Wörter als Waffen: Sprache als Mittel d. Politik

213 106 47MB

German Pages 154 [140]

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Wörter als Waffen: Sprache als Mittel d. Politik

Citation preview

Wolfgang

Bergsdorf

Wörterais Sorsicl iö als Mittel der Politik

Mit Beiträgen von Karl-Dietrich

Bracher Hermann

Lübbe Hans

Maier Helmut

Schelsky Günter

Schmölders Kurt

Sontheimer Β0ΜΝ©ΜΠΙΕΙ1

I

Wolfgang Bergsdorf (Hrsg.)

Wörter als Waffen Sprache als Mittel der Politik

Mit Beiträgen von Karl-Dietrich Bracher Hermann Lübbe Hans Maier Helmut Schelsky Günter Schmölders Kurt Sontheimer George Orwell

Verlag BONN AKTUELL GmbH Stuttgart

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bergsdorf, Wolfgang (Hrsg.): Wörter als Waffen Sprache als Mittel der Politik Mit Beiträgen von K.-D. Bracher, H. Lübbe, H. Maier, H. Schelsky, G. Schmölders, K. Sontheimer Stuttgart: Verlag BONN AKTUELL GmbH, 1979 ISBN 3-87959-113-X

Verlag BONN AKTUELL GmbH Oktober 1979 ISBN 3-87959-113-X

Umschlagentwurf: Heiko Rogge, Herrenalb Gesamtherstellung: Süddeutsche Verlagsanstalt und Druckerei GmbH 7140 Ludwigsburg © 1979 Verlag BONN AKTUELL GmbH, 7000 Stuttgart 31 Alle Rechte vorbehalten / Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Zustimmung des Verlages Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

7

Einführung

/

15

Helmut Schelsky: Herrschaft durch Sprache

30

Hans Maier: Aktuelle Tendenzen der politischen Sprache

44

Kurt Sontheimer: Die Sprache linker Theorie

62

Günter Schmölders: Semantische Fallen im Politvokabular

71

Hermann Lübbe: Sein und Heißen - Bedeutungsgeschichte als politisches Sprachhandlungsfeld

85

Karl Dietrich Bracher: Sprache und Ideologie

102

Wolfgang Bergsdorf: Zur Technik totalitärer Sprachlenkung

128

George Orwell: Kleine Grammatik

137

Quellennachweis

138

Autorenverzeichnis

140

Ausgewählte Literatur

5

Einführung

Die Sprache der Politik ist in der Bundesrepublik seiteiniger Zeit zum Gegenstand der Aufmerksamkeit und des Meinungs­ streites geworden. Das war in der Gründungs- und Aufbau­ phase der Bundesrepublik anders. Damals wurde zwar häufig z. B. die Einfachheit und Schlichtheit des Adenauer-Vokabu­ lars kritisiert, aber der Sinn der zentralen Begriffe der Politik war ziemlich scharf umrissen, jeder verstand nach den Jahren der maßlosen Unterdrückung und kriegerischen Gewalt die Bedeutung von Wörtern wie Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden, Demokratie. Hinzu kamen neue Wörter wie Wiedervereini­ gung, Verteidigungsgemeinschaft, Europäische Einigung als Symbole für die Außenpolitik der jungen Bundesrepublik oder Begriffe wie Soziale Marktwirtschaft, Soziale Sicherung, La­ stenausgleich als Kennzeichnungen gesellschaftspolitischer Schwerpunkte. Natürlich wurde auch damals um die Inhalte der Politik zwischen den Parteien gerungen. Aber die Bedeutungen der politischen Schlüsselbegriffe waren über einen längeren Zeit­ raum relativ stabil. Alle an der politischen Auseinandersetzung Beteiligten benutzten die gleichen Wörter und verstanden darunter Vergleichbares. 30 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik hat sich Ent­ scheidendes in der politischen Sprache verändert. Seitetwa einem Jahrzehnt erlebt das politische Deutsch einen Prozeß der Veränderungen dessen Verlauf die Bedeutung zentraler Begriffe zerfloß. Eéentbrannte ein Streit um die Bedeutung von Wörtern wie Staat, Demokratie, Gesellschaft, der deshalb nicht nur von sprachlichem, sondern vor allem von politischem Interesse ist, weil sich in ihmderStreitumpolitischeWerteund Zielvorstellungen niederschlägt. Bei der Debatte um die Veränderung der politischen Sprache geht es um die Frage, inwieweit neue Bedeutungen alter Be­ griffe und die Einführung neuer Wörter die Verständigungsfä­ higkeit zwischen den Kontrahenten in der politischen Ausein­ andersetzung und das Verständnis der Staatsbürger für den politischen Streit erschweren oder nich_ty Für die Beantwor7

tung dieser Frage sind folgende Feststellungen wesentlich: Sprache ist das wichtigste Mittel menschlicher Verständi­ gung und deshalb ein Grundelement jeder Sozialbeziehung. Die Sprache bietet ein Ensemble von Symbolen, mit denen Ereignisse und Gegenstände, Ideen und Personen, Eigen­ schaften und Tätigkeiten bezeichnet werden können. Die sprachlichen Zeichen sind jederzeit verfügbar, fast mühelos erlernbar, beliebig wiederholbar. Die Sprache, die jemand spricht, ist gemeinschaftliche Leistung einer unübersehbaren Anzahl von Generationen, sie ist das historische Ergebniseiner unendlichen Zahl von Sprechakten, und sie ist gleichzeitig das aktuelle Ergebnis einer kaum abschätzbaren Anzahl von Be­ einflussungsvorgängen aus dem sozialen Umfeld des einzel­ nen. Mit Hilfe der Sprache tauschen Menschen Informationen, Ideen und Meinungen aus. Mit sprachlichen Symbolen drükken die Kommunikationspartner ihre emotionalen Bewegun­ gen und Zustände aus. Schließlich erlaubt Sprache, an andere Menschen zu appellieren, ihr Denken und Handeln im von SprachegewünschtenSinnezu verstärken oderzu verändern. Für die Politik sind Darstellung, Ausdruck und Appell1 als Leistungen der Sprache in gleicher Weise wichtig und unver­ zichtbar. Die Sprache bietet der Politik das Mittel zu informie­ ren, zu interpretieren, anzuweisen, zu überzeugen und zu indoktrinierenlpje Sprache derPolitikistatH Handlung ausge.richtet. J?tes setzt voraus und hat zufolge, daß sie stärker mit Werten aufgeladen is?alszum£gispiel die Alltagsspracheoder die Sprache der Wissenschaft. In ihren zentralen Begriffen haben sich die Ergebnisse des seit Jahrtausenden andauern­ den Kampfes um die Bedeutung von Wörtern niedergeschla­ gen. Carl J. Burckhardt hat daran erinnert, daß sich das Inven­ tar unserer politischen Schlüsselwörter zum großen Teil aus dem Denken und Handeln der griechischen Polis im 4. Jahr­ hundert v. Chr. entwickelt hat. Aristokratie, Monarchie, Demo­ kratie, Oligarchie, Anarchie und Tyrannis als Bezeichnungen für Staatsformen sind ebenso Begriffe aus dem politischen Denken der Griechen wie Recht, Gesetz, Friede, Freiheit und Gleichheit. Selbst so modern klingende Begriffe wie Autono­ mie, Koexistenz, Neutralität verweisen nicht nuretymologisch, Sündern auch inhaltlich auf ihre griechischen Vater-Begriffe.2 Diese Begriffe sind in einer konkreten politischen Situation entstanden und haben mit dem Siegeszug der griechischen 8

Kultur Eingang gefunden in das politische Denken des Abend­ landes. Andere wie Sozialismus, Kommunismus, Totalitaris­ mus, Faschismus, Kapitalismus, Konservatismus, Liberalis­ mussind als sprachliche Erfindungenausanderen politischen Situationen heraus hinzugekommen, ohne auf begriffliche Anlehnungen diesmal an das römische Denken verzichten zu können. Diese zentralen Begriffe, ohne die Geschichte nicht ge­ schrieben und Politik nicht durchgesetzt werden kann,^ijjd mit Werten befrachtet, sie müssen, um sich ein möglichst breites .Verständnispotential zu erschließen, vage sein und sind deshalb anfällig für inhaltliche Veränderungen. Demokra­ tie in der griechischen Polis bedeutet etwas völlig anderes als Demokratie im Verständnis der amerikanischen Verfassungs­ väter oder der Väter unseres Grundgesetzes. Die »Meinung« dieses Begriffes und anderer Schlüsselwörter hat sich im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende wesentlich verän­ dert. Die Bedeutung dieser Begriffe und der sie prägenden Wertgehalte ist jeweils Abbild der konkreten historischen Si­ tuation, genauer: Abbild der Machtverhältnisse. Allerdings bedeutet diese Feststellung nicht, daß z. B. ein Gewaltherr­ scherfähig ist, den Sinn von Begriffen beliebig auszutauschen und seinen Machtansprüchen auf Dauer anzupassen. Die gro­ ßen Diktatoren seit der römischen Kaiserzeit bis hin zu Hitler und Stalin haben zwar immer wieder versucht, z. B. den Begriff der Freiheit für ihre Zwecke umzumünzen. Obwohl sie mög­ licherweise formal in einem vorübergehenden Zeitraum in ihrem Herrschaftsbereich damit erfolgreich waren, vermoch­ ten sie es nicht, den inhaltlichen Kerngedanken dieses Schlüs­ selbegriffes auf Dauer zu unterdrücken. Auch die unzähligen Angriffskriege und Verbrechen, die im Namen der Freiheit gegen die Freiheit begangen wurden, haben es nicht fertigge­ bracht, dieses Schlüsselwort dauerhaft zu diskreditieren. Schon Tacitus stellte fest: »Übrigens sind Freiheit und andere blendenden Worte nur ein Vorwand; noch niemand hat je nach Unterjochung anderer und Herrengewalt gestrebt, ohne sich dieser Worte zu bedienen.«3 Wenn sich heute bewaffnete Oppositionelle, Guerillas und Terroristen als »Freiheitskämpfer« bezeichnen, so beweist das, wie wenig der Freiheitsbegriff von seiner magischen Be­ deutung verloren hat. Auch noch heute glaubt niemand, der

9

Herrschaft anstrebt, auf seine Verwendung verzichten zu kön­ nen.4 Daß Freiheit und andere Schlüsselwörter der Politik je nach politischem Standort anders verstanden werden, er­ schwert die Verständigung zwischen rivalisierenden politi­ schen Gruppierungen. Bekräftigt allerdings auch die Überle­ bensfähigkeit dieser Begriffe, deren unterschiedliche Bedeu­ tungen von Anhängern und Gegnern immer wieder bekämpf! und verteidigt werden müssen. Die Rolle der Schlüsselwörter in der Geschichte läßt erken­ nen, daß die Mächtigen und die Machtsuchenden in gleicher Weise bemüht sind, die Sprache als Mittel für ihre politischen Zwecke zu benutzen. Sprache wird so zu einem Machtfaktor, weil die Mächtigen und jene, die es werden wollen; Spracheals Machtfaktorjbetrachten.JDie Sprache der Politik wird auch so zur Sprache der MachtiWer mächtig ist, versucht, die »rich­ tige« Bedeutung der Wörter vorzuschreiben. Mächtig sind nicht nur die, die Machtpositionen innehaben. Macht haben auch jene, die fähig sind, sprachliche Inhalte und den Ge­ brauch von Wörtern durchzusetzen. Karl Dietrich Bracher hat mehrfach auf die von interessierter Seite durchgesetzte Zurückdrängung desTotalitarismus-Begriffes und seinen Ersatz durch den Faschismus-Begriff hingewiesen. Diese WortwahlVeränderung blendet die elementaren Gemeinsamkeiten von totalitären Systemen wie Nationalsozialismus und Kommunis­ mus aus, sie erlaubt es den Kommunisten, sich positiv von der Nationalsozialisten abzusetzen und erschwert die Erkenntnis daß derTotalitarismuseine mögliche Konsequenz und Gefahi des Modernisierungsprozesses ist und bleibt.5 In diesem Sammelband werden an verschiedenen Steller veröffentlichte Beiträge zusammengefaßt, die sich mit dei grundlegenden Veränderung der politischen Sprache ir Deutschland beschäftigen. Gemeinsam ist allen Beiträgen die hohe Bedeutung, die der Sprache als politischem Machtfakto beigemessen wird. Gemeinsam ist ihnen auch die Feststel lung, daß di^ bedeutsamen Veränderungen in der politischer Sprache sich vor allem am Bedeutungswandel von Schlüs selwörtern und an der Popularisierung neuer Begriffe ableser läßt. Unterschiedliche Positionen werden in den Beiträgei über den Grad der Bedrohlichkeit bezogen, die von den sprach liehen Veränderungen für unser politisches Selbstverständ nis, für die Stabilität unserer Verfassungsordnung ausgeher 10

1

1 »

1 r 1 5 r

i

] ί

I.

Helmut Schelsky geht bei seiner Untersuchung über politi­ sche Herrschaft durch sprachliche Mittel von einem scharf akzentuierten Rollenverständnis der Intellektuellen aus und kennzeichnet die Spracheais das entscheidende Produktions­ mittel dieser »Klasse der Sinnproduzenten«. Er beschreibt die Umwandlung einer wissenschaftlichen Sprache in eine politi­ sche Herrschaftssprache und sieht die Bedeutungskonstanz der Sprache als Voraussetzung für den Minimalkonsens über die Bedeutungskerne der Schlüsselwörter bereits aufgeho­ ben. Hierfür macht er die Intellektuellen verantwortlich, deren sprachliche Monopolstellung ihre Klassenherrschaft verhülle. Hans Maierwählteinen anderen Ansatz, um diesprachlichen Veränderungsprozesse im politischen Deutsch der Bundesrepublikzu untersuchen. ErvergleichtdiepolitischeSpracheder 50er Jahre mit ihrem Klassengegensätze auflösenden Vokabu­ lar und den heutigen Sprachgebrauch mit seinen klassen­ kämpferischen ultrakonkreten Wörtern. Er kommt zu dem Ergebnis, daß sich die politischeSprachevonden Normen und Begriffen unserer Verfassung und politischen Ordnung ent­ fremdet. Er macht zum Beispiel darauf aufmerksam, daß der Begriff »Gesellschaft« den Begriff »Staat« in den letzten Jah­ ren in die Defensive gedrängt habe und unserem Demokratiebegriff als Gegenbegriff die »Demokratisierung« entgegenge­ stellt wurde. Ausden Ordnungsbegriffen, wiesiefürdie Verfassung einer parlamentarischen Demokratie charakteristisch sind, entwickelten sich Versprechungen und Verheißungen, deren beliebige Ausdeutung das Verfassungsverständnis überstrapaziere. Kurt Sontheimer analysiert die Einflüsse auf die Spracheder Politik in der Bundesrepublik und diagnostiziert die Sprache linker Theorie als den beherrschenden Beeinflussungsfaktor. Die Radikalisierung politischer Begriffe sei die wirksamste Form, mit der linke Theorie in das öffentliche Bewußtsein gekommen sei: Der einst von Theodor W. Adorno festgestellte »Jargon der Eigentlichkeit« mit seiner bescheidenen Anzahl Signalhaft einschnappender Wörter6 habe in einem »Jargon der Künstlichkeit« erfolgreiche Konkurrenz bekommen. Die Sprache linker Ideologie mit ihrer extrem künstlichen, bomba­ stisch klingenden, mit Fremdwörtern überladenen Ausdrucks­ weise errichte Kommunikationssperren, die sie zu einer Spraehe der Entzweiung werden lasse. 11

Als Kennzeichnung der neuen Sprache wählt Günter Schmölders den Ausdruck »semantische Fallenstellerei«. Er unterscheidet zwischen plumpen Anbiederungsversuchen, emotionaler Aufladung alter Begriffe, verbalen Neuschöpfun­ gen und politischer Umwidmung feststehender Begriffe und erläutert anhand einer Vielzahl von Beispielen, welche politi­ schen Zielvorstellungen mit semantischen Manipulationen verfolgt werden. Er warnt davor, die Bedeutungsbestimmung der politischen Begriffe den dialektisch geschulten Systemveränderern zu überlassen und fordert zur aktiven Teilnahme an diesem semantischen Spiel auf, das in Wirklichkeit eine ideologische Schlacht sei. Hermann Lübbe benennt die sprachliche Auseinanderset­ zung als Methode politischen Handelns den »Kampf ums Hei­ ßen«, der zwar nicht immer von Giganten geführt würde, wohl aber mit gigantischen Mitteln, zum Beispiel mit denen der medienunterstützten Propaganda. Vor allem in seinem Beitrag wird herausgearbeitet, daßdieSprachederPolitikdieSprache der Macht ist. An der Legitimität dieser Auseinandersetzung über die Bedeutung von politischen Wörtern zu zweifeln sei müßig, denn es gebe niemanden, der in diesem Streit richten könnte. Die Entscheidung fällt als Machtentscheidung und jeder, der spricht, ist an dieser Entscheidung beteiligt. Die zentralen Begriffe der Ideologie stehen im Mittelpunkt der Untersuchung von Karl Dietrich Bracher. Er erläutert am Beispiel von Wörtern wie »Sozialismus« denTransformationsprozeß, der diesem Begriff seit Mitte des letzten Jahrhunderts eine kaum umgrenzte Reichweite vom linken bis zum rechten Flügel des Parteienspektrums gegeben hat. Der propagandi­ stische Erfolg dieses Begriffes wird nicht nurausseinerKonturenlosigkeit und nahezu unbegrenzten Verwendungsfähigkeit heraus erklärt, sondern auch mit der für unsere Kultur- und Gesellschaftskritik seit jeher konstitutiven Polarisierung des Verfalls- und Fortschrittsdenkens. Die hierfür kennzeich­ nende Dramatisierung und alternativeZuspitzung der Sprache erlaube es, vor der düsteren Folie der Dekadenz ein Krisenvo­ kabular zu entfalten und ihm die Verkündung des Fortschritts in Gestalt des Sozialismus entgegenzustellen. Das unabweis­ bare Bedürfnis nach ideologischer Polarisierung präge eine Meinungs-und Begriffsbildung, diedas undramatische Bemü­ hen um kompromißhafte Krisenbewältigung als intellektuell

12

uninteressant und als «bloße Praxis« abtut. Der Beitrag des Herausgebers schließlich beschäftigt sich mit der politischen Sprachetotalitärer Ideologien und versucht das Instrumentarium der Sprachmanipulation darzustellen, wie sie im nationalsozialistisch und im kommunistisch be­ herrschten Deutschland angewandt wurden und werden. Da­ bei werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Tech­ nik der Sprachzerstörung herausgearbeitet. Die Frage, ob totalitäre Sprachlenkung letztlich erfolgreich in dem Sinn ist, daß sie das Denken der ihr Unterworfenen entsprechend der Hoffnungen und Ziele der Sprachlenker verändert, muß in diesem wie in anderen Beiträgen offen bleiben. Politische Wirkungen sprachlicher Veränderungen können zwar als evi­ dent gekennzeichnetwerden, im Einzelfall ist es bisher jedoch noch nicht möglich, sie nachzuweisen.7 LZwar spricht alles dafür, daß diejenigen, die aufgrund ihrer Machtposition fähig sind, die Bedeutung von Begriffen festzu­ legen, damit ihre Machtbasis befestigen. Allerdings bedeutet dies nicht, daß die politischen Wirkungen der Sprache allein aus sprachlichen Faktoren erklärbar sind. Wer die Macht hat, die Bedeutung sprachlicher Symbole vorzuschreiben, muß auch über andere Machtmittel verfügen! Vor allem in totalitä­ ren Diktaturen kann derformaleErfolgsprachlicherManipulationen nicht ohne Einparteienherrschaft, Monopolisierung der Massenkommunikationsmittel und Gleichschaltung der Mas­ senorganisationen erklärt werden. George Orwell hat in seiner «Kleinen Grammatik«, die er seinem utopischen Roman «Neunzehnhundertvierundacht­ zig« beigefügt hat, die Idealbedingungen dargelegt, unter de­ nen sich eine allmächtige Diktatur mit Hilfe einer neuen Spra­ che das Denken der Beherrschten bemächtigen kann. Durch die Erfindung neuer, durch die Ausmerzung unerwünschter Worte und durch die Entkleidung übriggebliebener Wörtervon unorthodoxen Nebenbedeutungen wurden unorthodoxe Ge­ danken undenkbar gemacht. Er illustriert diese Methode an dem Wort «frei «, das es zwar in der Neusprache noch gab, aber es konnte nur in Sätzen wie »dieser Hund ist frei von Flöhen« oder «dieses Feld ist frei von Unkraut« angewandt werden. In seinem alten Sinn von «politisch frei« oder «geistig frei« konnte es nicht gebraucht werden, da es diese politische oder geistige Freiheit nicht einmal mehr als Begriff gab und infolge-

13

dessen auch keine Bezeichnung dafür vorhanden war. Unsere parlamentarische Demokratie mit ihrer pluralisti­ schen Struktur der Medien und der Organisationen bietet die Chance, Angriffe zur/Systemveränderung über sprachliche

Manipulationen abzuwehren. Dies setzt voraus, daß die Spra­ che als ein Faktor der Politik ernstgenommen wird und Strate­ gien zur sprachlichen Machtergreifung früh erkannt werden. Weil es in der Bundesrepublik keine Machtzusammenballung gibt, die fähig wäre, sprachliche Symbole dauerhaft mit partei­ lichen Inhalten zu füllen und den Gebrauch dieser Formeln mehr oder weniger verbindlich vorzuschreiben, ist jeder Teil­ nehmer an der politischen Auseinandersetzung fähig, für die Verständigungsfähigkeit unserer politischen Sprache und ge­ gen ihre Zerstörung zu kämpfen. Ob nun die Sprache der Politik in ihrer politischen Wirksam­ keit unterschätzt wird oder überschätzt wird, ob die Macht des Wortes ein Mythos ist - wie manche Linguisten meinen - oder nicht: Sprachkritik und Reflexion über den Sprachgebrauch gerade in der Politik als ständige Wachsamkeit des Menschen gegenüber seiner Sprache ist das beste Mittel, Sprachmanipu­ lationen zu durchschauen und sie so unwirksam zu machen.8

Wolfgang Bergsdorf

Anmerkungen 1 vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie, Jena 1934 2 Carl J. Burckhardt, Das Wort im politischen Geschehen, in: Bayerische Akademie der schönen Künste (Hrsg.) - Wort und Wirklichkeit, München 1960 3 zit. nach a.a.O. S. 75 4 Zur Wortgeschichte vgl. W. Bergsdori, »Freiheit in der Zerreißprobe«, in: Politik und Sprache, München-Wien 1978, Olzog-Verlag, Reihe Geschichte und Staat 213, S. 123-140 5 K. D. Bracher: Der umstrittene Totalitarismus: Erfahrung und Aktualität, in: Zeitgeschicht­ liche Kontroversen, München 1976, S. 59, vgl. auch: K. D. Bracher: Terrorismus und Totalitarismus, in: Schlüsselwörter der Geschichte, Düsseldorf.1978, S. 107 ff. 6 Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a. Μ 1974 7 vgl. hierzu Walther Dieckmann, Sprache in der Politik, Heidelberg 1969 8 Werner Betz, Verändert Sprache die Welt, Zürich 1977, S. 93

14

Helmut Schelsky

Herrschaft durch Sprache

Begreift man einmal, um mit den heute herrschenden sozio­ logischen Intellektuellen überhaupt argumentieren zu kön­ nen, diese Gruppe selbst als eine Machtgruppe mit Interessen, also eine »Klasse« und ihren Machtgewinn über andere dem­ entsprechend als »Klassenkampf«, dann ist auch die Sprache in diese Herrschaftsbezüge einzuordnen. Gut und antiquiert marxistisch gesehen ist dann Sprache sowohl Produktions­ mittel als auch Produkt, wie ja auch die modernen sozialwis­ senschaftlichen Kommunikationstheoretiker längst die »In­ formation« als Produkt begreifen und kalkulieren. (Vielleicht sollte ich, um Mißverständnisse zu vermeiden, von vornherein betonen, daß ich selbst das Wesen, ja die wichtigste Wirkung der Sprache keineswegs mit diesen Begriffen verstehen würde; aber in der Auseinandersetzung mit den ideologisch­ politischen Neomarxisten und Intellektuellen muß man selbst polemisch ihre Sprache sprechen, um überhaupt gehört zu werden.) Unter dieser Voraussetzung erscheint die Sprache als das entscheidende Produktionsmittel dieser Klasse der Sinnproduzenten; ihre Monopolisierung verbirgt deren Klas­ senherrschaft. Allerdings stößt die Vorstellung einer Monopo­ lisierung der Sprache zu Herrschaftszwecken zunächst auf den Einwand, daß ja jeder Mensch spricht, sich sprachlich mit anderen in Kontakt setzt oder »vermittelt« und niemand-von ausgefallenen Isolierungszuständen abgesehen - daran ge­ hindert werden kann, sich mit den Menschen, mit denen er umgeht, sprachlich zu verständigen. So ist es richtig, daß die Menschen nur sehr schwer »mundtot« zu machen sind, wenn man sie nicht sozial zwangshaft vereinsamt: Lebende spre­ chen. Abergenausoistdie »Arbeit«, also die irgendwie produk­ tive Tätigkeit des Menschen, kaum zu hemmen: die Klassen­ herrschaft über die Arbeit wird ausgeübt durch den »Besitz« von bestimmten Produktionsmitteln, nicht durch Hemmung

15

der Tätigkeit selbst. Genauso ist es mit der Sprache: Ihre »Produktionsmittel« sind die Worte oder die in Worten ausge­ drückten Begriffe, also die »Bedeutung« der Worte. Und Worte oder ihre Bedeutung lassen sich durchaus monopolisieren, unterdrücken oder aufdrängen, ja aufzwingen. Der oft so ge­ ringschätzig benannte »Streit um Worte« istin Wirklichkeitein »Kampf um Worte«, in dem sich Sozialbeziehungen, vor allem Herrschaftspositionen, entscheiden. Er ist genauso wie der »Kampf ums Recht« ein unaufhebbarer gruppenhafter politi­ scher Grundsatzkonflikt. Sprache durchzieht in noch höherem Maße als das Recht alle sozialen Beziehungen des Menschen (ja sogar die Beziehung der einzelnen Person zu sich selbst, also sein Selbstbewußt­ sein); insofern bilden sich nicht nur alle Sozialbeziehungen, also auch Herrschafts- und Produktionsverhältnisse, in der jeweiligen Sprache ab (ein Gesichtspunkt, auf den neuerdings vor allem Jürgen Habermas immer wieder hingewiesen hat), sondern Sprache ist jeweils die Grundlage der betreffenden Sozialbeziehung, d.h., sie herrscht, sie produziert, sie bildet den Gruppenzusammenhang, sie führt den Krieg oder Konflikt usw. Sprache ist nicht nur im Sonderfall, sondern immer Ak­ tion, Handlung. Den Unterschied zwischen dem Einfluß der handgreiflichen und der sprachlichen Handlung haben wir als - physischen und psychischen Zwang deutlich gemacht; psy­ chische Herrschaft und psychische Vergemeinschaftung wer­ den beide durch Sprache erzeugt und nehmen heute, in einer zivilisierten, d.h. auf Informationen beruhenden Welt, einen weit höheren Rang an sozialer Macht ein als physische Gewalt. Heute kann man verlorene militärische Kriege sprachlich­ ideologisch zurückgewinnen. So stützt sich jede sozial-struk­ turelle Situation, insbesondere aber der Sachgehalt jeder Insti­ tution, auf die ihnen gemäße Sprache. Es gibt die Sprache der »herrschaftsfreien Kommunikation«, insbesondere unter Lie­ benden, es gibt die Sprache der terroristischen Macht, insbe­ sondere in der totalitären Propaganda, um nur zwei extreme Situationen und Institutionen zu nennen. Diese sozialen »Sprachsituationen« bestimmen nicht nur die Verwendung und Bedeutung der Worte, sie wirken sich bis in die Grammatik und selbstverständlich den Sprachstil aus. Unter dem Gesichtspunkt der Klassenherrschaft durch Sprache müssen wir uns natürlich besonders den sprachli­

16

chen Herrschaftseinwirkungen zuwenden. In der letzten Zeit sind dazu zwei Grundauffassungen vertreten worden, die zu­ nächst als sogenannte »linke« und »rechte« Position, sehr widersprüchlich erscheinen: a) »Die herrschende Sprache ist die Sprache der Herrschen­ den«, eine von der extremen und »systemüberwindenden« Linken in Umlauf gesetzte prägnante Formel, die sprachpoli­ tisch-pädagogische Folgerungen nach sich gezogen hat. b) »Institutionen und Rechtsordnungen bedürfen zu ihrer Erhaltung der Formkonstanz begrifflicher und sprachlicher Identität«, eine These, die in dieser Form Hans Maier zur Grundaussage seines Beitrages gemacht hat. Im Grundegenommensagen beideThesen dasselbe aus und unterscheiden sich nicht in der Erkenntnis über den Herr­ schaftswert der Sprache, sondern in der in dieser Aussage angezielten Politik. Wenn kooperative und damit demokrati­ sche Institutionen inihrerpolitischenZusammenarbeit.alsoin der »Herrschaft der Demokraten« welcher parteipolitischen Pluralität auch immer, eine Konstanz der Wortbedeutungen voraussetzen, wenn also die eine Seite unter »Friede«, »Rechtsstaat«, »Demokratie« usw. nicht sachlich genau das Gegenteil von dem versteht und sprachlich mitteilen will, was die andere Seite darunter meint (was in der Auseinanderset­ zung zwischen Ost und West längst der Fall ist), dann muß es natürlich einen »Hüter der Sprache« in einer auf politische Zusammenarbeit eingestellten Gesellschaft genauso geben wie es einen »Hüter der Verfassung«, etwa in Gestalt eines Bundesverfassungsgerichts oder der gesamten Justizorgani­ sation, in demokratisch herrschaftskontrollierten Staaten gibt. Sprachkontrolle wird zur Herrschaftskontrolle - diese Folge­ rung ist aus beiden politischen Sprachvoraussetzungen un­ vermeidbar. Die Frage ist, wie sie ausgeübt wird. Denn eins ist in der politisch-geistigen Auseinandersetzung in der Bundes­ republik jetzt bereits deutlich geworden: Die Formkonstanz der Sprache, also das Gemeinverständnis der Bedeutungen und Ideen, wie es noch im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den politischen Auseinander­ setzungen einerGesellschaft vorausgesetzt werden konnte, ist aufgehoben. Herrschafts- und Klassenkampf finden in der Bundesrepublik heute sogar vorwiegend als Kampf um die Sprache statt.

17

Auf der einen Seite sehen die Bewahrer der freiheitlich demokratischen Grundordnung mehr und mehr die Gefahr, dieinder »Umwertung allerWorte« liegt,diedieGrundlageder bestehenden Sozial- und Staatsordnung bilden (z. B. »Demo­ kratie«, »Gewalt«, »Öffentlichkeit«, »Recht« usf.); sie sehen, daß »die Sprache der Neuen Linken den Dialog verhindert« (Hans Maier) und die Linke schon die sprachliche Verständi­ gung nicht will und aggressiv abbricht. Damit wird deutlich, daß die Sprache in der Tat vor aller Sinn-Verständigung »ein System gegenseitiger (sozialer und politischer) Anerken­ nung« ist (H. Krings) und das »Nicht-miteinander-sprechen­ wollen« bereits soziale und politische Aggression. So istfolgerichtig, daß ein Verteidiger der pluralistischen Parteiendemo­ kratie wie Wilhelm Hennis zur Verteidigung einer »sich ver­ ständigenden« Demokratie die Frage nach der Notwendigkeit einerZensuraufwirft: »Keine intakte Gesellschaft, die mensch­ liches Zusammenleben in halbwegs friedlicher Form ermög­ licht, kommt ohne eine gewisse >Zensur< aus. Wenn jeder so reden könnte, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, wäre menschliche Gesellschaft unmöglich. Die Frage ist nur, ob das tyrannisch organisiert sein muß, oder ob es einen »common ground« gibt, der die pluralistische Austragung des Wortkamp­ fes in vernünftigen Grenzen hält, so daß Verständigung noch möglich ist« (Bergedorfer Gespräch, Protokoll 41, S. 22; vgl. ebd., S. 46). Er entwickelt damit nur die im Art. 5 (1) des Grundgesetzes liegende Dialektik, daß auf der einen Seite Meinungsfreiheit und vor allem Presse- und Berichterstat­ tungsfreiheit »gewährleistet werden« soll, auf der anderen Seite ebenso der kategorische Satz steht: »Eine Zensur findet nicht statt.« Der Widerspruch - entweder Einführung einer »Zensur« oder grundgesetzliche Unterstützung der Sprach­ herrschaft der sinnproduzierenden, klassenkämpferischen, die Verständigung aggressiv ablehnenden Linken - gehört zu den Situationen, von denen ich behauptet habe, daß Liberale in ihnen nur noch »Selbsttore« schießen können. Wenn also eine sprachliche (und damit auch inhaltliche) Zensur als staatlich monopolisierte Institution ausgeschlos­ sen wird, ist nach den sozialen und politischen Kräften zu fragen, die diesen »common ground«, diese alle Sinn- oder Ideenkonflikte übergreifende Sprach- und Verständigungs­ einheit in einer pluralistischen Demokratie eigentlich verbür­ 18

1

gen. Da es keine staatliche und damit regierungshörige Institu­ tion sein kann, wie es in den totalitären Staaten selbstverständ­ lich der Fall ist (die dadurch fast definiert werden), kann es nur die sprachliche Verständigungsgemeinschaft der Sozialgrup­ pen sein, die insgesamt in allen pluralistischen demokrati­ schen Institutionen die Politik bestimmen. Ohne eine solche, wenigstens in der sprachlichen Verständigung einige poli­ tisch-soziale Führungsschicht kann in der Tat keine parteien­ pluralistische Demokratie Bestand haben. Damit ist die revolutionäre Strategie des klassenkämpferi­ schen Herrschaftsanspruches gegen diese liberal-demokrati­ sche Herrschaftsform bereits programmiert: Die Sprache der (demokratisch) »Herrschenden«, also jenseits der Unterschei­ dung von Regierung und Opposition, ist als »herrschende Sprache« zu unterwandern, aufzuheben und durch eine an­ dere »herrschende Sprache«, eben die der vorläufig noch revolutionären Kräfte, zu ersetzen. Die Sprachrevolution wird zum entscheidenden Einbruch in das pluralistisch-demokrati­ sche System. Die Demokratie der Bundesrepublik von 1945 ab beruhte nicht zuletzt auf dem Umstand, daß die Demokraten der verschiedenen Parteien wenigstens »eine Sprache spra­ chen«, was die außenpolitischen und grundgesetzlichen Grundlagen unseres Gemeinwesens betraf, ohne dabei immer einer politischen Meinung zu sein. Das bewirkte aber, daß in der institutionellen Herrschaftsschicht der Bundesrepublik in den zweieinhalb Jahrzehnten zwischen 1945 und 1970 keine diedemokratischen Grundsätze aufhebende Gegnerschaft bei aller Konkurrenz um die Regierungspositionen bestand. Diese politische Grundlage für die pluralistische Demokratie be­ stand also in einer grundsätzlich unantagonistischen, über alle politischen Programmatiken hinüberreichenden politischen Schicksalsgemeinschaft, die nicht zuletzt in gemeinsamen politischen Lebenserfahrungen und ihrer sprachlichen Be­ nennung bestand. Wer diese demokratische Grundeinheit der Bundesrepublik aufsprengen will, muß also nicht nur die Ein­ heit der generationshaften Lebenserfahrung - die mit den Jahren ohnehin abnimmt - beseitigen, sondern vor allem die Sprach- und Verständigungseinheit, die sich als Grundlage der neuen westdeutschen Demokratie gebildet hatte. Eben hier setzt die politische Sprachstrategie der systemüberwin­ denden Revolutionäre an: Nicht die politischen Stellenbeset­ 19

zungen und noch viel weniger die Militär- oder sonstigen staatlichen Monopolgewalten waren das vordringlichste Ziel der revolutionären Machtübernahme, sondern die Übernahme der Sprachgewalt. Wenn Bundespräsident, Bundeskanzler, Ministerpräsidenten und Minister die sprachlichen Vokabeln und damit verbalen Problemstellungen der klassenkämpferi­ schen Revolutionäre übernehmen, geraten sie bereits in die Rolle der ungewollten Förderer der »Systemüberwindung« und arbeiten mit diesen »Denkanstößen« an ihrem eigenen Untergang. Eine klassenkämpferische Sprachpolitik hat also ein Herr­ schaftsinteresse daran, daß es zwei »Sprachklassen« gibt, oder deutlicher: daß es eine politische Sprache gibt, über die nur die herrschende Klasse verfügt und der sich derjenige einfügen muß, der mitherrschen will, und daß die »Beherrsch­ ten«, die breiten arbeitenden Schichten des Volkes, in ihrer politisch ohnmächtigen Sprache gehalten werden. Daß dies mit dem vermeintlich arbeiterfreundlichen Argument ge­ schieht, man wolle und solle die unmittelbare volkstümliche Sprache der arbeitenden Menschen nichtvergewaltigen, sie in den Schulen zu ihrem Recht kommen lassen und begünstigen, wie es etwa die Hessischen Rahmenrichtlinien für den Deutschunterricht vorsehen (die im übrigen ein Musterbei­ spiel für die neue Herrschaftssprache einer klassenkämpferisch-revolutionären Gruppe bieten), gehört zu dem Tar­ nungsprozeß der Herrschaftsabsicht vor den Beherrschten und den idealistisch-selbstbetrügerischen Mitläufern. Schon der Nationalsozialismus hat das »Volkstum« als Herrschafts­ mittel zur Entmodernisierung und damit Entmündigung brei­ ter Volksschichten benutzt. Das Gegenteil ist natürlich demokratisch: Die Einführung eines allgemeinen Schulunterrichts, der vor allem ein gemein­ sames Hochdeutsch lehrte, war die Grundlage und Vorausset­ zung aller Demokratiebestrebungen in Deutschland (und ähn­ lich in anderen Ländern); wer am »Hochdeutsch« teilnahm, sich in ihm ausdrücken, verstehen und verständigen konnte, gehörte in dieser Hinsicht eben schon zur »herrschenden« Schicht. Zur Klassenabschließung gehört aber gerade die Be­ wahrung einer eigenen gruppenhaften Sprache, von der man die anderen ausschließt; in dieser Form ist sie ein ganz wichti­ ges Mittel des Gruppenzusammenhaltes in Form derZugehö-

