die durch die Bewegung eines einzigen Punktes entsteht.134 Der Punkt erzeugt auf diese Weise das ausgedehnte, in diesem Falle eindimensionale Kontinuum der Linie: punctus facit lineam, hieß es, und von daher konnte der Punkt als principium oder causa lineae bezeichnet werden.135 Unter Zugrundelegung des oben dargestellten weiten Maßbegriffs konnte man auch sagen, dass der Punkt die Linie misst.136 In diesem Bild tritt real nur ein einziger Punkt auf und die Linie wird verstanden als die durch die Bewegung erzeugte und durch den Verstand erfassbare Verschiedenheit dieses einen Punktes. Kurz gesagt: Secundum rem handelt es sich um einen einzigen Punkt, secundum rationem dagegen lassen sich verschiedene Punkte bezeichnen, die insgesamt die Linie bilden.137 134 135
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Noch konkreter könnte man an eine mit dem Finger in die Luft gezeichnete Linie oder an die durch die Bewegung eines Fahrzeugs von A nach B entstehende Linie denken. Vgl. bereits ARISTOTELES, De anima I, 4 [409a 3–5]. So dann auch z. B. bei THOMAS VON AQUIN, In De caelo et mundo I, c. 1, lect. 2, 9 [Ed. Leonina III, 7f.] (Et utitur modo loquendi quo utuntur geometrae, imaginantes quod punctus motus facit lineam …) oder Sententia libri De anima I, 11, 3 [Ed. Leonina XLV.1, 54, Z. 63f.] (Set dicunt Platonici, motus puncti facit lineam …); ähnlich THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 2, 320 [Ed. cit., 113]: Geometrae autem imaginantur punctum per motum suum causare lineam … Albert der Große hingegen lehnte zwar in De IV coaequaevis – wie gesehen (vgl. oben Anm. 132) – die Sprechweise punctus facit lineam ab, in Physica IV, 3, 7 [Ed. Colon. IV.1, 272, Z. 44f.] hingegen ließ er sie als Aussage der Geometer unwidersprochen stehen. BONAVENTURA sprach I Sent. 13, dub. 8 [I, 241a] vom defluxus lineae a puncto. Zum Punkt als causa oder principium der Linie äußerte er sich im Hexaëmeron eher vorsichtig (vgl. unten Anm. 142, S. 233), während er sie für das Verhältnis von nunc und Zeit uneingeschränkt akzeptierte. Allgemein zu dieser Sichtweise vgl. PORRO, Forme e modelli di durata, 28. Vgl. etwa THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 3, 328 [Ed. cit., 116], man beachte hier besonders die Bemerkung, die auf das hier vorliegende weite (auch von Bonaventura geteilte) Maßverständnis hinweist: Ubi considerandum est quod duobus modis aliquid potest esse mensura alterius. Uno modo quando ipsa mensura semel vel pluries accepta aequiparatur mensurato, sicut trinarius alium trinarium mensurat, vel novenarium. Alio modo quando unum est ratio cognoscendi aliud; unde de isto cognitio non habetur nisi secundum quod aliud ducit intellectum in cognitionem ipsius … – Der Punkt kann selbstredend nur im letzteren Sinn Maß der Linie sein, und dasselbe gilt für das Verhältnis von nunc und Zeit. Man vgl. ferner THOMAS VON AQUIN, In Physic. IV, c. 11, lect. 18, 2 [Ed. Leonina II, 205] und die Aussage bei Bonaventura in II Sent. 2, 1, 1, 3, sc. 4 [II, 62]: punctus … est principium mensurae. Vgl. hierfür und für das Folgende: THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 2, 320 [Ed. cit., 113]: Geometrae autem imaginantur punctum per motum suum causare lineam: … Si vero imaginemur ipsum moveri, licet in ipso nulla sit dimensio nec aliqua divisio per consequens, per naturam tamen motus sui relinquitur aliquid divisibile. … et tale necessario erit linea. Ille tamen punctus nihil est de ipsius lineae essentia, quia nihil unum et idem realiter omnibus modis indivisibile potest simul in diversis partibus eiusdem continui permanentis esse. Necessario tamen si esset de essentia lineae constitutae per suum motum, foret de essentia cuiuslibet partis suae: quia qua ratione pertineret ad unam partem eiusdem, eadem ratione pertineret ad omnes, cum aequaliter ad omnes se habeat. Nec potest esse terminus eius vel continuatio aliqua, cum ille punctus sit aliquid unum realiter: unde non possunt esse plures puncti realiter. In linea tamen sunt plures puncti et realiter ab invicem divisi, ut duo eius termini, et similiter in eius continuatione: linea enim est quantitas positionem habens et manens, nec cum puncto moto transiens. Punctus ergo mathe-
Philosophische Klärungen
233
Das zweite Vorstellungsbild fasst die Linie als eine fest vorgegebene, bleibende (permanens) Entität auf, in der mehrere, real voneinander verschiedene Punkte unterschieden werden können: der Anfangs- und der Endpunkt sowie die unendlich vielen Zwischenpunkte. Dem mittelalterlichen wie dem antiken Denken – dem die Vorstellung eines nicht mit Gott identischen aktual Unendlichen fremd war – entsprach es dabei, wenn die Linie auch in diesem Bild nicht als eine Menge oder Kollektion von unendlich vielen, aktuell gegebenen Punkten verstanden wurde:138 Nur die Endpunkte, die die Linie definierend begrenzen, wurden als in actu verstanden, die Zwischenpunkte dagegen als nur potentiell gegebene (nämlich insofern sie Anfangs- oder Endpunkte einer möglichen Teilung der Linie sind).139 Die Frage, ob der Punkt die Substanz der Linie darstellt, wurde dabei für beide Bilder verneint, denn im letzteren ist die Reduktion auf einen einzelnen Punkt unmöglich (es bleiben mindestens der Anfangs- und der Endpunkt als gleichzeitig existierende, real verschiedene Punkte), während der Mangel des ersteren darin besteht, lediglich eine mathematische Vorstellung zu sein, die das bleibende Sein der Linie nicht zutreffend erfasst.140 Mit den beiden auf die Raumverhältnisse bezogenen Bildern im Hintergrund kann nun an die Bestimmung der entsprechenden Beziehung von Zeit und Jetzt herangegangen werden. Dabei erkennt man sowohl die Gemeinsamkeiten als auch den Unterschied von räumlicher extensio und zeitlicher duratio: Zwar kann auch bei der Betrachtung eines durch eine Bewegung oder einen Vorgang bestimmten Zeitraumes ein Anfangsund ein Endpunkt unterschieden werden, jedoch existieren diese beiden Punkte gerade nicht gleichzeitig;141 das dynamische Bild, also die Vorstellung, dass der bestimmte Zeitraum durch den „Fluss“ eines einzigen nunc entsteht, besitzt hier den Vorzug gegenüber der statischen Perspektive.142 Von daher wird auch die Aussage Bonaventuras ver-
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matice imaginatus, qui motu suo causat lineam, necessario nihil lineae erit, sed erit unum secundum rem, et diversum secundum rationem; et haec diversitas quae consistit in motu suo, realiter est linea, non identitas sua secundum rem. In hac ergo linea constituta per diversitatem puncti, erunt puncta: puncta quaedam actu, ut duo eius termini, qui cadunt in eius definitione; et infinita alia in potentia, secundum quod ipsa est in infinitum divisibilis potentialiter. Vgl. z. B. Auctoritates Aristotelis, Physica VI, nr. 166 [PhMed 17, 153 zu 231a 24]: Nullum continuum potest esse ex indivisibilibus, unde linea non potest componi ex punctis. Vgl. auch unten S. 243 mit Anm. 189. In diesem Punkt treffen sich auch die beiden Argumentationen von Thomas von Sutton und Albertus Magnus wieder, vgl. Anm. 137 und Anm. 132; bei beiden Autoren wird deutlich, dass das dynamische Bild lediglich eine Vorstellung des Mathematikers ist (vgl. Thomas von Sutton: geometrae autem imaginantur …). Auf diesem Hintergrund wird man dann auch die identische Position Bonaventuras in Trin. 5, 1, ad 14 [V, 92] verstehen (vgl. Anm. 73, S. 219), dass der Punkt weder als die ganze essentia extensionis noch als deren pars constitutiva angesehen werden kann. Vgl. etwa II Sent. 2, 1, 1, 3, ad 4 [II, 63] (zitiert oben S. 217, Anm. 61). In dem obengenannten Sinn heißt es dann etwa Hex., princ., 3 (3), 5 [Ed. Delorme, 35f.]: … sicut ab unitate originantur omnes numeri, a puncto omnes dimensiones. Unde si unitas cognosceret suum posse, cognosceret se esse causam omnium numerorum, et nunc temporis causam omnium du-
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
ständlich, dass das eine, die Zeit konstituierende nunc die ganze essentia der Zeit ausmacht:143 Oder noch einmal etwas anders betont: Die Zeit besitzt wesentlich nur ein einziges nunc.144 Es ist ja auch nur dieser eine und einzige Teil der Zeit, der gegenwärtig
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rationum, ut in libro Physicorum [IV, 11] dicit Philosophus. Quantum ad punctum tamen non est omnino simile, quia non est causa nec pars lineae sed tantum terminus. – Hinsichtlich der Beurteilung des Punktes gibt die Reportatio B (ebd. [V, 344]) allerdings eine andere Einschätzung: unitas tamen magis est principium quam punctus, quia unitas est pars essentialis numeri, punctus autem principium et non pars. Zu Bonaventura vgl. oben S. 231, Anm. 130; er sprach von der essentia temporis, während ALBERTUS MAGNUS, De IV coaequaevis 2, 5, 3, sol. [Ed. Paris. 34, 373f.] sachlich gleichbedeutend (vgl. oben S. 218 mit Anm. 69) von der substantia temporis sprach: Dicimus cum Philosopho, quod nunc est substantia temporis: quia tempus nihil aliud est quam nunc fluens, fluxu suo suscipiens esse continui. Et qualiter hoc sit, potest videri per motum, motus enim qui dicitur loci mutatio, nihil aliud est quam ubi fluens, cujus substantia est unum ubi secundum esse diversificatum: ita tamen, quod illud unum ubi non sit unum numero: quia in hoc differt a tempore. In Alberts S. th. II-I, 11, 47, qc. 2, 1 [Ed. Paris. 32, 521a] hieß es ebenfalls: Nunc autem, ut dicit Aristoteles, non est tempus, nec pars temporis, sed substantia, quae eadem est in toto tempore. Albert dürfte sich hier auf ARISTOTELES, Physica IV, 11 [220a 18–22] beziehen, dort finden sich zumindest die beiden ersten Aussagen wieder, hinsichtlich der dritten hieß es da allerdings nicht, dass das nunc die Substanz der Zeit darstellt, sondern dass – gerade umgekehrt – der als Grenze aufgefasste Augenblick (das nunc wird also hier in anderer Bedeutung verwendet, vgl. unten S. 238 mit Anm. 163) ein Akzidens darstellt. Vgl. hierzu auch die bei AVERROES, In Phys. IV [Ed. cit. IV, fol. 185v M] zu findende Wiedergabe von 220a 21f.: … instans, secundum quod est finis, non est tempus, sed accidens. RODOLFI, Tempo e creazione, 143 mit Anm. 18 brachte die bonaventurianische Sprechweise vom nunc als essentia temporis ebenfalls mit diesem Absatz aus Aristoteles’ Physica IV, 11 [219b 33 – 220a 26] in Verbindung. Zu Albert zurückkehrend findet man eine ähnliche Aussage auch in Physica IV, 3, 8 [Ed. Colon. IV.1, 275, Z. 23–27]: Nunc vero unum est in toto tempore secundum substantialem acceptionem suam, et hoc est, secundum quod est numerus eius quod fertur, numerans ipsum existens in toto motu, et sic est ipsum agens numerum, qui est tempus. Vgl. schließlich Physica IV, 3, 12 [Ed. Colon. IV.1, 284, Z. 9–12] (zitiert S. 229, Anm. 118). Bei THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 2, 320 [Ed. cit., 113] hieß es in demselben Sinn: Per quem modum de instanti temporis est agendum: nisi quod instans est de substantia temporis. – In seinem Physikkommentar sprach Thomas von Aquin, so weit ich sehe, im Bezug auf das nunc weder von substantia noch von essentia (man vgl. aber die folgende Anm. 144), er bezeichnete es allgemein als ein Seiendes, vgl. In Physic. IV, c. 11, lect. 18, 3 [Ed. Leonina II, 205] (zu Physica IV, 11 [219b 13–15]): Deinde cum dicit [scil. Aristoteles]: ipsum autem nunc etc., exponit quod dixerat: et dicit quod ipsum nunc quodammodo semper est idem, et quodammodo non idem. Inquantum enim semper consideratur ut in alio et alio secundum successionem temporis et motus, sic est alterum et non idem. Et hoc est quod supra diximus, quod ipsi est esse alterum. Nam hoc est esse ipsi nunc, idest secundum hoc accipitur ratio ipsius, ut consideratur in decursu temporis et motus. Sed inquantum ipsum nunc est quoddam ens, sic est idem subiecto. Vgl. auch die folgende nr. 4 von In Physic. IV, c. 11, lect. 18 [Ed. Leonina II, 205f.]. Vgl. GHISALBERTI, La concezione del tempo, 754: «nella sua essenza, il tempo conosce un solo istante». – In seinem Sentenzenkommentar (IV Sent. 11, 1, 3, 2, ad 2 [Ed. cit. 2IV, 448f., nr. 90]) – also deutlich vor dem 1268/69 entstandenen Physikkommentar – konnte Thomas von Aquin noch genau dieses als Quintessenz von Aristoteles’ Physica IV (näherhin wohl in c. 10 [218a 8–13] und
Philosophische Klärungen
235
existiert.145 Wenn Bonaventura dabei an anderer Stelle das nunc auch die essentia durationis (statt temporis) nannte, so machte er damit darauf aufmerksam, dass derselbe Zusammenhang wie zwischen nunc temporis und tempus auch für die beiden anderen Weisen des Dauerns, aevum und aeternitas, gilt, die entsprechend von dem nunc aevi bzw. dem nunc aeternitatis konstituiert werden.146 Da es sich dabei um ein jeweils wesentlich verschiedenes nunc handelt147 – das nunc temporis (ver)fließt, während die beiden anderen „stabil“ sind148 –, bleibt zugleich die Verschiedenheit der spezifischen Arten des Dauerns gewahrt. Um keine Irritationen hervorzurufen, ist hier darauf hinzuweisen, dass Bonaventura den Begriff essentia für das nunc in einer Weise gebrauchte, der nicht auf das abstrakte Wesen abzielt, sondern auf das in einem Sein verwirklichte Wesen.149 Das bedeutet, dass er ihn sehr stark dem Substanzbegriff annäherte. Insofern verwundert es auch nicht, wenn Bonaventuras Vorlagen (z. B. Albert) an vergleichbaren Stellen vom nunc als „Substanz der Zeit“ sprachen.150 Im Rahmen dieses substantialen Verständnisses kann dann auf zwei weitere Bezüge verwiesen werden, die allerdings mit einer gewissen Vorsicht behandelt werden müssen, da sie eher assoziative, denn strikt begründende Verbindungen herstellen. Der erste Hinweis betrifft eine weitere Parallele zwischen den Verhältnissen in Raum und Zeit: Die bekannte aristotelische Definition des geometrischen Punktes verstand diesen als substantia posita, d. h. als eine durch eine bestimmte Lage (positio) gekennzeichnete Substanz im Gegensatz zu der positionslosen Substanz der „Zahl“ Eins.151 Das nunc war im damaligen Verständnis demnach die dritte substan-
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in c. 11 [219b 12–33]) festhalten: sicut probatur 4 Phys. in toto tempore non est accipere nisi unum «nunc» secundum substantiam … Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 3, ad 4 [II, 63]: … Quod obiicitur, quod substantiae simplicis proprietas non potest esse composita; dicendum, quod verum est, si illa proprietas habeat compositionem partium simul entium; nunc autem non est sic, immo de aevo nunquam est nisi nunc, sicut et de tempore dicitur. Vgl. auch Trin. 5, 1, ad 14 [V, 92] (zitiert oben S. 219, Anm. 73). Vgl. auch Auctoritates Aristotelis, Physica IV, nr. 138 [PhMed 17, 151] (Nihil habemus de tempore, nisi nunc et praesens tempus), dies ist so allerdings nicht in Physica IV zu finden, man beachte jedoch Physica VI, 3 [233b 33–35] und THOMAS VON AQUIN, In Physic. IV, c. 11, lect. 18, 7 [Ed. Leonina II, 206]: quod nihil est temporis nisi nunc. Vgl. erneut Trin. 5, 1, ad 14 [V, 92] (S. 219, Anm. 73). Vgl. oben S. 201. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56b] (zitiert oben S. 201, Anm. 172), ähnlich II Sent. 2, 1, 2, 1, sc. 3 [II, 64]. Dies wurde im Zusammenhang mit der secundum essentiam verstandenen Zeit bereits bemerkt, vgl. S. 218 und die dortige Anm. 69. Vgl. hierzu oben die Anm. 143. Vgl. Analytica posteriora (transl. Iacobi Venetici) 27 [Aristoteles latinus IV.1, 60, Z. 18; 87a 36]: … unitas substantia est sine positione, punctum autem substantia posita. – Substantia ist hier Übersetzung von οὐσία. Vgl. auch De anima (transl. Iacobi Venetici) I, 4 [ALD2 ; 409a 6]: Punctum enim unitas est positionem habens. – Man vgl. hierzu auch die Ausführungen in Categoriae 6 [5a 15–37], dass die Teile von Zahl und Zeit zwar keine (räumli-
236
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
tielle Größe, die eine potentielle Unendlichkeit innerhalb der Kategorie der quantitas aufspannt. Des weiteren – und das ist der zweite Punkt – konnte das nunc auch im Bezug zur (gleich)bleibenden Substanz eines bewegten Gegenstandes gesehen werden.152 Im Kern geht dies zurück auf das damals vielzitierte aristotelische Diktum id autem quod fertur sequitur ipsum nunc, sicut tempus motum;153 Thomas von Aquin formulierte daraus eine Proportionalitätsanalogie, die er in der Formel nunc ad tempus sicut mobile ad motum ausdrückte.154 Das dynamische Bild des einen und einzigen, immer gleichbleibenden, die Zeit erzeugenden nunc (temporis) korrespondiert damit der „substantiellen Selbstidentität“155 eines bewegten Gegenstandes während einer (Orts-)Bewegung. Zugleich wird dadurch ein Verständnis der Zeit als Maßzahl der Bewegung und des nunc als Maßzahl des Beweglichen (mobile) etabliert.156 Bei Bonaventura findet sich dies in der Feststellung, dass das nunc das mobile in quantum mobile misst.157
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che) Lage (positio) zueinander haben, wohl aber eine durch das Früher und Später des Zählens bzw. der Zeitabschnitte bestimmte Anordnung (ordo) besitzen. Darum konnte es etwa II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56a] heißen: Nunc enim respicit substantiam rei. – Vorsicht gilt hier insofern, als diese Beziehung nicht unbedingt ein Verständnis des nunc als einer Substanz voraussetzt (wie etwa an Thomas von Aquin deutlich wird). Vgl. Physica IV, 11 [219b 22f.]: τῷ δὲ φεροµένῳ ἀκολουθεῖ τὸ νῦν, ὥσπερ ὸ χρόνος τῇ κινήσει; der lateinische Text ist der translatio vetus des Jakob von Venedig [Aristoteles Latinus VII.1.2, 176] entnommen. Siehe THOMAS VON AQUIN, In Physic. IV, c. 11, lect. 18, 4 [Ed. Leonina II, 205f.] (zitiert in Anm. 156). Vgl. auch ebd., nr. 9, wo das Verhältnis von motus zu mobile bzw. von tempus zu nunc weiter ausgeführt wird. Ähnlich bei THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 2, 321 [Ed. cit., 113f.]: Sciendum est ergo, quod mobile est causa motus non efficiens, sed materialis: motus enim est in mobili ut in subiecto, sicut dicitur tertio Physic. Mensura autem ipsius mobilis est instans, quia instans sequitur id quod fertur, ut dicitur quarto Physic. … Daraus ergab sich für ihn im folgenden Kapitel 3, 323 [Ed. cit., 114]: … Ergo a commutata proportione, sicut se habet tempus ad motum, ita se habet «nunc» temporis ad mobile: unde videtur philosophum velle «nunc» temporis sequi ipsum mobile, ita quod idem «nunc» sit mensura mobilis et continuans partes temporis adiuncti. Idem etiam «nunc» dicit primo mensurare tempus ipsum, quia unumquodque mensuratur per id quod est notius in suo genere, unde «nunc» illud de genere temporis est. De eodem etiam «nunc» subiungitur, quod nihil temporis est, nisi ipsum «nunc». Ex quibus patet quod instans quod sequitur mobile sit de substantia temporis, … Vgl. PORRO, Forme e modelli di durata, 30: «… l’identità dell’istante per l’intera durata del movimento sembra corrispondere all’autoidentità sostanziale del mobile». Vgl. THOMAS VON AQUIN, In Physic. IV, c. 11, lect. 18, 4 [Ed. Leonina II, 205f.]: Sic igitur se habet nunc ad tempus, sicut mobile ad motum: ergo secundum commutatam proportionem, sicut tempus ad motum, ita et nunc ad mobile. Unde si mobile in toto motu est idem subiecto, sed differt ratione, oportebit ita esse et in nunc, quod sit idem subiecto et aliud et aliud ratione: quia illud quo discernitur in motu prius et posterius, est idem subiecto, sed alterum ratione, scilicet mobile; et id secundum quod numeratur prius et posterius in tempore est ipsum nunc. – Vgl. auch THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 3, 324 [Ed. cit., 115] (in Fortsetzung des in Anm. 154 Gesagten): sicut loci mutatio et ipsum mobile sunt simul, sic numerus mobilis simul est cum numero motus localis. Sed tempus est numerus loci mutationis. Ergo numerus ipsius mobilis semper erit cum tempore. Hoc autem nihil aliud est quam «nunc». Ähnlich ALBERTUS MAGNUS, Physica IV, 3, 8 [Ed.
