Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik: Studien und Konzepte zur sozialen Marktwirtschaft und zur europäischen Integration [2., unveränd. Aufl.] 9783258025155, 3258025150

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Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik: Studien und Konzepte zur sozialen Marktwirtschaft und zur europäischen Integration [2., unveränd. Aufl.]
 9783258025155, 3258025150

Table of contents :
Wirtschaftsordnung und W irtschaftspolitik
Vorwort
Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft*
Die Wirtschaftsordnungen sozial gesehen*
Abhängigkeit und Selbständigkeit in den Wirtschaftsordnungen*
Stil und Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft*
Soziale Marktwirtschaft*
Dic Soziale Marktwirtschaft nach einem Jahrzehnt ihrer Erprobung*
Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft*
Das gesellschaftspolitische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft*
Fragen der europäischen Integration*
Institutionelle Fragen der Europäischen Konjunkturpolitik*
Gedanken zu einem Kodex des richtigen konjunkturpolitischen Verhaltens*
Zur Frage der Assoziierung europäischer Staaten an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft*
Finanz- und handelspolitische Fragen der Beziehungen Europas zu Lateinamerika*
Europäische Konjunkturpolitik*
Dic Wirtschaftsordnung des Gemeinsamen Marktes*
Plan zur Errichtung einer Europäischen Zollunion*
Vorschlag zur Stärkung der politischen Kooperation in Europa*
Konzept für Verhandlungen zwischen der EWG und der EFTA*
Konzeption für die künftige europäische Integration*
Wichtigste Veröffentlichungen
Beiträge zur Wirtschaftspolitik
Sozioökonomische Forschungen

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Alfred Müller-Armack

Wirtschaftsordnung und Wirtschafts­ politik

»Beiträge zur Wirtschaftspolitik« fe n d 4 Herausgegeben von Professor Dr. Egon Tuchtfeldt

Alfred Müller-Armack

Wirtschaftsordnung und W irtschaftspolitik Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration

Zweite, unveränderte Auflage

Verlag Paul Haupt Bern und Stuttgart

ISBN 3-258-02515-0 Copyright © 1976 by Paul Haupt Bern Alle Rechte Vorbehalten Herstellung im Drudehaus Rombach+Co GmbH, Freiburg im Breisgau Printed in Germany

Vorwort

9

W irtschaftsordnungspolitik

Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft (1946) Einleitung I. Die Bewährungsprobe der Wirtschaftslenkung 1. Die Wirtschaftsordnungen im Wechsel der geschichtlichen Lage 2. Ideale der Wirtschaftslenkung 3. Die Lenkung, wirtschaftlich gesehen a) Die Grundform der Wirtschaftslenkung b) Der Konsument c) Betrieb und Unternehmer d) Der Arbeiter 4. Vollbeschäftigung und Konjunkturpolitik 5. Die Lenkung des Außenhandels 6. Die Sicherung des technischen Fortschritts 7. Die Bewährung in der Kriegswirtschaft 8. Bilanz der Lenkung II. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

Soziale Marktwirtschaft Das Grundproblem der heutigen Wirtschaftspolitik Der Sinn der Marktwirtschaft Zur Beurteilung der liberalen Wirtschaft Die Notwendigkeit einer neuen wirtschaftspolitischen Form Prinzipien einer gesteuerten Marktwirtschaft Wettbewerbspolitik Preispolitik Gestaltung der Wirtschaftsstruktur Sozialpolitik Ordnung der Bau- und Wohnungswirtschaft Beeinflussung der Betriebsstruktur Außenhandelspolitik Geld-, Kredit- und Konjunkturpolitik Abschließendes

19 19 21 21 29 33 33 34 39 47 51 55 65 69 73 78 78 88 99 108 111 116 120 126 129 134 145 154 159 167

Die Wirtschaftsordnungen sozial gesehen (1948)

171

I. Das Problem und sein geschichtlicher Hintergrund II. Die soziale Bilanz der Wirtschaftslenkung III. Der utopische Ansatz IV. Zur Beurteilung der bisherigen Marktwirtschaft V. Umrisse einer Sozialen Marktwirtschaft

171 177 186 192 195

Abhängigkeit und Selbständigkeit in den Wirtschaftsordnungen (1951)

201

I. II. III. 1. 2. 3. 4. IV. V. VI.

Das Vordringen soziologischer Betrachtung in der Theorie der Wirtschaftsordnungen 201 Soziologische Form und Wirtschaftsordnung 203 Die soziale Struktur der einzelnen Wirtschaftsordnungen 205 Die liberale Marktwirtschaft 206 Die vermachtete Marktwirtschaft 209 Die antimarktwirtschaftliche Wirtschaftslenkung 210 Die zentrale Verwaltungswirtschaft 211 Abhängigkeit und Selbständigkeit in der gegenwärtigen Wirtschaftssituation 213 Grundsätzliche Fragen 220 Zur Frage der sozialen Gestaltung 226

Stil und Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft (1952)

231

Soziale Marktwirtschaft (1956)

243

I. II.

Begriff Soziale Marktwirtschaft als wirtschaftspolitisches System

Die Soziale Marktwirtschaft nach einem Jahrzehnt ihrer Erprobung (1959) I. Zur Genesis der Sozialen Marktwirtschaft II. Marktwirtschaft und Neoliberalismus III. Soziale Marktwirtschaft - eine neue Synthese IV. Die Stileinheit V. Ergebnisse der Sozialen Marktwirtschaft VI. Argumente gegen die Soziale Marktwirtschaft VII. Die Zukunftsaufgaben

Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft. Ihre Ergänzung durch das Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik (1960) I. Die Ausgangslage II. Gesellschaftspolitische Probleme III. Das Prinzip einer neuen Gesellschaftspolitik IV. Gesellschaftspolitische Ziele V. Aufgaben des Staates

244 245

251 251 253 255 257 259 260 262

267 267 270 273 275 286

VI.

Die Sicherung der freien Ordnung als wirtschafte- und gesellschaftspolitische Aufgabe Zusammenfassende Thesen

288 289

Das gesellschaftspolitische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft (1962)

293

Theorie der Sozialen Marktwirtschaft und andere Wirtschaftslehren Der Stil der Sozialen Marktwirtschaft Gesellschaftspolitische Ziele der Sozialen Marktwirtschaft Mittel einer neuen Gesellschaftspolitik Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft Soziale Marktwirtschaft und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

296 299 301 306 310 313

I nternationale W irtschaftspolitik Studien

Fragen der europäischen Integration (1957) Institutioneile Fragen der Europäischen Konjunkturpolitik (1958) I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.

Der Ausgangspunkt der Konjunkturpolitik Die heutige Lage Die Ziele eines europäischen Konjunkturboards Die Funktionsweise einer europäischen konjunkturpolitischen Organisation Die Frage der Mittelaufbringung Die Arbeitsweise eines Konjunkturboards Institutioneile Fragen Schlußbemerkung

Gedanken zu einem Kodex des richtigen konjunkturpolitischen Verhaltens (1961) I. Grundlegende Zielsetzungen der Wirtschaftspolitik II. Allgemeine und von bestimmten Konjunkturlagen unabhängige Grundsätze für alle Länder III. Grundsätze und Verhaltensregeln in der Hochkonjunktur IV. Grundsätze und Verhaltensregeln in der Baisse V. Besondere Grundsätze und Verhaltensregeln für Gläubiger- und Schuldnerländer VI. Regeln für die interne Abstimmung der Konjunkturpolitik und für die Verbesserung des konjunkturpolitischen Instrumentariums VII. Verfahrensregeln für die internationale Abstimmung der Konjunkturpolitik

319

331 331 333 336 339 343 345 347 348

351 354 354 355 357 359 360 361

Zur Frage der Assoziierung europäischer Staaten an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1962)

363

Finanz- und handelspolitische Fragen der Beziehungen Europas zu Lateinamerika (1962)

375

Europäische Konjunkturpolitik (1964)

393

Die Wirtschaftsordnung des Gemeinsamen Marktes (1964)

401

G rundlegende E ntwürfe

Plan zur Errichtung einerEuropäischen Zollunion (1960) I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.

Ziele der Europäischen Zollunion Grundzüge der Konstruktion Landwirtschaft Handelspolitik Sonstige Koordinierungen und Verhältnisse gegenüber den USA und Kanada Probleme der europäischen Entwicklungsländer Probleme des Commonwealth Institutionelle Fragen Verhandlungsform

Vorschlag zur Stärkung der politischen Kooperation in Europa (1964) Kommentar für die interne Beratung Allgemeine Erwägungen zur Diagnose derLage Die Form der politischen Kooperation Die Zielsetzung einer verstärkten Kooperation in Europa

Konzept für Verhandlungen zwischen der EWG und der EFTA (1965) I. Ausgangspunkte II. Vorschläge für eine Lösung der EWG-EFTA-Frage

Konzeption für diekünftigeeuropäische Integration (1965) I. Ausgangspunkte II. Zur Überwindung der Krise

Wichtigste Veröffentlichungen

419 419 420 422 424 424 426 427 428 429

431 431 433 434 435

443 443 449

453 453 458 471

Vorwort

Der hier vorgelegte Band vereinigt Aufsätze und Entwürfe, die ein Bild meiner Bemühungen um die Soziale Marktwirtschaft, um den Ausbau einer nationalen und internationalen Konjunkturpolitik und um die Schaffung einer gesamteuropäischen Integration geben sollen. Die Volkswirtschaftslehre ist eine ebenso theoretische wie praktische Wissenschaft. Von der Scholastik an geht über die merkantilistische Literatur durch die Jahrhunderte hindurch die Einwirkung der Wissen­ schaft auf die Staatspraxis. Es hat freilich zu Ende des vergangenen und zu Beginn unseres Jahrhunderts Dezennien gegeben, in denen theoretische und historische Studien ihr Eigendasein führten und die Wirtschaftswissenschaft zum politischen Geschehen kaum beitrug. Ich gestehe, daß bei aller Liebe zur reinen Wissenschaft die Anwendung wissenschaftlicher Gedanken oder, um es noch direkter zu sagen, die Verwissenschaftlichung der Wirtschaftspolitik mir als eine zentrale Aufgabe unserer Zeit von meinen akademischen Anfängen an erschien. In den zwanziger Jahren waren es insbesondere die Probleme der damals von Wilhelm Röpke, Alfons Schmitt und mir entwickelten Konjunkturpolitik, die die Grundlagen dessen legte, wovon heute als von einer ausgemachten Sache gesprochen wird.1 Die große Welt­ wirtschaftskrise von 1929 ist freilich ohne Beratung durch die Wissen­ schaft im Dämmerlichte falscher Erklärungen wie ein unabänderlicher schicksalshafter Prozeß abgelaufen. Gerade das Versagen in bezug auf die Konjunkturpolitik hat die letzte

1 Vgl. Wilhelm Röpke: Die Konjunktur. Jena 1922. Vgl. Alfons Schmitt: Kreditpolitik und Konjunkturpolitik in Theorie und Praxis. Jena 1932. Vgl. meine Habilitationsschrift: ökonomische Theorie der Konjunkturpolitik. Leipzig 1926; Artikel: Konjunkturforschung und Konjunkturpolitik. In: H and­ wörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl. Erg. Bd. Jena 1929.

