Wirtschaftspolitische Ziele in der globalen Welt [1 ed.] 9783428541812, 9783428141814

Die Entwicklung zum superschnellen Informationssystem (Internet) und zu schnellen Verkehrssystemen auf der Erde und in d

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Wirtschaftspolitische Ziele in der globalen Welt [1 ed.]
 9783428541812, 9783428141814

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Volkswirtschaftliche Schriften Band 564

Wirtschaftspolitische Ziele in der globalen Welt

Von

Claus Köhler

Duncker & Humblot · Berlin

CLAUS KÖHLER

Wirtschaftspolitische Ziele in der globalen Welt

Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann †

Band 564

Wirtschaftspolitische Ziele in der globalen Welt Von

Claus Köhler

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 978-3-428-14181-4 (Print) ISBN 978-3-428-54181-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84181-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die elektronische Revolution mit ihren technischen Möglichkeiten, den superschnellen Informationssystemen und den zeitsparenden modernen Ver­ kehrssystemen in der Luft und auf der Erde führt zu globalen wirtschaft­ lichen Aktivitäten von Unternehmen, Banken und Versicherungen. Diesem globalen Verhalten der Wirtschaft müsste eine globale Wirtschaftspolitik entsprechen. Aber das zu erreichen, braucht sehr viel Zeit. Wirtschaftspoli­ tik verharrt weitgehend in nationalen Grenzen. Die existenziellen wirtschaftspolitischen Ziele, Vollbeschäftigung und Preisstabilität, haben sich nicht geändert. Sie in einer globalen Welt zu er­ reichen, verlangt von den Staaten, dass sie mehr kooperieren und koordinie­ ren. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, haben die G20, die wichtigen Indus­ trie-, Schwellen- und Entwicklungsländer, vereinbart, ihre Staatsschulden zu reduzieren. Damit aber stehen den Staaten zur Bekämpfung der stark gestie­ genen Arbeitslosigkeit kaum Mittel zur Verfügung. Da die Arbeitslosigkeit nicht weiter ausufern darf, richtet sich der Blick auf die Zentralbanken, sich der beiden existenziellen Ziele und ihren Verletzungen anzunehmen. Vorbild dafür ist die US-amerikanische Zentralbank, die es verstanden hat, Fehlent­ wicklungen der beiden Ziele in engen Grenzen zu halten. Wenn aus vielen nationalen Märkten ein globaler Markt wird, dann müs­ sen die von Nationalstaaten errichteten Hindernisse, wie Zölle, Kontingente, veterinärpolizeiliche Maßnahmen usw., eingeebnet werden. Auch das ist ein sehr langwieriger Prozess. Es gibt keine einheitliche weltweite Währung, sondern nationale Währungen und damit Wechselkurse. Sie beeinträchtigen immer wieder den globalen Wirtschaftsaustausch. Es ist dafür zu sorgen, dass die Wechselkurse in der Zeit handelsneutral verlaufen. Meine Frau, Dr. Ingeborg Köhler-Rieckenberg, hat auch diese Arbeit wohlwollend und kritisch begleitet. Dafür danke ich ihr. Bad Soden, im Mai 2013

Claus Köhler

Inhaltsverzeichnis A. Konsequenzen der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Viele nationale Märkte und ein globaler Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 II. Globalisierung erfordert grenzüberschreitende wirtschaftspolitische Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 III. Drei globale wirtschaftspolitische Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 IV. Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen gefährden auch eine  Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 V. Menschen von Arbeitslosigkeit stärker betroffen als von Preissteigerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 VI. Globalisierung verlangt, Hindernisse des Wirtschaftsaustauschs zu beseitigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Das Ziel Vollbeschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 I. Vollbeschäftigung nicht definiert und ohne klares Konzept . . . . . . . . . . 20 1. Gesetze und Bekundungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Keine staatliche institutionelle Verantwortung für Vollbeschäftigung in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3. Arbeitslosigkeit in der globalen Welt nicht im Griff . . . . . . . . . . . . . 23 4. Ungewöhnlich hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa . . . . . . . . . . . . 24 5. Ein Schwellenwert für die Arbeitslosenquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Vollbeschäftigungsziel und Vollbeschäftigungsstrategie . . . . . . . . . . . . . 26 1. Quantitative Zielsetzung für Vollbeschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Verringerung der Arbeitslosigkeit durch angemessenes Wirtschafts­ wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3. Die für Vollbeschäftigung verantwortliche Institution: Finanzministerium oder Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 III. Kaum Vollbeschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien . . . 31 1. Grundsätzliche Zurückhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Wirtschaftswachstum und öffentliche Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3. Defizit- und Schuldenstandsgrenzen verstärken die konjunkturelle Zurückhaltung in der EWU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4. Eine Hoffnung: das Europäische Semester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5. Weiterer Einfluss der Kommission: Warnmechanismusbericht über makroökonomische Ungleichgewichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 6. Gewinner und Verlierer beim öffentlichen Schuldenabbau . . . . . . . . 44 IV. Die Möglichkeit, Vollbeschäftigungspolitik durch Zentralbanken durch­ zuführen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

8 Inhaltsverzeichnis 1. Die wirtschaftspolitischen Ziele der US-amerikanischen Zentralbank … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. … und das Ziel der Europäischen Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3. Die Hinwendung der Zentralbanken zum Ziel Vollbeschäftigung . . . 50 4. Das Paradigma wechselt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 5. Die Aufgabe der Zentralbank auch für Vollbeschäftigung zu sorgen ohne Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 6. Die Kerngeschäfte der Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 7. Kaum Interessenkonflikte und wenn, lösbar  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 8. Die unverzichtbare Unabhängigkeit der Zentralbank . . . . . . . . . . . . . 58 C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 I. Ziel und Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Preisstabilität durch die Zentralbank definiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Preisstabilität sichern mit einem klaren Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . 63 II. Das Instrumentarium zur Realisierung der Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Der Leitzins der Zentralbank, ein Festzinssatz oder ein Mindest­ bietungssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Eine Obergrenze und eine Untergrenze für Bewegungen des Tagesgeldsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3. Die Bereitstellung von Liquidität (Zentralbankgeld) durch Offenmarktgeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4. Die Bereitstellung von Liquidität (Zentralbankgeld) auf anderen Wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 5. Mindestreserven mit dreifacher Wirkung auf die monetäre Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6. Die Liquiditätsversorgung in der EWU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 D. Freier globaler Leistungsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 I. Hindernisse des freien Leistungsaustauschs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. Hindernisse im Waren- und Dienstleistungsverkehr und die WTO  . 81 2. Das Hindernis frei schwankender Wechselkurse . . . . . . . . . . . . . . . . 83 II. Wechselkurse, ein wichtiges monetäres Ziel der Zentralbanken in der globalen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 III. Einflüsse auf die Wechselkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Die Einstellung der G20-Länder zum Wechselkursproblem . . . . . . . 87 2. Wie Kurse zweier Währungen gemessen werden können . . . . . . . . . 88 3. Einflüsse der Preise auf die Wechselkurse sind kaum wahrnehmbar . 90 4. Einflüsse der Zinsen auf die Wechselkurse sind minimal . . . . . . . . . 93 5. Der Gleichlauf von Preisen und Zinsen führt zu erratischen ­Wechselkursschwankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 6. Einflüsse der Leistungsbilanz durch Einflüsse der Kapitalbilanz ausgeglichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 7. Die Einflüsse nationaler monetärer Politik auf die globale Welt . . . 98 IV. Das wichtigste Ziel ist Handelsneutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Inhaltsverzeichnis9 1. Handelsneutrale Wechselkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Kaufkraftparitäten sollten die Wechselkursentwicklung bestimmen  . 103 3. Die Wechselkurssteuerung der Spekulation überlassen . . . . . . . . . . . 105 4. Den Eingangskurs finden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 V. Das zweitwichtige Ziel: Kapitalverkehrsneutralität . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Kapitalverkehrsneutrale Wechselkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Zinsparität und Kaufkraftparität eng verbunden . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 VI. Regionale Integrationsräume, ein Weg zu globalen Lösungen . . . . . . . 116 1. Integrationsformen allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Integrationsformen in der globalen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Zum Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Wahlergebnisse in Deutschland 1919–1933. . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Abbildung 2: Preissteigerungen, Einkommenserhöhungen und Zinssätze. . . . . 18 Abbildung 3: Arbeitslosenquoten in der globalen Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Abbildung 4: Arbeitslosenquoten insgesamt und Jugendlicher (< 25 J.) in der EWU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Abbildung 5: Angem. / unangem. Wachstum und Veränd. d. Arbeitslosigkeit i. d. EWU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Abbildung 6: Wirtschaftswachst. u. Defizite d. öff. Haush. (Maastrichter-Kriter.) (EWU). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Abbildung 7: Öffentliche Defizite in der EWU (3 %-Regel) 2012. . . . . . . . . . 35 Abbildung 8: Öffentliche Schulden in der EWU (60 %-Regel). . . . . . . . . . . . . 37 Abbildung 9: Arbeitslosenquoten in der EU 2012 (Durchschnitt über 3 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Abbildung 10: Ersparnisse und Schulden in der EWU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Abbildung 11: Kredit- und Arbeitsmarktpolitik (USA). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Abbildung 12: Preisniveaustabilität, Monetäre Transmission . . . . . . . . . . . . . . . 64 Abbildung 13: Das BIPn und die Zinsstruktur in der EWU. . . . . . . . . . . . . . . . 65 Abbildung 14: Orientierungsgrößen für die monetäre Politik. . . . . . . . . . . . . . . 67 Abbildung 15: Bruttoinlandsprodukt nominal, real und Preise (Deflator) in der EWU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Abbildung 16: Leitzinsen der EZB und Geldmarktzinsen in der EWU. . . . . . . 71 Abbildung 17: Spitzenrefinanzierungsfazilität und Einlagenfazilität der EZB. . 72 Abbildung 18: Euro-Wechselkurse (2000 = 100). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Abbildung 19: Zusammenhang zwischen Preisdifferenzen und Wechselkursen USA – EWU (2000–2012). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Abbildung 20: Zusammenhang zwischen Zinsdifferenzen und Wechselkursen USA – EWU (2000–2012). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Abbildung 21: Wechselkurse und Kaufkraftparitäten USA / EWU. . . . . . . . . . . . 102 Abbildung 22: Leistungsbilanzen Chinas und der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Abbildung 23: Wechselkurse – tatsächliche und durch KKP bestimmte . . . . . . 112 Abbildung 24: Wechselkurse sowie Kaufkraft- und Zinsparitäten USA / EWU.   115 Abbildung 25: Formen von Integrationsräumen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118



Abbildungs- und Tabellenverzeichnis11

Tabelle 1: Das Europäische Semester. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Tabelle 2: Monetäre Politik der EZB. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Tabelle 3: Monetäre Ziele von 192 Zentralbanken in der globalen Welt. . . . . . 86 Tabelle 4: Die Leistungsbilanz der Europäischen Währungsunion. . . . . . . . . . . 97 Tabelle 5: Die Kapitalbilanz der Europäischen Währungsunion. . . . . . . . . . . . . 98 Tabelle 6: Veränderungen der Wechselkurse durch Kaufkraftparitäten. . . . . . . . 104

A. Konsequenzen der Globalisierung I. Viele nationale Märkte und ein globaler Markt Wirtschaftsunternehmen, Banken und Versicherungen handeln global. Sie betrachten unsere Erde als einen Markt. Ein Markt ist dadurch gekennzeich­ net, dass es für Produktion und Absatz von Waren keine Hindernisse gibt. Unternehmen können ungehindert investieren, Banken können alle wirt­ schaftlichen Aktivitäten, auch die der privaten Haushalte und des Staates, mit den ihnen dafür zur Verfügung stehenden Instrumenten, finanzieren und Versicherungen haben die Möglichkeit, auf einem solchen Markt den Be­ dürfnissen ihrer Kunden frei zu entsprechen. Es gehört zu einem solchen Markt, dass alle Transaktionen in einer Währung abgeschlossen werden. Ein Parlament bestimmt den rechtlichen Rahmen für die wirtschaftlichen Akti­ vitäten und wenn notwendig, handelt eine Wirtschaftspolitik. Eine solche Charakterisierung trifft auf nationale Märkte zu. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass die Welt zu einem Markt, zu einem „globalen Dorf“, zusam­ men geschrumpft ist. Die Wirtschaft hat das zur Kenntnis genommen. Das Problem, dem man sich gegenübersieht, ist, dass zwar die Wirtschaft global handelt, der dazu gehörende Markt sich jedoch nur teilweise gebildet hat. Der Grund ist, dass die meisten Staaten an ihrer nationalen Souveräni­ tät, mit eigenen nur in ihrem Land geltenden Gesetzen, festhalten. Man kann sich ausrechnen, wenn ein Unternehmen Produkte im eigenen Land, Teile davon in einem zweiten Land, herstellen lässt, um das Endprodukt weltweit zu verkaufen, wie viel Gesetze es zu beachten hat, wie viel Zoll­ mauern es überspringen und nationale Handelshemmnisse es aus dem Weg räumen muss. Banken und Versicherungen haben es leichter. Sie können sich mit ihren Geschäften relativ einfach auf dem Globus bewegen. So haben sie auch neue Geschäftsfelder erschlossen. Aber hier ist das Problem, dass es noch keine globale Banken- und Versicherungsaufsicht gibt. Sie ist überwiegend national organisiert. Mit der Globalisierung des Banken- und Versicherungsgeschäfts kommt sie nicht mit. Dann kann es durchaus zu Krisen auf diesen Gebieten kommen, wie die Weltfinanzkrise, die 2007 von den USA ausging und sofort „globalisierte“, also die ganze Welt erfasste. Angesichts dieser Probleme gibt es Stimmen, die dazu raten, die Globa­ lisierung zurück zu fahren. Aber das ist keine Alternative. Man verkennt, dass eine wirtschaftliche Revolution und um eine solche handelt es sich bei

14

A. Konsequenzen der Globalisierung

der Globalisierung, immer von einer technischen Entwicklung getragen wird. Die kann man aber nicht rückgängig machen. So wurde die industri­ elle Revolution, ausgangs des 18. Jahrhunderts durch den Einsatz von Dampfmaschinen, der Erfindung des mechanischen Webstuhls und der Ver­ wendung von Elektrizität getragen. Die jetzige elektronische Revolution begann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Anwendung von Computern, dem Einsatz von Faxgeräten bis hin zum Internet. Heute kann jeder Geschäfte z. B. aus Europa in Asien, Afrika, Amerika und Australien durchführen. Alle notwendigen Informationen kann man in Sekunden im Internet erhalten, Abschlüsse kann man via Email zeitgleich mit der Ein­ gabe bestätigen. Notwendige dringende Rückfragen lassen sich in Sekunden über Mobiltelefone erledigen. Wenn man persönlich auf einem anderen Erdteil tätig sein muss, dann sind es auch nur noch Stunden, bis man mit Flugzeugen sein Ziel erreicht. Das alles versteht man unter Globalisierung. Diesen Prozess kann man nicht wieder zurück fahren. Man muss mit der Globalisierung leben.

II. Globalisierung erfordert grenzüberschreitende wirtschaftspolitische Kooperation Dringend notwendig ist es, dass auch die Wirtschafts- und Währungspo­ litik globalisiert wird. Da Politiker im Allgemeinen nicht gewillt sind, auf wirtschaftspolitische Instrumente zu verzichten, die sie als Basis ihrer Macht ansehen, wird ein solcher Prozess sehr lange dauern. Die von den Vereinten Nationen geschaffene Welthandelsorganisation WTO bemüht sich, die glo­ balen Märkte möglichst von Hindernissen des globalen Wirtschaftsverkehrs frei zu machen. Zwanzig wichtige Industrie-, Schwellen und Entwicklungs­ länder treffen sich regelmäßig, um notwendige Maßnahmen zur Beseitigung von Fehlentwicklungen zu koordinieren. Der Weg zu einer globalen „Wirt­ schafts- und Währungspolitik“ führt über regionale Integrationsräume. In allen Erdteilen werden Freihandelszonen, Zollunionen sowie Wirtschaftsund Währungsunionen geschaffen oder geplant. Eine Koordinierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen ist notwendig, weil Fehlentwicklungen auftreten können, deren Ursachen und Wirkungen in mehreren Ländern spürbar sind. Eine nur national ausgerichtete Wirt­ schaftspolitik kann allein die Probleme nicht lösen. Wenn Produktionsstätten in das Ausland verlagert werden, dadurch heimische Arbeitskräfte arbeitslos werden, während im Ausland der umgekehrte Effekt auftritt, ist es ange­ bracht, dass beide Staaten wirtschaftspolitisch kooperieren. Wenn Zentral­ banken umfangreiche Liquidität in ihren Geldmarkt geben, dann kann es sein, dass diese Mittel in das Ausland fließen. Im Ausland werten dadurch die Währungen auf, ihre Ausfuhr geht zurück, wodurch die Beschäftigung



IV. Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen gefährden auch Demokratie15

beeinträchtigt werden kann. Auch hier bietet sich eine wirtschaftspolitische Zusammenarbeit der betroffenen Länder an.

III. Drei globale wirtschaftspolitische Ziele Die wirtschaftspolitischen Ziele haben sich mit der Globalisierung grund­ sätzlich nicht geändert: Vollbeschäftigung, Preis(nivau)stabilität und ein freier globaler Leistungsaustausch. Die Ziele Vollbeschäftigung und Preis­ stabilität sind existenzielle Ziele. Werden sie verletzt, berührt das die Exis­ tenz der Menschen. Eine hohe Arbeitslosigkeit bedeutet für die Betroffenen, dass sie für sich und ihre Familie nicht mehr selbst sorgen können. Sie benötigen die Unterstützung des Staates. Für die von Arbeitslosigkeit nicht betroffenen Erwerbstätigen stellt eine hohe Arbeitslosigkeit eine Bedrohung dar. Sie können nicht ausschließen, dass auch sie davon betroffen werden könnten. Preissteigerungen führen ebenfalls zu existenziellen Problemen. Das gilt besonders, wenn sie die Einkommenszuwächse übersteigen. In diesem Fall verlieren die Ersparnisse an Wert. Im Extremfall verlieren die Menschen ihre Ersparnisse. Damit verlieren sie ihre Vorsorge für das Alter. Es droht Altersarmut.

IV. Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen gefährden auch eine Demokratie Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen sind nicht nur wirtschaftliche Pro­ bleme, die die Existenz der Menschen beeinträchtigen oder bedrohen. Sie führen auch zu politischen Problemen. Werden viele Menschen von diesen Fehlentwicklungen betroffen oder bedroht, dann greifen sie nach jedem angeblichen Strohheim. Das äußert sich in demokratischen Wahlen in einer Zunahme radikaler Parteien. Deutschland hat das nach dem ersten Weltkrieg erlebt.  Die Verträge nach dem ersten Weltkrieg von Versailles und St. Germain 1919 lassen eine rechtsradikale Splitterpartei entstehen, die Nationalsozia­ listische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP). Ihr Wahlergebnis schnellt Mitte 1924 in die Höhe, nach der für die Menschen verheerenden Hyperinflation der Mark. Sie wurde Ende 1923 gestoppt. Man erhielt für 1 Billion Mark gerade eine Rentenmark (Reichsmark)1. Ersparnisse sind verloren gegangen. Einen starken Wählerzustrom erhielt diese Partei, als im Zuge der Weltwirt­ 1  Währungsreform,

in: Vahlens Großes Wirtschafts Lexikon, Band 4, S. 2021.

16

A. Konsequenzen der Globalisierung 45 40 35

in %

30 25 20 15 10 5 0

19.1.19

6.6.20

4.5.24

7.12.24

20.5.28

Friedensdiktate und galoppierende Inflation (bis 1923) NSDAP #)

14.9.30

31.7.32

6.11.32

5.3.33

Weltwirtschaftskrise: 6 Mio.Arbeitslose

0

0

6,6

3,0

2,6

18,3

37,4

33,1

43,9

SPD

37,9

21,6

20,5

26,0

29,8

24,5

21,6

20,4

18,3

Zentrum

19,7

13,6

13,4

13,7

12,1

11,8

12,5

11,9

11,3

Abbildung 1: Wahlergebnisse in Deutschland 1919–1933

schaftskrise von 1929 bis 1933 die Arbeitslosigkeit stark anstieg. Mitte März 1933 waren in Deutschland 6,1 Mio. Menschen arbeitslos2. In der Wahl am 5.3.1933 erhielt die NSDAP 43,9 % der Stimmen3. Ihr Vorsitzen­ der, Adolf Hitler, wurde Reichskanzler und nach dem Tode von Hindenburg, auch noch Reichspräsident, allerdings mit dem Titel Führer. Dieser Mann wandelte die Demokratie sehr schnell in eine Diktatur um, in der Millionen Menschen ermordet wurden. Neben Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen gibt es noch viele andere Problembereiche, die einer politischen Lösung bedürfen. Dazu gehören z. B. die Umweltprobleme, insbesondere die Klimaerwärmung. Wenn im Pazifik ganze Kleinstaaten im Meer zu versinken drohen oder Taifune die Existenz­ grundlagen der Menschen zerstören, dann ist das für die Betroffenen furcht­ bar. Aber es kommt dabei nicht, wie bei allgemeiner Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen, zu negativen Einflüssen auf die Weltwirtschaft. Die Schlussfolgerung von diesem Debakel ist, eine demokratische Regie­ rung hat unter allen Umständen für Vollbeschäftigung und Preisstabilität zu 2  Weltwirtschaftskrise 1929 – Anstieg der Arbeitslosigkeit, http: /  / www.gutefrage. net / frage /  / weltwirtschaftskrise-1929---anstieg-der-arbeitslosigkeit (13.11.2012). 3  Reichstagswahl, http: /  / de.wikipedia.org / wiki / Reichstagswahl (14.12.2011).



V. Arbeitslosigkeit stärker als Preissteigerungen17

sorgen. Gelingt ihr das nicht, trägt sie die Verantwortung für die dann ent­ stehenden gesellschaftlichen Probleme. 

V. Menschen von Arbeitslosigkeit stärker betroffen als von Preissteigerungen Wenn die Preise über das Maß unvermeidlicher Preissteigerungsraten hi­ naus steigen oder wenn erwartet wird, dass sie darüber steigen, dann fühlen sich die Menschen in ihrer Existenz bedroht. Sie befürchten, dass Preisstei­ gerungen es ihnen nicht erlaubt, ihren Lebensstandard aufrecht zu erhalten. Sie rechnen auch damit, dass sich der Wert ihrer Ersparnisse verringert. Die Konsumentenpreise in der EWU sind in den 14 Jahren ihres Bestehens jährlich durchschnittlich um 2,1 % gestiegen. Das bedeutet, dass der Euro in dieser Zeit ein Viertel seines Wertes verloren hat. Man sollte annehmen, dass eine solche Existenzbedrohung sehr rasch dazu führt, dass radikale Parteien erscheinen und Zulauf erhalten. Das ist nicht geschehen. Ein wichtiger Grund ist, dass bei steigenden Preisen auch die Einkommen zunehmen. Einerseits sind es die Unternehmen, die bei steigenden Preisen auch die Löhne ihrer Mitarbeiter anpassen. Andererseits sorgen die Gewerk­ schaften dafür, dass keine Kluft zwischen Preissteigerungen und Einkom­ men zulasten der Arbeitnehmer entsteht. Zinsen, die für Ersparnisse gezahlt werden, erhalten weitgehend den Wert der zurückgelegten Gelder. Die EWU ist ein Beispiel für eine solche Entwicklung. Die Konsumen­ tenpreise sind von Jahr zu Jahr gestiegen. Die Einkommen nahmen aber auch von Jahr zu Jahr zu, und zwar etwas stärker als die Preise. In der Zeit von 2003 bis 2010 stiegen die Konsumentenpreise, der HVPI (2005 = 100), jahresdurchschnittlich um 2,0 %. Der Nettojahresverdienst eines Ehepaares mit einem Einkommen und zwei Kindern nahm um 2,6 % zu. Das Realein­ kommen ist in dieser Zeit infolge Preissteigerungen und Einkommensstei­ gerungen nicht gesunken, sondern, wenn auch nur geringfügig, gestiegen. Eurostat veröffentlicht Zinsen für täglich fällige Einlagen privater Haus­ halte im Neugeschäft. Die veröffentlichten Zinssätze gelten also für Ab­ schlüsse, die in der jeweiligen Periode neu abgeschlossen wurden. Für die Zeit von 2003–2010 betrug dieser jahresdurchschnittliche Zinssatz 0,8 %. Wer nur über täglich fällige Einlagen verfügte, konnte, da die Preissteige­ rungsraten deutlich höher lagen, den Realwert seiner Einlagen nicht auf­ rechterhalten. Wer dagegen seine Ersparnisse in zehnjährigen Anleihen an­ gelegt hatte, erzielte 2010 eine Rendite von 3,36 %, entsprechend den Ver­ öffentlichungen der EZB.4 Dank der Einkommensentwicklung während der 4  Europäische

Zentralbank, Monatsbericht Januar 2013, Seite S. 45.

18

A. Konsequenzen der Globalisierung

4

3,5

3

2,5

2

1,5

1

0,5 Source: Eurostat 0

2003

2004

2005

Konsumentenpreise

2006

2007

2008

Nettojahresverdienst

2009

2010

2011

Tägl. Fällige Einlagenzinsen

2012 Cl.K.

Abbildung 2: Preissteigerungen, Einkommenserhöhungen und Zinssätze

Zeit der EWU konnten die Menschen ihr Realeinkommen leicht erhöhen. Die Zinsen, insbesondere mittel- und langfristiger Anlagen, ermöglichten auch den Realwert der Ersparnisse abzusichern. Dieser Zusammenhang zwischen Preissteigerungen, Einkommenserhöhun­ gen und der Zinsentwicklung erklärt auch, weshalb die gesellschaftspoliti­ schen Reaktionen auf die Hyperinflation zu Beginn der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts relativ moderat ausfielen. Das ist bemerkenswert, denn schließlich hatte sich die damalige Mark im Wert bis Ende 1923 um das bil­ lionenfache vermindert. In solchen Fällen können Einkommenssteigerungen die Preisexplosion nicht ausgleichen. Ein Ausweg wurde versucht: In dem Augenblick, in dem jemand seine Lohntüte bekam, begab er sich sofort zur nächsten Bank und tauschte sein Markeinkommen, dessen Realwert sich schon auf dem Wege dorthin, verringert hatte, in US-Dollar um. Da sehr vie­ le Menschen in der Hyperinflation ihre Ersparnisse einbüßten, hatte das zur Folge, dass radikale Parteien Wähler an sich zogen. In der ersten Wahl nach der Hyperinflation am 4. Mai 1924 erhielten die Nationalsozialisten 6,6 % der Stimmen. In den danach folgenden Wahlen am 7. Dezember 1924 und am



VI. Globalisierung verlangt, Hindernisse zu beseitigen19

20. Mai 1928, als sich die Reichsmark etabliert hatte, ging der Stimmenanteil auf 3,0 % und 2,6 % zurück. Ganz anders verhielt es sich in der Weltwirt­ schaftskrise 1929–1932, als zunehmend Menschen arbeitslos wurden. Gegen eine solche Existenzbedrohung gibt es keine ausgleichenden Einflüsse. Hier stiegen die Wahlergebnisse der radikalen Nationalsozialisten rasant an. Das führte schließlich dazu, dass deren Führer, Adolf Hitler, 1933 Reichskanzler wurde, der Beginn einer Diktatur und der nationalen Katastrophe. Es sind diese Erfahrungen, die von demokratischen Regierungen verlangen, dafür Sorge zu tragen, dass ein hoher Beschäftigtenstand erreicht und gesichert wird. Es ist Aufgabe der Wissenschaft, Wege aufzuzeigen, die es ermöglichen Vollbeschäftigung und Preisstabilität gleichzeitig zu erreichen.

VI. Globalisierung verlangt, Hindernisse des Wirtschaftsaustauschs zu beseitigen In der globalen Welt werden die Waren und Dienstleistungen nur zum Teil in den nationalen „Heimatländern“ produziert und abgesetzt. Viele Leistungen werden exportiert und importiert. Es muss dafür gesorgt werden, dass dieser Leistungsaustausch reibungslos geschieht. Ist das nicht der Fall und werden Handelshindernisse errichtet, dann kann das die Beschäftigung beeinträchtigen.  Jeder Leistungstransaktion entspricht eine summengleiche Kapitaltransak­ tion. Wenn der Leistungsaustausch reibungslos verlaufen soll, dann darf auch der Kapitalverkehr in der globalen Welt nicht behindert werden. Da in der globalen Welt unterschiedliche Währungen eingesetzt werden, sind da­ bei die Probleme des Austauschs dieser Währungen, die Wechselkursproble­ me, bedeutsam. Einen freien globalen Leistungs- und Kapitalverkehr sicher­ zustellen, gehört ebenfalls zu den Herausforderungen der Globalisierung.

B. Das Ziel Vollbeschäftigung I. Vollbeschäftigung nicht definiert und ohne klares Konzept 1. Gesetze und Bekundungen Vollbeschäftigung ist das wichtigste wirtschaftspolitische Ziel. Wird es erreicht, herrscht gesellschaftlicher Frieden. Wird das Ziel verfehlt, dann können die betroffenen Arbeitslosen nicht mehr für sich und ihre Familien sorgen. Sie werden von Hilfen des Staates abhängig. Dieser unbefriedigen­ de Zustand sorgt für gesellschaftlichen Unfrieden. Unter solchen Bedingun­ gen bewegen sich Wahlergebnisse in Richtung auf extreme Parteien. Dieser Zusammenhang ist Politikern bewusst. Daher findet sich das Ziel Vollbe­ schäftigung in Gesetzen wieder und Politiker bekunden bei vielen Gelegen­ heiten ihren Willen, für mehr oder ausreichende Beschäftigung zu sorgen. Unterstrichen wird die Bedeutung des Ziels der Vollbeschäftigung da­ durch, dass das Beschäftigungsproblem als einziges wirtschaftspolitisches Problem Eingang in den Katalog der Menschenrechte gefunden hat: „Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslo­ sigkeit.“ (Art. 23, Abs. 1)5. Viele arbeitslose Menschen können diese Rech­ te nicht wahrnehmen. Es gibt auch Menschen, die voll beschäftigt sind, aber so niedrig entlohnt werden, dass sie davon nicht leben können. Ent­ weder erhalten sie dann vom Staat die Differenz zum Lebensminimum. Dann ist das Ganze nach dem Wortlaut mit den Menschenrechten verein­ bar. Der andere Weg, dass das nicht ausreichende Entgelt einer vollen Be­ schäftigung dazu führt, dass die Betroffenen einer zweiten oder dritten Beschäftigung zusätzlich nachgehen, ist wohl nicht mit den Menschenrech­ ten vereinbar: „Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist.“ (Art. 23, Abs. 3). Man hat zu konstatieren, dass Unternehmen teilweise Löhne unter dem Niveau zahlen, das zu Erhalt des Lebens notwendig ist. Entweder ge­ 5  Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in: Völkerrechtliche Verträge, BeckTexte im dtv, 9. Auflage, 2002, S. 172.



I. Vollbeschäftigung nicht definiert und ohne klares Konzept21

schieht das durch die Unternehmen selbst oder über die Zwischenschaltung von Zeitarbeitsfirmen. Auch die Europäische Union hat sich in ihrem umfangreichen Zielkatalog im EU-Vertrag auf das Ziel Vollbeschäftigung festgelegt. Sie wirkt auf „ei­ ne in hohem Maße wettbewerbsfähige Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäf­ tigung und sozialen Fortschritt abzielt“ (Art. 3, Abs. 3)6. Auch die Länder der EU sowie auch Länder außerhalb der EU, in den verschiedenen Erdtei­ len, haben Vollbeschäftigung in ihren Gesetzen als Ziel genannt. Die G20, die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie-, Entwicklungsund Schwellenländer, haben auf ihrer Tagung in Cannes Ende 2011 einen „Action plan for Growth and Jobs“ beschlossen. Dazu heißt es: „We firmly believe that employment must be at the heart of the actions and policies to restore growth and confidence that we undertake under the Framework for strong, sustainable and balanced growth. We are committed to renew our efforts to combat unemployment and promote decent jobs, especially for youth and others who have been most affected by the economic crises.“7 Anfang 2012 haben die Staats- und Regierungschefs der EU auf einer Sondersitzung in Brüssel beschlossen, umgehend Maßnahmen zu ergreifen, um Wirtschaftswachstum zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen. Sie ga­ ben Priorität für „Stimulating employment, especially for young people“8. 2. Keine staatliche institutionelle Verantwortung für Vollbeschäftigung in der EU Wenn ein wirtschaftspolitisches Ziel, noch dazu ein so wichtiges wie Vollbeschäftigung, seinen Niederschlag in Gesetzen und Verträgen findet, dann erwartet man, dass die EU, zumindest aber ihre Mitgliedsländer, Ins­ titutionen schaffen, die für die Erreichung des Vollbeschäftigungsziels ver­ antwortlich sind. Das ist bisher nicht geschehen. Wie ernst werden eigentlich Gesetze mit wirtschaftspolitischen Zielen von der Politik genommen? In der Bundesrepublik Deutschland verlangt das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ im § 1, dass Bund und Länder bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen zu einem hohen Beschäftigungsstand beizutragen haben. Ein deutscher Finanzminister äußert dazu: „Dem Stabilitätsgesetz lag zum Zeit­ 6  Vertrag

über die Europäische Union, Beck-Texte im dtv, 6. Auflage, S. 35. Summit Final Declaration, „Building our Common Future: Renewed Collective Action for the Benefit of All“, 4. November 2011, S. 1. 8  European Union, European leaders commit to strengthen EU growth and com­ petitiveness, Presse, 30. January 2012, S. 1. 7  Cannes

22

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

punkt seiner Verabschiedung eine wirtschaftspolitische Philosophie zugrun­ de, die den heutigen Herausforderungen nicht mehr genügt.“9 Der Minister hat aber keine Initiative ergriffen, ein Nachfolgegesetz zum Stabilitäts- und Wachstumsgesetz zu schaffen, das den nach seiner Ansicht gegenwärtigen Herausforderungen entspricht. Man kann daraus nur schließen und das tat­ sächliche wirtschaftspolitische Handeln bestätigt das, dass der Staat nicht nachhaltig, aktiv gehandelt hat, um Vollbeschäftigung zu erreichen. Die häufig geäußerten staatlichen Forderungen nach mehr Beschäftigung werden meist mit einem Konzept untermauert. Es richtet sich vor allem an die Unternehmen und die Gewerkschaften. Zusammenfassen lässt sich das Konzept mit dem Satz, der in einem Bericht des BMin. für Wirtschaft und Technologie zu finden ist: „Die Arbeitsmärkte flexibilisieren und Wettbe­ werbsfähigkeit durch Senkung ihrer Lohnstückkosten zurückgewinnen.“10 In dem Bericht werden dezentrale Lohnabschlüsse und Abweichungen von starr vorgegebenen Regelungen begrüßt, die die wirtschaftliche Lage einzel­ ner Regionen, Branchen und Betriebe berücksichtigt. Die schrittweise Erhö­ hung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre soll den Faktor Arbeit entlasten und die Sozialversicherungssysteme stabilisieren. Begrüßt werden auch die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Verlängerung der Probezeit bei unbefristeten Verträgen, die Senkung der Abfindungszahlungen bei Kündi­ gung und die erleichterte Zulassung von Zeitarbeitsunternehmen. Solche Maßnahmen von Staaten der EWU führen zu erheblichen sozialen Ein­ schnitten bei den Betroffenen. Sie konnten nicht verhindern, dass die Ar­ beitslosenquoten in der EWU auf inakzeptable Größen gestiegen sind (Feb­ ruar 2013: 12,0 %). Auch das BMin. für Finanzen argumentiert ähnlich wie das BMWT: „Das Funktionieren von Arbeits- und Produktmärkten ist die Grundlage für internationale Wettbewerbstätigkeit, Beschäftigung und damit für nachhaltiges Wirtschaftswachstum.“ Nur en passant erwähnt es, „Eine maßvolle, effiziente Staatstätigkeit ist zudem Voraussetzung für mehr privat­ wirtschaftliche Aktivität und Investitionen von in- und ausländischen Unter­ nehmen.“ Das ändert aber nichts an der Grundeinstellung: „Die Stärkung des marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens durch gute Institutionen muss deshalb Teil einer langfristigen Reformstrategie für nachhaltiges Wachstum sein.“11 Eine freie und offene Wirtschaft ist eine Selbstverständlichkeit. Sie kann aber nicht auf eine aktive staatliche Beschäftigungspolitik verzichten. 9  Hans Eichel, Wachstum, Beschäftigung, Preisstabilität, in: Frankfurter Allge­ meine Zeitung, 5. April 2001, S. 19. 10  Grenzerfahrungen im Euroraum, Wachstum für Europa, Sonderheft Schlaglich­ ter der Wirtschaftspolitik, Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Ber­ lin, Oktober 2012, S. 25. 11  Konsolidierung und Reformen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum, in: Mo­ natsbericht des BMF, November 2012, S. 9 f.



I. Vollbeschäftigung nicht definiert und ohne klares Konzept23

Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftli­ chen Entwicklung plädiert für mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt.12 Der ge­ setzliche Kündigungsschutz sollte auf den Prüfstand gestellt werden (Zi 542) und das Streikrecht sollte besser gesetzlich geregelt werden (Zi 543). Es soll­ te einem Arbeitnehmer, unabhängig von Tarifverträgen, nicht verwehrt wer­ den, mit Hilfe von Lohnzugeständnissen einen Arbeitsplatz zu erhalten, bei einem Verbandsaustritt eines Unternehmens sollte die Maximalfrist der Tarif­ bindung verringert werden, auch nicht tarifgebundene Unternehmen sollten Betriebsvereinbarungen über Arbeitsentgelte abschließen können und All­ verbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen sollten unterbleiben gemein­ (Zi 545). Außerdem spricht sich der Sachverständigenrat „mit Nachdruck ge­ gen die Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen aus“ (Zi 544) und steht der steuerlichen Förderung von Minijobs im Nebenerwerb kritisch gegen­ über; auch erscheint ihm die Anhebung der Verdienstgrenzen bei Minijobs wenig sinnvoll (Zi 538). Diese und ähnliche Ratschläge werden seit Jahren vorgetragen. Den Anstieg der Arbeitslosenquoten konnten sie nicht verhin­ dern. Nicht gezeigt wird, auch nicht in dem erwähnten Gutachten, auf wel­ chem Wege und vor allem in welchem Umfang die vorgeschlagenen Maß­ nahmen die Arbeitslosigkeit verringern könnten. Bei zweistelligen Arbeitslo­ senquoten, wie in der EWU, ist die Zeit gekommen, sich über andere Wege Gedanken zu machen, wie wieder Vollbeschäftigung erreicht werden kann. 3. Arbeitslosigkeit in der globalen Welt nicht im Griff Die Arbeitslosenquoten in den Ländern der globalen Welt bewegen sich in der Zeit recht erratisch. Das bedeutet, sie werden nicht durch die Wirt­ schaftspolitik geprägt. Vielmehr wirken viele unterschiedliche tatsächliche Einflüsse auf die wirtschaftliche Entwicklung und damit auf den Arbeits­ markt ein. Das gilt nicht nur für Europa, sondern grundsätzlich weltweit. Bemerkenswert ist, dass die beiden wichtigsten Industriegebiete, die USA und die EWU die höchsten Arbeitslosenquoten aufweisen. Die Welt-Finanz­ marktkrise und die daraus resultierende allgemeine Konjunkturkrise trafen diese beiden Volkswirtschaften am stärksten. In allen Ländern stiegen bis 2009 die Arbeitslosenzahlen an. Danach bemühten sich die meisten Länder mit Erfolg ihre Arbeitslosenquoten wieder zurück zu führen. Eine Ausnah­ me bildete die EWU. Hier war man bemüht, hohe öffentliche Defizite und hohe öffentliche Schuldenstände zu verringern. Das dämpfte das Wirt­ schaftswachstum und führte dadurch zu einem weiteren Anstieg der Arbeits­ 12  Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Stabile Architektur für Europa – Handlungsbedarf im Inland, Jahresgutachten 2012 / 13, S.  315 ff.

