Zeit des Überlebens : Tagebuch April bis Juni 1945
 9783887473082

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Tagebuch
Anmerkungen zum Tagebuch
Nachwort
Dank
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ERIK REGER

ZEIT DES ÜBERLEBENS

Erik Reger, 1953

ERIK REGER

ZEIT DES ÜBERLEBENS Tagebuch April bis Juni 1945

Herausgegeben und mit einem Nachwort

von Andreas Petersen

: TRANSIT

© für Erik Reger: Reger GmbH, Berlin © 2014 für diese Ausgabe by TRANSIT Buchverlag Postfach 121111 | 10605 Berlin www.transit-verlag.de

Umschlagabbildung: © Privat: Sowjetische Soldaten, Berlin, Mai 1945 Umschlaggestaltung: Gudrun Fröba Druck und Bindung: Pustet, Regensburg ISBN 978 3 88747 308 2

INHALT

Tagebuch von Erik Reger 7

Anmerkungen zum Tagebuch

Nachwort 131 Dank 159 Autor und Herausgeber 160

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Das Tagebuch von Erik Reger liegt im Nachlass Reger in der

Akademie der Künste in Berlin.

TAGEBUCH

21. April, Samstag. Seit Mitte der Woche hat sich der Kanonendonner von der Front östlich und südöstlich Berlins verstärkt. Nach Berlin durften in den letzten Tagen nur noch Leute mit rotem Ausweis fahren. Ich besitze einen gelben. Rot ist Rüstungsindustrie, das heißt die Fik­ tion, daß eine solche noch existiere. . Die S-Bahn fährt sehr sporadisch. Man sagt, daß die Leute, wenn sie nach Berlin kommen, zurückbehalten und Verteidigungsposi­ tionen zugeteilt werden. Mechanisch tut man die Dinge des Tages. Der Frontlärm bil­ det eine zwar drohende, aber angesichts der allgemeinen Abge­ stumpftheit nach so vielen turbulenten Kriegsereignissen ganz unwahrscheinlich wirkende Kulisse. Ich bestelle weiterhin den Garten, mit der Vorsicht, die dadurch geboten ist, daß ich mich beim Volkssturm (II. Aufgebot) dauernd krank melde. Ich tue die Gartenarbeit in der Gewißheit, daß im kommenden Sommer je­ des Salatblatt wichtig sein wird, aber auch in der Ungewißheit, wer das hier Gesäte ernten wird. Die deutschen Schlachtflugzeuge fliegen die kurze Strecke zwi­ schen dem Flugplatz Rangsdorf und der Front hin und her, her und hin. Es sind ihrer ganz wenige. Sie steigen auf, kommen rasch zurück, nehmen jedes wieder eine Bombe an Bord und steuern er­ neut zur Front. Dadurch erscheint ihre Zahl größer. Im OKW-Bericht heißt es dann: »Unsere Schlachtflieger brachten den schwer ringenden Erdtruppen bei Tag und Nacht fühlbare Entlastung.« Abends nach neun erscheinen die russischen Schlachtflieger. Sie erhellen weite Strecken mit ihren lange stehenden Leuchtfackeln ganze Alleen von Lampen, von hier anzusehen wie ein erleuchte­ ter Rummelplatz. Man kann die Einschläge der Bomben in Rich­ tung Erkner und Königs Wusterhausen beobachten. Das zieht sich stundenlang hin. Unheimlich sind die einzelnen, die sich aus den Verbänden lösen, über das Stadt- und südliche Randgebiet rasen, einen grünen Leuchtschirm und unmittelbar darauf zwei Bom­ ben werfen. Ist das vorbei, dann kommen die englischen Mosquitos. Von Abend zu Abend bilden sie mehr Angriffswellen; vorge­ stern waren es fünf, gestern sogar sieben, immer in Abständen von einer halben bis dreiviertel Stunde. Ich schätze aber, daß wir diese Daueralarme infolge der russischen Vormärsche sehr bald hinter uns haben werden. 9

Die deutschen Flaksender bemühen sich, die Fiktion präziser Ansagen und Warnungen aufrechtzuerhalten. Oft erfolgt sofort hinter der Vorentwarnung neuer Vollalarm, weil die Einflüge erst diesseits der Elbe registriert werden können. Die natürliche Über­ raschung tritt zu dem chaotischen Wirrwarr, der hinter einer noch stehenden Fassade den nahen Zusammenbruch ankündet. In den Fenstern, den hohlen Fenstern dieser hohlen Fassade, läßt Goebbels seine gewohnten Tiraden los. Grauenhaft burleske Pan­ optikumstimmung. Danse macabre der Propaganda. Manchmal meldet der Ansager: »Die Art der Flugzeuge ist nicht einwandfrei erkennbar.« Oder: »Die bisher als Schlachtflieger an­ gesprochenen Flugzeuge werden jetzt als schnelle Kampfflugzeu­ ge beurteilt.« Vier, fünf Stunden lang Alarm. Gestern waren wir bis drei Uhr nachts im Keller. Wir haben den Luftschutzkeller heute nachmittag für den Fall hergerichtet, daß wir längerem Artilleriebeschuß ausgesetzt sein sollten. Wir haben Proviant und Wasser unten. Liegestühle und ein Bett aufgeschlagen. Wir sind insgesamt sieben Personen im Hause, darunter zwei Kinder von zwei und drei Jahren. Außer meiner Frau und mir zwangseinquartierte Familien aus Berlin und Breslau. Ich bin der einzige Mann. Seit dem frühen Abend ist der Zugverkehr eingestellt. Über die Landstraßen ziehen Kolonnen von Flüchtlingen mit Wagen und Pferden vom Süden her nach Berlin. Als es dunkel wurde, sahen wir eine Anzahl Ausländer die Stra­ ße hinaufkommen. Sie haben sich in der Bauruine neben unserem Hause für die Nacht eingerichtet. Heute hatten wir schon keinen Fliegeralarm mehr.

22. April, Sonntag. Die Ausländer in der Bauruine sind Italiener. Sie kommen aus einem Lager in Nauen. Im letzten Augenblick hatte man sie in Be­ wegung gesetzt, um sie über Dresden und Prag nach dem Süden zu schaffen. In Lichtenrade, dem letzten Berliner Vorort vor Mah­ low, endete der Zug. Man überließ die Italiener sich selbst, und sie überfluteten seit dem späten Abend die Gegend. Die in der Baurui­ ne, vier Männer und eine Frau, sind ein Teil von ihnen. Sie haben sehr früh ein Feuer angezündet, denn die Nacht war eisig rauh. 10

Unter Führung der Italiener hat die Mahlower Bevölkerung in der Frühe fünf Waggons mit Saatkartoffeln ausgeplündert, die am Bahnhof standen. Uns war ein halber Zentner zugeteilt ge­ wesen, wir hatten auch schon bezahlt. Jetzt haben wir das Nach­ sehen. Später sind auch Lebensmittelgeschäfte ausgeraubt worden. Um zehn Uhr erst hörten wir in unserer abgelegenen Burgsdorfstra­ ße, daß die Molkerei Ottmann um acht Uhr Käse und Butter frei verkauft habe. Die bis zuletzt fiktive Nazi-Organisation hat es fertig gebracht, an die Bevölkerung ein Viertel Pfund Zucker, etwas Reis, ferner ei­ ne Büchse Fleischkonserven und ein Stück Schokolade »aus einem geräumten Wehrmachtlager bei Erkner« auszuteilen. Das geschah kurz nach Mittag. Die übrigen Vorräte werden, soweit sie nicht ge­ plündert sind, den Russen in die Hände fallen. Nach Radio Lon­ don sind die östlichen Vororte Berlins schon in ihrer Hand, wäh­ rend im Süden eine große Zangenbewegung sie über Zossen und Trebbin bis Beelitz geführt hat. Unaufhörlich ergießt sich der Flüchtlingsstrom von Süden und Südosten her über Mahlow in Richtung Großbeeren. Alles will »zu den Amerikanern«. Diese Flüchtlinge sind, genau wie die seit Anfang Februar hier einquartierten Ostpreußen, Pommeraner und Schlesier ein Kapitel für sich. Sie erwecken einerseits Mitleid, andererseits stoßen sie durch ihr anmaßendes Verhalten ab. Sie sind der Meinung, daß, weil sie alles im Stich lassen mußten, ih­ nen alles gehöre, was andere noch besitzen. Symptomatisch weiterhin für das Fassadenregime der Natio­ nalsozialisten ist die stille Auflösung aller Dinge, während äußer­ lich der Anschein, alles funktioniere, gewahrt wird. In einer so brenzligen Lage sollte doch die Gemeindeverwaltung permanent im Dienst sein. Das Gemeindehaus ist nur durch zwei unbebaute Grundstücke von uns getrennt. Dort ist niemand, ausgenommen die Lehrbuben, die im Garten Akten verbrennen. Vor fünf Uhr morgens sind die deutschen Flugzeuge in nörd­ licher Richtung abgeschwirrt. Mir war sogleich klar, daß das die Räumung des Flugplatzes Rangsdorf bedeutete. Danach Stille. Kein Flugbetrieb mehr. Während des Vormittags Detonationen links von uns. Aus der Richtung der Feuersäulen schlossen wir, daß die Scheinwerfer­ stellungen gesprengt wurden. 11

Mittags kam meine Frau aus dem Ort: die Russen, heißt es, sind schon in Blankenfelde. Das ist drei Kilometer von hier. Der Volkssturm II hatte angeblich die Aufgabe, im letzten Au­ genblick die Panzersperren zu schließen. Was der Volkssturm II in diesen Stunden in Mahlow macht, weiß ich nicht. Ich bin fest entschlossen, keinem Befehl zu folgen, aber man hat mich nicht gerufen. Volkssturm I sieht man auf Fahrrädern Richtung Ber­ lin eilen. Es sind erst acht Tage her, daß der Gruppenführer Franze - Re­ gierungsrat im Patentamt, klein und mickrig, mit diskret getrage­ nem Parteiabzeichen - nachts um drei wie wild am Haus klopf­ te: »Volkssturmalarm!« Abends zuvor war Potsdam bombardiert worden, es hatte sich bei uns im Keller wie eine nahe Schlacht an­ gehört, ganz eigentümlich, ganz anders als alle anderen Angriffe, wie die Vorahnung einer großen Panzeroperation oder Luftlan­ dung. Damals dachten wir noch, die Amerikaner seien bald hier; die neue russische Offensive hatte noch nicht begonnen. Damals vor bloß acht Tagen. Welche Veränderung seitdem! Ich hatte den Volkssturmgruppenführer gut zehn Minuten Lärm schlagen las­ sen, ehe ich reagierte. Nachher hatte sich herausgestellt, daß es sich um eine lächerliche Aktion handelte: zwei Ausländerlager sollten nach Waffen durchsucht werden, angeblich waren feindli­ che Agenten aus der Luft abgesetzt worden; eine unbeschreibliche Groteske, wie überhaupt die gesamte Institution. Und dazu hatte der Regierungsrat Franze, der auch erst hinterher erfuhr, was los war, sich feldmarschmäßig eingefunden! Hoffentlich ist er heute an der richtigen Stelle... Meine Frau war einem Offizier begegnet, der ihr sagte: »Gehen Sie von hier fort zu den Amerikanern, die sind nicht so, aber der Russe -!« Auf die Frage meiner Frau: »Warum halten Sie denn die Russen nicht auf?«, kam die Antwort: »Womit denn?« Der Offizier setzte seinen Rückzug fort. Dann traf meine Frau auf einen Sani­ tätsfeldwebel, der sich mit seinem Auto verfahren hatte. Er hat­ te ein Lazarett geräumt und wollte Verwundete nach Großbeeren bringen, dort »müssen die Russen sie übernehmen, ich weiß nicht weiter«. Der Trupp Italiener, der nachts in der Bauruine neben uns Un­ terschlupf gesucht hatte, richtet sich mit vielen anderen jetzt in der Hütte hinter dem Gemeindehause ein. Büropersonal verbrennt im Garten immer noch Akten. Auch wird dort, jetzt nur noch von 12

der alten Frau Huhn, einer Art Beschließerin und Faktotum, ir­ gend etwas vergraben - man sagt, die Hitlerbilder. Niemand küm­ mert sich um all das. Niemand verhindert Vertuschungsmanöver im Gemeindehause, es weiß ja auch bei der zerstreuten Lage des Ortes kaum jemand davon. Die Nationalsozialisten haben wohl nicht ohne Absicht das Gemeindehaus, das sie seiner Wohnbe­ stimmung entzogen haben, trotz der Verordnung, Behörden soll­ ten keine Wohnräume (mit Küche und Bad sogar!) belegen. Die Nazis waren doch sonst so eifrig im Barackenbau! Vollkommene Apathie und Resignation ist das allgemeine Kenn­ zeichen. Die Tatsache, daß wirklich der Wahnsinn des Kämpfens und Zerstörens bis zum letzten Zaunpfahl in Deutschland fortge­ setzt wird, lastet in Verbindung mit der Russenangst und dem Ge­ fühl, daß man nicht entgehen kann (etliche packen Wägelchen zur Flucht und bleiben dann doch - »wohin denn?« ist die ewige Fra­ ge), so sehr auf den Gemütern, daß für aktives Denken gar kein Raum bleibt. So kommt es, daß die scherzweise von uns »Bürger­ meisterin« genannte, in der nationalsozialistischen Gemeindever­ waltung tonangebende Obersekretärin Krüger unbefangen ihre Rolle weiterspielen kann. Gestern hat sie noch zu meiner Frau ge­ sagt: »Ich gebe die Hoffnung nicht auf.« Die Hoffnung auf Hitlers Wunder... Heute soll sie angesichts des deutlicher sich abzeich­ nenden Debakels gesagt haben: »Fünfzehn Geheimsitzungen ha­ ben sie abgehalten, was geschehen soll, wenn... Jetzt sind sie al­ le fort und haben den Bürgermeister Hagena hier sitzen lassen.« Die »sie«, die fort sind, scheinen der stellvertretende Ortsgrup­ penleiter Hafer (der andere, Wirth, mit dem ich mein Hühnchen zu rupfen hatte, ist angeblich krank in einem Heereslazarett) und der Ortsleiter der NSV, Hamel, zu sein. Hamel, der bei Gelegen­ heit einer Hausbesichtigung in der Flüchtlingsquartierfrage mit verklärter Stimme erzählte, er habe in Edenkoben in dem Pfälzer Lokal, in dem Herr Bürckel verkehrte, gegessen und getrunken gut, natürlich. Weil man nicht weiß, was geschehen kann, ist Fluchtgepäck vor­ bereitet. Nichts Überflüssiges, trotzdem viel zu schwer. Der elek­ trische Strom, der in den letzten Tagen über das bis dahin übliche Maß hinaus versagt hatte, hält jetzt merkwürdigerweise bis auf kurze Unterbrechungen durch. Leider fallen die Unterbrechungen oft mit dem Beginn der ausländischen Nachrichtensendungen zu­ sammen. 13

Da die Artillerie mehr schießt, wenn auch nicht gerade hier­ her, halten wir uns im Keller auf. Ich gehe öfters hinauf. Ob es nur russisches oder auch deutsches Feuer ist, kann man hier nicht un­ terscheiden. Jemand kommt und sagt, in Blankenfelde habe man weiße Fahnen in dem Moment aufgehängt, als die Russen in der betreffenden Straße erschienen seien, vorsichtigerweise nicht frü­ her, der Drohungen von Goebbels eingedenk. Irgendwer habe von dort telephoniert, die Russen hätten die Häuser durchsucht. Nachteiliges sei nicht zu berichten. Dies alles ist völlig gespenstig. Der Kampf hat auf Berliner Gebiet übergegriffen, über uns ist der Sturm seitlich hinweggefegt, aber es wird noch von Ort zu Ort te­ lephoniert, das Wasser läuft noch aus der Leitung, ich höre noch Radio aus London, Beromünster, Moskau, die elektrischen Lam­ pen brennen - und in der Luft ist das Bellen der Geschütze. Unse­ re Gegend erscheint vollkommen friedlich. Einmal, als ich draußen bin, sehe ich etwas Merkwürdiges. Zwei deutsche Soldaten, ohne Waffen, in ziemlich guten Unifor­ men, auffallend guten, wie man schon lange keine mehr erblick­ te und wie man sie an der Front bestimmt nicht erwartet, wollen im Haus gegenüber Wasser haben. Der eine steht etwas weiter zu­ rück. Man läßt sie nicht ein. Ich höre sagen: »Die Waffen haben die Russen uns abgenommen.« Der Zurückstehende ruft dem an­ deren zu: »Komm doch!« Darauf entfernen sie sich wieder. Ich habe das Gesehene im Keller erzählt, die Sache kam uns al­ len nicht ganz geheuer vor. Jedenfalls haben die Leute drüben im Hause, die das Wasser verweigerten, den Verdacht gehabt, sie hät­ ten durch Fallschirm abgesetzte Russen vor sich. Um acht Uhr abends habe ich den »Kameraden« gehört - Sol­ datensender West und Kurzwellensender Atlantik. Er nannte die Positionen, bei Berlin, Weißensee, Landsberger Allee undsoweiter; der Süden entging mir, weil der Strom für drei Minuten unter­ brochen war. Erneut empfinde ich die Gespensterhaftigkeit dieses Tages in all und jedem, den ausbleibenden wie den eintretenden Ereignissen. Sie entspricht der Gespensterhaftigkeit dieses gan­ zen, in vielen Stadien bis zur Unwirklichkeit seltsamen Krieges. Elf Uhr abends: Der elektrische Strom versagt endgültig. Auch das Wasser läuft nicht mehr aus der Leitung. Das weiße Tuch, das ich aus dem Badezimmerfenster gehängt hatte, schimmert durch eine sternenlose Nacht. Bisher hat sich niemand darum gekümmert. 14

23. April, Montag. Wir hatten abwechselnd Nachtwache eingerichtet, für den Fall, daß wir deutsches Artilleriefeuer bekämen. Nichts davon; aber der Geschützdonner, deutlich vermischt mit Abschüssen aus Gra­ natwerfern, schwoll stundenweise zu beängstigender Stärke an. Ich habe nur wenig geschlafen. Der Morgen graut. Das Land liegt da, als sei nichts geschehen. Der Gefechtslärm scheint sich noch mehr nach Berlin hineinzu­ ziehen. Ich denke an meine Freunde dort und an Manfred, unse­ ren einzigen Sohn, von dem wir nun lange nichts mehr hören wer­ den. Seine letzte Nachricht war aus der Umgegend von Halle, kurz bevor Radio London die Eroberung dieser Stadt meldete. Wir ver­ trauen auf Gott, daß er in amerikanischer Gefangenschaft ist. Wir wagen zu glauben, daß wir, wie auf einer Insel, verschont geblieben sind; das Haus steht unversehrt; wir sind überzeugt, daß für uns der Krieg zu Ende ist; und wenn es so ist, dann ist eingetreten, um was wir immer zu Gott gefleht haben: daß wir das Ende des Krieges unbeschädigt an Leib und Seele, Hab und Gut erleben möchten. Ob noch deutsche Granaten, deutsche Bomben zu fürchten sind? Bei längerem Widerstand in Berlin? Ich glaube nicht an längeren Widerstand. Die Zeit ist vorbei, wo Städte Wochen hindurch ge­ halten werden konnten. Außerdem dürften die Russen wie gegen Wien auch gegen Berlin stärkste Kräfte angesetzt haben. Um acht Uhr heulte eine deutsche Granate heran und platzte irgendwo. Aha, sagten wir stirnrunzelnd. Wir lauschten. Nichts deutete auf eine Wiederholung. Eine einzige deutsche Granate. Hätten sie die lieber nicht abgefeuert - es war eine Kundgebung ihrer Ohnmacht. Wir warten der Dinge, die da kommen werden. Denn kommen wird einmal etwas, nämlich die russischen Soldaten. Immun ge­ gen deutsche Propaganda, wissen wir doch wenig von dem We­ sen dieser russischen Armee. Nicht einmal Engländer und Ame­ rikaner wissen etwas davon, denn kein alliierter Korrespondent ist an der Front, geschweige im russisch besetzten Deutschland, zugelassen. Da wir außer der elektrischen keinerlei Kochgelegenheit im Hause haben, machten wir, wie schon mehrfach in der letzten Zeit bei tagelanger Stromunterbrechung, zwischen ein paar Mauer­ 15

steinen und unter einem improvisierten Rost im Garten eine offe­ ne Feuerstelle, um Kaffee zu kochen. Es ist windig; die Geschich­ te dauert lange. Zehn Uhr ist vorüber. Auf den Kornäckern hinter unserem Hause sieht man die ersten Russen, vereinzelt und in Trupps. Sie sind zu weit weg, ich kann nicht erkennen, wie sie aus­ sehen. Einmal schienen sie jemanden auf das Wäldchen links von uns zuzuschleppen. Dann fiel ein Schuß. Die Gruppe blieb ste­ hen, blickte zur Erde. Etwas wurde weggeschleppt, anscheinend ein Toter, aber nicht von dieser Stelle, sondern etwas abseits. Ein mysteriöser Vorgang. Die Russen entfernten sich wieder. Später tauchten erneut einzelne auf, blieben an der Stelle stehen, blickten zur Erde, gingen wieder weg. Über Berlin hängt der Rauch von Artilleriefeuer und Bränden. Elf Uhr: Zwei Russen treten durch unser Gartentor. Ich öffnete sofort die Haustür und ging ihnen entgegen. Seit dem Morgen hatte ich folgende »Maßnahmen« getroffen: Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Zeitungen. Die eine Beilage des »Berli­ ner Tageblatts« aus dem Jahre 1932, der Sowjetunion gewidmet, illustriert, mit Stalins Bild auf der ersten Seite. Die andere ist ei­ ne Nummer von »News Chronicle« aus diesem Frühjahr, mit den Bildern der russischen Heerführer Tschernjachowski (der inzwi­ schen gefallen ist), Rokossowski, Schukow, Koniew, Petrow, Mali­ nowski unter der Überschrift: »The victorious Six«. Beide Zeitun­ gen hatte ich in meinem Archiv im Luftschutzkeller aufbewahrt. Ferner halte ich in meinem Archiv im Hintergrund die sowjetrus­ sische Übersetzung meines Romans »Union der festen Hand«, als Buch in Moskau 1934 erschienen. Die beiden, die da gekommen waren, trugen eine Art Windjakke und Trainingshosen, dazu Maschinenpistolen; verwegene Ge­ sichter, finstere Mienen - alles in allem ebensowohl so zu deuten, daß sie selbst Furcht hatten, wie daß sie Furcht einflößen wollten. Ich sagte: »Guten Tag, da seid ihr ja«, was sie in jeder Weise, auch im Mienenspiel, unbeantwortet ließen. Sie schoben sich ins Haus hinein und durchwanderten forschend die Zimmer. Wonach sie forschten, war nicht ganz klar. Ich zeigte ihnen das Bild Stalins. Das brachte ein Lächeln auf ihre verschlossenen Züge, während sie für den Namen Schukow kein Verständnis hatten. Sie schie­ nen etwa fünfundzwanzig Jahre alt zu sein. Typ Dorfhandwer­ ker. Endlich fragten sie nach Schnaps. »Schnaps« konnten sie auf deutsch sagen. Ich suchte ihnen zu erklären, daß sie Schnaps ver16

mutlich in Berlin finden würden. »Berlin kaputt«, meinten sie. Ein Blick auf meine Bücher ließ offenbar eine Ahnung in ihnen auf­ dämmern, daß ich vielleicht tatsächlich keinen Schnaps im Hause hätte. Zögernd gingen sie. Nach wenigen Minuten zwei andere: ein älterer, bärtiger, in Monteurjacke, ein junger, balkanisch aussehender, mit schwar­ zem Schnurrbärtchen und grünbrauner Uniform. Der ältere sag­ te: »Waffen?« Schreibtisch und Schränke wurden durchsucht - so, wie von allen Soldaten der Welt, wenn sie nicht gerade gebore­ ne Sadisten sind, ein solcher Auftrag durchgeführt wird. Ich hät­ te hundert Waffen versteckt haben können, sie hätten sie nicht gefunden. In meinem Schreibtisch lagen eine Schachtel Zigaret­ ten und eine Dose Sardinen, für den Fall, daß einer durchaus et­ was haben wollte. Der ältere, der die Waffen suchte, während der jüngere kokett sich im Handspiegel meiner Frau besah, den er im Schlafzimmer entdeckt hatte, lehnte ab, etwas zu nehmen, außer Waffen, wenn er welche fände. Mein Hinweis auf die Bilder von Stalin und Schukow entlockte ihm einen lächelnden Seitenblick. Er erzählte dem anderen, der jetzt in der Diele vor dem Garde­ robenspiegel stand, um sich schon wieder selbstgefällig zu be­ trachten, daß er bei mir Stalin und Schukow sehen könne. Sie al­ so kannten Schukow. Mit wiegenden Hüften folgte der andere der Aufforderung, in mein Zimmer zu gehen. Wie ernst besah er die Bilder und kehrte schweigend um. Er schien auf eine Gelegenheit zu sinnen, im Hause genauer zu suchen, aber offensichtlich nicht gerade nach Waffen. Der ältere machte seine Hoffnungen zunich­ te, indem er ihn mit sich hinausnahm. Dieser ältere war ein gut­ mütiger Kerl ziemlich westlichen Aussehens. Er hätte ein auf dem Lande lebender Arbeiter irgendwo in Deutschland, Frankreich oder England sein können. Die beiden nächsten waren schwieriger. Zwei baumlange, ange­ trunkene Kerle, die durchaus Schnaps wollten. Als sie endlich be­ griffen, daß wir keinen haben, verlangten sie, daß ich ihnen zei­ ge, wo es welchen gibt. Meine Frau sagte mir später, daß der eine mich immerzu an der Schulter gefaßt und geschubst habe. Ich ha­ be das gar nicht bemerkt, weil ich mich darauf konzentrierte, die Kerle mit einem Trick loszuwerden. Aber damit, daß ich undeut­ lich in der Gegend herumzeigte, ließen sie sich nicht abspeisen. Im Hause schräg gegenüber wohnt Herr Heß, von dem es heißt, er sei Wein- und Spirituosengroßhändler. Ich weiß es nicht, wir 17

haben hier immer zurückgezogen gelebt und uns um niemanden gekümmert. Ich habe nur gesehen, daß alle Mahlower Kaufleute während des Krieges Herrn Heß Waren ins Haus brachten, wäh­ rend andere Leute nicht einmal im Laden etwas bekamen. Mögen die Russen ihr Glück dort versuchen, dachte ich. Sie blieben lange dort und kamen dann, begleitet von Herrn Heß, mit zufriedenen Gesichtern heraus. Herr Heß sagte zwar nachher, erstens habe er keinen Schnaps, und zweitens hätte er, wenn er welchen gehabt hätte, den Soldaten keinen gegeben, damit sie nicht in der Trun­ kenheit Unheil stiften könnten. Aber ich habe Grund, den Erklä­ rungen des Herrn Heß zu mißtrauen. Herr Heß hat sich, obwohl er Halbjude ist, unter den Nazis recht gut gehalten und sich so­ gar im Volkssturm betätigt, allerdings in der Regel nur als platter Witzbold im Hamburger Tonfall. Am Vormittag blieben wir von weiteren Besuchen verschont, je­ doch in den benachbarten Häusern ging es fortgesetzt rege zu. Dies alles schienen Angehörige durchziehender Bagagetruppen zu sein. Die Burgsdorfstraße belebt sich mit Fahrrädern, die die Rus­ sen aus den Häusern geholt haben. Für die meisten scheint ein Fahrrad den Reiz der Neuheit zu haben. Sie radeln mit der Lei­ denschaft eines Jungen, der sein erstes Fahrrad bekommen hat, und die Mehrzahl muß das Radeln erst lernen. Außer den Fahr­ rädern werden die Deutschen, wie man hört, ihre Uhren los. Den­ noch tue ich meine Armbanduhr nicht ab. Vorläufig möchte ich die Dinge an mich herankommen lassen. Da meine Frau im Garten jetzt kein Feuer haben möchte, weil sie glaubt, die Russen würden dadurch auf uns besonders auf­ merksam, haben wir im Heizkeller eine offene Feuerstelle herge­ richtet. Das ist eine tolle Sache. Man erstickt halb vor Qualm, und wenn man Tür und Fenster öffnet, hört das Feuer auf zu brennen. Es dauert schrecklich lange, bis etwas kocht. Glücklicherweise ha­ ben wir in der vorigen Woche einen Vorrat von Wasser in Wan­ nen angelegt. Gegen drei Uhr nachmittags sahen wir eine Abteilung Soldaten, die sich etwa fünfhundert Meter links von unserem Hause, auf ei­ ner vor einem Wäldchen gelegenen, mit Korn bestandenen Anhö­ he einzugraben begann. Da gleichzeitig das Feuer vor und in Ber­ lin zunahm, entstanden Visionen eines deutschen Gegenangriffs. Aber nicht nur wir, sogar auch manche »Volksgenossen« (wie wir die unbedenklichen Mitläufer der Nazis nennen) sind der Mei18

nung, daß eine Rückkehr der Deutschen das Schlimmste wäre, was uns passieren könnte. (»Der Deutschen«, habe ich geschrie­ ben, und so sprechen wir auch stets. Unsere entsetzliche Tragödie, daß wir von dem Land, in dem wir geboren sind, als von etwas Fremden sprechen müssen, weil die Nazis es uns gestohlen ha­ ben.) Andere aber hoffen auf die Rückkehr der Deutschen, etliche glauben sogar daran. Denn »der Führer« hat es ja versprochen: »Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch«. Nach einer Weile, während welcher wir die Abteilung Soldaten nicht mehr beobachtet hatten, wurde es um unser Haus leben­ dig. Wie es im einzelnen vor sich ging, wußten wir kaum zu un­ terscheiden, jedenfalls füllte sich die Terrasse vor dem Hause im Handumdrehen mit einer Menge Soldaten, die in der Meinung, dies sei der Eingang, durch den Wintergarten Einlaß begehrten. Ich öffnete die schmale Tür, die, als solche nur von innen kennt­ lich und infolgedessen nur von innen zu öffnen, zur Terrasse führt. Jemand bedeutete mir in gebrochenem Deutsch, daß man hier nicht wohnen, nicht schlafen, nur essen wolle. Dieser Jemand hatte ein junges, rundes, lachendes Gesicht, sympathisch, mit be­ weglichen Zügen. Ehe wir begriffen, ob wir sie etwa bewirten soll­ ten, denn wir hatten uns gerade zu einer Tasse Kaffee hingesetzt, hatte sich mein Arbeitszimmer mit ungefähr zwanzig Menschen gefüllt, im Wintergarten standen auch noch etliche, und auf der Terrasse war Getrampel und Gemurkse. Ich konnte mich aber nicht darum kümmern, was das war, denn schon saßen in der Sesselecke um den kleinen Tisch vier, wie ich jetzt erkannte, Of­ fiziere, dazu ein paar Ordonnanzen und der besagte Jemand, der als Dolmetscher fungierte. Er sprach Jiddisch-Deutsch und er­ zählte mir später, daß er Jude sei und aus Kiew stamme. Inzwischen wurde Essen über den Tisch gebreitet. Brot, But­ ter, Wurst, Schinken in Breughelschen Mengen, dazu Schnaps. Wir brachten Gläser. Wir hatten noch einen Rest Kuchen - wie auch den Kaffee, aus Liebesgabenpaketen meines Schwagers in der Schweiz. In der Annahme, die Russen wollten von uns bewir­ tet werden, hatten wir unseren Kaffee und Kuchen voreilig zur Verfügung gestellt. Sie nahmen ihn. Wie töricht von uns! Soviel Essen und Trinken, wie hier auf meinem kleinen Tisch gestapelt war, hatten wir seit Jahren nicht gesehen. Ein einziger Blick be­ lehrte uns, daß das alles in Deutschland erbeutet war. Wir muß­ ten uns zu ihnen setzen und vom Essen und Trinken kosten. Bald 19

darauf kam zu den anderen Offizieren noch ein Major. Draußen vor dem Wintergarten wurde eine Strippe gezogen und mit Appa­ raten hantiert. Wir verstanden, daß wir den Stab einer Fernspre­ cherabteilung im Hause hatten. Die Offiziere und der Dolmetscher bewunderten meine Bücher. Ich zeigte ihnen die russische Übersetzung meines Romans »Uni­ on der festen Hand«, der mir vor vierzehn Jahren den Kleistpreis der Linken und den Haß und die Verfolgung der Rechten zuge­ zogen hatte. Einer, ein Hauptmann, las aufmerksam das Vorwort des Übersetzers Max Bernstein, das über Werk und Autor ori­ entiert. Es entspann sich ein Gespräch über Nationalsozialismus und Krieg. Was die Russen mit Betonung sagten, als brächten sie uns eine Offenbarung, haben wir ja von Anfang an gewußt, und noch viel mehr, viel besser, und wie oft haben wir es unter unseren Freunden in den vergangenen Jahren wiedergekäut... Der Haupt­ mann insbesondere schien, wie das in Deutschland hieß, »poli­ tisch geschult« worden zu sein. Er sprach einen Propagandasatz nach dem anderen mit religiösem Eifer. Und er hatte eine ähnli­ che Frisur wie Hitler. Durchweg benahmen die Offiziere sich höflich. Auch hatten sie das bei allen Nationen übliche Maß an Allgemeinbildung, was der Skeptiker in mir auf das Konto der Spezialtruppe, der sie angehör­ ten, buchte. Was an Mannschaften im Zimmer herumstand oder nach und nach neugierig hereinkam, war anständig. Einer liebte die Musik, und ich ließ ihn auf Manfreds Koffergrammophon ei­ ne Schaljapin-Platte vorspielen. Daß der elektrische Plattenspie­ ler wegen Strommangels nicht geht, war zwar jedem klar, aber der Strommangel erschien ihnen merkwürdigerweise nicht selbstver­ ständlich. Bei der großen Menge von Soldaten war die Gesamt­ situation nicht immer zu überblicken. Wie es schien, paßten die Offiziere auf, daß die Soldaten sich nicht hinsetzten. Dann kam einer, der am Fernsprecher hockte, mit einer Meldung herein. Sie mußten abrücken, Richtung Berlin. Für uns war es eine Erleichte­ rung, weil es bedeutete, daß die Front vorrückt. Wir haben keine Lust, noch nachträglich durch deutsche Gegenangriffe (an die der Verstand ohnehin nicht glaubt - »womit denn?«, wie jener Offizier sagte) zum Kampfgelände zu werden. Wir hatten im besten Einvernehmen beieinandergesessen. Der Aufbruch war dann so turbulent wie die Ankunft. In der Stille, die urplötzlich folgte, sahen wir uns um: Es ist nichts abhanden­ 20

gekommen. Im Garten ist der Wipfel einer Birke beim Legen der Fernsprechleitung gebrochen, in den Beeten ist etwas herumge­ trampelt worden, das ist alles. »Sie haben Glück gehabt, daß Sie den Stab bei sich hatten«, sagte später jemand zu mir, und ich mußte hören, daß andere Soldaten der gleichen Abteilung an­ derwärts ungebärdig gehaust hatten: den Inhalt von Koffern und Schubladen durcheinandergeworfen und teilweise mitgenommen, Eßvorräte vertilgt und das, was sie nicht mochten, auf die Erde geschüttet und zertreten. Ich dachte an einen der Offiziere, der sich hatte angelegen sein lassen, mir den Unterschied zwischen der Wirklichkeit der Roten Armee und der deutschen Propaganda über sie klarzumachen. Gewisse Übergriffe seien im Kampfgebiet unvermeidlich, aber die deutschen Truppen hätten in Rußland sy­ stematisch Greuel begangen - wozu er Fälle jener Art anführte, von denen wir wieder und wieder nicht allein in ausländischen Radiosendungen, sondern auch in mündlichen Berichten deut­ scher Soldaten (solcher, die sich dessen rühmten, und solcher, die sich dessen schämten) mit stummem Schauder gehört haben. Ich habe die Erklärungen des Offiziers akzeptiert und bin geneigt, an­ gesichts der »Taten« der nationalsozialistischen Wehrmacht - kei­ neswegs bloß der SS - dem einfachen russischen Soldaten sogar mehr nachzusehen, als der Offizier dulden wollte. So brach der Abend an, alles in allem etwas gespenstisch, mit dem im Keller gekochten, leicht rauchig schmeckenden Kartoffel­ gericht, dem unentwegten Geschützdonner, dem toten Radio und der Dunkelheit, die wir nur durch eine Kerze erhellen können. Wir gingen zu Bett, ich zog mich aus und wollte einschlafen. Ge­ gen zwölf Uhr wurde geklopft. Zuerst an der Tür. Ich mußte, be­ vor ich Licht machte, das Fenster mit der Verdunkelung schließen. Schritte hinter dem Haus; Klopfen am Fensterladen. Ich antwor­ tete. Ich zog die Hose an, hängte den Rock über und ging Öffnen. Zwei Russen mit Gewehr. Im schwachen Kerzenlicht etwas fette, blasse Gesichter. Sie gingen durch die Zimmer; mittlerweile hatte auch meine Frau sich angekleidet. Endlich bedeutete mir der eine, ihm hinaus vor die Tür zu folgen - meine Frau solle drinnen blei­ ben. Auch der andere blieb zurück. Ich beschloß, es mit Dumm­ heit zu versuchen; das heißt, ich gab ihnen mit immer neuen Re­ dewendungen zu verstehen, daß ich nichts verstünde. Bei dieser Methode gelangten wir allesamt, die beiden Russen, ich und zu­ letzt meine angstvolle Frau, vor die Tür auf den Steinplattenweg, 21

der zur Gartenpforte führt. Es war Sternenlicht. Man sah die Ker­ le, aber nur undeutlich, einer hatte einen gewölbten Rücken, der andere schien jünger und energischer zu sein. Aber indem sie mir abwechselnd immerzu winkten und meine Frau, statt, wie sie es wollten, zurückzubleiben, nachfolgte, gelangten wir ständig wei­ ter hinaus, bis beinahe ans Gartentor. Dieser Situation waren die Burschen, zu unserem Glück nüchtern und von Natur nicht ganz rabiat, nicht gewachsen. Jetzt fragte der eine mit den paar deut­ schen Worten, die er kannte: »Ander Haus auch Frau?« Und er zeigte dahin und dorthin. Natürlich, sagte ich, überall seien Frau­ en. Ich dachte: Sollen sie doch den Nazis auf den Hals gehen, oder denen, die fast noch schlimmer als die Nazis sind, die zwar nicht in der Partei waren, aber der Hitlerei mehr als ergeben. Weg waren die beiden - wir standen im Hof, meine Frau und ich und sahen uns an. Als wir wieder hineinkamen, meinte von der Treppe oben die bei uns zwangseinquartierte Frau Siegel: »Die suchten wohl eine Frau zum Schlafen.« Dieses gemütvolle Phleg­ ma ärgerte mich. Unsere Zwangseinquartierten oben im Hause haben bis jetzt alle mit dem ganzen Spuk nichts zu tun gehabt. Die Last tragen wir hier unten. Aber oben huldigen sie gemeinsam der Auffassung, daß wir nicht genug Rücksicht auf sie nehmen und von Rechts wegen alles, was wir haben, ihnen übereignen müßten. Da ist diese Frau Siegel, korpulent wie eine Matrone, die durch eine Schiebung der »Gemeindeobersekretärin« Krüger und des Bürgermeisters Hagena mit ihrem Kind als Bombengeschädigte aus Berlin-Lankwitz eingewiesen wurde, wobei Herr Hagena sich des Gendarmen Geßler bediente, der durch seine Mißhandlungen russischer Gefangener sowohl wie durch seine Erpressungen bei Kaufleuten berüchtigt war. Frau Siegel hat ein Jahr lang als »voll Fliegergeschädigte« Bezugsscheine für alles Mögliche bekommen, dazu Räumungsunterhalt und so fort; in Wirklichkeit war ihre Wohnung in Berlin-Lankwitz nur vorübergehend unbenutzbar, sie hatte einen Untermieter darin sitzen und alle ihre Möbel und Kleidungsstücke gerettet. Ihr Mann schickte aus Dänemark, wo er Zollpolizist war, Kisten voller Lebensmittel - ein typischer Fall zur Charakteristik der Durchschnittsdeutschen: Frau Siegel hat öfters geäußert, ihr sei angst, wenn der Krieg zu Ende sei, dann könnten sie so doch nicht mehr leben. Ferner haben wir da oben die Breslauer Flüchtlinge: Frau Ammert, klein wie eine Zwergin, aber betriebsam, laut und raumfüllend. Frau Peiker, ihre verheira­ 22

tete Tochter, faul und putzsüchtig, deren zweijähriges Kind, frech, unsauber und unerzogen. Eine wahrhaft ägyptische Plage. Frau Ammert, deren Mann ein schwerhöriger Trinker und kleiner An­ gestellter bei Krupp gewesen war, liebt es, wenn sie von anderen Leuten erzählt, zu sagen: »Die sind von ganz einfacher Herkunft.« Ich meine, Figuren aus meinem Roman »Union der festen Hand« vor mir zu haben: die Dopslaffs, Otto und Paula Wittkamp.