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Weimarer Regierung diskreditiert und den herandrängenden nazisti­ schen Mächten nach 1933 durch ihre Arbeitsbeschaffung ihren Anhang in breiten Schichten gesichert. Als es am Ende des Krieges galt, sich nach neuen Grundlagen für den Wiederaufbau umzusehen, habe ich nach langen Jahren religions- und kultursoziologischer Forschung2 mich verstärkt praktischen ökonomi­ schen Gegenständen zugewendet und zuerst in Aufsätzen unmittelbar nach Kriegsende, dann in meinem im Dezember 1946 erschienenen Buche »Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft« (2. Aufl. 1948), für die Konzeption einer »Sozialen Marktwirtschaft« eingesetzt. In dieser Sammlung werden die wichtigsten Schriften zur Theorie der Sozialen Marktwirtschaft in chronologischer Folge vorgelegt. Der Ge­ danke ist seither zum Signum des deutschen Wiederaufbaus geworden, vor allem seit in den Düsseldorfer Leitsätzen der CDU vom 15. Juli 1949 Franz Etzel, Franz Böhm und Bernhard Pfister diese Idee über­ nahmen und zum Prinzip der Gesamtwirtschaftspolitik machten. Sie bot den Ansatzpunkt dafür, daß die von Ludwig Erhard seit 1948 durchgeführte Währungs- und Wirtschaftsreform ein neues, bis dahin unbekanntes Leitbild erhielt. Daß sich ein solcher Gedanke verhältnismäßig schnell und allgemein durchsetzen konnte, lag an den besonderen Bedingungen der Jahre 1945 und 1946, in denen Aufsätze wirtschaftspolitischen Inhaltes, die ich in primitiven Vervielfältigungen an Verbände und Leute des öffent­ lichen Lebens verschickte, besonderes Gehör fanden. Man kann sich heute, insbesondere in der akademischen Jugend, kaum noch jener Zeit bis 1948 entsinnen, in der die Gesetze der totalen Lenkung dominierten. Der überwiegenden Mehrzahl der Politiker, aber auch den meisten Nationalökonomen erschien es unmöglich, den Weg in eine Markt­ wirtschaft, schon gar in eine bewußt sozial gestaltete Marktwirtschaft zu gehen. Dankbar nahm ich schon während der letzten Kriegsjahre aus dem Kreise um Walter Eucken Gedanken auf, die auf eine Erneue­ rung des Wettbewerbsprinzips zielten. Die starke Betonung der Wett­ bewerbsordnung als Gestaltungsmittel der Wirtschaftspolitik habe ich freilich seit je als zu eng empfunden und bewußt darüber hinaus ein System zwar marktkonformer, aber doch sozial- und gesellschafts­ politischer Maßnahmen gefordert. 2 Zusammengefaßt in: Diagnose unserer Gegenwart. Gütersloh 1949; Religion und Wirtschaft. Stuttgart 1959.

IO

Der Gedanke der Sozialen Marktwirtschaft begegnete anfänglich äu­ ßerstenfalls einem nachsichtigen Lächeln. Inzwischen hat er sich durch­ gesetzt und ist zur Grundlage der deutschen Wirtschaftspolitik der letzten anderthalb Jahrzehnte geworden. Wenn ich meine wesentlichen Arbeiten zur Sozialen Marktwirtschaft noch einmal im ursprünglichen Wortlaut vorlege, so liegt mir daran zu zeigen, daß die Soziale Markt­ wirtschaft von Anfang an nicht nur ein erfolgreiches Schlagwort war, sondern daß sie eine ausgearbeitete und durchdachte Theorie der gesellschaftlichen Gesamtordnung ist. Ich hätte mir gewünscht, daß die geistige Durcharbeitung dieses Gedankens auch in einem weiteren Kreise gründlicher erfolgt wäre. Nur allzu häufig begnügte man sich mit dem Hinweis auf das politische Gewicht dieser Konzeption, ohne bereit zu sein, an ihrer gedanklichen Fassung weiterzuarbeiten. Ich übersehe dabei nicht die wertvollen Beiträge, die in den Diskussionen der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft in Heidelberg ge­ geben wurden. Ihr verstorbener Leiter, Alexander Rüstow, traf sich mit mir in manchen Gedankenansätzen. Insbesondere hat sich jedoch Wilhelm Röpke um eine gesellschaftspolitische Vertiefung der Ideen der Marktwirtschaft bemüht. Nach den begründenden Arbeiten setzt der Aufsatz »Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft - Ihre Ergänzung durch das Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik« von 1960 einen neuen Akzent. Ich glaube, daß es nach einem Jahrzehnt der Erprobung der Sozialen Marktwirtschaft in der Tat notwendig wird, ihre gesellschaftspolitische Seite vertieft darzustellen. Leider hat man meine Anregungen erst fünf Jahre später, 1965, zu spät und in einer nicht glücklichen Form, wieder aufgenommen. Gesellschaftspolitische Zielsetzungen werden heute von vielen Politikern in den Vordergrund gestellt, insbesondere unter dem Begriff der Sozialinvestitionen. Diese decken sich mit den Zielen, die ich als Inhalt der von mir sogenannten zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft früher vorschlug. Ich glaube entschieden, daß es zweckmäßig ist, den Gesamtbegriff der Sozialen Marktwirt­ schaft beizubehalten und nicht mit neuen Begriffen in gewachsene Vorstellungen einzugreifen. Die Soziale Marktwirtschaft ist eine Stilform des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens. Der Vorwurf, den Edgar Nawroth gegen die Gruppe der Neoliberalen erhob, sie halte den Wettbewerbsmechanis­ mus für den einzigen Regulator des gesellschaftlichen Lebens, kann mich schwerlich treffen. Neuestens hat auch Nawroth selbst davon II

Abstand genommen.3 Wer, wie ich es in meinen religionssoziologischen Studien getan habe, den religiösen Kräften eine überwältigende Be­ deutung in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte zumißt, wird wohl kaum die über und jenseits der Wirtschaft stehenden Kräfte und Werte übersehen. Im ersten Jahrzehnt erschien es zweckmäßig, den Gedanken der So­ zialen Marktwirtschaft als eine spezifisch deutsche Lösung zu betrachten und alles zu tun, um eine Annäherung der inneren Fronten zu er­ reichen. Inzwischen hat sich die Sozialdemokratie, insbesondere in der Person ihres führenden Theoretikers Karl Schiller, zwar nicht dem Namen, aber doch der Sache weitgehend angenähert.4 Es ist vielleicht jetzt an der Zeit, die Frage zu erörtern, ob diese Stilform der Wirt­ schaftspolitik nicht auch in anderen Ländern Anwendung finden kann. Wenn man bestrebt ist, Freiheit und soziale Sicherheit und eine soziale Gesellschaftspolitik zu kombinieren, gibt es kaum eine andere Variante neben der Sozialen Marktwirtschaft. Mit Freude konnte ich feststellen, daß schon vor vielen Jahren, insbesondere durch das Wirken von Minister Karnitz und durch die Bemühungen vieler meiner öster­ reichischen Kollegen, auch für die österreichische Wirtschaftspolitik die Soziale Marktwirtschaft als wirtschaftspolitisches Leitbild akzeptiert wurde. Überraschend groß war das Interesse an meiner Konzeption im italienischen und spanischen Sprachraum. Dem Schriftenverzeichnis füge ich für meine ausländischen Leser die Angaben über die englischen, italienischen und spanischen Übersetzungen meiner Aufsätze bei, die ihnen vielleicht deren Studium erleichtern. Der Gedanke der Sozialen Marktwirtschaft ist so ein der Ausgestaltung harrender, progressiver Stilgedanke, der sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in der übrigen Welt — wenn schon nicht immer unter der gleichen Chiffre, so doch der Sache nach - aufnötigt. Im zweiten Teil sind im Abschnitt »Internationale Wirtschaftspolitik« Arbeiten vereinigt, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zur Konjunkturpolitik und zur europäischen Integration zusammen­ fassen. Ihre äußere Form ist nicht immer die eines wissenschaftlichen Aufsatzes, der episch dahinströmen kann; es dominiert die für diplo­ matische Verhandlungen notwendige Kompression in Thesen. Die Konjunkturpolitik, die mich seit vierzig Jahren beschäftigte, hat 3 4

Edgar Nawroth: Zur Sinnerfüllung der Marktwirtschaft. Köln 1965. Karl Schiller: Der Ökonom und die Gesellschaft. Stuttgart 1964.

