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German Pages 602 Year 2012
Hans-Peter Wiendahl Jürgen Reichardt Peter Nyhuis
Handbuch Fabrikplanung Konzept, Gestaltung und Umsetzung wandlungsfähiger Produktionsstätten
Handbuch Fabrikplanung Übersicht
Grundlagen
Veränderungstreiber der Fabrik
1
2 Planungsbasis Produktionsanforderungen Bekannte Produktionskonzepte Systematik der Veränderungsfähigkeit
3
4
5
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
Gestaltungsfelder Fabrikebene Gestaltungsaspekt
Planungssystematik 6
Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Arbeitplatz
Arbeitsorganisatorische 7 Arbeitsplatzgestaltung
15
16 Projektmanagement
8
Räumliche Arbeitsplatzgestaltung
17 Facility Management
Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung Arbeits bereich
Synergetische Fabrikplanung
9
10
Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
11 Gebäude
Gebäudegestaltung
12 Generalbebauung
Standort
Standortplanung aus Raumsicht
13
Strategische Standortplanung
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Kapitelnummer
Wiendahl/Reichardt/Nyhuis
Handbuch Fabrikplanung
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Hans-Peter Wiendahl Jürgen Reichardt Peter Nyhuis
Handbuch Fabrikplanung Konzept, Gestaltung und Umsetzung wandlungsfähiger Produktionsstätten
Die Autoren Prof. a. D. Dr.-Ing. Dr. h.c.mult. Hans-Peter Wiendahl, IFA Institut für Fabrikanlagen und Logistik, Leibniz Universität Hannover, An der Universität 2, 30823 Garbsen [email protected] Prof. Dipl.-Ing. Architekt BDA Jürgen Reichardt, Fachhochschule Münster, muenster school of architecture, Fachbereich Baukonstruktion und Industriebau. Leonardo Campus 7, 48149 Münster [email protected] RMA I Reichardt - Maas - Assoziierte Architekten GmbH & Co. KG, Kaninenberghöhe 2, 45136 Essen [email protected] Prof. Dr.-Ing. habil Peter Nyhuis, Leiter IFA Institut für Fabrikanlagen und Logistik, Leibniz Universität Hannover, An der Universität 2, 30823 Garbsen [email protected]
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
ISBN 978-3-446-22477-3
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© 2009 Carl Hanser Verlag München Wien www.hanser.de Lektorat: Dipl.-Ing.Volker Herzberg Gestaltung, Seitenlayout und Herstellung: Der Buchmacher, Arthur Lenner, München Coverconcept: Marc Müller-Bremer, Rebranding, München, Germany Titelillustration: Atelier Frank Wohlgemuth, Bremen Coverrealisierung: Stephan Rönigk Druck und Bindung: Firmengruppe Appl, aprinta druck, Wemding Printed in Germany
Vorwort Die Globalisierung der Wirtschaft ist seit Beginn der 1990er Jahre in weniger als zwei Jahrzehnten Realität geworden. In Folge dessen verteilt sich die Produktion eines Unternehmens häufig auf Standorte in mehreren Ländern und unterliegt meist starken Schwankungen. Dies bedingt eine hohe Reaktionsund Veränderungsfähigkeit der einzelnen Produktionsstätten. Der damit notwendige Paradigmenwechsel besteht im Wesentlichen in der Umkehrung der Sichtweise auf eine Fabrik. Wurden bis dahin Produktentwicklung, Produktion und Auftragsabwicklung als primäre Prozesse des Stammhauses betrachtet und die Beschaffung und Verteilung der Fertigprodukte an die Kunden eher als Hilfsfunktionen gesehen, steht nunmehr die zuverlässige Versorgung global verteilter Märkte aus dem jeweils günstigsten Standort im Vordergrund. Statt zentraler Fabriken mit hoher Fertigungstiefe sind daher marktnahe, wandlungsfähige und ggf. sogar temporäre Produktionsstätten erforderlich. Vor diesem Hintergrund haben die Autoren dieses Buches die Notwendigkeit gesehen, die bisherige Fabrikplanung einer kritischen Bestandsaufnahme zu unterziehen. Aus den Erkenntnissen mehrerer Forschungsprojekte und zahlreicher realisierter Fabrikprojekte in verschiedenen Branchen wurde deutlich, dass zu dem nach wie vor primären Ziel höchster Wirtschaftlichkeit zusätzlich folgende Fabrikeigenschaften gefordert sind: • Je nach Veränderungsimpuls kann sich eine Fabrik in angemessener Zeit auf der jeweils betroffenen Ebene sowohl produktionstechnisch als auch räumlich anpassen. • Fertigungs- und Montagesysteme berücksichtigen lokale Gesichtspunkte hinsichtlich Know-how, Lohnkostenniveau und geforderter Wertschöpfung (local content). • Produktionseinrichtungen und Gebäude sind ressourcenschonend und energieeffizient ausgelegt.
• Die Fabrik repräsentiert durch ihren äußeren Auftritt den Anspruch des Unternehmens und durch ihr inneres Erscheinungsbild den Anspruch der Produkte. • Produktionsstätten stellen durch ihre räumliche Gestaltung angenehme Arbeitsplätze zur Verfügung und bringen damit eine Wertschätzung der Mitarbeiter zum Ausdruck. Vor diesem Hintergrund hat sich über viele Jahre hinweg der dreigliedrige Aufbau dieses Buches entwickelt. Im ersten Hauptteil mit insgesamt fünf Kapiteln geht es um ein tieferes Verständnis der Veränderungstreiber einer Fabrik und der sich daraus ergebenden Planungsbasis sowie der zukünftigen Anforderungen. Es folgt eine Würdigung bisheriger Produktionskonzepte. Der Teil schließt mit einer ausführlichen Ableitung verschiedener Ausprägungen der Veränderungsfähigkeit eines Standortes. Der zweite Hauptteil beschreibt in neun Kapiteln die Gestaltung einer Produktionsstätte auf den Ebenen Arbeitplatz, Arbeitsbereich, Gebäude und Standort. Dabei werden je nach Ebene strategische, funktionale und arbeitsorganisatorische Gestaltungsfelder unter besonderer Berücksichtigung der Wandlungsfähigkeit behandelt. Einen hohen Stellenwert nimmt die Beschreibung der räumlichen Ausprägung dieser Ebenen ein, um den Blick des Fabrikplaners auf die Leistungsform von Gebäuden und ihre technische Ausstattung zu lenken. Im dritten Hauptteil geht es in drei Kapiteln um die Systematik der Fabrikplanung unter den neuen Anforderungen. Den Schwerpunkt bildet das Modell der Synergetischen Fabrikplanung, das in sieben Leistungsphasen das kreative Zusammenspiel von Produktionsplanung und Raumplanung auf Basis einer durchgängigen 3D-Modellierung von der Zielfestlegung bis zum Hochlauf beschreibt. Dem Projektmanagement gilt ein zweites Kapitel mit den Aspekten Projektteambildung und -aufgaben, gefolgt von einem kurzen Überblick über digitale Werkzeuge der Fabrikplanung aus Produktionsplanungs- und
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Bausicht. Die effiziente Verwendung von Immobilien gewinnt angesichts der häufigeren Nutzungsänderung an Bedeutung. Daher ist das letzte Kapitel des Buches dem Facility Management gewidmet. Dieses Handbuch will zunächst dem Management von Produktionsunternehmen sowie den Planern und Gestaltern von Produktionsstätten eine umfassende methodische und praktische Hilfestellung bieten. Ebenso sind Industriearchitekten und Bauplaner angesprochen, welche Industriebauten gestalten und ausführen. Schließlich richtet sich das Handbuch an Studierende der Fachgebiete Produktionstechnik und Logistik aus den Ingenieur- und Betriebswissenschaften sowie Architektur und Hochbau. Unser Dank gilt Herrn Thomas Heinen und Serjosha Wulf vom IFA der Universität Hannover, die insbe-
sondere das Kapitel 15 Synergetische Fabrikplanung mitgestaltet haben und die Formatierung besorgten. Herr Ingo Pfeifer von Reichardt Maas Architekten hat die Kapitel, welche die Raumplanung betreffen, tatkräftig unterstützt. Weiterhin möchten wir Herrn Volker Herzberg vom Hanser Verlag danken, der in den nahezu 10 Jahren, die zwischen der ersten Idee des Buches und seiner Realisierung vergangen sind, nie die Geduld verlor. Schließlich gilt unser Dank Herrn Arthur Lenner, der das anmutige Layout des Besuches besorgt hat. Hannover und Essen, August 2009 Hans-Peter Wiendahl Jürgen Reichardt Peter Nyhuis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort..............................................................................................................................................................................V Inhaltsverzeichnis....................................................................................................................................................VII
Kapitel 1: Veränderungstreiber der Fabrik. .............................................................................. 1 1.1 Wandlungsträge Fabriken. ........................................................................................................................ 5 1.2 Bisherige Ansätze der Unternehmensführung. ........................................................................... 7 1.3 Wettbewerbsfaktoren überlegener Organisationen............................................................... 13 1.4 Literatur.............................................................................................................................................................. 15
Kapitel 2: Planungsbasis........................................................................................................................... 19 2.1 Produktionsstrategie.................................................................................................................................. 23 2.2 Fabrikstrategie............................................................................................................................................... 25 2.3 Marktleistung.................................................................................................................................................. 26 2.4 Geschäftsprozesse. .....................................................................................................................................30 2.5 Gestaltungsfelder der Fabrik................................................................................................................ 31 2.6 Produktionsstandort und Fabrik.........................................................................................................33 2.7 Morphologie von Fabriktypen...............................................................................................................34 2.8 Literatur..............................................................................................................................................................38
VII
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 3: Produktionsanforderungen.......................................................................................... 41 3.1 Reaktionsschnelligkeit..............................................................................................................................46 3.2 Mengen- und Variantenflexibilität......................................................................................................48 3.3 Grenzwertorientierung.............................................................................................................................. 51 3.4 Selbstorganisation und Partizipation............................................................................................... 57 3.5 Kommunikation..............................................................................................................................................60 3.6 Vernetzung und Kooperation. ............................................................................................................... 61 3.7 Demographische Entwicklung..............................................................................................................65 3.8 Unternehmenskultur. ................................................................................................................................. 67 3.8.1 Organisatorische Sicht.............................................................................................................................. 67 3.8.2 Architektonische Sicht.............................................................................................................................. 69
3.9 Nachhaltigkeit................................................................................................................................................. 71 3.10 Leitsätze Produktion................................................................................................................................... 73 3.11 Literatur.............................................................................................................................................................. 74
Kapitel 4: Bekannte Produktionskonzepte. ............................................................................77 4.1 F. W. Taylor........................................................................................................................................................ 81 4.2 Gruppenarbeit................................................................................................................................................. 82 4.3 Fertigungsinseln............................................................................................................................................84 4.4 Flexible Fertigungssysteme...................................................................................................................86 4.5 Fertigungssegmente................................................................................................................................... 87 4.6 Die schlanke Produktion und das Toyota Produktionssystem........................................ 89 4.7 Just in Time....................................................................................................................................................... 93 4.8 Das Fraktale Unternehmen.................................................................................................................... 96
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Inhaltsverzeichnis
4.9 Agilitätsorientierter Wettbewerb........................................................................................................ 97 4.10 Kundenindividuelle Massenproduktion.......................................................................................... 98 4.11 Das Produktionsstufenkonzept......................................................................................................... 101 4.12 Forschungsansätze....................................................................................................................................103 4.13 Zwischenfazit................................................................................................................................................. 107 4.14 Literatur............................................................................................................................................................ 107
Kapitel 5: Systematik der Veränderungsfähigkeit......................................................... 111 5.1 Flexibilität........................................................................................................................................................ 115 5.2 Rekonfigurierbarkeit.................................................................................................................................120 5.3 Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbefähiger........................................................................ 121 5.4 Gestaltungsfelder der Veränderungsfähigkeit.........................................................................127 5.5 Morphologie der Veränderungsfähigkeit.....................................................................................128 5.6 Klassen der Veränderungsfähigkeit der Produktionsleistung....................................... 131 5.7 Bewertung der Veränderungsfähigkeit......................................................................................... 135 5.8 Regelkreis der Wandlungsfähigkeit................................................................................................ 141 5.9 Leitbild der wandlungsfähigen Fabrik...........................................................................................143 5.10 Literatur............................................................................................................................................................145
Funktionale Arbeitsplatzgestaltung............................................................................................... 149 6.1 Übersicht.......................................................................................................................................................... 155 6.2 Produktionstechnologie. ........................................................................................................................ 158 6.2.1 Fertigungsverfahren................................................................................................................................ 158 6.2.2 Montageverfahren................................................................................................................................... 162 6.2.3 Logistikverfahren..................................................................................................................................... 168
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Inhaltsverzeichnis
6.3 Betriebsmittel. .............................................................................................................................................. 176 6.3.1 Fertigungsmittel....................................................................................................................................... 178 6.3.2 Montagemittel..........................................................................................................................................186 6.3.3 Logistikmittel........................................................................................................................................... 195
6.4 Literatur............................................................................................................................................................203
Kapitel 7: Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung. ................................207 7.1 Begriff der Humanressource............................................................................................................... 211 7.2 Humanressourcen und Produktionsleistung............................................................................ 211 7.3 Kompetenz- und Personalentwicklung......................................................................................... 212 7.3.1 Berufliche Handlungskompetenz.......................................................................................................... 212 7.3.2 Strategien der Kompetenzentwicklung................................................................................................ 214 7.3.3 Personalentwicklung............................................................................................................................... 214
7.4 Arbeitsstrukturierung. ............................................................................................................................. 216 7.5 Motivation. ...................................................................................................................................................... 218 7.6 Entgeltgestaltung. ......................................................................................................................................221 7.7 Arbeitszeitgestaltung...............................................................................................................................225 7.8 Literatur............................................................................................................................................................230
Kapitel 8: Räumliche Arbeitsplatzgestaltung.....................................................................233 8.1 Ergonomie. ......................................................................................................................................................238 8.2 Raumausstattung. ...................................................................................................................................... 241 8.3 Farbgestaltung. ............................................................................................................................................242 8.3.1 Psychologische Farbwirkungen.............................................................................................................242 8.3.2 Sicherheitsfarben, Kennzeichnung Medienleitung............................................................................243 8.3.3 Ganzheitliches Farbkonzept...................................................................................................................243
8.4 Arbeitsschutz. ...............................................................................................................................................244 8.4.1 Übersicht...................................................................................................................................................244
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Inhaltsverzeichnis
8.4.2 8.4.3 8.4.4 8.4.5 8.4.6 8.4.7 8.4.8
Arbeitsstättenverordnung......................................................................................................................244 Mitbestimmung........................................................................................................................................246 Tritt- und Absturzsicherheit................................................................................................................... 247 Gefahrstoffschutz.....................................................................................................................................248 Lärmschutz und Lärmminderung.........................................................................................................249 Wärme-, Kälte-, Vibrationsschutz..........................................................................................................250 Elektrosicherheit und Strahlenschutz.................................................................................................. 251
8.5 Literatur............................................................................................................................................................252
Kapitel 9: Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung ......................................................253 9.1 Übersicht über die Gestaltungsfelder...........................................................................................257 9.2 Kundenauftragsentkopplungspunkt...............................................................................................258 9.3 Abwicklungsarten.......................................................................................................................................260 9.4 Auftragsarten................................................................................................................................................ 261 9.5 Prozessmodelle............................................................................................................................................262 9.5.1 Beschaffungsmodelle..............................................................................................................................262 9.5.2 Produktionsmodelle................................................................................................................................265 9.5.3 Liefermodelle............................................................................................................................................265
9.6 Fertigungs- und Montageprinzipien................................................................................................267 9.7 Produktionssegmente..............................................................................................................................269 9.8 Produktionsplanung und -steuerung..............................................................................................270 9.9 Auswahl und Konfiguration von Fertigungssteuerungsverfahren. ............................. 274 9.10 Literatur............................................................................................................................................................280
Kapitel 10: Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung........................................................283 10.1 Kommunikation............................................................................................................................................287 10.1.1 Wege, Treppen, Zwischenräume............................................................................................................289 10.1.2 Anordnung und Verbindung Arbeitsbereiche.....................................................................................290 10.1.3 Lage, Form und Ausstattung Gemeinschaftsräume...........................................................................292
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Inhaltsverzeichnis
10.2 Belichtung........................................................................................................................................................293 10.2.1 Tageslicht..................................................................................................................................................293 10.2.2 Natürliche Belichtung.............................................................................................................................294 10.2.3 Künstliche Beleuchtung..........................................................................................................................297 10.2.4 Lichtlenkung.............................................................................................................................................299
10.3 Behaglichkeit.................................................................................................................................................300 10.4 Rekreation.......................................................................................................................................................302 10.4.1 Pausenbereiche, Sozialräume................................................................................................................303 10.4.2 Kantine, Cafeteria, Teeküchen...............................................................................................................304 10.4.3 Sport, Spiel, Freizeit................................................................................................................................304
10.5 Brandschutz. ..................................................................................................................................................304 10.5.1 Brandschutzkonzept, Brandabschnittsflächen....................................................................................305 10.5.2 Abstandsflächen, Brandwände, Komplextrennwände.......................................................................306 10.5.3 Feuerwiderstandsklassen.......................................................................................................................307 10.5.4 Flucht- und Rettungswege......................................................................................................................308 10.5.5 Rauch- und Wärmeabzug, Feuerlöscheinrichtungen.........................................................................309
10.6 Literatur............................................................................................................................................................ 310
Kapitel 11: Gebäudegestaltung. ....................................................................................................... 313 11.1 Tragwerk........................................................................................................................................................... 318 11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.1.5
Projektanforderungen und Lastannahmen.......................................................................................... 318 Strukturform als statisches System......................................................................................................320 Spannweite...............................................................................................................................................324 Werkstoffwahl und Fügeprinzip............................................................................................................325 Profilierung der Stützen, Träger und Decken......................................................................................328