24

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

12 11 10 9 8 7 6 5 4 Quelle: G20

3 Cl.K.

2007

2008

EWU

USA

2009 Brasilien

2010

2011

Russland

Japan

2012 China

Abbildung 3: Arbeitslosenquoten in der globalen Welt

losenquote. So verständlich es ist, öffentliche Defizite und öffentliche Schuldenstände abzubauen, Arbeitslosenquoten von 11 bis 12 % sind nicht hinnehmbar. Während in Europa und Nordamerika die Arbeitslosigkeit hoch ist, zeigt Asien das entgegengesetzte Bild. Sowohl in China als auch in Japan liegen die Arbeitslosenquoten nur wenig über 4 %. Auch so wichtigen Schwellen­ ländern, wie Brasilien und Russland, gelang es, ihre Arbeitslosenquoten deutlich herabzuführen. 4. Ungewöhnlich hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa Die EU und die EWU haben die Mitgliedsländer nicht zu einem nachhal­ tigen Handeln gegen Arbeitslosigkeit veranlassen können, so dass die Ar­ beitslosenquoten zweistellig wurden. Das sind Größen, die für den gesell­ schaftlichen Frieden gefährlich hoch sind. Sie tragen zur Politikverdrossen­ heit bei. Aber das ist noch nicht alles. In jedem Mitgliedsland der EWU



I. Vollbeschäftigung nicht definiert und ohne klares Konzept25 Belgien

22,0

Deutschland

7,9

Estland

19,8

Finnland

19,5

Frankreich

Stand: Dez. 2012

25,5

Griechenland

58,4

Irland

29,5

Italien

37,1

Luxemburg

18,6

Malta

14,5

Niederlande

10,0

Österreich

9,0

Portugal

38,0

Slowakei

35,0

Slowenien

23,2

Spanien

55,3

Zypern

31,8 0

10

Quelle: Eurostat

20 ArbL insges.

30

40

50

ArbL < 25 J.

60 Cl.K.

Abbildung 4: Arbeitslosenquoten insgesamt und Jugendlicher (< 25 J.) in der EWU

liegen die Arbeitslosenquoten der Jugendlichen, der Arbeitskräfte von 15 bis 25 Jahren, über dem Durchschnitt der Gesamtarbeitslosigkeit. Im Februar 2013 betrug die Arbeitslosenquote gemessen an den Erwerbspersonen in der EWU 12,0 % und die der Jugendlichen 23,9 %. In Ländern mit hohen Arbeitslosenquoten insgesamt und bei Jugend­ lichen, wie z. B. in Griechenland, bilden sich radikale und demokratiefeind­ liche Parteien. Man diskutiert das Verbot solcher Gruppierungen. Das ist aber nicht erforderlich. Würde man sich darauf konzentrieren, die Arbeits­ losenquoten auf 3 % bis 4 % zurück zu führen, erledigt sich auch das Prob­ lem radikaler Gruppierungen. 5. Ein Schwellenwert für die Arbeitslosenquote „Die Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Wäh­ rung der Euro ist.“ (EUV, Art. 3, Abs. 4)13. Die Währungsunion ist verwirk­ 13  EU-Vertrag,

Beck-Texte im dtv, 6. Auflage, 2008, S. 35.

26

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

licht, die Wirtschaftsunion jedoch noch nicht. Alle Mitgliedstaaten hatten sich im EU-Vertrag verpflichtet, der Union „Zuständigkeiten zur Verwirk­ lichung ihrer gemeinsamen Ziele [zu] übertragen.“ (EUV, Art. 1). Die Mit­ gliedsländer der EWU sind sich auch bewusst, dass die Währungsunion der Ergänzung durch die Wirtschaftsunion bedarf. Sie tun sich allerdings schwer solche Zuständigkeiten an die EU bzw. die EWU abzutreten. So kommt der Prozess in Richtung auf eine Wirtschaftsunion nur sehr langsam voran. Um die Wirtschaftspolitiken der Mitgliedsländer besser zu koordinieren und makroökonomische Ungleichgewichte besser zu überwachen und einzu­ ebnen, hat die Kommission eine Reihe von Indikatoren entwickelt und je­ weils Schwellenwerte festgelegt. Einer dieser Schwellenwerte sind die Ar­ beitslosenquoten. Ihr Schwellenwert beträgt 10 % im Durchschnitt der letzten drei Jahre.14 Wird dieser Wert überschritten, dann befindet sich das Mit­ gliedsland nicht mehr im gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht. Die Kom­ mission gibt dann, von den Staats- und Regierungschefs abgesegnet, diesem Land Empfehlungen, wie sie die Fehlentwicklung beseitigen soll. Das Empfängerland soll die Empfehlungen umsetzen. Müsste sie es tun, wäre man der einheitlichen Wirtschaftspolitik in der EWU einem wesentlichen Schritt näher.

II. Vollbeschäftigungsziel und Vollbeschäftigungsstrategie 1. Quantitative Zielsetzung für Vollbeschäftigung Wenn man ein Ziel, wie Vollbeschäftigung verwirklichen will, dann reicht die Bekundung, das Ziel zu erreichen, nicht aus. Soll eine Arbeitslosenquo­ te von 0 % erreicht werden oder eine von 10 %, die die Kommission der EU als Schwellenwert festgelegt hat, um festzustellen, ob ein gesamtwirtschaft­ liches Ungleichgewicht besteht. Man muss sich Gedanken darüber machen, welche Arbeitslosenquote noch zu akzeptieren ist, die noch nicht zu negati­ ven gesellschaftlichen Entwicklungen führt. Würde jeder Mensch, der arbei­ ten will, auch arbeiten, dann ergibt sich eine Arbeitslosenquote von Null. Die aber wird es nie geben. Zwei Einflüsse verhindern das. Einmal ist es die saisonale Arbeitslosigkeit. Im Winter können Tiefbau- und Hochbauar­ beiten witterungsbedingt nicht immer aufrechterhalten werden. Im Sommer werden in den Skizentren weniger Menschen in den Hotels und Restaurants benötigt. Menschen werden saisonal bedingt arbeitslos. Zum anderen gibt es eine stets vorhandene friktionelle Arbeitslosigkeit. Menschen kündigen ih­ ren Arbeitsplatz, um einer anderen Beschäftigung nachzugehen. Zwischen 14  European Commission, Scoreboard for the Surveillance of Macroeconomic Imbalances, Occasional Papers 92, February 2012, p. 32.



II. Vollbeschäftigungsziel und Vollbeschäftigungsstrategie27

den beiden Terminen liegt eine Zeitspanne. Menschen sind vorübergehend friktionell arbeitslos. Messen kann man die saisonale und friktionelle Arbeitslosenquote an der niedrigsten Quote, die wirklich erreicht wurde. Sie könnte die anzustreben­ de Arbeitslosenquote sein, die mit Vollbeschäftigung vereinbar ist. In der Bundesrepublik Deutschland z. B. betrugen die durchschnittlichen Arbeitslo­ senquoten 1960 1,3 %, 1965 0,7 % und 1970 0,6 %. Man scheut sich, solche Werte für die Definition der Vollbeschäftigung zugrunde zu legen. Die tat­ sächliche Entwicklung hat sich davon deutlich entfernt. Vollbeschäftigung bei saisonaler und friktioneller Arbeitslosigkeit definieren wir mit einer Arbeitslosenquote von 3 %. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sieht das Vollbeschäftigungsziel bei 4 %. „Allerdings liegt das Vollbeschäftigungsziel noch weit vor uns. … eine Arbeitslosenquote von 7,1 v. H. liegt nicht unerheblich über ihrem Vollbeschäftigungswert von rund 4 v. H.“15 2. Verringerung der Arbeitslosigkeit durch angemessenes Wirtschaftswachstum Wenn ein wirtschaftspolitisches Ziel rechtlich und quantitativ formuliert ist, dann bedarf es einer Strategie, um dieses Ziel zu erreichen und zu si­ chern. Das Ziel Vollbeschäftigung findet sich in der Menschenrechtscharta, im EU-Vertrag und in vielen nationalen Gesetzen. Quantitativ kann Vollbe­ schäftigung mit einer Arbeitslosenquote von 3 % definiert werden. An einer Strategie mangelt es. Man begnügt sich mit Hinweisen, der Markt werde schon dafür sorgen, dass sich die Arbeitslosigkeit in Grenzen hält. Die Ar­ beitnehmer sollten bei allgemeiner Arbeitslosigkeit flexibel durch Arbeits­ platzwechsel und Lohnzurückhaltung darauf reagieren. Entsprechend appel­ liert man auch an die Gewerkschaften. Die Unternehmen sollten dann in der Lage sein, ihre Lohnstückkosten zu senken. Die tatsächliche Entwicklung läuft aber nicht in die erhoffte Richtung. Wenn man einstellige Arbeitslosen­ quoten, z. B. 3 % oder 4 %, als Ziel hat, dann gebieten zweistellige Arbeitslo­ senquoten, das Arbeitslosenproblem nicht länger vor allem den Märkten zu überlassen. Die Gefahr gesellschaftlichen Aufbegehrens wird zu groß. Man muss einer Strategie folgen, in der staatliches Handeln notwendig wird. Ausgangspunkt einer solchen Strategie ist die simple Überlegung, dass die Arbeitslosigkeit abnimmt, wenn die Nachfrage nach Arbeitskräften 15  Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Verantwortung für Europa wahrnehmen, Jahresgutachten 2011 / 12, Zi. 448, Abs. 2.

28

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

stärker zunimmt als das Angebot. Diese Überlegung verlangt, dass man definiert, was die Nachfrage nach und das Angebot an Arbeitskräften be­ stimmt. Wenn in einer Wirtschaft zusätzlich Leistungen produziert werden, sind dazu zusätzliche Arbeitskräfte erforderlich. Die Summe aller Leistun­ gen fasst man im Bruttoinlandsprodukt BIP zusammen. Ein steigendes BIP erhöht also die Nachfrage nach Arbeitskräften. Das BIP Y selbst ergibt sich als Produkt aus den Beschäftigten A und ihrer Arbeitsproduktivität π. Sie ist ihrerseits das Produkt aus dem eingesetzten Kapital je Beschäftig­ ten (Kaptalintensität) und der Leistung je Kapitaleinheit (Kapitalprodukti­ vität). (1)

Y = Aπ

Das Angebot an Arbeitskräften kann man an einer Größe messen, die man als Produktionspotenzial Y* bezeichnet. Sie unterstellt, dass alle Men­ schen, die arbeiten wollen, das Arbeitspotenzial A*, beschäftigt sind. Dabei umfasst das Arbeitspotenzial die tatsächlich Beschäftigten A und die Ar­ beitslosen AL. Das Produktionspotenzial ergibt sich, ähnlich wie beim BIP, aus dem Arbeitspotenzial multipliziert mit der Arbeitsproduktivität bei opti­ maler Kapazitätsauslastung π*. Wenn die Arbeitsproduktivität steigt, dann kann das BIP des Vorjahres mit weniger Arbeitskräften produziert werden. Arbeitskräfte werden freigesetzt. Das Angebot an Arbeitskräften steigt. (2)

Y* = A* π* = (A + AL) π*

Üblich ist nicht eine so einfache Definition des Produktionspotenzials. Häufig werden komplizierte mathematische Modelle entwickelt, um diese Größe zu schätzen. Z. B. entwickelte die Deutsche Bundesbank eine „Dis­ aggregierte Potenzialschätzung auf produkttheoretischer Basis“16, das Bun­ desfinanzministerium legt seiner Schätzung eine Cobb-Douglas-Produk­ tionsfunktion zugrunde17 und das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie schätzt das Produktionspotential „aus den Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und der sogenannten Totalen Faktorproduktivität (TFP).“ Das Ministerium fügt hinzu, „Das Produktionspotenzial ist eine in der Re­ alität nicht beobachtbare Größe. Sie wird vielmehr mithilfe statistischer Verfahren geschätzt.“18 16  Fortschritte bei der Stärkung des gesamtwirtschaftlichen Wachstumspotenzials, Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Oktober 2007, S. 38 ff. 17  Bedeutung der Schätzungen von Produktionspotenzial und Produktionslücken für die Finanzpolitik, Monatsbericht des BMF Oktober 2006, S. 50. 18  Strukturelle Wachstumsmöglichkeiten im europäischen Vergleich, Bundesmi­ nisterium für Wirtschaft und Technologie, Berlin, Oktober 2012, S. 16.



II. Vollbeschäftigungsziel und Vollbeschäftigungsstrategie29

Wird der Ausdruck (2) durch den Ausdruck (1) dividiert, so erhält man:

Y * = (A + AL) π * = (1 + ALQ) π * Y A π π

Diesen Ausdruck kann man noch etwas vereinfachen. Differenzen zwi­ schen der Arbeitsproduktivität und der Arbeitsproduktivität bei optimaler Auslastung ergeben sich, je nachdem welche Annahmen man bei der optima­ len Arbeitsproduktivität zugrunde legt. Vergleiche zeigen, dass die Differen­ zen gering sind. Wir setzen daher die Arbeitsproduktivität π und die bei opti­ maler Auslastung π* gleich. So erhält man schließlich: Der Quotient von Produktionspotenzial und Bruttoinlandsprodukt ist gleich 1 plus der Arbeits­ losenquote, und zwar der Arbeitslosen gemessen an den Erwerbstätigen. (3)

Y * = 1 + ALQ Y

Die Bestandsgrößen im Ausdruck (3) sind für die Strategie zum Abbau der Arbeitslosigkeit wenig interessant. Erforderlich sind die Veränderungen dieser Größen. Legt man exponentielle Veränderungsgrößen w zugrunde, so erhält man: (4)

w (1+ALQ) = wY* – wY

Ausdruck (4) beschreibt die Strategie, die einzuschlagen ist, um die Ar­ beitslosigkeit zu verringern. Die Arbeitslosigkeit nimmt ab, wenn die Zu­ wachsrate des realen BIP wY die Wachstumsrate des Produktionspotenzials Y* übersteigt. Aus dem Ausdruck (4) folgt ferner, dass die Arbeitslosigkeit unverändert bleibt, wenn sich die beiden Raten entsprechen. Ist die Zu­ wachsrate des realen BIP kleiner als die Wachstumsrate des Produktionspo­ tenzials, d. h. bleibt die Nachfrage nach Arbeitskräften hinter dem Angebot an Arbeitskräften zurück, dann nimmt die Arbeitslosigkeit weiter zu. Das folgende Schaubild basiert auf dem Ausdruck (4). Es enthält einmal eine Kurve, deren Werte der Differenz zwischen der Wachstumsrate des Produktionspotenzials und der Zuwachsrate des realen BIP (rechte Skala) entsprechen. Wenn die Kurve im positiven Bereich verläuft, ist die Zuwachs­ rate des realen BIP höher als die Wachstumsrate des Produktions­potenzials (angemessenes Wirtschaftswachstum). Entsprechend nimmt die Arbeitslosig­ keit ab (linke Skala). Wenn die Zuwachsrate des realen BIP unangemessen ist, also die Wachstumsrate des Produktionspotenzials unterschreitet, verläuft die Kurve im negativen Bereich und die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Das Schaubild lässt erkennen, dass es an einer Strategie für mehr Be­ schäftigung mangelte. Die Kurve angemessenes  /  unangemessenes Wirt­

30

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

25,00

2,50

20,00

2,00

15,00

1,50

10,00

1,00

5,00

0,50

0,00

0,00

–5,00

–0,50

–10,00

–1,00

–15,00

–1,50 –2,00

–20,00 Source: Eurostat

–25,00

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Veränd. der ArbLosen i. v. H

Kurve angem./unangem. Wachstums

–2,50 Cl.K.

Abbildung 5: Angem. / unangem. Wachstum und Veränd. d. Arbeitslosigkeit i. d. EWU

schaftswachstum ist ein getreues Spiegelbild der konjunkturellen Entwick­ lung. Viele EWU-Staaten hatten anregende Konjunkturprogramme aufgelegt. Die EU-Regeln für öffentliche Defizite und Schuldenstände geboten einen relativ geringen Umfang dieser kompensierenden Impulse. 3. Die für Vollbeschäftigung verantwortliche Institution: Finanzministerium oder Zentralbank Ein Erfolg der Vollbeschäftigungsstrategie verlangt, dass das reale BIP angemessen zunimmt, d. h. das BIP schneller wächst, als das Produktions­ potenzial. Das lässt sich nicht durch Flexibilität am Arbeitsmarkt erzielen. Vielmehr verlangt die Strategie staatliches Handeln, um ein angemessenes Wirtschaftswachstum sicher zu stellen. Die Frage, welche staatliche Stelle verantwortlich sein soll, um Vollbeschäftigung zu erreichen und zu sichern, kennt nur zwei Antworten: entweder das Finanzministerium bzw. eine von ihm gegründete Tochtergesellschaft oder die Zentralbank.



III. Kaum Vollbeschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien31

Um diese Alternative zu entscheiden sind mehrere Aspekte zu beachten. Zum einen ist zu würdigen, welche Instrumente zur Verfügung stehen. Das Finanzministerium kann mit mehr oder weniger öffentlichen Ausgaben und Einnahmen arbeiten, d. h. in den Konjunkturprozess eingreifen. Die Zentral­ bank steuert die Zinssätze und damit die monetären Aggregate. Sie kann auf diesem Wege wirtschaftliche Aktivitäten anregen oder bremsen. Allerdings sieht der EU-Vertrag vor, dass die öffentlichen Defizite und der öffentliche Schuldenstand des Staates über festgelegte Grenzen nicht hinausgehen dür­ fen. Das kann auch notwendige Eingriffe des Finanzministeriums in den Wirtschaftsablauf begrenzen. Gleichgültig welche Institution verantwortlich für Vollbeschäftigung wird, man muss stets mit Interessenkonflikten zwi­ schen Vollbeschäftigung und Preisstabilität rechnen. Welche staatliche Stel­ le, Finanzministerium oder Zentralbank, mit diesen Konflikten am besten umgehen kann, ist zu prüfen. Schließlich ist auch die Frage wichtig, mit welchem politischen Einfluss bei den beiden staatlichen Stellen zu rechnen ist. In jedem Fall ist sicher zu stellen, dass sich fundierte sachliche Ent­ scheidungen durchsetzen können.

III. Kaum Vollbeschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien 1. Grundsätzliche Zurückhaltung Wenn die nationalen Finanzministerien oder die von ihnen dazu berufe­ nen „Töchter“ verantwortlich für Vollbeschäftigung sind, dann stehen ihnen Instrumente der öffentlichen Haushalte auf der Ausgaben- und der Einnah­ menseite zur Verfügung. Es ist bemerkenswert mit welcher Energie sich einige Regierungen gegen den Einsatz dieser Haushaltsinstrumente wehren. Sie werden als kurzfristige, nachfrageorientierte Maßnahmen angesehen, die wirkungslos seien. So betont der deutsche Finanzminister: „Auf Basis einer kurzfristigen, nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik kann hingegen kein dauerhaftes Wachstum entstehen. Typischerweise ist die stabilisierende Wir­ kung fiskalischer Konjunkturimpulse nur sehr kurzfristig gegeben („Stroh­ feuer“). … In einer Krise, die auf strukturelle Probleme zurückzuführen ist, wären fiskalische Konjunkturimpulse bestenfalls wirkungslos.“19 Diese Feststellungen traf der Bundesfinanzminister im November 2012. Offensichtlich hatte er außer Acht gelassen, dass in der vorangegange­ nen Finanz- und Konjunkturkrise die staatlichen Programme dazu beigetra­ gen haben, den starken Abschwung zu überwinden. „Was die wirtschaft­ 19  Konsolidierung und Reformen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum, in: Mo­ natsbericht des BMF, November 2012, S. 11.

32

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

liche Analyse betrifft, so hat sich die konjunkturelle Aufhellung im EuroWährungsgebiet im dritten Quartal 2009 fortgesetzt, … Derzeit profitiert das Eurogebiet … von den laufenden umfangreichen gesamtwirtschaft­ lichen Konjunkturprogrammen“.20 Die Gründe, dass Regierungen Konjunk­ turprogramme so vehement ablehnen und in internationalen Verhandlungen immer nur allgemeine Bekenntnisse zur Vollbeschäftigung zu finden sind, aber nie quantitative Ziele, liegt offenbar in den kurzfristigen negativen Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte. Konjunkturprogramme erhö­ hen zunächst das öffentliche Defizit und damit die öffentlichen Schulden. Das aber fürchten die Regierungen. Das den Konjunkturprogrammen nach­ folgende verstärkte Wirtschaftswachstum lässt dann allerdings die Steuer­ einnahmen stärker steigen und verbessert damit die Situation der öffent­ lichen Haushalte. Konjunkturprogramme verpulvern keinesfalls Gelder (Strohfeuerthese) ohne eine positive Wirkung auf die Konjunktur. Zu Beginn eines Konjunk­ turprogramms stehen öffentliche Aufträge an die private Wirtschaft. Wenn die Wirtschaft diese Aufträge, z. B. zum Bau von Schulen, Krankenhäuser und Straßen sowie im Bereich von Bildung und Forschung, ausführt, wer­ den zusätzliche reale Leistungen vollbracht. Die Zuwachsrate des realen BIP steigt. Trotzdem, es ist zu konstatieren, dass nationale Regierungen, wirtschaftliche Zusammenschlüsse, wie die EU / EWU und die G20, sich nach wie vor scheuen, Verantwortung für Vollbeschäftigung zu übernehmen und mit einer wirksamen Strategie der Arbeitslosigkeit zu begegnen. 2. Wirtschaftswachstum und öffentliche Finanzen Unbestritten ist, dass ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und öffentlichen Finanzen besteht. Je höher die Wachstumsraten des nomi­ nalen BIP sind, umso höher sind auch die Zuwachsraten öffentlicher Ein­ nahmen. Die hier zugrunde gelegte Strategie, um die Arbeitslosigkeit zu verringern, verlangt, dass die Zuwachsrate des realen BIP die Wachstums­ rate des Produktionspotenzials übersteigt. Um das zu erreichen, muss der Staat wahrscheinlich der privaten Wirtschaft Aufträge erteilen. Die damit verbundenen Sorgen von Regierungen, ihre Haushaltssituation könnte sich dadurch verschlechtern, kann man nur entkräften, wenn bei einer erfolgreich angewendeten Strategie, nicht nur die Arbeitslosigkeit sinkt, sondern sich auch die öffentlichen Finanzen verbessern. Das Schaubild (Wirtschaftswachstum und Defizit …) lässt den Zusam­ menhang zwischen Wirtschaftswachstum und öffentlichen Überschüssen 20  Europäische

Zentralbank, Monatsbericht Dezember 2009, S. 5.



III. Kaum Vollbeschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien33 0,0

– 1,0

2000 –2012

– 2,0

Öff.Defizit / BIP

– 3,0

– 4,0

– 5,0 r = 0,84

– 6,0

– 7,0 –2,50 Source: Eurostat

–2,00

–1,50

–1,00

0,50

0,00

0,50

1,00

Differenz zwischen den ZuwR. des BIPr u. des ProdPotentials

1,50 Cl. K.

Abbildung 6: Wirtschaftswachst. u. Defizite d. öff. Haush. (Maastrichter-Kriter.) (EWU)

und Defiziten deutlich erkennen. Auf der Abszisse abgetragen ist für die Jahre 2000 bis 2011 die Differenz zwischen der Zuwachsrate des realen BIP abzüglich der Wachstumsrate des Produktionspotenzials. Die Ordinate ent­ hält die jeweils dazugehörenden Defizite der öffentlichen Haushalte in der WEU. Überschüsse haben sich in den betrachteten zwölf Jahren nicht erge­ ben. Je mehr die Zuwachsrate des realen BIP die Wachstumsrate des Pro­ duktionspotenzials übersteigt, je geringer ist das sich ergebende Defizit. Je weniger die Zuwachsrate des realen BIP die Wachstumsrate des Produk­ tionspotenzials übersteigt oder wenn die Zuwachsrate des BIP unter die Wachstumsrate des Potenzials fällt, umso höher ist das Defizit der öffent­ lichen Haushalte. Der eingetragene Trend unterstreicht das (Korrelations­ koeffizient 0,84). Das Bild erklärt, warum sich Regierungen so schwer tun, zusätzliche Aufträge an die private Wirtschaft zu erteilen, also ein Konjunkturprogramm zu schnüren, um die Lage am Arbeitsmarkt zu verbessern. In der EWU muss man damit rechnen, dass bei einer hohen Zuwachsrate des realen BIP von 3 % (Wachstumsrate des Produktionspotenzials 1,5 %) zwar die Arbeits­

34

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

losigkeit deutlich zurückgeht, aber die öffentlichen Haushalte gerade ausge­ glichen sind. Bei geringeren Zuwachsraten des BIP, die die Regel waren, entstehen nach wie vor Defizite und damit steigen die öffentlichen Schulden weiter an. 3. Defizit- und Schuldenstandsgrenzen verstärken die konjunkturelle Zurückhaltung in der EWU Eine Währungsunion bedarf einer Wirtschaftsunion, vor allem einer grundsätzlich einheitlichen Finanzpolitik. Daran bestehen keine Zweifel. Schon der EU-Vertrag sieht vor: „Die [Europäische] Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion,“21 Ende der 90ger Jahre einigte man sich auf die Währungsunion, nicht aber auf eine vollständige Wirtschaftsunion. Das lag keinesfalls an Formalien. Denn es heißt im EU-Vertrag: Die Ver­ tragsparteien gründen eine Europäische Union, „der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen.“22 Die Mitgliedsländer der EU taten und tun sich schwer Zuständigkeiten, insbesondere im Bereich öffentlicher Finanzen, an die EU-Kommission zu übertragen. Dabei unterstützt die nationale Rechtsprechung meist die Zu­ rückhaltung nationaler Parlamente und Regierungen. Da es nicht gelang bei der Errichtung der Währungsunion auch die Wirt­ schaftsunion, insbesondere eine Finanzunion zu verwirklichen, musste nach Möglichkeiten gesucht werden, zu verhindern, dass die nationalen Finanz­ politiken der Mitgliedsländer der EWU völlig eigene Wege gehen. So ent­ schloss man sich, die öffentlichen finanziellen Aktivitäten der Mitgliedslän­ der der EU und damit der EWU zu begrenzen. So wurde im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vereinbart: „(1) Die Mitgliedstaaten vermeiden übermäßige öffentliche Defizite. (2) Die Kom­ mission überwacht die Entwicklung der Haushaltslage und die Höhe des öffentlichen Schuldenstands in den Mitgliedstaaten … anhand von zwei Kriterien, nämlich daran, a) ob das Verhältnis des geplanten und tatsäch­ lichen öffentlichen Defizits zum [nominalen] Bruttoinlandsprodukt einen bestimmten Referenzwert überschreitet, b) ob das Verhältnis des öffent­ lichen Schuldenstands zum [nominalen] Bruttoinlandsprodukt einen be­ stimmten Referenzwert überschreitet,“23 Definiert werden die Referenzwer­ te in einem zum AEUV-Vertrag gehörenden Protokoll. Danach beträgt der Referenzwert für öffentliche Defizite 3 % und der für den öffentlichen 21  EUV,

Art. 3, Abs. 4 in EU-Vertrag, Beck-Texte im dtv, 6. Auflage 2008. Art. 1 in EU-Vertrag, Beck-Texte im dtv, 6. Auflage 2008. 23  AEUV, Art. 126, Abs. 1 und 2 in EU-Vertrag, Beck-Texte im dtv, 6. Auflage 2008. 22  EUV,



III. Kaum Vollbeschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien35

Deutschland Estland Luxemburg Finnland Österreich Italien Malta Belgien Slowenien Niederlande Slowakei Frankreich Zypern Portugal Irland Griechenl. Spanien –1 Source. ECB

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

in % des BIPn

10

11 Cl.K.

Abbildung 7: Öffentliche Defizite in der EWU (3 %-Regel) 2012

Schuldenstand 60 %.24 Weshalb gerade diese Werte bestimmt wurden, darü­ ber hat es kaum eine eingehende Diskussion gegeben. Vielmehr dürften sie auf dem Durchschnitt mehrerer Jahre vor der Währungsunion, der damals beteiligten Länder, beruhen. Es ist äußerst schwierig, diese Regeln einzuhalten. Eine Defizitregel z. B. von 3 % und eine Schuldenstandsregel von 60 % bleiben in der Zeit aufrecht erhalten, wenn Defizit und Schuldenstand mit derselben Zuwachsrate fort­ schreiten und, als zweite Bedingung, wenn das nominale BIP ebenfalls mit derselben Rate wächst. Das aber ist kaum sicher zu stellen. Wenn plötzlich die Wirtschaft in eine weltweite Krise gerät, wie 2009, dann nehmen, selbst bei unveränderten Defiziten und Schuldenständen, die entsprechenden Quo­ ten zu. Sollte umgekehrt die Zuwachsrate des BIP höher sein, als die Fort­ schrittsraten von Defizit und Schuldenstand, dann sinken die Quoten. Von den 17 Mitgliedsländern der EWU haben nur sechs Länder (2012) die 3 %-Defizitregel eingehalten. Um die Defizitquoten der anderen elf Län­ 24  AEUV, Protokoll (Nr. 13) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, in EU-Vertrag, Beck-Texte im dtv, 6. Auflage 2008.

36

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

der wieder an die 3 %-Grenze heranzuführen, würde eine hohe Zuwachsrate des nominalen BIP von z. B. 5 % (3 % reales BIP und 2 % unvermeidliche Preissteigerungsrate) das Problem langsam lösen. Aber das ist nicht die herrschende Therapie. Sie lautet vielmehr: die öffentlichen Haushalte sollten sparen. „The fiscal consolidation strategy aims at settings the debt-to-GDP ratio on a downward path from 2013 onwards. It draws on a broad-based mix of revenue-raising and expenditure-reducing measures, with priority given to expenditure“.25 Diese Strategie hilft nur unter großen Schmerzen für die betroffene Volkswirtschaft öffentliche Defizite zu verringern. Was aber noch schlimmer ist, niedrige Zuwachsraten des BIP tragen nicht zur Lösung des Arbeitslosenproblems bei, sondern verschlimmern es. Die Folge sind in den betroffenen Ländern soziale Unruhen. Wenn es in der gegebenen Wirtschaftspolitik so schwierig ist, öffentliche Defizite abzubauen, dann gilt das Gleiche für den Schuldenstand. Auch er ist nur zu verringern, wenn das nominale BIP relativ stärker zunimmt, als der Schuldenstand. Das aber ist nur selten gegeben und dies ist auch nicht die Strategie der Kommission und der Mitgliedsländer der EWU. Das Schaubild lässt erkennen, dass in der gesamten Zeit des Bestehens der EUW – und auch zuvor – die Schuldenstandsquote bei eher 70 % lag. Es ist zu berücksichtigen, dass eine Reihe Länder stets recht hohe öffentli­ che Schuldenquoten besaßen. Seit Jahrzehnen hatten Belgien, Griechenland und Italien Quoten über 100 %. Es ist ein schwieriges Unterfangen, diese Quoten auf 60 % herunter zu schleusen. In den Aufschwungsjahren 2006 und 2007 gab es die Hoffnung, dass sich die Lage bessern könnte. Das wurde durch die Weltfinanzkrise 2008 und 2009 und das geringe Wirt­ schaftswachstum in den danach folgenden Jahren zunichte gemacht. Die Tendenz ging in den folgenden Jahren eher in Richtung auf eine durch­ schnittliche Schuldenstandsquote von 90 %. Die Bemühungen die Defizitund die Schuldenstandsquote durch öffentliches Sparen zu senken, waren nicht nur weitgehend erfolglos, sie haben das Arbeitslosenproblem ver­ schärft. Die Europäische Union war und ist bestrebt die wirtschaftspolitische Si­ tuation zu verbessern und zu einer stärkeren Koordinierung wirtschaftspoli­ tischer Maßnahmen der Mitgliedsländer zu gelangen. Eine Änderung der EU-Verträge, die dem Bestreben der EU angemessen gewesen wäre, schied aus. Einstimmigkeit für eine Vertragsänderung war nicht zu erzielen. Um die Referenzwerte, 3 % öffentliche Defizite und 60 % öffentliche Schuldenstände, jeweils gemessen am nominalen BIP, zu erreichen, haben 25  European Commission, The Economic Adjustment Programme for Portugal, Occasional Papers 79, 2011, S. 18.



III. Kaum Vollbeschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien37

2013

100

2000 2001

90 80 70

2012

2002

60 50 40 30

2011

2003

20 10 0

2010

2004

2009

Source: ECB

2005

2008

2006 Cl.K.

2007 Tatsächl. Rate

60 % -Regel

Abbildung 8: Öffentliche Schulden in der EWU (60 %-Regel)

25 der 27 EU-Staaten einen Vertrag über „Stabilität, Koordinierung und Steuerung der Wirtschafts- und Währungsunion“, den sogenannten Fiskal­ vertrag, geschlossen. Nur Großbritannien und die Tschechische Republik sind diesem Vertrag nicht beigetreten. Er ist Anfang 2013 in Kraft getreten. Der Fiskalvertrag verlangt, dass jedes EU-Mitgliedsland Schuldenbrem­ sen in seine Verfassungen oder Gesetze einführen. „Der Vertrag sieht vor, dass das mittelfristige Haushaltsziel der Vertragsparteien ein gesamtstaat­ liches strukturelles Defizit von 0,5 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht übersteigt, solange die Schuldenquote nicht deutlich unter 60 % liegt.“26 Außerdem ist eine Schuldenabbaugeschwindigkeit für den öffent­ lichen Schuldenstand von durchschnittlich 1 / 20 p. a. vorgesehen. Wird der Umsetzung der Schuldenbremse nicht oder nicht hinreichend nachgekom­ men, wird das betroffene Land von den EU-Mitgliedländern (Dreier-Präsi­ dentschaft) vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Wird auch dessen 26  BMF,

Der Fiskalvertrag, in: Monatsbericht des BMF Mai 2012, S. 48.

38

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

Urteil nicht befolgt, können Strafzahlungen in Höhe von 0,1 % des BIP verhängt werden. Hinzu kommen noch eine Reihe anderer Maßnahmen, wie die Abstimmung und Erörterung nationaler Reformpläne in den EWU Staa­ ten. Diese Maßnahmen zielen auf eine engere Zusammenarbeit in Richtung auf eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Jedes Land erhält einen Stabilitäts­ rat. In der Bundesrepublik Deutschland setzt er sich aus dem Bundesfinanz­ minister, dem Bundeswirtschaftsminister und den Landesfinanzministern zusammen. Der Stabilitätsrat soll über die Haushaltsentwicklungen und Haushaltsplanungen wachen. Haushaltsnotlagen sollten möglichst schon im Vorfeld abgewehrt werden.27 In der Bundesrepublik Deutschland z. B. ist die „Schuldenbremse“ in die Verfassung (Art. 109) aufgenommen worden. Sie erhielt damit Verfassungs­ rang. Erreicht werden soll, dass die öffentlichen Haushalte sich nicht mehr neu verschulden. „Für den Bundeshaushalt gilt die Verschuldungsgrenze als eingehalten, wenn die insbesondere um konjunkturelle Effekte bereinigte Nettokreditaufnahme einen Grenzwert von 0,35 % des [nominalen] Brutto­ inlandsprodukts (BIP) nicht überschreitet. Für die Länderhaushalte ist ein solcher struktureller Verschuldungsspielraum dagegen ausgeschlossen.28 Bedenkt man, dass es in den fast 14 Jahren des Bestehens der EWU nie gelungen ist, die öffentliche Verschuldung auf oder unter 60 % zu drücken, so sind die Chancen, das Ziel der Referenzwerte von 3 % und 60 % zu er­ reichen, höchstens in einer jahrelangen Zeitspanne gegeben. In dieser Zeit wird man immer wieder darauf drängen, dass die öffentlichen Ausgaben vermindert werden müssen oder man die Steuern erhöhen sollte. Beides vermindert das Wachstumstempo, was letztlich dazu beiträgt, dass die Ar­ beitslosenquoten weiter zunehmen. Die Finanzmärkte werden unter diesen Bedingungen die „Verschuldungskrise“ der EWU immer wieder als nicht gelöst ansehen. Das führt dann zu Unruhen an den Märkten. Die Schuldenbremse in der Bundesrepublik Deutschland wurde 2009 beschlossen und sollte ab 2011 gelten. Die Weltfinanz- und Wirtschaftskri­ se, die in Europa 2008 und vor allem 2009 spürbar war und auch bis 2012 nachklang, belastete die öffentlichen Haushalte. Es ist bemerkenswert, dass diese Haushaltsbelastungen dazu führten, dass der Gesetzgeber längere Übergangsfristen bis zum Inkrafttreten der Bestimmungen beschloss. „Der Maximalwert von 0,35 % des BIP für die strukturelle Neuverschuldung des Bundes gilt ab dem Jahr 2016“ und den Ländern „wurde nicht zuletzt we­ gen der in einigen Fällen sehr hohen Ausgangsdefizite eine Übergangszeit 27  Deutsche Bundesbank, Zur Rolle des Stabilitätsrates in: Monatsbericht Oktober 2011, S. 20. 28  Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche In­ halte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 17.