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heute weder in der Bundesrepublik noch im europäischen Bereich, trotz vielfacher Versuche, jene feste institutionelle Form gefunden, die not­ wendig ist, das Gleichgewicht von Währung und Konjunktur zu halten. Die wirtschaftliche Lage zu Ende des Jahres 1965 scheint mir ein Beweis dafür zu sein. 1960 wurde in Brüssel unter meinem Vorsitz ein »Konjunkturpolitischer Ausschuß« der EWG gegründet, den ich bis 1963 leitete. Eine entsprechende Bemühung, die Konjunkturpolitik auf europäischer Grundlage zu führen, wurde in der OECD in Paris gemacht. Seit 1952 hatte ich durch meine Tätigkeit in der Grundsatz­ arbeit des Bundeswirtschaftsministeriums und in meiner Eigenschaft als Staatssekretär für die europäische Integration Gelegenheit, Vor­ schläge zu präsentieren, die mir bei den Beratungen über den EWGVertrag, die zwischen 1955 und 1957 in Brüssel stattfanden, als we­ sentlich erschienen. Gleich nach Unterzeichnung des Rom-Vertrages wurde in einer Arbeit die institutioneile Gestaltung einer europäischen Konjunkturpolitik angeregt. 1961 folgte ein Kodex des richtigen kon­ junkturpolitischen Verhaltens. Diese Anregung fiel in der OECD wie auch in der EWG auf fruchtbaren Boden. Der Ministerratsbeschluß vom April 1964 mag als ein erstes positives Ergebnis einer solchen gemeinsamen Konjunkturpolitik angesehen werden. Er lenkte zweifel­ los die italienische und die französische Wirtschaftspolitik aus dem inflationistischen Kurse heraus. Freilich kann ich meine Enttäuschung nicht verhehlen, daß seither die notwendige Institutionalisierung eines auf Ministerratsebene tagenden konjunkturpolitischen Ausschusses und die Schaffung einer permanenten Konjunkturberatung der Staaten noch nicht zur Wirklichkeit wurde. Von der Anregung bis zur Verwirk­ lichung bedarf es freilich einer gewissen Zeit, und ich bin froh, daß sehr früh gegebene Anregungen später allgemein aufgenommen wurden, so in bezug auf die Konjunkturpolitik als auch in bezug auf die Gesell­ schaftspolitik der Sozialen Marktwirtschaft. Ich betrachte es als ein dankbar empfangenes Lebensgeschenk, daß ich seit 1952 an allen Phasen der Verwirklichung der europäischen Inte­ gration in der OECD und insbesondere in der Europäischen Wirt­ schaftsgemeinschaft mitwirken konnte. Die Verhandlungen waren eine Team-Arbeit eines im Grunde sehr kleinen Kreises, dem ich angehörte. Auch nach dem Abschluß des Rom-Vertrages konnten unter meinem Vorsitz 1962 die grundlegenden Beschlüsse über die Agrarpolitik und über den Übergang zur zweiten Phase des Gemeinsamen Marktes ge­ faßt werden.

*3

Ein Gedanke hat meine Europaarbeit in besonderem Maße bestimmt. Für ihn bin ich immer erneut eingetreten, ihn halte ich bis heute für die natürliche Lösung der europäischen Integration: der Gedanke einer gesamteuropäischen Integration. 1958 scheiterte das Projekt der Gro­ ßen Freihandelszone, nachdem in den sogenannten Maudling-Verhandlungen große Fortschritte erzielt worden waren. Im Januar 1963 ver­ hinderte das Veto de Gaulles den Beitritt Englands und der übrigen Länder zur EWG. Ich habe in der ganzen Zeit meiner aktiven Arbeit in der europäischen Integration Denkschriften veröffentlicht, um immer neue Varianten für die Verwirklichung einer umfassenden Lösung zu finden. Dieser müßten sämtliche Länder des freien Europa angehören. Ich glaube, wir haben nicht das Recht, Europa, das schon durch den Eisernen Vorhang einen unübersteigbaren Wall in sich birgt, noch einmal zu teilen, wie es geschehen ist. Nach zwei Jahrtausenden gesamt­ europäischer Geschichte darf die europäische Integration nicht auf sechs Staaten begrenzt werden. Über kurz oder lang muß sich die natürliche und von der Geschichte vorgezeichnete Lösung doch durch­ setzen. Leider gibt es viele Europäer, die allzu früh vor dieser Aufgabe kapitulieren, und allzu wenige Stimmen, die den Gedanken einer gesamteuropäischen Lösung aufrechterhalten. Mir schien es daher an­ gezeigt, den Studien vier, für praktische Regierungsverhandlungen entwickelte Konzepte beizufügen, in denen die verhältnismäßig ein­ fachen Möglichkeiten für das unseren Politikern allzu schwer Erschei­ nende angegeben werden. Die gesamteuropäische Integration durch Gipfelgespräche oder allgemeine Wohlwollenserklärungen lösen zu wollen, hat wenig Sinn. Es bedarf hierzu konkreter Verhandlungen, in denen die Partner Papier neben Papier ihre Konzeption vortragen und man in zäher Beratung einen Ausgleich sucht. Ich lege diese Schriften, die seit langem nicht mehr im Buchhandel erhältlich sind, in ihrer ursprünglichen Form als Beispiel vor, wie Wissenschaft und praktische Wirtschaftspolitik Zusammenwirken kön­ nen. Sicher wird bei einem solchen unredigierten Neuabdruck das Zeit­ bedingte mancher wirtschaftspolitischen Erwägungen hier und dort sichtbar werden. Eine völlige Überarbeitung würde jedoch den Cha­ rakter der Dokumentation beseitigen, die bei einem historisch wirk­ samen Gedanken wie dem der Sozialen Marktwirtschaft zu ihrem Recht kommen sollte. Es hat seit 1946, insbesondere durch die Arbeit der Wissenschaftlichen Beiräte, insgesamt eine Verwissenschaftlichung unserer Wirtschaftspolitik stattgefunden. Ob diese gute Entwicklung,

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die im Falle der Sozialen Marktwirtschaft sogar zu einem vollen Durchbruch geführt hat, fortgesetzt wird, steht dahin. Ich habe Zwei­ fel, wenn die Wissenschaft nicht immer drängt, die Beziehungen zu den Ressorts aufrechtzuerhalten, bei denen die wachsende Tendenz zur Selbstisolierung der Verwaltungspraxis unverkennbar ist. Vielleicht wird manche meiner Arbeiten den Wissenschaftern zu prak­ tisch, den Politikern zu theoretisch sein, doch glaube ich, daß unsere Wissenschaft letztlich in pragmatischer Absicht betrieben werden muß, um wirken zu können. Ohne den Beitrag wissenschaftlicher Beratung wird die Politik in kürzester Zeit direktionslos werden und sich in den Schlingen der Alltagsfragen fangen. Als die glücklichste Zeit der deutschen Wirtschaftspolitik empfinde ich immer noch die zwischen 1945 und 1962 liegende Zeit, in der mit dem Durchbruch zur Markt­ wirtschaft, zur Liberalisierung des Welthandels, zur Konvertierbarkeit der Währungen, zur europäischen Integration, zur internationalen Konjunktur- und Währungspolitik und zum Gemeinsamen Markt ein unerschöpflicher Vorrat positiver, konstruktiver Ideen die Wirtschafts­ politik beflügelte. Die hier vorliegenden Arbeiten wollen ein Bild dieser Zeit zeichnen. Ich glaube, daß nicht das Werk der Politiker allein, sondern auch der Gedanke die Geschichte bewegen kann. Frei­ lich, wer sich dem Gedanken anvertraut - das sei vor allem meinen akademischen Schülern gesagt - , muß Geduld haben und warten kön­ nen, bis sich das als richtig und notwendig Erkannte in einer glück­ lichen Zeitstunde verwirklichen läßt. Es bleibt mir noch, Fräulein Dr. Harriet Hoffmann zu danken, die mich mit Herrn Diplom-Volkswirt Joachim Starbatty bei der Auswahl und Gliederung der Aufsätze umsichtig beriet und mir, wie schon bei mehreren Editionen früherer Jahre, die Sorge um die Korrekturen und die Überwachung des Druckes abnahm. Köln, den 14. November 1965

Alfred Müller-Armack

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W irtschaftsor dnungspolitik

Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft*

Einleitung Die Gestaltung einer neuen Wirtschaftsordnung muß das Ziel der künftigen deutschen Wirtschaftspolitik sein. Wir können diese Aufgabe nicht erst der Zukunft anheimstellen, sie ist von unmittelbarer Ak­ tualität. Wenn wir bei der Diagnose der gegenwärtig gefährlich um sich greifenden Lähmung der deutschen Wirtschaftskraft zum Wesentlichen Vordringen, so zeigt sich, daß hinter den vordergründigen Daseins­ erschwerungen - durch die Zonenaufteilung, durch den Ausfall des Außenhandels, durch Demontagen und Rohstoffmangel - eine tiefere Krise zum Ausdrude kommt. Diese ist keineswegs auf Deutschland beschränkt, aber sie findet in Deutschland gegenwärtig ihren radika­ len Ausdruck, weil man hier seit einem Jahrzehnt sich am entschie­ densten von einer marktwirtschaftlichen Organisation entfernte und sich einem System der Wirtschaftslenkung verschrieb. Daß die Problematik der Wirtschaftslenkung gegenwärtig kaum zum öffentlichen Bewußtsein gekommen ist, zeigt, wie wenig sich das wirt­ schaftspolitische Denken durch die Erfahrungen der Realität bestim­ men läßt und wie sehr man geneigt ist, die überwundenen Ansichten der vergangenen Dezennien weiter auch für unsere Zeit als gültig anzusehen. Die Erkenntnis der Fragwürdigkeit einer die Marktwirt­ schaft aufhebenden Wirtschaftslenkung dringt jedoch vor. Im Ausland zeigt es der große Widerhall, den die in der Schweiz und in England erschienenen Schriften von W. Röpke und F. A. Hayek gefunden haben. Auch in der deutschen Nationalökonomie gewinnen neue Einsichten an Boden. Die hier vorgelegten Untersuchungen wollen der Klärung dieses für unser heutiges wirtschaftliches Dasein entscheidenden ProHamburg Dezember 1946. 2. Aufl. 1948.