11.2 Hülle....................................................................................................................................................................330 11.2.1 Schutzfunktionen.....................................................................................................................................330 11.2.2 Produktion und Logistik.........................................................................................................................331 11.2.3 Belichtung, Ausblick, Kommunikation.................................................................................................333 11.2.4 Ökologie und Energiegewinnung..........................................................................................................334
11.3 Medien...............................................................................................................................................................334 11.3.1 Ver- und Entsorgungssysteme...............................................................................................................336 11.3.2 Technikzentralen.....................................................................................................................................337 11.3.3 Haupttrassen............................................................................................................................................339 11.3.4 Leitungsnetze...........................................................................................................................................339 11.3.5 Auslässe....................................................................................................................................................340
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Inhaltsverzeichnis
11.4 Ausbau...............................................................................................................................................................341 11.4.1 Böden.........................................................................................................................................................342 11.4.2 Wände........................................................................................................................................................345 11.4.3 Decken.......................................................................................................................................................345 11.4.4 Kerne..........................................................................................................................................................347 11.4.5 Treppen......................................................................................................................................................348
11.5 Beispiele für wandlungsfähige Gebäude.....................................................................................349 11.6 Anmutung und Ästhetik. ........................................................................................................................350 11.6.1 Strukturelle Ordnung..............................................................................................................................350 11.6.2 Einfachheit................................................................................................................................................351 11.6.3 Balance von Einheit und Vielfalt...........................................................................................................351 11.6.4 Unverwechselbarkeit..............................................................................................................................351 11.6.5 Emotionale Qualität, Atmosphäre.........................................................................................................352
11.7 Literatur............................................................................................................................................................352
Kapitel 12: Generalbebauung.............................................................................................................355 12.1 Anforderungsprogramm.........................................................................................................................359 12.1.1 Flächenbedarf und Raumspiegel...........................................................................................................359 12.1.2 Prozess- und Logistikelemente..............................................................................................................362 12.1.3 Ver- und Entsorgung................................................................................................................................364 12.1.4 Besondere Anforderungen......................................................................................................................365
12.2 Bauformen.......................................................................................................................................................365 12.2.1 Schnittprofil..............................................................................................................................................366 12.2.2 Grundrissfigur..........................................................................................................................................368 12.2.3 Verknüpfungsprinzip..............................................................................................................................370
12.3 Objektschutz..................................................................................................................................................372 12.3.1 Einbruch, Diebstahl.................................................................................................................................372 12.3.2 Brandschutz, Explosionsschutz.............................................................................................................372
12.4 Generalbebauungsplan (Masterplan)............................................................................................372 12.4.1 Ablauf........................................................................................................................................................372 12.4.2 Zonierung und Ordnungsraster............................................................................................................. 374 12.4.3 Erschließungs-, Ver- und Entsorgungssystem.....................................................................................375 12.4.4 Bauten, Freiflächen.................................................................................................................................. 376
12.5 Literatur............................................................................................................................................................378
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 13: Standortplanung aus Raumsicht. .....................................................................379 13.1 Erschließung. .................................................................................................................................................383 13.2 Ver- und Entsorgung Medien...............................................................................................................383 13.3 Grundstück.....................................................................................................................................................385 13.3.1 Geometrische Eigenschaften..................................................................................................................385 13.3.2 Bodenbeschaffenheit...............................................................................................................................386 13.3.3 Hindernisse und Bebauungen................................................................................................................386
13.4 Gesetze und Auflagen..............................................................................................................................386 13.5 Standortbewertung. ..................................................................................................................................387 13.6 Umwelt..............................................................................................................................................................388 13.7 Literatur............................................................................................................................................................390
Kapitel 14: Strategische Standortplanung............................................................................393 14.1 Auslöser einer Standortplanung.......................................................................................................397 14.2 Eignungsprüfung der heutigen Struktur......................................................................................399 14.3 Standortfaktoren.......................................................................................................................................402 14.4 Vorgehensmodell Standortauswahl................................................................................................407 14.5 Bildung von Produktionsstufen.........................................................................................................408 14.6 Literatur............................................................................................................................................................ 415
Kapitel 15: Synergetische Fabrikplanung............................................................................... 417 15.1 Ansatz.................................................................................................................................................................423 15.2 Prozessmodell...............................................................................................................................................427 15.3 Zielfestlegung................................................................................................................................................436
XIV
Inhaltsverzeichnis
15.3.1 Hauptschritte............................................................................................................................................436 15.3.2 Logistikprofil Standort............................................................................................................................437 15.3.3 Umfeldanalyse..........................................................................................................................................439 15.3.4 Erfolgsfaktoren........................................................................................................................................ 440 15.3.5 Veränderungstreiber...............................................................................................................................441 15.3.6 Szenarienerstellung................................................................................................................................441 15.3.7 Visionsfindung.........................................................................................................................................445 15.3.8 GENEering................................................................................................................................................447 15.3.9 Handlungsfelder .....................................................................................................................................449
15.4 Grundlagenermittlung..............................................................................................................................450 15.4.1 Objektdaten...............................................................................................................................................451 Produktionsprogramm..............................................................................................................................451 Betriebseinrichtungen...............................................................................................................................452 15.4.2 Prozessanalyse.........................................................................................................................................454
15.5 Konzeptplanung...........................................................................................................................................460 15.5.1 Strukturentwicklung...............................................................................................................................460 15.5.2 Strukturdimensionierung.......................................................................................................................463 Eingangsgrößen........................................................................................................................................463 Bestimmung der Betriebseinrichtungen..................................................................................................465 Flächenbestimmung Betriebsmittel.........................................................................................................467 Flächenbestimmung Lager- und Transportflächen................................................................................469 Flächenmodule.......................................................................................................................................... 470 15.5.3 Groblayoutplanung.................................................................................................................................. 471 Layout-Arten.............................................................................................................................................. 471 Ideales und maßstäbliches Funktionsschema....................................................................................... 472 Ideales 2D- und 3D-Groblayout............................................................................................................... 472 Reales Groblayout..................................................................................................................................... 475 Bewertung . ................................................................................................................................................477
15.6 Detailplanung................................................................................................................................................482 15.6.1 Verkehrswegesystem..............................................................................................................................482 15.6.2 Feinlayoutplanung...................................................................................................................................482
15.7 Realisierungsvorbereitung....................................................................................................................487 15.8 Realisierungsüberwachung..................................................................................................................487 15.9 Hochlaufbetreuung....................................................................................................................................487 15.10 Literatur............................................................................................................................................................489
XV
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 16: Projektmanagement......................................................................................................493 16.1 Aufgaben des Projektmanagements..............................................................................................497 16.1.1 Stolpersteine.............................................................................................................................................497 16.1.2 Aufgabenübersicht..................................................................................................................................498
16.2 Projektorganisation...................................................................................................................................500 16.2.1 Teambildung.............................................................................................................................................500 16.2.2 Beispiel einer Projektorganisation........................................................................................................501 16.2.3 Regeln für das Projektteam....................................................................................................................502
16.3 Projektplanerstellung...............................................................................................................................503 16.4 Kapazitätsplanung......................................................................................................................................506 16.5 Vertragsgestaltung. ...................................................................................................................................506 16.5.1 Allgemeines..............................................................................................................................................506 16.5.2 Vergabeformen.........................................................................................................................................507 16.5.3 Vor- und Nachteile Vergabeformen.......................................................................................................508 16.5.4 Haftungsfragen.........................................................................................................................................509
16.6 Projekthandbuch......................................................................................................................................... 510 16.7 Kostenermittlung und -kontrolle. ..................................................................................................... 510 16.7.1 Voraussetzungen für Kostenermittlung............................................................................................... 511 16.7.2 Kosten im Hochbau nach DIN 276........................................................................................................ 511 16.7.3 Nutzungskosten im Hochbau nach DIN 18960................................................................................... 513 16.7.4 Kostenmanagement................................................................................................................................. 514
16.8 Digitale Fabrik............................................................................................................................................... 517 16.8.1 Konzept...................................................................................................................................................... 517 16.8.2 Digitale Werkzeuge.................................................................................................................................. 519 16.8.3 Simulationsbeispiel................................................................................................................................. 521
16.9 Building Information Modeling...........................................................................................................524 16.9.1 Einführung................................................................................................................................................524 16.9.2 Auswertung des durchgängigen Gebäudedatenmodells...................................................................526 16.9.3 Fazit............................................................................................................................................................532
16.10 Literatur . .........................................................................................................................................................532
XVI
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 17: Facility Management.....................................................................................................535 17.1 Historie und Definition............................................................................................................................539 17.2 Aufgaben und Abgrenzung. ..................................................................................................................539 17.2.1 Ermitteln und Bereithalten aktueller Daten .......................................................................................540 17.2.2 Bewerten von Standorten, Gebäuden, Einrichtungen........................................................................540 17.2.3 Raum- und Belegungsplanung...............................................................................................................540 17.2.4 Gebäudebetrieb und Bewirtschaftung..................................................................................................540 17.2.5 Budgetierung und Bewertung................................................................................................................540
17.3 Facility Management im Lebenszyklus eines Objektes.....................................................540 17.3.1 Neuplanungsphase..................................................................................................................................541 17.3.2 Realisierungsphase.................................................................................................................................542 17.3.3 Betriebsphase...........................................................................................................................................543 17.3.4 Umplanungsphase.................................................................................................................................. 544 17.3.5 Rückbauphase......................................................................................................................................... 544
17.4 Facility Management Systeme.......................................................................................................... 544 17.4.1 Funktionen............................................................................................................................................... 544 17.4.2 Aufbau von Datenmodellen....................................................................................................................546 17.4.3 Virtueller Projektraum............................................................................................................................551 17.4.4 Navigation.................................................................................................................................................552 17.4.5 Auswahl eines CAFM-Systems .............................................................................................................554
17.5 Anwendungen des Facility Managements..................................................................................555 17.5.1 Minimierung Unterhaltskosten.............................................................................................................555 17.5.2 Vermeidung von Zuteilungskonflikten.................................................................................................556 17.5.3 Raumplanung...........................................................................................................................................556 17.5.4 Schließmanagement und Schlüsselverwaltung..................................................................................557 17.5.5 Kosten- und Gebäudezustandskontrolle..............................................................................................557 17.5.6 Berichtserstellung...................................................................................................................................557 17.5.7 Brandschutz..............................................................................................................................................557
17.6 Modellierung von FM-Prozessen. .....................................................................................................558 17.7 Fallbeispiele. ..................................................................................................................................................559 17.7.1 Phoenix AG Hamburg.............................................................................................................................559 17.7.2 Londa Rothenkirchen..............................................................................................................................560
17.8 Literatur . .........................................................................................................................................................562
XVII
Inhaltsverzeichnis
Anhang........................................................................................................................................................................565 Anhang A .....................................................................................................................................................................567 Wandlungspotenzialbestimmung der Fabrikobjekte. ......................................................................567 Anhang A1 Definition.........................................................................................................................................567 Anhang A2 Wandlungspotenzialmerkmale....................................................................................................569 Anhang A3 Transformationstabellen...............................................................................................................570 Anhang A4 Softwaretool....................................................................................................................................571
Anhang B......................................................................................................................................................................573 Raumspiegel.........................................................................................................................................................573
Anhang C......................................................................................................................................................................575 Anhang C1 Zielfindungsworkshop...................................................................................................................575 Anhang C2 Datenbedarfsliste........................................................................................................................... 576 Anhang C3 Nutzwertanalyse............................................................................................................................ 576 Anhang C4 Erweiterte Wirtschaftlichkeitsrechnung....................................................................................577
Anhang D . ...................................................................................................................................................................579 Anhang D 1 Videoanimation einer Feasibility Studie ..................................................................................579 Anhang D 2 Videoanimation Aufwertung der Werksstruktur einer Backwarenfertigung.....................580
Sachregister...............................................................................................................................................................581 Die beigefügte CD enthält sämtliche Anhänge in elektronischer Form.