Philosophische Klärungen
2.2.2
237
Einheit und Vielheit des nunc
Fasste man wie Bonaventura das nunc als die Substanz der Zeit, so stand es dabei vor allem als ein eines und einziges vor Augen. Doch allein dabei konnte man es nicht belassen, denn, wie bereits Aristoteles bemerkt hatte, Zeit und Bewegung werden nur dadurch erfasst, dass das Bewusstsein zwei verschiedene, dem (Zustand des) Vorher und Nachher entsprechende „Jetzte“ anspricht.158 Bereits der Stagirite stand also vor der Aporie, dass das Jetzt einerseits die ganze Zeit ein und dasselbe bleibt und dass es andererseits immer wieder ein anderes wird.159 Zugespitzt formuliert geht es um die Alternative, ob es nur ein einziges nunc gibt oder ob viele verschiedene nunc existieren. Zugleich wird damit die zunächst bestechende Klarheit des im vorigen Abschnitt vorgestellten dynamischen Bildes von dem einen, sich bewegenden Punkt wieder in Frage gestellt. Der Komplexität des Problems entspricht es dabei, wenn zeitgenössische Antworten auf diese Frage nicht eine einfache Entweder-Oder-Lösung in den Blick nahmen. Vielmehr versuchte man zu bestimmen, in welcher Hinsicht jeweils von der Einheit oder der Vielheit der Jetzte zu sprechen ist. Diese Bestimmung wurde dabei sowohl von der ontologischen als auch von der gnoseologischen Seite angegangen:160 In letzterer Hinsicht kam man etwa mit Thomas von Aquin zu dem Ergebnis, dass das nunc zwar dem Zugrundeliegenden nach ein einziges ist, der Hinsicht nach aber je ein anderes (idem subiecto, alterum et alterum ratione).161 In der ontologischen Perspektive lautete die
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Colon. IV.1, 274, Z. 4–6], der das nunc nicht nur als Maß, sondern sogar als Zahl auffassen konnte: tempus nihil aliud est nisi numerus loci mutationis, et nunc nihil aliud est nisi numerus eius quod fertur, … So auch THOMAS VON AQUIN, In Physic. IV, c. 11, lect. 18, 5 [Ed. Leonina II, 206] (nunc temporis intelligitur ut numerus mobilis). Zu diesen Stellen vgl. auch ARISTOTELES, Physica IV, 11 [220a 1–4]. Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 1, ad 3 [II, 65]: nam sicut tempus mensurat motum, sic nunc temporis mensurat ipsum mobile in quantum mobile. Vgl. die Definition von Physica IV, 11 [219a 26–29] (zitiert oben S. 100 mit Anm. 33). Vgl. oben S. 231, mit den Stellen in Anm. 129. Beide Perspektiven – sowohl die ontologische wie auch die gnoseologische – sind dabei bereits im Text des Stagiriten in Physica IV, 11 bezeichnet, wo er das nunc einmal als dem Sein nach je verschiedenes bezeichnet (τὸ γὰρ νῦν τὸ αὐτὸ ὅ ποτ’ ἦν – τὸ δ’ εἶναι αὐτῷ ἕτερον [219b 10f.; vgl. auch 26f.]) und ein andermal als ein dem Verständnis nach verschiedenes (τοῦτο δὲ µέν ὃ µέν ποτε ὂν τὸ αὐτό … τῷ λογῷ δὲ ἄλλο [219b 18–20]). Vgl. In Physic. IV, c. 11, lect. 18, 4 [Ed. Leonina II, 205a]: … quod nunc est idem subiecto, sed alterum et alterum ratione; Ebd., nr. 2 hieß es ähnlich: Quod quidem secundum id quod est, idem est: sed ratione est alterum, secundum quod est prius et posterius: et sic nunc mensurat tempus, non secundum quod est idem subiecto, sed secundum quod ratione est alterum et alterum, et prius et posterius. – THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 3, 325 [Ed. cit., 115] bringt dieses Verhältnis auf die Formel idem re, alterum et alterum ratione: Patet enim ex parte motus et mobilis mobile esse idem in toto motu realiter, sed alterum et alterum ratione. Sed haec eius alteritas consistit in quibusdam indivisibilibus motus, quae dicuntur mutata esse, … Mobile autem nihil est horum, cum quodlibet horum accidat sibi; simul tamen sunt haec mutata esse cum mobili, quia eius sunt
238
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
entsprechende Formulierung, dass das nunc zwar der Substanz nach ein einziges ist, sein konkretes Sein aber je ein anderes (unum secundum substantiam, alterum et alterum secundum esse).162 In der Folge unterschieden manche Autoren dann verschiedene Bedeutungen oder Auffassungsweisen des nunc:163 Den obigen Vergleich mit der Bewe-
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ut subiecti. Sicut autem a parte mobilis, ita et a parte instantis, quod sequitur mobile, est accipere diversa et diversa esse. Et haec eius diversitas consistit in ipsis indivisibilibus temporis, quae et dicuntur mensurata esse; et ista mensurata esse sine interpolatione sunt instantia quae continuant tempus: et haec nihil aliud sunt nisi diversa et diversa ratio eiusdem instantis, quod idem est realiter in toto tempore sequens mobile inquantum est idem re in toto motu. Bei beiden stehen diese Bestimmungen in unmittelbarer Verbindung zu dem dynamischen Bild des die Linie erzeugenden Punktes, vgl. THOMAS VON AQUIN, In Physic. IV, c. 11, lect. 18, 4 [Ed. Leonina II, 205]; THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 2, 320 [Ed. cit., 113] (zitiert oben S. 232, Anm. 137). – Die Sprechweise des Aquinaten dürfte dabei von AVERROES, In Phys. IV, comm. 104 [Ed. cit. IV, fol. 183r–184r] inspiriert sein, dort hieß es fol. 183r F: Instans est in aliquo existente in dispositionibus diversis. Et quod est tale, est unum secundum subiectum, et duo secundum rationem. Ebd. [fol. 183v M – 184r A]: … instans est idem secundum subiectum, et plura secundum definitionem, id est secundum prioritatem, et posterioritatem. – Bei ALBERTUS MAGNUS, Physica IV, 3, 7 [Ed. Colon. IV.1, 272, Z. 71–77]: … et numerus partium motus est tempus, et unitas eius in toto motu est nunc, quod est idem in substantia propter incorruptibilitatem et invariabilitatem mobilis sive eius quod fertur, secundum subiectum, et est secundum esse diversum, inquantum fluit a priore in posterius, cuius causa est renovatio situs in eo quod fertur, uno existente secundum subiectum (Unterstreichungen von mir). Bei THOMAS VON AQUIN, In Physic. IV, c. 11, lect. 18, 3 [Ed. Leonina II, 204] findet sich zumindest der zweite Teil der Aussage: Inquantum enim [scil. nunc] semper consideratur ut in alio et alio secundum successionem temporis et motus, sic est alterum et non idem. Et hoc est quod supra diximus, quod ipsi est esse alterum. Nam hoc est esse ipsi nunc, idest secundum hoc accipitur ratio ipsius, ut consideratur in decursu temporis et motus. Ähnlich THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 3, 325 [Ed. cit., 115] (zitiert oben Anm. 161). Sehr klar äußerte sich ALBERTUS MAGNUS, De IV coaequaevis 2, 5, 3, ad qu. 1 [Ed. Paris. 34, 375]: … distinguendum est, quod tempus potest considerari secundum suam naturam, vel secundum comparationem ad nos et ad motus terminatos in ipso. Si ultimo modo consideratur, tunc in ipso significabilia sunt plura nunc, hoc est, quod secundum esse plura sunt nunc. Si autem primo modo consideratur, tunc tota substantia temporis est unum nunc manens semper secundum substantiam unam et idem, sed secundum esse habet pluralitatem. Man beachte hierzu auch die vorausgehenden Ausführungen in ad 3 [Ed. Paris. 34, 374b–375a]. Vgl. ferner Physica IV, 3, 12 [Ed. Colon. IV.1, 283, Z. 43–70]; dort wird die Linie weiter ausgezogen und die Einheit mit dem (Vergangenheit und Zukunft) verbindenden Aspekt des aktuell existierenden nunc zusammengebracht, wohingegen die Vielheit sich mit der potentiell trennenden Eigenschaft des nunc verbindet, indem der Verstand die nacheinander realisierten Bewegungszustände erfasst. Im Fazit [ebd., Z. 65–70]: Inquantum autem huiusmodi est dividens … aliud et aliud est in tempore propter hoc, quod partes temporis non permanent. Inquantum autem copulat, semper est idem in toto tempore sicut et unitas ipsius quod fertur, quae semper una est in toto motu. ALBERTUS MAGNUS, De IV coaequaevis 2, 5, 3, ad 3 [Ed. Paris. 34, 374] sprach unter Berufung auf Avicenna (vermutlich Sufficientia II, 12 [Ed. cit., 333–349], besonders die Abschnitte 341, Z. 10 – 343, Z. 35 sowie 345, Z. 63 – 346, Z. 83) von zwei Weisen (modi) das nunc aufzufassen. Die Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 3 (70), resp. [Ed. cit. I, 109] berichtete sogar von drei verschiedenen Bedeutungen des nunc: Ad hoc dixerunt quidam, quod sicut est accipere in mutabili substantia
Philosophische Klärungen
239
gung bemühend, entsprach das nunc dabei einmal dem einen mobile als die ganze Zeit (gleich)bleibendem und mit sich identischem, das andere Mal war es mit den vielen, die verschiedenen Bewegungszustände repräsentierenden mutata esse vergleichbar.164 Im Extremfall ging man dabei sogar so weit, diese Bedeutungsverschiedenheit als Äquivokation zu verstehen.165 Nach diesem allgemeinen Überblick soll nun die Situation bei Bonaventura betrachtet werden. Auch der Doctor seraphicus kannte beide Vorstellungen: die eines einzigen nunc und die von (unendlich) vielen verschiedenen „Jetzten“.166 Wie verband er die beiden unterschiedlichen Perspektiven miteinander? Die Antwort auf diese Frage ist komplex, denn sie hängt davon ab, in welchem Sinn von verschiedenen nunc gesprochen wird: Mit der Aussage „Es gibt nicht nur einziges, sondern viele verschiedene Jetzte“ konnten unterschiedliche Sachverhalte bezeichnet werden (nicht nur bei Bonaventura, auch bei anderen Autoren), je nachdem ändert sich aber auch die Antwort, inwiefern dennoch von einer Einheit des nunc gesprochen werden kann. Im Folgenden sollen diese verschiedenen Ebenen der Vielheit des nunc betrachtet werden. 2.2.2.1
Das kontinuierlich fließende nunc
In einem ersten, wenn auch noch eher schwachen Sinn beinhaltet bereits die Vorstellung des kontinuierlich dahinfließenden (zeitlichen) Augenblicks den Gedanken der Vielheit
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motum et quod movetur et quod est, ita «nunc» tripliciter. [1] Est enim «nunc» quod multiplicatur in tempore, sicut ipsa sucessio motus … [2] Item est «nunc» quod est idem in tempore nec multiplicatur nisi secundum accidens … [Et est] «nunc» unum quod fluit et fertur in tempore. [3] Item est «nunc» quod non fluit, quemadmodum id quod est, inquantum huiusmodi, intelligitur manens (Nummerierung von mir eingefügt). Vgl. THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 3, 325 [Ed. cit., 115] (zitiert oben Anm. 161). Das Beispiel, mit dem man diesen Sachverhalt gern verdeutlichte, stammt aus ARISTOTELES, Physica IV, 11 [220b 20f.], wo „Koriskos im Lykeion“ und „Koriskos auf der Agora“ als Anfangs- und Endzustand der Bewegung dem dem Subjekt (ὅ ποτε ὄν) nach gleichbleibenden „Koriskos“ gegenübergestellt wurden. Vgl. z. B. THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 2, 322 [Ed. cit., 114], wo von der aequivocatio instantis berichtet wird; ein Vertreter dieser Auffassung war Aegidius Romanus (vgl. PORRO, Forme e modelli di durata, 31). So I Sent. 5, dub. 8, resp. [I, 121f.] zu der Aussage Deus semel genuit Filium: … semel potest dicere nunc temporis, vel nunc aeternitatis. Et si dicat nunc temporis, cum tempus habeat diversa nunc, notat intercisionem; si autem nunc aeternitatis, et illud nunc semper est et invariabile et unum, …; ähnlich I Sent. 44, 1, 4, resp. [I, 788b]: Ratio autem istius malae imaginationis est: cum enim imaginamur, aeternitatem in infinitum ante tempus fuisse, intelligimus eam quasi durationem extensam, in qua sunt diversa nunc, in quorum quolibet potuisset fieri tempus. In III Sent. 8, 2, 1, ad 6 [III, 193] wurden ordo sive distinctio als Eigenschaften des nunc temporis aufgezählt; IV Sent. 17, 2, 2, 2, sc. 2 [IV, 444] wurde nebenbei bemerkt: … pari ratione in alio nunc, et cum sint nunc infinita in tempore … (vgl. ARISTOTELES, Physica VI, 6 [237a 15f.]); schließlich ging die ganze Diskussion um die Transsubstantiation in IV Sent. 11, 1, 1, 5 [IV, 248–250] darum, wie die beiden Jetzte des ultimum esse panis und des primo esse corpus zu verstehen sind.
240
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
der nunc. Diese Vorstellung steht unter dem Paradigma der Ortsbewegung als einer kontinuierlichen Bewegung, die in gleicher Weise wie die durch einen Punkt erzeugte Linie verstanden wurde. Der genannten Einheit des mobile steht dort die Verschiedenheit der mutata esse gegenüber.167 Letztere ergeben sich dadurch, dass man jeweils einen bestimmten Moment aus der kontinuierlich zu denkenden Bewegungsfolge herausgreift (den Anfangs-, den End- oder einen beliebigen Zwischenpunkt).168 In dieser Situation, die die Analyse der Bewegung auf die Verhältnisse in der Zeit übertrug, konnte Bonaventura sowohl von der wesenhaften Einheit des nunc169 als auch von den unendlich vielen in der Zeit enthaltenen nunc sprechen.170 Wie aber ist eine so verstandene Vielheit der nunc näherhin vorzustellen? Der Sache nach befindet man sich hier in der oben beschriebenen „dynamischen Perspektive“171 auf das Verhältnis von Jetzt und Zeit. Doch zunächst gelangt man dabei nur zu zwei negativen Feststellungen: Zum einen vermisst man bei Bonaventura die bei den Zeitgenossen begegnenden polaren Formulierungen. So wird zwar die Einheit des nunc als eine Einheit secundum essentiam beschrieben, die Verschiedenheit aber wird (jedenfalls in diesem Kontext) nicht weiter charakterisiert als Verschiedenheit secundum rationem oder secundum esse.172 Zum anderen sprach der Doctor seraphicus in diesem Zusam-
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Vgl. oben S. 239; den Bezug zwischen nunc und mobile findet man bei Bonaventura in der bereits zitierten Bemerkung von II Sent. 2, 1, 2, 1, ad 3 [II, 65] wieder: nunc temporis mensurat ipsum mobile in quantum mobile. Vgl. z. B. noch einmal ALBERTUS MAGNUS, De IV coaequaevis 2, 5, 3, sol. [Ed. Paris. 34, 373] (zitiert oben S. 234, Anm. 143). Vgl. IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250a]: … quia unum est [scil. instans] secundum suam essentiam, cuius fluxus est continuus. IV Sent. 17, 2, 2, 2, sc. 2 [IV, 444]. – Sehr sprechend war in dieser Hinsicht auch die in Anm. 161, S. 237 zitierte Beschreibung bei ALBERTUS MAGNUS, Physica IV, 3, 7 [Ed. Colon. IV.1, 272, Z. 71–77]. Vgl. oben ab S. 231. In IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 249f.] tauchen diese Interpretationsmöglichkeiten zwar im Zusammenhang mit dem nunc auf (man beachte insbesondere die zweite, die vierte und die fünfte der dort vorgestellten positiones), jedoch ist der Zusammenhang ein anderer, denn es geht ja gerade nicht um eine kontinuierliche Bewegung, sondern um eine substantielle Veränderung, bei der Bonaventura gerade die Diskontinuität der beiden Zustände betonte. Dies möchte ich insbesondere auch für den Kontext des in Anm. 169 zitierten Satzes geltend machen. Dort heißt es [IV, 250a]: Propterea est quarta positio, quod est in alio et alio instanti secundum rem, eo modo, quo in tempore est ponere instantia multa; quia unum est secundum suam essentiam, cuius fluxus est continuus; unde non est ponere plura instantia, ut consequenter se habentia secundum se; sed tamen, secundum quod mensurat duas actiones discontinuas, est in eo duo signare. Die hier reklamierte reale Verschiedenheit der betrachteten zwei Augenblicke gegenüber der essenzialen Einheit des kontinuierlich fließenden Augenblicks ergibt sich hier ja (gemäß der Begründung) gerade aus der Diskontinuität; die hier angesprochene Weise, wie es in der Zeit viele (verschiedene) Augenblicke gibt, ist also gerade nicht mit dem Fluss des nunc zu verbinden, sondern mit der in der folgenden positio angesprochenen Vervielfältigung der nunc durch das zugrundeliegende verschiedene Sein.
Philosophische Klärungen
241
menhang auch nicht ausdrücklich davon, dass es verschiedene Bedeutungen oder Begriffe des nunc gibt (obwohl es der Sache nach seiner Darstellung der Verhältnisse sehr nahe liegt).173 Zu positiven Aussagen über das Verhältnis von Einheit und Vielheit des nunc gelangt man erst, wenn man den Begriff des Kontinuum betrachtet.174 Oben wurde ja bereits festgestellt, dass die Zeit zu den kontinuierlichen Größen innerhalb der Kategorie quantitas gezählt wurde.175 Im vorigen Abschnitt wurde zudem deutlich, dass das nunc als tota essentia temporis mit diesem Kontinuum wesentlich identisch ist.176 Insofern verwundert es in keiner Weise, wenn beide Größen, nunc und Kontinuum, dieselbe Polarität von Einheit und Vielheit aufweisen. Auch beim Kontinuum fällt zunächst der Einheitsaspekt ins Auge: So ist das Kontinuum als eine intrinsische Einheit zu begreifen, die im Hinblick auf die Zeit deren „kontinuierlichen“, d. h. ununterbrochenen, Fluss modelliert.177 Den Charakter dieser intrinsischen Einheit des Kontinuums begreift man, wenn man ihn im Gegensatz zu der lediglich extrinsischen Einheit des „Sich-Berührenden“ (contiguum/tangens) versteht:178 Von der räumlichen Vorstellung ausgehend sind es beim contiguum lediglich die Oberflächen zweier Körper (oder in einer Dimension: die Endpunkte zweier Linien), die in der Berührung eins werden179 – die Unterschiedenheit der
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Auf diese Art der Vervielfältigung des nunc wird in dem entsprechenden Abschnitt ab S. 250 näher eingegangen. Auch hier ist sehr genau abzugrenzen, denn sowohl in IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250a] als auch in II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 3 [II, 23] hieß es, dass das nunc auf zwei verschiedene Weisen begriffen werden kann (dupliciter accipi). In beiden Fällen aber geht es nicht um den hier betrachteten Kontext einer kontinuierlichen Bewegung. Im ersten Fall lautet die Alternative vielmehr in duratione propria – secundum communem mensuram. Bei dem zweiten Fall darf man sich durch die von Bonaventura gewählte Veranschaulichung (nämlich den Kreis und einen Punkt, während bzw. nachdem er gezeichnet wurde) nicht in die Irre führen lassen: Es geht um den Unterschied zwischen dem ersten nunc (im Moment der Erschaffung der Welt), das vor sich kein anderes nunc hat, und allen späteren nunc (nach der Schöpfung), die alle eine Zeit davor und danach kennen. Zum Verhältnis von Zeit, nunc und continuum vgl. auch die Überlegungen bei BIGI, La dottrina della temporalità, 103–111. Vgl. oben S. 206 mit Anm. 8 und Tabelle 5. Vgl. den Abschnitt ab S. 231; zum nunc als tota essentia temporis (II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23b]) vgl. auch oben ab S. 219, besonders Anm. 65 und 73; ähnlich BIGI, La dottrina della temporalità, 112: «la durata, come tale, è essenzialmente nunc». In diesem Sinn ist es auch zu verstehen, wenn die Dauer als esse non intercisum (vgl. oben Anm. 60, S. 217, aber auch Anm. 48, S. 214) und als continuatio in esse (vgl. S. 199, Anm. 161) begriffen wird. Vgl. hierzu auch BIGI, La dottrina della temporalità, 103f. Entsprechende Ausführungen finden sich bei ARISTOTELES, Physica V, 3 [227a 17 – 227b 2]; VI, 1 [231a 21–23]; das Gegensatzpaar von „kontinuierlich“ und „diskret“ wurde in Categoriae 6 [4b 20 – 5a 14] behandelt. Bonaventura zitierte hier öfters die aristotelische Sentenz contigua sunt, quorum ultima sunt simul (II Sent. 2, 2, 2, 4, arg. 2 [II, 82]; IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 249]; IV Sent. 49, 2, 2, 3, 1, resp. [IV, 1028b]), es handelte sich um die Definition aus Physica VI, 1 [231a 22f.]; die Auctoritates
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Körper bleibt trotz der Berührung bestehen. Umgekehrt setzt das continuum gerade ein im Ganzen einheitliches, d. h. ununterschiedenes Sein voraus.180 Dabei weist freilich das Kontinuum – und hier liegt der Schlüssel zur Vielheit – keinen so hohen Grad von Einfachheit auf, dass innerhalb seiner überhaupt keine Teile unterschieden werden könnten.181 Es ist gerade die Teilbarkeit, die das Kontinuum auszeichnet. Bonaventura (und andere) unterschieden dabei zwischen natürlicher und mathematischer Teilbarkeit:182 Während die im Denken vorgenommene mathematische Teilung bis ins Unendliche fortschreiten kann,183 kommt jeder tatsächlich vorgenommene natürliche Teilungsprozess nach endlich vielen Schritten an seine Grenze.184 Der natürlichen Teilung als aktueller, steht damit die mathematische Teilung als lediglich potentielle Teilung gegenüber.185 Doch weder bei dem einen noch bei dem anderen Teilungsprozess kommt man zu der das Kontinuum erzeugenden unteilbaren Einheit (z. B. des Punktes oder des Augenblickes).186 Dennoch kommt die Einheit der jeweiligen Größe auch im Rahmen der Teilbarkeit ins Spiel, allerdings in einer veränderten Perspektive: Man stellt sich nicht mehr (z. B.) den Punkt vor, der eine gegebene Linie erzeugt, sondern nimmt umgekehrt die Linie (das heißt das entsprechende Kontinuum) als gegeben und versteht den Punkt als die mögliche Grenze einer Teilung der Linie, an der die beiden Teile zusammenstoßen und dadurch sowohl getrennt als auch verbunden werden.187 Da nun die Anzahl der (mathematice) möglichen Teilungsstellen unendlich
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Aristotelis, Physica V, nr. 158f. [PhMed 17, 153] gaben sie folgendermaßen wieder: Continua sunt, quorum ultima sunt unum, ut cutis et caro. Contigua sunt, quorum ultima sunt simul, ut cutis et camisia. – Bonaventura selbst erklärte in IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250a] zur Berührung der Endpunkte von zwei Linien: … in illa contiguatione punctus substratus non fit duo, sed duo puncta uniuntur in uno, nec tamen cedunt in unum propter distinctionem corporum, in quibus sunt; ähnlich auch IV Sent. 49, 2, 2, 3, 1, resp. [IV, 1028b]. Vgl. hierzu bei BONAVENTURA, II Sent. 12, 2, 1, sc. 4 [II, 303]: … continuitas venit ab unitate materiae secundum esse (es geht in diesem Fall um die Frage, ob himmlische und irdische Materie ein einheitliches Sein besitzen und sie zusammen ein Kontinuum bilden können). Und insofern konnte BONAVENTURA, Trin. 3, 2, ad 7 [V, 77] feststellen, quod punctus semper simplicior continuo, et unitas numero. Vgl. IV Sent. 49, 2, 2, 1, 2, ad 3 [IV, 1024]: Quod ergo dicitur: omne continuum divisibile; intelligendum est de divisione mathematica, non de divisione naturali, de qua hic opponitur. Sic enim exponit Anselmus, quod illud intelligitur secundum intellectum, non secundum actum. Vgl. II Sent. 35, 2, 3, resp. [II, 833b]: Nam quamvis continuum sit divisibile in infinitum … Vgl. IV Sent. 10, 1, 1, 5, ad 2 [IV, 225]: … in divisione continui est status naturalis, quantum ad partes secundum formam. Vgl. II Sent. 34, 2, 1, ad 3 [II, 811]: … dicendum, quod status est secundum actum, sed non oportet, quod sit status secundum potentiam, ut non possit esse ultra progressus. Nam etsi in rebus creatis non contingat invenire actu infinitum, contingit tamen reperire infinitum in potentia, sicut patet in numero per appositionem et in continuo per divisionem. Vgl. hierzu auch noch einmal die oben (ab S. 229) beschriebenen elementaren Eigenschaften des nunc. Vgl. hierzu Anm. 125, S. 230, besonders das Zitat aus ARISTOTELES, Categoriae 6. Den entscheidenden Unterschied zum contiguum sehe ich darin, dass im Fall des continuum die Teile später
Philosophische Klärungen
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groß ist, kommt man zu der Idee von den unendlich vielen in dem Kontinuum enthaltenen unteilbaren Einheiten (d. h. Punkten in der Linie, Augenblicken in einem gegebenen Zeitraum).188 Wie aber die Teilung eine rein gedankliche ist, so ist die hier betrachtete Vielheit der Punkte und der nunc ebenfalls eine potentielle (anderenfalls wäre man wieder bei dem Problem eines aktuell Unendlichen).189 Wie sich das nunc zu dem von ihm erzeugten Zeitkontinuum verhält, wird noch einmal deutlicher, wenn man kurz auf den nach diesem Exkurs folgenden Abschnitt (ab S. 250) vorausblickt. Dort findet man nämlich ein Beispiel, wo die Kontinuität gerade nicht gegeben ist und deswegen nach damaligem Verständnis nicht nur von verschiedenen Zeiten, sondern auch von verschiedenen nunc gesprochen werden musste.190 Dies ist der Fall bei einer substantiellen Veränderung, die Bonaventura im Zusammenhang mit der Wandlung der eucharistischen Gaben beschrieb:191 Die Zeit des Brot-Seins (esse panis) und des Leib-Christi-Seins (esse corpus) bilden hier zwar jeweils für sich ein Kontinuum, aber – obwohl sie unmittelbar aufeinanderfolgen – lassen sie sich zusammengenommen gerade nicht als ein einziges Kontinuum begreifen und folglich bezeichnen die beiden nunc des ultimum esse panis und des primum esse corpus zwei nicht nur virtuell (secundum virtutem) oder dem Verständnis nach (secundum rationem),
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sind als der die Teile abgrenzende Punkt, denn sie ergeben sich erst durch die Wahl dieses oder jenes Punktes (bzw. Augenblicks). Beim contiguum hingegen sind von vorneherein zwei verschiedene Teile gegeben und der Berührungs- oder Teilpunkt kann nicht frei gewählt werden: Er liegt dort, wo die beiden verschiedenen Teile zusammenkommen. Vgl. IV Sent. 17, 2, 2, 2, sc. 2 [IV, 444] (zitiert in Anm. 166, S. 239). Man vgl. S. 232, besonders den Schluss der in Anm. 137 zitierten Stelle aus THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 2, 320 [Ed. cit., 113]. Bonaventura stellte in I Sent. 37, 2, 2, 2, ad 3.4 [I, 661b] nebenbei fest: … cum continuum sit finitum actu et infinitum in potentia … Dasselbe ausführlicher in I Sent. 43, 1, 3, ad 6 [I, 773]; ähnlich auch III Sent. 14, 2, 2, sc. 5 [III, 310]. – Albertus Magnus betrachtete diesen Aspekt systematischer und brachte in Physica IV, 3, 12 [Ed. Colon. IV.1, 283, bes. Z. 44–70] den kontinuierenden Aspekt des nunc mit dessen Aktualität in Verbindung, den divisiven dagegen mit seiner Potentialität. Diese verband er schließlich mit der Einheit und Vielheit des nunc: … quia cum sint duo actus ipsius nunc, unus, qui est continuare, et alius, qui est dividere, continuat quidem ipsum nunc, prout accipitur actu existens in tempore … Actus autem, qui est dividere non est ipisus nunc nisi in potentia accepti, et hoc duobus modis, aut in comparatione ad nostrum intellectum, scilicet inquantum nos per ipsum dividimus tempus, aut in comparatione ad aliquem motum inferiorem, qui est in tempore et terminatur ad nunc aliquod temporis. … Inquantum autem huiusmodi est dividens, … aliud et aliud est in tempore, propter hoc, quod partes temporis non permanent. Inquantum autem copulat, semper est idem in toto tempore sicut et unitas ipsius quod fertur … – Zum nunc als continuans bei Bonaventura vgl. oben S. 230, insbesondere IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 249b] (zitiert in Anm. 125, S. 230). Wobei eigens noch einmal zu betonen ist, dass diese Verschiedenheit der nunc anders zu begreifen ist, als die – wenn man so will intrinsische – Verschiedenheit des einen nunc, das durch seinen kontinuierlichen Fluss eine bestimmte Dauer erzeugt (entsprechend dem dynamischen Bild des Punktes, der durch seine Bewegung eine Linie erzeugt). Es geht allgemeiner gesprochen darum, dass sich etwas instantan, d. h. abrupt und ohne sukzessiven Übergang, in etwas anderes verwandelt.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
sondern real verschiedene nunc, die jeweils der eigenen Dauer des Brot-Seins bzw. des Leib-Seins angehören.192 Derselbe Grundgedanke zeigt sich bei jedem Entstehen oder Vergehen einer Sache: Es markiert einen Einschnitt (intercisio), der das kontinuierliche Sein dieser Sache in der einen oder anderen Richtung unterbricht und so auch deren Eigen-Zeit und das ihr zugrundeliegende „Eigen“-nunc begrenzt.193 – Zum Zweiten ergibt sich eine solche Unterbrechung des Zeitkontinuums auch, wenn die zugrundeliegende Bewegung absetzt oder unterbrochen wird. Umgekehrt heißt das: Die Besonderheit des mit dem primum mobile verbunden Zeitmaßes ergibt sich aus dessen niemals absetzender, absolut kontinuierlicher Kreisbewegung. Diese steht im Gegensatz zu den in aller Regel nicht-kontinuierlichen Bewegungen des sublunaren Bereichs und garan-
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Vgl. IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 249f.], besonders die Feststellungen in der Opinio 4 (… in nullo continuo nec esse nec intelligi nec signari possunt vere duo indivisibilia, ipso manente continuo, quae se habeant consequenter, alioquin intelligitur de necessitate ut multiplicatum) und in der Opinio 5 (zitiert in Anm. 54, S. 215) den Passus dort: non est signare duo instantia consequenter se habentia in continuo, manente continuo; unde quodlibet horum per se signari potest, sed duo simul impossibile est signare. Et sic patet, quod in alio et alio instanti habet esse panis et corpus secundum rem, et secundum quod est mensura realis et propria; licet secundum mensuram communem duo instantia immediate signare non contingat. Die letzte Bemerkung des eben zitierten Passus geht dabei darauf ein, dass man sehr wohl ein die beiden Zustände des Brot-Seins und des Leib-Seins übergreifendes, „paralleles“ Kontinuum finden kann (er nennt unter anderem das durch die Himmelsbewegung vorgegebene Zeitkontinuum). Dieses stellt aber gegenüber den beiden anderen ein drittes Kontinuum dar (dessen nunc sich in dem Beispiel mit der Bewegung des primum mobile verbindet); dort entsprechen die beiden Augenblicke des ultimum esse panis und des primum esse corpus dann einem einzigen Augenblick, und die wesentliche Eigenschaft des Unmittelbar-aufeinander-Folgens (consequenter se habere) geht dabei verloren, denn in einem einzelnen Kontinuum – das zeichnet das Kontinuum gerade aus – können niemals zwei verschiedene (Zeit-)Punkte gefunden werden, die unmittelbar aufeinanderfolgen; zwischen verschiedenen Punkten vielmehr liegt immer Zeit (oder im Raum-Kontinuum: eine Strecke). Vgl. den hier sc. 4 [IV, 249a] und in I Sent. 37, 2, 2, 3, arg. 1 [I, 662] von Bonaventura benutzen aristotelischen Satz: inter quaelibet duo instantia cadit tempus medium. – Vgl. dazu ARISTOTELES, Physica (transl. vetus) VI, 1 [Aristoteles latinus VII.1.2, 217, Z. 8f.; 231b 9f.] punctorum autem semper medium est linea et ipsorum nunc tempus est; sowie Auctoritates Aristotelis, Physica VI, nr. 169 [PhMed 17, 154]: Inter quaelibet puncta signata in continuo est dare lineam incontinuam, id est mediam. – Denselben Zusammenhang von Kontinuum und Sein (aber von der entgegengesetzten Richtung her aufgerollt) offenbart auch die Frage nach der Identität von irdischem Leib und Auferstehungsleib in IV Sent. 43, 1, 4, ad 4 [IV, 890b], dort wird gegen die Feststellung der Identität argumentiert: Quomodo potest hoc intelligi? Cum istae operationes [scil. generationis et reformationis] sint discontinuae, et esse rei sit discontinuum … si ergo esse discontinuatur, ergo est aliud et aliud. Vgl. den in Anm. 54, S. 215 zitierten Passus aus IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250]; dasselbe gilt in I Sent. 5, dub. 8, resp. [I, 121f.] (zitiert in Anm. 166, S. 239) hinsichtlich der (zeitlichen) Geburt Jesu. – Umgekehrt wurde bereits festgestellt, dass die Dauer gerade ein esse non intercisum (also ein Kontinuum mit nur potentiell, nicht real verschiedenen nunc) besagt, vgl. hierzu Anm. 60, S. 217.