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blems dienen. Die erste Abhandlung über »Die Bewährungsprobe der Wirtschaftslenkung« versucht, gegenüber der üblichen idealisierenden und Vorschußlorbeeren austeilenden Betrachtung der Lenkung deren wesenhafte Realität klarzumachen. Sie entstand auf Grund einer ein­ gehenden Analyse der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik in der Kriegsphase und sucht, über den individuellen Fall hinaus, das typische Schicksal aller Wirtschaftslenkung aufzudecken. Die Lethargie, die wir gegenwärtig so erschreckend hervortreten sehen, erscheint in diesem Licht als offener Ausbruch einer Krise, die sich in der Wirtschafts­ lenkung des vergangenen Jahrzehnts bereits vor dem Kriege, insbeson­ dere aber im Ablauf der Kriegswirtschaft, offenbarte. Das Festhalten an den wesentlichen Bestandstücken dieser Lenkungspolitik, wie Preis­ stabilität, Ausschaltung der Wirtschaftsrechnung, Kaufkraftüberhang, zentrale Güterzuweisung und Arbeitseinsatz, belastet unsere Gegen­ wart mit der ganzen Problematik eines bereits im Kriege zum Verfall verurteilten Wirtschaftssystems. Die völlige Ausschaltung der Markt­ wirtschaft muß als die tiefste Ursache unserer gegenwärtigen Schwie­ rigkeiten gelten. Bevor nicht die Einsicht in die Notwendigkeit einer marktwirtschaftlichen Organisation und in die Fragwürdigkeit aller nichtmarktwirtschaftlichen Lenkung durchgedrungen ist, werden auch Zonenzusammenlegung, Außenhandel und Rohstoffzufuhren den ge­ fährlichen Verfall und das Auslaufen der Produktion weiterhin nicht verhindern können. Die Wiederaufnahme der Grundsätze vernünftigen Wirtschaftens schließt keineswegs den Verzicht auf eine aktive und unseren sozialen und ethischen Überzeugungen entsprechende Wirtschaftspolitik ein. Im zweiten Teil, der die Prinzipien einer »Sozialen Marktwirtschaft« be­ handelt, soll gezeigt werden, daß sich sehr wohl im Rahmen einer Marktwirtschaft eine aktive und konstruktive Wirtschaftspolitik füh­ ren läßt. Dieser zweite Teil soll den kritischen ersten Abschnitt positiv ergänzen und mit der Aufgabe Ernst machen, vor der der wirtschafts­ politische Gedanke heute unausweichlich steht. Es gilt, die wesenlos gewordenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zu überwinden und sie durch eine wirtschaftspolitische Position zu ersetzen, die kritisch und unvoreingenommen die Erfahrungen der Ver­ gangenheit prüft und damit den Mut gewinnt, den aus der Situation unserer Zeit gewiesenen neuen Weg zu beschreiten.

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I. Die Bewährungsprobe der Wirtschaftslenkung

1. Die Wirtschaftsordnungen im W ehsei der geschichtlichen Lage Das letzte Jahrzehnt hat die zentrale Wirtschaftssteuerung endgültig zur Herrschaft gebracht. Nachdem die freie Marktwirtschaft in den Stürmen der Weltwirtschaftskrise versank, schien einer aktiven Wirt­ schaftspolitik kein anderer Weg zu bleiben als der einer beständigen Steigerung der wirtschaftslenkenden Maßnahmen. Dies gilt insbeson­ dere für Deutschland, dessen Wirtschaftspolitik seit 1933 dahin kam, ein schlechthin vollständiges Bild einer zentralen Wirtschaftsplanung zu entwerfen und alle marktwirtschaftlichen Regulatoren auszuschal­ ten. Auch in anderen Ländern glaubte man, konstruktiv Neues immer nur auf dem Wege über eine Verstärkung der Wirtschaftslenkung er­ reichen zu können. Das abgelaufene Jahrzehnt bedeutet mit seinen Erfahrungen zugleich eine geschichtliche Prüfung der Grundsätze der Wirtschaftslenkung. In der Zeit der Weltwirtschaftskrise von 1929 hatte der Zerfall der libera­ len Ordnung eine gerechte Würdigung der Leistungen der Marktwirt­ schaft behindert. Man sah nur die Seite des Verfalls und verglich die sicherlich fragwürdig gewordene Realität der damaligen Zeit mit dem Ideal einer Wirtschaftslenkung, das man neu aufrichtete. Die geschicht­ liche Gerechtigkeit hätte verlangt, Idee mit Idee, Realität mit Realität zu vergleichen. Heute geben uns die Erfahrungen, die wir inzwischen mit den neuen Wirtschaftsformen gemacht haben, nicht weiterhin das Recht, die Wirtschaftslenkung in der Perspektive des anbrechenden goldenen Zeitalters zu sehen. Die Forderungen der Zeit wie die Forde­ rungen wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit verlangen, daß wir im Inter­ esse unserer wirtschaftlichen Zukunft die große Auseinandersetzung zwischen der Wirtschaftsordnung der Marktwirtschaft und der der Wirtschaftslenkung erneut überprüfen, um aus einer heute möglich ge­ wordenen klareren Beurteilung die Wahl einer zweckmäßigen Wirt­ schaftsordnung, die über das Wohlergehen der Zukunft entscheidet, besser vollziehen zu können. Wir sind gegenwärtig verpflichtet, die Wirtschaftslenkung nicht nur von den Hoffnungen und Erwartungen, die sie in den Menschen erregte, zu beurteilen, sondern auf dem Boden der nüchternen Wirklichkeit zu

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vergleichen, wie weit ihr Versprechen eingelöst wurde. Der in der populären Literatur üblichen bedingungslosen Verherrlichung muß eine nüchterne und illusionslose Überprüfung gegenübertreten. Im Sinne dieser Aufgabe sind die folgenden Betrachtungen niedergeschrieben worden. Sie machen den Versuch, aus der Zusammenschau neuerer wirt­ schaftspolitischer Erfahrungen mit den Ergebnissen unserer wissen­ schaftlichen Forschung einige notwendige Feststellungen zur Beurteilung unseres Lenkungssystems zu treffen. Wenn heute-wenigstens dem Tieferblickenden-die totale Wirtschafts­ lenkung nicht mehr im rosigen Lichte der Morgenröte erscheint, so ist diese veränderte Bewertung Teil eines geschichtlichen Perspektiven­ wechsels, der nicht nur Licht und Schatten in bezug auf die Wirtschafts­ lenkung anders verteilte, sondern ebenso unsere Stellung zur vergan­ genen Periode der liberalen Marktwirtschaft änderte. Diese Wandlung vollzieht sich, wie es bei allen Rückwendungen der Geschichte geschieht, nicht durch eine einfache Preisgabe und Annullierung des Urteils, das die Vergangenheit fällte. Der Abstand, den wir nach einem Jahrzehnt Wirtschaftssteuerung vom marktwirtschaftlichen System gewonnen haben, legt gleichsam neue Schichten auch der historischen Vergangen­ heit frei und gewährt uns Einsichten, die uns unmöglich waren, solange noch die liberale Marktwirtschaft unser Lebensmedium war und so­ lange nicht durch den Vergleich mit einer völlig abweichenden Wirt­ schaftsordnung das Eigentliche des marktwirtschaftlichen Systems zu­ treffender erfaßt werden konnte. In der Katastrophe der Weltwirtschaftskrise schien jede Beschuldigung recht, die marktwirtschaftliche Ordnung, die damals zusammenbrach, in Verruf zu bringen. Daß die mit dem liberalen System im 19. Jahr­ hundert heraufgekommene Kulturordnung besonders nach ihrer geisti­ gen Seite hin schwere Probleme in sich barg, kann nicht bestritten wer­ den. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, daß die Auflösung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die zwischen 1929 und 1933 zutage trat, der liberalen Marktwirtschaft so eindeutig zuzurechnen wäre. Es wurde von der wissenschaftlichen Forschung nachgewiesen, daß die Hauptursachen für das Versagen der liberalen Marktwirtschaft gar nidbt so sehr in ihr selbst liegen, als in einer Verzerrung, der sie durch den von außen kommenden Interventionismus seit dem Ende des ver­ gangenen Jahrhunderts zunehmend unterlag. Das Versagen der freien Goldwährung, die seit ihrer Einführung zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges sich im ganzen aus-