XVIII
Die Autoren
Prof. Dr.-Ing. Dr. mult. h.c. Hans-Peter Wiendahl geb. 1938, studierte zunächst Maschinenbau an der Staatl. Ingenieurschule Dortmund und schloss nach einer zweijährigen Konstrukteurstätigkeit ein Maschinenbaustudium an der RWTH Aachen und am MIT, Cambridge, USA an. Danach promovierte er 1970 bei Prof. Opitz am Werkzeugmaschinenlaboratorium der RWTH Aachen und habilitierte sich dort 1972. Von 1972–74 war er Leiter Planung und Qualität der Escher Wyss GmbH Ravensburg, einer Tochter des Sulzer-Konzerns und anschließend 5 Jahre Leiter Technik Papiermaschinen in dieser Firma. 1979 folgte er einem Ruf an die Universität Hannover, wo er bis 2003 als Geschäftsführender Leiter des Instituts für Fabrikanlagen und Logistik im Fachbereich Maschinenbau wirkte. Die Schwerpunkte seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit liegen auf dem Gebiet der Fabrikplanung, Produktionssteuerung und Montagetechnik. Zahlreiche Bücher, Zeitschriftenaufsätze, realisierte Fabrikprojekte und einige Filme dokumentieren seine Arbeiten. In seiner aktiven Universitätszeit amtierte Prof. Wiendahl u. a. als Vizepräsident für Forschung an seiner Universität und war Fachgutachter der DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft, der AIF Arbeitsgemeinschaft Industrieller Forschungsvereinigungen, der Stiftung Industrieforschung und der Volkswagenstiftung. Von 1992 bis 2008 war er Geschäftsführender Gesellschafter der IPH Institut für Integrierte Produktion gemeinnützige GmbH Hannover. Zusätzlich nimmt er Mandate als Beiratsmitglied und Aufsichtsrat wahr. Prof. Wiendahl ist Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik WGP (Vorsitz 1998/99), der Internationalen Akademie für Produktionstechnik CIRP und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech. Er ist Ehrendoktor der TU Magdeburg, der ETH Zürich und der Universität Dortmund.
XIX
Die Autoren
Prof. Dipl.-Ing. Architekt BDA Jürgen Reichardt geb.1956, studierte Architektur an der TH Karlsruhe und der TU Braunschweig. Als Studentischer Assistent am Lehrstuhl für Industriebau der TU Braunschweig, Prof. Walter Henn, entwickelte sich sein Interesse für Fabrikarchitektur. Im Rahmen eines DAADStipendiums war er studienbegleitend als Auslandspraktikant in Chicago tätig, das Studium schloss er 1981 mit Diplom bei Prof. von Gerkan ab. Nach Mitarbeit in mehreren Braunschweiger Entwurfsbüros war Prof. Reichardt von 1983 bis 1986 wissenschaftlicher Assistent bei Prof. Helmut Schulitz am Lehrstuhl für Industriebau und Baukonstruktion an der TU Braunschweig, der eine Projektpartnerschaft mit Prof. Schulitz im Büro Schulitz Partner Architekten folgte. 1986 erfolgte seine Berufung in den BDA, Bund Deutscher Architekten, 1988 die Aufnahme als Meisterschüler an die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Von 1988 bis 1995 war Prof. Reichardt Projektleiter Entwurf und Realisierung komplexer Industriebauten in der agiplan AG in Mülheim/Ruhr. 1992 gründete er sein Büro Reichardt Architekten in Essen mit dem Schwerpunkt der Planung von Industriewerken und Logistikzentren im In- und Ausland u. a. für KHD, Villeroy & Boch, Continental, Modine, Wella, Blanco, Sartorius, Sennheiser, Bahlsen. Seit 1996 ist er Professor an der msa, muenster school of architecture, im Fachbereich Baukonstruktion und Industriebau und seit 2004 Dozent im Fernstudiengang Gebäudegestaltung und Facility Management an der FH Gießen-Friedberg. 2006 erfolgte die Gründung des Büros BRAE, Bhattacharya Reichardt Architects & Engineers in Bangalore, Indien und seit 2008 firmiert sein deutsches Büro als RMA Reichardt – Maas – Assoziierte Architekten GmbH & Co. KG in Essen.
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Die Autoren
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter Nyhuis, geboren 1957 in Hannover, studierte von 1978 bis 1984 Maschinenbau an der Universität Hannover. Er promovierte 1991 nach seiner Assistentenzeit am Institut für Fabrikanlagen und Logistik bei Prof. Wiendahl. Im Jahr 1999 schloss er seine Habilitation für das Fachgebiet Produktionslogistik ab. Er ist Autor zahlreicher Buchbeiträge und Fachartikel zu den Themen Produktionsplanung und -steuerung, Produktionscontrolling, Logistische Kennlinien, Fabrikplanung und Beschaffungslogistik. Von 1999 bis 2003 war Prof. Nyhuis bei der Siemens AG in der SPLS Supply Chain Consulting tätig. Er war dort als Partner für die Themen Supply Chain Management und Supply Chain Design zuständig. Neben Entwicklungsprojekten wie der Definition konzernweiter Prozessstandards und der Entwicklung eines Leitfadens für das Supply Chain Design betreute Prof. Nyhuis zahlreiche interne und externe Umsetzungsprojekte zur Optimierung der Logistik in Beschaffung, Produktion, Distribution und Order Management. 2003 erhielt er den Ruf an die Universität Hannover. Als Geschäftsführender Leiter des Instituts für Fabrikanlagen und Logistik an der Leibniz Universität Hannover vertritt er seitdem die Forschungs- und Lehrgebiete Fabrikplanung, Produktionslogistik, Montageplanung, Zuführtechnik und Arbeitswissenschaft. Seit dem 01. Januar 2008 ist er zudem geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Integrierte Produktion Hannover gGmbH (IPH). Prof. Nyhuis ist Mitglied der wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik e.V. (WGP), der internationalen Forschungsgemeinschaft für Produktionstechnik CIRP (Associate Member), der International Federation for Information Processing IFIP (Working Group 5.7: Production Control), der Hochschulgruppe Arbeits- und Betriebsorganisation (HAB), der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA) und der VDI-Gesellschaft Produktion und Logistik (GPL). Darüber hinaus ist er Vorsitzender des VDI-Fachausschusses Fabrikplanung sowie Vorsitzender des Kuratoriums des Heinz-Piest-Instituts (HPI).
XXI
Kapitel 1 Veränderungstreiber der Fabrik
1
2
1.1
Wandlungsträge Fabriken
5
1.3
Wettbewerbsfaktoren überlegener Organisationen 13
1.2
Bisherige Ansätze der Unter nehmensführung
7
1.4
Literatur
15
1 Bild 1.1:
Merkmale wandlungsträger Fabriken
5
Bild 1.2: Istzustand eines Fertigungsbereichs
6
Bild 1.3:
Marktentwicklung Nischenfahrzeuge (Polk-Studie 2006)
8
Bild 1.4:
Zusammenhang zwischen Produkt-, Prozess-, Gebäudelebens- und Flächennutzungszyklus (Wirth)
9
Bild 1.5:
Von der funktionalen Fabrik zum Standort im Produktionsnetz
11
Bild 1.6:
Verlagerungs- und Rückverlagerungsmotive in der Metall- und Elektroindustrie (FhG ISI)
12
Bild 1.7:
Wettbewerbsfaktoren überlegener Organisationen
13
Bild 1.8:
Externe und interne Veränderungstreiber von Produktionsunternehmen
14
3
Wandlungsträge Fabriken
Seit Beginn der 1990er Jahre ist in Deutschland eine intensive Diskussion über die Rolle und Bedeutung der Produktion in Wissenschaft und Praxis zu beobachten. Der in den 1980er Jahren entwickelte Ansatz des Computer Integrated Manufacturing (CIM) hatte nicht den erhofften Erfolg gebracht, um den weltweit höchsten Arbeitskosten zu begegnen. Die Scheinkonjunktur nach der deutschen Wiedervereinigung täuschte dann über die immer deutlicher werdenden Schwächen des Produktionsstandorts Deutschland hinweg. Erst die vom Massachusetts Institute of Technology (M.I.T.) USA erstellte Studie über die japanische, USamerikanische und europäische Automobilindustrie machte schlagartig deutlich, dass insbesondere die deutschen Industrieunternehmen dabei waren, ihre Wettbewerbsfähigkeit hinsichtlich Produktivität, Lieferzeiten und Qualität einzubüßen [Wom90]. Als Hauptursache wurde die unzureichende Innovations- und Anpassungsfähigkeit der Unternehmen an
Führungsmängel:
die enorme Dynamisierung der Märkte und Technologien erkannt. Diese überwiegend durch Führungsmängel verursachte Schwäche lässt sich mit dem Begriff der wandlungsträgen Fabrik bezeichnen, deren Merkmale Bild 1.1 nach vier Hauptkriterien gliedert.