III. Kaum Vollbeschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien39

bis Ende 2019 zugestanden.“29 Bei der zu erwartenden sehr langen Frist bis die Referenzwerte von 3 % und 60 % erreicht werden, muss man erneut mit konjunkturellen Fehlentwicklungen rechnen. Sie werden zu neuen Haus­ haltsbelastungen führen und die Zeit für die Zielerreichung weiter hinaus­ schieben. Die Konsequenz aus dieser Entwicklung ist, dass der eingeschlagene Weg, Ziele vor allem durch freiwillige nationale Bemühungen zu erreichen, kaum erfolgreich ist. Die Politik konzentriert sich gegenwärtig zu sehr auf die Konsolidierung öffentlicher Haushalte und zu wenig auf Wirtschafts­ wachstum. Die Währungsunion verlangt als Pendent eine Wirtschaftsunion und dabei vor allem die Finanzunion. Sie muss so konzipiert sein, dass die Kommission Eingriffsrechte in die nationalen Haushalte erhält. Es wird höchste Zeit, dass die nationalen Parlamente, die den EU-Vertrag ratifiziert haben, der EU, entsprechend Art. 1 des EU-Vertrages, die Zuständigkeiten übertragen, die erforderlich sind, die Wirtschafts- und Währungsunion zu verwirklichen. 4. Eine Hoffnung: das Europäische Semester Die Kommission der EU und der Europäische Rat, die Staats- und Regie­ rungschefs der EU-Mitgliedsländer, bemühen sich, den Prozess der wirt­ schaftspolitischen Kooperation voranzubringen und damit Vorarbeit für rechtsverbindliche Regelungen in einer Wirtschaftsunion zu leisten. Das Ergebnis ist das Konzept eines „Europäischen Semesters“. Es wurde im Juni 2010 vom Europäischen Rat beschlossen und in der ersten Hälfte 2011 erstmals durchgeführt. Der Name ergibt sich aus der Vorgehensweise in den ersten sechs Monaten eines Jahres. Kommission und Europäischer Rat ge­ ben den Mitgliedsländern Leitlinien vor. Diese teilen der Kommission mit, wie sie in ihrer Finanz-, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik vorzugehen beabsichtigen. Im Juni jeden Jahres, noch im Vorfeld der Haushaltsberatun­ gen in den nationalen Parlamenten, würdigen die Kommission und der Europäische Rat die nationalen Programme und geben gegebenenfalls den einzelnen Ländern Empfehlungen. Im Juni, Ende des Semesters ist der Pro­ zess abgeschlossen. Alles Weitere obliegt den Mitgliedsländern und der Überwachung durch die Kommission. Basis bei der Durchführung des Europäischen Semesters ist der Jahres­ wachstumsbericht der Kommission. Vorgesehen ist er jeweils für Januar, meist wird er aber schon gegen Ende des Vorjahres veröffentlicht. Z. B. wer­ 29  Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche In­ halte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 18.

40

B. Das Ziel Vollbeschäftigung Tabelle 1 Das Europäische Semester

Finanzwirtschafts- und beschäftigungspolitsche Leitlinien, Empfehlungen und Überwachung auf EU-Ebene Hauptgebiete: Haushaltskonsolidierung, Potenzialwachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung Empfehlungen sind nicht rechtsverbindlich; Mitglieder sollen sie berücksichtigen und umsetzen Zeit

Handelnde

Inhalte

Dez. / Jan.

Kommission

Jahreswachstumsbericht mit wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Herausforderungen. Empfiehlt vorrangige Maßnahmen Einschaltung des Ministerrats und des EParla­ ments

März

ERat

Leitlinien für die Orientierung der Mitglieder für ihr Stabilitätsprogramm (EWU Mitglieds­ länder) oder ihr Konvergenzprogramm (andere EU Länder)

April

NationalStaaten

Stabilitäts- oder Konvergenzprogramme an die Kommission

Mai / Juni

ECOFIN-Rat

Berät länderspezifische Empfehlungen der Kommission

Ende Juni

ERat

Billigt die Empfehlungen und nimmt sie an

den in den Berichten 2012 und 2013 fünf Prioritäten genannt „Inangriffnah­ me einer differenzierten, wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung, Wiederherstellung einer normalen Kreditvergabe an die Wirtschaft, Förde­ rung der Wettbewerbsfähigkeit für heute und morgen, Bekämpfung der Ar­ beitslosigkeit und Bewältigung der sozialen Folgen der Krise und Moderni­ sierung der öffentlichen Verwaltung.“30 Was die Arbeitslosigkeit betrifft, so verweist der Bericht „auf die Arbeitsmarktsituation, auf die dringend reagiert werde muss … Besonders besorgniserregend ist die Situation der Jugendli­ chen mit einer Arbeitslosigkeit von 50 % in vielen Ländern.“31 Vorgeschlagen wird allgemein eine beschäftigungswirksame Erholung, die Verbesserung der 30  Europäische Kommission, Jahreswachstumsbericht 2013 zeigt Wege nachhaltigen Erholung auf, Pressemitteilung, Brüssel, 28. November 2012, 31  Europäische Kommission, Jahreswachstumsbericht 2013 zeigt Wege nachhaltigen Erholung auf, Pressemitteilung, Brüssel, 28. November 2012,

zu einer S. 1. zu einer S. 2.



III. Kaum Vollbeschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien41

Beschäftigungsfähigkeit und Förderung der sozialen Lage. Bei den Jugend­ lichen unter 25 Jahren sollen die Mitgliedsländer Ausbildungsgarantien ent­ wickeln. Sie sollen binnen vier Monaten nach Schulabschluss oder Verlust des Arbeitsplatzes ein Angebot über einen Arbeitsplatz, eine Weiterbildung, eine Ausbildungsstelle oder eine Praktikantenstelle erhalten. Der Jahreswachstumsbericht, mit den Leitlinien für die Orientierung der Mitgliedsländer, wird sowohl mit den Wirtschafts- und Finanzministern der Mitgliedsländer und dem EU-Parlament besprochen. Die jeweils im März tagenden Staats- und Regierungschefs, der Europäische Rat, beschließen über diese Leitlinien. Sie sollen in den Stabilitätsberichten (EWU-Länder) bzw. in den Konvergenzberichten (übrige EU-Länder) berücksichtigt wer­ den. Einen Monat später, im April, übergeben die EU-Länder ihre Berichte an die Kommission. Auf der Basis des vom EU-Rat verabschiedeten Jahres­ wachstumsbericht und der von den Mitgliedsländern eingereichten Stabili­ täts- und Konvergenzberichten beraten die Wirtschafts- und Finanzminister der Mitgliedstaaten über länderspezifische Empfehlungen. Wenn schließlich im Juni wieder der Europäische Rat zusammentritt, beschließt er endgültig über diese Empfehlungen. So wie das Europäische Semester abläuft, in das die Kommission, das Parlament, der Ministerrat und der Europäische Rat eingeschaltet sind, kann es als ein Vorläufer einer einheitlichen Wirtschaftspolitik angesehen werden. Von dieser ist es deshalb weit entfernt, weil die Beschlüsse der Kommis­sion und des Europäischen Rates nur zu Empfehlungen führen. Es ist nicht ge­ sichert, dass die Mitgliedsländer diesen Empfehlungen folgen werden. Ge­ schieht das nicht, sind Sanktionen denkbar. Es kann eine sogenannte Früh­ warnung erlassen werden. Auch „Geldbußen in angemessener Höhe“32 sind möglich. 5. Weiterer Einfluss der Kommission: Warnmechanismusbericht über makroökonomische Ungleichgewichte Mit dem Jahreswachstumsbericht legen die EU-Organe Leitlinien für die Finanz-, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik fest. Neben den dort vor­ handenen und zu lösenden Problemen gibt es noch andere wichtige Fra­ gen, die es anzupacken gilt. Dazu zählt das Problem, dass wirtschaftliche Entwicklungen in den Mitgliedsländern der EU nicht immer parallel, son­ dern auch auseinander verlaufen. So entstehen makroökonomische Un­ gleichgewichte. Sie gilt es einzuebnen. Auch hier sind die EU-Organe ähn­ lich vorgegangen, wie bei der Finanz-, Wirtschafts- und Beschäftigungs­ 32  AEUV

§ 126 (11), in: EU-Vertrag, Beck-Texte im dtv, 6. Auflage 2008.

42

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

politik. Sie entwickelten Regeln, mit denen gemessen werden kann, ob makroökonomische Ungleichgewichte bestehen. Seit 2011 verfasst die Kommission einen Warnmechanismusbericht, der den Problemen der Un­ gleichgewichte nachgeht. Seine Durchführung ist ebenfalls Bestandteil des Europäischen Semesters. Um makroökonomische Ungleichgewichte zu ermitteln, ist zweierlei not­ wendig. Zum einen muss man die wirtschaftlichen Größen bestimmen, die man für wichtig für das Gleichgewicht in der Wirtschaft ansieht. Zum ande­ ren sind Schwellenwerte zu bestimmen, deren über- oder unterschreiten sig­ nalisieren, dass bei den betrachteten Größen Ungleichgewichte vorliegen. Die Daten für diese Größen werden vor allem von Eurostat bereitgestellt. Weitere Daten kommen von der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der EU, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungs­ fonds. Die Daten werden von Eurostat zu einem „Scoreboard for the Surveil­ lance of Macoeconomic Imbalances“33 zusammengefasst und veröffentlicht. Dieses Scoreboard dient der Kommission dazu, den Warnmechanismusbe­ richt über makroökonomische Ungleichgewichte zu erarbeiten. Die Kommis­ sion hat zu entscheiden, ob bei einzelnen Ländern näher geprüft werden muss, inwieweit makroökonomische Ungleichgewichte entstanden sind, zu­ genommen oder abgenommen haben. Der Jahreswachstumsbericht 2013 z. B. fordert eine genaue Überprüfung bei 14 Mitgliedstaaten. „Erst nach Ab­ schluss dieser Prüfungen im nächsten Frühjahr wird die Kommission darüber befinden, ob Ungleichgewichte oder gar übermäßige Ungleichgewichte be­ stehen, und entsprechende politische Empfehlungen abgeben.“34 Das Scoreboard umfasst elf Indikatoren.35 Sie lassen sich in drei Bereiche zusammenfassen: a) zur Ermittlung externer Ungleichgewichte (Berechnungsmodus in Klam­ mern), Leistungsbilanzsaldo (in Prozent des BIP als Durchschnitt der letzten drei Jahre), Netto-Auslandsvermögensstatus (in Prozent des BIP), Realer effektiver Wechselkurs (Prozentveränderung über einen DreiJahres-Zeitraum); 33  European Commission, European Economy, Scoreboard fort he Surveillance of Macoeconomich Imbalances, Occasional Papers 92, February 2012. 34  Europäische Kommission, Jahreswachstumsbericht 2013 zeigt Wege zu einer nachhaltigen Erholung auf, Pressemitteilung, Brüssel, 28. November 2012, S. 3. 35  Eurostat, Pressemitteilung 167 / 2012 – 28. November 2012, Scoreboard für das Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten, Elf Eurostat Indikatoren zur Unterstützung bei der Ermittlung makroökonomischer Ungleichgewichte, Anhang: Kurze Definition der Indikatoren.



III. Kaum Vollbeschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien43 Spanien Griechenland Lettland Litauen Irland Slowakei Portugal Estland Bulgarien Ungarn Frankreich Polen Italien Zypern Schweden Slowenien Finnland Verein. Königr. Belgien Dänemark Rumänien Tschech.Rep. Malta Deutschland Luxemburg Niederlande Österreich 0 Source: Eurostat

2

4

6

8

10

12

Arbeitslosenquoten

14

16

18

20

22 Cl.K.

Abbildung 9: Arbeitslosenquoten in der EU 2012 (Durchschnitt über 3 Jahre)

b) zur Ermittlung der Wettbewerbsfähigkeit (Berechnungsmodus in Klam­ mern), Anteil an den weltweiten Ausfuhren (Prozentveränderung über einen Fünf-Jahres-Zeitraum), Nominale Lohnstückkosten (Prozentveränderung über einen Drei-JahresZeitraum); c) zur Ermittlung interner Ungleichgewichte, Entwicklung der Hauspreise (jährliche Zuwachsrate), Kreditflüsse des Privatsektors (Prozent des BIP), Schuldenstand des Privatsektors (Prozent des BIP), Öffentlicher Schuldenstand (Prozent des BIP), Arbeitslosenquote (Durchschnitt der letzten drei Jahre), Gesamte Verbindlichkeiten des Finanzsektors (jährliche Zuwachsrate). Die Kommission hat für alle diese Indikatoren Schwellenwerte festgelegt. Werden sie erreicht oder überschritten, deutet das auf Ungleichgewichte hin. Wenn z. B. ein Mitgliedsland der EU Leistungsbilanzüberschüsse aufweist, dann ist ein Ungleichgewicht gegeben, wenn diese Überschüsse im Drei-

24

44

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

Jahres-Durchschnitt 6 % des BIP oder mehr betragen. Ein Ungleichgewicht wird ebenfalls angenommen, wenn ein Land ein Leistungsbilanzdefizit aufweist und dieses Defizit im Drei-Jahres-Durchschnitt 4 % oder mehr er­ reicht. Was die Arbeitslosigkeit betrifft, so wird ein Ungleichgewicht ange­ nommen, wenn die Arbeitslosenquote im Drei-Jahres-Durchschnitt 10 % erreicht oder überschreitet. In der Europäischen Union wiesen 2012 zehn der 27 Länder Arbeitslo­ senquoten auf, die den Indikator-Schwellenwert von 10 % überschritten. Darunter befinden sich Spanien, Estland, Irland, die Slowakei, Griechenland und Portugal, also 6 Staaten, die auch Mitglied der EWU sind. Die übrigen drei EU-Staaten mit einer Arbeitslosenquote über 10 % – Lettland, Litauen und Ungarn – haben den Euro bisher nicht eingeführt. Mit dem Warnmechanismusbericht hat die Europäische Kommission, den Jahreswachstumsbericht ergänzend, einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer stärkeren wirtschaftspolitischen Kooperation der EU-Länder getan. Damit ließ sie es aber nicht bewenden. Für das Jahr 2013 veröffentlichte die Kommission ihren ersten Jahresbericht über die Integration des Binnen­ marktes, „der die Funktionsweise des Binnenmarktes vor dem Hintergrund des Europäischen Semesters unter die Lupe nimmt. … Alle Berichte enthal­ ten wertvolle Informationen und Analysen, die die Kommission zur Vorbe­ reitung der länderspezifischen Empfehlungen benötigt, die im Frühjahr he­ rausgegeben werden.“36 6. Gewinner und Verlierer beim öffentlichen Schuldenabbau In der EU sollten die tolerierten Defizite bis zu 3 % des BIP dazu dienen in Phasen eines konjunkturellen Abschwungs Einnahmeausfälle und not­ wendige Ausgaben z. B. für die Arbeitslosenunterstützung zu finanzieren (automatische Stabilisatoren). In Aufschungsphasen sollten die zuvor ent­ standenen Defizite im öffentlichen Haushalt wieder ausgeglichen werden. Grundsätzlich also sollte der öffentliche Haushalt ausgeglichen sein. Unter solchen Bedingungen bewegen sich auch die öffentlichen Schulden in Rich­ tung Null. In der Öffentlichkeit ist immer wieder die Forderung zu hören, man darf die junge Generation und die kommenden Generationen nicht mit den Schulden der gegenwärtigen Generation belasten. Das sei ungerecht. Würde man das Konzept des ausgeglichenen Haushalts dauerhaft beibe­ halten, dann wäre die gegenwärtige Generation ungerechtfertigt Verlierer. Jeder öffentliche Haushalt investiert. Er baut Schulen und Universitäten, 36  Europäische Kommission, Jahreswachstumsbericht 2013 zeigt Wege zu einer nachhaltigen Erholung auf, Pressemitteilung, Brüssel, 28. November 2012, S. 3.



III. Kaum Vollbeschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien45

errichtet Krankenhäuser und soziale Einrichtungen und ergänzt das Ver­ kehrssystem durch Bau von Eisenbahnstrecken und Straßen. Ein ausge­ glichener Haushalt bedeutet, dass diese Investitionen ausschließlich durch Steuereinnahmen und Abgaben in der Periode finanziert werden müssen, in der die Investitionen durchgeführt werden. Das ist gegenüber der gegenwär­ tigen Generation ungerecht. Investitionen werden nicht nur in der Periode genutzt, in der sie entstehen. Kein Unternehmen käme auf den Gedanken, Investitionen im Zeitraum des Entstehens ausschließlich aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Auch der Staat gestattet den Steuerpflichtigen, den „Teil der Anschaffungs- oder Herstellungskosten abzusetzen, der bei gleichmäßiger Verteilung dieser Kosten auf die Gesamtdauer der Verwendung oder Nut­ zung auf ein Jahr entfällt.“37 Die sich aus dem Steuergesetz für einzelne Investitionen ergebene Nutzungsdauer erstreckt sich unter Umständen über Jahrzehnte. Das bedeutet, dass die gegenwärtige Generation und die folgen­ den Generationen ungerechtfertigte Gewinne erzielen, wenn Investitionen sofort aus den Steuereinnahmen finanziert werden. Sie benutzen die Inves­ titionsgüter ohne aber dafür einen Beiträge für Zinszahlungen und Amorti­ sation zu leisten. Auch öffentliche Investitionen sollten ihrer Lebensdauer entsprechend fremdfinanziert werden. Das wäre gerecht für alle Generatio­ nen. Der Staat sollte, zumindest bei seinen Investitionen, kaufmännischen Grundsätzen und Gepflogenheiten folgen. Es gibt bei der Konsolidierung öffentlicher Haushalte noch ein weiteres Problem. Ein Abbau von Schulden des Staates wirkt sich immer auch auf die Ersparnisse oder Schulden anderer Gruppen in der Wirtschaft aus. Die­ se Rückwirkungen werden meist nicht beachtet. Zunächst muss man sich bewusst sein, dass Ersparnisse (Geldvermögen) und Schulden stets sum­ mengleich sind. Ersparnisse kann man nur bilden, wenn man einen Schuld­ ner findet, der bereit ist den ersparten Betrag entgegenzunehmen. Auch Schulden kann man nicht einfach machen. Der Staat kann Anleihen drucken, aber das ist noch keine Schuld. Sie wird es erst wenn der Staat Gläubiger findet, die die Anleihen kaufen. Mit der Ersparnis des privaten Haushalts entsteht so summengleich die Schuld des Staates. Zusammengefasst ergibt sich: Nehmen die Ersparnisse in der Wirtschaft zu, so steigen auch die Schulden im selben Umfang. Dann aber gilt auch, wenn Schulden abgebaut werden, nehmen die Ersparnisse im selben Umfang in der Wirtschaft ab. Schulden, z. B. des Staates, können nur abgebaut werden, wenn die Ein­ nahmen des Schuldners höher sind als seine Ausgaben. In Höhe der Diffe­ renz nehmen seine Schulden ab. Wenn z. B. beim Staat die Einnahmen die Ausgaben übersteigen, dann müssen z. B. bei den privaten Haushalten die Ausgaben (für Steuern) höher sein als die Einnahmen. In Höhe der Diffe­ 37  Einkommensteuergesetz

(BGBl. 1, S. 3366, S. 3862, BGBl. 1, S. 1346), § 7 (1).

46

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

renz nehmen die Ersparnisse ab. So gilt: Nicht nur die Ersparnisse sind immer summengleich den Schulden, auch die Einnahmen sind immer sum­ mengleich den Ausgaben. Das ist völlig selbstverständlich: Wenn Einer ei­ nem Anderen 10 € gibt, dann hat der Eine eine Ausgabe und der Andere eine summengleiche Einnahme. Es ist üblich, vier Gruppen in der Wirtschaft zu unterscheiden: Private Haushalte (Netto-Sparer), die Unternehmen (Netto-Schuldner), den Staat (Netto-Schuldner) und die übrige Welt (Netto-Sparer  /  Netto-Schuldner). Banken spielen als Gruppe dabei keine Rolle. Wer sein Geld einer Bank gibt, reicht den schwarzen Peter der Anlage nur an Finanzintermediäre wei­ ter. Sie müssen sich nun um die Anlage bei einer der Gruppen in der Wirt­ schaft kümmern. In der EWU war das Jahr 2007 durch ein starkes Wirtschaftswachstum gekennzeichnet. In einer solchen Periode sind die Einkommenszuwächse re­ lativ hoch. Sie führten zu einer erheblichen Ersparnisbildung bei den privaten Haushalte von 503 Mrd. € und durch Leistungstransaktionen bei der übrigen Welt von 325 Mrd. €. Das waren zusammen Ersparnisse von 828 Mrd. €. Die umfangreiche Produktion der Wirtschaftsunternehmen verlangte eine zusätz­ liche Verschuldung. In 2007 waren das 1067 Mrd. €. Das günstige konjunk­ turelle Klima ließ die öffentlichen Einnahmen stark steigen. Das ermöglichte den öffentlichen Haushalten der EWU ihre Verschuldung um 239 Mrd. € ab­ zubauen. Den stark gestiegenen Ersparnissen von 828 Mrd. € in dieser Auf­ schwungsphase standen Schulden in gleicher Höhe gegenüber. Dieses günstige Bild eines hohen Wirtschaftswachstums und der Verrin­ gerung öffentlicher Schulden kehrte in das Gegenteil, als der Wirtschafts­ aufschwung von einer krisenhaften Entwicklung in den fünf Jahren von 2008 bis 2012 abgelöst wurde. Die Weltfinanzkrise und die folgende Dämp­ fung der konjunkturellen Entwicklung ließen einerseits die öffentlichen Einnahmen schrumpfen und andererseits veranlassten sie die EWU und ihre Mitgliedsländer, stimulierende Konjunkturprogramme aufzulegen. In den fünf Jahren von 2008 bis 2012 war dadurch ein weiterer Abbau öffentlicher Schulden ausgeschlossen. Vielmehr stiegen sie in dieser Zeit jahresdurch­ schnittlich um 381 Mrd. €. Die hohen Beträge, die der Wirtschaft durch die öffentlichen Haushalte in der Krisenphase zugutekamen, ermöglichten es ihr, durchschnittlich jährlich ihre Verschuldung um 204 Mrd. € abzubauen. Die Gesamtverschuldung nahm somit jahresdurchschnittlich nur um 177 Mrd. € zu Auf der anderen Seite ging die Ersparnisbildung stark zu­ rück. Private Haushalte legten jährlich nur noch 124 Mrd. € zurück. Dritt­ länder präferierten den Euro; ihre Ersparnisse betrugen jährlich 53 Mrd. €. Die Gesamtersparnis in den fünf Krisenjahren betrugen somit durchschnitt­ lich 177 Mrd. €, verglichen mit 828 Mrd. € im Aufschwungsjahr 2007. Die



III. Kaum Vollbeschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien47 16000 14000 12000

in Mrd. €

10000 8000 6000 4000 2000 0 Source: EZB

2006

Ersp. priv. Haushalte

2007

2008

Ersp. d. übrigen Welt

2009

2010

Schulden d. Untern. (Säulen)

2011

Q3 2012

Schulden d. Staates (Säulen)

Cl.K

Abbildung 10: Ersparnisse und Schulden in der EWU

Gesamtverschuldung der Wirtschaft war damit wieder summengleich der Gesamtersparnis. Den Zusammenhang zwischen Ersparnissen und Schulden muss die Wirt­ schaftspolitik beachten. Immer wieder ist zu hören, die öffentlichen Schul­ den sollten abgebaut werden und die privaten Haushalte sollten durch Sparen für das Alter vorsorgen. Beides lässt sich gleichzeitig aber nur B. die Ersparnis privater Haushalte um schwer verwirklichen. Wenn z.  100 Mrd. € steigt und die öffentlichen Schulden um 100 Mrd. € abnehmen, dann fehlen – da die Summe der Ersparnisse immer der Summe der Schul­ den entsprechen muss – 200 Mrd. €. Der Anpassungsprozess verläuft in Richtung einer Zunahme der Verschuldung der Unternehmen. Die übrige Welt wird zu diesem Anpassungsprozess wenig beitragen. Er ist vor allem von der Gestaltung der Leistungsbilanz abhängig, die vielfachen Einflüssen unterliegt. Die Unternehmen werden entweder zur zusätzlichen Verschul­ dung gezwungen. Das ist der Fall bei einem geringen Wirtschaftswachstum. Private Nachfrage fällt in einer solchen Periode aus, Unternehmen wollen

48

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

aber zunächst ihre Produktion aufrechterhalten, müssen sich dann aber zu­ sätzlich verschulden. Oder Unternehmen verschulden sich freiwillig. Das ist der Fall bei einem starken Wirtschaftswachstum. Die zusätzliche private Nachfrage zwingt die Unternehmen ihre Produktion und vielleicht auch ihre Investitionen auszudehnen. Sie nehmen zusätzlich Kredite auf. Wirtschaftswachstum kommt eine Schlüsselrolle zu. Nur wenn die Zu­ wachsrate des realen BIP die Wachstumsrate des Produktionspotenzials übersteigt, wird man dem wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziel, einer hö­ heren Beschäftigung, nahe kommen. Nur dann kann man damit rechnen, öffentliche Defizite und öffentliche Schulden zu verringern und nur dann können private Haushalte für ihr Alter vorsorgen, ohne dass es zu wirt­ schaftlichen Verwerfungen kommt. Insoweit ist es eine falsche Therapie in der EWU, öffentliche Haushalte dadurch zu sanieren, dass man Sparpro­ gramme, insbesondere Ausgabensenkungen, verordnet. Solche Maßnahmen führen nämlich nur zu einem geringeren Wirtschaftswachstum. Die anzu­ strebenden Ziele, vor allem Vollbeschäftigung, aber auch Haushaltskonsoli­ dierung und Altersvorsorge privater Haushalte, werden dann nicht nur nicht erreicht, sondern verfehlt.

IV. Die Möglichkeit, Vollbeschäftigungspolitik durch Zentralbanken durchzuführen 1. Die wirtschaftspolitischen Ziele der US-amerikanischen Zentralbank … In den vergangenen Jahren ist man sich des wirtschaftspolitischen Ziels der Vollbeschäftigung stärker bewusst geworden. Wenn Arbeitslosenquoten zweistellig werden, spürt man auch die Gefahren, die davon auf die Demo­ kratie ausgehen können. Wo immer in der Welt friedliche oder bewaffnete Auseinandersetzungen stattfinden sowie Revolten oder Kriege ausbrechen, unter den Forderungen der Beteiligten findet sich immer wieder die nach Arbeit. Trotz dieser Lage hat man grundsätzlich keine Institution geschaf­ fen, deren Aufgabe es wäre, Vollbeschäftigung anzustreben. Nationale Fi­ nanzministerien, die nächstliegende Institution, kann sich angesichts der vielfältigen Probleme, mit denen sie konfrontiert sind und die in IV. Voll­ beschäftigungspolitik durch nationale Finanzministerien geschildert wurden, nicht dazu durchringen, diese Aufgabe zu übernehmen. Alternative zu den Finanzministerien als Institution, sich Vollbeschäfti­ gung anzunähern, sind die Zentralbanken. Diese Möglichkeit ist nicht ab­ wegig, auch wenn sie auf Kritik stößt. Eine Ausnahme bildet die US-ame­ rikanische Zentralbank, das Federal Reserve System FED. Der Gesetzgeber



IV. Vollbeschäftigungspolitik durch Zentralbanken49

der Vereinigten Staaten von Amerika hat seiner Zentralbank vier Aufgaben erteilt:38 a) die Geldmenge und die Kredite mit einer langfristigen Zuwachsrate steigen zu lassen, in Übereinstimmung mit dem langfristigen Potenzial, um die Produktion zu erhöhen, b) das Ziel Vollbeschäftigung wirksam zu fördern, c) das Ziel Preisstabilität wirksam zu fördern und d) das Ziel moderater langfristiger Zinssätze zu fördern. Damit ist die amerikanische Zentralbank nicht nur auf das Ziel Preisni­ veaustabilität verpflichtet, sondern als gleichwertiges Ziel auch auf die Vollbeschäftigung.  2. … und das Ziel der Europäischen Zentralbank In dieser Klarheit wie in den USA ist das bei anderen Zentralbanken nicht gegeben. So heißt es im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäi­ schen Union: „Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentral­ banken … ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten.“39 Damit ist klarge­ stellt, dass andere Ziele, wie Vollbeschäftigung, nachrangig sind. Aber im­ merhin gibt es zu diesem Satz einen Zusatz: „Soweit dies ohne Beeinträch­ tigung des Ziel Preisstabilität möglich ist, unterstützt die EZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um zur Verwirklichung der in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union festgelegten Ziele der Union beizutragen.“ Die EZB hat sich entsprechend verhalten. Während der Weltfinanzkrise und der danach folgenden Phase schwacher Konjunktur, hat sie ihr Instrumentarium eingesetzt, um die Zinssätze, Kreditzinsen und lang­ fristige Zinssätze, zu senken. Sie hat damit einen Beitrag geleistet, die konjunkturelle Schwäche zu überwinden. Preisniveaustabilität war in dieser Zeit nicht gefährdet.

38  Board of Governors of the Federal Reserve System, Federal Reserve Act, Sec­ tion 2A. Monetary Policy Objectives. „The Board of Governors of the Federal Re­ serve System and the Federal Open Market Committee shall maintain long run growth of the monetary and credit aggregates commensurate with the economy’s long run potential to increase production, so as to promote effectively the goals of maximum employment, stable prices, and moderate long-term interest rates.“ 39  EU-Vertrag, Beck-Texte im dtv, 6. Auflage 2008, Art. 127.

50

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

3. Die Hinwendung der Zentralbanken zum Ziel Vollbeschäftigung Um ein wirtschaftspolitisches Ziel zu verwirklichen, genügt es nicht, wenn der Gesetzgeber es allgemein formuliert, wie im Federal Reserve Act: Die Zentralbank soll das Ziel Vollbeschäftigung wirksam fördern. Notwen­ dig ist, dass der Gesetzgeber oder die von ihm mit der Zielerreichung be­ auftragte Institution, das Ziel quantitativ vorgibt. Im Fall der USA ist das erst in jüngerer Zeit geschehen. Das Openmarket Commettee des FED (OMC) nennt für Preisstabilität und Vollbeschäftigung quantitative Größen. Da Preissteigerungen längerfris­ tig von der Geldpolitik bestimmt werden, kann die Zentralbank ein quanti­ tatives Ziel für Preisstabilität bestimmen: „The Commettee judges that in­ flation at the rate of 2 percent, as measured by the annual change in the price index for personal consumption expenditures, is most consistent over the longer run with the Federal Reserve statutory mandate“)40 Eine klare quantitative Größe für das Ziel Vollbeschäftigung hat das OMC nicht ge­ nannt. Die vielen nichtmonetären Einflüsse, die den Arbeitsmarkt beeinflus­ sen, haben sie dazu veranlasst. Diese Einflüsse ändern sich von Zeit zu Zeit, was solche Größen unsicher macht. Man hat sich daher entschlossen, der Vollbeschäftigungspolitik eine längerfristige normale Arbeitslosenquote zu­ grunde zu legen. „… the longer-run normal rate of unemployment had a central tendency of 5,2 percent to 6,0 percent.“ Das FOMC muss von Fall zu Fall entscheiden, welche Instrumente und in welchem Umfang es diese einsetzen muss, um ein optimales Ergebnis bei Vollbeschäftigung und Preisstabilität zu erzielen. In den Jahren der Weltfi­ nanzkrise und der nachfolgenden konjunkturellen Krise, stieg vor allem die Arbeitslosigkeit an. Akute Gefahren für Preisstabilität bestanden nicht. Das FOMC senkte die Geldmarktsätze stark ab. Das Zielband für den federal fund Satz wurde auf 0–0,25 % festgelegt. Die Zentralbank wollte aber auch den Märkten signalisieren, wie lange sie den federal fund Satz auf einem so niedrigen Niveau belassen will. „… this exceptionally low range for the federal fund rate will be appropriate as least as long as the unemployment /  2 percent, inflation between one and two years rate remains above 6-1  ahead is projected to be no more than a half percentage point above the Committee’s 2 percent longer-run goal, and longer-term inflation expecta­ tions continue to be well anchored.“41 40  Federal Reserve System, Minutes of the Federal Open Market Committee, Statement on Longer-Run Goals and Monetary Policy Strategy, January 24-5, 2012. 41  Federal Reserve System, Federal Open Market Committee, Press Release, De­ cember 12, 2012.



IV. Vollbeschäftigungspolitik durch Zentralbanken51 10 9 8 7

in % p.a.

6 5 4 3 2 1 0

2000

Source : IMF

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008 2009

Kons.Preise

Arbeitslosenquote

2 % Preisziel

5,0–6,2 % inoffiz. ArbL-Ziel

2010

6-Mon.LIBOR

2011

2012 Cl.K.

Abbildung 11: Kredit- und Arbeitsmarktpolitik (USA)

Mit diesem Beschluss signalisiert die amerikanische Zentralbank, wie sie sich verhalten wird, wenn es zu Zielkonflikten kommt. Die Obergrenze des Zielbandes für die Arbeitslosenquote liegt bei 6,0 %. Solange allerdings wird sie die federal fund rate nicht nahe 0 % belassen. Wenn die Arbeitslosenquote 6 ½ % erreicht oder unterschreitet, wird sie sich stärker dem Preisziel von 2 % zuwenden. Es kann natürlich auch sein, dass die sehr niedrigen Geldmarkt­ zinsen dazu führen, dass die Preise schon steigen, obwohl die Arbeitslenquo­ te noch über 6,5 % liegt. In dieser Lage wird die Zentralbank auf die steigen­ den Preise erst reagieren, wenn die Konsumentenpreise 2 ½ % übersteigen. Schon in den Jahren, in denen solche quantitativen Festlegungen noch nicht bestanden, hat die amerikanische Zentralbank recht erfolgreich die beiden Ziele Vollbeschäftigung und Preisstabilität angesteuert. Im Jahre 2000 war die Preissteigerungsrate mit 3,4 % sehr hoch, die Arbeitslosen­ quote mit 4,0 relativ niedrig. Die Fed sorgte daher für hohe Zinsen. Der 6-Monats-Libor betrug 6,6 %. In den Jahren danach bis 2003 gingen die Preissteigerungen auf 2 % zurück, die Arbeitslosenquote stieg auf 6,0 %. Die Fed nahm die Zinssätze deutlich zurück. Der 6-Monats-Libor betrug nur noch 1,2 %. In den drei Jahren, bevor die Weltfinanzkrise im Juni 2007 über die Weltwirtschaft hereinbrach, erlebten viele Länder, so auch

52

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

die USA, einen deutlichen Aufschwung. Das bedeutete, dass die Konsu­ mentenpreise anzogen und die Arbeitslosenquote zurückging. Wieder re­ agierte die Fed mit Zinssteigerungen. Während der Krisenjahre und dem nachfolgenden gedämpften Wirtschaftswachstum erreichte die Arbeitslosen­ quote Spitzenwerte von 9,6 % (2010). Preisstabilität war in diesen Jahren nicht gefährdet. Die Preissteigerungsraten lagen meist unter 2 %. Die von der Fed gesteuerte Federal Fund Rate lag in dieser Zeit zwischen 0 % und 0,25 % und der 6-Monats-Libor sank auf 0,4 % (2011). Fasst man die Jah­ re 2000 bis 2011 zusammen, so ist zu konstatieren, dass es der Fed gelun­ gen ist, die gleichrangigen Ziele Vollbeschäftigung und Preisstabilität, op­ timal zu steuern. Die quantitative Ausstattung der beiden Ziele Vollbeschäftigung und Preisstabilität in den USA bei allgemein hoher Arbeitslosigkeit hat dazu geführt, dass auch andere Staaten überlegen, Zentralbanken nicht nur auf das Ziel Preisstabilität, sondern auch auf das Ziel Vollbeschäftigung zu verpflichten. Das z. B. hat der japanische Finanzminister Aso gefordert. Er wünsche dazu, eine schriftliche Vereinbarung der Regierung mit der Zent­ ralbank und nicht nur, wie bisher, mündliche Bekundungen „Die Regierung will die Notenbank dabei darauf festlegen, sich ein Inflationsziel von 2 % und Vollbeschäftigung zu Zielen der Geldpolitik zu setzen.“42 In der danach folgenden Sitzung des Beschlussorgans der Bank von Japan wurde beschlossen: „the Bank sets the ‚price stability target‘ at 2 percent in terms of the year-on-year rate of change in the consumer price index (CPI) – a main price index.“43 In dem Beschluss der Bank von Japan wird das Vollbeschäftigungsziel direkt nicht erwähnt. Nur indirekt heißt es zu Beginn dieses Papiers, die Kreditpolitik ist bestrebt, „achieving price stability, he­ reby contributing to the sound development of the national economy“. Am selben Tage verabschiedeten die Regierung und die Bank von Japan eine gemeinsame Stellungnahme mit dem Ziel, die vorhandene Deflation zu überwinden und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu verwirklichen. Diese gemeinsame Stellungnahme wurde dem Beschlusspapier der Bank von Japan als Anhang hinzugefügt. Darin verpflichtet sich die Bank von Japan Preisstabilität zu erreichen und dabei zu einer gesunden Entwicklung der Volkswirtschaft beizutragen. Außerdem ist sie für die Stabilität des Fi­ nanzsystems verantwortlich. Sie soll monetäre Erleichterungen durchführen, um das Ziel einer Preissteigerungsrate von 2 % – zu dieser Zeit gab es oft negative Preisraten – zu erreichen. 42  Japan will ESM-Amleihen kaufen, Neue Zürcher Zeitung, 10. Januar 2013, S. 15. 43  Bank of Japan, The „Price Stability Target“ under the Framework for the Con­ duct of Monetary Policy, January 22, 2013, S. 1.



IV. Vollbeschäftigungspolitik durch Zentralbanken53

Die Regierung will die Wirtschaftspolitik flexibel durchführen, um die japanische Wirtschaft wieder zu beleben. Außerdem soll die Wettbewerbs­ fähigkeit und das Produktionspotenzial erhöht werden.44 Das Wort Vollbe­ schäftigung kommt in keinem dieser Papiere vor. Trotzdem spürt man, dass man dem ernster werdenden gesellschaftspolitischen Problem auch mit Mitteln der Zentralbank begegnen muss. Aufmerksamkeit erregte eine Ansprache des Präsidenten der Bank of Canada, Mark Carney, die er am 11. Dezember 2011 in Toronto hielt. Das war kurz bevor er zum Präsidenten der Bank von England berufen wurde. Ohne die amerikanische Notenbank zu erwähnen, setzte er sich mit der Frage auseinander, ob es zweckmäßig ist, Schwellenwerte für Preissteige­ rungen und Arbeitslosigkeit festzulegen. Er verneinte das und präsentierte als Ziel eine Zuwachsrate des nominalen Bruttoinlandsprodukts. „To ‚tie ist hands,‘ a central bank could publicly announce precise numerical thresholds for inflation and unemployment … From our perspective, thresholds ex­ haust the guidance options available to a central bank … Adopting a nomi­ nal GDP (NGDP)-level target could in many respects be more powerful than employing thresholds“.45 Der Gedanke, die Zuwachsrate des nominalen Bruttoinlandsprodukts als wirtschaftspolitisches Ziel festzusetzen, ist nicht neu. Die Zuwachsrate des nominalen BIP steht im Mittelpunkt der potenzialorientierten Verstetigungs­ strategie: „die volkswirtschaftliche Gesamtnachfrage ist den Angebotsmög­ lichkeiten anzupassen“. Dies ist gegeben, wenn die Wachstumsrate der Angebotsmöglichkeiten zuzüglich der unvermeidlichen Preissteigerungsrate der Zuwachsrate des nominalen BIP entspricht.46 Einige Wochen nach der Rede des Präsidenten der kanadischen Zentral­ bank Mark Carney äußerte sich auch der damals noch amtierende Präsident der Bank von England Mervyn King zur monetären Strategie. Er war als Vertreter einer straffen Geldpolitik zur Sicherung der Preisstabilität bekannt. Bei der Präsentation des Inflationsberichts an einer Pressekonferenz in Lon­ don prognostizierte er, dass die Preissteigerungsrate von 2,7 % noch etwas zulegen und erst in zwei Jahren auf den Zielbereich von 2 % sinken werde. Eine solche Projektion rechtfertige keine straffere Geldpolitik. „Der Geldpo­ litische Ausschuss der Bank müsse Preisstabilität auf mittlere Sicht gewähr­ 44  Cabinet Office, Ministry of Finance, Bank of Japan, Joint Statement of the Government and the Bank of Japan on Overcoming Deflation and Achieving Sus­ tainable Economic Growth, January 22, 2013, S. 1 (Attachment). 45  Mark Carney, Governor of the Bank of Canada: Guidance, Toronto, Ontario, 11. Dezember 2012, S. 7. 46  Claus Köhler, Geldwirtschaft, Dritter Band, Wirtschaftspolitische Ziele und wirtschaftspolitische Strategie, Berlin 1983, S. 126; s. a. S. 108 ff.