Philosophische Klärungen
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tiert die Einheit dieses zeitlichen Maßes.194 Alternativ stellt für Bonaventura auch die secundum essentiam genommene eine Zeit – die Zeit „an sich“, unabhängig von einer bestimmten Bewegung oder einem bestimmten Gegenstand, der dauert, im Gegensatz zu den vielen secundum esse verstandenen und mit der Dauer der einzelnen Dinge verbundenen Eigenzeiten – ein vergleichbares einheitliches Kontinuum dar.195 Als Fazit aus dem Gesagten bietet sich folgende Sichtweise an: Unter der Generalvoraussetzung, dass tatsächlich ein einheitliches Zeitkontinuum vorliegt (was in der Regel eine Bedingung an die zugrundeliegende Bewegung darstellt – „Bewegung“ hier im allgemeinen aristotelischen Sinn, d. h. Entstehen und Vergehen einschließend, verstanden), verbindet Bonaventura mit diesem Kontinuum zunächst ein einziges nunc, das die essentia dieses Kontinuums darstellt und das dieses durch seinen Fluss erzeugt. Nimmt man dieses Kontinuum als gegeben so erlaubt dessen intrinsische Einheit dabei zugleich eine (ins Unendliche gehende) gedankliche Teilung. Bei diesem Prozess erscheint das nunc als mögliche Grenze einer solchen Teilung, und man gelangt zu einer potentiellen Vielheit von „Jetzten“, die jeweils einer Momentaufnahme dieses Flusses entsprechen. Der hierin enthaltenen Perspektivenwechsel bedeutet dabei im Grunde genommen den Übergang zu einem anderen Begriff des nunc. Doch dieser Sachverhalt wurde von Bonaventura (so weit ich sehe) im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Autoren nirgends thematisiert. Es muss also offenbleiben, ob er kommentarlos die beiden Begriffe nebeneinander verwendet oder ob er stillschweigend davon ausgeht, dass sie im Letzten dasselbe bezeichnen. 2.2.2.2
Exkurs: continuum und successio
An dieser Stelle bietet es sich an, zur Verdeutlichung des eben Gesagten ein weiteres Kennzeichen der Zeit, die successio, in den Blick zu nehmen. Mit Pasquale Porro ist dabei festzuhalten, dass die Eigenschaften continuus und successivus seit Aristoteles zwei voneinander unabhängige Konzepte darstellten.196 Die Qualität „kontinuierlich“ 194
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Darum verwies Bonaventura in IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250b] auf die communis mensura, quae est tempus continuum, non intercisum, ut est mensura motus primi mobilis. Sehr erhellend ist in dieser Hinsicht auch der oben (in Anm. 189, S. 243) zitierte Gedanke von Albertus Magnus, der auf die divisive Kraft des (mit der Bewegung des primum mobile verbundenen) nunc hinsichtlich eines motus inferior hinwies. Vgl. erneut IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250] (zitiert in Anm. 226, S. 254). – Dadurch wird auch verständlich, dass das nunc nur dann die tota essentia temporis darstellt (vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23], zitiert in Anm. 65, S. 218, und Trin. 5, 1, ad 14 [V, 92], zitiert Anm. 73, S. 219), wenn man auch die Zeit als eine einzige begreift, dazu aber muss man sie secundum essentiam betrachten. – Zur Einheit der Zeit vgl. den entsprechenden Abschnitt ab S. 266, zur hier vorliegenden Sichtweise der secundum essentiam genommenen Zeit vgl. oben S. 221. Vgl. PORRO, Forme e modelli di durata, 26f. – Die Unabhängigkeit von kontinuierlich und sukzessiv zeigte sich bereits oben im Fall der sukzessiven, aber nicht kontinuierlichen Zeit (tempus proprie versus tempus magis proprie, vgl. die Ausführungen in dem Abschnitt ab S. 179). Weiter kann man an die Linie denken, die im Gegensatz zur Zeit als ein continuum permanens vorgestellt
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
wurde als Gegensatz zu „diskret“ verstanden, während successivus je nach Bedeutungsschattierung zwei verschiedene Gegenüber besaß: So konnte es zum einen als Antinomie zu „instantan“ verstanden werden und kennzeichnete dann einen langsam und in mehreren Schritten erfolgenden Prozess im Gegensatz zu einer keine Zwischenstufen kennenden, sprunghaften Veränderung.197 Das grundlegendere Verständnis jedoch, von dem sich die eben beschriebene erste Bedeutung ableitet, sieht successivus als das Gegenteil von permanens an.198 „Sukzessiv“ bezeichnet so jene, besonders mit der Zeit verbundene Eigenschaft einer Sache, ihr Sein nicht in einem einzigen Akt zu besitzen, sondern es in einem durch prius et posterius geordneten Nacheinander zu verwirklichen. Die durch das prius et posterius geordneten Teile bestehen nicht gleichzeitig (wie bei der logischen Ordnung der Zahlen), sondern der spätere Zustand löst den früheren ab.199 Insofern ist in dem Prädikat „sukzessiv“ eine mindestens potentielle Vergänglichkeit mitbedeutet.200 Zugleich ist die so verstandene Sukzessivität das Gegenteil eines zeitlich – nicht logisch – verstandenen simul.
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wurde (vgl. z. B. THOMAS VON SUTTON (?), De instantibus 2, 320 [Ed. cit., 113] (zitiert in Anm. 137, S. 232). Bei Bonaventura etwa in IV Sent. 11, 1, 1, 5, bes. arg. 2 [IV, 248–250], IV Sent. 16, 1, 3, 1, bes. resp. [IV, 390–392] oder in I Sent. 37, 2, dub. 3, resp. [I, 665] (zitiert in Anm. 308, S. 270); zu der Verbindung mit den Begriffen motus bzw. mutatio vgl. oben Anm. 79, S. 182. Bei ARISTOTELES, Categoriae (transl. Boethii) 6 [Aristoteles latinus I.1.5, 14f.; 5a 15–37] war dies eine weitere Unterscheidung innerhalb der Kategorie der quantitas: Bei der Bestimmung der Größen, die nur eine Ordnung (ordo), aber keine Lage (positio) aufweisen (vgl. oben Anm. 8, S. 206), nämlich Zeit, Zahl und Rede, wies er darauf hin, dass die Teile der Zeit und der Rede schon deswegen keine Lage zueinander haben können, weil ihre Teile keinen Bestand haben. So stellt er diese beiden Größen den „permanenten“ (permanens/ὑποµένων) Größen gegenüber, auch wenn er sie noch nicht ausdrücklich als sukzessive (successivum) Größen bezeichnete. Bei Bonaventura findet man die Entgegensetzung successivus – permanens etwa in II Sent. 2, 1, 1, 3 [II, 61–63] bei der Frage, ob das aevum eine mensura permanens oder eine mensura successiva darstellt. Vgl. auch ebd., arg. 5 [II, 61], wo es heißt: omne successivum reducitur ad permanens (man beachte hier auch die Anm. 4 der Quaracchi-Ausgabe sowie die in ad 5 [II, 63] gegebene Antwort Bonaventuras); ausdrückliche Hinweise auf die Zeit als sukzessive Größe findet man in I Sent. 30, dub. 2, resp. [I, 527] und II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23] (beide zitiert Anm. 70, S. 286). Vgl. etwa die Feststellung von II Sent. 2, 1, 1, 3, arg. 6 [II, 61]: ubi est prius et posterius, ibi necessario cadit aliquid novum, quod de posteriori fit prius, et per hoc lapsus in praeteritum, et aliquid in vetus. Dies wird besonders im Vergleich mit der aeternitas deutlich, etwa Trin. 5, 1, ad 11 [V, 92]: Ad illud quod obiicitur, quod aeternitas dicit simultatem; dicendum, quod simultas non dicitur ibi per positionem condurationis et coëxistentiae diversorum durabilium, sed potius per privationem successionis in continuitate rei durantis; unde tota simul dicitur aeternitas, quia in ea nihil alteri prorsus succedit, non propter hoc, quod in ea diversa et varia simul existant. Vgl. die unten folgenden Ausführungen über die Sukzessivität als Charakteristikum der geschaffenen Dauer. Die oben gemachte Einschränkung, dass es sich auch um eine nur potentielle Vergänglichkeit handeln könne, ist im Hinblick auf das aevum zu treffen.
Philosophische Klärungen
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Das prius et posterius – das implizit eine Teilbarkeit und insofern auch die ähnlich bereits beim Kontinuum festgestellte intrinsische Vielheit beinhaltet201 – ist für das Sukzessive charakteristisch.202 Dadurch kommen auch bei diesem Zugang die Gegensätze von Aktualität und Potentialität wieder ins Spiel, insofern die von der successio geprägte Dauer etwas Potentielles darstellt im Gegensatz zur Aktualität dessen, was dauert, das heißt, der der Dauer zugrundeliegenden Substanz.203 Beides zusammen (die in der successio mitbedeutete Vielheit und die Potentialität) macht die successio zum Kennzeichen der geschaffenen Dauer.204 Insbesondere ist damit ausgesagt, dass nicht nur die Zeit, sondern auch das aevum als geschaffene Dauer eine successio aufweist. Diese ist allerdings von einer anderen Art als die zeitliche successio, denn im Gegensatz zur zeitlichen successio bedeutet diese Art der Aufeinanderfolge keine Veränderung, kein stetes Neuwerden und Vergehen des zugrundeliegenden Seins. Das aeviterne Sein verändert sich nicht wie das zeitliche Sein und einmal ins Dasein getreten, kennt es auch kein Ende. Als kontingentes Sein bedarf es dennoch einer beständigen Fortsetzung (continuatio, extensio) seines Seins – das heißt seiner Dauer – durch die göttliche Macht.205 201 202
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Wieder im Gegenteil zur simultas, vgl. noch einmal Trin. 5, 1, ad 11 [V, 92]: Unde simultas nihil aliud dicit, quam praesentialitatem summam et simplicem et indivisam. Vgl. die Argumentation von II Sent. 2, 1, 1, 3, arg. 5 [II, 61], die darauf hinauslief: quod caret priori et posteriori … caret et successivo, wobei dort durch den Hinweis auf das prius et posterius permanens auch deutlich wird, dass „sukzessiv“ tatsächlich mehr besagt als den Besitz einer Früher-Später-Ordnung (die beiden Begriffe sind also nicht synonym). Vgl. BIGI, La dottrina della temporalità, 114f., bes. 115: «L’essere della durata creata è possibile, mentre l’essere della realtà durante è attuale». Hierzu BONAVENTURA, I Sent. 8, 1, dub. 5, resp. [I, 163]: Alii dicunt, quod in omni duratione creata, quoniam differt a durante et habet esse possibile, est prius et posterius; sed distinguunt in priori et posteriori [scil. in aevo et in tempore]. Quoddam enim est quod dicit durationis successionem, quoddam successionis durationem cum variatione et innovatione. Primum est in aevo, secundum in tempore; et hoc vult Anselmus expresse, et hoc credo probabilius. – Was den Bezug auf Anselm angeht, siehe Anm. 207 unten. Vgl. erneut I Sent. 8, 1, dub. 5, resp. [I, 163] in Anm. 203, ferner II Sent. 2, 1, 1, 3, sc. 1 [II, 61]: … omnis ergo creatura in sui esse habet praeteritionem sive fuisse et fore: ergo habet in sui duratione successionem, schließlich ebd., resp. [II, 62f.], wo geschlossen wurde [II, 63]: Solus igitur Deus, qui est actus purus, est actu infinitus, et totum esse et possessionem sui esse simul habet. – Die Erkenntnis, dass jede geschaffene Dauer sukzessiv ist, wurde schließlich auch in IV Sent. 16, 1, 3, 1, resp. [IV, 391a] verwendet: Si quantum ad durationem, cum duret longo tempore, sic dico quod est successiva … Anders gesagt: Da es nicht reiner, sondern mit Potentialität vermischter Akt ist, ist ein Ende, eine Auflösung zu jedem Zeitpunkt möglich. Und noch einmal anders gesagt: Im Moment seiner Erschaffung empfing das Geschaffene zwar sein ganzes substantiales Sein, aber nur den Anfang seiner Dauer, deren Fortsetzung ist in der creatio continua ein eigener Akt. Vgl. das Scholion zu II Sent. 2, 1, 1, 3 (Opp. II, 63). – Anders als Bonaventura vertrat der Doctor angelicus in dieser Frage die Mehrheitsmeinung, vgl. noch einmal das Scholion sowie Pasquale PORRO, Aevum, trad. par Olivier Boulnois, in: Claude Gauvard / Alain de Libera / Michel Zink (Hrsg.), Dictionnaire du Moyen Âge, Paris 2002, 12–14, bes. 13 unten. In seinem Konzept kennt das aevum gerade kein prius et posterius und keine successio, es ist unteilbar und tota simul wie die Ewigkeit. Vgl. THOMAS VON AQUIN, II Sent. 2, 1, 1 [Ed. cit. II, 61–65] und S. th. I, 10, 5, resp. [Ed. Leonina IV, 100],
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Ebendies macht diese besondere Art der successio aus. 206 Es ist ein im Kern auf Anselm zurückgehender Gedanke, der hier die Vorlage für den Doctor seraphicus geliefert haben dürfte:207 Geschaffenes Sein ist nie reiner Akt, es ist immer auch vorstellbar, dass es nicht ist. Die darin zum Ausdruck kommende Vermischung mit Potentialität gilt nicht nur in Bezug auf den Anfang dieses Seins (dass es später oder früher oder gar nicht zum Sein kommt), nein, es ist immer auch das Ende eines solchen Seins denkbar (faktisch
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wobei er in der Summa insofern zu Zugeständnissen bereit war, dass für ihn dort das aevum (genauer: das aeviterne Sein) zwar an sich (in se) kein prius et posterius kennt, aber doch eine gewisse Verbindung dazu aufweist: Quaedam vero recedunt minus a permanentia essendi, quia esse eorum nec in transmutatione consistit, nec est subiectum transmutationis: tamen habent transmutationem adiunctam, vel in actu vel in potentia. Sicut patet in corporibus caelestibus, quorum esse substantiale est intransmutabile; tamen esse intransmutabile habent cum transmutabilitate secundum locum. Et similiter patet de Angelis, quod habent esse intransmutabile cum transmutabilitate secundum electionem, quantum ad eorum naturam pertinet; et cum transmutabilitate intelligentiarum et affectionum, et locorum suo modo. Et ideo huiusmodi mensurantur aevo, quod est medium inter aeternitatem et tempus. Esse autem quod mensurat aeternitas, nec est mutabile, nec mutabilitati adiunctum. – Sic ergo tempus habet prius et posterius: aevum autem non habet in se prius et posterius, sed ei coniungi possunt: aeternitas autem non habet prius neque posterius, neque ea compatitur. – Vgl. hierzu auch unten S. 309 sowie oben S. 199. II Sent. 2, 1, 1, 3, resp. [II, 62b–63a]: in aevo est ponere prius et posterius, et est ponere aliquam successionem, aliam tamen successionem quam in tempore. In tempore enim est successio cum variatione, et prius et posterius cum inveteratione et renovatione. In aevo vero est prius et posterius, quod dicit durationis extensionem, quod tamen nullam dicit variationem nec innnovationem. … Quod si forte quaeratur: quomodo potest esse prius et posterius sine novitate circa esse; dicendum, … in motu, et in esse rei mobilis aliqua proprietas habita amittitur, vel non habita acquiritur; sed in esse rei aeviternae quod primo datum est per continuam Dei influentiam continuatur. Nulla enim aevi creatura est omnino actus, nec aliqua eius virtus, unde continue indiget divina virtute cooperante. Ideo, etsi esse totum habeat, tamen continuationem esse non habet totam simul, et ideo est ibi successio sine aliqua innovatione circa esse vel proprietatem absolutam; tamen ibi est vera continuatio, respectu cuius creatura habet esse quodam modo in potentia, ac per hoc habet successionem. – Vgl. ferner das in diesem Zusammenhang gebrauchte Bild des Licht- bzw. Wasserstrahls (zitiert in Anm. 163, S. 200) und die Erklärung ebd., ad 7 [II, 63] (zitiert Anm. 217, S. 130). Die entscheidenden Passagen bei Anselm – auf die sich I Sent. 8, 1, dub. 5, resp. [I, 163] bezog – findet man in Proslogion 20, in: Monologion. Proslogion, éd. par Michel Corbin (= L’œuvre d’Anselme de Cantorbéry 1), Paris 1986, 56–205, hier 272 [115], Z. 20–25: Qualiter enim [scil. tu, Deus,] es ultra ea, quae finem non habebunt? … An etiam quia illa cogitari possunt habere finem, tu vero nequaquam? Nam sic illa quidem habent finem quodam modo, tu vero nullo modo. Dann ebd. 22 [Ed. cit., 274 [116], Z. 17–20]: Et quod incepit a non esse et potest cogitari non esse, et nisi per aliud subsistat redit in non esse … id non est proprie et absolute. Vgl. schließlich Monologion 28, in: Monologion. Proslogion, éd. par Michel Corbin (= L’œuvre d’Anselme de Cantorbéry 1), Paris 1986, 236–287, hier 122 [46], Z. 16–19: Deinde, cum omnia quaecumque aliud sunt, quam ipse [scil. Deus], de non esse venerint ad esse non per se sed per aliud; et cum de esse redeant ad non esse quantum ad se, nisi sustineantur per aliud: quomodo illis convenit simpliciter aut perfecte sive absolute esse … Gleichzeitig war damit wiederum der Bogen zur creatio continua geschlagen.
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kann ein solches Sein trotzdem ohne Ende existieren). Diese Denkmöglichkeit wäre nicht gegeben, wenn geschaffenes Sein sich, nachdem es einmal ins Dasein getreten ist, in einem unteilbaren simul selbst besäße. Um also den besagten gedanklichen Einschnitt setzen zu können, so Bonaventuras Argumentation, muss irgendeine Form von successio gegeben sein, auch wenn sie sich in keinerlei Eigenschaftsveränderungen anzeigt. Kontinuität und Sukzessivität sind beides Eigenschaften der Zeit.208 Ihre Verwandtschaft zeigt sich darin, dass beide auf eine Potentialität der Zeit verweisen, die einen Abfall von der (Selbst-)Identität, die Vielheit und Verschiedenheit bedeutet: Im Falle der Kontinuität sind es die in den verschiedenen Jetzten eingefangenen Momente des Zeitflusses, im Falle der Sukzessivität sind es die einander ablösenden Teile der Zeit. Die successio betont dabei mehr als die continuitas die Vergänglichkeit der Zeit und die implizite Abhängigkeit alles geschaffenen Seins von Gott. Darüber hinaus legt die Vorstellung von der successio vor allem nahe, dass sich die Zeit aus einer Vielzahl von Teilen zusammensetzt, das Einheitsmoment kommt dabei kaum in den Blick. Die letztere Beobachtung verbindet sich mit der Erkenntnis, dass die kontinuierliche Zeit zwar sukzessiv ist, dass sie aber nicht als successio der nunc verstanden werden kann. Es sind nämlich die partes temporis (Jahre, Stunden, Sekunden …), nicht aber die nunc die hier aufeinanderfolgen.209 Dies gilt unabhängig von dem zugrundegelegten Verständnis des nunc, denn entweder man betrachtet es als eine der vielen möglichen Teilungsstellen des Kontinuums, dann lassen sich zwei verschiedene Augenblicke zwar nach Früher und Später anordnen, aber aufgrund der unendlichen Teilbarkeit des Kontinuums folgen diese niemals unmittelbar aufeinander, sondern dazwischen liegt notwendig immer Zeit, und damit unendlich viele andere nunc.210 Die Kontinuität selbst steht hier der Sukzessivität der nunc im Wege. Oder aber, das nunc wird als der eine „Erzeuger“ des Zeitkontinuums gesehen, dann schließt die Einzigkeit des nunc von vorneherein jede successio aus. Die Selbstidentität des mobile verkörpernd, steht das so verstandene nunc über der successio.211 Bei dieser Betrachtungsweise bildet es – obgleich als zeitliches nunc fließend – das sich durchhaltende Moment, Ghisalberti nannte
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Die Kontinuität der Zeit wurde dabei unter den europäischen Gelehrten des 13. Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen akzeptiert, dass sie bei weitem keine Selbstverständlichkeit war, zeigt ein Seitenblick auf die islamische Tradition, aber auch auf Isidors oder Bedas Vorstellungen von Zeitatomen (vgl. hierzu etwa PORRO, Forme e modelli di durata, 33f.). So, wie seit Aristoteles immer wieder betont wurde, dass sich die Zeit, das Zeitkontinuum nicht aus den nunc zusammensetzt, vgl. oben die elementaren Eigenschaften des nunc, S. 229. Bonaventura wurde nicht müde, diesen schon von Aristoteles festgestellten Sachverhalt zu betonen, vgl. die zitierten Stellen in Anm. 192, S. 244. Vgl. GHISALBERTI, La concezione del tempo, 754: «L’istante, considerato in sé, resta al di sopra della successione perché ne rappresenta l’attualità.»
250
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
es die „ontologische Persistenz“,212 die als fester Hintergrund notwendig ist, um in der Folge von successio sprechen zu können. 2.2.2.3
Die Vervielfältigung des nunc mit dem Träger
Die bisherigen Überlegungen zum nunc gingen davon aus, dass die Zeit einen kontinuierlichen Fluss bildet, dessen Träger das nunc ist. Im Hintergrund stand dabei das Paradigma der ebenso kontinuierlichen (örtlichen) Bewegung eines Seienden, an dem dieser Zeitfluss sichtbar wurde.213 Im Verständnis des Kontinuums selbst ist dabei die Polarität von Einheit und Vielheit des nunc angelegt. Je nachdem, unter welcher Perspektive man darauf blickte, konnte das nunc sowohl als die eine sich durchhaltende Substanz dieses Flusses wie auch als eine der vielen möglichen Momentaufnahmen von den Zuständen dieses Flusses gesehen werden. Im Folgenden nun wird eine andere Situation in den Blick genommen, die noch einmal zu einem anderen Verständnis der Vielheit der nunc führt. Bonaventura wählte dafür – wie könnte es anders sein – ein theologisches Beispiel, nämlich die eucharistische Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi.214 Die für unseren Zusammenhang interessante Frage Utrum haec conversio sit subita vel successiva betrachtet das Verhältnis der beiden nunc des ultimum esse panis und des primum esse corporis. Handelt es sich dabei um zwei verschiedene, aufeinanderfolgende nunc, oder liegt hier auf irgendeine Weise nur ein einziges nunc vor? Die Antwort des Doctor seraphicus lässt sich, wie oben bereits bemerkt,215 auf jede Form der substantiellen Veränderung, auf jedes Werden und Vergehen anwenden. Entscheidend ist allein der diskontinuierliche Übergang zwischen den Zuständen des Davor und Danach. Das Urteil Bonaventuras fällt zunächst recht lapidar aus, ohne weitere Erklärung heißt es: haec conversio est subito et in instanti.216 Erst in der Erwiderung auf das vierte Contra-Argument wird dem Leser auseinandergesetzt, dass dabei der Moment des ultimum esse panis und der des primum esse corporis nicht einfachhin zusammenfallen, sondern dass es auch hier auf das zugrundegelegte Verständnis der Begriffe und des Bezugsrahmens ankommt: Dementsprechend entscheidet sich nämlich, ob man von zwei verschiedenen (in alio et alio instanti) Augenblicken sprechen wird, oder nur von einem einzigen (in eodem instanti).217 212
213
214 215 216 217
Vgl. ebd.: «Dire prima e poi … significa ammettere una successione, un fluire che però ha senso solo se è in riferimento a qualcosa che permane, e cioè all’istante o durata, alla persistenza ontologica del mobile». Allgemeiner kann nicht nur die Ortsbewegung, sondern jede kontinuierliche akzidentelle Veränderung, ja sogar die Ruhe eines Gegenstandes zugrunde gelegt werden, Letzteres bedürfte freilich zusätzlicher Überlegungen, auf die hier nicht eingegangen werden soll. Siehe IV Sent. 11, 1, 1, 5 [IV, 248–250]. Siehe S. 243. IV Sent. 11, 1, 1, 5, resp. [IV, 249]. Die lateinischen Bezeichnungen sind dem Argument (sc. 4 [IV, 249]) entnommen.
Philosophische Klärungen
251
In seinem Ringen um das rechte Verständnis betrachtete Bonaventura zunächst vier falsche Antworten, bevor er in einem fünften Anlauf die seiner Meinung nach richtige Sicht der Dinge präsentierte. Im Verlauf der Argumentation werden dabei folgende drei Opiniones hinsichtlich des Verhältnisses der beiden nunc des ultimum esse panis und des primum esse corporis abgelehnt (die erste Opinio versucht die Lösung auf einem anderen Weg und wird deswegen hier nicht angeführt):218 2) est in eodem instanti secundum substantiam, differente secundum rationem 3) est in uno instanti secundum rem, sed plura sunt secundum virtutem 4) est in alio et alio instanti secundum rem, eo modo, quo in tempore est ponere instantia multa
Die Meinungen (2) und (3) gehen dabei beide davon aus, dass wir es in dem betrachteten Fall real nur mit einem einzigen nunc zu tun haben, sie unterscheiden sich lediglich in der Erklärung, wie dann die unterschiedliche Bezeichnung dieses einen Augenblickes zustande kommt. In (2) wird dazu auf die bekannte scholastische Unterscheidung von secundum rem (der Sache nach) und secundum rationem (dem Begriff / der Auffassungsweise nach) zurückgegriffen.219 Es sollen hier dieselben Verhältnisse gelten wie bei dem einen gegenwärtigen Augenblick, der sowohl als das Ende der Vergangenheit wie auch als der Anfang der Zukunft angesehen werden kann. Bei (3) steht der realen Einheit die virtuelle Verschiedenheit gegenüber. Ein geometrisches Beispiel diente 218 219
Vgl. IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 249f.]. Wörtlich ist die Entgegensetzung secundum substantiam versus secundum rationem, doch denke ich, dass in diesem Fall kein (signifikanter) Unterschied zwischen res und substantia gemacht werden muss. – Äußerst hilfreich ist, dass Thomas von Aquin sich in IV Sent. 11, 1, 3, 2, ad 2 [Ed. cit. 2 IV, 448–450] mit demselben Einwand auseinandersetzte, sich dabei stark auf Bonaventura bezog und seine Darstellung sogar noch etwas ausführlicher ist als die des Doctor seraphicus. Vor der eigenen Lösung gab Thomas fünf fremde Meinungen wieder: (1) – (3) entsprechen dabei den hier angeführten Opiniones (2) – (4) bei Bonaventura, die fünfte Meinung, die Thomas widerlegte, war gerade die Bonaventuras. Die gerade betrachtete Meinung ([2] bei Bonaventura, [1] bei Thomas) gab Thomas wieder als unum est instans secundum rem … sed differt secundum rationem (ebd. [Ed. cit. 2IV, 448, nr. 85]). Die Summa (S. th. III, 75, 7, ad 1 [Ed. Leonina XII, 175]) gab nur fünf verschiedene Meinungen wieder, kam dabei aber im wesentlichen zu derselben Lösung. Die Nähe zu Bonaventura ist hier nicht mehr so offensichtlich. Die Editoren der Deutschen Thomasausgabe wollten die erste Meinung mit dem Doctor seraphicus verbinden (quidam non simpliciter concedunt quod inter quaelibet duo instantia sit tempus medium. Dicunt enim quod hoc habet locum in duobus instantibus quae referuntur ad eundem motum, non autem in duobus instantibus quae referuntur ad diversa), mir scheint aber eher die dritte Opinio die Meinung des Franziskaners zu treffen (Quidam ergo dicunt quod instans in quo ultimo est panis, et instans in quo primo est corpus Christi, sunt quidem duo per comparationem ad mensurata, sed sunt unum per comparationem ad tempus mensurans … Sed hoc non est simile. Quia instans et tempus particularibus motibus non est mensura intrinseca, sicut linea et punctus corporibus: sed solum extrinseca, sicut corporibus locus).