20

rigkeitserkenntnis und vor allem im Sinneformelhaft-bekenntnishafter Verständigung. Diese Leistungen nimmt das mo­ derne soziologisch-psychologisch-marxistische Vokabular der Reflexionselite längst erfolgreich wahr: - es vergemeinschaftet; - es schirmt gegen widrige oder nicht gelöste Fragestellungen ab, weil mit der Sprachformel immer die Universalantworten gegeben sind; - es stärkt die Autorität der Sprachherrschaftsklasse, weil es die anderen einschüchtert, von kritischen Nachfragen ab­ hält und sie so entmachtet; - es vermittelt legitimes Herrschaftsbewußtsein, denn bereits die Wiederholung von Sprachformeln, die auf methodische Unangreifbarkeit hin konstruiert sind, läßt jeden soziolo­ gisch-philosophischen Marxistischsprechenden heute vor sich selbst klüger erscheinen als Karl Marx selbst; - vor allem aber siebt die angewöhnte Sprache die eigene Erfahrung auf widrige Tatbestände hin aus und läßt nur formel- und wortgerechte Erfahrungen zu, übt also die (wahrscheinlich wichtigste) Funktion der Bestätigungsaus­ wahl der Welterfahrung aus. Bevor wir auf die noch zu beantwortende Frage eingehen, wie denn der Klassenkampf durch Sprache geführt wird, sei noch eine grundsätzliche Einsicht angemerkt: HansMaierhat mit Recht darauf hingewiesen, daß keine soziale Institution, keine politische Gesamtordnung ohne eine vorausgesetzte Sprachidentität ihrer Mitglieder bestehen kann. Diese These gilt auch, vielleicht sogar noch gewichtiger, umgekehrt: Alle Sprach-und Verständnisidentitäten sind institutionell begrün­ det und werden nur so erhalten. Sprache wird nur innerhalb einer sozialen Zusammengehörigkeit verständlich. Über diesen Tatbestand haben die ethnischen Ursprünge der Sprachgemeinschaften, die Gemeinsamkeit der Sprach­ völker ohne gemeinsame staatliche Institutionen, hinwegge­ täuscht, wie es ja gerade für die deutsche Sprache kennzeich­ nend ist. Von hier aus sind die »Dialekte«, also das Platt­ deutsch, das Schwäbische oder Bayrische, als geschichtlichregionale Sonderformen der Sprachentwicklung verstanden worden, die zwar sprachwissenschaftliches Interesse, volks­ tumbewahrende Kultivierung und alltagssprachliche Duldung erfuhren, aber im Sinne der Nationalisierung und Demokrati21

sierung des 19. Jahrhunderts gerade politisch belanglos wur­ den. Sprachpolitik im 19. Jahrhundert (und etwas darüber hinaus) war Nationalismuspolitik und betraf die Vereinheitli­ chung zur umfassenden Gemeinsprache. Obwohl diese politi­ sche Sprachauseinandersetzung noch keineswegs völlig vor­ bei ist (selbst im »Vereinigten Europa« spielen diese Fragen etwa im Elsaß noch eine unerfreuliche Rolle), hat sich die politische Sprachfront mehr in soziale Herrschafts- und Revo­ lutionsidentitäten verlagert: Die revoltierenden Studenten der Columbia-Universität, derSorbonne, des Aufstandes von Prag und der vielfachen bundesdeutschen universitären Proteste und Aggressionen verfolgten zwar nur scheinbar die gleichen Ziele (sie wirkten z. B. sowohl pro- wie antikommunistisch), aber sie verband eine gemeinsame Sprache, die aus den sozio­ logischen und philosophischen Seminaren stammte. Über die Strategie der Umwandlung der wissenschaftlichen Sprache in eine politische Klassenherrschaftssprache ließe sich ein ganzes Buch, sozusagen eine desillusionierende und zugleich praktische Hinweise vermittelnde moderne Rhetorik schreiben. Wir können uns hier nur einige Hinweise auf diese klassenherrschaftliche Sprachpraxis leisten, die deutlich ma­ chen sollen, daß die Denkweisen, die wirfürdie neue Priesterund zugleich Klassenherrschaft geschildert haben, sich in der Sprachpraxis am sinnfälligsten niederschlagen. Wir zählen also nur thesenartig auf: ! 1. Mit Sprachformeln kann die Erfahrung von Realität ver­ drängt, aber auch aufgedrängt werden. Dies istein Tatbestand, der in der Natur des Menschen beruht, insofern schon seine Wahrnehmung, in noch viel größerem Maße seine Erfahrung oder seine bewußte Erkenntnis durch Sprache geleitet und ausgelesen wird (auf diesen Zusammenhang hat z. B. die An­ thropologie Arnold Gehlens eindringlich hingewiesen). 2. Worte, Benennungen von Erfahrungsbeständen, vermit­ teln Werturteile oder lösen Werthaltungen auf, ein Vorgang, dermitdemderRoalitätsverdrängungoder-aufnötigung meist Mund in Mund geht. /Dabei gebrauchen die totalitären Sprach­ herrschaften einitömlich einfaches Rezept: Sie setzen neue Worte als unbezweifelbare Werte oder Unwerte, an deren Wert­ oder Unwertgehalt zu zweifeln bereits politisches Vergehen ist: so die Nazis etwa mit »Rassenschande«, »Herrenrasse«, »Jude« (mit seinen infamen Ableitungen in »Halbjude«, »Drei­

22

Vierteljude«), »Untermensch«, »entartete Kunst«; so die Kom­ munisten mit den Worten wie »Imperialismus«, »Kapitalist«, »Reaktionär«, »Abweichler« usw. So einfach ist die verbäTe l Wertbeherrschung und Umwertung der Spracheinmeinungs­ pluralistischen Demokratien nicht; hier bedarf es raffinierterer Mechanismen; so z. B. der dialektischen Sprachumwertung, die darin besteht, daß man positive Begriffe mit negativen Eigenschaften verbindet. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Formel Marcuses von der »repressiven Toleranz«, ähnlich die der Theologin Dorothea Solle über den »kreativen Haß«, von älterem Ursprung »das formale Recht« usw. Dazu gehört auch die Rechtfertigung des Negativen, indem man es als Heilmittel-’ für ein anderes Negatives darstellt: So sprechen heute die neuen Sozialtheologen von der »Gegengewalt«, um dieeigene Gewaltanwendung durch die fremde zu rechtfertigen, im glei­ chen Sinne, wie die alten Theologen vom »gerechten Krieg« sprachen; so wird eine »Gegenöffentlichkeit« gefordert, um die vorhandene zu unterbinden usw. Die Glorifizierung und Diffamierung von Tatbeständen durch Worte ist natürlich eine alte Praxis; eine ihrer ältesten Techniken ist die werthafte Polarisierung von Begriffspaaren, wobei das eine positiv oder negativ überladen, das andere aber möglichst nicht ausge­ sprochen und damit unbewußt und unerörtert auf- und abge­ wertet wird. Zu solcher Wojth^rischaft gehört heute der Ge-tr brauch der Begriffe »progressiv«, »bürgerlich«, »Reflexion«, »Technologen«, »Anpassung«, »funktional« usw., die immer von den möglicherweise durchauszwiespältigen Erfahrungs­ tatbeständen zugunsten oder zu Schaden des einen von aller Bewußtheit oder gar Diskussion ablenken. Schließlich gehö­ ren zu diesen Diffamierungen durch Worte noch die unver­ bindlichen Verdächtigungen, die wortprägnant, aber in ihrem Realitätsbezug bewußt diffus sind: Wer ist schon »Schreib­ tischtäter« (wenn man den konkreten Bezug zu den durch Verwaltungstätigkeit an den KZ-Morden Beteiligten aufgibt)? 3. In der Sprache wie im Denken übertölpelt die Klasse der Sinnproduzenten die an Hand von konkreten Lebenserfahrun­ gen denkenden vor allem durch einen Wortschatz von Abstraktionserhöhungen, der es ihnen erlaubt, positive, harmlose und verwerfliche Tatbestände zu ihren Gunsten auf einen gemein­ samen negativen Sprachnennerzu bringen. Das beste Beispiel dafür ist der Gebrauch des Wortes »Gewalt«, das sinnvoller23

weise nur körperlich ausgeübten Zwang bedeutet, sei es in 1 krimineller oder in staatlich legitimierter Weise von Militär und Polizei; aber heute gibt es »stLuWureite Gewalt«, die in der Wirtschaftsordnung die Unternehmer (»Kapitalisten«) aus­ üben, nicht etwa »wirtschaftliche Macht«, was zuzugestehen wäre mit der Anmerkung, daß sie auch die Gewerkschaften besitzen. Aberfürdiesen Klassenkampfsind Prüfungsordnun­ gen, vorgeschriebene Studiengänge, Zensuren usw. längst »Gewalt«, natürlich die der »privilegierten Professoren«. Ein ähnlich universal benutztes Wort ist heute der aus der Tiefenpsychologie stammende Begriff der »Frustration«: Seine einmal im psychologisch-wissenschaftlichen Zusam­ menhang leidlich präzise Bedeutung umfaßt heute längst jede Form von Leid und Enttäuschung: auf diese Weise können durch Prüfungsanforderungen »frustrierte« Studenten mit al­ len Lebensenttäuschten Klassensolidarität erzeugen, ohne daß der Grund des Leides noch ernsthaft geprüft würde. Die gleiche Funktion hat der Begriff der »Unterprivilegierten«, worunter man Gastarbeiter, Schwerbeschädigte und Rentner, Sprachgestörte und Hilfsschüler, aber zugleich Lehrlinge, Schüler, Studierende, auch Frauen (wenn’s nötig ist), ja, allge­ mein alle die fassen kann, für die die Klasse der intellektuellen Vormünder die öffentlich-verbale »Betreuung« übernehmen kann. In diesem Zusammenhang sei durchaus an das aus dem »Wörterbuch des Unmenschen« von Stemberger u.a. stam­ mende (und damals für die Nazi-Sprache gemeinte) Zitat erin­ nert: »Die Betreuung ist diejenige Art von Terror, für die der Betreute Dank schuldet« (a. a. O., S. 21); ersetzt man heute das Wort »Terror« durch »Klassenbeherrschung«, so ist die Bezie­ hung noch die gleiche. 4. Damit ist natürlich bereits eine Form der politischen Ver­ wendung von Worten angesprochen, die allgemein als Umbil­ dung politischer neutraler Sinn begriffe zu politischen Kampfbegriffen bezeichnet werden muß. Das ist an sich in den Unter­ suchungen der »politischen Sprache« weitgehend erörtert; das Besondere des gegenwärtigen Gebrauchs dieser Wort­ strategie besteht in der politisch-aggressiven Aufladung von Begriffen, die durch lange und allgemein anerkannte Wissen­ schaftstradition anscheinend neutrale und damit übergrei­ fende Grundlagen der philosophischen Verständigung des westeuropäischen, »abendländischen« Denkens darstellten. 24

Universität, Kirche, Schule usw. als »Gegengesellschaft« oder als »Modell der neuen Gesellschaft«, das hat schon der Tugendterrorist Fichte verkündet. Bei diesen dramatisch­ revolutionären Gesichtspunkten der Umwertung von institu­ tioneilen »Freiräumen« sollte man aber die viel breitenwirk­ samere Wirkung von »Autonomieüberheblichkeiten« nicht übersehen, die etwa in der Außerkraftsetzung von Minderhei­ tenschutz, Beamtenrechten, Verwaltungsgrundsätzen, finan­ ziellen Sparsamkeitsgeboten und soundso viel geltenden An­ ordnungen bestehen, gegen die man zwar vor Gericht klagen könnte, aber damit eben die »Freizeit« derSachbeschäftigung verlieren würde, zu deren Schutz diese »Autonomien« einmal geschaffen wurden. »Autonomie« bedeutete einmal Schutz der geistig Produktiven vorder Macht, heute ist sie die Grund­ lage der Macht der geistig Produktiven über andere. Neben dieser »Umfunktionierung« - auch eine wissen­ schaftlich-verbale Verschleierung des Tatbestandes der Ver­ fälschung der Schlüsselbegriffe in der aktuellen Klassenaus­ einandersetzung - steht aber eine epochale Sprachverände­ rung, die viel entscheidendere Herrschaftsverschiebungen bezeugt; man kann sie in dem sehr weitgehend gediehenen Ersatz des Wortes »StaaNausdem politischen Wortschatz des 19. Jahrhunderts durcFfdas Wort »Gesellschaft« in der Gegen­ wart feststellen. Das Bemerkenswerte in dieser Sprachwand­ lung besteht darin, daß ihr offensichtlich keiner widerstehen kann: Selbst die konservativen Politiker oder die auf Verant­ wortungseindeutigkeit zielende Sprache der Gesetzgebung und der Verwaltung übernimmt den Begriff der »Gesellschaft«, wo sie vom sozialen »Ganzen« sprechen will. Die bei einigen universitären Staatsrechtlern noch aufbewahrte Unterschei­ dung von »Staat« und »Gesellschaft« im Sinne Hegels, also des 19. Jahrhunderts, kennzeichnet nur die Antiquierung einer wissenschaftlichen Disziplin; die politische Durchschlags­ kraft der »Gesellschaft« dokumentiert dagegen die intellektu­ elle Herrschaft der Soziologen. Hans Maier haX auf diese Ver­ schiebung hingewiesen, ohne allerdings die entscheidende politische Konsequenz zu nennen: Wer »Staat« sagt, meint Institutionen, meint Regierung, Parlament, Parteien, Justiz, Kommunen usw., also Einrichtungen, deren Personal eindeu­ tig bestimmbar und zur Verantwortung zu ziehen ist, deren Willensbildung durch kontrollierbare Vorgänge wie Wahlen,

25

gesetzlich geregelte Verordnungen, Geschäftsordnungen und Statuten usw. zustande kommt, meint also letzthin amtli­ che Verantwortung von berufsethisch verpflichteten Amtsträ­ gern. Wer »Gesellschaft« sagt, meint ein »Ganzes« ohne insti­ tutioneile Konkretisierung, einen analytischen Begriff, den jeder nach seiner subjektiven und individuellen Erkenntnis­ lage ausdeuten kann, meint eine »unbestimmte Verpflich­ tung«, diezwar jederfürsich je nach persönlichem Geschmack moralisch verstehen kann, die sich aber glänzend dazu eignet, die sozialen Handlungen anderer einer objektiv scheinenden, in Wirklichkeit völlig subjektiv-meinungshaften sozial-morali­ schen Abwertung zu unterziehen. Was ist z. B. die bereits in die Gesetzgebung eingegangene »Verantwortung des Wissen­ schaftlers vor der Gesellschaft« (Hochschulgesetze)? For­ schungen im Auftrage der Bundeswehr entsprechen dieser »gesellschaftlichen« Verantwortung des Wissenschaftlers of­ fensichtlich nicht mehr, während Aufwiegelung, ja systemati­ sche Kaderausbildung zum Klassenkampf gegen das bundes­ deutsche »System« eben diese »gesellschaftliche« Verant­ wortung bezeugen (vorallem praktikabel, wenn man als Lehrer oder Hochschullehrer die konkrete Verantwortungszurech­ nung als Parteimitglied der KPD oder DKP vermeidet). »Gesell­ schaft«, dieser Ausdruck dient politisch vor allem dazu, die institutionell-soziale Verantwortung in subjektiv unverbindli­ che, aber anspruchs- und herrschaftsvolle Meinung zu über­ führen. 5. Zur gruppenhaften Sinnleistung der Sprache gehört dann vor allem ein klassenspezifischer Vorratan Leerformeln, der sozial und politisch zusammenbindet (integriert). Die kritische Wissenstheorie, so z. B. Top/Ysc/7,hatandiesen»Leerformeln« bisher im wesentlichen ihre Unwissenschaftlichkeit, ihre Un­ brauchbarkeit für wissenschaftliche Beweisführungen, aufge­ wiesen. Das mag stimmen, ist politisch aber belanglos, denn diese Leerformeln haben die unüberschätzbare Eigenschaft der Aufsaugung der Vieldeutigkeit dessubjektivenMeinenszu einer vermeintlich gruppeneinheitlichen Übereinstimmung. Wer in der politischen Öffentlichkeit »Emanzipation« oder »reflektieren« sagt, gibt sich zu erkennen und kann auf Zusam­ mengehörigkeit rechnen. Das gilt im Grundsatz natürlich für alle politische Sprache, nicht nur für die Klassensprache der Sinn-Produzenten. 26

Erstaunlicherweise ist dem Entstehen solcher politischer Leerformeln bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden; sie entstehen nämlich nicht als politisch dienliche Unklarhei­ ten, sondern als durchaus eindeutige Begriffe innerhalb von wissenschaftlichen, philosophischen undfrühersogartheologischen Denksystemen; aber ihrgruppenhaft-konventionelleil Gebrauch läßt sie zu Worthülsen herabsinken, deren Anwen-^ dung die ursprüngliche Sinnfelderfüllung erspart. Man kann dies auch als politische Abnützung der wissenschaftlichen Sprache bezeichnen und trifft damit zumindest genau die verbale Klassenkampfpraxis der wissenschaftlich herrschsüchtigen Sinn-Produzenten. Und für diesen Vorgang der geradezu unendlichen Vervielfältigung und damit immer der Abnützung, Ausleerung und Verbalritualisierung wissen­ schaftlicher Wort- und Begriffsprägungen stehen ja in der »wissenschaftlichen Zivilisation« die von wissenschaftlich ausgebildeten Funktionären betriebenen »Medien« in reicher Zahl zur Verfügung. So waren Begriffe wie »Mündigkeit«, »kritische Reflexion«, ja selbst wie die aus dem Amerikanischen wahlkämpferisch ausgeborgte »Lebensqualität« einmal in bestimmten wissen­ schaftlichen Denksystemen präzise; wer sie heute noch mit dem Glauben der sinnvollen Beweisführung benutzt, belügt entweder sich oder andere. Dabei wollen wir gar nicht reden von dem Heruntersinken der Begriffe der Theorie von Karl Marx; Wortformeln wie »Herrschaft des Monopolkapitalis­ mus«, »Macht der Großkonzerne«, »Imperialisten und Reak­ tionäre«, ja selbst neomarxistische wie »mittelfristige Be­ wußtseinsbildung«, »Lernprozesse«, »Unterprivilegierte« usw. gehören heute zu den Gebetsmühlen des niederen politi­ schen Klerus. Ich kann in diesem Zusammenhang eine dererschreckendsten persönlichen Erfahrungen nicht verschweigen: Wenn man einmal das Fernsehen oder den Rundfunk so anstellt, daß man ungewollt mitten in eine Sendung hineinfällt, die »sozial­ aufklärerisch« sein will (so vor allem des »Dritten Pro­ gramms«), und es hallen einem dann die Wortfetzen der ste­ reotypen klassenherrschaftlichen Verdummung durch die in­ tellektuelle Sozialvormundschaft entgegen, mit denen ja auf­ grund ihrer Sendegewalt nicht mehrzu »kommunizieren« oder zu »argumentieren« ist, dann wird einem der unvermeidbare

27

Glaube früher Kulturen an die »Dämonen« oder an den »Teu­ fel« völlig verständlich. Der neue Teufel, das ist vor allem der unfaßbare Sprachverderber, der dadurch herrscht, daß er die Menschen »sprachlos« macht. Zu diesen Erscheinungen gruppenbildender und gruppen­ abgrenzender Leistung von Worten gehören noch einige an­ dere sprachliche Tatbestände der modernen politischen Aus­ einandersetzung, so die von Scheuch als »Fäkalsprache« bezeichnete Verwendung von vulgärsexuellen, pornographi­ schen und einfach unflätig-schweinischen Worten besonders durch die jungen Akademiker. In der Tat wird man das Wort »Scheiße« in den letzten Jahren unter Arbeitern keineswegs so oft gehört haben wie in soziologischen oder psychologischen Fakultätssitzungen oder Seminaren. Scheuch führt dafür psy­ chologische Ursachen an wie z. B. die in Aggression umge­ setzte Potenzangst von Spätpubertät oder Jugenddelinquenz; wichtiger erscheint mir, daß dieser richtig erkannte »FäkalKult unter Teilen der Jugend des Bürgertums« eben genau die politische Funktion hat, vermeintliche Klassenidentifikationen von Studenten und Arbeitern herzustellen, wie man ja auch in unseren Breiten eine proletarisch-ärmliche Vernachlässigung in Kleidung, Haartracht und Umgangsformen im Sinne des (von Marx ironisierten) Lumpenproletariats nur noch unter den klassenkämpferischen Studierenden der Hochschulen findet. Kann man dies noch als eine Form der »Herrschaft durch Anpassung« verstehen, so darf man die daraus folgende Bela­ stung des Beherrschten nicht übersehen: Der einfache Mann, der das literarische Hochdeutsch als Überlegenheit empfand und diese politisch-sozialwissenschaftliche Sprachbeherr­ schung erst recht als Anmaßung und Last empfindet, konnte sich früher in den Untergrund der Sprache zurückziehen; er sagte »leck mich am Arsch« oder »Scheiße«. Aber heute wird ihm auch dieser Ausweg in die sprachliche Grobheit versperrt, denn seine ureigene Sprache, sein »Volksvermögen«, wird nicht nur von herrschaftsarroganten Jungakademikern imi­ tiert, sie wird vor allem nun auch den Lehrern offiziell zum Schutz und zur Verwaltung überantwortet, wie es in den Hessi­ schen Rahmenrichtlinien für den Deutschunterricht deutlich wurde. Über sie ist viel diskutiert worden, aber den Gesichts­ punkt, daß hinter den vermeintlichen arbeiterfreundlichen Ar­ gumenten ihrer Befürworter sich ein ganz massives Klassenin­

28

teresse der neuen Sinn-Produzenten verbirgt, hat keiner ihrer Kritiker deutlich geäußert. Wir glauben, mit diesen fünf methodischen Gesichtspunk­ ten der Klassenherrschaft durch Sprache wenigstens auf die­ sem Gebiet deutlich gemachtzu haben, daß man im »Klassen­ kampf« nicht neutral bleiben kann, sondern daß in der Tat schon die Sprache-womöglich vom Sprechenden individuell ungewollt - zur Herrschaftsklasse der Sinn-Produzenten zäh­ len läßt oder zu der politisch immer ohnmächtiger, weil »sprachloser« werdenden Klasse der die Alltagssprache Ge­ brauchenden. Mag man in diesem neuen Klassenkampf viel­ leicht gesinnungshaft gar nicht Partei ergreifen wollen, man wird, da sich Sprache nicht aufgeben läßt, zur Parteinahme gezwungen. Die Art, wie man öffentlich redet, zeigt an den gebrauchten »Produktionsmitteln«, bei welcher Klasse die eigenen Interessen liegen.

29

Hans Maier

Aktuelle Tendenzen der politischen Sprache

Ausgleichsbewegungen nach 1945 Die Sprachentwicklung nach 1945 stand - zumindest in der Bundesrepublik - im Zeichen eines fortschreitenden Abbaus von rollen- und schichtspezifischen Sondersprachen, indivi­ duellen und landschaftsgebundenen Idiomen, kurz räumli­ chen und sozialen Sprachabgrenzungen. Sie spiegelte hierin, wenn auch mit Verzögerungen, die sozialgeschichtliche Ent­ wicklung wider, die einerseits durch soziale Nivellierung, an­ dererseits durch Rangerhöhung bisher sozial zurückstehen­ der Tätigkeiten und Positionen in der Gesellschaft gekenn­ zeichnet war. Die Skala: Magd-Dienstmädchen-Hausgehilfin-Hausangestellte-Hausassistentin ist dafür ebenso ein Bei­ spiel wie die oft beschriebene und belächelte Verwandlung der Putzfrau in die Raumpflegerin, des Blumenbinders in den Floristen, des Briefträgers in den Postfacharbeiter, des Fen­ sterputzers in den Glas- und Gebäudereiniger. Statusunter­ schiede wurden nach oben nivelliert. Das wirkte in die Aus­ druckssphäre hinüber. Schon die flüchtige Durchsicht der Romanliteratur nach 1945 läßt erkennen, daß das Stilmittel differenzierender Charakterisierung einer Person durch ihre Sprechweise - virtuos gehandhabt noch von Thomas Mann heute kaum mehr verwendet wird, zumindest nicht in Roma­ nen, die in der Gegenwart spielen. Es würde auch kaum mehr verstanden werden. Umgekehrt hat die Angleichung der Wohn- und Lebensgewohnheiten, der Berufs- und Ausbil­ dungswünsche zur Entstehung einer breiten Buch- und Zeit­ schriftenliteratur geführt, die sich mit Wohnen, Freizeit, Bil­ dung und Erziehung beschäftigt, und zwar ohne Fixierung auf unterschiedliche soziale Zielgruppen. Wenn etwa eine Zeit­ schrift wie Architektur und kultiviertes Wohnen das Adjektiv kultiviert stillschweigend aus dem Verkehr zieht, um sich den

30

marktbeherrschenden Zeitschriften Zuhause und Schöner wohnen anzugleichen, so ist das nur ein winziges Element dieses Prozesses, fürdenvieleandereBeispielezurlllustration bereitstünden. Was wir hier im sozialen Feld beobachten, gilt auch für den engeren politischen Bezirk. Scharf abgrenzende Bestimmun­ gen, einer gespannten Klassenlage entstammend, sind in den 50er Jahren weicher umschreibenden Kennzeichnungen ge­ wichen. Das Vokabular des Klassenkampfes hat sich weitge­ hend aufgelöst, sei es in Neubildungen, sei es in Retuschen älterer Begriffe. Zwar tradiert die Sprache noch immer den sozialrechtlich kaum mehr bedeutsamen - Unterschied von Arbeitern und Angestellten, aber über beide hatsich bereits der Begriff des Arbeitnehmers gelegt, und auch der Fremdarbeiter ist inzwischen zum Gastarbeiter geworden. Nicht mehr Arbei­ ter und Kapitalisten stehen einander gegenüber wie in der Frühzeit des Klassenkampfes, sondern Arbeiter und Unterneh­ mer und schließlich Arbeitnehmer und Arbeitgeber - nicht mehr Antagonisten beherrschen die Szene, sondern Tarifpart­ ner, Sozialpartner. Dem entspricht es, daß Abhängigkeiten, Hierarchie- und Delegationszusammenhängedurch neue Um­ schreibungen gemildert und verwischt werden: Mitarbeiter, Kraft, Hilfe, Assistent, Auszubildender anstelle von Hilfskräf­ ten, Angestellten, Lehrlingen. Man halte dagegen die Tatsa­ che, daß noch in den 20er Jahren ein wissenschaftlicher Assi­ stent ein wissenschaftlicher Hilfsarbeiter war, ohne daß je­ mand dies als anstößig empfunden hätte. Es wäre ein leichtes, die geschilderte Entwicklung zu ironi­ sieren, auf den harmonistischen Überdruck mancher Neuprä­ gung hinzuweisen und Ideologieverdacht zu säen, wenn Fahr­ schulen und Friseurläden zu Fahr- und Haarstudios und Nach­ hilfestunden zu Förderunterricht werden. Doch sei Spott hier ferne. Denn man kann nicht übersehen, daß die Sprache in einer »Spiegelfunktion sozialer Wandlungen«, wie Els Oksaar es ausgedrückt hat, nur nachvollzieht, was sich in der Gesell­ schaft realiter abgespielt hat, und daß in den erwähnten Eu­ phemismen und Graduierungen neben Prestigemomenten auch eine deutliche Humanisierungstendenz mitschwingt. Ich möchte das selbst für manche Verhüllungen gelten lassen, an denen unser Deutsch nach 1945, soweit es gesellschaftliche Verhältnisse bezeichnet, so reich gewesen ist. Sprache dient ja 31

nicht nur der analytischen Entblößung, und man sollte sich gelegentlich daran erinnern dürfen, daß alle Kultur mit Adams und Evas Feigenblatt begonnen hat und daß die heute so vielgepriesene nackte Wahrheit, mit Franz Werfel zu sprechen, »die Hurenbraut des Barbaren« ist.

Die Sprache der Neuen Unken

Was aber ist geschehen, daß heute plötzlich wieder von »armerund reicher Welt« (statt von Entwicklungsländern und Industriestaaten), von »Kapitalisten« und »Arbeitern« (statt von Tarif- und Sozialpartnern), von »den Herrschenden« (statt von gewählten oder ernannten Amtsinhabern) gesprochen wird? Woher dieser Sturz ins Ultrakonkrete, Platt-Anschauli­ che, Klassenkämpferische und Grobianische in unserer politi­ schen Sprache? Woher diese andere Sprachwelt - fast bis in den Bundestag hinein - nach zwei Jahrzehnten einer sprach­ lichen und sozialen Ausgleichs- und Egalisierungstendenz? Woher diese gereckte Agitation, das bösartig trommelnde Deutsch, die hämmernden Klischees und Standards, die mit Popelementen unterlegten Aggressionen? Woher vor allem die immer stärker zunehmende Entfremdung der politischen Sprache von ihrem Ausgangspunkt, der Beziehung auf die Institutionen des Grundgesetzes und der Länderverfassun­ gen? Wie kommt es, daß - wie mir ein Staatsrechtslehrer meiner Generation vor zwei Wochen klagte—intelligente junge Menschen mit Begriffen wie konstruktives Mißtrauensvotum und Verbot des imperativen Mandats einfach nichts mehr anfangen können, daß hier neue Sperren, Sprachbarrieren entstanden sind? Dies zu erläutern muß ich mit meinen Beobachtungen etwas weiter ausholen. Ich beginne zunächst beim letzten Punkt: der Entfremdung der politischen Sprache von den Normen und Begriffen unserer in Verfassungen und Verfahren grundgeleg­ ten politischen Ordnung. Wohl die bedeutsamste, früh einsetzende Verschiebung im politischen Wortgebrauch war die Ausdehnung des Begriffs Gesellschaft auf die gesamte Breite des politischen Lebens und der progressive Ausfall des Begriffs Staat. Das äußert sich darin, daß in unserer politischen Bildung heute, sehr im Unter­

32

schied zu den 50er Jahren, das Wort Staat kaum mehr vor­ kommt, dafür aber das Wort Gesellschaft universelle Verbrei­ tung erlangt hat. Die alte Balance von Staat und Gesellschaft, liberalem Denken teuer, ist damit einer monistischen Erklä­ rung des sozialen Lebens gewichen, denn nicht zu vergessen: Auch der Gesellschaftsbegriff hat seine alte Begrenzung als soziales Gegenüber zum Staatlich-Politischen eingebüßt und ist zu einem allumfassenden Schematismus geworden. Alle reden von Gesellschaft, und wer (noch) vom Staat redet, muß entweder ein Spezialist sein, etwa ein Staatsrechtslehrer, oder er ist als Abgeordneter oder Verwaltungsbeamter eben einTeil des staatlichen Systems. Im übrigen ist derSiegeszug des total gewordenen Gesellschaftsbegriffs längst nicht mehr auf die Sprache der Publizistik oder der politischen Bildung be­ schränkt. Er zieht in den 70er Jahren bereits Spuren in Ge­ setzestexten. Das jüngste Beispiel ist eine im Wissenschafts­ ausschuß des Bundestages von SPD- und FDP-Abgeordneten diskutierte »Verantwortung (des WissenschaftlersJvorderGesellschaft«, die einen Begriff als rechtserhebliche Größe kon­ struiert, der im Grundgesetz gar nicht vorkommt. Nun könnte man einwenden, hier sei nur der überdimensio­ nierten Geltung des Staatsbegriffes in Deutschland endlich demokratisch der Garaus gemacht worden. Außerdem habe man die angelsächsische civil society ins deutsche politische Vokabular geholt. So richtig das für die Anfänge des Auf- und Abstiegs von »Gesellschaft« und »Staat« in den frühen 60er Jahren ist, so wenig gilt es für den heute erreichten Endpunkt der Entwicklung. Denn einmal gibt es auch in der angelsächsi­ schen Welt zu civil society den Komplementärbegriff des go­ vernment - und eben davon ist bei uns, unter der Dominanz eines alles absorbierenden Gesellschaftsbegriffs, nicht mehr die Rede. Zum anderen ist hier nicht eine monistische Einheit einer demokratischen Zweiheit oder Vielheit geopfert worden; eine monistische Erklärung (oder Ideologisierung) der politi­ schen Welt hat sich nur in einer anderen sprachlichen Form verpuppt. Eine zweite Beobachtung, die sich aufdrängt, ist die Verän­ derung des Begriffs der Demokratie. Ich möchte die These wagen, daß sich die enge Gemengelage dieses Begriffs mit rechtsstaatlichen, parlamentarischen, parteistaatlich-plurali­ stischen Formelementen (die wiederum für das Grundgesetz 33

charakteristisch ist) in den späten 60er Jahren mehr und mehr aufgelöst hat, daß die radikal-demokratischen Begriffsinhalte sich isoliert haben - so sehr, daß das Wort heute, vor allem in der dynamisierten Form der »Demokratisierung«, dabei ist, ein Kampfbegriff gegen rechtsstaatliche und parlamentarische status-quo-Befestigung schlechthin zu werden. Wer die ver­ wickelte Wortgeschichte kennt (noch im späten 19. Jahrhun­ dert stand der Begriff Demokrat in der englischsprechenden Welt unter Radikalismus-Verdacht!), der wird es registrieren, wenn heute die Hamburger Empfehlungen der Ministerpräsi­ denten gegen Radikale im öffentlichen Dienst von interessier­ ter Seite zum »Kampf gegen Sozialisten und Demokraten« stilisiert werden. Hier wird das Wort beziehungsreich in die Nähe jenes links vom politischen Liberalismus angesiedelten Radikalismus gerückt, aus dem es geschichtlich herkommt; denn erst in einem langen Mischungsprozeß hat sich jene »freiheitlich-demokratische Grundordnung« entwickelt, der außer den primär-demokratischen Elementen der Volkssou­ veränität und des Mehrheitsprinzips auch so unentbehrliche Bestandteile unserer öffentlichen Ordnung wie Rechtsstaatsund Repräsentativprinzip, Parteiensystem und Parlamentswe­ sen angehören. Drittens weise ich auf eine Linie sprachlicher Veränderun­ gen hin, die man als puristische Überforderung von Begriffsin­ halten (mit dem Ziel desillusionierender Zerstörung des Be­ zeichneten) charakterisieren könnte. Der Vorgang ist in Deutschland vor allem aus der Weimarer Republik bekannt. Hier hat die Neue Linke von der alten Rechten viel gelernt. Ein Musterbeispiel unfreiwilligen Hand-in-Hand-Arbeitens bereits Ende der 50er Jahre war die Isolierung der rechtsstaatlichen und sozialstaatlichen Elemente des Grundgesetzes (die die Verfassung sehr bewußt im Begriff des sozialen Rechtsstaats zusammengebunden hatte), ihr Aufblähen zu eigenen, sich wechselseitig ausschließenden Entitäten in der Theorie (denn in der Praxis hat unsere Demokratie gerade eine beachtliche Verschmelzung zuwege gebracht). Wenn heutedie Darstellun­ gen unserer Demokratie in der politischen Bildung, grob ge­ sagt, in eine rechtsstaatlich-liberale und eine sozialstaatlich­ sozialistische auseinandergefallen sind, so hat dieses dissozi­ ierende Denken seine alten Traditionen. Es lebt ebenso in dem dualistischen Begriffspaar Verfassungsrecht-Verfassungs-