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B. Das Ziel Vollbeschäftigung

leisten und kurzfristige Volatilität der Produktion vermeiden. Die Aussicht auf einen weiteren längeren Zeitabschnitt erhöhter Inflation müsse im Zu­ sammenhang mit der anhaltenden Wirtschaftsschwäche beurteilt werden.“47 Die Arbeitslosenquoten sind weltweit in allgemeinen auf Niveaus gestie­ gen, die gesellschaftspolitisch zu Unruhen führen können und z. B. in den arabischen Ländern geführt haben. Radikale Tendenzen sind bei freien Wah­ len zu erwarten. Immer wieder hat sich gezeigt, dass die Regierungen nicht bereit sind, das Problem der Arbeitslosigkeit durch klare Konzepte aktiv zu lösen. Man kann dafür Verständnis haben. Der Staat – dazu genügt ein Blick in den öffentlichen Haushalt – ist mit so viel Problemen belastet, dass er sich kaum vorrangig dem Arbeitslosenproblem widmen kann. Er muss gleichzei­ tig sich um Fragen der Gesundheit der Bevölkerung, der Landwirtschaft, der Umwelt, der Verteidigung, der Wirtschaft usw. usw. kümmern. Wenn das dringliche Problem der Arbeitslosigkeit gelöst werden muss, dann bleibt nur die zweite staatliche Institution übrig, die neben Preisstabilität sich auch um Vollbeschäftigung bemühen muss, die Zentralbank. 4. Das Paradigma wechselt Offensichtlich geht die Entwicklung in diese Richtung. In den USA war die Zentralbank schon lange auf die beiden Ziele Vollbeschäftigung und Preisstabilität verpflichtet. Die Quantifizierung dieser Ziele in jüngerer Zeit, zeigt, dass das Bemühen, beide Ziele gleichzeitig zu erreichen, ernster als bisher genommen wird. Die immer wieder kehrende Forderung der japani­ schen Regierung an ihre Zentralbank, sich auch um Vollbeschäftigung zu bemühen, geht ebenfalls in die Richtung, dieses wichtige Ziel auf die Zen­ tralbank zu verlagern. Auch die Ausführungen des kanadischen Notenbank­ gouverneurs und des Präsidenten der Bank von England sind geeignet, die Diskussion um den zweckmäßigen Weg, das Arbeitslosenproblem zu lösen, voranzutreiben. Das Denken in der monetären Politik ist lange bestimmt worden von der Quantitätstheorie. Danach bestimmt das Wachstum der Geldmenge die Ver­ änderung der Preise. Wirtschaftswachstum und Beschäftigung seien nicht steuerbar. Es genüge Preisstabilität zu sichern. Ist sie gegeben würden sich Wirtschaftswachstum und damit auch Beschäftigung schon einstellen. Der Hauptvertreter dieser Theorie in neuerer Zeit war Milton Friedman. „Mein eigenes Rezept besteht noch immer darin, dass die Währungsbehörde han­ deln sollte, indem sie sich öffentlich für eine Politik entscheidet, die auf die 47  Bank of England toleriert die Inflation, Neue Zürcher Zeitung, 15.02.2013, S. 11.



IV. Vollbeschäftigungspolitik durch Zentralbanken55

Verwirklichung einer konstanten Wachstumsrate einer bestimmten monetä­ ren Gesamtgröße gerichtet ist.“48 Zum Arbeitslosenproblem bemerkt er: „Warum kann nun die Währungsbehörde nicht eine Zielgröße für die Be­ schäftigung oder Unterbeschäftigung … sagen wir bei 3 % stabilisieren? Der Grund warum das nicht möglich ist, ist … die Diskrepanz zwischen den unmittelbaren und den Spätfolgen einer derartigen Politik.“49 Dieses Konzept der Quantitätstheorie ist nicht mehr die herrschende Theo­ rie. Die EZB verfolgt keine Geldmengenziele mehr. Ihre Analysen beginnen mit der wirtschaftlichen Entwicklung, erst dann folgt die Darstellung der mo­ netären Veränderungen, wobei die Kredite mehr in den Vordergrund rücken. Da die monetäre Politik in erster Linie die Zinssätze steuert, kann sie darüber sowohl auf die Preisentwicklung wie auch auf das Wirtschaftswachstum und damit auf die Beschäftigung einwirken. Die herrschende wissenschaftliche Orientierung verändert sich. Anders ausgedrückt, das Paradigma wechselt. Anstöße dazu kommen allerdings weniger von der Wissenschaft, als vielmehr von den handelnden Politikern, die enger als die Wissenschaftler mit den drängenden Problemen an den Märkten verbunden sind. 5. Die Aufgabe der Zentralbank auch für Vollbeschäftigung zu sorgen ohne Alternative Angesichts hoher Arbeitslosenzahlen weltweit ist es notwendig festzule­ gen, welche staatliche Institution den Auftrag erhält, für einen hohen Be­ schäftigtenstand zu sorgen. Es genügt nicht, wenn auf internationalen Konferenzen die Staaten geloben, Wirtschaftswachstum zu fördern und da­ mit Beschäftigung zu schaffen, vor allem bei Jugendlichen. Wo immer Unruhen in der Welt ausbrachen, stets war eine der Forderung Beschäfti­ gung. Das war z. B. beim „arabischen Frühling“ der Fall, der zu demokra­ tischen Wahlen und Regierungen führte; aber auch bei den Unruhen danach, als die Menschen gewahr wurden, dass sie noch immer ohne Arbeit und, was noch wichtiger ist, ohne Chancen auf Arbeit sind. Nur zwei staatliche Institutionen kommen für die Aufgabe infrage, für Vollbeschäftigung zu sorgen: die Finanzministerien der Staaten oder die Zentralbanken. Offensichtlich sind die Finanzministerien mit so vielen Auf­ gaben betraut, dass das wirtschaftspolitische Ziel Vollbeschäftigung nur ei­ nes von vielen wäre. Einer solchen Institution ein so wichtiges Ziel anzu­ 48  Milton Friedman, Die optimale Geldmenge und andere Essays, München 1970, S. 155. 49  Milton Friedman, Die optimale Geldmenge und andere Essays, München 1970, S.  143 f.

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B. Das Ziel Vollbeschäftigung

vertrauen, wäre keine optimale Lösung. Allerdings muss man dann auf die Instrumente, wie Infrastrukturinvestitionen, verzichten, die den Finanzminis­ terien zur Verfügung stehen. Andererseits sind es Zinssätze über die die Zentralbanken gebieten. Mit ihrer Steuerung kann die Zentralbank wirt­ schaftliche Aktivitäten stimulieren oder bremsen, um die Beschäftigung zu erhöhen, aber auch um die Preise zu stabilisieren. Schließlich sollte nicht übersehen werden, dass eine wichtige Zentralbank, das amerikanische Fede­ ral Reserve System, beide Ziele, Vollbeschäftigung und Preisstabilität, opti­ mal gesteuert hat. Der Eindruck ist, dass auch in anderen Staaten die Zen­ tralbanken für Beschäftigung zuständig sein sollen. 6. Die Kerngeschäfte der Zentralbank Kerngeschäfte einer Zentralbank sind alle wirtschaftspolitischen Aufga­ ben und Ziele, die mit Hilfe von Zinsveränderungen gelöst und erreicht werden können. Dazu gehört Preisstabilität, aber auch Vollbeschäftigung. Mit den einer Zentralbank zur Verfügung stehenden Instrumenten, kann sie die Zinsen beeinflussen und damit wirtschaftlichen Aktivitäten stimulieren oder dämpfen. Eine Zentralbank muss versuchen, die Preise zu stabilisieren und gleichzeitig das Wirtschaftswachstum und damit die Beschäftigung nicht aus dem Auge zu verlieren. Die Federal Reserve Bank der Vereinigten Staaten praktiziert das recht erfolgreich. Sie hat ein klares quantitatives Ziel für Preisstabilität vorgege­ ben, nämlich eine Preissteigerungsrate der Konsumentenpreise von 2 %. Das ist grundsätzlich der gleiche Satz, den auch die EZB festgelegt hat. Für Vollbeschäftigung hat sie kein eindeutiges quantitatives Ziel formuliert. Der beschlossene Zielkorridor von Arbeitslosenquoten von 5,2 % bis 6 % knüpft an die gegebene Situation auf dem Arbeitsmarkt an und soll sie etwas ver­ bessern. Ein solches Vorgehen ist mit dem EU-Vertrag, Art. 127 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vereinbar. Dort ist die EZB ange­ halten, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EU und die dort verfolgten Ziele, darunter Vollbeschäftigung, zu unterstützen, soweit dies ohne Beein­ trächtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist. Würde man dem Euro­ päischen System der Zentralbanken neben Preisstabilität auch das Ziel Vollbeschäftigung vorgeben, bedürfte es keiner formalen Vertragsänderung. Ein Beschluss der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitglieder reicht aus. Gegen die Übertragung der zwei Ziele, Vollbeschäftigung und Preisstabi­ lität, auf die Zentralbanken gibt es auch Widerspruch. Otmar Issing verweist auf die Tinbergen-Regel, „nach der man mit einem Instrument“ – gemeint



IV. Vollbeschäftigungspolitik durch Zentralbanken57

ist die Zentralbank – „immer nur ein Ziel realisieren kann“.50 Diese Ansicht wird bereits durch das Federal Reserve System wiederlegt. Schuldig bleiben solche kritischen Berichte die Antwort, wer sich um das Ziel Vollbeschäfti­ gung bemühen soll, wenn man angesichts hoher Arbeitslosenquoten steuernd tätig sein sollte. Die „Lösung“, das Problems weiterhin dem Markt zu über­ lassen, ist nicht mehr akzeptabel. Issing sieht offenbar auch diese Probleme. Jedenfalls fügt er seinen kritischen Bemerkungen an: „Gefährden exogene Schocks die Erhaltung der Preisstabilität, hat die Notenbank zu erwägen, über welchen Zeitraum sie ihr Ziel erreichen will. Dabei wird sie dann auch das Zeitprofil von Wirtschaftsaktivität und Beschäftigung zu berücksichti­ gen haben.“ Nicht zu den Kerngeschäften einer Zentralbank gehört die Bankenauf­ sicht. Die Probleme, dass die Banken ein angemessenes Eigenkapital besit­ zen und über ausreichend liquide Mittel verfügen, lassen sich nicht mit Zinsänderungen lösen. Was die Zentralbanken zur Bankenaufsicht beitragen können, sind ihre Analysen, die sie über die einzelnen Banken für ihre monetäre Politik fertigen. Bankaufsichtliche Entscheidungen zu einzelnen Banken sollten aber einer bankaufsichtlichen Institution, in der EU z. B. der European Banking Authority EBA, obliegen. 7. Kaum Interessenkonflikte und wenn, lösbar Wenn eine Zentralbank sowohl für Vollbeschäftigung als auch für Preis­ stabilität sorgt, dann muss es nicht unbedingt zu Interessenkonflikten für die monetäre Politik kommen. Der Einsatz monetärer Instrumente, um Arbeits­ losigkeit zu bekämpfen tritt nicht unbedingt in Widerspruch zur Bekämp­ fung von Preissteigerungen und der Einsatz monetärer Instrumente, um Preissteigerungen zu bekämpfen tritt nicht unbedingt in Widerspruch zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Der Grund für diese grundsätzlich ange­ nehme Situation für eine Zentralbank, liegt im Konjunkturverlauf. Wenn die wirtschaftliche Entwicklung gedämpft verläuft oder in eine krisenhafte Entwicklung mündet, dann steigt die Arbeitslosigkeit. Die Zentralbank kann dann ihr Instrumentarium einsetzen, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, also expansiv. Sie muss dann nicht befürchten, dass dadurch die Preise steigen. Eine gedämpfte wirtschaftliche Entwicklung lässt Preissteigerungen kaum zu. Wenn sich umgekehrt die wirtschaftliche Entwicklung belebt oder in ei­ nen kräftigen Aufschwung mündet, dann steigen die Preise. Die Zentralbank kann dann ihr Instrumentarium einsetzen, um die Preissteigerungen zu be­ 50  Otmar

Issing, Der Euro – Geburt, Erfolg, Zukunft, München 2008, S. 58.

58

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

kämpfen, also kontraktiv. Sie muss dann nicht befürchten, dass dadurch die Arbeitslosigkeit steigt. Eine sich belebende wirtschaftliche Entwicklung oder ein kräftiger Aufschwung lässt das nicht zu. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es wirtschaftliche Entwicklungen gibt, in denen sowohl das Ziel Preisstabilität, als auch das Ziel Vollbeschäf­ tigung gefährdet sind. Die dazu passende konjunkturelle Entwicklung be­ zeichnet man als Stagflation. Hier muss eine Zentralbank entscheiden, welchen der gefährdeten oder verletzten Ziele, in welchem Umfang und wie lange, sie Priorität einräumt. Man muss sich vergegenwärtigen, dass eine solche Entscheidung auch notwendig wird, wenn z. B. das Finanzministeri­ um für Vollbeschäftigung und die Zentralbank für Preisstabilität sorgen muss. Notwendige Entscheidungen und Abstimmungen zweier so unter­ schiedlicher staatlicher Institutionen sind aber schwerer zu erreichen, als wenn sie innerhalb einer Institution, der Zentralbank, gefällt werden. 8. Die unverzichtbare Unabhängigkeit der Zentralbank Der Erfolg einer monetären Politik durch die Zentralbank für ein Ziel und recht erst für zwei Ziele, ist von der Unabhängigkeit der Entscheidungen dieses Gremiums entscheidend abhängig. Die Beschlussorgane einer Zent­ ralbank bestehen aus Mitgliedern, die in der Lage sind, eine wirtschaftliche Entwicklung zu beurteilen und, um optimale Ergebnisse bei den wirtschafts­ politischen Zielen Vollbeschäftigung und Preisstabilität zu erreichen, über den dafür notwendigen Mitteleinsatz zu entscheiden. Der Gesetzgeber muss die Beschlussorgane vor Einflüssen Dritter schützen. So ist das bei der EZB geschehen. Um die Unabhängigkeit der EZB zu gewährleisten, verpflichtet der Ver­ trag über die Arbeitsweise der Europäischen Union einmal die internen Organe – Europäische Zentralbank, die nationalen Zentralbanken und die Mitglieder ihrer Beschlussorgane – und zum anderen die externen Organe – Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten – die Unabhängigkeit zu beachten. Die internen Organe dürfen Weisungen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderer Stellen weder einho­ len noch entgegennehmen. Die externen Organe verpflichten sich, diese Grundsätze zu beachten. Sie dürfen nicht versuchen, die Mitglieder der Beschlussorgane der EZB oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahr­ nehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen.51 51  Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Art. 130, in: EU-Ver­ trag, Beck-Texte im dtv, 6. Auflage 2008.



IV. Vollbeschäftigungspolitik durch Zentralbanken59

Die Unabhängigkeitsverpflichtungen, die man den internen und externen Organen auferlegt hat, sind zu ergänzen mit Bestimmungen über die Nicht­ kündbarkeit der Mitglieder des Direktoriums und des Zentralbankrates, die auch Bestimmungen über deren Ruhegehälter enthalten müssen. Wenn die Entscheidungsträger wissen, dass sie unkündbar sind und nach ihrem Aus­ scheiden Ruhegehalt empfangen, dann werden sie, ein Gesetz wie der Art. 130 AEUV im Rücken, unabhängig entscheiden. In der EWU ist die Unabhängigkeitserklärung des Art. 130 AEUV ent­ sprechend ergänzt worden. Die Mitglieder des Direktoriums werden für eine Amtszeit von acht Jahren ernannt. Eine Wiederernennung ist nicht zuläs­ sig.52 Die Präsidenten der nationalen Zentralbanken, die Mitglieder des Europäischen Zentralbankrates sind, werden für eine Amtszeit von mindes­ tens fünf Jahren ernannt. Sie können nur aus ihrem Amt entfernt werden, wenn sie die Voraussetzungen für die Ausübung ihres Amtes nicht mehr erfüllen oder eine schwere Verfehlung begangen haben.53 Wenn die Unabhängigkeit der Institution gesetzlich verankert ist und die Mitglieder der Beschlussorgane während ihrer Amtszeit grundsätzlich nicht gekündigt werden können und wenn sie danach finanziell abgesichert sind, braucht man sich über sachgerechte Entscheidungen der Zentralbank nicht zu sorgen. Dazu gab es Beispiele in der Deutschen Bundesbank. Ihr Zent­ ralbankrat musste über die Sachkompetenz von der Regierung vorgeschla­ gener neuer Ratsmitglieder entscheiden. In einigen Fällen hielt er sie für nicht gegeben und lehnte die Kandidaten ab. Trotzdem wurden alle ernannt. Sehr schnell merkten Sie, dass ihnen niemand etwas sagen oder befehlen konnte. So kümmerten sie sich allein um die Fragen der Geld- und Kredit­ politik. Sie alle wurden anerkannte Mitglieder des Zentralbankrates. Die Unabhängigkeit minimiert somit auch den politischen Einfluss. Die Unabhängigkeit einer Zentralbank ist ein hohes Gut, das es zu schüt­ zen gilt. Verständlich ist, dass dem einen oder anderen monetäre Entschei­ dungen nicht gefallen und dass dann die Unabhängigkeit in Frage gestellt wird. Damit muss man leben. Gefährlicher sind die gut gemeinten Vorschlä­ ge, die die Unabhängigkeit gefährden. „Wir müssen die Geldwertstabilität ins Grundgesetz schreiben. Geldwertstabilität ist ein Freiheitsrecht für alle Bürger.“54 Was soll das bewirken? Wenn ein Bürger sein Freiheitsrecht beeinträchtigt sieht, dann kann er klagen. Dann ist es fraglich, ob ein Zen­ tralbankrat angesichts von Klagen gegen ihn noch unabhängig entscheidet. 52  Protokoll (Nr. 12) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralban­ ken und der Europäischen Zentralbank, Art. 11.2., in: EU-Vertrag, Beck-Texte im dtv, 6. Auflage 2008. 53  Protokoll (Nr. 12) … a. a. O. Fußnote 54, Art. 14,2. 54  FDP: Die Zeit ist reif für Freihandel, Zeilenziffer 1048 + 1049, Februar 2013.

60

B. Das Ziel Vollbeschäftigung

Oder: „Wir müssen die Bundesbank im EZB-Rat stärken. Heute zählt im EZB-Rat die Stimme von Malta formal genauso viel wie die Stimme von Deutschland. Das muss sich ändern. Bei außergewöhnlichen Entscheidun­ gen wie der Ankauf von Staatsanleihen brauchen die Bundesbank und die anderen großen Zentralbanken eine Veto-Möglichkeit.“55 Auch als die Deut­ sche Bundesbank noch in Deutschland verantwortlich war, die Währung zu sichern, gab es solche Forderungen. Ein großes Bundesland wollte ein hö­ heres Stimmengewicht, da das Saarland und Bremen auch eine Stimme hatten. Man verkennt, dass eine Zentralbank monetäre Politik für einen einheit­lichen Währungsraum macht und nicht für einzelne Länder. In Euro­ pa entscheiden 23 ausgezeichnete Frauen und Männer über den Weg die vorgegebenen Ziele zu erreichen und das mit Erfolg. Sie machen keine monetäre Politik für Malta oder Deutschland. Mit einem Vetorecht würde man geradezu ein Tor für den politischen Einfluss öffnen. Schutz vor Ein­ schränkungen der Unabhängigkeit der Zentralbank bedeutet, nicht nur direk­ te Forderungen nach weniger Unabhängigkeit abzuwehren, sondern auch bei gut gemeinten Vorschlägen auf der Hut zu sein. Was den Euroraum betrifft, wäre es an der Zeit, weniger national und mehr europäisch, ja vielleicht sogar global zu analysieren und zu urteilen.

55  FDP:

Die Zeit ist reif für Freihandel, Zeilenziffer 1061–1064, Februar 2013.

C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität I. Ziel und Konzept 1. Preisstabilität durch die Zentralbank definiert Viele Zentralbanken in der globalen Welt verpflichten ihre Zentralbanken für Preisstabilität zu sorgen. Das ist auch in der Europäischen Währungs­ union so. Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) – das ist die Europäische Zentralbank (EZB) und sind die nationalen Zentralbanken (NZB) der Währungsunionsmitglieder – erhielt im Vertrag über die Arbeits­ weise der Europäischen Union (AEUV) die Aufgabe: „Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken (in Folgenden „ESZB“) ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten.“56 Was man unter Preisstabilität zu verstehen hat, wurde von der EZB defi­ niert. Zunächst ist festzustellen, dass es allgemein üblich geworden ist, von Preisstabilität zu sprechen. Gemeint allerdings ist Preisniveaustabilität. Sie wird meist mit der Zuwachsrate der Konsumentenpreise gemessen. Das ist die Zuwachsrate eines Indexes, der das Preisniveau eines ganzen Landes oder der Europäischen Währungsunion abbildet. Preisstabilität bedeutet nicht die Stabilität der Einzelpreise. Sie müssen beweglich bleiben, denn es sind die Veränderungen der einzelnen Preise, die signalisieren, wie sich Angebot oder Nachfrage nach diesem Produkt verändern. Veränderungen einzelner Preise beeinflussen die Investitionen für die Herstellung und den Absatz einzelner Produkte. Der Begriff Preisstabilität bezieht sich immer auf den gewichteten Durchschnitt aller in die jeweilige Kategorie – z. B. Konsumgüter – fallenden Preise, also auf das Preisniveau. Einerseits ist es der Gesetzgeber, z. B. in Großbritannien, andererseits ist es das Beschlussorgan der Zentralbank, z. B. in der EWU, die das Ziel oder die Ziele der Zentralbank vorgeben. Der Zentralbankrat der Europäischen Zentralbank hat die normative Zielsetzung für Preisstabilität folgenderma­ ßen definiert: Preisstabilität – die EZB misst Preisveränderungen mit den Konsumentenpreisen – ist gegeben, wenn „die Preissteigerung auf mittlere

56  Vertrag über die Arbeitsweise der EU Art. 127, Abs. 1, in: EU-Vertrag, BeckTexte im dtv, 6. Auflage, 2008.

62

C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität

Sicht unter, aber nahe 2 %“ gehalten wird.57 Diese Definition enthält vier Bestandteile: a) Preisstabilität soll auf mittlere Sicht erreicht werden. Das bedeutet, dass die Zentralbank nicht auf jede Preisveränderung mit monetären Ein­ griffen reagieren wird. Wenn vor den Ernten die Lebensmittelpreise steigen und damit die Konsumentenpreise, wird die Zentralbank dagegen nichts unternehmen. Sie weiß, dass nach der Ernte die Lebensmittelpreise sich auch wieder zurückbilden werden. Allgemein ausgedrückt, die Zentralbank reagiert nicht auf saisonbedingte Preisveränderungen. Mittelfristig heißt, wenn die Zentralbank im Durchschnitt eines Zeitraums von zwei bis drei Jahren Preisstabilität erreicht hat, war sie erfolgreich. b) Die Preissteigerungsrate bei Preisstabilität soll unter 2 % liegen. Der Zentralbankrat der EZB hat hierzu keine quantitativen Beschlüsse gefasst, z. B. 1,9 % oder 1,8 %. Er unterstreicht mit dieser Formulierung nur, dass es ihm sehr ernst ist, dieses Ziel Preisstabilität auf mittlere Sicht zu erreichen. c)  Die Preissteigerungsrate soll zwar unter, aber nahe 2 % gehalten wer­ den. Damit bringt die Zentralbank zum Ausdruck, dass sie eine deflatorische Entwicklung, ebenso wie eine inflatorische, vermeiden will. In der Weltfi­ nanzkrise hatten Preisveränderungen in mehreren Staaten, so auch in der EWU, vorübergehend negative Raten. Das ist eine konjunkturell sehr gefähr­ liche Entwicklung, insbesondere, wenn sie länger anhält und Preissenkungen von privaten Haushalten und Unternehmen wahrgenommen werden. Eine wirtschaftliche Krise ist dann kaum vermeidbar. Wenn private Haushalte sin­ kende Preise wahrgenommen haben, dann werden sie vorgesehene Anschaf­ fungen in die Zukunft verlagern, weil sie erwarten, dass sie die begehrten Waren dann billiger erwerben können. Ähnlich verhalten sich Unternehmen. Sie verschieben Investitionen. Auftragseingänge und Produktion gehen zu­ rück und das reale Bruttoinlandsprodukt sinkt. Um das zu vermeiden, muss die Preissteigerungsrate mittelfristig unter, aber nahe 2 % gehalten werden. d) Preisstabilität wird mit einer Preissteigerungsrate und nicht mit einer Rate von null definiert. Eine Rate von null ist unter normalen wirtschaft­ lichen Bedingungen nicht erreichbar. Ein wichtiger Grund sind unterschied­ liche Arbeitsproduktivitäten in den einzelnen Wirtschaftsbereichen und eine gewisse Preisrigidität. Hierzu ein Beispiel: In der Volkswirtschaft nimmt in einer Periode die Arbeitsproduktivität um 3 % zu. Gleichzeitig haben die Sozialpartner Lohnerhöhungen von 3  % verabredet, Die Kostensenkung durch Produktivitätssteigerung wird gerade ausgeglichen durch die Kosten­ erhöhung infolge Lohnsteigerung. Die Preise müssten unverändert bleiben. Die Produktivitätssteigerungen aber sind in den einzelnen Wirtschaftsbe­ 57  Europäische

Zentralbank, Jahresbericht 2012, S. 13.



I. Ziel und Konzept63

reichen unterschiedlich. Angenommen in der Computerindustrie steigt die Arbeitsproduktivität um 6 % und in den Dienstleistungen, z. B. beim Friseur, verändert sich die Arbeitsproduktivität nicht. Wenn die Löhne um 3 % stei­ gen, dann könnte die Computerindustrie ihre Preise um 3 % senken, wäh­ rend sie in den Dienstleistungen um 3 % steigen müssen. Die Computer­ industrie senkt auch ihre Preise, aber vielleicht nur um 2 % oder 1 %. Im Durchschnitt der Volkswirtschaft ergibt sich dann eine unter den gegebenen Verhältnissen unvermeidliche Preissteigerungsrate. Daher wird Preisstabili­ tät nicht mit 0 % sondern in grundsätzlich preisstabilen Ländern, wie den USA, Japan und der EWU, mit 2 % angenommen. Länder mit höheren und hohen Preissteigerungsraten werden kaum ein Ziel von 2 % ihrer monetären Politik zugrunde legen. Diese Länder gehen meist schrittweise vor. Z. B. bei einer Preissteigerungsrate von 7 % werden sie für das kommende Jahr eine von 5 % anstreben und haben sie diese erreicht, wird das nächste Ziel 3 % lauten. 2. Preisstabilität sichern mit einem klaren Konzept Die Zentralbanken sind mit dem so wichtigen existenziellen Ziel beauf­ tragt, Preisstabilität zu sichern. Fehlentwicklungen, also Preissteigerungen, können sie nur vermeiden oder korrigieren, in dem sie monetäre Instrumen­ te einsetzen. Dieser Mitteleinsatz hat zum Ziel, die Zinssätze in der Wirt­ schaft zu beeinflussen. Veränderungen der Zinssätze können die Wirtschafts­ aktivitäten stimulieren oder dämpfen und dadurch zu Preisveränderungen führen. „The (long) chain of cause and effect linking monetary policy deci­ sions with the price level starts with a change in the official interest rates set by the central bank on its own operation.“58 Die monetäre Politik, mit der eine Zentralbank ihr Ziel Preisstabilität erreichen will, umfasst drei Teilpolitiken. Im Mittelpunkt steht die Zinspo­ litik. Hier gibt die Zentralbank den Banken einen Leitzins vor. Er markiert grundsätzlich den Geldmarktzins, der von ihr angestrebt wird. Wird ein solcher Leitzins genannt, dann wird er in Form des Geldmarktsatzes nur zustande kommen, wenn der Geldmarkt mit einer diesem Zins angemesse­ nen Liquidität ausgestattet ist. Um eine solche Liquiditätsausstattung des Geldmarkts sicher zu stellen, verfügt eine Zentralbank über verschiedene Instrumente einer Liquiditätspolitik. Es sind vor allem die Zinspolitik und die Liquiditätspolitik, mit denen die Zentralbank recht genau die Geldmarkt­ sätze bestimmen und steuern kann. 58  European Central Bank: The Monetary Policy of the ECB, Frankfurt a.  M. 2011, S. 59:

64

C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität

Abbildung 12: Preisniveaustabilität, Monetäre Transmission

Es gibt neben den Liquiditätsströmen, die von der Zentralbank gesteuert werden, auch Liquiditätsströme zwischen Zentralbank und Banken, auf die die Zentralbank keinen Einfluss hat. Das sind die sogenannten Marktfakto­ ren oder Markteinflüsse. Dazu gehören z. B. Veränderungen des Bargeldum­ laufs. Bargeld erhalten die Bürger bei ihrer Bank, am Schalter oder an Bargeldautomaten. Die Bank belastet das Konto des Bürgers mit dem Betrag des abgehobenen Bargeldes. Da eine Bank Bargeld nicht selbst schaffen kann, sondern nur die Zentralbank, hat sie sich das Bargeld dort beschafft. Die Zentralbank hat ihrerseits das Konto der Bank bei ihr mit dem Bargeld­ betrag belastet. Das Ergebnis dieser Vorgänge ist: Eine Zunahme des Bar­ geldumlaufs verringert die Bankenliquidität. Umgekehrt gilt, nimmt der Bargeldumlauf ab, steigt die Bankenliquidität. Ein anderer Markteinfluss sind Zuflüsse auf Konten des Staates bei der Zentralbank. Dabei verliert die überweisende Bank Liquidität. Bei einem Abfluss von Konten des Staates bei der Zentralbank nimmt die Liquidität der Banken zu. Die Zentralbank kann diese Markteinflüsse nicht beeinflussen. Sie kann ihren Bürgern nicht vorschreiben, mehr oder weniger Banknoten in ihren Portemonnaies zu halten. Sie kann auch Staaten nicht auferlegen mehr oder weniger Beträge



I. Ziel und Konzept65 6 5 4 3

in % p.a.

2 1 0 –1 –2 –3 Sources: ECB, Eurostat

–4

2005 BIPn

2006

2007

MinBietSatz

2008 EONIA

2009

2010

Kreditzinsen

2011

2012

10 jähr. Anleihen

Abbildung 13: Das BIPn und die Zinsstruktur in der EWU

von ihren Konten abzuziehen oder auf sie überweisen zu lassen. Marktein­ flüsse verändern die Liquidität der Banken, sind aber durch die Zentralbank nicht steuerbar. Marktfaktoren können die Liquiditätspolitik der Zentralbank unerwünscht beeinflussen. Angenommen die Zentralbank will in einer gegebenen wirt­ schaftlichen Lage die Liquidität der Banken unverändert belassen. In dieser Zeit aber wird Bargeld an die Banken zurückgegeben und der Staat über­ weist Beträge von seinen Zentralbankkonten an private Unternehmen auf Konten bei Banken. Dadurch steigt unerwünscht die Bankenliquidität. Er­ folgreich kann eine Zentralbank aber nur sein, wenn sie die Bankenliquidi­ tät allein nach ihrem Ermessen steuern kann. Es muss also ein Mittel ge­ funden werden, dass die Banken immer von einem Angebot an Liquidität von der Zentralbank abhängig bleiben. Dieses Mittel sind die Mindestreser­ ven. Die Zentralbank verlangt, dass die Banken einen Prozentsatz ihrer Einlagen ständig bei ihr auf einem Konto halten. Die Mindestreserven werden so bemessen, dass die Banken von Zentralbankgeld (Liquidität) abhängig bleiben, auch wenn Marktfaktoren den Banken Liquidität zu­ führen.

66

C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität

Grundsätzlich bleibt der Prozentsatz, zu dem Banken Mindestreserven halten müssen, unverändert. Aber es steht der Zentralbank auch frei, diesen Satz zu ändern. Erhöht sie ihn, bindet sie mehr Bankenliquidität bei ihr, senkt sie den Prozentsatz, können die Banken über zusätzliche freie Liqui­ dität verfügen. Z. B. hat die EZB im Januar 2012, während der Weltfinanz­ krise, ihren Mindestreservesatz halbiert. Damit stiegen die frei verfügbaren liquiden Mittel der Banken erheblich. Mit der Zinspolitik, der Liquiditätspolitik und der Mindestreservepolitik bestimmt die Zentralbank die Geldmarktzinsen, und zwar den Tagesgeld­ satz. Ehe man dazu kommt, die Preisentwicklung zu beeinflussen, sind noch einige Schritte im monetären Bereich zurückzulegen. Die Geldmarktsätze als Zinssätze für den Geldhandel zwischen Banken signalisieren, welchen Kurs die Zentralbank steuert. Für Preisstabilität besonders wichtig, sind die Kreditzinsen und zum Teil auch die Anleihezinsen. Steigen sie, dann wer­ den die Kreditgewährung und damit auch die wirtschaftlichen Aktivitäten, die sich im nominalen Bruttoinlandsprodukt widerspiegeln, gebremst. Sin­ ken die Kreditzinsen, dann werden umgekehrt die wirtschaftlichen Aktivitä­ ten angeregt. Eine Zentralbank hat direkt keinen Einfluss auf die Kreditzinsen und die Anleihezinsen. Indirekt allerdings ist er ihr gegeben. In normalen Zeiten gibt es zwischen Geldmarktzinsen, Kreditzinsen und Anleihezinsen eine recht konstante Zinsstruktur. Die Kreditzinsen liegen über den Geldmarkt­ zinsen und die Anleihezinsen über den Kreditzinsen. Erhöht oder senkt die Zentralbank die Geldmarktzinsen, dann steigen oder sinken auch die Kre­ ditzinsen und die Anleihezinsen. Dadurch wird das nominale Bruttoinlands­ produkt gebremst oder stimuliert. Die Zuwachsrate des nominalen BIP be­ stimmt ihrerseits die Zuwachsrate der Geldmenge In der Finanzmarktkrise hat sich die Zinsstruktur im Euroraum erheblich geändert. Die EZB hat so viel Liquidität in den Geldmarkt gegeben, dass ab 2008 der Geldmarktsatz EONIA erstmals unter den Leitzins der EZB, den Mindestbietungssatz, fiel. Nach wie vor lagen die Kreditzinsen über den Geldmarktzinsen. Das Schaubild lässt aber erkennen, dass die Differenz nicht konstant geblieben ist. Die Banken haben die Kreditzinsen in den Jahren 2010 und 2011 stärker erhöht als die Geldmarktsätze gestiegen sind. Die hohe Nachfrage nach Anleihen hat dazu geführt, dass die Anleihezinsen meist unter den Kreditzinsen lagen. Das Konzept der monetären Steuerung zeigt, in welchen Schritten die Zentralbank vorgeht, um das Ziel Preisstabilität zu erreichen. Sie muss sich allerdings auch darüber Gedanken machen, welche quantitativen Schritte dabei zurück zu legen sind. Sie wird sich dabei einer Vielzahl von Einflüs­ sen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Art ausgesetzt sehen.



I. Ziel und Konzept67 in % p. a. Wachstumsrate des Produktionspotenzials

1,5

+ Auslastungsgrad des Produktionspotenzials

0,5

= Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprod.

2,0

+ Unvermeidliche Preissteigerungsrate

2,0

= Zuwachsrate d. nominalen Bruttoinlandsprod.

4,0

+ Finanzierungsrelation (Vorleistungen usw.)

3,0

= Zuwachsrate der Kredite

7,0

Abbildung 14: Orientierungsgrößen für die monetäre Politik

Das verlangt von ihr, dass sie sich diesen Einflüssen durch veränderten Einsatz ihrer monetären Instrumente elastisch anpasst. Die Frage nach den anzustrebenden quantitativen Schritten, kann man daher auch nur für den angenommenen Normalfall beantworten. Ausgangsgröße ist die Wachstums­ rate des Produktionspotenzials. Angenommen sie beträgt 1,5 % jährlich. Das entspricht etwa der Lage in den zehner Jahren in der EWU. Da in der EWU eine hohe Arbeitslosigkeit besteht, muss dafür gesorgt werden, dass der Auslastungsgrad des Produktionspotenzials verbessert wird, z. B. um 0,5 %. Nur dann geht die Arbeitslosigkeit zurück. Diese beiden Annahmen besa­ gen, dass man eine Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprodukts von 2 % anstreben muss. Ein solches Wirtschaftswachstum ist zu finanzieren. Die Finanzierung wirtschaftlicher Aktivitäten kann sich nicht allein auf reale Größen beschränken. Die Europäische Zentralbank und andere wich­ tige Zentralbanken definieren Preisstabilität mit einer Preissteigerungsrate von 2 %. Für diese unvermeidliche Preissteigerungsrate müssen ebenfalls finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Die zu finanzierende Zuwachsrate des realen BIP zuzüglich der unvermeidlichen Preissteigerungsrate ergibt ein zu finanzierendes nominales BIP von 4 %. Das nominale BIP enthält die Endleistungen, die in einer Volkswirtschaft, wie der EWU, in einem Jahr produziert wurden. Damit aber wird nur ein Teil des Produktionsprozesses abgebildet. Zu finanzieren sind auch die Vor­ leisten, wie Rohstoffe und Halbfabrikate, die die Unternehmen beziehen. Auch Kapitaltransaktionen verlangen zusätzliche monetäre Mittel. Dies alles schlägt sich in der Finanzierungsrelation, durchschnittlich in Höhe von 3 % nieder. In normalen Zeiten kann man somit mit einer Zuwachsrate der Kre­ dite von 7 % rechnen.