252
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
ihm hier zur Veranschaulichung: Wenn die Endpunkte zweier Linien sich berühren, so entspricht220 der Berührpunkt – obwohl er ein einziger ist – doch „virtuell“ zwei Punkten, nämlich dem Endpunkt der einen und dem Anfangspunkt der anderen Linie.221 Beide Begründungen wurden von Bonaventura abgeschmettert mit dem Hinweis auf das aristotelische Widerspruchsprinzip: Brot-Sein und Leib-Sein sind einander ausschließende Bestimmungen, sie können einem Gegenstand nicht gleichzeitig zukommen, auf dieses simul läuft aber die Behauptung von der Realidentität der beiden nunc hinaus. Also, stellt die Opinio (4) konsequent fest, müssen in den beiden nunc des ultimum esse panis und der des primum esse corporis real zwei verschiedene Augenblicke vorliegen. Näherhin soll diese reale Differenz auf dieselbe Weise begriffen werden, wie man überhaupt in der Zeit von verschiedenen nunc sprechen kann (eo modo, quo in tempore est ponere instantia multa). Doch hier genau liegt das Problem, denn es kommt nun alles darauf an, wie dieser Modus näher bestimmt wird. Die der nun folgenden Argumentation vorangestellte Prämisse „Was kontinuierlich dahinfließt, das ist wesentlich eines“222 gibt den Rahmen der kontinuierlichen Zeit vor (mit allen Konsequenzen hinsichtlich Einheit und Vielheit der nunc, die in den beiden vorangegangen Abschnitten dargestellt worden sind). Insbesondere wird dann behauptet, dass in diesem Zeitkontinuum zwar an sich keine unmittelbar aufeinanderfolgenden Augenblicke ausgemacht werden können (consequenter se habentia secundum se),223 aber doch insofern durch das eine Kontinuum zwei diskontinuierliche Ereignisse gemessen werden (secundum quod mensurat duas actiones discontinuas).224 Das geometrische Beispiel, das Bona220 221
222 223 224
Wörtlich: aequivalet, d. h. „er ist gleichwertig zu“. Man merkt, wie schwierig es ist, (2) und (3) voneinander abzugrenzen, denn das geometrische Bild, das man sich von der Situation in (2) machen würde, wäre wohl dasselbe, unterschiedlich ist allein die Interpretation. Das (zugegeben einfache) Bild könnte so aussehen:
Im Modell (2) wäre die Interpretation: Der eine Punkt B (dem das Jetzt entspricht) teilt die Linie [AC] und kann so sowohl als Endpunkt des Teilstücks [AB] („Vergangenheit“) wie auch als Anfangspunkt von [BC] („Zukunft“) angesehen werden. Modell (3) dagegen geht von vorneherein von zwei Linien [AB] und [BC] aus, die sich (nachträglich) im Punkt B berühren, der somit für zwei Punkte zu gelten hat. Im Endeffekt laufen die beiden Deutungen wieder auf den oben dargestellten Unterschied von continuum und contiguum hinaus (siehe S. 241). Auch Bonaventura schien hier um eine geeignete Formulierung zu ringen, deswegen schob er in (3) in der (ersten) Widerlegung noch die in Anm. 179, S. 241 zitierte Erklärung nach, dass hier zwei Punkte zu einem einzigen vereinigt werden und doch nicht zusammenfallen, da sie verschiedenen „Körpern“ (gemeint sind die beiden sich berührenden Linien) angehören. IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250a]: unum est secundum suam essentiam, cuius fluxus est continuus. – Das gilt sowohl für die Zeit wie auch für das nunc. Siehe oben S. 244 mit Anm. 192 und S. 249. Thomas erklärte den bei Bonaventura etwas knapp dargestellten Sachverhalt ausführlicher (IV Sent. 11, 1, 3, 2, ad 2, Opinio 3 [Ed. cit. 2IV, 448f., nr. 90]): Demnach kann das Zeitkontinuum – idealerweise etwa die (aristotelische) Zeit der Bewegung des primum mobile – nicht nur an sich
Philosophische Klärungen
253
ventura anführte (sicut si linea secet aliam, signat duo puncta), ist für mich nicht besonders erhellend, der einzige Zweck scheint in dem Beleg zu liegen, dass der Schnittpunkt, der an sich (entsprechend dem secundum se oben) ein einziger ist, auch so betrachtet werden kann, dass er zwei Punkte bezeichnet (nämlich als Punkt der einen Linie und als Punkt der anderen Linie). Das eigentliche Problem – auf das Bonaventura dann ja auch abhebt, nämlich wie man in dem einen Kontinuum zwei real verschiedene Punkte finden kann, die unmittelbar aufeinanderfolgen (das heißt, ohne dass zwischen diesen beiden Punkten wieder Zeit liegt) – wird in dem Beispiel gar nicht berührt. Genau diese Aufgabe aber, so Bonaventura, ist unmöglich zu lösen, denn in dem Ausgangskontinuum repräsentieren die zwei durch die jeweilige Nebenbedingung auseinandergehaltenen Augenblicke entweder real nur ein einziges nunc, oder es sind darin tatsächlich zwei verschiedene Momente, dann greift aber wieder der aristotelische Satz vom tempus medium zwischen den beiden. Wenn man an der Sukzessivitätsbedingung der nunc festhalten möchte, bleibt nur der Ausweg, auf die Kontinuitätsbedingung der Zeit zu verzichten. Das heißt in diesem Fall zuzugeben, dass hier nicht ein einziges, Brot-Sein und Leib-Sein übergreifendes Kontinuum etabliert werden kann;225 die substantielle Wandlung bedeutet vielmehr einen Einschnitt, der zwei continua voneinander trennt, zu denen dann das nunc des ultimum esse panis bzw. das des primum esse corporis gehört. Die weitreichenden Konsequenzen dieser Sichtweise entfaltete der Franziskaner schließlich in der Opinio (5), die seine eigene Meinung darstellt. Die entscheidende Erkenntnis ist dabei, dass die Rede vom nunc in der gegebenen Situation mehrdeutig ist (dupliciter accipitur): Es kann nämlich entweder jenes nunc bezeichnen, das in der je eigenen Dauer der betrachteten Seienden (in duratione propria) vorliegt oder aber es kann von jenem nunc die Rede sein, das durch ein allgemeines Zeitmaß (secundum communem mensuram) vorgegeben ist; als „allgemeine Zeitmaße“ werden dabei zum
225
betrachtet werden, sondern auch im Hinblick auf die Bewegungen (oder die Ruhe) anderer Gegenstände, die davon gemessen werden. Betrachtet man nun nur eine einzige andere Bewegung, so ist nichts gewonnen: Zwischen den beiden Zeitpunkten, die Anfang und Ende dieser letzteren messen, ist notwendig wieder Zeit. Anders soll es dagegen sein, wenn man zwei verschiedene Bewegungen betrachtet: Hier könnten unter Umständen das Ende der einen und der Anfang der anderen als zwei aufeinanderfolgende Augenblicke bezeichnet werden. Anders gesagt: Das, was an sich einen Augenblick darstellt, könnte durch die jeweils verschiedene Zusatzbedingung als real zwei verschiedene Augenblicke angesehen werden (vgl. das oben im Folgenden angeführte geometrische Beispiel Bonaventuras, das Thomas aber bezeichnenderweise nicht in seinen Text aufnimmt). Die andere Möglichkeit wäre die, schlechthin zu bestreiten, dass die Zeit, um die es hier geht, kontinuierlich ist. Thomas von Aquin griff dies in seinem Sentenzenkommentar auf (wieder IV Sent. 11, 1, 3, 2, ad 2 [Ed. cit. 2IV, 449f., nr. 93f.]), indem er als fünfte (falsche) Meinung ein Setting vorstellte, in dem die Wandlung aus der von der Himmelsbewegung gemessenen kontinuierlichen Zeit herausgenommen ist und (wie die Bewegungen der Engel) von einer diskreten Zeit gemessen wird.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
einen die mit der Bewegung des primum mobile verbundene aristotelische Zeit und zum anderen die secundum essentiam, non secundum esse genommene Zeit genannt.226 Betrachtet man die erste Weise, das nunc zu verstehen, etwas genauer, so erkennt man, dass dieses Verständnis genau dem korrespondiert, was oben über die Vervielfältigung der Zeit secundum esse gesagt wurde. So wie sich das Akzidens Zeit mit seinen verschiedenen Trägern vervielfältigt und wie jeder Gegenstand, jeder Vorgang deshalb seine eigene Zeit besitzt,227 ebenso kommt jedem Sein auch ein je eigenes nunc zu.228 Die parallele Konstruktion für Zeit und nunc zeigt nebenbei auch, wie ernst Bonaventura den Gedanken nahm, dass das nunc als Wesen der Zeit mit dem Zeitkontinuum selbst wesentlich identisch ist.229 Es wird aber auch deutlich, dass die hier vorgestellte Art der Verschiedenheit der nunc von einer ganz anderen Art ist, als diejenige, die dem Zeitkontinuum selbst inhäriert. Letztere entsteht durch das Verfließen der Zeit und die Erfassung verschiedener Bewegungszustände (als Momentaufnahmen des an sich einen Kontinuums) bei einem einzigen Sein, erstere entsteht durch die Unterscheidung verschiedener (individueller) Substanzen als Träger der Zeit.230 So wie jegliches Sein seine eigene Zeit hat, so hat es auch sein eigenes nunc. Das entspricht einer Auffassung sowohl der Zeit als auch des nunc als eines intrinsischen Maßes. Ein je eigenes nunc besitzen daher nicht nur unmittelbar aufeinanderfolgende Zustände, bei denen sich der spätere aus dem früheren durch eine Veränderung der (substantialen) Form ergibt; nein, dasselbe gilt auch für verschiedene gleichzeitig nebeneinander existierende Gegenstände (oder die damit verbundenen, gleichzeitig ablaufenden Bewegungen).231
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BONAVENTURA, IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250]: … quod tempus sive instans … potest dupliciter accipi: [1] vel in duratione propria uniuscuiusque … et sic sunt diversae mensurae discontinuae et diversa instantia consequenter se habentia, sicut sunt duo esse, esse scilicet panis et corporis. [2] Si autem accipiatur instans secundum communem mensuram, quae est tempus continuum, non intercisum, ut est mensura motus primi mobilis, vel etiam ut tempus consideretur secundum essentiam, non secundum esse; tunc accipit determinatum instans secundum nostram signationem (Nummerierung von mir eingefügt). Zum Verständnis der Zeit als eines intrinsischen, sich mit den gemessenen Entitäten vervielfältigenden, als Akzidens zu begreifenden Maßes vgl. oben S. 210 mit Anm. 31 und S. 215 mit Anm. 54 sowie unten den Abschnitt zur Einheit der Zeit ab S. 266. Zu diesem Gedanken bei Aristoteles vgl. S. 104. Vgl. BONAVENTURA, IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250] (erster Teil zitiert in Anm. 54, S. 215, zweiter Teil oben Anm. 226), besonders die Folgerung: et sic sunt … diversa instantia consequenter se habentia, sicut sunt duo esse, esse scilicet panis et corporis. Vgl. oben S. 241 mit Anm. 176. Man beachte auch noch einmal, was oben Anm. 173, S. 241 gesagt wurde: Die Aussage nunc … potest dupliciter accipi reklamierte Bonaventura nur bei der Vervielfältigung des nunc durch ein je verschiedenes Sein, nicht aber für die dem Zeitkontinuum an sich inhärierende Verschiedenheit der nunc. Hinsichtlich der Vervielfältigung der Zeit bei synchronen Vorgängen beachte man die zweite in Anm. 54, S. 215 zitierte Stelle.
Philosophische Klärungen
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Würde man bei dieser Sichtweise allein stehenbleiben, so wäre die ursprüngliche Aussage des Responsum von IV Sent. 11, 1, 1, 5 geradezu ins Gegenteil verkehrt, denn die betrachtete Veränderung erscheint auf zwei sukzessive nunc „verteilt“; der Aspekt, dass es sich um eine instantane (d. h. sich in einem einzigen Augenblick vollziehende) Veränderung handelt wird nicht besonders deutlich. Die zweite Weise das nunc zu verstehen ist so eine notwendige Ergänzung der erstgenannten Sichtweise. Die beiden den verschiedenen Eigenzeiten des Brot-Seins und des Leib-Seins zugehörenden nunc des ultimum esse panis bzw. das des primum esse corporis werden jetzt auf ein drittes Maß bezogen, nämlich die durch die Bewegung des primum mobile vorgegebene Zeit. In diesem dritten Kontinuum aber entsprechen die beiden zuerst betrachteten Eigen-nunc nicht mehr zwei verschiedenen Augenblicken, sondern nur noch einem einzigen bestimmten Augenblick.232 Anders gesagt: Per se lassen sich die beiden Eigen-nunc als real verschiedene begreifen, wenn man sie aber in ein anderes Zeitkontinuum hineinprojiziert, verschwindet der Unterschied.233
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IV Sent. 11, 1, 1, 5, ad 4 [IV, 250b]: Si autem accipiatur instans secundum communem mensuram … tunc accipit determinatum instans secundum nostrum signationem. Signetur ergo unum instans in tempore, in quo ultimo est panis; signetur et aliud instans, in quo primo est corpus? Ego dico, non signetur … unde quolibet horum per se signare potest, sed duo simul impossibile est signare. Et sic patet, quod in alio et alio instanti habet esse panis et corpus secundum rem, et secundum quod est mensura realis et propria; licet secundum mensuram communem duo instantia immediate signare non contingat. Thomas von Aquin präsentierte in IV Sent. 11, 1, 3, 2 ad 2 [Ed. cit. 2IV, 450, nr. 98–100] in dieser Frage eine andere Lösung: Für ihn gibt es diesen letzten Augenblick des Brot-Seins gar nicht, sondern nur die Zeit des Brot-Seins (non est designare ultimum instans, sed ultimum tempus in quo est panis). Das ist seine Weise zu vermeiden, dass der aristotelische Grundsatz „Zwischen zwei verschiedenen Augenblicken liegt immer Zeit“ verletzt wird. Zugleich entspricht dies seiner Sichtweise, dass die Zeit per se nur Akzidens der Bewegung des primum mobile ist, für alle anderen Bewegungen oder Vorgänge ist sie ein extrinsisches Maß (vgl. hierzu die Darstellung oben S. 212; dies wird auch in der Opinio [2] der betrachteten Textstelle noch einmal betont, wobei zugleich der Unterschied zwischen den Verhältnissen im Raum und der Zeit herausgestellt wird [Ed. cit. 2 IV, 448, nr. 89]: quia cum punctum sit terminus lineae, quae potest esse mensura et intranea et extranea, possibile est puncta assignare et intrinseca et extrinseca; sed instans est terminus temporis quod nunquam est nisi mensura extrinseca; unde non est accipere instans nisi quod se habet per modum extra jacentis puncti). Den Gedanken Bonaventuras einer intrinsischen Zeit, eines intrinsischen nunc wollte Thomas nicht nachvollziehen. Weil es für ihn nur eine Zeit gibt, sind die zwei Augenblicke entweder real verschieden oder sie sind es nicht, eine weitergehende Differenzierung ist für ihn ausgeschlossen. Über die Position Bonaventuras urteilte er deswegen ebd. [Ed. cit. 2IV, 450, nr. 95f.]: Et propter hoc alii dicunt, quod non est simul signare duo instantia in quorum uno primo sit corpus Christi, et in alio ultimo sit panis, quia sic de necessitate esset inter ea tempus medium; sed tamen utrumlibet eorum potest per se signari. Sed hoc iterum nihil est; quia designatio nostra nihil facit ad hoc quod tempus intersit vel non intersit; unde si sint duo instantia secundum rem, in quorum uno est panis ultimo, et in alio corpus Christi primo, sive signentur a nobis sive non, oportet esse tempus medium.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Nimmt man die aristotelische Zeit als die gewöhnliche Zeit, das heißt als diejenige, nach der in der Regel Zeiten und nunc gemessen werden, so hat man hier in der durch das primum mobile vorgegebenen Zeit ein herausragendes Zeitkontinuum als allgemeinen Maßstab. So wird klar, wieso bei der Wandlung von einer instantanen Veränderung gesprochen werden muss: In diesem Zeitkontinuum geschieht sie in einem einzigen nunc, nämlich dem, das zugleich dem des ultimum esse panis und dem des primum esse corporis entspricht. Darüber hinaus wird man folgende weitere Punkte festhalten wollen: Das nunc des allgemeinen Maßes ist ja auch „nur“ ein Eigen-nunc, nämlich das der kontinuierlichen, ununterbrochenen Bewegung des primum mobile zugeordnete. Außerdem erkennt man, dass die verschiedenen Eigenzeiten und Eigen-nunc nicht beziehungslos nebeneinander herlaufen, vielmehr können sie in eine – ebenfalls zeitliche – Ordnung des Nacheinander oder des Gleichzeitig-Seins gebracht werden. Diese gegenseitige Vergleichbarkeit ist eine Voraussetzung dafür, dass die Zeit, die grundsätzlich ein intrinsisches Maß ist, auch als extrinsisches Maß fungieren kann.234 Neben der durch die Himmelssphäre vorgegebenen Zeit nannte Bonaventura ein zweites kontinuierliches Referenzmaß, auf das die beiden bei der Wandlung zu betrachtenden nunc bezogen werden können: Es ist die secundum essentiam genommene eine Zeit. Sie bietet sich aus zwei Gründen an: Zum einen ist sie „umfassender“ als die strikt aristotelische Zeit, da sie auch Vorgänge, die nicht unter der regulatio des primum mobile stehen, messen kann; zum anderen nimmt sie – als die Schöpfungszeit und als Maximalbegriff dessen, was man in einem allgemeinen Sinn noch Zeit nennen kann235 – in diesem größeren Raum eine herausragende Stellung ein. Nach der Darstellung Bonaventuras liegen die Verhältnisse hier genauso wie bei der durch das primum mobile vorgegebenen Zeit, das heißt, wiederum entspricht den beiden nunc des ultimum esse panis und des primum esse corporis ein einziges nunc in der secundum essentiam verstandenen Zeit. Dabei zeigt sich noch einmal, dass die beiden Ebenen der Vervielfältigung des nunc auseinanderzuhalten sind: die beiden Eigen-nunc entsprechen ja nicht deswegen einem einzigen nunc des tempus secundum essentiam, weil diese Zeit nur ein einziges nunc besäße (eine solche Aussage kommt ja aus der Sichtweise, die ein Zeitkontinuum substantiell auf ein einziges nunc reduziert, das ist aber gerade der falsche Blickwinkel, denn dieses eine nunc repräsentiert den Zeitfluss als ganzen und nicht einzelne Momente daraus), die beiden nunc entsprechen vielmehr deshalb einem einzigen, weil ihr un-
234
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Vgl. was oben über tempus proprie und tempus magis proprie als intrinsisches bzw. extrinsisches Maß gesagt wurde (im Abschnitt ab S. 212, besonders ab S. 214). – Natürlich sind nicht alle intrinsischen Zeiten gleichermaßen als extrinsische Maße geeignet, gerade darin liegt ja dann die herausragende Stellung der Zeit des primum mobile begründet. Das soll sagen: Die nächstallgemeinere Zeitform, das aevum, ist ja nur noch in einem sehr uneigentlichen Sinn Zeit.
Philosophische Klärungen
257
mittelbares Nacheinander aus der Perspektive der wesentlichen Zeit nicht bezeichnet werden kann.236 Die Frage, auf welche Weise man von verschiedenen nunc in der Zeit sprechen kann, dürfte durch die vorausgegangenen Ausführungen hinlänglich geklärt sein. Zwei grundsätzlich verschiedene Antworten sind das Ergebnis: (1) Das nunc selbst fließt und wird dadurch stets ein anderes. (2) Das nunc ist an einen Träger gebunden und vervielfältigt sich entsprechend mit diesem. Bei letzterem Konzept wird Zeit sehr konkret verstanden als die Zeit eines einzelnen Seienden, die von der Zeit jedes anderen Seienden verschieden ist. Im Hinblick darauf wird freilich die Frage nach der Einheit der Zeit erneut virulent: Wie kommt man von den einzelnen Zeiten wieder zu der einen Zeit?237 Mit einer rein abstrakten spezifischen Einheit (also der Gleichartigkeit aller Eigenzeiten) wollte sich Bonaventura nicht begnügen, er suchte vielmehr danach, wie man die verschiedenen Eigenzeiten in eine (numerisch) einzige Zeit einbetten konnte. Mit seiner Unterscheidung der vielen tempora secundum esse von dem einen tempus secundum essentiam wollte er genau dieses erreichen.238 Im Folgenden gilt es diese Unterscheidung noch einmal genauer in den Blick zu nehmen, und daraufhin zu untersuchen, wie hier die Einheit des Wesens der Zeit begründet wird. Der Blick richtet sich dabei zunächst auf das substantiale Prinzip, das diese Einheit gewährleisten soll, die Materie.
2.3
Zeit und Materie
„Wir sagen ‚Zeit‘, wenn wir mindestens zwei Dinge meinen. Wir meinen Veränderungen. Und wir meinen etwas Unveränderliches. Wir meinen etwas, was sich bewegt. Aber vor einem bewegungslosen Hintergrund. Und umgekehrt. … Sagen wir, ‚die Zeit ist vergangen‘, dann muß sich irgend etwas verändert haben, und wäre es nur die Stellung der Uhrzeiger, sonst wüßten wir nicht, daß etwas vergangen ist. Gleichzeitig muß auch etwas gleichgeblieben sein, und wäre es nur die Zeit selbst, sonst könnten wir die neue Situation nicht als etwas erkennen, was aus der Ausgangsposition hervorgegangen ist. Im Wort ‚Zeit‘ liegt eine Einheit von Bewegung und Unveränderlichkeit.“239 – Diese 236
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238 239
Ich möchte hier den sich aufdrängenden Begriff des „gleichzeitig“ (simul) vermeiden, weil das sind die beiden nunc aus der Sicht Bonaventuras gerade nicht. Anders gesagt: Betrachtete man zwei Eigen-nunc, die nicht unmittelbar aufeinanderfolgen, so würden diese selbstverständlich auch zwei verschiedenen nunc in dem Kontinuum des tempus secundum essentiam entsprechen. BIGI, La dottrina della temporalità, 102 & 106 stellte die Frage genau anders herum «come dal tempo possono sorgere i tempi?» – Seine Erklärung (106), dass das Kontinuum in seiner realen Einheit zugleich eine potentielle Vielheit enthält, die in den Einzel-Zeiten aktuiert ist, erscheint mir ungenügend, da sie die oben getroffene Grundunterscheidung der beiden Weisen der Vervielfältigung des nunc nicht beachtet. Siehe oben den Abschnitt ab S. 217. Peter HØEG, Der Plan von der Abschaffung des Dunkels, Hamburg 112005, 291.
258
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Reflexion eines modernen Romans artikuliert ein weiteres Problem, das im Rahmen der Frage nach der Zeit zu lösen ist. Dessen Lösung suchte Bonaventura darin, wie die Zeit sich zur Materie verhält. Allgemeiner gesprochen geht es um den Zusammenhang der Zeit mit der von dem Franziskaner vertretenen Variante des Hylemorphismus. Die entsprechende Verbindung wurde in II Sent. 2, 1, 1, 2 [II, 58–60] hergestellt. Eigentliches Thema der Quaestio ist die Frage nach der Einheit des aevum, die von Bonaventura abgelehnt wurde. In diesem Kontext kam er auf die parallele Frage nach der Einheit der Zeit zu sprechen. Da er sie in der Einheit der Materie begründet sah,240 musste er auch das Verhältnis von Zeit und Materie ansprechen. En passant wurden dabei drei wichtige Feststellungen getroffen: (1) Das eigentliche Subjekt der Zeit ist die Materie, näherhin die materia ut mutabilis oder ut ens in potentia. (2) Im Rahmen der hylemorphen Zusammensetzung jedes Seienden hält sich die Zeit mehr an die Materie als an die Form. (3) Die Ursache für das Sein der Zeit ist das der Materie innewohnende Streben nach Form.241 – Diese drei Aspekte gilt es, im Folgenden etwas näher zu erklären. Es mag zunächst etwas verwundern, wenn hier die Materie als Subjekt der Zeit eingeführt wird, da die akzeptierte aristotelische Definition doch die Zeit als Akzidens der Bewegung ansieht.242 Es ist insofern nicht ganz überraschend, als sich auch bei Alexander von Hales und Albertus Magnus Ansätze finden, die Zeit in der Veränderung der Materie zu begründen.243 Das Novum ist dann vor allem die Eindeutigkeit und die 240 241
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Siehe den folgenden Abschnitt zur Einheit der Zeit ab S. 266. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: subiectum autem a quo [scil. tempus] causatur est materia ut mutabilis, et ita ut ens in potentia. … et ideo tempus maxime inter omnia accidentia se tenet plus cum materia. … Tempus autem habet esse ex hoc, quod materia tendit ad formam, propter hoc quod causatur a motu, qui est «entelechia entis in potentia», et ideo se tenet maxime ex parte materiae. Zu der Frage nach der Einheit der Zeit werden in der Quaestio drei Meinungen vorgestellt, die ersten beiden – die als non sufficiens verworfen werden – operieren gerade mit dieser Definition, denn die Zeit wird dort als Akzidens der Bewegung des primum mobile vorgestellt. Vgl. Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 2 (69), ad 5 [Ed. cit. I, 108]: … dicendum quod tempus duplicem habet radicationem, et secundum hoc duplex esse, prout tempus dicitur mensura variationis corporalis. Una est in variatione materiae: et secundum hoc tempus est mensura indeterminata; alia vero radicatio est in motu caeli: et secundum hoc est determinata mensura secundum momentum, diem, annum et huiusmodi. Voraus ging hier die Unterscheidung von tempus communiter und alio modo (ihr entspricht bei Bonaventura das tempus magis proprie), die oben in Anm. 23, S. 170 bereits vorgestellt wurde. Die Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 2 (66) [Ed. cit. I, 103b] berichtet von folgender Meinung der in philosophia naturali edocti: proprium subiectum et primum motus est materia prima, quae est subiectum totius transmutationis, cuius mensura propria est tempus. – Bei Albertus Magnus findet man im zweiten der drei Zeitbegriffe in De IV coaequaevis 2, 5, 6, sol. [Ed. Paris. 34, 379–380] (zitiert in Anm. 24, S. 171) die Bestimmung der Zeit als mensura mutationis quae est super materiam. – Noch weiter zurückgehend gibt es auch bei Avicenna Überlegungen, die das Sein der Zeit (allerdings nur mittelbar) auf der Materie gründen lassen wollen; vgl. Sufficientia II, 11 [Ed. cit., 330, Z. 37–44], wo die Zeit auch als mensura possibilitatis bestimmt wurde: Iam enim declaravimus quod ipsum [tempus] per seipsum est mensura possibilitatis desig-
Philosophische Klärungen
259
Grundsätzlichkeit,244 mit der sich Bonaventura für diese Position aussprach. Zum Verständnis dieser neuen Sicht wird man sich bewusstmachen, dass die Bewegung ja selbst keine Substanz ist, sondern nur das Bewegte.245 Bonaventura ging in diesem Sinn also nur einen Schritt weiter zurück, indem er das Akzidens Zeit auf ein substantielles Sein zurückbezog. Dabei kam der Franziskaner zu dem Schluss, dass die (innere) Ursache der Zeit in der Potentialität der res mobilis zu suchen ist,246 denn sie ist die Voraussetzung für jede Veränderung. Da im metaphysischen Denkmodell der Zeit Potentialität mit Materialität gleichzusetzen war, ist man damit bei der ersten der drei obengenannten Feststellungen angekommen: Eigentliches Subjekt der Zeit ist die materia ut ens in potentia. Ich denke es lohnt sich, bei diesem Punkt noch etwas zu bleiben und auf die Verbindung mit der besonderen Gestalt des bonaventurianischen Hylemorphismus hinzuweisen: Im Gegensatz etwa zu Thomas von Aquin sah Bonaventura jedes geschaffene Sein als aus Form und Materie zusammengesetzt an (insbesondere auch die Engel als rein geistige Substanzen), darüber hinaus vertrat er den Standpunkt, dass die genannte Materie in körperlichen und geistigen Substanzen secundum essentiam eine einzige ist.247 Beides setzt voraus, dass „Materie“ hier in einem weiten Sinn verstanden wird:248 Sie
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natae. Et, postquam constat quod tempus non est aliquid existens per se, – quomodo enim existeret per se, cum non habeat essentiam? – tunc est quod fit et desinit esse; sed omne quod est huiusmodi, esse eius pendet ex materia. Erit ergo tempus materiale, et praeter hoc quod est materiale, non habet esse in materia nisi mediante motu. Si enim non esset motus et mutatio, non esset tempus. Die entsprechende Meinung wurde II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59] eingeführt mit et ideo dixerunt tertii profundius. Man vergleiche die epikureische Interpretation der Zeit als „Akzidens der Akzidenzien“ (siehe oben S. 103), oder logisch gesprochen als „Prädikatenprädikat“. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: tempus autem respicit ipsam durationem variam et succesivam, quae venit ex potentia rei mobilis. So das Fazit aus den Quaestiones 1–3 von II Sent. 3, 1, 1 [II, 89–102]. Zur Position des Thomas vgl. das Scholion zur Quaestio 1, Abschnitt III, bes. nr. 1 (Opp. II, 92f.) sowie Paul BISSELS, Die sachliche Begründung und philosophiegeschichtliche Stellung der Lehre von der materia spiritualis in der Scholastik, in: Franziskanische Studien 38 (1956) 241–295, hier 279–282. Gegenüber diesen Beiträgen scheint mir allerdings noch wichtig hervorzuheben, dass Thomas sehr wohl den Begriff einer materia spiritualis kannte (vgl. etwa Summa contra gentiles II, 16, 9 [Ed. Leonina XIII, 300]: Diversarum rerum diversae sunt materiae: non enim est eadem materia spiritualium et corporalium, nec corporum caelestium et corruptibilium), im Unterschied zu Bonaventura sah er hier aber einen äquivoken Begriff von Materie vorliegen (II Sent. 3, 1, 1, resp. [Ed. cit. II, 88]: … et ita per consequens est ibi [scil. in angelo] compositio ex actu et potentia; et si ista potentia vocetur materia, erit compositus ex materia et forma: quamvis hoc sit omnino aequivocum dictum). Vgl. II Sent. 3, 1, 1, 2, princ. [II, 94a]: … dato quod [scil. angeli] habeant compositionem ex materia et forma, largo sumto nomine materiae ad omne potentiale, quod cum alio venit ad constitutionem tanquam fundamentum rei. – Auf diesem Verständnis baut schließlich die Analogizität des Materiebegriffs auf (ebd., resp. [II, 97a]): Et secundum hanc considerationem proprie est materia in corporibus corruptibilibus, minus proprie in corporibus incorruptibilius, minime in spiritibus.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
bedeutet dann nichts anderes als die Zusammensetzung jeder geschaffenen Substanz aus zwei verschiedenen Seinsprinzipien, von denen das eine Akt- und das andere PotenzCharakter hat.249 Dieses letztere Prinzip erfüllt dabei für die geistigen Substanzen dieselben Funktionen, die der Materie bei einem körperlichen Seienden zukommen, das heißt, ihr eignet die ratio mutabilitatis, passibilitatis, individuationis.250 Im vorliegenden Zusammenhang ist der erste Punkt der wichtigste,251 denn er besagt, dass die Engel veränderliche Wesen sind – nicht nur hinsichtlich eines möglichen Nicht-Seins, sondern vor allem hinsichtlich ihrer Eigenschaften (proprietates) –, dies wiederum setzt unmittelbar eine Leidefähigkeit (passibilitas, damit aber auch possibilitas) voraus.252 Vorsicht ist dabei insofern geboten, als man die in allen geschaffenen Substanzen gegebene Materialität nicht mit Körperlichkeit ineins setzen darf. Der hier gezeichnete Materiebegriff bestimmt sich vielmehr gerade durch das Absehen von jeder als moles extensa zu denkenden Körperhaftigkeit.253 Auf diesen Materiebegriff ist in einem nächsten Schritt die bereits angesprochene254 Unterscheidung zwischen dem Sein (materia secundum esse) und dem Wesen (materia secundum essentiam) anzuwenden. Die erstere Hinsicht führt zu der Materie, wie sie in der Natur vorliegt, das heißt als in Raum und Zeit verortete und immer schon mit einer gewissen Form behaftete Materie.255 Die Betrachtung der Materie in ihrem Wesen hingegen schließt ein Doppeltes ein: Zunächst nämlich zieht der Verstand entweder eine 249 250 251 252 253
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Vgl. II Sent. 3, 1, 1, 1, arg. 4 [II, 90]: Sed impossibile est, plures naturas concurrere ad constitutionem tertii, quin altera habeat rationem possibilis, altera rationem actualis. Vgl. ebd., resp. [II, 91a]. Vgl. auch II Sent. 3, 1, 1, 1, fund. 1 [II, 89] (zitiert in Anm. 258, S. 261). Ebd., resp. [II, 91]: … cum in Angelo sit ratio mutabilitatis non tantum ad non-esse, sed secundum diversas proprietates, sit iterum ratio passibilitatis … Sonst wäre auch die Einheit, auf die Bonaventura ja hinauswollte, nicht gegeben; vgl. II Sent. 3, 1, 1, 3, ad 4.5.6 [II, 101b]: Quamdiu enim materia ut moles extensa cogitatur, ad unitatem essentiae consideratam nullo modo pertingitur. – Hier liegt denn auch einer der Hauptunterschiede zum Konzept des Aquinaten, bei dem der Zusammenhang zwischen Materie und Körperlichkeit sehr viel enger gesehen wird. Vgl. II Sent. 3, 1, 1, resp. [Ed. cit. II, 87]: oportet quod tota materia sit vestita forma corporeitatis; et ideo si aliquid est incorporeum, oportet esse immateriale. Siehe S. 220. Vgl. II Sent. 12, 1, 1, resp. [II, 294]: … dupliciter est loqui de materia: aut secundum quod existit in natura, aut secundum quod consideratur ab anima. Sic secundum quod consideratur ab anima, sic potest considerari informis, sive per privationem formae distinctae, sive per privationem etiam omnis formae; et sic docet Augustinus, in XII Confessionum, essentiam materiae intelligere. Nam materiam secundum sui essentiam est informis per possibilitatem omnimodam; et dum sic consideratur, ipsa formarum capacitas sive possibilitas est sibi pro forma. – Est iterum loqui de materia, secundum quod habet esse in natura; et sic nunquam est praeter locum et tempus sive praeter quietem et motum; et hoc modo … impossibile est, materiam informem existere per privationem omnis formae. – Das Problem mit Augustinus bestand darin, dass er die materia zusammen mit dem caelum caeli in Conf. XII, 12, 15 [CC.SL 27, 223, Z. 3] als eine der beiden carentia temporibus bezeichnet hatte, siehe oben S. 137 mit Anm. 261 sowie S. 152 mit Anm. 351, die Unterscheidung von physischer und metaphysischer Materie sollte genau dem Rechnung tragen.