34

Wirklichkeit wie in der heute so beliebten Entgegensetzung von inhaltlicher und formaler Demokratie. Das Modell des gedanklichen und sprachlichen Vorgehensistüberalldasgleiche: Man bringt Worte der politischen Alltagssprache, die gerade wegen ihrer Praxisnähe unscharf sind, deutsch-gründ­ lich »auf den Begriff«, um dann die schlechte Wirklichkeit am puristischen Seminaranspruch scheitern zu lassen. Auf diese Weise kann man nahezu überall den Nachweis führen, daß unsere Verfassungen die »gesellschaftlichen Widersprüche« nicht wirklich »vermittelt«, sondern nur formalistisch inte­ griert haben. Hier schließt sich eine vierte Beobachtung an, daß nämlich zentrale Begriffe unserer politischen Ordnung in den letzten Jahren aus ihrer Normallage gelöst, dynamisiert, ja eschatologisch aufgeladen worden sind: DasgiltfürVerfassung, Demo­ kratie, Sozialstaat so gut wie für Rechtsstaat und Grundrecht. Aus Ordnungsbegriffen sind Verheißungen geworden. Die Sti­ lisierung des Grundgesetzes zum »großen Versprechen« machte den Anfang. Es ist kein konservatives Glaubensbe­ kenntnis, sondern beschreibt nur einen Sachverhalt, wenn man feststellt, daß jede Verfassung auch Normierung eines sozialen status quo ist, Verstetigung des politischen Lebens, dem sie »Anregung und Schranke« (R. Smend) bietet. Nur insoweit kann sie ja die politischen Verhältnisse ordnen und gestalten. Eben dieser Aspekt wird aber im heute herrschend gewordenen Sprachgebrauch fast völlig übergangen; statt dessen wiegt die Vorstellung vor, die Verfassung sei eine Sammlung von Geboten für alle Lebenslagen, die vom Gesetz­ geber nur zu entfalten wären. Kein Wunder, daßauf dem Boden eines solchermaßen überstrapazierten Verfassungs- und Grundrechtsverständnisses Exidealismus und Zynismus ge­ deihen. Als Beispiel nenne ich das hilflos-traurige Bekenntnis einer DKP-Lehramtsanwärterin, die in einem Land (es war nicht Bayern!) von den Behörden gefragt wurde, warum sie gegen das Grundgesetz sei: »Aberichbindochgarnichtgegen das Grundgesetz. Das Grundgesetz wäre gut, wenn es gälte. Aber es gilt doch bei uns gar nicht.« Endlich verzeichne ich fünftens ein zunehmendes Eindrin­ gen organisatorischer, technischer, ja paramilitärischer Kampfbegriffe in die politische Sprache - Spiegelbild des Voluntarismus und Aktionismus, der sich in vielen neuen poli­

35

tischen Bewegungen und Kräften geltend macht. Hierzu ge­ hört das berühmt-berüchtigte «Umfunktionieren«, aber auch das systematische «Verunsichern«, hierzu gehören die Kampf­ begriffe gegen die «Herrschenden«, das «System«, die Spra­ che von «Gewalt« und »Gegengewalt« gegen den «manifesten Terrorismus spätkapitalistischer Herrschaft«. Es ist bezeich­ nend, daß das paramilitärische Idiom zuerst im Bereich von Bildung und Erziehung verwendet wurde: Ausnutzung und »Umpolung« von Sozialisationsmustern, kognitive Opera­ tionsmodi, Lernstrategien waren dort schon üblich, als das politische Konzept der Neuen Linken noch auf Seminarniveau bei der Reflexion gesellschaftlicher Bedingungen verharrte und allenfalls die repressiven Muster formaldemokratischer Bewußtseinsprozesse demaskierte. Inzwischen sind die «Stra­ tegiediskussionen« Legion geworden, aber neben den Meta­ phern des Revolutionsspiels ist zugleich eine neue Zone des intentionalen »bewaffneten Kampfes« entstanden, in der nicht mehr mit Begriffen gefochten wird. Wiederum überrascht, wie bei früheren Beispielen, die Berührung der Extreme: Viele Sätze aus der im Juni 1972 veröffentlichten RAF-Kampfschrift »Dem Volke dienen« könnten beim frühen Ernst Jünger ste­ hen, wie überhaupt der Zusammenhang von Aktionismus, Todespathos und Ästhetizismus in extrem linken Gruppen fast die gleichen sprachlichen Formen annimmt wie in extrem rechten. Alle diese Aussagen wären vielfältig zu differenzieren, die gesammelten Beispiele nach Herkunft und Repräsentanz ge­ nauer aufzuschlüsseln. Den Mischungen sehr persönlicher Gelehrtenidiome (Adorno, Bloch, Habermas) mit Begriffen der Management- und Organisationssprache nebst Einspreng­ seln der Futurologie wäre im einzelnen nachzugehen. Das kann hier schon aus Raumgründen nicht geschehen. Ich möchte aber im folgenden versuchen, wenigstens an einigen ins allgemeine Bewußtsein gedrungenen politischen Begrif­ fen der jüngsten Zeit die Frage zu erörtern, in welche Richtung diese neue Sprache weist, welche Gesellschaftsvorstellungen in ihr lebendig sind. Ich wähle dazu Begriffe, die - liberaler Tradition entstammend-im Zusammenhang der neuen politi­ schen Sprache einen veränderten Sinn erhalten haben, jedoch im Bewußtsein vieler, die sie verwenden, noch in der alten Wortbedeutung gegenwärtig sind - was sie zu geeigneten

36

Objekten einer politisch-semantischen »Doppelstrategie« macht.

Bedeutungsveränderungen - einige Beispiele Das typischste Beispiel ist wohl das Wort »Emanzipation«. Es hat, lange Zeit ein fast historisch gewordener Begriff, in den letzten Jahren eine Aktualisierung und Verbreitung gewon­ nen, die ganz ungewöhnlich ist. Es wimmelt heute von Konzep­ ten und Strategien der Emanzipation; emanzipatorische Lern­ prozesse werden von Schulbehörden verordnet; die berufliche Bildung soll sich vom dualen System emanzipieren, der politi­ sche Prozeß von den Parteien, der Verbraucher vom Konsum­ zwang. Nicht nureine maßgebende Richtung modernerTheologie, sondern auch der DGB-Vorsitzende fordert in einer Erklärung zum 1. Mai »eine Kirche der Emanzipation«. Kurz, Emanzipation, emanzipieren, emanzipatorisch sind Schlüs­ selbegriffe der neuen politischen Sprache, in ihnen kommt, gewollt oder ungewollt, ein universeller Anspruch auf Verän­ derung des »Systems« zum Ausdruck. Worauf zielt dieser Anspruch? Es scheint mir wichtig festzu­ halten, daß er nicht Freisetzung (einer Person, einer Gruppe) zu etwas meint, sondern ausschließlich den Vorgang desSichBefreiens (von Institutionen, Verhaltensweisen, sozialen Zwängen) umschreibt - dies mit einem pathetischen Akzent, als läge Freiheit wesentlich (und einzig) im Sich-Befreien. Der Freiheitsbegriff wird also negatorisch verengt. Emanzipation schlägt in einen pauschalen Verdacht gegen »das Beste­ hende« um. Damit aber erhält der Begriff einen anderen histo­ risch-politischen Richtungssinn als in seiner liberalen Ur­ sprungszeit. Damals ging es darum, daß Gruppen, die bisher vor der verschlossenen Tür der Staatsaktionen standen, einen status activus und damit Anteil an staatsbürgerlicher Gestal­ tungsfreiheiterhielten, daß sie aus Regiertenzu Staatsbürgern wurden. Dagegen ist der auf Sich-Befreien verengte moderne Emanzipationsbegriff eher ein Rückfall in ein Denken, das Freiheit in bloßen Ausgrenzungen und Unterlassungsansprü­ chen gegenüber Staat und Gesellschaft sieht-eine Rückbe­ wegung von Kantzu Rousseau. Verbunden miteinerradikalen Negation der bestehenden Ordnung, führt dieser Freiheitsbe-

37

griff zu einer Haltung des generellen Ideologieverdachts ge­ genüber Institutionen; er übersieht, daß Freiheit in der moder­ nen Gesellschaft nicht mehr etwas Naturhaftes ist wie im Pionierzeitalter von Manufaktur und frontier, daßsie vielmehrund gerade als individuelle Freiheit - der planmäßigen gesell­ schaftlichen Organisation und Institutionalisierung bedarf. Noch deutlicher wird dieser negatorische Freiheitsbegriff in dem Wort »Freiraum«, einem Schlüsselwort für das Gesellschafts- und Politikverständnis der Neuen Linken. Auch dieser Begriff hat Karriere gemacht, weit über den Kreis seiner Erfin­ der hinaus. Er taucht heute nicht nur in der Publizistik und in politischen Diskussionen, sondern ebenso in der Pädagogik, in der Verfassungs- und Grundrechtstheorie, ja in innerkirchli­ chen Debatten auf. Abbau von unlegitimierter und ausbeuten­ der Herrschaft. Aufbau von Institutionen, »die ein Maximum von Räumen und Zeiten der Freiheit ermöglichen und verwirk­ lichen« - so umschreibt eine Studentengemeinde, die sich als »Instrument der Befreiungsbewegung Gottes« versteht, das Ziel ihrer politischen Aktionen. Und um die Schaffung neuer Freiräume (oder die Erhaltung der alten) kreist das Denken vieler junger Menschen, die in den vorstaatlichen Zonen der Gesellschaft, in Hochschulen, Kirchen, Gewerkschaften, Be­ trieben, Parteien im Sinn der Ideen der Neuen Linkenzu wirken bemüht sind. Fanfare oder Schamade? Auch hier muß die Frage gestellt werden, wie der Anspruch, der hinter dem Wort Freiraum steht, historisch einzuordnen und politisch auszulegen ist. Zunächst ist ein ultrakonkreter Realismus der hier intendierten Frei­ heitsidee festzustellen. Freiheit wird verzeitlicht und verräumlicht wie in den frühliberalen Phasen des »Eingriffs- und Schrankendenkens« (P. Häberle), als die korporativen und individuellen Freiheitsräume noch naturhaft-autonome Selbstmachthatten,derStaatFreiheitwesentlichdurch Unter­ lassung oder durch rechtliche Umgrenzung des Eingriffsaktes garantieren konnte. Weiterhin: der Freiraumbegriff und -anspruch enthält ein korporatistisches Moment. In der Verteidi­ gung traditioneller und der Schaffung neuer korporativer Au­ tonomien geht die Neue Linke heute weit über die in den zwanziger Jahren etwa von Othmar Spann vertretenen korpo­ ratistischen und berufsständischen Ideen hinaus. Die Organi­ sation von »Gegengewalt« bei extremen Gruppen lebtvonden

38

asylartig ausgestalteten korporativen Freiräumen in Schulen, Kirchen, Universitäten, wo (relative) Staatsferne und Poli­ zeiimmunität radikalen Kräften alle Möglichkeiten, vom Flug­ blattdruck bis zur Vorbereitung von Straßenaktionen, bieten. Und selbstdort, wonureinindividueller Freiheitsraum gemeint ist, wird er, in schroffem Gegensatz zu den Tendenzen moder­ ner Grundrechtsdeutung, nicht institutionell mit der politi­ schen Freiheit des Gemeinwesens in Beziehung gesetzt, son­ dern als subjektiver Unterlassungsanspruch an den Staat ver­ standen. Nun erinnern wir uns, daß die einheitlich-allumfassende Geltung des staatlichen Gesetzes sich gegenüber den korpo­ rativen Freiheiten von Adel, Kirche, Grundherrschaft erst mit den modernen Revolutionen endgültig durchgesetzt hat. Der moderne Staat schafft mit seinem (in den Demokratien durch die Bürger legitimierten) Gewaltmonopol eine innerstaatliche Friedensordnung, indem er den mit ihm konkurrierenden au­ togenen Gewaltträgern mit den Mitteln von Polizei und Justiz die autonome Rechtsetzung und Gewaltübung entzieht. Ge­ stufte korporative Freiheiten (und Freiräume) werden in eine virtuell egalitäre staatsbürgerliche Freiheit des Individuums verwandelt. Es ist zuzugeben, daß diese Konstruktion in der geschichtlichen Realität im 19. und 20. Jahrhundert auch in den klassischen Demokratien nur annäherungsweise erreicht worden ist und daß vor allem die Industriegesellschaft diet Tendenz in sich trägt, neue Immunitäten auszubilden. Sicher ist aber, daß mit der Vorstellung autonomer Freiräume inner­ halb der innerstaatlichen Friedensordnung (und gegen sie) die Idee des modernen Staates und der staatsbürgerlichen Frei­ heit und Egalität selbst aufgehoben wäre. Es ist kein Zweifel, daß nicht wenige Freiraum-Theoretiker eben dies beabsichti­ gen. So hat Ulrich Preuss beim 33. Bergedorfer Gesprächs­ kreis das Modell einer »Kultivierung von Gegengewalt« und einer »Koexistenz der unterschiedlichen Gewalten« entwikkelt. Ich kann mir die Bemerkung nichtversagen,daßwirdamit im Raum der mittelalterlichen Zweischwerterlehre sind, nicht aber im Raum modernen politischen Denkens- und schon gar nicht im Raum progressiver Ideenbildung. Als drittes Beispiel nenne ich die Formel des »Betroffen­ seins«. Sie enthält die Forderung, daß bei allen Akten, die fremdbestimmt sind - und was ist nicht fremdbestimmt in der

39

modernen Welt! -, »die Betroffenen« mitzureden und mitzu­ entscheiden hätten: die Schüler über die Schule, die Wähler über Akte des Parlaments und der Regierung, die Arbeiterüber Produktion und Investition, die Studenten über »Lerninhalte« und Prüfungen. Dahinter steht der Gedanke einer herrschafts­ los diskutierenden Gesellschaft, in deres Hierarchien, Delega­ tionszusammenhänge, Repräsentationsformen, jadas Phäno­ men der Arbeitsteilung und der Bürokratie nicht mehr gibt, in der also jeder, mit Rousseau zu sprechen, indem er anderen befiehlt, sich selbst befiehlt. Tatsächlich zählt der Vorwurf, die Betroffenen seien nicht beteiligt oder nicht gehört worden, bereits heute zu den schlimmsten emotionalen Verdikten in unserer Gesellschaft-jeder Amtsinhaber, dersich heute, ohne zu murren, durch ein Verhau von Daueranhörungen, Beirats­ sitzungen und Gesprächen mit Interessenvertretern quälen muß, weiß ein Lied davon zu singen. Auch die Forderung nach Mitsprache der Betroffenen hat eine ehrwürdige Tradition hinter sich - eine nicht minder eindrucksvolle als die vorher betrachteten Begriffe. Alle parla­ mentarischen Institutionen sind ja aus solchen Mitspracheforderungen hervorgegangen, und der Gedanke, daß ich mir auferlegte Entscheidungen der Gemeinschaft zumindest mit­ beeinflussen kann, ist zweifellos verführerisch - heute mehr denn je. Indes: die berühmte Formel Bractons »Quod omnes tangit, ab omnibus comprobetur« ist nicht so zu lesen, daß alle von Fremdbestimmungen Betroffenen jederzeit mitentschei­ den sollten. DerSatz hat vielmehreinschränkende Bedeutung: Was alle angeht (und nur dies!), unterliegt dem Recht der Mitsprache aller. Der Satz wendet sich nicht an den Menschen als Spezialisten in seinen kaum mehr zu zählenden Varianten, er appelliert an diegemeinsame Staatsbürgernatur. Von dieser staatsbürgerlichen Qualität aber wird man ohne Apologetik sagen können, daß sie in der modernen Welt mit größeren Möglichkeiten der Mitsprache ausgestattet ist als in einer Zeit, die privilegierte politische Stände und Klassen kannte. Versucht man ein vorläufiges Fazit, so fällt auf, daß die erwähnten Schlüsselbegriffe nur in begrenztem Maße Neubil­ dungen sind. Meist sind sie Reprisen älterer, z. T. vorkonstitu­ tioneller Theorien, »explodierende Altertümlichkeiten« (Th. Mann), die nur durch den Widerspruch zum aktuellen politi­ schen System als neu erscheinen. Doch sollte diese Beobach-

40

tung nicht zu einer vorschnellen Beruhigung führen. Es liegt gerade im Wesen vorrevolutionärer Situationen, daß in ihnen verdrängte Vergangenheit in vielfältigen Formen an die Ober­ fläche emporsteigt. Mächtige Bewegungen unsererZeit, etwa jene, die auf die Bewahrung individueller Freiräume oder auf Erhaltung der natürlichen Umwelt zielen, sind ihrer Intention nach nicht aufklärerischer und fortschrittlicher, sondern auf­ klärungskorrigierender und fortschrittsbegrenzender Natur. Sie mögen gleichwohl als Korrektive notwendig sein. Aufgabe des Intellektuellen ist es aber, darüber zu wachen, daß ihr temporäres Recht nicht in einen verschlingenden scheinprogressistischen Anspruch umschlägt, der in Wahrheit der Reak­ tionen Tür und Tor öffnet.

Folgen für die Politik Es bleibt die Frage, wie die Veränderung zentraler Begriffe unseres Verfassungsverständnisses auf unsere politische Ordnung zurückwirkt; denn man wird aufgrund der Verbrei­ tung der geschilderten sprachlichen Befunde nicht annehmen können, daßdie Institutionen von diesen Vorgängen unberührt bleiben. Es ist klar: ohne Einhelligkeit im Sprachgebrauch muß die Formkonstanz von Institutionen früher oder später verloren­ gehen. Wenn das Grundgesetz grundrechtlich umhegte und gesicherte, nicht emanzipative (im neueren Sinn des Wortes) Freiheit meint; wenn es Institution und Individuum schon im Hinblick auf die wachsende soziale Verflechtung zusammen­ ordnet; wenn esarbeitsteilige Formen des politischen Betriebs schafft, die eineTotalpartizipation aller Betroffenen ausschlie­ ßen, dann gehen die neuen Formeln und Begriffe an unserer politischen Ordnung vorbei. SiesperrendenZugangzurpolitischen Wirklichkeit-wenigstensso lange, alsdiesesich gegen­ über dem neuen Sprachanspruch behauptet. Realität und Sprache klaffen auseinander. Die Zone wechselseitiger Dekkung wird immer kleiner. Endlich entscheidet sich, ob die Realität dem neuen Bewußtsein weicht und das System ge­ sprengt wird - oder ob das System sich behauptet und die neue Sprache wieder in eine Randexistenzals Verständigungsmittel von Sektierergruppen zurückfällt.

41

Hier sei zum Schluß ein charakteristischerTextzitiert. In der »Zeit« vom 26. Mai 1972 berichtet ein Berliner Student über Methoden der Gruppenbildung an der Universität. Erschreibt: »Wirsind eine >Gruppekritisieren« uns, sie weichen von der gemeinsamen Basis ab; sie behaupten dabei aber immer noch, den Sozialismuszu wollen. Sie heucheln; das sind Revisionisten, das sind Reformisten; das sind »Rechte«. Gegen sie können wir uns als Gruppe soli­ darisieren ... Zeigt sich nun ein Student besorgt und verunsi­ chert, da ja die »ganze« (Studien-)Situationaufihnlabilisierend wirkt, so »klammert« er sich an jeden Strohhalm, denn er kann nicht entscheiden, ihm fehlen Entscheidungskriterien. Wir können sie ihm geben, er kann unsere übernehmen. Er sucht dann oft Sicherheit, die wir ihm geben können - und sei es nur, daß wir ihm sagen: »Das machen wirschon.« Es ist dann bei uns. Was macht aberein Student, der nicht so »links« sein will, aber auch nicht »rechts« ist? Ein Entkommen aus diesem »Netz« der Sozialtechniken gibt es für ihn nicht. Auseinandersetzungen, aktive Anpassung, Dialoge sind ebenfalls nicht möglich, denn dies setzt zwei dazu bereite »Gesprächspartner« voraus.«« Der Text spricht für sich. Er beschreibt mit den Begriffen des »Sprachspiels«« und des »Netzes«« ziemlich genau die Innen­ struktur gesellschaftlicher Freiräume, wie sie in den letzten Jahren bei uns an Hochschulen, aberauch an anderen Orten in größerer Zahl entstanden sind. Gewiß, es handelt sich, vorläu­ fig noch, um geschlossene Gruppen in Binnenräumen der Gesellschaft. Die Einsprengsel derer, die »eine neue Republik wollen«, in der Gesamtgesellschaft sind vorläufig noch be­ grenzt. Aber die ideologische Potenz, die Entschlossenheitzur Aggression sind nicht zu übersehen, und ich muß Karl Stein­ buch recht geben, wenn er sagt, daß die Abwehrkräfte heute keineswegs größer, eher schwächer sind als in den Jahren vor 1933. Der Begriff des Sprachspiels assoziiert die Vorstellung ver­ nünftiger, in »herrschaftsfreier«« Diskussion kommunizieren­

42

der Menschen. Aber auch die Sprache kann sich verschließen und undurchdringlich werden. Der Dialog erstirbt im Netz. Die Gegenwehr muß bei der Sprachkritik beginnen. Sie muß Sprachspiele entlarven, die in Wahrheit verweigerte Dialoge sind. Sonst bleibt uns eines Tages nur übrig, als Eingeständnis intellektueller Ohnmacht Karl Kraus zu variieren: Zur neuen Republik fällt mir nichts ein.

43

Kurt Sontheimer:

Die Sprache linker Theorie

Vom Jargon der Eigentlichkeit zum Jargon der Künstlichkeit

Theodor Adorno hat in einem großen Essay Mitte der sech­ ziger Jahre den »Jargon der Eigentlichkeit« gegeißelt. In Deutschland, so schrieb er, werde ein Jargon der Eigentlich­ keit gesprochen, vor allem aber geschrieben, der eine Kenn­ marke vergesellschafteten Erwähltseins, Untersprache als Obersprache sei. »Er erstreckt sich von der Philosophie und Theologie nicht bloß Evangelischer Akademien über die Päd­ agogik, über Volkshochschulen und Jugendbünde bis zur gehobenen Redeweise von Deputierten aus Wirtschaft und Verwaltung. Während er überfließt von der Prätention tiefen menschlichen Angerührtseins, ist er unterdessen so standar­ disiert wie die Welt, die er offiziell verneint; teils infolge seines Massenerfolges, teils auch, weil erseine Botschaft durch seine pure Beschaffenheit automatisch setzt und sie dadurch ab­ sperrt von der Erfahrung, die ihn beseelen soll. Er verfügt über eine bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter.«1 Adorno hatte Wörter wie existentiell, Auftrag, Begegnung, Anliegen, Bindung etc. im Auge. Sein Essay über den Jargon der Eigentlichkeit, von dem er sagte, er sei »Ideologie als Sprache«, galt in erster Linie dem Sprechen und Denken des Philosophen Heidegger. Wer den oben zitierten Satz heute, über zehn Jahre später, liest, hätte indes keine besondere Mühe, ihn auch auf die Gegenwart und das innerhalb weniger Jahre durch das linke Bewußtsein gewandelte Sprachbild zu beziehen. Mag das, was Adorno zielsicher den Jargon der Eigentlichkeit nannte, in der Sprech- und Schreibweise der Deutschen noch immer auffindbar sein: bestimmend, prä­ gend, die anspruchsvolle öffentliche Diktion anleitend ist es gewiß nicht mehr. Ein neuer Jargon, eine neue Terminologie,

44

ein neuer Sprachduktus hat sich breitgemacht, hat seine Spu­ ren in die Sprache der Philosophie und Theologie und erst recht der Pädagogik- von den Sozialwissenschaften gar nicht zu reden - eingegraben, er reproduziert sich immer neu in zahllosen Bildungsveranstaltungen, und es gibt in der Tat nicht wenige Vertreter von Politik und Verwaltung, diesich des neuen Jargons in progressiver Absicht befleißigen. Ob der neue Jargon Massenerfolg hat, wie Adorno dies vom Jargon der Eigentlichkeit behauptete, ist eher zu bezweifeln, denn viele, die damit konfrontiert werden, klagen Überseine Kompli­ ziertheit und Unverständlichkeit, rügen den hohen Abstrak­ tionsgrad, auf dem da gesprochen und geschrieben werde. Doch auch Heideggers forciertes und hintergründiges Reden vom Sein war nie leicht zugänglich, geschweige denn populär, und die neuen modischen Begriffe wie Gesellschaft,System, Legitimation, Strategie, bürgerlich etc. können es mit den von Adorno genannten Beispielen für einen Jargon und seine »signalhaft einschnappenden Wörter« sehr wohl aufnehmen. Erst recht trifft seine Bemerkung über die Absperrung der Wörter von der Erfahrung auf das durch den Einbruch linker Theorie in unser Bewußtsein spürbar veränderte Schreiben und Sprechen zu. Keinem Zweifel kann es unterliegen, daß ein Wandel des Jargons in der Bundesrepublikstattgefunden hat und daß, was Adorno dem Jargon der Eigentlichkeit an Eigenheiten zu­ schrieb, auch dem neuen linken Jargon Zutreffendes abge­ winnt. Die Intellektuellen, die das Bild der Sprache zu einem wesentlichen Teil gestalten und mitbestimmen, reden heute tatsächlich eine andere Sprache als noch zu Beginn dersechziger Jahre, sie bevorzugen andere Wörter als damals, und für den heutigen Jargon gilt vielfach dasselbe wie für den von Adorno so elegant gebeutelten Jargon der Eigentlichkeit: daß nämlich die einzelnen Worte die eigene Bedeutung transzen­ dieren und »aufgeladen werden auf Kosten von Satz, Urteil, Gedachtem«.2 Das neue Formulieren und Sprechen ist freilich nicht aus­ schließlich Spezialsprache linkerTheorie, sondernein mixtum compositum mit unterschiedlichen Akzenten. Aus dem neuen Theoriebewußtsein dringen die von ihm geprägten Wörter in die tägliche Sprechweiseein, verunsichern oft die hergebrach­ ten Bedeutungsgehalte und verweisen, sind sie einmal eta­ 45

bliert, auf das umfassendere theoretische Gebäude, dem sie entlehnt sind. Die vulgärwissenschaftliche Sprache hat einen allenthalben sichtbaren theoriebedingten Abstraktions- und Komplikationsprozeß durchgemacht. Obwohl Hunderte von jungen Sozialwissenschaftlern mit dem Großmeisterder mo­ dernen Systemtheorie, Niklas Luhmann, von der Notwendig­ keit der »Reduktion von Komplexität« sprechen, sind die we­ nigsten von ihnen imstande, in ihrem eigenen Sprachgehaben Komplexität zu reduzieren; es ist bis zur Unverständlichkeit komplex. Doch kaum besser ergeht es den Jüngern linker Theorie, die sich indieBegrifflichkeitdesMarxismuseinarbeiten und sowohl an der ätzenden Polemik wie an der abstrakten Begriffssprache des Altmeisters solches Gefallen finden, daß sie letztere oft für die Sache selbst halten und in ihr nur mehr rotieren, aber keine neuen Erkenntnisse produzieren. Die Sprache der Theorie ist das Ergebnisdes Umgangseines Denkstils mit der Sprache. Durch ihre Begriffsbildung, durch die Kategorien, die sie einführen, durch die Schlüsselwörter, die sie wählen, schaffen originaleTheoretikerein sprachliches Bezugssystem eigener Art, mit dem sie die gewonnenen Ein­ sichten und Denkergebnisse anderen, sei es den Fachkolle­ gen, sei es einem interessierten Publikum, zu vermitteln hof­ fen. Um solcher Einsichten teilhaftig zu werden, muß man die gewählte Sprache schon verstehen oder die von der Theorie neu eingeführten oder neu definierten Begriffe und Kategorien als plausibel, d.h. sinnvoll akzeptieren können. Auf diese Weise bilden sich die von der Umgangssprache abgehobenen wissenschaftlichen Fachsprachen heraus, die bis zu einem gewissen Grade unentbehrlich sind. So entstehen auch jene Sprachen, Sprachstile oderSprachspiele, dieauf ein bestimm­ tes Weltbild bezogen sind, oder, anspruchsvoller ausgedrückt, ein bestimmtes Theoriebewußtsein zum Ausdruck bringen. Die Sprache linker Theorie, die dem Jargon der Eigentlich­ keit und anderen gesellschaftlichen Sprachformen seit eini­ gen Jahren so erfolgreich Konkurrenz macht, hat ihren Ur­ sprung in der Politischen Ökonomie und Theorie von Karl Marx. Dieses Erbteil ist in sprachlich-logischer wie auch in literarischer Hinsicht vergleichsweise eindrucksvoll; es gibt dem sich an Marx orientierenden Denken eine gute sprachli­ che Grundlage. Die marxistische Terminologie ist einerseits die Sprache einer konsistenten, mit ziemlich präzisen Begrif-

46

fen arbeitenden Gesellschaftstheorie und, wiesich gezeigt hat, ein bedeutsames, ja epochemachendes Beispiel für eine in wissenschaftlicher Absicht konzipierte Spezialsprache von großer Einprägsamkeit; sie ist andererseits die aus morali­ schen Antrieben gespeiste Sprache einer kritischen, polemi­ schen Auseinandersetzung mit der bestehenden Welt, und damit auch mit deren Denken und Sprechen. Verglichen mit den verquollenen, mehreinen irrationalen Dunstkreis als klare Erkenntnis bewirkenden Sprache rechtsradikaler bis konser­ vativer Ideologien erweckt die Sprache marxistischer Theorie den Eindruck des Rationalen, zumal sie sich auch auf die Vernunft beruft. Daher rührt ihre Anziehungskraft auf Intellek­ tuelle, obwohl Intellektuelle im Sinne von »Geistesschaffen­ den« natürlich auch jeweils den irrationalen Weltbildern zur Sprache verholten haben, denn Intellektualität und Vernünf­ tigkeit fallen nicht immer zusammen. Wer im marxistischen Sprachgehäuse heimisch wird, kann sich mit Ausdrucksmitteln gut versorgt fühlen. Er wird mit Begriffen, Benennungen, polemischen Idiomen reichlich ver­ sehen, die es ihm erlauben, sich mit der ihn umgebenden Welt kritisch auseinanderzusetzen. Die Besonderheit der marxisti­ schen Sprache ist freilich, daß sie als Sprache der Kritik ins Leben trat, als »Kritik der politischen Ökonomie«, als Kritikder bürgerlichen Gesellschaft, d. h. ihre Stärke liegt in dem kriti­ schen Potential, das sie bereitstellt, nicht in der Fähigkeit, die Fülle und Vielfalt der Welt einzufangen. Die Sprache der Kritik ist notwendig einseitig. Nun fand aber die originäre kritische Auseinandersetzung von Karl Marx mit den herrschenden Verhältnissen schon vor mehr als hundert Jahren statt, war also wesentlich Erkenntnis einer inzwischen historischen Wirklichkeit, auch wenn man­ ches von dem damals Erkannten auch heute noch plausibel erscheinen mag. SoergebensichdennunterheutigenVerhält­ nissen zwei Hauptvarianten linker Theoriesprache: 1. Die Sprache der Orthodoxie, die nochmals unterschieden werden kann ineinesichdirektundrelativunhistorischaufdas Marxsche Werk beziehende Rechtgläubigkeit (das »Kapital« als wichtigste Quelle der Erkenntnis) und eine durch die marxi­ stisch-leninistischen Parteien oder andere Gralshüter jeweils festgelegte Orthodoxie (Sprachregelung), die das freie Verfü­ gen überein sich subjektivan Marx orientierendes Bewußtsein

47

aus Motiven ideologischer Festigkeit ausschließt. 2. Die Sprache Kritischer Theorie. Sie beruht auf einer relativ freien Assimilation des marxistischen Erbes zum Zwecke der zeitgemäßen Anwendung marxistischer Erkenntnisse, Kate­ gorien und Methoden auf die gewandelte Problemlage der Gegenwart. Sie verschmäht nicht prinzipiell Methoden und Erkenntnisse nicht-marxistischer Wissenschaft, wenn mit ih­ rer Hilfe die Sache der Kritik eine größere Plausibilität und Überzeugungskraft gewinnen kann. Die Sprache Kritischer Theorie ist, verglichen mit der Spra­ che der Orthodoxie, begrifflich weniger festgelegt, sie wirkt darum weniger formelhaft, oft auch geistvoller. Die Sprache der Orthodoxie ist dagegen meist leichter zugänglich als die Sprache KritischerTheorie, sofern man ihre fixe Begrifflichkeit zu übernehmen bereit ist, doch ihr Problem liegt eben darin, daß siesich feststehender Begriffe und Formeln und einiger als unumstößlich angesehener Auffassungen über die gesetzmä­ ßige Entwicklung des Kapitals und der von ihm gesteuerten Gesellschaft bedient, mit denen die Analyse der Gegenwart jeweils bestritten wird. Dies kann dann z. B. so aussehen: »Indem die internationalen Kapitalbewegungen, insbeson­ dere die internationale Zentralisierung des Kapitals in Form der Multinationalen Konzerne, dieallgemeinenTendenzen des Kapitalismus forcieren, nämlich die Konzentration des Kapi­ tals, den Fall der Profitrate, wirken sie nicht nur propagierend im Sinne einer Ausbreitung der kapitalistischen Verhältnisse, sondern auch beschleunigend im Sinne der Erfüllung der historischen Funktion des Kapitalismus als eines mensch­ heitsgeschichtlichen Abschnitts.« (Altvater)3 Dies ist schlicht die Anwendung des traditionellen marxisti­ schen Begriffsinstrumentariums und der von Marx entwickel­ ten Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung auf die gegenwärtige Lage. Man bleibt im Gehäuse der Theorie und der von ihr gesetzten Sprache, gewinnt daraus eine oft eindrucksvolle sprachliche Sicherheit und auch Klarheit der Argumentation, nimmt jedoch die verwendeten Formeln und die geglaubten Inhalte der Theorie selbst von jeder kritischen Infragestellung aus. Die Sprache der Kritischen Theorie ist da viel flexibler. Sie vermeidet auch den Anschein der Orthodoxie - ein Eindruck, der sich sprachlich immer dann einstellt, wenn fixe Sprachfor-