24. April, Dienstag. Als meine Frau und ich gestern nacht wieder zu Bett gingen, ent­ ledigten wir uns beide nicht der Kleider. Aber es geschah nichts mehr. Das Rumoren in Berlin war bald stärker, bald schwächer, bald näher, bald ferner, bald seitlich, bald geradeaus. Späterhin prasselt ein Gewitter nieder. Da wird das Herumstrolchen aufhö­ ren, dachte ich und schlief wieder ein. In der Nacht wachte ich ein paarmal auf und merkte jedesmal, daß meine Frau nicht schlief. Von nun an bin ich entschlossen, es grundsätzlich anders an­ zufangen und aufs Ganze zu gehen. Auf meinem Schreibtisch ist die russische Übersetzung von »Union der festen Hand« in den Mittelpunkt gerückt; daneben liegt die Beilage des »Berliner Ta­ geblatts« von 1932 mit Stalins Bild. Ein Gang an das Gartentor ließ mich etwa zweihundert Meter die Straße hinunter, in der Richtung des Bahnhofs, etwas Rotes auf der Erde am Wegrand sehen. Ein Russe war dort beerdigt wor­ den. Wie und wo er gestorben ist, weiß man nicht. Das Grab ist der Länge nach mit einem roten Tuch bedeckt, Blumen sind dar­ auf gelegt. Als ein russischer Wagen vorbeifuhr, machte er halt, ei­ ner sprang ab, feuerte aus der Pistole drei Schüsse in die Luft und verweilte dann noch kurz vor dem Grab. Vielleicht sprach er ein Gebet, vielleicht war es nur eine Sekunde sentimentaler Betrach­ tung. In allem, was die Russen tun, ist unverkennbar etwas Thea­ tralisches, wie bei den Italienern, doch auf ganz andere Weise, vi­ taler, elementarer, naiver. Ich habe mich ans Wohnzimmerfenster gesetzt, von wo ich dau­ ernd das Gartentor überblicken kann, jetzt, da die Lindenhecke vor der Terrasse nur die ersten grünen Spitzen zeigt. Ich sitze im Mantel da, denn es ist kühl geworden, und das vom wenigen her­ ausgesparte Häufchen Koks im Keller wollen wir zum nächsten 23

Winter aufbewahren, von dem der Himmel allein weiß, wie er sein wird. Sobald jemand kommt, gehe ich zur Haustür. Zwischen neun und halb zehn der erste. Mit Fahrrad, schlecht in der Balance, nach Schnaps riechend; ein rothaariger, vierschrö­ tiger Bursche mit einem Pistölchen in der Hand. Ich empfing ihn an der Haustür: »Hier deutscher Kommunist.« Du Kommu­ nist? fragte er blinzelnd. Dokument! Ich zitierte ihn geheimnis­ voll herein. Finger auf dem Mund: psst, es muß nicht jeder hö­ ren, ich bin verfolgt worden. Gestapo. SS - ich machte es ihm sehr handgreiflich begreiflich. Ich brachte ihm das russische Buch; er verstand halb und halb auch nicht. Er rückte seinen Stuhl unter dem Tisch hervor, fiel darauf, lag breit über der Tischplatte. Offen­ bar arbeitete sein Gehirn angestrengt. Plötzlich deutete er fragend nach oben. Er wollte also hinaufgehen. Ich folgte. Er betrachte­ te die Frauen dort, schwankte etwas, suchte in den Zimmern. Ich lenkte ihn ab, indem ich ihm eine Zigarette in den Mund steck­ te und selbst eine anzündete. Schließlich entdeckte er eine elektri­ sche Taschenlampe. Ich sagte, wie in solchen Fällen immer: »Ka­ putt.« Aber er knipste, und das Licht ging an. Mit einem Blick auf mich steckte er das Ding in die Tasche. Aus. Er ging. »Sein« Fahr­ rad hatte er natürlich mitten im Blumenbeet abgestellt, nicht etwa auf der anderen Seite, wo die Hauswand ist. Diesem Besuch folgten drei weitere, einzeln und zu zweien. In der Regel gelangten sie nur bis zu meinem Schreibtisch, wo mein Buch und Stalins Bild Wunder wirken. Rings in den Häusern ist ein ständiges Kommen und Gehen. Gegenüber ist eine Ostpreu­ ßenfamilie einquartiert, mit einem vierzehnjährigen Bengel, der an Dreistigkeit, Vorwitz und Unklugheit ein Musterergebnis na­ tionalsozialistischer Erziehungsarbeit ist. Der fängt an, sich mit den Soldaten anzufreunden, was immer neue dorthin lockt. Die Italiener aus Nauen, die von der großartigen deutschen Or­ ganisation - eine chaotische Organisation, möchte man sie nen­ nen - noch in letzter Minute auf den Weg nach Süden gebracht und dann hier ihrem Schicksal überlassen worden waren, weil die Russen südlich von uns die Bahn schon durchschnitten hat­ ten, kampieren weiterhin in der Hütte hinter dem Gemeindehau­ se neben uns. Sie fangen an zu »organisieren«: Kartoffeln, Holz, Fett, Reis aus irgendwelchen Kaufläden oder Lagern. Etwa drei­ ßig Männer und eine Frau. Ein langer, ziemlich deutsch sprechen­ der, recht ordentlicher Bursche hat die Führung. Frau Weyth, die 24

Schwester der bei uns einquartierten Frau Siegel, die auf der ande­ ren Seite des Gemeindehauses einen Garten und ein sogenanntes Behelfsheim hat (wie erfinderisch waren die Nazis, hauptsächlich in Wörtern!), hat sich diesen Burschen als Eskorte engagiert. Er bringt auch Wasser für Frau Siegel, damit die nicht über die Stra­ ße muß, es zu holen. Nach der Mittagspause war der erste bei uns ein strammer Kerl in Lederjacke mit umgehängter Kartentasche. Finster und mit vorgehaltener Pistole begehrte er auf mein »Guten Tag« Einlaß ins Haus. Ich holte mein Buch herbei. »Du - Reger?« fragte er, den Finger auf dem Autorennamen der Titelseite. Er blätterte, las den Namen der Moskauer Verlagsanstalt, lächelte, wurde gesprächig. Meine Frau kam hinzu. Wir wollten natürlich wissen, wie weit die Sache in Berlin ist. Er umgrenzte an Hand seiner Karte die Be­ zirke, wo noch gekämpft wird. Viel ist das nicht. Er sagte weiter, die Amerikaner und Russen hätten sich vor Berlin vereinigt - er schlug die Hände übereinander, um es uns zu verdeutlichen. Ob das stimmt? Als er sich verabschiedete, gab er uns die Hand. Wir haben noch einige Besuche gehabt, die auf ähnliche Wei­ se ohne Zwischenfall verliefen. Einer ermahnte meine Frau mit Wort und Gebärde, nicht mehr, wie in der Faschistenzeit, furcht­ sam zu sein, sondern fest und gerade dazustehen. Die Leute sagen, der Wald zwischen hier und Blankenfelde lie­ ge voller deutscher Uniformstücke. Dort hätten die deutschen Soldaten zumeist ihre Uniformen ausgezogen und sich in Zivili­ sten verwandelt, die entsprechenden Kleidungsstücke hätten sie schon bei sich gehabt. In der Hauptsache seien es solche gewe­ sen, die in der Gegend zuhause seien. Sie hätten sich dann gleich auf den Heimweg begeben. Wir haben auch zwei gesehen, die die Burgsdorfstraße herunterkamen, sie waren aber noch in Uniform. Sie trugen ihre Tornister in der Hand, Waffen hatten sie nicht. Mit halbem Blick zu uns hin sagten sie: »Jetzt geht’s nach Hau­ se.« Wir hielten sie für Gefangene, die von den Russen so, ohne Bewachung, nach rückwärts geschickt würden, wie man das von den Amerikanern im Westen schon immer gehört hat. Es ist aber möglich, daß beides zusammentrifft - daß sie aus der Gegend stammen und nun versuchen, statt in die Gefangenschaft nach Hause zu kommen. Da die russische Besetzung noch keine festen Formen angenommen hat und alles noch im Fluß ist, wird es ih­ nen vielleicht gelingen. 25

In der Burgsdorfstraße geht die Sage, die beiden seltsamen deut­ schen Soldaten vom Sonntagnachmittag seien wirklich deutsche gewesen, abends wiedergekommen und im Hause uns gegenüber für die Nacht aufgenommen worden. Von da seien sie frühmor­ gens durch die Gärten fort, von den Russen aber gesehen worden. Daher suchten die Russen jetzt soviel in der Burgsdorfstraße her­ um. Es gibt nichts Naiveres, dem Wesen der Vorgänge Fremderes als dieses so oft gebrauchte, volkstümliche »Daher«. Das wirkliche Daher bleibt ihnen infolgedessen ewig verborgen. Diesmal rührt das Pseudo-»Daher« wohl davon her, daß viele Russenbesuche mit der Frage »Kamerad?« beginnen - was heißen soll, ob deutsche Soldaten im Hause verborgen seien oder ob der Mann, wenn jung aussehend, selbst einer sei. Ein ruhiger Abend mit abziehenden Wolken und leisem, küh­ lem Wind. Auch in Berlin ist es stiller geworden. Man hört einzel­ ne und ferne Detonationen, sieht den Rauch von Feuersbrünsten. Berlin hat etwas Mysteriöses. Wie mag es dort aussehen? Wie mag es zugehen? Man denkt an Bekannte, an Freunde, an Straßen, Plätze und Häuser, die man kennt, auch an Halensee, wo wir bis August 1943 gewohnt haben... Später am Abend in unserer Gegend viel Knallerei aus Pistolen, Gewehren und Maschinenpistolen. Wie schon bei Tage, gestern und heute. Bis jetzt lassen sich bei den Soldaten der Roten Ar­ mee drei Hauptliebhabereien erkennen: Radfahren, Frauen und Schießen. Schießen aus Lust am Knall. Sie schießen auf alles: auf Sperlinge, Katzen, Hunde, Porzellanisolatoren an Telegraphenund Lichtstrommasten. Sogar was man zu den Gefechtshandlun­ gen zählen könnte, die Beschießung vereinzelter deutscher Auf­ klärungsflugzeuge, geschieht mit einer Inbrunst, die weit über die Bedeutung des Objekts hinausgeht und die Leidenschaft, die Freude am Losknallen verrät. Neun Uhr abends deutscher Sommerzeit. Dämmerung. Die re­ lative Ruhe war trügerisch. Mit wildem Ungestüm braust eine Lastwagenkolonne in die Burgsdorfstraße. Ich sehe Offiziere mit schnellen Schritten und ausholenden Bewegungen Anordnun­ gen erteilen. Das Ganze hat dramatische Impulse, und ein bis­ lang noch undeutlicher Eindruck verdichtet sich in mir: Zirkus­ volk. Überschäumende Kraft. Exotik, auch ohne daß sie durch die Mannigfaltigkeit der in der russischen Armee vertretenen Völ­ kerschaften eigens erzeugt oder unterstrichen wird. Und alles 26

vollzieht sich mit überwältigender Schnelligkeit. Die Sinne, Au­ gen und Ohren, vermögen so rasch nicht zu folgen. Sie sind außer­ stande, die vehementen Bilder zu einer Totalität zu ordnen. Kaum habe ich die Kolonne rechts von uns in das freie Feld abbiegen und die Offiziere hin- und herbrausen sehen, da steht schon ein junger Leutnant (ich glaube die roten Sterne auf den Achselklappen richtig gezählt und gedeutet zu haben) im Haus­ flur. »Ich hier wohnen«, sagte er kurz und verschwand wieder. Wir hörten das nicht ungern. Diese Ankündigung schien in dem all­ gemeinen Hexenkessel, in dem wir schreien, rattern, Zäune bre­ chen, Bäume knirschen hörten, eine gewisse Garantie gegen Wid­ rigkeiten zu bieten. Im nächsten Augenblick standen sechs, acht Soldaten aller Art im Hause, redend, gestikulierend, ohne daß ein Sinn zu entneh­ men war. Nach draußen blickend, sah ich, daß einzelne Lastwa­ gen ein Kanönchen hinter sich herzogen. Also etwas Artilleristi­ sches. Jetzt tauchte der Leutnant wieder auf. »Wo Küche? Ich hier essen.« Allesamt? fragte ich. »Oh, drei, vier, dann gehen dann an­ dere.« Na also. Warten wir ab, was kommen wird. Zur Beruhigung der Frauen im Hause habe ich den Anführer der auf dem Grundstück des Gemeindehauses kampierenden Ita­ liener gebeten, mir zwei anständige Leute zu schicken, die in un­ serem Wohnzimmer schlafen können. Das kam so. Die Breslau­ er Flüchtlinge hatten es noch vor der Russenzeit fertiggebracht, einen in der Nähe liegenden Garten, dessen Besitzer aus BerlinDahlem angeblich mit seiner Museumsbehörde nach Konstanz evakuiert ist, im Verein mit einem Herrn Schwarz aus Mahlow, Konstrukteur bei Daimler in Marienfelde und mit dem Eigentü­ mer des Gartens befreundet, für sich zu beschlagnahmen. In dem Garten steht eine Wohnlaube mit Küchenherd. Dieser Herd soll­ te nun dort geholt und bei uns aufgestellt werden, um die Koch­ kalamität zu beheben. Es fehlte aber der Schlüssel zur Wohnlau­ be, und der Schwarz sollte mit Dietrich öffnen, was bis jetzt nicht geschehen ist. Frau Weyth hatte nun ihrem italienischen Schutz­ engel gesagt, daß hier im Hause ein Küchenherd gebraucht wird. Infolgedessen schleppten die Italiener uns einen heran und mon­ tierten ihn in der im Keller befindlichen Waschküche, weil nur dort Anschluß an den Kamin ist, denn der Architekt hat im blin­ den Vertrauen auf eine angeblich nie versagende Technik kei­ nen Kamin durch die Küche selbst gehen lassen. »Vollelektri­ 27

scher Haushalt« war die technische Propagandaparole, die jetzt so gründlich ad absurdum geführt ist. Bei Gelegenheit der Herd­ montage sprach ich dem Italiener davon, daß zwei seiner Leute bei uns schlafen könnten. Er schickte einen netten jungen Mann, der schwach deutsch und gut französisch spricht, weil er in Paris gelebt und dort Technik studiert hat, und einen Bauernsohn aus der Toskana, der nur Italienisch versteht, und vom Italienischen, das ich nie so ganz richtig beherrscht habe, ist mir ziemlich viel abhandengekommen, außerdem streikt das Gedächtnis in diesen anstrengenden Tagen. Mit dem anderen hingegen kann ich mich auf französisch fortlaufend verständigen. Diese beiden Jungen trafen gerade zur Übernachtung ein, als fünf Russen sich um den Küchentisch versammelt hatten. Es wur­ de aufgefahren: Brot, Speck, Butter, alles in Quantitäten von meh­ reren Kilos, dazu, da sie keinen Schnaps hatten, Brennspiritus. Sie verlangten Wasser, um den Spiritus damit zu vermischen, was dann in der Weise geschah, daß sie abwechselnd zwei Schlucke Spiritus und einen Schluck Wasser nahmen. Wir mußten, nach­ dem verdunkelt war, eine Kerze auf den Tisch stellen und uns al­ le zu ihnen setzen, meine Frau und ich, die beiden Italiener, die Breslauer Flüchtlinge, die darauf bedacht waren, Essen mitzube­ kommen, während unsere Berliner Zwangseinquartierung es vor­ zog, sich unsichtbar zu machen. Wir waren zufrieden, daß Frau Ammert, 53 Jahre, klein, armselig, aber quicklebendig, durch ih­ re absolute Naivität, in der sie mit russischen Soldaten wie mit deutschen umgehen zu können glaubt, unbewußt manchen Situa­ tionen, die heikel zu werden drohten, die Spitze abbrach. Sie ist der Typ »Soldatenmutter«. Unter der Wirkung des Spiritus wur­ den die Augen bald glasig. Der kleine Leutnant sagte alle zwei Mi­ nuten: »Essen - bitte!« mit einladender Handbewegung und in fast beleidigtem Tonfall, weil wir es nach seiner Ansicht nicht ge­ nug taten. Auch diese Eßwaren waren erbeutet. Bis jetzt habe ich noch keine spezifisch russische Verpflegung zu Gesicht bekom­ men. Diese Armee scheint sich ausschließlich mit gefundenen Vorräten zu verproviantieren. Daher leben sie zunächst aus dem Vollen, üppig, verschwenderisch und achtlos. Ich habe eine lei­ se Ahnung, daß, sobald dieser Beuterausch verflogen und in der Gegend nichts mehr zu holen ist, ein dickes Ende nachkommt. Der Leutnant, dem ich die Bilder der russischen Heerführer aus »News Chronicle« gezeigt habe, hat mir gesagt, daß sie nicht die 28

Truppe Schukow, sondern Koniew sind. Natürlich, wenn sie vom Süden her, aus dem Spreewald kommen. Dann müssen sie zur Zeit eine Reservetruppe sein. Der Leutnant und noch mehr die ande­ ren wollen durchaus, daß wir Spiritus trinken. Die Italiener pro­ bieren es und geben es auf. Jetzt bringen sie eine Ziehharmonika, und einer singt mit krähendem Tenor. Es wird lauter und lauter. Einer setzt sich auf den Heizkörper, dadurch wird der Verdunke­ lungsvorhang verschoben, sofort fliegt ein Stein gegen die Haus­ wand. Auf Verdunkelung passen sie auf. Draußen in der Diele ist ein ständiges Kommen und Gehen, wir können es nicht im Auge behalten. Die Haustür steht offen. Der Leutnant, schon stark alko­ holisch getrübt, erzählt, daß er aus Sibirien stammt, fünf Jahre im Krieg ist und, selbst Lehrer, 5 Jahre Deutsch gelernt hat. Mit dem Begriff der 5 Jahre lerne ich allmählich umzugehen; sie zählen von 1941, dem Beginn des russisch-deutschen Krieges, bis jetzt 5 Jah­ re, weil sie jedes Jahr einzeln zählen, obwohl von Juni 41 bis Ende April 45 knapp vier Jahre verstrichen sind. Unter den neu Ankommenden ist ein Schofför, wie sich heraus­ stellt. Mit Schoffören habe ich nie gute Erfahrungen gemacht. Ich will nicht sagen, daß es an den Schoffören liegt, aber es ist nun einmal Tatsache. Ich habe noch den Schofför im Gedächtnis, der im August 43 unseren Umzug von Berlin-Halensee hier hinaus improvisiert hat - einen Krakeler erster Güte, der dann später in Rußland gefallen ist. An ihn erinnert mich dieser, in seiner gan­ zen Art, obwohl ihm im Äußeren sehr unähnlich - groß, behen­ de, von einer penetranten »Maß-Intelligenz« (nämlich nach Par­ teimaß gemacht), während der Berliner klein und vermickert war. Der Russe hat wohl schon einiges getrunken, um so penetran­ ter benimmt er sich. Er bezweifelt, daß ich, wie ihm ein Kame­ rad, der ruhigste und älteste von allen (denn jeder hat sein Alter durch Fingersprache schon bekanntgegeben), sagt, Kommunist sei. Nun, mit meinem Kommunismus ist das natürlich so: Ich hal­ te den Kommunismus für eine politische Doktrin, eine revolutio­ näre Glaubenssache, mit der man sich auseinandersetzen kann, während mit dem Nationalsozialismus, der ja im Grunde alle In­ stitutionen des russischen Kommunismus auf eine ungekonn­ te Art nachgemacht hat, eine Diskussion unmöglich ist - er ist schlechthin eine Gemeinheit, während der Kommunismus noch eine Gesinnung ist. Im übrigen steht in meinem Roman »Uni­ on der festen Hand« und »Das wachsame Hähnchen« (1931 und 29

1932, beide von den Nazis als »unerwünschte« Bücher verboten - andere meiner Bücher standen auf der Liste, der »nicht zu för­ dernden«) alles aufgezeichnet, was nach meiner Meinung über Wesen und Erscheinung des Kommunismus zu sagen ist, gekürzt ist die russische Ausgabe auf jeden Fall, das erkennt man schon am Umfang, wenn man das deutsche Buch gegen das russische hält. Was mich persönlich betrifft, so war es ausgeschlossen, daß ich mich in die Enge einer Parteisatzung oder Parteianschauung pressen ließ, aber obwohl das bekannt war und man mich als Ein­ zelgänger beurteilte, genoß ich die Sympathie aller Linkskreise, einschließlich der radikalen, wie sie die meine. Wie sollte ich all dies Komplizierte, ohne Kenntnis des Russischen und vor Leuten, deren Bildungsgrad ich nicht annähernd einzuschätzen vermoch­ te, so erläutern, daß ich richtig verstanden würde? Es bleibt mir nur die massive eingängige Formel »Kommunist« zusammen mit dem Hinweis auf das Buch. Nur in diesem Sinne ist sie ein Trick. Jedenfalls ist sie der Wahrheit weit näher als alles, was die Russen aus einer auf deutsch vorgebrachten reinen Wahrheit herauszuhö­ ren imstande wären. Doch zunächst zu dem Schofför. Er ist ebenfalls wie jener Berli­ ner, der nach einer Jähzornsszene verblüffend gefällig sein konn­ te, von zwiespältiger Natur. Meine Frau ist vor einer Weile unbe­ merkt aufgestanden und schlafen gegangen. Als man mich wieder zum Essen nötigt, frage ich, ob ich meiner Frau ein Butterbrot bringen darf. Selbstverständlich darf ich, alle bemühen sich, am meisten der Schofför, der nicht genug Butter auf das Brot laden kann, bis es wie eine sechsfache Käseschnitte aussieht. Zugleich aber bohrt er unentwegt an meinem »Kommunismus« herum. So etwas fühlt man ja, auch wenn man die Worte nicht versteht. Der Leutnant, ohnehin kaum noch fähig, die Augen offen zu halten, und des Deutschen trotz angeblich 5jähriger Lehrzeit fast so we­ nig mächtig wie ich des Russischen, soll dolmetschen. Es gelingt ihm immerhin so weit, daß ich etwas ahne: Der Schofför wärmt die Legende auf, daß Thälmann löseitige Briefe auf Zigaretten­ papier zu schreiben pflege. Das tut er in der Form eines Verhörs: »Schreibt Thälmann Briefe dick wie Buch oder dünn wie Zeitung auf Papier wie diesem?« Und er hebt ein Stück Zigarettenpapier in die Höhe. Meine Antwort soll ein Beweis dafür sein, ob ich Kom­ munist bin oder nicht. Nun wußte ja auch ein größerer Esel als ich, was er zu antworten hätte - nach dieser Fragestellung. Aber 30

das reizt mich nicht. Ich sage dem Leutnant, daß schließlich nicht jeder Kommunist von Thälmann Briefe empfangen kann. Ein Wunder, er versteht das in seinem Dusel. Offenbar freut er sich, so von dem ganzen Geplänkel loszukommen. Wo ist Thälmann? fragt der Schofför. Das haben schon mehrere gefragt. Sie kennen alle den Namen Thälmann, was doch auf eine intensivere politi­ sche Durchdringung schließen läßt, als der Nationalsozialismus sie erreichte, der nicht einmal die Namen seiner ausländischen Musterschüler Mussert oder Degrelle den »Volksgenossen« geläu­ fig machen konnte. Meine Antwort kann nur stets die gleiche sein: Man sagt, Thälmann sei tot - »kaputt«, das Universalverständi­ gungswort für tot, entzwei, erledigt, fertig, zu Ende. Thälmann kaputt, Berlin kaputt, Arbeit kaputt, Krieg kaputt. Aber so weit ist es leider noch nicht, daß »Woina kaputt« ist. (Wobei auch die Zusammenstellung - »Krieg« auf russisch, »kaputt« auf deutsch Anlaß zum Nachdenken bieten könnte.) Eine merkwürdige Lage. Die Russen, sich als siegreiche Macht­ haber fühlend, glauben mich zu examinieren und bilden dabei Studienobjekte für mich. Von allen Vorstellungen, die bei ihnen möglich wären, ist dies wohl diejenige, die ihnen niemals bewußt wird. Die Gesichter wechseln jetzt öfters, offenbar finden Wachab­ lösungen statt. Gewehre werden um- und abgehängt. Frau Am­ mert hat sich gleichfalls davon gemacht. Nur die beiden Italiener sind noch bei mir. Sie haben unter der Hand bei Speck und Butter tüchtig zugelangt. Zwei neue Gesichter kommen herein - gut aus­ sehend, ruhig. »Dies sind unsere Offiziere«, sagt der Leutnant. Die beiden haben Landkarten bei sich und führen offenbar sachliche Gespräche. Sie lehnen zu trinken ab. Ich möchte mich nun auch zurückziehen und will dem Leutnant sagen, wo er schlafen kann; er müsse das Zimmer mit den beiden Italienern teilen - ob es ihm etwas ausmache? Alles gut, sagt er, und im übrigen — ich verste­ he auch ohne daß ich höre, wie er die Italiener fragt: »Wo Frauen?« Der Techniker aus Paris weist ihm einige Häuser die Straße hin­ unter, wo sich eine Art »Hotel d’amour« befinden soll; wir haben das nie gewußt, so wenig haben wir uns um die Umwelt hier in der unsympathischen Mark Brandenburg (»Bezirk Potsdam«, wie Manfred zu sagen pflegte) gekümmert. Es sollen da zwei gefällige Frauen hausen, Flüchtlinge irgendwoher. Der Leutnant folgt mit etlichen anderen dem Wink, er hat trotz Trunkenheit noch so viel 31

Anstand, daß er nicht im Haus, wo er sich einquartiert hat, die Frauen haben will. Anders der Schofför. Er nähert sich der Tür des Schlafzimmers meiner Frau und will hinein. Die Tür ist ver­ schlossen, er bollert mit dem Fuß dagegen, unabsichtlich in Dun­ kel- und Trunkenheit, aber meine Frau kann das nicht wissen, sie muß einen großen Schrecken bekommen haben. Zugegeben, der Schofför weiß noch nicht, was für ein Zimmer hinter der Tür ist, aber warum er danach forscht, ist unzweifelhaft. Ich postie­ re mich vor die Tür, und der Bauernjunge aus der Toskana gesellt sich zu mir. Jetzt ist er es, dessen Bauernschlauheit weiterhilft. Der Russe spricht, und er spricht. Beide sprechen über dasselbe The­ ma, und immerfort aneinander vorbei. Das geht eine Weile so. Je­ der versteift sich darauf, sich dem anderen verständlich zu ma­ chen, was sie immer weiter von jeder Verständigungsmöglichkeit wegführt. Endlich faßt den Russen die Wut, er dreht sich kurzer­ hand mit einer Art Fluch um und läuft hinaus. Alle sind draußen. Das Haus ist still, die Tür offen. In der Küche brennt der Kerzen­ stumpf über wüsten Resten des Gelages. Draußen ist Mondlicht. Ein schneller Blick von der Schwelle der Haustür zeigt mir eine Artilleriestellung gleich hinter unserem Garten - Panzerabwehr, schätze ich mit meinem wenig militärischen Verstand. Das soll hoffentlich nicht heißen, daß die Gefahr einer Kampfverlagerung besteht. Ich sage dem Italiener gute Nacht. Wir müssen die Haus­ tür offen lassen für den Fall, daß der Leutnant zurückkommt. Er wird nicht kommen, meint der Techniker aus Paris.

25. April, Mittwoch. Wir sind früh wach, im Haus ist niemand. Durch das Fenster über den Garten hinwegspähend, sehen wir drei Geschützstellun­ gen, zwei davon an den Ecken unseres Gartens mit Zaunstücken und Sträuchern getarnt. Die Posten liegen in Mänteln dabei und schlafen. Es ist kalt. Plötzlich ein Krachen - eine Bombe. Wir sehen hinter dem Rand des Wäldchens, sechs-, siebenhundert Meter entfernt, den Dreck und den Rauch aufspritzen. Die erste deutsche Bombe! Sie bleibt, für jetzt wenigstens, die einzige. Wieder wird blitzartig die deut­ sche Ohnmacht enthüllt. (Die erste bedeutende Enthüllung dieser Art bleibt für mich mit der englisch-amerikanischen Invasion der 32

Normandie verbunden - als gegen diese gewaltige Schiffsoperati­ on vor den Augen der darauf gefaßt gewesenen Deutschen nichts von Belang, weder zu Wasser noch aus der Luft, unternommen werden konnte.) Wenn das eine englische Bombe in dieser Ent­ fernung gewesen wäre, wären unsere Fensterscheiben und unser Dach weg, denken wir. Hier gab es nicht einmal eine Erschütte­ rung. Die Russen hinter den Kanönchen rühren sich nicht. Ir­ gendwoher tönt Flak. Dann erkennen wir, daß ein Teil der zum Tarnen benützten Zäune bei uns abgerissen worden ist. Die Sträucher kommen aus anderen Gärten. An den anderen Häusern sind die Lastwagen in Deckung gebracht; sie haben alles kurz und klein gefahren. Frau Weyth erscheint mit Koffern und fragt, ob wir sie im Haus neben ihrer Schwester aufnehmen würden, sie könne in ihrem Be­ helfsheim nicht mehr bleiben, da seien die Soldaten eingedrun­ gen, sie habe in der Nacht schon im Gemeindehaus geschlafen, da seien auch flüchtige Frauen aus Berlin-Lichtenrade versteckt ge­ wesen, die Russen hätten sie gefunden und alle vergewaltigt, auch die Italienerin, sie selbst sei nur ihrer Häßlichkeit wegen dem glei­ chen Schicksal entgangen. Das ist, erkenne ich, alles ein wenig hy­ sterisch aufgebauscht, aber ein Wahrheitskern muß ja darin sein. Ich antworte: »Auf ihre Gefahr lasse ich sie herein, es sind schon viel zu viel Frauen im Hause, und ich weiß nicht, wie lange ich ge­ gen den Ansturm der Soldaten aufkommen kann.« Also sind wir nun acht Personen im Hause, 5 Frauen, 2 kleine Kinder und ich. Nachts haben wir die beiden Italiener, die jetzt bei uns Kaffee trin­ ken und auch zu Mittag essen sollen; abends wollen sie bei ihren Kameraden essen, weil sie dann dort die Tagesneuigkeiten und et­ waige Anweisungen ihres Anführers hören. Sie sind ja auch kein Schutz für uns, nur eine kleine Beruhigung für die Frauen, die immer sagen, wenn nur mehr Männer da wären, einerlei wie die wahre Situation ist. Die Frau Weyth sagt, sie sei blamiert, denn sie habe das, was über russische Gewalttaten im deutschen Radio erzählt würde, immer für Propaganda gehalten, und jetzt sei sie widerlegt. Ich zucke die Achseln, denn darauf läßt sich nicht mit einem Satz er­ widern, und zu mehr fehlt mir Lust und Überlegungsfreiheit. Was mich so außerordentlich wundert, ist der Umstand, daß keine russische Instanz dem Gemeindehaus irgendwelche Beach­ tung schenkt, was doch das Nächstliegende wäre. Von dem, was 33

im Ort selbst vorgeht, ist in unserer abgelegenen Straße nichts zu erfahren, und das Haus zu verlassen, ist nicht ratsam, ich bin hier der einzige, der helfen kann, sofern überhaupt zu helfen ist. Ich sitze also wieder auf meinem Posten am Wohnzimmerfenster und gehe zur Haustür, wenn ich sehe, daß sich einer nähert. Es kom­ men mehrere; allmählich wird die Prozedur mit dem Buch und Stalins Bild schon ein Mechanismus. Einmal habe ich nicht gut aufgepaßt, da ist einer auf die Terrasse vor dem Haus gelangt und steht vor dem Wintergarten. Als ich dort öffne, erblicke ich einen frischen, braven Jungen, groß, schmal, gesund, der fragt: »Rad haben Sie?« Im Keller steht Manfreds, unseres Sohnes Fahrrad (seine letzte Nachricht war aus Halle vom 11. April, kurz bevor London die Eroberung Halles meldete; wir vertrauen auf Gott, daß er wohlbehalten in amerikanischer Gefangenschaft ist - wie lange werden wir ohne Verbindung sein?); das Fahrrad hat völlig marode Schläuche, Manfred hat in seinem letzten Urlaub verge­ bens daran herumgeflickt, es gab ja keinerlei Ersatzteile mehr. Ich bin nun schon dreister und sage dem Soldaten, leider hätten seine Kameraden das Rad schon mitgenommen. Er ist ein anständiger Junge, der offenbar nun auch einmal einen Versuch gewagt hat, da doch alle Kameraden Räder ergattert haben und das Radeln an­ scheinend eine tolle Lust ist - der Versuch ist fehlgeschlagen, nun geht er, etwas linkisch, fort. Etwas später habe ich 3 Burschen in der Diele stehen, die die gleichen robusten Gesichter, aber sehr mannigfache Kostüme haben - man muß schon sagen: Kostüme, denn sie erinnern alle ein wenig an große romantische Opern von Verdi und dergleichen; der Anführer im weiten grauen Cape, alles an ihm wallend, auch die Bewegungen, der zweite in knapper, mit einem Riemen stark anliegend geschnallter Jacke, der dritte fast zivilistisch - vagabundisch bunt - so könnten sie die Verschwörer aus dem »Maskenball« sein. Der Anführer äußert ihre Wünsche: Cherchez la femme. »Nein«, sage ich, »hier nicht.« »Oh«, meint er, »Soldatt...« Er will wohl sagen: Soldaten brauchen das, das ist doch gar nichts Schlimmes, und mit einer langen, beinahe elegan­ ten Handbewegung, macht er die Gebärde des Ausstreckens, des Hinlegens. »Komm«, sage ich, und führe ihn an meinen Schreib­ tisch, wo wiederum mein Buch und Stalins Bild ihren beschwö­ renden Zauber beginnen. Die drei stehen unschlüssig. Am Fenster des Wohnzimmers, weil dort Sonne ist, und nur hinter den Schei­ ben ist es in diesem Frühling warm, steht der Käfig mit Manfreds 34

Wellensittich. Dorthin treten sie nun, in den Anblick des Vogels versinkend. Mit stummem Lächeln ruht ihr Auge darauf. Der An­ führer nennt mir den russischen Namen des Vogels, indem er mir klarzumachen sucht, daß das Tier auch in Rußland viel gehal­ ten wird. Schließlich gibt er den beiden anderen, die sich nur zö­ gernd von uns trennen wollen, einen kleinen Stoß. »Auf Widder­ sehen...« Über Mittag betritt ein Deutscher - ich hatte in den letzten Jah­ ren wenig Verkehr mit »Volksgenossen« - das Haus. Es ist ein Herr Pfeffer, der bei einer Frau Hellmich in der Nachbarschaft wohnt. Frau Hellmich, deren Mann am 3. Februar beim Bomben­ angriff auf Berlin umgekommen ist, ist Nazigegnerin gewesen, wie ihr Mann. Sie spricht polnisch und kann sich so mit den Rus­ sen manchmal etwas verständigen. Dieser Herr Pfeffer hatte sich erst einige Zeit mit seiner Frau in Blankenfelde bei seiner Toch­ ter aufgehalten, ist aber, als es dort zu toll wurde und die Tochter sich verstecken mußte, zurückgekommen. Warum er sich hier si­ cherer glaubte, ist unerfindlich, aber diese Wanderungen der Leu­ te, die jetzt zunehmen, hin und her, sind überhaupt mit der Ra­ tio nicht zu begründen. Herrn Pfeffer haben wir morgens flüchtig kennengelernt, als ich meine Frau zu Frau Hellmich begleitete, wo sie, um dem ewigen Qualm in unserem Keller zu entgehen, Kaf­ feewasser heiß machte. Herr Pfeffer hatte irgendwo gehört, daß am Montagmittag der Stab der Fernsprecherabteilung, deren An­ gehörige bei Frau Hellmich ziemlich gehaust haben, bei uns war. Außerdem scheint sich herumgesprochen zu haben, daß in unse­ rem Hause als dem einzigen bisher nichts passiert ist. Herr Pfeffer hat also eine Bitte: Ich möchte, wenn sich wieder einmal die Ge­ legenheit ergebe, doch für ihn ein Wort einlegen, denn - und er bringt ein Schreiben hervor, aus dem Jahre 1935, vom nationalso­ zialistischen Oberpräsidenten von Ostpreußen, wonach er wegen »regierungsfeindlicher Äußerungen« in den Ruhestand versetzt wird. Er ist Beamter gewesen und erzählte, welche Schwierigkei­ ten sein Sohn, ein der Bekenntniskirche zugehöriger Pfarrer, ge­ habt hat, bis man ihn schließlich zum Heeresdienst einzog. Ich sehe nicht, was ich für den so sympathischen Herrn Pfeffer, der allerdings offensichtlich früher ein deutschnationaler Monarchist gewesen ist, tun kann - wie soll ich diese politischen Gedanken­ gänge bei meiner völligen Unkenntnis der russischen Sprache zu Gehör bringen? Ich versichere Herrn Pfeffer meiner Teilnahme 35

und verspreche ihm, für ihn einzutreten, wenn es nötig und mög­ lich ist, wobei ich ihn bitte, dieses Mögliche nicht zu überschät­ zen. Er verläßt uns gerührt, ein hagerer, langsam-bedächtiger, be­ brillter Mann mit einer Art zu sprechen und zu gehen, die in ihm selbst einen Pfarrer vermuten ließe. Allerlei Leute ziehen wieder mit ihren Habseligkeiten, haupt­ sächlich Bettzeug in Säcken und Bündeln, auf der Straße. Sie kommen aus einer unweit gelegenen Siedlung. »Wir mußten dort weg, das gilt als Operationsgebiet«, sagt einer. »Da sind überall noch Widerstandsnester vor Berlin.« Sie ziehen weiter, irgendwo­ hin, sie wissen es nicht. Der Nachmittag verläuft bei uns, im Gegensatz zu den benach­ barten Häusern, ruhig - ich weiß wirklich nicht, weshalb sie we­ niger auf unser Gartentor als auf die übrigen zusteuern, das heißt: Mir genügt das, was zu uns kommt, aber es ist doch kein Vergleich mit den anderen Häusern. Der Unterschied ist so offensichtlich, daß mich nicht Wunder nimmt, wenn die Leute in der Stra­ ße untereinander darüber reden und sich den Kopf zerbrechen. Soll man annehmen, daß sich unter den Russen herumgespro­ chen hat, in diesem Haus wohne ein zumindest antifaschistischer Schriftsteller, der von den Nazis verfolgt wurde, und von dem ein Buch in russischer Übersetzung in Moskau erschienen ist? Wenn man wüßte, daß diese Soldaten alle dem nämlichen Truppenteil angehören, wäre diese Annahme vielleicht berechtigt, denn man kennt dieses Herumsprechen ja aus den eigenen Reihen. Aber eben dies, woher die Soldaten stammen, weiß man nicht. Sind es durchziehende Truppen, liegen sie im Ort oder kommen sie von Nachbardörfern? Aus dem Haupt-Ortsteil von Mahlow, jenseits der S-Bahn-Linie Rangsdorf-Berlin, die jetzt tot daliegt, dringt verworrener Lärm aller Art, aber dort zieht ja auch die Landstra­ ße nach Berlin durch. So bleibt als einziger Schluß, daß Gott un­ ser Flehen um Beistand erhört hat, wie er so oft in Bombennäch­ ten unser Gebet um Schutz erhört hat. Draußen ist es unentwegt lebendig. Die Soldaten in den Ge­ schützstellungen und an den Lastwagen singen, lärmen, machen Musik. Im Garten des Nachbarhauses links steht ein Lastkraft­ wagen mit Korbflaschen voll Spiritus, aus denen sie unentwegt Flaschen vollschöpfen. In dem Haus selbst sind sie wie daheim, verfügen über Stühle, Tische, Sessel, Decken und Kissen, die sie ins Freie geschleppt haben, ebenso das Grammophon, aus dem 36

groteskerweise die nazistischen Soldatenlieder gröhlen, die man so oft im sogenannten »Deutschen Volkskonzert des Großdeut­ schen Rundfunks mit allen seinen Sendern«, ekelhaft roh gesun­ gen, hat hören müssen. Ähnlich geht es in allen Häusern ringsum zu, überall ist Lärm, ein gewaltiges Aus und Ein vieler Soldaten, zertrümmerte Zäune, zerstörte Gärten. Nur einen noch blutjun­ gen Russen bemerkte ich, der abseits sitzt und Briefe schreibt. In dem Haus schräg gegenüber sind die Besitzer, Heß und Frau, zu­ sammen mit ihrem Hausmädchen (diese Leute haben, obwohl kinderlos, unter den Nazis ein Hausmädchen bewilligt bekom­ men - sie hatten ja Schnaps als Tauschobjekt) dabei, Flüchtlings­ gepäck auf ein Handwägelchen zu laden. Wohin sie jetzt noch wollen, weiß der Himmel, das hätten sie wohl früher tun müs­ sen. Allerdings hört man immer wieder, daß irgendwelche Leute sich noch jetzt aufmachen, um über Großbeeren »zu den Ameri­ kanern« zu gelangen. Die deutsche Propaganda, die sich heftig be­ müht hat, den »Volksgenossen« klar zu machen, daß die Ameri­ kaner so schlimm seien wie die Russen, scheint in den Gehirnen also in dieser Hinsicht nicht Wurzel geschlagen zu haben. Herr Heß führt sein Wägelchen aber wieder nach seiner Garage hin und läßt es dort stehen. In seinem Hof halten zwei russische Last­ wagen. Das Hausmädchen, eine penetrante, dicke, rötliche Person mit Thüringer Sprachidiom scharwenzelt mit nackten Armen, fuchtelnd, ständig um die Russen herum. Die Italiener, die nebenan kampieren, benutzen die Gunst der Stunde um aus verlassenen Ruinen zu holen, was ihnen gefällt Koffer mit Wäsche, Kleider, Geschirr. Unter all den Eindrücken verliert meine Frau langsam die Nerven. Ich muß sagen, es fie­ le mir ein Stein vom Herzen, wenn unser kleiner Leutnant sich wieder blicken ließe. Von all den Soldaten, die gestern abend bei uns waren, ist keiner zu sehen. Ich habe mich jetzt an das Gar­ tentor gestellt, um feststellen zu können, daß daraufhin weniger Neigung besteht bei den herumstrolchenden Soldaten, in unser Haus einzudringen, aber das mag eine allzu subjektive, aus den wenigen Umständen erklärliche und täuschende Wahrnehmung sein. Manchmal sage ich, wenn einer hereinkommt: »Hier Leut­ nant Quartier.« »Leutnant - wo?« fragen sie. »Kommt zurück«, sage ich. »Zurück« verstehen die meisten. Sie kehren dann um. Der Zusammenhang all dieser Regungen ist mir nicht ganz er­ klärlich. 37

Zwar ist auch in der russischen Armee ein Leutnant ein Offi­ zier, aber ich habe nicht den Eindruck, daß ein Soldat sich son­ derlich vor ihm geniert, das zu tun, was er tun möchte. Trotzdem schützt seine Anwesenheit wahrscheinlich vor schlimmeren Aus­ schreitungen. Über diesen Erwägungen habe ich gar nicht bemerkt, daß der unsrige gerade im Begriff ist, über die Straße auf das Tor zuzu­ stolpern. Er hat die lederne Automütze, die seine Kopfbedeckung ist, in der Hand, und an seinem torkelnden Gang und schweren, verhangenen Augen erkenne ich den Grad seiner Trunkenheit. Es ist halb fünf am Nachmittag. Ich trete hinaus und fasse ihn an der Schulter. Er kann noch lachen. Er gehört nicht zu denen, die ran­ dalieren, wenn sie betrunken sind; er wird schlapp. »Schlafen«, sagt er. Begreiflich. Ich bringe ihn hinein und packe ihn auf ei­ ne Couch. Er kann noch Lederzeug und Mütze von sich werfen, dann ist er hinüber. Aber er erhebt sich noch einmal, als ich hin­ aus will, dreht sich mit wackligem Kopf halb um, deutet durch den offenen Durchbruch in mein Arbeitszimmer und sagt lä­ chelnd: »Groß Bibliothek«. Auch das habe ich schon einige Male gehört. Ich entsinne mich noch der Unterhaltung mit einem Berliner Redakteur im März, der meinte, daß russische Soldaten Bücher mit Vorliebe zum Feu­ er anzünden benützen. (Notabene: Es kann Umstände geben, in denen jeder Soldat der Welt im Krieg das tut.) Aber bei allen, mit denen ich bislang zu tun hatte, war eine gewisse scheue Ehrfurcht vor »Große Bibliothek« zu beobachten. Den ganzen Tag über fie­ len Bomben in Richtung Berlin, jeweils 60 bis 70 Stück. Einschlä­ ge in Berlin, nur Brände, Brände. Die russische Fliegerei ist im all­ gemeinen mäßig. Viele veraltete Doppeldecker. Abends erschienen die beiden Italiener. Der Leutnant schläft. Nach Anbruch der Dunkelheit klopfen zwei in Windjacken und mit umgehängten Gewehren an die Tür: »Patrouille«. Der Him­ mel weiß, woher und wieso. Ich: »Leutnant schläft, pst« und öffne ihnen die Wohnzimmertür, damit sie sich im Kerzenlicht über­ zeugen können. Sie nicken. Einer berichtet stolz, daß er Pan­ zermann sei. In der Diele verhalten sie. Sie reden miteinander. Trotz des schlafenden Leutnants möchte der eine im Haus her­ umschnüffeln. Immer ist von zweien einer, der das Spiel nicht so leicht aufgeben will. Das habe ich nun schon öfter festgestellt. Der eine sagt noch etwas zu mir, das ich nicht verstehe. Darauf gehen 38

sie. Auch das ist wieder merkwürdig. Ich habe abermals Glück gehabt, daß ich es nicht mit ganz schwarzen Seelen, sondern mit solchen zu tun bekam, die eben auch einmal probieren wollten, womit sich die Kameraden vermutlich in ausgeschmückten Er­ zählungen brüsten.

26. April, Donnerstag.

Gegen sechs Uhr früh wache ich vom Gepolter auf. Ich sehe nach - der Leutnant ist offenbar erschrocken darüber, daß er seit dem Nachmittag den Dienst verschlafen hat, hinausgestürzt und hat die Haustür sperrangelweit offen gelassen. Einer der Italiener - der Techniker aus Paris, der Bauernjunge aus der Toskana schnarcht unentwegt - berichtet, daß der Leutnant verzweifelt den richtigen Ausgang gesucht habe, und nun bemerke ich, daß er die Verdunk­ lung vor der Tür zum Wintergarten heruntergerissen hat, in der Meinung, da gehe es hinaus. Dadurch, daß man die Straße hinunter, bis zum letzten Haus links, wo ein Pumpbrunnen ist, zum Wasser holen muß, begegnet man mehr Leuten, als man je hier gewohnt war. Alle fangen ein Gespräch an. Ich kenne niemanden mit Namen und nun reden sie von ihren Erlebnissen. Der oder die, heißt es, ist aus ihrem Haus geflüchtet, weil sie es nicht aushalten konnten. Wohin denn? In den Ort jenseits der Bahn, zu Bekannten, wo es nicht so abgelegen und einsam ist wie bei uns in der Burgsdorfstraße. Herr Pfeffer war inzwischen nach Blankenfelde gepilgert; dort habe es schon Brot gegeben, berichtet er, der Elektriker Borchert habe die Orga­ nisation in die Hand genommen. Hier in Mahlow hört man von nichts dergleichen. Wir leben von dem bißchen Vorrat, das wir aus den Liebespaketen des Schwagers aus der Schweiz haben - sie waren größtenteils für Manfred und für seinen eigenen Sohn Ge­ org, der ebenfalls Soldat in Deutschland ist, gedacht. Es ist eigentümlich, alle Leute »Guten Morgen« sagen zu hören, als hätten sie nie »Heil Hitler« gesagt. Und wie verbreitet war das »Heil Hitler« in Mahlow! Jetzt behaupten alle, den Schwindel im­ mer durchschaut zu haben, und wenn man auf ein Klagelied über Plünderung antwortet, das sei eben das Ergebnis von zwölf Jah­ ren Nationalsozialismus, so rennt man offene Türen ein. Ich ha­ be es ja stets vorausgesagt, daß es so ganz undramatisch kommen 39

wird. Nichts von Rache, nichts von Reinigung. Jeder schlägt sich seitwärts in die Büsche und ist nie dabei gewesen. Selbst darüber, wie die deutschen Soldaten es in Rußland, Frankreich, Belgien, Holland getrieben haben, sind alle »Volksgenossen« sich plötzlich klar! Herr Pfeffer erzählt mir schreckliche Dinge, die er »dienst­ verpflichtet« mit eigenen Augen in Rußland mitangesehen hat, Auspeitschungen von Juden, Frauen und Kindern wegen gering­ fügiger Dinge, weil sie ein paar Pfund Mehl verborgen hatten, um sich vor dem Hunger zu retten, und das nicht nür durch SS, son­ dern durch reguläre Wehrmacht, versichert Herr Pfeffer. Von ihm abgesehen, möchte ich auch niemandem sonst unrecht tun, ich kannte sie früher nicht, und man kann in niemanden hin­ einsehen, vielleicht haben sie im Innersten wirklich den National­ sozialismus abgelehnt und sind nur aus Furcht oder, schon schä­ biger, weil man dann persönlich bequemer lebte, öffentlich eifrig mitgelaufen - aber diese allgemeine Offenbarung des Abscheus gegen Hitler nachträglich ist doch ein Zeichen für den morbiden Charakter dieses Kriegsendes und das Jenseits aller Moral, in das sich das deutsche Volk hat hinein manövrieren lassen. Welcher Unterschied gegen 1918! Damals eine fieberhaft nach politischer Aktivität drängende Menge - heute wissen sie nicht einmal mehr, was Politik ist, geschweige, was denn sie damit sollen. Stumpf, verdrückt und bang schleichen sie dahin. Die Bomber ziehen wieder nach Berlin. Aus der Richtung des Bahnhofs kommt die Frau Heß mit ei­ ner weiteren Frau, mit einem russischen Soldaten und einem Zi­ vilisten. Nachher, als ich ihr begegne, sagt sie, sie hätte ihr Haus verlassen und Unterkunft jenseits der Bahn bei Frau Heller, die perfekt russisch spräche, gefunden. Das sei die Dame, die mit ihr gekommen sei. »Wissen Sie denn nicht, wie mein Mann vergan­ gene Nacht mißhandelt wurde? Sie haben ihn mit Maschinenpi­ stolen den Kopf zerschlagen, weil sie mich nicht bekommen ha­ ben, ich weiß nicht, ob mein Mann mit dem Leben davonkommen wird, er lag die ganze Nacht blutend im Keller bei uns, die Ärz­ tin sagt, es wird eitern. Ich bin beim Kommandanten gewesen...« Ich unterbreche sie: »Gibt es denn einen Kommandanten?« Ja, der höchste Offizier im Ort sei provisorischer Kommandant. Er habe ihr einen Soldaten mitgegeben, der habe sich die Verwüstungen in ihrem Hause angesehen und den Kopf geschüttelt. »Und wei­ ter?« frage ich. »Nichts weiter.« Ich schweige. Die Frau Heß war 40

mir vorher so wenig wie alle anderen hier bekannt. Nach ihren Worten habe ich den Eindruck eines gewissen Typs von Frau, den man in Berlin »angeberisch« nennt, der das große Wort führt und den Ehemann bemuttert, indem er ihm andichtet, kränklich oder schwach, jedenfalls bemutternswert zu sein. Was soll man zu alle­ dem sagen? Man müßte die Verhältnisse erst objektiv untersuchen. Noch im Laufe des Vormittags sehen wir einen weiteren Rus­ sen bei Heß durch das Gartentor gehen. Das penetrante Haus­ mädchen steht wieder mit nackten Armen fuchtelnd an der Tür­ schwelle. Nach einem Wortwechsel haut ihr der Russe rechts und links um die Ohren und betritt dann das Haus. Frau Heß erklärt später, der sei ebenfalls vom Kommandanten geschickt gewesen, um den Fall zu untersuchen und habe seinerseits das Hausmäd­ chen vergewaltigen wollen. Außerdem habe er dies und das im Haus gestohlen. Heßens Nachbar rechter Hand erzählt, daß die bei ihm einquartierten Soldaten von der Artillerietruppe, der un­ ser Leutnant angehört, in der Nacht alle Frauen im Hause verge­ waltigt und sein Küchengeschirr zerschlagen hätten. Ein Soldat kommt zu uns und will etwas für den Leutnant. Mir dämmert, daß ich morgens die Lederkappe auf dem Tisch ha­ be liegen sehen, die er vergessen hat, als er fortstürzte. Ich füh­ re den Soldaten herein: Richtig, so ist es, die soll er holen. Nach einer Weile kommt der Leutnant selbst, diesmal ganz nüchtern, lächelnd und strahlend. Ein Mann ist bei ihm, »Mechaniker aus Moskau« höre ich. Vertrauenserweckendes Äußere, eine »ehrliche Haut« möchte ich sagen. »Kaifee?« fragt der Leutnant. »Gut«, sage ich, »wird gekocht.« Ich bin wirklich froh, ihn wieder einmal da zu haben. Jetzt können wir vernünftig sprechen, so weit wir uns verständigen können. Das, was die Frau Heß vom Kommandan­ ten sagte, geht mir im Kopf herum, denn ich warte darauf, daß ein Ortskommandant eingesetzt wird. Der Leutnant schüttelt den Kopf: »Kommt später. Wenn kommt, schnell mit ihm sprechen, damit Brot.« Mir geht es freilich nicht ums Brot allein. Ich möchte weiter kommen und endlich zu arbeiten beginnen. Pläne habe ich genug, und mir erscheinen sie so wichtig! Dann will ich wissen, wie der Kampf um Berlin und überhaupt steht. Zur Zeit schweigt die Front völlig, als sei alles vorbei. Ich habe eine gute Karte, auf der ich den Stand der Front jeweils nach den ausländischen Ra­ diosendungen eingezeichnet habe. Am letzten Sonntag bin ich stehengeblieben. Aber der Leutnant kann auch nur vage Anga­ 41