68

C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität

7

BIP nominal 5

3 Preisanstieg 1

BIP real

–1

–3

–5 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Zuwachsrate BIPreal

Deflator (Preisanstieg)

Abbildung 15: Bruttoinlandsprodukt nominal, real und Preise (Deflator) in der EWU

Die Zuwachsrate des nominalen BIP kann die Zentralbank weitgehend steuern. Damit leistet sie einen erheblichen Beitrag zum preisstabilen Ver­ lauf der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage. Sehr schwierig aber ist es zu schätzen, wie viel von dem nominalen Zuwachs des BIP sich in der Zuwachsrate des realen BIP und in der Preissteigerungsrate, dem Deflator und den Konsumentenpreisen, niederschlägt. Hier stehen dem Staat durch höhere oder niedrigere Investitionen Korrekturmöglichkeiten zur Verfügung. In den 14 Jahren seit dem Bestehen der EWU, von 1999 bis 2012, ist das nominale BIP, nicht zuletzt auch durch die monetäre Politik der EZB, durchschnittlich um 3,1 % gestiegen. Davon schlugen sich 1,4 % im realen BIP nieder und die Preise, der Deflator, stiegen um 1,7 %. Das Ziel Preis­ stabilität konnte gesichert werden. Das durchschnittliche Wirtschaftswachs­ tum dieser Jahre lag knapp unter der Wachstumsrate des Produktionspoten­ zials. Beschäftigungszuwächse wurden unter diesen Bedingungen nicht er­ zielt.



II. Das Instrumentarium zur Realisierung der Ziele69

II. Das Instrumentarium zur Realisierung der Ziele 1. Der Leitzins der Zentralbank, ein Festzinssatz oder ein Mindestbietungssatz Das wohl wichtigste Instrument einer Zentralbank, um Höhe und Verän­ derung der Geldmarktzinsen zu bestimmen, ist der Leitzins. Er wird von der Zentralbank festgelegt und gibt den monetären Märkten und der interessier­ ten Öffentlichkeit, eine Orientierung, welchen Kurs die Zentralbank steuert. Zum Leitzins erhalten die Banken von der Zentralbank Geld. Sie benutzen diese liquiden Mittel, um Unternehmen, dem Staat und privaten Haushalten Kredite auszuleihen und um jederzeit zahlungsfähig gegenüber ihren Gläu­ bigern, insbesondere gegenüber den Einlegern von Ersparnissen, zu bleiben. Der Leitzins kann zwei unterschiedliche Formen annehmen, entweder ist er ein Festzinssatz oder ein Mindestbietungssatz. Wenn die Zentralbank ei­ nen Festzins wählt, dann erhalten die Banken das von der Zentralbank ge­ liehene Geld zu diesem Zinssatz. Wählt die Zentralbank als Leitzins einen Mindestbietungssatz, dann bedeutet dieser Satz, die Banken müssen für das Geld, das sie von der Zentralbank leihen wollen, einen Zins nennen, den sie bereit sind zu zahlen. Diese Zinssätze dürfen allerdings den Leitzins, in diesem Fall den Mindestbietungssatz, nicht unterschreiten. Die Zentralbank wird sich von den Zinsangeboten die mit den höchsten Zinsen aussuchen. Wenn sie dabei den Betrag erreicht, den zu ausleihen sie bereit ist, wird sie weitere Nachfrage nach Zentralbankgeld nicht mehr bedienen. Der durch­ schnittliche Zins für die von der Zentralbank ausgeliehenen Mittel liegt dann meist über dem Mindestbietungssatz. Ein Mindestbietungssatz ist so­ mit für die Märkte nicht so eindeutig wie ein Festzinssatz. Mindestbietungs­ sätze werden meist in ruhigen wirtschaftlichen Zeiten als Leitzins verwen­ det. In unruhigen, krisenhaften Zeiten benutzt man eher den Festzinssatz als Leitzins. Gleichgültig welchen Leitzins die Zentralbank verwendet. Sie wird mit Hilfe ihres übrigen Instrumentariums, der Liquidität und der Mindestre­ serven, sicherstellen, dass der Tagesgeldsatz am Geldmarkt gleich hoch ist und sich mit dem Leitzins im selben Maße verändert. 2. Eine Obergrenze und eine Untergrenze für Bewegungen des Tagesgeldsatzes Auch wenn eine Zentralbank, bei einem von ihr festgesetzten Leitzinses, die Liquidität durch Offenmarktgeschäfte in meist wöchentlichen Abständen so genau dosiert, dass Leitzins und Tagesgeldsatz übereinstimmen, kann sie doch nicht verhindern, dass die Geldmarktsätze kurzfristig schwanken. Das liegt an unterschiedlichen Veränderungen der Nachfrage oder des Angebots

70

C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität

am Geldmarkt. Wenn die beiden Größen kurzfristig nicht zusammengeführt werden können, dann kann es zu erheblich Ausschlägen der Geldmarktsätze kommen. Das aber möchte eine Zentralbank vermeiden. Dadurch kann Un­ ruhe an den Märkten entstehen. Marktteilnehmer verlieren die Orientierung über den Kurs der Zentralbank. Zentralbanken legen daher neben dem Leit­ zins, eine Obergrenze und eine Untergrenze für Schwankungen der Geld­ marktsätze fest. Begrenzt werden die Geldmarktschwankungen im Europäischen System der Zentralbanken durch zwei sogenannte ständige Fazilitäten. Die Spitzen­ refinanzierungsfazilität bildet die Obergrenze der Geldmarktentwicklung und die Einlagefazilität die Untergrenze. Die EZB bestimmt die Zinssätze dieser ständigen Fazilitäten. Sie lagen in den meisten Jahren jeweils um 1 %P über dem jeweiligen Leitzins (Spitzenrefinanzierungsfazilität) und um 1 %P unter dem jeweiligen Leitzins (Einlagefazilität). Als die EZB im Jahre 2012 den Leitzins (Festzinssatz) auf 0,75 % senkte, verringerte sie die Dif­ ferenzen zu den ständigen Fazilitäten auf 0,75 %P. Zu den festgelegten Zinssätzen für die ständigen Fazilitäten können die Banken jederzeit Zentralbankgeld über Nacht erhalten oder es bei der Zen­ tralbank einlegen. Wenn z. B. ein Bankkunde noch kurz vor Schalterschluss einen größeren Betrag abdisponieren will, dann wird sich die betroffene Bank bemühen, das Geld am Geldmarkt aufzunehmen. Wenn andere Ban­ ken ihre Schalter schon geschlossen haben, dann führt die zusätzliche Nachfrage rasch zu Zinssteigerungen. Diese können aber nur bis zum Spit­ zenrefinanzierungssatz steigen. Dann nämlich holt sich die Bank das noch benötigte Geld bei der EZB. Ähnlich wie nach oben wird eine sinkende Geldmarktentwicklung am Zinssatz der Einlagefazilität gestoppt. Erhält ei­ ne Bank von einem Kunden noch in letzter Minute einen hohen Betrag, den der Kunde bei dieser Bank einlegt, wird die Bank versuchen den Be­ trag noch am Geldmarkt unterzubringen. Gelingt ihr das nicht, singt der Tagesgeldsatz rasch ab, aber nur bis zum Satz der Einlagefazilität. Dann nämlich legt die Bank die zufließenden Mittel bei der EZB zum Zinssatz der Einlagefazilität an. Wie der Name ständige Fazilitäten sagt, können Banken zu jeder Zeit bei der Zentralbank Mittel aufnehmen oder anlegen. In normalen Zeiten wird das aber nur sehr selten der Fall sein, da die Marktzinsen am Geldmarkt meist zwischen den Zinsen der ständigen Fa­ zilitäten liegen. In der EWU können die Jahre 2005 bis 2008 als normale, weitgehend störungsfrei verlaufende Jahre gelten. In dieser Zeit hat die EZB Mindest­ bietungssätze als Leitzinsen bei der Bereitstellung von Liquidität an Banken verwendet. Zu den normalen Zeiten gehört auch, dass die EZB den Geld­ markt so steuert, dass er mit dem Leitzins übereinstimmt. Als Abstände



II. Das Instrumentarium zur Realisierung der Ziele71 6

5

in % p. a.

4

3

2

1

0

2005

Source: EZB

2006

2007

2008

2009

Tagesgeld (EONIA)

Festzinssatz

Spitzenref.Fazilität

Einlagenfazilität

2010

2011

2012

MindBietungssatz Cl.K.

Abbildung 16: Leitzinsen der EZB und Geldmarktzinsen in der EWU

zwischen dem Leitzins und der Obergrenze, der Spitzenfinanzierungsfazili­ tät sowie der Untergrenze, der Einlagenfazilität, wählte sie jeweils 1 %P. Die Weltfinanzmarktkrise mit konjunkturellem Abschwung nahm Mitte 2007 in den USA ihren Anfang. In Europa war sie ab 2008 spürbar und brach dann 2009 mit voller Wucht auf Europa. Hoffnungen, dass ab 2010 die wirtschaftliche Entwicklung sich wieder beschleunigen würde, mussten 2011 und 2012 wieder begraben werde. Die EZB reagierte sehr schnell. Ab Mitte 2008 verringerte sie ihren Leitzins. Ferner ging sie vom Zinstender zum Mengentender über. Die Abstände der Zinssätze der ständigen Fazili­ täten zum Leitzins wurden mehrmals geändert. Ab Mitte 2009 lagen sie bei 0,75 %P. Eine Begleiterscheinung in den Krisenjahren war, dass die Kreditinstitute sich mit Ausleihungen an die Wirtschaft sehr zurückhielten. Die EZB war bemüht, diesen Zustand zu ändern. Sie verzichtete darauf, ihr Instrumenta­ rium so einzusetzen, dass die Geldmarktsätze sich in ihrer Höhe mit den Leitzinsen deckten. Mit einer reichlichen Liquiditätsversorgung der Banken

72

C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität

400,0 350,0 300,0

Mrd. Euro

250,0 200,0 150,0 100,0 50,0 0,0 Source: EZB

2005

2006

2007

2008

Spitzenrefinanzierungsfazilität

2009

2010 Einlagenfazilität

2011

2012 Cl.K

Abbildung 17: Spitzenrefinanzierungsfazilität und Einlagenfazilität der EZB

versuchte die EZB die Kreditgewährung wieder anzuregen. Die dadurch unter die Leitzinsen sinkenden Geldmarktsätze reichten bis 2012 nicht aus, das Blatt zu wenden. In normalen Zeiten werden die ständigen Fazilitäten nicht oder nur in geringen Umfang, meist unter 1 Mrd. €, beansprucht. So war das auch bei der EZB in den Jahren 2005 bis 2007. Die Inanspruchnahme der beiden Fazilitäten ist in diesen Jahren im Schaubild kaum auszumachen. Als sich die Krise in Europa bemerkbar machte, wurde sie von einer großen Unsi­ cherheit zwischen den Banken begleitet. Man vertraute sich gegenseitig nicht mehr wie zuvor. Ein wichtiger Grund war die Absicherung von Krediten und anderen Forderungen, die notleidend zu werden drohten. Zunächst in den USA, danach aber auch in Europa, wendeten dazu die Banken ein besonderes Instrument an, die CDS, die Credit Default Swaps, frei übersetzt mit Kre­ ditausfallversicherung. Eine Bank, die z. B. Kredite absichern wollte, wen­ dete sich an eine Versicherung, einen Pensionsfonds oder eine andere Bank, um einen CDS abzuschließen. Die Befragten werden nie nein sagen, sondern



II. Das Instrumentarium zur Realisierung der Ziele73

nennen ihre Bedingungen. So tauscht man die Zusage des Versicherers bei Ausfall der Forderung den Schaden zu ersetzen, gegen eine Prämie, die der Versicherte jährlich zu zahlen hat. Die Laufzeit dieser CDS betrug überwie­ gend fünf Jahre. Dem Versicherer war aber auch nicht ganz wohl. Er sah, dass in der versicherten Forderung ein Risiko steckte. So wendete er sich seinerseits auch an eine Versicherung, einen Pensionsfonds oder eine Bank und schloss über die Kreditforderung einen CDS ab. Auch diesem Versiche­ rer war nicht wohl usw. Auf diese Weise entstanden ganze Kaskaden an CDS über eine und dieselbe Forderung. Das hat den Geldmarkt verunsichert. Niemand konnte sagen, welchen Banken man Tagesgeld geben konnte, denn niemand konnte wissen, welche Banken die letzten Risiken besaßen und welche nicht. So wanderten freie liquide Mittel der Banken nicht in den Geldmarkt, sondern wurden in die Einlagefazilität der Zentralbank eingelegt. 3. Die Bereitstellung von Liquidität (Zentralbankgeld) durch Offenmarktgeschäfte Eine Zentralbank muss, damit der von ihr als notwendig erachtete Geld­ marktzins auch am Markt zustande kommt, dafür sorgen, dass ein Angebot und eine Nachfrage der Banken am Geldmarkt vorhanden ist, der zu dem angestrebten Satz führt. Ohne die Zentralbank wird das nur in den wenigs­ ten Fällen zu erreichen sein. Vielmehr muss die Zentralbank mehr oder weniger an Liquidität den Banken bereitstellen, um den gewünschten Geld­ marktsatz am Markt verwirklicht zu sehen. Das wichtigste Instrument, das einer Zentralbank zur Verfügung steht, ist die Offenmarktpolitik. Hier kauft eine Zentralbank für eine bestimmte Zeit Wertpapiere an. Dadurch erhalten die Banken Liquidität. Die Wertpapiere, die die Banken verkaufen, werden von der Zentralbank grundsätzlich nicht zum Nominalwert erworben, sondern, um eine Sicherheitsmarge zu haben, mit einem Abschlag. Am Ende der vereinbarten Zeit sind die Banken ver­ pflichtet, die Papiere von der Zentralbank wieder zurück zu kaufen. Bei der Europäischen Zentralbank beträgt die Laufzeit dieser Geschäfte grundsätzlich 7 Tage. Wöchentlich werden also laufende Geschäfte zurück­ gezahlt und neue Geschäfte abgeschlossen. Diese sogenannten Hauptrefi­ nanzierungsgeschäfte machen den größten Teil der Offenmarktgeschäfte aus. Die EZB verfügt dank dieser Kurzfristigkeit über eine hohe Flexibilität. Wann immer Schocks auftreten, also kurzfristig unerwartete Einflüsse spür­ bar werden, die die vorgesehene Entwicklung stören, dann kann die Zent­ ralbank sofort mit erhöhter oder verringerter Liquidität beim nächsten Hauptrefinanzierungsgeschäft reagieren.

74

C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität

Es wird wohl kaum notwendig werden, dass eine Zentralbank innerhalb einer Woche die gesamte bisher bereit gestellte Liquidität wieder einsam­ meln muss, also kein neues Hauptrefinanzierungsgeschäft mehr abzuschlie­ ßen. Ein gewisser Bodensatz an Liquidität kann immer den Banken zur Verfügung stehen. Daher schließen die Zentralbanken mit Banken auch längerfristige Offenmarktgeschäfte ab. Diese sogenannten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte werden einmal im Monat abgeschlossen und Ha­ ben grundsätzlich eine Laufzeit von drei Monaten. Daneben wurden bei Bedarf auch Geschäfte mit einer Laufzeit von einem Monat abgeschlossen. In der Weltfinanzkrise gab es sogar Geschäfte mit Laufzeiten von drei Jah­ ren. Die Banken hatten allerdings die Option, die Mittel nach einem Jahr zurückzuzahlen. Teilweise haben sie davon Gebrauch gemacht. Zentralban­ ken können im Rahmen der Offenmarktpolitik Wertpapiere nicht nur auf Zeit erwerben, sondern auch endgültig kaufen und endgültig verkaufen. Damit stellen sie ebenfalls den Banken Liquidität zur Verfügung oder ent­ ziehen sie ihnen. Die bisher erwähnten Offenmarktgeschäfte sind geeignet, den Banken mehr oder weniger Liquidität zuzuführen. Wenn die Zentralbank z. B. im Hauptrefinanzierungsgeschäft den Banken weniger Liquidität bereitstellt, als eine Woche vorher, dann entzieht sie den Kreditinstituten Zentralbankgeld. Eine Zentralbank verfügt als Offenmarktgeschäft auch über Instrumente, mit denen sie liquide Mittel von Banken direkt aufnimmt. Einmal können das Termineinlagen sein, die sie im Rahmen eines Zinstenders hereinnimmt. Zum anderen kann sie auch Schuldverschreibungen begeben. In beiden Fällen entzieht sie den Banken liquide Mittel und verknappt auf diesem Wege das Angebot am Geldmarkt. In unserer globalen Welt werden aber von den Banken und der Wirtschaft nicht nur die heimische Währung benötigt, sondern auch fremde Währun­ gen. Auftretendem Liquiditätsmangel an bestimmten Währungen begegnet man durch Devisenswapgeschäfte. Z. B. tauscht die EZB mit der amerika­ nischen Zentralbank Euro gegen US-Dollar, auch hier mit begrenzter Lauf­ zeit, oft von 7 Tagen. Die EZB könnte dann z. B. auf dem Wege von Of­ fenmarktgeschäften gegen Sicherheiten die US-Dollar an europäische Ban­ ken weitergeben. Auch Dollarleihen sind möglich. 4. Die Bereitstellung von Liquidität (Zentralbankgeld) auf anderen Wegen Zentralbanken können auch direkt – outright – an den Finanzmärkten Anleihen kaufen oder verkaufen. Für die EZB gilt: Sie kann „auf den Fi­ nanzmärkten tätig werden, in dem sie auf Euro oder sonstige Währungen



II. Das Instrumentarium zur Realisierung der Ziele75

lautende Forderungen und börsengängige Wertpapiere sowie Edelmetalle endgültig (per Kasse oder Termin) oder im Rahmen von Rückkaufsverein­ barungen kaufen und verkaufen oder entsprechend Darlehensgeschäfte tätigen;“59 Die EZB hat solche Outright Monetary Transactions – OMTs mit Banken abgeschlossen. Sie hat betont, dass mit diesen Wertpapierkäufen „eine ordnungsgemäße geldpolitische Transmission und die Einheitlichkeit der Geldpolitik sichergestellt“ werden soll. Ursache für diese Käufe waren einmal Verwerfungen in den Zinsstruktu­ ren der Mitgliedsländer der EWU. Griechenland, Spanien, Italien und Por­ tugal wurden von der Weltfinanzkrise besonders stark betroffen. Außerdem wiesen sie öffentliche Defizite und öffentliche Schuldenstände aus, die von den im EU-Vertrag vorgesehenen Referenzwerten deutlich nach oben abwi­ chen. Nachdem internationale Ratingagenturen die Ratings dieser Länder herabstuften, hatten es diese Länder schwer, am Kapitalmarkt Anleihen zu emittieren. Folglich stiegen die Renditen dieser Länder stark an. Das blieb nicht ohne Folgen für die anderen Zinssätze in diesen Ländern. Stark stei­ gende Anleiherenditen zogen auch die Kreditzinsen nach oben. Das aber behinderte die ordnungsgemäße geldpolitische Transmission und damit die Einheitlichkeit der Geldpolitik. Die EZB musste versuchen, die Ausbuch­ tungen von Zinsen einzelner Länder wieder zu glätten, um eine möglichst einheitliche Zinsstruktur zu sichern. So hat die EZB von den betroffenen Ländern Anleihen über den Kapitalmarkt gekauft. Auf einen anderen Grund für die Anleihekäufe der EZB hat ihr ehemali­ ger Präsident Jean-Claude Trichet hingewiesen. Die hohen Renditen der Anleihen Spaniens, Italiens usw. enthalten hohe Risikoprämien. Diese ma­ chen es der Zentralbank schwer, mit ihren Instrumenten am Markt durchzu­ dringen. Die hohen Renditen würden „das Zinssignal der Geldpolitik derart dominieren, dass die Politik der Notenbank nicht mehr in der Realwirtschaft ankäme. Mit anderen Worten macht die Risikoprämie, wenn sie denn derart hoch ist, einen so großen Teil der Rendite einer Staatsobligation aus, dass die Veränderung des Leitzinses die Renditen dieser Anlagen nicht mehr verändern kann, weil sie nur noch einen Bruchteil davon ausmacht.“60 Die Anleihekäufe der EZB zielten also darauf ab, die Anleiherenditen und damit die Risikoprämien zu verringern. Der EZB wurde gelegentlich vorgeworfen, sie würde mit diesen Geschäf­ ten verbotenerweise öffentliche Stellen finanzieren. Das aber hat sie nie 59  EZB-Pressemitteilung: Technische Merkmale der geldpolitischen Outright-Ge­ schäfte, 6. September 2012. 60  Claudia Aebersold Szalay, Kostspieliger Kampf der EZB gegen den Kontroll­ verslust, in: Neue Zürcher Zeitung, 24. September 2011, S. 13.

76

C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität

getan. Verboten ist der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln,61 nicht aber der mittelbare über den Kapitalmarkt. Auch die Bedingungen, die mit diesen Geschäften verbunden waren, zeigen, dass es der EZB immer um die Nor­ malisierung der Marktverhältnisse ging. So setzten die OMTs voraus, dass eine strenge und wirksame Konditionalität mit dem Europäischen Stabili­ tätsmechanismus EMS verabredet war. Außerdem ist man bemüht, auch den Internationalen Währungsfonds in die Programme einzubinden. Quantitativ begrenzt sind die OMTs nicht. Solche Anleihekäufe schaffen zusätzlich Liquidität im Bankensystem. Die EZB hat sich verpflichtet, diese Liquidität vollständig zu sterilisieren.62 Berücksichtigt man, dass die EZB in der Zeit, in der sie OMT-Anleihen kauft, den Banken unbegrenzt Liquidität zum Leitzins bereitstellt, kommt der Verpflichtung der EZB, die über OMTs bereitgestellte Liquidität vollständig zu sterilisieren, nur psychologische Bedeutung zu. In den Krisenzeiten gab es in der EWU Notprogramme, sogenannte ELAProgramme, Emergency Liquidity Assistance Programs. Die EZB gestattete einer dem ESZB angehörenden nationalen Zentralbank, ihren Banken Liqui­ dität bereitzustellen. Sie mussten Sicherheiten bereitstellen, allerdings meist zu geringeren Bedingungen, als sie normalerweise von der EZB verlangt wurden. Notkredite wurden Ländern gewährt, deren Staaten weitgehend zahlungsunfähig waren, die aber Anleihen bedienen mussten. Hilfen über den ESM und den IMF aber waren noch in der Prüfungsphase. Die Liqui­ dität, die auf diesem Wege den Banken zufloss, wurde von ihnen benutzt, um Schuldtitel des Staates zu erwerben, der damit wieder zahlungsfähig wurde. Das Risiko dieser Kredite lag allein bei der nationalen Zentralbank. Wären diese Kredite nicht bedient worden, wären davon nur die den Kredit gewährende nationale Zentralbank betroffen worden. Die Zentralbanken der übrigen Mitgliedsländer der EWU hafteten für Notkredite nicht. Wenn eine Wirtschaft in eine krisenhafte Entwicklung gerät, wie in die Weltfinanzmarktkrise, dann versuchen die Zentralbanken über die normalen Offenmarktgeschäfte hinaus, auch auf anderen Wegen den Banken Liquidi­ tät in größerem Umfang bereitzustellen. Man will damit die Banken veran­ lassen, wieder vermehrt Kredite zu gewähren und damit die wirtschaftlichen Aktivitäten zu stimulieren. Ein anderer Weg ist über die Senkung der Leit­ zinsen hinaus, vor allem die längerfristigen Zinsen herabzudrücken. Ein Weg beides zu verwirklichen, die Liquidität zu erhöhen und die längerfris­ 61  Protokoll (Nr. 12) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralban­ ken und der Europäischen Zentralbank, Art. 21, in: EU-Vertrag, Beck-Texte im dtv, 6. Auflage 2008. 62  EZB-Pressemitteilung: Technische Merkmale der geldpolitischen Outright-Ge­ schäfte, 6. September 2012.



II. Das Instrumentarium zur Realisierung der Ziele77

tigen Zinsen zu senken, ist das Quantitativ Easing QE. Es wurde vor allem vom amerikanischen Federal Reserve System und der Bank von England eingesetzt. Die Zentralbanken kauften in erheblichen Umfang längerfristige Anleihen. Auf diese Weise stieg die Liquidität der Banken und die Anlei­ herenditen sanken. Aber nicht immer wollte eine Zentralbank bei solchen Transaktionen die Liquidität der Banken erhöhen. Das führte dann zu Twist Operations. Auch hier kaufte die Zentralbank längerfristige Anleihen, aber verkaufte gleich­ zeitig kurzfristige Schuldpapiere. So wurden zwar die Anleiherenditen län­ gerfristiger Anleihen gedrückt, gleichzeitig aber der verflüssigende Effekt der Wertpapierkäufe durch die Wertpapierverkäufe wieder ausgeglichen. 5. Mindestreserven mit dreifacher Wirkung auf die monetäre Entwicklung Viele Zentralbanken in der globalen Welt verfügen über das monetäre Instrument der Mindestreserve. Sie verlangen von den Banken, dass diese bei ihnen auf Girokonto bestimmte Beträge zinslos oder verzinst halten, die sogenannten Mindestreserven. Das ist auch in der EWU so. Um den Um­ fang der zu haltenden Mindestreserve zu bestimmen, ist es zunächst not­ wendig, dass die Zentralbank eine Reservebasis festlegt. Danach ermittelt sie mit einem Prozentsatz den Umfang der Mindestreserve, den jedes Kre­ ditinstitut bei ihr zu halten hat. Die EZB hat als Reservebasis bestimmt die Einlagen, die Schuldverschreibungen und die Repogeschäfte. Sie hat aller­ dings von Beginn der EWU an, nur die Verbindlichkeiten mit einer Laufzeit von bis zu 2 Jahren als mindestreservepflichtig erklärt. Auf diesen Teil ihrer Verbindlichkeiten mussten sie ab Beginn der EWU bis Januar 2012 eine Mindestreserve von 2 % der reservepflichtigen Verbindlichkeiten bei der EZB halten und danach 1 %. Für den Teil der reservepflichtigen Verbind­ lichkeiten, die zwei Jahre übersteigen, wurde ein Prozentsatz von 0 % fest­ gelegt. Die EZB könnte also jederzeit auch für den längerfristig laufenden Teil der reservepflichtigen Verbindlichkeiten einen positiven Satz zugrunde legen. Die eine Wirkung der Mindestreserven ist, dass sie das von der Zentral­ bank erreichte Zinsniveau am Geldmarkt stabilisiert. Normalerweise muss eine Bank z. B. damit rechnen, dass gegen Ende des Tages noch höhere Beträge von Kunden abgerufen werden. Versucht die Bank, sich die erfor­ derlichen Mittel noch am Geldmarkt zu beschaffen, dann steigen die Geld­ marktsätze. Die Mindestreserve verhindert das. Allerdings ist Voraussetzung und sie ist in der EWU erfüllt, dass das Mindestreserve-Soll nicht täglich, sondern im Durchschnitt der Mindestreserveperiode erfüllt sein muss. Die

78

C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität

Bank, bei der Kunden gegen Ende des Tages noch über Guthaben verfügen, kann sich die notwendigen Mittel einfach zulasten ihres Girokontos und damit zulasten ihrer Mindestreserve, beschaffen. Sie muss nur im Laufe der Mindestreserveperiode ihr Girokonto bei der EZB so auffüllen, dass der Guthabendurchschnitt dem Mindestreserve-Soll entspricht. Die Mindest­ reserveperiode beginnt an dem Tag, an dem das erste Hauptrefinanzierungs­ geschäft nach einer Zentralbankratssitzung abgeschlossen wird. Sie endet einen Tag vor dem entsprechenden Hauptrefinanzierungsgeschäft einen Monat später. Ein zweiter Einfluss der Mindestreserve hat zum Ziel, die Banken liqui­ ditätsmäßig eng an die Zentralbank zu binden. Diese Bindung beruht darauf, dass die Banken stets Zentralbankgeld nachfragen, um ihre Mindestreserve­ verpflichtungen erfüllen zu können. Man will vermeiden, dass Markteinflüs­ se die Banken von der Zentralbank unabhängig werden lassen. „The need for credit institutions to hold reserves with the NCBs contributes to increas­ ing the demand for central bank credit which, in turn, makes it easier for the ECB to steer money market rates, through reglar liquidity-providing operations“63 Die dritte Möglichkeit ist, durch Änderung der Mindestreservesätze den Umfang frei verfügbarer liquider Mittel der Banken zu ändern. Von dieser Möglichkeit wollte die EZB eigentlich keinen Gebrauch machen. Die ver­ schiedenen Arten der Offenmarktgeschäfte sollten ausreichen, die Banken­ liquidität und damit die Geldmarktsätze so zu steuern, wie die Zentralbank das für notwendig hält. Aber die Weltfinanzkrise und die daran anschließende allgemeine Konjunkturkrise änderte das. Die EZB stellte den Banken um­ fangreiche liquide Mittel bereit, um sie zu veranlassen, ihre minimale Kredit­ gewährung wieder zu erhöhen. So hat sie im Januar 2012 neben ihren Offen­ marktgeschäften, den Mindestreservesatz von 2 % auf 1 % halbiert. Dadurch konnten die Kreditinstitute über mehr als 100 Mrd. € von ihren Giroguthaben bei der EZB frei verfügen. Selbstverständlich könnte die EZB, wenn dies notwendig werden sollte, den Mindestreservesatz auch wieder erhöhen und dadurch liquide Mittel der Banken in der Mindestreserve binden. 6. Die Liquiditätsversorgung in der EWU Die konjunkturelle Entwicklung in der EWU war vor der Weltfinanzkrise, die Mitte 2007 in den USA begann, durch einen kräftigen Aufschwung gekennzeichnet. Die krisenhafte Entwicklung wurde in Europa ab 2008 63  European Central Bank: The Monetary Policy of the ECB, Frankfurt a. M., S. 101.



II. Das Instrumentarium zur Realisierung der Ziele79 Tabelle 2 Monetäre Politik der EZB

Veränderungen:

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

in % p. a. Zuwachs des realen BIP Kreditzuwachs Leitzinsen

 1,7 11,9 2,25

3,2 9,6   3,50

3,0 10,9 4,00

0,4 5,5 2,50

–4,4 0,2 1,00

2,0 3,8 1,00

1,4 0,0 1,00

–0,5 –0,7 0,75

in Mrd. € Zu deckender Liquiditäts– bedarf (MindResSoll)

14,2

20,1

Marktfaktoren Gold u. Devisen Banknotenumlauf Einlagen v. Zentralstaaten Sonstige Faktoren (netto)  Insgesamt

15,2 –64,4 9,2 3,6 –36,4

13,8 –58,8 –3,9 26,8 –22,1

Liquiditätspolitik HauptrefGeschäfte Längerfr. Refinanzierung Kauf von Wertpapieren SpitzenrefFazilität Einlagenfazilität Devisenswaps, Einlagen  Insgesamt

35,6 15,0 0,0 –0,1 0,0 0,5 51,0

58,5 –164,0 11,8 –140,1 164,3 –281,5 123,7 30,0 158,6 178,6 136,2 –257,1 52,7 655,1 0,1 –0,1 0,0 24,6 105,8 129,9 17,0 0,1 0,2 2,4 –2,0 1,2 2,5 –2,8 0,0 –0,3 –200,5 135,2 21,0 –209,0 21,9 –0,1 –2,1 –2,7 –5,0 –60,9 –129,7 –8,0 41,9 16,2 142,1 7,5 –66,3 –95,1 519,2

Liquiditätseffekt insges. LiquidBedarf (MResSoll) Überschussreserve

14,6 14,2 0,4

19,8 20,1 –0,3

23,6

–7,0

1,6

–4,0 –101,5

0,5 253,0 –172,9 –46,0 –86,5 –44,1 –7,0 –45,9 –42,3 60,2 –240,9 244,5 7,7 –120,3 –14,8

103,5 –40,7 55,7 –51,1 67,4

111,0 85,9 –53,5 –19,9 30,6 –57,3 6,8 –230,4 94,9 –221,7

23,9 23,6 0,3

21,3

21,8 21,3 0,5

–7,3 –7,0 –0,3

1,1 1,6 –0,5

–0,2 297,5 –4,0 –101,5 3,8 399,0

Quelle: EZB

spürbar, vor allem aber ab 2009. Die Hoffnung, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung 2010 wieder beleben könnte, bewahrheitete sich nicht. Die Kreditgewährung europäischer Banken war bis zur Krise mit Zuwachsraten um die 10 % ungewöhnlich hoch. Viele dieser Kredite dürften später notlei­ dend geworden sein. Während der Krise und auch noch danach, hielten sich die Banken mit Kreditgewährungen sehr zurück. Die EZB reagierte auf die konjunkturelle Belebung und die hohen Kre­ ditgewährungen vor der Krise mit deutlichen Erhöhungen ihrer Leitzinsen, bis zu 4 % im konjunkturellen Höhepunkt. Als die Weltfinanzkrise über Europa hereinbrach, nahm sie ihren Leitzins rasch auf 1 % zurück und Mit­ te 2012, als sich die Konjunktur nicht besserte, auf 0,75 %. Die Zinspolitik der EZB war der konjunkturellen und der monetären Entwicklung vor und nach der Krise angemessen.

80

C. Das Ziel Preis(niveau)stabilität

Es ist die Aufgabe der Zentralbank, den Liquiditätsbedarf der Banken, der sich aus der Mindestreservepflicht ergibt, zu decken. Wie die Tabelle über die monetäre Politik der EZB zeigt, schwankte dieser Bedarf in den Jahren 2005 bis 2008 zwischen 14 und 24 Mrd. €. Die Steuerung des Liquiditäts­ angebots, um den Bedarf zu decken, ist äußerst schwierig. Es müssen nämlich die Einflüsse der Marktfaktoren geschätzt werden. Erst dann können die Offenmarktgeschäfte der Zentralbank bemessen werden. Beispielsweise betrug im Jahre 2008 der Liquiditätsbedarf der Banken aus destreservepflicht 21,3 Mrd. €. Die Marktfaktoren entzogen den ihrer Min­ Banken 120,3 Mrd. €. Dieses vor Augen führte die EZB den Banken über ihre Offenmarktgeschäfte 142,1 Mrd. € zu. Markteinflüsse und Liquiditäts­ politik erhöhten die liquiden Mittel der Banken um 21,8 Mrd. €. Sie konn­ ten damit ihren Bedarf an Zentralbankgeld zum Ausgleich ihrer Verpflich­ tungen aus dem Mindestreserve-Soll von 21,3 Mrd. € decken. Außerdem konnten sie ihre Überschussreserven um 0,5 Mrd. € erhöhen. Eine so ziel­ genaue Deckung des Liquiditätsbedarfs der Banken, wie es der EZB in allen Jahren bis 2010 gelungen ist, ist Kunst. Dieser Begriff kommt von Können. Von Beginn der Krise, ab 2008, hat die EZB ihre Mittelbereitstellung an die Banken stärker erhöht. Sie wollte damit die Kreditgewährung der Ban­ ken an die Wirtschaft anregen. Aber die Banken gaben kaum zusätzliche Kredite. Vielmehr legten sie die erhaltenen liquiden Mittel in der Einlage­ fazilität der EZB an. Sie wurde geringfügig verzinst. Als im Januar 2012 der Mindestreservesatz halbiert wurde, hob die EZB auch die Verzinsung der Mittel in der Einlagefazilität auf. Von da ab fanden die umfangreichen Mittel, die die Banken von der Zentralbank erhielten, ihren Niederschlag auf den unverzinslichen Girokonten der Banken bei der EZB. Besonders starke Anforderungen an die EZB stellte das Jahr 2012. Das Wirtschaftswachstum und die Kreditgewährung der Banken stagnierten, trotz sehr niedriger Zinsen. Die Markteinflüsse entzogen den Banken um­ fangreiche liquide Mittel (221,7 Mrd. €). Vor allem durch längerfristige Refinanzierungsgeschäfte kompensierte und überkompensierte die EZB diesen Liquiditätsverlust. Sie erreichte durch Mittelbereitstellungen (519,2 Mrd. €), dass den Banken noch insgesamt 297,5 Mrd. € an Zentral­ bankgeld zuflossen. Diesen Betrag erhöhte die EZB noch um weitere 101,5 Mrd. €, in dem sie den Mindestreservesatz von 2 % auf 1 % halbierte. Die gesamten den Banken 2012 zufließenden Mittel von 399,0 Mrd. € er­ höhten die Girokonten der Banken bei der EZB. Bei so vielen flüssigen Mitteln der Banken steigt die Hoffnung, dass die Kreditinstitute sie über kurz oder lang doch produktiv im Kreditgeschäft verwenden und damit wieder zu einem angemessenen Wirtschaftswachstum beitragen.

D. Freier globaler Leistungsaustausch I. Hindernisse des freien Leistungsaustauschs 1. Hindernisse im Waren- und Dienstleistungsverkehr und die WTO Ungefähr vor vierzig Jahren wurde die weltwirtschaftliche Entwicklung durch die Technik revolutioniert. Sehr schnell machte das Informationssys­ tem Fortschritte. Das Internet, Mobiltelefone, Fax- und Scangeräte ermögli­ chen es, von einem beliebigen Ort zu einem anderen beliebigen Platz auf dem Erdball Nachrichten und Daten in Sekunden zu übertragen. Die dazu notwendige Infrastruktur musste teilweise mit Raketen in eine Umlaufbahn im Orbit gebracht werden. Die Flugzeugindustrie entwickelte Fracht- und Passagiermaschinen, die Waren und Menschen ohne Zwischenlandungen mit hohen Geschwindigkeiten um den halben Erdball bringen. So ist das Bild schon zutreffend, dass sich der gesamte Erdball mit seinen Kontinenten in ein globales Dorf verwandelt hat. Die Wirtschaft hat durch diese technische Entwicklung die nationalen Grenzen überwunden. Das Problem ist, dass diese Grenzen politisch aber weiterhin bestehen. Die vielen Nationalstaaten sind souverän. Sie bestim­ men die Gesetze und Verordnungen in ihrem Land. Sie betreffen Steuern, Zölle, administrative Maßnahmen, Verbote, Kontingentierungen usw. Solche nationalen Maßnahmen behindern Unternehmen, die im globalen Dorf tätig sein wollen. Man kann sich ausmalen, mit wie viel Gesetzen und Verord­ nungen ein Unternehmen konfrontiert wird, wenn es Teile seines Produkts in unterschiedlichen Ländern herstellen lässt und nur noch die Endmontage im Heimatland vornimmt. Schon frühzeitig erkannte man, dass man Regeln aufstellen musste, um den freien Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital sicherzustel­ len. Drei Abkommen wurden mit der überwiegenden Zahl der Länder auf der Welt geschlossen, die von der Welthandelsorganisation WTO – World Trade Organisation – betreut werden. Ein Abkommen mit Regeln betrifft den Warenverkehr, das GATT – General Agreement on Tariffs and Trade. Ein ähnliches Abkommen wurde über Dienstleistungen geschlossen, das GATS – General Agreement on Trade and Services. Das dritte Abkommen betrifft das im internationalen Wirtschaftsverkehr besonders wichtige Gebiet

82

D. Freier globaler Leistungsaustausch

der Rechte am geistigen Eigentum, das TRIPS – Agreement on Trade-Re­ lated Aspects of Intellectual Property Rights. Wenn ein an den Abkommen teilnehmendes meint, dass ein anderes Land Regeln verletzt habe, kann es ein Streitschlichtungsverfahren bei der WTO beantragen. Ein entsprechen­ des Abkommen wurde geschaffen. Auch kann die WTO, entsprechend eines anderen Abkommens, die Handelspolitiken der Mitgliedländer überprüfen. Es ist die Aufgabe der WTO die internationalen Handelsbeziehungen durch bindende Regelungen auf der Basis des Freihandels zu organisieren.64 Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, hat die WTO bisher acht Verhand­ lungsrunden von 1947 bis 1994 organisiert und durch Abkommen abge­ schlossen. Damit gelang es, die Zölle zu senken, Anti-Dumping-Maßnahmen festzulegen und nicht-tarifäre Handelshemmnisse abzubauen. Die Verhand­ lungsrunden werden jeweils nach der Hauptstadt benannt, in der sie be­ schlossen werden. Die neunte Verhandlungsrunde, die Doharunde nach der Hauptstadt Katars, begann 2001. Dabei geht es darum, die Agrarmärkte stärker zu öffnen und Entwicklungsländer zu begünstigen. Sie konnte bis zur Gegenwart (Juni 2013) noch nicht abgeschlossen werden. Ein solches zögerliches Vorgehen kann sich die Weltwirtschaft nicht leis­ ten. Es tut sich eine Kluft auf zwischen der globalen Orientierung der Wirtschaftsunternehmen und den nach wie vor weitgehend national orien­ tierten Regierungen. Angesichts dieser Situation versuchen einige Länder mit anderen Ländern Freihandelszonen zu gründen. Innerhalb eines solchen Raums gibt es keine Zölle und administrativen Handelshemmnisse. Insoweit sind diese Bemühungen zu begrüßen. Aber dabei stößt man auch an Gren­ zen. Wirtschaftsunternehmen produzieren ihre Produkte keinesfalls an einem Ort. Die Orte liegen auch nicht unbedingt in der Freihandelszone. Dann ergibt sich das Problem, welchem Land man wie viel Zollerleichterung zukommen lassen muss. Die Lösung dieses Problems führt in jedem Fall zu einer erheblichen Bürokratie. Je größer eine Freihandelszone ist und umso mehr wichtige Volkswirtschaften sie umfasst, umso mehr wird sie der glo­ balen Orientierung der Wirtschaftsunternehmen gerecht. Käme es zur Frei­ handelszone USA – EWU, so ist das für die globale Welt bedeutsamer als z. B. die bestehende Europäische Freihandelsassoziation EFTA (European Free Trade Area) mit den Mitgliedern Island, Lichtenstein, Norwegen und der Schweiz. Aber notwendig sind weniger von Nationalstaaten gegründete Freihandelszonen, sondern weltweite Vereinbarungen, mit denen Zölle und administrative Hindernisse beseitigt, zumindest aber minimiert werden. Das sollte die vornehmste Aufgabe der WTO sein.