48

mein und »Großbegriffe« den Gedankengang beherrschen-, aber sie ist darum nicht unbedingt klarer, sondern mitunter nebelhaft und schwebend. Sie suggeriert und insinuiert. Hal­ ten wir uns am besten an Jürgen Habermas selbst, dessen Sprache, wie einst die Theodor Adornos, den heutigen Adep­ ten Kritischer Theorie als Folie dient: »Der Konflikt erschüttert dieGlaubwürdigkeitdes herrschafts­ legitimierenden Weltbildes, weil es das Institutionensystem eines, wie nun erkennbar ist, historisch überholten Grades der Repressivität rechtfertigt. Das heißt: die Erfahrung, daß der institutionelle Rahmen mehr Bedürfnisse unterdrückt, als auf einem gegebenen Stand der Produktivkräfte nötig ist, erschüt­ tert die Kommunikationssperren, an die die Geltung des legiti­ mierenden Weltbildes gebunden ist, und eröffnet, wenigstens interimistisch, Spielräume für praktische Diskurse, in denen die Geltung des bestehenden Institutionensystems überhaupt in Frage gestellt werden kann.«4 Hier fehlt gewiß nicht die Eindeutigkeit des gemeinten Sin­ nes im Ganzen, statt dessen läßt die Präzision bestimmter Schlüsselvorstellungen des Textes zu wünschen übrig. Wie können wir feststellen, wann und wodurch »Repressivität« historisch überholt ist? Wie ermitteln, was der Stand der Pro­ duktivkräfte institutionell zuläßt oder nicht? Wie haben wir uns die Kommunikationssperren zu denken, an die Weltbilder ge­ bunden sind, etc.? Solches mag hie und da, etwa bei Habermas selbst, expliziert werden, aber die epigonale Diskussion er­ schöpft sich meistens in vergleichbaren Sprachmustern ohne ausreichende Konkretion. Die Kritische Theorie, und zwar sowohl in ihrer jüngsten Ausprägung als Theorie der Legitimationsproblematik (bei Habermas) oder in ihrer Konzentration auf das Phänomen der Total-Repression (bei Marcuse), arbeitet vorzugsweise mit Begriffen, die den auf begrenzte Phänomene bezogenen her­ kömmlichen Sprachgebrauch zu einer Totalitätserscheinung ausweiten und überdehnen: Aus dem Kapitalismus als einer Organisationsform der Wirtschaft wird die kapitalistische Ge­ sellschaft bzw. der kapitalistische Staat, ausderErfahrung von möglicherweise überflüssiger Repression die Behauptung vom schlechthin repressiven Charakter aller gegenwärtigen Sozialbeziehungen; aus der Kritik von Herrschaft, die sich den von der Theorie aufgestellten Standards der Vernunft nicht 49

fügt, die Verurteilung von Herrschaft schlechthin. Auch hier sind es Großbegriffe, die die sprachliche Bühne ausfüllen, nur sind sie assoziativer, ausdeutbarer, mißverständlicher als die ziemlich genau festgelegten Großbegriffe der marxistischen Phraseologie. Daher ist diese Sprache facettenreicher, hinter­ gründiger, aber auch zweideutiger, suggestiver und verführe­ rischer als die ihres orthodoxen Bruders, wenn sie nicht ein­ fach zum nachplappernden Kauderwelsch herunterkommt, was in beiden Varianten der linkenTheoriesprachedaseigentliche Ärgernis darstellt: »Was betroffen machen kann und zur Kritik herausfordert, ist der Umgang mit der Sprache und Terminologie und das Verhältniszu ihnen. Bei Schülern der Frankfurter Schule oder bei ehemaligen Schülern, die sich jetzt bevorzugt der Lektüre des »Kapital« zugewandt haben und daraus zitieren, stößt man nicht selten auf eine fassadenhafte Sprache, in der die Darstel­ lungstechniken ihrer Lehrer oder allgemein der Wissenschaft sich verselbständigt haben und als frei montierbare Versatz­ stücke arbeiten... Für Sprachkritiker der Aufklärung galt der Grundsatz der Verständlichkeit... Die Zweite Aufklärung hat das schöne Idealziel herrschaftsfreier Kommunikation formu­ liert. Seine Fürsprecher erwecken aber sehr oft den Eindruck, als sei ihnen am Gegenteil gelegen. Man fragt sich manchmal, ob sie denn ganz und gar in ihrer Gruppensprache befangen sind oderden Imponiereffekt einer schwierigen wissenschaft­ lichen Sprache bewußt ausnutzen.«5 Beides ist sicherlich der Fall. Die Sprache linker Theorie ist Gruppensprache mit einem kräftigen Schuß wissenschaftli­ cher Wichtigtuerei bei ihren Epigonen. Auch wenn die Kriti­ sche Theorie sich nicht für zu gut hält, auf andere Sozialtheo­ rien einzugehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, so tut sie es doch immer wieder in einem sprachlichen Medium, das diefreie, von permanenten Verständnisproblemen unbela­ stete Kommunikation, gewollt oder ungewollt, erschwert. Sie ist wie jede Spezialsprache unter akademischen Intellektuel­ len auch ein MittelzurDemonstrationvongeistiger Überlegen­ heit, das eifrig genutzt wird, auch wenn es auf Kosten der Verständlichkeit und Klarheit geht. Da in den linken Theoriengebilden die Schlüsselbegriffe und Reizwörter und die von ihnen ausgelösten Assoziationen eine so wichtige Funktion haben, dienen die Sätze oft nur als 50

grammatikalisch notwendige Staffage für den sprachlichen Transport dieser bedeutungsgeladenen Wörter der Theorie­ sprache. Richtige Kaskaden von Schlüsselwörtern und ent­ sprechende Satz-und Sinnungetüme entstehen, wenn sich die linke Theoriesprache mit dergleichfallsabstrakten Kunstspra­ che moderner Systemtheorie mischt, wie im folgenden Bei­ spiel: »Die Theorie des Staatsinterventionismus enthält interne Inkonsistenzen durch die widersprüchliche Konzeptualisierung des Staatsapparates, derzur Erfüllung der Regulierungsfunk­ tion beträchtliche Steuerungskapazitäten aufbaut, damit ten­ denziell zum »reellen Gesamtkapitalisten< wird, aber auf der anderen Seite als reale Output-Leistung primär ideologische und symbolische Funktionen der Massenloyalitätssicherung zu erbringen hat. Diese WidersprüchlichkeiterscheintalsKonsequenz der theoretischen Schwäche des zugrunde gelegten »negativen Funktionalismus«, der abstrakte Systemerforder­ nisse der Bestandserhaltung formuliert, ohne in einer plausi­ blen historischen Ableitung Bewegung und Folgenderökono­ mischen Produktionsstruktur zu reflektieren.«6 Der in der linken Theoriesprache entwickelte Sprachgestus ist jedoch so prägsam, daß er heute schon weite Bereiche der sozial- und geisteswissenschaftlichen Fachsprachen erobert hat. Auch die Theologen haben sich ihm nicht entziehen wollen: »Tritt eine im religiösen Apriori fundierte Theologietheorie zudem mit wissenschaftspolitischen Ansprüchen auf, um ge­ sellschaftlichen Forderungen der Wissenschaftlichkeit sich anzumessen, dann wird man die hier hervortretende Verhält­ nisbestimmung von Religiösem und Gesellschaftlichem auch im Blick auf das die kategoriale Struktur der Relation erzeu­ gende gesellschaftliche Verhältnis interpretieren müssen. Die im Rahmen protestantisch-dogmatischer Wirklichkeitser­ schließungreligiös kategorisierten Momente desgesellschaft­ lich Wirklichen sind im Zusammenhang mit der tatsächlichen Integration der Kirchen in die Gesellschaft zunächst alsgesellschaftliche Verfassung des Religiösen zu begreifen.«7 In der linken Theoriesprache verbindet sich vielfach ein höchst spekulatives, in die Schlüsselwörter oder Schlüssel­ theoreme eingelassenes Element mit einer extrem künstli­ chen, bombastisch klingenden, von Fremdwörtern triefenden

51

Ausdruckweise. Während die klassische linke Theorie in Ge­ stalt des Marxismus immerhin noch zu einer gewissen sprach­ lichen Disziplinierung anhält, auch wenn dort ebenfalls die Gefahr der Verselbständigung der marxistischen Schlüssel­ wörter besteht, ist die sich davon abhebende neu-linke Theo­ riesprache ungleich diffuser und kommunikations- und ver­ ständnisfeindlicher. Ganz konfus wird es schließlich, wenn man in diese Sprache noch etwas Eigenwilliges, sprachlich »Innovatorisches« einbringen will, wie im folgenden Beispiel: »Festzuhalten ist nur, daß es sich bei den Blockaden gesell­ schaftlicher Emanzipation nicht um irgendwelche Findlings­ steine »urzeitlicher* (etwa frühkapitalistischer) Gletscherbe­ wegungen handelt, sondern daß die Blockaden von der Art der Funktionserfüllung der spätkapitalistischen Gesellschaft, ih­ ren Strukturen und Verhaltensanforderungen und Verhaltens­ dressuren systematisch erzeugt werden... Emanzipation ist eine individuell heimgeholte oder vermißte, aus gesellschaftli­ chen Gründen verbogene und verkehrte gesellschaftliche In­ teraktionserfahrung (Interaktion kann hierbei auch gerade institutionell Geronnenes bedeuten, vgl. etwa die Prüfungsund Aufstiegsnormen), aus der sich psychoanalytisch um­ gangssprachlich gesprochen, die Adäquanz von sich heraus­ bildendem Ich und gesellschaftlichem Über-Ich ergeben.« (sic) (Narr)8 Solche Texte bezeugen die Verhunzung der Sprache, die entweder aus mangelnder geistiger Disziplin oder aus purer Willkür herrührende Aufrichtung von »Kommunikationssper­ ren«. Diese Sprache steht in radikalem Gegensatz zu der Idee universaler Befreiung, zu der die linken Intellektuellen doch die Theorie oder die theoretische Begründung liefern wollen. G. Szczesny sagte von dieser Spezies wissenschaftlicher Lite­ raten, sie genössen Theorien und subtile Gedanken wie die Konservativen schwere Diners und gotische Madonnen. Die­ ser noch eher freundlichen Charakterisierung fügte er dann die spöttische Bemerkung hinzu: Mangels ausreichender fi­ nanzieller Möglichkeiten und mangels Teilhabe an der Macht müsse die Lust an radikalen Formulierungen und universalen Versprechungen sowie die Genugtuung, dazuzugehören, den linken Intellektuellen eben viele andere Genüsse ersetzen.9 Welchen Ursachen man die Sprachhuberei und das ab­ strakte Wortgetön linker Theorie vor allem in ihren massenhaf52

ten epigonalen Anwendungsformen auch immer zuschreiben mag, es bleibt ein paradoxes Faktum, daß die meist so gestelzt und gespreizt daherkommende Sprache linker Theorie in ih­ rem Bemühen, das große Werk der Aufklärung zu vollenden, vollends zu einer Art Geheimsprache geworden ist, die sich dem Gebot der Verständlichkeit und oft auch den Kriterien sprachlicher Rationalität entzieht. Da wird in vielen Fällen eine den Laien einschüchternde wissenschaftliche Fassade aufge­ richtet, hinter der dann nichts mehr zu finden ist; man zitiert seitenlang die großen Autoritäten, als sei damit schon alle Fragwürdigkeit einer Sache behoben; man spannt kühne Bö­ gen über »Gesellschaftsformationen« und Epochen hinweg; I man berauscht sich an einer vermeintlichen Objektivität, vor I

deren Forum es keine konkreten Menschen mehr zu geben scheint. Die Konsequenz ist eine immer unwirklicher, abstrak­ ter werdende Sprache, ein durch ein diffuses moralisches Pathos aufgedonnerter Jargon der Künstlichkeit.

Sprache als Mittel der Politik

Unsere eher aphoristischen Bemerkungen überdieSprache der linken Theorie und die zur Verdeutlichung dienende Bei­ spielsammlung wollen lediglich auf den Umstand aufmerksam machen, daß die Veränderung unseres Bewußtseins durch den Einbruch theoretisch vermittelter Inhalte auch eine Verände­ rung der politischen Sprache bewirkt hat. Das neue Sprach­ problem wurde erstmals von allen Seiten teils besorgt, teils belustigt kommentiert, als die antiautoritären Studenten sich auf den dornenvollen Weg machten, das Bewußtsein der in dieser Gesellschaft lebenden Menschen-zumal der Arbeiter, der sozial Benachteiligten etc.-durch ideologisch angeleitete Agitation verändern zu wollen. Siescheitertenfast regelmäßig, weil sie nicht verstanden wurden. Sie wurden freilich nicht nur deswegen nicht verstanden, weil die Bewußtseinsveränderer zu abstrakt und zu »studiert« argumentierten, sondern weil sie ganz einfach die Erfahrungswelt ihrer Adressaten nicht zu erreichen vermochten, bzw. an deren konkreten Interessen vorbeipalaverten. Seit diesen Anfängen hat sich das Phänomen unzählige Male wiederholt: Theorieerfüllte junge Linke interpretieren die Pro­

53

bleme der Politik und der Gesellschaft aus dem eingeengten Verständnishorizont, den die Theorie ihnen erschlossen hat, und reden zwangsläufig an denen vorbei, die diesen Horizont nicht haben. Die Theoriediskussion gewinnt einen neuen Stel­ lenwert in der geistigen und politischen Auseinandersetzung. Theoriediskussionen, wie sie außer den Universitäten vor al­ lem die SPD heimsuchten, sind Diskussionen, in denen die tragenden Begriffe und die mit ihnen assoziierten Inhalte durch dieTheorie vorgegeben sind und in denen die »Stimmig­ keit« der Theorie prinzipiell höher bewertet wird als die mögli­ che Korrektur durch die Erfahrung. Indem man glaubt, mit der Theorie auch ein richtiges Verständnis der Welt und ihrer Probleme zu besitzen und dieses progressiv vertiefen zu kön­ nen, muß man sich permanent der Vokabeln und Sprachscha­ blonen bedienen, welche die Theorie bereithält. Es ist die Eigenheit entwickelter Theorien, daß sie ihre Begriffe mit ei­ nem relativ präzisen Bedeutungsgehalt ausstatten, der selten in Übereinstimmung mit dem in der Umgangssprache vorlie­ genden Wortsinn steht. In der marxistischen Theorie verbin­ den sich - ungeachtet der ideologischen Auslegungsdifferen­ zen - mit Begriffen wie Klassenkampf, Ausbeutung, Demokra­ tie, Monopolkapital etc. ganz bestimmte Auffassungen, die von dem Bedeutungsgehalt, den die Umgangssprache ihnen un­ terlegt, ofterheblich, wenn nichtdiametralabweichenkönnen. Marxistische Theorie, die für sich beansprucht, die Wahrheit zu wissen, »zielt in ihrer politischen Redeweise nicht allein darauf ab, ihre spezifischen Wörter in das Bewußtsein der Angesprochenen zu bringen und dort zu festigen, sondern sie bekämpftzugleich Bedeutungen dieser Worte, die der Welt des Gegners entstammen«. (Georg Klaus)10 Die Theorie-Sprache ist somit nicht nur das Erkennungszeichen der Gleichgesinn­ ten, das sie gegenseitig stützt und in einem gemeinsamen Verständigungszusammenhang hält, sie ist auch ein Mittel, die Sprachspiele gegnerischer Gruppen in Verwirrung zu bringen. Es ist nicht zu übersehen, daß linke Theorie-so unverständ­ lich und esoterisch sie auch vielfach erscheint-in den vergan­ genen Jahren eine mähliche Umwertung einiger politischer Begriffe bewirkt und eine Verunsicherung der politischen Sprache unserer bestehenden Demokratie ausgelöst hat. Diese Verunsicherung konnte freilich nur bei solchen Begrif­ fen erreicht werden, diedem ursprünglich gemeinsamen Arse­ 54

nal der universalistisch konzipierten politischen Ideenweltdes Liberalismus und der parlamentarischen Demokratie entstam­ men. Spezifisch marxistische Begriffe wie Ausbeutung, Mono­ polkapital und Klassenkampf konnten sich trotz ihrer oft inge­ niösen Umdeutung durch linke Theoretiker im allgemeinen Sprachgebrauch kaum durchsetzen, was li nke Theorie freilich nicht davon abhält, an ihnen festzuhalten und die Wirklichkeit mit solchen Formeln und auf solche Kampfbegriffe hin zu interpretieren. Es ist ja die besondere Kraft eines stabilen Theoriebewußtseins, daß es seine Begriffe und Inhalte nicht der Korrektur durch die Wirklichkeit unterzieht, sondern um­ gekehrt die Wirklichkeit der Theorie gemäß interpretiert. Doch der eigentliche Ansatzpunkt linker Sprachpolitik sind solche Begriffe, die in der Welt der bürgerlichen Demokratie hei­ misch, aber nicht notwendig auf sie beschränkt sind. So wird der Begriff der Freiheit in der Sprache linkerTheorie selbstverständlich positiv benutzt, aber nachdem er auf die abstrakte Höhe einer utopischen Idee herrschaftsfreier Selbst­ bestimmung katapultiert wurde, dient er nur mehr dazu, die bestehenden Freiheiten in der bürgerlichen Gesellschaft als inexistent oder unzureichend hinzustellen, in der Regel als die Freiheit einiger weniger, die auf Kosten der Freiheit der vielen anderen leben. Der Gleichheitsbegriff, ebenfalls tragende Grundnorm demokratischer Verfassungen, wird nicht, wie er dort gemeint ist, als Gleichheit vor dem Gesetz verstanden, sondern stereotypalsGleichheitdermateriellen Lebensbedin­ gungen interpretiert. Da diese Idee von Gleichheit eingängig und leicht überprüfbar ist, erweist sie sich als besonders wirk­ sames begriffliches Instrument für eineStrategiederVeränderung. Während politische Grundbegriffe wie die genannten in der linken Theorie normativ übersteigert und dann kritisch gegen die bestehenden Verhältnisse gewendet werden, bedient sich die Sprache linker Theorie auch einer Anzahl von komplexi­ tätsreduzierenden, also simplifizierenden negativen Begrif­ fen, die eine differenzierte Wirklichkeit auf einen gemeinsa­ men Nenner zusammenziehen und damit einebnen. Formeln wie: das Kapital, die herrschende Klasse, die Lohnabhängigen, die Unterprivilegierten, die Randgruppen etc. decken eine vielfältig differenzierte Wirklichkeit wie mit einem Deckel zu und entheben damit vom Zwang zu einer Analyse der wirkli­

55

chen Verhältnisse. Setzen sich solche reduktionistischen Be­ griffe in der politischen Verkehrssprache durch, dann wirken sie auch simplifizierend auf die Art und Weise ein, in der die Probleme der damit angesprochenen Gegenstandsbereiche erfaßt und zu lösen gesucht werden. Es ist schließlich typisch für die Sprache der linken Theorie, daß sie stets auf Polarisierung, auf einen grundlegenden Wi­ derspruch, angelegt ist und einen bewußt dualistischen oder genauer: antagonistischen Zug der Argumentation aufrecht­ erhält. Dies kommt unter anderem in Wortbildungen wie »Ge­ gengewalt« oder »Gegenöffentlichkeit« zum Ausdruck, wo in Ermangelung eines geeigneten begrifflichen Gegensatzesder gemeinte Sinn für die gerechten Interessen der linken Sache reklamiert werden muß. In dem Maße, in dem es gelingt, die durch das Theoriebe­ wußtsein vermittelten Begriffsinhalte in das überkommene Verständnis politischer Begriffe einzuschleusen, verlieren wichtige Wörter der politischen Umgangssprache ihresprachliche wie begriffliche Identität. Dieser Vorgang läßt sich an der zielbewußten Umdeutung des Demokratiebegriffs ebenso ab­ lesen wie am Emanzipationsbegriff, der sich zuerst in der linken Pädagogik breitmachte und von da aus in die allgemeine Bildungsdiskussion eindrang. Demokratie im neu definierten Sinne von freier Selbstbestimmung und Partizipation ist in den bis zum Aufkommen linkerTheoriedurchaus als demokratisch angesehen, repräsentativ geordneten Strukturen der Bundes­ republik natürlich nicht ausreichend verwirklicht; insofern konnte man von dieser neuen Definition des Demokratiebe­ griffs aus den demokratischen Charakter dieses Staates ohne weiteres in Frage stellen. Oder: Wenn der Begriff der Emanzi­ pation identisch wird mit dem allgemeinen Prozeß der Befrei­ ung aus jedweden Abhängigkeitsverhältnissen und alle Rück­ sichten auf den ursprünglich gültigen Sprachgebrauch von Emanzipation, der die rechtliche Gleichstellung von zuvor minderberechtigten Bürgern zum Inhalt hat, fahrengelassen werden, dann wird Emanzipation zu einem Kampfbegriff ge­ gen die bestehende Ordnung »umfunktioniert«, weil des stän­ digen Sich-Befreiens aus irgendwelchen Verhältnissen in die­ ser Welt natürlich nie ein Ende ist. »Das Modell des gedankli­ chen und sprachlichen Vorgehens ist überall das gleiche: man bringt Worte, die gerade wegen ihrer Praxisnähe unscharf

56

sind, deutsch-gründlich auf den Begriff, um dann die schlechte Wirklichkeit am puristischen Seminaranspruch scheitern zu lassen. Auf diese Weise kann man überall den Nachweis führen, daß unsere Verfassungen die gesellschaft­ lichen Widersprüche nicht wirklich vermittelt, sondern nur formalistisch integriert haben.« (H. Maier)11

Sprache der Entzweiung

Die Radikalisierung politischer Begriffe, vor denen die Wirk­ lichkeit nicht mehr bestehen kann, ist zweifellos die wirksam­ ste Form, in der linke Theorie auf die öffentliche Bewußtseins­ bildung in unserem Lande eingewirkt hat. Dabei knüpft die politische Rhetorik der Linken bewußt an Begriffean, die in der Wertskala des liberalen Staates und seiner Gesellschaft einen hohen Rang einnehmen: Selbstbestimmung, Mündigkeit, Freiheit, Lebensqualität, etc. Wo die Institutionen im Besitz der »Herrschenden« sind, arbeitet die Sprache linker Theorie mit der Idee von Gegen-Institutionen: Gegen die herrschende Öffentlichkeit muß eine »Gegenöffentlichkeit« geschaffen werden, der herrschenden Gewalt muß eine »Gegengewalt« gegenübertreten, weil die Sache der Herrschenden als korrupt und ungerecht gilt, die Sache ihrer Kritiker jedoch als das Wahre und Gerechte, denen das Medium der Öffentlichkeit und unter Umständen selbst die Anwendung von Gewalt nicht verwehrt werden dürfen. Durch die doppelte Strategie der Einebnung des Komplexen durch Pauschalbegriffe und der normativen Übersteigerung von politischen Ordnungsbegriffen mit positivem Inhalt be­ wirkt die Sprache linker Theorie die von ihr intendierte Reduk­ tion der Wirklichkeit auf einen simplen Verständnishorizont, der das kritische, antagonistische, feindbezogene Denken stärkt und ihm die Maßstäbe an die Hand gibt, mit denen man das Bestehende als völlig unzureichend be- und verurteilen kann. Es ist ein bewußt »dissoziierendes Denken« (H. Maier), mit dem wir es zu tun haben; es will Widersprüche und Gegen­ sätze schaffen, auch wo sie in Wirklichkeit kaum mehr zu finden sind; es sucht nicht den Dialog, sondern bevorzugt den Monolog oder die Polemik oder eben die unaufhörliche Theo­ riediskussion unter Gleichgesinnten. 57

Institutionen, soziale, politische wie religiöse, sind in ihrer Existenz nicht unabhängig von der Sprache, die in ihnen und über sie gesprochen wird. Wenn keine grundlegende, sprach­ lich vermittelte Übereinstimmung über die Grundwerte, diesie tragen und bestimmen, mehr besteht, können sie sich auf Dauer nicht lebendig erhalten. Eine christliche Kirche, deren Theologen das geoffenbarte Wort Gottes verwerfen, kann nicht mehr lange Kirche bleiben. Eine Demokratie, diesich den fluktuierenden Willensbildungsprozessen von Basisgruppen anheimgibt, kann keine tragfähigen institutioneilen Struktu­ ren gewinnen. Eine politische Sprache, die wie bei der Linken alles in Prozesse, Abläufe, Entwicklungen umdeutet und in Strukturen nur jeweils das Moment der Unterdrückung und Erstarrung wahrnimmt, trägt tendenziell zur Auflösung sol­ cher Strukturen bei. Sie verkennt absichtsvoll, daß soziale Prozesse ohne Strukturen nicht regulierbar sind und daß auch die dynamischen Prozesse des Wandels in Strukturen und Institutionen eingebettet sein müssen, wenn sie nicht jeder Kontrolle verlustig gehen und chaotisch verlaufen sollen. Die Sprache der linken Theorie, die ja Systemkritik und Systemveränderung zum Dauerthema hat, ist freilich gerade nicht daran interessiert, Strukturen zu stabilisieren; sie will sie verunsichern, erschüttern: sie will die Bewußtseinsverände­ rung so weit vorantreiben, daß schließlich auch die Strukturen ihr nicht mehr widerstehen können. Es besteht nach unserem Dafürhalten in der Bundesrepublik allerdings noch nicht die Gefahr, daß die Realität dem neuen Bewußtsein, das sich in einer neuen Sprache manifestiert, weicht, aber esgibt, seitdem linke Theorie in unser politisches Bewußtsein eingedrungen ist, erkennbare Aufweichungen, die nicht allein ausder hie und da zutage tretenden Mangelhaftigkeit der bestehenden Struk­ turen herrühren, sondern eine Folge der neuen, durch die Sprache der Theorie formulierten exzessiven Anforderungen an das Gemeinwesen sind. Weit davon entfernt, mit Schelsky von einer Priesterherrschaft der Intellektuellen zu reden, sind wir dessenungeachtet der Meinung, daß die Sprache linker Theorie mit ihren bewußt hochgesteigerten Anforderungenan die Legitimität unseres politischen Systems nicht einfach als Manifestation eines sozialwissenschaftlich drapierten Surrea­ lismusgelten kann, sondern als ein wirksames und resistentes

58

Element unseres politischen Bewußtseinsauch zu den Realitä­ ten dieser Republik gehört, auf die wir uns kritisch und pole­ misch einlassen müssen, wenn wir die parlamentarische De­ mokratie und die offene Gesellschaft, aus der sie erwächst, lebensfähig erhalten wollen. In einer auffälligen Parallelität zu der gestelzten TheorieSprache, die unsere linken Intellektuellen und Wissenschaftler (nicht alle freilich) zu einem neuen Jargon verformt haben, stehen die unverhohlene Aggressivität und die Lust am Schimpfwort, die seit der Studentenrebellion in unsere politi­ sche Umgangssprache Eingang gefunden haben. In der Denunzierung des politischen Gegners, dem man die Darstellung seiner Ansicht oder die Gegenrede durch aggressive Ein­ schüchterungs-Parolen verweigert, drückt sich der in der Theoriesprache selbst meist viel subtilerformulierteantagonistische Charakter einer sich überlegen und zukunftssicher wissenden Theorie besonders drastisch aus. In der Spruch­ band-Rhetorik, mit der viele linke Flugblätter, die sich zuvor in einem geschraubten Theoriekauderwelsch ergingen, ihreaufklärende Botschaft beschließen, offenbart sich das zwanglose, aber darum nicht zufällige Nebeneinander von Kampfslogan und Theorieanalyse in plastischer Weise. Beide Erscheinun­ gen, die unser Sprachbild in den letzten Jahren deutlich verän­ dert haben, gehören offensichtlich zusammen: auf der einen Seite der Theorie-Jargon mit seinen massiven Anleihen bei Marx oder bei dem bunten FedernstraußKritischerTheorie, auf der anderen Seite die gewollte Pflege einer aggressiven Spra­ che, eines reichen, manchmal witzigen Katalogsan Neubenen­ nungen und Schimpfwörtern, mit denen man dem Klassen­ feind endlich einmal sagt, was und wer er in Wirklichkeit ist. Von Marx ist gewiß viel gute und viel böse Polemikzu lernen, die Kritische Theorie ist da ungleich verhaltener. Dennoch: Als Jürgen Habermas den im Blick auf die Revolution trunken gewordenen Rebellen der antiautoritären Studentenbewe­ gung 1967 in Hannover erregt entgegenhielt, was sie dächten und trieben, dassei Linksfaschismus, dawardie Empörung bei der Neuen Linken schrecklich groß, denn hier hatte einer, den sie zu den ihren rechneten, die bewußte Politisierung der Sprache, die sie für ihr alleiniges Recht hielten, gegen sie selbst gewendet. Man verübelte ihm den Gebrauch »klinischer Begriffe« wie Wahn, Infantilismus etc., mitdenenerbestimmte 59

Erscheinungen der Revolte bedacht hatte, man belehrte ihn darüber, daß die » Kl i nif izieru ng politischen Handelns« sich in der sozialen Wirklichkeit potentiell in reale Gewalt ver­ wandle12, d. h. man war sich auch auf der Linken sehr wohl der Tatsache bewußt, daß Worte, Tatbestände und Benennungen Zustände, also Realitäten schaffen können, daß somit das Wort, die Sprache nichts ist, mit dem wir ganz nach Belieben hantieren dürfen. Verantwortungsvolle, produktive Handhabung der Sprache verlangt sowohl Zucht wie Phantasie. Es gibt - außer einer politisch-ideologischen oder ästhetischen - keine Rechtferti­ gung dafür, den gemeinten Sinn von Wörtern absichtsvoll zu verbiegen, noch gibt es annehmbare Gründe für die Flucht des Denkens in eine abstrakte Kunstsprache, die sich der Kommu­ nikation entzieht. Biszu einem gewissen Grade istterminologische und begriffliche Präzisierung und Nuancierung immer geboten und auch hilfreich, denn viele Wörter haben ihre Schattierungen und Zweideutigkeiten, aber das notwendige Bemühen um mehr Klarheit, Verständlichkeit und sprachliche Sauberkeit wird ins Gegenteil verkehrt, wenn Willkür oder Gesichtspunkte der Manipulation die Wahl und die Definition der Wörter bestimmen, wie dies in der Sprache der linken Theorie immer wieder erkennbar wird. Auch die »Notiz«, dieTheodor Adorno seinem anfangszitier­ ten großen Essay anfügte, läßt sich ohne Not diesen ziemlich unsystematischen Beobachtungen und Anmerkungen über die Sprache linker Theorie mit Nutzen ans Ende fügen: »Ver­ stummte in Deutschland der Jargon, so wäre damit etwas von dem geleistet, was man der selbst befangenen Skepsis allzu früh und zu Unrecht nachrühmt. Die Interessenten, die über den Jargon als Machtmittel verfügen oder seinem sozialpsy­ chologischen Effekt ihre öffentliche Geltung verdanken, wer­ den ihn sich nicht abgewöhnen. Andere werden sich genieren; auch autoritätsgläubige Gefolgsmänner die Lächerlichkeit scheuen, sobald sie das Tönerne der Autorität spüren, an der sie Halt suchen.«13

60

Anmerkungen 1 Th. W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt/M. 1964, S. 9 2 Ebd., S. 11 3 E. Altvater, Multinationale Konzerne und Arbeiterklasse, in: K. P. Tudyka (Hrsg ), Multina­ tionale Konzerne und Gewerkschaftsstrategie, Hamburg 1974, S. 97 4 J. Habermas, N. Luhmann, TheoriederGesellschaftoderSozialtechnologie, Frankfurt/M. 1971, S.290 5 U. Pörksen, Über den pseudowissenschaftlichen Jargon, in: Neue Rundschau, Jg. 85 (1974), S. 216/17 6 Naschold/Väth (Hrsg.), Politische Planungssysteme, Opladen 1973, S. 28 7 H. Schulz, Religiöses Bewußtsein und Klassenbewußtsein. Anmerkungen zur protestanti­ schen Theologietheorie, in: Y. Spiegel (Hrsg.), Kirche und Klassenbindung, Frankfurt/M. 1974, S. 291/92 8 W.-D. Narr, Ist Emanzipation strukturell möglich. Bemerkungen zur kostenlosen Inflation eines Werts, in: Μ. Greiffenhagen (Hrsg.), Emanzipation, Hamburg 1973, S. 210 9 G. Szczesny, Das sogenannte Gute. Vom Unvermögen der Ideologen, Reinbek 1971, S. 19 10 G. Klaus, Sprache der Politik, Berlin (DDR) 1971, S. 129 11 H. Maler, S. 38 in diesem Band. 12 K. Dörner, Über den Gebrauch klinischer Begriffe in der politischen Diskussion, in: Die Linke antwortet Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 1968, S. 61 13 Adorno a.a.O., S. 139

61

Günter Schmölders

Semantische Fallen im Politvokabuiar

Semantische Fallen sind unvermutet auftretende Wortbe­ deutungen, die durch plausibel klingende Neuschöpfungen (»Berufsverbot«) oder durch Umetikettierung altvertrauter Worte (»Vorlesungsstreik«) entstehen und in diederahnungs­ lose Politiker, Leser und Wähler leicht hineintappt, wenn er urplötzlich in Auseinandersetzungen mit dialektisch besser vorbereiteten Gegnern hineingezogen wird. Daß solche sprachlichen Fallen besonders von linken Wortführernaufge­ stellt und oft erfolgreich dazu benutzt werden, arglose Zeitge­ nossen politisch »aufs Kreuz zu legen«, ist kein Wunder; über 100 Jahre hindurch hatten die deutschen Sozialdemokraten in der Opposition, zeitweise sogar im »Untergrund«, Anlaß und Gelegenheit, ein geeignetes Vokabular für diese Auseinander­ setzung zu entwerfen, auszuprobieren und in den allgemeinen Sprachgebrauch einzuschleusen, um es dann nach dem »Machtwechsel« als längst etablierte Sprachregelung auszu­ geben und mit den neuen Begriffen ihre ahnungslosen Wider­ sacher oft genug regelrecht zu »überfahren«. So kommt es, daß die dialektisch gut geschulte Linke, die zuvormitUnterstützung ihrer intellektuellen Hilfswilligen (»ich rat’ euch, Es-Pe-De zu wählen«) das einseitig ausgerichtete Vokabular präpariert und die Alltagssprache mit den neuen oder neu interpretierten Begriffen durchsetzt hat, damit eine ideologische Schlacht nach der anderen gewinnt, während sich die Verlierer verblüfft an den Kopf greifen, leider meist ohne ihn gleichzeitig zur Konzeption einer wirksamen Abwehr zu benutzen. 50 Jahre eigenen Miterlebens rechtfertigen es vielleicht, einige Eindrücke wiederzugeben, die der Beobach­ ter dieser Szene gewonnen hat, um damit auch ein wenig zum Nachdenken darüber anzuregen, wie die gedankenlose Über­ nahme hinterhältig verfälschter Vokabeln die eigene Position bereits geschwächt hat und jederzeit weiter schwächen kann.