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bestimmte oder jede Form von ihr ab – Materialität und Veränderlichkeit besagt in diesem Sinn also immer eine informitas256 –, dann aber erkennt er die Hinordnung auf die Form (dispositio ad formam), die wiederum nichts anderes ist als die potentia suscipiendi formam oder die capacitas formarum.257 Die Materie zeigt sich dadurch zugleich als eine Entität, die ein Mittleres zwischen Etwas und Nichts, eben ein ens in potentia, darstellt.258 Noch einmal etwas anders gesagt, ist das Wesen der Materie durch die allen Geschöpfen gemeinsame Potentialität gegeben, wohingegen mit dem Sein der Materie immer eine durch eine aktuierende Form verursachte Determinierung ausgesagt wird.259 Diese unterschiedliche Betrachtungsweise der Materie in ihrem Sein und in ihrem Wesen verband Bonaventura mit den unterschiedlichen philosophischen Disziplinen:260 Der „Physiker“ betrachtet nämlich die real existierende, immer schon vorgeformte und so in ihrer Potentialität bereits eingeschränkte Materie. Aus diesem Grunde ist er nicht in der Lage die Einheit der Materie zu erkennen (die verschiedenen bereits vorhandenen Formen verhindern das). Die Materie der vergänglichen Körper, der Himmelskörper 256
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Vgl. II Sent. 3, 1, 1, 1, arg. 1 [II, 89]: «Omne mutabile insinuat quandam informitatem, qua forma capitur, vel mutatur, vel vertitur» (Bonaventura zitierte hier AUGUSTINUS, Conf. XII, 19, 28 [CC.SL 27, 230, Z. 5f.]). Vgl. die vorausgehende Anmerkung sowie II Sent. 3, 1, 1, 2, resp. [II, 96]: Materia enim est dupliciter scibilis, scilicet per privationem et per analogiam. Cognitio per privationem est prius removendo formam, deinde disponens ad formam, et considerando ipsam essentiam nudam in se quasi tenebram intelligibilem. – Cognitio autem per analogiam est per consimilem habitudinem; habitudo autem materiae est per potentiam, et ita haec cognitio est per comparationem materiae ad formam mediante potentia. Vgl. auch ebd., sc. 3 [II, 95]: … sicut potentia agendi essentialiter consequitur formam, ita potentia suscipiendi essentialiter, immo essentialius consequitur materiam. II Sent. 3, 1, 1, 1, fund. 1 [II, 89]: cuicumque inest mutatio, inest principium mutabilitatis: sed principium mutabilitatis est materia … Si tu dicas mihi, quod mutabilitas venit rebus, quia sunt ex nihilo, sicut in pluribus locis vult Augustinus; sed constat, quod mutabilitas non est pura privatio, immo dicit aliquam positionem: ergo non habet causam ipsam puram privationem. Necesse est ergo, quod habeat causam dicentem positionem; sed non positionem omnimodam, cum etiam dicat privationem: ergo aliquid, quod non est omnino aliquid, nec omnino nihil, sed quod est medium inter aliquid et nihil; hoc autem dicit Augustinus materiam. – Materialität und Veränderlichkeit werden hier unter Berufung auf Augustinus gleichgesetzt, Bonaventura zeigte sich dabei sehr bemüht, die mutabilitas nicht als eine rein negative Eigenschaft (privatio) erscheinen zu lassen, die Zwischenstellung der Materie zwischen Etwas und Nichts kam ihm hierbei sehr zupass. Vgl. GHISALBERTI, La concezione del tempo, 752. Vgl. II Sent. 3, 1, 1, 2, resp. [II, 96–98]. Diese Unterscheidung eines Materiebegriffs der Physik und der Metaphysik hat übrigens tief reichende Wurzeln. Man kann sie auf die zwei aristotelischen Definitionen der materia prima zurückführen: Die erste Definition, die in Physica I, 9 [192a 31f.] gegeben wird, bestimmt die Materie als „Substrat des Werdens“; die zweite Definition stammt eben aus Metaphysica VII (Ζ), 3 [1029a 20–24], wo die Materie das „letzte Subjekt“ ist, von dem nicht nur alle Eigenschaften, sondern auch das substantielle Wesen ausgesagt werden. – Die Scholastik bemühte sich in verschiedenen Ansätzen, diese verschiedenen Definitionsansätze zu harmonisieren. Vgl. hierzu den Artikel „Materie“ in JOSEF DE VRIES, Grundbegriffe der Scholastik, Darmstadt 21983, 63–67.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
(corpora superiora) und der geistigen Substanzen ist für ihn je eine andere,261 denn sie besitzt ein jeweils unterschiedliches Vermögen, so tritt sie in den vergänglichen Körpern als principium generationis et corruptionis oder als mutabilis sive ad situm sive ad formam auf,262 während sie in den Himmelskörpern nur zu einer Lageveränderung (ad situm tantum – gemeint ist die Drehung der Sphären) fähig ist; die Materie der Engel dagegen zeigt eine andere Potentialität, nämlich ad receptionem influentiae et habituum.263 – Davon hebt sich die auf das Wesen der Materie ausgerichtete Betrachtungsweise des Metaphysikers ab.264 Im Zusammenspiel von Form und Materie erkennt er die materia als jenes Prinzip, das die Existenz (genauer: die stabilitas per se existendi) verleiht, indem es die Form in der Wirklichkeit des Seins verankert (praebet fulcimentum formae in ratione entis).265 In dieser Perspektive besteht entweder gar kein Unterschied zwischen der Materie geistiger und körperlicher Wesen (nämlich dann, wenn man eine völlig ungeformte, jeglichen Seins entkleidete Materie zugrunde legt)266 oder es lässt sich wenigstens deren analoge Einheit erkennen.267 Welche Schlussfolgerungen ergeben sich nun aus dem so gezeichneten Bild der Materie für den Zusammenhang mit der Zeit? Bonaventura hatte gesagt, das subiectum, a quo causatur der Zeit sei die materia ut ens in potentia. Die eben getroffene Unterscheidung von Sein und Wesen der Materie überträgt sich damit auch auf die Zeit. Insbesondere gilt das im Hinblick auf den eigentlichen Zielpunkt von Bonaventuras Argumentation, nämlich die numerische Einheit der Zeit in ihrem Wesen (quantum ad essentiam), der eine Vielheit der Zeit in ihrem Sein gegenübersteht268 – dieser Punkt wird im 261
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Vgl. II Sent. 3, 1, 1, 2, resp. [II, 97a]: Et hi non posuerunt materiam unam, quoniam materia in Angelis non habet possibilitatem ad transmutationem formarum substantialium nec est possibilis ad recipiendum formas corporales. Vgl. ebd. [II, 97] die Betrachtung des physicus inferior. Ebd. [II, 97a]; weil die Engel nicht körperlich sind, kommt eine Lageänderung nicht in Frage; eine Änderung der substantialen Form (wie sie sich im Werden und Vergehen der irdischen Dinge zeigt) widerspricht ihrem ewigen Sein. Vgl. ebd. [II, 97b]: Metaphysicus vero [materiam] non tantum secundum esse, sed secundum essentiam considerat. Ebd. [II, 96b]: Considerantes autem materiam … in quantum praebet fulcimentum formae in ratione entis … Sicut enim materia corporalium sustinet et dat suis formis existere et subsistere, ita etiam materia spiritualium. Und ebd. [II, 97b]: Metaphysicus considerat naturam omnis creaturae, et maxime substantiae per se entis, in qua est considerare actum essendi et hunc dat forma, et stabilitatem per se existendi, et hanc dat et praestat illud cui innititur forma, hoc est materia. Ebd. [II, 97b]: … abstracto omni esse, non est reperire nec etiam fingere diversitatem in materia, ideo dicit [scil. metaphysicus] esse unam per essentiam. Ebd. [II, 96b]: Considerantes autem materiam secundum analogiam, scilicet sub ratione potentiae, in quantum praebet fulcimentuam formae in ratione entis, dixerunt, esse eandem secundum analogiam, quia est ibi consimilis habitudo. Und II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: Et quia … natura illa, supra quam fundatur [i. e. materia], est una numero; ideo tempus non tantum est unum specie in omnibus temporalibus, immo etiam quantum ad essentiam unum numero, differens per esse. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: Sicut igitur materia una est per essentiam, differens per esse … sic et tempus in omnibus temporalibus.
Philosophische Klärungen
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folgenden Abschnitt noch eingehend untersucht werden. Des weiteren wird dadurch das Wesen der Zeit auf das Wesen der Materie zurückgeführt. Die Ursache der Zeit liegt demnach in der grundsätzlichen, im Begriff der Materie gegebenen Hinordnung auf die Form.269 Sie ist der tiefere Grund, warum sich alles in steter Veränderung befindet.270 Man bemerkt dabei, dass in der Materie dieselbe eigentümliche Spannung zwischen Identität und Differenz – sie wurde am Anfang dieses Abschnittes skizziert – vorherrscht wie in der Zeit: Einerseits wird die Materie verstanden als das in der Bewegung Identität stiftende Moment, als der sich durchhaltende und insofern zeitfreie Hintergrund, vor dem allein Zeit wahrnehmbar wird,271 andererseits aber erweist sie sich aufgrund ihres unvollkommenen, unabgeschlossenen, potentiellen Seins gerade als das principium mutabilitatis.272 Diese Spannung muss dabei nicht als Gegensatz interpretiert werden, sondern Ersteres kann man auch als Ermöglichungsbedingung für Letzteres auffassen. Oder andersherum gesagt: Das Reich der Formen ist ja gerade deshalb der Zeit entzogen, weil es dort nur ein Nebeneinander in Differenz ohne Identität gibt – ein prius und posterius findet man dort nur im logischen Sinn, d. h. unter dem Aspekt einer größeren oder geringeren Allgemeinheit. Die Zeit in ihrem Wesen wird durch das eigentümliche Wesen der Materie verursacht (causatur). Dieses Wesen wurde bereits oben beschrieben:273 Es nimmt eine eigentümliche Mittelstellung ein, denn es ist weder ein abstraktes Wesen (die Materie als metaphysisches Seinsprinzip, das absolut formlos zu denken ist, von daher aber auch zu keinerlei Veränderung fähig),274 noch ist es eine vollständige, individuelle Substanz (diese oder jene bestimmte Materie, wie sie als real existierende in der Natur vorkommt). Entsprechendes gilt für die secundum essentiam verstandene Zeit.275 Und wie das Wesen der Materie gegeben ist durch die allem Geschaffenen gemeinsame Potentialität, so ist das Wesen der Zeit gegeben durch die mit dieser Potentialität verbundene mutabilitas. 269 270
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In diesem Sinn gilt auch: est tamen ipsa potentia materiae essentialis ipsi materiae (I Sent. 3, 2, 1, 3, ad 4 [I, 87]). II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: Tempus autem habet esse ex hoc, quod materia tendit ad formam, propter hoc quod causatur a motu, qui est «entelechia entis in potentia», kurz danach betonte er dass sich dieses Verursachungsverhältnis nicht nur auf das Sein der Materie, sondern mehr noch auf deren Wesen bezieht [II, 60a]: sed quamvis sit in materia, quae est sub forma et ab ipsa causetur, magis tamen causatur a materia, ut tendit ad formam, et hoc est in materia ratione suae potentiae. In diesem Sinn verstehe ich die Charakterisierung der Materie als jenes Prinzips, das die stabilitas per se existendi (s. o.) bzw. das esse fixum (II Sent. 3, 1, 1, 2, ad 6 [II, 98]) verleiht. Vgl. II Sent. 3, 1, 1, 1, fund. 1 [II, 89]: … principium mutabilitatis est materia. Vgl. S. 218 mit Anm. 69 und S. 220 mit Anm. 78. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 60a] und I Sent. 8, 1, 2, 2, ad 1 [I, 160] (beide zitiert in Anm. 78, S. 220). – Der beiden Stellen gemeinsame Hinweis auf Conf. XII, 12, 15 [CC.SL 27, 223, Z. 3–9] bezieht sich auf die parallele Aussage Augustins, dass die formlose Materie außerhalb der Zeit steht. BIGI, La dottrina della temporalità, 125 beschrieb es so: «S. Bonaventura non pensa all’universale concettuale, ma ad un universale reale come la materia, omogeneo ed indistinto e continuo».
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
In beiden Fällen muss man dabei von der je verschiedenen Potenz dieser oder jener real existierenden Materie bzw. von den ebenfalls verschiedenen in dieser oder jener konkreten Bewegung stattfindenden Veränderungen (mutationes) absehen.276 Wie das Wesen der Zeit am Wesen der Materie hängt, so ist auch das Sein der Zeit mit dem Sein der Materie verbunden. Die auf dieser Ebene geltende parallele Aussage «Tempus autem habet esse ex hoc quod materia tendit ad formam, propter hoc quod causatur a motu, qui est entelechia entis in potentia»277 hat dann den Sinn: So wie die Möglichkeiten (im Sinn des Vermögens weitere Formen aufzunehmen) eines Seienden von dem jeweils gegebenen konkreten Sein abhängen, so verhält es sich auch mit dessen Zeitlichkeit. Dementsprechend ist dann die Zeitlichkeit der irdischen und himmlischen Körper und die der Engel je eine andere. Weil Bonaventura die Aufnahme der Form als Vollendung (perfectio, Entelechie) der Materie dachte, kann die Hinordnung der Materie auf die Form auch geradezu als ein Verlangen, ein Hunger nach Form verstanden werden.278 Umgekehrt nimmt diese Potentialität in dem Maße ab, je vollkommener die erreichte Seinsstufe ist.279 Auf zwei Dinge ist hier noch aufmerksam zu machen: (1) Der Zusammenhang zwischen Materie und Zeit ist bei Bonaventura durch ein charakteristisches Modell der Materie vorgezeichnet, bei dem die konkrete Materie nicht nur als ein rein passives Aufnahmevermögen, sondern als ein aktives, zur Verwirklichung drängendes Potential bestimmt wird.280 Hierin findet man auch den Grund, warum etwa Thomas von Aquin im vorliegenden Fragenkomplex andere Lösungswege beschritt: Sein Materiekonzept war 276
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Darum beginnt die Zeit secundum essentiam mit der res mobilis, während die Zeit secundum esse mit der mutatio mutabilium beginnt (II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23], zitiert oben S. 218, Anm. 65). – Vgl. dazu auch GHISALBERTI, La concezione del tempo, 752; RODOLFI, Tempo e creazione, 162 nannte die secundum essentiam verstandene Zeit deswegen auch „Maß der mutabilitas als solcher“ (eigene Übs.), ähnlich BIGI, La dottrina della temporalità, 125. Siehe Anm. 270. Vgl. etwa I Sent. 1, 3, 2, ad 1 [I, 41a]: appetitus materiae ordinatur ad formam tanquam ad perfectionem substantialem, oder Hex. IV, 1 (20), 19 [V, 428]: sicut sponsa desiderat sponsum, et materia formam. Insbesondere gilt dies für die zuerst geschaffene „ungeformte“ (im Sinn von noch nicht vollständig geformte) Elementarmaterie; vgl. II Sent. 12, 1, 3, resp. [II, 300a]: et ideo non sic formabat, quin adhuc diceretur informis, nec appetitum materiae adeo finiebat, quin materia adhuc alias formas appeteret; et ideo dispositio erat ad formas ulteriores, non completa perfectio. Dieses Verlangen ist überdies ein Zeichen für die allgemeine Sehnsucht nach Gott: Sic cum posset statim perficere materiam, maluit tamen ipsam sub quadam informitate et imperfectione facere, ut ex sua imperfectione quasi materia ad Deum clamaret, ut ipsam perficeret (II Sent. 12, 1, 2, resp. [II, 297a]). Je vollkommener ein Sein ist und je näher es damit Gott steht, desto geringer ist dieser Hunger (sichtbar z. B. im himmlischen Bereich, vgl. II Sent. 17, 2, 2, resp. [II, 422b], zitiert oben Anm. 93, S. 40). Vgl. hierzu auch GILSON, Philosophie des hl. Bonaventura, 303f. Auch hier ist der unmittelbare Zusammenhang mit der Zeitlichkeit deutlich, wenn es heißt: Cum enim aevum esse stabile et quietum respiciat, quod quidem habet materia a forma perfecta … (II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56b]). Hier fügt sich schließlich auch Bonaventuras Lehre von den rationes seminales ein; vgl. etwa II Sent. 7, 2, 2, 1 [II, 197–199]. Für eine konzise Darstellung vgl. LEINSLE, Res et signum, 86–89.
Philosophische Klärungen
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schlichtweg ein anderes. Gilson hat diesen Unterschied treffend mit einem Bild ausgedrückt: „Die Materie des heiligen Thomas ist ein Spiegel, in dem sich Licht fortpflanzen kann – Bonaventuras Materie ist ein Acker mit Körnern, nicht mit Pflanzen, aus dem aber in der Folge Pflanzen gezogen werden können.“281 – (2) Es zeigt sich auch eine gewisse Korrespondenz zwischen dem weiten Zeitbegriff, den Bonaventura im Umfeld der hier vorliegenden Quaestio (II Sent. 2, 1, 1, 2) zugrunde legt, und der von ihm vertretenen Variante des Hylemorphismus:282 Nimmt man den engen Zusammenhang von Zeitlichkeit und Materialität als gegeben, so bedingen sich der universale Hylemorphismus und der weite, auch die Engel erfassende Zeitbegriff gegenseitig. Es bleibt noch auf die zweite der am Anfang dieses Abschnitts gemachten Feststellungen einzugehen, dass die Zeit am meisten von allen Akzidenzien mit der Materie verbunden ist.283 Aus dem eben dargestellten Zusammenhang zwischen Zeit und Materie dürfte ein Gutteil dieser Aussage bereits verstanden sein. Es soll aber noch auf zwei weitere Aspekte hingewiesen werden, die so noch nicht zur Sprache gekommen sind. Zum einen wird mit dieser Aussage die Eigenschaft der Zeit im Gegensatz zum aevum beschrieben: Letzteres nämlich verbindet sich als Akzidens mit der (substantialen) Form des Seienden, dessen Maß es ist.284 Der Materie ut mutabilis wird hier also die Form ut immutabilis gegenübergestellt und daraus das Verhältnis von tempus und aevum erklärt: Das eine Maß misst ein vergängliches, veränderliches Sein, das andere ein bleibendes und unveränderliches. – Zum anderen klärt die oben genannte Aussage auch das Verhältnis der Zeit zu den anderen kontinuierlichen Größen, die man in der Kategorie quantitas (Größe) findet, nämlich Strecke, Fläche, Volumen und Ort.285 Die Erklärung Bonaventuras weist darauf hin, dass die übrigen Größen ihr vollständiges Sein (esse completum) von der materia existente sub forma besitzen, während die Zeit ihr Sein allein aus dem Streben der Materie nach Form erhält. Wie bereits eingesehen, bedeutet das für die Zeit, dass sich ihr Wesen aus dem Wesen der Materie herleitet. Die übrigen Quantitäten dagegen können nicht unmittelbar mit dem als Potentialität verstandenen 281 282
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GILSON, Philosophie des hl. Bonaventura, 329. Im Sinn der oben (im Abschnitt ab S. 173) vorgestellten Zeitdefinitionen von II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 64bf.] liegt hier nicht der im strengen Sinn aristotelische Zeitbegriff (magis proprie), sondern der weitere, sich auch auf die Engel erstreckende Zeitbegriff (proprie) vor. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: tempus maxime inter omnia accidentia se tenet plus cum materia. Vgl. ebd. [II, 59bf.]: Tempus autem habet esse ex hoc, quod materia tendit ad formam …, et ideo se tenet maxime ex parte materiae. Vgl. oben S. 263, Anm. 270. Vgl. ebd., ad 1 [II, 60b]: Aevum autem de sui ratione propria respicit esse completum et stabile, et ideo magis respicit formam; ferner ebd., resp. [II, 60b]: … tamen aevum respicit esse actuale et esse stabile, sed tempus materiam ut in potentia. Et ideo sicut unitas temporis conformatur materiae, sic unitas aevi conformatur formae, non inquam formae, in quantum haec vel illa, sed in quantum immutabilis. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 1, sc. 6 [II, 56]: Non nisi in genere quantitatis; non discretae ergo continuae. Sed non est linea neque superficies, nec corpus nec locus: ergo vel est tempus vel nihil. Vgl. auch oben S. 206 mit Anm. 9 und Tabelle 5, S. 206.
Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
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Wesen der Materie verbunden werden, sondern setzen noch eine zusätzliche Formung voraus, die Verbindung geschieht hier also nur über das Sein der Materie (als unter bestimmter Form existierender). Hierin zeigt sich einmal mehr Bonaventuras Trennung von Materialität und Körperlichkeit; zugleich erweist sich die Zeit als die am wenigsten Form voraussetzende und insofern abstrakteste Größe, gerade dadurch aber ist sie auch das am tiefsten in allem geschaffenen Sein verwurzelte Maß.
2.4
Die Einheit der Zeit
Die Frage nach der Einheit der Zeit war eine der Schwierigkeiten, die sich aus der aristotelischen Zeittheorie ergaben286 und die in der Scholastik intensiv diskutiert wurden.287 Sowohl die Problemstellung als auch das Ergebnis waren dabei in den Grundlinien durch den Stagiriten in Phys. IV, 14 vorgegeben: Bestimmt man die Zeit als Akzidens (als die Maßzahl) der Bewegung, so gilt der Grundsatz: accidens multiplicatur secundum divisionem subiecti in quo est.288 Wie zwei weiße Wände also je ihr eigenes Weiß haben, müssten insbesondere auch zwei gleichzeitig ablaufende Bewegungen je ihre eigene Zeit haben, wohingegen der Verstand sagt: „Es ist doch eine und dieselbe Zeit, die da gleichlang und gleichzeitig ist.“289 – Die von Aristoteles gegebenen Begründungsansätze (der Vergleich mit der Einheit der Zahl als numerus numerans und der Hinweis auf die Himmelssphäre) konnten dabei insgesamt nicht befriedigen, und so suchten dessen Kommentatoren in dieser Frage nach weiteren Erklärungen. Auch Bonaventura nahm zum Problem der Einheit der Zeit Stellung. Er tat es in Form einer Vorbemerkung (praenotandum) zu der Quaestio über die Einheit des aevum,290 die bereits im vorigen Abschnitt ausgewertet wurde. Der Franziskaner blieb dabei im Wesentlichen innerhalb des aristotelischen Rahmens, indem er weder die entsprechende Zeitdefinition als numerus motus, noch den akzidentellen Charakter der Zeit in Frage stellte, obwohl er dies entweder unter Hinweis auf seine eigenen Zeitdefinitio286 287
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Siehe oben S. 104. Für eine Darstellung der Positionen im 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts vgl. MAIER, Scholastische Diskussionen, einen aktuelleren Überblick findet man bei PORRO, Forme e modelli di durata, 36–46; vgl. ferner MANSION, La théorie aristotélicienne. Vgl. etwa THOMAS VON AQUIN, I Sent. 9, 1, 2, resp. [Ed. cit. I, 249]. Physica IV, 14 [223b 3f.] (Übs. Zekl I, 233). II Sent. 2, 1, 1, 2 [II, 58–60]. Die Frage nach der Einheit des aevum war für Theologen der vorzügliche Ort, um diese Frage abzuhandeln, vgl. etwa Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 2 (66) [Ed. cit. I, 101–103], THOMAS VON AQUIN, II Sent. 2, 1, 2 [Ed. cit. II, 65–68]; S. th. I, 10, 6 [Ed. Leonina IV, 104f.]; RICHARD VON MEDIAVILLA, II Sent. 2, 1, 2 [Ed. cit. II, 32f.]; PETRUS VON TARENTAISE, II Sent. 2, 2, 2 [Ed. cit. II, 21f.]; daneben kommen auch die Kommentare zu der genannten Aristoteles-Stelle in Frage (z. B. THOMAS VON AQUIN, In Physic. IV, c. 14, lect. 23 [Ed. Leonina II, 222– 225]; ALBERTUS MAGNUS, Physica IV, 3, 13 [Ed. Colon. IV.1, 284–286]).