64  WTO Welthandelsorganisation, in: Der neue Fischer Weltalmanach 2012, Frankfurt a. M. 2011, S. 626.



I. Hindernisse des freien Leistungsaustauschs83

2. Das Hindernis frei schwankender Wechselkurse Die Unternehmen haben die nationalen Grenzen in der globalen Wirt­ schaft überwunden, jedoch bleiben die nationalen Staaten mit ihren ­Währungen bestehen. Wenn ein Unternehmen Teile eines Produktes in ver­ schiedenen Staaten herstellen lässt, dann stößt es auf das Problem der Wech­selkurse. Im Allgemeinen verändern sie sich durch Markteinflüsse; sie schwanken. Das kann die Kosten des Produkts entlasten oder belasten. In einemgewissen Umfang kann man sich dagegen absichern. Wenn z. B. ein Exporteur in einem Vierteljahr den Eingang von Verkaufserlösen in fremder Währung erwartet, dann kann er ein Termingeschäft abschließen. Er ver­ kauft den erwarteten Betrag in fremder Währung bereits heute zum gegen­ wärtigen Kurs per Termin ein Vierteljahr. Wenn der Betrag nach einem Vierteljahr eingeht, übergibt er seinem Termin-Geschäftspartner die fremde Währung und erhält dafür von ihm den Gegenwert zum vereinbarten Ter­ minkurs, gleichgültig wie die Währung am Tage des Zahlungseingangs pper Kasse notiert. Allerdings sind solche Absicherungsgeschäfte mit Kosten verbunden. Ein großes Unternehmen sicherte sich nicht über Termingeschäf­ te oder andere Instrumente, wie Futures oder Optionen, ab. Das Unterneh­ men hatte in allen fünf Erdteilen Produktionsstätten. Die Produktionskapa­ zitäten wurden nicht voll ausgelastet. Je nach Wechselkursänderungen ver­ lagerte man die Produktion von einer Produktionsstätte zur anderen. Wenn die Währung im Land eine Produktionsstätte abwertete, lohnte es sich dort mehr zu produzieren. Um die dortigen Personalkosten zu finanzieren, muss­ te weniger heimische Währung aufgewendet werden. Aber auch eine solche Form der Absicherung kann nicht befriedigen. Kostenlos ist sie auch nicht zu haben. Wechselkursschwankungen, die teilweise recht stark ausfallen, behindern die Freizügigkeit des Wirtschaftsverkehrs in der globalen Welt und das gilt sowohl für den Waren- und Dinstleistungsverkehr als auch für die Investi­ tionen und den übrigen Kapitalverkehr. Diese Erkenntnis haben auch die G20 Länder gewonnen: „We reiterate that excess volatility of financial flows and disorderly movements in exchange rates have adverse implica­ tions for economic and financial stability. We will refrain from competitive devaluation.“65 In der Tat, hier liegt das Problem. Staaten intervenieren of­ fen oder verdeckt an den Devisenmärkten, gelegentlich auch um Wettbe­ werbsvorteile zu erzielen. Die G20 verurteilen das. Vor Abwertungswettläu­ fen oder gar einem Währungskrieg wird gewarnt. Konsequenzen aus den Feststellungen der G20 sind nicht wahrnehmbar. 65  Japan, Minister of Finance: Communiqué, Meeting of G20 Finance Ministers and Central Bank Governors (Moscow, 15.–16. February 2013), Punkt 5.

84

D. Freier globaler Leistungsaustausch

220,0 210,0 200,0 190,0 180,0 170,0 160,0 150,0 140,0 130,0 120,0 110,0 100,0 90,0 Cl.K.

Source: Bundesbank, Beih. 5

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Bras. Real

Chin. Yuan

Jap. Yen

Russ. Rubel

US- Dollar

Abbildung 18: Euro-Wechselkurse (2000 = 100)

Wie das Schaubild zeigt, besteht kein Grund das Wechselkursproblem zu verharmlosen. Die Durchschnittswerte der einzelnen Jahre vermitteln schon einen Eindruck der starken Schwankungen der Wechselkurse in der EWU. Diese sind, wenn man statt Durchschnittswerten die tatsächlichen Werte einsetzt und die Zeitabstände deutlich verringert, noch ausgeprägter. Im Schaubild sind die Wechselkurse des Jahres 2000 gleich 100 gesetzt. Man kann das so deuten, dass im Jahre 2000 von den Partnerländern der EWU 100 Geldeinheiten ihrer Währungen aufgewendet werden mussten, um 100 EUR zu erwerben. Danach folgte bis ca. 2007 eine Phase, in der der EUR gegenüber den wichtigen anderen Währungen aufwertete. In 2007 konnte kein Land mehr mit 100 Einheiten ihrer Währungen 100 EUR erwerben. Russland musste 134,6 RUB aufwenden und Japan 162,1 JPY. Die übrigen Währungen bewegten sich dazwischen. Für europäische Un­ ternehmen bedeutete das, ihre Partner mussten immer mehr an eigener Währung aufwenden, um 100 € zu erwerben. Waren aus Europa wurden durch höhere Wechselkurse teurer. Das behinderte den Export europäischer Unternehmen.



II. Wechselkurse, ein wichtiges monetäres Ziel der Zentralbanken 85

Andererseits konnten europäische Unternehmen Waren aus dem Ausland mit der Aufwertung des Euro immer billiger erwerben. Ein Europäer, der Waren im Ausland erwerben wollte, musste im Ausgangsjahr für 100 aus­ ländische Währungseinheiten 100 EUR zahlen. Als der Wechselkurs auf 150 ausländische Währungseinheiten gestiegen war, musste der Europäer nur noch 67 EUR aufwenden, um die 100 Einheiten ausländischer Währung zu erwerben, die er benötigte, um die Einfuhrware zum Preis von 100 Einhei­ ten ausländischer Währung zu bezahlen. Das Bild änderte sich nach 2007. Die asiatischen Währungen der CNY und der JPY werteten gegenüber dem EUR auf. Die chinesische Währung erreichte einen Indexwert von 106,4 und die japanische Währung ging sogar auf 103,0 zurück. Beide Währungen näherten sich somit ihrem Ausgangs­ wert im Jahre 2000. Allerdings herrschte in beiden Volkswirtschaften, so wie in Europa und in Amerika, eine konjunkturelle Flaute. Viele Länder, vor allem Japan, ergriffen belebende konjunkturelle Maßnahmen. Sie hatten in China und Japan zur Folge, dass deren Währungen gegenüber dem Euro wieder abwerteten. Im Februar 2013 betrugen die Indexwerte des Wechsel­ kurses in China 109,3 und in Japan gar 125,1. Aus Europa und den USA waren Vorwürfe zu hören, dass vor allem Japan durch konjunkturelle Maß­ nahmen seine Währung abwertet, um sich im globalen Handel Wettbewerbs­ fortteile zu verschaffen. Im Gegensatz zu den asiatischen Währungen änderten sich nach 2007 der brasilianische Real, der russische Rubel und der US-amerikanische Dollar nur wenig. Im Jahre 2012 lagen die Indexwerte dieser drei Währungen bei 139,1 (USD), 149,1 (BRL) und 153,5 (USD). Somit kann man feststellen, dass der Euro in den Jahren von 2000 bis 2012 gegenüber anderen wichti­ gen Währungen am stabilsten war.

II. Wechselkurse, ein wichtiges monetäres Ziel der Zentralbanken in der globalen Welt Wenn die Zentralbanken sich bemühen, ihre Aufgaben zu erfüllen, Preis­ stabilität und Vollbeschäftigung zu erreichen, benutzen sie monetäre Ziele, um den Rahmen zu schaffen, der zur Lösung ihrer Aufgaben beiträgt. Zu diesen monetären Zielen gehören Geldmengenziele, Inflationsziele, Wech­ selkursziele und sonstige Ziele. Welches dieser Ziele von der Zentralbank zugrunde gelegt wird, ändert sich im Laufe der Zeit. Als Milton Friedman die Quantitätstheorie neu entdeckte, gingen viele Zentralbanken dazu über, eine Zuwachsrate der Geldmenge als monetäres Ziel festzulegen. Friedman hatte damals verkündet: „Mein eigenes Rezept besteht immer noch darin, daß die Währungsbehörde … handeln sollte, indem sie sich öffentlich für

86

D. Freier globaler Leistungsaustausch Tabelle 3 Monetäre Ziele von 192 Zentralbanken in der globalen Welt Wechselkurs- Geldmengenziel ziel

WechselkAnbindung an: US-Dollar Euro Währungskorb Sonstige

43 27 14  8

 Insgesamt   in %

92 47,9

Inflationsziel

Sonstige Ziele

32 16,7

38 19,8

a) b)

30 15,6

c)

a)  einschl. Mitgliedstaaten der Ostkaribischen Währungsunion ECCU einschl. Mitgliedstaaten der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungs­ union WAEMU und der b)  Zentral­afrikanischen Wirtschafts- und Währungs­union CAEMC c)  einschl. Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion EWU Quelle: Deutsche Bundesbank, Statistisches Beiheft 5, April 2013, S. 46 f.

eine Politik entscheidet, die auf die Verwirklichung einer konstanten Wachs­ tumsrate einer bestimmten monetären Gesamtgröße gerichtet ist.“66 Als deutlich wurde, dass die Geldmengenziele nicht den Rahmen herga­ ben, der geeignet ist, die Aufgaben der Zentralbank zu erfüllen, wechselten viele Zentralbanken zu einem Inflationsziel. Was die sonstigen Ziele betrifft, so bemerkt die Bundesbank, „Hierunter fallen auch Länder, die keinen ex­ pliziten nominalen Anker haben, sondern im Rahmen ihrer geldpolitischen Strategie verschiedene Indikatoren beobachten.“67 In diese Kategorie fallen die USA, die EWU, Indien, Japan und Russland. Wie die Tabelle erkennen lässt, verfolgen 92 der 192, also annähernd die Hälfte der Zentralbanken ein Wechselkursziel. Das unterstreicht, wie be­ deutsam die Wechselkurse für viele Länder sind. Schon deshalb ist es wich­ tig, Wechselkurse nicht erratischen Schwankungen auszusetzen, wie sie immer wieder zu beobachten sind. Das Geldmengenziel ist in den Hintergrund getreten. Aber auch das In­ flationsziel und die sonstigen Ziele treten deutlich hinter das Wechselkurs­ ziel zurück. 66  Friedman Milton, Die optimale Geldmenge und andere Essays, München 1970, S. 155. 67  Deutsche Bundesbank, Devisenkursstatistik Januar 2013, Statistisches Bei­ heft 5 zum Monatsbericht, S. 47.



III. Einflüsse auf die Wechselkurse87

III. Einflüsse auf die Wechselkurse 1. Die Einstellung der G20-Länder zum Wechselkursproblem Alle wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in zwei Ländern, deren Währungen über einen Wechselkurs miteinander ver­ bunden sind, wirken auf diesen ein. Dazu kommt, dass auch Erwartungen über solche Ereignisse den Wechselkurs verändern. Wenn das Wirtschafts­ wachstum nachlässt, dann wird man die Währung dieses Landes geringer einschätzen. Sie wertet ab. Die Währung des Partnerlandes wertet auf. Wenn man in einem Land erwartet, dass in den bevorstehenden Wahlen eine der Industrie nahestehende Partei die Mehrheit erhält, dann kann die Währung dieses Landes aufwerten. Die Partnerwährung wertet ab. Es ist leicht er­ sichtlich, dass eine kaum begrenzbare Zahl an Einflüssen in den beiden beteiligten Ländern auf den Wechselkurs einwirkt. In den internationalen Konferenzen, so z. B. bei den G20 wird sinngemäß immer wieder wiederholt: „We affirm our commitment to move more rapid­ ly toward more market-determined exchange systems and enhance exchange rate flexibility to reflect underlying economic fundamentals, avoid persistent exchange rates misalignments and refrain from competitive devaluation of currencies.68 Diese Formulierungen lassen erkennen, dass die 20 wichtigsten Indust­ rie-, Schwellen- und Entwicklungsländer nicht willens sind und sich nicht in der Lage sehen, für eine stabile Entwicklung der Wechselkurse Sorge zu tragen. Nicht willens bedeutet, dass sie die Kursentwicklung völlig dem Einfluss der Marktkräfte überlassen wollen. Das bedeutet, dass destabilisie­ rende spekulative Transaktionen, die schon jetzt eine erhebliche Rolle an den Devisenmärkten spielen, auch weiterhin die Kursbildung erheblich be­ einflussen werden. Nicht in der Lage bedeutet, dass die wenigen Versuche wichtiger Länder am Devisenmarkt gemeinsam einzugreifen, nicht anregen, einen weiteren Versuch zu starten. Zu Beginn der achtziger Jahre wertete der US-Dollar ständig auf. Folge war, dass das amerikanische Handelsdefizit stieg. Im Jahre 1985 regten die USA an, gegen diese Aufwertung vorzugehen. Sie schlossen mit Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Japan in Was­ hington eine entsprechende Vereinbarung (Plaza-Abkommen). Dort heißt es, „… to cooperate more closely to encourage some further orderly de­ preciation of the dollar against the major nondollar currencies in order to promote the correction of external imbalances.“69 Das Ziel dieser Verein­ 68  Cannes 69  Rudolf

Summit Final Declaration, 4. November 2011, Pkt. 12. Richter, Deutsche Geldpolitik 1948–1998, Tübingen 1999, S. 118.

88

D. Freier globaler Leistungsaustausch

barung war also nicht, die Wechselkursentwicklung in der Welt zu verste­ tigen, sondern den US-Dollar vor allem gegenüber der D-Mark und dem japanischen Yen abzuwerten. Dieses Ziel wurde auch erreicht. Der USDollar wertete erheblich ab und das Handelsbilanzdefizit der USA verrin­ gerte sich. Nach zwei Jahren war man der Ansicht, dass die erreichten Wechselkurse der beteiligten Länder angemessen seien. Im Februar 1987 entschlossen sich die fünf Länder, ergänzt durch Italien und Kanada, das Plaza-Abkommen durch ein neues Abkommen zu ersetzen. Es wurde in Paris geschlossen (Louvre-Abkommen). Ziel war, die bestehenden Wechselkurse zu verteidi­ gen. In Deutschland stiegen im September 1987 die kurzfristigen Zinsen. Die USA kritisierten die Bundesbank, sie hielte sich nicht an das Abkom­ men. Der US-Dollar wertete weiter ab. Die USA erklärten einen Monat später, am 18. September 1987, dass sie den Dollarkurs nicht weiter stützen werden. Ein Nachteil des Abkommens war, dass die Beteiligten Zielzonen für die Wechselkurse vereinbart hatten, die allerdings nicht veröffentlicht wurden. Gerüchte und daran anknüpfende spekulative Transaktionen prägten den Markt. Den Börsenkrach am 19. Oktober 1987, den sogenannten „schwarzen Montag“ hat man teilweise auf die Unruhen an den Devisen­ märkten zurückgeführt. Diese Erfahrungen mit Vereinbarungen mehrerer Staaten an den Devisen­ märkten einzugreifen, dürfte ein Grund für die Zurückhaltung der G20Staaten sein, für mehr Stabilität an den Devisenmärkten zu sorgen. Bleibt es dabei, dann bleibt die Freizügigkeit des globalen Wirtschaftsaustauschs bedroht. Völlig unklar ist, was die G20 darunter verstehen: enhance exchange rate flexibility to reflect underlying economic fundamentals. Es ist eine Vielzahl von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Einflüssen, die auf die Wechselkurse wirken. Hinzu kommen die umfangreichen speku­ lativen Transaktionen, die die Wechselkurse schwanken lassen. So bleibt bei den G20 verborgen, welche zugrundeliegenden Fundamentalfaktoren durch schwankende Wechselkurse abgebildet werden sollen. 2. Wie Kurse zweier Währungen gemessen werden können In der bisherigen Darstellung wurde wie selbstverständlich von Wechsel­ kursen gesprochen. Das ist auch gerechtfertigt, weil in der EWU, sowie in vielen anderen Ländern, Wechselkurse verwendet werden, um das Wertver­ hältnis zweier Währungen zu messen. Der Wechselkurs Wk misst den Be­ trag x in fremder Währung W  f, der für eine Einheit heimischer Währung aufgewendet werden muss.



III. Einflüsse auf die Wechselkurse89 f Wk = x W h 1W

In der EWU betrug der Wechselkurs des US-Dollar gegenüber dem Euro im Durchschnitt des Jahres 2012 1,2848 USD, also

Wk =

1, 2848 $ 1€

Das Wertverhältnis zweier Währungen muss man nicht daran messen, wie viel fremde Währung aufgewendet werden muss, um eine Einheit heimi­ scher Währung zu erwerben. Man kann es auch dadurch messen, wie viel heimische Währung aufgewendet werden muss, um eine Einheit fremde Währung zu kaufen. Dann allerdings spricht man nicht vom Wechselkurs, sondern vom Devisenkurs DK.

h Dk = x W f 1W

Würde man in der EWU das Wertverhältnis US-Dollar zum Euro mit dem Devisenkurs messen, dann beträgt er

Dk =

0,7783 € 1$

Der Devisenkurs ist also der reziproke Wert des Wechselkurses. Entspre­ chend ist der Wechselkurs der reziproke Wert des Devisenkurses. Hier wird schon deutlich, wie wichtig es ist, in Debatten klar zu machen, über wel­ chen Währungskurs man spricht. Wenn jemand darauf hinweist, dass der Kurs gestiegen ist, dann bedeutet das beim Wechselkurs, dass die heimische Währung aufwertet, also wertvoller geworden ist. Es muss nämlich mehr fremder Währung aufgewendet werden, um eine Einheit heimischer Wäh­ rung zu erwerben. Ist bei einem ansteigenden Kurs dagegen der Devisenkurs gemeint, dann muss an heimischer Währung mehr aufgewendet werden, um eine Einheit an fremder Währung zu kaufen. Die heimische Währung wertet ab; sie verliert an Wert. Man muss sich auch noch über einen anderen Zusammenhang klar sein. Währungskurse betreffen stets zwei Währungen und damit zwei Länder. Misst man in der EWU den USD am EUR – $ / € –, dann erhält man den Wechselkurs. Misst man diese Relation $ / € in New York, dann wird dort die heimische Währung an der fremden Währung gemessen. Das ist in New York der Devisenkurs. Er entspricht also dem Wechselkurs in der EWU.

90

D. Freier globaler Leistungsaustausch

Allgemein gilt, der Wechselkurs im Land A entspricht dem Devisenkurs im Partnerland.

Wk Land

A

= Dk Partnerland

Das unterstreicht erneut, wie wichtig es ist, bei Diskussionen über Wäh­ rungskurse, zu definieren, worüber man spricht. Im Land A werden Devisen des Partnerlandes gehandelt. Unabhängig davon werden im Partnerland Devisen des Landes A gehandelt. Wie kommt es dazu, dass aber der Wechselkurs im Land A immer dem Devisenkurs im Partnerland entspricht? Ein Beispiel soll das zeigen. Angenommen der Wechselkurs für den USD beträgt in Frankfurt 1,00 $ / €. Das bedeutet, der Devisenkurs in New York notiert ebenfalls mit 1,00 $ / €. Es macht keinen Unterschied, ob man USD in Frankfurt oder in New York erwirbt. Man zahlt für den USD an beiden Plätzen 1 €. Nun erhöht eine starke Nachfrage nach EUR den Wechselkurs des Dollar in Frankfurt auf 1,10 $ / €. Jetzt ist es nicht mehr gleichgültig, wo man den Euro erwirbt. In Frankfurt muss man jetzt 1,10 $ / € bezahlen, jedoch erhält man ihn in New York nach wie vor zu 1,00 $ / €. Die Nachfrage nach EUR wird in Frankfurt nachlassen und in New York zunehmen. Diese Nachfrageverlagerung führt eventuell zu einem Wechselkurs in Frankfurt und einem Devisenkurs in New York von 1,05 $ / €. Es macht dann wieder keinen Unterschied, an welchem Platz man den Euro erwirbt. Es sind Devisenhändler bei den Banken, sogenannte Arbitrageure, die diese Geschäfte durchführen. Sie würden in dem Beispiel für 1 $ in New York 1 € erwerben. Diesen verkaufen sie für 1,10 $ in Frankfurt. Die Dif­ ferenz ist ihr Gewinn. Diese Devisenkursarbitrage vollzieht sich in der Wirklichkeit schon bei minimalen Kursdifferenzen in der vierten Nach­ kommastelle und in Sekunden. Das erklärt, dass zu jeder Zeit an verschie­ denen Devisenplätzen ein Arbitragegleichgewicht gegeben ist. Die Devi­ senkursarbitrage spielt sich immer an verschiedenen Devisenmärkten zu einem bestimmten Zeitpunkt ab. Die Devisenkursarbitrage ist grundsätzlich risikolos. 3. Einflüsse der Preise auf die Wechselkurse sind kaum wahrnehmbar Von der Vielzahl der Einflüsse auf den Wechselkurs werden immer wie­ der drei besonders beachtet: Preisveränderungen, Zinsveränderungen und Veränderungen in den Zahlungsbilanzen. Im Vordergrund stehen dabei die Preisveränderungen. Dafür spricht die Logik. Preisveränderungen verändern den Wert einer Währung. Da die Wechselkurse solche Wertveränderungen



III. Einflüsse auf die Wechselkurse91

messen, kam schon immer und kommt auch heute den Preisveränderungen ein hohes Gewicht bei, wenn es darum geht, Wechselkurse zu beurteilen. Die Priorität der Preise bei der Lösung von Wechselkursproblemen wurde von einem, mit empirischen Problemen eng vertrauten schwedischen Natio­ nalökonomen – Gustav Cassel – geschaffen. Er war aufgefordert worden, sich auf der internationalen Friedenskonferenz in Brüssel 1920 über die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Welt zu äußern. Er tat das mit einem „Memorandum on the world’s monetäry problems“70 Man kann seine Aus­ führungen, was die Wechselkurse betrifft, zusammenfassen: keine Rückkehr zu den Vorkriegsparitäten.71 Denn in den Kriegsjahren des ersten Weltkrie­ ges bis zu seinem Gutachten waren die Preise stark gestiegen und zwar von Land zu Land unterschiedlich. „Hieraus ergibt sich die Regel: wenn zwei Valuten Inflation erlitten haben, ist der normale Wechselkurs gleich dem alten Kurs multipliziert mit dem Quotienten zwischen dem Grade der Infla­ tion in dem einen und dem anderen Lande. … der Kurs, der auf die hier angegebene Weise berechnet wurde, muß als die neue Parität zwischen den Valuten angesehen werden. Diese Parität kann Kaufkraftparität genannt werden, da sie durch den Quotienten zwischen der Kaufkraft der verschie­ denen Valuten bestimmt wird.“72 Angenommen in den USA steigen die Preise gegenüber der Vorperiode um 5 % (1 + 0,05) und in derselben Zeit erhöhen sie sich in der EWU um 2  % (1  +  0,02). Diese beiden Vorgänge sollten sich im Wechselkurs USD / EUR in der EWU widerspiegeln. Das ist der Fall, wenn die Verände­ rungen der Preissteigerungsraten in den USA und den in der EWU gegen­ übergestellt werden. ∆Wk =



1,05 = 1,0294 1,02

Werden die Wechselkurse ausschließlich von den Preisveränderungen der am Wechselkurs beteiligten Länder bestimmt, dann würde sich dieser Wech­ selkurs $ / € gegenüber der Vorperiode um 2,9 % erhöhen. In der EWU be­ deutet eine Erhöhung des Wechselkurses, dass für einen Euro mehr USDollar aufgewendet werden müssen, als zuvor. Der Euro wertet auf. In New York verringert sich der Wechselkurs € / $. ∆Wk =

70  Cassel,

1,02 = 0,9714 1,05

Gustav: Das Geldproblem der Welt, München 1921, S. 5. Welt kommt zu den Paritäten vor dem Kriege niemals zurück,“ in: Cassel, Gustav: Das Geldproblem der Welt, München 1921, S. 40. 72  Cassel, Gustav: Das Geldproblem der Welt, München 1921, S. 30 f. 71  „Die

92

D. Freier globaler Leistungsaustausch

1,6 1,5 1,4 1,3 1,2 1,1 1 0,9 R² = 0,0011 0,8

–0,80 –0,60

–0,40

–0,20

0,00

0,20

0,40

0,60

0,80

1,00

1,20

1,40

Preisdifferenzen USA-EWU (Abszisse) Quelle: EZB

Wechselkurse USD / EUR (Ordinate)

Cl.K.

Expon. (Wechselkurse USD / EUR (Ordinate))

Abbildung 19: Zusammenhang zwischen Preisdifferenzen und Wechselkursen USA – EWU (2000–2012)

Ein sinkender Wechselkurs bedeutet, dass man für einen USD weni­ ger EUR erhält, nämlich nur 0,9714 € statt 1 € davor. Dieser Rückgang beträgt auch 2,9 %. Um diesen Betrag hat der USD abgewertet. Die Forderungen in der zweiten Hälfte der sechziger, Anfang der siebzi­ ger Jahre, das System fester Wechselkurse durch ein System flexibler Kur­ se zu ersetzen, basierten auf der Kaufkraftparitätentheorie. Man war der Auffassung, dass ein solches System kaum Wechselkursschwankungen aufweisen wird. Jeder Teilnehmer an den Devisenmärkten kennt die Preis­ steigerungsraten in den einzelnen Ländern. Die Preisveränderungen seien also sehr transparent. Der Devisenhandel werde sich daran ausrichten. Die tatsächliche Entwicklung verlief anders. Die Wechselkurse schwankten viel stärker als die Preisdifferenzen und wurden damit zu einem Störfaktor. Der Kardinalfehler bei der Einführung flexibler Wechselkurse war, dass man zu sehr auf die Preise und ihre Veränderung als Bestimmungsgrund für Wechselkurse vertraute. Die Vielzahl anderer Einflüsse blieb unberück­ sichtigt.



III. Einflüsse auf die Wechselkurse93

Auf dem Schaubild wird der Zusammenhang oder besser, der nicht exis­ tierende Zusammenhang zwischen den Differenzen der Preissteigerungsra­ ten für Konsumgütern in den USA und in der EWU, also den Kaufkraftpa­ ritäten, für die Jahre 2000 bis 2012 dargestellt. Die Differenzen der Preis­ steigerungsraten wurden auf der Abszisse abgetragen und der Wechselkurs $ / € auf der Ordinate. Ferner wurde ein exponentieller Trend berechnet und eingetragen. Man kann auf den ersten Blick erkennen, dass die Trendwerte alle nahe 1,20 USD liegen. Die tatsächlichen Schnittpunkte der beiden Wer­ te allerdings haben mit den Trendwerten kaum etwas zu tun. Bestünde ein enger Zusammenhang zwischen Kaufkraftparitäten und Wechselkursen, dann würden die tatsächlichen Schnittpunkte auf oder nahe den Trendwerten liegen. Berechnet man den Zusammenhang zwischen Kaufkraftparität arith­ metisch, dann erhält man als Ergebnis einen Korrelationskoeffizienten. Bei einem engen Zusammenhang beträgt er 1 und bei fehlendem Zusammen­ hang 0. Das Bestimmtheitsmaß des Zusammenhangs zwischen Kaufkraft­ paritäten und Wechselkursen in den USA und der EWU in den Jahren 2000 bis 2012 beträgt 0,0011. Dieser Wert besagt, ein Zusammenhang der Kauf­ kraftparitäten und den Wechselkursen in den USA und der EWU bestand in den Jahren der Existenz der EWU nicht. 4. Einflüsse der Zinsen auf die Wechselkurse sind minimal Ein weiterer Faktor neben den Preisen, der immer wieder betont wird, wenn es um die Beurteilung von Wechselkursen geht, sind die Zinsen. Teil­ nehmer an den Devisenmärkten werden grundsätzlich ihre Mittel in Ländern anlegen, in denen sie die höchsten Zinserträge erzielen. Wenn z. B. in den USA Dreimonatsgeld mit 7 % und in der EWU mit 4 % verzinst wird, dann werden erhebliche Beträge an EUR in die USA fließen, dort in USD ge­ tauscht und angelegt. Die Nachfrage in den USA nach USD und das Ange­ bot in den USA an EUR bedeutet, dass die Europäer bereit sind, immer mehr EUR für den USD zu zahlen. Der US-Dollar wertet auf und der Euro wertet ab. Allgemein gilt, ein Land mit relativ hohen Zinsen zieht Gelder aus anderen Ländern auf seinen Geldmarkt; seine Währung wertet auf. Solche Geschäfte aber sind für den Anleger nicht ungefährlich. Es kann durchaus sein, dass einige der vielen Einflüsse, die auf die Wechselkurse wirken, dazu führen, dass während der Laufzeit der Anlage am amerikani­ schen Geldmarkt, der USD abwertet. Bei Fälligkeit der Anlage würde dann der Europäer weniger als erwartet zurückerstattet erhalten. Der europäische Anleger würde Verluste erleiden. Gegen derartige Risiken kann sich der Anleger absichern. An dem Tage, an dem er USD kauft, verkauft er USD am Terminmarkt gegen EUR, ab­

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D. Freier globaler Leistungsaustausch

1,6 1,5 1,4 1,3 1,2 1,1 1 0,9 R² = 0,019 0,8

–2,00

Quelle: EZB

–1,50

–1,00

–0,50

0,00

0,50

Zinsdiff. 3MonGeld USA–EWU (Abszisse) Wechselkurse USD/ EUR (Ordinate)

1,00

1,50

2,00

Exponentialtrend

2,50 Cl.K.

Abbildung 20: Zusammenhang zwischen Zinsdifferenzen und Wechselkursen USA – EWU (2000–2012)

zurechnen in drei Monaten, in Höhe seines Anlagebetrages und der erwarte­ ten Zinsen. Am Tage der Fälligkeit wird ihm gegen den erhaltenen Dollar­ betrag der Eurobetrag gutgeschrieben, entsprechend dem vereinbarten Ter­ minkurs. Angenommen am Tage des Dollarkaufs war der Kassakurs, zu dem der Anleger die USD erwarb, gleich dem Terminkurs, zu dem er sich absicherte. Der Terminkurs abzüglich des Kassakurses, gemessen am Kas­ sakurs, das ist der Swapsatz. In diesem Fall ist er null. Der Anleger erzielt aus der Kurssicherung weder Gewinne noch Verluste. Seine Anlage wurde somit mit 7 % verzinst. Absichern werden sich Viele. In den USA steigt per Kasse die Nachfrage nach USD. Der Kassakurs steigt; der USD wertet auf. Gleichzeitig nimmt das Angebot an USD per Termin in den USA zu. Der Terminkurs des USD zum EUR sinkt. Per Termin wertet der USD ab. Damit entstehen für die Kurssicherung für den Anleger Kosten. Der Swapsatz ((Terminkurs – Kas­ sekurs) / Kassekurs). Wenn der Swapsatz –1 % beträgt, dann erhält der Anle­ ger 7 % Zinsen abzüglich 1 % Kurssicherungskosten, also 6 %. Es ist leicht einzusehen, dass sich dieser Prozess der Absicherung weiter fortsetzt. Aber



III. Einflüsse auf die Wechselkurse95

er kommt bei einem Swapsatz von 3 % zum Stehen. Dann nämlich erhält der Europäer auf seine Geldmarktanlage in den USA 7 % – 3 % = 4 %. Er bekommt damit nicht mehr und nicht weniger als die 4 %, wenn er seine Mittel in Europa angelegt hätte. Auch hier vollzieht sich dieser Prozess der Zinsarbitrage nicht so lange, wie hier geschildert. Die Zinsarbitrageure ver­ kürzen die Anpassung des Swapsatzes an die Zinsdifferenz in Sekunden. Dieses Zinsarbitragegleichgewicht ist tatsächlich zu jeder Zeit gegeben. In der Praxis der Devisenmärkte wird der Swapsatz daher auch nicht berechnet als Differenz von Terminkurs abzüglich Kassakurs dividiert durch den Kas­ sakurs. Es ist einfacher den Swapsatz aus der Differenz zwischen Zins im Inland und dem Zins im Ausland zu ermitteln. Auch beim Einflussfaktor Zinsen soll überprüft werden, wie bedeutsam er ist. Auch das geschieht mit einem Diagramm. Verglichen werden die Zinsdifferenzen zwischen den USA und der EWU mit den Wechselkursen. Die Zinsdifferenzen werden auf der Abszisse abgetragen und die Wechsel­ kurse auf der Ordinate. Das Schaubild enthält einen Trend über die Jahre 2000 bis 2012. Er lässt vorsichtig erkennen, je höher die Zinsen in den USA sind verglichen mit de­ nen in der EWU, umso mehr geht der Wechselkurs USD / EUR zurück. Der USD wertet auf und der EUR ab. Vergleicht man die Trendwerte mit den tatsächlichen Werten, dann wird deutlich, dass kein Schnittpunkt auf der Trendgeraden liegt. Die tatsächlichen Werte liegen in erheblichen Abständen von den Trendwerten entfernt. Das aber heißt nichts anderes, als das kaum ein nennenswerter Zusammenhang zwischen Zinsdifferenzen USA und EWU besteht. Das Bestimmtheitsmaß von 0,019 unterstreicht das. Hier wird erneut deutlich, wie viel andere Einflüsse auf die Wechselkurse einwirken. 5. Der Gleichlauf von Preisen und Zinsen führt zu erratischen Wechselkursschwankungen Frei schwankende Wechselkurse, so lautete die herrschende Meinung, als man 1973 dazu überging, würden relativ stabil verlaufen. Geprägt würden sie von den Werten der beteiligten Währungen, also den Kaufkraftparitäten. Für sie, die Preissteigerungsraten der beiden beteiligten Länder, bestand an den Devisenmärkten vollständige Transparenz. Höhere Preissteigerungsraten im Land A gegenüber dem Land B bedeuteten, dass die Währung des Lan­ des A abwertete und die des Landes B aufwertete. Wirtschaftsunternehmen und Banken könnten sich mit ihren Transaktionen, einschließlich der Spe­ kulation, danach richten. Da Preisbewegungen nie erratisch verlaufen, wür­ den sich auch die Wechselkurse weitgehend kontinuierlich bewegen. Man vertraute also der Kaufkraftparitätentheorie.

96

D. Freier globaler Leistungsaustausch

Vernachlässigt wurde die Zinsparitätentheorie. Sie besagt, dass Kapital in das Land mit den höheren Zinsen fliest. Die Währung dieses Landes wertet auf, die des Partnerlandes mit niedrigeren Zinsen wertet ab. Die Kapitalströ­ me versiegen, wenn sich Kaufkraftparität und Zinsparität entsprechen. Das Problem erratischer Wechselkursschwankungen entsteht, weil Preis­ entwicklung und Zinsentwicklung grundsätzlich gleich verlaufen. Steigen in einem Land A die Preise stärker als im Partnerland B, dann wird die Wäh­ rung des Landes A abwerten (Kaufkraftparitätentheorie). In einer solchen Situation wird die Zentralbank des Landes A die Zinsen erhöhen. Ein da­ durch ausgelöster Kapitalzufluss in das Land A, wird deren Währung auf­ werten. Dadurch wird die Spekulation verunsichert. Soll sie auf eine Abwer­ tung der Währung des Landes A setzen, weil dort die Preise stärker steigen oder auf eine Aufwertung der Währung des Landes A, weil dort die Zinsen heraufgesetzt werden. Wenn man der Spekulation keinen klaren Trend vor­ gibt, z. B. den der Kaufkraftparitäten, dann setzt sie sich ihre Ziele selbst. Die Richtung der zu erwartenden Wechselkursentwicklung wird durch die ersten spekulativen Transaktionen vorgegeben. Andere schließen sich an. Das Ergebnis sind häufig Übertreibungen. 6. Einflüsse der Leistungsbilanz durch Einflüsse der Kapitalbilanz ausgeglichen Ein dritter Faktor wird gern herangezogen, wenn man Veränderungen der Wechselkurse erklären will: die Leistungsbilanz. Sie erfasst den Warenhan­ del mit seinen Ausfuhren und Einfuhren sowie die Dienstleistungen, die grenzüberschreitenden Erwerbs- und Vermögenseinkommen sowie die Über­ tragungen jeweils mit ihren Einnahmen und Ausgaben. Die Summe der Salden dieser Positionen ergibt die Leistungsbilanz. Es liegt nahe, dass die Leistungsbilanz dazu benutzt wird, Wechselkurs­ bewegungen zu erklären. In den hier betrachteten Jahren haben die Unter­ nehmen in der EWU im Warenverkehr mehr Güter exportiert als importiert. Sie haben im Dienstleistungsverkehr und bei den Transaktionen mit Er­ werbs- und Vermögenseinkommen Einnahmeüberschüsse erzielt. Nur bei den Übertragungen, die hier auch die Vermögensübertragungen einschließen, entstanden Ausgabenüberschüsse. Insgesamt wies die Leistungsbilanz der EWU nur 2009 ein Defizit auf, in den folgenden Jahren Überschüsse. Die Gestaltung der Leistungsbilanz in der EWU hätte in den hier darge­ stellten Jahren keinesfalls immer zur Erklärung der Wechselkursentwicklung herangezogen werden können. Im Jahre 2009 entsprach dem Defizit in der Leistungsbilanz eine Abwertung des EUR. Diese Abwertung setzte sich 2010 fort, obwohl die Leistungsbilanz einen Überschuss aufwies. Im Jahr



III. Einflüsse auf die Wechselkurse97 Tabelle 4 Die Leistungsbilanz der Europäischen Währungsunion 2009

2010

2011

2012

Warenhandel Dienstleistungen Erwerbs- u. Vermögenseinkommen Übertragungen

 30,7  44,9   9,0 –89,5

  17,2   56,5   38,9 –103,5

  6,8  73,2  42,1 –96,0

100,6  90,9  32,2 –92,7

  Insges. (einschl.Vermögensübertr.)