nde Marktori ent ierung mangel
n
us
g
ep
o
schwache Identität und Kultur
a
fehlende Produktdifferenzierung
hohe Bestände
keine Erweiterungsmöglichkeiten
nd e En t wi ck l u n g s p l a n u n
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unangepasstes Entgeltsystem
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starre Arbeitszeitmodelle
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f ehl e
S i c he rh
wandlungsträge Fabrik
fehlende Mitarbeiterpartizipation
es
unübersichtlicher Materialfluss
lange Durchlaufzeiten
hierarchische Aufbauorganisation
gt
zentrale Lager
rä
x e O r ga n i pl e sa m ti ko
1
In der wandlungsträgen Fabrik ist im Laufe einer langen Unternehmenstradition eine komplexe Aufbau- und Ablauforganisation entstanden. Zahlreiche Abteilungen, streng gegliedert in fünf bis sieben Hierarchiestufen, haben genau festgelegte Aufgaben und Kompetenzen. Eine Mitarbeiterbeteiligung ist nicht erwünscht, die Entgeltsysteme sind auf Leistung, nicht auf Ergebnisse ausgerichtet. Betont wird die funktionale Optimierung der Abläufe in Vertrieb, Konstruktion und Produktion. Lange Entscheidungswege und eine mehrfach aufge teilte Verantwortung gegenüber dem Kunden für die Auftragsabwicklung sind die Folge. Fehlende Kundennähe steht in einem engen Zusammenhang mit einer mangelnden Marktorientierung. Infolge der funktionalen Organisation steht nicht der
n
1.1
g
G6181SW Wd B
Bild 1.1: Merkmale wandlungsträger Fabriken © IFA G6181SW_Wd_B
5
1 Veränderungstreiber der Fabrik
1
Materialfluss
Analyseergebnisse: • stark ungerichteter Materialfluss • Fertigungswege 1300m bis 1500m • Rüstzeiten bis zu 16 Stunden
• Nacharbeitsanteil 20% • Durchlaufzeit ca. 38 Arbeitstage • Flächendefizit 1400 m
Bild 1.2: Istzustand eines Fertigungsbereichs © IFA G3207SW_Wd_B G3207SW Wd B
Kunde und die Erfüllung seiner Wünsche im Vordergrund, sondern die Betonung von Betriebszielen wie die hohe Auslastung des Maschinenparks oder die Fertigung in sogenannten wirtschaftlichen Losgrößen. Erfolgreiches Handeln am Markt ist aber nur möglich, wenn es nach dem Grundsatz erfolgt, dass alles, was dem Kunden nicht dient, Verschwendung ist. Wandlungsträgen Unternehmen fehlt diese Ausrichtung. Sie nehmen meist keine innerbetriebliche Differenzierung ihrer Leistungen nach Kundengruppen und Märkten vor. Lange Durchlaufzeiten, hohe Bestände und zentrale Lager sind die sichtbaren Zeichen dieser falschen Unternehmensausrichtung. Vielfach fehlt auch eine Unternehmensvision als Handlungsleitlinie, aus der für jeden Mitarbeiter unmittelbar verständlich wird, worin das grundlegende Unternehmensziel besteht. Eine gefährliche Folge ist die schwindende Unternehmensidentität und -kultur. Da sich die Mitarbeiter nicht mit dem Unternehmen und seinen Produkten identifizieren können, sondern sich als Rädchen in einem großen Getriebe fühlen, kommt es teilweise zur „inneren Kündigung“. Man kämpft sich von Tag zu Tag durch
6
die komplizierte Organisation, Kraft für neue Ideen bleibt nicht mehr. Dies spüren auch die Kunden, die zu Recht ein mangelndes Engagement ihrer Gesprächspartner beklagen. Ohne eine solche Gesamtzielsetzung ist auch die Unternehmensentwicklung nicht zu planen. Die gewachsenen Strukturen spiegeln sich in einer unübersichtlichen Gebäudestruktur wider, die einen unübersichtlichen Materialfluss und lange Transportwege nach sich zieht. Kurzfristige Anpassungen von Betriebsbereichen z.B. aufgrund eines steigenden Produktionsbedarfs sind nur mit erheblichem Aufwand möglich, weil keine Erweiterungsmöglichkeiten vorhanden oder vorgesehen sind. Verstärkt wird der Kulturverfall noch durch unansehnliche Gebäude, ungeordnete, räumlich verstreute Lagerflächen mit Rohmaterial, angearbeiteten Teilen und Schrottansammlungen sowie schmutzige, schlecht beleuchtete Werkhallen, die eine positive Arbeitseinstellung erschweren. Kunden mag man gar nicht mehr durch den Betrieb führen, weil die Diskrepanz zwischen dem Produktanspruch und dem Erscheinungsbild der Fabrik zu offensichtlich ist.
1.2 Bisherige Ansätze der Unternehmensführung
Die geschilderten Entwicklungen führen schließlich zu einem ausgeprägten Sicherheitsdenken. Mit hohen Beständen in Rohmaterial, Zukaufteilen, Zwischenfabrikaten und Endprodukten wird eine Reaktionsfähigkeit vorgetäuscht, welche die Struktur selbst nicht mehr leisten kann. Kommt es zu Aufträgen, die nicht der Routine entsprechen, entstehen lange Lieferzeiten, Eilaufträge und Terminverzüge. Dass dabei auch ökologische Aspekte wie Ressourcenschonung und Umweltschutz völlig in den Hintergrund treten, ist nahezu unausweichlich. Bild 1.2 zeigt ein typisches Beispiel für Wandlungsträgheit aus der Praxis. In dem dargestellten Fertigungsbereich fällt sofort der stark ungerichtete Materialfluss auf. Die hier gefertigten Produkte legten während ihrer Bearbeitung deutlich mehr als einen Kilometer Wegstrecke zurück. Durchlaufzeiten von mehr als vier Wochen bei einer Bearbeitungszeit von zwei Tagen hatten hier eine ihrer Ursachen. Aber auch lange Rüstzeiten und ein hoher Anteil an Nacharbeit bremsten den Auftragsdurchlauf. Aktueller Anlass, diese Struktur in Frage zu stellen, war die Forderung, ein neues Produkt in die Fertigung aufzunehmen, für die ein Flächendefizit von 1.400 qm bestand. Eine Studie zeigte, dass durch konsequente Ausrichtung auf drei Produktgruppen (Renner, Läufer, Exoten), Vereinheitlichung der Arbeitsabläufe und Einführung des Ziehprinzips für die Auftragssteuerung eine Durchlaufzeit- und Flächenverringerung von 50 bzw. 40% erschließbar waren.
•
•
•
•
•
•
1.2 Bisherige Ansätze der Unternehmensführung Die skizzierten Entwicklungen haben deutlich gemacht, dass die früher erfolgreichen Grundsätze der industriellen Unternehmensführung angesichts einer immer schlechter planbaren Umwelt nicht mehr greifen. Hierzu zählten insbesondere [Lut96, Klo98]:
•
• Maximale Durchplanung und Effektivierung aller
•
betrieblichen Abläufe, vor allem in der Produktion.
Exemplarisch hierfür steht eine große Arbeitsvorbereitung und ausgeprägte Zeitwirtschaft. K lare arbeitsteilige Abgrenzung von Ressorts, fachlichen Zuständigkeiten und hierarchischen Verantwortlichkeiten. Kennzeichen hierfür sind umfangreiche Organisationshandbücher mit genauen Stellen- und Ablaufbeschreibungen. Gleichsetzung von fachlicher Kompetenz und hierarchischer Position. Dieses klassische Karrieremuster führt zwangsläufig zum Aufbau statt Abbau von Hierarchien. Eindeutige Präferenz für unternehmensinterne Lösungen. Nur ungern gab man vermeintliches oder tatsächliches unternehmensspezifisches Know-how in Form von Zulieferungen aus dem Hause mit der Folge einer steigenden Teile- und Variantenvielfalt. Maximale Nutzung des Serieneffektes. Als typische Verhaltensweise resultiert hieraus die Bildung großer Lose, das Vorziehen von Aufträgen oder die Auslösung von Vorratsaufträgen ohne konk rete Kunden. Marktbehauptung durch inkrementale Produktinnovationen in Form schrittweiser Verbesserungen existierender Produkte als Normalfall. Infolge eines dominanten Basisproduktes, häufig eine Erfindung des Firmeninhabers, konnte so über lange Zeit eine starke Kundenbindung erreicht werden. Entwicklung neuer Produkte, sogen. Sprunginnovationen, nur ausnahmsweise und zur Erschließung neuer Märkte. Selten erfolgten diese Inno vationen aus einer Studie der Kundenbedürfnisse (market pull), als vielmehr aus dem Technologiepotenzial des Unternehmens heraus (technology push). Im günstigsten Fall traf das neue Produkt auf ein vorhandenes Kundenbedürfnis oder weckte dieses. Primat von arbeitssparenden Investitionen und Innovationen. Da die Märkte noch nicht gesättigt waren, galt es, die hohen Lohn- und Lohnnebenkosten sowie die immer größeren Gemeinkosten durch überproportionale Rationalisierung des Produktionsprozesses zu kompensieren. Weitestgehende Externalisierung aller hierfür geeigneten Lasten und Kosten. Hierzu zählen ins-
1
7
1 Veränderungstreiber der Fabrik
1
besondere die Kosten der Umweltbelastung und bestimmter Sozialkosten, z.B. bei betriebsbedingter Kündigung. Der Erfolg dieser Grundsätze war an bestimmte, relativ stabile Umfeldbedingungen geknüpft, die seit Ende der 1990er Jahre, wenn überhaupt, nur noch eingeschränkt Gültigkeit besitzen. So war beispielsweise die Veränderung der Absatzmärkte meist langfristig vorhersehbar. Ein Kennzeichen hierfür war eine mittelfristige Unter nehmensplanung von drei bis fünf Jahren. Die Zahl der Wettbewerber auf diesen Märkten war begrenzt, ihre Stärken und Schwächen bekannt. Investitionskapital war ebenso zu niedrigen Kosten zu beschaffen wie natürliche Ressourcen. Die Umweltlasten spielten für den Unternehmenserfolg eine untergeordnete Rolle, ebenso wie der Börsenkurs des eigenen Unternehmens. Schließlich waren hoch motivierte, gut qualifizierte Arbeitskräfte überall verfügbar [Lut96]. Diese Rahmenbedingungen haben sich seit Beginn der 1980er Jahre mit einer zuvor nicht erlebten Geschwindigkeit verändert. Als wohl bedeutendste Herausforderung gilt die Globalisierung der Waren-
und Informationsströme, vorangetrieben durch die Entwicklungen der Logistik und des Internets. Dadurch drängt eine Fülle von Produkten aus jungen aggressiven Industrienationen auf den Weltmarkt. Als Folge davon werden Veränderungen der Märkte immer schlechter planbar. Ausgehend von Warnecke [War 93] und Westkämper [West 99a-c, West 00] hat sich hierfür der Begriff des turbulenten Handlungsumfeldes etabliert. Demnach können sich alle für die Produktion relevanten Para meter wie Produktaufbau, Wettbewerber, Absatzzahlen und verfügbare Technologien sehr schnell, kurzzyklisch und sprunghaft ändern. Damit nimmt die Vorhersehbarkeit von Veränderungen des industriellen Umfeldes stark ab. Indizien hierfür sind die anhaltende Verkürzung der Lebenszyklen eines Produktes vom Markteintritt bis zur Ablösung und die Diversifikation der Produkte mit immer mehr Varianten. Die wachsende Anzahl von Nischenfahrzeugen – ein typisches Lifestyle-Produkt –kann als exemplarisches Beispiel gelten. Bild 1.3 zeigt die Entwicklung in den letzten 5 Dekaden. Während in den 1960er
… SAV Sports Tourer Tall Wagon Coupé-Limousine Cabrio Coupé SUV
SUV
Kompakt-MPV
Kompakt-MPV
MPV
MPV
MPV
Kombi
Off-Road
Off-Road
Off-Road
Limousine
Limousine
Limousine
Limousine
Kombi
Kombi
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Fliessheck
Fliessheck
k Limousine
Off-Road
Coupé
Coupé
Coupé
Coupé
Coupé
Cabrio/Roadster
Cabrio/Roadster
Cabrio/Roadster
Cabrio/Roadster
Cabrio/Roadster
60er
70er
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90er
2005 - 2010
Flieheck
Bild 1.3: Marktentwicklung Nischenfahrzeuge (Polk-Studie 2006) © IFA 14.051SW_B
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14.051SW B
1.2 Bisherige Ansätze der Unternehmensführung
Gebrauchswert
C
A
A B C D
1
D
B
Lebensdauer
Produktlebenszyklus Prozesslebenszyklus Gebäudelebenszyklus Flächennutzungszyklus
Bild 1.4: Zusammenhang zwischen Produkt-, Prozess-, Gebäudelebens- und Flächennutzungszyklus (Wirth) © IFA 9901ASW_B
9901ASW B
Jahren lediglich die drei Kategorien Limousine, Coupé und Cabrio/Roadster existierten, waren 2006 bereits 14 Segmente bekannt. Namhafte Automobilhersteller haben für das nächste Jahrzehnt eine Steigerung auf mehr als 40 bis zu 50 Modelle angekündigt. Zu der Produktvielfalt tritt das rasche Vordringen neuer technologischer Entwicklungen hinzu, sei es in Form neuer Werkstoffe, Fertigungsverfahren und Informations- und Kommunikationstechniken oder Internet, RFID (Radio Frequency Identification Device) und Virtual Reality. Sie eröffnen sowohl dem Konstrukteur als auch dem Fabrikgestalter neue Gestaltungsspielräume. Eine weitere eher strukturelle Entwicklung betrifft das Auseinanderdriften der Lebenszyklen der technischen Fabrikelemente Prozess, Gebäude und Grundstück im Vergleich zum Produkt. Wirth hat diesen Tatbestand mit Bild 1.4 anschaulich verdeutlicht ([Wir00] zitiert nach [ScWi04 S. 106]). Die Produktlebenskurve (A) wird nicht zuletzt wegen der selbst erzeugten Variantenvielfalt im-