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nen oder auf die von ihm herangezogene Anselm-Stelle (De veritate 13) leicht hätte tun können. Letztere lieferte ja nicht nur das oft zitierte Schlagwort unum tempus omnium temporalium, in ihrer Begründung stellte sie auch das gewohnte Substanz-AkzidensVerhältnis auf den Kopf, wenn sie behauptete: Von der Zeit einer Sache spricht man nicht, „weil die Zeit in diesen Dingen ist, sondern weil sie in der Zeit sind.“291 Im Corpus der Quaestio stellte Bonaventura drei Meinungen vor, wie die Einheit der Zeit begründet werden kann. Er gliederte sie nach dem dreifachen Verhältnis, in dem ein Akzidens zur zugrundeliegenden Substanz steht: Jenes hat in dieser seinen Seinsgrund (causa), sein Dasein (existentia) und die Grundlage seines Erscheinens (apparentia). Die ersten beiden Lösungen, die verworfen werden, erweisen die Zeit als eine, weil sie sich auf die Bewegung des primum mobile zurückführen lässt. Der Unterschied besteht dabei darin, dass im ersten Fall das Sein der Zeit per se mit der ersten beweglichen Sphäre verbunden wird, cuius motu cessante, cessat et tempus, während im zweiten Fall die Einheit dadurch begründet wird, dass die Seele, alle Bewegungen durch Bezug auf die regelmäßige und allen bekannte Bewegung des primum mobile misst und dadurch die Zeit bestimmt.292 Beide Begründungen hat man im Kontext der arabischen Aristotelesauslegung, näherhin des Averroes, zu verstehen:293 Der Philosoph aus Cordoba verknüpfte dabei die Fragen nach der Einheit der Zeit, ihrem Sein und ihrem Verhältnis zur menschlichen Seele. Wie Bonaventura auch kam es ihm dabei darauf an, dass die Zeit nicht ausschließlich eine innerseelische Größe ist, sondern ein, wenn auch unvollkommenes Sein außerhalb der Seele besitzt: esse eius [scil. temporis] extra mentem est in potentia prop-
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De veritate 13 [PhB 535, 74] (Übs. Enders, 75): [Non enim ideo dicitur «tempus huius vel illius rei»,] quia tempus est in ipsis rebus, sed quia ipsae sunt in tempore (ausführlich zitiert in Anm. 75, S. 219) – Zum Ausdruck in tempore vgl. auch oben zu Augustinus, S. 145 mit Anm. 307. BONAVENTURA, II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59]: Dixerunt ergo aliqui, quod tempus est unum ratione subiecti, in quo primo est et per se, quo remoto, removetur et tempus. Unde dixerunt, quod tempus est unum, quia est in primo mobili, cuius motu cessante, cessat et tempus … Et ideo dixerunt alii, quod tempus est unum ratione subiecti, in quo primo apparet. Cum enim tempus sit numerus sive mensura motuum, et numerus iste secundum essentiam et habitum sit in re mobili vel mota, … secundum actualem vero numerationem sit a parte animae … cum anima omnes motus et mutationes numeret aspiciendo ad mensuram motus primi mobilis, scilicet per diem, annum et horam; voluerunt dicere quod unum est tempus ratione subiecti, in quo primo apparet; quia, etsi omnia habeant proprias periodos, tamen omnia numerantur et mensurantur per mensuram motus regularis et certi et nobis notissimi, scilicet motus mobilis primi. Hier ist ferner auf I Sent. 37, 2, dub. 3 [I, 665] zu verweisen Im Zusammenhang mit dem eigentlichen Begriff der Zeit (proprie) gestand Bonaventura hier zu: tempus hoc modo dicitur proprie esse in primo mobili, sicut in subiecto, in quo primo est et in quo primo apparet. – Dies ist aber genau der zu enge Zeitbegriff (magis proprie, vgl. oben ab S. 174), der die affectiones der Engel nicht berücksichtigt. Vgl. besonders AVERROES, In Phys. IV, comm. 98 [Ed. cit. IV, fol. 178v G].
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
ter subiectum proprium, et esse eius in anima est in actu.294 Entsprechend war ihm daran gelegen, auch die Einheit der Zeit nicht als eine Abstraktionsleistung der Seele zu verstehen (wie aus verschiedenen weißen Gegenständen der eine Allgemeinbegriff des Weißen gezogen wird), sondern in der physischen Welt zu verankern. Die Vorlage dazu erhielt Averroes vor allem von Avicenna. Dieser hatte die Einheit der Zeit damit begründet, dass er die Bewegung der Himmelssphäre als die Ursache aller anderen Bewegungen (auch der im sublunaren Bereich) ansah.295 Für Avicenna hing das Sein der Zeit also unmittelbar an dieser einen Bewegung der Himmelssphäre, die zugleich die anderen Bewegungen misst, ohne dass die Zeit auch von diesen letzteren abhängig wäre.296 Averroes ergänzte und erweiterte diesen Ansatz, wobei er ihm zugleich eine andere Wendung gab. Gegenüber der strikt extrinsischen Zeitdefinition Avicennas machte er folgenden Einwand geltend:297 Wenn man die Zeit einzig an einer bestimmten Bewegung, nämlich der des primum mobile, festmacht, dann würde jemand, der diese Bewegung nicht wahrnehmen kann (etwa weil er blind oder unter der Erde eingesperrt ist), auch keine Zeit kennen. Da Averroes den Ausweg, die Zeit ganz als rein innerseelische Größe anzusehen, nicht beschreiten möchte, so bleibt ihm nur, die Zeit als ein Akzidens jeder Bewegung anzusehen. Damit nun die Zeit ihre Einheit bewahrt und nicht in eine Vielzahl von den Bewegungen zugeordneten Zeiten zerfällt, führt er eine Ordnung in der Zeitwahrnehmung ein: Es gibt nämlich eine Bewegung, mit der die menschliche Zeiterfahrung zuerst und wesentlich (primo et essentialiter) verbunden ist, weil sie zur conditio humana gehört und in der Wahrnehmung jeder der anderen Bewegungen mit-
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In Phys. IV, comm. 131 [Ed. cit. IV, fol. 202r E]; bei Bonaventura lautete die entsprechende Bestimmung: tempus est dispositio rei extra, non fictio animae (II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]). Die gegenteilige Ansicht der Zeit als einer rein innerseelischen Vorstellung sah Averroes vor allem von Galen vertreten, dem die christlichen Kommentatoren im 13. Jahrhundert (z. B. Albert) gerne Augustinus zur Seite stellten (Stellen siehe bei PORRO, Forme e modelli di durata, 41f., Anm. 78; zu Galens Zeittheorie und ihrem Verhältnis zu der des Averroes, vgl. JECK, Aristoteles contra Augustinum, 89 & 152–171). Sufficientia II, 13 [Ed. cit., 355f., Z. 84–87]: Auf das Argument, dass das primum mobile stillstehen könnte und es trotzdem Zeit gäbe, da ein anderer Körper sich bewegt, erklärte er: si non esset motus circularis corporis sphaerici, motus recti non haberent loca, nec essent motus recti naturales nec essent motus per vim. Ergo posse esse motum unius corporis tantum absque aliis corporibus est impossibile. Vgl. ebd. [Ed. cit., 356f., Z. 95–102]: Temporis ergo eius esse pendet ex uno motu et mensurat illum, et mensurat etiam ceteros motus, quos impossibile est esse absque motu corporis efficientis tempus suo motu … Sed possibile est, ut pendeat [scil. tempus] ab uno, quod mensurat et mensuret aliud etiam a quo non pendet. Der tiefere Grund, warum die Zeit gerade an dieser einen Bewegung hängt, ist deren Kontinuität (continuitas) im Gegensatz zu den anderen Bewegungen, die Anfang und Ende haben. Vgl. ebd. [Ed. cit., 355, Z. 72f.] (sed ex motibus omnibus qui habent principium et finem non pendet tempus), und ebd. [Ed. cit., 358f., Z. 25–36]. Vgl. In Phys. IV, comm. 98 [Ed. cit. IV, fol. 178r F – 179v I].
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enthalten ist: Das ist die Veränderung des eigenen Seins.298 Diese Bewegung aber führte Averroes schließlich ursächlich auf die Himmelsbewegung zurück.299 Mit diesem „Umweg“ über die Zeitwahrnehmung sind nun alle wesentlichen Eigenschaften der Zeit erhalten: ihre Einheit, ihr außerseelisches Fundament und ihre allgemeine (ausnahmslose) Wahrnehmbarkeit. In Bezug auf die Einheit der Zeit hat diese Lösung aber noch eine besondere Bedeutung:300 Sie ergibt sich in diesem Fall nämlich daraus, dass das Verhältnis der Zeit zur Bewegung des primum mobile und zu den übrigen Bewegungen ein verschiedenes ist: Die Bewegung des primum mobile ist diejenige Bewegung, die die Zeit definiert (iste motus accipitur in definitionem eius), und die Zeit misst diese Bewegung wie eine der Sache selbst inhärierende Form (secundum quod mensurat aliquid, quod est forma in re); die übrigen Bewegungen werden zwar gleichfalls von der Zeit gemessen, aber nur in abgeleiteter Weise. Das Verhältnis von Zeit und Bewegung entspricht dann dem von Zahl und Gezählten, wobei das Gezählte selbst nicht zur Definition dieser Zahl beiträgt.301 In aristotelischen Begriffen würde man also sagen, im Fall des primum mobile entspricht das Verhältnis von Bewegung und Zeit dem von gezähltem Gegenstand und numerus numeratus (konkreter Zahl), in den übrigen Fällen dagegen ist das Verhältnis so wie zwischen gezähltem Gegenstand und numerus numerans (abstrakter Zahl). Doch kehren wir zu den Ausführungen Bonaventuras zurück: Es sollte deutlich geworden sein, dass die erste von ihm dargestellte Lösung, die die seinsmäßige Verbindung von primum mobile und Zeit betont, der Position Avicennas nahesteht, während die zweite Lösung, die auf die Beteiligung der Seele und das Erscheinen der Zeit an der
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Vgl. ebd., fol. 179r AB: motus igitur, qui cum sentitur, sentitur primo, et essentialiter tempus, est motus, ex quo sentimus nos esse in esse transmutabili, et nos transmutari, quia sumus in hoc esse. Nos igitur esse in esse transmutabili sentitur … cum senserimus quemcumque motum. Vgl. ebd., fol. 179r B: manifestum est, quod nos non sentimus nos esse in esse transmutabili, nisi ex transmutatione coeli et si esset possibile ipsum quiescere, esset possibile nos esse in esse non transmutabili. – Averroes gab leider nicht an, wie er sich diesen manifesten Einfluss näherhin dachte. Vgl. ebd., comm. 132 [Ed. cit. IV, fol. 203r B – 204r D], besonders fol. 203v KL: Iam declaravimus prius quod nos percipimus tempus, quando percipimus motum, per quem sentimus nos esse in transmutatione continua, et est motus circularis. Tempus igitur sequitur hunc motum et iste motus accipitur in definitionem eius et ipsum mensurat illum, non secundum quod numerus mensurat numeratum, sed secundum quod mensurat aliquid, quod est forma in re; alios vero motus mensurat secundum quod numerus mensurat numeratum, scilicet quod numeratum non accipitur in definitione numeri. Vgl. ebd. [Ed. cit. IV, fol. 203v K]: dispositio eius [scil. temporis] cum motu uno est dispositio sequentis, in cuius definitione accipitur illud, ad quod sequitur, et cum aliis motibus sicut dispositio numeri cum numerato. Vgl. auch ebd., comm. 133 [Ed. cit. IV, fol. 204v I]: … sequitur ut tempus istius motus sit prius ceteris temporibus et numerans illa.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Bewegung der Himmelssphäre Wert legt, den Ansatz des Averroes widerspiegelt.302 Der Doctor seraphicus lehnte beide Begründungen ab. Gegen die erste These verwies er auf das aus Augustinus genommene Beispiel der Töpferscheibe303 und auf die mit dem freien Willen verbundenen Affekte und Gedanken der Seele: Beide Bewegungen waren für ihn nicht ursächlich mit der Bewegung des primum mobile verknüpft. Die tiefere Motivation dürfte dabei die sein, dass Bonaventura als christlicher Theologe zwar einen Einfluss des primum mobile auf die Körperwelt zugestehen konnte,304 aber eine strikte, umfassende Kausalität, die im Letzten auch den freien Willen des Menschen zunichtemachen würde, ablehnen musste – hier scheiden sich christliches und arabisch-muslimisches Denken. Gegen die zweite These argumentierte er mit dem aristotelischen Gedanken, dass die Zeit auch dann eine einzige bliebe, wenn es zwei «prima mobilia» (eigentlich ein Widerspruch in sich) gäbe.305 Dabei scheint mir die angeführte Begründung tiefer zu gehen, als es der Wortlaut alleine ausdrückt: In den von Bonaventura eingeführten Zeitdefinitionen stellt der Zeitbegriff, der über die Bewegung des primum mobile gewonnen wird, jeweils das engste, eingeschränkteste Verständnis von Zeit dar.306 Zeit gab es bereits, bevor das primum mobile erschaffen wurde, und schon insofern kann es kaum als Grund für die Einheit der Zeit angegeben werden.307 Hinzu kommt, dass die Engel – und die ganze Frage steht ja im Kontext der Angelologie – in bestimmter Weise ebenfalls unter dem Maß der Zeit stehen: nicht in ihrem Sein, denn das wird vom aevum gemessen, aber in ihren affectiones.308 Da der angestammte Ort 302
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GHISALBERTI, La concezione del tempo, 751, Anm. 16 identifizierte die zweite Meinung bei Bonaventura auch mit der Alberts in Physica IV, 3, 17 [Ed. Colon. IV.1, 290–293], ich würde hier allerdings eher auf Averroes als gemeinsamer Quelle beharren, zumal das zeitliche Verhältnis von Bonaventuras Sentenzenkommentar (gelesen 1250–1252, Niederschrift 1252/53, vgl. Ignatius BRADY, The Edition of the «Opera omnia» of St. Bonaventure, in: Archivum Franciscanum Historicum 70 (1977) 352–376) zu Alberts Physica (begonnen 1251/2, beendet vor 1257, vgl. die Prolegomena, in Ed. Colon. IV.1, Vf.) nicht klar ist. Vgl. oben Anm. 75, S. 105. Vgl. II Sent. 14, 1, 1, 2, sc. 6 [II, 339]: firmamentum sua influentia facit elementa contraria concurrere ad corpora mixta, oder Brev. II, 4 [V, 221b], insbesondere: Sic tamen sunt [scil. corpora caelestia] in signa temporum et regimen operationum, ut non sint certa signa futurorum contingentium nec influant super liberum arbitrium per vim constellationum, quam dixerunt aliqui philosophi esse fatum. Vgl. auch GILSON, Philosophie des hl. Bonaventura, 320. Vgl. erneut Physica IV, 10 [218b 3–9]; vgl. oben S. 214, Anm. 50. Siehe den Abschnitt oben ab S. 174. Man bedenke dabei, dass Bonaventura das Schöpfungswerk nicht als instantanen Akt (wie Augustinus oder Thomas), sondern als einen sukzessiven Prozess verstand (vgl. etwa II Sent. 12, 1, 2 [II, 295–298]). Vor der Formung des primum mobile gab es Zeit secundum mutabilitatem, quae erat in materiae partibus (II Sent. 12, 2, 2, ad 4 [II, 305]). Man kann hier ferner darauf hinweisen, dass die Zeit zusammen mit dem Empyreum, den Engeln und der materia prima zu den vier erstgeschaffenen Dingen gehört, vgl. oben S. 56, Anm. 172. Vgl. I Sent. 37, 2, dub. 3, resp. [I, 665]: aevum est mensura Angelorum quantum ad esse substantiale, quod est invariabile et incorruptibile; sed tempus quantum ad proprietates, quae variantur,
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der Engel aber im ruhenden Empyreum „oberhalb“ der Fixsternsphäre anzusiedeln ist,309 kann auch die Zeit dieser Bewegungen nicht vom primum mobile gemessen werden. Diese beiden Beispiele zeigen hinlänglich, dass es nicht die Bewegung des primum mobile sein kann, die das erste Maß für die Zeit ist und an der (mit den Worten des Averroes) primo et essentialiter die Zeit aufscheint. Die schließlich präsentierte Lösung für die Frage nach der Einheit der Zeit ging dann einen anderen, weder von Aristoteles noch von seinen antiken oder arabischen Kommentatoren eingeschlagenen Weg: Der Ausgangspunkt war die im vorigen Abschnitt bereits beschriebene Bestimmung der Materie als des eigentlichen Subjektes der Zeit. Näherhin führte Bonaventura die Einheit der Zeit auf das Wesen der Materie ut mutabilis, et ita ut ens in potentia zurück,310 wobei man sich fragen kann, ob diese Lösung des Problems nicht von Avicenna inspiriert war. Dieser hatte in den Sufficientia II, 11 die Zeit als mensura possibilitatis bestimmt; ihr Subjekt war dann jenes, das zuerst die Möglichkeit zu Veränderung aufweist.311 Die so vorgegebene Linie lässt sich dabei nicht nur auf das primum mobile hin weiterverfolgen, wie es Avicenna tat, man kann mit Bonaventura auch in die Richtung weiterdenken, dass die Materie das Erste ist, in dem die besagte Möglichkeit steckt.312 In jedem Falle sollte man sich zunächst der Voraussetzung dieses Ansatzes zuwenden, nämlich wie Bonaventura die Einheit des Wesens der Materie verstanden wissen wollte. In II Sent. 3, 1, 1, 2f. [II, 94–101] klärte er diese Frage in zwei Anläufen: Zunächst (Quaestio 2) zeigte er die Einheit der gemeinsamen Natur auf,313 um dann in Quaestio 3 die numerische Einheit zu beweisen. Diese numerische Einheit bestimmte er näherhin als unitas homogeneitatis.314 Diese Einheit unterscheidet sich sowohl von der Einheit des Individuums (unitas individuationis), die die Materie als ein ens in potentia nicht besitzen kann, als auch von der Einheit eines durch einen Allgemeinbegriff be-
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et quaedam subito, quaedam successive, sicut patet in Angelis per naturam paulative intendi aliqua affectio. Vgl. auch II Sent. 2, 1, 1, 1, resp. [II, 56f.] sowie II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 64f.]. Vgl. II Sent. 2, 2, 2, 1, resp. [II, 76]: Dicendum quod caelum empyreum locat Angelos et est locus Angelorum … Vgl. dazu auch oben S. 185 mit Anm. 94 und den Abschnitt zum Empyreum (ab S. 52). II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]. Sufficientia II, 11 [Ed. cit., 326f., Z. 90–96]: Et constat quoniam ipsum [scil. id, quod movetur] est res in qua primo cadit possibilitas permutationum, quemadmodum diximus, et deinde cadit in aliud ab illo propter illud. Erit ergo illud [scil. tempus] mensura, quae mensurat possibilitatem praenominatam per seipsam. … Nos enim non posuimus hoc nomen «temporis» nisi rei quae ex seipsa est mensura possibilitatis, in qua cadit primitus possibilitas predicta. Zu der Stelle vergleiche auch MANSION, La théorie aristotélicienne, 290–292. Man denke an Bonaventuras Bestimmung der Materie als principium mutabilitatis (II Sent. 3, 1, 1, 1, arg. 1 [II, 89]). – Vgl. auch den Hinweis auf Avicenna in Anm. 243, S. 258. II Sent. 3, 1, 1, 2, princ. [II, 94]: loquor secundum identitatem naturae communis, ut sicut omnes anuli de auro dicuntur habere eandem materiam per naturam sive essentiam, cum tamen numeraliter varietur. II Sent. 3, 1, 1, 3, resp. [II, 100f.].
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
zeichneten allgemeinen Wesens (die unitas universalitatis, wie sie der Gattung oder der Art zukommt), denn auch diese setzt eine irgendwie geartete Aktuierung voraus. Letztlich spiegelt sich in dieser besonderen Form der Einheit der ontologische Status der Materie als eines Mittleren zwischen Etwas und Nichts.315 Für Bonaventura bedeutete diese unitas homogeneitatis ein simul in diversis, was nichts anderes heißt, als dass es dieselbe Materie ist, die zugleich in verschiedenen – um nicht zu sagen allen – Dingen anwesend ist. Die so bezeichnete Einheit beruht auf dem Vermögen der Materie, eine beliebige Form aufzunehmen, und kann insofern auch als unitas possibilitatis bezeichnet werden; letztlich kommt sie aus der völligen Unbestimmtheit der Materie.316 Weil aber dieses Wesen der Materie in jeder konkreten Materie zu finden ist, geht diese Einheit durch die Aufnahme der Form auch nicht verloren, sondern bleibt als zugrundeliegende bestehen.317 Diese unitas homogeneitatis reklamierte Bonaventura auch für die Zeit.318 Wohlgemerkt gilt sie nur für das Wesen der Zeit und nicht für ihr Sein. Betrachtet man das Sein, so löst sich (bei der Zeit genauso wie bei der Materie) die Einheit in Verschiedenheit auf: Die in der Natur vorliegende, immer durch eine Form aktuierte Materie ist von jeder anderen Materie verschieden, und ebenso ist die an eine gegebene Bewegung als Akzidens gebundene Zeit verschieden von der Zeit einer anderen Bewegung.319 Auch für die Zeit gilt dabei, dass ihre wesentliche Einheit eine Einheit der Ununterscheidbarkeit ist. Sie kommt dadurch zustande, dass die Zeit von allen Akzidenzien den größten (und dichtesten) Bezug zur Materie hat und deswegen am wenigsten eine Differenzierung zulässt.320 Mit anderen Worten wird hier also die Einheit der Zeit auf die Identität oder besser die wesentliche Ununterschiedenheit der Materie als des Bewegten zurückgeführt. Diese Position hat durchaus einiges für sich, gerade wenn man sie an der Ausgangssituation – der Frage, warum zwei gleichzeitig ablaufende und gleich lange dauernde Bewegungen ein und dieselbe Zeit haben – misst. Im Grunde genommen besagt sie dann nämlich nichts anderes als eine Abstraktion von den konkreten, in der Bewegung sukzessive aufgenommenen akzidentellen Formen. Vermissen mag man allerdings sowohl eine tiefere Reflexion auf den Begriff der Gleichzeitigkeit wie auch auf den Aspekt der Messung der Zeit. Hier mag sich einmal mehr auswirken, dass es Bonaventura 315 316 317 318
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II Sent. 3, 1, 1, 1, arg. 1 [II, 89]: ergo aliquid, quod non est omnino aliquid, nec omnino nihil, sed quod est medium inter aliquid et nihil; hoc autem dicit Augustinus materiam. Vgl. II Sent. 3, 1, 1, 3, resp. [II, 101]: Unde dicitur una numero, quia est una sine numero, quemadmodum ovis, carens signo respectu ovium habentium signum, dicitur esse signata. II Sent. 3, 1, 1, 3, resp. [II, 100b]: haec [scil. unitas] non tollitur per adventum formarum: ita est materia una sub omnibus formis, sicut omnibus formis abstractis. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: Sicut igitur materia una est per essentiam, differens per esse, una non unitate universalitatis nec singularitatis, sed medio modo, sic et tempus in omnibus temporalibus. Vgl. noch einmal Anm. 318, ferner GHISALBERTI, La concezione del tempo, 751–753. Vgl. II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II 59f.]: … et ideo tenet se maxime ex parte materiae, et ideo minime distinctum.
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nicht um das philosophische Problem an sich ging, sondern er die philosophische Begründung nur anführte, um ein ganz anderes Problem (die Frage nach der Einheit des aevum) zu lösen. Fragt man, welche Rezeption die eben skizzierte Theorie Bonaventuras von der Einheit der Zeit erfahren hat, so kann man einerseits darauf hinweisen, dass der Ansatz Bonaventuras, die Einheit der Zeit auf die Einheit der Materie zurückzuführen, zu seiner Zeit eine gewisse Verbreitung gehabt haben muss, denn Roger Bacon nannte sie eine opinio vulgata apud multos bzw. eine positio famosa;321 obwohl er selbst sie ablehnte, und das schon allein deswegen, weil er die Voraussetzung Bonaventuras von der Einheit der Materie nicht teilte.322 Andererseits stellt man aber auch fest, dass in der Folgezeit praktisch kein Lehrer die Theorie des Franziskaners übernommen hat, führende Gestalten der Scholastik haben sich vielmehr ausdrücklich gegen sie ausgesprochen (neben Roger Bacon auch Thomas von Aquin, Petrus Johannis Olivi, Aegidius Romanus, Duns Scotus).323 Thomas von Aquin beispielsweise, der für seinen Sentenzenkommentar den Bonaventuras vor sich liegen hatte, führte die Meinung Bonaventuras nur an, um sie dann in drei Anläufen zu widerlegen. So wies er erstens darauf hin, dass die Zeit nicht Veränderungen in potentia, sondern Veränderungen in actu misst, diesen fehlt aber gerade die geforderte Einheit.324 Zweitens zweifelte er wie Roger Bacon an der Einheit der Materie in allen beweglichen Körpern, und schließlich entsprach für ihn die Zeit nicht der Materie hinsichtlich ihres Wesens, sondern nur hinsichtlich ihres Seins (d. h., insofern sie sich durch die Bewegung verändert).325 Hier zeigt sich erneut, dass es das grundsätzlich andere Verständnis des Aquinaten von Materie war – sowohl was die Verbindung von Materie und Körperlichkeit als auch was die aktive Hinordnung der Materie auf die Form angeht326 –, das ihn die Position des Franziskaners ablehnen ließ. Auch in späte321
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So in den Communia naturalium I, 3, 6 [Ed. cit. III, 162] (Deinde est alia posicio falsior, quod tempus habet unitatem a materia … et hec est opinio vulgata apud multos, et maxime apud quosdam theologos) bzw. in den Questiones supra libros octo Physicorum Aristotelis IV, ed. Ferdinand M. Delorme & Robert Steele (Opera hactenus inedita Rogeri Baconi XIII), Oxford 1935, hier 279, Z. 10–13 (Alia est positio famosa quod tempus est principium variationis, cum sequitur ad principium unitatis, et materia est una, ideo tempus). Welche Autoren hier angesprochen waren, ist gar nicht so leicht auszumachen. Wenn die vom Herausgeber vorgenommene Datierung richtig ist (Ende der 1250’er Jahre), so kann man wenigstens ROBERT KILWARDBY, De tempore 13, besonders nr. 57, 59 und 62 [ABMA 9, 23–25] dazu zählen. Die hier mit Et diceret forte aliquis eingeführte Position entspricht recht genau dem, was Bonaventura vortrug: Es wird sowohl der Grundsatz unum per essentiam, multa tamen secundum esse (nr. 59) als auch die Rückführung der Einheit auf die wesentliche Einheit der Materie (nr. 57) genannt. Vgl. MAIER, Scholastische Diskussionen, 528. Vgl. ebd., 526f. mit Anm. 16, dort auch entsprechende Quellenangaben. In dieselbe Richtung argumentierte etwa Petrus Johannis OLIVI, II Sent. 10 [BFSMA 4, 191]. Vgl. II Sent. 2, 1, 2, resp. [Ed. cit. II, 67]. Siehe oben S. 264.