62

UmeinegewisseOrdnungindieverwirrendeSzeneriedieser semantischen Fallenstellerei zu bringen, unterscheide ich: 1. die plumpen Anbiederungsversuche, wie sie mit der Anrede »Azubi« für den Lehrling, »Abi« für den Meister oder (horribile dictu!) »Lehrherrn« bereits der verdienten Lächerlich­ keit anheimgefallen sind; 2. die emotionale Aufladung altgewohnter Begriffe (»Ent- ö fremdung«); 3. die verbale Neuschöpfung, die der Alltagssprache ein harmlos aussehendes Kuckucksei ins Nest praktiziert (»Mitbestimmung«). Dazu tritt 4. die politische Umwidmung an sich feststehender Begriffe wie »Reform«, »Demokratie«, »System« zwecks sprach­ licher Legitimierung beliebiger Weltverbesserungsprojekte (»Bildungsreform«, »mehr Demokratie wagen«, »Systemüberwindung«); dieser Prozeß entwickelt sich im Zuge der normalen Verschleißerscheinungen einer nach­ lässig gehandhabten Alltagssprache gewissermaßen »von selbst«, kann aber auch geschickt in den Dienst der Sinn­ entleerung bestimmter Begriffe gestellt werden, die dann unversehens gezielt mitanderen Inhalten aufgefüllt werden können (»Humanismus«). In der Haushaltsdebatte des Bundestages im Oktober 1977 hat F. J. Strauß diese Methodeam Beispiel des Begriffs »Markt­ wirtschaft« unter Berufung auf den von F. Machlup geprägten Ausdruck »Wieselworte« erläutert: »Die Wiesel sind Tiere, die Eier austrinken können, ohne die Schale zu zerbrechen. Das heißt, es bleiben leere Schalen übrig, die man dann mit beliebi­ gen Begriffen füllen kann. So wird der Begriff »Soziale Markt­ wirtschaft« heute von manchem auch verwendet: die Wort­ hülse bleibt übrig, dahinter wird etwas ganz anderes verstan­ den und ein ganz anderer Inhalt dann eingefüllt, zumindest so lange, bis der gutgläubige Bürger so weit gebracht ist, daß er über die Hürde gezogen werden kann...«

Anbiederungsversuche Die Regierungskoalition der Sozialdemokraten mit den »freien« Demokraten bedient sich mit Vorliebe des Kürzels »sozialliberal«, eine geschickte Anbiederung bei den alten

63

Liberalen, die sich noch an Friedrich Naumanns Gedankengut erinnern, wie es Theodor Heuss und anderen FDP-Gründern vorschwebte; die heutigen »Linksliberalen« lassen sich ihren Beitrag dazu, eine sozialistisch geprägte Koalition an der Machtzu halten, miteinem unverhältnismäßig großen Anteil an Ministersesseln vergelten. Dafür beteiligen sie sich auch an dem Wortspiel mit der »sozialen Gerechtigkeit«, die heute weithin an die Stelle der einfachen »Gerechtigkeit« getreten ist, sei es im Steuerrecht, in der Einkommens- oder Vertei­ lungspolitik; man tut gut daran, diesen Begriff, ehe man ihn gedankenlos verwendet, einmal auf die meist dahinterstekkenden Nivellierungstendenzen (H. Schoeck) abzuklopfen. Mit dem »Vorlesungsstreik«, d. h. Vorlesungsboykott, woll­ ten sich die linken Studenten bei den Arbeitern anbiedern, für die der Streik als altvertrautes und bewährtes Mittel im legiti­ men Arbeitskampf gilt; das gleiche Bestreben liegt wohl, ebenso wie bei der Neuprägung »Azubi« (Auszubildender), dem Begriff der »Lohnabhängigen« zugrunde, deren Selbst­ mitleid angeregt und solidarisch unterstützt werden soll. An­ dernfalls hätte man ja längst von den »umsatzabhängigen Unternehmern«, den »auftragsabhängigen Architekten« oder gar den »paradontoseabhängigen Zahnärzten« gehört; ab­ hängig sind wir alle! Zu den verbalen Anbiederungsversuchen gehört auch die scheinbare Einschränkung des offen revolutionären »Gleichheits«-Postulats auf die plausible Forderung nach bloßer »Chancengleichheit«. Der Sozialdemokrat Hermann Lübbe hat mit Recht daraufaufmerksam gemacht, daßeine Verwirkli­ chung der »Chancengleichheit« die unleugbar vorhandene Ungleichheit der Menschen schonungslos offenbaren würde; wem an möglichster Gleichstellung aller Bürger liegt, sollte diese entlarvende Chancengleichheit besser nicht fordern! Nichtsdestoweniger gehört diese Forderung heute zum All­ tagsvokabular der Politiker aller Schattierungen. Gefährlich wird die Anbiederung, wenn sie sich sogar noch auf dieangeblichen »Verfolgten« der Baader-Meinhof-Bande (»-gruppe«!) erstreckt, für die Heinrich Böll seinerzeit freies Geleit bean­ tragte; das subversive Vokabular der »Roten Armee-Fraktion« in ihrem lautstark proklamierten »Befreiungskampf« mittels der »Gegengewalt« ihrer »Stadtguerillas« diente doch in erster Linie der Anbiederung bei arglosen »Sympathisanten«!

64

Emotionale Aufladung

Auf dem Nährboden der »kritischen Theorie« Adornos und Herbert Marcuses sind Vokabeln wie »Repression«, »repres­ sive Toleranz« und »elitäreArroganz« gewachsen; siegehören bereits zu unserer zweiten Gruppe, den Beispielen emotiona­ ler Aufladung vorhandener Begriffe wie »Ausbeutung« und »Entfremdung«. Wurden noch von Hegel eher die positiven Seiten der »Entfremdung« hervorgehoben, so bezieht der junge Marx sie zuerst auf das mitleiderregend seelenlose Ver­ hältnis des Industriearbeiters zu seiner anonymen Arbeit; die amerikanische Soziologie lieferte dann den rebellierenden Studenten von Berkeley das Konzept einer allgemeinen »Ent­ fremdung«, die so schön unbestimmt war, daß sie als Begrün­ dung für die »totale Weigerung« (Marcuse) herangezogen werden konnte. Ebenso wie »Entfremdung« diente auch die Vokabel »Esta­ blishment« vielfach wechselnden Herren; Ende der 50er Jahre bedeutete dieser Begriff in der konservativen politischen Polemik in USA »zunächst nur und gerade die spontane Allianz der linksprogressiven Meinungsbildner und Politiker« (Schoeck). Aber »progressiv« ist es auch, gutfunktionierende Schlag­ worte unbedenklich »umzufunktionieren«, und so wurde das »Establishment« im Jargon der Neuen Linken zu einem pole­ mischen Terminus für alle Herrschenden in der »spätkapitali­ stischen« Gesellschaft, kurz gesagt im »System«, das »über­ wunden« werden müsse. Es ist entlarvend für die schöne Unverbindlichkeit der linken Ideologie, daß der Ausdruck »das System«, mit dem die Nationalsozialisten vor fünfzig Jahren die Institutionen der Weimarer Demokratie diffamierten, heute wieder von der Neuen Linken gegen alle »systemstabilisieren­ den« Kräfte der westlichen Zivilisation angewandt wird, gegen die sie zum Kampf angetreten sind; als ein verräterisches Wort aus dem Vokabular der »Linksmünder«, die man »an dem ihnen entströmenden Idiom erkennt«, bezeichnet Hans Weigel auch den Terminus »elitär«, den man heute in abwertendem Sinne verwendet. Auch hier wird der Pferdefuß der allgemei­ nen Nivellierungstendenz peinlich sichtbar. In diesen Zusammenhang gehört auch die Vokabel »autori­ tär«. 1950 erschien ein von Th. Adorno herausgegebenes Buch über die »autoritäre Persönlichkeit«, in dem der Versuch un­

65

>(

ternommen wurde, einen speziellen Menschentyp auszusodern, der nicht etwa große Autorität besitzt oder anstrebt, sondern der die schwer ausrottbare Neigung aufweist, sich ebenso einem Führer unterzuordnen wie Untergebenen ge­ genüber sich selbstzum Autokratenaufzuwerfen; diese »auto­ ritären Persönlichkeiten« seien zur Übernahme totalitärer (fa­ schistischer oder faschistoider) Ideologien vorgeprägt. Von hier aus gehört das disqualifizierende Adjektiv »autoritär« heute zum semantischen Arsenal linker Gesellschaftskritik, die damit das Fehlen demokratischer »Mitbestimmung« und autokratische Führungsmethoden anprangern will. Erstaunlich still geworden istesindenjüngstenÄußerungen unserer Politiker um die jahrelang haßerfüllt proklamierte Vo­ kabel vom »Profit«, die eine verderbliche Habgier der privaten Unternehmer bloßstellen sollte, wie sie natürlich den linken Heilsbringern bis zu den wohlsituierten Gewerkschaftsbossen und Landesbankleitern gänzlich fernliegt... Seit der Wirt­ schaftskrise von 1973 und der Anerkennung der Notwendig­ keit (privater) Investitionen zur Wiederankurbelung der Wirt­ schaft und Schaffung von Arbeitsplätzen, die nur aus Erträgen (nach Steuern) geleistet werden können, heißt es wieder »Ge­ winne«, nicht mehr »Profite« -ein Zeichen, wie wandelbar das emotional umgeprägte Vokabular jeweils ist, wenn es darauf ankommt.

Neue Wortschöpfungen

Diese polemische Umprägung vorhandener Begriffe bildet schon den Übergang zu unserer dritten Gruppe von Beispie­ len, den verbalen Neuschöpfungen, die dem verdutzten Hörer und Leser seine beschämende Unkenntnis der sozialen Pro­ bleme von heute drastisch vor Augen führen sollen. Eine sol­ che sprachliche Neuschöpfung ist die ironisch gemeinte Rede von der »heilen Welt«, in der die spätkapitalistische »bürgerli­ che« Gesellschaft zu leben meint oder wieder leben möchte; das Wunschdenken nach einer »revolutionären Situation«, die man sich erträumt, wenn sie schon in der Wirklichkeit nicht zu finden ist, soll den Anhängern suggerieren, der Glaube an eine »heile Welt« oder ihre Möglichkeit sei hoffnungslos naiv und überholt. In Wirklichkeitverhinderedie inhumane »Leistungs­

66

gesellschaft«, in der wir zu leben gezwungen sind, mit ihrem »falschen Bewußtsein« unsere »Selbstverwirklichung«; wie in allen Erlösungsreligionen beruht der Glaube der »neuen Wie­ dertäufer« (E. Scheuch) auf einem unumstößlichen Dogma, einer angeblich höchsten Wahrheit, vor der alle kritische Ver­ nunft haltmacht, nämlich dem festen Wissen um das »neue Bewußtsein« des (sozialistischen) »neuen Menschen«. Die ärgerliche Kleinigkeitsfrage, wo diese neuen Idealmen­ schen des Sozialismus denn herkommen sollen, da sie doch offenbar heute noch nirgends zu finden sind, beantworten unsere jungen Schwärmer mit mehr oder weniger gelangweil­ ten Hinweisen auf » Lernprozesse«, die sich offenbar von selbst aus der »antiautoritären Erziehung« ergeben sollen, und auf die bisher noch unerschlossenen Begabungsreserven in den unteren Sozialschichten sowie in der Dritten Welt; in Wahrheit interessieren sie derartige Nebensächlichkeiten wohl kaum. Kennzeichen der verabscheuten »Leistungsgesellschaft« ist der »Leistungszwang«, dem der heutige Mensch gegen seinen Willen und entgegen seiner natürlichen Veranlagung ausgesetzt sei. Der Zwang zur immer größeren Leistung geht letztlich auf den unerbittlichen »Konsumterror« zurück, den die kommerzielle Werbung veranstalte; in der Tat ist der Ide­ altyp des »mündigen Verbrauchers« noch seltener als der des »mündigen Wählers«. Jedoch besteht die kaufmännische Werbung ebensowenig aus Terrorakten wie die demokrati­ sche »Wahlpflicht« oderdie Wahlpropagandademokratischer Parteien; gegen Einschüchterungsversuche istderKäuferund Verbraucher immer noch besser geschützt als viele parteipoli­ tischer und gewerkschaftlicher Indoktrination ausgesetzten »klassenbewußten« Wähler, von den Abgeordneten zu schweigen, die nach Art. 38 GG nur ihrem Gewissen unterwor­ fen und an Weisungen nicht gebunden sind. Herbert Wehner hat kürzlich eine neuartige Interpretation dieser Unabhängig­ keit der Abgeordneten geliefert, als er das »Gewissen« dahin­ gehend definierte, ein sozialdemokratischer Abgeordneter dürfe vor allem die Stimmenmehrheit für »seinen« Kanzler nicht gefährden (obgleich sie im Falle der Abstimmung über das Kontaktsperregesetzt tatsächlich gar nicht gefährdet war!). Die Staatsrechtslehre sollte sich mit dieser interessan­ ten Neuinterpretation des Artikels 38 GG einmal befassen... In den 20er Jahren hatten die Sozialdemokraten es schon

67

einmal mit dem so schön unbestimmten Begriff der »Mitbe­ stimmung« versucht. Ein sozialdemokratischer Gesetzent­ wurf zur Einführung des »Gemeindebestimmungsrechtes« wurde im Reichstag eingebracht; erst ein Alarmruf der damali­ gen Brauerlobby klärte die Abgeordneten darüber auf, daß es sich um das Recht der Gemeinden handelte, den Ausschank alkoholischer Getränke im Gemeindebereich zu erlauben oder zu verbieten, also um das Alkoholverbot! Daß die heutige »Mitbestimmung« die Einschleusung sozialistischer Funktio­ näre in die Unternehmensleitungen bezweckt, ließ auch dies­ mal der harmlose Name »Mitbestimmung« nicht erkennen; andernfalls wäre das Bundesverfassungsgericht vermutlich schon viel früher-undmitviel weniger unliebsamem Aufsehen -angerufen worden. Die neue Vokabel ist eben diesmal, schon über die Montanunion, viel früher und erfolgreicher in die Diskussion eingebracht worden, so daß Freund und Feind sich arglos dieses Begriffes bedienten, bis es (fast) zu spät war. «

Umwidmung

»Mehr Demokratie wagen« war Brandt's Parole bei einer ganzen Palette problematischer Reformen, die heute alle be­ reits als gescheitert anzusehen sind; in den Universitäten ge­ riet die Umbildung derverhaßten »Ordinarien-« zur »Gruppen­ universität« teilweise fast zu einer Vorstufe der Anarchie. Mit der beabsichtigten »Demokratisierung aller Lebensbereiche« wurde der Demokratiebegriff, der seit Plato eine bestimmte Form der Staatsverfassung bedeutet, politisch zum Stichwort zahlreicher Reformversuche umgewidmet, von der »Schüler­ mitbestimmung« biszum »Redaktionskollektiv« und in Heidel­ berg sogar zum »Patientenkollektiv«, als ob es in einer Demo­ kratie bessere oder schlechtere, d. h. mehr oder weniger »de­ mokratisierte« Lebensbereiche geben könne. Der gleiche Irrtum liegt den Forderungen nach gewerk­ schaftlich-politischer »Investitionslenkung« mittels »Struk­ turräten« und »Investitionsmeldestellen« zugrunde, die Ge­ sichtspunkte der »Beschäftigungspolitik« und der »Regionalpolitik« an die Stelle der unternehmerischen Entscheidungen setzen sollen, wie sie der Markt erfordert und erlaubt. Die »Abstimmung mit den Füßen«, d.h. mit dem Nachfrage68

potential der Verbraucher, ist aber in der freien unternehmeri­ schen Marktwirtschaft weit demokratischer geregelt als in jener vom Gewerkschaftsmarkt beherrschten Funktionärsbü­ rokratie, zu der die Lenkungsstellen und Strukturräte alsbald entarten würden. Ein weiteres Beispiel für die politische Umwidmung festumrissener Begriffe ist der »soziale Friede«. Darunter versteht man an sich die höchst erfreuliche Folge praktizierter Tarifau­ tonomie, daß es bei der stets brisanten Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften um die Höhe der Löhne in der Bundesrepublik weit seltener zu Streiks und Aussperrungen zu kommen pflegte als in den benachbarten Ländern; »sozialer Friede« war eine Fo/gedergutausgewogenen Kampfregeln, nicht eine Rahmenbedingung für das Ver­ halten der Tarifparteien. Gerade dazu versucht die Gewerk­ schaftsseite den Begriff jedoch heute umzufunktionieren: zwecks Wahrung des »sozialen Friedens« soll die Arbeitgeber­ seite ihre Mitbestimmungsklage zurückziehen, um dem DGB die Rückkehr in die konzertierte Aktion ohne Gesichtsverlust zu ermöglichen. Es ist schwer, über dieses Ansinnen keine Satire zu schreiben; es erinnert an einen Boxkampf, in dessen Verlauf der eine Kombattant von dem anderen verlangt, er solle sich die rechte Hand festbinden lassen! Sozialer Friede kann aber nur die Folge, nicht ein Verhaltensprinzip im Arbeits­ kampf sein; die politische Umwidmung dieses Begriffs be­ zweckt eine einseitige Abwandlung der Spielregeln zugunsten der Gewerkschaften.

Mit diesem kurzen Überblick ist das Problem der semanti­ schen Fallen im Politvokabular unserer Zeit nur an einigen Beispielen angedeutet, die sich beliebig vermehren lassen. Alle Beispiele kommen von links; die Gegenseite ist vollauf damit beschäftigt, sich vordem Hineintappen in diese Fallen zu hüten, ohne ihrerseits bisher zur polit-semantischen Fallen­ stellerei beitragen zu können. Ein erster Versuch in dieser Richtung war vielleicht im letzten Wahlkampf Prof. Bieden­ kopfs Begriff der »Filzokratie«; aber schon der aus BadenWürttemberg stammende Slogan »Freiheit oder Sozialismus« wurde im Norden halbherzig zu »Freiheit statt Sozialismus« verballhornt. Vielleicht bedarf es wirklich eines hundertjähri­ 69

gen Verharrens in der Opposition, um uns allen die Sinne für dieses Spiel zu schärfen, das die Kommunisten im Ostblock mit ihrer »Desinformationspolitik« so meisterhaft beherrschen.

70

Hermann Lübbe

Sein und Heißen Bedeutungsaeschichte als politisches Sprachhandiungsfeld

I.

Es ist eine alte Praxis, zur Verdeutlichung der Unterschei­ dungen, denen unsere Wortgebrauchsregeln folgen, Wörter, die sich in ihrem Gebrauch wechselseitig begrenzen,einander entgegenzusetzen.1 Diese Methode wählte auch Martin Hei­ degger in seiner Vorlesung zur Einführung in die Metaphysik von 1935,2 um mit der Bedeutung des Wortes »Sein« uns näher bekanntzumachen.3 Wir »stoßen«, sagt Heidegger, »bei der Nennung des Namens >Sein< auf ganz bestimmte, schon for­ melhaft gewordene Weisen des Sagens: Sein und Werden; Sein und Schein; Sein und Denken; Sein und Sollen.«4 Diesen vier geläufigen und traditionsreichen Unterschei­ dungen, unterderenÜberschriftenerwichtigeStadien bisheri­ ger europäischer Philosophiegeschichte skizziert, setzt Hei­ degger dann seine eigene Unterscheidung von »Sein und Zeit« entgegen.5 Meines Erachtens hätte Heidegger die Kontrastwirkung die­ ser Entgegensetzungen noch steigern können, wenn er in die Reihe der geläufigen Unterschiede zum Sein auch noch die konventionelle Unterscheidung von Sein und Heißen einge­ stellt hätte. Auch diese Unterscheidung hätte jaals Überschrift für ein weiteres, wichtiges Kapitel bisheriger Philosophiege­ schichtedienen können - von Platons Kratylos biszurSprachphilosophie im Universalienstreit und vom Dritten Buch in John Lockes Essay Concerning Human Understanding bis zu Carnap, und auch dieses Kapitel hätte sich, wie die übrigen, durch Heidegger als Beitrag zu einerGeschichteeuropäischer Dekadenz schreiben lassen.6 Wieso ist Heidegger, unterwegs zur Sprache,7 auf diesen

71

naheliegenden Gedanken nicht gekommen? Das ist, soweit ich sehe, in seiner Sprachphilosophie begründet, die ihn nicht von der Differenz zwischen Sein und Heißen ausgehen ließ, sondernvonihrerlndifferenz.DievonHeideggerbeabsichtigte Verdeutlichung der Bedeutung des Wortes »Sein« durch Ana­ lyse dessen, wovon wir »Sein« zu unterscheiden gewohnt sind, kam deswegen in bezug auf »Heißen« nicht in Frage.8 Was soll »Indifferenz von Sein und Heißen« heißen, die ich mit dieser Erklärung als Meinung Heideggers unterstelle? Ich meine damit die spezielle sprachphilosophische Intention de­ rer, für die, um es salopp zu sagen, entweder was ist, heißt wie es ist, oder für die umgekehrt, was ist, ist wie es heißt. Dieser Intention folgt beispielsweise Platon in seinen onomatopoietischen Reflexionen einerseits, oder Heidegger in seinen be­ kannten etymologischen Reflexionen andererseits. Normalerweise erfüllt die Etymologie die Funktion, den Um­ stand, daß etwas heißt wie es heißt, historisch durch Erzählen einer Geschichte dessen zu erklären, was jeweils hieß, wie auch das heißt, was eben noch heute so heißt. So jedenfalls ließe sich die Funktion der Etymologie beschreiben, wenn einem im Kontext einer Analyse der Differenz von Sein und Heißen daran gelegen ist, von diesen Wörtern einen möglichst extensiven exemplarischen Gebrauch zu machen, und zwar einen Gebrauch, der ausschließlich denjenigen Regeln folgt, die den Gebrauch dieser Wörter bei jedermann regeln, der, ohne darüber hinaus Philosoph oder gar Linguist sein zu müssen, deutsch spricht. Unter Beachtung dieser Beschrei­ bungsmaxime, die ich, beiläufig gesagt, für einen Indifferenz­ punkt von Phänomenologie und Sprachanalyse halte,9 ließe sich sagen, daß die Etymologie diejenige Disziplin ist, die uns, zum Beispiel, historisch erklären kann, wieso ein Schalter, das heißt ein numerierter oder sonstwie gekennzeichneter Platz am flachen, durchlaufenden Tresen zur direkten Erfüllung büromäßiger Dienstleistungen gegenüber einem Publikum, »Schalter« heißt. Die Antwort lautet: weil früher »Schalter« ein zuerst im wasserbauwirtschaftlichen Schleusenwesen ent­ wickeltes, zwischen Nuten vertikal bewegliches Schiebebrett hieß, und weil dann später die Verwendung eines solchen Schiebebretts oder Schiebefensters auch an Schaltern diese heißen ließ, wie sie noch heute heißen, nämlich »Schalter«, obwohl das, was diese Verwendung des Wortes »Schalter«

72

erklärt, inzwischen an Schaltern gar nicht mehr anzutreffen ist. - Ich habe dieses T riersche Beispiel hier nur gebraucht, um deutlich zu machen, daß wir die Etymologie nicht bemühen müssen, um wissen zu können, was das ist, in bezug worauf uns die Etymologie historisch erklärt, wieso es so heißt, wie es gegenwärtig heißt. Funktional gesehen, bezogen auf den Ge­ brauch, den wir redend von Wörtern machen, ist die Frage sinnlos, wieso das, worüber wir reden, heißt wie es heißt. »Es heißt eben so«, lautet die Antwort, mit derwirdie Sinnlosigkeit der Frage, der diese Antwort gilt, zum Beispiel gegenüber einem Kind, das noch nicht Etymologie studiert, sondern seine Muttersprache lernt, bekräftigen. Historisch gesehen, bezo­ gen auf die Gebrauchsgeschichte der Wörter, ist die Frage, wieso das, worüber wir reden, heißt wiees heißt, beantwortbar. Historisch erklären wir, was funktional betrachtet zufällig ist.10 Diese Erklärung der Funktion der historischen Erklärung ist nun geeignet, deutlich zu machen, daß demgegenüber Hei­ degger etymologisch gerade nicht redefunktional zufälliges Heißen historisch erklären will, sondern das, was das eigent­ lich sei, was so heißt, vergegenwärtigen. Bei Heidegger wird, wie es auch sonst unter Gebildeten vorkommt, die Etymologie dazu bestellt, das, was schon früher so hieß wie das in Frage gestellte Gegenwärtige, als das vergessene oder sonstwie uns ferngerückte »eigentliche« Wesen dieses Gegenwärtigen wie­ der ans Licht zu holen. Was etwas in Gemäßheit des etymologischen Fingerzeigs dessen, wie es heißt, eigentlich sei, das ist, insoweit, Heideg­ gers Frage. Demgegenüber wird die Differenz von Sein und Heißen stets dann thematisch, wenn man die Frage zu stellen Anlaß und Ursache hat, wie etwas heißen dürfe oder heißen müsse. Der Gigantenkampf ums Sein macht nach Heidegger die Metaphysik aus. Der Kampf ums Heißen dagegen ist ein Spezialfall politischen Handelns. Es sind zwar nicht immer Giganten, die ihn führen; aber sie führen ihn mit gigantischen Mitteln, zum Beispiel mit denen der medienunterstützten Pro­ paganda. Zur Aufklärung der Strukturdes politischen Kampfes ums Heißen möchte ich einen phänomenologischen Beitrag leisten.

73

Il

Die Differenz von Sein und Heißen, sofern sie im Unterschied des Gebrauchs dessen, was wir in Aussagen dem, was ist, zusprechen oder absprechen, zum Gebrauch von Eigennamen präsent ist, soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Es gibt ja eine Ebene der Betrachtung, auf der diese Differenz von Prädi­ katoren und Eigennamen12 trivial ist, und nur insoweit soll sie bei der Analyse der Struktur des politischen Kampfes ums Heißen vorausgesetzt sein. Immerhin möchte ich doch etwaige Zweifel, ob der Unterschied von Eigennamen und Prädikato­ ren im folgenden auch tatsächlich aistrivial gelten kann, durch geeignete Exempel ausräumen. Ich wähle, naheliegender­ weise, Exempel für Fälle, in denen die Differenz von Sein und Heißen auffällig wird, weil Zweifel oder offenbare Irrtümer walten, ob essich nun um daseineoder um dasandere handelt. So wird die Verwunderung eines Untertanen des Fürsten von Liechtenstein über die Existenz der Grafschaften Bentheim und Hoya beigelegt durch die Erklärung, daß diese norddeut­ schen Regionen natürlich nicht, wie man wohl wissen könnte, Grafschaften, sondern niedersächsische Landkreise sind und aus Gründen, die man historisch plausibel machen könnte, Grafschaften lediglich heißen. Das Allgemeine solcher und analoger Fälle ist eine Verwechslung von Sein und Heißen, die durch Namensbestandteile veranlaßt wird, die historisch oder gegenwärtig anderswo als Prädikatoren nach unumstrittenen Regeln verwendet werden. Auch mit umgekehrtem Richtungs­ sinn tritt dieser Fall auf. Die Heirat eines dänischen Grafen mit einer Dame bürgerlichen Namens in Österreich ist keine Mes­ alliance, sofern diese Dame nach den in ihren Kreisen intern geltenden Regeln eine Gräfin ist, jedoch als Bürgerin der Republik Österreich diesen Titel als Bestandteil ihres Namens nicht führen, also »Gräfin...« nicht heißen darf. Beide Fälle haben übrigens politischen Indizwert; sie repräsentieren hi­ storisches Kontinuitätsinteresse einerseits und andererseits historisches Diskontinuitätsinteresse eines politischen Wil­ lens in den von ihm gesetzten Regeln des Heißendürfens oder Heißenmüssens. Es ist ein revolutionärer Akt, der verfügt, daß etwas nicht mehr heißen dürfe, was es ist. In liberaler Evolution läßt man tolerant vieles heißen, was es gar nicht mehr ist. Es gibt freilich auch Situationen, in der Träger historischer

74

Namen, die nicht mehr sind, was die prädikativen Bestandteile ihres Namens zu sein vorgeben, unter Bezugnahme auf ihren Namen erklären dürfen, sieseien es. Das ist dann der Fall, wenn diese Erklärung sich nichtauf das bezieht, was beiprädikativer Auffassung ihr Name zu besagen scheint, sondern auf die mit Rechtsfolgen verbundene Tatsache, so zu heißen. »Wirsind der Spieker«, können die Repräsentanten des Zwischenahner Spieker in einem Rechtsstreit mit der Konkurrenz, die sich diesen zugkräftigen Namen gleichfalls zulegen wollte, mit Handelsregisterauszugsbeweisen zu Protokoll geben, ob­ wohl, oder besser: weil der Spieker kein Speicher, sondern eine gastronomisch renommierte Aalküche ist und in histori­ scher Kontinuität »Spieker« lediglich heißt. Es gewesen zu sein, legitimiert den unter Umständen exklu­ siven Anspruch zu sein, was rite so heißt. Umgekehrt kann natürlich der Name auch den Anspruch repräsentieren, nicht zu sein, was man tatsächlich ist. In diesem Sinne ist der von KPD zu DKP geänderte Name der SED-abhängigen kommuni­ stischen Partei inderBundesrepublikDeutschland das verbale Dementi der gemäß Verfassungsgerichtsurteil illegalen, poli­ tisch aber schwerlich bestreitbaren Nachfolgeorganisations­ eigenschaft. Die Namensänderung hat hier das Maß jenes Minimums beachtet, das ausreicht, im Heißen zwischen dem, was war, und dem, was ist, zureinen Seite hin Nicht-Identität und zur anderen Identität zu signalisieren. Auch im Verkehr zwischen Personen werden triviale Regeln zur Unterscheidung von Sein und Heißenstrikt beachtet. Wenn es darauf ankommt, bekannt oder geltend zu machen, derje­ nige zu sein, der so heißt, so pflegt man bekanntlich mit der Nennung des Namens die Erklärung zu verbinden, man sei dieser. Wenn es dagegen auf die Feststellung des Namens ankommt, muß man erklären, daß man so heiße. Ein beliebiger Max Müller, dessen Namen man hören möchte, erregt Heiter­ keit, wenn er erklärt, dieser zu sein. Das darf nur derjenige Müller, der überdiesen seinen Namen hinaus im emphatischen Sinne einen Namen hat, also der wohlrenommierte Max Müller. Bei Wohlrenommierten ist es daher eine Bescheidenheitsge­ ste, wenn sie beim reihumgehenden Sichvorstellen sagen, wie sie heißen, anstatt zu sagen, wer sie sind. Eine nicht selten vom Effekt der Komik begleitete Präsenzdes Unterschieds von Sein und Heißen ist in den Fällen gegeben, wo der Name, als Prädi­

75

kator aufgefaßt, auf seinen Träger zutrifft, so daß dieser sagen kann, er heiße so und sei es. Friederike Kempner, der schlesi­ sche Schwan,13 hat unfreiwillig diesen Effekt noch gesteigert, indem sie in dichterischer Herleitung der Prädikatoreneigen­ schaft eines berühmten Namens aus dem hervorstechenden Charakter seines Trägers lyrisch jenen Kaiser pries, »den zu Recht man Wilhelm nennt«.

Ill

Die Differenz von Sein und Heißen, die im Unterschied des Gebrauchs von Prädikatoren und Eigennamen insoweit trivial ist, hört auf es zu sein, sobald man sie auf derjenigen Ebene betrachtet, auf der ums richtige Heißen von Prädikatoren ge­ stritten wird. Der politische Streit um Worte ist zumeist ein Streit dieser Sorte.14 Auch Wörter, mit denen wir über etwas reden, um zu sagen, was es ist oder nicht ist, Prädiktoren also, lassen sich ja ihrerseits als Namen auffassen -als »Begriffsna­ men«, wie sie Peter Hartmann in seinem bekannten Buch, das pointiert den Titel »Das Wort als Name« trägt,15 genannt hat. Das Wort als Name steht zur Debatte, wenn zur Debatte steht, wie man was nennen dürfe oder müsse. In dieser Form wird der Streit ums richtige Heißen geführt, so daß es also, selbstver­ ständlich, nicht möglich ist, den Streit um die richtige Benen­ nung durch Rekurs auf ein unabhängig davon bereits festlie­ gendes richtiges Heißen zu entscheiden. Sonst verhielte man sich wie jener französische General, der den Vorzug der fran­ zösischen Sprache darin erblickte, daß in ihr alseinzigerSprache die Dinge so genannt werden, wie sie wirklich heißen. Was machen dann aber diejenigen, die behaupten, daß et­ was so und nicht anders genannt werden müsse, dafür letztin­ stanzlich als entscheidenden Grund geltend? Sie machen natürlich geltend, daß es deswegen, weil es dieses und nichts anderes sei, auch so heißen müsse. Auch der Streit ums Heißen ist insofern ein Streit ums Sein, und es sind Bedingungen angebbar, unterdenen man nicht umhinkommt, den Streit ums Sein als Streit ums Heißen zu führen, unter denen also die traditionsreiche, in der Praxis der Wissenschaften soviel zi­ tierte Empfehlung des Aristoteles, nicht um Wortezu streiten,16 nicht praktikabel ist. Mit einer CharakteristikdieserBedingun­ 76

gen will ich die Analyse einer Reihe von Beispielen schließen, die jetzt folgen soll. Ein einfacher Fall des Kampfes ums Heißen liegt dann vor, wenn man durchsSo-Genanntwerdensicherstellen möchte, in der Öffentlichkeit als das zu gelten, was man ist, oder auch umgekehrt zu verhindern, für etwas zu gelten, was man nicht ist. Den Fall des Kampfes gegen die Lüge wollen wir dabei als einen praktisch zwar höchst bedeutsamen, aber in unserem Zusammenhang theoretisch trivialen Fall außer acht lassen ebenso wie die Bemühung um Richtigstellung sprachinkom­ petenzbedingter Fehler bei Wortgebräuchen. Der politische Kampf ums Heißen, der uns hier beschäftigen soll, wird eben, wie der politische Kampf überhaupt, im Regelfall nicht durch Urteilssprüche moralischer oder auch juristischer Instanzen entschieden, und auch nicht durch eingeholte Gutachten lin­ guistischer Fachleute für Fragen der Semantik. Die Entschei­ dung im politischen Kampf ums Heißen fällt, wie die Entschei­ dung im politischen Kampf gewöhnlich, als Machtentschei­ dung, und das heißt in diesem speziellen Fall: über die fakti­ sche Durchsetzung des Willens, so und nicht anders genannt zu werden, in den einschlägigen, engeren oder weiteren Krei­ sen der Öffentlichkeit. Exakt in diesem Sinne haben es die Verbände derjenigen, die infolge des Zweiten Weltkrieges die östlichen deutschen Provinzen verlassen mußten, durchzuset­ zen vermocht, daß die Angehörigen dieses Personenkreises heute offiziell ausschließlich »Vertriebene« und nicht etwa »Flüchtlinge« heißen.17 Dabei war, wie viele Landes-und Zeitgenossen sich erinnern, das Wort »Flüchtling« anfangsdurchaus gebräuchlicher. Flüchtlinge waren es ja, die in langen T recks den abrückenden, ja teilweise selber flüchtenden deut­ schen Truppen folgten, und vielfach erst Monate später kamen die Opfer administrativ exekutierter Vertreibung, eben die Vertriebenen, nach. Auf dieser Ebeneder Beschreibung gibt es für einen Wortstreit keinerlei Anlaß. Die Regeln, die unseren Gebrauch der fraglichen Wörter bestimmen, heben auf eine Unterscheidung von ausreichender Deutlichkeit ab; sie wären mühelos explizierbar. Es herrschte insoweit kein semantischer Nebel, den diejenigen hätten nützen können, die schließlich in der Wortgebrauchspolitik ihres Verbandes auch die Flücht­ linge zu Vertriebenen machten. Was also ging hier vor? Waren Wortfalschmünzer am Werk? Eine Umprägung des Wortes

77

»Vertriebener« hat in der Tat stattgefunden. Gleichwohl hat niemand eine Sprachnorm, die aus übergeordneter, dritter Position gesetzt und sanktionengeschützt wäre, verletzt. Was also ging vor? Zunächst war es die Einheit ihrer sozialen und rechtlichen Lage, die es unnütz, ja unzweckmäßig machte, verbandspolitisch oder auch rechtlich zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen zu unterscheiden. Ein naheliegendes Wort für die Klasse, die beide umfaßt, steht im Deutschen nicht zur Verfügung. Statt dessen hätte man natürlich eine unterschei­ dende Kennzeichnung ad hoc einführen können, zum Beispiel durch Herkunftsangabe in Kombination mit einem Übersied­ lungszeitraum. Solche Kennzeichnungen, die in der Verwal­ tungssprache in derTat üblich sind, wären aber ihrer Umständ­ lichkeit wegen in der Sprache der Politik gar nicht verwendbar gewesen. Außerdem hätte dann auf die politisch nutzbare »emotive«18 Bedeutung verzichtet werden müssen, die es plausiblerweise hat, »Vertriebener« oder »Flüchtling« zu hei­ ßen. Wenn aber nur eines von beiden in Frage kam, lag natür­ lich »Vertriebener« näher: so zu heißen schließt, anders als beim Flüchtling, jeden Gedanken Interessierter aus, eine fal­ sche Einschätzung der Verhältnisse könnte der Grund fürs Verlassen der Heimat gewesen sein, sozusagen eine Freiwillig­ keit aus selbstverschuldeter Angst. »Vertriebene« also nannte man sie fortan, und indem es einen politisch nennenswerten Widerstand dagegen in der Bundesrepublik Deutschland nicht gab, hieß man auch so. Dieses politisch erfolgreich in An­ spruch genommene So-Heißen mußte nun freilich für das, was ein Vertriebener ist, Folgen haben, indem er nun auch dann so sollte heißen dürfen, wenn er geflüchtet war. Die Rechtferti­ gung dieses So-Heißen-Dürfens durch Rekurs auf geeignete Momente des Gewesenseins auch im Dasein der Flüchtlinge stieß nicht auf unüberwindbare Schwierigkeiten. Man war geflohen, gewiß, und wenn auch die Leiden derer, denen die Flucht mißlang, die vor diesen Leiden Flüchtenden noch nicht zu Vertriebenen machen, so läßt sich doch sagen, daß, indem die Gebliebenen schließlich vertrieben wurden, die Fliehenden insofern durch Flucht ihrer Vertreibungzuvorgekommensind. Flüchtlinge, deren Flucht diesen Charakter einer Vertreibung­ vorbeugeflucht hatte oder doch im Verlauf der Ereignisse gewann, - warum sollten nicht auch sie nun »Vertriebene« heißen? Im geschilderten speziellen Sinne waren sie es ja, und