ben machen. Sein Blick fällt auf die Gegend Spreewald, Schlesien. Nun wird er, und auch der Mechaniker, lebendiger. Wie alle Sol­ daten, wenn sie von den Orten hören, die ihre Feldzüge berührt haben. Seine Truppe ist von Glogau, Jauer, Cottbus heraufgekom­ men. Der Speck und die Butter, die sie verzehren, stammen also von Schlesien- und Spreewaldbauern. Der Kaffee mundet ihnen. »Große Bibliothek!« sagt der Leutnant mit einer Kopfbewegung abermals. Er holt mein Buch, liest laut das Russisch der Vorrede, nickt mir zu: Es scheint Gutes über mich dort zu stehen, ich hat­ te es mir nie übersetzen lassen. Der Mechaniker interessiert sich sehr dafür. Dann sprechen sie über Rußland: wie alle mit Stolz, weil es »ein so großes Land« ist. Sie meinen es in der Hauptsache räumlich. Der Leutnant hat Literaturkenntnisse, er nennt Pusch­ kin, Gorki, Lermontow. Zu den Publizisten übergehend, erwäh­ ne ich Ilja Ehrenburg. Er kennt ihn. »Aber mehr Westen«, sagt er. »Viel Paris gelebt«. Er dankt für den Kaffee und will gehen. Ich fra­ ge: »Sie kommen doch zurück!« »Weiß nicht«, sagt er. Schade. Dies war eine sozusagen »zivile«, jedenfalls menschliche halbe Stunde. Meine Frau hat dabei gesessen und es war im Ton und in allem et­ was von der Höflichkeit und dem Anstand, mit dem auch ein ein­ facher Mensch wie der Mechaniker aus Moskau, wenn er nicht nur von primitiven Instinkten lebt, in Gesellschaft sich beträgt. Abend. Der Leutnant ist nicht wieder gekommen. Niemand ist gekommen, außer den beiden Italienern. Sie hatten Mittags er­ klärt, in Zukunft bei ihren Kameraden bleiben zu wollen, weil sie jeden Augenblick aufbrechen könnten. Nun ist aber der Aufbruch wieder verschoben worden. Die Italiener haben von irgendeiner Weide Pferde »organisiert«. Erst drei, dann fünf, dazu einen Wa­ gen, eine Zeltplane. Die Pferde weiden in einem Haferfeld. Da die Italiener wieder gekommen sind, um bei uns zu näch­ tigen, muß ich eine Zusage widerrufen, die ich am Tage gemacht hatte. Im Hause einer Familie Pilgrim - der Mann ist als Luftwaf­ fenoffizier weg - wohnt ein Herr Gollwitzer als Untermieter. Bei meinem zweiten Gastspiel im Volkssturm habe ich ihn kennen­ gelernt. Er ist erst dreißig, wegen Herzleidens war er nicht Soldat. Aus Nürnberg stammend, war er bei Daimler in Berlin-Marienfelde - das Panzerwerk, das die amerikanischen Bomber von Ita­ lien aus eines Morgens binnen zehn Minuten in Trümmer legten - angestellt. Ohne irgendeine feste Meinungsgrundlage lehnte er die Nazis ab. Sein Vater, sagte er, war Sozialdemokrat. Er ist jetzt 42

ganz allein im Hause Pilgrim, weil die Hausfrau ebenso wie ihre Nachbarin in der vergangenen Nacht geflüchtet sind, ohne ihm ei­ nen Bescheid zu hinterlassen. Er fürchtet sich allein im Hause, wo er Sachen zu vertreten hat, die ihm nicht gehören. »Die Pilgrims«, sagte er, »haben vaterländische Reliquien, alte preußische >KostümeIch bin über Sie unterrichtet, sagte der zu mir. Wo ist er jetzt? Geflüchtet natürlich. Er hat Sie wohl 47

nicht mitgenommen?« »Wo haben Sie denn Ihr Bonbon?«, fragt meine Frau - »Bonbon« ist der volkstümliche Ausdruck für das Parteiabzeichen gewesen, »Bonbon« oder auch »Rettungsring«. Herr Hagena hat die ganze Zeit über dagestanden, zitternd, mit einem gefrorenen Lächeln und halboffenem Mund. Gesagt hat er nichts. Aber auf die letzte Frage meiner Frau antwortet er ganz einfältig: »Verbrannt.« So einfältig ist er auch als Bürgermeister gewesen, die Säulen, an die er sich lehnte, waren die Obersekre­ tärin Krüger (von uns daher die »Bürgermeisterin« genannt) und der Ortsgruppenleiter Wirth. Die Leute, die da stehen, haben das alles mit Interesse, aber schweigend, angehört. So schweigend, wie sie jede aktive Äußerung während der ganzen Hitlerzeit aufge­ nommen haben. Wenn man sich in Berlin auf die Invalidenstra­ ße gestellt und einen flammenden Aufruf verlesen hätte, wären sie allerdings weggelaufen. Etwas Politisches zu sagen, ist auch jetzt ganz wertlos. So haben wir uns wenigstens mit dieser kleinen, so­ zusagen häuslichen Szene vor der Öffentlichkeit Luft verschafft. Wahrscheinlich, wenn man diese innere Geschlagenheit des Vol­ kes ansieht, könnte man versucht sein, die Geschehnisse 1918 ei­ ne wirkliche Revolution zu nennen. Man kann ihnen nicht einmal zugute halten, daß sie nach dem russischen Ansturm dieser Tage nur noch mit sich selbst zu tun haben und allzu überwältigt sind es wäre ohne die Turbulenz und Plage dieser Woche nicht anders. Langsam gehen wir, und da schließt sich plötzlich Herr Heß mit seiner Frau an. Mit Mischlingen ist das meist so eine Sache und sie haben in der Regel von beiden Erbteilen nur die Schwächen. Herr Heß, der neugierig stehen geblieben war, als ich dem Offizier mein Buch zeigte, meinte jetzt: »Nun kann ich mir erklären, wa­ rum Sie als Nachbar so zurückhaltend waren, hätte man das ge­ wußt, hätte man doch zusammenkommen können, ich hätte als Halbjude —«. Meine Frau unterbricht ihn: »Aber Sie haben stets laut >Heil Hitler gesagt, sogar, wenn Sie jemand mit >Guten Tag< gegrüßt hatte.« Frau Heß ist sehr bereit mit Erklärungen, warum sie das hätten tun müssen. »Ja, ja«, sagte ich, »man kennt das ja.« Mitdem halten uns an der Ecke gegenüber dem Bahnhof, wo am Lokal Mahnke, dem von mir gemiedenen ehemaligen Aufenthalts­ ort des Mahlower Volkssturm II. Aufgebot, ein heftiges Soldaten­ treiben ist, zwei Russen an, und nun wird mir blitzartig klar, wes­ halb diese Komödie mit der Versammlung inszeniert worden ist. »Männer dorthin, Frauen hierher, zwei Stund arbeiten.« Wie üb48

lieh sind einige da, die unter den Hand verschwinden wollen, aber die Russen passen auf. Nun habe ich nichts gegen Arbeit, aber die­ se Art, demokratische Versammlungsfreiheit vorzutäuschen, um Leute zur Arbeit zusammenzutreiben, mißfällt mir. Ich sehe zwei Offiziere dastehen, trete auf sie zu und frage, ob einer der Herren deutsch spricht. Es sind beides gutgenährte, joviale Herren mit breitlachenden Gesichtern. »Ein wenig«, erwidert der eine. Gut, denke ich und erbitte einen Rat. »Ich habe das Buch da geschrie­ ben, wissen Sie nicht jemanden, der mir weiterhilft, gibt es keinen Zeitungskorrespondenten bei Ihrer Truppe?« »O ja, hier ist ein Pu­ blizist.« Er weist auf den hochgeschossenen, kräftigen Jungen mit Tscherkessenmütze, der uns vorher zur Arbeit festhalten wollte. Der sagt kein Wort, ich auch nicht. Auch der Offizier scheint das vergebliche und obskure Publizistendasein dieses Jungen einzuse­ hen. »Gehen Sie morgen nach Blankenfelde«, rät er mir, »dort ha­ ben wir eine Redaktion.« Ich danke. Das ist ja großartig. Natür­ lich werde ich nach Blankenfelde gehen. Es soll ja nun Ruhe und Ordnung einkehren, da werde ich das Haus auf zwei, drei Stunden verlassen können. Jedenfalls können wir jetzt unbehelligt von hier fort. Und als wir uns umsehen, bemerken wir, daß schlaue Frauen sich zu uns gestellt hatten, als wir mit dem Offizier sprachen, und auf diese Weise ebenfalls der Arbeit entgangen waren. Auf dem Nachhauseweg höre ich von meiner Frau noch einiges, was gewisse Dinge erklärt. Mittags beim Bäcker haben die Men­ schen natürlich Schlange gestanden und sind unruhig gewesen, weil sie nicht wußten, ob sie alle Brot bekommen würden. Das hat sich ein Nazi, den meine Frau von seinen früheren Funktionen her kannte, zunutze gemacht, um als Ordner aufzutreten. Meine Frau, die er auch zur Ordnung ermahnen wollte, hat ihm geraten, lieber nach Hause zu gehen und sich zu tarnen, das Wetter sei nicht gut für ihn. Er hat darauf zwar geschwiegen, ist aber nicht etwa fort­ gegangen (und die Leute haben wie seit 1933 dumme Gesichter ge­ macht). Später wurde erzählt, der Bürgermeister Hagena habe, als davon die Rede gewesen sei, daß die Russen Berlin fast ganz erobert hätten, auf den Tisch geschlagen: »Was die Weiber alles erzählen!« So ist das also. Die Nazis erwarten noch das hitlerische Wunder, und da weder ein Volkszorn da ist, noch die Russen sie zum Abtre­ ten zwingen, mischen sie sich hoffnungsvoll unter die Leute. Der Abend bringt uns, es ist noch hell, wieder zwei Mann »Pa­ trouille« ins Haus. Wie bei Tage die angebliche Suche nach ver49

steckten deutschen Soldaten ist die »Patrouille« abends der ewige Vorwand. Ich habe die Kerze in der Hand und bedeute ihnen, daß ich wegen der Verdunklungspflicht die Tür schließen muß. Im all­ gemeinen pflanzen sie sich nämlich, wenn man gewohnheitsmäßig die Tür schließen will, sofort schußbereit auf. Die beiden folgen mir auf meinen Wink, betrachten mein Buch, Stalin und die üb­ rigen Zeitungsbilder aus der Sowjetunion, laufen dann durch alle Zimmer, auch oben, dort verweilen sie lange bei Frau Siegel, neh­ men das Kind auf den Schoß, erzählen von Moskau. Frau Weyth bringt sie endlich fort, indem sie im Wörterbuch »Auf Wieder­ sehen« sucht und: »doswitaw?« sagt. Unten betreten sie nachher die Küche. Sie übersehen, wie alle bisher, die Tür, die von dort zur Kellertreppe führt. Während die Leute immer wieder von Keller­ durchsuchungen berichten, hat sich bei uns noch keiner hinunter begeben. So ist auch dieser Besuch erledigt, nur noch, als sie schon hinausgehen, die eigentlich überflüssige, von ihnen aber wohl in bestimmtem Sinne gemeinte Frage: ob dies meine Frau ist. Vor dem Einschlafen erörtern wir, wie schon mehrmals in die­ sen Tagen, die Frage, ob wir nicht Weggehen sollen. Mein Stand­ punkt war immer noch, bevor Manfred uns in seinen Briefen be­ schwor: »Auf nach Westen!«, wir hätten im Dezember, als wir unsere Verwandten in der Rheinpfalz in Bad Dürkheim besuch­ ten, dort bleiben sollen. Ich glaube sogar, obwohl es einmal im OKW-Bericht hieß, die Kämpfe hätten sich in die Gegend zwi­ schen Bad Dürkheim und Neustadt »verlagert« (der übliche Stil), daß in Bad Dürkheim nicht viel gekämpft worden ist. Später habe ich noch einigemale Weggehen wollen, zugegeben, da war es be­ reits abenteuerlich geworden, Züge nur mit erschwerter Genehmi­ gung zu benutzen, schreckliche Zustände, Tiefangriffe der Flie­ ger und so fort. Meine Frau sagte damals: »Ich gehe nicht auf die Landstraße. Ich bleibe so lange, bis ich mit Gewalt weggetrieben werde. Du kannst ja gehen.« Natürlich war es ausgeschlossen, daß ich ohne sie ging. So blieben wir. Wir haben das Dach über dem Kopf behalten, Möbel und Bücher bis zu diesem Tag gerettet. Es war schon öfters in unserem Leben so, daß wir unsere Habe ret­ teten und uns dadurch die Zukunft verbauten. Aber man kann es niemals vorher beurteilen. Jetzt, unter dieser Nervenanspan­ nung gibt meine Frau mir recht. Ich weiß, daß wir trotzdem auch das nächste Mal jedes Handeln unterlassen werden. Weshalb ich jetzt an Weggehen denke, obwohl wir doch immerhin gut davon50

gekommen sind, ist die innerliche Auflehnung dagegen, daß ich fortgesetzt jedem Idioten, jedem Lümmel und dummen Jungen aus einem russischen Dorf, der an meine Tür klopft, Erklärungen abgeben muß. Einmal verliert man die Lust dazu. Mir schwebt freilich eine Wanderung ohne jedes Gepäck, nur den Stock in der Hand, vor. Ich würde den Weg Trebbin, Bad Belzig nach Zerbst und Dessau nehmen. Dabei weiß ich, daß alles Illusion ist: Man hat zuweilen solche Zustände, wo man etwas Unwirkliches ganz wirklich berät.

28. April, Sonntag. Von drei Uhr früh ab neues Trommelfeuer in Berlin. Ich mache mich gegen zehn auf den Weg nach Blankenfelde, wo »eine Redaktion« sein soll. Vorher erlebe ich noch den Exodus der Italiener, die ihre Vorräte auf den Wagen geladen haben, drei Pfer­ de vorgespannt haben, die beiden anderen führen sie nebenher. Die Frau sitzt mit ein paar Männern auf dem Wagen, die anderen trotten hinterher. Ich schätze, sie kommen nicht weit. Sie haben lange überlegt, welchen Weg sie einschlagen sollen, über Zossen nach Dresden oder über Potsdam nach Westen. Sie entschließen sich für Potsdam, weil die Sage geht, dort seien die Amerikaner. Ich wünsche ihnen gute Fahrt und gute Ankunft in Italien, beson­ ders den beiden, die zuletzt bei uns geschlafen haben. Ein älterer unter ihnen meint: »Tutto distrutto, in Italia come in Germania«. »Per due uomini«, nicke ich. »Si, si, per due uomini. Si poteva salvare molto...« Wenn man rechtzeitig Schluß gemacht hätte, meint er. So reden nun auch die »Volksgenossen«, die noch vor einem Jahr gesagt haben: »Jetzt können wir nicht aufhören, sonst wird der Friede schlecht für uns.« Es war eine drollige Logik. Daß je­ mand sagt: »Wenn man diesen Krieg nicht angefangen hätte«, ha­ be ich in diesen Tagen noch nicht erlebt. Ich gehe nun die halbe Stunde nach Blankenfelde. Hoffentlich passiert hier nichts. Gott befohlen. Die Straße nach Blankenfelde war instruktiv. Viel Trubel mit Lastwagen. Auch deutsche Wanderer, die aus den Vororten Ber­ lins herauskommen. An einer Panzersperre aus Baumstämmen ein ausgebrannter Panzer. Eine »Panzerfaust« scheint also doch abgefeuert worden zu sein. Die Sperre ist nicht etwa geöffnet wor­ 51

den; die Russen fahren rechts durch den Wald daran vorbei und nehmen lieber die dadurch entstehenden Verzögerungen in Kauf. Rechts und links vom Wege die weggeworfenen Reste aus Plünde­ rungen. Zylinderhüte, Regenschirme, Schuhe, alte Postkartenal­ ben, zerfetzte Kleider, Hausgerät aller Art. In Blankenfelde las ich zum erstenmal eine russische Bekannt­ machung. Verdunkelung, Ausgehverbot nachts usw. Unterzeich­ net von einem Major als interimistischem Kommandanten. »Die Kommandantur befindet sich Horst-Wessel-Straße 5.« Ich bin überzeugt, der Kommandant würde sich nicht genieren, auch aus der Adolf-Hitler-Straße Verfügungen zu erlassen, wenn er dort abgestiegen wäre. Von irgendwelchen Zeitungsleuten weit und breit nichts. Da ich einmal dort war, wollte ich den uns von Arbeiten im Hause bekannten Elektriker Borchert aufsuchen, der hier einiges organisiert haben soll. Der Weg zu ihm war weit und umsonst, denn er war nicht zu Hause. Ich fragte in seiner Straße einen Mann, der sich als Kommunist entpuppte. Er berichtete freude­ strahlend, daß er nie in seinem Leben so gut gegessen hätte wie vor ein paar Tagen, da er einen Russen im Quartier gehabt habe. Der habe ihm auch Propagandamaterial dagelassen. Welcher Art? Flugblätter. Inhalt: Rußland kämpft für Zivilisation und Demo­ kratie. Ach so. »Aber es ist nichts zu machen, ehe nicht ein richti­ ger Kommandant da ist.« Auf dem Rückweg sehe ich wieder: Lastwagen, zum Teil Ge­ schäftswagen mit dem Aufdruck sächsischer Städte, zuschanden gefahren und liegen gelassen. Auch offensichtlich amerikanisches Material, achtlos, marode gemacht und aufgegeben. Zwei Bur­ schen, die auf gestohlenen Fahrrädern herumgondeln und sie in den Straßengraben werfen, weil die Speichen gebrochen sind. Al­ les dies ist die russische Methode, »Aus dem Vollen« zu schöpfen. »In Rußland ißt und trinkt man viel und gut«, hat uns der klei­ ne Leutnant bedeutet, als sie ganze Speckseiten und die Kilopa­ kete Butter auffuhren. Ich fürchte, wenn die Beute knapper wird, und das muß sie sehr schnell, werden die russischen Soldaten we­ niger gut leben. Selbst der Schnaps, mit dem sie sich betrinken, ist Beuteware. Die russischen Proviantmeister scheinen damit kei­ neswegs freigiebig zu sein. In Mahlow versuchte ich noch einmal, die Offiziere von gestern zu sprechen. Etwas ist anders heute. Die können plötzlich weni­ 52

ger deutsch und bedauern, daß kein Kommandant gekommen ist. Statt dessen ist eine ganze Straße für Lazarettzwecke beschlag­ nahmt worden, alle Leute haben aus ihren Häusern gemußt und fast nichts mitnehmen können. Es ist Krieg, und die Deutschen waren ja unbelehrbar. So müssen sie ihn denn am eigenen Leibe erfahren. Die beiden Panzer am Bahnhofsende der Burgsdorfstra­ ße sind abgefahren. Ihre Spuren sind tief in die Straße gegraben. Als wir unsere Suppe essen wollen, kommt Frau Siegel und sagt, draußen seien Herr und Frau Heß, sie wollten mich spre­ chen. Ich habe nicht die geringste Lust, ich habe Herrn und Frau Heß gründlich satt und will wenigstens meine Suppe in Ruhe es­ sen. Aber was tut man nicht alles, ich lasse sie also herein und in meinem Arbeitszimmer warten. Dann hören wir uns das Lamen­ to an, die Erzählungen der Frau Heß über ihr Hausmädchen, und welche Schwierigkeiten sie gehabt haben mit dem Geschäft (»weil wir doch ganz Berlin versorgt haben«, sagt diese Frau, die kein Wesen, sondern ein Typus ist), und daß Herr Bürgermeister Hagena für sie eingetreten sei (»denn ich konnte doch nicht allein das Haus versorgen, wenn ich die Geschäftskorrespondenz erledi­ gen sollte« - merkwürdig, jeweils, wenn wir früher die Frau Heß sahen, war sie unbeschäftigt, zu allen Tageszeiten), und daß der Ortsgruppenleiter Wirth deshalb den Hagena fast gestürzt hät­ te. Ich weiß nicht, warum wir diesen Redeschwall über uns erge­ hen lassen müssen, und in diesem Augenblick sehe ich durch die Scheiben unseres Wintergartens, daß im Garten Russen stehen, gestikulierend mit dem penetranten Hausmädchen und dem vor­ witzigen Flüchtlingsjungen, und der Junge zeigt gerade auf un­ ser Haus: »Pan ist das drüben!« Da steigt mir denn doch die Gal­ le hoch, und ich bitte Heßens, sich hinüber zu begeben. Schon sind die Russen auf dem Wege zu uns, es sind ihrer drei, wie sich jetzt herausstellt. Während ich den Gartenweg zur Haustür hin­ ausgehe, verschwindet Frau Heß durch unseren Wintergarten. Herr Heß aber sagt gemütlich: »Ich bleibe.« Ich hole die drei Ker­ le herein, einer in blauer Monteurjacke, der aussieht wie der ra­ sende Roland, mit giftigen Augen, noch einen weiteren Finster­ ling, während der dritte ein ungebärdiger Trottel ist. Von diesem Kleeblatt ahnt mir nichts Gutes, zumal Herr Heß mit seinem ver­ bundenen Kopf dasitzt, was direkt aufreizend aussieht. Das Buch und Stalins Bild schauen die Burschen sich zwar an, der eine ver­ langt »Dokument« - Teufel auch, ist das nicht Dokument genug? 53

Ich kann nicht sagen, wie mich die behäbig-dreiste und gänz­ lich überflüssige Anwesenheit des Herrn Heß aufbrachte, der nun auch noch herankam und daher quasselte, er sei »Antifaschist«, was die Burschen wohl als »Faschist« verstanden. Jedenfalls ge­ lang es mir nicht, zu einer vernünftigen Verhandlung mit ihnen zu kommen. Der Monteur blickt mit seinen unsteten Augen in die Ecke und entdeckt, daß wir zwei Radioempfänger haben. In Ordnung ist nur der kleinere Paillard, den ich vergangenen Spät­ herbst auf dem schwarzen Markt für 5.500,— Mark erstanden ha­ be, weil wir die »Funkstille«, das heißt das Fehlen aller auslän­ dischen Nachrichten, einfach nicht mehr ertragen konnten. Der große, zwar klangschönere, aber mit allen Ersatzmängeln NaziDeutschlands behaftete Telefunken-Apparat steht völlig defekt auf einem Bord. Er sticht dem Monteur besonders in der Nase. Er holt ihn herunter, nickt zu meiner Erklärung, daß er »kaputt« sei, dreht an dem Schalter. Er meint offenbar, weil die sich drehen las­ sen, müsse der Apparat spielen. Der Knopf, durch den der Deckel mit der Skala aufspringt, ist ihm rätselhaft. Ich bin so freundlich und helfe ihm. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, ist er der Ansicht, der Kasten könne in Moskau repariert werden. Er dürf­ te sich irren, es gibt vorderhand in der ganzen Welt keine passen­ den Ersatzteile für dieses Musterwerk deutscher Gründlichkeit und Kompliziertheit. Jedenfalls will er den Apparat mitnehmen. Und ich begehe den Fehler, von ihm eine Quittung darüber zu fordern. Er kriegt eine alte Decke zu fassen, die wir neuerdings vorsichtigerweise über die Couch im Wohnzimmer gelegt hat­ ten, und wickelt den Apparat darin ein. Dann ist er so freundlich, mir seinen Namen zu nennen. Er klingt irgendwie nach »Prokaskow« oder so, und ich nehme an, daß es damit so ähnlich steht wie bei deutschen Soldaten, wenn sie in solchen Fällen Requisiti­ onsscheine mit »Ernst Meyer« unterschrieben haben. (Anderer­ seits habe ich von einem Fall gehört, wo ein Russe für das, was er mitnahm, ein paar Hundertmarkscheine des von der alliier­ ten Militärbehörde ausgegebenen Geldes hinterließ. Auch das ei­ ne Farce, daß sie das bekommen haben, was sollen sie denn damit kaufen?) Der Monteur also knotet die Decke über dem Radio-Ap­ parat, und wie er ihn aufpackt mit einer Gebärde, als habe er nun die gesamte Kulturwelt in der Tasche, taufe ich ihn unwillkürlich »Held der Sowjetunion«. Die beiden anderen, der Finsterling und der Trottel sind bislang reine Staffage gewesen, und nun stellt sich 54

heraus, daß sie sich ihm wohl nur zufällig unterwegs angeschlos­ sen haben, denn der Held der Sowjetunion hat draußen ein Mo­ torrad ohne Soziussitz stehen, natürlich im Blumenbeet. Ich suche dem Finsterling unter seinen Begleitern klar zu machen, daß sie, wenn sie Vergeltung üben wollen, sich um die Nazihäuser küm­ mern sollen, und denke mit einiger Bitterkeit daran, daß in all den Verwüstungen am Ende der Burgsdorfstraße noch immer unver­ sehrt die Tafel mit der Aufschrift »Hier spricht die NSDAP« steht. Meine Unterredung mit dem Finsterling verursacht dem Helden der Sowjetunion Mißbehagen. Es kocht in ihm; jetzt will er plötz­ lich den Keller sehen. Ich sage zu meiner Frau, sie möge zur Post laufen, ob sie nicht einen der Offiziere rufen kann, mit denen wir gestern gesprochen haben. Ich gebrauche geflissentlich das Wort »Kommandant«. Der Held der Sowjetunion blickt meiner Frau, als sie weggeht, mißtrauisch nach. Er bekundet jetzt Eile, aber den Keller will er sehen. Wir haben noch immer alles im Luft­ schutzkeller, auch meine Schreibmaschine. Auf die hat der Held der Sowjetunion es sofort abgesehen. Er läßt mich den Kasten öff­ nen und probiert an der Tastatur. Die Mischung von technischem Verständnis und kindlichem Eifer ist fast rührend. Hernach rennt er zwischen den Koffern herum. Wir haben sechs Menschen im Haus einquartiert, alle haben Koffer im Luftschutzkeller unter­ gestellt. Es ist dunkel und ich fühle mich nun bewogen, den Ka­ sten an der Luke zu öffnen, der Held der Sowjetunion hat eine Ta­ schenlampe, eine deutsche, die nur mäßig leuchtet, außerdem ist er eilig. »Photo?«, fragt er, »Leica?« Er tastet überall herum, der Reichtum an Koffern scheint ihn rasend zu machen. Vielleicht ist er ein grundsätzlicher Gegner des Besitzes, sofern andere ihn ha­ ben. Vielleicht denkt er an die deutschen Räubereien in Rußland. Vielleicht erfüllt ihn das Mitleid mit den russischen Zwangsarbei­ tern, die Hitlers Beauftragte nach Deutschland verschleppten und verelenden ließen. Wir kennen dieses Hunger- und Lumpenda­ sein ja aus eigener Anschauung von den Lagern in dieser Gegend. Was immer den Helden der Sowjetunion bewegt, er schleppt die Schreibmaschine hinauf, setzt sie in der Diele ab und macht be­ greiflich, daß er nachher »mit der Maschine« kommt und sie samt den Koffern abholen wird. Der Finsterling schweigt. Er hat nichts genommen. Der Trottel jedoch hat Manfreds Fahrrad gefunden. Meine Bemerkung, daß es »total kaputt« sei, tut er höhnisch ab, indem er auf die Luftpumpe zeigt, mit der er der Sache schon ab­ 55

helfen will. Er murkst sich ab, fährt zur Probe durch die Garten­ beete, scheitert kläglich, schmeißt das Rad hin und bedeutet mir, daß ich es wieder hinunterbringen kann. Er hat es mit seinen un­ kundigen Murksereien beträchtlich demoliert. Als ich wieder in mein Arbeitszimmer komme, ist Herr Heß verschwunden. Es ist kein Zweifel, daß er der Anlaß des ganzen Raubzuges war. Es muß sich bei den Russen herumgesprochen ha­ ben, daß er Schnaps im Hause oder versteckt habe. Und nun fin­ den sie ihn bei mir. Außerdem hat er sich ganz blöd, wie er über­ haupt zu sein scheint, in unsere Verhandlung eingemengt. Ich bin überzeugt, daß ich, wäre er nicht da gewesen, nicht den Fehler be­ gangen hätte, von dem Helden der Sowjetunion eine Quittung zu verlangen. Ich weiß nicht, ob es ein entscheidender Fehler war, ob er es andernfalls bei dem Diebstahl des Radioempfängers hätte bewenden lassen, aber ein Fehler war es bestimmt. Was nun! Meine Frau kommt zurück, sie hat keinen der Offi­ ziere angetroffen. Ich zweifle, ob der Held der Sowjetunion sei­ ne Drohung wahr machen wird, meine Frau zweifelt nicht dar­ an. Sie hat praktisch bedenkend, was bei mir im Schwebezustand geistiger Formen verharrt, während ich in Blankenfelde war, un­ ser vor acht Tagen für den Fall einer zwangsweisen Räumung die­ ses Gebietes vorbereitetes Fluchtgepäck revidiert und umgepackt. Unruhig, überlegend, schwankend zwischen der Furcht, der Held der Sowjetunion könnte, wenn er das Gesehene nicht mehr vor­ fände, noch rabiater werden und der Hoffnung, ihm dennoch die Dinge zu entziehen, trägt sie die Koffer vom Keller auf den Boden, der nur über eine Luke mit transportabler Treppenleiter zu erreichen ist und dann vom Boden wieder in den Keller. Mir liegt meine Schreibmaschine als wichtigstes Inventar am Herzen: Ich verstecke sie samt dem Paillard-Radioempfänger, der unse­ ren Nachrichtenhunger in den letzten Monaten gestillt hat (Wir lebten eigentlich nur für die Abende - wenn es acht Uhr wur­ de und »Der Kamerad«, der Soldatensender West mit Kurzwel­ lensender Atlantik, begann, saßen wir in erwartungsvoller Stil­ le in den Sesseln vor dem Paillard, und danach versäumten wir den ganzen Abend über keine ausländische Sendung und waren tief unglücklich, wenn wir durch Fliegeralarm gestört wurden) die Schreibmaschine also, und in dankbarer Anhänglichkeit den Paillard-Empfänger, versteckte ich im Heizungskeller unter dem Restchen Koks. 56

Mit dem Uhrschlag steigt mein Gefühl, daß der Held der Sowjet­ union eine leere Drohung ausgestoßen hat, daß er vielleicht doch denkt, meine Frau habe »den Kommandanten« benachrichtigt, ganz davon abgesehen, daß ihm ja etwas dazwischen gekommen sein kann, eine jener plötzlichen Veränderungen, die das Solda­ tenleben auszeichnen. Es schlägt schon sechs. Aber fünf Minuten später fährt das Auto vor. Diesmal hat der Held der Sowjetunion andere Begleitung. Vier Mann, außer ihm, die ich nicht einmal ruhig betrachten kann, so fix operiert der Held. »Maschine?«, fragt er und zeigt auf den lee­ ren Platz in der Diele, wo er die Schreibmaschine hingestellt hat­ te. Ich zucke die Achseln: »Kamerad gekommen, weg«, und ich füge hinzu, als hätte ich jemanden vor mir, der mich versteht: »Du Schafskopf hast sie ja auch gerade wie auf einem Präsentier­ teller plaziert.« Er rennt in die Zimmer. - »Radio?«, fragt er und hebt zwei Finger hoch. Ja, vorhin hat er zwei Apparate gesehen. Ich zucke die Achseln: »Kamerad gekommen, weg. Es gibt noch mehr solcher wie du.« Dieser grimmige Humor ist ihm zu viel. Er saust in den Keller - nein, er muß doch Dieb von Beruf sein. Diese Geschwindigkeit, im schwachen Schein der Taschenlam­ pe, diese Rührigkeit und Sicherheit im Aufbrechen verschlosse­ ner Koffer, diese schnellen Entschlüsse, was mitnehmenswert ist oder nicht, das sieht nach erlerntem Gewerbe aus. So schnell kann ich, was vor sich geht, gar nicht verfolgen. Dabei hat er noch Zeit zu sehen, daß die Breslauer Flüchtlinge Ammert-Peiker in der Waschküche am Kochherd stehen, und nun kommt auch noch meine Frau, von Sorge, wie es mir mit den fünf Kerlen da unten ergeht, getrieben die Treppe herunter; wiederum wie ein gelern­ ter Dieb überschaut der Held der Sowjetunion die Gelegenheit, befiehlt durch Handbewegungen, die junge Frau Peiker und mei­ ne Frau zum Auto zu bringen, da schiebe ich meine Frau in den Heizungskeller, flüstere ihr zu: »Dort ist eine Luke offen, hinaus, rasch«, schließe die Heizungskellertür zu und begebe mich wieder zu den Burschen, die »an der Arbeit« sind. Koffer auf Koffer wan­ dert hinaus, sogar die leeren Koffer. Nur wenn der Inhalt Bücher oder meine Manuskripte sind, ist der Held der Sowjetunion nicht interessiert. Ich darf sogar Manuskripte, die in einem »Fluchtkof­ fer« mit Kleidern zusammengepfercht sind, herausnehmen. Von den anderen sind drei nichts als Schlepper, die den Weisungen des Helden der Sowjetunion gehorchen und allerdings hie und da ei­ 57

nen Griff tun, um sich die Taschen voll zu stopfen. Der vierte ist der einzige, dessen Gesicht ich unterscheiden konnte; ein kleiner dicklicher Mensch mit runden Backen und stillen Augen. Er hat begriffen, daß ich Schriftsteller bin. »Du Schreiber?«, nickt er. Er kann ein klein wenig deutsch. »Deine Sachen?« fragt er, als wie­ der ein Koffer hinauf wandert. Nein, es sind diesmal nicht meine Sachen. »Ich deine Sachen wieder bringen, du mir zeigen«, ver­ spricht er, und ich lächle. Unterdessen hat er sich der jungen Frau Peiker gewidmet, die sich gegen die Verschleppung mit einer fin­ gierten Ohnmacht wehrt. »O, krank«, sagt der Kleine. »Nix Dok­ tor?« Er kommt wieder: »Deine Sachen?« Ja - es ist der große Kof­ fer mit Manfreds Zivilsachen; das schmerzt in einer besonderen Weise. Wir gehen hinter den Trägern her. In der Diele angekom­ men, setzen sie den Koffer ab, weil ihnen von dem anderen drau­ ßen etwas zugerufen wird. »Der«, sagt der Kleine, packt den gro­ ßen Koffer an und zeigt durch die offene Wohnungstür. Ich bin von all dem chaotischen Treiben so angewidert, daß ich zunächst nicht will. Ich bin nahe daran, dem Helden der Sowjetunion ei­ nen Nachttopf in die Hand zu drücken: »Den haben Sie vergessen, nehmen Sie den auch mit, mein Herr.« Dem Kleinen sage ich, es hat ja doch keinen Zweck, er wird nachher den Koffer finden und holen. Aber der Kleine drängt: »Los, schnell!« und ich fasse me­ chanisch mit an. Durch das Wohnzimmer zerren wir den Kof­ fer in mein Arbeitszimmer. »Komm«, sagt der Kleine, »zeige dei­ ne Sachen, ich holen.« In diesem Augenblick hören wir draußen den Helden der Sowjetunion, der entweder Verdacht geschöpft hat oder im Keller fertig ist. Der Kleine gerät in einen Wortwechsel mit ihm, sie stoßen einander hin und her, jetzt nähert sich die Kri­ se. Fast sieht es so aus, als siege der Kleine und ich bekäme »mei­ ne Sachen« zurück. Da weiß der Held der Sowjetunion keinen an­ deren Ausweg, als daß er zum Lastwagen läuft, aufspringt, Gas gibt und einfach losfährt. Die anderen, was sonst bliebe auch dem Kleinen übrig, der gut sein wollte, müssen hinterher rennen, da­ mit sie mitkommen. Ich schöpfe Atem, dann fällt mir meine Frau ein. Draußen ruft mir der vorwitzige Flüchtlingsjunge von gegenüber zu: »Ihre Frau ist bei uns im Garten, hat sich den Fuß verstaucht.« Ich laufe hin, sie humpelt mir entgegen: »Wie ich durch die Luke im Heizungs­ keller hinauskam, weiß ich nicht, es wird ein paar blaue Flecken abgesetzt haben. Ich bin dann hinüber zu Bölkes, sie saßen gera­ 58

de beim Essen und sagten, bei ihnen könne ich nicht bleiben, da seien so viele Frauen, und weil ich einen der Russen hinter mir her rufen hörte, bin ich bei Bölkes aus dem Fenster gesprungen.« Ich führe sie zurück, wir machen den Fuß frei - ein sehr schwerer Bluterguß, hoffentlich ist der Knöchel ganz. Dick rot angelaufen das Ganze und sehr schmerzhaft natürlich. Nun liegt meine Frau auf der Couch und macht kühle Umschläge mit essigsaurer Ton­ erde. Jod, das nützlich wäre, haben wir nicht - dank Hitler. Und in diesen gänzlich ungeeigneten Augenblick kommt mir wieder der illusorische Gedanke: Weggehen. Frau Siegel lamentiert, daß alle ihre Koffer fort seien, und zählt auf, was darin war. »Nichts habe ich mehr, keine Mäntel, keine Sommerkleider.« Die Familie Ammert-Peiker, schon mit wenigem aus Breslau geflüchtet, beklagt den Verlust des wertvollsten Kof­ fers. Ich kann noch nicht übersehen, was von uns weg ist. Den Schrank im Luftschutzkeller und ein paar Schachteln haben sie nicht geöffnet, der Held der Sowjetunion hatte den Kofferfimmel. Nur zwei Dinge weiß ich. Erstens: Alle meine Schuhe und Man­ freds Schuhe sind fort. Sie waren zusammen in einem Schließ­ korb. Zweitens: Der einzige gerettete Koffer ist der mit Manfreds Zivilkleidung, Hemden und Wäsche. Darin erblicke ich einen Fingerzeig Gottes, daß Manfred lebt. Unentwegt brüllen die Geschütze in Berlin. Später mache ich oberflächlich Inventur. Die Schreibmaschine und den Paillard hat der Held der Sowjetunion vergessen. Die Truhe mit Wäsche ist stehen geblieben. Ich habe noch Anzüge, wenn auch zwei der be­ sten weg sind. Ich habe noch Hemden und Strümpfe, Hüte und ei­ nige Krawatten. Durch die mehrfache Vorbereitung von Fluchtge­ päck war doch alles sehr verteilt. Meine Frau hat nicht alle Schuhe verloren, auch nicht alle Hüte und Schals. Aber ihr Hutkoffer mit dem neuesten Hut ist fort. Nun, die Zeiten werden demnächst nicht dementsprechend sein, und daß alle Reisekoffer verschwun­ den sind - wann werden wir wieder reisen können? Es ist nur är­ gerlich, daß ich gerade meine ältesten und schon sehr mitgenom­ menen Schuhe anhatte. Der unvermeidliche Herr Heß ist auf der Straße, als ich das Gartentor abschließe. »Es ist doch grotesk, daß ausgerechnet Ih­ nen und mir das passieren mußte.« Ich sehe ihn an; der Mann ist aufreizend naiv. »Grotesk ist höchstens, daß man in all den Kriegsjahren sich abgeplagt hat, die Dinge vor Bomben zu schüt­ 59

zen, um sie dann so zu verlieren«, erwidere ich. Im übrigen ha­ be ich das Gefühl, daß es beschämend wäre, wenn wir überhaupt nichts verloren hätten, wo alle Leute so viel verloren haben, und daß auch wir für dieses Ende der Hitlerei schließlich einen Preis zahlen müssen. Ich bin nur etwas ungehalten, weil mir an die­ sem Tag alles mißlungen ist, und weil ich wahrscheinlich etwas nicht richtig gemacht habe. Aber wer kann sagen, ob der Held der Sowjetunion das Übrige verschont hätte, wenn ich die Schreib­ maschine an dem Platz gelassen hätte, wo er sie hingestellt hatte? Und wenn wir ihm die Koffer entzogen hätten, hätte er vielleicht die Möbel aufgeladen. Jetzt fange ich an, einige Dinge zu verstecken. Nach meinen Er­ fahrungen sind sie am sichersten hinter den Bücherreihen.

29. April, Sonntag.

Ruhe. Wundervolle Ruhe. Märchenhafte Ruhe. Nur stunden­ weise in Berlin heftiges Feuer. Die beiden Panzer am Straßenran­ de sind fort. Meine Frau leidet Schmerzen an ihrem Fuß. Die Ärztin, Frau Dr. Reichauer, muß im russischen Lazarett helfen. Sie hat sagen lassen, daß sie nicht kommen kann. Wir sollen Umschläge mit es­ sigsaurer Tonerde machen. Um mich zu zerstreuen, mache ich mich daran, die Verwüstun­ gen im Garten zu beseitigen. Es kommen Leute aus Berlin vor­ bei, aus Neukölln, Marienfelde, Steglitz. Sie haben zum Teil wei­ ße Armbinden. Damit dürfen sie unbehelligt passieren, sagen sie. Ihre Berichte sind unterschiedlich, sehr subjektiv gefärbt. Sie er­ geben kein Bild der Lage in Berlin. Plünderungen, Vergewaltigun­ gen. Aber auch Beispiele anständigen Betragens der Russen. Diese sind ebenso legendenhaft anzuhören wie die schauerlichen Fälle von Mißhandlungen und Erschießungen. An allem wird ein klei­ ner, ganz kleiner Wahrheitskern sein, dessen wirklicher Gehalt nicht nachzuprüfen ist. Von den Kampfhandlungen wissen diese Leute offenbar auch nur vom Hörensagen. Die Einzelheiten sind widersprechend. Übereinstimmend wird von scharfen Kämpfen am Teltowkanal berichtet, namentlich in Tempelhof beim Ullsteinhaus. Von Neukölln erzählen einige, es habe 24 Stunden un­ ter Trommelfeuer gelegen. Andere sagen, es sei dort wenig zer60

stört. Die Brücken über dem Teltowkanal seien gesprengt, man müsse über Behelfsstege hinüber. Als Widerstandszentren im Stadtinnern, die angeblich noch aushalten, werden Potsdamer Platz und Unter den Linden genannt. Einer behauptet, südlich von hier seien noch deutsche Sperriegel bei Dahme. Ich registrie­ re das alles und bin, primitiv, wie man wird, in dem unstillbaren Nachrichtenhunger sogar für das Unkontrollierbare dankbar. Vor zwei Häusern in der Burgsdorfstraße, deren Bewohner, Frauen und Kinder, in einer der Nächte während der Einquar­ tierung geflüchtet sind, fährt ein Wagen vor. Die Russen holen dort Wäsche und Geschirr für das Lazarett. Meine Frau überlegt schon, was man zurechtlegen könne für den Fall, daß offizielle Be­ schlagnahmungen für Lazarettzwecke erfolgen. Begreiflich, daß sie, zur Bewegungslosigkeit verurteilt, schreckhafter geworden ist und zusammenfährt, wenn sie einen Wagen hört. Der Abend verläuft ohne »Patrouille«, das heißt, bei uns. In den Nachbarhäusern sind sie.