 –4,9

   9,1

 26,1

131,0

Source: EZB

2011 entsprach dem Überschuss in der Leistungsbilanz auch wieder eine Aufwertung des EUR. Obwohl der Überschuss in der Leistungsbilanz 2012 stark zunahm, wertete der EUR ab. Bei so unterschiedlichen Entwicklungen von Leistungsbilanz und Wech­ selkurs sollte man eigentlich nicht auf die Leistungsbilanz zurückgreifen, um die Wechselkursentwicklung zu erklären. Wenn das trotzdem immer wieder geschieht, dann ist das eher psychologisch als sachlich begründet. Man hebt damit die Leistungsstärke oder Leistungsschwäche eines Landes hervor. Auch hier kann man die unterschiedlichen Entwicklungen von Leis­ tungsbilanz und Wechselkurs sicher nicht zu Unrecht auf die Vielzahl von Einflüssen auf die Devisenmärkte zurückführen. Es gibt aber auch noch einen grundsätzlichen Einwand gegen die Verwen­ dung der Leistungsbilanz als Orientierung für die Wechselkursentwicklung. Der internationale Waren- und Dienstleistungsverkehr sowie Erwerbs- und Vermögenseinkommen und Übertragungen umfassen grundsätzlich die rea­ len Transaktionen. Alle diese Transaktionen müssen auf die eine oder ande­ re Art bezahlt werden. Diese monetären Transaktionen werden in der Kapi­ talbilanz erfasst. Ihr Saldo muss daher, mit umgekehrtem Vorzeichen, summengleich dem Saldo der Leistungsbilanz sein. Es ist üblich, die Leis­ tungsbilanz und die Kapitalbilanz in der Zahlungsbilanz zusammenzufassen. Der Saldo der Zahlungsbilanz ist immer Null. Wertet eine Währung auf, dann wird gern auf die Leistungsbilanz als Ursache verwiesen, sofern sie einen Überschuss aufweist. Wertet eine Währung auf, wenn die Leistungs­ bilanz ein Defizit hat, verweist man als Ursache auf den positiven Saldo der Kapitalbilanz. Die Unternehmen in der EWU haben in allen Jahren mehr im Ausland investiert, als ausländische Unternehmen in der EWU. Bei den Wertpapier­ anlagen war es umgekehrt. Es war das Ausland das in der EWU mehr

98

D. Freier globaler Leistungsaustausch Tabelle 5 Die Kapitalbilanz der Europäischen Währungsunion 2009

2010

2011

2012

Direktinvestitionen Wertpapieranlagen Übr. Kapitalverkehr (einschl. Restp.)

 –67,0  247,3 –175,4

–88,8 119,5 –39,8

–118,7  252,5 –159,9

 –44,8   52,3 –138,5

 Insgesamt

   4,9

 –9,1

 –26,1

–131,0

Source: EZB

Aktien, Investmentzertifikate, Anleihen und Geldmarktpapiere erwarb als Investoren aus der EWU, die solche Papiere im Ausland kauften. Der üb­ rige Kapitalverkehr weist in jedem Jahr Defizite auf. Darin enthalten sind auch Überweisungen in das Ausland, die für Importe geleistet werden mussten. Auf den Zusammenhang von Leistungsbilanz und Kapitalbilanz auf den Wechselkurs und den stets vorhandenen Nullsaldo der Zahlungsbilanz und damit auf die Untauglichkeit dieser Bilanzen für die Wechselkursorientie­ rung, ist schon lange hingewiesen; er wurde aber wenig beachtet. Es war wieder Gustav Cassel, der diese Zusammenhänge in seinem Gutachten für den Völkerbund 1921 den dortigen Mitgliedern klarzumachen versuchte. „Wenn die Valuta des Landes im internationalen Wert sinkt, will man das gewöhnlich als Folge einer negativen Handelsbilanz erklären. Aber diese Erklärung ist offenkundig ungenügend, … Denn wenn ein Land mehr von einem anderen Land kauft, als es an dasselbe verkauft, muß die Bilanz ir­ gendwie bezahlt werden, sei es nun durch Ausfuhr von Wertpapieren oder durch Kredite von dem anderen Land. Somit muß sich die Zahlungsbilanz im Großen und Ganzen von selbst ausgleichen, und es gibt keinen Grund für eine dauerhafte Veränderung der Wechselkurse.“73 7. Die Einflüsse nationaler monetärer Politik auf die globale Welt Eine Zentralbank betreibt eine monetäre Politik, um Preisstabilität zu erreichen und zu sichern und Vollbeschäftigung anzustreben. Diese auf na­ tionale Ziele ausgerichteten Maßnahmen bleiben in der globalen Welt nicht nur in der nationalen Volkswirtschaft wirksam, sondern sind auch in anderen Volkswirtschaften spürbar. In der Weltfinanzkrise und der nachfolgenden 73  Gustav

Cassel, Das Geldproblem der Welt, München 1921, S. 41.



III. Einflüsse auf die Wechselkurse99

allgemeinen Wirtschaftskrise haben die Zentralbanken der USA und der EWU ihre Zinsen stark, nämlich auf nahe Null, gesenkt. Begleitet wurden diese administrativen Zinssenkungen von sehr umfangreichen Liquiditätsbe­ reitstellungen. Ziel war es, das gesamte Zinsniveau, also auch die langlau­ fenden Zinsen, zu senken. Man erhoffte dadurch, die Kreditgewährung der Banken an die Wirtschaft wieder zu beleben Das gelang aber zunächst nur sehr unzureichend. Die von den Zentralbanken reichlich geschaffene Liqui­ dität wurde von den Kreditinstituten nur zu einem geringen Teil für Mittel­ bereitstellungen an Unternehmen verwendet. Ein großer Teil wurde kaum am heimischen Geldmarkt angelegt, sondern wieder bei der Zentralbank eingezahlt, trotz dabei entstehender Zinsverluste bei den Banken. Ein ande­ rer Teil wurde höher verzinslich in Drittländern angelegt. Geschaffene Liquidität, die Anlagen im Ausland suchten, hatten dort zwei Auswirkungen. Einmal mussten die in das Ausland fließenden Mittel dort in die jeweilige Währung getauscht werden. Die hohen Beträge an USD und EUR führten zu einer Aufwertung der jeweiligen ausländischen Wäh­ rungen. Wenn Anleger in den USA oder Europa das wahrnahmen, wurden zusätzliche Beträge ins Ausland transferiert, um Aufwertungsgewinne zu erzielen. Zum anderen ließen die Zuflüsse die Preise der Anlagegüter, An­ leihen, Aktien, Immobilien und Rohstoffe sowie ihre Derivate, steigen. Bald bestand die Gefahr, dass es auf diesen Gebieten zu Blasenbildungen kom­ men würde. Die Aufwertungen der ausländischen Währungen waren für diese Länder eine Herausforderung. Vor allem die Exportindustrien dieser Länder litten unter der Aufwertung ihrer Währungen. Allerdings konnten Einfuhren der ausländischen Länder billiger bezogen werden. Es gab Län­ der, die die Aufwertungen ihrer Währung tolerierten, da sie dadurch zu vermeiden hofften, dass die Preise stärker steigen. Die betroffenen ausländischen Volkswirtschaften griffen teilweise zu Ab­ wehrmaßnahmen. Dazu gehörten Zinssenkungen. Da diese Staaten oft hohe Preissteigerungsraten besaßen, war eine solche Maßnahme eigentlich nicht angezeigt. Trotzdem wurden sie vorgenommen. In der Tat verringerten sich die spekulativen Zuflüsse und damit auch das Tempo der Aufwertungen. Der Staat konnte seine Zinsausgaben für seine Schuld senken. Die ersparten Gelder gab er via Steuersenkungen an die Exportindustrie weiter. Die Zins­ senkungen kamen allen heimischen Unternehmen zugute. Sie führten zu zusätzlichen Investitionen. Weniger erfreulich, aber teilweise von der Asiatischen Entwicklungsbank und dem Internationalen Währungsfonds toleriert, waren administrative Abwehrmaßnehmen. Finanztransaktionen oder Zinserträge, die Nichtinlän­ dern zuflossen, wurden besteuert. Mittelaufnahmen im Ausland wurden Staatsunternehmen untersagt. Was sich hier abspielte, war das Gegenteil von

100

D. Freier globaler Leistungsaustausch

einer Förderung des freien globalen Leistungs- und Kapitalverkehrs. Man ist sich auch bewusst, dass bei einer Besserung der konjunkturellen Lage in den USA und Europa, dort die monetären Zügel wieder angezogen werden. Man muss dann mit entgegengesetzten Wirkungen in den Ländern außer­ halb der USA und Europas rechnen. Auch das bringt wieder neue Unruhen an den Devisenmärkten mit sich. Wenn in einigen Ländern die Währungen aufwerten, dann muss es ande­ re Länder geben, deren Währungen abwerten. In der Weltfinanzkrise und der folgenden konjunkturellen Krise waren 2007 und folgende Jahre, waren das die USA mit dem USD und die EWU mit dem EUR die abwerteten. Wenn Währungen abwerten, ist das ein delikates Problem. Schnell ist man mit dem Vorwurf zur Stelle, dass die abwertenden Länder ihre Währungen manipulieren, um ihre Exportunternehmen zu fördern. Solche Vorwürfe wurden in dieser Zeit gegen die USA und die EWU erhoben. Auch Japan wurde einbezogen. Dieses Land befand sich in einer deflatorischen Ent­ wicklung mit negativen Preisraten. Es sollte aber eine Preissteigerungsrate von 2 % erreicht werden. Auch hier senkte die Zentralbank die Zinsen und stellte den Banken umfangreiche liquide Mittel zur Verfügung. Bald hieß es, ein Währungskrieg stünde bevor. Das bedeutete, immer mehr Länder würden versuchen, ihre Währungen künstlich, durch Interventionen an den Devisenmärkten, abzuwerten. Das aber würde nur den freien globalen Wirtschaftsaustausch beeinträchtigen und zu zusätzlichen negativen konjunk­ turellen Einflüssen führen. Im Februar 2013 sahen sich die G7, die sieben führenden Industrieländer Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA dazu veranlasst, eine Erklärung abzugeben: „We reaffirm that our fiscal and monetary policies have been and will remain ori­ ented towards meeting our respective domestic objectives using domestic in­ struments, and that we will not target exchange rates.“74 Durch diese Erklä­ rung der G7 hat sich die Wechselkursentwicklung beruhigt. Anders verhält es sich, wenn Länder bewusst an den Devisenmärkten in­ tervenieren, um Wechselkurse zu beeinflussen. Das war in der Schweiz der Fall. Die Schweizer Nationalbank teilte im September 2011 mit, sie werde die im Gang befindliche Aufwertung des CHF stoppen, und zwar bei ei­ nem EUR / CHF-Wechselkurs von 1,20 CHF. Man begründete das damit, dass anderenfalls der Schweizer Export zu stark beeinträchtigt würde. Der Kurs von 1,20 CHF war ein Mindestkurs. Ein Abgleiten darunter wurde von ihr nicht toleriert. Zuströmende Devisen kaufte die Nationalbank auf. Das ist ein Verstoß gegen das geltende Prinzip frei schwankender Wechselkurse. Die 74  Statement by G7 Finance Ministers and Central Bank Governors, February 12, 2013.



IV. Das wichtigste Ziel ist Handelsneutralität101

EZB gab dazu eine kurze Erklärung ab: „Der Rat der Europäischen Zentral­ bank wurde von der Schweizer Nationalbank über deren Entscheidung infor­ miert, ab sofort keinen EUR / CHF-Wechselkurs unter dem Mindestkurs von 1,20 CHF zu tolerieren. Der EZB-Rat nimmt diese von der Schweizer Natio­ nalbank in eigener Verantwortung getroffene Entscheidung zur Kenntnis.“75

IV. Das wichtigste Ziel ist Handelsneutralität 1. Handelsneutrale Wechselkurse Wirtschaftsunternehmen sollten sich am globalen Markt durch bessere eigene Leistungen, eine höhere Produktivität gegenüber ihren Konkurrenten durchsetzen können. Häufig aber wird das durch Wechselkursbewegungen vereitelt. Das ist der Fall, wenn die Währung des Exporteurs, z. B. der Eu­ ro gegenüber dem US-Dollar, aufwertet. Der Amerikanische Importeur muss dann für eine europäische Ware mehr US-Dollar aufwenden als vorher. Das kann dazu führen, dass die Nachfrage nach europäischen Gütern sinkt und die Exporte aus Europa zurückgehen. Allerdings beeinträchtigt eine solche Aufwertung nur dann die Warenströme, wenn sie nicht übereinstimmt mit den Wertveränderungen der beiden beteiligten Währungen. Angenommen in den USA steigen die Preise um 5 % und in Europa um 2 %. Ein Amerikaner muss für eine Ware aus den USA 5 % mehr zahlen. Er braucht aber nur 2 % mehr zu zahlen, wenn er die Ware aus Europa bezieht. Diese Aussage gilt, solange die Wechselkurse $ / € diesen Preisentwicklun­ gen nicht folgen und unverändert bleiben. Jetzt stimmen die Werte der Währungen, wie sie im Wechselkurs zum Ausdruck kommen, immer noch unveränderte Werte, nicht mehr mit den tatsächlichen Werten, die sich durch Preissteigerungen verändert haben, überein. In den USA sind sie stärker gestiegen, als in Europa. Die Kaufkraftparität weicht von der Veränderung des Wechselkurses ab. Das führt zu einer Verzerrung der Waren- und Dienstleistungsströme. Nicht mehr allein die Produktivität bestimmt die internationalen Warenströme. Der Wechselkurs erscheint bei einer solchen Verzerrung als zweiter Preis. Er kann eine Wettbewerbssituation, die durch Produktivitätsgefälle gegeben ist, verstärken, abschwächen oder in ihr Ge­ genteil verwandeln.  Zu der Verzerrung der Warenströme im obigen Beispiel wäre es nicht gekommen, wenn sich die Preisdifferenz zwischen USA und Europa, näm­ lich 3 %P im Wechselkurs niedergeschlagen hätte. Der Euro wäre um 3 % 75  Erklärung des EZB-Rats zur Entscheidung der Schweizerischen Nationalbank, 6. September 2011.

102

D. Freier globaler Leistungsaustausch

20,0

15,0

in % p. a.

10,0

5,0

0,0

–5,0

–10,0

–15,0

Source: EZB

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Wechselkurs USD/EUR

Kaufkraftparität (Preisdiff.) USA–EWU

Cl.K.

Abbildung 21: Wechselkurse und Kaufkraftparitäten USA / EWU

aufgewertet worden. Hätte der Amerikaner darauf bestanden, die Ware in Europa zu kaufen, dann hätte er um die Ware in Europa zu erwerben, zuerst Euro kaufen müssen, die sich um 3 % gegenüber dem Ausgangszeitpunkt verteuerte hatten. Zuzüglich der Preissteigerung in Europa von 2 %, musste er gegenüber der Ausgangsperiode für die Ware aus Europa 5 % mehr auf­ wenden müssen. Das aber entsprach der Preissteigerung in den USA. Wenn also Änderung der Kaufkraftparität mit der Änderung des Wechselkurses übereinstimmt, dann wird die Wettbewerbsposition eines Unternehmens al­ lein von seiner Produktivität und der seiner Konkurrenten bestimmt. Die Warenströme werden durch die Wechselkurse nicht verzerrt. Wenn die Veränderung des Wechselkurses der Veränderung der Kaufkraft­ parität entspricht, dann ist der Wechselkurs handelsneutral. Handelsneutrali­ tät der Wechselkurse ist das alleinige Ziel einer Wechselkurspolitik. Sie dient dazu, wechselkursbedingte Verzerrungen der Handelsströme in der globalen Welt zu verhindern. Von einem handelsneutralen Wechselkurs zwischen dem USD und dem EUR kann keine Rede sein. Der Euro wurde 1999 eingeführt. Bis 2000



IV. Das wichtigste Ziel ist Handelsneutralität103

wertete der Euro gegenüber US-Dollar um 13 % ab. Diese Abwertung setz­ te sich auch 2001 fort, gefolgt von einer Aufwertung, die im Jahre 2003 fast 20 % betrug. Bis 2012 unterlag der USD / EUR-Wechselkurs drei weiteren Abwertungs- und Aufwertungswellen. Demgegenüber verliefen die Kaufkraftparitäten, die Preisdifferenzen, zwi­ schen den USA und der EWU bedeutend konstanter. Die Wechselkurse USD / EUR schwankten in den Jahren 2000 bis 2012 zwischen –13,3 % und %. Die Schwankungsbreite der Kaufkraftparitäten lagen in dieser +19,6  Zeitspanne zwischen –0,7 %P und +1,3 %P. Dieses Überschießen der Wech­ selkurse bedeutete, dass der Wechselkurs für Unternehmen, die exportierten oder importierten, ein zusätzlicher, meist nicht kalkulierbarer Kostenfaktor war. Dieser zweite Preis hat die Unternehmen zusätzlich belastet oder ihnen zusätzliche Erträge zugeführt. Den globalen freien grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr zu optimieren bedeutet, die Unternehmen von realen Wechselkursänderungen, dem zweiten Preis, zu befreien. 2. Kaufkraftparitäten sollten die Wechselkursentwicklung bestimmen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde diskutiert, dass bis dahin bestehende System fester Wechselkurse durch ein System frei schwankender Wechselkurse abzulösen. Die Befür­ worter freier Wechselkurse waren der Auffassung, dass ein solches System kaum stärkere Wechselkursschwankungen aufweisen würde. Jeder Teilneh­ mer am Devisenmarkt wüsste, wie hoch die Preissteigerungsraten in den einzelnen Ländern seien. Entsprechend würden sie ihre Transaktionen durchführen. Größere Abweichungen von den Kaufkraftparitäten seien des­ halb unwahrscheinlich. Heute weiß man, dass diese Annahmen nicht zutreffen. Andererseits sind handelsneutrale Wechselkursveränderungen eine wichtige Bedingung für einen freien globalen Wirtschaftsaustausch. So liegt es nahe, wirtschaftspo­ litisch nachzuhelfen, dass Anreize an den Devisenmärkten wirksam sind, die zu Wechselkursentwicklungen beitragen, die von den Kaufkraftparitäten bestimmt wird. Die Tabelle zeigt, wie sich Wechselkurse bei gegebenen unterschiedlichen Preissteigerungsraten bewegen müssten, um Handelsneutralität in einem größeren Wirtschaftsraum zu sichern. In der globalen Welt ist kein Land allein oder nur mit seinem Partner, in der Lage, dieses Ziel zu erreichen. In der Tabelle sind vier Länder erfasst, deren Währungen zu den wichtigsten in der globalen Welt gehören. Das ist in der Europäischen Währungsunion der Euro (EUR), in den Vereinigten Staaten von Amerika der US-Dollar

104

D. Freier globaler Leistungsaustausch Tabelle 6 Veränderungen der Wechselkurse durch Kaufkraftparitäten Frankfurt 2 %

New York 5 %

Tokio 1 %

Peking 6 %

EUR Veränd. KKP EUR

– – –

0,83 EUR 0,9714 0,81 EUR

0,67 EUR 1,0099 0,68 EUR

0,12 EUR 0,9622 0,12 EUR

USD Veränd. KKP USD

1,20 USD 1,0294 1,24 USD

– – –

0,80 USD 0,9619 0,96 USD

0,15 USD 0,9906 0,15 USD

100 JPY Veränd. KKP 100 JPY

1,50 JPY 0,9902 1,49 JPY

1,25 JPY 0,9619 1,20 JPY

– – –

0,15 JPY 0,9528 0,14 JPY

CNY Veränd. KKP CNY

8,20 CNY 1,0392 8,52 CNY

6,83 CNY 1,0095 6,89 CNY

5,46 JPY 1,0495 5,73 CNY

– – –

Preissteig.

(USD), in Japan der japanische Yen (JPY) und in China der chinesische Yuan (CNY). Diese Länder müssten zusammen wirken, um Handelsneutra­ lität ihrer Währungen zu erreichen. Andere Länder könnten sich dann dem Konzept anschließen und auf diese Weise den Raum handelsneutraler Wech­ selkurse erweitern. Angenommen wird, dass in der EWU (Frankfurt) die Konsumentenpreise um 2 % steigen, in den USA (New York) um 5 %, in Japan (Tokio) um 1 % und in China (Peking) um 6 %. Für jeden Devisenplatz sind zunächst die Ausgangswechselkurse angegeben. Für Frankfurt lauten sie 1,20 USD, 1,50 JPY und 8,20 CNY. Wenn die weitere Entwicklung der Wechselkurse handelsneutral verlaufen soll, dann müssen sie den Kaufkraftparitäten fol­ gen. Der Dollarkurs in Frankfurt USD / EUR muss steigen, der Dollar also abwerten und der Euro aufwerten, da die Preissteigerung in den USA höher ist (5 %), als in der EWU (2 %). Der handelsneutrale Wechselkurs beträgt dann USD 1,05 / EUR 1,02. Er ergibt sich aus dem Ausgangswechselkurs multipliziert mit einem Multiplikator, dem Quotienten der beiden Preisstei­ /  1,02 = gerungsraten, das ist die Veränderung der Kaufkraftparität 1,05  1,0294. Der handelsneutrale Wechselkurs USD / EUR ist dann 1,20 × 1,0294 = 1,24. In der Tabelle steht der Multiplikator, die Veränderung der Kauf­ kraftparität, jeweils unterhalb des Ausgangswechselkurses. Die bei den ge­



IV. Das wichtigste Ziel ist Handelsneutralität105

gebenen Preissteigerungsraten sich errechnenden handelsneutralen Wechsel­ kurse sind unterhalb der Quotienten eingetragen. 3. Die Wechselkurssteuerung der Spekulation überlassen Es war stets, wenn es um die Schaffung eines neuen Wechselkurssystems ging, das Anliegen, die Wechselkursentwicklung zu verstetigen. Ursprüng­ lich war das auch der Fall bei Wissenschaftlern und Politikern, die – wie die G20 heute – ein System frei schwankender Wechselkurse befürworteten. Man vertraute auf die Kaufkraftparitätentheorie. Da die Kaufkraftparitäten sich nicht sprunghaft verändern, müssten sich auch die Wechselkurse stetig entwickeln. Dabei aber wurden neben den Preisen die vielen Einflüsse auf die Wechselkurse ausgeklammert. Das rächte sich. Da Einflüsse teilweise unterschiedlich auf Wechselkurse einwirken, verliefen sie nicht kontinuier­ lich, sondern erratisch. In der Tat ist ein Wechselkurssystem bei dem die Kurse den Kaufkraft­ paritäten folgen erstrebenswert. Denn ein solches Wechselkurssystem ist handelsneutral und das ist eine wichtige Bedingung für einen freien globa­ len Wirtschaftsaustauch. Die Stabilisierung der Wechselkursentwicklung auf dem Pfad der Kaufkraftparitäten kann man der Devisenkursspekulation überlassen. Notwendig dafür ist, die Devisenmärkte davon zu überzeugen, dass die am Wechselkurssystem beteiligten Länder dafür sorgen, die Wech­ selkurse auf dem Pfad der Kaufkraftparitäten zu halten. Das anzustrebende Wechselkurssystem umfasst vier Säulen: 1.  den völlig freien Devisenverkehr, 2.  einen Vertrag zwischen den teilnehmenden Ländern, 3.  die Beeinflussung der Erwartungen an den Devisenmärkten und 4.  das gewähren lassen der Devisenkursspekulation. Der völlig freie Devisenverkehr entspricht grundsätzlich der gegebenen Lage an den Devisenmärkten. Die G20 verfolgen bei den Wechselkursen das Ziel76, „to move more rapidly toward more market determined exchange rate systems and exchange rate flexibility to reflect underlying fundamentals and avoid persistent exchange rate misalignments.“ Bei der hier angestreb­ ten Wechselkursstrategie sollen die Wechselkursbewegungen nicht die bisher undefinierten fundamentals widerspiegeln, sondern die Kaufkraftparitäten. Wenn das geschehen würde, gäbe es keine ständigen Fehlentwicklungen durch Wechselkursschwankungen. 76  Communiqué, Meeting of G20 Finance Ministers and Central Bank Governors (Moscow 15–16 February 2013), Punkt 5.

106

D. Freier globaler Leistungsaustausch

Bei einer Kaufkraftparitäten-Wechselkursstrategie KKPS (puchasing pow­ er parity strategie ppps) schließen sich mehrere Länder zusammen, um ein solches System zu verwirklichen. Das sollten Länder sein, deren Währungen in der globalen Welt ein starkes Gewicht besitzen. In der Tabelle „Verände­ rungen der Wechselkurse durch Kaufkraftparitäten“ wurden die Währungen von vier Ländern dargestellt: der USA, der EWU, Japans und Chinas. Ein Vertrag über ein KKPS zwischen diesen Ländern böte die Chance, die Wechselkurse dieser vier wichtigen Volkswirtschaften zu verstetigen. Natür­ lich stünde es jedem weiteren Land offen, dieser Vereinbarung beizutreten. Für die EWU ergeben sich keine formalen Probleme, einen solchen Ver­ trag mit dritten Staaten zu schließen. Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union heißt es: „Wenn von der Union mit einem oder meh­ reren Drittstaaten … Vereinbarungen im Zusammenhang mit Währungsfra­ gen oder Devisenregelungen auszuhandeln sind, beschließt der Rat … die Modalitäten für die Aushandlung und den Abschluss solcher Verein­barun­ gen.“77 Die EWU und der Euro könnten also voll in eine solche Vereinba­ rung einbezogen werden. Die dritte Säule verlangt von den teilnehmenden Ländern, dass sie die Erwartungen an den Devisenmärkten beeinflussen. Die Marktteilnehmer sollten überzeugt sein, dass Regierungen und Zentralbanken dafür sorgen, dass die Wechselkurse dem Pfad der Kaufkraftparitäten folgen. In einer ersten Phase sind dabei Interventionen der Zentralbanken an den Devisen­ märkten notwendig. Immer wieder wird eingewendet, dass Interventionen der Zentralbanken an den Devisenmärkten nichts bewirken könnten. Die Volumina der am Markt gehandelten Beträge seien viel zu hoch, als dass Zentralbanken eine Chance hätten, dagegen anzugehen. So haben sich mit der Globalisierung der Finanzmärkte Instrumente entwickelt, die die Wechselkurse erheblich beeinflussen. Dazu gehören z. B. die Carry trade Geschäfte. In Ländern mit niedrigen Zinsen, wie in Japan, werden Mittel, z. B. als Kredit, aufgenom­ men, mit denen man Devisen erwirbt, deren Anlagen hohe Zinsen bringen, wie in Neuseeland. Das Angebot an Yen wertet diese Währung ab und die Nachfrage nach Neuseeländischen Dollar wertet diese Währung auf. Hier werden erhebliche Beträge eingesetzt. Die Sichtweise, dass diese Beträge viel zu hoch seien, um dagegen anzugehen, ist falsch. Es kommt entschie­ den auf den Zeitpunkt der Intervention an. Wenn die Kurse am Devisen­ markt stark steigen oder fallen, also umfangreiche Nachfrage oder umfang­ reiches Angebot den Markt bestimmen, sollte eine Zentralbank nicht ein­ 77  Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Art. 219 (3), in: EUVertrag, Beck-Texte im dtv, 6. Auflage, 2008.



IV. Das wichtigste Ziel ist Handelsneutralität107

greifen. Der Markt, vor allem die spekulativ eingestellten Teilnehmer, stellen sich immer wieder, in ca. stündlichen Abständen, glatt. In dieser Zeit werden Aufwärts- oder Abwärtstrends unterbrochen. Das ist der Zeitpunkt, zu dem interveniert werden kann und die Interventionen erfolgreich sind. Zum Schluss heißt es dann in der Presse, Spekulation auf dem falschen Fuß er­ wischt. Wenn in dieser Form gehandelt wird, dann genügen relativ geringe Mitteleinsätze. Befürchtungen, solche Interventionen könnten die Preisstabi­ lität gefährden sind dann nicht gegeben. Außerdem verfügen die Zentralban­ ken über ausreichende Instrumente entstehende Liquiditätsüberhänge schnell abzubauen. Diese Erkenntnis verlangt, dass man es jedem Land überlässt, zu wel­ chem Zeitpunkt es am Markt eingreifen will. Gemeinsame Interventionen am Devisenmarkt sind häufig gescheitert, da zum falschen Zeitpunkt inter­ veniert wurde. Wenn in einer Telefonkonferenz verabredet wurde, alle Zen­ tralbanken intervenieren am Devisenmarkt, dann wollte keine abseits ste­ hen und es wurde sofort eingegriffen. Das aber war dann meist der falsche Zeitpunkt. So errangen Interventionen am Devisenmarkt den Ruf eines ungeeigneten Instrumentes. Auch hier gilt, bei gemeinsamer Absprache über Interventionen, muss man die Zeitpunkte der Eingriffe den einzelnen Zentralbanken überlassen. Dann sind sie auch mit Ihren Interventionen er­ folgreich. Die letzte Säule lautet, die Spekulation gewähren lassen. Wenn die Devi­ senmärkte davon überzeugt sind, dass die Wechselkurse den Veränderungen der Kaufkraftparitäten folgen, dann können sich Regierungen und Zentral­ banken zurückhalten. Sie brauchen nichts weiter zu unternehmen. Die spe­ kulativen Transaktionen führen dazu, dass sich die Wechselkurse auf dem Pfad der Kaufkraftparitäten weiter fortbewegen. Angenommen die Kauf­ kraftparität gebietet einen Wechselkurs von 1,20 USD / EU und der Markt ist davon überzeugt, dass Regierungen und Zentralbanken schon dafür sorgen werden, dass sich die Wechselkursentwicklung auf diesem KKP-Pfand wei­ ter entwickelt. Dann realisiert die Spekulation das. Sollte der Wechselkurs plötzlich auf 1,24 USD / EUR steigen, dann würde die Spekulation sofort für 0,81 EUR / USD in New York kaufen. Diese Nachfrage treibt den Kurs in New York in die Höhe. Er kommt in New York bei 0,83 EUR / USD zum Stehen. Dann ist er nämlich wieder 1,20 USD / EUR. Die Differenz zwi­ schen Kauf und Verkauf in New York ist der Spekulationsgewinn. In Frank­ furt sieht das so aus: Die Spekulation verkauft Dollar zu 1,24 USD / EUR und wenn der Kurs wieder auf 1,20 gesunken ist, kauft sie US-Dollar zu 1,20 USD / EUR. Hier beträgt der Spekulationsgewinn 0,04 USD / EUR. Das Ergebnis ist, die Spekulation gewinnt und erwirtschaftet damit einen Ertrag und die Wechselkurse bewegen sich auf dem Pfad der Kaufkraftparitäten. Interventionen sind nicht mehr gefragt.

108

D. Freier globaler Leistungsaustausch

Allerdings müssen die zur Intervention bereitstehenden Zentralbanken wachsam sein. Bei den vielen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und poli­ tischen Einflüssen kann es vorkommen, dass die Erwartungen der Spekula­ tion von den Kaufkraftparitäten abgelenkt werden. Dann allerdings muss auch wieder einmal interveniert werden. Ein Vertreter absolut frei schwan­ kender Wechselkurse, Egon Sohmen, hat dazu gesagt: Es ist „aber auch nicht zu erwarten, daß stabilisierende Spekulation bei flexiblen Kursen ihre Funktion als intertemporales Ausgleichsinstrument in adäquater Weise erfül­ len kann, wenn die Wirtschaftspolitik nicht ein gewisses Minimum an Vorhersehbarkeit der künftigen Entwicklung garantiert.“ In der Tat ist das der Kern der Kaufkraftparitätenstrategie. Die Spekulation hat im Allgemeinen einen nicht so guten Ruf. Sie ist destabilisierend und führt zu Übertreibungen. Das ist richtig. Aber es beruht darauf, dass in diesen Fällen die Spekulation orientierungslos handelt. Spe­ kulative Transaktionen machen nicht mehr und nicht weniger, als dass sie Erwartungen einer Entwicklung in aller Kürze verwirklichen. Die Frage ist, wer diese Erwartungen formuliert. Destabilisierende und übertriebene Ent­ wicklungen beruhen grundsätzlich darauf, dass die Spekulation selbst diese Erwartungen formuliert. Da taucht die Vermutung auf, der Euro wird aus irgendeinem Grund abwerten. Sofort werden Euro verkauft. Aber es gibt kein Limit. Erst wenn die Kurse völlig unrealistisch geworden sind, besinnt man sich und die Entwicklung geht in die Gegenrichtung. Die Spekulation destabilisiert und übertreibt. Anders verhält es sich, wenn der Trend der Entwicklung überzeugend gesetzt wird. Auch dann wird spekuliert. Aber jetzt werden Abweichungen vom vorgegebenen Trend von der Spekulation gewinnbringend eingeebnet. Die Spekulation ist stabilisierend. Bei der Kaufkraftparitätensstrategie ist der Trend der Wechselkursentwicklung vor­ gegeben. Das erlaubt es, auf die stabilisierende Wirkung der Spekulation zu vertrauen. 4. Den Eingangskurs finden Die wichtigste Aussage der Kaufkraftparitätenstrategie ist, es wird dafür gesorgt, dass sich die Wechselkurse auf dem Pfad der Kaufkraftparität ent­ wickeln. Es ergibt sich dann aber noch die Frage, mit welchen Devisenkur­ sen die einzelnen teilnehmenden Länder in das System starten sollen. Es gibt darauf zwei Antworten, eine pragmatische und eine theoretische. Die pragmatische Antwort basiert auf einem Währungskorb. Er wird vor Inkrafttreten der Währungsunion gebildet. Zunächst muss geklärt werden, wie viele Währungseinheiten der Länder, die an dem geplanten System teilnehmen wollen, in den Korb getan werden sollen. Dazu erhält jedes Land ein Gewicht seiner Währung. Dieses ermittelt man – so in Europa –



IV. Das wichtigste Ziel ist Handelsneutralität109

aus den Anteilen, die das Land am Bruttoinlandsprodukt, am Binnenhandel und an den Währungsreserven aller potenziell teilnehmenden Länder hat. Für die Bundesrepublik Deutschland setzte man ein Gewicht von 31,955 % fest. Am Tage, an dem das Gewicht ermittelt wurde, am 21. September 1989, betrug der Devisenkurs in Frankfurt gegenüber dem US-Dollar % dieses Betrages, das waren 1,9534 DEM. Das bedeutete knapp 32  0,6242 DEM wurden in den Währungskorb getan. Die Europäische Währungsunion begann am 1. Januar 1999. Die Um­ rechnungskurse der teilnehmenden Länder in ihrer nationalen Währung zur Währungseinheit im Währungsraum mussten festgesetzt werden. Währungs­ einheit ist der Euro. Er folgte dem ECU zum Kurs 1:1. Am Vortag notierte die D-Mark mit 1,6763 DEM / USD. Da sich im Währungskorb 0,6242 DM DEM  /  1,6763 befanden, betrug der Gegenwert in US-Dollar 0,6242  USD / DEM, das sind 0,3723677 USD. In der gleichen Weise wurden die Gegenwerte der nationalen Währungsbeträge der anderen Teilnehmerstaaten in US-Dollar errechnet. Summe aller dieser Beträge der Teilnehmerstaaten ergab den Wert des Euro am 31. Dezember 1998 in US-Dollar. Er betrug 1,1667521 USD. Letzter Schritt war die Ermittlung der „unwiderruflichen Euro-Umrech­ nungskurse“. Zu diesem Zweck multiplizierte man den am 31. Dezember 1998 festgestellten Wechselkurs, für Deutschland 1,6763 DEM / USD, mit dem Wert des ECU (Euro) von 1,1667521 USD  /  ECU. Für Deutschland ergab das einen unwiderruflichen Umrechnungskurs von 1,95583 DM  /  ECU(EUR). Ebenso wurden die Umrechnungskurse für die übrigen Teilneh­ merstaaten ermittelt. „Am 31. Dezember 1998 wurden die letzten offiziellen ECU-Wechselkurse berechnet und vom EU-Rat als unwiderrufliche Um­ rechnungskurse für den Euro am ersten Tag der dritten Stufe, dem 1. Ja­nuar 1999, angenommen.“78 Neben der pragmatischen Antwort auf die Frage, mit welchem Wechsel­ kurs man in eine Währungsunion starten soll, gibt es auch noch eine theo­ retische Antwort. Sie will vermeiden, dass der Eingangskurs zufällig zustan­ de gekommen ist, weil man von einem bestimmten Zeitpunkt ausgegangen ist, den man willkürlich gewählt hat. Die Idee ist, dass man die Normallage eines Wechselkurses bestimmen muss, von der aus die Kurse sich mit den Kaufkraftparitäten verändern sollten. Eine solche Normallage des Wechsel­ kurses beschreibt ein Gleichgewicht, bei dem die Leistungsbilanzen ausge­ glichen sind. Es war wieder Gustav Cassel, der diese These vertrat. „Dieser Wechselkurs wird fixiert durch die Bedingung, dass im Warenaustausch ein 78  Verfahren zur Berechnung und Annahme der unwiderruflichen Euro-Umrech­ nungskurse in: Europäische Zentralbank, Jahresbericht 1998, S. 73.

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Leistungsbilanz / Current acc. USA

Cl.K.