78

genau in diesem speziellen Sinn hatsich somit, indem hierein Anspruch aufs So-Heißen politisch erfolgreich zur Geltung gebracht wurde, der Gebrauch des Wortes »Vertriebener« erweitert. Indem aber so der Gebrauch des Wortes »Vertriebe­ ner« sich geändert hat, hat sich geändert, was und wer ein Vertriebener ist. Mit der Änderung unserer Wortgebrauchsre­ geln ändert sich, was es heißt, das zu sein, was es heißt, so zu heißen. Ändert sich somit, was ist, indem wir ändern, wie es heißt? Die Frage klingt tiefsinniger als sie ist; denn die simple Antwort lautet: Indem wir im politischen Streit ums Heißen durchsetzen, daß etwas nunmehr anders heißt als es bislang hieß, unterscheiden wir in bezug auf das, was ist, anders als bisher, aber wir unterscheiden anders als bisher jeweils unter Berufung auf solches, was so oder so tatsächlich unterscheid­ bar ist, das heißt nicht amorph, strukturlos, diffus oder sonst­ wie ununterscheidbar. Was ist, läßt sich ja unterscheiden, und indem es sich innerhalb ungewisser Grenzen so oderso unter­ scheiden läßt, ist sowohl das, was wir so, als auch das, was wir anders unterschieden haben, was es jeweils ist, und indem wir es so und nicht anders nennen, fixieren wir die Unterschei­ dung, der gemäß es nun dieses und nichts anderes ist. Wenn wir so ändern, wie etwas heißt, indem wir jetzt auch anderes, was vorher anders hieß, so nennen, so ändern wir, was etwas i m Unterschied zu anderem ist. Ändern wir also durchs Ändern des Heißens das Sein? Der Sinn dieser Frage bemißt sich im Kontext unserer Analyse nach dieser Antwort: Wir ändern durchs Ändern des Heißens das System der sozial geltenden Unterscheidungen, über das wir uns jeweils zu dem, was ist, verhalten. Die Änderung des Unterscheidungssystems folgt dabei der Pragmatik, der gemäß wir auch sonst, soweit siezur Disposition unserer Absichten stehen, unsere Lebensverhält­ nisse ändern. Dieselbe Pragmatik schließt ein, daß die Unter­ scheidungssystemänderungen jeweils zugleich an tatsächli­ chen Unterschieden orientiert bleiben, so daß Beispiele von Verschiedenem vorführbarsind, deren Unterschied die neuge­ troffene Unterscheidung folgt. Das schließt natürlich nicht aus, daß zu Täuschungs- oder Selbsttäuschungszwecken in gewissen Unterscheidungssy­ stemen Unterschiede geltend gemacht werden können, die exemplarisch kaum präsentabel sind. Das schließt weiterhin nicht aus, daß Unterscheidungen, für die es, als man sie traf,

79

nur schwache Exempel gab, sozial den Unterschied stiften, indem man an ihnglaubt.19Genau nach diesem Muster hatsich die Klasse des Proletariats, soweit sie sich gemäß Selbstinter­ pretation in der DKP organisierte, ihr eigenes Sein stiftend konstitutiert, indem sie, so organisiert, von einem nichtorgani­ sierten Proletariat einerseits und einer bürgerlichen Klasse und ihren parteilichen Organisationsformen andererseits un­ terschieden zu sein glaubt und ideologisch vorgibt. Im Fall des DKP-Proletariats ist etwas, was es ist, indem es durch sein ideologisch geregeltes So-Heißen vor sich und anderen er­ klärt, eszu sein. Daß diese spezifisch proletarischen Klassenin­ teressen außerhalb der Partei, die sie vertritt, gar nicht als solche auftreten, irritiert dabei den Überzeugten nicht. Es kommt ja auch sonst unter Menschen vor, daß einige gar nicht wissen, was oder wer sie eigentlich sind und welches ihre wahren Interessen. Alsdann müssen andere es ihnen sagen, wobei es vorkommt, daß die Betroffenen es nicht glauben. Genau in diesem Sinne ist aus DKP-Perspektive das westdeut­ sche Proletariat eine Klasse, die sich selbst so nennen müßte, wenn sie wüßte, daß sie ist, als was diejenigen sie kennen, bei denen sie entsprechend so heißt. Sieht man von diesem Sonderfall, demgemäß mit tradierten, historisch erklärbaren und funktional durch interessierte Dritte kontrollierten ideologischen Mitteln politisch reale Dif­ ferenzen gestiftet werden, die es in der behaupteten Form außerhalb des politisch-ideologischen Deklarationszusam­ menhangs gar nicht gibt, so läßt sich verallgemeinernd sagen: Das Interesse, anders als bisher zu unterscheiden und damit zuzuordnen, setzt sich im politischen Aktionszusammenhang im KampffürsSo-und-nicht-anders-Heißen durch. Die Regeln, denen der Gebrauch geläufiger Worte bislang folgte, werden dabei modifiziert, so daß so zu heißen nunmehr etwas anderes zu sein heißt als zuvor. Es hat keinen Sinn zu sagen, dieser als Kampf ums So-Heißen sich abspielende Kampf für die Ände­ rung eines sozial geltenden Unterscheidungssystems sei ille­ gitim. Denn es gibt je keine Instanz, die aus einer Position außerhalb dieses Systems seine Geltung verbürgte. Es gilt faktisch, und die Respektierung seinerGeltung hat keine ande­ ren Gründe als solche des gebotenen Respekts vor den Bedin­ gungen erfolgreicher Teilnahme an den Prozessen kommuni­ kativer Interaktion. Schlicht gesprochen: man will schließlich 80

verstanden werden, und insoweit muß man diefaktisch gelten­ den Regeln für Wortgebräuche beachten. Die Modifikation dieser Regeln, die im Kampf ums So-Heißen beabsichtigt ist, bleibt riskant. Im Erfolgsfall hat man dafür gesorgt, daß manzu den neuen, gewünschten Bedingungen eines faktisch gelten­ den Unterscheidungssystems fortan verstanden wird. Andern­ falls hat man seine Lage verschlechtert; denn man steht schlechter da, wenn man mit seinem Willenscheitertalswenn man von vornherein darauf verzichtete, diesen Willen geltend zu machen. Der Erfolg, auf den es insoweit beim Kampf ums So-Heißen-Dürfen ankommt, ist ein Erfolg der Zustimmung oder doch des ausbleibenden Widerspruchs der Sprachge­ nossen, die dabei gelegentlich auch gar nicht sogleich mer­ ken, daß sich etwas geändert hat. Der Kampf ums Heißen ist, wie aus solchen Schilderungen hervorgeht, ein politischer Kampf, und politisches Handeln istdieangemessene Form des Handelns in der Absicht, faktisch geltende Unterscheidungs­ systeme gemäß sich wandelnder oder neuauftretender Zuord­ nungsinteressen zu ändern. Der Streit ums Heißen begleitet den politischen Streit regel­ mäßig. Selbst die Universitäts- und Wissenschaftspolitik, in bezug auf die man wegen der elaborierten Sprachkompetenz ihrer Partizipanten noch am ehesten hätte erwarten dürfen, daß Streit um Worte vermieden wird, ist voll davon. Ist die Gartenbauhochschule Hohenheim seit Inkrafttreten des ein­ schlägigen baden-württembergischen Hochschulgesetzes eine Universität oder heißt sie bloß so? »Das letzte«, war die Antwort von Angehörigen altrenommierter Volluniversitäten, undsiesprachenvonEtiketten-Schwindel.AberderGesetzgeber hatte die legale Macht, Etikettierungsfragen verbindlich zu regeln. Wo steckt da der Schwindel? Es wurde doch lediglich, durch eine Vorschrift des Heißens, ein faktisch bislang gelten­ des Unterscheidungssystem geändert, und die mit dieser Än­ derung verbundenen Folgen veränderter Zuordnung wollte man ja gerade. Im übrigen bliebesunbenommen,daß, wersich in dieser offiziellen neuen Zuordnung nicht wohl fühlte, priva­ tim von seiner Institution künftig als von einer Volluniversität sprach, und so geschah es. Eben damit hat man dann aber die neue Unterscheidung anerkannt, die in der neuen Benennung vollzogen worden war, und es wurde unvermeidlich zugege­ ben, daß die Universität Hohenheim so heiße, indem sie eine 81

sei, seit sie eine geworden ist, weil sie nach dem politischen Willen des Gesetzgebers so heißt. Für andere, die der Kompetenz dieses Gesetzgebers nicht unterlagen, blieb es dagegen aussichtsreich, sich allgemeinen Tendenzen zurÄnderung von Regeln des Heißens nach badenwürttembergischem Muster vorbeugend zu entziehen und zu erklären, daß, wenn im Zuge progressiver Zuordnungsreform­ politik nunmehr auch die Gartenhochschule Hohenheim eine Universität sei, man darauf bestehe, auf keinen Fall je »Univer­ sität« zu heißen, sondern so, wie man einst, zurZeit der Grün­ dung, habe heißen müssen, als die damaligen Universitäten exklusiv »Universität« zu heißen durchsetzen konnten, näm­ lich »Technische Hochschule«. Das ist der bis heute erfolg­ reich durchgehaltene Standpunkt der Rheinisch-Westfäli­ schen Technischen Hochschule zu Aachen im hochschulpoli­ tischen Kampf ums Heißen. Das ist ein Beispiel des allgemeinen Bestandes, daß der Kampf um die prestigeträchtige Zugehörigkeit zu einer Klasse als Kampf ums Heißen, derdieZuordnungsverhältnisse ändert, begonnen wird. Es ist zugleich ein Beispiel dafür, daß auch solche Zuordnungsreformpolitik, die in erster Instanz als Poli­ tik der Änderung geltender Regeln des Heißens geführt wird, Folgelasten unbeabsichtigter Nebenwirkungen zeitigen kann, die einem den Genuß des Erfolgs vergällen. Wenn plötzlich sehr viele so heißen, wie man zuvor selber gern heißen wollte, wird es insoweit uninteressant, so zu heißen und man bleibt lieber, was man war und demonstriert gerade so, daß man längst ist, was die anderen, indem sie durchsetzen, so zu heißen, gern sein wollten. Auchauf der Ebene dergroßen Politik gibt es Fällefolgenreicher nicht-intendierter Nebenwirkungen einer als Kampf ums Heißen geführten Zuordnungsänderungspolitik. Als die Politik der inneren Reformen in der Bundesrepublik Deutschland linksliberales Partei- und Regierungsprogramm wurde, bot sich an, die gegen die Träger dieser Politik in Opposition stehenden Kräfte »konservativ« zu nennen. Die historisch her­ leitbaren Regeln, die den Gebrauch dieses Wortes in Deutsch­ land bestimmen, sind vage genug, als daß man das hätte als stoßend empfinden müssen. Aber gerade diese Vagheit unse­ rer Vorstellung davon, was einer denn sei, wenn man ihn einen Konservativen nennt, paßte nicht ins Konzept einer von Politi­

82

sierungsfolgen begleiteten Polarisierung, das die ideologi­ schen Wortführer extrem linker Randgruppen in den Regie­ rungsparteien zu befolgen für zweckmäßig oder doch zumin­ dest für konsequent hielten. Also bemühten sie sich, dem Gegner ein schärferes Profil, ein Feind-Profil zu verleihen. Das geschah unter anderem so, daß sie in der Praxis, ihren Gegner »konservativ« zu nennen, die Regel für den Gebrauch dieses Wortes in der Weise schärften, daß nunmehr konservativ zu sein heißen sollte, einen illegitimen Privilegienbesitz zu vertei­ digen. Das wies natürlich jedermann von sich und verwies auf seine Beiträge zur Emanzipation. Die geschilderte Schärfung der zuvor vagen Regel für den Gebrauch des Wortes »konser­ vativ« hatte also zur Folge, daß nun »konservativ« niemand meh r heißen wollte. Die Klasse der Konservativen umfaßte bald niemanden mehr, dem es nichts ausgemacht hätte, für die Öffentlichkeit ein Konservativer, indem er so hieß, zu sein. Der mit wortgebrauchspolitischen Mitteln geführten Unterscheidungs- und Zuordnungskampagne der Rand-Linken wurde also in der Weise begegnet, daß man den neuen Wortgebrauch akzeptierte, aber bestritt, der Fall zu sein, auf den er paßt. Da begingen die Rand-Linken den Fehler, selbst parteieigene Repräsentanten der Linken Mitte als Konservative anzugrei­ fen. Wenn das so ist, mußte nunmehr die Reaktion derzuhörenden Öffentlichkeit sein, gibt es, sofern man nicht selbst zur Rand-Linken gehört, keine Chancen mehr, dem Vorwurf, ein Konservativer zu sein, zu entgehen; aber dann ist auch der Vorwurf selber irrelevant, ja man muß fragen, wer man denn eigentlich sei, sofern man dem Vorwurf, ein Konservativer zu sein, bislang noch entgangen war: war man vielleicht selber schon, reformeifernd, zum Rand-Linken geworden oder hatte man doch versäumt, in der Öffentlichkeit hinreichend deutlich zu machen, es nicht zu sein? In dieser wortgebrauchspoliti­ schen Lage war es nur eine Frage von Monaten, bis die Benen­ nungskampagne der Rand-Linken zusammenbrach. Es schwand die Angst, ein Konservativer zu heißen. Damit stand das Wort, dessen linke Schärfe noch vor kurzem so verletzend gewesen war, wieder zu Disposition einer Neuregelung seines Gebrauchs, und diese Neuregelung ist gegenwärtig überall zu beobachten. Natürlichwirdsiesovorgenommen, daß »konser­ vativ« nunmehr eine Politik gemäß explizierbaren Grundsät­ zen praktischer Vernunft heißt, die die Mehrheit jedem, nur

83

nicht den Rand-Linken oder sonstigen Extremisten zuerkennt. Die Anwendbarkeitsbreite des Wortes »konservativ« ist damit ungefähr so groß geblieben wie es den Rand-Linken vorge­ schwebt hatte. Aber das, was einer ist, wenn er nunmehr ein Konservativer heißt, ist ausgetauscht worden.

Anmerkungen 1 Aristoteles empfiehlt dieses Verfahren speziell zur Aufdeckung der Mehrdeutigkeit von Wörtern: Mehrdeutig ist ein Wort, im Verhältniszu dem mehrere Wörterein jeweils anderes -Gegenteil« bedeuten; vgl. Top 106 a 9ff.

2 3 4 5 6 7 8

9

10

11 12

13 14

15 16 17 18 19

Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik. Tübingen 1953. a.a.O.,S. 71-157: Die Beschränkung des Seins. a.a.O., S. 71. -Sein und Zeit aber ist ein Titel, der sich in keiner Weise den besprochenen Scheidungen gleichordnen läßt. Er weist in einen ganz anderen Bereich des Fragens«, a.a.O., S. 157. a.a.O., S. 12,28f., 46,111. Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959. »Wir aber überspringen jetzt diesen ganzen Verlauf der Verunstaltungen und des Verfalls und suchen die unzerstörte Nennkraft der Sprache und Worte wiederzu erobern; denn die Worte und die Sprache sind keine Hülsen, worin die Dinge nur für den lebenden und schreibenden Verkehr verpackt werden. Im Wort, in der Sprache werden und sind erst die Dinge... Was sagt nun das Wort?« usf., Einführung in die Metaphysik, a. a. 0., S. 11. Vgl. hierzu Klaus Prange: Heidegger und die sprachanalytische Philosophie. In: Philoso­ phisches Jahrbuch. Freiburg-München 1972 (79,1 ), S. 39-56. S. 40; ferner: Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Band I. Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik. Frank­ furt a. Μ., 1973, passim. Zur Struktur historischer Erklärungen vgl. meine Analyse: Was heißt: -Das kann man nur historisch erklären? «in: Fortschritt als Orientierungsproblem-Aufklärung in der Gegen­ wart, Freiburg i.B. 1975 Vgl. den Abschnitt »Zur Grammatik und Etymologie des Wortes «Sein«, Heidegger, a. a. O., S. 40-56. Vgl. Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen: Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens. Revidierte Ausgabe Mannheim 1967. §§ 2,3. Friederike Kempner: Der schlesische Schwan. Auswahl der Gedichte und Einführung von Gerhart Herrmann Mostar. Heidenheim 1953. Vgl. meine Abhandlung: Der Streit um Worte. Sprache und Politik. In: Hermann Lübbe: Bewußtsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität. Mach-Husseri-Schapp-Wittgenstein. Freiburg i. Br. 1972, S. 132-167. Peter Hartmann: Das Wort als Name. Struktur, Konstruktion und Leistung der benennen­ den Bestimmung. Köln und Opladen, 1958, S. 8. Aristoteles, Top 108 a 34-35. Vgl. dazu W. Dieckmann: Information oder Überredung. Zum Wortgebrauch der politi­ schen Werbung in Deutschland seit der Französischen Revolution. Marburg 1964, S. 83 f. Über -emotiv« vgl. W. P. Alston: Artikel »Emotive Meaning«. In: The Enzyclopedia of Philosophy, ed. P. Edwards. New York-London 1967, II, S. 486-493. Vgl. dazu S. J. Hayakawa: Semantik. Sprache im Denken und Handeln (1939 ff.). Aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Günther Schwarz. Darmstadt o. J., S. 208 ff.

84

Karl Dietrich Bracher

Sprache und Ideologie

Vorbemerkung

An den Wendepunkten der Geschichte wird die alte Frage nach den Ursachen und Zusammenhängen politischen Han­ delns und Verhaltens mit besonderem Nachdruck gestellt. So zahlreich und divergierend die Erklärungsversuche ge­ schichtlicher Prozesse von der frühesten Historie bis zur mo­ dernen Sozialwissenschaft sind, so unverkennbar hängen sie alle mit einem Grundproblem zusammen: dem spannungsvol­ len und ambivalenten Verhältnis von Politik und Sprache. Wörter und Begriffe sind nicht nurein unentbehrliches Mittel zur Beschreibung und Beurteilung geschichtlicher Erschei­ nungen, sie bilden seibstein wesentliches Element politischen Agierens, wirken als geschichtsmächtiger Antrieb der Verän­ derung und alsein Machtfaktor, dessen man sichzur Durchsetz

zung und Rechtfertigung der Politik seit je bedient hat. Von Thukydides über Machiavelli zu George Orwell waren es die scharfsinnigsten Beobachter der Politik, die jene Bedeutung der Sprache und ihrer möglichen Manipulation an entschei­ denden Punkten des historischen Denkens und Handelns her­ vorheben. Vor allem für Diktaturen, persönliche Willkürherr­ schaft und totalitäre Bewegungen gilt die Erfahrung, daß ihre Macht nicht zum geringsten auf der Anfälligkeit des Menschen für sprachlich geformte und verformte Ideen beruht, die sich als ein Verführungsnebel oder eine Zwangsjacke um sein Denk- und Aktionsvermögen legen; während er sich mit den großen Parolen identifiziert, wird erzureigenen Freiheit unfä­ hig gemacht. Aber auch in offenen, demokratischen Gesellschaften und Staaten zählt die Führung und die Verführung durch Worte, nun als Wettbewerb und Ringen um freie Zustimmung, zu den grundlegenden Faktoren gesellschaftlichen und politischen Handelns... 85

Schlagwörter und Ideologien

Unsere bisherige Betrachtung galt einer Reihe konstitu­ ierender und wiederkehrender Denkmuster und Denkfiguren, der Bedeutung geschlossener und offener Politik-Begriffe so­ wie den Chancen alternativen Denkens in der politischen Ideengeschichte. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Frage, mit welcher Wirkung die in einem spezifischen Zusammen­ hang entstandenen Begriffe verallgemeinert werden und wel­ che Bedeutung dies alte Problem unter den veränderten Di­ mensionen der Neuzeit,zumal der Massenkommunikation und 7 Weltzivilisation gewinnt. Sind historische Wörter, die sich in

·

demselben Maße von ihrem ursprünglichen Kontext entfer­ nen, in dem sie als Kampfbegriffe manipulierbar werden und in der gegenwärtigen Flut neuer Schlagwörter untertauchen1, überhaupt noch als aussagekräftig ernst zu nehmen, können sie noch etwas zum Verständnis der Geschichte leisten? Mit dem niederländischen Historiker Johan Huizinga (1934) ge­ sagt: »Ein historischer Terminus behält seinen Wert nur so lange, als er nach einer sehr bestimmten historischen Vergan­ genheit schmeckt, die man in greifbarer Gestalt heraufbe­ schwören kann2.« Neben den großen Denkfiguren sind es historische Einzelbe­ griffe, deren Entwicklung und Verwandlung zu Allerweltsbe­ griffen unser heutiges politisches Vokabular geprägt haben. Die Bezeichnungen der großen ideologischen Bewegungen stammen aus solchen Zusammenhängen, wobei zu beachten ist, daß dabei Selbstbezeichnung und gegnerische Markierung, Kampfbegriffund Kampf umden Begriff schwer entwirr­ bar ineinanderfließen. Auch an der Inanspruchnahme des Re­ naissancewortes Humanismus für eine kollektivistische Kampf- und Systemideologie wie die des Marxismus-Leninis­ mus erleben wir, wie der Sinn- und Geltungsbereich eines geschichtlichen Begriffs gesprengt wird. Besonders eklatant ist jedoch die Ausdehnung des Sozialismus-BegnUs, der zwar allen Vorläufern zum Trotz erst seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts Verbreitung findet, aber schon bald die kaum umgrenzte Reichweite vom linken bis zum rechten Flügel des Parteienspektrums gewinnt; er sprengt die ursprünglichen Grenzen sowohl zum liberalen Gegenbegriff wie zu den natio­ nalen und konservativen, ja auch zu prä-faschistischen und 86

prä-nationalsozialistischen Positionen, wird zu einem Ver­ satzstück fast aller Bindestrich-Ideologien (christlicher, natio­ naler Sozialismus) und erleidet als Schlüsselwort das Schick­ sal, jeweils als wahrer, echter, wirklicher Sozialismus abgeho­ ben und verbraucht zu werden. Eher erstaunlich mutet daher die Wiederbelebung der älte­ ren Abgrenzung an, die heute in Wahlslogans wie Freiheit oder/statt Sozialismus auftaucht. Als schlagworthafte Alter­ nativformel dient sie doch der demokratischen Auseinander­ setzung im legitimen Streit um Wähler und Regierungswech­ sel. Aber sie verdeutlicht zugleich, in der Konfrontation der Freiheitsfrage mit der Sozialismusfrage, die polemische Pround Contrafunktion des Allerweltsbegriffs Sozialismus, der in der Beziehung auf konkrete Systeme eine nichtindividualisti­ sche Ordnung signalisiert, aber als Menschenrechts- und Emanzipationswort zugleich das Freiheitspathosdes liberalen und nationalen Selbstbestimmungsgedankens in Anspruch nimmt. Neben der sozialdemokratischen Version des »freiheit­ lichen Sozialismus« zeigen sich selbst im erklärt kollektivisti­ schen Kommunismus trotz aller Repression solche Implikatio­ nen desSozialismusbegriffs, und vollendsfällt in den Definitio­ nen, die auf das neu belebte Schlüsselwort Solidarität abhe­ ben, die strikte Abgrenzung von Individualismus und Kollekti­ vismus dahin - und dies in den beiden großen deutschen Parteien. So sind auch die immer neuen Versuche zu verste­ hen, durch die Unterscheidung von sozial und sozialistisch Remedur zu schaffen: mit dem Ergebnis, daß alle Seiten sich eher des Wortes sozial bedienen, was wiederum zu den be­ kannten Schwierigkeiten der SPD im Verkehr mit ihren Links­ flügeln, teilweise auch mit den Bruderparteien der »Sozialisti­ schen« Internationale führt, aber die Abgrenzung zu erklärt sozialistischen Staaten kommunistischer Prägung markiert. Eine Lösung des Sozialismus-Problems zeichnet sich auch hier nicht ab, und die Brauchbarkeit der Begriffe bleibt selbst dann umstritten, wenn die einst so klare Gegenposition zum Kapitalismus in Anspruch genommen wird. Denn auf der Ta­ gesordnung bleiben auch nachderKatastrophedesHitlerregimes die Zwischenformen eines »nationalen Sozialismus«, der mit dem Anspruch eines »dritten Weges« zwischen Kapitalis­ mus und Sowjetkommunismus jetzt zumal in der Dritten Welt auftritt. Und zuletzt noch hat Ernst Nolte - am Ende seines

87

Buches »Deutschland und der Kalte Krieg« - den »universalen Begriff des »Sozialismus« als eine regulative Maxime« bezeich­ net, »die weder verdinglicht noch aufgegeben werden darf3«: verstanden wohl als eine betonte Gegenformel zum sowjet­ kommunistischen Sozialismus, die aber den Begriff zum wirk­ lichkeitsfernen philosophischen Faszinosum ausdehnt. Die in unseren Tagen wieder als weltweite Alternative be­ schworene Konfrontation Sozialismus-Kapitalismus, die dem Sozialismus den Zukunftsbonus gegenüber einem quasi end­ zeitlich abgewerteten »Spätkapitalismus« zuspricht, gerinnt auch deshalb zum oberflächlichen Klischee, weil heute der Kapitalismusbegriff, ähnlich dem Sozialismusbegriff, erst durch Adjektivierung und Differenzierung realitätsgerecht verwendbar wird, dies aber ebenfalls auf Misch- und Annähe­ rungsformen zwischen privaten und öffentlichen Wirtschafts­ faktoren hinweist. Daher die doppelte Beobachtung: Tendenz zur Sozialisierung des Liberalismus, aberauchzurLiberalisierung des Sozialismus. Im neueren Schlüsselwort von der sozialen Marktwirtschaft ist dieser Sachverhalt aufs wirkungsvollste zur Geltung ge­ kommen. Die Ersetzung des polemischen Negativwortes »Ka­ pitalismus« durch den konkreteren Sachbegriff der »Markt­ wirtschaft« macht nun freilich das alte Schema obsolet. Wenn vom »marktwirtschaftlichen Sozialismus4« oder auch vom »sozialistischen Markt« gesprochen wird, hat dies nicht nur taktische, sondern auch sachliche Gründe: es könnte ein Bei­ spiel sein für die Ablösung historisch überholter, politisch verbrauchter Begriffe, die sich weit von den Ursprüngen im Übergang vom Mittelalterzur Neuzeit, aberauch von derMarxschen Zeitanalyse und ihren dogmatischen Systematisierun­ gen entfernt haben. Denn auch terminologische Hilfskon­ struktionen wie »organisierterKapitalismus« können nurTeilaspekte erfassen, und das Schlagwort vom »staatsmonopoli­ stischen Kapitalismus« degradiert schließlich den Begriff zum lapidaren Schimpfwort oder zur total verzeichneten Simplifikation einerveränderten Wirklichkeit-jenereffektiven Ausge­ staltung der politischen, sozialen und ökonomischen Bezie­ hungen in einerfreiheitlich-sozialen Demokratie, die sich dem alten Schema als überlegen erweist. Ein weiterer Fall sei betrachtet, der unter deutschen Verhält­ nissen besondere Bedeutung besitzt: der des Antisemitismus.

88

An ihm kommt ein Grundphänomen der Schlüsselwörter, näm­ lich die Kollision von historischer Erfahrung und politischer Intention, schließlich die Entkonkretisierung und Enthumani­ sierung im Stereotyp, auf besonders bestürzende Weise zum Ausdruck. Es kann hier nicht auf die grotesken Widersprüche im Begriff selbst, auf die Identifizierung der Juden mit Semiten, auf die pseudowissenschaftliche Attitüde der Propaganda ge­ gen den Juden als Inbegriff des Negativen eingegangen wer­ den. Entstehung, zeitgeschichtliche Anwendung und Gegen­ warts-Bedeutung der antisemitischen Ideologie sind gekenn­ zeichnet durch ein Maß an Verflechtung irrationaler und ratio­ naler Faktoren, das wohl einzigartig genannt werden kann. Zu dem traditionellen religiös-kirchlichen und nationalen Grund­ bestand an Judenhaß kommt mit der Säkularisierung der »Ju­ denfrage« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertsdieganze Palette jener psychisch-sozialen und ökonomisch-politischen Spannungsmomente hinzu, die den Industrialisierungs-, Modernisierungs- und Nationalisierungsprozeß Europas kenn­ zeichnen und besonders radikal in der forciert raschen Ent­ wicklung des neuen Deutschland, zumal nach 1871, hervortre­ ten. Ihr entstammt auch der Antisemitismusbegriff selbst (Wil­ helm Marr 1879/80), dersich wie alle Antiwörterais Abwehrbe­ griff gegen eine allgemeine, alles überschattende Bedrohung versteht, auf die schlüsselhaft die Malaisen der Gegenwart zurückgeführt werden. An der großen Kontroverse der Historiker Treitschke-Mommsen (1879/80), aber mehr noch im Wirken deschrist­ lich-sozialen Hofpredigers Stoecker und in den völkisch-pu­ blizistischen Kämpfen der achtziger und neunziger Jahre tre­ ten die Ambivalenzen des modernen Antisemitismus beispiel­ haft hervor: seine Nähe zum Deutschtums-Nationalismus und zum sozialdarwinistischen Biologismus, aber auch zu einem jäh aufschießenden Antikapitalismus, der nicht einfach in das politische Schema rechts-links eingeordnet werden kann. Denn während Konservative und Radikale von rechts im Ju­ dentum vorallem diesozialistische, emanzipatorische, modernisierend-revolutionäre und internationale Komponente be­ kämpfen, bleibt auch ein linker Antisemitismus durchaus viru­ lent, der sich sogar auf Marx berufen kann. Seine beiden Elemente: der Antikapitalismus und später der Antizionismus, haben nach der barbarischen Vernichtungspolitik des Natio­

89

nalsozialismus und der Gründung des Staates Israel interna­ tional neuen Auftrieb erhalten; sie werden Bestandteile der anti-kolonialistischen und anti-imperialistischen Slogans. Man kann geradezu feststellen, daß antisemitische Stimmun­ gen im selben Maße zunehmen, in dem die Erwartungen an eine jüdische «Progressivität« (im linken Sinne) enttäuscht werden. Gewiß bleiben wichtige Unterschiede zwischen dem rassi­ stischen Stereotyp des Juden mit der letzten Konsequenz des Völkermords und dem sozial-antikapitalistischen Argument eines linken Antisemitismus, der das Wort vermeidet. Doch die Virulenz des Antikapitalismus spielt ja auch in der nationalso­ zialistischen Kultur- und Sozialideologie eine bestimmende Rolle, und eine antisemitische Latenz bleibt auch im sozialisti­ schen Schrifttum unverkennbar5, so daß die Behauptung, ein linker Antisemitismus sei seiner Natur nach nicht möglich, ebenso dogmatisch erscheint wie die emphatische Behaup­ tung unserer Tage, Terrorismus könne nie links sein, sei viel­ mehr-wozu hat man das Schlüsselwort-faschistisch. Leider zeigt die Erfahrung: Terrorismus kann beides sein, links und antidemokratisch, erklärt antifaschistisch und faktisch antise­ mitisch zugleich, antikapitalistisch undsowohleinerfaschistischen wie einer sozialistischen Zukunftsvision dienlich. Die jüngste Kontroverse überein als linke Kapitalismuskritik angelegtes Stück (Faßbinders «Der Müll, die Stadt und der Tod«, 1976), in dem der ausbeuterische Jude, als Hauptfigur und Stereotyp ohne Name, die bösen Aspekte der kapitalisti­ schen Stadt vertritt, zeigt die Aktualität jenes Problems auch in einer Nach-Auschwitz-Generation, die gerne aus der Ge­ schichte ausstiege. Verbindet sich das mit dem linken Engage­ ment für revolutionäre Palästinenser, so gewinnt die Antizio­ nismusparole eine durchaus einschlägige, weil irrationale In­ tensität, erweist sich der antisemitische Komplex als weiterhin aktuell. Als Stereotyp wie als Minderheit bleibt der Jude im Negativ-Wortschatz all jener Veränderer, die westliche Demo­ kratie als kapitalistisch und reaktionär verteufeln, auch nach­ dem nationalsozialistische Vernichtungspolitik und dann noch sowjet-sozialistische Diskriminierung die jüdischen Min­ derheiten in Europa so weitgehend beseitigt haben.