mer kürzer. Um dieser Entwicklung zu begegnen, erfolgt häufig eine Aufteilung des Produktes in Grundmodule, die mehrere Produkte überdauern, und in variantenabhängige Komponenten, die den Neuheitsanspruch des Produktes begründen, wie z.B. eine zusätzliche Funktion oder ein neues Design. Der Prozesslebenszyklus (B) wird durch technische Neuerungen und deren Wirtschaftlichkeit bestimmt. In der Regel wird er länger als der Produktlebenszyklus sein und für mehrere Produktgenerationen genutzt, nicht zuletzt wegen der Abschreibungsdauer der Betriebsmittel. Beim Gebäudelebenszyklus (C) ist zu unterscheiden zwischen dem Tragwerk das 30 bis 50 Jahre hält, und der technischen Gebäudeausrüstung, die vielleicht 10 bis 15 Jahre nutzbar ist. Meist beträgt die Dauer beider Teilzyklen das Mehrfache der Prozess- und Produktzyklen. Der Flächennutzungsz yklus (D) ist schließlich von der Lage des Grundstücks abhängig und dem damit verbundenen Bebauungsrecht. Er bewegt sich in der Größenordnung von Jahrzehnten und überdauert auch die Nutzungsdauer der Gebäude. Wirth folgert daraus auf die Notwendigkeit,
9
1 Veränderungstreiber der Fabrik
1
die Teilsysteme wandlungsfähig zu gestalten und sie im Lebenszyklus der ganzen Fabrik zeitlich zu harmonisieren [ScWi04 S.107]. Ungeachtet der daraus resultierenden, vielfach vernetzten Entscheidungs- und Ausführungsprozesse bei der Produktentwicklung, Markteinführung und Auftragsabwicklung nimmt die verfügbare Zeit ab, die den Unternehmen zur Reaktion auf die Umfeld veränderungen zur Verfügung steht. Als wesentliche Reaktion auf diese Entwicklungen setzte sich zunächst der Gedanke der Komplexitätsreduktion durch. Angetrieben durch Konzepte der schlanken Produktion [Wom90] und des Business-Reengineering [Ham93] zeigten sich hierzu drei Wege:
•
• Produkte
•
•
10
und Produktionsprogramme wurden in Komponenten, Module und Teilsysteme zerlegt und es erfolgte eine Konzentration auf Kernkompetenzen. Dies führte zu einer drastischen Reduktion der Eigenfertigungspositionen und der zu disponierenden Artikel durch entsprechende Zulieferanten, aber auch zu einem erheblichen Abbau von Arbeitskräften. Die gesamte Beschaffungslogistik erfuhr eine Neustrukturierung, Differenzierung und Beschleunigung durch Direktbelieferung an den Verbauort des Materials sowie den Aufbau von Modul- und Systemlieferanten. Diese übernahmen die Verantwortung von der konstruktiven Gestaltung bis zum Einbau in das Endprodukt. Ein anderes Beispiel ist die Vergabe des kompletten C-Teile-Spektrums – das sind die Artikel eines Produkts, die nur 5 bis 10% des Wertes, aber 50 bis 80% der Teilepositionen ausmachen – an einen Logistikdienstleister. Schließlich erfuhr der direkte Wertschöpfungsbereich der Fertigung und Montage eine grundlegende Neuordnung durch Segmentierung und Dezentralisierung. Ausgehend von der Gruppentechnologie der 1960er Jahre [Mit60] über die Fertigungsinseln der 1970/80er Jahre entstanden die Konzepte der modularen Fabrik [Wild 88] und der Fraktalen Fabrik [War93]. Die Grundidee bestand darin, fertigungs- und montagetechnisch
•
ähnliche Teilegruppen bzw. Baugruppen für ein Marktsegment mit bestimmten Anforderungen hinsichtlich Lieferzeit und Liefertreue in einer Leistungseinheit beginnend mit dem Auftragsabruf herzustellen und 100% qualitätsgeprüft einbaufertig weiterzugeben. Sämtliche indirekten Funktionen wie Material- und Werkzeugdisposition, Terminierung, Wartung, Instandhaltung bis hin zur Kapazitäts- und Personaleinsatzplanung wurden in die Leistungseinheit integriert. Sie tritt wie ein interner Zulieferer auf. Als Alternative zur Verlagerung findet die Einbindung in Unternehmensnetzwerke immer stärkere Beachtung [Kirs96, Wild10]. Hier schließen sich Firmen zu einem virtuellen Unternehmen zusammen, welches nach außen wie ein großes Unter nehmen auftritt und alle Leistungen aus einer Hand anbietet. Sie erlaubt insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen, sich bei geringem Gemeinkostenaufwand erfolgreich um größere Projekte zu bewerben und diese abzuwickeln [Dan97]. Neben diesen Strukturveränderungen in der Wertschöpfungskette ist seit Ende der 1990er Jahre eine vermehrte Methodenorientierung zu beobachten. Basierend auf dem von Toyota eingeführten Toyota-Produktionssystem [0hn93], das heute als Maßstab für eine effiziente Produktion gilt (s. Abschn. 2.3), haben viele Unternehmen erkannt, dass sie ihre gesamten Prozesse auf die Vermeidung von Verschwendung ausrichten müssen. Der von Womack und Jones geprägte Begriff Lean Production wurde zunächst nur als Instrument zum Personalabbau verstanden, hat aber seit Beginn der 2000er Jahre eine Neubewertung erfahren und die Entwicklung zahlreicher sogenannter Ganzheitlicher Produktionssysteme (GPS) angestoßen [Spa03, LaZa07, Dom06]. Eine pragmatische Vorgehensweise, um in diesem Zusammenhang die Verschwendung an Zeit, Beständen, Flächen und Bewegungen rasch analysieren zu können, ist die von Rother und Shook vorgestellte Methode des Wertstromdesigns [RoSh04], die ihrerseits zu dem Begriff der Wertstromfabrik geführt hat [Erl07].
1.2 Bisherige Ansätze der Unternehmensführung
• Reaktionsschnelligkeit • Innovationsfähigkeit • Komplexitätsreduktion • Kostensenkung • Produktorientierung • Marktorientierung
1
ProduktCluster 1
• Ressourcenflexibilität • Know-How Bündelung ProduktCluster …
Strategische Zuliefernetzwerke - Supply Chain -
Produktionsnetzwerke - Supply Net -
Segmentierte Fabrik Funktionale Fabrik
Herstellung Endprodukt
Bild 1.5: Von der funktionalen Fabrik zum Standort im Produktionsnetz © IFA G8147SW_Wd_B G8147SW Wd B
Fasst man die bisherigen Evolutionsschritte der Fabrik unter den vorgenannten Aspekten zusammen, lassen sich stark vereinfacht vier prinzipielle Erscheinungsformen erkennen, Bild 1.5. Die funktionale Fabrik war bei stabilen und gut prognostizierbaren Märkten auf eine Effizienzsteigerung durch Know-how-Bündelung ausgerichtet. Das damit einhergehende Werkstättenprinzip mit entsprechenden Stabsabteilungen gewährleistete eine hohe Ressourcenflexibilität, allerdings um den Preis hoher Bestände und langer Durchlaufzeiten. Die Notwendigkeit, sich stärker an den Märkten und ihren zugehörigen Produkten zu orientieren, führte zu der beschriebenen modularen, fraktalen oder segmentierten Fabrik. Die Auftragsabwicklung beschleunigte sich spürbar, jedoch war eine gelegentliche Unterauslastung der Einrichtungen in Kauf zu nehmen. Das Personal konnte nur durch Mehrfachqualifizierung und flexible Arbeitszeitmodelle ausgelastet werden. Mit weiter zunehmender Produkt- und Marktdifferenzierung wuchs die Komplexität jedoch, so dass mit Hilfe der beschriebenen Maßnahmen der Fertigungstiefenreduzierung insbesondere in der Automobilindustrie strategische
Zuliefernetzwerke entstanden, auch als Lieferketten oder Supply Chains bezeichnet. Das Unternehmen, das den Endkunden beliefert, konzentriert sich auf seine Kernkompetenzen, im Extremfall auf das Produktdesign, die Endmontage und den Vertrieb, und schöpft beträchtliche Kostenpotenziale durch die konsequente Fremdvergabe von Beschaffungs-, Fertigungs-, Distributions- bis hin zu Entwicklungsprozessen aus. Derartige Netze sind üblicherweise auf die Laufdauer eines Produktes beschränkt, typisch sind 3 bis 5 Jahre. Mit steigender Turbulenz der Märkte und der gleichzeitigen Forderung nach größerer Geschwindigkeit der Leistungserstellung und erweitertem Leistungsumfang entwickeln sich zusehends regionale und überregionale Produktionsnetzwerke. Sie bilden Produktionscluster, die sich mit hoher Innovationsrate und reaktionsschnell auftragsbezogen konfigurieren und ebenso wieder auflösen, wenn die Leistung erbracht wurde. Allen skizzierten Erscheinungsformen der Fabrik ist gemeinsam, dass sie von immobilen Ressourcen (Gebäude, Betriebsmittel, Infrastruktur) und Standorten ausgehen. In Kapitel 2 wird zu diskutieren sein, inwieweit sie damit den bereits existierenden und
11
1 Veränderungstreiber der Fabrik
1
100%
80%
Kosten der Produktionsfaktoren
60%
40%
20%
0%
20%
40%
56% 55%
24% 22% 35%
38% 42% 46%
Kapazitätsengpässe
22% 25% 28%
16%
* * * *
Steuern, Abgaben, Subventionen
0%
Nähe zu Großkunden
5% 5%
31% 38% 37%
Koordinationskosten
27%
* *
40% 49% 43%
Qualität
100%
28% 30% 41%
6% 8% 4%
Markterschließung
80%
81% 76% 87%
* *
52%
Flexibilität, Lieferfähigkeit
60%
Rückverlagerungsmotive (1997: n=48; 1999: n=74; 2003: n=41)
17% 23%
1997 1999 2003
4% 5% 4% 12% 10% 3%
* nicht vergleichbar oder nicht abgefragt
Verlagerungsmotive (1997: n=329; 1999: n=376; 2003: n=284)
Bild 1.6: Verlagerungs- und Rückverlagerungsmotive in der Metall- und Elektroindustrie (FhG ISI) © IFA 14.663SW_B
14.663SW B
absehbaren zukünftigen Anforderungen genügen. Mit den geschilderten Konzepten ist es den Produk tionsunternehmen in einem ersten Schritt weitgehend gelungen, ihre betriebliche Effizienz und die Reaktionsfähigkeit zu steigern, um den Herausforderungen des sich internationalisierenden Marktes gewachsen zu sein. Dabei haben sich die überlegene Produktfunktionalität, hohe Qualität und pünktliche Belieferung als wesentliche Alleinstellungsmerkmale erwiesen. Als relativ neue Geschäftsfelder werden darüber hinaus seit den1990er Jahren so- genannte produktintegrierte Dienstleistungen entwickelt. Diese erstrecken sich über den gesamten Lebenszyklus des gelieferten Produktes, beginnend mit der Unterstützung des Kunden bei der Planung und Auslegung, über die Montage und Inbetriebnahme bis zum internetgestützten Teleservice und Ersatzteilgeschäft sowie der Außerbetriebnahme und dem Rückbau bzw. der Rücknahme. Weiterentwicklungen dieses Ansatzes bestehen in sogenannten Betreibermodellen, bei denen der Hersteller einer Anlage ihr Eigentümer bleibt und der Kunde nur für die tatsächlich erzeugten Produkte bezahlt. Betreibermodelle stellen auch einen wichtigen Beitrag zur sogenannten nachhal-
12
tigen Entwicklung (sustainable development) dar. Damit wird angestrebt, den Ressourcenverbrauch an Rohstoffen und Energie durch weitgehende Wiederverwendung und Wiederverwertung der Produkte zu minimieren und die Luft-, Wasser- und Bodenbe lastung möglichst gering zu halten. Viele Unternehmen sahen eine Lösung der eingangs geschilderten Probleme jedoch auch in der Verlagerung von Teilen ihrer Produktion in sogenannte Billiglohnländer, weil dort vermeintlich günstigere Produktionsbedingungen besonders hinsichtlich der Lohnkosten und Arbeitszeit vorliegen. Das Fraunhofer Institut Systemtechnik und Innovation führt hierzu systematische Befragungen in der deutschen Industrie durch, deren Ergebnisse für die Jahre 1997, 1999 und 2003 Bild 1.6 zeigt [ISI04]. Dominierend für eine Verlagerung waren demnach die Kosten der Produktionsfaktoren (im Wesentlichen Lohnkosten), die Markterschließung und Lieferfähigkeit, gefolgt von Kapazitätsengpässen, Abgaben und der Nähe zu Großkunden. Deutlich wurde in der Befragung weiterhin, dass vor allem kleinere Betriebe ihre Verlagerungsentscheidung vornehmlich auf Basis des Personalkostenvergleichs fällen.
1.3 Wettbewerbsfaktoren überlegener Organisationen
Jedoch sind rund 20% der Betriebe, die eine Verlagerung vorgenommen haben, nach etwa 2 Jahren zurückgekehrt, wobei die nicht erwarteten hohen Kosten, mangelnde Flexibilität, Produktqualität und unerwartet hohe Koordinationskosten ausschlaggebend waren. Als wesentliche Gründe für den Misserfolg nennt das ISI:
Wettbewerbsverbesserung insbesondere kleinerer Betriebe vermitteln und sie vor einer voreiligen Entscheidung bewahren.
1
1.3 Wettbewerbsfaktoren überlegener Organisationen
• Mangelnde • • • • • •
Stimmigkeit von Strategien und Bewertungskriterien Keine adäquate Berücksichtigung interner Optimierungspotenziale Keine Bewertung des Netzwerkbedarfs am jeweiligen Standort Statische statt dynamische Standortbewertung Keine Analyse des Stellenwertes einzelner Standortfaktoren für das Gesamtergebnis Unterschätzung der Anlaufzeiten zur Sicherung von Prozesssicherheit, Qualität und Produktivität Unterschätzung der Betreuungskosten des ausländischen Standortes.