30. April, Montag. Zunehmendes Hin und Her der Zivilisten mit Rucksäcken, Bün­ deln, Karren. Von Berlin, nach Berlin. Die Russen lassen dieses Ge­ laufe zu. Merkwürdige Leute, die sie sind, finden sie nichts dabei, daß Zivilisten mitten durch die Kampfzone laufen. Da ist einer, der aus Stadtmitte, vom Alexanderplatz, hinausgepilgert ist, an Wider­ standsnestern vorbei, um zu sehen, wie es seiner hier draußen woh­ nenden Tochter geht oder ergangen ist. Jemand in der Straße sagt, es sei - von wem, wisse er nicht - angeordnet worden, eine wei­ ße Fahne herauszuhängen. Häuser ohne weiße Fahnen würden be­ schlagnahmt. Obwohl ich den Charakter solcher Gerüchte kenne, befestige ich eine weiße Fahne an der Glaswand der Terrasse. Kurz vor Mittag braust eine Kraftwagenkolonne an. Wieder be­ gibt sich alles mit atemberaubender Schnelligkeit. Ein Offizier kommt herein: Er will hier wohnen. Wir sind schon froh, als ein zweiter, ein dritter erscheint, Ordonnanzen, neugierige Solda­ ten: Alle wollen hier wohnen. Zuletzt erscheint ein Hauptmann, ein älterer, frischer, jovialer Herr, auf den alle gewartet zu haben scheinen: Der Kommandeur. Er läßt gerade seine Limousine den Torweg hereinfahren, einen schwarzen Ford, an dessen Fenstern 61

noch der Zulassungsstreifen der Nazis »Behelfslieferwagen« klebt. Er gewinnt meine Achtung dadurch, daß er verordnet, die Rabat­ ten zu beiden Seiten des Weges zu schonen. Die weiße Fahne flat­ tert unbeachtet im Wind. Ein Vielerlei von deutschen und russischen Sprachbrocken pras­ selt auf uns nieder. Zuerst heißt es, wir müßten unten räumen und alle oben wohnen. Dann: Wahrscheinlich müßten wir alle aus dem Hause, entschieden sei noch nicht. Schließlich aber: Binnen einer Stunde sollen wir das Haus verlassen und irgendwo Unterkunft su­ chen, wo keine Einquartierung sei. Wir könnten mitnehmen, was wir wollten. Oder: Wir könnten, was uns besonders am Herzen lä­ ge, in einem Raum zusammenstellen und den abschließen. Oder: Wir könnten alles lassen, wie es ist, Schränke abschließen und nach der Einquartierung zurück. »Jeden Tag nachsehen, ob noch da«, meint ein junger, kräftiger Leutnant gemütlich. Der Haupt­ mann, der sich selbst Kommissar nennt, zu meinem Erstaunen, weil andere Russen den Ausdruck »Kommissar« immer abgelehnt haben, sagt: Wir könnten Schränke und Schubladen abschließen, er versichere, daß nichts weggenommen werde. Eine schöne Bescherung, da meine Frau nicht aufstehen kann. Ich sehe mich um: Sie ist schon aufgestanden, die Aufregung überwindet alles Physische, sie humpelt herum, um einzupacken; ehe ich mich versehe, hantiert sie schon im Luftschutzkeller her­ um, wo immer noch unsere wichtigsten Habseligkeiten unterge­ bracht sind. Ich denke nur: Nun wird die Fußverletzung minde­ stens sechs Wochen länger zur Heilung benötigen, der Gedanke ist aber nur kurz, denn ich muß rasch erwägen, welche Manu­ skripte ich mitnehmen soll. An eine Rückkehr in das Haus nach dem Abzug der Russen glaube ich nämlich nicht. Mit dem »Kommissar« habe ich selbst noch nicht gesprochen; ei­ nem jungen Leutnant, der etwas deutsch spricht, habe ich erklärt, welchen Beruf ich habe, und daß mein Roman »Union der festen Hand« in Übersetzung in Moskau erschienen ist. Der Oberstleut­ nant hat es dem »Kommissar« gesagt, jetzt stehen sie alle im Kreis um meinen Schreibtisch. Ich lasse sie dort und sehe nach meiner Frau. Dann sucht mich eine Ordonnanz: »Dokumente.« Ich zie­ he ein Ausweispapier aus der Tasche. »Mehr, mehr«, sagt er. Ich habe alles Wichtige bei mir und breite es aus. »Gut«, sagt er, »al­ les mitnehmen, komm.« Jetzt sehe ich, daß er mein Buch in der Hand hat, und plötzlich wird mir klar, daß sie mich irgendwohin 62

bringen wollen. Ich muß meine Frau sich selbst und ihrem prakti­ schen Sinn überlassen. Der Kommissar sagt ihr, sie brauche nicht weg, bevor ich zurück sei. Ich werde ersucht, in die Limousine zu steigen, und wir fahren los. Der Fahrer gibt mir eine Zigarette. Die Ordonnanz scheint den Weg nur ungefähr zu wissen. Wir fah­ ren in die Lynarstraße, in der der ehemals nationalsozialistische Gruppenleiter gewohnt hat. Die Ordonnanz blickt suchend durch die Scheiben. Da steht ein abgebranntes Haus. Ich denke, dass es wie andere im Ort bei einem der Bombenangriffe im letzten Jahr abgebrannt ist, höre aber später, daß es von den Russen angezün­ det worden sei, weil Munition darin gefunden wurde. Vor dem Haus daneben halten wir. Ich steige mit der Ordonnanz aus. Im Garten des Hauses sind Fernsprecher an der Arbeit, Drähte zu legen. Es wird gewaschen, gekocht. Überall liegen Möbelstücke, Fetzen von Betten und Wäsche herum. Wir gehen die Treppe hin­ auf, und ich muß warten, während die Ordonnanz an eine Tür klopft und drinnen gesprochen wird. Offiziere gehen ein und aus. Nach zwei Minuten ruft man mich. Ich komme in ein ziemlich kahles Zimmer, aus dem schon allerlei herausgeschleppt worden sein muß. Ein großer runder Tisch in der Mitte, auf einem klei­ neren in der Ecke ein Koffergrammophon mit aufgelegter Plat­ te. Die Russen machen, wie alle Soldaten, dauernd Musik. Daraus entsteht dann jeweils die Version, die Russen, die Franzosen, die Engländer, Amerikaner oder Deutschen seien ein musikalisches Volk. Jetzt ist es still; alle verlassen den Raum bis auf den breit­ schultrigen, in seinen Bewegungen ungemein gesetzten Mann, der hinter dem Tisch steht und mir bedeutet, Platz zu nehmen. Er ist Major, und die Soldaten sprechen von ihm als dem »Komman­ danten«. Welche Funktionen er hat, bekomme ich nicht heraus. Neben ihm mit Tscherkessenmütze und in abgetragener Uniform ein Leutnant, der als Dolmetscher fungieren soll. Die russische Übersetzung meines Buches liegt auf dem Tisch. Als wir sitzen, läßt der Kommandant fragen, ob ich russisch verstehe. Nein. Ob ich in Rußland gewesen sei? Nein; ich habe mich zwar einmal der Institution »Intourist« bedienen wollen, aber damals haben mir selbst die verhältnismäßig bescheidenen Mittel gefehlt. Bücher und Zeitungsartikel über Rußland gelesen? Ja, was immer davon zu haben war; soweit das auf diese Weise möglich ist, habe ich ver­ sucht, mir ein selbständiges Urteil zu bilden, wobei ich mir der Mangelhaftigkeit der Methode bewußt war. 63

Schweigen. Der Kommandant unterläßt die Frage, welcher Art mein Urteil sei. Ich nehme an, daß es ihm gleichgültig ist. »Sind Sie Kommunist?« Nein. Ich habe mich niemals einer Par­ tei anschließen können, weil ich nicht in der Lage bin, das eigene Denken einer feststehenden Doktrin oder Parteimaschinerie un­ terzuordnen. Aber ich hatte Freunde in allen Linksparteien, auch in der Kommunistischen. Darüber gibt es Belege in meiner Samm­ lung von Kritiken, die ich aus der Kiste im Luftschutzkeller heraus­ suchen müßte. Im übrigen glaube ich, daß das Vorwort des Über­ setzers von »Union der festen Hand« über mich Aufschluß gibt. Der Kommandant läßt mir sagen, daß er das Vorwort bereits gelesen habe - was vielleicht nicht ganz wörtlich zu nehmen ist. Er wendet sich dann den engeren Personalien zu und versteht so­ fort, daß Reger ein Pseudonym ist, was er als literarische Selbst­ verständlichkeit auffaßt. Ich habe die entsprechende Bescheini­ gung bei mir. Seit wann ich hier draußen wohne, warum ich aus Berlin herausgezogen bin? Er begreift dies sofort, als ich ihm sa­ ge, daß mein jetziger Verleger, der 1943 das Haus in Mahlow er­ worben hat, mir anbot, angesichts der Berlin drohenden Bomben­ gefahr dort Wohnung zu nehmen. Ob ich von den Nazis verfolgt wurde? Aus der langen Kette ewiger Schikanen zähle ich ihm auf: polizeiliche Überwachung und Postzensur 1933, Aufenthalt in der Schweiz, 1934-1936, um Konsequenzen zu entgehen; ich zei­ ge ihm die späteren Vorladungen zur Gestapo, schildere die pein­ lichen Verhöre über das, was ich jeweils tue, welche Zeitungen ich lese, und so fort; die Androhung von Ordnungsstrafen durch die Reichsschrifttumskammer, weil ich fortführe, Bücher zu schrei­ ben, ohne daß sie mich als Mitglied aufgenommen hätten; die Ver­ suche, mich zum Juden zu stempeln und die fortwährende Belästi­ gung durch Fragebogen über die Abstammung; die kleinen, aber hartnäckigen Drangsalierungen durch die Mahlower Gemeinde­ verwaltung, und ich füge hinzu: »Es blieb ja nur der eine Weg, die Nazis zu betrügen. Das Glück vieler meiner Freunde war die Dummheit der Nazis, die sie, wie in der großen, so in der kleinen Politik bekundeten; anderenfalls wäre niemand von uns am Leben oder auch nur in der eingeengten Freiheit geblieben. Man ist un­ tergetaucht, hat sich zurückgehalten, hat sich durch Medikamen­ te krank gemacht, um dem Heeresdienst und dem Volkssturm zu entgehen, und so war das tägliche Leben ein ewiger zäher passiver Widerstand. Aktiver Widerstand war bei der Verfassung, in der 64

sich das deutsche Volk, einschließlich der Arbeiter befand, ganz aussichtslos. Die Klugheit gebietet, das Leben für eine bestimm­ te Gelegenheit zu erhalten, wenn man einsieht, daß nicht nur nie­ mand einen Nutzen davon hat, sondern daß man nicht die gering­ ste Resonanz findet, wenn man blindlings in geladene Gewehre rennt. Aber wenn alle Leute an ihrem Teil sich mehr verweigert hätten - mein Sohn war nicht in der Hitlerjugend, obschon ich als Schriftsteller mehr zu riskieren hatte, ich habe zu den sogenannten Spenden nur wenig und selten gegeben und mich um alle totalen Kriegsverordnungen herummanövriert, meine Frau ist nicht ar­ beiten und ich bin nicht schanzen gegangen - ich wollte sagen, ge­ sammelter passiver Widerstand wäre mehr als aktiver Widerstand gewesen, denn die Nazis haben ja immer probiert und getestet, ob sie noch einen Schritt weitergehen könnten. Der Dolmetscher übersetzt brav; ich weiß nicht, wie er über­ setzt, aber der Kommandant nickt mehrmals nachdenklich. Dann erkundigt er sich, wo mein Sohn jetzt ist, und fragt nach den Büchern, die ich außer der »Union« geschrieben habe und wo ich zuletzt tätig war. Ich spreche von meinem zweiten politischen Roman, dem »Wachsamen Hähnchen«, und davon, daß die Natio­ nalsozialisten diese Reihe unterbrachen, bis ich mich schließlich auf Liebesgedichte zurückziehen mußte, in die ich nur hie und da etwas einschmuggeln konnte; ferner von meinem Refugium im Deutschen Verlag, früher Ullstein, wo ich für die »Berliner Illu­ strierte« und andere Zeitschriften die schlechten Romanmanu­ skripte zu verbessern hatte. Der Kommandant lächelt und nickt. Ich wende mich der Zukunft zu, mache Andeutungen über publi­ zistische Pläne; dabei kommt zufällig die Rede auf die Generäle Paulus und Seydlitz und ihre Radioaufrufe; ich mache kein Hehl aus meiner Abneigung gegen Leute, die die Hitlerei unterstützt haben, solange sie ihnen wegen des Aufbaus der Wehrmacht nütz­ lich erschien, und solange gesiegt wurde - auch Witzleben und die Leute des 20. Juli 1944 gehören dazu. »Wir können diese Leu­ te nicht gebrauchen«, sage ich leidenschaftlich. Der Kommandant hört ruhig zu, äußert aber vorsichtigerweise nichts, wohl weil er nicht weiß, wie Moskau sich jetzt zu diesen als Propagandainstru­ mente verwandten Generälen stellen wird. Ich stoße noch eine leise Klage über die Nachrichtenlosigkeit aus, und da ich meine Karte mit der zuletzt vor acht Tagen ein­ gezeichneten Frontlinie bei mir habe, ist der Kommandant so 65

freundlich, mir die jetzige Linie zu markieren. Danach waren die Fortschritte in dieser Woche gewaltig, Amerikaner und Russen haben sich an mehreren Stellen vereinigt, Berlin steht vor dem Fall; die hier unter den »Volksgenossen« verbreiteten Gerüchte, in Potsdam, sogar in Charlottenburg seien die Amerikaner, werden als Schwindel erkennbar - systematisch immer wieder der Traum von den Amerikanern als Rettungsanker; nur über die Lage bei Hamburg und München kann auch der Kommandant nichts Ge­ naueres sagen, ebenso nicht über die Operationen nördlich Ber­ lins und an der Ostsee. Er steht auf und spricht mit dem Dolmet­ scher. Der übersetzt: »Der Herr Kommandant wird die bei Ihnen einquartierten Offiziere bitten lassen, Ihnen zu gewähren, im Hause zu verbleiben.« Ich bedanke mich, er reicht mir die Hand. Das Erreichte bedeutet für den Augenblick viel, sehr viel; dennoch bin ich etwas enttäuscht, ich hatte noch etwas anderes erwartet. Was? Ja - was? Eine Empfehlung an eine höhere Stelle, eine Mög­ lichkeit, meine Pläne der Verwirklichung zuzuführen. Ich bin un­ vernünftig, aber es ist nun nach zwölf Jahren der Unproduktivität eine solche Ungeduld in mir, zur Arbeit zu gelangen, keine Minu­ te mehr zu versäumen... Das Auto ist weggefahren, wir legen den Weg zu Fuß zurück. Der Kommandant schickt den Dolmetscher und einen weiteren Soldaten als Begleitung mit. Der Dolmetscher ist hinter Moskau zu Hause; er hofft, daß der Krieg bald zu Ende ist. Er will nach Hause. »Nach Hause« ist auch eines der Wörter, das fast alle Rus­ sen auf deutsch wissen. Bezeichnend; sie haben es sicher von deut­ schen Gefangenen gelernt, und es drückt eine internationale, rein menschliche Sehnsucht aus. Der Kommissar steht in seinem Staat an der Tür, als wir anlan­ gen. Zum erstenmal bin ich bei den Russen Zeuge einer regulären militärischen Meldung mit gegenseitigem Salutieren. Den bei uns wohnenden Flüchtlingen fällt nun ein unverdientes Glück in den Schoß! Sie sind die wahren Nutznießer der mir erteilten Erlaub­ nis, denn sie bleiben in ihren Räumen oben, während meine Frau und ich zu ihnen hinauf müssen. Ich bin so froh für meine Frau, daß sie sich mit ihrem verletzten Fuß nun wieder hinlegen kann. Ich laufe rasch zu der Ärztin und gebe einen Zettel ab mit der dringenden Bitte, doch einmal nach meiner Frau zu sehen, denn der Fuß sieht bedenklich aus. Auch der Kommissar, mit dem ich spreche, findet das; er will einen Sanitäter schicken. Er ist in allem 66

sehr nett und für seine Person sehr bescheiden; auch seine Offizie­ re sind durchweg anständig und menschlich, wenngleich impul­ siver und robuster; aber die Burschen und Ordonnanzen, obwohl alle gutmütig, bringen schon allein durch ihre Obliegenheiten ei­ nen Lärm und Trubel ohnegleichen ins Haus. Ich halte mich meistens oben bei meiner Frau auf und überlasse das Feld der Breslauer Frau Ammert, die im Herdenleben sich hei­ misch fühlt. Sie kocht jetzt für alle deutschen Hausbewohner ge­ meinsam und »organisiert« dabei manches Gute von den Russen, die ebenfalls an dem Herd in der Waschküche kochen; sie bringt ihnen nach und nach auch Manieren bei und gewöhnt ihnen ab, in den Küchenausguß zu spucken und Abfall und Unrat einfach auf den Fußboden zu werfen. Andererseits, während wir von den Russen Fette, Reissuppen, Brot und Speck haben, verbrauchen sie von unseren knappen Kartoffeln, und mit Entsetzen sehe ich bei meinen gelegentlichen Inspizierungen, welche unheimliche Men­ ge Holz verbrannt wird. Was soll werden, wenn wir, was ich be­ fürchte, monatelang keinen elektrischen Strom haben? Der Krieg kann auf hitlerische Weise - bis zum letzten Zaunpfahl - noch längere Zeit weitergehen, und wir müssen uns auf die schwersten Entbehrungen gefaßt machen. Immerhin - wenn ich alles über­ blicke, muß ich Gott danken. Wir sind die einzigen in der Straße, die ihr Haus nicht zu verlassen brauchten; wir haben Kleidungs­ stücke eingebüßt, aber im Hause ist alles heil; wir haben als Ein­ quartierung den Kommissar, der uns gegen all das schützen wird, was schon äußerlich in den anderen Häusern zu beobachten ist: Zertrümmerung der Einrichtungen, Fortschleppen der Betten und dergleichen Kriegsgewohnheiten mehr. Etwas Sorge habe ich nur, wenn ich auf den Kalender sehe, daß morgen der 1. Mai ist. Wenn sie da Schnaps kriegen werden... Soweit ich feststellen kann, ist das einzige, was sie von unseren Sachen in Gebrauch genommen haben, Teller, Schüsseln und Glä­ ser, außerdem Manfreds Koffergrammophon. Das kräht unent­ wegt Schlagerplatten, die sie aus Berlin mitgebracht haben. Denn sie kommen aus Berlin; eine Truppe, die nach dem Kampf im Ru­ hequartier liegt, bis sie an einer anderen Front Verwendung finden wird. »Zehn Tage«, meint der junge Oberleutnant, der aktiver Sol­ dat ist und auf der Kriegsschule war. Sein Weg nach Berlin fing in Charkow an. In Berlin haben sie in der Gegend des Zoo gekämpft. Sie haben dort alles Mögliche erbeutet: Uhren, Ringe, Parfüm, Zi­ 67

garetten, Autos (der Kommissar hat auch noch eine beigefarbene Limousine), Eßbestecke, Werkzeugkästen, eine komplette photo­ graphische Kiste mit allem zur Entwicklung Notwendigen, dessen Gebrauchsanweisungen ich ihnen erläutern muß. Die meisten, auch die Offiziere, haben gleich mehrere Uhren ergattert. Im üb­ rigen habe ich den Eindruck, daß sie, falls sie selbst sich zurück­ halten, ihre Burschen alles für sich »organisieren« lassen, von Es­ sen und Trinken angefangen, bis zu Uhren und Frauen. Es heißt, daß es morgen beim Bäcker wieder ein Stück Brot gibt. Die junge Frau Peiker hat plötzlich ihre Scheu verloren und ver­ steckt sich nicht mehr. Sie hat sogar wieder ihre Lippen gefärbt und ist viel unten, angeblich um ihrer Mutter, der Frau Ammert, zu helfen. Abends hören wir sie unten in unserem Wohnzimmer bei den Offizieren singen. Sie hält ziemlich lange aus und wechselt, als sie heraufkommt, in ihren Erzählungen verschiedene Male die russischen Männer aus, die sich angeblich in sie verliebt haben. Ihr Standpunkt scheint zu sein, daß selbst eine Vergewaltigung erträg­ lich wäre, wenn man davon einen materiellen Vorteil hätte. Oh­ ne den bestünde allerdings ein nicht zu überwindender Abscheu.

1. Mai, Dienstag.

Es ist kalt wie im März. Ein trüber Tag, windstill und etwas neblig. Als ich gerade herunterkomme, um die Fenster abzu­ dunkeln, stehen die Offiziere gerade auf. Wo sie im einzelnen geschlafen haben, ist nicht festzustellen. Von den Betten ist nur eines berührt. Couch und Chaiselongue sehen auch nicht nach sehr benutztem Lager aus. Ich fürchte, die meisten haben anders­ wo Frauen gesucht. Die Burschen hatten in der Küche auf ihren schmutzstarrenden Mänteln geschlafen, die noch über den Boden gebreitet sind. Statt daß die Limousine vor der Tür steht, ist sie weit in den Garten hineingefahren, in ein Erbsenbeet. Ich zeige es dem Kom­ missar, der sofort befiehlt, den Wagen herauszuholen. Der Kom­ missar friert sehr. Sie haben kein Winterzeug mehr. Ich zünde die Heizung an. Wir sprechen, soweit möglich, über den 1. Mai und Stalins Ta­ gesbefehl, den er in der Zeitung gelesen hat. In Berlin wird vor dem Reichstagsgebäude Parade sein, sagt er. Ich frage nach Ta­ 68

gesneuigkeiten. Himmler, berichtet er, habe ein Kapitulationsan­ gebot an England und Amerika gemacht, aber vor Rußland wolle er nicht kapitulieren. Wenn das stimmt, dokumentiert es die gan­ ze Erbärmlichkeit und Strohköpfigkeit des Herrn Himmler aus München, den wir ja immer für mindestens ebenso dumm wie grausam gehalten haben - die richtige Münchner Biermischung. Ich erinnere mich, daß der Kommissar mich gleich bei seiner Ankunft fragte, ob ich irgendwo Kühe und Pferde wüßte. Ich glaube, ich habe nicht einmal darauf geantwortet, die Frage ging in der Turbulenz jener Augenblicke völlig unter. Jetzt sehe ich auf einer großen Wiese mit altem Apfelbaumbe­ stand eine richtige Viehwirtschaft eröffnet: eine Herde von etwa zwanzig Kühen und russische Wärter dabei, als Öfen hergerich­ tete Benzintonnen, in denen Futter gekocht wird, Milchkannen und - Metzger. Im Laufe des Vormittags treten die einzelnen Abteilungen der einquartierten Truppen zu Appellen an, bei denen ihnen Stalins Tagesbefehl verlesen wird, worauf sie Hurra schreien. Zum er­ stenmal sehe ich, daß wenigstens oberflächlich der Anzug in Ord­ nung gebracht und nachgesehen wird, daß sie in Reih und Glied stehen, auf Kommando gehorchen und marschieren. Indessen bleibt auch dies im ganzen salopp; sogar was ich als Kriegsgefan­ gener im vorigen Weltkrieg vom Exerzieren britischer Truppen sah, war geradezu preußisch gegen diese russische Art. Obwohl aber von Drill nicht gesprochen werden kann, obwohl der Um­ gangston zwischen Offizier und Mannschaft stark auf gleich und gleich gestellt ist, erhält sich diese aus so vielen heterogenen Völ­ kerschaften gemachte Armee durch eine nicht ganz bestimmbare Art von Disziplin. Jeder einzelne ist vom Stolz auf Stalin durch­ drungen und überzeugt von seiner Unfehlbarkeit. Und der Erst­ klassigkeit seiner Politik - etwas, was Hitler nie oder nur in der die Wirklichkeit korrigierenden Goebbelspropaganda erreichen konnte. Auf der anderen Seite ist, wie bei den meisten Deutschen, ein gewisser Minderwertigkeitskomplex zu verzeichnen. Sie freu­ en sich durchweg wie die Kinder darüber, daß Molotow auf der Konferenz von San Francisco ist. Es liegt darin eine gewisse Iro­ nie des geschichtlichen Schicksals: Während Stalin ihn zuerst gar nicht hinschicken wollte und es als besondere Gunst gegenüber Truman auslegt, daß er es dann doch tut, haben Stalins Unterta­ nen eher das den Nationalstolz befriedigende Gefühl, daß Molo­ 69

tow nach San Francisco durfte, das heißt, daß die Welt Rußlands Bedeutung endlich anerkannt hat. Noch ein Beitrag zum Verhältnis zwischen Offizier und Mann­ schaft: Es erscheint ganz selbstverständlich, daß die Ordonnan­ zen mit der Limousine des Kommissars zur Truppenküche fah­ ren, um Essen zu holen. (Nebenbei bemerkt: Die Küche ist in einem Garten schräg gegenüber, aber sie müssen fahren, sie sind in dieser und mancher anderen Beziehung wie die Kinder.) Es er­ scheint aber auch ebenso selbstverständlich, daß die Offiziere aus der Truppenküche die Suppe nur als Brühe im Rohzustand bezie­ hen und sie bei uns im Hause verbessern. Trotz der zweifellos weit­ gehenden Respektlosigkeit gegenüber den Offizieren wird ihnen ohne weiteres eine Vorzugsstellung zugestanden. Die russischen Kommunisten sind anders als die deutschen und überhaupt die westlichen, bei denen kein Genosse einen sauberen Kragen anha­ ben darf, ohne verdächtig zu werden. Bei ihnen muß im Gegenteil durch Anzug, Essen und Trinken ein Abstand entstehen, die soge­ nannten Vorrechte müssen sich dadurch unbedingt abheben. Meine Frau liegt oben, der Fuß schmerzt sehr. Die Ärztin ist nicht gekommen, auch der Sanitäter nicht. Man sieht jetzt überall lange Kolonnen fremdländischer Arbei­ ter, in der Hauptsache Polen und Russen, einem Auffanglager zu­ strebend, das unweit von hier im Wald errichtet worden sein soll. Wie lange mag dieses allgemeine Herdenleben, dieses zwangswei­ se Zigeunertum der Menschheit noch anhalten? Gegen 3 Uhr nachmittags erscheint eine Ordonnanz oben bei uns: Der Kommissar bittet mich, mit den Offizieren zu Mittag zu essen. Sie sitzen alle um unseren Eßtisch, die Frau Ammert hat mit einem weißen Tuch gedeckt. Der Kommissar sitzt keineswegs oben an der Tafel, dort sitzt sein Adjutant. Wir sind, mich ein­ gerechnet, sechs; nachher kommen noch zwei weitere Offiziere zu Besuch, die leidlich deutsch sprechen. Es gibt Borschtsch, da­ zu Brot und Schinkenspeck, als Getränk französischen Rotwein, der nach Petroleum schmeckt; offenbar waren die Flaschen nicht sauber. Das alles ist Beuteware aus Berlin. Der Kommissar stößt an: auf Stalin, auf Frieden und Freundschaft zwischen den Völ­ kern. Ich höre, Mussolini sei von italienischen Patrioten aufge­ hängt worden, und die Amerikaner seien in Genua. Ich kann mir kein Bild machen, wie der italienische Feldzug seitdem verlaufen ist; meine zuletzt gehörten Nachrichten schienen den langerwar­ 70

teten großen Panzerdurchbruch in die Po-Ebene anzukündigen. Ich höre ferner, etwas verworren, daß im deutschen Radio Hitlers Tod verkündet worden ist, und Dönitz habe eine neue Regierung gebildet. Sie sagen, das sei Propaganda, Hitler solle auf diese Wei­ se der Bestrafung entzogen werden. Offenbar steht das so ähnlich in ihrer Zeitung. Da ich nichts von den Zusammenhängen erfah­ re, bleibt mir alles dunkel und rätselhaft. Für ein paar Minuten wendet sich das Gespräch, besonders unter dem Einfluß der bei­ den nachträglich erschienenen Offiziere, geistigen Dingen zu. Sie sehen unter meinen Büchern Rosenbergs »Geschichte des Bolsche­ wismus« und »Sowjetrußland kämpft gegen das Verbrechen« von Lenka von Koerber. Das interessiert sie. In einer italienischen »Storia del cinema« besehen sie sich die Bilder aus dem unvergeßlichen »Panzerkreuzer Potemkin«. Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, daß bald Proben russischer Filme und russischen Theaters bei uns zu sehen sein werden. Ich meine: zur Orientierung über das Geleiste­ te, wie wir ja auch nach 12 Jahren Abgeschiedenheit (auch ich ha­ be nur hie und da verbotene Einblicke nehmen können) der Unter­ richtung über amerikanische und englische Kunst und Literatur entgegenfiebern. Sie fassen meine Äußerung aber als ein Kompli­ ment auf und denken wohl nur an propagandistische Wirkungen. Die junge Frau Peiker, die unter dem Vorwand, ihr Kind zu su­ chen, ins Zimmer kommt, macht diesem Gespräch ein Ende. Das Kind ist in der Tat hier, es ist fortwährend bei den Offizieren, die es mit Bonbons und Schokolade überfüttern. Es ist ein unerzogenes Gör, das nun vollkommen verwildert, aber den Offizieren macht es Spaß. Der Kommissar hat es auf dem Schoß und berauscht sich immerzu an dem Klang des Namens Jutta. Das Grammophon wird angekurbelt, und Frau Peiker soll singen. Dabei entdecke ich einige meiner besten Platten unter der Schlagersammlung, die die Russen mitgebracht haben. Unser Plattenschrank ist zwar offen, da aber die Russen bisher von unseren Sachen nichts vom Platz genommen haben, erscheint - auch nach dem sonst wahrgenom­ menen Charakter der Frau Peiker - der Verdacht gerechtfertigt, daß sie die Platten am Abend zuvor geholt hat, ebenso die Reserve an Kupfernadeln, die wir hatten. Ich sondere unsere Platten unter der Hand wieder aus. Dann also beginnt ein allgemeines Gesinge, das ich eine Weile mitmache, bis der Kommissar mir einen Teller Suppe und ein Glas Wein für meine Frau zuschiebt. Damit ver­ schwinde ich, während es unten hoch lange weitergeht. 71

Es hat beim Bäcker kein Brot gegeben. Morgen heißt es. Herr Pfeffer hat uns ein schlecht gebackenes Brot aus Blankenfelde ge­ bracht. In dem Haus seiner Tochter dort hat der Bäcker Mehl ein­ gelagert, als Entschädigung bekommt Herr Pfeffer Brot. Wir sind ihm sehr dankbar. Er geht wieder nach Blankenfelde und hinter­ läßt bei uns einen Sack mit Hühnerkörnerfutter für Frau Hellmich, das er gleichfalls in Blankenfelde aufgetrieben hat. Später macht der Kommissar meiner Frau eine Art Anstandsbe­ such und erkundigt sich nach ihrem Befinden. Frau Ammert wirtschaftet mit den Offiziersburschen. Frau Siegel verläßt ihr Zimmer oben nicht. Frau Weyth hilft mir Wasser holen. Es ist ziemlich weit zur Pumpe, bis ans Ende der Straße. Das Haus, in dem sie steht, ist von den Russen stark ausgeplündert worden. Vielerlei kleineren Hausrat sehe ich im Garten herumgestreut. Au­ ßerdem haben sie Wasser in die Zimmer geschleppt und sich dort, nicht etwa in der Badewanne, gebadet. Das Haus sei vollkommen durchnäßt, sagt die Besitzerin, Frau Dürr, die zeitweise nachsehen kommt. Ihr Mann war Offizier, und es heißt, daß die Russen eine Uniform von ihm gefunden hätten, was sie dann besonders wild gemacht habe. Ich glaube indessen nicht, daß erst eine Uniform da­ zu nötig war. Nazis scheinen die Dürrs nicht gewesen zu sein. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß der Stoizismus, mit dem die Frau den Ereignissen begegnet, zu einem guten Teil aus dem Bewußtsein geschöpft ist, daß man nach den bekannten Methoden der deut­ schen Kriegsführung schwerlich etwas anderes erwarten konnte als dies, sobald Deutschland Kriegsschauplatz wurde. Zwei Ordonnanzen unseres Kommissars, die drolligerweise beide Nikolajew heißen, haben nach ihren Aussagen das Wüten der SS in der eigenen Familie kennengelernt. Der eine verlor sei­ ne Eltern und mußte während der deutschen Besatzung Zwangs­ arbeit leisten, bis das, was Goebbels »die Rückläufigkeit unse­ rer militärischen Erfolge« nannte, ihn befreite und in die Rote Armee führte. Der andere, der auch chauffiert, lang, starkkno­ chig, hat erleben müssen, daß seine Schwester mit ihrem Kind erschossen wurde. Wenn man das Maß von Objektivität anwen­ den dürfte, das im allgemeinen notwendig ist, könnte man sa­ gen, man müßte wissen, was den Erschießungen vorausgegan­ gen ist, um urteilen zu können. Aber was an Tatsachen aus der Tätigkeit der SS und der deutschen Wehrmacht objektiv fest­ steht, erlaubt gewiß im Einzelfalle auch ein ungerechtes Urteil 72

zu rechtfertigen. Es kommt bei so viel Bestialität auf Objektivi­ tät nicht mehr an. Der lange Nikolajew hat anfangs unseren Verdacht erregt, weil er überall im Keller herumschnüffelt. Wir fürchteten, er wolle klauen, aber war wohl nur argwöhnisch, bis er wußte, woran er mit uns war. Bevor wir uns an diesem Abend zur Ruhe begeben durften, wurden wir noch einmal in Schrecken versetzt. Der runde Ni­ kolajew brachte die Nachricht, daß unweit von uns ein russischer Soldat von einem deutschen Zivilisten erschossen worden sei. Ob­ wohl ich mir sagte, daß der Täter bei so viel herumlaufenden Rus­ sen kaum hätte entkommen können, muß ich die Möglichkeit zu­ geben, daß irgendwer sich zu einer solchen Tat hätte hinreißen lassen - und sei es aus Rache für eine Vergewaltigung von Frau, Tochter oder Schwester, falls ich ein edleres Motiv unterstellen wollte. Wir hatten andererseits gerade gehört, daß sich in einem Hause viele Deutsche, Frauen mit Kindern und ein Mann, er­ schossen hatten - das waren allerdings Nazis gewesen - und zwei weitere Frauen, sich nach der ersten Vergewaltigung erhängt hat­ ten. Die beiden Leichen in jenem Haus hatte ein alter Mann, den wir kennen, Gerichtsdiener in Moabit, im Garten allein begra­ ben. Wie dem auch sein mochte, wir mußten uns auf unangeneh­ me Folgen gefaßt machen. Die Obrigkeit würde kaum den Stand­ punkt des runden Nikolajew einnehmen, der zu mir traurig sagte: »Du, Vater gutt - ander Vater nix gutt.« Aber eine Viertelstun­ de später dementierte Nikolajew sich: Der russische Soldat war von einem seiner Kameraden, der leichtsinnigerweise ein gelade­ nes Gewehr gereinigt hatte, getötet worden. Ich konnte von den Offizieren niemanden befragen, denn sie waren alle fort. Aber­ mals zehn Minuten später erzählte Nikolajew, daß der unglück­ liche Russe sich selbst erschossen habe. Ein Wagen vom Lazarett habe ihn geholt, aber er sei unterwegs gestorben. Die Nacht ist völlig still und von den für den 1. Mai gefürchte­ ten Schnapsorgien ist in unserem Hause nichts zu bemerken. Die Offiziere sind alle weg - »eingeladen bei Majors«, sagt der runde Nikolajew, der allein auf dem Küchenboden schläft. Wir haben einen Posten vor dem Haus und einen, der rund um den Garten geht. Trotzdem halte ich es für ratsam, mich nicht zu entkleiden.

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2. Mai, Mittwoch.

Der Morgen beginnt, wie der Abend endete: mit einer gewissen sanften Stille und Traurigkeit. Bedrückt sie der Tod des Kamera­ den, der nicht in der Schlacht fiel, so? Er wird in aller Frühe neben dem anderen Grab am Rande unserer Straße bestattet - ohne son­ derliche Zeremonien und mit geringer Beteiligung. Ich studiere in dem kleinen russischen Wörterbuch, das mir Frau Weyth geliehen hat. Wenn die Einquartierung länger bleibt, halte ich es für nützlich, einige Vokabeln, Zahlen und Redewen­ dungen zu wissen. Das kleine Wörterbuch war zum Gebrauch für deutsche Soldaten in Rußland bestimmt und atmet den Geist der deutschen Heerscharen. »Zeigen Sie mir ... reinigen Sie mir ... säubern Sie sofort dieses Zimmer für mich ... Sagen Sie die Wahr­ heit, sonst werden Sie erschossen.« Der runde Nikolajew verrät den Grund für die Bedrücktheit, seine eigene zumindest: Sie kommen weg, wieder an die Front, angeblich heute noch. Der Adjutant dementiert das später. »Noch zehn bis vierzehn Tage hier.« Ich denke, er will als Offizier nichts sagen, was auf Truppenbewegungen schließen läßt. Im Garten sehe ich, daß in der Nacht ein Auto rund durch al­ le Gemüse- und Blumenbeete gewendet hat. Der lange Nikolajew sagt, er sei es nicht gewesen. Da es noch zu früh im Jahr ist, wird der Schaden sich vermutlich heilen lassen. Die weiße Fahne an der Lindenhecke bei der Terrasse ist abge­ rissen. Die Russen interessieren sich nicht im geringsten für die­ se Symbolik. Als ich von der Besichtigung des Gartens zurückkomme, steht da eine junge Frau mit Kopftuch und rotem Gesicht. Ich habe sie gestern schon beim Wasserholen gesehen. Es ist eine Nichte des Herrn Otto, der einmal, als er Wache im Volkssturm hatte, wäh­ rend eines Fliegeralarms in unserem Luftschutzkeller Zuflucht suchte. Von Herrn Otto weiß ich nur, daß er, früher selbständig, zuletzt im Luftfahrtministerium »dienstverpflichtet« war. Er sieht recht alt und elend aus. Nazi ist er nicht. Seine Nichte ist aus Für­ stenwalde geflohen und zu seinem Entsetzen bei ihm aufgetaucht. Er schätzt sie nicht. Sie ist offenbar leicht hysterisch und außerdem, wenn nicht Parteigenossin, so doch von jener Hitlerei durchdrun­ gen, die in den Kleinstädten der Mark Brandenburg im Schwange war. Die Frau steht also da und sagt zu mir: »Ich bin heute Nacht 74

fünfmal vergewaltigt worden, können Sie mich nicht aufnehmen?« Nachdem ich meine Verblüffung überwunden hatte, meinte ich: »Sie sind doch im Hause Ihres Onkels, nicht wahr?« »Ja, aber -«, ich verstehe; er hat sie vor die Tür gesetzt. »Warum sind Sie nicht in Fürstenwalde geblieben? Hier haben Sie die Russen ja nun auch er­ lebt.« »Ja, wenn ich gewußt hätte -. Aber da war ein Wehrmachts­ auto, das nahm mich mit, ich wollte zu den Amerikanern, und dann kamen wir bis Zossen, da fuhr das Auto nicht weiter, weil das Benzin alle war, und dann konnte ich vor den Russen gerade noch hierher.« »Also ich rate Ihnen, nach Fürstenwalde zurückzu­ kehren.« »Das will ich ja auch, aber zu Fuß und allein, wo die Men­ ge Russen - Können Sie nicht den Kommissar fragen, ob ich in ei­ nem russischen Auto -?« »Entschuldigen Sie, aber man muß Sie entweder auslachen oder bewundern. Sie ahnen wohl noch immer nicht, daß Krieg im Lande ist?« Sie jammert wieder über das, was ihr zugefügt wurde, bis ich wiederhole, was ich immer wieder und überall den Leuten sage: »Das ist das Ergebnis von 12 Jahren Na­ tionalsozialismus. Wir müssen es ausbaden, da hilft nun nichts.« »Kann ich nicht wenigstens mein Gepäck bei Ihnen unterstellen?« »Tut mir leid, nein. Die untergestellten Koffer haben schon einmal die Begehrlichkeit erregt. Sie selbst ins Haus aufzunehmen, wäre ein Mißbrauch der mir erteilten Erlaubnis, im Hause zu verblei­ ben. Gehen Sie nach Fürstenwalde zurück. Sie sind jung und kräf­ tig, der Weg ist nicht so schrecklich weit für heutige Begriffe. Sie begegnen vielen deutschen Fußgängern auf den Straßen.« »Und Sie können nicht wenigstens mit dem Kommissar sprechen?« »Bedaure, nein. Er ist gar nicht hier und ich wüßte nicht, wie man ihm ohne Dolmetscher ihre verzwickte Lage darstellen sollte.« Damit wende ich den Rücken. Ich habe sie nicht mehr gesehen. Die Front in Berlin schweigt. Es fliegen heute auch keine Flug­ zeuge hin. Der Kommissar kommt heute den ganzen Vormittag über nicht. Frau Hellmich war zweimal hier, um ihn zu finden. Sie möchte die Genehmigung haben, in ihr Haus zurückzukehren und Herrn Otto mitzunehmen. Bisher hat umgekehrt sie sich bei Ottos auf­ gehalten, denn Ottos hatten keine Einquartierung. Ottos woh­ nen aber ganz einsam in der äußersten Straße und sind infol­ gedessen heimgesucht worden. Wir dürfen nicht vergessen, daß während wir unter einem Dache mit dem Kommissar, von dem Schmutz und dem wüsten Durcheinander abgesehen, verhältnis­ 75

mäßig friedlich leben, die Soldaten dieser Abteilung in allen ande­ ren Häusern ihr Mütchen kühlen. Der Kommissar kehrte erst um 2 Uhr mittags zurück. Er gab Frau Hellmich die erbetene Genehmigung. Nachdem er zu Mit­ tag gegessen hatte, fragte ich ihn nach neuen Nachrichten. Er saß, wo er meistens sitzt, an dem kleinen Schreibmaschinentischchen, der quer zu meinem Arbeitstisch steht. Ein deutscher Offizier hät­ te zweifellos den Sessel vor dem Arbeitstisch für sich genommen. Berlin habe kapituliert, sagte der Kommissar. Ich schwieg. All das, wenn es wahr ist, betrübt mich - weil ich es nicht miterleben darf. Wie oft und in wie vielen Bildern hat man sich das Ende des Na­ tionalsozialismus ausgemalt, und nun sitzt man da, abgeschnitten von jeder Möglichkeit, aus der Welt etwas zu erfahren, kein Radio, keine Zeitung - nichts. Wenn ich an die Dramatik, um nicht sagen zu müssen: Dynamik jener Nachtstunden im August vorigen Jah­ res denke, als ich vor dem Radio saß und die Meldungen über den Fall von Paris und den Ausfall Rumäniens hörte. Wenn ich doch die heutigen Nachrichten mit eigenen Ohren hören könnte! Die Frage, ob seine Truppe heute aufbrechen würde, verneinte der Kommissar. Ich erkundigte mich, ob wir jetzt einen Komman­ danten im Ort hätten. Nein, sagt er. Immer noch der provisorische Zustand, daß die rangältesten Offiziere der gerade einquartierten Truppen Kommandanten sind. Jenseits der Bahn ist es nicht an­ ders als hier. Hier ist der Kommissar Kommandant. Der, zu dem man mich im Auto hingefahren hat, ist nicht mehr da. Eine Ordonnanz kam soeben aufgeregt die Treppe hinauf: Wir sollten oben bleiben, ein fremder Major käme zu Besuch, der sol­ le nicht sehen, daß Zivilisten im Hause sind. Wir bleiben oben. Zehn Minuten später werde ich heruntergeholt und dem Ma­ jor vorgestellt. Er will mein Buch mitnehmen und lesen. Ich lege ihm ans Herz, daß es mein einziges Exemplar ist. Er verspricht, es morgen zurückzubringen. Als er geht, läßt er es liegen. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Die Ärztin ist nicht gekommen, aber der vom Kommissar ver­ sprochene Sanitäter. Er hat einen Dolmetscher mit Befähigung mitgebracht. Der Fuß meiner Frau sei bedenklich. Vierzehn Tage liegen. Er streicht Jod auf. Die Erkundigung nach der Ursache be­ antworte ich wieder damit, daß ich sage, meine Frau sei die Trep­ pe hinabgestürzt. Es ist einfacher so und wahrscheinlich auch zweckmäßiger. Der Dolmetscher dreht, während er spricht, fort­ 76

während den Arm im Handgelenk herum und kokettiert auf diese Weise mit der Armbanduhr, die er wohl noch nicht lange besitzt. Unter den Besuchern, die zu den Ordonnanzen kommen, ist ein Frauenzimmer analog der deutschen »Wehrmachtshelferinnen«, mit grüner Uniformjacke und roter Mütze. Sie ist zwar harmlos, aber impertinent und kann es sich nicht versagen, die Treppe hin­ auf zu laufen und mit kriegerischem Ungestüm auch in dem Zim­ mer herumzuspionieren, in dem meine Frau liegt. Das Schreck­ lichste an dieser Person ist ihre harte, klanglose Stimme. Mir fällt auf, daß keines dieser Mädchen, von denen ich mehrere auf der Straße habe radeln sehen und dabei lachen hören, eine angeneh­ me Stimme hat. Als wir Wasser holen, sieht sich Frau Weyth ihr Behelfsheim an. Ich werfe einen Blick hinein: Türen aufgebro­ chen, drinnen alles wüst auf einen Haufen geworfen, Geschirr, Betten, Vorhänge, das meiste zerbrochen, zerrissen. Um die Zeit, da ich zu verdunkeln pflege, entsteht Lärm im Gar­ ten. Das sind an die zehn Burschen, neue Gesichter, die Wasser zum Trinken verlangen. Ich gehe in den Keller und hole ihnen welches von unserem Vorrat. Sie sind soeben aus Berlin zurück­ gekommen und wollen nun wissen, wie weit das weg ist. Zwanzig Kilometer bis zum Zentrum - das befriedigt sie. Wie alle Soldaten aller Nationen vergewissern sie sich am fremden Ort zuerst dar­ über, wieweit sie hinter der verdammten Front sind. Einer nach dem anderen verläßt den Garten wieder, bis auf ei­ nen mit Mongolengesicht. Der will, obwohl er gerade noch ganz freundlich mit mir gesprochen hat, durchaus ins Haus und räu­ bern. Das gehört eben dazu, das ist ganz selbstverständlich und kann der Freundschaft keinen Abbruch tun. Plötzlich steht der Posten des Kommissars auf der Treppe. Er sagt ein einziges Wort, das ich nicht verstehe. Fast flüsternd sagt er es. Der Mongole wie­ derholt es halb fragend. Eine Sekunde noch steht er da, dann gibt er sich einen straffen Ruck in den Schultern und macht kehrt.

3. Mai, Donnerstag.

Der Morgen verfliegt wie immer: mit leerem Getöse, wesenlos. Das Wetter ist wärmer, aber für die Jahreszeit weiterhin zu kalt. Der Kommissar sitzt wieder an dem kleinen Schreibmaschinen­ tisch und liest Zeitungen. Er liest viel in seinen Zeitungen. Die an­ 77

deren lesen allesamt gar nicht. Sie sitzen um den polierten Wohn­ zimmertisch und reinigen ihre Gewehre und Pistolen darauf. In unserem Schlafzimmer hat seit der ersten Nacht niemand mehr geschlafen. Vielleicht soll das eine stillschweigende Einladung für meine Frau und mich sein, wieder dort einzuziehen. Ich nehme mir vor, noch einen Tag zu warten und dann nachzuforschen. Wenn sie länger hier bleiben, wird sich manches regeln lassen. Unausgesetzt lassen sie das Grammophon spielen. Unser Stau­ nen war groß, als wir entdeckten, daß es gar nicht Manfreds Kof­ fergrammophon ist, das sie benutzen. Das steht unangetastet im Schrank und der Schrank ist abgeschlossen. Es ist der gleiche Ap­ parat wie Manfreds, sie haben ihn also irgendwoher mitgebracht. Heute hatte der Bäcker für einen Teil der Bevölkerung wieder Brot. Wieder ein Drittel eines vierpfündigen Laibes. Er bäckt aus eigener Initiative, aus den Vorräten, die ihm geblieben sind. Er ist ganz allein in seinem Betrieb. Die Leute standen seit dem frühen Morgen vor seinem Laden. Ab und zu kamen Russen und holten sich aus der Schlange Männer zur Arbeit. Nach zwölf Uhr wurde bekannt, daß der Kommissar mit sei­ ner Truppe in zwei Stunden abrückt. Also doch. Ich habe ihn ge­ beten, mir für weitere Fälle einen Schutzbrief oder ein Empfeh­ lungsschreiben auszustellen. Er hat sich erst sehr sorgfältig meine Personalien notiert. Der Sanitäter ist noch einmal dagewesen, hat den verletzten Fuß meiner Frau mit Jod bestrichen und den Verband erneuert. Drei Uhr. Allgemeiner Abschied. Der Kommissar hat das Em­ pfehlungsschreiben vergessen, aber sein Adjutant denkt daran. Er schreibt es. Der Abschied vollzieht sich in zivilen Höflichkeitsfor­ men. Einzig die junge Frau Peiker behauptet nachher, einer der Offiziere habe sie noch auf die Couch werfen wollen und sei bö­ se gewesen, weil sie sich wehrte. Ich habe nur bemerkt, daß er die Uhr in der Diele nach russischer Zeit stellte, als er wegging. Die Autokolonne war noch nicht ganz abgefahren, als von al­ len Seiten die Bewohner in die Häuser zurückeilten, die sie hatten verlassen müssen. Die meisten haben keine Betten mehr. Wer be­ sonderes Pech hatte, findet alles Mobiliar zertrümmert. In vielen Häusern sind sogar die Fenster und Türrahmen herausgerissen. Um das ehemalige Gemeindehaus hat sich noch immer keine Instanz gekümmert. Aber die Soldaten haben sich seiner, ohne zu wissen, welchem Zweck es diente, gründlichst angenommen. Es 78

sieht darin aus wie nach einem Erdbeben - oder um mich zeitge­ mäßer auszudrücken, wie nach einem Bombenangriff.

4. Mai, Freitag.

Hämmern und Klopfen, Eimer rasseln und scheuern in der ganzen Gegend. Das Letztere auch bei uns. Vor Schlimmerem hat Gott uns bewahrt. Wieder Wanderer von und nach Berlin. Die einen sagen: Hier draußen kann man wenigstens atmen, keine Schutthaufen wie in Berlin. Die andern: Wir dachten hier draußen wäre es ruhiger, nein, da gehen wir wieder zurück. Viele haben hier auch Grund­ stücke und wollen nur sehen, was davon geblieben ist. Mehr oder weniger tragen sie alle Spuren der Gewalttätigkeit, umgebroche­ ne Zäune, zerstampfte Kulturen, aufgebrochene und verwüstete Lauben. Eine Auslese von Gerüchten: In Charlottenburg sind die Ame­ rikaner; die Amerikaner sind bis Potsdam; bis Brandenburg. Im Bunker am Anhalter Bahnhof waren während der Kämpfe zehn­ tausend Menschen zehn Tage lang zusammengepfercht. Sie beka­ men nur ein einziges Mal eine dünne Suppe und einmal etwas Hundekuchen, da war ein Mann, das hat einer »selbst gesehen«, der hatte noch in der Tasche davon; in Charlottenburg haben die Russen die Frauen in den Kellern ausgezogen und sie nackt über die Straße getrieben; in Steglitz hat die SS einen deutschen Sol­ daten erhängt, unter der Leiche hängt jetzt noch ein Zettel: »Ich war zu feige, für Frau und Kind ...«, nach einer anderen Version: »... für Deutschland - zu kämpfen«; am Bahnhof Friedrichstra­ ße ist eine ganze Reihe Gehängter mit ähnlichen Zetteln, erst die Russen haben die Leute abgeschnitten; Hitler hat sich erschossen; ist erschossen worden; ist mit einer Flakgranate in die Luft ge­ sprengt worden; Goebbels hat seine ganze Familie und dann sich selbst vergiftet; es kommen schon deutsche Soldaten nach Hause; in Neukölln ist gar nichts passiert, Stalin hat gesagt, in Berlin darf nicht eine einzige Frau vergewaltigt werden. In dieser ganzen Flut von Gerüchten finde ich nicht eines, das wie es doch eigentlich der noch in den letzten Monaten bestehen­ den Geistesverfassung der Masse entspräche - Hoffnung auf ein deutsches Wunder »fünf Minuten nach zwölf« enthält. 79

Ab und zu tauchen wieder Verdiale Operngestalten auf: rus­ sische Soldaten, die wie Marodeure aussehen und auftreten. Ei­ ner, der in der ganzen Gegend gesehen wird, ist besonders schön: baumlang, schwarzer, straffer, nach den Seiten stehender Schnurr­ bart, starkes, breites Kinn, strahlende Augen, Phantasiemütze, Mantel bis zu den Stiefelspitzen, in der Rechten einen deutschen Offiziersdegen. Dieser Degen ist nicht nur ornamentales, sondern auch ein praktisches Requisit: Er sticht damit in die Erde der Gär­ ten, wie ein Wünschelrutenjäger mutet er an, und wo er auf Wi­ derstand stößt, beginnt sein Begleiter, ein ehemaliger »Ostarbeiter Sauckelscher Prägung« mit dem Spaten nach vergrabenen Schät­ zen zu wühlen. Im Garten des ehemaligen Gemeindehauses ist er eifrig tätig, immer tiefer wird das Loch, immer mehr fliegt heraus - Akten, Hitlerbilder. Der Verdische spießt Hitler mit dem Degen auf, aber er ist gewaltig enttäuscht, nicht Besseres zu finden und verläßt den Platz, um einen anderen zu suchen. Die vier Russen, die am Nachmittag bei uns Einlaß begehren, verscheuche ich ohne Zwischenfall mit dem Schutzbrief, den der Stab des Kommissars mir ausgestellt hat. Nur zwei von ihnen scheinen ihn wirklich gelesen und verstanden zu haben. Der Verdische mit dem Degen hat auch in meinem Garten her­ umgespurt und dabei eine Lilie zerstochen. Meine Frau hatte öf­ ters die Absicht geäußert, etwas »einzubuddeln«. Ich war dagegen. Schon deshalb, weil ich mir sagte, daß die Russen auf dem Weg nach Berlin genügend Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt haben müssen. Natürlich entgeht ihnen manches, weil sie schließ­ lich nicht jeden Meter Boden umgraben können. Aber da muß man recht viel Glück haben. Es ist wieder sauber in unserer Wohnung, und wir sind wieder eingezogen. Gegen Abend ist endlich auch die Ärztin, Frau Reichauer, er­ schienen. Sie hat den Fuß meiner Frau untersucht; der Knöchel ist angebrochen. Wir sollen Gips beschaffen und meine Frau dann zu ihr hinbringen, damit sie für etwaige Fälle einen Gehverband machen kann. Ins Haus kommen könne sie nicht mehr, behaup­ tet sie. Sie spricht davon, daß die Ernährung schwierig werde, weil die Russen das Korn von den requirierten Kühen abfressen lassen. »Also deshalb?« frage ich lächelnd. Ich denke, Frau Dr. Reichau­ er ist, wenn auch vielleicht nicht eine ganze, so doch wohl eine halbe Nationalsozialistin gewesen. Aber es gibt sonst leider kei­ 80

nen Arzt mehr hier außer dem Leiter des sogenannten PrießnitzKrankenhauses, der nicht praktiziert. Ich fürchte, unter den ob­ waltenden Verhältnissen wird die Fußgeschichte meiner Frau eine verpfuschte Sache sein und bleiben. Sie hätte vier Wochen ruhig liegen müssen, und wie wäre das möglich gewesen? Außerdem wird sie, so wie ich sie kenne, die Hauswirtschaft wieder selbst übernehmen, sobald sie nur unter halben Schmerzen wieder ste­ hen und gehen kann. Sie täte es schon in normalen Zeiten, und gar heute - ich muß selbst gestehen, die Art der Wirtschaft, die die Breslauer Flüchtlinge führen, kann ich nicht mehr lange mit an­ sehen. Dazu dieses abscheuliche Zigeunerkind, dessen zerstöreri­ sches Treiben überhaupt nicht gesteuert wird. Wenn ich etwas sa­ ge, heißt es mit einer abgründigen Logik: »Ach, die Russen haben so viel kaputt gemacht...« Und von dieser sonderbaren Logik ab­ gesehen, haben die Russen in unserem Haus nur zwei Teller und eine Kaffeekanne zerbrochen. Abend. Ganz still und mild. Selten ein Fetzchen Geschrei oder ein Schuß, der nichts mit Krieg zu tun hat, sondern mit der rus­ sischen Freude am Knall. Kleine Wölkchen am Himmel und ein langer, feuriger Sonnenuntergang. Im Garten stehen Tulpen und Goldlack in verschwenderischer Blüte. Aber man hat die Fähigkeit, zu genießen, verloren. Zwölf Tage bin ich nicht aus den Kleidern herausgekommen, habe ich nicht eine einzige Zeile lesen können. Ich habe viel erlebt, aber ge­ lebt habe ich nicht. Unterdessen hat sich die Zeitgeschichte fern von mir abgerollt gerade das, auf dessen Erlebnis ich brannte. Ob die wenigen Nachrichten, die ich von den Russen hörte, stim­ men, weiß ich nicht; aber auch wenn sie stimmen, sind sie mir rät­ selhaft und wie von einem anderen Stern. Und jetzt, nach dem Ab­ zug der einquartierten Russen, erfahre ich überhaupt nichts mehr. Trotz aller Lüftung und Säuberung will aus einer Ecke meines Arbeitszimmers, da, wo die alten Griechen und Römer im Bü­ cherregal stehen, ein penetranter Patschuliduft nicht weichen. In dieser Ecke haben sich die russischen Offiziere morgens rasie­ ren lassen, und der Friseur konnte sie nicht aufdringlich genug parfümieren. Er hat eine Menge aus der Flasche verschüttet, aber wahrscheinlich hätte das allein nicht ausgereicht, um den nach­ haltigen Geruch zu erzeugen, wenn er nicht auch ein Päckchen Zigaretten mitparfümiert hätte. Diese Zigaretten haben sie unter dem Bücherregal liegen lassen. Es sind die einzigen original rus­ 81

sischen, die ich von ihnen zu sehen bekam; sie rauchten nur die deutschen Kriegszigaretten, von denen sie unzählige Schachteln erbeutet hatten. Außer den duftenden Zigaretten haben sie in meinem Ar­ beitszimmer eine Photolinse, einen Doublé-Ring, zwei SowjetKokarden und eine Anzahl Grammophonplatten liegen lassen, fast durchweg primitive Tanzmusik, mit Ausnahme von zwei­ en. »Freunde vernehmet die Geschichte« aus dem Postillon von Lonjumeau und dem Czárdás aus dem »Coppélia-Ballett« von Delibes. Beide völlig abgespielt. Dafür fehlen drei unserer guten Platten, darunter, was mich sehr ärgert, Fritzi Massary mit dem Weibermarsch aus der »Lustigen Witwe«. Im übrigen fehlten nur noch der Füllfederhalter meiner Frau und ein Hausschlüssel. Den Wintergarten haben sie nie betreten, außer am letzten Tag, als sie hier hinausgingen, um sich auf dem Rasenplatz vor dem Hause photographieren zu lassen. Gnädig davongekommen, sagen wir und danken Gott.