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gezeichnet bewährt hat, hatte ihren Grund nicht in der Konstruktion des Währungssystems selbst, sondern in einem gegen die Logik des marktwirtschaftlichen Systems gerichteten interventionistischen Ver­ halten der damaligen Weltgläubiger- und Weltschuldnerländer. Daß die Gläubigerländer die Konsequenz aus ihrer Gläubigerstellung durch Freigabe zusätzlicher Importe nicht zogen, daß die Schuldnerländer sich gleichzeitig den notwendigen Preisanpassungsbewegungen entge­ genstemmten, also beide die Angleichung ablehnten, durch die allein das marktwirtschaftliche System aufrechtzuerhalten war, war schon ein Stück Lenkung in der damals noch liberalen Gesamtsituation. Das Fest­ fahren der Währungen muß so eher als Anfang der Wirtschaftslenkung, denn als Ende der marktwirtschaftlichen Währungsverfassung gesehen werden. Auch bei vielen anderen Vorwürfen gegen die liberale Ordnung ließe sich zeigen, daß hier Erscheinungen der interventionistischen Wirt­ schaftspolitik, die selbst schon wesensändernde Abwandlungen der marktwirtschaftlichen Ordnung waren, zur Beurteilung des marktwirt­ schaftlichen Systems herangezogen werden. Die berüchtigten Verbren­ nungen von Kaffee und Tabak, die ihren Eindruck auf naive Gemüter nie verfehlen, waren ja der konkurrenzwirtschaftlichen Ordnung durch­ aus unbekannt. Sie sind meist im Zusammenhänge mit staatlichen Valorisationen entstanden und Ausdruck des Versuches, durch staatliche Mittel einen bestimmten weltwirtschaftlichen Preisanpassungsprozeß zu verhindern. Sie stehen so nicht mit dem Marktprozeß als mit dessen bewußter Verhinderung im Zusammenhänge und können daher nicht gegen die Marktordnung als Einwand angeführt werden. Die künstliche Organisierung des Mangels kann überdies wirklich nicht einem System zum Vorwurf gemacht werden, dessen wirtschaftliche Schwierigkeiten im wesentlichen aus dem Überfluß stammen, den die wirtschaftliche Entwicklung entfesselte. Auch die soziale Beurteilung der freien marktwirtschaftlichen Ordnung, wie sie das 19. Jahrhundert verwirklichte, harrt noch ihrer endgültigen Fassung. Das billige Vor­ urteil der Zeit begeht meist den geschichtlichen Fehler, die sicherlich unbefriedigenden Zustände des frühen Industrialismus des 18. und be­ ginnenden 19. Jahrhunderts an unseren durch die Leistung der Markt­ wirtschaft geschaffenen Maßstäben zu messen, statt sie historisch zu sehen im Anschluß an die vorhergehende Periode. Daß die freie ver­ kehrswirtschaftliche Ordnung das soziale Elend erst geschaffen habe, ist ein geschichtlicher Irrtum. Die Wirtschaftsperiode, die voranging,

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hatte in Stadt und Land soviel deklassiertes Menschentum geschaffen, daß den führenden Geistern des Merkantilismus die Industrialisierung geradezu als sozialer Ausweg zu einer produktiven Beseitigung der Armut erschien. Auch wird das bisherige Urteil über den Liberalismus nur Geltung haben, wenn die neuen zentral gelenkten Ordnungen ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, den Lebensstandard der breiten Masse ebenso zu heben, wie dies die liberale marktwirtschaftliche Ordnung im 19. Jahrhundert getan hat, und zwar unter besonders schweren Be­ dingungen, da daneben die Aufgabe zu bewältigen war, den Menschen­ zuwachs des allgemeinen Bevölkerungsanstiegs und den Zustrom vom Lande zur Stadt in Arbeit und Brot zu bringen. Wenn die Erscheinung der Konjunkturen und Krisen und die in der Weltwirtschaftskrise von 1929 so unerträglich gewordene Massenarbeits­ losigkeit als schwere Belastung der freien verkehrswirtschaftlichen Ord­ nung empfunden werden, so ist die Forschung, die sich seit Jahrzehnten um die Frage einer sinnvollen Konjunktursteuerung bemüht hat, weit davon entfernt, diesen Einwand gering zu achten. Doch ist gerade die Verschärfung der Konjunkturschwankungen in der Nachkriegsperiode schon ein Zeichen wesentlicher Funktionsstörungen der marktwirtschaft­ lichen Ordnung. Überdies sind die Konjunkturbewegungen nicht ein­ fach Schwankungen, die die Wirtschaftsordnung erzeugt, sie sind viel­ mehr Ausdruck der besonderen Art, wie sich der Markt mit den verän­ derlichen Daten seiner Außenwelt abfindet. Es wird ein endgültiges Urteil über die sozialen Schäden wie Vorteile des konjunkturellen An­ passungsvorganges erst dann gefällt werden können, wenn wir in der Lage sind, die Art und Weise genau zu verfolgen, mit der das System der Wirtschaftslenkung die Frage der Anpassung an wechselnde wirt­ schaftliche Situationen erfüllt. Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, daß die Kosten einer Anpassung an neue wirtschaftliche Situationen, die die freie Marktordnung gleichsam offen ausweist, in einer gelenkten Wirt­ schaft nicht entstünden. Der vielfach gehörte Vorwurf, die marktwirtschaftliche Ordnung liefere den Markt dem Interessenten aus, bedarf eigentlich keiner ernsthaften Widerlegung, da ja die marktwirtschaftliche Ordnung insgesamt schon nach ihrer ursprünglichen Konzeption bei Adam Smith gedacht war als Mittel, die gegeneinander gerichteten Interessen gleichsam zu neutrali­ sieren und auf die beste Versorgung des Marktes auszurichten. Nur so­ weit die vordringende monopolistische wie oligopolistische Durchset­ zung des Marktes reicht, ist dieses Argument zum Teil berechtigt. Doch 24

auch hier handelt es sich wiederum um eine Auflösung des marktwirt­ schaftlichen Zusammenhanges, nicht um Vorgänge, die dem Sinn des Marktprozesses gemäß ablaufen. Es wird noch zu prüfen sein, ob im System der Wirtschaftslenkung ein Mehr oder ein Weniger von wirt­ schaftlicher Interessentenmacht feststellbar ist. Der gefährlichste Vorwurf gegen die liberale Ordnung geht dahin, daß sie aus wirtschaftlichen Motiven heraus Kriege entfesselte. Dieses Argument muß an sich überraschen, da es schließlich dem nicht direkt Böswilligen schwerlich entgehen kann, in welchem Maße doch, ver­ glichen mit früheren Epochen, das 19. Jahrhundert eine Friedensord­ nung repräsentierte, und es hat nicht den Anschein, als ob das 20. Jahr­ hundert mit seinen anderen Prinzipien sich anschicke, es in dieser Hinsicht in den Schatten zu stellen. Doch ist der Öffentlichkeit die Vor­ stellung von der wirtschaftlichen Motivation politischer Auseinander­ setzungen immer wieder eingehämmert worden. Den Beginn machte die marxistische Imperialismus-Theorie, die mit einer Fülle von Publi­ kationen in ewiger Wiederholung den Zusammenhang von freier Markt­ wirtschaft und kriegerisch-imperialistischer Expansion zu beweisen suchte. Die Widerlegung, die der Marxismus theoretisch erfuhr, hat ge­ zeigt, wie wenig die kapitalistische Wirtschaftsordnung etwa aus imma­ nenten Gesetzen heraus, um ihren Fortbestand zu sichern, zu einer kriegerischen Ausdehnung gezwungen ist. Der Nachweis ist durch die seit einem Jahrzehnt entwickelte volkswirtschaftliche Theorie der D y­ namik zwingend erbracht worden.1 Wenn man sich auch der These Schumpeters in seiner »Soziologie der Imperialismen«, die politische Expansion sei gleichsam ein Relikt vergangenen historischen Geschehens, nicht wird anschließen können, so ist doch sein Nachweis zwingend, daß die marktwirtschaftliche Verfassung in ihrer reinen Form nicht etwa wesensnotwendig politische Konflikte erzeugt. Im Gegenteil dürfte sie gerade diejenige wirtschaftliche Verfassung sein, die politische Kon­ fliktmöglichkeiten am meisten neutralisiert und dadurch hintan hält. Die Entwicklung im 19. Jahrhundert ist der beste Beweis hierfür. Wenn aus der Ideologie der Wirtschaftslenkung heraus die wirtschaft­ liche Ordnung des vergangenen Jahrhunderts für fast alle Schäden ver­ antwortlich gemacht wird, so zeigt sich diese Denkweise als ein Ableger jener billigen ökonomischen Geschichtsauffassung, die zum Teil aus der 1 Vgl. hierzu A lfred Müller-Armack: Entwicklungsgesetze des Kapitalismus. Berlin 1931.

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Verflachung des Geisteslebens im 19. Jahrhundert entstanden ist, aber auch in der heutigen Ideologie der Wirtschaftslenkung durchaus weiter­ lebt. Die rein technische MassenVerkehrsordnung, die das 19. Jahrhun­ dert schuf, kann nicht einfach für alles verantwortlich gemacht werden, was an kriegerischem und politischem Zündstoff sich zweifellos im 19. Jahrhundert und zu Beginn dieses Jahrhunderts ansammelte. Die Geschichte wird weit mehr von irrationalen Kräften bestimmt, als die auch gegenwärtig weit verbreitete ökonomische Geschichtsauffassung es wahrhaben will. Wenn wir in der Geschichte des letzten Jahrhunderts den ideologischen Kräften und dem Machttrieb der Nationen den gebührenden Platz ein­ räumen und nicht die Wirtschaftsordnung schlechthin mit aller Verant­ wortung belasten, so erscheint diese nunmehr als ein organisatorisches Mittel, das sachlich in seiner Zweckmäßigkeit diskutiert werden muß, so, wie man ja auch die technischen Schöpfungen des 19. Jahrhunderts als solche sachlich hinnimmt, selbst wenn man die geistige Entwicklung des Jahrhunderts nicht auf allen Gebieten als Fortschritt, sondern viel­ fach als ein deutliches Absinken gegenüber dem 18. Jahrhundert emp­ findet. Vielleicht ist auch heute die Zeit zu einer endgültigen Würdigung der liberalen Marktwirtschaft noch nicht gekommen. Aber wir haben Distanz gewonnen, und aus den inzwischen mit der Wirtschaftslenkung gemachten Erfahrungen heraus zeigt sich die marktwirtschaftliche Ord­ nung in anderen Perspektiven, die zum Teil der liberalen Welt kaum ins Bewußtsein traten. Die marktwirtschaftliche Ordnung stellt sich uns gegenwärtig mehr und mehr als eine in der Geschichte fast unbewußt entwickelte technische Organisationsform dar, die allein die wirtschaft­ liche Lebensmöglichkeit der im 19. Jahrhundert rapide gewachsenen Bevölkerungsmassen ermöglichte. Sie ist eine gleichsam dialektische Konstruktion, die den Erwerbswillen des einzelnen in seiner realen Bedeutung voll würdigt, aber durch die eigentümliche Lage des Marktes dafür sorgt, ihn nur durch den Leistungswettbewerb zur Geltung kom­ men zu lassen. Wo die Schöpfer der liberalen Organisationsform in erster Linie Frei­ heit von Bindungen erstrebten, gewinnt dieses System für uns einen wesentlich anderen Sinn. Es erscheint als der erste große Versuch, in der Geschichte zu einer offenen Organisationsform zu gelangen, das heißt zu einer Gesamtkonstruktion, die dem wirtschaftlichen Fortschritt im Rahmen des wirtschaftlichen Datensystems günstigste Realisationsmög­ lichkeit bietet. Indem man auf eine feste Form verzichtet und alles von