Einerseits ist unstrittig, dass Direktinvestitionen im Ausland einen positiven Effekt auf die Beschäftigung in Deutschland ausüben. Andererseits kann die Studie wichtige Impulse für weitergehende Ansätze zur
Gleichwohl reichen die bisherigen Anstrengungen nicht aus, da die Strategie der Komplexitätsreduzierung eher auf das Abfedern der Marktturbulenz gerichtet ist und nicht durchgängig auf die ganze Wertschöpfungskette wirkt. Insbesondere droht die Gefahr des Verlustes der Reaktionsfähigkeit. Die internen Stärken der deutschen Unternehmen bergen vor dem Hintergrund eines hohen Ausbildungsniveaus, eines stabilen Sozialsystems, einer hervorragenden Infrastruktur und einer robusten Währung noch ein erhebliches Potenzial zur Komplexitätsbeherrschung als Erfolg versprech ende Zukunftsstrategie. Bieten doch gerade turbulente Märkte Chancen für eine Offensivstrategie, mit der zusätzliche Marktanteile zu erobern sind. Dies setzt jedoch die Fähigkeit der Unternehmen voraus, nicht nur auf äußere Entwicklungen zu reagieren, sondern proaktiv – also vorausschauend – im Markt aufzu-
Zeit
Lerngeschwindigkeit
Innovationskraft
Kundenzufriedenheit
Qualität
Kosten
Wandlungsfähigkeit
Bild 1.7: Wettbewerbsfaktoren überlegener Organisationen
Zielgröße
Eigenschaften
© IFA G5990SW_B G5990SW B
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1 Veränderungstreiber der Fabrik
1
treten. Dazu gehört auch, selbst Turbulenz erzeugen zu können, indem beispielsweise überraschend die Lieferzeit halbiert, eine ungewöhnlich dichte Folge neuer Produkte für ein spezifisches Marktsegment angeboten wird oder eine Qualitätsoffensive im Sinne einer Verdoppelung der Garantiezeit erfolgt. Eine derartige Strategie setzt jedoch mehr voraus als die Beherrschung von Kosten, Qualität und Zeit zur Erreichung der Kundenzufriedenheit, Bild 1.7. Zum einen ist eine große Innovationskraft erforderlich, die es zu entwickeln und zu fördern gilt. Sie bedeutet, bestehende Produkte, Dienstleistungen, Prozesse und das Verhalten sowohl im kontinuierlichen Verbesserungsprozess als auch in Sprungin novationen permanent in Frage zu stellen [Ever03]. Dies erfordert eine kommunikationsorientierte Unternehmenskultur mit einer ausgeprägten Mitarbeiterpartizipation und starker Ergebnis- statt Leistungsfokussierung.
U mw
Neues schnell nutzbar zu machen, also eine hohe organisationale Lerngeschwindigkeit zu besitzen, ist die zweite wichtige Eigenschaft turbulenznutzender Unternehmen. Das hervorstechende Merkmal einer solchen Organisation ist die Fähigkeit zur Entwicklung gemeinsamer Visionen und Ziele zur Bündelung der Energie und des Wissens. Dazu gehören kontinuierliche Qualifizierungsmaßnahmen mit dem primären Ziel der Vermittlung von Methoden- und Sozialkompetenz, ein hohes Maß an informeller Kommunikation und eine ausgeprägte Selbstorganisation in flachen Hierarchien mit autonomen Organisationseinheiten [Gau04]. Die dritte wesentliche „neue“ Eigenschaft ist schließlich die Wandlungsfähigkeit [West99a, Rein00, Wien99]. Sie beschreibt das Vermögen einer Fabrik, ausgehend von internen oder externen Auslösern, aktiv strukturelle Veränderungen auf allen Ebenen bei geringem Aufwand durchführen zu können. Da-
el t
Poli tik Individualisierung der Produkte Integrierte Produkte und Dienstleistungen
Ge
Nutzung Neuer Technologien
wandlungsfähige Fabrik Steigerung Energie- und Ressourceneffizienz
präventive strategische Impulse
s ell sch a f t
Tec h no l o g i e
global vernetzte Leistungserstellung
reaktive Schwachstellenbeseitigung
W e l t w i r t s c ha f t
externe Impulse interne Impulse
Bild 1.8: Externe und interne Veränderungstreiber G8776SW von Produktionsunternehmen © IFA G8776SW
14
1.4 Literatur
bei erfordert der Wandlungsprozess eine durch den Markt bestimmte Geschwindigkeit der Planung und Realisierung. Diese Wandlungsfähigkeit unterscheidet sich von verwandten Begriffen wie Reaktionsschnelligkeit, Adaptionsfähigkeit, Flexibilität und Agilität und wird in Kap. 5 ausführlich erläutert. Sie soll als zentraler Begriff der Eignung gelten, die ein Unternehmen in einem turbulenten Umfeld erfolgreich sein lässt. Bevor sich im nächsten Kapitel die neuen Anforderungen, Strategien und Gestaltungsfelder der wandlungsfähigen Fabrik entfalten, soll Bild 1.8 die Veränderungstreiber zusammenfassen. Weitere Hinweise finden sich im Abschlussbericht „Untersuchung zur Aktualisierung der Forschungsfelder für das Rahmenkonzept Forschung für die Produktion von morgen“, der im Auftrage des BMBF 2006 von einer Expertengruppe erarbeitet wurde [Klei07], sowie auf der homepage der Europäischen Initiative zur Entwicklung einer zukünftigen Produktion [manu07]. Weltwirtschaft, Umwelt, Politik, Gesellschaft und Technologie bilden die Rahmenbedingungen, die mittelbar auf die Unternehmen einwirken. Sie führen zu den unmittelbar wirkenden Veränderungstreibern, die sich nach externen und internen Impulsen unterscheiden lassen. Globalisierung, Technologie und Gesellschaft haben eine wachsende Individualisierung der Produkte mit kurzen Produktlebenszyklen und eine Ausweitung der Marktleistung hin zu Dienstleistungen über den ganzen Lebenszyklus zur Folge. Dabei sinken die Lieferzeiten weiterhin, der Anspruch an die Liefertreue steigt und dies bei starken Verbrauchsschwankungen bis hin zur Turbulenz. Dem weiter anhaltenden Kosten- und Qualitätsdruck müssen sich die Unternehmen weiterhin stellen. Die Leistungen selbst werden immer stärker global vernetzt erbracht, sei es mit eigenen, verbundenen oder fremden Unternehmen. Starke interne Impulse kommen aus präventiven strategischen Überlegungen wie z.B. Erschließung neuer Märkte, Ausweitung des Leistungsangebotes oder eine grundlegende Reorganisation, ausgelöst durch einen Wechsel im Management oder in den
Besitzverhältnissen. Reaktive interne Impulse entstehen demgegenüber durch Beseitigung merklicher Schwächen in den technischen und logistischen Leistungen, die Entwicklung neuer Arbeitsmodelle für eine alternde Belegschaft oder die Neujustierung der Produktionsvolumina zwischen inländischen und ausländischen Standorten aufgrund von Währungsrisiken. Schließlich gilt es auch, neue Herausforderungen der Energie- und Ressourceneffizienz aufzugreifen, aber auch Potenziale neuer Technologien zu nutzen.
1
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15
1 Veränderungstreiber der Fabrik
1
16
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1
17
Kapitel 2 Planungsbasis
2
20
2.1
Produktionsstrategie
23
2.5
Gestaltungsfelder der Fabrik
31
2.2
Fabrikstrategie
25
2.6
Produktionsstandort und Fabrik
33
2.3
Marktleistung
26
2.7
Morphologie von Fabriktypen
34
2.4
Geschäftsprozesse
30
2.8
Literatur
38
Bild 2.1:
Elemente des Wettbewerbs in einer Branche (nach M.E. Porter)
23
Bild 2.2:
Grundkonzept der Balanced Scorecard (Kaplan und Norton, zitiert nach Horváth)
24
Bild 2.3:
Strategiebasis der Fabrikplanung und -gestaltung
25
Bild 2.4:
Logistisches Geschäftsarten-Portfolio (Siemens AG)
26
Bild 2.5:
Dimensionen der Marktleistung
28
Bild 2.6:
Zukünftige Schwerpunkte produzierender Unternehmen (Boutellier, Schuh, Seghezzi)
30
Bild 2.7:
Geschäftsprozesse eines Unternehmens
31
Bild 2.9:
Gegenüberstellung Produktionsstandort und Fabrik
32
Bild 2.8:
Gestaltungsfelder der Fabrik
32
Bild 2.10: Sichten zur Entwicklung von Fabriktypen
33
Bild 2.11: Bestandteile einer Lieferkette
34
Bild 2.12: Fabriktypen aus Kundensicht
35
Bild 2.13: Charakterisierung von Fabriktypen aus Kundensicht
36
Bild 2.14: Betreibermodell am Beispiel MCC
37
Bild 2.15
38
Morphologie der Fabriktypen
2
21
2.1
Produktionsstrategie
Eine Fabrik wird nicht um ihrer selbst willen betrieben, sondern ist eins von mehreren Instrumenten der Produktionsunternehmen zur Durchsetzung ihrer Unternehmensstrategie. Bis in die 1970er Jahre war die Beschäftigungssicherung der vorhandenen Fabrik vordringlich; die Notwendigkeit, diese Fabrik zu betreiben, stand nicht infrage. Heute wird primär diskutiert, welche Rolle die eigene Produktion im Wettbewerb um die Märkte einerseits und die finanziellen Mittel des Unternehmens andererseits spielen soll. Die Möglichkeiten der globalen Beschaffung und Kooperation sowie technische Entwicklungen haben neue Freiheitsgrade zur Gestaltung und Positionierung der Produktion geschaffen. Diese sind vor dem Hintergrund einer durchdachten Wettbewerbsstrategie des Gesamtunternehmens zu nutzen, welche die langfristige Rentabilität sicherstellt. Nach grundlegenden Untersuchungen von M.E. Porter zählen hierzu insbesondere die Konzentration auf selektierte Marktsegmente, die Produkt- und Leistungsdifferenzierung gegenüber dem Wettbewerb sowie das Erringen einer umfassenden Kostenführerschaft [Por08]. Die Wettbewerbskräfte und Bestimmungsgrößen, die es hierbei zu analysieren und zu bewerten gilt, sind in Bild 2.1 in fünf Kategorien stichwortartig zusammengefasst.
Ausgangspunkt ist die Anzahl Wettbewerber und die Intensität der Rivalität in der eigenen Branche. Letztere wird z.B. durch Überkapazitäten, die Markenidentität und Austrittsbarrieren bestimmt. Es folgt die Untersuchung über mögliche neue Anbieter und ihre Eintrittsbarrieren in den eigenen Markt. Der dritte Komplex betrifft die Abnehmer mit ihrer Verhandlungsmacht und Preisempfindlichkeit. Im vierten Komplex werden mögliche Ersatzprodukte und die daraus resultierende Substitutionsgefahr der eigenen Produkte betrachtet. Der fünfte Komplex behandelt schließlich die Verhandlungsmacht der Lieferanten. Wie aus diesen Überlegungen konkret neue Produkte entstehen, ist u. a. von Eversheim [Eve03] und Gausemeier [Gau04] ausführlich beschrieben worden. Ein wichtiger Denkansatz ist in diesem Zusammenhang die Beurteilung von Effektivität („die richtigen Dinge tun“) und Effizienz („die Dinge richtig tun“) mit Hilfe der Balanced Scorecard, auch als „ausgewogener Berichtsbogen“ bezeichnet [Hor98]. Sie dient der mehrdimensionalen strategischen Planung und Steuerung eines Unternehmens oder Geschäftsbereichs. Nach einem Vorschlag von Kaplan und Norton [Kap97] werden ausgehend von einer übergeordneten Vision und Strategie vier Sichten entwickelt, Bild 2.2. Zu jeder Sicht sind strategische Ziele zu formulieren, daraus operative Ziele und Aktivitäten abzuleiten und deren Einhaltung anhand spezifischer Kennzahlen zu überwachen [Hor07].
2
Bedrohung durch neue Anbieter
Wettbewerber in der Branche
Verhandlungsstärke der Lieferanten
Verhandlungsstärke der Abnehmer
Intensität der Rivalität
Bild 2.1: Elemente des Wett bewerbs in einer Branche (nach M.E. Porter)
Bedrohung durch Ersatzprodukte
© IFA D3436_Wd_B
D3436 Wd B
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2 Planungsbasis
Finanzielle Perspektive Wie sollen wir aus Kapitalgebersicht dastehen?
2
• Strategische Ziele •Operative Ziele • Messgröße • Aktivitäten
Kundenperspektive Wie sollen wir aus Kundensicht dastehen?