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ren Schriften hat sich Thomas noch des Öfteren mit der Einheit der Zeit befasst,327 seine Lösung war dabei durchweg die averroistische, die Zeit per se als das Maß der Bewegung des primum mobile zu verstehen und daraus deren Einheit abzuleiten.328 In der Zeit vor 1268 (als Thomas seinen Physikkommentar schrieb) deckte sich seine Lehre dabei völlig mit der Alberts des Großen. Dieser hatte die Gedanken des Averroes folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Zeit verhält sich zur Bewegung des primum mobile sicut ad subiectum et numeratum, zu allen anderen Bewegungen dagegen verhält sie sich sicut ad numerata solum.329 Ab 1268 äußerte sich Thomas zwar vorsichtiger, das heißt, er ging auf das unterschiedliche Verhältnis der Zeit zu der Bewegung des primum mobile und zu den übrigen Bewegungen nicht mehr näher ein, aber er blieb dabei, die Einheit der Zeit auf die Bewegung der Himmelssphäre zurückzuführen.330 Dennoch konnte sich in der Folgezeit das averroistische Modell – wenn auch in leichter Modifizierung – durchsetzen: Gegen Ende des 13. Jahrhunderts war es für einige Jahrzehnte die allgemein akzeptierte Lösung für das Problem der Einheit der Zeit.331
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So S. th. I, 10, 6 [Ed. Leonina IV, 104f.]; III, 75, 7 [Ed. Leonina XII, 174f.]; De spiritualibus creaturis 9, ad 11 [Ed. Leonina XXIV, 2, 99]; Quodlibet 2, 3 [Ed. Leonina XXV, 219]; nur in der Stelle S. th. I wird dabei Bonaventuras Lehre noch erwähnt. Vgl. hierzu auch Alessandro GHISALBERTI, La nozione di tempo in San Tommaso d’Aquino, in: Rivista di filosofia neoscolastica 59 (1967) 343–371, hier bes. 349–351. So schon in I Sent. 19, 2, 1, ad 4 [Ed. cit. I, 469]: quod tempus per se est mensura motus primi; unde esse rerum temporalium non mensuratur tempore nisi prout subjacet variationi ex motu caeli. Unde dicit Commentator, IV. Physic., quod sentimus tempus, secundum quod percipimus nos esse in esse variabili ex motu caeli. Physica IV, 3, 17 [Ed. Colon. IV.1, 292, Z. 11–16]: Refertur enim tempus ad primum mobile et ad motum eius sicut ad subiectum et numeratum, ad alios autem motus sicut numerus extrinsecus ad numerata solum et in illis non est sicut in subiecto et ideo non multiplicatur multiplicatione eorum. – Vgl. THOMAS VON AQUIN, II Sent. 2, 1, 2, resp. [Ed. cit. II, 67]: tempus est unum ab unitate motus primi mobilis: tempus enim comparatur ad istum motum non tantum ut mensura ad mensuratum, sicut ad alios motus, sed sicut accidens ad subjectum, quod ponitur in definitione ejus. Z. B. In Physic. IV, c. 14, lect. 23, 12 [Ed. Leonina II, 225a]: Sic igitur patet quod tempus primo mensurat et numerat primum motum circularem, et per eum mensurat omnes alios motus. Unde est unum tempus tantum propter unitatem primi motus; et tamen quicumque sentit quemcumque motum, sentit tempus, eo quod ex primo motu causatur mutabilitas in omnibus mobilibus, ut supra dictum est. Vgl. PORRO, Forme e modelli di durata, 44f.; MAIER, Scholastische Diskussionen, 538.
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Theologische Deutungen
Nach den ausführlichen philosophischen Erwägungen des vorausgegangenen Kapitels sollen nun die theologischen Implikationen aus Bonaventuras Zeitverständnis in den Blick genommen werden. Aus dem Bisherigen sollte dabei bereits eine doppelte Absicht des Franziskaners hervorgetreten sein: Erstens wollte er ein möglichst universales Konzept von Zeit vorlegen. Zeit in einem weiten Sinn „erfüllt“ die ganze Schöpfung, von der minimal geformten Urmaterie bis zu den vollkommensten Wesen und vom ersten Augenblick ihres Daseins an ohne Ende. In diesem weiten Konzept ist zweitens die Zeit in ihrem engem Sinn – die magis proprie verstandene aristotelische Zeit – aufgehoben, aber so, dass ihr Geltungsbereich begrenzt ist auf den Raum unterhalb des primum mobile und auf die Dauer seiner Bewegung (vom zweiten oder vierten Schöpfungstag bis zum Jüngsten Gericht). Im Folgenden wird es vor allem um den erstgenannten weiten Zeitbegriff gehen, der das erste und zweite der obengenannten Zeitverständnisse (communiter, communissime) umfasst.1 Das Ziel, das der Doctor seraphicus mit ihm verfolgte, besteht darin, die Zeit als Grundstruktur des geschaffenen Seins zu erweisen. Die Schritte zu diesem Ziel sind dabei verhältnismäßig einfach: Zunächst gilt es, den Schöpfungsakt selbst zu betrachten und das rechte Verständnis seiner Zeitlichkeit zu erreichen. Schlüsselbegriffe dazu sind die mutatio ad esse und der Hervorgang (egressio) aus dem Nichts, die schon in der Bezeichnung eine zeitliche Konnotation enthalten, die aber noch genauer zu fassen ist. Die Zeitlichkeit des Schöpfungsvorgangs hat weitreichende Konsequenzen, denn einerseits erweist sich darin die Zeit selbst als Schöpfung, andererseits leitet sich daraus die bleibende Prägung des geschaffenen Seins durch Zeitlichkeit ab. Das Verständnis der Zeit als habitudo concreata umfasst beide Aspekte, den Raum der Zeit zugleich maximal ausdehnend und gegenüber der ungeschaffenen, überzeitlichen Wirklichkeit Gottes abgrenzend.
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Vgl. oben S. 168.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
Geschaffenes Sein als zeitliches Sein
In einem weiten Sinn umfasst der Schöpfungsbegriff das gesamte Sechstagewerk, das Bonaventura im Breviloquium in drei Phasen einteilte:2 (1) Die creatio im engeren Sinn, (2) die „Unterscheidung“ (distinctio) – im Sinn einer Ausformung und Ausdifferenzierung des Geschaffenen – als das Werk der ersten drei Tage und (3) die weitere Ausschmückung (ornatus) in den folgenden drei Tagen. Ohne die Position des Augustinus zu verurteilen – dieser legte das creavit omnia simul aus Sir. 18, 1 ja so aus, dass sie Schöpfungstage symbolisch zu verstehen seien und die gesamte Schöpfung in einem einzigen Augenblick stattfand3 –, wollte Bonaventura den gesamten Schöpfungsprozess als einen zeitlichen (per successionem temporum) verstehen.4 Im Folgenden wird es um die creatio im engeren Sinn gehen, die in der Heiligen Schrift durch die Worte In principio creavit caelum et terram bezeichnet ist. Dabei sei noch ein kurzer Exkurs erlaubt, um zu klären, was genau denn in jenem ersten Moment – in principio, ante omnem diem, tanquam omnium rerum et temporum fundamentum wie sich das Breviloquium ausdrückte5 – hervorgebracht wurde, sprich, was Bonaventura unter caelum et terram verstand. Die Sentenzen des Lombarden hatten dies mit Augustinus und vermittelt durch die Summa sententiarum auf die Engel bzw. die noch ungeformte Materie der vier Elemente bezogen.6 Der Doctor seraphicus erkannte darin die ersten drei der vier primo creata: die Engel als die geistige Substanz sowie das Em2
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Vgl. Brev. II, 2 [V, 220a]: … triformis fuit operatio divina ad mundanam machinam producendam, scilicet creatio, … distinctio, … et ornatus. Der folgende Text erklärt diese Werke im Einzelnen. Dasselbe auch II Sent. 12, 1, 2, ad 4.5.6 [II, 298]. Ebd., ad 2 [II, 297] zum Unterschied des Sprachgebrauchs von creare und facere (zu Gen 2, 2f.): Nam creationem vocat productionem ex nihilo, factionem vero ipsam distinctionem. Vgl. oben S. 146. Wiederum Brev. II, 2 [V, 220a]: … licet potuerit Deus facere in instanti, maluit tamen per successionem temporum …; eine ausführliche Begründung gab II Sent. 12, 1, 2 [II, 295–298], das die gleichlautende Stellungnahme des Lombarden ausweitete; vgl. Sent. II, 12, 2 (59) & 15, 6 (87) [SpicBon 4, 384f & 402f.]. Das creavit omnia simul wird dementsprechend auf die Hervorbringung im eigentlichen Sinn gedeutet, die in sich die „hauptsächlichen und wichtigsten Teile“ (partes principales sive priores) enthält; vgl. I Sent. 42, dub. 2 [I, 760] sowie II Sent. 12, 1, 2, fund. 2 [II, 296]. Ähnlich auch II Sent. 2, 1, 2, 3, ad 1.2 [II, 68b]: … dicendum, quod ipsi loquuntur secundum illam positionem, quae posuit, creationem tempore praecedere distinctionem. Unde in principio temporis Angelus et materia sunt creata; sed res non fuerunt distinctae usque ad tertium diem. Brev. II, 2 [V, 220a]. Vgl. PETRUS LOMBARDUS, Sent. II, 12, 1 (58), 2 [SpicBon 4, 384, Z. 9–12]: … in principio Deum creasse caelum, id est angelos, et terram, scilicet materiam quatuor elementorum adhuc confusam et informem … et hoc fuit ante omnem diem. Vgl. hierzu weiter AUGUSTINUS, Gen. adv. Man. I, 5, 9 [CSEL 91, 76, Z. 8–17] und (z. B.) Summa Sententiarum III, 1 [PL 176, 89A; PL 171, 1116C – dort c. 23]; etwas anders hieß es ebd. II, 1 [PL 176, 81C; PL 171, 1108B – dort c. 18]: coelum, id est angelos; terram, id est corpoream machinam, in cujus superiori parte facti sunt coeli, id est angeli; unmittelbar zuvor wurde dabei auf das Empyreum als diesen Ort der Engel hingewiesen.
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pyreum und die Elementarmaterie7 als die aktive bzw. passive körperliche Substanz. Die Worte in principio weisen dann auf das vierte der primo creata hin, auf die Zeit, die als Maß mit den drei Substanzen zusammen erschaffen wurde,8 wobei „Zeit“ hier – wie bereits gesehen9 – in ihrem allgemeinsten, das aevum einschließenden Sinn zu verstehen ist. Bereits an dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, dass „Zeit“ den Schöpfungsvorgang von Anfang an begleitet; tiefer wird dieser Zusammenhang erfasst, wenn man sich mit Bonaventura die Bedeutung des Begriffs „Schöpfung“ klarmacht. Dazu unterschied der Franziskaner zunächst creatio-actio und creatio-passio:10 Erstere ist das mit der göttlichen Substanz real-identische Handeln Gottes als das principium a quo der Schöpfung,11 letztere bezeichnet das Geschaffenwerden der geschöpflichen Wirklichkeit
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Dass mit terra nicht das Element „Erde“ gemeint sein kann, solange von creatio im engeren Sinn die Rede ist, betonte II Sent. 2, 1, dub. 1 [II, 69], besonders (am Ende der Stelle): Nota tamen, quod aliter accipitur principium, secundum quod nomine terrae intelligitur materia, aliter secundum quod intelligitur elementum terrae. Secundum enim quod nomine terrae intelligitur materia, tunc dicitur esse fundata in principio, id est in primordio productionis rerum; secundum quod terra dicitur elementum, tunc dicitur esse fundata in principio, id est in primis operibus sex dierum. – Andererseits ist mit „Materie“ nicht die abstrakte metaphysische Materie (materia secundum sui essentiam) gemeint, sondern eine real existierende, minimal geformte Materie, die eben deswegen auch von Anfang an der Zeit im eigentlichen Sinn unterliegt (nunquam est praeter locum et tempus) – vgl. II Sent. 12, 1, 1, resp. [II, 294a] (zitiert oben S. 260, Anm. 255) sowie ebd., qu. 2, fund. 4 [II, 296] (in tanta informitate, in quanta materia posset aliquo modo subsistere). Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 3, resp. [II, 68]; zum Empyreum vgl. auch ebd. 2, 2, 1, 1, resp. [II, 71]. Siehe oben den Abschnitt ab S. 197. Eine ähnliche Terminologie hatte auch die Summa Halensis II, 1, 1, 2, 2, 2, 5 (25) [Ed. cit. II, 36] und (z. B.) ebd. II, 1, 1, 2, 2, 1, 1–8 (41–48) [Ed. cit. II, 50–57], wo creatio-actio und creari unterschieden wurden, vgl. auch ebd. I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 1 (68), resp. [Ed. cit. I, 105] (creatio passiva, zitiert S. 280, Anm. 30); auch Thomas von Aquin übernahm diese Terminologie in I Sent. 40, 1, 1, ad 1 [Ed. cit. I, 942f.] und ebd. 47, 1, 4, exp. [Ed. cit. I, 1075]; zuvor trat der Begriff auch in den 1241 von Wilhelm von Auvergne verurteilen Artikeln auf (vgl. oben S. 60, Anm. 192), zitiert bei Bonaventura II Sent. 23, 2, 3 [II, 547], hier a. 8: quod primum nunc et creatio-passio non est Creator nec creatura). Auf Letzteres bezogen sich die Ausführungen in II Sent. 1, 1, 3, 2, resp. [II, 34f.] (und ebenso ebd. 1, 1, 1, 1, ad 6 [II, 18a]), dass die creatio-passio nicht in einem realen Sinn als Mittleres zwischen Schöpfer und Schöpfung aufgefasst werden kann. Das zugrundeliegende Problem hatte – allerdings ohne zu der hier vorliegenden Terminologie zu gelangen – Petrus Lombardus in Sent. II, 1, 3, 1 [SpicBon 4, 330f.] in den Blick genommen, indem er konstatierte: Quod haec verba, scilicet facere et agere et huiusmodi, non dicuntur de Deo secundum eam rationem qua dicuntur de creaturis. Vgl. II Sent. 1, 1, 3, 2, resp. [II, 34a] zur Frage, ob creatio ein Mittleres zwischen Schöpfer und Geschöpf darstellt: Si de creatione-actione loquamur, sic dico, quod non est medium secundum rem, sed solum secundum rationem intelligendi, pro eo quod Deus, cum sit summe simplex, est sua actio.
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als den außerhalb Gottes liegenden terminus ad quem dieses Handelns.12 Was sich dabei vordergründig als die aktive bzw. passive Formulierung desselben Tuns anhört, sind in Wirklichkeit zwei real verschiedene Sachverhalte, die als Ursache und Wirkung miteinander verknüpft sind.13 Dem liegt das Verständnis von „Schöpfung“ als einem Beziehungsbegriff zugrunde, der nur auf Seiten des Geschöpfes eine relatio realis besagt.14 Die Diastase wird besonders deutlich, wenn man die zeitliche Konnotation der beiden Begriffe in den Blick nimmt: Da Gott absolut unveränderlich ist, ist die Schöpfung im Sinn der creatio-actio etwas Ewiges, obwohl darin ein Bezug auf die zeitliche Realität der creatio-passio enthalten ist und creatio insofern von Gott ex tempore ausgesagt wird.15 Die creatio-passio hingegen ist real (wenn auch nicht formal) identisch mit dem geschöpflichen Sein (d. h. der creatura),16 und insofern besagt sie nicht nur einen Bezug zur Zeitlichkeit, sondern sie ist selbst zeitlich (ex tempore, temporale).17
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I Sent. 40, 1, 1, ad 4 [I, 703] betonte das transit extra, das in striktem Gegensatz zu den innertrinitarischen Hervorbringungen zu verstehen ist; diesen Gegensatz hob etwa auch II Sent. 1, 1, 3, 1, resp. & ad 7 [II, 32f.] hervor. Vgl. II Sent. 1, 1, 3, 1, ad 1 [II, 32]: Si ergo obiiciat, quod verbum activum et passivum idem significant; dicendum, quod falsum est, quia actio et passio dicunt diversa genera; und I Sent. 40, 1, 1, ad 2 [I, 703a]: Actioni secundum rem, quae est principium efficiens aliquid, respondet passio differens secundum rem, ut creationi-actioni creatio-passio. Vgl. hierzu I Sent. 30, 1, 3, [I, 524–526] (Utrum nomina, quae de Deo ex tempore dicuntur, importent realem in Deo relationem) im Responsum [I, 526a] erläuterte Bonaventura, was mit dem Ausdruck „reale Relation“ über das geschaffene Sein ausgesagt wird: Creatura autem ad Deum habet ordinem et habitudinem, mediante proprietate accidentali et dependentia essentiali et origine naturali. – Auf die hier genannten drei Arten der relatio realis nahm dann auch II Sent. 1, 1, 3, 2, resp. [II, 34f.] Bezug, wobei es die dependentia essentialis hervorhob. Umgekehrt betonte I Sent. 30, dub. 1, resp. [I, 527a] für die göttliche Substanz: quamvis divina essentia non habeat vere respectum ad creaturam, tamen contingit eam intelligere et significare per modum respectus. – Es liegt auf Seiten Gottes also umgekehrt keine reale Beziehung vor, sondern nur secundum modum intelligendi et significandi. In I Sent. 30, 1, 1, sc. 3 & ad 3 [I, 521.522] ergab sich das aus dem Axiom omne quod praedicatur de Deo, est Deus, et ita aeternum; im Responsum unterschied Bonaventura deswegen: Dicendum, quod aliquid dici ex tempore est dupliciter: aut quia ipsum est temporale, aut quia dicit respectum ad temporale. Die Antwort in ad 3 präzisierte: Aliquid enim, quod est aeternum ratione principalis significati, id est, quod est aliquid aeternum, ratione connotati dicitur temporale. Trin. 5, 1, ad 15.16 [V, 92] hatte entsprechend über die creatio-actio festgestellt: actus intrinsecus est aeternus, sicut et substantia; effectus vero temporalis, quia creatura. – Zur Unterscheidung von Aussagen über Gott, die ex tempore oder ab aeterno getroffen werden, vgl. insgesamt I Sent. 30 [II, 521– 528]; sie begegnete bereits bei Augustin, siehe oben S. 145, Anm. 307. So der Schluss von II Sent. 1, 1, 3, 2, resp. [II, 35]: Et ideo concedendum, quod creatio non est aliud secundum rem a creatura. Die Reihe der Sed-contra-Argumente [II, 33f.] (vgl. besonders sc. 1: ergo creari non est aliud quam esse) läuft auf dasselbe Ergebnis hinaus – im Folgenden ist dann einzusehen, wie Bonaventura dieses Ergebnis im Responsum noch verfeinerte (vgl. unten S. 280 mit Anm. 30). Im Sinn von Anm. 15 ist hier das ex tempore im ersteren Sinn zu verstehen.
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Die durch das ex tempore ausgedrückte Zeitlichkeit des Geschaffenwerdens beinhaltet zwei Aussagen: zum einen, dass die Welt nicht von Ewigkeit her (ab aeterno) existiert hat, sondern vor endlicher Zeit einmal begonnen hat,18 zum anderen, dass dieser Beginn – die creatio im engeren Sinn – selbst eine zeitliche Struktur besitzt. Die Verfolgung des letzteren Aspektes führt dabei zu einem vertieften Verständnis jenes Zeitbegriffs, den Bonaventura als tempus communiter dictum mit der richardschen Sentenz omne quod coepit, ex tempore coepit verbunden hatte.19 Wie bereits gesehen, besteht die Besonderheit dieses Zeitbegriffs in dem Bezug auf die Schöpfung als Bewegung des exitus de non-esse in esse20 oder der mutatio ad esse.21 Das Problem, mit dem der Doctor seraphicus rang, war dabei, ob im Schöpfungsakt wirklich eine Veränderung (mutatio) stattfindet, denn die mutatio als aliter se habere nunc et prius22 setzt ja einen vergleichenden Bezug auf ein prius voraus, das es im Falle der Schöpfung „aus dem Nichts“ auf keine Weise gegeben hat. Anders gesagt: Nicht nur eine Eigenschaftsveränderung, auch das (natürliche) Entstehen und Vergehen, die mutatio secundum substantiam,23 verlangt nach einem sich durchhaltenden Substrat, damit überhaupt ein Bezug zwischen der früheren und der späteren Disposition hergestellt werden kann.24 Als Besonderheit des christlichen Schöpfungsbegriffes wurde aber gerade verstanden, dass hier nicht aus einer vorausliegenden (eventuell ewig existierenden) Materie etwas geschaffen wurde, sondern die gesamte Substanz des zu Schaffenden wurde ohne eine wie immer geartete vorgängige Disposition hervorgebracht.25 Für diese creatio ex nihilo 18 19 20 21 22 23
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Dazu II Sent. 1, 1, 1, 2 [II, 19–24] (Utrum mundus productus sit ab aeterno, an ex tempore); siehe auch die Ausführungen auf S. 17, S. 20 mit Anm. 22, S. 345 mit Anm. 345 sowie S. 402. II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 64f.], siehe den Abschnitt oben ab S. 193. II Sent. 1, 1, dub. 4 [II, 38]; ebd. 2, 1, 2, 3, resp. [II, 68a] hieß es in diesem Sinn von der Zeit: non tantum dicit mensuram durationis, sed etiam egressionis. So II Sent. 1, 1, 3, 2, resp. [II, 34b]. So II Sent. 1, 1, 3, 1, sc. 2 & ad 2 [II, 31.32] mit Bezug auf ARISTOTELES, Physica V, 1; VI, 4.5.8 (wo die Idee aber nicht in dieser Prägnanz formuliert wurde). Um diese geht es hier stets – im Gegensatz zur mutatio secundum accidens, die in dieser Hinsicht keinerlei Schwierigkeiten bereitete; vgl. II Sent. 1, 1, 3, 1, sc. 6 [II, 31f.]. Die Unterscheidung geht auf ARISTOTELES, Physica V, 1 [bes. 224a 21–30] zurück. Dabei ist auch klar, dass der mit der so verstandenen mutatio verbundene Zeitbegriff (tempus communiter dictum) aus dem eigentlichen (proprie) Verständnis von Zeit herausfällt, denn stellt man sich Zeit als eine (Halb-)Gerade mit einem gewissen Anfang vor, so kann man von Zeit im eigentlichen Sinn (proprie) erst ab dem „zweiten“ Augenblick sprechen, denn nur auf den Punkten im Inneren der Geraden gibt es jeweils ein Früher und ein Später, und nur dort kann es Veränderung im eigentlichen Sinn des Wortes geben – genau deswegen war ja die Erweiterung des eigentlichen Zeitbegriffs notwendig. Vgl. in diesem Sinn auch II Sent. 1, 1, dub. 2, resp. [II, 36b]: … sicut idem est facere in principio quod facere ante alia, ita quod connotet privationem respectu alicuius temporalis prioris, et connotet positionem posterioris. In prägnanter Kürze teilte Bonaventura in II Sent. 1, 1, 3, 1, ad 4.5.6 [II, 32f.] mit: … patet responsio, quia omnes procedunt de mutatione naturali, quae praeexigit materiam et ens in potentia, et quae est generatio; tali autem modo creatio non est mutatio, sed supra hanc mutationem; unde potest dici supernaturalis mutatio. Et si quaeras, utrum sit mutatio ad formam aut ad situm; dico,
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prägte Bonaventura den Begriff der mutatio ad esse, deren Eigentümlichkeit darin besteht, dass hier nicht wie bei der mutatio in esse zwei Zustände (prius – posterius) eines Subjektes miteinander verglichen werden,26 sondern nur eine einzige Disposition erfasst wird.27 Diese auf den ersten Blick paradox erscheinende Situation28 klärte Bonaventura so auf, dass Geschaffen-Sein nicht nur und nicht einfachhin Sein (esse) besagt,29 vielmehr ist darin der Gedanke des Zum-Sein-gekommen-Seins, des Jetzt-erst-Seins (nunc primo esse) im Gegensatz zum Immer-schon-Sein enthalten.30 Die beiden Ausdrücke des nunc primo esse und des habere esse post (omnino) non-esse31 drücken dabei zwar sachlich dasselbe aus und verweisen beide auf die Zeitlichkeit des geschöpflichen Seins, das nunc primo esse bringt aber den springenden Punkt der Argumentation Bonaventuras besser zum Ausdruck, insofern es nicht zwei Bezugspunkte suggeriert, so als könnte man als Beobachter von „außen“ auf den Schöpfungsvorgang blicken und diesen in einen umgebenden zeitlichen Rahmen einbetten; in dem nunc primo esse wird vielmehr die Existenz eines Anfangs festgestellt, hinter den nicht zurückgegangen werden kann.32 Es verweist damit auf eine intrinsische Perspektive, bei der für das Geschöpf nichts anderes als seine Endlichkeit – näherhin in zeitlichem Sinn – zu erkennen ist.33 Noch einmal anders gewendet, besagt die creatio-passio ein doppeltes Verhältnis (habitudo): einerseits zu Gott als dem schaffenden Prinzip, andererseits zu dem jeder
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quod est ad totam rei substantiam, et ita ad formam, ac per hoc sub mutatione ad formam potest comprehendi. So II Sent. 1, 1, 3, 2, resp. [II, 34b]: Mutatio vero in esse utrumque extremum habet et subiectum, quod est prius natura quam terminus. Ebd.: Mutatio ad esse nihil ponit nisi a parte termini. Die Frage ist ja, wie man an einem einzigen Zustand eine „Veränderung“ feststellen kann. So hatte es das Fundamentum 1 (ebd., sc. 1 [II, 33f.]) in einem ersten Anlauf verstanden; siehe oben S. 278 mit Anm. 16. Ebd., ad 3 [II, 35]: creari est nunc primo esse; vgl. ebd., resp. [II, 34b]: mutari primo modo nihil aliud est, quam nunc primo esse und ebd. in aller Deutlichkeit: Creari enim non significat esse principaliter, sed exire de non-esse in esse … – Schon in der Summa Halensis I–1, 1, 2, 4, 3, 4, 1 (68), resp. [Ed. cit. I, 105] finden sich in der besagten Zeitdefinition diese Bestimmungen, sie wurden aber dort nicht näher entfaltet: Primo modo secundum improprietatem tempus, immo nunc quod est principium temporis, respicit primam mutationem a non esse in esse, quae est creatio passiva, in qua non ponitur nisi nunc primo esse post non esse. Der Ausdruck wurde von Bonaventura häufig verwendet, siehe etwa I Sent. 5, dub. 11, resp.; 8, 1, dub. 2, resp.; 9, 1, 3, ad 2 [I, 123b.162a.185b]; II Sent. 1, 1, 1, 2, sc. 6; 1, 1, 3, 1, ad 7; 1, 1, 3, 2, resp. [II, 22.33.34]. In dieselbe Richtung geht die Bezeichnung der creatio-passio als exitus de non-esse in esse; vgl. II Sent. 1, 1, 3, 2, resp.; 1, 1, dub. 4; 2, 1, 2, 1, resp. [II, 34b.38b.64]. Dabei ist ebenso klar, dass sich bei diesem Verständnis von Schöpfung ein logischer Widerspruch zu einer von Ewigkeit her (ab aeterno) bestehenden Welt ergibt, von daher verwundert es nicht, wenn die Bestimmung von creatio-passio als nunc primo esse bei Thomas von Aquin nicht vorkommt. Man denke dabei auch an die Bestimmung des Maßes, die Grenzen einer Sache zu offenbaren, siehe oben S. 208 mit Anm. 21.