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der Anpassung an die wechselnden Produktionsmöglichkeiten erwartet, hat dieses System die Fähigkeit gewonnen, im 19. Jahrhundert den gewaltigen technischen Fortschritt in kürzester Frist zu verarbeiten und in den wirtschaftlichen Alltag einzugliedern. Auch die im 19. Jahrhun­ dert entwickelte Form der Bankorganisation, die der Fortschrittsfinan­ zierung den expansiven Kredit zur Verfügung stellte, paßt sich der Logik des Gesamtsystems sinnvoll ein. In einer Zeit, die, wie die heu­ tige, die politische Durchdringung des Wirtschaftslebens nicht nur als Vorteil, sondern häufig auch als schweres Hemmnis empfindet, bietet sich die liberale Organisationsform gleichsam als Gegenbild dar. Wird doch in ihr der Versuch unternommen, die politischen Kräfte maximal zu neutralisieren und die im Wirtschaftlichen wie im Politischen ent­ stehenden Abhängigkeitsverhältnisse weitgehend zu mildern. Soweit die Wirtschaft sich marktwirtschaftlich vollzieht, ist sie durch eine öko­ nomische Gewaltenteilung gekennzeichnet, die im Interesse der indi­ viduellen Freiheitssphäre das unternimmt, was Montesquieu zur Siche­ rung der politischen Freiheit durch dieses Prinzip erreichen wollte. Die marktwirtschaftliche Ordnung ist ferner durch ihre gegenüber an­ deren Wirtschaftsordnungen verschiedene Orientierung am Konsumen­ ten bestimmt. Es ist notwendig, sich diese besondere Funktionsweise der Marktwirtschaft zu vergegenwärtigen, denn die Beurteilung anderer Wirtschaftsordnungen, die sie ersetzen wollen, wird mit davon abhängen, wieweit sie in der Lage sind, diese Leistung des marktwirtschaft­ lichen Systems zu ersetzen oder gar zu verbessern. Daß in der Perspektive unserer Zeit auch neue Mängel der marktwirt­ schaftlichen Ordnung uns zum Bewußtsein kommen, ist gewiß. Als eine ausgesprochen wirtschaftliche Ordnung hat sie den Sinn der Menschen im 19. Jahrhundert zu ausschließlich auf wirtschaftliche Interessen ge­ lenkt. So gelangte der Liberalismus zu einer ökonomischen Weltauffas­ sung, in der ihm völlig der Marxismus folgte und in vielem auch die Ideologen der Wirtschaftslenkung. Daß vom Wirtschaftlichen her allein durch eine ökonomische Konstruktion, sei sie nun Marktwirtschaft oder Wirtschaftslenkung, der seelische Zerfall, dessen Ausdruck die sozialen Krisen der Gegenwart sind, nicht aufgehalten werden kann, daß es des Appells an die irrationalen Kräfte bedarf, ist unsere Überzeugung. Diese Seite des Problems soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Ein sehr verhängnisvoller Mangel der liberalen Marktordnung war das Fehlen jeglicher festen Form und Sicherung zu ihrer Erhaltung. Sie ist als ein unbewußtes Produkt der Geschichte entstanden, in gewissem

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Sinne klüger konstruiert, als ihre Urheber es sich vorstellten. Aus einem alten, in letztlich religiösen Bezirken verankerten Harmonieglauben erwuchs die Auffassung von der Selbstregulierung der wirtschaftlichen Dinge, von der Steuerung des Marktes durch den Preis, der Handels­ bilanzen und Währungen durch die Goldströme. So sehr auch diese Regelung der Dinge durch die Entstehung monopolistischer Marktbin­ dungen in der liberalen Ära selbst unterminiert wurde, und so sehr auch das Heraufkommen von Massenbewegungen mit einer gegen die Frei­ heitsordnung gerichteten Ideologie frühzeitig die Gefährdung dieses Wirtschaftssystems ankündigte, glaubte man dennoch, diese Erschei­ nungen ohne eine Sicherung des Gesamtsystems assimilieren zu können. So fehlte dem Liberalismus das Wissen um die Notwendigkeit, die von ihm geschaffene Wirtschaftsordnung durch klare Bestimmung ihrer nicht zu überschreitenden Grenzen in sinnvoller Funktion zu erhalten. Nur so ist es verständlich, daß er es unterließ, gleichzeitig eine politische Ordnung zu schaffen, die ihr eine Stütze bot und sie hinderte, in jenen Verzerrungsprozeß hineingezogen zu werden, in dem zuletzt diese Ordnung sturmreif wurde und kaum noch Verteidiger fand. Erst die neuere Forschung hat begriffen, daß die marktwirtschaftliche Organi­ sationsform ihre Überlegenheit nur zu entfalten vermag, wenn ihr aus geistigen und politischen Kräften eine feste äußere Ordnung gegeben w ird} Sie kann nicht, wie im 19. Jahrhundert, noch einmal das Ergeb­ nis einer gleichsam natürlichen Entwicklung sein, sondern bedarf der behütenden Kräfte, um sich als Wirtschaftsordnung behaupten zu kön­ nen. Daß sie bei aller notwendigen und später noch genauer zu umrei­ ßenden Umwandlung die einzige Form ist, die es den europäischen Völkern erlaubt, ihren zentralen Werten gemäß zu leben und die von ihnen im 19. Jahrhundert gezeigte ungeheure Wirtschaftsentfaltung weiter zum Segen der Menschheit zu entwickeln, ist eine gegenwärtig zwar erst langsam, doch an den verschiedensten Stellen vordringende Einsicht. Sie kann jedoch nur dann voll begriffen werden, wenn im folgenden die Leistungsfähigkeit des Lenkungssystems daraufhin kri­ tisch überprüft worden ist.2

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Franz Böhm: Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechts­ schöpferische Leistung. Stuttgart 1936.

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2. Ideale der Wirtschaftslenkung Bevor wir darangehen, die Realität der Wirtschaftslenkung zu unter­ suchen, ist es notwendig, die innere Zielsetzung des Lenkungssystems zu bestimmen und ihre Besonderheit gegenüber der früheren markt­ wirtschaftlichen Ordnung abzugrenzen. Die Wirtschaftslenkung ist, historisch gesehen, als Antithese zur liberalen Marktordnung entstan­ den, und dieser Ursprung gibt ihr auch heute noch das Gepräge. An die Stelle der Lenkung des Wirtschaftsablaufs durch den Marktprozeß tritt eine zentrale Lenkung, wobei, wie im Falle der deutschen Wirt­ schaftslenkung, die einzelnen Betriebe in erster Linie private Erwerbs­ betriebe sind. Insofern hält die Wirtschaftslenkung eine klare Grenze gegenüber der Vollverstaatlichung der Produktionsmittel ein. Das Ein­ setzen zentraler Lenkung und das etappenweise, aber konsequente Ausschalten des marktwirtschaftlichen Austausches sind die beiden ent­ scheidenden Kennzeichen des neuen Wirtschaftssystems. Wesentlich schwieriger ist es, es von seinen Zielen her zu charakterisieren, denn die als Ziel der Wirtschaftslenkung genannten Aufgaben der planmäßigen Lenkung des Wirtschaftsprozesses, der gemeinnützigen Ausrichtung, des sozialen Ausgleichs, der Vollbeschäftigung, der Nahrungssicherung sind propagandistisch gewählte Selbstcharakterisierungen, auf die schließlich alle Wirtschaftsordnungen irgendwie Anspruch erheben. So ist es nur eine phraseologische Aussage, die Wirtschaftslenkung als plan­ mäßig, die marktwirtschaftliche Ordnung etwa als anarchisch zu be­ zeichnen, denn auch der marktwirtschaftlichen Ordnung liegt, wie allem Wirtschaften, ein bestimmter Bedarfsdeckungsplan zugrunde, und es wird noch zu zeigen sein, daß sie nicht mit Unrecht von sich behaup­ ten darf, diese geplante Deckung des Konsumentenbedarfs besonders genau zu erfüllen. Die Wirtschaftslenkung vom Ziel der Gemeinnützig­ keit aus zu charakterisieren, entbehrt jeden guten Sinnes, denn es ist durchaus eine Tatsachenfrage, ob eine zentral gelenkte Wirtschaft wirklich voll das Ziel der Gemeinnützigkeit erreicht und nicht bestimm­ ten Gruppeninteressen mehr Vorschub leistet als die marktwirtschaft­ liche Ordnung, die nach ihrer Intention genauso auf eine Neutralisie­ rung der Einzelinteressen zugunsten des Gesamtinteresses ausgerichtet war. Auch Ziele wie sozialer Ausgleich und Vollbeschäftigung werden schließlich in allen Wirtschaftssystemen erstrebt und können nicht ein besonderes Wirtschaftssystem kennzeichnen. Das wäre nur berechtigt in dem Maße, als dieses erstrebte Ziel voll erreicht wird.