06 07 08 09 10 11 12 20 20 20 20 20 20 20

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Leistungsbilanz / Current acc. China

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354

Abbildung 22: Leistungsbilanzen Chinas und der USA

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8

Source: Basiert auf Daten des IWF

Mrd./Bill. US-$

110 D. Freier globaler Leistungsaustausch



IV. Das wichtigste Ziel ist Handelsneutralität111

Gleichgewicht bestehen soll, so dass das eine Land seine Einfuhr von dem anderen mit seiner Ausfuhr an dasselbe bezahlen kann. Der so fixierte Wechselkurs stellt offenbar die Normallage des Wechselkurses dar und kann als eine genauere Definition der Kaufkraftparität gelten.“79 Die Frage nach der Normallage wird gestellt, wenn Partner mit dem gegebenen Wechselkurs nicht einverstanden sind. Sie wollen vermeiden, dass sich die angenommene „Unrichtigkeit“ des Wechselkurses sich nicht verfestigt, wenn man ihn mit der Kaufkraftparität fortschreibt. An einem Beispiel soll das erläutert werden. Zwar wollen China und die USA gegenwärtig (2013) nicht ein solches KKP-System schaffen, jedoch machen die USA den Chinesen schon seit Jahren den Vorwurf, sie würden die Wechselkurse CNY / USD so manipulieren, dass sie einen Abwertungs­ vorteil genießen und dadurch ihre Exporte begünstigen. Folgt man Gustav Cassel, dann muss man zunächst die Normallage des Wechselkurses CHY / USD ermitteln. Die Leistungsbilanz der USA weist im Allgemeinen, z. T. recht hohe, Defizite auf. Die chinesische Leistungsbilanz schließt meist mit Überschüs­ sen ab. Es ist also faktisch nicht möglich ein Jahr zu finden, in dem die Leistungsbilanzen der beiden Länder ausgeglichen sind. Einer solchen Kon­ stellation am nächsten kam das Jahr 1991. Damals wies die amerikanische Leistungsbilanz einen Überschuss von 3 Mrd. USD auf und die chinesische einen von 13 Mrd. USD. Man kann das Jahr 1991 somit als Normallage des Wechselkurses China / USA ansehen. Der tatsächliche Wechselkurs betrug in diesem Jahr 5,4342 CNY / USD. Dieser Wechselkurs aus der Normallage ist mit der Rate der Kaufkraftparitäten KKP fortzuschreiben. Der tatsächliche Wechselkurs CNY / USD stieg bis 1994 auf 8,45 an, also eine starke Abwertung der chinesischen Währung. Allerdings folgte dem auch der mit den Veränderungen der Kaufkraftparitäten fortgeschriebene Wechselkurs. Er erreicht 1994 8,19 CHY / USD. Das lag an starken, zwei­ stelligen, Preissteigerungen in China in den Jahren 1993 bis 1995. Im Jahre 1994 wurde mit einer Preissteigerungsrate von 25,5 % der Höhepunkt er­ reicht. In der Folgezeit bis 2004 stabilisierte die chinesische Zentralbank den Wechselkurs bei 8,28 CNY / USD. In den Jahren 1994 bis 1999 lag der tatsächliche Wechselkurs unter dem von den Kaufkraftparitäten geprägten Kurs. Das behinderte den chinesischen Export. Danach bis 2006 lag der tatsächliche Kurs über dem durch die Kaukraftparitäten bestimmten Wech­ selkurs. Das förderte den chinesischen Export. Es war der Druck der USA und anderer Länder auf China, der die chinesische Zentralbank veranlasste, /  USD zurückzunehmen. Der den tatsächlichen Kurs 2012 auf 6,23 CNY  79  Cassel

Gustav, Theoretische Sozialökonomie, 5. Auflage, Leipzig 1932, S. 456 f.

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KKP bestimmter Wechselkurs/ppp marked exchR Yuan/US-$

03 20

Wechselkurs Yuan/US-$

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Abbildung 23: Wechselkurse – tatsächliche und durch KKP bestimmte

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19

Source: Basiert auf Daten des IWF

Yuan

112 D. Freier globaler Leistungsaustausch



V. Das zweitwichtige Ziel: Kapitalverkehrsneutralität113

durch Kaufkraftparitäten definierte Wechselkurs erreichte 2012 sogar 8,40 CNY / USD. China hat in diesen Jahren also eine erhebliche Aufwertung seiner Währung akzeptiert. Das Modell der Normallage der Wechselkurse ist zur Bestimmung der festzulegenden Wechselkurse in einem Wechselkurssystem weniger geeig­ net, als das pragmatische Modell, das zu Beginn der Europäischen Wäh­ rungsunion verwendet wurde. Auch beim theoretischen Modell sind die Eingangskurse in ihrer Höhe von der Wahl des Jahres der Normallage ab­ hängig. Geht man nicht, wie in dem Beispiel, von 1991 aus, sondern von 1987 – damals war die chinesische Leistungsbilanz ausgeglichen, die usamerikanische wies allerdings ein hohes Defizit aus, so erreicht der mit den Veränderungen der Kaufkraftparitäten fortgeschriebene Kurs im Jahre 2012 7,72 CNY / USD. Er differiert also erheblich gegenüber dem Kurs dem von der Normallage 1991 fortgeschrieben wurde (8,40 CNY / USD). Ungeeignet zur Festlegung der Eingangskurse zur Währungsunion ist das theoretische Modell auch deshalb, weil sich kaum eine Normallage der Wechselkurse feststellen lässt, sobald mehr als zwei Länder sich zusammen­ schließen wollen. Die Europäische Währungsunion wurde mit elf Ländern gegründet. Es hat nie eine Situation gegeben, in der die Leistungsbilanzen aller elf Länder ausgeglichen waren. Eine Normallage der Wechselkurse ist überzeugend nicht herzustellen. Wenn in Staaten Asiens und Lateinamerikas Gedanken über Währungsunionen geäußert wurden, dann war stets die EWU mit ihrem pragmatischen Modell das Vorbild.

V. Das zweitwichtige Ziel: Kapitalverkehrsneutralität 1. Kapitalverkehrsneutrale Wechselkurse Um einen freien, ungestörten globalen Wirtschaftsverkehr zu ermögli­ chen, ist im monetären Bereich Handelsneutralität das wichtige Ziel. Wech­ selkurse, die den Veränderungen der Kaufkraftparitäten folgen, vermeiden, dass der Wechselkurs, neben dem Preis, den das Wirtschaftsunternehmen setzt, sich ein zweiter Preis bildet. Dieser zweite Preis beeinflusst den Han­ delsaustauscht. Er kann ihn, unabhängig von der Produktivität der Unter­ nehmen, beeinträchtigen oder fördern. Beides kann nicht gewünscht sein. Handelsneutralität der Wechselkurse bezieht sich grundsätzlich auf den Warenverkehr. Daneben aber gibt es einen umfangreichen Geld- und Kapi­ talverkehr. Auch er wirkt auf die Wechselkurse ein. So wie im Warenverkehr Handelsneutralität der Wechselkurse in einer globalen Welt verwirklicht werden muss, stellt sich auch im Kapitalverkehr die Frage nach der Kapi­ talverkehrsneutralität der Wechselkurse. Sie ist gegeben, wenn ein Inländer

114

D. Freier globaler Leistungsaustausch

bei einer Investition in bestimmte Anlageformen im Inland dieselben Erträ­ ge erzielt wie bei einer Investition im Ausland. Angenommen ein Europäer erhält für eine Dreimonatsgeldanlage in der EWU 4 %, während er in den USA 7 % erhält. Viele Europäer werden ihr Geld nicht mehr in der EWU, sondern in den USA anlegen. Den Mehrertrag % wird der Europäer aber nur erhalten, wenn der Wechsel­ von 3  kurs USD / EUR in den drei Monaten der Anlage unverändert bleibt. Das ist aber nicht zu erwarten. Anlagen in Amerika vorzunehmen, lässt in Frankfurt die Nachfrage nach USD steigen. In New York steigt das Angebot an anla­ gesuchenden Euro. Der EUR wertet ab und der USD auf. Wenn die Auf­ wertung des EUR nach drei Monaten 1 % beträgt, dann erhält der europäi­ sche Investor 7 % Zinsen abzüglich 1 % Verlust, wenn er seine US-Dollar in Euro zurück tauscht. Die Anlage in den USA hat sich mit netto 6 % ge­ genüber einem Zins in der EWU von 4 % gelohnt. Die Entwicklung geht weiter. Europäer investieren in den USA. Damit nimmt die Aufwertung des Euro weiter zu. Sie kommt zum Stehen, wenn die Aufwertung des Euro der Zinsdifferenz zwischen USA und EWU entspricht, also bei 3 % liegt. Jetzt lautet die Rechnung des europäischen Anlegers: erhaltener Zins der USAAnlage von 7 %, abzüglich des Aufwertungsverlustes des Euro von 3 %. Das ergibt netto 4 %. Damit entspricht das Nettoentgeld der amerikanischen Anlage dem Zinssatz, den ein Investor in der EWU erhält. Die hier geschil­ derten Vorgänge vollziehen sich in sehr kurzen Zeitabständen. Kapitalverkehrsneutralität ist gegeben, wenn sich die Wechselkurse ent­ sprechend den Zinsdifferenzen zweier Länder, also entsprechend der Zins­ parität, bewegen. Da es dann vom Ertrag her gesehen, gleichgültig ist, ob man liquide Mittel in dem einen oder dem anderen Land anlegt, entfallen Kapitalströme, die Wechselkurse verändern können. Handelsneutralität schützt die Wirtschaft vor den Auswirkungen eines zweiten Preises und Kapitalverkehrsneutralität schützt vor zinsorientierten, möglicherweise erra­ tischen Kapitalbewegungen. 2. Zinsparität und Kaufkraftparität eng verbunden Kapitalverkehrsneutralität der Wechselkurse ist eine weitere Bedingung, um störende Einflüsse der Wechselkurse zu minimieren. So liegt die Frage nahe, ob es notwendig ist, die Wechselkurse oder die Zinssätze im Heimat­ land so zu steuern, das die Zinsparität gegenüber dem Partnerland gewahrt ist. Das ist nicht erforderlich. Grund dafür ist, dass die Zentralbanken ihre Zinssätze den tatsächlichen oder erwarteten Preisveränderungen anpassen. So besteht eine weitgehende Parallelität zwischen Preisveränderungen und Zinsveränderungen. Wenn die Wechselkurse sich ebenso wie die Kaufkraft­



V. Das zweitwichtige Ziel: Kapitalverkehrsneutralität115 20,0

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in % p. a.

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2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

Source: EZB

Wechselkurs USD/EUR Kaufkraftparität (Preisdiff.) USA-EWU Zinsparität (Zinsdifferenz) USA-EWU

Cl.K.

Abbildung 24: Wechselkurse sowie Kaufkraft- und Zinsparitäten USA / EWU

paritäten verändern, dann entsprechen den Wechselkursentwicklungen weit­ gehend auch Veränderungen der Zinsparitäten. Das Schaubild „Wechselkurse sowie Kaufkraft- und Zinsparitäten USAEWU“ lässt den engen Zusammenhang von Kaufkraftparität und Zinsparität erkennen. Wenn die Kaufkraftparitäten sich nach unten bewegten, taten das grundsätzlich auch die Zinsparitäten. Umgekehrt nahmen Kaufkraftparitäten und Zinsparitäten weitgehend gleichzeitig zu. In der Weltfinanzkrise und der nachfolgenden konjunkturellen Schwäche, haben die nahe Null verlau­ fenden Leitzinsen diesen Zusammenhang etwas, aber nicht grundsätzlich gelockert. Das Schaubild zeigt auch die erratischen Schwankungen des Dollarkur­ ses. Eine wichtige Ursache ist, dass der Devisenkursspekulation die Orien­ tierung fehlte, wohin der Wechselkurs sich bewegen würde. Wenn man die Teilnehmer am Devisenmarkt nicht überzeugt, dass die Kurse den Kauf­ kraftparitäten folgen, dann setzt sich die Spekulation ihre Wechselkurs­ erwartungen selbst. Die Wechselkursveränderungen gehen dann über die

116

D. Freier globaler Leistungsaustausch

Veränderung der Kaufkraftparitäten hinaus oder bleiben darunter und stören dadurch den globalen Wirtschaftsverkehr. Die parallel verlaufenden Kaufkraftparitäten und Zinsparitäten verursa­ chen die Desorientierung des Devisenhandels. Man stellt fest, in Amerika steigen die Preise schneller als in Europa. Das signalisiert, dass der USD abwerten und der Euro aufwerten muss. Nun stellt man allerdings fest, dass wegen der höheren Preissteigerungen in den USA, die Zentralbank ihren Leitzins gegenüber dem der europäischen Zentralbank anhebt. Das signali­ siert, dass der USD aufwerten und der Euro abwerten muss. Wie soll sich nun der Devisenhändler entscheiden? Er sieht auf dem Bildschirm und so­ bald eine Richtung nach oben oder unten erkennbar wird, folgt er dem Trend. Da aber ein bestimmter Kurs an dem die Entwicklung zu Ende kommt, nicht ersichtlich ist, geht die Entwicklung soweit, bis die meisten erkennen, dass der erreichte Kurs gegenüber der realen Entwicklung unrea­ listisch geworden ist. Dann kippt die Entwicklung und verläuft in die ent­ gegengesetzte Richtung. Sobald der Devisenmarkt davon überzeugt wird, dass die Devisenkurse den Kaukraftparitäten folgen, muss der Devisenhändler nicht mehr entschei­ den, ob er der Kaufkraftparität oder der Zinsparität folgen sollte. Vorgege­ ben ist mit der Veränderung der Kaufkraftparität ein Ziel. Nachfrage- oder Angebotsüberhänge, die den Kurs von dem Pfad der Kaufkraftparität abwei­ chen lassen könnten, werden von der Spekulation korrigiert. Damit stabili­ siert sie die Kursentwicklung.

VI. Regionale Integrationsräume, ein Weg zu globalen Lösungen 1. Integrationsformen allgemein Wenn es die technische Entwicklung der Wirtschaft ermöglicht, über na­ tionale Grenzen hinweg, wirtschaftlich aktiv zu sein, dann sollte die Politik in den Nationalstaaten dafür sorgen, Hindernisse, die einem freien Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital im Wege stehen, möglichst zu beseitigen. Am Ende würde das bedeuten, dass weder Zölle noch administ­ rative Beschränkungen den globalen Wirtschaftsaustauch beeinträchtigen. Wenn schon nicht eine einheitliche globale Währung, so doch zumindest handelsneutrale Wechselkurse, würden auch einen unbehinderten globalen Kapitalverkehr ermöglichen. Annähernd einheitliche wirtschaftliche Verhält­ nisse in den Ländern wären wünschenswert. Man hat zu konstatieren, die globale Welt ist von solchen Rahmenbedin­ gungen noch sehr weit entfernt. Sie zu schaffen, bedeutet, dass die Natio­



VI. Regionale Integrationsräume, ein Weg zu globalen Lösungen117

nalstaaten erhebliche Teile ihrer Souveränität abgeben müssten. Eigentlich müssten sie sie, an globale Institutionen abtreten. Aber sie sind bisher nicht geschaffen worden. Vorhandene globale Institutionen, wie der Internationale Währungsfonds, die Weltbank oder die Welthandelsorganisationen haben nicht so weit gespannte Aufgaben. Andererseits machen Wirtschaftsunter­ nehmen deutlich, dass sie wünschen, bei der wirtschaftlichen Globalisierung weiter voranzukommen.  Der Ausweg, den man gefunden hat, ist die Schaffung regionaler Integ­ rationsräume. Wenn man sich auf weltweite Regeln nicht oder nur unzu­ reichend einigen kann, versuchen Länder, die regional weitgehend zusam­ menhängen, ihre wirtschaftlichen Transaktionen stärker zu liberalisieren. Grundsätzlich sind drei Formen einer solchen regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu unterscheiden: Freihandelszonen, Zollunionen sowie Wirtschafts- und Währungsunionen. Vereinbaren einige Länder eine Freihandelszone, dann werden Zölle in­ nerhalb der Zone abgeschafft und andere Handelshemmnisse, wie Einfuhroder Ausfuhrkontingente, veterinärpolizeiliche Regelungen u. a., beseitigt. Allerdings behalten die Mitgliedsländer der Freihandelszone ihre individu­ ellen Zollsätze nach außen, gegenüber Nichtmitgliedsländern, bei. Das verursacht allerdings bei den Mitgliedsländern Probleme. Wenn ein Unter­ nehmen aus einem dritten Land Waren in ein Land der Freihandelszone exportieren will, dann liefert es diese Waren zunächst in das Mitgliedsland, das die niedrigsten Zölle verlangt. Es kann dann diese Waren von dort in ein anderes Mitgliedsland zollfrei weiter befördern, das hohe Außenzölle aufweist. Das Ergebnis ist eine Verzerrung der Warenströme. Mitgliedslän­ der mit hohen Außenzöllen werden von Drittländern gemieden. Die Einfuhr in die Freihandelszone vollzieht sich über das Land mit den niedrigsten Außenzöllen. Vermeiden lässt sich das nur mit einem erheblichen bürokra­ tischen Aufwand. Das exportierende Unternehmen muss nachweisen, über welche Grenze es die Waren in die Freihandelszone eingeführt hat und in welchem Mitgliedsland die Waren letztlich abgesetzt werden. Zollnachzah­ lungen müssen eventuell entrichtet werden. Dieser Aufwand führt häufig zur nächsten regionalen Integrationsform, der Zollunion. Zunächst ist eine Zollunion auch eine Freihandelszone, also ein Raum ohne Zölle und Handelshemmnisse innerhalb der Union. Hinzu kommt, dass die Außenzölle der Mitgliedsländer vereinheitlicht werden. Wenn ein Unter­ nehmen aus einem dritten Land Waren in ein Land der Zollunion exportie­ ren will, dann muss er keine Umwege mehr einschlagen, sondern kann di­ rekt in das Land liefern, in dem er seine Waren absetzen will. Die Belastung durch Zölle und andere Hindernisse ist gleich, welchen Weg der Exporteuer in die Zollunion auch wählt.

118

D. Freier globaler Leistungsaustausch

Abbildung 25: Formen von Integrationsräumen

Der nächste Integrationsschritt wäre der von einer Zollunion in eine Wirt­ schaftsunion. Sie umfasst eine Zollunion und damit eine Freihandelszone. Hinzu kommt, dass die Wirtschaftspolitik, insbesondere die Finanzpolitik vergemeinschaftet wird. Sie wird von einem dazu geschaffenen Gremium, in dem die Mitgliedsländer vertreten sind, wahrgenommen. Ein gewisser Druck auf die Mitgliedsländer, sich von einer Zollunion in Richtung auf eine Wirtschaftsunion zu bewegen, entsteht durch die Vereinheitlichung der Zollsätze. Dadurch verändern sich auch die Salden der Leistungsbilanz. Das hat Rückwirkungen auf den konjunkturellen Verlauf in den Mitgliedslän­ dern. Durch den dadurch entstehenden Wunsch, sich dann wirtschaftspoli­ tisch abzusprechen, nähert man sich der Wirtschaftsunion. Allerdings müs­ sen Länder, die sich in einer Wirtschaftsunion zusammenschließen wollen, auf sehr viele Souveränitätsrechte, zugunsten der Wirtschaftsunion, verzich­ ten, insbesondere in der Finanzpolitik. Sie aber und die damit verbundenen Haushaltsbeschlüsse, werden als vornehmste Aufgabe nationaler Parlamente angesehen. So tun sich auch integrationswillige Länder schwer, sich in einer Wirtschaftsunion zusammen zu schließen. Als besonders störend in einer Zollunion wird empfunden, wenn die Mit­ gliedsländer noch eigene Währungen besitzen, die frei schwanken können. Es entstehen dann selbst innerhalb einer Zollunion Handelshemmnisse durch



VI. Regionale Integrationsräume, ein Weg zu globalen Lösungen119

volatile Wechselkurse. Man kann sich dagegen durch Termingeschäfte absi­ chern; aber das verursacht Kosten. Will man solche negativen Effekte ver­ meiden, geht man häufig den Weg von einer Zollunion, unter Umgehung der Wirtschaftsunion, direkt in eine Währungsunion. Währungsunionen kommen auf drei Arten zustande. Einmal schließen sich mehrere Länder zusammen und einigen sich auf eine gemeinsame Währung. Zum anderen vereinbaren einige Länder, jedes für sich, feste, aber nicht veränderbare Wechselkurse gegenüber einer dritten Währung festzulegen. Damit bestehen zwischen den Mitgliedsländern einer solchen Währungsunion ebenfalls feste und unveränderbare Wechselkurse. Schließ­ lich können Länder auf eine eigene Währung verzichten und die Währung einer Währungsunion oder eines dritten Landes übernehmen. Dabei handelt es sich um kleinere Länder, die die Währung eines größeren Landes be­ nutzen. 2. Integrationsformen in der globalen Welt In der Welt schließen sich immer mehr Länder zu Integrationsräumen zusammen. Das beginnt bei bilateralen Freihandelszonen, setzt sich fort über größere Freihandelszonen, in denen mehrere Länder zusammenge­ schlossen sind, über Zollunionen bis zu Währungsunionen. Es geht bei diesen Bemühungen darum, sich im globalen Wettbewerb, konkurrenzfähig zu halten und sich gegenüber den drei riesigen Wirtschafts- und Währungs­ unionen wirtschaftlich zu behaupten. Diese drei globalen Wettbewerber sind die Volkrepublik China (1352 Mio. Menschen), Indien (1241 Mio. Men­ schen) und die Vereinigten Staaten von Amerika (312 Mio. Menschen). Europa schaltet sich in diesen Wettbewerb mit der Europäischen Wäh­ rungsunion EWU (332 Mio. Menschen) ein. Allerdings ist die Europäische Wirtschaftsunion noch nicht vollständig verwirklicht. Vor allem fehlt es an einer einheitlichen Finanzpolitik. Ersatzweise hat man die Mitgliedsländer verpflichtet, die Defizite ihrer öffentlichen Haushalte nicht über 3 % und die öffentliche Gesamtschuld nicht über 60 % steigen zu lassen, gemessen am nominalen Bruttoinlandsprodukt. Sinn dieser Begrenzungen ist es zu verhin­ dern, dass nicht jedes Mitgliedsland eine unangemessene, das Gleichgewicht in der EWU störende Finanzpolitik betreibt. Die EWU umfasst (Mitte 2013) 17 Länder mit der gemeinsamen Wäh­ rung Euro. Das Euro-Währungsgebiet geht darüber allerdings erheblich hinaus. Es umfasst noch weitere 28 Länder, in denen der Euro direktes oder indirektes Zahlungsmittel ist. In Europa haben sich, neben der EWU, 10 Staaten an den Euro gebunden. Das sind Andorra, der Kosovo, Mona­ co, Montenegro, San Marino und der Vatikanstaat, die über keine eigene

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D. Freier globaler Leistungsaustausch

Währung verfügen. Darüber hinaus haben sich Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Lettland und Litauen durch feste, unveränderbare Wechselkurse an den Euro gebunden. In Afrika gehören 16 Länder zum Euro-Währungs­ raum. Sie haben sich alle durch feste, unveränderliche Wechselkurse an den Euro gebunden. Dazu gehören die acht Länder der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion, sechs Länder der Zentralafrikanischen Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft sowie Kap Verde und Sao Tomé und Principe. Im Pazifik sind 2 Länder mit dem Euro durch feste unver­ änderliche Paritäten verbunden, die Union der Komoren und Neukaledo­ nien. Mit diesen 45 Ländern des Euro-Währungsraumes erlangt dieses Ge­ biet eine beachtliche Stellung im Wettbewerb in der globalen Welt. Zwei der drei Arten eines Zusammenschlusses zu einer Währungsunion finden sich auch bei den USA. Einmal haben sich 8 Staaten der Ostkari­ bischen Währungsunion, die den Ostkaribischen Dollar als gemeinsame Währung eingeführt haben, mit einem festen Wechselkurs an den US-Dol­ lar gebunden. Eine Reihe anderer einzelner Staaten haben ebenfalls ihre Währungen an den US-Dollar durch feste Wechselkurse gebunden. Ferner benutzen Staaten Mittelamerikas und des Pazifik, die keine eigene Wäh­ rung besitzen, den US-Dollar als Landeswährung. Es gibt offiziell keine Staaten, die sich zu einer Währungsunion mit den USA zusammenge­ schlossen haben. Eine De-facto-Währungsunion bilden die 6 Staaten des Golf-Koopera­ tionsrates CCG. Das sind Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Ihre Währungen sind durch feste Wech­ selkurse gegenüber dem US-Dollar auch untereinander fest verbunden. Die gemeinsame Währung Chalidschi konnte bis Mitte 2013 aber nicht einge­ führt werden. Zwei Ereignisse sind dafür verantwortlich. Während der Weltfinanzkrise konnte Kuwait seine feste Parität zum US-Dollar nicht aufrechterhalten. Es schieht damit aus der De-facto-Währungsunion aus. Außerdem konnte man sich über den Sitz der gemeinsamen Zentralbank nicht einigen. Saudi Arabien als größtes CCG-Land beanspruchte ihn für Riad. Die Vereinigten Arabischen Emirate wollten ihn in Abu Dhabi sehen, einem wirtschaftlich bedeutendem Platz. Die teilnehmenden Länder wollen die noch bestehenden Probleme bis 2015 lösen. Es ist politisch pikant, dass sich drei Nachbarn der CCG-Länder durch feste Wechselkurse dem CCGRaum angeschlossen haben. Das sind Irak, Iran und der Jemen, wobei der Jemen gelegentliche Korrekturen an seinem Wechselkurs vornimmt. Die Südafrikanische Währungsunion umfasst neben Südafrika die Staaten Lesotho, Namibia und Swasiland. Alle diese Länder haben ihre eigene Wäh­ rung, die auch gesetzliches Zahlungsmittel ist. Allerdings laufen in diesen Ländern, außer in Südafrika, höchstens Münzen um. Die Währungsunion



VI. Regionale Integrationsräume, ein Weg zu globalen Lösungen121

besteht darin, dass in diesen Ländern auch der südafrikanische Rand gesetz­ liches Zahlungsmittel ist. Weitere wichtige, schon existierende Integrationsräume sind in Nord­ amerika die NAFTA, die North American Free Trade Area. Sie umfasst, Kanada, Mexiko und die USA. Bedeutsam für die globale Entwicklung sind zwei Zollunionen in Südamerika. Einmal der Mercosur, der gemein­ same Markt Südamerikas mit 5 Mitgliedern und die Andengemeinchaft mit 4 Mitgliedern. Beide Zollunionen haben sich 2004 zur UNASUR, der Union Südamerikanischer Staaten zusammengeschlossen. Beigetreten sind noch 3 weitere Länder, so dass jetzt alle 12 südamerikanischen Länder in einem Integrationsraum zusammengeschlossen sind. Der UNASUR strebt eine der EU vergleichbare Integration mit gemeinsamer Währung, gemein­ samen Parlament und Reisepässen an. In Asien sind die wichtigsten Integrationsräume die ASEAN, die Associa­ tion of Southeast Asian Nations und die ASEAN + 6. Die ASEAN umfasst 10 südostasiatische Länder. Sie bilden eine Freihandelszone. Es bestehen darüber hinaus auch noch Abkommen über offene Dienstleistungsmärkte und die Förderung von Direktinvestitionen. Angestrebt wird ein gemeinsa­ mer Wirtschaftsraum nach europäischem Vorbild. Die ASEAN-Staaten werden durch ein Gremium der ASEAN + 6 ergänzt. Diese 6 Staaten sind China, Indien, Japan, Süd-Korea, Australien und Neuseeland. Alle diese Staaten sind dabei bilaterale Freihandelsabkommen zu schließen oder einen einzigen Freihandelsraum dieser ASEAN + 6 zu schaffen. Das ist eine Her­ ausforderung auch für Europa.

Zum Schluss Man diskutiert in der Öffentlichkeit über die Demokratie und das Verbot radikaler Parteien. Vom ökonomischen Standpunkt heißt die Demokratie zu sichern und radikale Parteien zu minimieren, nicht mehr und nicht weniger, als dass alles getan werden muss, eine Vollbeschäftigungsquote von 3 % zu realisieren. Man diskutiert in der Öffentlichkeit, ob die Ersparnisse, die man gebildet hat, einem erhalten bleiben. Natürlich spielen dabei die Bankenaufsicht und die Einlagen- und die Institutssicherung eine erhebliche Rolle. Vom ökono­ mischen Standpunkt heißt den Wert der Ersparnisse zu erhalten, Vertrauen zu gewinnen, in dem alles getan werden muss, die Preissteigerungsrate der Konsumentenpreise auf 2 % zu begrenzen. Man diskutiert in der Öffentlichkeit, ob es denn nötig ist, hohe Beträge aufzuwenden, um eine Wirtschafts- und Währungsunion zu haben. Man darf nicht übersehen, dass die technische Entwicklung dazu geführt hat, dass einzelne Wirtschaftsunternehmen global produzieren und global ihre Pro­ dukte absetzen. Wir brauchen einen globalen, nach einheitlichen Regeln funktionierenden Markt. Ein Zwischenschritt sind Integrationsräume, wie Wirtschafts- und Währungsunionen. Die Wettbewerbsfähigkeit verlangt, dass Europa dabei nicht hinterherhinkt.

Sachregister Andenpakt  121 Angebot an Arbeitskräften  28 f. Anleihezinsen  66, 75 Arbeitslosenquote  22 ff., 43 – Schwellenwert  25 f. Arbeitslosigkeit  5, 15 ff., 23 ff. – saisonale und friktionelle  26 f. Arbeitsplätze  21 Arbeitspotenzial  28 Arbeitsproduktivität  28 f., 62 f. ASEAN, ASEAN+6  121 Außenzölle  117 Bank von England  53 f. Bank von Japan  52 f., 54 Bank von Kanada  53 f. Bankenaufsicht  13, 122 Bargeldumlauf  64 Beschäftigte  28 Börsenkrach „schwarzer Montag“  88 Bruttoinlandsprodukt  28 f., 32 ff., 64 ff. Carry trade-Geschäfte  106 CDS Credit Default Swaps  72 f. – Kaskaden an CDS  73 Cobb-Douglas-Produktionsfunktion  28 Deflator  64, 68 deflatorische Entwicklung  62 Desorientierung des Devisenhandels  116 Devisenkurs  89 f. Devisenkursarbitrage  90 Devisenkursspekulation  105, 115 Devisenswapgeschäfte  74 dezentrale Lohnabschlüsse  22 Dollarleihen  74

Eingangskurs  109 ff. Einkommen  17 f. Einlagenfazilität  70 ff., 79 f. ELA-Programme  76 elektronische Revolution  5, 14 Empfehlungen  26, 40 f. EONIA  65 f. erratische Wechselkursschwankungen  96, 105, 115 Ersparnisse  17 f., 45 ff., 122 EURO – ECU – USD  109 Europäische Währungsunion  119 f. Europäischer Stabilitätsmechanismus EMS  76 Europäisches Semester  39 ff. Euroraum  60 Euro-Umrechnungskurse  109 Federal Openmarket Committee  50 Festzinssatz  69 Finanzpolitik  34, 39, 118 f. Fiskalvertrag  37 f. Flugzeuge  14 Freihandelszone  14, 117 ff. Futures  83 G20  5, 21, 83, 87 f., 105 GATT und GATS  81 Geldmarkt  73 Geldmarktzins  63 ff., 69 ff. – Obergrenze / Untergrenze  70 f. Geldmenge  55, 64 Geldmengenziele  85 f. Geldvermögen  45 gemeinsame Wirtschaftspolitik  38 gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht  26

124 Sachregister gesellschaftlicher Frieden  20, 24, 27 Gewerkschaften  17 globale Wettbewerber  119 globaler Markt  5 globales Dorf  13, 81 Globalisierung  13 f., 19 Golf-Kooperationsrat  120 Handelshindernisse  19 handelsneutrale Wechselkurse  102 ff., 116 Hauptrefinanzierungsgeschäfte  73 f., 78 Hindenburg  15 Hitler  15, 18 Hyperinflation  15, 18 Indikatoren  26 industrielle Revolution  14 Inflationsziel  85 f. Informationssystem  81 Integrationsräume  14, 116 ff. Interessenkonflikte  31, 57 f. Internationaler Währungsfonds  76, 117 Intervention  106 ff. Jahreswachstumsbericht  39 ff. Jugendarbeitslosigkeit  24 f., 41 Kapitalbilanz  97 f. Kapitalintensität  28 Kapitalproduktivität  28 Kapitalverkehr  19 Kapitalverkehrsneutralität der Wechsel­ kurse  113 ff. Kaufkraftparität  91 ff., 101 ff., 111 ff. Kaufkraftparitäten-Wechselkursstrategie KKPS  106 ff. Konjunkturprogramme  31 ff., 46 Kontingente  5 Konvergenzprogramme  40 f. Koordinierung der Wirtschaftspolitik  14 f., 26, 36 Kreditausfallversicherung  72

Kredite  55, 66 f., 69, 72 f., 78 ff. Kreditzinsen  65 f., 75 Kündigungsschutz  22 f. Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte  74, 79 f. längerfristige Zinsen  76 f. Lebensstandard  17 Leistungsbilanz  96 ff., 118 Leitlinien  39 f. Leitzins  63, 66, 68 ff. Libor  51 f. Liquiditätspolitik  63 ff. Liquiditätsüberhang  107 Löhne  17 Lohnstückkosten  27 Louvre-Abkommen  88 Makroökonomische Ungleichgewichte  26, 41 ff. Markt  5, 13 Marktfaktoren  64 f., 79 ff. Mengentender  71 Menschenrechte  20, 27 Mercosur  121 Mindestbietungssatz  66, 68 Mindestlöhne  23 Mindestreserven  77 ff. Mindestreservepolitik  64 ff. Mitteleinsatz  58 monetäre Aggregate  31 monetäre Politik  54, 63 f., 67 – und Wechselkurse  99 f. Nachfrage nach Arbeitskräften  27 ff. NAFTA  121 nationale Grenzen  81 ff. Normallage des Wechselkurses  109 ff. Notprogramme  76 NSDAP  15 f., 18 f. Offenmarktgeschäfte  69, 73 ff., 80 öffentliche Ausgaben / Einnahmen  31

Sachregister125 öffentliche Haushalte  32, 34 – Sparen  36 öffentliche Schulden  23, 30 ff., 94 ff. – 3 % / 60 %-Regeln  34 ff. – Konzept ausgeglichener Haushalt  44 f. – Schuldenabbau  45 f. Optionen  83 Ostkaribische Währungsunion  120 Outright Monetary Transactions OMT  74 f. Plaza-Abkommen  87 f. Politikverdrossenheit  24 potenzialorientierte Verstetigungs­ strategie  53 Preisniveaustabilität  61 Preisrigidität  62 Preisstabilität  5, 15 ff., 49 ff., 61 ff., 107, 122 – normative Zielsetzung  61 f. Preisveränderungen und Wechselkurse  90 ff. Produktionspotenzial  28 ff., 32 f., 67 f. Quantitative Easing QE  77 Quantitätstheorie  54 f., 85

Spekulation  96, 105 ff. – Erwartungen  108 Spekulationsgewinne  107 spekulative Transaktionen  88 Spitzenrefinanzierungsfazilität  70 ff., 79 f. staatliche Beschäftigungspolitik  22, 54 staatliche Programme  31 f. staatliches Handeln  30 ff. Staatsschulden  5, 119 Stabilitäts- und Wachstumsgesetz  29 f. Stabilitätsprogramme  40 f. Stabilitätsrat  38 Stagflation  58 ständige Fazilitäten  70 ff. Streikrecht  23 Strohfeuer  31 f. Südafrikanische Währungsunion  120 f. Swapsatz  94 Tarifverträge  23 Termingeschäft  83, 93 f. Tinbergen-Regel  56 f. totale Faktorproduktivität  28 Transmission  75 TRIPS  82 Twist Operations  77

Radikale Gruppierungen  25 Ratings  75 Referenzwerte  34 ff. Renteneintrittsalter  22 Reservebasis  77 Risikoprämien  75

Unabhängigkeit  58 ff. UNASUR  121 – Konzept  22 unvermeidliche Preissteigerungsrate  63, 67

Sachverständigenrat  23 saisonbedingte Preisveränderungen  62 Schuldenbremse  37 f. Schuldverschreibungen  74 Schwellenwerte  25 f., 42 ff. Scoreboard  42 f. Souveränität  13, 116, 118 Sozialversicherungssysteme  22

Verbraucherpreise  64 Verkehrssysteme  5 Versicherungsaufsicht  13 Verträge von Versailles und St. Germain  15 Vollbeschäftigung  5, 15 ff., 20 ff., 48 ff., 56, 122 – Institution  30 – Konzept des BMWT  22

126 Sachregister – quantitative Zielsetzung  26 f. – Strategie  27 ff., 52 Vollbeschäftigungspolitik  30 ff., 48 ff. Vorleistungen  67 Währungen  5, 19, 119 Währungskorb  108 f. Währungskrieg  100 Währungspolitik  14 Währungsunion  14, 34, 39, 117 ff. Warnmechanismusbericht  41 ff. Wechselkurse  5, 19, 83 ff., 87 ff., 101 ff. Wechselkurssystem  105 f. Wechselkursziel  85 f. Weltfinanzkrise  13, 23, 50, 78 Welthandelsorganisation WTO  14, 81 f., 117 – Verhandlungsrunden  82 Wirtschaftspolitik  5, 14 wirtschaftspolitische Koordinierung  89 wirtschaftspolitische Ziele  15 ff. Wirtschaftsunion  26, 34, 39, 117 ff. Wirtschaftswachstum  22 f., 48, 80 – angemessenes  27 ff. – unangemessenes  29 – und öffentliche Finanzen  32 f.

Zahlungsbilanz  97 f. – und Wechselkurse  90 Zeitarbeitsfirmen  21 f. Zentralbank  5, 30, 48 ff. – Europäische  49 – Kerngeschäfte  56 f. – Unabhängigkeit  58 ff. – US-amerikanische  48 ff., 54 –– quantitative Ziele  50 ff. – Ziel Vollbeschäftigung und Preis­ stabilität  49 ff., 55 f. Zentralbankgeld  73 f. Zielkatalog  21, 51 ff. Zielkonflikt  51 Zielzonen  88 Zinsarbitrage  95 Zinsparität  114 ff. Zinsparitätentheorie  96 Zinspolitik  63 ff. Zinssätze  17 f., 31, 52, 56, 63 ff. Zinsstruktur  66, 75 Zinstender  71, 74 Zinsveränderungen und Wechselkurse  90, 93 ff. Zölle  5, 117 Zollunion  14, 117 ff. zweiter Preis  103, 113

Lebenslauf Claus Köhler war im Kreditgeschäft tätig. Er war Mitglied des Vorstandes einer deutschen Finanzierungsgesellschaft und in Personalunion Mitglied des Verwaltungsrats einer Schweizer Finanzholding. Nach seiner Habilitation übernahm er einen Lehrstuhl für Volkwirtschafts­ lehre an der Universität Hannover und war Mitglied des Sachverständigen­ rats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Es folgte eine Tätigkeit als Mitglied des Direktoriums und des Zentral­ bankrats der Deutschen Bundesbank. Danach war er Vorsitzender des Fi­ nanzausschusses im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt und der Bundes­ anstalt für Vereinigungsbedingte Sonderaufgaben. Schließlich war er Mitglied eines Board of Directors zweier Investment­ fonds in New York sowie Mitglied eines Advisory Panels der Zentralbank des Sultanats Oman.