Vision und Strategie
• Strategische Ziele •Operative Ziele • Messgröße • Aktivitäten
Perspektive interne Geschäftsprozesse Bei welchen Prozessen müssen wir Hervorragendes leisten? • Strategische Ziele •Operative Ziele • Messgröße • Aktivitäten
Perspektive Lernen und Entwicklung Wie können wir unsere Veränderungs- und Verbesserungsfähigkeiten aufrecht erhalten? • Strategische Ziele •Operative Ziele • Messgröße • Aktivitäten
G8889SW (Kaplan B Bild 2.2: Grundkonzept der Balanced Scorecard und Norton, zitiert nach Horváth)
© IFA G8889SW_B
Die finanzielle Perspektive untersucht, ob aus Sicht des Kapitalgebers eine ausgewählte oder umgesetzte Strategie das Unternehmensergebnis verbessert. Für die Produktion ergibt sich hieraus z.B. die Erarbeitung von Zielen, Kennzahlen, Vorgaben und Maßnahmen hinsichtlich des eigenen Produktionsanteils, der eingesetzten Betriebsmittel und des Standortes. Die Kundenperspektive stellt für den Fall der Fabrik die Frage, ob sie die vom Markt verlangten Leistungsmerkmale wie beispielsweise Lieferzeit, Liefertreue und Produktqualität erfüllt. Aber auch allgemeine Zielgrößen wie Kundenzufriedenheit und Kundenbindung finden hier als Treibergrößen für den Geschäftserfolg Berücksichtigung. Entsprechende Maßnahmen könnten z.B. fokussierte Teilfabriken in der Nähe des Kunden oder eine durchgreifende Neugestaltung des Erscheinungsbildes sein. Die Perspektive Interne Geschäftsprozesse stellt die Strukturen und Abläufe in den Vordergrund, welche
24
maßgeblich die Befriedigung der Kundenwünsche beeinflussen und deren Verbesserung vom Kunden wahrgenommen wird. Hierzu zählen aus Sicht der Fabrik z.B. interne Durchlaufzeiten, späte Entscheidungsmöglichkeiten über Varianten oder eine Produktqualität, die eine Eingangsprüfung des Kunden erübrigt. Mit der Perspektive Lernen und Entwicklung wird die Bedeutung einer ständigen Weiterentwicklung der Produkte und Verfahren unterstrichen. Es geht aus Sicht der Produktion dabei z.B. um die kontinuierliche Verbesserung der Produktionstechnik, die Einführung von Gruppenarbeit oder die Entwicklung durchgängiger Logistikketten vom Lieferanten über die eigene Produktion bis hin zum Kunden. Bemerkenswert an diesem Vorschlag ist, dass er im Gegensatz zu traditionellen Ansätzen, wie dem Return-on-Investment-Kennzahlenkonzept und dem Shareholder-Value-Ansatz, nicht nur einseitig finanzielle und teilweise auch stark vergangenheitsbezogene Messgrößen zur Entscheidungsbasis heran-
2.2 Fabrikstrategie
zieht. Vielmehr richtet sich der Blick gleichermaßen auch auf die Kunden, den Wettbewerb und interne, schwer messbare Faktoren wie Innovations- und Lernfähigkeit, die in einem turbulenten Markt eine immer größere Rolle für den Geschäftserfolg spielen. Die Balanced Scorecard bietet damit einen flexiblen Rahmen zur Entwicklung der jeweils unternehmensspezifischen Strategie, wie sie gerade für die zukünftige Rolle der Fabrik unabdingbar ist [Kap01].
sein, erwächst aus dem dynamischen Umfeld, und dies gilt nicht nur für Produkte, sondern auch und gerade für die Produktion sowie administrative Abläufe. Schließlich ist nicht nur für die Fabrik, aber für diese im Besonderen, das Gebot der Wandlungsfähigkeit zwingend.
2
Den Kern der Strategiebasis für die Fabrik bilden die aus Visionen und Leitbildern entwickelten Geschäftsfelder. Sie beschreiben eine eigenständige Marktaufgabe mit klar abgegrenzten Wettbewerbern und stehen in Übereinstimmung mit der Unternehmensphilosophie, den Werthaltungen und der Kultur des Unternehmens. Jedes Geschäftsfeld ist durch eine Marktleistung und ein Marktsegment definiert, das nach Abnehmertypen, Vertriebskanälen oder geografischen Regionen beschrieben ist [Gau99]. Für die strategische Positionierung der Fabrik ist die Festlegung der Absatzregionen nach Umsatz und regionalem Marktanteil besonders wichtig. Daraus ergeben sich einerseits das Verkaufsvolumen und andererseits die lokale Wettbewerbssituation als Ausgangsbasis für die Entscheidung über den Standort und den Produktionsumfang einer Fabrik.
2.2 Fabrikstrategie Für die Fabrikplanung ist die Kenntnis desjenigen Teils der Unternehmensstrategie, der das Marktangebot und die Produktion betrifft, unerlässlich, da sonst leicht einseitig kostenorientierte Gesichtspunkte dominieren. Bild 2.3 stellt die wesentlichen strategischen Elemente der Planungsbasis einer Fabrik vor, die unter drei Prämissen steht. Sie muss nachhaltig in wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Hinsicht sein und damit nicht auf einen kurzfristigen Erfolg zielen. Der Anspruch, innovativ zu
Leitbilder
Visionen
Geschäftsfeld • Marktleistung • Marktsegment
Prozesse
Ressourcen
innovativ
wandlungsfähig nachhaltig: • wirtschaftlich • ökologisch • sozial
Bild 2.3: Strategiebasis der Fabrikplanung und -gestaltung © IFA G8891SW_B G8891SW B
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2 Planungsbasis
2.3 Marktleistung
in der Auftragsabwicklung In der Entwicklung
Zeitpunkt der endgültigen Produktdefinition
2
Für jedes Geschäftsfeld sind die in den Marktsegmenten angebotenen Produkte und Dienstleistungen definiert, die zusammenfassend als Marktleistung bezeichnet werden [Gau99]. Diese Marktleistung erfordert Prozesse, die mit den Unternehmenspotenzialen erbracht werden. Unterschieden werden dabei im Allgemeinen Management-, Geschäfts- und Unterstützungsprozesse. Die Geschäftsprozesse – soweit sie die Fabrik betreffen – dienen der Wertschöpfung und umfassen im Wesentlichen fertigungstechnische Prozesse, Materialflussprozesse sowie Informationsund Kommunikationsprozesse. Sie bedürfen ihrerseits Ressourcen, die im Wesentlichen aus Menschen, Einrichtungen und Kapital bestehen. Die vom Unternehmen erbrachte Marktleistung lässt sich zum einen aus der Sicht der Logistik betrachten, zum anderen nach der Art der Marktbedienung. Un-
ter dem Logistikaspekt ist die von der Siemens AG entwickelte Gliederung ihrer Marktleistung zweckmäßig, die vier Geschäftsarten durch den Zeitpunkt der endgültigen Produktdefinition und den Ort der Wertschöpfung definiert, Bild 2.4 [Faß00]. Es handelt sich dabei um konsumorientierte Produkte, Systeme zur Industrieausrüstung, Großprojekte des Anlagenbaus und den Service nach dem Verkauf eines Produktes. Sie stellen deutlich unterschiedliche Anforderungen an die Fabrik und deren Logistik. Bei den Produkten handelt es sich um einsatzfertige, überwiegend für den Endverbraucher bestimmte Konsumgüter wie Haushaltsmaschinen, Unterhaltungselektronik, Kommunikationstechnik usw., die weitgehend selbst gefertigt werden. Ihre Entwicklung findet unabhängig von der Auftragsabwicklung statt und die Erfolgsfaktoren sind extrem kurze Lieferzeiten und eine hohe Lieferbereitschaft durch ein gutes
Systeme
Anlagen
• Kundenspezifische Konfiguration von Hard- und Software • Entwicklungs- und Logistikzyklus teilweise entkoppelt • Eigene Kernkomponenten und fremde Systemkomponenten • Direktlieferung geprüfter Komplettsysteme, Installation und Inbetriebnahme
Produkte • Eigene Fertigerzeugnisse • Entwicklungs- und Logistikzyklus entkoppelt • Überwiegend Eigenleistung • Lieferung “sofort“
• Kundenspezifische Projektierung und Engineering • Anlagenengineering und Logistikzyklus sind gekoppelt • Wenige Kernkomponenten, hoher Anteil fremder Lieferungen u. Leistungen • Montagegerechte Lieferpakete zur Baustelle
After Sales - Service • Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit • Entwicklungs- und Logistikzyklus sind entkoppelt • Leistung vor Ort mit kurzen Reaktionszeiten
im Haus
vor Ort
Ort der Wertschöpfung Bild 2.4: Logistisches Geschäftsarten-Portfolio (Siemens AG) G8908SW Wd B © IFA G8908SW_Wd_B
26
2.3 Marktleistung
Bestandsmanagement sowie ein effizientes, häufig weltweites Distributionssystem. Systeme bestehen aus einer kundenspezifischen Konfiguration von möglichst weitgehend standardisierten Komponenten aus Hard- und Software, deren funktionsbestimmende Anteile im eigenen Hause gefertigt und durch zugekaufte Systemkomponenten ergänzt werden. Die Entwicklungs- und Logistikzyklen sind daher nur teilweise entkoppelt. Hier bestehen die Erfolgsfaktoren in der Fähigkeit zur schnellen Konfiguration der Standard- und Fremdkomponenten, dem auftragsbezogenen Lieferantenmanagement mit hoher Liefertreue, der Direktlieferung geprüfter Komplettsysteme sowie der sofortigen Installation und Inbetriebnahme. Das Anlagengeschäft besteht im Kern aus dem Engineering, also der technischen Auslegung und der Projektierung kundenspezifischer großer Anlagen, wie z.B. Walzwerke, Papierfabriken oder Kraftwerke. Eine Vorratsfertigung ist wegen des Einmalcharakters nicht möglich; Engineering- und Logistikzyklus sind daher auftragsspezifisch gekoppelt. Wegen des geringen Anteils an Eigenfertigungskomponenten bestehen die Erfolgsfaktoren in einem professionellen Projektmanagement, der Steuerung und Koordinierung der zahlreichen auftragsspezifischen Lieferungen und Leistungen mit hohem Fremdanteil sowie der zeitgerechten Bereitstellung montagegerechter Lieferpakete an die Baustelle, die den Ort der überwiegenden Wertschöpfung darstellt. Die vierte Geschäftsart Service bezieht sich zunächst nur auf die Dienstleistung nach dem Verkauf eines Produktes, eines Systems oder einer Anlage. Sie dient dazu, deren Funktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten (z.B. durch regelmäßige Inspektion und Wartung) oder im Störfall wieder herzustellen. Die Entwicklung dieser Leistung in Form von Wartungsplänen, Reparatursets, Ersatzteilen usw. ist von ihrer Erbringung im Logistikzyklus zeitlich entkoppelt. Ihre Erfolgsfaktoren sind höchste Reaktionsfähigkeit und Informationsbereitschaft bei bestandsminimaler Ersatzteilhaltung sowie Technikereinsatz und -steuerung mit hoher Ersterledigungsquote. In der Art der Marktbedienung sind zwei Extreme der Marktleistung bekannt, die vornehmlich für Pro-
dukte gelten. Zum einen sind es Massenprogramme, mit denen im Wesentlichen eine Kostenführerschaft durch Mengensteigerung standardisierter Leistungen angestrebt wird (Economies of Scale). Demgegenüber steht zum anderen die Produktprogrammstrategie des individuellen Mischprogramms, das eine Nutzenmaximierung durch Fokussierung auf spezielle Kundengruppen zum Ziel hat (Economies of Scope). Dazwischen liegen Strategien, die aufgrund von Baukastensystemen und flexiblen Fertigungstechniken eine individualisierte Massenproduktion anstreben. Der Kunde erhält ein weitgehend auf seine Bedürfnisse abgestimmtes Produkt, das seinerseits aus standardisierten Teilen und Komponenten besteht, die in kurzer Zeit mit mengen- und variantenflexiblen Arbeitssystemen zusammengesetzt werden. Vermehrt wird darüber hinaus speziell in den hoch industrialisierten Ländern die Strategie verfolgt, die Produkte durch Dienstleistungen und den Verkauf des Produktnutzens zu ergänzen. Speziell für Deutschland hat sich gezeigt, dass gerade kundenindividuelle Produkte mit Mehrwertdiensten eine viel versprechende Möglichkeit eröffnen, im globalen Wettbewerb unter den deutschen Standortbedingungen zu bestehen. Eine solchermaßen wettbewerbsfähige Marktleistung ist aus Sicht der Marktbedienung in Bild 2.5 mit ihren wesentlichen Dimensionen anhand ihrer charakteristischen Merkmale skizziert. Als Kernidee gilt, dass sich die Marktleistung an der Wertschöpfungskette des Kunden orientiert. Ausgehend von einem Produkt mit hohem Kundennutzen überlegt man, wie durch produktintegrierte Dienstleistungen über den gesamten Lebenszyklus des Produktes hinweg eine langfristige Kundenbindung zu erreichen ist. Dies führt zu vier Kategorien von Marktleistungen, nämlich Produkt, Systeme/Anlagen, Service und Nutzen, die nun aus der Sicht der Konstruktion und Produktion betrachtet werden.