5. Mai, Samstag. Ununterbrochen sind jenseits der Bahn Panzer über die Heer­ straße durch die Nacht gerollt. Von Berlin. Nach Süden. Zum Feldzug gegen Süden. Sudeten und Prag, denke ich. In Mahlow jenseits der Bahn wimmelt es noch immer von Trup­ pen, die zum Teil zum Bestand des sehr umfangreichen Feldla­ zaretts gehören. Ein Major, von dem die einen behaupten, er sei Arzt, die anderen, er existiere überhaupt nicht, soll das Amt eines Kriegskommandanten versehen. Es hat sich nichts ereignet bis Nachmittags. Als ich mit der Frau Weyth Wasser hole, kommen wir an einem Garten vorbei, in dessen Laube Leute aus Berlin wohnen. Ein Russe, der ein Fahr­ rad hat, verhandelt mit drei Frauen am Zaun. Ich höre, daß er ein zweites Fahrrad haben will. Die Frauen sagen, die Räder sei­ en längst alle gestohlen. Wir gehen weiter und sehen, uns um­ blickend, daß der Russe auf sein Rad steigt und hinter uns her­ fährt. Er ist angetrunken und schwankt ein wenig. Als wir durch unsere Gartentür wollen, ruft er: »Pan, komme mit.« Ehe ich das Tor schließen kann, hat er sein Fahrrad hineingezwängt. Ich zie­ he den Schutzbrief aus der Tasche. Er versucht zu lesen, und ich 82

bin nicht sicher, ob er mehr entziffern kann als das Wort »Kom­ mandant«. Aber er lacht und sagt: »Gutt.« Er blutet am Finger, das Blatt ist schon besudelt, außerdem fängt es an zu tröpfeln und der Tintenstift, mit dem der Schutzbrief geschrieben ist, droht zu zerlaufen. Ich rette ihn in meine Tasche und warte darauf, daß der Bursche geht. Aber er lacht noch immer, schmeißt sein Rad wieder in die Blumenrabatte und behauptet, es sei defekt. Ich soll Werkzeug holen, um es zu reparieren. Nun hat er plötzlich ein Pistölchen in der Hand. Als ich ihm endlich klar machen kann, daß ich von Fahrradreparatur durchaus nichts verstehe, kommt er wieder auf die Idee, ein weiteres Fahrrad zu verlangen. In sei­ nem Rausch - die Menschen sind merkwürdig - fühlt er, daß er für dieses Verlangen eine Erklärung schuldet. Er will mir also das Märchen aufbinden, er benötige das zweite Rad für einen verwun­ deten Leutnant, den er transportieren müsse. Dazu kann er auf einmal mehr deutsch als vorher. Ich schüttle den Kopf, da sagt er: »Ich suchen.« Bedauerlicherweise hat die Frau Weyth, die in­ zwischen einen Eimer Wasser hineingetragen und sich verflüch­ tigt hat, die Hintertür zum Keller offen gelassen, und schon steht der Bursche drin. Ich kann ihn nicht hindern, Manfreds Fahrrad herauszuholen. Ich will es auch gar nicht. Erstens ist es so defekt, daß der Bursche nichts damit anfangen kann. Zweitens habe ich keine Lust, mich mit einem betrunkenen Strolch zu zanken. Drit­ tens denke ich: Wahrscheinlich werden die Fahrräder eines Tages ohnehin abgeliefert werden müssen, dann erspare ich mir, wenn er es mitnimmt, die Mühe, es zur Ablieferungsstelle zu schieben. Wenn er nur rasch damit verschwände! Aber der Bursche will Zange, Schraubenzieher und Luftpumpe, um an dem Rad herum­ zumurksen. Endlich, als er sieht, daß es nur noch defekter davon wird, fährt er beide Räder - das erste hat er auch schon zuschan­ den gefahren - und torkelt, überall anstoßend, hinaus. So, sage ich hinter ihm her, du warst der letzte. Von jetzt an werde ich ge­ gen jeden Raub Widerstand leisten. Und dann fällt mir ein, daß wieder Samstag ist. Das scheint unser Tag zu sein. Vor acht Tagen der Moskauer »Held der Sowjetunion«, der die Koffer und vor al­ lem die Schuhe fortschleppte, deren Verlust am schwersten wiegt. Dabei ist keineswegs sicher, daß er damit die zerlumpten und ver­ elendeten Landsleute, die Hitler hierher verschleppen ließ, be­ glückt hat. Wieviele solcher Kleidungsstücke liegen überall zer­ fetzt auf den Feldern! 83

Die meisten Bewohner der Burgsdorfstraße sind den ganzen Tag über unterwegs gewesen, um ihre Betten, ihr Geschirr, ihre Stühle, Tische und Teppiche zu suchen, die, wenn sie nicht ver­ feuert worden sind, zum Teil in dem Wäldchen zwischen hier und dem alten Dorf Mahlow herumliegen. Die Zivilisten nehmen sich, was sie finden, und machen nicht alle den Versuch, zwischen Mein und Dein zu unterscheiden. Im übrigen behauptet jeder, dies und das sei sein Eigentum gewesen. Als ich an unserem Gar­ tentor eine Latte festnagele, kommt jemand daher und sagt: »Sie haben meinen Eimer auf der Karre, ich kenne ihn, er war mit Far­ be beschmiert.« Herr Gollwitzer aber meint, er habe den Eimer vom Wald hierher gefahren, und Frau Weyth könne nicht erwar­ ten, daß er ihn dann vor ihrer Tür absetze. Es wird erzählt, eini­ ge Mahlower Bezirke hätten Obleute gewählt, die die Verbindung zum sagenhaften Kommandanten herstellen sollen. In unserem abgelegenen Bezirk wird nichts davon bemerkt.

6. Mai, Sonntag.

Die frühere »Gemeindeobersekretärin« Krüger, die wir die »Bürgermeisterin« nannten, ist mit einigen anderen früheren Ge­ meindeangestellten in das Gemeindehaus gegangen, um aus den Verwüstungen Listen und Kartotheken zu retten. Mich wundert es nicht mehr, wenn sie das Heft wieder in die Hand nimmt. An­ geblich will sie die Verteilung der Lebensmittel an Hand der alten grünen Haushaltskarten gemeinsam mit den Kaufleuten regeln. In dem Schuppen hinter dem Gemeindehaus, wo die Italiener geschlafen haben, sind mehrere große Radioempfänger entdeckt worden, die die russischen Soldaten dorthin verschleppt haben. Wahrscheinlich befanden sie sich dabei in einem Zustand, der sie nicht wissen ließ, was sie taten. Am Nachmittag erschien ein Mann in Eisenbahner-Uniform mit einer Liste, der auf meine Frage nach der Art der Eintragung in preußischem Kasernenton antwortete. Ich drehte mich um, sah in sein sonnenverbranntes Gesicht, aus dessen verbissenen Zü­ gen der grundsätzliche Fanatiker sprach, und fragte: »Haben Sie den Ton noch aus der Nazizeit behalten?« Darauf ändert sich sein Blick und er gibt mir Auskunft: Wir haben einen anderen Bür­ germeister, Herrn Nolte aus Glasow, dem mit Mahlow in der Ver­ 84

waltung verbundenen Nachbarort; stellvertretende Bürgermeister sind die Herren Milling und Heyne aus Mahlow. Ich kenne natür­ lich niemanden davon. Der Mann vor mir heißt Krunitz und ist Obmann für unseren Bezirk, der die Ziffer III trägt. Zum Zeichen dessen hat er eine weiße Armbinde mit einem schwarzen »K« darauf. »Die Geschäftsstelle der Partei ist Tauentzienstraße 43«, sagt er. »Der Partei« - da es vorher die nationalsozialistische war, kann es jetzt nur die kommunistische sein. Gut; es scheint sich al­ so endlich etwas zu kristallisieren. Krunitz trägt die Hausbewoh­ ner in die Liste ein - mit dem Namen der jeweiligen Väter; denn die Russen wollen immer den Namen des Vaters wissen, als habe überall Bedeutung, was in ihrem Land Bedeutung hat -, Krunitz kontrolliert und unterschreibt die alten grauen Haushaltsauswei­ se, Krunitz verabschiedet sich so herzlich von mir, wie es einem Mann seines Schlages möglich ist. Auch er hat seine Erfahrungen mit russischen Soldaten hinter sich. Immer wieder fahren Wagen vorbei, die aus den von ihren Be­ wohnern im Stich gelassenen Häusern Hausrat aller Art heraus­ holen. Die Soldaten sind jetzt von Zivilisten aus den Auffangla­ gern für ausländische Arbeiter begleitet.

7. Mai, Montag.

Ich habe die »Geschäftsstelle der Partei« aufgesucht. Äußerlich war sie nicht gekennzeichnet. Ich habe eine halbe Stunde in ei­ nem Vestibül unter Leuten gewartet, die irgendwelche Personal­ ausweise wollten, Wohnungswünsche hatten oder einer Auskunft bedurften. Die Männer mit den K-Armbinden gingen geschäf­ tig ein und aus. In dem Büro saß eine Angestellte der ehemaligen Gemeindeverwaltung, sonst niemand. Ich bin wieder gegangen, nachdem ich einen Blick hineingeworfen hatte. Die wartenden Leute stammten zum Teil von Gutshöfen der Umgegend. Sie erzählten einander, wieviele Hühner die Russen geschlachtet, wieviel Kühe und Pferde sie fortgetrieben, wieviel Speck und Eier sie in den Dreck geschleudert hätten und welches Schicksal jenen Verwaltern bereitet worden war, die ausländische Arbeiter schlecht behandelt hatten. Nachher habe ich die Wohnung des stellvertretenden Bürger­ meisters Milling aufgesucht, weil sie an meinem Rückweg lag. Ich 85

habe Herrn Milling nicht angetroffen. Er ist Tischler und Sarg­ tischler von Mahlow. Wir hatten nie mit ihm zu tun. Denn wäh­ rend des Krieges einen Handwerker für Reparaturen zu bekom­ men, war unmöglich. Manchmal ging es, wenn man Schnaps oder Butter und Speck im Hause hatte. Herrn Milling will ich damit aber keinesfalls zu nahe treten. Wir haben wirklich einen Kommandanten! Er hat einen »Befehl Nummer 1« an die Bäume nageln lassen: Ausgehverbot nachts; strenge Verdunkelungspflicht; Ablieferung von Schreibmaschinen und Radioempfängern und Sendern binnen 3 Tagen; und ande­ res Kriegsübliche. Wir haben zwar ohnedies keinen elektrischen Strom, trotzdem halte ich die Ablieferungspflicht der Radioemp­ fänger für unsinnig. Die Alliierten sollten das größte Interesse daran haben, die Bevölkerung mit ihren Nachrichten zu versor­ gen. Die Russen haben offenbar gar kein solches Interesse. Sie sind seit vierzehn Tagen hier und sagen uns gar nichts. Um das alte Gemeindehaus kümmert sich weiterhin niemand. Die »Bürgermeisterin« Krüger geht fortgesetzt dorthin im Ge­ fühl der Hausherrin und ihrer Unentbehrlichkeit. Dagegen ver­ lautet, daß der frühere Bürgermeister Hagena verhaftet worden sei, ebenso der alte Amtsvorsteher und Polizeichef Sternberg, der die Volkssturm-Kompanie II. Aufgebot befehligte, sich aber, als er merkte, wie die Hasen liefen, dort kaum öfter blicken ließ als ich.

8. Mai, Dienstag.

Die Genesenden aus dem Lazarett haben Ausgang. Viele von ihnen sind beim Plündern infolge ihrer Verwundung zu kurz ge­ kommen und wollen es jetzt nachholen. Ich sehe sie in mehrere Häuser eindringen. Bei uns hilft der Schutzbrief. Der stellvertretende Bürgermeister Milling hat mit der Krüger das alte Gemeindehaus besucht. Er kam nachher an unser Gar­ tentor und sagte, der Kommandant wolle, daß die Amtsstellen wieder dort eröffnet würden, wo sie vorher gewesen seien; daher habe man die Absicht, die Gemeindeverwaltung mehr zentral in das Haus des ehemaligen Amtsvorstehers Sternberg zu legen, auf­ geben müssen. Hier werde nun die Amtsstelle für Mahlow sein, der Bürgermeister Nolte werde in Glasow amtieren. Das Gemein­ dehaus solle morgen früh gereinigt werden, er brauche die Män­ 86

ner aus der Straße zum Wassertragen. Ich sagte selbstverständlich zu. Ich bin entschlossen, die Gelegenheit wahrzunehmen, um ge­ gen die Wiedereinsetzung von der Krüger zu protestieren, selbst auf die Gefahr hin, daß Herr Milling ohne sie nicht nach dem ein­ gefahrenen, sondern nach einem improvisierten Schema sein Amt verwalten muß. Ich gehe in den Ortsteil jenseits des Bahnhofs, um mich zu er­ kundigen, ob eine Verordnung Nummer 2 erschienen ist. Nein. Aber in der Trebbiner Straße, die zur Lazarettstraße geworden ist, hat man am Eckhaus des Schlächters Beo einen mit Akkumulator gespeisten Lautsprecher angebracht. Es grölt unentwegt daraus. Für Schwerverwundete, deren einige gerade auf Bahren über die Straße getragen wurden, muß das ein wahres Labsal sein... Ich sehe viel Schmutz in der Lazarettstraße. Abgerissene blutige Ver­ bände liegen in Mengen herum. Stroh, Matratzenteile, alte Schu­ he, Pferdekot. In den Höfen und Gärten aller Häuser ein Treiben wie hinter einem Zirkuszelt. Die Frau Ammert kam mit der Erzählung, seit heute früh acht Uhr sei der Krieg beendet. Deutschland und Japan hätten kapitu­ liert. Eine Eisenbahnerin habe diese Meldung aus Berlin mitge­ bracht. Ich habe die Frau Ammert ausgelacht. Schon in den letzten Tagen wurde Ähnliches erzählt. Ich hatte es gar nicht erst regi­ striert. Das Unglaubwürdige scheint mir auf der Hand zu liegen. Die Fama hat schon weitere Schlüsse daraus gezogen. Es kam jemand mit der Behauptung, morgen gebe es wieder elektrischen Strom und Wasser. »Ja«, lache ich, »Schnellzugverkehr nach allen Richtungen.« Die im Auffanglager gesammelten russischen Zivilisten treten als neue Plage auf. Es ist nicht ganz so gekommen, wie viele Deut­ sche vorausgesagt hatten: daß die ausländischen Arbeiter, wenn es zum Ende ginge, über Stadt und Land herfallen würden. Das »Ende« hat andere Formen angenommen. Aber jetzt, nachträg­ lich, werden noch einige der Befürchtungen wahr. Die Auslän­ der nehmen sich die Sachen, wie sie ihnen abgenommen wurden. Freilich nicht in Massen, sondern einzeln. Gewöhnlich haben sie einen angetrunkenen Soldaten bei sich, vielleicht Wachmann­ schaften aus dem Auffanglager. Bei Herrn Otto haben sie die Fen­ ster zertrümmert. Herr Otto ist auf die Idee gekommen, eine Ab­ wehr zu organisieren. Er will, daß sobald wer ins Haus eindringt, die gesamte Nachbarschaft auf die Straße läuft und schreit: »Hil­ 87

fe, Kommandant!« Die Russen sollen dann glauben, es sei jemand zur Kommandantur gerannt, um eine Patrouille zu holen. Ich ha­ be Herrn Otto gesagt, das sei eine zweischneidige Waffe, die Rus­ sen könnten das als Bedrohung auffassen. Herr Otto hat aber er­ widert, es habe bereits in einigen Fällen geholfen. Bei uns ist von diesen neuen Plünderern niemand gewesen. Als ich wieder einmal über das Gartentor schaute, kamen von dem dem freien Felde zugekehrten Ende der Burgsdorfstraße vier Leute. In der Mitte ein langer, hagerer Mann, den ich schon in Parteiuniform gesehen hatte, ein Herr Fritsche, der im letzten Haus rechts wohnt. Bei ihm ein Soldat mit roter Armbinde, ein deutscher K-Mann und eine russische Frau. Währenddem stür­ zen wieder Leute auf die Straße und schreien: »Hilfe, Komman­ dant!« Ich sehe zwei Russen, die in ein Haus wollen. Jetzt rufen sie aufgeregt: »Was ist Hilfe? Was soll?« Die Russin mischt sich ein, sie spricht deutsch: »Ihr dürft euch nicht auf der Straße zusam­ menrotten!« Genau das, was ich Herrn Otto prophezeit habe. Es geht noch einmal gut, nach längerem Geschrei entfernen sich die beiden, die in das Haus wollten. Der Zug mit Herrn Fritsche geht weiter dem Bahnhof zu. Ich erfahre: Herr Fritsche ist »zur Feststellung seiner Personali­ en« zur Kommandantur gebracht worden. Mir ist klar, daß Herr Pg Fritsche so bald nicht wiederkehren wird.

9. Mai, Mittwoch. Den ganzen Abend dröhnt aus russischen Lautsprechern Mu­ sik, so daß wir in der Nähe eines Jahrmarktes zu sein glauben. Gegen 2 Uhr in der Nacht wurden wir durch Schüsse geweckt. Wir lauschten: Zuerst waren es einzelne Schüsse, die erwidert zu werden schienen. Dann war eine Weile Stille, darauf ging es von neuem los. Ich trat ans Fenster, um die Richtung festzustellen, aus der das Feuer kam. Es war mir nicht möglich. Aus Erfahrung weiß ich, daß in unseren Zimmern alle Geräusche von draußen täu­ schen. Den Fensterladen konnte ich nicht öffnen, weil meine Frau ängstlich war. Die Geschichte hört sich vielleicht verdächtig an, und ich begann schon, mich mit dem Gedanken vertraut zu ma­ chen, in Mahlow hätten sich nationalsozialistische »Werwölfe« zu­ sammengerottet. Plötzlich artete die Schießerei in Schnellfeuer 88

aus. Nun krachte es offenbar aus verschiedenen Richtungen. Mei­ ne Frau stand auf, um sich anzukleiden. Inzwischen ging ich hinauf ins Badezimmer, dessen Fenster zum Bahnhof hingeht. Dort hörte ich, was man unten nicht hören konnte: eine Stimme aus dem Laut­ sprecher, die mit besonderer Intensität etwas verkündet. Nach je­ dem Satz Gewehr- und Pistolensalven. Jetzt gingen auch gelbe und grüne Leuchtkugeln hoch. Als die Stimme schwieg, kam aus dem Lautsprecher Musik - so feierlich, wie ein solch rohes Instrument sie wiederzugeben vermag. Ich unterschied die russische, engli­ sche, amerikanische, französische Nationalhymne und ging hin­ unter, um meine Frau zu beruhigen, die am Treppenabsatz wartete. »Diesmal«, sagte ich, »scheint an den Gerüchten etwas wahr gewe­ sen zu sein, jedenfalls ist etwas geschehen, was Freudenausbrüche hervorgerufen hat, und das muß mehr sein als die Kapitulation ir­ gendeiner noch so bedeutenden Stadt.« Vielleicht, dachte ich, ha­ ben die Alliierten, wie sie Anfang April ankündigten, den organi­ sierten deutschen Widerstand durch eine einseitige Erklärung als beendet proklamiert. Das würde bedeuten, daß weiterkämpfende Truppen als irregulär betrachtet und behandelt werden. Das Ge­ knalle ging noch lange weiter, wir schliefen darüber ein. Morgens um 9 gehe ich mit Eimern zum alten Gemeindehaus, um Wasser zum Reinigen hinzubringen. Wir sind im ganzen sechs Männer in der Burgsdorfstraße; einer scheidet für die Arbeit aus, weil er im vorigen Krieg einen Arm verloren hat. Von den restli­ chen fünf sind zwei über sechzig. Herr Otto und ich, fünfzig und sechzig. Herr Gollwitzer ist der einzige jüngere, aber er ist unsicht­ bar. Auch einer von denen über sechzig fehlt. Herr Otto hat schon vorher einen Bottich voll Wasser getragen, weil er in den Ort will. Es soll nämlich heute bei einem Metzger in Glasow etwas Fleisch verteilt werden. Nun ist er mit Frau Weyth hingegangen. So bleibe ich also mit Herrn Bock, unserem Nachbar linker Hand, allein. Als Herr Milling erscheint, frage ich ihn sofort nach der Bedeutung des nächtlichen Saluts. Er weiß nichts. Er hat we­ der den Lautsprecher noch das Schießen gehört. Dabei wohnt er ganz in der Nähe. Müssen die Leute einen Schlaf haben! Sie inter­ essieren sich auch für nichts. Und Herr Milling ist stellvertreten­ der Bürgermeister! Er kennt nur Stalins Proklamation zum 1. Mai, die den, wie er sagt, »schwerwiegenden« Satz enthält, Deutsch­ land müsse die von ihm angerichteten Schäden wieder gut ma­ chen. Herr Milling hat am Rockaufschlag sein Ordensbändchen 89

aus dem vorigen Krieg. Ich nehme nicht an, daß er Kommunist ist. Vielleicht war er Demokrat. Wenn er nicht als heimlicher Geg­ ner der Nationalsozialisten im Ort bekannt gewesen wäre, hät­ te man ihn jetzt wohl nicht mit einem Amt bedacht. Allerdings macht mich wiederum die Anwesenheit der ehemaligen »Oberse­ kretärin« Krüger und der meisten früheren Gemeindeangestellten stutzig. Fräulein Krüger hat, wenn auch nicht immer, das Partei­ abzeichen getragen. Wenn jemand »Guten Morgen« sagte, pfleg­ te sie zu erwidern: »Der deutsche Gruß heißt Heil Hitler.« Sie hält sich an diesem Morgen ein wenig abseits, nachdem ich zu Herrn Milling gesagt hatte: »Ich bin der einzige, der von Ihren Wasser­ trägern übrig geblieben ist. Ich mache es umgekehrt wie die Leu­ te, die bisher für die Nationalsozialisten gearbeitet oder noch lie­ ber andere zur Arbeit für die Nazis gepreßt haben.« Herr Milling hat darauf geschwiegen. Ich weiß nicht recht, wes Geistes Kind er ist. Jedenfalls muß ich den Protest gegen Fräulein Krüger an an­ derer Stelle vorbringen. Daß ich allein übrig blieb, kam so: Während ich mit Herrn Bock zur Pumpe ging, heizte ich ihm tüchtig ein. Herr Bock war ein »Heil-Hitler«-Mann, seine Frau war sogar Parteimitglied. Sie war beim Arbeitsamt in Zossen und vergab dort ausländische Haus­ mädchen. Nach den Aussagen der Mahlower war es ein offenes Geheimnis, daß sie die Ausländerinnen, hauptsächlich Russin­ nen, »verschob«. Gegen Kaffee, Speck, Eier, Butter. Nur gegen sol­ che Gegenleistungen erhielt jemand ein solches Hausmädchen, ei­ nerlei, ob er nach den Vorschriften eines haben durfte oder nicht. Während ich dem schweigsamen Herrn Bock von dem Schwin­ delregiment der Nationalsozialisten sprach, trat Frau Fritsche, de­ ren Mann gestern abgeführt wurde, ans Tor. Herr Bock fragte sie, ob ihr Mann zurück sei. Nein, erwiderte sie, aber sie habe erfah­ ren, daß man ihn nach Berlin-Lichtenrade gebracht habe, wo er an der Bahn arbeiten soll. Sie verstehe es gar nicht, ihr Mann ha­ be doch gar kein Amt gehabt, er sei Parteimitglied geworden, weil er als Postbeamter nicht anders gekonnt habe. »In der Hoffnung, rasch befördert zu werden«, sagte ich. »Es gab viele Postbeamte, die nicht Parteimitglieder waren. War Ihr Gatte nicht sogenann­ ter Zellenleiter? Jedenfalls hat er hier die letzte dreiste Opferspen­ de organisiert, nicht wahr?« Frau Fritsche meinte, das habe er »ge­ mußt«, freiwillig habe er es nicht getan. »Nein«, sagte ich, »wer Parteimitglied war, hat geholfen, uns ins Elend zu stürzen, er muß 90

jetzt die Folgen tragen. Erinnern Sie sich? Führer, befiehl, wir tra­ gen die Folgen.« Das ist Herrn Bock so in die Glieder gefahren, daß er plötzlich verschwand. Ich habe noch eine zeitlang allein Wasser herbeigeschleppt, und zwar darum, weil ich vor mir selbst schlecht abgeschnitten hätte, hätte ich, der ich mich bei den Nazis mit Erfolg an derlei »Arbeits­ einsätzen« vorbeigedrückt hatte, jetzt nicht anders handeln wol­ len. Dieses Wassertragen war eine unwichtige, beschwerliche und langweilige Sache, aber es erschien mir an diesem Morgen sinn­ bildlich. Es ereignete sich nichts weiter, außer daß drei Russen auf Rädern mich nach Schnaps fragten (meine Antwort, wie im­ mer: »Schnaps in Berlin!« Worauf einer: »Berlin kaputt!« und ich: »Woina auch kaputt!« und er: »Woina auch«), und daß ein vierter, der des Wegs kam, sein Fahrrad geflickt haben wollte, das er von Minute zu Minute mehr drangsalierte. Ich schickte ihn zu dem al­ ten Schäfer Prellwitz, der so etwas machen kann. Zum Glück war der Alte da, sonst wäre ich den Russen, der seinen Schnaps schon hinter sich hatte, nicht los geworden. Er bedankte sich vielmals bei mir, was er wahrscheinlich ohne den genossenen Schnaps un­ terlassen oder weniger ausgiebig getan hätte. Nachmittag zur Kommandantur, um - schweren Herzens, aber Kriegsbefehl ist Kriegsbefehl - unseren teuer erkauften PaillardRadioempfänger abzuliefern und wegen der Schreibmaschine an­ zufragen. Vielleicht kann ich erreichen, daß ich als Schriftsteller sie behalten darf. Die Kommandantur befindet sich in einem kleinen Hause in der Otto-Brandt-Straße 4. Von einem Kommandanten ist nichts zu hören und zu sehen. Auf Leiterwägelchen bringen die Leute ih­ re großen Apparate. Ein Posten sitzt am Tor. In einem Zimmer ei­ nige Leutnants mit Tscherkessenmützen, dazu eine Dolmetsche­ rin, Russin. Sie ist dick und aufgedonnert, und ich erinnere mich, sie mehrmals in der S-Bahn nach Berlin gesehen zu haben. Ihr Ton ist natürlich sehr von oben herab. Es ist nach der Verfügung der letzte Tag, an dem abgeliefert werden muß. Wenn man sich noch wundern dürfte, könnte man sich wundern, daß an diesem dritten Tag noch Unklarheit darüber besteht, ob Schreibmaschi­ nen abgeliefert oder nur registriert werden müssen. Nach einigem Hin und Her einigen sich die Offiziere dahin, daß sie nur zu re­ gistrieren sind. Das geht so vor sich: Die Dolmetscherin kramt in einer Tischschublade nach einem Papierfetzen, darauf schreibt sie 91

meinen Namen und meine Adresse. Dann schiebt sie den Wisch achtlos zu anderen Wischen, die irgendwo herumliegen und von denen ich überzeugt bin, daß sie diesen Tag nicht überleben wer­ den. Wenn ich mir die Einrichtung des Zimmers und seine Insas­ sen besehe, muß ich unentwegt an Gogols »Revisor« denken. Re­ volutionen gehen über die Völker hin, aber 2 mal 2 bleibt vier und am Grundcharakter ändert sich nichts. Die Radio-Apparate werden in einem Keller gestapelt. Da sie angeblich später zurückgegeben werden sollen, habe ich auf den Paillard achtmal unseren Namen geschrieben - trotz aller Skep­ sis. Ich habe die Dolmetscherin noch gefragt, ob er und wann der Kommandant zu sprechen sei. »Warum?« begehrt sie argwöhnisch zu wissen. Offenbar denkt sie, ich wolle mich über irgendetwas beschweren - fortgesetzt kommen Leute mit Klagen über Plünde­ rer, worauf Geschwätz und Achselzucken erfolgt. Ich erkläre, so gut es geht, daß ich den Herrn Kommandanten als Schriftsteller in eigener Sache sprechen wolle und berufe mich auf mein Buch. Die Dolmetscherin parlamentiert mit den Offizieren. Die Offizie­ re betrachten stirnrunzelnd das Buch. Ich bekomme es zurück. Die Dolmetscherin sagt: »Nix Kommandant, jetzt nix los.« Ihr Deutsch reicht gerade, um sie vollends zur Sphinx zu machen. Vollends: Denn alles Russische war, ist und wird sein eine Sphinx. Noch vor Einbruch der Dunkelheit ist am Horizont ein Freu­ denfeuerwerk farbiger Leuchtdetonationen. Vorher schoß die Flak, und wir glaubten schon, es seien deutsche Flieger in Sicht.

10. Mai, Donnerstag.

Heute ist Christi Himmelfahrt. Die Nazis hatten den Feiertag abgeschaffi. Jetzt sind die Nazis fort, wenigstens hier, über die an­ deren weiß man nichts Genaues, denn die Russen halten es nicht für der Mühe wert, die Bevölkerung über die Geschehnisse aufzu­ klären - aber der wirkliche Himmelfahrtstag wird noch lange auf sich warten lassen. Ich beseitige die letzten Einquartierungsspuren im Garten und bestelle das Land mit Bohnen, von denen wir vielleicht im Winter leben können. Das Wetter ist ungünstig, kalt und trocken, und so viele Ameisen wie dieses Jahr habe ich noch nicht gesehen. Alles deutet auf ein richtiges Hungerjahr hin. 92

Ein Russe mit verbundenem Kopf tritt ein: »Pan, wollen Blu­ men«, besonders der Goldlack und die langstieligen feuerroten Mai-Tulpen haben es ihm angetan. Er hat schon Schnur zum Bin­ den mitgebracht. Der erste, denke ich, der für so etwas Sinn hat. Dann sehe ich, daß draußen »sein« Fahrrad steht, daß er den Blu­ menstrauß an die Lenkstange bindet und daß noch andere Rus­ sen mit ebenso geschmückten Rädern durch die Straße fahren. Eine Art Blumenkorso. Wiederum bloß etwas Äußerliches, Kind­ liches, Spielerisches.

11. Mai, Freitag.

Es war nicht möglich, Gips für den Fußverband meiner Frau zu erhalten. Sie ist aufgestanden und verrichtet humpelnd die Wirt­ schaft. Ich habe geschimpft, aber vor dem einfachen Wort: »So wie bisher kann es doch nicht weitergehen« und angesichts der geräuschvollen, Wasser, Holz und Nahrungsmittel vergeudenden Breslauer Flüchtlingswirtschaft die Waffen strecken müssen. Alle Tage suchen die Deutschen auf den Feldern und in den Waldstücken herum und eignen sich, was sie dort finden, an. Leu­ te haben Sessel und Teppiche, die ihnen nie gehört haben. Vor­ nehmlich aber die hier untergebrachten Flüchtlinge huldigen ih­ rer gewonnenen Lebensanschauung des »Ote-toi de lä que je m’y mette«, auch inbezug auf die verlassenen Wohnungen und ihren Inhalt. Unsere Frau Ammert schleppt Konservengläser, Koffer, Schuhcreme, Stoffe, alte Schuhe, Besen und was immer sie findet, als ihr Eigentum ins Haus. Meine Frau hat sich neulich energisch die Auffüllung unserer Wohnung mit fremdem Plunder verbitten müssen, was die Flüchtlinge, die auf nichts und niemanden Rück­ sicht nehmen, als mangelnde Rücksichtnahme bezeichnen. Herr Gollwitzer, den ich flüchtig sah, hat mir gestanden, daß er vom Volkssturmführer Grund beauftragt gewesen sei, öfters nach mir zu sehen, weil ich so »zurückhaltend« sei. Dann fragte Herr Gollwitzer in seiner naiv-plumpen Nürnberger Art: »Wie haben Sie es eigentlich angestellt, daß Sie während der Einquartierung im Hause bleiben konnten?« Ich habe dafür gesorgt, daß er nicht klüger fortging, als er kam. Der Russe, der neulich Blumen wollte, ist wieder gekommen. Er hatte keinen Verband mehr um den Kopf und sah sauber und 93

adrett, auch gut herausgefuttert aus. In seiner Begleitung war ein russisches Mädchen, das mit dem ölig geglätteten Haar weniger sauber erschien. Wir unterhielten uns freundlich, aber seit ich weiß, daß er Blumen an der Lenkstange des Fahrrads verwelken läßt, verweigere ich ihm die meisten unter dem Vorwand, daß ich Samen daraus ziehen will. Er war so anständig, sich damit abzu­ finden. Herr Milling ist noch nicht in das gereinigte frühere Gemeinde­ haus eingezogen. Auch die »Obersekretärin« Krüger wurde nicht mehr gesehen. Die Verteilung von Brot wird jetzt amtlich, und zwar bezirksweise, geregelt. Es gab heute 1000 Gramm pro Kopf für die nächste Woche, das sind etwa drei Schnitten pro Tag. Es wäre zeitgemäß zu sagen: »Daß wir hier hungern, verdanken wir dem Führer.« Aber daran denkt kein Mensch. Immer noch steht die Tafel: »Hier spricht die NSDAP.« Manchmal erinnere ich kla­ gende Leute daran, mit wie wenigem Holländer und Belgier lange Zeit infolge der deutschen Ausplünderungen und Zerstörungen auskommen mußten. Dem eigenen Magen gegenüber will das Ar­ gument freilich wenig fruchten. In der Ferne hat heute früh eine Lokomotive gepfiffen. Daraus entsteht das lächerliche Gerücht, ab Montag sei Bahnverkehr.

12. Mai, Samstag.

Wir erörterten die Frage, ob wir unsere Sachen wieder alle an ih­ re Plätze bringen können und haben entschieden, noch ein wenig damit zu warten. Ich möchte anfangen zu arbeiten, aber ich kann nicht. Wird es überhaupt je wieder einen Sinn haben, Bücher zu schreiben? Der Patschuliduft in meiner Zimmerecke hält sich un­ verändert. Wir denken viel an unseren Manfred. Wo mag er sein? Im Ortsteil jenseits des Bahnhofs ist Ruhe eingekehrt, nachdem die meisten Truppen abgezogen waren.

13. Mai, Sonntag.

Der Vater der bei uns einquartierten Frau Siegel ist aus BerlinFriedenau gekommen, vier Stunden zu Fuß und wieder vier Stun­ den zurück, und berichtete, daß Keitel, Friedeburg und Stumpff 94

am 8. Mai die bedingungslose Kapitulation unterschrieben hätten und daß heute feierlicher Einzug der Alliierten in Berlin sei. Ob das authentisch ist, steht dahin. Am Nachmittag erschien ein Russe mit einem etwas deutsch­ sprechenden Polen, um Männer für zwei Stunden zur Arbeit zu holen. Daß erste Mal, daß sie welche aus unserer abgelegenen Straße holten. Wir waren vier: Quandt, Bock, Gollwitzer und ich. Es handelt sich darum, in dem um die Post herumgelegenen La­ zarett-Teil Wege und Klosetts zu säubern. Es sah unbeschreiblich unhygienisch dort aus. »In zwei Tagen weg«, sagte der Pole. Alles Militär ist sich gleich: Wenn eine Truppe wegkommt, fängt sie an, zu säubern. An der Fassade der ehemaligen Post prangt farbig Sta­ lins Bild. Rechts und links rote Streifen mit Spruchbändern. Als wir um 7 Uhr mit der Arbeit fertig waren - die Klosettsäu­ berungsaktion führte ich nach meinen im vorigen Krieg gelern­ ten Methoden an, immerzu von außen Eimer voll Wasser hinge­ klatscht -, bettelte ausgerechnet Herr Bock den Polen um Brot an. Herr Bock hat noch bis vor kurzem Russen in seinem Garten ar­ beiten lassen, und wenn sie Essen haben wollten, gesagt: »Wir sind ja keine Bauern, wir haben selber nichts.« Herr Bock hat von dem Polen kein Brot bekommen. Das hängt aber damit zusammen, daß die Zeiten vorüber sind, in denen die Russen Brot verschen­ ken konnten. Ich habe ihre flaue Zeit ja kommen sehen. Wenn sie jetzt in die Häuser eindringen, plündern sie nicht mehr Uhren, sondern Brot und etwa noch vorhandene Lebensmittel.

14. Mai, Montag. Bei Heß, uns schräg gegenüber, sind wieder Russen. Die Haus­ besitzer wohnen noch nicht wieder dort. Nur ihr Hausmädchen hält sich dort auf. Sie verhandelt lebhaft mit den Russen und kommt, als sie weg sind, jammernd auf die Straße: »Immerzu suchen die Russen im Garten, da hat Herr Heß doch viel Wein und Schnaps vergraben.« Aha. Dieses Mädchen hat, wie sie sonst auch sei, jedenfalls drei schlechte Eigenschaften. Sie ist rothaarig, spricht »Dieringer« (Thüringer) Dialekt und heißt Anna. »Sagen Sie Herrn Heß, wenn er nicht dafür sorge, daß dieser Magnet für marodierende Russen aus seinem Garten entfernt wird, wolle ich dafür sorgen«, bemerke ich zu ihr. 95

Später behauptet sie, es ausgerichtet zu haben. Herr Heß lasse sagen, er habe alles entfernt. Herrn Heß glaube ich kein Wort.

15. Mai, Dienstag.

Es wurden neue, rote Haushaltskarten ausgegeben. Sie enthalten nur Rubriken für Brot und Fleisch. Flüchtlinge haben keine be­ kommen, sondern Ausweise, die lediglich für diese Woche gelten. Sie sollen sich bemühen, in ihre Heimat zurückzukehren. In der Tat bilden sie für diese Gegend eine Erschwerung aller Probleme. Ihre Zahl übertrifft die der Einwohner von Mahlow, außerdem ha­ ben sie die meisten Kinder. Davon, daß sie sich in den Räumen ih­ rer Quartiergeber so breit machen, als wären es ihre eigenen, ganz zu schweigen. Viel wird darüber geklagt, daß sie sich nicht einmal an der Heranschaffung von Holz und Wasser beteiligen. Der neue Bürgermeister hat angeordnet, daß bis Donnerstag 12 Uhr mittags alle Trümmer und Schutthaufen in den Straßen beseitigt sein müssen. Für Donnerstagabend ist eine Versammlung im Restaurant Flo­ rapark einberufen.

16. Mai, Mittwoch.

Ich sah Herrn Otto mit einem russischen Soldaten, der eine rote Armbinde trug, rasch die Straße entlang gehen und auf zwei Kerle zeigen, einen Soldaten und einen Zivilisten, die sich langsam von der Straße abwandten und den Weg über einen Acker nahmen. Der Zivilist hatte einen Koffer bei sich. Herr Otto sagte dem ihn begleitenden Kommandantursoldaten, daß eben das sein Koffer sei, ein Teil dessen, was ihm die Eindringlinge gestohlen hätten. Der Kommandantursoldat blieb stehen, sah den beiden nach, die ohne Eile verschwanden, und ging dann, um Pflichtbewußtsein zu heucheln, mit in Herrn Ottos Wohnung, um den Schaden fest­ zustellen. Ähnliches habe ich mehrfach beobachtet, wenn jemand Hilfe von der Kommandantur geholt hatte. Vorgestern hatten ei­ nige Insassen des Auffanglagers, total betrunken (wo kommt nur immer wieder der Schnaps her? Denn es ist deutscher und ich habe seit einem Jahr keinen mehr gehabt), am Ende der Straße 96

randaliert und den alten Schäfer Prellwitz blutig geschlagen. Die Kommandantur, um Schutz angegangen, schickte einen Radfah­ rer. Der fuhr hinter den abziehenden Rowdies, die ebenfalls Fahr­ räder hatten, in einem Tempo her, daß die »Verfolgten« trotz ihrer Trunkenheit einen gewaltigen Vorsprung bekamen, bis der Kom­ mandantur-Mann offenkundig »resignieren mußte«. Ich habe alle Hausbewohner engagiert, den kleinen Ziegelscher­ benhaufen, der noch aus der Zeit vom Dezember 43 daliegt, als Mahlow teilweise von den Bombenangriffen auf Berlin in Mitlei­ denschaft gezogen wurde, abzutragen. Wir schaffen die Trümmer in die aufgeworfenen und verlassenen russischen Artilleriestel­ lungen hinter unserem Garten und achten darauf, daß die Löcher nicht zu hoch gefüllt werden, damit der Bauer später den Acker wieder bestellen kann. Die Leute aus der Nachbarschaft, die un­ serem Beispiel folgen, achten leider weniger darauf, am wenigsten die Frau Heß, die mit ihrem Mann wieder eingezogen ist. Er hat noch immer den Kopf verbunden. Frau Heß beklagt sich über ih­ ren Nachbarn Bölke, der während ihrer Abwesenheit genau wie die Russen bei ihnen gestohlen habe. »Die Anna hat ihn dabei un­ terstützt, aber was will ich machen, ich kann sie jetzt nicht auf die Straße setzen, und mein Mann ist so sensibel, er war viel in den Tropen, aber er wollte nicht auswandern, als die Nazis kamen...« Man möchte sich die Ohren zuhalten, wenn die Frau redet, aber mir fällt ein, daß meine Frau an jenem unglücklichen Samstag, als Herr Bölke ihr sagte, bei uns können Sie nicht bleiben, auf Bölkes Tisch eine Mahlzeit bereitet sah. Sollte sie aus Heßischen Bestän­ den gewesen sein, und sollte meine Frau deshalb unerwünscht ge­ wesen sein? Indessen bemerkt Frau Heß soeben: »Nun, all die Jah­ re haben die Leute ja geglaubt, wir hätten alles in Hülle und Fülle, jetzt haben sie gesehen, daß wir nichts hatten außer ein paar zu­ sammengesparte Haferflocken...« Wenn ich schon Herrn Heß kein Wort glauben kann, was soll ich dann seiner Frau glauben?