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So stellt sich uns die Wirtschaftslenkung als eine von einer politischen Macht zentral gelenkte Wirtschaftsordnung dar, deren Ziele, wirtschaft­ lich gesehen, von dem, was vernünftigerweise in jeder Wirtschaftsord­ nung erstrebt wird, nicht wesentlich abweichen und die daher im Kern durch die besonderen Mittel, die zur Erreichung dieser Ziele gewählt werden, gekennzeichnet ist. Auch die von der Wirtschaftslenkung als zentral empfundene Aufgabe der nationalen Unabhängigkeit und die der Sicherung der Wirtschaft für den Kriegsfall bilden keine Besonderheit dieser Wirtschaftsordnung, da auch die anderen Wirtschaftsordnungen in ihrem Rahmen diese Auf­ gaben behaupten verwirklichen zu können und es so wiederum eine Quaestio facti ist, ob und wie man dies alles erreicht. Wir müssen also die Besonderheit der Wirtschaftslenkung darin sehen, daß mit politischen Kräften, wie dies in Deutschland geschehen ist, ein zentraler Lenkungsapparat aufgebaut wurde, der die irgendwie allen Wirtschaftsordnungen als selbstverständlich gesetzten Ziele auf einem besonderen Wege zu erreichen versuchte. Dieser Weg der Wirtschaftslenkung ist allgemein charakterisiert durch die Ausschaltung des marktwirtschaftlichen Prozesses. Dieser Vorgang vollzog sich in den einzelnen Bereichen verschieden schnell. Er ergriff zuerst mit der Marktordnung den Agrarsektor und dehnte sich dann in steter Verstärkung der staat­ lichen Eingriffstätigkeit auf den gesamten wirtschaftlichen Bereich aus. Wenn die Kriegswirtschaft diesen Prozeß beschleunigte und zu einer fast totalen Bewirtschaftung führte, so ist diese Entwicklung keine Zu­ fälligkeit, sondern liegt durchaus in der inneren Logik des Lenkungs­ systems beschlossen. Sie zeigt nur in vergrößertem Maßstabe den Wan­ del an, der sich vorbereitete und praktisch unaufhaltsam weitergehen mußte. Es gehört zur inneren Logik der Wirtschaftslenkung, auf alle Schwierig­ keiten, die ihr begegnen, und auf alle Anpassungen, die ihr abgefordert werden, mit einer immer kräftigeren Herauslösung der Wirtschaft aus dem Marktprozeß zu antworten. Am Ende stand, wie in der Kriegs­ wirtschaft, eine Wirtschaft, deren Marktverfassung durch zwei Tat­ sachen gekennzeichnet wird. Auf der einen Seite erfolgte die Ablösung von der Preisfunktion durch eine progressive Stabilisierung des Rech­ nungssystems der Wirtschaft. Die Preise, Löhne, Kurse und Zinssätze unterlagen einer straffen Festlegung, während auf der anderen Seite der Staat zugunsten des allgemeinen Aufwandes Investitionen durch eine expansive Kredit- und Geldpolitik finanzierte. Die Spannungen zwi-



sehen der Starrheit des Rechnungssystems und der in Konsequenz der Staatseingriffe erweiterten Kaufkraft erzwangen eine Bindung auch der gütermäßigen Zuteilung durch Kontingente, Rationierungen, Dringlich­ keitsstufen, Investitionsverbote, Emissionssperren und im sozialen Be­ reich die Zuweisung von Arbeitskräften beziehungsweise die Verhin­ derung des Arbeitsplatzwechsels. Selbstverständlich kennt auch die Wirtschaftslenkung geringfügige Wechsel in der Methode, die, wie zum Beispiel der Übergang zur Einheits- und Gruppenpreisbildung in der Kriegswirtschaft, äußerlich wie eine Annäherung an das marktwirt­ schaftliche System gewertet und begrüßt wurden. Aber solange insge­ samt diese Spannung zwischen Geld- und Kaufkraftsystem vorhanden ist, bleibt der marktwirtschaftliche Ausgleich unmöglich. So wird allgemein die Wirtschaftslenkung von einer der marktwirt­ schaftlichen Ordnung entgegengesetzten Logik bestimmt. Wo diese die Marktelemente elastisch zu halten suchte und wechselnden Situationen mit Anpassungsbewegungen begegnete, tritt nun eine Starrheit zutage, die nicht dadurch aufgehoben wird, daß eine gelegentliche Variation stattfindet, das heißt, an die Stelle eines festgelegten Preises ein anderer tritt. Das Recht dieser neuen Wirtschaftsordnung ist nicht schon damit zu begründen, daß angeblich die marktwirtschaftliche Ordnung in der Weltwirtschaftskrise zusammengebrochen sei und nun nichts übrig bliebe, als das Heil in einer völlig entgegengesetzten Ordnung zu suchen. Der Schock der Weltwirtschaftskrise und die Struktur der gegenwärtigen öffentlichen Meinungsbildung haben dazu geführt, die zentrale Wirt­ schaftslenkung als ein mächtiges Allheilmittel zu betrachten und sie praktisch jeder kritischen Untersuchung zu entziehen. So entstand die Ideologie der Wirtschaftslenkung, die alle Werte des Guten bei dieser Ordnung vereinigte und der marktwirtsdiaftlichen Ordnung nur Schlech­ tes nachsagte. Dies mochte hingehen, solange das Neue nur im rohen Entwurf bestand. Nun aber, wo wir die Wirklichkeit der Wirtschafts­ lenkung unter den Bedingungen des Friedens wie des Krieges vor uns haben, erscheint eine nüditerne Prüfung notwendig, ob wirklich diese Wirtschaftsordnung die Erwartungen erfüllte, die man mit ihr verband. Wenn auch die von Ludwig von Mises aufgestellte These insgesamt zu­ trifft, daß alle gegen den Marktprozeß durchgeführten Interventionen automatisch weitere nach sich ziehen, so bedarf es doch nunmehr eines Eingehens auf die inzwischen zur Wirklichkeit gewordene Wirtschafts-

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lenkung, die nicht von vornherein mit ihrer Unmöglichkeit abgetan werden kann. Es erscheint notwendig, an die Stelle der idealisierenden Verklärung nunmehr eine Analyse des tatsächlichen Ablaufs der Wirt­ schaftslenkung zu setzen. Dies ist um so mehr erforderlich, weil, wie noch zu zeigen sein wird, die Frage der Leistungskontrolle in der ge­ lenkten Wirtschaft besondere Schwierigkeiten aufweist, im Gegensatz zur Marktwirtschaft, die bei Funktionieren ihres Rechnungsapparates über einen untrüglichen Maßstab für die Ausrichtung der Produktion am Bedarf verfügt. Diese Gegenkontrolle wird um so wichtiger, als die Wirtschaftslenkung, die anfänglich auf dem Wege über den Preisstopp das bisherige marktwirtschaftliche Preissystem weiter verwendete und an dessen Leistungskontrolle partizipierte, mit dem Wachsen der zeit­ lichen Distanz eigene Maßstäbe entwickeln muß und damit vor schwie­ rigste Fragen gestellt ist. Wenn wir im folgenden der Realität der Wirtschaftslenkung nachgehen und mit der Untersuchung der empirischen Probleme der Wirtschafts­ lenkung gleichzeitig zu grundsätzlichen Erkenntnissen über die Lei­ stungsfähigkeit dieser Wirtschaftsordnung generell vorstoßen wollen, so ist ein solcher Versuch insofern Zweifeln ausgesetzt, als ja die im letzten Jahrzehnt entwickelte nationalsozialistische Wirtschaftslenkung bloß einen Einzelfall darstellt, dessen Mängel möglicherweise nur den besonderen Bedingungen, nicht dem Prinzip als solchem, zuzuschreiben sind. Gleichwohl läßt sich, glaube ich, an der Wirklichkeit der deutschen Wirtschaftslenkung sehr wohl die zufällige von der grundsätzlichen Schwierigkeit der Lenkung trennen. Es ist ja nicht so, daß in der Theorie die Wirtschaftslenkung gleichsam alle Probleme spielend löst und es ihr nur im einzelnen Falle versagt ist, ihre vollen Möglichkeiten zu erreichen. Die von der Forschung inzwischen entwickelten Analysen der gelenkten Wirtschaft zeigen vielmehr, daß schon am theoretischen Modell be­ stimmte Grenzen und Schwierigkeiten aufzuweisen sind, mit denen diese Wirtschaftsordnung immer wird rechnen müssen. Sollten solche Schwie­ rigkeiten, die wir am gedanklich überschaubaren Modell feststellen können, sich auch in der Wirklichkeit eindeutig vorfinden, so müssen wir die so gewonnene Erkenntnis als endgültig hinnehmen und es uns künftig versagen, Fehler dieser Wirtschaftsordnung der zufälligen Wirklichkeit zuzuschieben, um weiter das System als solches verteidigen zu können. Produktiver erscheint es in solcher Lage, nach Wegen Aus­ schau zu halten, um auf unproblematischere Weise die Grundziele des Wirtschaftens erreichen zu können. Daß die zentral gelenkte Wirtschaft

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tatsächlich in schwierigste Probleme hineinführt, die man bei der ersten Verkündung ihrer Grundsätze auch nicht einmal ahnte, wird langsam denen, die offenen Blickes die Dinge beurteilen, klar. Angesichts der Notwendigkeit, nach der Verarmung, die dieser Krieg bei allen Beteilig­ ten nach sich zog, für den Nachkriegsaufbau das zweckmäßigste Wirt­ schaftssystem einzusetzen, ist es daher nicht zu umgehen, eine Erfahrungsbilanz der bisherigen Wirtschaftslenkung zu ziehen.