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geschaffenen Existenz aufgrund ihrer Erschaffung „vorausliegenden“ Nichts.34 Ersteres begriff Bonaventura als eine wesentliche und totale Abhängigkeit;35 Letzteres korrespondiert dem ad extra des Schöpfungshandelns.36 Dabei ist dieses Verhältnis zum Nichts ganz anderer Art als jenes zwischen Schöpfung und Schöpfer, denn auf keinen Fall kann im Nichts so etwas wie eine causa materialis oder causa efficiens gesehen werden.37 Bonaventura verstand es vielmehr als Reihenfolge (ordo): Nicht wie das Messer aus Eisen (materialiter) oder der Sohn aus dem Vater (causaliter), sondern wie der Mittag aus dem Morgen (ordinaliter), so entsteht die Schöpfung aus dem Nichts. Dieses Bild besagt jedoch nichts anderes, als dass diese Reihenfolge eine zeitartige ist.38 Indem das ex zeitlich interpretiert wird, wird im Sentenzenkommentar – den Spuren Richards von Sankt Viktor folgend39 – das ex nihilo der Schöpfung praktisch mit dem ex tempore gleichgesetzt.40 Das konstatierte Verhältnis der creatio-passio zum Nicht-Sein 34
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II Sent. 1, 1, 3, 2, resp. [II, 34b]: Creatio enim dicitur de nihilo esse, creatio nihilominus dicitur esse a Deo; unde habitudinem dicit ipsius ad non esse praecedens et ad suum esse producens, de ratione sui nominis. … Creari enim non significat esse principaliter, sed exire de non-esse in esse, et hoc ab aliquo. Ebd. [II, 35a]: … ipsa creatura essentialiter et totaliter a Creatore dependet. Vgl. oben zur relatio realis S. 278 mit Anm. 14. Siehe oben S. 278, Anm. 12. Vgl. II Sent. 1, 1, 1, 1, ad 6 [II, 18], beides liefe ja auf einen Prinzipiendualismus hinaus und widerspräche der totalen Abhängigkeit des Geschöpfs vom Schöpfer. Ähnlich auch II Sent. 1, 1, 3, 1, ad 7 [II, 33a]. Vgl. hierzu auch BIGI, La dottrina della temporalità, 450f. – I Sent. 8, 1, 2, 2, ad 7.8 [I, 161a] prägte für dieses Verhältnis den Begriff der causa deficiens: Origo autem creaturae et est ex nihilo et est ex suis principiis: secundum hoc dupliciter aliquid ipsi creaturae naturale, vel quia inest ei ex eo, quod est ex nihilo, vel quia inest ei ex eo, quod est ex suis principiis. Et quia nihil nullius est causa efficiens, sed deficiens, ideo proprietates, quae insunt creaturae ratione eius, quod est ex nihilo, non sunt positiones, sed defectus, nec sunt a virtute, sed a defectu virtutis, nec habet causam efficientem, sed deficientem: et tales sunt vanitas, instabilitas, vertibilitas. Man bemerkt, wie schwer es ist, dieses Verhältnis anders zu fassen. In Trin. II, 9 [TPMÂ 6, 115] argumentierte dieser: Quicquid autem ex creatione esse accipit, fuit procul dubio quando omnino nichil fuit, alioquin ex nichilo creari non potuit. Omne itaque creatum ex tempore esse cepit. – Im vorausgehenden c. 8 hatte er in demselben Sinn festgestellt, dass das ab aeterno esse Gottes dem ex nichilo esse der Kreatur sich gegenseitig ausschließend gegenübersteht. Auch im Breviloquium schloss Bonaventura von dem ex nihilo auf das ex tempore; vgl. Brev. II, 1 [V, 219b]: Et quia productio ex nihilo ponit esse post non-esse ex parte producti, … necesse est, quod creatura mundi sit producta ex tempore ab ipsa virtute immensa, agente per se et immediate. Ähnlich auch Hex. I, 1 (4), 13 [V, 351; vgl. Ed. Delorme, 55]: In hoc conveniunt sapientes, quod non possit aliquid fieri de nihilo et sic ab aeterno; quia necesse est, quod sicut, quando res cedit in nihilum, esse desinit; sic, quando fit de nihilo, incipit esse. – Das Hexaëmeron bevorzugte den alternativen Ausdruck de nihilo, vgl. princ., 3 (3), 6f. [V, 344; Ed. Delorme, 36], im Gegensatz zu dem ex nihilo kann man ihn nicht sofort in einem zeitlichen Sinn interpretieren: Beide Redeweisen schließen ein Bilden der Welt aus der Materie aus, im einen Fall (ex) wird die Materie dabei als vorausliegendes Prinzip des zu Schaffenden gesehen, im anderen Fall (de) wird sie als unabhängig und außerhalb von Gott existierendes Konstituens betrachtet. Anders gesagt, befindet man sich mit
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ist dabei nichts anderes als die mutatio selbst,41 ein Verhältnis, das – wie der Doctor seraphicus auch hier betonte – kein wechselseitiges, sondern ein einseitiges ist, da es ganz in der Schöpfung und nicht im Nichts gründet.42 Auch auf diesem Weg kommt man so zu demselben Ergebnis einer dem geschaffenen Sein inhärenten conditio, die über die Abhängigkeit von dem Schöpfer hinaus besagt, dass Schöpfung nicht einfach Dasein, sondern immer auch einen vorausliegenden Übergang von Nicht-Sein zu Sein bedeutet. Interpretiert man dies weiter so, dass das geschaffene Sein die Zeitlichkeit in sich trägt, so gelangt man weiter zu der Einsicht, dass der genannte Übergang nicht nur jenen ersten Schöpfungsmoment betrifft, in dem er geschah, vielmehr ist das geschaffene Sein bleibend von ihm geprägt.43 Damit aber ist man wieder bei dem allgemeinsten Zeitbegriff (communissime) Bonaventuras angelangt, der auch die creatio continua mit einschließt.44 Weiter verbindet sich damit der Aspekt des nunc als tota essentia temporis/durationis.45 In diesem Kontext bedeutet es, dass insbesondere in dem ersten nunc das gesamte, sich durchhaltende Wesen der Zeit mitgegeben ist. Da dieses erste nunc aber durch das unmittelbare Stehen am Abgrund des Nichts geprägt ist, gehört die Nichtigkeit, die vanitas, zum Wesen des geschaffen-zeitlichen Seins.46 Die vanitas ist für
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dem de nihilo in der Reihe einer kausalen Ordnung (im Sinn der causa materialis). Für Bonaventura schließt aber ein kausales principium das temporale principium ein (welches letztere man in dem incipit wiedererkennt). Dies ist einer der wesentlichen Unterschiede zur Interpretation des Aquinaten. Vgl. hierzu BIGI, La dottrina della temporalità, 451f., Anm. 3 (hier 452: «Tutta la divergenza nasce così dalla interpretazione dell’espressione ex nihilo») sowie BALDNER, St. Bonaventure on the Temporal beginning of the world, 228 (“Maimonides, like Bonaventure, regarded ex nihilo as equivalent to ex tempore”). Vgl. II Sent. 1, 1, 3, 2, resp. [II, 34b]: Si ergo quaeratur, quae sit habitudo, quae importatur in comparatione ad non-esse; dicendum, quod illa habitudo dicitur mutatio. Vgl. II Sent. 1, 1, 1, 1, ad 6 [II, 18]: ordo ille totaliter est in re creata, et non in nihilo … In diesem Sinn hieß es etwa in II Sent. 1, 1, 3, 2, ad 3 [II, 35b]: Si enim creari est nunc primo esse, desinit creari non ratione eius quod ponit, sed ratione immediatae collationis ad nihilum. – Das im creari ausgedrückte Faktum des Zum-Sein-gekommen-Seins bleibt ja über den Moment der Entstehung hinaus erhalten. Vgl. oben den entsprechenden Abschnitt zu der allgemeinsten Zeitdefinition Bonaventuras ab S. 197, besonders S. 199. Vgl. II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23b]: nunc est tota essentia temporis und Trin. 5, 1, ad 14 [V, 92]: nunc autem est tota essentia durationis. Vgl. hierzu vor allem den entsprechenden Abschnitt ab S. 231, (besonders S. 235 mit Anm. 146), ferner S. 201 mit Anm. 167, S. 241 mit Anm. 176. Vgl. auch den Artikel «Vanitas» in BOUGEROL, Lexique Saint Bonaventure, 131. In Eccl. I, ad v. 2 [VI, 10b] wurde dabei eine triplex vanitas, scilicet poenalitatis, iniquitatis, mutabilitatis unterschieden; im hier vorliegenden Kontext ist nur die letztere von Bedeutung, die aber die Grundlage für die beiden anderen darstellt, vgl. ebd. [VI, 11a]: ista triplex vanitas est consequenter se habens, et una ex altera oritur, quia vanitas iniquitatis ex vanitate mutabilitatis, licet illa non sit tota causa; vanitas vero poenalitatis ex vanitate iniquitatis. Vgl. hierzu auch I Sent., prooem. [I, 3b]: … Profundum creationis est vanitas esse creati. Creatura enim quanto magis evanescit, tanto magis in profundum tendit, sive evanescat per culpam sive per poenam. – Bonaventura leitete dabei die
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Bonaventura eine der metaphysischen Signaturen des geschaffenen Seins. In einem allgemeinen Sinn weist sie auf den Gegensatz eines mit Nicht-Sein vermischten Seins zum wahren Sein hin,47 in einem zeitlichen Sinn bedeutet sie (als Konsequenz aus Ersterem) die mutabilitas und die variabilitas alles geschaffenen Seins.48 Deswegen folgt aus ihr eine „Instabilität“ die der bleibenden Gegenwart Gottes bedarf, um nicht wieder ins Nichts zurückzusinken.49 Die aufgrund der vanitas mögliche versio ad non esse ist dabei ein Prozess, der zwar der Natur zuwiderläuft, aber von ihr ohne den gnadenhaften Einfluss Gottes auch nicht aufgehalten werden kann.50 Wendet man diese Erkenntnisse auf die Zeit selbst an, so zeigt sich erneut, dass sie in ihrem allgemeinen und allgemeinsten Sinn nicht irgendein Akzidens neben anderen ist,
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vanitas unmittelbar aus dem creari ex nihilo bzw. dem esse post non-esse ab; vgl. I Sent. 8, 1, 2, 2, arg. 5 [I, 159]: omnis creatura vana, cum sit ex nihilo; ebd. 8, 1, dub. 2 [I, 162a]: Nam creatum, eo ipso quod creatum, habet esse post non esse, et ita esse vanum et possibile; vgl. auch die folgende Anm. 47. Vgl. I Sent. 8, 1, 1, 1, arg. 5 [I, 150]: … veritas et vanitas opponuntur; sed omnis creatura habet vanitatem et permixtionem cum non esse, cum sit ex nihilo. Vgl. auch ebd. das Responsum. So I Sent. 8, 1, 2, 2, arg. 5 [I, 159], Röm 8, 20 deutend: omne vanum est subiectum variabilitati; über die vanitas als mutabilitas handelte ausführlich In Eccl. I [VI, 11–14]; vgl. auch Anm. 50. – Nach I Sent. 8, 1, 2, 2, resp. [I, 160] ist sie dabei nicht mit der corruptio als der (natürlichen) mutatio secundum formam verbunden, sondern mit der versio als übernatürlicher mutatio ab ente in simpliciter non ens oder secundum totam rei substantiam (vgl. auch oben S. 182, Anm. 79). Vgl. I Sent. 37, 1, 1, 1, resp. [I, 639]: quia creatura de nihilo producta est, ideo habet vanitatem; et quia nihil vanum in se ipso fulcitur, necesse est, quod omnis creatura sustentetur per praesentiam Veritatis. Et est simile: si quis poneret corpus ponderosum in aëre, quod est quasi vanum, non sustentaretur. Vgl. ebd., qu. 2, resp. [I, 641b]: … Deus autem per praesentiam replet vanitatem essentiae, et illa quidem sine hac esse non potest. Zur instabilitas vgl. I Sent. 8, 1, dub. 2, resp. [I, 162] und I Sent. 8, 1, 2, 2, ad 7.8 [I, 161]. Vgl. I Sent., prooem. [I, 4a]: Nam vanitas esse creati in duobus consistit, videlicet in mutatione de non esse in esse et rursum in reversione in non esse. Dass die reversio in non esse aber im Gegensatz zur mutatio ad esse nicht in der Natur der Schöpfung liegt, besagt gleich der nächste Satz: Et quamvis nulla creatura omnino cedat in non ens per naturam, … peccator tendit ad non esse per culpam (womit auch der Zusammenhang zu den anderen Formen der vanitas hergestellt wird, vgl. Anm. 46). Den genaueren Zusammenhang klärte I Sent. 8, 1, 2, 2, ad 7.8 [I, 161]: … dicendum, quod quaelibet creatura vertibilis est per naturam, si sibi relinquatur. … Secundum autem quod naturale dicitur quod inest rei per propria et intrinseca principia, sic non dicuntur naturaliter inesse privationes vel defectus, sed habilitates: et ideo hoc modo accipiendo naturale, nulla creatura est vertibilis in non esse; nec tamen dicitur vertibilis naturaliter, quia naturale est in quod potest natura; sed principia rei non possunt in rei conservationem nec conservationem sui; et ideo invertibilitas non est huiusmodi naturalis. Nec tamen est contra naturam, immo est ei consona; quia omnis natura appetit salvari, quamvis ex se non possit, et maxime illa creatura, quae appetit beatificare, et haec est illa quae ad Dei imaginem facta est. Et quia desiderium naturae non est frustra, ubi deficit natura, supplet Dei gratuita influentia. Et sic patet, quod vertibilitas inest per naturam, sed invertibilitas per gratiam.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
sondern das erstgeschaffene von allen Maßen, mit denen das Seiende gemessen wird.51 Dieser fundamentale Charakter der Zeit, der sich in dieser Qualifikation ausspricht,52 schlägt sich auch in den zwei grundsätzlichen Perspektiven nieder, unter denen das Seiende in den Blick genommen werden kann (und muss), nämlich einerseits hinsichtlich seiner statischen (permanenten) Konstitutionsprinzipien – näherhin Materie und Form – und andererseits hinsichtlich der ihm innewohnenden Dynamik des Vergehens und Dauerns.53 Damit wollte Bonaventura nicht die Zeit als ein weiteres metaphysisches Konstitutionsprinzip des Seienden neben Materie und Form stellen,54 vielmehr wird in ihr deren Zusammenspiel deutlich: Sie ist jene in der Schöpfung grundgelegte Spannung, mit der die Materie nach der Form strebt, die die beiden verbindet und die die Dynamik einer Entwicklung ermöglicht.55
3.2
Die Zeit als habitudo concreata und der Beginn der Zeit
Das Verdikt Richards von Sankt Viktor Omne quod incipit ex tempore incipit diente im vorigen Abschnitt als Ausgangspunkt, um die Zeitlichkeit des Beginns der Schöpfung aufzuweisen.56 Beim Ausloten der Konsequenzen stieß das mittelalterliche Denken dabei auf eine Schwierigkeit, die sich ergab, wenn man diese Aussage auf die Zeit selbst anwandte: Da auch die Zeit eine geschaffene Realität ist – das besagte ja das Diktum von den quatuor primo creata und Augustinus hatte es lange zuvor schon expressis verbis festgestellt57 – müsste sie selbst auch wieder einen zeitlichen Beginn haben. Oder anders gefragt: Wenn das primum nunc das Maß alles geschaffenen Seins ist, von welchem Maß wird es selbst gemessen?58 Die Frage nach dem Beginn der Zeit schien sich 51 52 53
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Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 3, resp. [II, 68a]: … et prima inter mensuras est tempus, quia non tantum dicit mensuram durationis, sed etiam egressionis, vgl. oben S. 199 mit Anm. 158. RODOLFI, Tempo e creazione, 164 nannte sie «uno dei principi costitutivi di ogni creatura, un elemento che la distingue in modo inequivocabile dal Creatore e che ne indica la dipendenza da lui.» Vgl. IV Sent. 43, 1, 4, ad 4 [IV, 890b]: … de esse rei est loqui dupliciter: aut quantum ad defluxum et durationem, aut secundum se, die letztere Perspektive besteht im Blick auf die principia permanentia. Vgl. BIGI, La dottrina della temporalità, 115: «la durata non entra come principio costitutivo dell’ essere di una cosa». So heißt es II Sent. 2, 1, 1, 2, resp. [II, 59b]: tempus autem habet esse ex hoc, quod materia tendit ad formam. Dem entspricht ferner, dass die im Schöpfungsgeschehen vollzogene supernaturalis mutatio in einer subita et nova formae inductio besteht, bei der die aufnehmende Materie zugleich miterschaffen wurde (vgl. II Sent. 1, 1, 3, 1, resp. [II, 32a]); vgl. auch oben zur Gründung der Zeit in der Materie (ab S. 257). Vgl. oben S. 279. Vgl. oben ab S. 143. Vgl. auch BIGI, La dottrina della temporalità, 453.
Theologische Deutungen
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damit in einem gefährlichen recursus ad infinitum zu verlieren.59 Die Antwort Bonaventuras auf diesen an verschiedenen Stellen vorgebrachten Einwand60 bringt weitere Aufschlüsse über die Natur der Zeit aus theologischer Perspektive. Seine Lösung bestand darin, auf die Unterscheidung von ex tempore, in tempore und cum tempore hinzuweisen.61 Die Distinktion, die sich im Ansatz bereits bei Augustinus findet,62 legte der Doctor seraphicus so aus, dass das ex eine Reihenfolge (ordo), näherhin ein „Früher“ (anterius),63 bezeichnet, während das in ein Enthalten-Sein (continentia) und das cum schließlich die Gleichzeitigkeit besagt.64 Mit dem Lombarden65 kam er dabei zu dem Ergebnis, dass die Zeit weder in der Zeit noch ex tempore geschaffen wurde, denn beides würde bedeuten, dass es Zeit vor der Zeit gegeben haben muss. Die verbleibende Möglichkeit, dass die Zeit cum tempore begonnen hat, scheint zunächst eine Tautologie zu sein. Bei genauerer Betrachtung erweist sie sich als ein Rekurs auf das Prinzip in primis est status.66 In diesem Fall heißt das: Das erste nunc ist selbst das principium temporis und es kann nicht auf ein anderes (früheres) Prinzip zurückgeführt werden.67 Damit ist zugleich geklärt, dass dieses nunc primum sich selbst Maß ist.68 Bonaventura präzisierte das cum tempore weiter dahingehend, dass die Zeit in ihrem Prinzip begonnen hat.69 Das heißt, die Zeit begann zwar mit dem primum nunc, das das We-
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Ausdrücklich beschrieben wird dieser recursus etwa bei ROBERT KILWARDBY, De tempore 15, 80 [ABMA 9, 30]. Die gesamte Quaestio steht unter der Frage Quando vel quomodo exivit tempus in esse und bietet sich als Vergleichstext an. Vgl. I Sent. 30, dub. 2 [I, 527f.]; II Sent. 2, 1, dub. 2 [II, 69f.]; in Verbindung damit sind auch II Sent. 1, 1, dub. 2 [II, 36f.] und II Sent. 1, 1, 1, 2, arg. 3f. & ad 3f. [II, 19f.23] zu lesen; letztere Stelle betrifft die „aristotelische Variante“ desselben Arguments, sie argumentiert mit der „zirkulären“ Struktur der Zeit selbst, das soll heißen, dass jedes nunc in der Zeit gleichwertig ist; vgl. unten S. 288 und oben S. 108 sowie S. 109 mit Anm. 91. Man beachte dabei, dass das ex tempore bezogen auf die obige Unterscheidung von zeitlich bzw. mit zeitlicher Konnotation behaftet (vgl. oben S. 278, Anm. 15) noch einmal weiter präzisiert und die Bedeutung noch weiter eingeschränkt wird, denn versteht man ex tempore in seinem weiten Sinn als zeitlich, so umfasst es alle drei hier aufgezählten Bestimmungen (d. h. das ex, in und cum tempore). Die genannte Sentenz Richards verstand also das ex tempore in einem weiten Sinn. Vgl. oben S. 145, Anm. 307 – II Sent. 2, 1, dub. 2, resp. [II, 69] bezog sich ausdrücklich auf Augustinus. So in I Sent. 30, dub. 2 [I, 527]; die Bedeutung von ex ist also dieselbe wie bei dem ex nihilo. Siehe II Sent. 2, 1, dub. 2 [II, 70a]. Vgl. Sent. II, 2, 2 (8) [SpicBon 4, 338]. Bonaventura formuliert dieses Prinzip in I Sent. 3, 1, dub. 3, resp. [I, 78]: in primis intentionibus et generalibus est reflexio et ideo status, nec est ultra procedendum, d. h., durch den reflexiven Charakter der ersten Begriffe wird der regressus ad infinitum vermieden. II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 3 [II, 23a]: in ipsa productione temporis fuit nunc primum, ante quod non fuit aliud, quod fuit principium temporis, in quo omnia dicuntur esse producta. Vgl. ebd., ad 4 [II, 23]: illud [scil. primum nunc] incepit cum re mobili, non in alio nunc, sed in se ipso, quia status est in primis, unde non habuit aliam mensuram. So II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23] und I Sent. 30, dub. 2, resp. [I, 527]: coepit in sui principio.
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Zweiter Teil: Die Frage nach der Zeit
sen der Zeit (die tota essentia temporis) darstellt, aber das Sein der Zeit als ganzer ist darin nicht enthalten, da sie sich sukzessiv verwirklicht.70 Wenn die Zeit mit dem Prinzip der Zeit (dem primum nunc) begonnen hat, so gilt damit für sie nichts anderes als für die Schöpfung insgesamt.71 Es besteht aber ein ontologischer Unterschied zwischen der Zeit und den übrigen drei primo creata, und hier gelangt man zu dem entscheidenden Punkt, warum der oben angedeutete regressus ad infinitum nicht eintritt: Die Zeit ist eine geschaffene Wirklichkeit (creatura), doch diese Aussage ist mehrdeutig. In einem engen Sinn steht creatura nur für die im Schöpfungsakt hervorgebrachte Substanz, in einem weiteren Sinn kann es auch jede damit verbundene, nicht selbständig existierende Wirklichkeit bezeichnen.72 Die Zeit fällt in jene letztere Gruppe, sie ist keine Substanz, sondern ein con-creatum, genauer eine habitudo concreata. Sie hat damit – in bester Übereinstimmung mit dem was im vorigen Abschnitt über die Zeitlichkeit der Schöpfung ausgeführt wurde – den ontologischen Status einer Disposition, eines Sich-Verhaltens, eines intrinsischen Maßes des geschöpflichen Seins.73 Oder noch einmal anders gesagt: Den Satz in principio temporis creavit caelum et terram wollte Bonaventura so verstanden wissen, dass damit nicht der Zeitpunkt der Schöpfung ausgesagt wird, sondern das Mit-Gegebensein des Maßes mit dem Gemessenen.74
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Vgl. I Sent. 30, dub. 2, resp. [I, 527]: tempus non fuit in sui initio, cum sit successivum. Und II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23]: Et non valet illa ratio: [tempus] non fuit in instanti, ergo non coepit in instanti; quia successiva non sunt in sui initio. II Sent. 1, 1, dub. 2 [II, 37b]: [Illud nomen principium] potest etiam supponere pro creatura, utpote pro principio temporis; sed non dicit tunc ordinem, sed concomitantiam mensurae ad mensuratum, scilicet quod caelum et terra cum principio temporis esse coeperunt. Zu den alternativen Deutungen des in principio vgl. oben S. 169, Anm. 17. Vgl. II Sent. 1, 1, 3, 2, resp. [II, 34b]: … quoniam creatura non tantum nominat ipsa creata, sed etiam concreata … Alio modo creatura nominat ipsam substantiam rei ab aliquo productae de nihilo; und ebd., ad 5 [II, 35b]: si autem large dicatur, non solum creatura dicitur quod creatur, sed quod concreatur et quod est creaturae annexum – im Folgenden wird dann auf den Bezug zum regressus ad infinitum aufmerksam gemacht (hier allerdings für die creatio-passio, die ebenfalls ein concreatum ist). – Der Begriff concreatum kam bereits bei Augustinus vor, er bezeichnete damit gerne die materia prima (vgl. z. B. Conf. XIII, 33, 48 [CC.SL 27, 271, Z. 6f.] oder Gen. litt. I, 15, 29 [BA 48, 120–122]); im gegebenen Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, dass er in Gen. litt. IV, 20, 37 [BA 48, 330] auch die Zeit insgesamt als concreatum bezeichnete: Sed etiam temporis spatium creaturae temporali concreatum est, ac per hoc et ipsum sine dubio creatura est. BIGI, La dottrina della temporalità, 450 wies darauf hin, wie schwer der Ausdruck habitudo als terminus technicus zu übersetzen ist, er sieht in ihm eine Synthese dessen, was die Begriffe „Situation“ und „Disposition“ aussagen. Vgl. auch BIGI, Tempo e temporalità, 68f. Bei Bonaventura siehe I Sent. 3, 1, dub. 3, resp. [I, 78f.] (zitiert oben Anm. 28, S. 209). Vgl. noch einmal Anm. 71 oben.
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Habitudo concreata bedeutet, dass es sich bei der Zeit um eine Ordnungsstruktur handelt, die ganz innerhalb des geschöpflichen Seins verbleibt.75 Concreatum kann dabei (wie das cum tempore) wieder im Sinn einer Gleichzeitigkeit interpretiert werden:76 Die Zeit begann zusammen mit der substantialen Schöpfung. Dabei muss allerdings die von Bonaventura eingeführte Unterscheidung von Sein (esse) und Wesen (essentia) der Zeit berücksichtigt werden:77 Die so verstandene Gleichzeitigkeit betrifft nur das im (primum) nunc gegebene Wesen der Zeit, auf das auch die beiden allgemeinen Zeitbegriffe des Franziskaners Bezug nehmen. Spricht man dagegen mit den beiden eigentlichen Bedeutungen von Zeit (proprie, magis proprie) vom Sein der Zeit, so gelangt man nicht bis zum allerersten Moment zurück, denn das Sein der Zeit ist an Bewegung gebunden78 und (natürliche) Bewegung kann es wegen des Bezuges auf ein Früher nur im Inneren der Zeit-Halbgeraden geben.79 Anders ausgedrückt: Mitgeschaffen (concreatum) ist nicht das Sein der Zeit, sondern ihr Wesen. Das darf freilich nicht so verstanden werden (und es liefe dem Konzept Bonaventuras völlig zuwider), als ob es zwischen dem primum nunc und dem Beginn der eigentlichen Zeit einen zeitfreien Raum gegeben haben könnte, so wie etwa das Sentenzenbuch die Meinung überliefert, dass die Engel eine „ewige“ Zeit vor der (körperlichen) Welt unwandelbar und insofern zeitlos existiert haben könnten.80 Der Doctor seraphicus betonte ja im Gegenteil, dass die Dauer der eigentlichen Zeit und des aevum dieselbe ist.81 Kein Problem ist dagegen, wenn die Zeit in ihrem engsten Verständnis (magis proprie) – die aristotelische Zeit, die ja an eine bestimmte Bewegung, nämlich die des primum mobile gebunden ist – erst mit dem zwei-
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Vgl. noch einmal I Sent. 3, 1, dub. 3, resp. [I, 78f.]: res creata habet tripliciter considerari: aut in se, aut in comparatione ad alias creaturas, aut in comparatione ad causam primam – die habitudines fallen unter die erste Betrachtungsweise wie der darauf folgende Text klarstellt. Vgl. auch I Sent. 44, 1, 4, resp. [I, 788b]: tempus incipit de necessitate simul cum mundo, sicut situs incipit simul cum loco, et locus cum orbe primo. Vgl. den Abschnitt oben über Sein und Wesen der Zeit ab S. 217. Vgl. II Sent. 1, 1, 1, 2, ad 4 [II, 23]: Si secundum esse, sic [tempus] coepit cum motu variationis, scilicet nec coepit per creationem, sed potius per ipsorum mutabilium mutationem, et maxime primi mobilis. Vgl. oben S. 279, Anm. 24. PETRUS LOMBARDUS, Sent. II, 2, 3 (9), 2 [SpicBon 4, 339, Z. 3f.] als Deutung von Tit 1, 2: … [quidam] dixerunt cum mundo coepisse tempus saeculare, sed ante mundum exstitisse tempus aeternum sine mutabilitate, et in eo immutabiliter et intemporaliter adstruunt angelos, Deo iubente substitisse eique servisse. Zu den Quellen dieser Theorie, die nicht nur von griechischen Vätern wie Gregor von Nazianz, sondern auch von einigen lateinischen Theologen (Johannes Cassian) vertreten wurde, vgl. die entsprechende Anmerkung in der Edition. Bonaventura überging den Passus in seinem Kommentar völlig; ähnlich Thomas, der ihn nur in S. th. I, 61, 3 [Ed. Leonina V, 107f.] kurz behandelte. Die Frage war ja mittlerweile auch auf dem IV. Laterankonzil lehramtlich geklärt (vgl. oben S. 169, Anm. 17). Vgl. II Sent. 2, 1, 2, 1, resp. [II, 65a]: tertio modo, aevum et tempus simul sunt duratione, sed aevum prius est dignitate.
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ten oder vierten Schöpfungstag beginnt, denn die eigentliche Zeit (proprie dictum) füllt die bestehende Lücke aus. Bei dem Problem des Beginns der Zeit, das Bonaventura durch die Reflexion auf das Wesen der Zeit als habitudo concreata löste, wurde bisher als selbstverständlich angenommen, dass die Welt und die Zeit vor endlicher Zeit begonnen haben. In der Konfrontation mit dem aristotelischen Denken erschien aber gerade auch diese Voraussetzung als begründungsbedürftig. Die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer von Ewigkeit geschaffenen Welt tangiert so unmittelbar auch die Frage nach dem Beginn der Zeit. Ein Argument aus der zugehörigen Diskussion soll an dieser Stelle aufgegriffen werden, denn es ist gewissermaßen die in aristotelische Gedanken gekleidete Version des oben82 geschilderten Problems eines sich mit dem Beginn der Zeit ergebenden recursus ad infinitum.83 Es geht um jenes Argument, das die Ewigkeit der Welt aus der Ewigkeit der Zeit ableiten möchte, und das sich in seiner klarsten Form in Physica VIII, 1 findet.84 Der Kern des Arguments besteht dabei in einer Analyse des nunc, das als die Mitte der vergangenen und der zukünftigen Zeit verstanden wird.85 Als Schlussfolgerung daraus ergibt sich, dass vor jedem gegebenen Jetzt eine Zeit l