17. Mai, Donnerstag. Als ich zur Versammlung gehe, begegne ich zwei Russen auf Fahrrädern. Eine der Frauen aus dem Eisenbahnerhaus neben dem Bahnhof sagt: »Die wollen plündern, während die Männer 97

in der Versammlung sind.« Ich hatte von den beiden nichts Bö­ ses denken wollen, aber da die Frau das sagt, kehre ich um und gehe ein Stückchen des Wegs zurück, um ihnen nachzublicken. Ich kann sie nicht mehr sehen. Entweder sind sie abgebogen oder schon in ein Haus eingedrungen. Kurze Zeit stehe ich unschlüs­ sig, dann vertraue ich auf Gott und begebe mich zur Versamm­ lung. Ich war ohnedies etwas spät, nun hat sie schon begonnen. Der Vordereingang ist von russischen Posten bewacht, und ich se­ he, daß hier jetzt die Kommandantur ist. Zum Versammlungs­ lokal geht es durch den Nebeneingang. Der Saal ist überfüllt, die Leute stehen bis in den Garten. Es gelingt mir, in einem Neben­ raum Fuß zu fassen, von wo ich zwar die Rednertribüne sehe, aber wenig verstehen kann, zumal hier hinten die Unruhe durch Kommen und Gehen groß ist. Ich höre eine Stimme, und den­ ke: Goebbels. Die Stimme sagt gerade: »Es gibt noch Leute, die auf die Amerikaner und Engländer blicken, aber das Licht kommt aus dem Osten.« Der pastorale Tonfall, die Betonung der Silben, die Stimmlage - wie Goebbels. Mir ist unbehaglich, und obwohl ich gewillt war, den neuen Leuten zu applaudieren, obwohl ein paar Witze über die Mitschuld jedes einzelnen Nationalsoziali­ sten Beifall verdienen, muß ich immer wieder denken: Goebbels. Phrasen und Versprechungen. Es soll bald Licht und Wasser ge­ ben, es soll Brot geben, es soll Fleisch geben, vorerst unentgeltlich, bis das deutsche Geld in alliiertes Okkupationsgeld umgetauscht sei. Es sollen Arbeiter in die Häuser der geflüchteten Naziführer gesetzt werden; es soll, es soll. Ich weiß nicht, wer da redet; ich fra­ ge, und niemand weiß es; ich nehme an, der neue Bürgermeister, Herr Nolte. Das Podium ist so dämmrig, daß man die Züge des Redners nicht beobachten kann. Geschrei von Frauen unterbricht die Versammlung; Hilferufe: »Sie plündern wieder!« Auf dem Po­ dium geht etwas vor, man erkennt nicht, was. Dann kommt die Stimme wieder, hie und da durch Beifall ermuntert. Der lange Be­ fehl des Gouverneurs von Berlin wird verlesen, er scheint dem­ nach auch hier Gültigkeit zu haben. Dann heißt es: »Das Wort hat der Herr Militärkommandant.« Ein Mann mit forschem Auf­ treten und leutseligem Ton, mehr kann ich nicht feststellen. Ei­ ne Dolmetscherin übersetzt. »Eigentlich sollte jeder russisch kön­ nen«, meint der Kommandant. Daß man in der Welt französisch, englisch, italienisch lernt, aber wenig russisch, muß auf den Bür­ ger der als Weltmacht sanktionierten Sowjetunion wie ein Stachel 98

wirken. Der Kommandant sagt alles, was Stalin und seine In­ formationsminister gesagt haben. Er tritt in eine Diskussion mit der Goebbelschen Propaganda ein und versichert, daß niemand nach Sibirien verschickt wird. Vergebens warte ich darauf, daß er etwas über die Ereignisse sagt und über den Verbleib der na­ tionalsozialistischen »Pseudogötter«. Nichts als: »Die Rote Armee hat über Hitler gesiegt«, und ein Lob des großen Rußland. Zum Schluß die Versicherung, daß alle Deutschen wieder ihrem Beruf nachgehen dürfen, auch die Schriftsteller und Künstler, daß wie­ der Zeitungen erscheinen werden, und daß der Kommandant je­ derzeit für die Zivilbevölkerung zu sprechen ist. Beifall. Vorher ab und zu Zwischenrufe gegen die Nationalsozialisten, die samt dem, was der Kommandant in dieser Hinsicht sagt, offene Tü­ ren einrennen. Erschreckend leidenschaftslos. Alle Gesichter matt und stumpf. Die Versammlung wird geschlossen: »Es lebe der Friede und der geniale Führer!« - Der diesmal Stalin statt Hit­ ler heißt. Man läuft auseinander. Unter mehreren Männern, die ich daraufhin anspreche, ist nur einer, der gleich mir seine Ent­ täuschung über den vollständigen Mangel an Mitteilungen über die Ereignisse nicht verbirgt. Es ist ein bebrillter Mann mit bie­ derem Handwerkergesicht, nicht dem pfiffigen, das die Handwer­ ker unter Hitler zierte - schwindelhaft wie das ganze System. Dies war die eigentliche »Systemzeit«. Er hat ein persönliches Interes­ se daran, zu wissen, welches Schicksal die Hitler, Goebbels, Gö­ ring, Ley, Speer, Funk, Ribbentrop und Konsorten ereilt hat; ich habe ein historisches Interesse, weil ich glaube, daß der Gang der Geschichte eine grundsätzliche Wendung erfährt, wenn endlich einmal weithin sichtbar Staatsverbrecher in ihrer Jämmerlichkeit entlarvt und bestraft werden. Zu Hause höre ich mit Befriedigung, daß keine Russen da waren.

18. Mai, Freitag. Das Leben geht weiter: Es ist kein Leben. »Die Bevölkerung kann aufatmen!« Kann sie das wirklich? Müde und abgekämpft, voller Nahrungssorgen, ohne jedes Interesse für andere Dinge als die ganz kleinen, die die dringendsten sind - so vegetiert sie dahin. Aber auch eine Bevölkerung, die noch mehr innere und äußere Kraft hätte, stünde jetzt zu sehr unter dem Eindruck dessen, was 99

sie in den letzten Wochen hat durchmachen müssen, als daß ande­ re Regungen in ihr aufkommen könnten, geschweige denn Freude. Ich überlege mir, ob ich nicht auch den Fußmarsch nach Berlin antreten soll, um zu sehen, was aus meinen Freunden geworden ist, die mit mir gemeinsame Pläne hatten. Aber außer dem Weg nach Berlin »auch noch zu Fuß« durch das Berliner Randgebiet irren zu müssen, ist etwas, was ich nicht auf mich nehmen kann. Wenn meine Frau die Verletzung nicht hätte, gingen wir zusam­ men. Dann wieder habe ich das Gefühl, daß es noch zu früh und zwecklos ist. Der Kommandant hat erklärt, die gemeinsame Gemeindever­ waltung von Mahlow und Glasow müsse für beide Orte zentral liegen. Sie befindet sich also auf der Grenze, laut Bekanntma­ chung »In dem ehemaligen Abercronschen Hause Bismarckstra­ ße 1«. Ich schlage im Telefonbuch nach: Abercron, Ernst von, Re­ gierungsrat. Ein geflüchteter Bonze demnach. Des neuen Bürgermeisters Steckenpferd ist die Beseitigung äu­ ßerlicher Kriegsreste. Wahrscheinlich aber verlangt es der Kom­ mandant. Im Ortsteil jenseits der Bahn werden Männer und Frauen viel zu solchen Arbeiten herangezogen. Man sollte das al­ lein durch die Pg’s machen lassen.

19. Mai, Samstag.

Die Leute beginnen, ihre Erlebnisse weiterzuerzählen. Öfters gehörte Wendungen: »Bei uns ging es die ganze Nacht durch, bis 3 Uhr« (so etwas wie Zapfenstreich scheint es bei den Russen nicht zu geben); »ich habe nur noch, was ich am Leibe trage«; »mein Haus ist unbewohnbar geworden«; »Frau X ist in der Nacht 15 mal vergewaltigt worden, die Russen kamen immerfort und winkten: »Komm Liebchem«; »Frau Y ist von den Russen in ein Zimmer ge­ sperrt worden, die Kinder haben geschrien...« Von dem Bauer Winkelmann wird erzählt, daß er mit der Fa­ milie vom Hof mußte, weil Munition (angeblich nur für ein Jagd­ gewehr) bei ihm gefunden wurde. Sie hatten einen Teil ihrer Ha­ be auf einen Wagen gepackt und zwei Pferde davor gespannt, im letzten Augenblick, während sie noch einmal im Hause waren, setzten sich ihre ehemaligen ausländischen Arbeiter auf das Ge­ spann und fuhren damit fort. Später wurde das restliche Mobiliar 100

im Haus geplündert, sogar die Gardinen. Sie sind inzwischen auf dem nackten Hof - keine Kuh, kein Pferd, kein Huhn, keine Gans mehr - zurückgekehrt. Und der sogenannte »Reichsbauernfüh­ rer Darré?« frage ich. Seltsamerweise - oder eigentlich schon nicht mehr seltsamerweise - soll er unbehelligt auf seinem Hof sitzen. Die Flüchtlingsfrauen in unserem Haus erzählen, daß keine Frau in Mahlow ihnen glaube, wenn sie wahrheitsgemäß sagen, sie seien nicht vergewaltigt worden. »>Dann sind Sie die einzige in Mahlow behaupten die Frauen.« Im übrigen scheint eine x-beliebige Manie unter ihnen ausgebrochen zu sein, sich ohne Scham mit ihren Er­ zählungen von Einzelheiten gegenseitig überbieten zu wollen. Der Bürgermeister hat heute bekanntgegeben, daß die Splitter­ gräben und kleine Luftschutzbunker in den Gärten entfernt wer­ den müssen. Die Verdunklungspflicht ist aufgehoben. »Der Krieg ist zu Ende, die Bevölkerung kann aufatmen.«

20. Mai, Sonntag. Pfingsten. Ein Tag zum Meditieren. Hier und dort in der Gegend Detonationen, die von Ruinensprengungen herrühren dürften. Wir haben die Verdunklungsvorrichtungen entfernt und den Splitterkasten vor dem Luftschutzkeller beseitigt. Der Luftschutz­ keller wird Vorratskeller und soll auch so heißen - die Vorräte werden vielleicht später einmal kommen. Wir haben alles, was im Keller war, um vor Bomben gerettet zu werden, wieder in unse­ re Schränke geräumt, ich habe alle Manuskripte und alles Mate­ rial wieder in meinem Arbeitszimmer und muß nicht mehr we­ gen jeden Stückchens, das ich benötige, in den Keller laufen. Wir haben uns das während des Krieges immer als den Gipfel aller Freude ausgemalt - den Tag, an dem wir alles aus dem Keller her­ aufholen können. Die Nazis sind erledigt, wir können wieder un­ sere Meinung sagen; auch das haben wir uns immer herrlich aus­ gemalt, wenn es einmal so weit wäre. Nun ist es so weit, und wir sind ohne einen Funken Fröhlichkeit. Es liegt nicht daran, daß wir Hunger haben, oder daß sich alles in einer bei aller äußeren Dramatik so gänzlich undramatischen Weise vollzogen hat. Es ist auch nicht so, daß wir richtig enttäuscht wären. Ich glaube, in der Hauptsache ist es die Abgeschiedenheit von den Weltereignissen und Nachrichten. Mich droht sie niederzudrücken. Ich glaube, ich 101

werde mich nie mehr davon erholen, daß ich in all diesen Wochen das Wesentliche der Weltgeschichte nicht miterlebt habe. Was ich jetzt haben möchte, sind englische, amerikanische oder Schweizer Zeitungen aus der Zeit nach dem 20. April. Wenn es einmal mög­ lich sein wird, sie zu bekommen - wenn es überhaupt möglich sein wird -, wird über diesen Wochen schon die historische Pati­ na liegen. Ich könnte verzweifeln. Ich vermag nichts anderes mehr zu denken als dies, daß ich nichts weiß. So verlassen wie jetzt bin ich mir zu keinem Zeitpunkt meines Lebens vorgekommen. Ich kann mich auch zu nichts aufraffen, sonst würde ich trotz meines Schuhmangels die Strapazen der Berliner Fußtour nicht scheuen. Oder ist es ein Fingerzeig des Himmels, daß die Zeit, die sinnvolle Zeit für irgendeine Unternehmung, zu der man selbst den Anstoß geben muß, um an ein Ziel zu gelangen, noch nicht gekommen ist. Wo mag Manfred stecken? Er wird seine Sorgen über un­ ser Schicksal haben. Er wird sich schwerlich vorstellen, daß hier nichts zerstört ist und daß wir nicht geflüchtet sind. Von Leuten, die den Achtstundenweg nach Berlin und zurück nicht gescheut haben, vernimmt man Gerüchte mannigfacher Art. Ob sie stimmen oder nicht, gefärbt sind oder nicht, sie er­ scheinen mir im Augenblick belanglos. Es heißt, daß es dort eine »Tägliche Rundschau« genannte Zeitung gebe. Unter Wilhelm II. existierte eine »Tägliche Rundschau« als nationalistisches Organ. Später war sie ein Stresemann-Blatt, worauf sie einging. Es mag in Berlin so oder so sein - natürlich wird die ehemalige Hauptstadt Deutschlands ein anderes Bild zeigen als das Land vor ihren Toren -, aber selbst wenn ich berücksichtige, daß die Beob­ achtungsobjekte hier (und gar erst die, die in meinen engsten Ge­ sichtskreis kamen) an Zahl und Art um ein vielfaches geringer waren, so scheint mir doch sicher, daß bei uns der Einblick in das wahre Wesen leichter ist. Das Militärische interessiert mich we­ nig. Man registriert wohl, daß die Soldaten der Roten Armee mit verschiedenen Ausnahmen stark, gesund, gut genährt (dies frei­ lich auf Kosten der Landstriche, die sie durchziehen, ob Freund oder Feind, vermutlich) und gut ausgerüstet, bei einer ziemlichen slawischen Buntheit, sind, also das, was man Elitetruppen nennt. Man registriert die saloppe Erscheinung, den fahrlässigen, achtlo­ sen Umgang mit dem besten Material und manches andere. Aber es bleibt beim Registrieren, weil es für unsereinen bedeutungs­ los ist. 102

Anders steht es mit der Frage der Aufführung. Das berührt den moralischen Titel, den die Russen in mindestens dem gleichen Grad wie ihre Alliierten für sich beanspruchen. Dass Plündern und Vergewaltigen bei ihnen nun einmal dazu gehört, ist eine Sa­ che für sich. Es hat nichts mit dem Bolschewismus zu tun. Kein System wird den Bojarencharakter des Volkes ändern können. Zi­ vilisatorisches kam immer vom Westen, im Zarenreich zumeist von den Franzosen. Hier liegt aber nun insofern ein Sonderfall vor, als der Krieg weitgehend auf ideologischer Basis geführt wur­ de und die notwendige Erziehung des deutschen Volkes nach dem Kriege von gewissen Imponderabilien abhängig ist. Ich bin weit davon entfernt, gegen das Argument: »Die deutschen Soldaten ha­ ben es viel schlimmer gemacht« das andere zu halten: »Eben dar­ um sollten die Alliierten zeigen, wie sich die Soldaten gesitteter Völker betragen.« Ich weiß, daß solche Argumente nicht zählen. Ich weiß auch, daß leider die volle Ablehnung des Vergeltungs­ prinzips bei dem durch Hitlers nationalsozialistische Erziehung gegangenen deutschen Volk fehl am Platz und das volle Ausko­ sten aller Schrecken des Krieges am eigenen Leibe eine notwen­ dige Voraussetzung für die Abkehr vom Militarismus ist. Dessen ungeachtet bleibt das Betragen der russischen Soldaten, das, wie die Leute hier jetzt sagen, das einzige ist, was an Goebbels Propa­ ganda nicht erlogen war, zu erörtern. Wenn ich alles überdenke, komme ich immer wieder auf eines zurück: Die russischen Sol­ daten betrachten nach der Ehrenburgischen These (bezeichnen­ derweise schreibt Ehrenburg diese Dinge im »Roten Stern«, dem Organ der Armee, während die Politiker in der »Prawda« sich an­ ders ausdrücken) jeden Deutschen als Faschisten. Daß einer et­ was anderes sei, erstaunte sie. Auf ihre Frage: »Was taten denn die deutschen Kommunisten und Antifaschisten?« muß man, obwohl sie im Grunde sehr viel getan haben, auch aus anderen Gründen als denen der Sprachunkundigkeit, die Antwort schuldig bleiben. Denn man kann ja nicht die Gegenfrage stellen: was vermöchte in Sowjetrußland ein Demokrat westlicher Prägung zu tun? Sie wür­ den erwidern: »In Rußland gibt es nur Demokraten, Rußland ist eine wahrhafte Demokratie.« Und da würde die Diskussion auf­ hören, ehe sie anfangen könnte. Genau dasselbe hat ja Hitler vom nationalsozialistischen Deutschland gesagt.

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21. Mai, Montag.

Eine Polizei ist gegründet worden. Vor dem Hause Heß ist ein Wagen mit deutschen K-Männern vorgefahren. Sie beschlagnahmen seine Vorräte, die, wie Frau Heß zu uns ungebeten sagte, aus ein paar zusammengesparten Hafer­ flocken bestanden. Wir beobachten, daß Flaschen, Konservendo­ sen und Säcke in erklecklicher Anzahl herausbefördert werden.

22. Mai, Dienstag. Die Beschlagnahme von Vorräten, hauptsächlich bei Pg’s, geht weiter. Die Betroffenen schreien und verbreiten Verleumdungen über die K-Männer. Eine Flüchtlingsfrau aus Thorn (»Warthegau«, also Nutznießerin des Hitlerregimes), die hier bei ihrem Onkel wohnt, behauptet, ihnen habe man den »Pfingstkuchen« wegge­ nommen, und sie hätten an Vorräten »ganze 3 Pfund Mehl« ge­ habt. Die Frau, die sich mit unseren Breslauer Flüchtlingen an­ gefreundet hat, kann denen aber sonderbarerweise gelegentlich Schinken, Eier usw. bringen. Ich bin vormittags zur Kommandantur gegangen. Zum ersten­ mal bemerke ich, daß das Eckhaus an der Otto-Brandt-Straße, kurz vor dem Florapark, wo die Kommandantur sich befindet, arg zugerichtet ist. Das einzige Haus, dem man auch äußerlich an­ sieht, wie innen gehaust wurde. Sonst täuscht der friedliche An­ schein in der Regel. Auf dem freien Platz an der Otto-Brandt-Straße ist ein kleiner russischer Friedhof! Neun Gräber umgittert. Rotbekleidete Holz­ türmchen mit dem Sowjetstern obenauf als Grabmal. Ein Türm­ chen ist höher und breiter, der Stern größer und goldener als die anderen: Da soll ein gefallener General liegen. Viele Blumen in Holzkästchen auf den Gräbern. »Der Militärkommandant emp­ fängt die Zivilbevölkerung zwischen 10 und 12 Uhr«, steht dort zu lesen. Ferner ein Anschlag: Wortlaut der bedingungslosen Ka­ pitulation Deutschlands. Endlich die erste authentische Nach­ richt. Nach 14 Tagen! Ich habe nicht versäumt, die Leute, die gleich mir Keitels Namen in diesem Dokument lasen, daran zu erinnern, daß derselbe Herr Keitel (von uns »Lakeitel« genannt) noch vor drei Wochen seinen Namen neben die von Himmler und 104

Bormann unter die Aufforderung setzte, jede Stadt bis zum letz­ ten Stein zu verteidigen: Die Leute nickten. Jetzt haben sie es al­ le schon immer gewußt. Die meisten allerdings sind so ehrlich zu sagen, daß »seit Stalingrad man sehen konnte.« Stalingrad - auch die Russen reiten darauf herum. Und es ist falsch, ganz falsch. Sta­ lingrad war ein großer sichtbarer Wendepunkt; es gab auch an­ dere. Aber wer nicht vom ersten Tag an wußte, daß Hitler diesen Krieg verlieren würde, indem er ihn begann, der bedarf auch jetzt sehr der politischen Erziehung. Auf der Kommandantur waren einige Leute mit trivialen An­ liegen. Jede Abfertigung dauerte lang, weil immerfort Russen da­ zwischen kamen. Um 11 Uhr verschwand der Kommandant in seiner Limousine, begleitet von einer der Russinnen, die in Men­ gen, teils uniformiert, teils nicht, vorhanden sind. Ich habe ihn nicht gesprochen.

23. Mai, Mittwoch. Obwohl ich heute früher zur Kommandantur gegangen war, war der Kommandant schon fort, als ich hinkam. Hingegen lernte ich Herrn Nolte, den neuen Bürgermeister, kennen. Er ist ein klei­ ner, beweglicher Mann, in dem man nach seinem Äußeren einen Bankbuchhalter vermuten würde. Wenn er eindringlich über eine Sache spricht, gerät er in die dozierend-pastoral betonende Stimm­ lage, die an Goebbels erinnert - er war in der Tat der Redner in der Versammlung. Als er hört, daß ich Schriftsteller bin, nahm er mich zu dem Adjutanten des Kommandanten mit, einem fetthäu­ tigen Leutnant, der sich auf seinem Sitz räkelt und mit mäßigem Interesse die russische Übersetzung der »Union der festen Hand« durchblättert. Herr Nolte bat mich, ihn in der Gemeindeverwal­ tung zu besuchen, und fragt, ob ich ihm ein Bild von Goebbels be­ schaffen könne. Da ich derlei in meinem Archiv habe - wenn die Nazis dieses im Luftschutzkeller ruhende Archiv gesehen hätten! -, konnte ich Herrn Nolte das Bild versprechen. Er ist im »Vor­ wärts« Korrektor gewesen, war unter den Nazis lange arbeitslos, wurde dann durch das Arbeitsamt an den »Völkischen Beobach­ ter« als Handmetteur vermittelt und dort entlassen, als man hörte, er sei Kommunist. Im Juni 41, als Hitler, der Über-Napoleon, den Feldzug gegen Rußland begann, wurde er verhaftet und wie vie105

le andere Kommunisten eingesperrt, bis die deutsche Armee so über allem Zweifel siegreich war, daß Hitler verkündete, der rus­ sische Gegner liege am Boden und würde nie wieder erstehen. Er­ neut arbeitslos, wurde Herr Nolte schließlich als Rüstungsarbeiter zu Daimler nach Berlin-Marienfelde dienstverpflichtet. Ich hatte auf der Kommandantur Gelegenheit, ihn im Umgang mit Leuten, die ihn dort aufsuchten, zu beobachten. Er ist nicht ungeschickt und hält die Mitte zwischen der absoluten Bereitwilligkeit, jedem zu helfen, und jeden mit seinen kleinen Sorgen anzuhören, und ebenso absoluter Bekundung der Tatsache, daß ein Bürgermeister in diesen Tagen auch noch anderes zu tun hat. Das Schwierigste ist das Ernährungsproblem. Nächst der aufzuwendenden Mühe, einige Säcke Mehl zu beschaffen, verschlingen nur noch die Er­ füllung russischer Anliegen, die meist das leibliche Wohl und die Behaglichkeit des Kommandanten betreffen, annähernd die glei­ che Zeit.

24. Mai, Donnerstag. Heute habe ich den Kommandanten gesprochen. Um ein Haar wäre er mir wieder entwischt, wenn nicht Herr Nolte gekom­ men wäre, der mich mit hineinnahm, obwohl der Komman­ dant schon Schluß gemacht hatte. Ich kann verstehen, daß er des »Empfangs« der »Zivilbevölkerung« rasch überdrüssig wird, wenn diese Morgen für Morgen nur Beschwerden über fortge­ setzte Raubversuche oder Bitten um irgendeine Bescheinigung vorzubringen hat. Was die Raubversuche betrifft, so verspricht er, den Fällen nach­ zugehen, erklärt aber, zu wenig Leute für Patrouillendienst zu ha­ ben. Dabei bleibt es dann mit wenigen Ausnahmen. So hörten wir von einem Fall, wo zwei russische Soldaten sich für die Nacht ein­ quartierten und Essen haben wollten. Während man zunächst ih­ ren Wünschen nachzukommen sich anschickte, lief jemand zur Kommandantur. Darauf kamen zwei Mann, die jene beiden ab­ führten. Hier dürfte allerdings der Verdacht mitgespielt haben, es könnten Deserteure sein - Quartiersuche auf eigene Faust ist bei Soldaten immer verdächtig. Dieser Fall hatte noch einen grotes­ ken Epilog, indem am nächsten Abend einer der Soldaten von der Kommandantur, die jene beiden abgeführt hatten, nun in das Ne­ 106

benhaus eindrang und die Bewohner zwang, ihm zu essen zu ge­ ben, obwohl sie ja selbst nichts hatten außer Kartoffeln. Das Bild von Goebbels, das ich mitgebracht hatte, war für den Kommandanten bestimmt. Er freute sich unbändig darüber. Ich fragte ihn, ob er wissen, was mit Goebbels und Hitler geschehen sei. Er wußte es nicht. Er sagte, sie seien unauffindbar. Ich konnte ihn nichts weiter in dieser Beziehung fragen, denn er springt vom Hundertsten ins Tausendste und ist mit der Sprache so abrupt wie mit den Bewegungen. Mit Hilfe der Dolmetscherin, Frau Zöll­ ner, die vermutlich (sie ist schon sehr alt und etwas schlampig) in Rußland aufgewachsen ist, denn weniger geläufige deutsche Wör­ ter versteht sie nicht, obwohl sie sonst fließend spricht, kam ein allerdings ziemlich einseitiges Gespräch in Gang, da der Kom­ mandant sich gern reden hört, besonders die auswendig gelern­ ten Propagandaphrasen. Ich mußte lächeln, als er mir sagen ließ, es würde niemand nach Sibirien geschickt, ich weiß nicht, wes­ halb gerade diese Goebbels-Propaganda solchen Eindruck auf sie gemacht hat, daß sie sie immerfort und gänzlich unnötig wider­ legen wollen. Ich erklärte ihm lächelnd, daß Sibirien ja auch seine Schönheiten habe, man sich also nicht unter allen Umständen da­ vor fürchten müsse. Er fragte, ob ich Kommunist sei oder werden wolle, begriff aber nach wenigen Worten meine demokratische Grundauffassung und sagte, das sei ganz gleich, jeder, der nicht Faschist gewesen sei, solle in Freiheit arbeiten. »Schreiben Sie, was Sie wollen, aber sagen Sie dem deutschen Volk die Wahrheit.« Ich versuchte, zu einem Punkt zu gelangen, von wo ich ihn bitten könne, mir Verbindung mit einer maßgeblichen Persönlichkeit in Berlin zu verschaffen, damit ich meine publizistischen Pläne ver­ wirklichen könne. Er weicht aus mit der Bemerkung, in Berlin sei ja schon ein Schriftstellerkomitee gegründet worden, mit dem ich bald Fühlung nehmen könne. Natürlich ist mir klar, welch unter­ geordnete Persönlichkeit im Mechanismus ein Kommandant von Mahlow ist, aber zuweilen gehen doch solche Leute aus sich her­ aus, machen sich geradezu einen Spaß daraus, ihren Vorgesetzten allerlei Leute zuzuführen, und dieser macht den Eindruck eines alten Praktikers. Er sieht sehr jung aus, ist aber, wie Frau Zöllner sagt, über fünfzig, Hauptmann und auf seinem KommandanturPosten, deren er schon mehrere inne hatte, besonders vorberei­ tet worden. Aber ich muß mich wieder mit dem Nächstliegenden begnügen, der Erlaubnis, ungehindert meine Schreibmaschine zu 107

gebrauchen, und einen Schutzbrief, der wörtlich, in russisch und deutsch besagt: »Hier arbeitet ein demokratischer Schriftsteller. Bitte ihn nicht behelligen.« Ich habe den Brief an die Haustür geheftet.

25. Mai, Freitag.

Die Frau Peiker aus Breslau, die gestern nach Berlin gegangen war, um sich nach Fahrgelegenheiten zur Heimreise zu erkun­ digen, nachdem ihr Lebensmittelausweis »letztmalig« verlängert worden war, ist heute zurückgekommen und hat eine »Berliner Zeitung« (die also außer der »Täglichen Rundschau« erscheint) mitgebracht. Die Zeitung ist primitiver wie ein Dorfblatt, und ich erfahre wenig daraus, aber immerhin den Rücktritt Churchills und seine Wiederbetrauung bis zu den Wahlen. Was Frau Peiker über Berlin erzählt, ist mit Vorsicht zu genießen, zumal sie nur in Neukölln war. In der Zeitung finde ich bestätigt, daß Elektrizität und Wasserversorgung in den meisten Bezirken wieder funktio­ nieren, das einzelne Kinos spielen - russische Filme - und das Ra­ dio sendet. Inmitten einer Menge Sowjetpropaganda entdecke ich noch die Nachricht von der Ernennung Eisenhowers und Mont­ gomerys zu Vertretern in der Interalliierten Kontrollkommission. Für den Fall, daß innerhalb Berlins wieder Postverkehr bestün­ de, hatte ich Frau Peiker einen Brief an einen meiner Freunde mit­ gegeben. Sie hat den Brief zurückgebracht. Es ist kein Postverkehr. In dieser Woche haben die Russen einen sporadischen Güter­ zugverkehr - für ihren Bedarf - auf der hier vorbeiführenden Strecke Berlin-Dresden zustandegebracht. Hauptsächlich abends hört man eine Lokomotive pfeifen. Sie pfeift so viel, daß man an­ nehmen muß, es macht dem Heizer Spaß, wie den Soldaten das ewige Knallen - ich glaube nicht, daß in irgend einer anderen Ar­ mee die Soldaten so nach Gutdünken mit der Munition umgehen dürfen. Andererseits wird von den beiden Geleisen eines wegge­ rissen. Das gleiche hört man von allen Strecken in der Umgebung Berlins. Die Geleise werden, wie die in Berlin abmontierten Ma­ schinen, nach Rußland geschafft. Die Kommandantur hat sich wieder Kühe besorgt, die sie in den Kornfeldern weiden läßt. Trotz allem, was so augenfällig dagegen spricht, erzählt sich die 108

Bevölkerung immer wieder, daß es demnächst S-Bahn-Verkehr nach Berlin, Strom und Wasser gibt. Meistens heißt es: »Am Mon­ tag«. Weil dann wieder eine Woche beginne. Gerüchte sind im­ mer primitiv. Für Kinder wird jetzt morgens Milch ausgegeben. Einmal be­ kommen sie auch etwas Butter. Ich begegnete Herrn Pfeffer, der allen Ernstes - ein ernsthafter Mann - der Meinung Ausdruck gab, die Russen beeilten sich dar­ um so sehr mit dem Wegschaffen der Geleise und Maschinen, weil am »Montag« die Interalliierte Kommission ihre Tätigkeit begin­ ne und sie dann nichts mehr wegnehmen dürften...

26. Mai, Samstag. Wir haben ein Paar Schuhe für mich gegen einen Mantel mei­ ner Frau eingetauscht. Wenn man jetzt in den Hauptortsteil jen­ seits der Bahn kommt, ist alles ausgestorben. Nur wenige Russen sind noch da, und die Einwohner bleiben, mit Ausnahme der Zei­ ten, da Brot und Fleisch ausgegeben wird, in ihren Häusern und Gärten. Auch die russische Küche, bei der immer um Suppe bet­ telnde Leute standen, ist fort. Da der angekündigte Umtausch der Zahlungsmittel nicht statt­ gefunden hat, müssen die ausgegebenen Lebensmittel wieder be­ zahlt werden. Vorläufig ist das nicht schwierig, da es so gut wie nichts gibt. (Abgesehen von den Flüchtlingen, die ihre Zimmer nicht mehr bezahlen können.) Auf der anderen Seite hat niemand ein Einkommen, denn auch die, die »im Arbeitseinsatz« (der Ge­ brauch des geschwollenen Nazivokabulars geht weiter) stehen, er­ halten kein Geld dafür. Nachdem die Brotrationen gerade auf 1500 Gramm in der Wo­ che erhöht worden war, ist sie sofort wieder auf 1000 Gramm her­ abgesetzt worden. Wer »im Arbeitseinsatz« ist (statt: wer arbeitet), erhält einen Zusatz. Jemand sagte, die Post sei wieder eröffnet. Es stellt sich heraus: Der Kommandant hat angeordnet, daß der Postbetrieb »wieder aufgenommen« wird. Man hat das Haus neben der früheren Post bezogen und tatsächlich Briefe - ohne Marken, weil noch keine ohne Hitlers Bild vorhanden sind - angenommen. Man hat die Briefe bis Berlin-Lichtenrade gebracht, dort nahm niemand sie 109

zur Weiterbeförderung entgegen. Jetzt hängen an dem Haus zwei Zettel: »Vorläufig keine Postbeförderung« und »Postangestellte melden sich täglich um 10 Uhr«. Sie melden sich täglich und wer­ den täglich nach Hause geschickt.

27. Mai, Sonntag.

Ich bin in der Woche einige Male im neuen Gemeindehaus ge­ wesen, ohne den Bürgermeister Nolte mehr als flüchtig gespro­ chen zu haben. Er wird von den Russen hin und her gejagt, im­ mer wegen neuer Lappalien, und vor allem Berge von Listen. Sie gehören zu den Leuten, die alles geregelt zu haben glauben, wenn es auf dem Papier steht. Das Gemeindehaus (ehemals das des Regierungsrat Abercron) ist geräumig, noch voll möbliert, und liegt, mit einer allerdings defekten Terrasse, nach einem schönen und großen Garten hin. Die Verwaltung besteht durchweg aus Kommunisten, zu 95 Pro­ zent aus Glasow. Glasow wird auch in der Lebensmittelvertei­ lung bevorzugt. Durch Fräulein Siede, die Sekretärin von Herrn Nolte, früher in dem Berliner Büro einer Duisburger Kohlenex­ portfirma beschäftigt, habe ich erfahren, daß man schon immer von einer »Kommunistenecke« in Glasow gesprochen hat. Dort herum wohnen alle diese Leute. Zweifellos haben sie sich, nach­ dem sie im einzelnen alles durchgesprochen und eingeteilt hat­ ten, für den Russeneinmarsch bereitgehalten. So war es wohl vie­ lerorts, besonders in Berlin. Unter den Namen des dortigen neuen Magistrats wundert mich der des Professors Sauerbruch. Er soll im Krankenhaus Hitlerei behandelt haben. Allerdings hatte ich mehrfach gehört, daß er revolutionäre Reden führe. Morgen sollen die Volksschulen hier wieder eröffnet werden. Aus den Londoner Nachrichtensendungen ging immer hervor, daß die Amerikaner und Engländer sich um neue Schulbücher be­ müht haben. Die Russen haben keinerlei derartiger Vorbereitun­ gen getroffen. Die Lehrkräfte hier wollen aus den alten Schulbü­ chern die Hitlerei »herausschneiden«. Ein schlechtes Verfahren. Wo fängt die Hitlerei an und wo endet sie? Ich hörte einer Kon­ ferenz der Lehrkräfte mit dem Bürgermeister zu. Im Geschichts­ unterricht wollen sie die Neuzeit nicht berühren. Aber gerade das Mittelalter ist die gefährliche geistige Brutstätte! 110

28. Mai, Montag.

Der Kommandant ist Knall auf Fall abberufen worden. Er hat die schönsten der abgelieferten Radioapparate und viele Lebens­ mittel, mehrere Lastwagen voll, mitgenommen. Leider wahr­ scheinlich auch mein Buch, das ich ihm zur Lektüre hatte über­ lassen müssen.

29. Mai, Dienstag. Neues Gerücht: Übereinkunft zwischen Amerikanern, Englän­ dern und Russen, das Gebiet zwischen Elbe und Oder bis 31. Au­ gust von Truppen zu räumen. Die Leute werden böse, wenn ich nichts glaube. Das Gefühl der absoluten Abgeschnittenheit drückt uns fast zu Boden. Heute morgen habe ich erlebt, daß auch einfache Men­ schen so empfinden. Ein Trupp Postleute, meist ehemalige Land­ briefträger, erschienen in unserer Straße mit dem Auftrag, die lose hängenden Telefondrähte zu entfernen. Ich hörte sie untereinan­ der politisieren. Die Quintessenz war: Sie erwarten und wollen Demokratie. Sie wollen keinen Kommunismus. Sie würden viel­ leicht den Kommunismus diskutieren, wenn sich die Russen Sym­ pathien bei ihnen erworben hätten. Die Russen haben sich bei ihnen keine Sympathien erworben. »Die Plünderungen«, sagt ei­ ner, würde man nicht anrechnen, »aber die Vergewaltigungen der Frauen und Mädchen jeglichen Alters sind unverzeihlich.« Es war derselbe Mann (und deshalb wiegen diese Worte aus seinem Munde schwerer), der für den Zustand völliger Unwissenheit, in dem wir uns hinsichtlich der letzten Ereignisse befinden, den Ausdruck hatte: »Man wird dadurch seelisch zugrunde gerichtet.« Ein wackerer Mann, wenngleich sein Horizont eingeschränkt ist. Als ich mit ihm sprach, meinte er, die Strafen für Hitler und so weiter dürften nicht in einem einfachen Tod bestehen, die Ker­ le müßten gefoltert werden. Mir scheint auch, daß Leute, die das Mittelalter wieder heraufführen wollten, mittelalterliche Strafen erleiden sollten. Foltern, Vierteilen, Verbrennen. Ich darf aber nicht verschweigen, daß bei der Postkolonne einer war, dem es unfaßlich vorkam, daß Hitler gesagt hatte: »Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch.« Jemand, bei dem das so ist, muß ein

in

Hitlergläubiger gewesen sein. Dieser Mann schwieg denn auch zu den harten Reden der anderen. Der Mann, der hinsichtlich der Nachrichtenlosigkeit gleich mir empfand, schüttelte mir die Hän­ de und wünschte »Alles Gute«. Das ist jetzt und war schon in den letzten Nazimonaten immer so, wenn zwei sich Unbekannte zu­ fällig die nämliche Gesinnung beieinander entdeckt haben. Aber was vorher ermunterte, ist jetzt nur dazu angetan, das Gefühl der Hilflosigkeit zu verstärken. Dazu die Sorge um Manfred, die Un­ möglichkeit, in diesem allgemeinen Vakuum zu positiver Arbeit zu kommen und - der ewige Hunger. In diesem Monat gab es an Lebensmitteln: 3800 Gramm Brot und 300 Gramm mageres Kuhfleisch. Sonst nichts. Doch, um ge­ nau zu sein: einmal etwas Sauermilch. Noch haben wir Kartof­ feln im Keller, aber bis zur Frühkartoffelernte werden sie nicht reichen. Trotz des kalten, trockenen Frühjahrs und des Wasser­ mangels haben wir Gemüse im Garten. Manchmal ist auch etwas beim Gärtner zu haben. Das war ja schon unter Hitler der Vor­ zug, den wir vor der Stadt hatten. Hätten wir nur nicht die vielen Flüchtlinge, mit denen das Wenige, was beschafft werden kann, jetzt geteilt werden muß. Ihre Lebensmittelausweise werden von Woche zu Woche »letztmals« verlängert. Sie könnten in ihren Heimatbezirken wahrscheinlich meist leichter ernährt werden. Aber es ist selt­ sam, sie wollen nicht fort. Sie erfinden immer wieder Gerüchte, weshalb sie gerade dorthin, wo sie zu Hause sind, nicht hinge­ hen können. Als die Nazis sie in Schnee und Eis auf die Land­ straße trieben, gingen sie; jetzt, da der Kreiskommandant sagt, wenn keine Züge führen, müßten sie sich eben zu Fuß auf den Weg machen, verlangen sie »Marschverpflegung«. Nach Breslau können sie angeblich nicht, weil »die Polen niemanden über die Oder lassen«. Nach Westen können sie nicht, weil »die Amerika­ ner niemanden über die Elbe lassen«. Der Himmel mag wissen, was an all dem Wahres oder Falsches ist. Sicher ist nur das eine, daß es ihnen hier, nachdem Sommer geworden ist, ausnehmend gefällt. Viele sitzen in Wohnungen, deren Inhaber weggegan­ gen und nicht wiedergekommen sind. Dort finden sie Kleider, Lebensmittel, Schmuckstücke. Von der Arbeit auf den Feldern, zu der viele Frauen herangezogen werden, drücken sie sich, weil die Bauern ihnen nichts mehr geben können. Sie reflektieren auf Speck und Butter. Es ist eine menschliche Tragikomödie, wie 112

Leute, deren Los einmal (und im Grunde auch jetzt noch) Mit­ leid verdiente, durch ihr Verhalten (das doch auf den Charakter, nicht bloß auf die Umstände schließen läßt) sich um jede Sym­ pathie bringen, bis sie schließlich nur noch gehaßt werden. Bei dem Haß lassen sie sichs wohl ergehen - ein getreues Abbild des nationalsozialistischen Deutschlands. Wie viele von ihnen wer­ den Pg’s gewesen sein, hier verschweigen sie es, denn es kennt sie ja niemand. Im übrigen haben sich nun alle ehemaligen Partei­ mitglieder und solche, die von Hitler Orden bekommen haben, registrieren lassen. Sie sollen zu besonderen Arbeiten herange­ zogen werden. Die ehemalige »Gemeindeobersekretärin« Krü­ ger fegt jetzt Straßen.

30. Mai, Mittwoch. Es gibt einmalig 100 Gramm Zucker und 125 Gramm Salz pro Kopf, in etwa zehn Tagen soll es 50 Gramm Butter geben. Für Kin­ der konnten einmal 125 Gramm Butter ausgegeben werden, in et­ wa vierzehn Tagen werden sie ein wenig Hafermark erhalten, das ist alles, was im Augenblick in der Ernährungsfrage getan werden kann. Morgen sollen gewerbliche Betriebe und Behörden elektrischen Strom haben. Die Bevölkerung wird auf später vertröstet. Die Zäh­ ler sind abgelesen worden, damit niemand Strom aus dem Netz nimmt, falls es unter Spannung steht. Im Übertretungsfall wird Räumung der Wohnung angedroht. Die Leute sind aber so ein­ geschüchtert, daß wahrscheinlich nicht einmal einer auf den Ge­ danken kommen wird, den Strom einzuschalten. Noch immer kein Wasser. Bei der anhaltenden Trockenheit ver­ siegen viele Brunnen. Öfters kommen bei uns einzelne Gefährte durch mit Leuten aus dem Spreewald, die nach Berlin geflüchtet waren und nun nach Cottbus, Guben und so weiter zurückkehren. Ich begegnete heu­ te einem Handwagen, der von einem alten Ehepaar gezogen wur­ de, beide über siebzig Jahre alt, gebrechlich und abgemagert. Ne­ ben dem bißchen Habe auf dem Handwagen war noch so viel Platz, daß eine achtzigjährige Greisin, nur noch ein Skelett, mit angezogenen Beinen darauf hocken konnte. Sie kamen aus KleinMachnow am Südwestrand Berlins und wollten noch über Cott113

bus hinaus. Es war erschütternd, obwohl es nur ein Beispiel von hunderttausend anderen, vielleicht krasseren war. Bürgermeister Nolte ist vom Landrat in Teltow zum Bezirks­ bürgermeister von dreizehn Ortschaften ernannt worden. Der russische Kreiskommandant in Teltow greift jetzt stärker in die Verwaltung ein. Auskünfte und Listen will er haben. Die Ge­ meindeverwaltung macht Überstunden bis in die Nacht hinein. Der Bürgermeister wird zuweilen noch nach Mitternacht von den Russen abgeholt, um mit ihnen in die ihm unterstellten Ortschaf­ ten zwecks Verhaftung ehemaliger Pg’s zu fahren. Es kommt in abgelegenen Bezirken noch immer vor, daß russi­ sche Soldaten in Häuser eindringen und plündern und Frauen ha­ ben wollen.

31. Mai, Donnerstag. Es ist ein neuer Kommandant erschienen: Er hat aus Berlin Pro­ pagandamaterial mitgebracht, das er anschlagen ließ. Es ist un­ geheuerlich veraltet und beginnt mit den Worten: »Der Krieg nä­ hert sich seinem Ende.« Dazu ein Kriegsbefehl mit dem Datum des 23. April! Immerhin wieder Stalins Worte, daß das deutsche Volk nicht ausgerottet werden soll. Der neue Kommandant legt Wert darauf, »die friedliche Bevölkerung zu unterstützen«. Das »zivile Leben« soll in Gang kommen. Er will einen Saal im Flora­ park zur Verfügung stellen, damit die Jugend sich dort zum Tanz einfinde. Das Kino soll wieder spielen. Vorgestern habe ich, von den hier einquartierten Flüchtlingen schreibend, eine Bemerkung über deren Charakter gemacht. Nicht nur die Russen, auch die Deutschen offenbaren in diesen Zeiten mehr von ihrem Charakter als sonst. Sie sind die »Volksgenos­ sen« geblieben, die Hitler aus ihnen gemacht hat. Sein »System« bestand ja darin, alle schlechten Instinkte, wo sie schlummerten, ans Licht zu locken und alle guten zu unterdrücken. Sicher ist, daß man, wenn man die Häuser durchsuchte, nicht überall nur das Ei­ gentum der Bewohner fände; aber es ist die Art und Weise, wie die »Volksgenossen« sich gegenseitig des Diebstahls bezichtigen, besonders wenn sie vor dem Fleischerladen »Schlange« stehen (was gar nicht nötig wäre, denn es bekommt jeder innerhalb der festgesetzten Zeit sein geringes Quantum, und K-Männer stehen 114

als Ordner da, um die Haushaltsausweise zu überprüfen). Diese Form gegenseitiger Beschuldigung ist absurd. Diese Geschichten haben jetzt die über die Vergewaltigungen abgelöst. Irgendwo hat ein Mann vor seinem Hause eine Tafel angeschlagen, auf der er eine lange Reihe von Gegenständen aufzählt, die »Volksgenossen« ihm gestohlen haben sollen, während er abwesend war. Vieles ist von den Russen in fremde Häuser verschleppt worden. Die Polizei hat eine Meldestelle dafür eingerichtet. Man muß der Wahrheit die Ehre geben: Es wird eine Menge gemeldet. Ein weiteres Gesprächsthema der Leute, das den Charakter der »Volksgenossen« noch mehr bezeichnet: Die Juden. »Die Juden müssen wieder kommen, damit wir zu essen kriegen.« Ich frag­ te ein paar Eisenbahner, die zusammenstanden (auch sie melden sich täglich und werden täglich nach Hause geschickt): »Wie stellt ihr euch das eigentlich vor?« »Nun«, war die Antwort, »die Ju­ den allein können Handel und Wandel schaffen, sie wollen verdie­ nen, und wir haben den Nutzen davon.« »So«, sagte ich, »abgese­ hen davon, daß ganz Europa eine Hungerwüste ist und niemand etwas aus dem Ärmel schütteln kann - wieviele von denen, die heute die Juden herbeirufen, haben gestern ihre Massakrierung gebilligt!« »Das war die Verhetzung von oben«, sagten die Eisen­ bahner. »Angenommen, es wäre nur das gewesen - aber ich, der ich keiner Verhetzung erliege, würde mich nach dem Vorgefalle­ nen schämen, heute nach den Juden zu rufen, damit sie mir zu es­ sen heran schaffen.« Sie schauten mich offenen Mundes an. Für Moral fehlt ihnen jedes Verständnis. Auch heute, wie an jedem Abend, russische Güterzüge, die Deutschlands Material abtransportieren.

1. Juni, Freitag.

Ich begegnete einem jungen Russen, der lachend auf »seinem« Fahrrad saß und eine große Hitlerjungenfahne vor sich her­ schwenkte. Sie spielen damit. Nicht einmal als Trophäe hat so et­ was für sie irgendwelche Bedeutung. Noch immer steht am Ende der Burgsdorfstraße die große Tafel »Hier spricht die NSDAP«. Ich bin wirklich neugierig, ob sie ent­ fernt wird. Das ist der Grund, weshalb ich sie nicht einfach selbst umgestürzt habe. 115

Der neue Kommandant läßt jetzt endlich Zeitungen plakatie­ ren. Die »Tägliche Rundschau« aus Berlin. Mehr als zwei Leute stehen selten davor, um zu lesen, meistens keiner. Die Zeitungen erscheinen zwar von Nummer zu Nummer primitiver und voll Propaganda für Sowjetrußland - die Rote Armee hat Deutsch­ land besiegt, die Alliierten haben ein ganz klein wenig dazu bei­ getragen -, aber das mangelnde Interesse der Leute rührt nicht daher. Auch nicht daher, daß der Kontrast zwischen den Verhält­ nissen, wie sie in der Zeitung geschildert werden, und denen, die die Leute täglich sehen, allzu augenfällig ist. (Wollte man der Zei­ tung glauben, so müßte man annehmen, es wäre überall schon wieder Ordnung, mit Ausnahme gerade des Kreises Teltow, zu dem wir gehören; dort allein, trotz geringer Zerstörungen, gibt es kein Wasser, keine Elektrizität, so gut wie keine Lebensmittel.) Wenn es diese Zeitungen zu kaufen gäbe, würden die Leute sie nur des Papiers wegen kaufen. Mit welch revolutionärem Elan hat man sich 1918 in die Armee gestürzt! Und jetzt - lauter lebende Leichname. Ganz selten ein kräftiges Schimpfwort auf die Nazis oder ein Gemurr, daß sie zu milde behandelt werden. Freilich wäre der Schluß, den man dar­ aus zu ziehen geneigt ist, nicht ganz richtig ohne die Hinzufü­ gung, daß 1918 die Soldaten, ausgenommen die Kriegsgefange­ nen, nach Hause kamen, während jetzt nur wenige Männer hier sind. Es ist klar, daß man in Berlin in absehbarer Zeit kein Thea­ ter spielen kann, aber daß laut »Täglicher Rundschau« das Renais­ sance Theater ausgerechnet unter Ernst Legal, ausgerechnet mit dem »Raub der Sabinerinnen« und ausgerechnet mit Hans Her­ mann Schaufuß als Striese eröffnet, mutet wie ein Sinnbild der ge­ samten menschlichen Verfassung an.