3. Die Lenkung, wirtschaftlich gesehen a) Die Grundform der Wirtschaftslenkung Wenn wir die ideologischen Nebel zerstreuen, hinter denen die Wirt­ schaftslenkung nur allzusehr ihre Wirklichkeit verbirgt, und die für dieses System konstitutiven Faktoren vom Zufälligen und Unwesent­ lichen trennen, so ergibt sich folgendes: Das typische Grundelement der Wirtschaftslenkung ist ein System zen­ traler staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft. Es wird nicht versucht, die Wirtschaft auf marktwirtschaftlichem Wege, das heißt also prak­ tisch durch Besteuerung vorhandener Kaufkraft, in den Dienst des Staates zu stellen, sondern es wird ein verstärkter Einsatz der Wirt­ schaft für den Staat über das in der Marktwirtschaft Mögliche hinaus erstrebt. Das typische Mittel ist auf der einen Seite die Finanzierung des Staates durch Geld- und Kreditexpansion. Auch diese würde die markt­ wirtschaftliche Steuerung nicht durchbrechen, da in allen normalen Konjunkturanstiegsperioden eine Preis- und Lohnsteigerung die An­ passung vollzog. Aus diesem Grunde dient ein allgemeines Preis- und Lohnstoppsystem dazu, dem Staate die äußerste Ausnutzung der wirt­ schaftlichen Kräfte für seine Zwecke zu ermöglichen. Die Wirtschafts­ lenkung muß so durchaus als ein Machtmittel des autoritären Staates angesehen werden, die Wirtschaftskräfte maximal für sich zu mobili­ sieren. Damit ist von vornherein eine erhebliche Einengung der wirt­ schaftlichen Stellung des Konsumenten gegeben, denn in erster Linie dient der Preisstopp dazu, den Staat gegen die Einengung seiner Kauf­ möglichkeiten durch Preissteigerung zu sichern. 33

Das Lenkungssystem hat so primär einen politischen Sinn, der sich besonders deutlich auch in der Kriegswirtschaft offenbarte, deren Auf­ gaben die Leftkungswirtschaft sich bereits im Frieden der Form nach anpaßte. Nur von dieser zentralen Logik eines Systems zur extremen Ausbeutung aller Kräfte durch den Staat ist das System der Wirtschafts­ lenkung ganz zu begreifen. Alle anderen Deutungen gehen an der Wirk­ lichkeit vorbei. Ob man sich theoretisch ein Lenkungssystem vorstellen kann, das bei zentralem Lenkungsapparat Preisfixierung und Kreditexpansion ver­ meidet, mag vorerst dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall würde eine solche Lenkung, da sie sich zum mindesten theoretisch der Wege der freien Marktwirtschaft bedienen könnte, deren wirtschaftspolitischem Formenkreis angehören und klar abgegrenzt sein gegen die hier zur Diskussion stehende Wirtschaftslenkung, deren unausweichliche Konsequenz auf eine Beseitigung des marktwirtschaftlichen Aus­ gleiches geht. Diese für die schärfste Mobilisierung der Wirtschaftskräfte zugunsten des Staates entworfene Wirtschaftslenkung tritt nun mit dem Anspruch auf, nicht nur diese Aufgabe der Kräftemobilisierung für den Staat, sondern schlechthin alle denkbaren wirtschaftspolitischen Aufgaben besser lösen zu können als eine andere Wirtschaftsordnung. Es soll im folgenden an Hand eines Ganges durch die wirtschaftliche Wirklichkeit festgestellt werden, wie es um diesen Anspruch, in jeder Hinsicht die überlegene Lösung zu bieten, steht, wobei das Ziel unserer Untersuchung keineswegs dahin geht, irgendwelche zufälligen empiri­ schen Mängel des Lenkungssystems aufzuweisen. Es interessieren hier lediglich diejenigen Seiten der Wirtschaftslenkung, in denen sich essen­ tielle Züge des Systems zeigen. Wenn manches Kritische zur Wirtschafts­ lenkung gesagt werden muß, so besteht keineswegs die Absicht, eine Chronique scandaleuse der bisherigen Wirtschaftssteuerung zu schreiben. Das einzelne ist immer nur dann angeführt, wenn es mit typischen Eigenarten des Lenkungssystems in Verbindung steht.

b) Der Konsument Die Versprechungen, welche die Wirtschaftslenkung für den Konsumen­ ten bereit hält, sind umfassend und lassen nichts zu wünschen übrig: Die allgemeine Fixierung der Preise diene dem Interesse des Konsumen34

ten. Wenn der Preis selbst im Frieden innerhalb der Marktordnung höher als bei freier Preisbildung angesetzt wurde, so wurde diese Tat­ sache als der notwendige Ausgleich zwischen dem Standpunkt des Kon­ sumenten und dem des Produzenten gerechtfertigt, bei dem schließlich beide Teile ihren Vorteil fänden, da der Konsument bei steigender Preistendenz eben durch den festen Preis gesichert sei. Man ging zum Teil so weit, das Lenkungssystem als die eigentliche Bedarfs­ deckungswirtschaft zu bezeichnen und demgegenüber dem marktwirt­ schaftlichen System ein wirkliches Eingehen auf den Bedarf überhaupt abzusprechen. Wie steht es nun mit dieser gepriesenen Stellung des Konsumenten im Lenkungssystem ? Zuerst einmal: Die Logik der Wirtschaftslenkung geht auf eine unge­ heure Konsumkompression zugunsten des Staates. Diese Wirtschafts­ weise als Bedarfsdeckungswirtschaft zu bezeichnen und ihr damit eine Steuerung von der Konsumseite her zuzuschreiben, stellt die tatsäch­ lichen Verhältnisse auf den Kopf. Durch die zentrale Verfügung über Preise, Mengen, Arbeitskräfte, Kapitalien schafft die Wirtschaftslenkung ja geradezu eine Situation, in der die in der Marktwirtschaft vorhan­ dene Autonomie des Konsumenten völlig beseitigt ist. Es muß daher als ein ausgesprochener Mangel des Lenkungssystems angesehen werden, daß ihm eine eigentliche Instanz, die den Grad der zugunsten des Staates dem Konsumenten zuzumutenden Konsumeinschränkung irgendwie bemißt, fehlt. Das tatsächliche Maß der Konsumeinschränkung ergibt sich vielmehr trotz der viel gerühmten Bewußtheit der Lenkung als ein Additionsergebnis der verschiedensten Planungen, bei deren Finanzie­ rung und Durchführung es zum Teil den Planlenkern gar nicht zum Bewußtsein kommt, in welchem Maße sie den Konsum komprimieren. Innerhalb einer ein gewisses Wachstum aufweisenden Wirtschaft wird dieser klare Tatbestand noch dadurch verschleiert, daß die Senkung des Lebensstandards des Konsumenten weniger in einem absoluten Ab­ sinken als in einem gleichbleibenden beziehungsweise verringerten An­ stieg zutage tritt. Dem Steuerungssystem fehlt so eine bewußt gelenkte Dosierung von Konsum und Investition. Es wird dagegen geltend gemacht, auch diese den Konsum komprimie­ renden staatlichen Investitionen kämen letztlich dem Konsumenten zugute. Das mag in einigen Fällen stimmen. In anderen Fällen von öffentlichem Luxus oder gar volkswirtschaftlich unrentablen staatlichen Investitionen trifft dies nicht zu. Zum mindesten ist dem Konsumenten 35

die Möglichkeit, über den Grad seiner Ersparnis- und Kapitalbildung selbst zu entscheiden, genommen, und er büßt damit eine Freiheit ein, mit deren Verlust er möglicherweise recht herb in seinem Lebensstan­ dard getroffen wird. Doch auch in der Befriedigung seines individuellen Bedarfs ist die Wirtschaftslenkung mit der Ausschaltung des marktwirtschaftlichen Ausgleichs nicht schon auf die Wünsche des Konsumenten eingestellt. Sie besitzt die Möglichkeit, sich in ihrem Wirtschaftsplan vom Kon­ sumenten zu emanzipieren und wirtschaftliche Bedürfnisse in anderem Umfange und anderer Rangskala zu befriedigen. Die damit geschaffene Situation bedeutet für den Konsumenten, daß er Güter kaufen muß, die seiner ursprünglichen Bedarfsrichtung eventuell nicht entsprechen. Gewiß hat auch die freie Marktwirtschaft durch Suggestionsreklame dem Konsumenten künstliche Bedürfnisse aufgeredet, aber auf die Dauer entschied doch in ihr immer das Kriterium des Konsumenten. Der Wirtschaftslenkung fehlt jegliches Kriterium für die Übereinstim­ mung von Bedarf und Produktion. Solange es in der Wirtschaftslenkung typisch ist, daß die Spannung zwischen Preisstopp und Kreditexpansion besteht, wird dem Konsumenten ein Warensortiment praktisch auf­ gezwungen, ohne daß festgestellt werden kann, ob es seinen Wünschen entspricht. Damit ist der Konsument in der Tat zu einer bedeutungs­ losen Wirtschaftsfigur herabgesunken, und wenn er, wie es in Deutsch­ land durchweg der Fall ist, seiner Natur nach auch noch mit Geduld gewappnet ist, besteht für die Wirtschaftslenkung die Möglichkeit, für den Konsumenten zu produzieren, was und wie man will, ohne daß praktisch eine Reaktion sichtbar wird. Nur so ist es verständlich, daß zum Beispiel in Deutschland die Frage, ob nicht selbst im Rahmen unserer Kriegswirtschaft doch eine bessere Versorgung des zivilen Be­ reichs möglich gewesen wäre, auf völlige Gleichgültigkeit stieß. So wur­ den Möglichkeiten, den textilen Bedarf etwa auf der Grundlage des Austausches von Neutextilien gegen Altmaterial zu decken, überhaupt nicht in Erwägung gezogen, sichtlich, weil man sich daran gewöhnt hatte, den Konsumenten für unerheblich zu halten. Wenn so im Lenkungsapparat heute eine unverkennbare Gleichgültig­ keit gegenüber dem Konsumenten vorhanden ist, ist das nicht ein empi­ rischer Mangel des Lenkungssystems, dem man dadurch beikommen könnte, daß man den Leitern unserer Wirtschaftslenkung mehr ernst­ hafte Berücksichtigung der Konsumenten wünsche anbeföhle. Die Gleich­ gültigkeit ist vielmehr Ausdruck eines konstitutiven Fehlers des Len-

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