90

Das Beispiel des »Bürgerlichen«

Weitere Formen der Entwicklung, des Wandels und der ambivalenten, manipulativen Zerdehnung ursprünglich histo­ rischer Problemwörter könnten verdeutlichtwerdenanzahllo­ sen heutigen Allerweltsbegriffen mit polemischem Potential: So an dem »magischen Freiheitsbegriff« der Emanzipation oder an aktuellen Kampfwörtern wie antikapitalistisch und bürgerlich, Imperialismus und Kolonialismus6. Dabei ist wie­ derum bemerkenswert, welche Renaissance plötzlich der Bür­ gerbegriff in Neuworten wie Bürgerinitiative, Bürgerforum, Bürgerprotest, gerade von einer Seite erfährt, wo das Adjektiv »bürgerlich« zugleich weithin negativ besetzt bleibt7. Im Rückblick auf die großen Umwälzungen von sechs Jahr­ zehnten registriert man mit Erstaunen, in welchem Maße Be­ griffe und Prognosen der gegenwärtigen Gesellschafts- und Demokratie-Kritik, bis hin zur Verkündung einer geschichtli­ chen Wende und eines künftig »sozialistischen« Zeitalters, der Aufguß älterer Formeln in wenig neuem Gewände sind. Die Fortdauer oder Wiederaufnahme von Theorien und Thesen aus derzeit nach dem Ersten Weltkrieg, die inmitten der tiefen Brüche unserer Zeitgeschichte eine bemerkenswerte Konti­ nuität beweisen, tritt vor allem auch in den antibürgerlichen Parolen der heutigen Gesellschafts- und Kulturkritik hervor, mag diese, verschlüsselt in eine modisch komplizierte Termi­ nologie, sich noch so neuwertig gerieren: von der kritischen Theorie zum Neo-Marxismus begegnen uns Erscheinungen aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Auch was daran verändert ist - der Blick auf die Problematik der Dritten Welt zumal - wird zumeist mit den alten Formeln der Parlamentaris­ mus- und Kapitalismuskritik in ein ideologisches Prokrustes­ bett gezwängt. Zum dritten odervierten Mal-nach 1918,1933 und 1945 - findet das Ende des bürgerlichen Zeitalters statt: von der neuen Linken in einer Anpassung marxistischer Pro­ gnostik nun mit dem Untergangsverdikt »spätbürgerlich« oder »spätkapitalistisch« belegt, das ebenfalls alles andere als neu ist.8 In den gesellschaftlichen Konflikten und Umschichtungen nach dem Ersten Weltkrieg, die sich schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert machtvoll angekündigt hatten, spielte die Parole von der Krise und dem Ende des bürgerlichenZeitalters 91

eine zentrale Rolle. Als Stichwort besitzt es bis heute dieselbe Bedeutung wie das Wort von der Krise und dem Ende des Kapitalismus im Bereich der Wirtschaft, wenn die beiden nicht sogar geradezu gleichgesetzt werden. Das Bürgerliche war eine durch und durch europäische Sache, es bezeichnete den Durchbruch und die weltbedeutende Leistung des modernen Europa. Aber nun hieß es, die Zeit des Bürgertums sei in der Selbstzerfleischung des Weltkrieges vergangen, abgelöst von neuen Kräften und Schichten, vor allem von der Arbeiterschaft und den neuen Angestellten oder vom »neuen Nationalismus« der Kriegsgeneration und der Jugendbewegung. Nicht nur die Marxisten und Sozialisten, sondern auch ein Großteil der bür­ gerlich-nationalen und besonders der radikal nationalisti­ schen und antidemokratischen Schriftstellerund Propagandi­ sten der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg haben die großen Veränderungen in Gesellschaft und Staat vor allem auf diese Formel gebracht: Ende des bürgerlichen Zeitalters, Durch­ bruch des »Proletariats« (Lenin) oder des »Arbeiters« (Ernst Jünger). Es ist aber bezeichnend, daß die Begriffe meist in einer zwielichtigen Allgemeinheit verblieben. In Wahrheit kann von einem Untergang des Bürgertums biszum heutigenTage nicht gesprochen werden, und auch kaum von einem Ende seiner bestimmenden Rolle in den nichtkommunistischen Staaten; selbst unter der so betont neuen Gesellschaft des Kommunis­ mus glaubt man einen Prozeß der Verbürgerlichung nun auch der proletarischen Schichten beobachten zu können. Das ist eine Frage der soziologischen und psychologischen Maß­ stäbe, die man verwendet. Jedenfalls ist die Diagnose einer Krise des Bürgertums nur dann brauchbar, wenn sie auf einer differenzierteren Bestimmung als der marxistischen oder der faschistischen beruht. Es zeigt sich bei genauerer Betrach­ tung, daß eine soziale Schicht, eine wirtschaftliche Aktivität, eine politische Form, eine geistig-psychische Einstellung oder eine moralische Haltung gemeint sein kann, wenn von »dem Bürgertum« gesprochen wird, und so eng diese Bedeutungen Zusammenhängen mögen, so verschieden ist doch der zeitge­ schichtliche Befund. Schrille Stimmen von links wie von rechts künden schon im »bürgerlichen 19. Jahrhundert« selbst das Ende an, andere sehen dann Oktoberrevolution und Nachkrieg, Inflation und

92

Wirtschaftskrise, Faschismus und Nationalismus, schließlich die Zerstörung und Zerteilung Europas, die weltweite Ausbrei­ tung des Kommunismus und die Emanzipation der Dritten Welt jeweils als Datum des Untergangs. Im Rückblick tritt aber eher das Gegenteil hervor, nämlich ein dramatisches Auf und Ab von antibürgerlichen Bewegungen und Perioden, zugleich immer wieder der Vorgang der »Verbürgerlichung« bislang nichtbürgerlicher Schichten und Haltungen. Auch ist die Be­ obachtung nicht unbegründet, daß am Ende europäischer Weltherrschaft die Verwestlichung der Welt zu einer zuneh­ menden Verbreitung und Durchsetzung bürgerlicher Einstel­ lungen und Strukturen führt. Dies gilt ebenso für die innerge­ sellschaftliche Entwicklung. Das Verhältnis von Arbeiterklasse und Mittelschichten hat sich seit der Jahrhundertwende in den westlichen Industriestaaten kaum verschärft, in Deutschland sogar entschärft. Entgegen den marxistischen Erwartungen hat es jedenfalls gerade nicht einer Proletarisierung durch Verelendung Platz gemacht, sondern wirkt umgekehrt auf die Eröffnung neuer Aufstiegschancen für Unterschichten hin. Formen und Ideale bürgerlicher Kultur spielen dabei eine große Rolle, auch wo Klassenkonflikte und soziale Verschie­ bungen stattfinden. Das ging so weit, daß am Ende der Weimarer Republik die bürgerlichen Rechte und Freiheiten nicht zuletzt von der So­ zialdemokratie gegen das zu Hitler überlaufende Bürgertum verteidigt wurden - wie dann auch gegen den Kommunismus. Der Kampf gegen den Totalitarismus richtete sich zugleich gegen seine »antibürgerlichen« Züge, gegen die erschrekkende Perversion und Manipulation bürgerlicher Ideale, bür­ gerlicher Tugenden. Es kommt 1945 nicht ein sozialistisches Zeitalter, nicht jenes oft geweissagte Ende der bürgerlichen Ära, das selbst bürgerlich-aristokratische Widerstandsgrup­ pen etwa des Kreisauer Kreises erwarteten. Zu den Folgen des Zweiten Weltkriegszähltvielmehrdie Erneuerung parlaments­ demokratischer Kompromisse und Koalitionen, ein neues Ein­ pendeln der sozialen Verhältnisse in bürgerlich-freiheitliche Ordnungs- und Wertvorstellungen. Bemerkenswert, daß nach all den Umstürzen und Katastrophen nicht so sehr die Umwäl­ zung in den gesellschaftlichen Strukturen als vielmehr eine Verstärkung der Mobilität und Lockerung der Klassengesell­ schaft die eigentliche Veränderung ausmachen. Es beginnt so

93

etwas wie ein neues bürgerliches Zeitalter, in dem es zwar starke Linksparteien, aber zugleich ein größeres Maß an Kom­ promißfähigkeit als nach 1918 gibt: zugleich mit jener »Ameri­ kanisierung« der politischen und gesellschaftlichen Struktu­ ren, die nach 1945zum umstrittenen Thema der Reformdiskus­ sion in allen westlichen Demokratien wird. Gegenüber dem soziologischen Schematismus der Klas­ senbetrachtung ist denn auch nachdrücklich auf die histo­ risch-politische Erfahrung hinzuweisen, daß »das Bürgerli­ che« in der modernen Welt offenbar mehr bedeutet als nur eine vorübergehende soziale Schichtung, sondern ein allgemeines individuelles und soziales Bedürfnis, das-eine Art Stehauf­ mann-mit grundlegenden geistigen und moralischen Wertbe­ dürfnissen einhergeht. Es paßt weniger denn je in ein geradlini­ ges Geschichtsschema mit der lapidaren Sukzessionsformel Feudalismus-Bürgertum-Sozialismus, denn es behauptet ge­ rade auch heute seineerstrangige Bedeutung alseine ständige Alternative zu kollektivierenden, nivellierenden Formen der sozialen und staatlichen Organisation. Dabei bleibt beden­ kenswert, daßdasselbständige Bürgertum im Grunde stets nur eine kleine Schicht war, seine prägende Wirkung aber weit darüber hinausging. Für die gegenwärtige Diskussion über das angebliche Ende des bürgerlichen Zeitalters sind vor allem die folgenden Ge­ sichtspunkte hervorzuheben: Es gibt einen politischen Bürgerbegriff, der bis zur Gegen­ wart die Funktion und das Verhältnis des einzelnen zum Staat bezeichnet: von der griechischen Vorstellung des polîtes und der tragenden Rolle des »Mittelstandes« in der Polis (Aristote­ les) über den römischen civis (Cicero) zum citizen und citoyen, zur middle class in der Neuzeit. Die sozialen Bedingungen des Bürgerbegriffs wandeln sich im Laufe der neueren Geschichte: von der Stadt des Mittelal­ ters über die Modernisierung des Staates im Absolutismus zur Aufklärung, bürgerlichen Revolution, liberalen Bürgergesell­ schaft. In der Entwicklung der industriellen Massengesell­ schaft gelingt es freilich dem hochentfaltenen Bürgertum nicht, die seinen Bedürfnissen adäquaten Sozialstrukturen zu stabilisieren, vielmehr setzt es im Zivilisationsprozeß antibür­ gerliche Automatismen in Gang, die seine Weiterexistenz, die bürgerliche Lebensbasisselbst, auf Äußerste in Fragestellen9.

94

Das bürgerliche Zeitalter des 19. Jahrhunderts und sein Wertsystem gerät geradezum Zeitpunkt seinesscheinbar end­ gültigen Triumphs in eine tiefe Krise. Eine doppelte Anfech­ tung von links und rechts, die je unter dem Slogan des »Sozia­ lismus« vordringt, betont die egalitär-kollektiven gegenüber den individuell-liberalen Fortschritts- und Ordnungsvorstel­ lungen: als internationaler oder als nationaler Sozialismus. Die antibürgerliche Welle beschwört die Zerreibung, den Verlust der Mitte herauf. Aber der Niedergang des Bürgertums im Zeitalter der Welt­ kriege resultiert keineswegs im prophezeiten Verschwinden, sondern in einer Verallgemeinerung des Bürgerlichen, einer Tendenz zur allgemeinen Verbürgerlichung selbst unter »so­ zialistischen« Systemen, die mehr ist alsein residuales Überle­ ben historischen Bürgertums. Die politischen Formen sind verschieden, aber die bürgerrechtliche Komponente als Trä­ ger und Garant politischer Kulturtritt überall hervor; ihr Fehlen oder ihre Schwäche ist denn auch ein Hauptproblem der Drit­ ten Welt in der Gegenwart. Konstitutiv bleiben die Traditionen des politischen Bürgers nach den Modellen desfranzösischen Republikanismus und des englischen Parlamentarismus, blei­ ben die Axiome des middle-class-Egalitarismus in der betont nicht-sozialistischen Gesellschaft der USA, aber auch diefortdauernden »bürgerlichen« Ideale im Sozialismus-als unter­ schwellige Tendenz zum sozialen Aufstieg wie als menschen­ rechtliches Postulat. Die negativen wie die positiven Prägungen des Bürgerbe­ griffs, vom Spießbürger zum Staatsbürger und zur Bürgerini­ tiative, bilden denn auch bis zum heutigen Tag einen mächti­ gen Faktor des politischen und gesellschaftlichen Bewußt­ seins. Im Auf und Ab derEntwicklungDeutschlandshatsichdie Ambivalenz und Vieldeutigkeit des »Bürgerlichen« besonders gravierend ausgewirkt: im Versagen von 1933 wie im Wieder­ aufstieg nach 1945. Die Mißverständnisse der Diskussion von Hegel bis Habermas, die hierzulande vorwiegend spekulativ geführt wird, hängen auch mit der Tatsache zusammen, daß die empirisch begründeten Differenzierungen von citoyen, bourgeois, middle class im deutschen Bürgerbegriff vermischt und generalisiert auftreten. Die antibürgerlichen Wellen unserer neueren Geschichte signalisieren Kampfsituationen, aber nicht definitive, »ge­

95

schichtsnotwendige« Entwicklungen. Marxismus und Leni­ nismus, Nationalsozialismus und Neomarxismus, allesamtmit totalitärem Endzeitanspruch bewaffnet, haben in hundertfünf­ zigjähriger Folge ihre pseudowissenschaftlichen Prophezei­ ungen ausgestoßen. Zu früh und zu Unrecht! Die Eule der Minerva hat ihren Flug schon mehrmals vergeblich begonnen. Noch sind die Bürger freiheitlicher Staaten nicht gezwungen, vor ihrem Flügelschlag verführt oder resignierend zu kapitu­ lieren.

Sprache und Krise Der Kreis unserer Betrachtung schließt sich, wenn wir die Frage nach derWirkungderldeenundderihnenzugeordneten Wörter noch einmal in dem Zusammenhang sehen, derfür die Kultur- und Gesellschaftskritik seit je konstitutiv war: in der Polarisierung des Verfalls- und Fortschrittdenkens. Die Nei­ gung zur Dramatisierung und zur alternativen Zuspitzung hat auf der intellektuellen Bühne der zwanziger und dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts in Erwartungen oder Prophezei­ ungen der Katastrophe-als Untergang des Kapitalismus, der Demokratie, des Abendlandes - zu einem Krisenbegriff ge­ führt, der alle praktischen Lösungen überlagerte - und das nicht nur im Deutschland Oswald Spenglers10. Ähnliches scheint sich heute zu wiederholen: negative Utopien von der »brave new world« Aldous Huxleys (1932) bis zum totalen Atomstaat Robert Jungks (1977) können Antisystem- und Ge­ waltdenken nähren, aus der radikalen Warnung wird die seif fulfilling prophecy. Vor der düsteren Folie der Dekadenz wird ein Krisenvokabular entfaltet und dagegen die Verkündung des einzig möglichen Fortschritts abgehoben, der weltweit vorrückend im »Sozialismus« - damals wie heute - gesehen wird. Wieder liefert jene ideologische Polarisierung eine Schlüsselformel der Meinungs- und Begriffsbildung über­ haupt, hinter der eine undramatische Bemühung um kompro­ mißhafte Krisenbewältigung als intellektuell uninteressant verblaßt und geringschätzig als »bloße Praxis« abgetan wird. Der ahistorische Progressivismus unserer Tage operiert vor allem auch mùâemSchlùsseï^orieiner Demokratisierung,die totalistisch weit über alle staatlich-institutionelle Bedeutung

96

hinaus zur Aufhebung der traditionellen, doch freiheitssi­ chernden Spannung von Staat und Gesellschaft drängt. De­ mokratisierung steht zwar als Chiffre für die Werte und Pro­ zesse einer Befreiung aus historischen Zwängen, für eine »Modernisierung« gegen alte Abhängigkeiten. Abersieschafft neue Abhängigkeiten und Zwänge, getarnt oderverklärtdurch pseudo-legale und pseudodemokratische Begrifflichkeit und Begründung. In den totalitären Staaten wird der Scheincha­ rakter dieser »Befreiung« besonders wirksam. Statt Stände­ struktur oder Leibeigenschaft nun die zwingende Sozialbin­ dung oder gar die totalitäre Gefolgschaft; statt des GottesGnaden-Autokraten der plebiszitär-charismatische Führer; statt Herrschaft von oben die durch Akklamation verschleierte Tyrannei der angeblichen Volksmehrheit; statt abgestufter Ungleichheit die subtilen Zwänge einer egalitären Massenge­ sellschaft, in der, mit George Orwells Paradoxon zu sprechen, einige »gleicher« sind und die Minderheit einer »neuen Klasse« (Djilas) desto unumschränkterdominieren kann. Überhaupt beruhte Orwells Schreckensvision von der Sprachentmündigung als Hauptinstrument totaler Gleich­ schaltung auf derselben Einsicht, die Untersuchungen der »Lingua Tertii Imperii« (Viktor Klemperer) wie der Sowjet- und DDR-Sprache dartun (Hugo Moser): daß totalitäre Systeme eine neue Sprache der möglichst allgemeinen und ausschließ­ lichen Klischees durchzusetzen suchen, die »antitotalitäre Gedanken im Wortsinn undenkbar macht11«. Herrschaft wird sprachlich zementiert. Wir kennen schließlich die extremen Beispiele einer Pervertierung der Worte in totalitären Ideolo­ gien und Systemen, die immer bei der Pervertierung von Schlüsselwörtern ihren Ausgang nimmt. Das SS- und KZSystem legitimiert sich durch die in den geheimen HimmlerReden sanktionierte Verkehrung des äußersten Verbrechens in ein Heldentum neuer Moral12; die Euphemisierung von Wör­ tern wie Fanatismus und Endlösung, das Wörterbuch des Unmenschen, Goebbels’ Verschmelzung von Propaganda und Wirklichkeit sind Beispiele jener sprachlich-moralischen Per­ vertierung, die dem Volk den Zugang zur Wahrheit des Regi­ mes verstellen sollen. Der Stalinismus hat eine ähnlicheTechnik der Sprachzerstörung unter scheinbar konträren ideologi­ schen Prämissen geübt: der Einfluß der erstarrt formelhaften Sowjetsprache wirkt in den kommunistischen Parteien und

97

Regimen bis heute nach, und die Frage an den sogenannten Reform- und Eurokommunismus ist nicht zuletzt eine Frage nach dem Wahrheitsgehalt seiner Sprache, nach dem Verzicht auf die totalitäre Lüge in der politischen Terminologie. Auch im Wandel des Friedensbegriffs und in der neuen Friedensforschung, inzwischen ein beliebtes Feld dersich als progressiv verstehenden Gegenwartskritik und Zukunftsver­ heißung, wird dies beispielhaft sichtbar. Friede als Thema und Ziel der Politik ist seit der Antike ein Leitwort, Friedenssiche­ rung liegt den mittelalterlich-feudalen und christlichen Ordnungs- und Herrschaftsbegriffen zugrunde, in der Neuzeit wird weltweiter Friede durch ein neues Völkerrecht, durch allge­ meine Aufklärung im Sinne Kants, durch Gleichgewicht in der internationalen Politik wie in der Innenpolitik erwartet. Immer ist der Friedensbegriff, bezogen auf einen Konfliktbegriff, in der Gefahr der ideologischen Manipulation. Auch die Hoff­ nung, diese in den Friedensreden der Diktatoren, der Eroberer und Unterdrückerzumal unseres Jahrhunderts bewiesene Ma­ nipulierbarkeit aufzuheben durch eine umfassende Friedens­ wissenschaft, muß zunächst Distanz gewinnen von einer ein­ seitig-totalen Friedensideologie ohne Reziprozität und von ihrem Hilfswort totale Abrüstung, an dem schon der histori­ sche Pazifismus gescheitert ist: zum Frieden gehören beide Seiten. Ob sie nun von »Friedenspolitik« reden (wie Hitler), wenngleich ihr ganzes Politikverständnis auf Kampf und Krieg aufbaut, ob sie den »Kampf für den Frieden« führen (wie der Kommunismus), wenngleich die Zerschlagung des »Klassen­ feindes« im Inneren und dertotale Sieg des Sozialismus in der Welt das alles rechtfertigende Ziel ist: der totalitäre Friede ist nichts anderes als Instrument oder Sanktionierung einer Gleichschaltung und Herrschaft ohne Opposition. Erst die Reduzierung des Zauberworts auf die historische Erfahrung und den Wirklichkeitsbezug kann den Ansatz freilegen, von dem aus dieser Zentralbegriff der Geschichte und Politik sei­ nen Wert für unsere gefährdete Gegenwart gewinnen kann. Von Schlüsselwörtern in der Geschichte ist also in zweifa­ cher Hinsicht zu sprechen: (1) Sie sind Vehikel der notwendi­ gen Begrifflichkeit und Verständigung; und (2) sie sind Träger von Interpretation und Wertung, Überzeugung und Gleich­ schaltung. Im ersten Fall geht es um den sachlichen Bezug, die Weitedes Begriffs und seine Eigung für Vergleiche: für Histori­

98

ker und Sozialwissenschaftler also um die Frage, wo besser engere Eigenbezeichnungen oder weitere Vergleichsbegriffe zu benutzen sind. Völlige WertfreiheitindemSinne, wieesMax Weber fordert, ist freilich auch bei Bildung eigener Begriffe und Vermeidung schon gängiger Schlüsselwörter nicht zu erreichen. In jedem Wort- und Begriffsgebrauch steckt bereits^— eine Einordnung und Wertung. Aber bewußter, betonter geht es dann im zweiten Fall um geschichtsphilosophische, politi­ sche und allgemein menschliche Werte. Es kommt darauf an, ob beim Untergang des Römischen Reiches von Barbaren oder jungen Völkern, von Katastrophen- oder Kontinuitätstheorie, gar von einer »remarkable series of revolutions« gesprochen wird, oder ob auf die karolingische Kultur und andere Blütezei­ ten nachträglich das Wort von der Renaissance angewandt wird13. Für die zeitgeschichtliche Interpretation der Jahre 1930-34 ist z. B. bedeutsam, ob von »Auflösung« derWeimarer Republik, von »nationalsozialistischer Revolution« oder von »faschistischer Gegenrevolution« die Rede ist; welcher Ge­ brauch überhauptvon deutenden Vokabeln wie reaktionär und modern, von konservativ und progressiv, von Revolution, Putsch oder Staatsstreich gemacht wird; ob man nicht der begründeten Auffassung ist, daß ein konkreter Begriff wie Machtergreifung der vergleichenden Betrachtung moderner politischer Umwälzungen überhaupt adäquater ist. Freilich werden die Liebhaber eines ideologischen, wertbesetzten Re­ volutionsbegriffs allergisch reagieren, wenn der Machtergreifungs- und Totalitarismusbegriff an die Stelle der Idee von der »guten Revolution« und des Mythos von der »progressiven Diktatur« gerückt und damit das Ähnliche, Vergleichbare, für die betroffenen Menschen Relevante-die politisch-staatliche Unterdrückung - statt ideologisch begründeter Unterschiede herausgehoben wird14. Weitere Gegensatzpaare mit einem Ideologiegehalt, der aus den Zerklüftungen der neueren deutschen politischen Ideen­ geschichte stammt, treten z. B. in Gegenüberstellungen wie Staat und Gesellschaft, Gesellschaft und Gemeinschaft, Kultur und Zivilisation, Geist und Intellekt hervor: ihr emotionales i Gewicht übertrifft den tatsächlichen Gehalt. Dasselbe trifft auf , die hochabstrakte Begriffsentwicklung in unserem Massen­ zeitalter zu; naturwissenschaftlich exakte und technische Be­ griffsanalogien drängen an die Stelle konkret-sinnlicher Be-

99

Zeichnungen, auch in der gesellschaftlichen und politischen Welt. Aber zugleich meldet sich das Bedürfnis nach einer »Tendenzwende« zugunsten menschlich-unmittelbarer Werte; als Entpolitisierung kritisiert, ist sie doch wesentlich eine Wendung gegen abstrakte Begriffsinflation und Wortver­ führung durch Medien und ideologisch gestanztes Vokabular: spätes Zeichen der Rückbesinnung auf eine Sprache, die ei­ gene Gedanken ermöglicht.

»



100

Anmerkungen 1 Vgl. etwa A. David Nunn, Politische Schlagwörter in Deutschland seit 1945, Gießen 1974; vorher grundlegend: Otto Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch, 1968. 2 Zitiert nach Fritz Stern (Hrsg.), Geschichte2, S. 302; hier im Zusammenhang mit der Kritik an einer »Inflation des Renaissance-Begriffs«. 3 Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, München 1974, S. 619. 4 So etwa Eduard Heimann und Heinz Dietrich Ortlieb: vgl. die Aufsätze in Wirtschaft und Gesellschaft, Ordnung ohne Dogma, hrsg. von E. Arndt, W. Michalski, B. Molitor, 1975. 5 Vgl. Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage, Berlin 1962 und besonders H. H. Knütter, Die Juden und die deutsche Linke in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1971, S. 123ff., ferner Hendryk Μ. Broder, »Antizionismus-Antisemitismus von links«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 24/76, S. 31 ff. 6 Zu den raschen Wendungen und Ideologisierungen in der Emanzipationsdebatte, vor allem auf dem kritisch-pädagogischen Kampffeld des letzten Jahrzehnts, vgl. die Über­ sicht von Jürgen Oelkers, »Emanzipation - Erziehungsziel von gestern?« in: Neue Politische Literatur 22 (1977), S. 141 ff.; sowie Theodor Wilhelm, Jenseits der Emanzipa­ tion, Pädagogische Alternativen zu einem magischen Freiheitsbegriff, Stuttgart 1975. Man hat ferner darauf hingewiesen (Bergsdorf, Die sanfte Gewalt-Sprache-Denken-Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 24/77, S.44f.), daß sowohl Adenauer wie Brandt »Meister von Politik durch Wörter« sind, und wie der politische Wechsel von der Ära Adenauer zur Periode der sozialliberalen Regierung in der Bundesrepublik durch den Wechsel von Schlüsselwörtern signalisiert und legitimiert wird: vonden Adenauerformeln Wiedervereinigung und Europäische Einigung zu den Brandtformeln Friedenspolitik und Reformpolitik. 7 Auch für differenziertere Betrachtungen scheint das »Bürgertum« keinegeeignetesozialwissenschaftliche Kategorie mehr zu sein: vgl. die Artikel von F. Steinbach, O. Köhler in Staatslexikon, Bd. 2, Freiburg/Br. 1958, Sp. 313: H. A. Winkler, in Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd. 1, Sp. 934 f., 949; Μ. Riedel in: Geschichtliche Grundbe­ griffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Rheinhart Koselleck), Bd. 1, S. 722ff. Zum folgenden ausführli­ cher jetzt K. D. Bracher, EndedesbürgerlichenZeitalters, Betrachtungenzurantibürgerli ­ chen Welle der Zwischenkriegszeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Bd. 48/78, S. 6 ff. 8 Daß die kritische Welle des letzten Jahrzehnts eher ein Restaurationsphänomen ist, zeigt die Überflutung zumal des Taschenbuchmarkts mit großteils älterer Linksliteratur, die als völlig neue Wissenschaft glorifiziert wird, obwohl sie die Kämpfe der zwanziger Jahre austrägt; das gilt z. B. auch für die »kritische Theorie«, deren jüngere Vertreter gleichwohl den älteren Frontstellungen verhaftet sind. Auch bei Parolen wie »Spätbürgertum« und »Spätkapitalismus« handelt es sich um ältere Begriffe, die schon seit Ende des 19. Jahr­ hunderts polemisch verwendet wurden, und zwar besonders auch in der »rechten« Kritik bis hin zur Konservativen Revolution: Beispiel für die Affinität von rechter und linker Systemkritik. So spricht die TAT 1930 vom »Todeskampf des Spätkapitalismus« macht die Neue Linke wiederum Anleihen beiCarlSchmitt.Besondersoberflächlichdie neomarxisti­ sche Gleichsetzung von bürgerlich und faschistisch bei Reinhard Kühnl, Formen bürger­ licher Herrschaft, Liberalismus, Faschismus, Hamburg 1971. 9 Vgl. auch Alfred Weber, Der dritte und der vierte Mensch, 1953 10 Vgl. George Watson, »The Myth of Catastrophe«, in: The Yale Review 65 (1976), S. 357ff. am Beispiel Englands. Jetzt auch in: G. Watson, Politics and Literature in Modern Britain, London 1977, S. 98 ff. (mit wichtigen weiteren Aufsätzen). 11 Bergsdorf, a. a. O., S. 39 mit den Nachweisen. 12 K. D. Bracher, Die deutsche Diktatur, 5. Aufl. 1976, S. 456ff. 13 So schon die klassische Darstellung von Edward Gibbon, Decline and Fall of the Roman Empire (1776); vgl. besonders (mit Nachweisen) Johannes Straub, »Gibbons KonstantinBild«, in: Pierre Ducrey (Ed.), Gibbon et Rome. Genf 1977, S. 159 ff. Ferner die reichhaltigen Analysen in: Edward Gibbon and the Decline and Fall of Roman Empire. Daedalus (Summer 1976), besonders S. 137ff. Zum Denkstil Gibbons Peter Gay, a.a.O., S. 21 ff. Zur Anwendung des Revolutionsbegriffs Friedrich Vietinghoff, »Der Übergang von der -An­ tike« zum »Mittelalter« und die Problematik des modernen Revolutionsbegriffes«, in P. E. Hübinger (Hrsg ), Zur Frage der Periodengrenze zwischen Altertum und Mittelalter, Darmstadt 1969, S. 298 ff. 14 Vgl. vom Verfasser (der darob scharf kritisiert wird): Zeitgeschichtliche Kontroversen, München 19762, S.6ff.; 61 ff.; 91; Die Krise Europas 1917-1975 (Propyläengeschichte Europas, Bd. VI), Berlin 1976, S. 34 ff.

101

Wolfgang Bergsdorf

Die Sprache der Diktatur und ihre Wörter Zur Technik nationalsozialistischer und kommunistischer Sprachlenkung in Deutschland1

Ausdörren und hinsiechen Die Träume vergilben verschwinden An den Wurzeln der Standpunkte hat Fäulnis gesiegt. Eine andauernde Vergilbung durch Worte Eine fortwährende Angst vor der Angst zieht alles nach sich. Mit Hilfe von Wachs und Lack kann im Schaukasten Dasein unnachahmlich vorgetäuscht werden.2 So alt wie politische Herrschaft ist der Versuch der Herr­ schenden, den von ihnen Beherrschten die Verwendung der Sprache vorzuschreiben, alten Begriffen neue Bedeutungen zu geben, neue Begriffe zur symbolischen Rechtfertigung ihrer Herrschaft einzuführen. Diesem Versuch liegt die An­ nahme zugrunde, daß die Sprache als System von Symbolen mit dazu beiträgt, ein gleichförmiges Verhalten zu schaffen und das Denken, Wollen und Fühlen von vielen Menschen zu vereinheitlichen und so politische Herrschaftsausübung zu erleichtern. Nicht nur Gewaltherrscher, sondern alle, die politische Herr­ schaft ausüben, haben deshalb immer wieder mit unterschied­ lichen Erfolgen Sprachbeeinflussung und Sprachlenkung be­ trieben. Einige Historiker verstehen Geschichte deshalb als einen fortdauernden Kampf um die Sprache. Die symbolische Methode der Herrschaft, der Einsatz der Sprache als Instrument der Politik, macht die Anwendung der physischen und ökonomischen Herrschaftsmethoden nicht überflüssig, sie erlaubt es jedoch, den Einsatz von Gewalt und

102

die Anwendung ökonomischer Sanktionen auf den Extremfall einzuschränken. Die Sprache als Instrument der Politik wird so für jedes politische Gemeinwesen unabhängig von seiner Ideologie unverzichtbar und für die Legitimität der Herrschen­ den wesentlich. Sprache ist Politik, und Politik ist Sprache in dem Maße, in dem Herrschaft nicht nur auf physischer und ökonomischer Gewalt beruhen kann, sondern auf Dauer die Zustimmung der Beherrschten verlangt. Je stärker politische Macht auf physischer Gewaltanwen­ dung beruht, desto größer wird derZwang zur Rechtfertigung, desto umfangreicher wird Einfluß auf die Sprache ausgeführt, um neue, die bestehende politische Ordnung stabilisierende Sprachregelungen durchzusetzen. Das ist der Grund dafür, daß in autoritären und totalitären Staaten die physische Me­ thode der Herrschaftsausübung den Einsatzdersymbolischen Methode nicht zurückdrängt, sondern um so notwendiger macht. Herrschaft vor allem durch Gewaltanwendung macht Einfluß auf Sprache und Einsatz von Propaganda nicht über­ flüssig, sondern verlangt ihn in besonderem Maße. Heinrich Böll hat in seiner Jerusalmer Rede 1974 unter dem Motto »Ich bin ein Deutscher« den Zusammenhang zwischen politischer Unfreiheit und sprachlicher Freiheit untersucht und dabei festgestellt: »Es ist kein Zufall, daß jede Unterdrükkung mit der Unterdrückung der Sprache anfängt und damit auch mit der Unterdrückung der Literatur. « Zweimal hat in Deutschland während der letzten 50 Jahre der Staat den Versuch unternommen, übereine Lenkung der Spra­ che das Denken und Verhalten der Menschen zu lenken. Nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten 1933 und nach dem 2. Weltkrieg in der DDR haben die jeweils Mächtigen mit teilweise ähnlichen Methoden und unterschiedlichen Erfol­ gen, jedoch mit der gleichen Zielsetzung die Sprache vor allem der Politik bewußt und planvoll geändert, um die ihren politi­ schen Vorstellungen und Zielen anzupassen.