2. Juni, Samstag. Ich bin jetzt gerade so weit, daß ich folgendes lückenhaft weiß: Berlin hat am 2. Mai kapituliert, nachdem Hitler seinen Admi­ ral Dönitz mit der Bildung einer neuen Regierung betraut hatte. Göring, Rundstedt, Ley, Speer, Rosenberg sind in amerikanischer und englischer Hand. Dönitz mit seiner Regierung und Keitel mit seinem Generalstab desgleichen. Himmler soll sich vergiftet haben, nachdem er in Schleswig-Holstein umhergeirrt war und 116

sich unkenntlich zu machen versucht hatte. Die Konferenz von San Francisco tagt noch immer. Den norwegischen Quisling ha­ ben sie; und der Schwätzer Knud Hamsun ist verhaftet, was mich besonders freut. Es scheint einen Konflikt mit Jugoslawien wegen Triest gegeben zu haben. Das ist alles, und ich mußte es aus dem im Stil kommunisti­ scher Journalistik gehaltener Zeitungsartikel herausklauben oder gar kombinieren. Im einzelnen mag es nicht einmal völlig zutref­ fen. Wo sind Hitler, Goebbels, Ribbentrop, Funk? Die beiden letz­ teren sind in meinen Augen, prinzipiell gesehen, noch schlimme­ re Sünder. Bei unserem Nachbarn Bock, dessen Frau Nationalsozialistin war, ist ein Wagen der Kommandantur vorgefahren und hat Tep­ piche, Sessel und Vorhänge herausgeholt. Der Kommandant hat angeordnet, daß die sogenannten Schwarz­ meer- und Beßarabien-Deutschen (»Beutedeutsche« hießen sie in der nicht-nationalsozialistischen Soldatensprache, wie wir von Manfred wissen) in Lagern gesammelt werden. Hier sind viele von ihnen. Früher haben sie Russen bei den Hitlerleuten denun­ ziert, jetzt denunzieren sie Hitlerleute bei den Russen. Außerdem stehlen sie wie die Raben und lügen wie die Spitzbuben. Heute waren nach langer Pause vier Russen bei uns. Den ersten sah ich nicht; meine Frau war gerade im Garten, er wollte Blumen. Es scheint derselbe gewesen zu sein, den ich gestern in den Nach­ bargärten beobachtet hatte. Eine Weile darauf hielten vor unse­ rem Hause zwei mit dem Wagen an, der täglich Futter für die Kü­ he holt - gemähtes, blühendes Korn. In dem einen, der wie ein Stallknecht aussah, erkannte ich den Kuhhirten, der öfters die Kü­ he der Kommandantur hier vorbei auf die Weide in die Getreide­ felder getrieben hat. Ich ließ sie vor dem Tor stehen und bedeutete ihnen, daß sie nicht herein dürften. Sie rochen nach Branntwein. Der Kuhhirt stammelte nur immer: »nach Hause«. Er meinte da­ mit nicht etwa, daß er nach Hause, sondern daß er in unser Haus hineinwolle. Ungläubig, aber nicht sonderlich dreist, eher unbe­ holfen, lächelte er, als ich sagte, ich verstünde nicht, was er bei mir suche. Der andere, ein schwarzer, kräftiger Typ, an einen Zir­ kusstallmeister erinnernd, konnte kein Wort deutsch und wäre für sein Leben gern dringlicher geworden. Nachdem ich sie einige Minuten habe zappeln lassen, holte ich sie in den Garten. Der Zir­ kusstallmeister strahlte schon über das ganze vollrunde Gesicht. 117

Es wurde um ein Ansehnliches länger, als ich vor der Haustür auf den Schutzbrief des Kommandanten zeigte. Er konnte nicht le­ sen, witterte aber ein Verbot. Der Kuhhirt konnte »Kommandant« entziffern. »Kommandant«, sagte er betrübt und sah den Stall­ meister treuherzig an. Ich lachte: »Ja, Kommandant«, und er lach­ te auch. »Also - doswidanja.« Ich wandte mich mit ihnen wieder dem Gartentor zu. »Auf Widdersehn«, stotterte der Kuhhirt. Der Stallmeister sagte nichts. Er lachte auch nicht. Er schien die Welt nicht mehr zu begreifen. Der vierte Mann kam, nachdem ich gerade von einem Gang zum Bürgermeister zurückgekehrt war, wo ich mir ein paar der auch dort so spärlichen Informationen geholt hatte. Der Bürger­ meister hatte mir eine Zigarre geschenkt, die ich jetzt rauchte. Als ich den Russen vor den Schutzbrief geführt hatte, lachte er: »Oh nix ...« Ein bedauerndes, um Verzeihung bittendes Lachen. Aber er ging noch hinter das Haus, wohl in dem Gefühl er müsse et­ was tun, was nach patrouillenartigem Auftrag aussehe. Ein leerer Eimer stand dort, und nun kam ihm die rettende Idee. Er zeigte darauf - ach, er hatte ja nur Wasser haben wollen. Ich aber dach­ te an sein: »Oh - nix ...«, wonach er andere Absichten als die auf Wasser verraten hatte, und ich verzichtete darauf, ihm Wasser aus unserem Vorrat im Keller zu holen. Mein Prinzip ist seit langem: keine Tür ins Haus öffnen. Glücklicherweise komme ich wenig in die Lage, es anzuwenden. Diese Russen waren übrigens sauber und ihr Anzug »vor­ schriftsmäßig«, wie das die Preußen nennen würden. Das bringt mich auf die Vermutung, daß die Truppe vor dem Abmarsch steht. Daher wollten sie wohl, vielleicht am letzten Tag, schnell noch einmal einen kleinen Fischzug »organisieren«, wie die deut­ schen Soldaten das nannten.

3. Juni, Sonntag. Aus den Einblicken, die ich beim Bürgermeister gewinnen konn­ te, geht wiederum deutlich das russische Stigma der Unzuverläs­ sigkeit und vor allem der Undurchsichtigkeit hervor. Der Kom­ mandant hat schon längst wieder vergessen, daß er der Jugend einen Saal zum Tanzen zur Verfügung stellen und das Kino er­ öffnet haben wollte. Er hat großzügig angeordnet, daß den Schul118

kindern Milch verabreicht werden solle, aber er sabotiert durch Beschlagnahme jede Milchzufuhr. Er legt Hand auf die Milch­ lieferungen und schlägt Krach, weil die Bevölkerung nicht mehr Brot bekommt. Er ordnet an, daß die Landwirtschaft voll arbeite und verlangt plötzlich fünfzehn Gespanne für sich. Er will, daß endlich die Fettversorgung der Bevölkerung in Gang kommt, und nimmt alle Tage Kühe von den Bauernhöfen. Er fordert Wieder­ herstellung des Telephondienstes, und läßt zu, daß der Rest des noch in der ehemaligen Post hausenden Lazarettpersonals die Drähte durchschneidet. Er stellt der Gemeindeverwaltung Autos zur Verfügung und nimmt ihr das bei einigen Nazibonzen konfis­ zierte Benzin weg. Das alles zweifellos nicht aus Bosheit und Tükke, sondern weil, wie einer der Kommunisten auf der Gemeinde­ verwaltung mir sagte, »die Russen alles durcheinander werfen«. Derselbe Kommunist prägte den für einen solchen erstaunlichen Satz: »Alles scheitert immer an der Unzulänglichkeit der Men­ schen, deshalb kann eine neue Welt nicht entstehen.« Wehe dem Demokraten, der etwas ähnliches einem Kommunisten sagte! Bürgermeister Nolte ist ein bescheidener, aber braver Geist. Er macht seine Sache nicht ungeschickt, steht gut mit den Russen und hilft der Bevölkerung, soweit Hilfe in einem Chaos überhaupt menschenmöglich ist. Auch findet man ihn stets guter Laune, ob­ wohl er hin und her gejagt wird und selten wissen kann, wo ihm der Kopf steht. Ich höre, daß er aus Zossen stammt und dort frü­ her bei seinen Parteifreunden sehr beliebt war. Er ist es auch bei seinen hiesigen, so viel ich sehe. Auch haben sie einen gewissen Respekt vor ihm, den ihnen wohl seine natürliche Art, sich zu ge­ ben, einflößt.

4. Juni, Montag.

Die Russengräber bei der Kommandantur sind weg, man hat die Leichen exhumiert und offenbar auf einen Sammelfriedhof gebracht. Auch das Stalinbildnis nebst den Spruchbändern am ehemaligen Postgebäude ist weg. Meine Vermutung wegen des Russenbesuchs vom Samstag traf zu: Diese Truppe kommt weg. Sie hat ziemlich viele Frauen­ zimmer bei sich. Sie beginnen zu verladen. Nachher werden nur noch die Angehörigen der Kommandantur hier sein. Für die Be­

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völkerung eine neue Quelle für Gerüchte: hierher kommen die Amerikaner. Frau Zöllner, die Dolmetscherin des Kommandanten, hatte mir gesagt, sie wolle nachforschen, ob der verflossene Komman­ dant die russische Übersetzung meines Buches mitgenommen ha­ be. Sie hat mit dem Adjutanten des jetzigen gesprochen, und er hat heute zu dem Zweck die Schränke und Tischschubladen auf­ geschlossen. Ich bin dabei gewesen. Wieder wurde ich an Gogol erinnert. Im ersten Schrank, den er aufschloß, lag außer einem Häufchen Kehricht nichts. Der zweite enthielt ein Bündel gelben Papiers, der dritte alte russische Zeitungen. Im vierten stand ein SA-Stiefel (nur einer). Aus der Tischschublade fischte er eine Pi­ stole und einen abgebrochenen Federhalter heraus. Mein Buch war fort. Ich glaube zwar, daß es seine besten Dienste mir geleistet hat, aber es ist doch ein ärgerlicher Schlag. Es war das einzige in Deutschland vorhandene Exemplar, und mein damaliger Verle­ ger Rowohlt hatte es 1935, während ich selbst mich in der Schweiz aufhielt, mit etlicher Mühe durch einen Angehörigen der russi­ schen Botschaft in Berlin besorgen lassen. Die Gemeindeverwaltung hat vom Kommandanten einen Ra­ dioempfänger frei bekommen. Er spielte gerade Melodien aus den Operetten vor 1914, der »Polnischen Wirtschaft« und dem »Fide­ len Bauer«. Für unsereinen hat es seinen eigenen Reiz, daß das lan­ ge Verbotene wieder zu hören ist. Aber für die Menge? Ihr kommt es überhaupt nicht zum Bewußtsein. Und müßte man es nicht ei­ gentlich, ohne zu übertreiben, eine historische Stunde nennen, wenn die Berliner Philharmoniker ihr erstes Programm mit Men­ delssohn eröffnen? Ihr Dirigent ist jetzt Leo Borchard, »von Welt­ ruf, in der ganzen Welt gefeiert«, verkündet die »Tägliche Rund­ schau« in ihrer dilettantischen Aufbaumanier. Der Kommandant bringt es leider nicht fertig, jeden Tag eine Zeitung hierher gelangen zu lassen. Auf der Gemeindeverwal­ tung fand ich ein paar alte Nummern, die ich noch nicht gese­ hen hatte. Sie enthielten für uns einiges Neue und Wesentliche, aber sogar auf der Gemeindeverwaltung hatte es niemand beach­ tet. Wenn aber alles, was in der Zeitung gedruckt wird, den Cha­ rakter der Meldung hat, daß am 22. Mai in Groß-Berlin der Post­ verkehr wieder eröffnet werde... Noch heute ist kein Postverkehr in Berlin, wie von zuverlässigen Leuten versichert wird.

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5. Juni, Dienstag. Unermüdlich, in aller Frühe und bis spät in den Abend hinein ruft der Kuckuck. Mehrere geben sich Antwort. Mich dünkt, sie waren nie so in der Nähe und sie haben nie so lange hintereinan­ der (bis zu hundertmal) gerufen wie dieses Jahr. Wir haben die Teppiche wieder in unsere Zimmer gelegt und uns, soweit unsere einquartierten Bombengeschädigten und Eva­ kuierten es zulassen, wieder von den »Volksgenossen« in der Burgsdorfstraße emanzipiert. Der Garten ist in Ordnung, vieles wächst schlecht, anderes steht gut, auch die Blumen blühen, Ritter­ sporn, Rosen, Nelken. Ich wundere mich, daß noch so viel gedeiht. Es will nicht regnen, und wir haben kein Wasser zum Gießen. Auch der Patschuliduft ist aus meiner Zimmerecke gewichen. Nur Manfred fehlt uns. Die »Tägliche Rundschau« in Berlin fährt fort, die Rote Armee anzuhimmeln, weil sie für Berlin Lebensmittel auf einige Monate zur Verfügung gestellt habe. Die Bevölkerung des Kreises Teltow weiß, auf wessen Kosten diese Großmut ging: Ihr sind die Vorräte aus den Lebensmittel-Speichern weggenommen worden. Der Bür­ germeister muß um jeden Sack Mehl feilschen. Öfter ist es vor­ gekommen, daß mit Mühe zusammengeholtes Mehl vom Wagen weg, der es transportierte, für die Russen beschlagnahmt wurde. Einmal sogar samt dem Wagen, und die Leute, die ihn fuhren, wurden noch geschlagen, als sie versuchten, wenigstens einen Teil der Ware zu retten. Das ist eine authentische Mitteilung der hie­ sigen kommunistischen Gemeindeverwaltung. Auf anderer Leu­ te Kosten ist gut Großmut üben, und das Land muß es bezahlen, wenn die Städte dank ihrer größeren Publizität die »Sicherung der Ernährung« hinausposaunen können. Aber wir wollen ein­ mal sehen, wie es auch in den Städten aussieht, wenn die bishe­ rigen Vorräte (die zum Teil auch, wie Bohnenkaffee und Tee, aus SS-Magazinen und den Lagern für die im Ausland zu bestellen­ den Liebesgaben-Paketen, jenen offiziellen und deviseneinträgli­ chen Schwarzhandel der Hitlerregierung, stammen) aufgezehrt sein werden - in drei Monaten ungefähr. Auf dem Lande ist nichts, wächst dieses Jahr wenig, und die Be­ stellung der Äcker wird fortgesetzt durch Eingriffe der Russen ge­ stört. Pferde und Wagen müssen sich die Bauern gegenseitig aus­ leihen, so wenig sind noch da. Geflügel ist von den Russen fast 121

gänzlich abgeschlachtet worden. Sie machen es wie die Deutschen in Rußland, und es wäre kein Wort darüber zu verlieren, wenn nicht die Russen in der unter ihrer Ägide (Chefredakteur Soko­ low) gemachten »Täglichen Rundschau« ihre gewaltige Uneigen­ nützigkeit loben ließen. (Der gleiche Byzantinismus herrscht in den Spalten - es ist mehr als die Hälfte des Blattes -, die mit Nach­ richten über die grandiosen Errungenschaften in der Sowjetuni­ on gefüllt sind.) Man beglückwünscht sich selbst dazu, daß man den »freien Handel« wieder hergestellt habe. Aber den wortrei­ chen Artikeln darüber ist mit keiner Silbe zu entnehmen, wo­ mit denn gehandelt werden kann. Stattdessen ein aufschlußrei­ ches Inserat einer russischen Einkaufsgesellschaft: Wer Leder hat, soll sich zur Lieferung nach Rußland melden. Das ist umso deut­ licher, als von der Gegenleistung dieser als Privatgesellschaft an­ noncierte Brandaktion kaum andeutungsweise die Rede ist. Viel­ leicht möchte man auch erwägen, etwaigen Geschäftsversuchen der Amerikaner das Wasser abzugraben.

6. Juni, Mittwoch. Heute ist der Jahrestag der Invasion. Im vorigen Jahr stand Manfred um diese Zeit vor seinem Studienurlaub auf Grund sei­ ner Schädelverletzung, und er hoffte, im jugendlichen Optimis­ mus, der Krieg werde in zwei Monaten, wenn sein Urlaub ablau­ fen würde, beendet sein. Ich warnte ihn, ich sagte nur: Was wird heute in einem Jahr sein? Jetzt wissen wir es. Der Güterzug, der die Resttruppen aus Mahlow samt der dazu­ gehörigen Frauenzimmer wegbringen soll, steht noch immer ohne Lokomotive im Bahnhof. Jeden Tag, den er länger dort steht, wird mehr hineingeladen: Sessel, Betten, Tische, Teppiche. Hunderte von Säcken mit Mehl, Salz, Zucker, mehrere Waggons mit Kühen. In einem Waggon ist ein Klavier verstaut worden, ein Frauenzim­ mer sitzt davor und spielt. Die andern liegen mit den Soldaten in den angrenzenden Vorgärten der Häuser auf dem Bauch. Wenn sie davon genug haben, strolchen sie durch die Gärten der Umge­ bung und räubern eimerweise Erdbeeren und Kirschen. Alle ehemaligen Mitglieder der NSDAP, der »Frauenschaft« usw. müssen jetzt jeden Morgen um 7 Uhr zur Arbeit antreten, auch die Frauen der Männer, die Pg’s waren. Mir scheint, daß zu Un­ 122

recht die Männer der Frauen, die Pg’s waren, ausgelassen sind. Ei­ nige davon gibt es hier in Mahlow.

7. Juni, Donnerstag. Die Deklaration über die Einsetzung der Interalliierten Kon­ trollkommission gelesen. Sie ist sehr umständlich und trotzdem nur umrißhaft. Der Ort schwirrt von törichten Gerüchten: Man habe Amerikaner gesehen, Häuser seien beschlagnahmt worden, die Kommissionsmitglieder sollten hier wohnen... In all dem doch ein Sinn: insofern als es die Sehnsucht der Leute nach einem zuverlässigen Regime, wie hart es immer sei, dokumentiert. Den wiederholten Ausdruck der Deklaration, die Wünsche der Alliierten seien von den »Deutschen Behörden und dem deut­ schen Volk« zu erfüllen, legen die Ortskommandanten überall so aus, als könne jeder kleine Moritz verlangen, was ihm gerade einfällt. Der Kommandant von Rangsdorf forderte plötzlich von hier 30 Bauhandwerker. Bürgermeister Nolte lehnte ab, weil diese Handwerker (es gibt keine 15 davon) hier alle mit dringenden Ar­ beiten beschäftigt sind. Nur seine Berufung auf den Bezirkskom­ mandanten stützte ihn.

8. Juni, Freitag.

Ich schreibe wieder. Ein neues Buch. Nächste Woche will ich zu Fuß nach Berlin. Es ist absurd, daß keine Bahnverbindung nach Berlin zustande kommt. Ebenso absurd, daß der Radius von Ber­ lin nicht mindestens so weit gezogen wird, wie Leute wohnen, die fast ausschließlich in Berlin beschäftigt waren. Richtiger ausge­ drückt, was hier herum wohnt, sind im Grunde ja alles Berliner, die aus der Stadt herausgezogen sind.

9. Juni, Samstag. Heute früh habe ich die große Anschlagtafel »Hier spricht die NSDAP« am Ausgang der Straße niedergelegt. Mit Erlaubnis des Bürgermeisters darf ich die Balken als Brennholz verwenden. Wir 123

können damit an den zwei Tagen kochen - der erste Nutzen, den ich von der NSDAP habe. Es ist eine »Erfassungsstelle für Antifaschisten« eingerichtet worden. Ich habe mich dort gemeldet. Als ich diese Eintragungen der letzten Wochen überlas, staunte ich selbst, wie wesentlich die kleinsten Ereignisse geblieben sind. Jedes, dessen Aufzeichnung fehlen würde, würde das Gesamtbild schmälern und die Charakterisierung der Menschen und Dinge beeinträchtigen. Aus der Gemeindeverwaltung habe ich einen jungen Maler na­ mens Röbbel kennengelernt. Er macht dort Bürodienst und ist dabei, obwohl Kommunist, nicht glücklich. Er leidet auch unter der Primitivität der Vorgänger und vermißt überall den großen Schwung, den er wohl - noch ohne reifere Erkenntnisse - erhofft hatte. Ich habe ihn gebeten, mich zu besuchen. Je nachdem ich ihn bei näherer Betrachtung finden werde, kann ich ihn vielleicht in dem publizistischen Verlagsunternehmen gebrauchen, das ich mit meinem jetzigen Verleger anstrebe. So lange ich nicht weiß, wo er ist, muß ich allein handeln. Jetzt, da die Alliierte Kommission ih­ re Tätigkeit beginnt, halte ich den Zeitpunkt für gekommen, mich in Berlin nach meinen Freunden umzusehen.

10. Juni, Sonntag. Wir sitzen früh auf der Terrasse beim bescheidenen Frühstück: drei Schnitten Brot, dazu etwas Marmelade aus Rhabarber und Stachelbeeren, die meine Frau mit Saccharin gekocht hat. Aber die Sonne strahlt, die Lindenhecke vor der Terrasse ist üppig und dunkel gegrünt, die hohen Birken an der Straße stehen mit ihren regsamen Wipfeln herrlich gegen das Blau des Himmels. Draußen geht ein Mädchen pfeifend vorbei. Und wie laut, wie so aus vol­ ler Brust können die »Volksgenossen« jetzt »Guten Morgen« sa­ gen, als hätten sie nie, und das noch vor sechs Wochen, »Heil Hit­ ler« gesagt.

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Anmerkungen zum Tagebuch

Seite 9, «... der Kanonendonner von der Front östlich und südöstlich Ber­ lins«: Am 21. April 1945 überschritten im Nord-Osten Berlins bei Malchow die ersten sowjetischen Eliteeinheiten die Stadtgrenze. Am Vortag war die Rote Ar­ mee im nahen Wünsdorf einmarschiert, am 22. April besetzte sie den acht Kilo­ meter entfernten Flughafen in Rangsdorf, am 23. April Mahlow. Zwei Tage spä­ ter wurde Berlin eingeschlossen. Seite 9, »Ich bestelle weiterhin den Garten...«: Erik Reger wohnte seit August 1943 in der Burgsdorfstraße der Gemeinde Mahlow. Das Einfamilienhaus war Reger wegen der Bombardierung Berlins von seinem neuen Verleger Eduard Kaiser mit dem gleichnamigen Verlag in Böhmisch-Leipa zur Verfügung ge­ stellt worden. Im Grundbuch eingetragen war von 1943 bis 1947 Margarete Maurer, geb. Schaan, die das Haus nach 1989 wieder erhielt. Die Straße wur­ de nach dem alten Teltower Gutsbesitzer Konrad von Burgsdorf (1595-1652) benannt. Seite 9, «... mich beim Volkssturm (II. Aufgebot) dauernd krank meldete.«: In das Aufgebot II des Volkssturms mussten Männer zwischen 25 und 50 Jahren mit Berufen, die als kriegswichtig erachtet wurden. Die Einheiten setzte man nur kurzzeitig und unmittelbar in Heimatnähe ein. Seite 13, «... haben den Bürgermeister Hagena hier sitzen lassen.«: Dokumen­ te wie Urteilsbestätigungen, Auswanderungsanträge, Strafregisterauszüge oder Enteignungen (»Betrifft: Entjudung«) im Gemeindearchiv von Mahlow zeigen den Bürgermeister Friedrich Hagena als nationalsozialistischen Erfüllungsge­ hilfen und pflichtschuldigen Denunzianten, gerade auch bei der Durchsetzung von antijüdischen Erlassen. Seite 13, «... in dem Herr Bürckel verkehrte«: Der Reichskommissar für die Wiedervereinigung mit Österreich Josef Bürckel (1895-1944) war Initiator der Massendeportation der Wiener Juden sowie der 1940 verbliebenen jüdischen Bevölkerung aus den Gauen Baden und Saarpfalz. Er starb eines natürlichen Todes. Seite 15, «... an Manfred, unseren einzigen Sohn«: Zu diesem Zeitpunkt war Regers Sohn Manfred Dannenberger (1923-2004) schon neun Tage in amerika­ nischer Kriegsgefangenschaft, wurde aber als Berliner an die Franzosen überge­ ben. Nach seiner Rückkehr 1946 begann er als Volontär im Tagesspiegel und ar­ beitete in der Redaktion bis zu seinem Ruhestand 1983. Seite 16, «... mit den Bildern der russischen Heerführer Tschernjachowski (der inzwischen gefallen ist), Rokossowski, Schukow, Koniew, Petrow, Mali­ nowski«: Tschernjachowski (1906-1945) eroberte mit der 3. Weißrussischen Front Witebsk, Vilnius und Kaunas. Er wurde beim Vorstoß auf Königsberg am 17. Februar 1945 von einem Granatsplitter tödlich getroffen. Den Truppen des polnisch-sowjetischen Offiziers Konstantin Konstantinowitsch Rokossowski (1896-1968) gelang in Stalingrad die Einkesselung der 6. Armee, das Foto in al­ len alliierten Zeitungen, wie er Feldmarschall Friedrich Paulus verhörte, mach­ te ihn weltweit bekannt; zu G.K. Schukow und I.S. Koniew siehe weiter unten;

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Iwan Jefimowitsch Petrow (1896-1958) war ab März 1944 Chef des Stabes der 1. Ukrainischen Front, also auch zuständig für den Einmarsch in Mahlow; Radion Jakowlewitsch Malinowski (1898-1967) führte ab 1943 die 2. und 3. Ukrai­ nische Front, die durch Rumänien und Ungarn in die Slowakei vorstießen. Seite 16, «... meines Romans >Union der festen Hand«nicht zu förderndem«: Neben der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« gab es auch Listen des zu för­ dernden bzw. nicht zu fördernden Schrifttums. Seite 31, »... die Namen seiner ausländischen Musterschüler Mussert oder Degrelle«: Anton Mussert (1894-1946), Mitbegründer und Vorsitzender der niederländischen Nationalsozialisten, fungierte im Auftrag der Deutschen als »Führer des niederländischen Volkes«; nach 1945 wurde er verurteilt und hin126

gerichtet. Léon Degrelle (1906-1994) war Führer der wallonischen Faschisten in Belgien und Offizier in der Waffen-SS. Seite 42, »... bei Daimler in Berlin-Marienfelde«: Das Mercedes-Benz-Werk in Berlin-Marienfelde, 1902 gegründet, war ein Stammwerk der Firma. Ab 1933 wurden hier Panzerkampfwagen und Flugzeugmotoren, u.a. von 3700 Zwangs­ arbeitern, gefertigt. Seit September 1944 existierte im Werk eine Außenstelle des KZ Sachsenhausen. Seite 51, »>Tutto distrutto, in Italia come in Germania«. >Per due uomini«, nikke ich. >Si, si, per due uomini. Si poteva salvare molto...««: »Alles zerstört, in Ita­ lien genauso wie in Deutschland.« »Und alles wegen zweier Männer:« »Ja, ja, al­ les wegen zweier Männer. Man hätte noch viel retten können...« Seite 54, »In Ordnung ist nur der kleinere Paillard«: Die Firma Paillard in St. Croix war der größte Schweizer Radio-Hersteller. Seite 55, »Wir kennen dieses Hunger- und Lumpendasein ja aus eigener Anschauung von den Lagern in dieser Gegend«: In Mahlow gab es minde­ stens neun Zwangsarbeiterlager, belegt mit zwanzig bis hundertfünfzig Ver­ schleppten. Seite 61, »... hinausgepilgert ist, an Widerstandsnestern vorbei«: Am 30. April 1945 begann der Kampf um den Reichstag. Als in den frühen Morgen­ stunden des 1. Mai die rote Fahne über dem Parlament wehte, hatte Hitler sich schon erschossen. Seite 71, »... von Lenka von Koerber«: Die schreibende Bewährungshelferin und Kämpferin für eine Justizreform Lenka von Koerber (1888-1958) fuhr 1932 für sieben Monate in die UdSSR und erhielt als erste ausländische Journalistin Zugang zu den dortigen Gefängnissen. Beeindruckt vom Ansatz der Wieder­ eingliederung nach Ideen von Anton Semjonowitsch Makarenko veröffentlich­ te sie 1933 im Rowohlt-Verlag ihr Buch »Sowjetrussland kämpft gegen das Ver­ brechen«. Es wurde sofort verboten und verbrannt, von Koerber kurzzeitig in Gestapo-Haft genommen. Seite 76, »Wenn ich doch die heutigen Nachrichten mit eigenen Ohren hö­ ren könnte!«: Am 2. Mai um 15.00 Uhr wurden in Berlin alle Kampfhandlun­ gen eingestellt. Seite 80, »... Ostarbeiter Sauckelscher Prägung«: Der Generalbevollmächtig­ ter für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel (1894-1946) war ab 1942 verantwort­ lich für die Deportation und Organisation von fünf Millionen Zwangsarbeitern nach Deutschland. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess wurde er zum To­ de verurteilt und hingerichtet. Seite 81, »... Prießnitz-Krankenhauses«: In Mahlow befand sich seit 1927 das erste Lehrkrankenhaus für Naturheilkunde in Deutschland, benannt nach dem Landwirt Vinzenz Prießnitz (1799-1851) und betrieben von einem der vielen Naturheilvereine der Zeit. Seite 82, »... «Freunde vernehmet die Geschichte« aus dem Postillon von Lonjumeau und dem Czärdäs aus dem «Coppélia-Ballett« von Delibes«: Die Oper »Le Postillon de Lonjumeau« (1836) von Adolphe Adam und das Ballett »Coppélia ou La Fille aux yeux d’émail« (1870) von Léo Delibes mit dem Csardas, ei­ nem traditionellen ungarischen Tanz, waren zwei Bühnenklassiker. Seite 82, »... Fritzi Massary mit dem Weibermarsch aus der >Lustigen Wit­

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we«Reichsbauernführer< Darré?« Walther Darré (1895-1953) war Reichsbauernführer und stand an der Spitze des Reichsmini­ steriums für Ernährung und Landwirtschaft sowie des Reichsamtes für Agrar­ politik. Nach Konflikten mit Himmler war er aber schon in den letzten Kriegs­ jahren in ein Jagdhaus in der Schorffieide abgeschoben worden. Seite 102 »... es dort eine >Tägliche Rundschau< genannte Zeitung gebe«: Die Tägliche Rundschau erschien vom 15. Mai 1945 bis Ende Juni 1955, herausgege­ ben von der Roten Armee, in der Sowjetischen Besatzungszone und DDR. Als Chefredakteur fungierte Oberst Michail P. Sokolow, Politoffizier der 2. Belorus­ sischen Front. Seite 110, »... wundert mich der des Professors Sauerbruch«: Ferdinand Sau­ erbruch (1875-1951), der bedeutendste Chirurg des 20. Jahrhunderts, ließ sich durch die Nationalsozialisten einspannen, protestierte aber auch gegen deren Euthanasie-Programm und hatte Kontakte zu den »Verschwörern« des 20. Ju­ li 1944. Von der Sowjetischen Militäradministration wurde er als Stadtrat für das Gesundheitswesen eingesetzt, nachdem er jedoch nicht im Sinne der neuen Machthaber agierte, entließ man ihn im Oktober 1945 wieder. Seite 116, »... das Renaissance Theater ausgerechnet unter Ernst Legal, ausge­ rechnet mit dem >Raub der Sabinerinnem und ausgerechnet mit Hans Hermann Schaufuß als Striese«: Ernst Legal (1881-1955), von 1938 bis 1944 Regisseur am Berliner Schillertheater unter Heinrich George, war mit seiner markanten, fast dreieckig anmutenden Kopfform ein beliebter, teils skurriler Nebendarsteller; im seichten Schwank »Raub der Sabinerinnen« (1883) von Franz und Paul von Schönthan versucht der Theaterdirektor Striese eine schriftstellerische Jugend­ sünde des Gymnasialprofessors Gollwitz auf die Bühne zu bringen; in solchen Komödien trat auch der im Nationalsozialismus in vielen Propagandafilmen beschäftigte Hans Hermann Schaufuß (1893-1982) auf. Seite 117, »Den norwegischen Quisling haben sie; und der Schwätzer Knud Hamsun ist verhaftet«: Der norwegische Schriftsteller und Nobelpreisträger Knut Hamsun (1859-1952) hatte sich in Zeitungsartikeln hinter Hitler gestellt, die antisemitische Politik in Deutschland verteidigt und an die einheimische Bevölkerung appelliert, den Führer der faschistischen Partei Norwegens Vidkun Qusling (1887-1945), 1942 von den Nazis als Ministerpräsident eingesetzt, zu wählen. Qusling wurde am 9. Mai verhaftet, verurteilt und hingerichtet.

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Seite 117, »... Ribbentrop, Funk«: Der ab 1938 als Reichsminister des Auswär­ tigen agierende Joachim von Ribbentrop (1893-1946) tauchte nach dem Krieg in Hamburg unter, wurde am 14. Juni 1945 gefasst und nach einem Todesur­ teil im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess hingerichtet. Den nationalsozia­ listischen Wirtschaftsführer und Reichsbankpräsidenten Walther Funk (18901960) verhafteten britische Einheiten im Juni 1945 im Ruhrgebiet, in Nürnberg wurde er zu lebenslänglicher Haft verurteilt, 1957 entlassen. Seite 120, »Ihr Dirigent ist jetzt Leo Borchard«: Der in Moskau geborene Leo Borchard (1899-1945) arbeitete während des Krieges als freier Dirigent in Berlin und half zusammen mit seiner Lebensgefährtin Ruth Andreas-Fried­ rich versteckten Juden in der Stadt. Nach der Kapitulation wurde er vom Magi­ strat zur Leitung der Berliner Philharmoniker eingesetzt, aber im August 1945 von einem amerikanischen Soldaten an einer Straßensperre erschossen, als der Chauffeur des englischen Dienstwagens, in dem Borchard saß, nicht anhielt. Seite 124, «... halte ich den Zeitpunkt für gekommen, mich in Berlin nach meinen Freunden umzusehen.«: Bei den Freunden handelt es sich vermutlich um einen Zirkel von Mitarbeitern im Deutschen Verlag. Drei Monate später er­ schien die erste Ausgabe des Tagesspiegel. Reger wohnt zu dieser Zeit schon mit seiner Frau im Albigerweg in Nikolassee in einem von den Amerikanern abge­ sperrten Quartier.

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Die Zahnräder des Getriebes erkennen

Nachwort Von der Höhe Man muss über den Kirchplatz, vorbei an der spätromanischen Basilika, über die Ortsstraße und dann den Hang hinauf, über den terrassenförmig angelegten Friedhof. Das sind ziemlich ge­ nau 180 Höhenmeter. Oben angekommen, steht man dann an dem Ort, wo die Lebensstränge jenes Mannes zusammenlaufen, der unter dem Namen Erik Reger zwei scheinbar so ganz verschie­ dene Karrieren lebte. Die letzte ist bekannt: als Mitherausgeber und geistiger Vater des Tagesspiegel, der am 27. September 1945 mit seiner ersten Ausgabe startete. Das war reichlich vier Mona­ te nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und drei Monate nach dem Abschluss von Regers Mahlower Tagebuch. Er starb früh, mit 61 Jahren, im Mai 1954. Als Journalist war er eine absolute Instanz. Seine Artikel hatten im Nachkriegsberlin Orientierungswert. Für viele war er so et­ was wie das antikommunistische »Gewissen der Stadt«. »Dibrowa heißt die Kanaille«, schrieb er in einem Leitartikel nach dem 17. Juni 1953, als der sowjetische Stadtkommandant die Erschießung eines Westberliners befahl. »Man merke sich den Namen für eine spätere Auslieferungsliste.« Die DDR war für Reger ein »sowjeti­ sches Sklavengebiet« mit »roten Mördern«.1 Dabei hatte Erik Reger am Ende des Zweiten Weltkrieges die Rote Armee auf deutschem Boden zunächst begrüßt und kom­ mentierte die sowjetischen Entscheidungen erst einmal neutral, ja sogar wohlwollend. Denn ihm ging es zuallererst um die na­ tionalsozialistischen »Volksgenossen«, die er in seinem Mahlower Tagebuch beschrieb, und deren Erziehung. Dieses Aufklärungs ­ programm wiederum hatte viel mit seiner ersten Karriere zu tun und zwar als Autor des großen Industrieromans der Weimarer Republik, in dem er hellsichtig vor den Nazis warnte, die dafür seine Bücher verboten. Das Besondere bei Reger war: Er war schneidend in seinem An­ tikommunismus und mindestens genauso scharf in seinem An­ 1 rg, Eine Rechnung ist aufgemacht, in: Der Tagesspiegel vom 19. Juni 1953. 131

tifaschismus. Das Mahlower Tagebuch hält einen weltgeschicht­ lichen Umbruch in einer deutschen Provinzstraße fest, aber es manifestiert zugleich auch das Weltbild des Chefredakteurs der wichtigsten West-Berliner Nachkriegszeitung, deren Positionen bei der SED-Zwangsvereinigung, dem West-Berliner Beharren während der Berlin-Blockade und beim Arbeiteraufstand vom Ju­ ni 1953 deutsche, ja sicher sogar Weltpolitik beeinflussten. Die Tagebucheinträge in das schwarze, kleine Notizbuch wa­ ren für Reger eine Möglichkeit zur Selbstverständigung und da­ bei auch Rückzugsraum und Halt in bedrohlichen Zeiten. Als Er­ innerungsprotokolle für den Eigengebrauch waren sie jedoch von vornherein nicht gedacht. Dazu passen die biographischen Erklä­ rungen und die persönlichen Statements ebenso wenig wie die vielen Zettel mit Einfügungen.2 Reger hatte von Anfang an ei­ ne Veröffentlichung des Tagebuchs im Sinn. Dafür spricht auch, dass er später noch eine Schreibmaschinen-Abschrift anfertigte. In das Tagebuch sind Regers Prämissen eingeflossen, unter denen er auch sonst seine Texte verfasste. Und die wiederum haben eben viel mit seinen zwei Karrieren zu tun, die man zunächst erst ein­ mal als biographische Brüche liest, die aber vielmehr von seinen Lebenskohärenzen erzählen. Worum geht es? Auf den Höhen über Bendorf, dem Geburtsort Hermann Dannenbergers, wie Erik Reger mit bürgerlichem Namen hieß, kommt man, was diese Kohärenzen angeht, in direkter Weise zu einer Antwort. Am Horizont hinter der Rheinische Tiefebene ist der einstige »Erbfeind« Frankreich zu erahnen, Koblenz ist nah, aber nicht zu sehen. Unten zieht der grün-bläuliche Strom, ewig gleich und unaufhörlich, in unbekannte Ferne. Im Flussbett eine unbe­ wohnte Insel, davor ein still-mündender Seitenarm mit einsamen Sandbänken. Ein Jugend-Eldorado für heiße Sommertage. Keine dreihundert Meter vom Fluss entfernt liegt an der Rheinstraße das rote Backsteinhaus der Familie Dannenberger. Vielleicht war es sogar von der Bergwerksleitung dem Vater zur Verfügung ge­ stellt worden. Hier oben, über dem Friedhof, auf der Vierwindenhöhe war des­ sen Arbeitsplatz. Noch immer stehen die Reste des Grubenhauses, 2 Zettel oder Einschübe fehlen in den privaten, kalendarischen Aufzeichnun gen von Erik Reger vom Januar 1937 und 25. Juni - 2. August 1937, Nachlass Erik Reger, Akademie der Künste (im Folgenden AdK), Mappe 348.

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Das Geburtshaus Hermann Dannenbergers in Bendorf

in dem die Hauer beteten, bevor sie in den Berg abstiegen. Dane­ ben der Eingangsschacht zur Erzgrube »Werner«. Später ließ Al­ fred Krupp Eisenerzröstöfen bauen, senkrechte Röhren tief in die Erde. Höhlenschlünde, in denen das Erz bei 1450 Grad aus dem Stein schmolz. Vater Johann David Dannenberger arbeitete dort als Hütten-Aufseher. Mit zehn Jahren fing er 1866 in der Grube an. Es gibt ein Foto von ihm mit feinen Gesichtszügen, einem stolzen Schnurrbart und hellen, wachen Augen. Ihm, so sagte es der Sohn, habe er alles zu verdanken.3 Erik Reger war das einzige Kind. Er wird oft hier oben neben dem Verwaltungsbau gestanden haben. Ein Hochsitz über einem Bergarbeiterfamilienleben. Die Fünftausend-Seelen-Gemeinde Bendorf war mit vier nahen Eisenerzhütten eine der industrialisiertesten Städte des südlichen Rheinlands. Ein geschlossener Bergbaukosmos in einer grandi­ osen Landschaft am Rande des Westerwalds mit nahen Berghän­ gen voller Wein, verwilderten Grundstücken und kleinen Arbei­ tergärten. Erik Reger wusste etwas von der Natur. Das kann man auch in seinem Mahlower Tagebuch lesen. Aber die Berghütte war kein romantisches Falun mit Abdrift in einen anderen Seelenzu­ stand. Unter Tage - das hieß Vortrieb, Stütz-Stempel und einen ausgemachten Sinn für Gefahr haben. Eine Männerwelt, die auch deren Kinder prägte. 3 Interview mit Vera Dannenberger, der Schwiegertochter Erik Regers, vom 22. Juni 2014.

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Bendorf, das war Provinz ohne Provinzidylle am Pulsschlag der Wirtschaft, in die jede Konjunkturschwankung unmittelbar durchschlug. Als Kind erlebte Erik Reger zunächst die Verdopp­ lung der Bevölkerung in einer rasanten Wachstumsphase, in sei­ ner Jugend dann den Niedergang der Grube über der Stadt. Es war eine Welt der Fabrikdirektoren und Arbeitsordnungen, von Tag- und Nachtschichten, von Familienkatastrophen mit Arbeits­ losigkeit, Krankheit und Invalidität, mit fehlenden Gewerkschaf­ ten und schwachen 53 SPD-Stimmen um die Jahrhundertwende. Hier gab es nur eine Macht: die Kruppsche Führungsetage im fer­ nen Essen. Auch das prägte. Die Familie kannte die verschiedenen Stadtmilieus seit Genera­ tionen. Schon die Ururgroßmutter Regers findet sich zu Zeiten der Französischen Revolution im Taufregister, und auch der Großva­ ter Dannenberger hatte schon in der Grube »Werner« geschuftet, ebenso dieser und jener Verwandte. Es war eine überschaubare und doch ganz eigene Welt. Reger hat später immer wieder detail­ reich das Regionale zum Bild für das Ganze gemacht. Es gibt ein Belegschaftsfoto des Hüttenbetriebs über Bendorf: Zweihundert Männer in elf Reihen vor einer Kirchenwand. Män­ ner, für die Vater Johann David Dannenberger als Hüttenaufse­ her verantwortlich war. Dieses Bewusstsein nahm der Sohn mit: zuständig zu sein für die Welt, die ihn umgab. Die Familie kam ganz aus dem Industrieproletariat und gehörte doch zum städti­ schen Kleinbürgertum. Sie lebte die Gewissheit, sich herauszuhe­ ben. Vielleicht kamen Regers vorbehaltlose und direkte Urteile, aber auch sein Selbstbewusstsein, ins Große eingreifen zu kön­ nen, eben von daher. Neusachlicher Aufbruch Provinzwelt und Familientradition waren Regers Wurzeln, aber sie wurden ihm nicht zur Heimat. Ab April 1903 besuchte er das Kaiser-Wilhelm-Realgymnasium in Koblenz. Der tägliche Schul­ weg über den Rhein war dabei schon so etwas wie ein Ausweg, ein denkbarer Übergang. Wohin? Im März 1912 machte er sein Abi­ tur und stürzte sich sofort ins Sprachenstudium im rheinischen Bonn. Deutsch, Französisch, Englisch. Schon nach zwei Semestern ging er nach München und veröffentlichte aus dem Umkreis der reformerischen Freistudentenschaft eine fünfzigseitige Broschü­ re. »Ein Weck- und Mahnruf mit allerlei Seitenblicken von einem 134

unparteiischen Studenten.« Schon da sein Selbstbewusstsein. In aller Klar­ heit schrieb der Studienanfänger da­ rin über Missstände bei Vorlesun­ gen und in Seminaren und verlangte die überfällige Demokratisierung der Universität. Die Studentenverbindun ­ gen seien abzuschaffen, deren Mitglie­ der schwängerten sowieso nur Dienst­ mädchen. Am Ende solle die Uni zum Ort der sozialen Frage werden. »Das Volk muss aufgesucht werden bei der Arbeit, im Elend und in der Gene­ Erik Reger als Soldat sung aus dem Elend.«4 Der 19-jährige hatte schon alles - die Inhalte, die Direktheit, den Alltagsbezug und das Dozierende -, was den späten Reger ausmachen sollte. Es war die Zeit, in der er sich mit seiner Cousine Christine Lippert, der Tochter seiner Tante aus Bad Dürk­ heim an der Weinstraße, immer häufiger schrieb. Und es war der Anfang einer Lebensbeziehung, in der sie sich ganz in den Dienst der Aktivitäten ihres Mannes stellt. Sie ist dann auch die Frau an seiner Seite in Mahlow. Nach einem Studienjahr in Heidelberg wurde der 22-jähri­ ge Reger 1915 eingezogen, kam 1916 in den Stellungskrieg der West-Front, musste ins Lazarett und geriet im Juni 1917 in der dritten Flandernschlacht beim Wytschaetebogen in englische Kriegsgefangenschaft. Bei den Aufräumarbeiten in den flandri­ schen Schlachtfeldern musste er dolmetschen. Im Herbst 1919 wurde er entlassen und ging nach Bendorf zurück.5 Der Frontkrieg prägte die politische Avantgarde einer Genera­ tion. Im Flandernbogen waren auch Erwin Piscator (geb. 1893), 4 Dannenberger, Hermann, Der Streit um die Universitäten. Reform an Haupt u. Gliedern! Ein Weck- und Mahnruf mit allerlei Seitenblicken von einem un­ parteiischen Studenten, München 1913 (Verlag Max Steinebach). 5 Die Feldpostbriefe Regers sind im Besitz von Vera Dannenberger. - Reger wurde im April 1915 ins 23. Bayerische Infanterie Regiment »König Ferdi­ nand der Bulgaren«, 10. Kompanie, in deren Stammstützpunkt in Kaiserslau­ tern eingezogen. Zwei Monate später war er zur Unteroffiziersausbildung im großen Armeelager bei Hammelburg zwischen Würzburg und Fulda. Dann kam er an die Westfront.

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Ludwig Renn (geb. 1889) und Wieland Herzfelde (geb. 1896). Wer den Krieg überlebte, wurde nie mehr aus ihm entlassen, so wie der Ewig-Bellizist Ernst Jünger, der zwei Kapitel seines Tagebuchs »In Stahlgewittern« in Flandern schrieb, oder der gleichaltrige Radi­ kalpazifist Ernst Toller oder auch der fünf Jahre jüngere Erich Maria Remarque. Auch Reger versuchte das Kriegserlebnis - wie die meisten Jungschriftsteller - zehn Jahre danach literarisch zu fassen. Leider ist das Manuskript verloren gegangen.6 Später setz­ te er immer beim Ersten Weltkrieg und der Novemberrevoluti ­ on 1918 an. Für ihn hatte das Korps der deutschen Offiziere, die »noch nicht einmal in ihrem Fach ihr Examen bestanden« hatten, völlig versagt. Es war der Bankrott einer selbst stilisierten gesell­ schaftlichen Führungsschicht und der desillusionierende Einblick in die massive Täuschung der »Heimatfront«. An zwei Stellen wird Reger im Mahlower Tagebuch den revolu­ tionären Nachkriegsaufbruch von 1918 der dumpf-deutschen Be­ findlichkeit im Mai 1945 entgegenstellen. Tatsächlich lag für den späteren »Kriegstreiber Nr. 1«, wie ihn das Neue Deutschland beti­ teln wird, in der Novemberrevolution eine der großen Hoffnungs­ momente deutscher Geschichte. Alles Militärische blieb ihm le­ benslang ein Graus, Preußen war für ihn der große Zerstörer. Bei seiner Rückkehr aus dem Krieg war Reger 26 Jahre alt. Er hatte keine Ausbildung, keine Arbeit, aber er wollte heiraten. Und so blieb ihm nur, was er hatte vermeiden wollen: Krupp. Die re­ gionale Bergverwaltung und die Firmentreue der Familie spra­ chen dafür, dass er angestellt wurde. Im April 1920 zog das junge Paar an die Ruhr in Essen-Werden, nicht weit von der Villa Hügel, und Reger fing im sogenannten Statistischen Büro an. 1923 dann wurde Sohn Manfred geboren. Erik Regers Arbeitsfeld in Essen war eigentlich attraktiv. Er soll­ te »die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Vorgänge« für die Krupp AG systematisch beobachten und auswerten. So zumin­ dest steht es in seiner Arbeitsplatzbeschreibung. In der Werk-Kar­ tei wurde er als »Bürobeamter« geführt. Ab Oktober 1925 übertrug

6 Das ausführliche Manuskript mit dem Arbeitstitel »544« bot Reger 1929 er­ folglos mehreren Verlagen an. Drei Auszüge veröffentlichte er im Dortmun­ der General-Anzeiger vom 9. Juli 1931, 21. Juli 1931 und 31. März 1932. Das ursprüngliche Manuskript ist nicht mehr vorhanden, im Nachlass findet sich nur eine erzählende Umarbeitung mit dem Titel: Ein Krieg ist aus.