Nationalsozialistische Sprachlenkung Das Naziregime hatte zunächst keine Theorie über Sprach­ lenkung und ihre Ziele. Die Methode ergab sich aus der Praxis, theoretische Überlegungen ergaben sich aus der erfolgrei­ 103

chen »Gleichschaltung«3, mit der Hitler schon sehr früh auch die Voraussetzungen für eine ebenso erfolgreiche Sprachlen­ kung geschaffen hatte. Bereits wenige Monate nach der sogenannten Machtergrei­ fung, am 4. Oktober 1933, verabschiedetedie Reichsregierung das »Schrif^^ nicht nur Ausländer, Juden und

IG

mit Juden verheiratete Deutsche vom Beruf des Schriftleiters ausschloß, sondern auch festlegte: § 14: »Schriftleiter sind in Sonderheit verpflichtet, aus Zei­ tungen alles fernzuhalten: 1. was eigennützige Zwecke mit gemeinnützigen in einer die Öffentlichkeit irreführenden Weise vermengt, 2. was gegeignet ist, die Kraft des Deutschen Reiches nach außen oder im Innern, den Gemeinschaftswillen des deut­ schen Volkes, die deutsche Wehrhaftigkeit, Kultur oder Wirt­ schaft zu schwächen oder die religiösen Empfindungen anderer zu verletzen, 3. was gegen die Ehre und Würde eines Deutschen verstößt, 4. was die Ehre oder das Wohl eines anderes widerrechtlich verletzt, seinem Rufe schadet, ihn lächerlich oder verächt­ lich macht, 5. was aus anderen Gründen sittenwidrig ist.« Dieses Gesetz mit seinen verschwommenen Begriffen zer­ störte die Pressefreiheit und erlaubte es den neuen Machtha­ bern, alle unerwünschten Redakteure und Journalisten, die sich nicht der neuen Ordnung fügen wollten, ausden Zeitungs­ redaktionen zu entfernen. Von diesen Möglichkeiten machte der Kopf des nationalsozialistischen Propagandaapparates Joseph Goebbels reichlich Gebrauch. Er war es, bei dem nicht nur alle Fäden der Personalpolitik, sondern auch die Drähte der Sprachlenkung des Dritten Reicheszusammenliefen.Am12. Februar1942notierterinseinem Tagebuch: »Ich veranlasse, daß von unserem Ministerium Wörterbü­ cher für die besetzten Gebiete vorbereitet werden, in denen die deutsche Sprache gelehrt werden soll, die aber vor allem eine Terminologie pflegen sollen, die unserem modernen Staats­ denken entspricht. Es werden dort vor allem Ausdrücke über­ setzt, die aus unserer politischen Dogmatik stammen. Das ist eine indirekte Propaganda, von der ich mir auf die Dauer einiges versprechet 104

Eine Woche später schreibt er: » Von Attentaten soll man im Kriege weder im negativen noch im positiven Sinne reden. Es gibt gewisse Worte, die wir scheuen müssen wiederTeufeldas Weihwasser, dazu gehören z. B. die Worte >Sabotage< und >Attentat erfunden hat, erwarb sich einen Weltrekord an Zynismus. Diese Wortneuschöpfung soll mit einfachen sprachlichen Mitteln die endgültige Lösung eines Problems andeuten und istzum Inbegriff einersprachli­ chen Lüge geworden, hinter der sich die Ermordnung von Millionen Menschen verbirgt. Der Schriftsteller und Sozialwissenschaftler H. G. Adler, der in Theresienstadt und anderen Konzentrationslagern gelitten hat, macht auf die Vielzahl der Euphemismen im Nazi-Jargon aufmerksam, mitdem der Begriff Töten umgangen wird. Neben Abwandern, Evakuieren, Abschieben, Ghettoisieren, Sonder­ betreuen, Ausmerzen - alles Verschleierungswörter für die 109

systematische Tötung von Juden - beschäftigt sich Adler mit einem der übelsten Euphemismen nationalsozialistischen Ur­ sprungs: »’Sooderbehandlung* oder kurz >SB< ist ein Wort, das in den schlimmsten Verruf geraten ist. Es gehört zu den fürdieSprache des Nationalsozialismus typischen Ausdrücken abstrak­ ten Charakters, wo die konkrete Bedeutung total verwandelt und aller Bildkraft entfremdet wurde. ’Behandlung*, beson­ ders gern von ärztlicher Tätigkeit gesagt, läßt zunächst nichts Sinistres vermuten, obwohl ’sonder* als erster Teil des Wortes eben auf etwas Ungewöhnliches, also ’Sonderbares* hinweist, das zumindest im nachhinein einen unguten Verdacht weckt. So ist es auch kennzeichnend, daß nicht nur die deutsche Exekutionsmannschaft für die vom legalen Machtinhaber an­ geordnete illegale Hinrichtung und Massenhinrichtung ’Son­ derkommando* heißt, sondern ebenso dieausjüdischen Häft­ lingen bestehende Hilfsmannschaft, die mit der Tötpng nicht befaßt war, aber beim Entkleiden und dann bei der Leichenver­ tilgung sowie anderen Hilfsarbeiten in Zusammenhang mit dem Mordwerk mitwirken mußte. Die mörderische Bedeutung von ’Sonderbehandlung*, die auch in dem Wortpaar ’geson­ dert unterbringen* enthalten war, mußte nicht immer auftreten, wo im Umkreis der SS das Wort einmal gebraucht wurde, obwohl in dieser Sprachschicht auch seine harmlosere An­ wendung unheimliche Gefühle fast immer mit Recht weckt, weil Zusammensetzungen mit ’sonder* anrüchig wirkten, so etwa auch ’Sonderaktion*, mit welchem Wort man die Vernich­ tung von Gegnern und Massenexekutionen umschrieb12.**

Mobilisierung der Emotionen Weiteres Kennzeichen der nationalsozialistischen Sprache war ihre emotionale Aufblähung der Wörter aus dem militäri­ schen und religiösen Bereich, die Gefühle aktivieren sollten. Hierzu gehörten: Einsatz, einsatzbereit, Einsatzwille, Arbeits­ einsatz, Front, Rechtsfront, Arbeitsfront, Einheitsfront, Schlacht, Arbeitsschlacht, Erzeugungsschlacht, Geburten­ schlacht, Ernährungsschlacht, Opfer, Blutopfer, Glaube, Vor­ sehung, Wegbereiter, Orden, Blutorden, Ordensstaat, Zeuge, ewiges Reich u.a. Christa Berning behauptet, die kämpferi­ 110

sehe Politik des NS-Regimes verlangt »den Primat des Han­ delns und seiner irrationalen Motive über das Denken. Auch hier dient die Sprache als entscheidendes Führungsmittel·. Je mehr dynamisches Wortinventar die Sprache enthält, desto leichter wird der Mensch zur Aktion geführt13. « Die Sprache der Nationalsozialisten war keine neue Spra­ che. Sie übernahmen das meiste aus dem Deutsch der Weima­ rer Republik und des Kaiserreiches. Aber sie veränderten die emotiven Bestandteile vieler Begriffe und die Häufigkeit ihrer Verwendung. Was früher Sprachgebrauch einzelner Gruppen war, beschlagnahmten sie für den politischen Sprachge­ brauch und unterwarfen Wörter, Wortgruppen und Satzver­ bindungen der Politik Hitlers. Der politischen Sprachederbrutalen Nazi-Gewaltherrschaft wird man mit dem Begriff Propaganda nicht gerecht. Denn die Feststellung von Propaganda setzt die Fähigkeit voraus, eine propagandistische Behauptung von der Wirklichkeit unter­ scheiden zu können. Und genau diese Fähigkeit wurde von den sprachlichen Machthabern des Dritten Reiches »ausgemerzt«, um eine andere euphemistische Vokabel der Nazizeitzu benut­ zen. Dietotale Beherrschung der Massenmedien, die lückenlo­ sen Erfassung durch Massenorganisationen, der offene Ter­ ror, die verdeckte Erpressung haben die für die Zwecke der Machtausübung manipulierte Sprache der Herrschenden auch zur Sprache der Beherrschten gemacht. Lüge ist das Merkmal aller totalitären Sprachpolitik, die den Sinn von Wörtern in ihr Gegenteil verkehrt. Die nationalsoziali­ stische Sprachzerstörung hat ihre Vorbilder und ihre Nachfol­ ger in der kommunistischen Sprachverfälschung, deren Opfer Nadesha Mandelstam, die Frau des sowjetischen Lyrikers Os­ sip Mandelstam, in ihrer Autobiographie Das Jahrhundert der Wölfe ihre Stimme leiht: Ich hatte gelogen. Noch heute schäme ich mich deshalb. Hätte ich damals die Wahrheit gesagt, so wäre uns kaum die Atempause vergönnt gewesen. Ob man wohl lügen mußte? Durfte man lügen? Ist eine Lüge zur Rettung gerechtfertigt? Ohne Lüge hätte ich diese entsetzlicheZeit nicht überlebt. Und ich habe das ganze Leben über gelogen14.« Nadesha Mandelstam beschreibt nicht nur ihre kluge Rolle bei der Verteidigung und Abschirmung ihres Mannes, sie ist auch eine Beobachterin sowjetischer Sprachveränderung:

111

»So seltsam es war, das Wort Gewissen war bei uns völlig aus der Umgangssprache entschwunden. Weder in Zeitungen, noch in Büchern noch in der Schule wurde es verwandt, denn seine Funktion hatte anfangs das Wort >Klassengefühl< und dann >Nutzen für den Staat< übernommen. Nur drinnen, in der Haft, gab es dieses Wort noch und wurde zielgerecht einge­ setzt. Dort wurde den Untersuchungsgefangenen ständig mit >Gewissensqualen< gedroht. Boris S. Kusin hat erzählt, wie sie ihm zugesetzt haben, als sie ihn aufforderten, ein Spitzel zu werden. Sie schreckten ihn mit Arrest und führten ihm seine Gewissensqualen vor Augen, wenn er auch noch seine Familie in Armut zöge, weil er den Vorschlag der Organe nicht an­ nehme15.«

Theoretische Grundlagen marxistischer Sprachlenkung

Anders als die nationalsozialistische Sprachlenkung, die — ohne Einbettung in theoretische Überlegungen überdie Funk­ tion und Bedeutung der Sprache - aus der Praxis heraus entwickelt wurde, basiert die kommunistische Sprachlenkung auf der marxistischen Ideologie und ihren Schlußfolgerungen für die Sprache, wie sie Karl Marx in der Deutschen Ideologie festgehalten hat: »Die Sprache ist die unmittelbare Wirklich­ keit des Gedankens.« Er will damit eine untrennbare Verbun­ denheit, nicht aber eine Identität behaupten und stellt fest, daß Sprache das von der Ideologie geforderte materielle Substrat des Denkens sei. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Stalin auf der Höhe seiner Macht sich in mehreren, in ihrer Bedeutung noch heute für die sowjetischen Wissenschaftler gültigen Aufsätzen mit der Rolle der Sprache beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft befaßt hat16. Der sowjetische Diktator hat den politisch nur anscheinend harmlosen Gegenstand der Sprache benutzt, um den für den Marxismus völlig neuen Begriff der »Revolution von oben« auch durch sprachliche Mittel einzuführen. Er wollte mit diesen Aufsätzen klarmachen, daß die faktische Herrschaft der Sowjets nun auch sprachlich zementiert wer­ den müsse. Die Hoffnungen auf eine sozialistische Utopie hat Stalin in diesen Aufsätzen umgelenkt in die Unausweichlich­ keit einer kommunistischen Ideologie. Stalin folgert daraus, 112

daß »die Sprache ein Werkzeug des Kampfes und der Entwick­ lung der Gesellschaft« ist17. Daß die Führung eines sozialistischen Staates, die alle Machtmittel in ihrer Hand bündelt, auf die Sprache Einfluß zu nehmen und sie zu lenken versucht, ergibt sich aus ihrer Ideologie, die verlangt, alle Maßnahmen zu ergreifen, um den Sozialismus zu verwirklichen. Georg Klaus, führender Philo­ soph und Kybernetiker in der DDR, definiert als Aufgabe der Sprache der Politik, die Verhaltensweise von Menschen zu beeinflussen. »Es soll mit ihrer Hilfe das Verhalten der Men­ schen in der Produktion, im öffentlichen Leben, ihr morali­ sches Verhalten so geändert werden, daß damit den Zielen des Aufbaus des Sozialismus maximal gedient wird13. « Das, Instrumentarium sozialistischer Sprachlenkung in der DDR ist differenzierter als im Dritten Reich. Administrative Mittel wie Verbot und Vorschrift von Vokabeln sind selten, administrativ geregelt wird der Informationsfluß insgesamt. Klaus begründet dies mit folgenden Worten: »Der politisch aufgeklärte Mensch... weist Informationen, die (ihm) schäd­ lich sind, ab und gestattet nicht, auf das Bewußtsein, d. h. den Informationsspeicher mit einem schon vorhandenen Inhalt einzuwirken... Feindliche Informationen (sollen) als das er­ kanntwerden, wassiesind, nämlich Stör-undTäuschungsmanöver, die, wenn sie kritiklos hingenommen werden, den be­ treffenden kybernetischen Organismem (Individuen, Klassen­ gruppen usw.) schaden. In besonders kritischen Fällen wird diese Informationssiebung nicht nur durch politische Über­ zeugung veranlaßt, sondern auch durch Zwang auf der Grund­ lage entsprechender Gesetze des sozialistischen Staates... Das ideologische Tabu wird durch ein administratives er­ setzt™.« Ebenso bemerkenswert wie die Offenheit, mit der Klaus die administrative Informationsregulierung, die Zensur rechtfer­ tigt, ist seine Sorge, daß die Vielzahl von Informationen, wiesie in westlichen Ländern über die Massenmedien angeboten werden, den Menschen dort »völlig zum blinden Spielball der Manipulation« machten20. Das wichtigste Instrument der Sprachlenkung in der DDR sind nicht wie im Dritten Reich die Tagesbefehle des Propa­ gandaministeriums, sondern Sprachregelungen der politi­ schen Autoritäten und des SED-Zentralorgans Neues 113

Deutschland sowie der Nachrichtenagentur ADN. Jegrößerdie politische Autorität des Sprechers, desto detaillierter wird die von ihm vorgeprägte Sprachregelung von anderen Massen­ medien und den berufsmäßigen Agitatoren übernommen. Dies gilt nicht nur für kommentierende Stellungnahmen, sondern auch für Begriffe und Bedeutungen21. Charakteristisch ist eine Äußerung Honeckers über die Tä­ tigkeit westdeutscher Journalisten in der DDR, die sowohl die sozialistische Umwertung des Freiheitsbegriffes erhellt wie auch das sozialistische Verständnis von Pressefreiheit klar­ stellt. In einem Interview mit der Saarbrücker Zeitung (zitiert nach ND vom 7. Juli 1978) erklärt Honecker: »Die journalisti­ sche Tätigkeit einiger in der DDR akkreditierter Korresponden­ ten aus der BRD (verstößt) nicht nur gegen den Geist, sondern auch gegen die Buchstaben derSchlußakte von Helsinki. In der Schlußakte ist ausdrücklich festgehalten, daß sich die Journa­ listen bei ihrer Arbeit von dem Bestreben leiten lassen sollen, dem Frieden und der gutnachbarlichen Beziehungen zwi­ schen den Staaten zu dienen, also von den Prinzipien der Schlußakte als Ganzes. Davon kann jedoch angesichts der Lügen und Verleumdungen in den Berichten genannter Korre­ spondenten, der Vermittlung eines völlig verzerrten Bildes der DDR an die BürgerderBRD keine Rede sein. Mansolltealsodie Bürger nicht durcheinanderbringen. Wirsind nicht gegen eine kritische Berichterstattung. Aber kritische Berichterstattung und Verleumdung sind zwei verschiedene Stiefel. Wie sollen sich die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD weiter normalisieren, wenn Massenmedien der BRD sich dauernd in unsere inneren Angelegenheiten einmischen, wenn sie Un­ wahres oder Halbwahres über die DDR verbreiten, wenn sie Lügen in die Welt setzen und sie auch noch jahrelang kommen­ tieren, als wäre es die Wahrheit, nichts als die reine Wahrheit. Pressefreiheit hin, Pressefreiheit her. Die Freiheit ist immer etwas Konkretes. Es gibt die bürgerliche Freiheit, und es gibt die proletarische Freiheit, die kapitalistische und die sozialisti­ sche. Beide kann man nicht vereinen.« Kommunistische Begriffsmanipulationen

Zentraler Begriff dieser Aussage ist »Freiheit«, ein Wort, das seit Jahrhunderten einen ungeheuren Sympathiewert besitzt. 114

Auch die politische Sprache der DDR kann auf dieses in hohem Maß positiv besetzte Wort nicht verzichten, verkehrt jedoch seinen Sinn-entsprechend der kommunistischen Ideologiein sein Gegenteil. Wirkliche Freiheit gibt es demnach nur im Sozialismus, sie besteht darin, daszu tun, was notwendig ist. In einem weitverbreiteten philosophischen Wörterbuch der DDR wird Freiheit so definiert: »Freiheit ist das Verhältnis des Menschen zur objektiven Gesetzmäßigkeit (Notwendigkeit) in Natur und Gesellschaft, insbesondere der Grad ihrer Erkenntnis und praktischen Be­ herrschung. Die Freiheit besteht in der Einsicht in die objektive Notwendigkeit und in der darauf beruhenden Fähigkeit, die Gesetzmäßigkeit der Natur und Gesellschaft mit Sachkenntnis bewußt anzuwenden und auszunutzen, um eine wachsende Herrschaft über sie zu erlangen. Die Freiheit schließt auch die ökonomischen, politischen, rechtlichen und ideologischen Bedingungen ein, die hierzu erforderlich sind, weshalb sie einem geschichtlichen Entwicklungsprozeß unterliegt22.« Was mit dieser dürren Definition gemeint ist, erläutern philo­ sophische Mitglieder der Akademie der Wissenschaften der DDR so: »Wir haben eine andere Vorstellung von Freiheit als in der bürgerlichen Gesellschaft. Ohne Zweifel war die französische bürgerliche Revolution ein Fortschritt gegenüber dem Feuda­ lismus, sie hat zwar Fesseln überwunden, aber sie hat neue Fesseln und Ketten geschaffen, nämlich die Herrschaft des Kapitals. Unsere Freiheithatdie Befreiung von derAusbeutung gebracht und die Möglichkeit, daß sich der Mensch wirklich unter menschlichen Bedingungen entfalten kann... Absolute Freiheit? Nein, die Freiheit ist relativ, und zwar abhängig vom eigenen Entwicklungsstand der Gesellschaft und vom Ent­ wicklungsstand des Individuums. Freiheit ist eine aktive Bezie­ hung des Subjekts zu seiner Umwelt, ... die sozialistische Freiheit ist eine höhere Stufe der Freiheit innerhalb des Menschheitsfortschritts... Die Freiheit im Kapitalismus ist zugleich die Unfreiheit des größten Teils dieser Gesellschaft. Die sozialistische Freiheit hat eine Freiheit von Not, von Unterdrückung für die Menschen erwirkt. Und es ist das Problem in der ideologischen Auseinan­ dersetzung, daß von bürgerlichen Ideologen in der Regel ge­ rade die entscheidenden Inhalte der Freiheit im Sozialismus 115

ignoriert werden und alles reduziert wird auf die bloß formalju­ ristische Freiheit, die darin besteht, daß alle gleich vor dem Gesetz sind (sowie auf) einige Attribute oberflächlicher Art23. « Eine ähnliche Umwertung ihres Inhaltes haben andere Schlüsselbegriffe der politischen Terminologie erfahren. Dies gilt für den in unserem Verständnis zentralerLßegriff der De­ mokratie, dessen bürgerliche Variante als Inbegriff der Klas­ sengesellschaft diffamiert wird, wogegen der sozialistischen Demokratie als der Staatsform der Diktatur des Proletariats eine neue Qualität in der historischen Entwicklung beigemes­ sen wird24. Dies gilt auch fürdie Mitbestimmung, diealsGrundrecht und als Ehrenpflicht jedes Bürgers charakterisiert wird, das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gesellschaft und des sozialistischen Staa­ tes umfassend mitzugestalten25, natürlich nur im Rahmendes politischen Monopols der von der SED geführten Arbeiter­ klasse. Auch dem Begriff der «Menschenrechte«, in den DDRMassenmedien weniger häufig verwendet, wird eine neue, sozialistische Deutung gegeben. Unabdingbare, unveräußerli­ che und «ewige« Menschenrechte werden nicht als Freiräume des einzelnen verstanden, sondern als seine «allseitige Einbe­ ziehung« in den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft26.

Emotionale Aufblähung der offiziellen Sprache der SED Nicht nur die Umwertung zentraler Begriffe der politischen Sprache charakterisiert das politische Deutsch der DDR, son­ dern auch eine uns schon aus der Sprache der Nazis bekannte emotionale Aufblähung, ein nahezu zwanghafter Gebrauch von superlativistischen Wendungen. Es ist schwer, in den DDR-Massenmedien den Begriff «Zusammenarbeit« zu fin­ den, ohne daß er von Adjektiven wie brüderlich, eng, vielseitig, proletarisch, kameradschaftlich, kämpferisch-oft sogar von mehreren dieser Adjektive - ausgeschmückt wird. Adjektive bilden überhaupt ein wesentliches Element der ritualisierten Sprache der SED. Wenn ein Planziel erreicht wurde, genügen die Begriffe »Planziel« und »erreicht« nicht, um diese Mittei­ lung zu machen, sondern es wird z. B. davon gesprochen, daß »die allseitige Erfüllung des Planes auf ein hohes Leistungs­ wachstum zielt^7. Produktionsprognosen werden nichtledig­

116

lieh analysiert, sondern es wird formuliert, daß »wir den Pro­ duktionsprozeß an unserer modernen Fertigungslinie umfas­ send und kritisch analysiert haben«28. Die Adjektive umfas­ send, vielseitig, allseitig spielen eine besondere Rolle in dem politischen Deutsch der DDR. Sie sollen die vollständige Be­ trachtungsweise eines Problems signalisieren. Die häufige Verwendung dieser Adjektive in der offiziellen Sprache hat mittlerweile auch auf das Alltagsdeutsche abgefärbt. Vorallem das Wort »allseitig« erfreut sich großer Beliebtheit und ist mittlerweile auch Bestandteil der Literatursprache29. Ähnlich wie bei den Nazis ist das militärische Vokabular einer der wichtigsten Zulieferanten für das politische Deutsch. Un­ entwegt wird gekämpft, werden Ernte- und Produktionsschlachten geschlagen, Bündnissegeschmiedet.Siegeerrungen, Fronten gebildet, Etappenziele anvisiert. Auch die ausge­ prägte Vorliebe für Anleihen an die militärische Sprache scheint das Alltagsdeutsch beeinflußt zu haben30. Manfred Hellmann31 zeichnet von der DDR-Sprache folgendes Bild: »Man findet Formeln und feste Wendungen häufiger und stereotyper, den Satzbau substantivistischer und abstrakter als in vergleichbaren westdeutschen Texten; vor allem fällt, vom Inhaltlichen her gesehen, ein hohes Maß an massivem Eigenlob für den eigenen Bereich und massiver Polemik für den politischen Gegner, ein relativ hoher Anteil an sprachlich rhetorischen Elementen des Appellierens und Beeinflussens auf, wie er in westdeutschen Texten beispielsweise in Wahl­ kampfzeiten sowie - in anderer Form undohne Polemik-in der kommerziellen Werbung zu beobachten ist. Dieses gleichzei­ tige Hervortreten von Elementen der Verwaltungs-Sprache in der DDR ist nicht auf Veränderungen in der Sprache, sondern in erster Linie auf die besondere Funktion der Massenmedien als Distributoren des Meinungs- und Formulierungsmonopols von Partei- und Staatsapparat zurückzuführen32.« Hellmann bezieht seine KritikaufdieöffentlicheSpracheder DDR insgesamt. In der politischen Sprache wird seine Analyse noch stärker bestätigt. Denn die Politikhaterheblichen Einfluß auf den Wortschatz genommen, weil sich dort die politischen Veränderungen und in ihrer Folge die Veränderungen des individuellen Lebens und der Umwelt am deutlichsten spie­ geln. Hans Reich hat ein präzis dokumentiertes und gut kom­ mentiertes Glossarium von Begriffen zusammengetragen, die

117

vor allem in der politischen Sprache der DDR neugebildet, umgedeutet oder von der politischen Sprache der Weimarer Republik übernommen wurden. Bei den politischen Vokabeln, die aus der deutschen Sprachtradition entwickelt wurden, werden vier Gruppen unterschieden33: 1. ältere Begriffe, deren Gebrauch nicht parteispezifisch ist wie z. B. Frieden, Hetze, Aufbau, Demagogie, national, Huma­ nismus; 2. Begriffe, die der Terminologie des Marxismus entstammen; zu ihnen gehören z. B. Mehrwert, Profit, Materialismus, Klasse, Proletariat, Bewußtsein, Kommunismus, Revolu­ tion; 3. Begriffe, die in der Weimarer Republik in der Auseinander­ setzung zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten und Nationalsozialisten entstanden sind oder politisch relevant wurden wie z. B. Agitation, Aktion, Antifaschismus; 4. Begriffe, die als originelle Neubildung ohne erkennbaren russischen Einfluß Eingang in das politische Deutsch der DDR fanden, so z. B. Aufsichter, beauflagen und Leistungs­ lohn. Als gesonderte Gruppe verdienen die Begriffe Aufmerksam­ keit, die aus dem Russischen entlehnt beziehungsweise dem sowjetischen Sprachgebrauch nachgebildet wurden. Hierz. B. Politökonomie statt Nationalökonomie, Akademiker (Mitglied einer Akademie), Exponat, Diversion, Perspektive, Oblomowerei34, Traktorist, Arbeitseinheit, Kooperative, Kombinat, Propa­ ganda, Bonapartismus, Personenkult, Selbstverpflichter und Leistungslöhner35. Bei dieser willkürlichen Auswahl russisch beeinflußter Be­ griffe der politischen Sprache fälltauf, daß nur wenige als reine Fremdwörter bezeichnet werden können. Die Mehrzahl sind Lehnübertragungen russischer Begriffe, dieteilweiseausgriechischen, römischen, englischen und französischen Stämmen gebildet wurden, in ihrer spezifischen Verwendung jedoch an den russischen Sprachgebrauch anknüpfen. Anleihen an den sowjetischen Sprachgebrauch sind auch die verunstaltenden Kürzel wie Agitprop (Agitation und Pro­ paganda) oder Histomat (Historischer Materialismus), die aus der politischen Sprache der DDR nicht mehr wegzudenken sind.

118

Frontwörter der Politik

Aufgrund seiner Erhebungen schätzt Reich den Anteil der Begriffe, die als Neubildungen oder Umdeutungen aus der deutschen Sprachtradition heraus ihren Platz in der politi­ schen Sprache der DDR fanden, auf insgesamt 30 %ein, wobei er die originären Neuprägungen mit 13% als größte Gruppe veranschlagt36. Der Anteil der Begriffe mit russischem Hinter­ grund wird deutlich geringer sein, er dürfte zwischen 15-20% liegen. Auch Reich unterstreicht den polarisierenden Charak­ ter politischer Sprache in der DDR, zu dem vor allem die »Frontwörter der Politik^7 beitragen. Darunter versteht Reich als Gegensatz benutzte Begriffspaare wie Kapitalismus-So­ zialismus, Bürgertum-Arbeiterklasse, Bourgeoisie-Proleta­ riat, Idealismus-Materialismus, Metaphysik-Dialektik, Forma­ lismus-Realismus. Mit diesen oft benutzten Begriffspaaren wird gegen den politischen Gegner Front gemacht und gleich­ zeitig die eigene Position hochgelobt. Häufig werden diese Begriffspaare mit Adjektiv-Paaren verknüft, die überhaupt kei­ nen Zweifel mehr an der Frontstellung lassen. Hierzu werden Adjektive wie faschistisch-antifaschistisch, antihumani­ stisch-humanistisch, chauvinistisch-national, antidemokra­ tisch-demokratisch, militärisch-friedliebend, reaktionär-fortschrittlich benutzt. Die politische Sprache der DDR ist eine Sprache, die Partei­ nahme verlangt, sie ist auf Entweder-Oder schematisiert, an­ dere Positionen als Pro und Kontra sollen möglichst ausge­ schlossen werden. Was in dieses Schema nicht paßt, wird vergröbert, verzerrt, um darin eingeordnet werden zu können. Die SED vertritt nach wie vor die radikale Position, daß es »in Wirklichkeit keinen Mittelweg, keinen >dritten< Weg zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen Reaktion und Demo­ kratie« gibt38. Die Rolle der Sprache in der ideologischen Auseinanderset­ zung aus der Sicht der SED beschreiben Faulheit und Kühn mit folgenden Sätzen: »Die Sprache ist nicht nur materielle Hülle der Gedanken und nicht schlechthin Verständigungsmittel, sondern sie ist in entscheidendem Maße auch Wirkungsmittel im gesellschaftlichen Leben, in der gesellschaftlichen Diskus­ sion, sie ist eine Waffe im Klassenkampf, in der ideologischen Auseinandersetzung der sich in unversöhnlichem Wider­ 119

spruch gegenüberstehenden Klassen... Die Bourgeoisie schreckt vor keinem Mißbrauch der Sprache zurück, wenn sie sich dadurch Vorteile erhofft. Geschichtlich überlebt, ist sie nicht willens und nicht in der Lage, sich um eine hohe Kultur der Sprache zu sorgen. Wir dürfen uns dabei nicht von der oft guten formalen Sprachbeherrschung ihrer Wortführer und von dem Bemühen ihrer Sprachforscher um die Formen der Sprache täuschen lassen. Es geht um die Sprachinhalte. In dieser Hinsicht kann die Bourgeoisie als reaktionäre Klasse nichts Neues mehr hervorbringen, das die Sprache bereichert. Wo sie Neues hervorbringt, ist das nicht im Dienste einer gesunden Sprachentwicklung, sondern zu deren Schaden39. « Unter dem alles beherrschenden Grundsatz der Parteilich­ keit und den Geboten und Verboten der Sprachlenkung hat sich das politische Deutsch in der DDR zu einer von Klischees befrachteten, von gebetsmühlenartiger Formelhaftigkeit ge­ kennzeichneten Sprache entwickelt, deren Monotonie Leblo­ sigkeit anzeigt. Auf diese Gefahr hat Arnold Zweig bereits auf dem Kulturbundtag 1954 eindringlich aufmerksam gemacht: »Es ist nicht so, daß sich nur unsere Sprache in Kauderwelsch verwandelt oder sich zu verwandeln droht. Es ist sogar so, daß viele Begriffe nicht mehr da sind, die unsereinem, als wir aufwuchsen, selbstverständlich waren, z. B. der Begriff der Muße, daß ein Mensch Spazierengehen muß, um Gedanken zu fassen, daß ein Mensch imstande sein muß, sich einzuschlie­ ßen oder isoliert auf eine Bank zu setzen und etwas zu lesen, ohne daß das zu einer Instruktion wird, ohne daß er gefragt wird, ob das in Übereinstimmung mit irgendeiner Verpflich­ tung geschieht, die in die Grundlagen der DDR eingegangen ist... Widersteht dem Übel, kämpft gegen das Übel und laßt nicht aus unserem Deutsch eine Bürokratensprache machen mit Befehlen und Floskeln, dieeuchineinen Konflikt miteurem eigenen Wesen bringen*9.«

Verwandtschaften zwischen Nazi-Deutsch und der Sprache der SED Was Arnold Zweig als Gefahr für die Sprache beschwor, ist heute Wirklichkeit. Die politische Sprache der DDR ist ideolo­ gisch fest angebunden, sie wird unter den Gesichtspunkten

120

ideologischer Opportunität gelenkt, sie wurde in ihrem Aus­ drucksreichtum eingeengt und erschwert Kommunikation. Ihre Leistung ist weniger Kommunikation als Aktion. Hannes ^Maeder diagnostiziert als Symptome der Sprache totalitärer Herrschaft41: - eine Überschwemmung der Sprache mit wertenden Aus­ drücken auf Kosten der neutralen, - einen Abbau der Wertstufen zugunsten eines Schwarzweiß­ schemas, - eine Schematisierung und Entfremdung der Sprache ge­ genüber dem individuellen Wertempfinden, - eine zunehmende Gleichförmigkeit, bei der alle traditionel­ len sprachlichen Unterschiede geschichtlicher, regionaler, sozialer und ständiger Art vor der uniformierenden Gewalt der Parteiensprache zurücktreten. Deshalb haben die Sprache des Dritten Reiches und das Deutsch der DDR mehr Gemeinsamkeiten, als die Machthaber in der DDR wahrhaben wollen. In beiden Systemen ist den Herrschenden der Wille gemeinsam, durch sprachliche Verän­ derungen und Umwertungen politische Wirkungen zu erzie­ len. In beiden Fällen wird die Sprache als politisches Kampf­ mittel benutzt, um die sprachliche Kraft systematisch in den Dienst der Ideologie zu stellen. Hugo Moser stellt noch weitere Gemeinsamkeiten zwischen der Sprache des Dritten Reiches und dem offiziellen DDRDeutsch fest: »Gemeinsam sind auch manche kollektive We­ senszüge, wie sie zum Ausdruck kommen in der Formelhaftig­ keit und der bewußten Wiederholung des Superlativs und der Schwarzweißzeichnung, der Mischung von militanter, for­ dernder und emotionaler Haltung und auch der Verbindung von literarischer und Alltags-, ja Gossensprache42.« Die Klischeehaftigkeit totalitärer Sprache, ihre Manie, die selbstentworfene Zukunft mit Euphemismen zu bezeichnen, ihr chronischer Zwang, die Vergangenheit mit Kakophemismen zu beschreiben, sind-als Versuch erklärbar, sich gegen kritische Fragen zu immunisieren. Breitbandvokabeln wie Volk und Vaterland, Fortschritt und Sozialismus werden durch eine solche Sprachpraxis noch konturenloser, der ehemals vorhandene Bedeutungskern löst sich in dem Nebel einer allgemeinen Bedeutung auf und wird so bedeutungslos. Je weniger scharf die Wörter, die zur Verfügung stehen,

121

konkrete Sachverhalte treffen, desto kleiner ist die Angriffsflä­ che, die die Herrschenden bieten. Jürgen Rühle, ein kenntnis­ reicher Kritiker des sozialistischen Realismus, stellt fest: »Die Sprache ist derAusdruckdes Gedankens, und wenn ich nicht genau präzise denken darf und kann, dann werde ich verworren sprechen. Die Verworrenheit der Sprache ist der Ausdruck eines verworrenen, nicht zu Ende geführten Den­ kens. Es gibt bestimmte Dinge im Bewußtsein der Schriftstel­ ler, die dürfen nicht berührt, die müssen umgangen werden. Sowie man sich ihnen nähert, signalisiert das Bewußtsein: Das darfst du nicht. Dies ist das Trauma des sozialistischen Schriftstellers: Die Selbstzensurals Instrument sozialistischer Sprachkontrollé*3. «

Wirkungen und Grenzen der Sprachlenkung

Man kann diese Folgen totalitärer Sprache für das Selbstbe­ wußtsein der Menschen und für ihre Fähigkeit, politische und soziale Sachverhalte zu erkennen und sprachlich umzusetzen, in ihrer Bedrohlichkeit nicht klar genug erkennen. Derfranzösische Aufklärer Helvetius behauptet, daß jede Unterdrückung letztlich ihren Grund darin habe, daß sich die Unterdrückten nicht miteinander verständigen könnten. Deshalb ist es immer das Ideal der Tyrannen gewesen, die Unterworfenen zum Schweigen zu bringen. Wie aber, fragt Wilhelm Hennis, wenn sich die Menschen selbst um die Sprache bringen, weil sie ihr nicht mehr zutrauen, daß man über sie der Wahrheit näher­ kommen könnte44? Dennoch muß vor der Gleichsetzung: Menschenlenkung durch Sprachlenkung, gewarnt werden. Die oft beschworene Macht des Wortes besteht nicht darin, daß es Ideen und Inten­ tionen transportiert, die vom Empfänger als Befehle unmittel­ bar in das Denken oder gar die Tat umgesetzt werden. Außer­ dem bieten die durch Erziehung selbstverständlich gemach­ ten sprachlichen Traditionen sicherlich einen gewissen Im­ munschutz gegen aus politischen Motiven her geplanten Um­ deutungen und Neuerungen. Die Wirkung einer politischen Propagandasprache sollte deshalb in erster Linie nicht in den rein sprachlichen Elementen der Propaganda gesucht wer­ den, sondern in außersprachlichen Faktoren. Wenn auch die

122

zweifelsfreie Feststellung getroffen werden kann, daß die Sprachlenkungsmaßnahmen der SED in der Regel formal er­ folgreich sind, indem sie als verbindlich verstanden und be­ achtet werden, so kann die Frage nach dem substantiellen Erfolg der Sprachregelung, die Frage nach der Beeinflussung der Menschen durch politisch begründete Veränderungen der Sprache - wenn überhaupt - nur dann beantwortet werden, wenn neben den rein sprachlichen Gesichtspunkten auch außersprachliche, institutionelle Faktoren zur Beantwortung herangezogen werden. Wenn die politische Sprache der SED Wirkungen auf das Bewußtsein der Menschen in der DDR bereits hat, dann ist dies weniger eine Wirkung der offiziellen Sprache selbst, sondern eher eine Folge ihrer Monopolisie­ rung. Die Parteilichkeit, Einheitlichkeit und monolithische Ge­ schlossenheit des Systems der politischen Sprache in der DDR lassen einen konkurrierenden und möglichen Einflußeinesdie SED-Sprache korrigierenden Sprachgebrauchs nicht zu. Dies wiederum ist die Folge außersprachlicher Faktoren, nämlich der Einparteienherrschaft und der Gleichschaltung der Mas­ senorganisationen und Massenmedien. Trotz des äußeren Erfolges totalitärer Sprachlenkung spricht viel dafür, daß die Parteilichkeit, Einheitlichkeit und monolithische Geschlossenheit der politischen Sprache in der DDR keinen grundsätzlichen Wandel des politischen Bewußt­ seins der Massen bewirkt haben. Ein wichtiger Hinweis hierfür ist die Dissidentenbewegung, die offenbart, daß sich Gedan­ ken von befohlenen Wörtern nicht lenken lassen. Die Men­ schen in einer Diktatur sind gezwungen, die Unterschiedlich­ keit der Anforderungen an ihreSprachezu erkennen. Im Alltag, unter Freunden, inder Familie, wird andersgesprochenalsam Arbeitsplatz, mit Kollegen, in einer Veranstaltung. Westliche Besucher und vor allem die elektronischen Medien üben aus der Bundesrepublik einen Einfluß auf das Alltagsdeutsch der DDR aus, dessen Wirkungen gelegentlich in den Leserbrief­ spalten und Fachzeitschriften beklagt werden. Und die politi­ sche Sprache der Partei und der Medien ist wieder eine völlig andere. Die Menschen in der DDR haben offensichtlich gelernt, den Wechsel der Sprachebenen schnell mitzuvollziehen. Klaus Schlesinger beschreibt in seiner Geschichte »Die Spal­ tung des Erwin Racholl« eine Situation seines Helden, in derer mit Westberliner Extremisten diskutierte und ihm »derplötzli123

che Wechsel von der alltäglichen zur politischen Sprache merkwürdigerweise nur sehr viel schwerer fiel als in seiner täglichen (DDR-)Umwelt45.« Daß Schriftsteller in der DDR diese speziellen sprachlichen Schwierigkeiten sehr viel deutli­ cher erleiden und ihre Aufgabe oft auch darin sehen, der Verfälschung entgegenzutreten, macht Jürgen Fuchs in sei­ nen »Gedächtnisprotokollen« deutlich. Vor seiner Entfernung aus der Jenaer Universität wird er vor die Parteileitung der Hochschule zitiert. Dabei entwickelt sich ein Dialog über die politische Sprache der DDR: »T.: Und außerdem, eineharteSprachesprechen wir, jawohl, das ist richtig, du provozierst uns ja dazu, dann kannst du natürlich auch so was empfinden. Aber das liegt dann an dir. Fuchs: Sie sprachen von Himmler und seinem blutigen Ernst. Blutig muß Ihr Ernst sein, das ist richtig, das können Sie auch in Brecht’s >Flüchtlingsgesprächen< nachlesen, aber die LTI kennen und beherrschen Sie ohnehin gut, auf Klemperer brauche ich Sie nicht erst zu verweisen-aber daß die Sprache des Vierten Reiches, LQI, wie er sie nannte, ungestraft in der DDR gesprochen werden darf, das ist doch furchtbar. Sie fragten mich nach meiner Aufgabe als Genosse: Solche schlimmen Vorgänge muß ich signalisieren, das ist meine Aufgabe. T: Du machst dich damitzum Handlangerdes Imperialismus, der wartet doch nur auf solche Signale. Fuchs: Handlangersind die, diesolche>Vorladungen