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Erik Reger mit Frau Christine und Sohn Manfred (rechts außen), 1927

man ihm die Herausgabe des vierzehntägigen Werknachrichten­ blattes Kruppsche Mitteilungen: vier Seiten Personalien, Todesfäl­ le, Termine des Firmenorchesters, die Behandlung der Linoleum­ fußböden in den Werkswohnungen. Journalistische Artikel fehlten komplett. Aber Reger wollte schreiben. Ab 1921 veröffentlichte er unter dem Pseudonym »Erik Reger« zuerst in einer völkischen Zei­ tung und schrieb über »Parzival, den ewig Deutschen«, oder er publizierte Theaterkritiken in überregionalen Blättern wie der Frankfurter Zeitung, der Vossischen Zeitung oder der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Von einer expressionistisch angehauchten Li­ teratur- und Kunstauffassung kam er schnell zur Neuen Sachlich­ keit.7 Kein Gefühl, kein Gerede, die Überwindung des 19. Jahrhun­ dert-Schwulstes, nur Realität. Im Habitus seiner Sachlichkeit gab es

7 Karl Prümm zeichnet diese Entwicklung aufgrund einer breiten Artikelaus­ wertung von Reger materialreich nach: Nachwort zu Erik Reger, »Union der festen Hand«. Der große Schlüssel- und Industrieroman der Weimarer Repu­ blik, Reinbek 1979, S. 509-568.

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kein Subjekt mehr, nur die Wahrnehmung eines objektiven Auges. Wortkarg, uneitel, direkt. Diesen Duktus hielten auch seine gleich­ altrigen Weltkriegsgefährten Hans Fallada, Joseph Roth und Erich Kästner so. Erik Regers Artikel über Bühnenbilder, Intendanten oder Gagen mutierten zu einer Dauerabsage an das traditionelle Bildungsthea­ ter. Er forderte ein Zeittheater nah an den Realitäten, bei dem vor allem die Probleme der Arbeiter auf die Bühne kommen sollten. Das Ziel: deren »kritische Einstellung zum öffentlichen Leben«. Reger wollte das Experiment, und das dann so konkret wie mög­ lich: mit billigen Sonderzügen für das Reviertheaterpublikum. Essen war Krupp, das Ruhrgebiet die Schwerindustrie, Terra Incognita-Provinz der Weimarer Republik. Eine geschlossene Welt, in deren Getriebe sich Reger hineinarbeitete. Es war die Erweite­ rung der Bendorf-Welt samt Einblicke in die Führungsetage des größten deutschen Industriekonzerns der Zeit. Reger beobachte­ te, wie die Schwerindustriellen die realen Machtverhältnisse ge­ zielt verschleierten, wie mittels Mythen und verklärenden Revier­ reportagen, Festreden-Klischees und banalen Zeitungsberichten, präparierten Statistiken und den Werkblättchen die Leute dumm gemacht wurden. Dieses Material fing er an zu sammeln. Da war sie wieder, die Risserfahrung des Ersten Weltkriegs. Und die Arbeiter? Für Reger hatten sie sich zwischen Folklo­ re und der Behaglichkeit ihrer vier Wände in einer Fassaden­ welt eingerichtet. »Leibeigenschaft aus Bequemlichkeit«, »platte Amüsierinstinkte«, das Ruhrgebiet als der »in Permanenz erklär­ te Stammtisch«.8 Trotz seines scharfen Blicks für die Macht hielt Erik Reger die Industriekumpel nie für eine revolutionäre Klasse. »Das Proletariat hat das Ideal, von Revolutionen zu träumen und wie die Kleinbürger zu leben. Zwischen Traktätchen und Leitarti­ keln verbirgt sich der Wunsch, von Sofa und Bratenrock umfrie­ det zu sein. Das Gefühl, ein angeblich gefährlicher Gegner des Bürgertums zu sein, und die Hoffnung, ihm bald selber anzuge­ hören, verwirren das Empfinden so, dass die wildesten Aufrüh­ rer gegen die Gesellschaft ihrer rückständigen Sentimentalität am nächsten sind.«9 Da war er schon, der Reger-Blick, der die Klas­ 8 9

Erik Reger, Ruhrprovinz, in: Die Weltbühne 24 (1928), II, S. 918. Erik Reger, Kulturpolitik an der Ruhr, in: ders., Kleine Schriften, Bd. 1., Ber lin 1993, S. 96.

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sen unterläuft, um im Sozialen ganz präzise zu werden. Er kannte sie ja alle von Kindesbeinen an: die unpolitischen Handlanger, die arbeitslosen Tagelöhner, die Wanderarbeiter, die gelernten und ungelernten Proleten, die stolzen Hauer und verstockten Ange­ stellten. Damit, war er sicher, war keine Klasse zu machen. Aus diesem Grund plädierte er auch nicht für die Revolution, sondern für Aufklärung. Ihm ging es um einen Überblick, um ei­ nen Blick von oben in undurchschaubaren Zeiten. Theater, Publi­ zistik und Literatur sollten das Getriebe aus Macht und Verschlei­ erung aufdecken. Als ein Freund aus dem Zirkel um Bertolt Brecht den avantgardistischen Der Scheinwerfer gründete, kündigte Erik Reger bei Krupp. Der Scheinwerfer avancierte schnell zum über­ regionalen Forum der Neuen Sachlichkeit. Reger stürzte sich in die Arbeit wie ein Hauer in den Vortrieb. Sein Artikelausstoß war immens: Realitäten, Realitäten, Realitäten, sie aufdecken und da­ bei aufrütteln. Schnell stieß er dabei an klare Grenzen. Um über Kommunalpolitik schreiben zu können, gründete er deshalb En­ de Januar 1928 die Wochenzeitschrift Westdeutscher Scheinwer­ fer. Ein »Kampforgan«, so Reger, zu Städtepolitik, Wirtschaft und Kultur. Wie später in den Tagesspiegel-Anfängen schrieb er in ihm fast alles selbst, bis zur Sportberichterstattung. Seine Pseudo­ nyme sollten einen Journalistenstab vortäuschen. Wo er Mystifi­ zierung und fehlende Aufklärung ausmachte, ob bei Kollegen aus der Lokalpresse oder bei Bertolt Brecht, Alfred Döblin oder Hein­ rich Mann, immer ging er in den Angriff und wurde »der best­ gehasste Mann im Ruhrgebiet«, so Reger selbst.10 Ein Karl Kraus des Reviers. Trotz seiner Lust an der Attacke blieb der Erfolg aus. Schon nach 31 Ausgaben war Schluss. Die Schulden hingen ihm noch bis in die dreißiger Jahre an. Der Röntgenroman Reportage-Journalisten wie Theodor Plievier, Erich Kästner oder Ludwig Renn wurden damals zu einem regelrecht neuen Schriftstellertypus, denn alle versuchten sie sich an romanhaften Zeitportraits. So auch Reger. Ihm ging es darum, Ursachen und Zu­ sammenhänge darzustellen, und dafür brauchte er Raum. »Der polemische Roman muss wie ein Röntgenapparat wirken und mit durchdringender Schärfe den geistigen Mechanismus der Zeit 10 Brief von Reger an Ernst Rowohlt vom 3. Dezember 1936, AdK, Mappe 24. 139

bloßstellen, der die äußeren Ereignisse vorbereitet«.11 Seine Roman­ idee wurde ein Vorhaben in Zeiten des apparativen Wahrnehmens. Während Erik Reger eine journalistische Heimat im linksbür­ gerlichen General-Anzeiger für Dortmund und das gesamte Rhei­ nisch-Westfälische Industriegebiet fand - mit 250 000 Exemplaren die auflagenstärkste Zeitung außerhalb Berlins -, arbeitete er an einer Geschichte des Ruhrgebiets von der Novemberrevolution bis in die Gegenwart. Eine einzigartige, sechshundert Seiten starke, detailüberflutete Milieuschau. Unschwer sind im Roman die Re­ alprotagonisten Gustav Krupp von Bohlen und Hallbach, Hugo Stinnes oder Fritz Thyssen auszumachen, deren klandestine Zu­ sammenschlüsse dem Roman seinen Titel gaben: »Union der fe­ sten Hand«. Ein Schlüsselroman mit Material aus sieben Jahren Krupp-Büro, der neben satirisch zugespitzten Charakterstudi­ en von Boten, Pförtnern, Direktoren, Werksfriseuren, Sekretären und Gewerkschaftern auch die Zechen, die Walzhalle, sogar die Sitzungszimmer beschreibt. Darunter viele kleine Kabinettstükke, unterlegt mit Originalzitaten aus Reden, Kommuniques, Inter­ views, Statistiken und wörtlichen Übernahmen ganzer Essays vom Autor selbst aus der Weltbühne. So loyal Erik Reger jahrelang ge­ genüber Krupp gewesen war, so scharf ging er nun in den Angriff: gegen Preis- und Kartellabsprachen, Politikerspenden, Lobbyis­ mus, politische Einflüsterungen, Irreführung der Öffentlichkeit, Sozialabbau oder den Industrieverrat nationaler Interessen. Während er auf der Unternehmerseite die ganze Palette des Machterhalts des modernen Industriekapitalismus geißelte, zeig­ te er die Arbeiter in ihrem ganzen Spießbürgertum mit Autori­ tätsdenken, Naivität und marxistischer Phraseologie. So wen­ det sich eine Zentralfigur, der einst radikale Spartakistenführer Adam Griguszies, in den zwanziger Jahren angeekelt von der Par­ tei ab, um zum kleinbürgerlichen Familienvater zu werden, der als Arbeitsloser über die unabänderliche Gesellschaft sinniert. Im letzten Kapitel beschreibt Reger die Weltwirtschaftskrise mit geschlossenen Hütten und entlassenen Arbeitern. Manche der Schwerindustriellen verbündeten sich mit den aufkommenden Nationalsozialisten. Die Arbeiter aber werden ihm zu »schwim­ mender Hefe« zwischen KPD und NSDAP.12 11 Erik Reger, Die publizistische Funktion der Dichtung, in: Dortmunder Ge­ neral-Anzeiger vom 31. März 1931.

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Als das Buch im Mai 1931 erschien, legte Reger damit nicht weni­ ger als eine Sozialgeschichte des Ruhrgebiets der Zwischenkriegs­ zeit vor. Ein großes Kaleidoskop aus Klassenkämpfen, Intrigen, Eitelkeiten, Karrieredenken, falschen Loyalitäten, Böswilligkei­ ten, Unbedarftheiten. Reger machte soziologische Mikrokosmen zu einem Gesellschaftspanorama, in das ökonomische, machtpo­ litische, kulturelle und soziale Aspekte eingingen. Das war nichts anderes, als die originellsten Denker des Instituts für Sozialfor­ schung in Frankfurt zur gleichen Zeit versuchten. Nach Ludwig Marcuse gab es »kaum Historiker, die der Geschichte soviel Tiefe und Breite gegeben haben« wie Reger.12 13 Reger erzählte im Roman, den er »Dem deutschen Volk« wid­ mete, wie schwerindustrielle Cliquen im Geheimen agierten und das Ruhrgebiet zur Sphäre ihrer Manipulation machten. Dabei stilisierten sich diese Wirtschaftsbosse ebenso wie die monarchi­ stischen Offiziere des Ersten Weltkriegs zu einer Führungselite, die letztlich allesamt illegitim und völlig unfähig die Gesellschaft in den Abgrund riss. »Wir haben den Krieg verloren«, lässt der Autor Ottokar Wirtz, den Hugo Stinnes in der Romanwelt, sagen. »Jetzt heißt es die Geldschlacht gewinnen.« Im Zentrum seines Buches steht für Reger aber eigentlich nicht Krupp oder die Großindustrie, sondern die »Herrschaft der Phra­ se«. Damit versucht er, das Gefüge des Kultur- und Propaganda­ betriebs bloßzulegen, zuallererst der Industriepressestellen und Werkzeitungen als Agenturen der Desinformation und Ver­ schleierung. Nicht zufällig ist der Aufstieg Alfred Hugenbergs ein Hauptstrang des Textes und damit jenes Mannes, der aus der Montanindustrie kam, am Ende von Weimar mit seinem Medien­ konzern die Hälfte der deutschen Presse kontrollierte und zum bedeutendsten bürgerlichen Wegbereiter des Nationalsozialismus wurde. Insofern nahm Reger vorweg, was linke Medientheorien erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Begriff der »Bewusst­ seinsindustrie« zu fassen versuchten. Erik Reger ging es um die 12 Zur historischen Stimmigkeit von Regers Darstellung siehe: Hans-Werner Niemann, »Die Ruhrindustriellen als Feinde der Demokratie und Arbeiter­ feinde. Erik Reger: Union der festen Hand«, in: ders., »Das Bild des indust­ riellen Unternehmers in deutschen Romanen der Jahre 1890 bis 1945«, Ber­ lin 1982, S. 183-211. 13 Ludwig Marcuse, Geschichtsdichtung, in: »Das Tagebuch«, 12. Jg„ Berlin 1931, S. 1063.

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»Vivisektion der Zeit«,14 er wollte nicht Individuum und Hand­ lung, sondern Typologie und Muster. Das wurde auch zu seinem Credo im Mahlower Tagebuch. Reger war absolut detailbesessen. »Die kleinen oder wenigstens unauffälligen Vorgänge; dieses Unscheinbare ist ungeheuer auf­ schlussreich, wenn es richtig gruppiert wird«, schreibt er in einem Vorwort. Das Detail wird ihm zu einer Konstante und lässt sich als dramaturgisches Stilprinzip und Präzisionsinstrument wie­ derum in seinem Mahlower Tagebuch wiederfinden. »Als ich die­ se Eintragungen der letzten Wochen überlas«, notierte er dort am 9. Juni 1945, »staunte ich selbst, wie wesentlich die kleinsten Er­ eignisse geblieben sind. Jedes, dessen Aufzeichnung fehlen würde, würde das Gesamtbild schmälern und die Charakterisierung der Menschen und Dinge beeinträchtigen.« Doch so genau Regers Analysen auch waren, sie hatten auch im­ mer etwas von einer resignativen Weitsicht. Auch darin also war er konstant. In der »Union der festen Hand« gibt es keine ein­ zige Hoffnungsfigur. Alternativen fehlen, säkularisierte Heilser­ wartungen werden ausgeschlossen. Auch hier die Parallele zum Mahlower Tagebuch. Denn trotz des Aufbruchs 1945 dominiert auch hier das Resignative. Sein Ausweg schien ihm mehr und mehr das Sarkastische zu werden. Lediglich eine Instanz hatte für ihn Bestand: der ideologisch und politisch ungebundene, nicht korrumpierte Journalist oder der journalistische Schriftsteller, der Missstände sichtbar macht. Dass es Reger damit bitter ernst war, das beweist sein Schlüs­ selroman. Als dieser veröffentlicht wurde, legte er sich auf einen Schlag mit allen Machthabern jener Region an, in die er so un­ bedingt hineinwirken wollte. Keinen anderen als den wichtigsten Medienmagnaten der Zeit, Alfred Hugenberg, hatte er in seinem Text als lächerliche Figur vorgeführt. Während einige Rezensen­ ten noch rätselten, wer sich hinter dem Pseudonym Reger verbarg, schrieben die Sprachrohre der Industriebarone schon von »Reger/ Dannenberger«. Der Fehdehandschuh war geworfen, und Erik Reger hatte sich im Ergebnis so ziemlich alle journalistischen Ar­ beitsfelder verschlossen. Aber genau das machte ihn aus: Statt auf die eigene Absicherung zielte er auf die Sache. 14 Vorwort zu Erik Reger, »Das wachsamen Hähnchen. Ein polemischer Ro­ man«, Berlin 1932. 142

Reger kämpfte allein, aber er war kein Einzelgänger. Er hielt Di­ stanz, ohne sich zurückzuziehen. Er ging auf andere zu, aber er verbrüderte sich nicht. Sein Prinzip: Journalismus musste Wir­ kung zeigen und sollte auf den Kern zielen. L’art pour l’art war vor dem Krieg, meinte er, war insofern prähistorisch. Reger agierte in all dem unbeirrbar bis zum Starrsinn. Das war nicht Eitelkeit, sondern Nachvornverteidigung. Das, was er als richtig erkannte, sollte, nein durfte nicht preisgegeben werden. Mit diesem Arbeits­ stil war Reger freilich kein geschmeidiger Zeitgenosse, aber eben einer mit Haltung, einer, der seine Einsichten gegen alle Wider­ stände durchzusetzen wusste. »Die Union der festen Hand« machte Reger berühmt. Er avan­ cierte zum »sozialistischen« Autor. In linksliberalen Kreisen feier­ te man ihn als »Upton Sinclair der Ruhr«, manche verglichen ihn sogar mit Emile Zola.15 Im November 1931 bat Ilja Ehrenburg Erik Reger um Hintergrundmaterial über die rheinischen Industrieba­ rone. Vermutlich kam auf diesem Weg die russische Übersetzung des Romans, die die Reger-Familie in der Mahlower Zeit schüt­ zen sollte, zustande. Ganz anders natürlich war die Reaktion aus den Kreisen der Ruhrindustriellen oder auch aus dem kommuni­ stischen deutschen Umfeld. Deren Rezensionen glichen sich. Hier schreibe einer, so die KPD-nahe Linkskurve, der keine Ahnung von der Realität habe, ein »Dutzendreporter« aus der »Froschper­ spektive«. Die Schwerindustrie-Postille Rhein und Ruhr bezeich­ nete Reger als einen Autor, der »aus persönlichem Ehrgeiz« der »Aufgabe nicht gewachsen war«. So richtig flammten die Angriffe aus der rechten Klientel aber erst auf, als Erik Reger im Oktober 1931 zusammen mit Ödön von Horvath aus den Händen von Carl Zuckmayer den Kleist-Preis überreicht bekam. Die wichtigste Literaturauszeichnung der Zeit. Vermutlich hingen die neuerlichen Angriffe aber auch damit zu­ sammen, dass Reger inzwischen nachgelegt hatte. In Artikeln wie »Männer des Hintergrunds« nannte er Ross und Reiter im Hin­ blick auf deutsche Wirtschafts-Connections, schrieb über gehei­ me Konferenzen und enthüllte die Strategien der Unternehmer­ verbände. In der Vossischen Zeitung veröffentlichte er eine Serie zur »Naturgeschichte des Nationalsozialismus«. Darin bezeich­ nete er Hitler als »Rattenfänger«, die NS-Ideologie als »realitäts15 N.N., Upton Sinclair der Ruhr, in: Hemer Zeitung vom 12. Juli 1931.

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fern«, das Revolutionäre der NSDAP als »Bluff« und ihr Ziel als die »Pöstchenbeschaffung für Parteifunktionäre«.16 Für die Na­ tionalzeitung in Essen waren danach die Zeiten nicht mehr fern, da »kein Literat vom Schlage Regers einen Preis erhalten« werde. Regers scharfe Sicht auf alles Nationalsozialistische im Mahlower Tagebuch hatte einen langen Vorlauf. Die Anfeindungen auf Reger nahmen zu, aber er blieb unbeirrt. Das Romanschreiben schien ihm nun seine Berufung. Mit Bü­ chern wollte er sein Geld verdienen. Zur Vervollständigung seiner Gesellschaftstheorie in Romanform nahm er sich als nächstes das städtische Klein- und Bildungsbürgertum der Jahre zwischen 1927 bis 1931 vor. In seinen Augen habe dieses »für die anstehenden Aufgaben nur armselige Phrasen als Antworten parat« und tra­ ge so »zum absehbaren Untergang der Republik« bei. In den neu­ en Roman - angesiedelt in den Städten Köln, Essen und Bochum - floss sein ganzes Wissen um kommunale Possen und Intrigen, Korruption und Vetternwirtschaft ein. Es war die KomplementärStudie zur Ruhrwelt. Unter dem Titel »Das wachsame Hähnchen. Ein polemischer Roman« erschien das Buch im Oktober 1932. »Re­ ger bildet die Epoche nicht einfach ab,« schrieb Siegfried Kracauer in seiner Rezension, »er schlitzt ihr den Bauch auf.«17

Exil und Nicht-Exil Mit dem 30. Januar 1933 setzte ein, wovor Reger kontinuierlich gewarnt hatte. Es wird ihn nicht verwundert haben, dass die Na­ zis auch sofort gegen ihn losgingen. Bereits im Mai 1933 bezeich­ nete ihn eine Rezension im Hamburger Tagblatt als jüdischen Autor, dessen Buch sein »völliges Anderssein umso schärfer sicht­ bar« werden lasse. Sie zielte auf »seine Böswilligkeit, sein hasser­ fülltes Ressentiment gegen alles Deutsche schlechthin«.18 Im Juni 1933 teilte der Westdeutsche Rundfunk Reger mit, dass man nichts

16 Erik Reger, Männer des Hintergrunds, in: Dortmunder General-Anzeiger vom 15. November 1931; Naturgeschichte des Nationalsozialismus, in: Vossische Zeitung vom 16., 23., 30. August und 6. September 1931, wiederab­ druckt in Reger, Schriften, Bd. 1. S. 195-218. 17 Siegfried Kracauer, Vivisektion der Zeit, in: Frankfurter Zeitung vom 6. No­ vember 1932. 18 Dr. K„ Erik Reger: Das wachsame Hähnchen, in: Hamburger Tageblatt vom 5. Mai 1931.

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Erik Reger mit seiner Frau Christine, Linz am Rhein, 1933

mehr von ihm bringen könne. Im November 1933 wurde eine Postsperre gegen ihn verhängt. Eine Existenz als Schriftsteller war ihm damit unmöglich gewor­ den. »Heute außer meinen Schulden noch ganze zwölf Mark«, schrieb Reger im Februar 1934 an seinen Verleger und fragte sich, »ob man überhaupt noch Bücher schreiben soll«.19 Im Juni 1933 war er mit seiner Familie nach Linz am Rhein gezogen, dreißig Ki­ lometer von Bendorf entfernt. Es war ein Rückzug nach einer verlo­ renen Schlacht, ein »Überwintern« bis in die Mahlower Zeit. Aber es war auch eine Rückkehr an den Strom seiner Jugend, in ein Haus mit einem grandiosen Blick auf den Rhein. Hier saß er an seinem dritten Roman. Im September 1933 erschien »Schiffer im Strom«. Der Buchverkauf, der ihn hätte monetär retten können, blieb aus. Nun mussten Verwandte in Zofingen, im schweizerischen Aar­ gau, einspringen. Der Mann der Schwester von Christine Dan19 Brief im Nachlass Reger, AdK, Mappe 367.

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nenberger arbeitete hier als technischer Leiter der Druckerei des Pressehauses Ringier. Im Tagebuch später werden die Pakete der Verwandten Erwähnung finden. 1934 dann zog Reger mit Frau und Sohn in das Haus in der Schweiz. Dort schrieb er weiter, ver­ öffentlichte zwei Romane, unterrichtete seinen Sohn, und alle zu­ sammen erkundeten die Schweiz. Bilder zeigen die Familie auf dem Rhonegletscher, Vater und Sohn eng beieinander. Aber das Bild war nicht ungetrübt. Alle verwandtschaftliche Unterstützung wurde genauestens notiert, die finanzielle Abhängigkeit machte mürbe. 1935 verboten die Nationalsozialisten dann die »Union der festen Hand« und »Das wachsame Hähnchen«. Die Angriffe in den deutschen Medien gegen Erik Reger hörten nicht auf, und er selbst haderte immer wieder mit sich und wollte »das Schreiben an den Nagel hängen«. Zu guter Letzt verweigerten die Schweizer Behörden 1936 auch noch eine Verlängerung des Aufenthalts we­ gen »Überfremdung«. Notgedrungen musste die Familie deshalb nach Deutschland zurückkehren. Über das Arbeitsamt bekam Reger eine Stelle in einem Mannheimer Werbebüro. Es war ihm klar, dass es »auf die Dauer eine Unmöglichkeit ist, in einem totalitären Staat, wo alles, bis in die kleinste Lebensäußerung hinein erfasst und organisiert ist, in innerer Opposition zu leben«.20 Er überlegte ins Exil zu ge­ hen, verwarf die Idee aber wegen fehlender beruflicher Perspekti­ ven, aber auch wegen der »fehlenden Opposition des Auslands ge­ gen den Nationalsozialismus«. Was blieb? Er schrieb weiter, und er veröffentlichte sogar. Es war ein kräftezehrendes Vabanquespiel zwischen seiner Leidenschaft zu schreiben, der Hoffnung, mit einem Buch endlich einmal ge­ nügend Geld zu verdienen, den anhaltenden Angriffen gegen sei­ ne Person und den Steinen, die ihm die Reichsschrifttumskam­ mer in den Weg legte. Dazu kam, was er selbst als eigene innere Zensur bezeichnete. Sie ärgerte ihn. Er habe »nichts mehr schrei­ ben können, wo nicht die Konzeption durch Rücksichten gestört worden wäre«, hielt er 1936 fest und beschloss, sich die »Themen, die absolute Entschlossenheit verlangen, ... nicht mehr aufwei­ chen zu lassen«.21 Erik Reger veröffentlichte während der Hitler-Zeit sechs Roma­ 20 Tagebuch vom 26. Juni 1937, Nachlass Reger, AdK, Mappe 348. 21 Brief im Nachlass Reger, AdK, Mappe 367b.

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ne. In allen versuchte er, seine literarisierte Zeitgeschichte wei­ ter auszubauen. Über Beziehungen zu Margret Boveri und Paul Scheffer, dem Chefredakteur des Berliner Tageblatts, konnte er in dieser bedrängten Zeit einige wenige seiner Texte unterbringen. Wiederum durch Kontakte gelang Reger im April 1938 der Wech­ sel ins einstige Ullstein-Verlagshaus in Berlin. Hier überarbeitete er halbtags in einem winzigen Zimmer für den Literaturwissen­ schaftler Paul Wiegler die Fortsetzungsromane für die Berliner Il­ lustrierte Zeitung. Es war ein versteckter Schutzraum eines ver­ femten, teils verbotenen Autors im nazikontrollierten Deutschen Verlag. Dabei war Reger nicht der einzige, der hier unterkam. Hel­ mut Kindler hatte damit begonnen, Nicht-Nazis um die Soldaten­ zeitung Erika zu versammeln. Zusammen mit Fritz Pregel, dem Werbechef im Deutschen Verlag, bildeten Kindler, Wiegler und Reger einen kleinen oppositionellen Zirkel, der sich täglich traf.22 Dies ist vermutlich auch der Kreis, den Erik Reger meinte, als er am Ende des Mahlower Tagebuchs davon spricht, sich nun in Berlin »nach meinen Freunden umzusehen«. Und vermutlich ha­ ben Reger und seine Frau nach dem Wegzug aus Mahlow auch bei Helmut Kindler gewohnt, der dann den Kontakt zu dem alliierten Presseoffizier Peter de Mendelssohn herstellte, der wiederum Re­ ger mit der Gründung des Tagesspiegel beauftragte.23 Erik Reger saß also im Pressehaus am Tempelhofer Ufer und brachte von dort aus seine unpolitischen Artikel unter. End­ lich verdiente er wieder und konnte die Schulden gegenüber den Schweizer Verwandten abzahlen. Nach finanzklammen Jahren ging es der Familie nun nicht schlecht. Ihre Wohnung in der Nä­ he des Kurfürstendamms war geräumig und gut eingerichtet.24 Aber es war zugleich auch eine fragile Existenz. Im Jahr des Russ­ landfeldzugs veröffentlichte Reger seinen Roman »Kinder des Zwielichts«, darin eingestreut auch Widerständiges. So empfiehlt jemand Bertha von Suttners pazifistisches »Die Waffen nieder!«

22 Satter, Heinrich, Hundert Jahre Ullstein (1877-1977), zit. nach Kindler, Hel­ mut, »Zum Abschied ein Fest«, München 1991, S. 212/213. 23 Kindler arbeitete anfangs noch in der Tagesspiegel-Redaktion, wo sich zwi­ schen ihm und Reger, so Kindler, ein »Vater-Sohn-Verhältnis« entwickelte. Kindler, Fest, S. 322-324. 24 Die Familie habe Porzellan und Silberbesteckt gehabt, so Vera Dannenberger im Interview vom 19. März 2014, Berlin, Zehlendorf. 147

und ein Huhn hat »einen Instinkt für die listige Diplomatie wie­ derholter Angriffsvorbereitungen unter Friedensbeteuerungen«. Will Vesper, der selbsternannte Hüter der NS-Literatur, schlug denn auch mit einer seiner gefürchteten Diffamierungskampa­ gnen zu: Das Buch triefe von einer »schleimigen Lüsternheit« und spiele »in einer verlogenen, widerlichen und krankhaften Welt voll Gemeinheiten, Rohheiten und Tratsch«. Zudem sei Reger ein »linksradikaler Hetzschriftsteller«.25

In Mahlow 1943 kam es zum Zerwürfnis mit Rowohlt. Es ging um die Ver­ öffentlichung einer Sammlung von Erzählungen, die gekürzt wer­ den sollte. Reger wechselte daraufhin zum Eduard Kaiser Verlag in Böhmisch-Leipa. Als die Bombardierungen Berlins intensi­ ver wurden, bot Kaiser Reger das verlagseigene Haus in Mahlow, fünfzehn Kilometer südlich von Berlin, an, und Reger zog im Au­ gust 1943 mit seiner Frau in die 2500-Seelen-Gemeinde. Das ret­ tete ihnen vielleicht das Leben, denn das Haus in der AlbrechtAchilles-Straße in Halensee, in dem sie gewohnt hatten, wurde kurz vor Kriegsende von einer Fliegerbombe völlig zerstört. Die Burgsdorfstraße in Mahlow lag im Westen der Kleinstadt, neben der Bahnlinie nach Berlin. Das Gelände war erst wenige Jahre zuvor parzelliert worden. Die zwölf Häuser der noch unbe­ festigten Straße waren allesamt erst in den letzten Jahren als Ein­ familienhäuser mit Garten für Beamte und Bessergestellte gebaut worden. Zwischen den Häusern gab es noch unbebaute Grund­ stücke. Das Verlags-Haus war mit seinem schönen Wintergarten zur Straße vergleichsweise stattlich. Mahlow gehörte zum inneren Verteidigungsring von Berlin. In der nahen Kiesgrube standen Flakgeschütze, und auf den Gleisen in die umkämpfte Hauptstadt fuhren Güterwagen mit Geschüt­ zen ständig hin und her. Aufgrund der direkten Eisenbahnver­ bindung nach Berlin gab es in Mahlow mindestens neun kleine­ re Zwangsarbeiterlager, eines direkt am Bahnhof. Drei Kilometer entfernt hinter dem Waldfriedhof Blankenfelde existierten seit August 1942 die Baracken des größten Haftkrankenhauses für Zwangsarbeiter in Berlin mit achthundertfünfzig Betten, offiziell 25 Will Vesper, Unsere Meinung, in: Die neue Literatur, Jg. 43 (1942), H. 5, S. 117-119.

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Erik Reger mit Sohn Manfred, Mahlow 1943

»Ausländerkrankenhaus« genannt. Insgesamt starben dort an die tausendfünfhundert Häftlinge. Im Tagebuch erwähnt Reger das letzte Volkssturm-Aufgebot in Mahlow. Ihn selbst hatte man im Juli 1937 bei einer Musterung als »bedingt tauglich« eingestuft, ein Jahr später aber wurde er für nicht wehrpflichtig erklärt. In Mahlow wiederum hatte man ihn sofort zur Heimatflak einberufen. Er verweigerte sich und gab an, er sei unabkömmlich, da er für die vom Oberkommando der Wehrmacht herausgegebene Auslandszeitschrift Signal arbeiten würde - was nicht stimmte. Schließlich attestierte ihm ein Arzt Herz- und Kreislaufstörungen. So ließ er sich von Januar bis April 1944 in einem Krankenhaus in Böhmisch-Leipa behandeln und fuhr daraufhin zur Kur nach Bad Tölz. Als er im April 1944 als »allgemein verwendungsfähig« eingestuft wurde, entzog er sich erneut jeglichem Einsatz. Der Sohn Manfred, der im Tagebuch so oft eine Rolle spielt, war schon nicht mehr mit nach Mahlow übergesiedelt. Den 19-Jäh­ rigen hatte die Wehrmacht im Jahr zuvor eingezogen. Bei Ge149

fechten in Italien erlitt er einen schweren Schädelbasisbruch und wurde zurück nach Deutschland gebracht. Eine Woche lang lag er im Koma und litt an den Folgen dieser schweren Verletzung ein Leben lang. Halbwegs rekonvaleszent, riet ihm sein Vater, sich unbedingt freiwillig nach Italien zurückzumelden, um so einer Kommandierung nach Russland zu entgehen. Nach der schwe­ ren Verwundung mussten die Eltern Reger Todesängste um den Sohn gehabt haben, von dem sie schon lange nichts mehr gehört hatten. Und Regers Italien-Kalkül ging auch auf. Der Sohn über­ lebte. Er war in der Zeit, als der Vater in Mahlow an seinem Ta­ gebuch saß, bereits bei Halle in amerikanischer Kriegsgefangen­ schaft und wurde als Berliner später an die Franzosen übergeben. 1946 kehrte er aus der Kriegsgefangenschaft zurück und begann als Volontär beim Tagesspiegel. Erik Reger lebte zu Beginn des Tagebuchs im April 1945 schon seit zwanzig Monaten in der Mahlower Burgsdorfstraße. Wie lan­ ge er noch mit der S-Bahn zum Südkreuz und dann mit der Ring­ bahn ins Tempelhofer Redaktionshaus gefahren ist, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Spätestens aber mit den Nächten in den Luft­ schutzkellern in seiner Mahlower Straße dürfte er die Nachbarn näher kennengelernt haben. Auch die Flüchtlinge in seinem Haus waren schon seit drei Monaten dort einquartiert. Folglich kannte er die Personen, die er in seinem Tagebuch in kurzen Sequenzen charakterisiert, nicht nur vom Hörensagen. Die letzten Tage des Krieges, die Schlacht um Berlin, das Vor­ rücken der Front. Erik Reger verfolgte all das genau. Als routi­ niertem Journalisten war ihm klar, dass sich soeben um ihn her­ um Weltgeschichte ereignete. Lange war der Angriff der Roten Armee auf die deutsche Hauptstadt erwartet worden. Fünf Ta­ ge nach ihrer Überquerung der Oder begann er seine Aufzeich­ nungen in dem Notizbuch. Immer wieder ergänzte er die Seiten mit Einschüben auf kleinen und kleinsten Zetteln, die er einkleb­ te. Die Einschubstellen notierte er sorgfältig mit einem roten »F«. Am 1. Mai 1945 waren bereits alle Seiten restlos vollgeschrieben. Doch er schrieb weiter, jetzt auf losen Blättern. Gegen Ende des Tagebuchs bestand das Konvolut nur noch aus aneinandergekleb­ ten und eingelegten Zetteln. Es war das erste Mal seit zwölf Jahren, seit der Zeit in Linz, dass Reger wieder ohne inneren Zensor schreiben konnte. Und in ge­ wisser Weise knüpfte er dort an, wo er mit der »Union der festen 150

Christine Reger, vermutlich im Haus in Mahlow, 1943

Hand« und dem »Wachsamen Hähnchen« aufgehört hatte. Wie in seinen ersten beiden Romanen verdichtete er seine Beobachtun­ gen zu Typen, schrieb vom »Typ Dorfhandwerker« oder »Typ >Soldatenmutterkleinen< Themen das Wesentliche und Grundsätzliche.«28 Reger versuchte im Nachkriegschaos wieder ganz die Höhe zu halten. Auch Helmut Kind­ ler, sein junger Redaktionskollege, verwies darauf und betonte, dass Reger »nicht mit einem antikommunistischen Programm an­ getreten« war. Der Tagesspiegel sollte, so Reger, »einen aufrichti­ gen Kontakt und eine wahre Beziehung zwischen der Sowjetunion und den westlichen Demokratien herstellen.«29 In seinem ersten Leitartikel begrüßte er alle Besatzungsmächte, also auch die Rote Armee. Den Deutschen sei klar, »dass auf der Seite dieser fremden Soldaten Recht und Wahrheit liegt. Daher sehen wir sie gerne.«30 Das ist die Position, die sich auch im Mahlower Tagebuch fin­ det. Die Rote Armee war ihm alles andere als ein Heilsbringer, aber

28 Gurezka, Klaus-Dietrich, Meine Zeitung. Erinnerungen an den Berliner Ta­ gesspiegel 1945-1991, Manuskript S. 13. 29 Kindler, »Fest«, 326. Gründungsdossier Der Tagesspiegel, zitiert nach: Hur­ witz, »Die Stunde Null der deutschen Presse«, Berlin 1972, S. 311/312. 30 Erik Reger, Leitartikel der ersten Ausgabe, in: Der Tagesspiegel vom 27. Sep­ tember 1945. 155

Erik Reger in seinem Büro, 1953 (Archiv Der Tagesspiegel)

Deutschland hatte sich schuldig gemacht, auch seine Bevölkerung. So erschienen im Tagesspiegel Artikel zur »Religionsfreiheit in der Sowjetunion« oder in Fortsetzung ein Sowjetunion-Reisetagebuch des prosowjetisch eingestellten Engländers J.B. Priestley. Die sow­ jetische Erklärung im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess über die Massaker an den polnischen Offizieren in Katyn wurden ge­ nauso kommentarlos abgedruckt wie eine wichtige Rede Stalins vom März 1946 unter dem Titel »Stalin gegen Kriegshetze«. Das war Regers Position in der Stunde Null. In ihr unterschied er klar zwischen der Sowjetunion und der ostdeutschen Politik. Was die anging, berichtete er zunächst kritisch zurückhaltend, beispielsweise über die Landreform oder die sogenannten Volks­ richter. Spätestens aber mit der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED im April 1946 hatte sich sein Ton Richtung Osten ri­ goros geändert. Von da an stellte er sein Blatt offensiv und dekla­ riert den sozialdemokratischen Vereinigungsgegnern zur Verfü­ gung, weil denen ein eigenes Publikationsorgan fehlte. 156

In den Ost-Blättern wurde Reger nach seinen ersten kritischen Artikeln zum »Goebbels-Imitator« gemacht.31 Wieder hatte man in ihm einen Erzfeind erkannt: Im Tagesspiegel haben »die faschi­ stischen Kriegsverbrecher ... ihre Presse gefunden«32, hieß es. Und Mahlow und die alten Nazis? Die Antifa-Ausschüsse setz­ ten keinen der von Reger im Tagebuch genannten NSDAP-ler auf die Tagesordnung. Die meisten waren offenkundig geflohen. Sechzehn Grundstücke ehemaliger Nationalsozialisten wurden enteignet, darunter auch das von Friedrich Hagena und das des stellvertretenden NSDAP-Ortsgruppenführers Wirth. Die »Ober­ sekretärin« Frau Krüger hatte nach 1945 keine Funktion mehr in der Verwaltung. In Mahlow erzählt man sich, dass die kleine, zierliche Frau noch vor dem Mauerbau zu ihrer Schwester nach Lichtenrade geflohen und über hundert Jahre alt geworden sei. Der Bürgermeister Friedrich Hagena, der 1931, also früh, in die NSDAP eingetreten war, war schon bald aus Mahlow geflohen. Ansonsten wäre er wohl von den Russen belangt worden. Mit sei­ nen 69 Jahren hätte er das womöglich nicht überlebt. Zumindest ist er offenbar nicht zur Verantwortung gezogen worden. Seine Nachfahren stritten nach 1989 noch mit allen juristischen Mitteln fünfzehn Jahre lang um die Rückgabe des enteigneten Grund­ stücks, am Ende ohne Erfolg. Die Burgsdorfstraße wurde in der DDR in Beethovenstraße um­ benannt, das Quartier zum sogenannten Musikerviertel. Das Re­ ger-Haus, nunmehr mit der Nummer 26, verwaltete ab da die »KWV«, die Kommunale Wohnungsverwaltung. Neuer Mieter wurde der ehemalige litauisch-gräfliche Gutsbesitzer Kiassohn, von dem es heißt, dass er Stalin 1949 noch persönlich kennenge­ lernt haben soll. Das Haus mit dem schönen Erker steht nach wie vor. Nach dem Mauerbau machte man Mahlow zur hochbefestig­ ten Grenzregion. Die Bahngleise nach Berlin wurden stillgelegt und überwucherten. Klaus-Jürgen Bölke, der Nachbar von einst, hat berichtet, dass von den Bewohnern der Straße »alle in den We­ sten rüber sind«. Und der Tagesspiegel-Chef? Wenige, genau gewogene Worte, ei­ ne kühle Verbindlichkeit, kein Lachen, literarische und journali­ 31 Tägliche Rundschau vom 30. November 1945. 32 N.N., Die Berliner fordern Übereignung der Kriegsverbrecherbetriebe, in: Neues Deutschland vom 19. September 1946. 157

stische Perfektion, so beschrieben ihn seine Mitarbeiter. Handeln statt Reden, Distanz statt Gekungel. Ein Preußenfeind mit preu­ ßischem Arbeitsethos. Ein Mann mit graurasiertem Gesicht und dünnen, glatt gekämmten Haaren. Ein Geistesarbeiter mit den Zügen eines Bergarbeitersohns. »Er war kein geselliger Mensch im hergebrachten Sinne«, sagte sein langjähriger Redaktions­ kollege und Nachbar im Haus am Nikolassee, Walther Karsch, auf der Beerdigung von Reger. »Er schloss sich nur sehr schwer auf, und sein Gefühl für das Unwägbare im Verhalten seines Ge­ sprächspartners, einer seiner Mitarbeiter oder eines Besuchers war so empfindlich, dass er sich sehr schnell wieder vor dem an­ deren verschließen konnte. Er war eben schwierig, wie das meist bedeutende Menschen sind.«33 Erik Reger starb am 10. Oktober 1954 ganz plötzlich auf einer Konferenz in Wien, herausgerissen aus seiner Arbeit, seiner Mis­ sion. Die »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« hatte ihn Ta­ ge zuvor erst gewarnt. Man habe ein Dokument, in dem von Ge­ waltakten gegen führende Antikommunisten die Rede sei, darauf stünde auch sein Name.34 Der Obduktionsbericht stellte Herzver­ sagen fest. Vermutlich das Resultat seiner jahrelangen Überarbei­ tung. Bergwerkshauer werden nicht alt. Erik Reger war ein Ausnahme-Journalist. Er war ein Zeit-Seher, der sich gegen seine Zeit stellte, ja stellen musste. Er kam aus der harten Industriewelt am Rhein, mit dem Bewusstseinsschock des Ersten Weltkriegs. Aus diesen Erfahrungen zog er seine Schlüs­ se, die ihn zu dem Grundsatz führten: In verschleierten Realitä­ ten gilt es, »die Zahnräder des Getriebes zu erkennen«. Mit dieser Erkenntnis überlebte er den Zweiten Weltkrieg und war wie weni­ ge Intellektuelle des 20. Jahrhunderts immun gegen alle Ideologi­ en und politischen Heilslehren. Es ist diese Kontinuität, die auch die Grundlage seiner Beobachtungen der Zeitenwende in Mahlow ausmachte. Hellsichtig und engagiert warnte er vor beiden deut­ schen Diktaturen und stemmte sich mit all seiner Energie gegen sie. Glücklich eine Demokratie, die solche Köpfe hat. Andreas Petersen, Berlin, im Juli 2014

33 Nekrolog von Walther Karsch, 20. Mai 1954, Nachlass Reger, AdK, Mappe 232. 34 Brief der »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit«, 20. April 1954 an Erik Reger, Nachlass Reger, AdK, Mappe 275.

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Dank Mein Dank gilt Vera Dannenberger, der Schwiegertochter Erik Regers, und Christian Dannenberger, dessen Enkel, für die Über­ lassung der Textrechte und der privaten Fotos. Ihre Auskünfte zum Leben von Erik Reger waren sehr wichtig. Der Dank geht auch an das Gemeindearchiv Mahlow-Blankenfelde, das Kreisar­ chiv Teltow-Fläming und das Historische Museum in Bendorf, an Ulrich Müller von der BStU, die Mahlower Ortshistorikerin Su­ sanne Wölfle-Fischer, Wolfgang Kumpfe und Thomas Friedrich vom Tagesspiegel-Archiv. Ohne die Erinnerungskraft von KlausJürgen Bölke, der 1945 als Junge und Nachbar von Erik Reger den Einmarsch der Roten Armee in die damalige Burgsdorfstraße er­ lebte, hätte sich manches Ereignis nicht mehr eruieren lassen. Wie immer gilt mein größter Dank Ines Geipel für ihr anhaltendes In­ teresse bei der gemeinsamen Entdeckung Erik Regers und ihren wunderbaren Beistand.

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Erik Reger (eigentlich Hermann Dannenberger) war vor und nach der Nazizeit einer der bekanntesten Schriftsteller und Jour­ nalisten in Deutschland. 1893 in Bendorf am Rhein geboren, war er von 1919 bis 1927 Pressereferent und Bilanzkritiker bei der Krupp AG. Er kündigte dort Ende 1927, arbeitete als Theaterund Literaturkritiker und veröffentlichte 1931 den Roman »Uni­ on der festen Hand«, in dem es um die Verbindungen zwischen den mächtigen Industriekonzernen und rechten Parteien (bis zur NSDAP) ging. Für diesen Roman, ein Bestseller, erhielt Reger, zu­ sammen mit Ödön von Horvath, 1931 den Kleistpreis. Das Buch (auch nach dem Krieg bis heute immer wieder als Taschenbuch veröffentlicht und in den siebziger Jahren verfilmt) wurde nach 1933 verboten, Reger emigrierte in die Schweiz, bekam aber keine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und musste 1937 nach Deutschland zurück; er zog nach Berlin und war Lektor in einem Verlag. Von 1943 bis zum Sommer 1945 lebte er mit seiner Frau in dem Dorf Mahlow südlich von Berlin und schrieb dort die­ ses Tagebuch, das vor kurzem von Andreas Petersen in seinem Nachlass entdeckt wurde. Im September 1945 wurde Erik Reger Lizenzträger, Herausgeber und Chefredakteur der Tageszeitung Der Tagesspiegel. Er gilt als einer der Pioniere einer freien Presse nach der NS-Zeit. Er starb 1954 in Wien.

Andreas Petersen wuchs in Köln am Rhein auf und studierte Geschichte und Germanistik in Zürich. Er ist Dozent für Zeitge­ schichte an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Leiter der Geschichtsagentur zeit&zeugen. Für den Tagesspiegel untersuchte er den Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit auf das Blatt. Zuletzt erschienen von ihm »Deine Schnauze wird dir in Sibiri­ en zufrieren. Ein Jahrhundertdiktat. Erwin Jöris« (2012) und »Ei­ ner von vielen. Stalingrad. Auf der Suche nach einem Soldaten« (2013).

* Beobachtungen zwischen den Fronten vom Ende der Naziherrschaft bis zum Beginn eines neuen Regimes - aufgeschrieben von einem der besten Journalisten seiner Zeit.

Dieses hier vor kurzem entdeckte Tagebuch von Erik Reger ist ein einzigartiges Dokument der Zeitenwende 1945. Es ist das minutiöse und unverfälschte Protokoll darüber, wie ein gewaltiger weltgeschichtlicher Umbruch (die Niederlage der NS-Herrschaft, das Kriegsende, der Sieg der Roten Armee und der Beginn einer anderen politischen Ordnung) in dem kleinen Dorf Mahlow, südlich von Berlin, stattfindet und von seinen Bewohnern wahrgenommen wird. Detailliert wird darin erzählt, wie sich die Niederlage des NS-Regimes in Gerüchten ankündigt, wie Parteigenossen »Vorbereitungen« für die Zeit danach treffen, wie sich die russischen Offiziere und Soldaten verhalten, was Flüchtlinge erlebt haben, wie schnell sich gerade linientreure »Volksgenossen« der neuen Ordnung anpassen. Erik Reger (»Union der festen Hand«) war einer der bekanntesten Schriftsteller der Weimarer Zeit. Nach 1933 wurden seine Bücher verboten. 1945 war er Mitbegründer und bis zu seinem Tod 1954 Chefredakteur der Zeitung DER TAGESSPIEGEL.

Herausgeben und mit einem Nachwort von Andreas Petersen.