2
Bei den Produkten ist generell eine immer stärkere Integration mechanischer Teile und elektronischer Baugruppen verbunden mit einer integrierten Software zu beobachten, allgemein als mechatronische Produkte bezeichnet. Letztere reichen von der Sen-
27
2 Planungsbasis
Marktleistung
2
Lebenszyklusorientiertes Produkt- und Dienstleistungsangebot mit hohem Kundennutzen und langfristiger Kundenbindung Produkte
System / Anlagen
Vor Nutzung
Service Während Nutzung
Nach Nutzung
• Schnell konfigurierbare • Durchührbarkeits- • Fernüberwachung • Außerbetriebund rekonfigurierbare studien und -diagnose nahme Systeme • Potential• Internetgestützte • Rückbau • Modulare und stanvermittlung Wartung, Instanddardisierte Steuerungshaltung und Re• Aufarbeitung • „Intelligente“ Kompound Monitorsysteme • Produktschulung paratur nenten, Module und „Plug & Produce" • Verwertung Teilsysteme • Montage, Inbetrieb- • Logistisch optimierte nahme, Hochlauf Ersatzteillagerung, • Weiterverkauf • Variantenbeherrschung -lieferung und durch In Line - Varian• Prototypen-produktion • Beseitigung tenbildung und Plattfertigung formkonzepte • Mechatronik: Integration von Mechanik, Sensorik, Elektronik und Software
Nutzen • Einsatzoptimierung • Nutzungssteigerung durch Upgrading veralteter Komponenten • Funktionserweiterung in der Wertschöpfungskette des Kunden • Betreibermodell
Bild 2.5: Dimensionen der Marktleistung © IFA G8899SW_B
sorik zum Erkennen von Betriebszuständen über die G8899SW B Elektronik zur Produktbedienung und Steuerung bis hin zur zugehörigen Software. In vielen Maschinenbauprodukten ist mittlerweile der Anteil der Herstellkosten von Mechanik, Elektronik und Software gleich groß. Um die Produkte einerseits rasch konfigurieren und sie anderseits an die wechselnden Bedürfnisse im Lebenszyklus der Kundenprodukte anpassen zu können, bemüht man sich um die Entwicklung sogenannter intelligenter Komponenten, Module und Teilsysteme, die mit lokaler Sensorik und Steuerungstechnik ausgestattet sind. Sie reduzieren den Umfang der übergeordneten Steuerung erheblich, können sich selbst überwachen, lassen sich in der Produktion vor dem Einbau auf ihre Funktion testen und verringern damit den Aufwand für die Endmontage erheblich. Derartige Modul- und Plattformkonzepte erlauben eine extreme Variantenvielfalt, insbesondere dann, wenn es gelingt, die Variantenbildung durch Konfiguration der Software zu erreichen. Schließlich ist für viele Produkte besonders in der Investitionsgüterindustrie ein anhaltender Trend zum System- und Anlagengeschäft festzustellen. Der Kunde möchte häufig ein System (z.B. Fertigungssystem) oder eine Anlage (z.B. Verpackungsanlage) betriebsbereit zur Verfügung gestellt bekommen und erwar-
28
tet ein Leistungspaket aus Engineering, Lieferung, Inbetriebnahme und Schulung seiner Mitarbeiter bis zum Erreichen der zugesicherten Ausbringung sowie eine nutzungsbegleitende Optimierung. Das Produkt bzw. das System oder die Anlage erfordern zu ihrem Einsatz je nach Wert und Komplexität jedoch umfangreiche Zusatzleistungen, die zunehmend nicht mehr von den Nutzern erbracht werden, weil sie diese Leistungen nicht mehr zu ihren Kernkompetenzen zählen. Besaßen größere Fabriken früher eigene Planungs-, Instandhaltungs- und Reparaturabteilungen, wird deren Aufgabe heute zu einem großen Teil an spezialisierte Dienstleister übertragen, die ihren Service in die drei Phasen vor, während und nach der Nutzung des eigentlichen Produktes bzw. Systems gliedern. Der Service beginnt in der Vornutzungsphase mit Durchführbarkeitsstudien technischer und wirtschaftlicher Art, ergänzt um Angebote zur Vermittlung des Potenzials der beabsichtigten Investition. Zu Letzteren gehören etwa Musterteile bis hin zur Lieferung der sogen. Nullserien oder die Schulung von Konstrukteuren in der Nutzung einer neuen Technik. So bietet beispielsweise ein bekannter Hersteller von Blechbearbeitungsmaschinen einen Lehrgang an, in dem Konstrukteuren die technischen und wirtschaftlichen Vorteile einer Blechkonstruktion gegenüber
2.3 Marktleistung
einer Guss- und Schweißkonstruktion anhand exemplarischer Teile methodisch vermittelt werden. Die Teilnehmer erhalten danach die Gelegenheit, ein kundenspezifisches Teil selbst zu konstruieren, prototypisch zu fertigen und abschließend wirtschaftlich zu bewerten. Weitere klassische Serviceleistungen in der Vornutzungsphase betreffen die Produktschulung der späteren Nutzer, die Montage, Inbetriebnahme und den Hochlauf speziell von Systemen und Anlagen bis zur vereinbarten Nennleistung. Die zweite Serviceart bezieht sich auf die eigentliche Betriebs- oder Nutzungsphase. Sie ist geprägt durch die sich rasch entwickelnden Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnik. Die erwähnten intelligenten Produktkomponenten und -systeme erlauben mittlerweile eine Fernüberwachung und -diagnose durch den Produktlieferanten, sei es in regelmäßigen Wartungszyklen oder im Störfall. Daraus lässt sich in vielen Fällen ein internetgestützter Instandhaltungs- und Reparaturservice entwickeln, der zum einen den Abruf von Leistungen des Herstellers durch den Kunden vorsieht. Das können z.B. spezielle Reparaturanleitungen, verknüpft mit speziellen Demontage- und Remontagezeichnungen sein. Zum anderen kann auch der Produktlieferant seinen Kundendienst vor Ort durch Fernzugriff seiner Servicemitarbeiter auf Produktdaten und Reparaturanweisungen des eigenen Hauses wesentlich schneller und produktiver gestalten. Für den Ersatzteildienst ergeben sich schließlich neue Möglichkeiten durch eine internetbasierte Optimierung der Lagerhaltung, Lieferung und Produktion. Mit der schnelleren Produktfolge gewinnt die letzte Phase des Produktlebens von Produkten, Systemen und Anlagen an Bedeutung. Ihre Außerbetriebnahme und Entsorgung war früher ein eher lästiges Randproblem. Ein gestiegenes Bewusstsein für den Umweltschutz und eine verschärfte Gesetzgebung verlangt im Sinne einer Kreislaufwirtschaft nach einer professionellen Betrachtung auch dieser Phase. Als Serviceleistungen entwickeln sich daher Angebote zur ordnungsgemäßen Außerbetriebnahme bis hin zum „Rückbau zur grünen Wiese“ und Aufarbeitung zum Zweck der Wiederverwendung und des Weiterverkaufs. Ist dies nicht möglich oder wirtschaftlich,
kommt es zur Verwertung und/oder gefahrlosen Beseitigung. Ein noch weiter gehender Ansatz als der Service in den geschilderten drei Nutzungsphasen besteht schließlich darin, überhaupt keine definierte materielle oder immaterielle Leistung zu erbringen, sondern den Zweck dieser Leistung zu verkaufen und damit den Nutzen eines Produktes, eines Systems oder einer Anlage selbst zum Produkt zu machen. Damit wird eine besonders enge, fast schon symbiotische Kundenbindung erreicht. Diese vierte Dimension der Marktleistung wird in der Regel vom Hersteller erbracht, allerdings häufig in Form ausgegründeter Firmen. Eine erste Möglichkeit besteht darin, Einzelleistungen zu Servicepaketen mit dem Ziel zusammenzufassen, den Nutzen, den das Produkt in der Wertschöpfung des Kunden bringt, sicherzustellen oder möglichst zu steigern. Das kann beispielsweise die Verfügbarkeit eines Rechenzentrums im Dauerbetrieb sein, die Gutstückzahl einer Produktionsmaschine pro Schicht, oder es kann die Betriebskosten einer Pumpenanlage betreffen. Diese Leistung ist in Erweiterung des Angebots einer Fernwartung durch die Optimierung der Betriebsparameter und der Ersatzteilhaltung zu erbringen. Ein weiterer Service kann in der Nutzungssteigerung des Systems durch den Austausch veralteter Komponenten bestehen, beispielsweise elektronischer Steuerungen. Schließlich ist eine Funktionserweiterung des gelieferten Produktes in der Wertschöpfungskette des Kunden denkbar, beispielsweise durch die Installation einer automatischen Beladungseinrichtung einer Produktionsanlage als Ersatz für die bisherige manuelle Lösung. Den weitestgehenden Ansatz dieser nutzenorientierten Marktleistung stellen Betreibermodelle dar. Dabei übernimmt entweder der Anlagenhersteller oder ein externer Dienstleister den Betrieb einer Produktionsanlage und liefert fertige Erzeugnisse ausschließlich an einen Verbraucher, häufig bis auf dessen Werksgelände. Ein bekanntes Beispiel ist die Fabrik zur Herstellung des Smart-Autos in Hambach, Frankreich. Dort erbringen 15 Zulieferer eine Wertschöpfung von 80% des fertigen Produktes. Einer der Zulieferer ist die Fa. Eisenmann, die
2
29
2 Planungsbasis
2
die Lackieranlage geliefert hat und dort betreibt. Sie wird für jedes lackierte Fahrzeug bezahlt [Bar98]. Betreibermodellen wird eine große Bedeutung für die Zukunft vorhergesagt, weil sie für den Nutzer die Komplexität seiner Produktion, das Investitionsrisiko und die Kosten reduzieren und dem Hersteller den Know-how-Erhalt, eine langfristige Kundenbindung und ein neues Geschäftsfeld eröffnen. Allerdings ist der Betreiber auch unmittelbar vom Markterfolg oder Misserfolg seines Kunden betroffen und geht damit entsprechende Risiken ein. Sie werden in der Regel durch Gründung einer speziellen Firma vom Kerngeschäft entkoppelt. Fasst man die Aussage zur Marktleistung zusammen, lässt sich feststellen, dass die absolute Kundenorientierung das beherrschende Leitbild sämtlicher Unternehmensaktivitäten sein muss. Es kommt darauf an, dem Kunden individuelle Problemlösungen in dessen Wertschöpfungskette anzubieten, verstärkt kalkulierbare Kundenrisiken in die eigene Wertschöpfung zu übernehmen und den Kunden in die Gestaltung und Erstellung der Problemlösung einzubeziehen [Bou97]. Damit lassen sich aus Sicht der Marktleistung einige zukünftige Schwerpunkte produzierender Unternehmen nennen, Bild 2.6.
Um aus dem Dilemma „Preisdruck versus wachsende Kundenwünsche“ herauszukommen, sind die bezahlten produktintegrierten Dienstleistungen auszuweiten und die klassischen Produktleistungen auf Kernkomponenten zu reduzieren. Das setzt eine Standardisierung einzelner Leistungen, den Ausbau wertschöpfungsintensiver Nebenleistungen und eine Fokussierung auf Kernkompetenzen voraus. Damit geht der Druck auf das Kostenmanagement zurück, weil die neuen Marktleistungen honoriert werden. Insgesamt erhöhen sich dadurch der Kundennutzen und die Kundennähe [Bou97].
2.4 Geschäftsprozesse Wie bereits erwähnt, ist die in den Geschäftsfeldern definierte Leistung durch Prozesse zu erbringen. „Ein Prozess ist eine Menge von Aktivitäten zur Erbringung eines Ergebnisses, das für den Kunden von Nutzen ist“ [Gau99]. Damit wird die Abkehr von der funktionalen Organisation zum Ausdruck gebracht, die durch die Arbeitszerlegung in immer kleinere Einheiten gekennzeichnet ist. Prozesse
Produktleistungen Kernkompetenzfokussierung
Kostenmanagement
Kundennutzen
Standardisierung
Kundennähe
Nebenleistungen Dienstleistungen
Schwerpunkte heute
Schwerpunkte morgen
Bild 2.6: Zukünftige Schwerpunk te produzierender Unternehmen (Boutellier, Schuh, Seghezzi) © IFA G8915SW_B
G8915SW B
30
2.5 Gestaltungsfelder der Fabrik
Marktleistungsentwicklung
Markterschließung
Auftragsgewinnung
Auftragserfüllung
Service
2 Finanzen und Kontrolle
Personal Information und Kommunikation
Hauptprozesse
Allgemeine Dienste Qualität
Supportprozesse
Prozesselemente
Bild 2.7: Geschäftsprozesse eines Unternehmens © IFA G8902SW_B G8902SW B
werden zu Prozessketten verknüpft, die sich nach Hauptgeschäftsprozessen und Unterstützungsprozessen unterscheiden lassen. Eine für Produktionsunternehmen bewährte Gliederung dieser Geschäftsprozesse zeigt Bild 2.7. Die Hauptgeschäftsprozesse folgen dem Lebenszyklus der Marktleistung. Die Markterschließung hat die Aufgabe, ausgehend von der Geschäftsfeldstrategie, die Marktleistung in Form eines Lastenheftes zu definieren. Daraus entsteht im Prozess der Marktleistungsentwicklung ein funktionsfähiges und serientaugliches Produkt. Dieses Produkt wird im Rahmen der Auftragsgewinnung an Kunden angeboten und verkauft, wobei bei Vertragsabschluss die technische, logistische und wirtschaftliche Machbarkeit sichergestellt sein muss. Die Auftragserfüllung fasst alle Prozesse von der Auftragsbestätigung bis zur Auslieferung einschließlich der notwendigen Beschaffungsvorgänge zusammen. Nach Beginn der Produktnutzung durch den Kunden beginnt der Service, wie er bereits beschrieben wurde. Wesentliches Merkmal der Hauptprozesse ist die komplette Ergebnis- und Ressourcenverantwortung unter einer Leitung.
Die Supportprozesse des Personaldienstes, der Finanzierung, Kostenrechnung und des Controllings, das Qualitätsmanagement mit Planung, Lenkung und Prüfung, die Informations- und Kommunikationsinfrastruktur und ihr Betrieb sowie die allgemeinen Dienste von der Gebäudewartung bis zur Werkssicherung dienen der Unterstützung der Hauptprozesse. Sie müssen ihre Leistungen überwiegend an die Hauptprozesseigner zu vereinbarten Preisen verkaufen. Sie stehen damit im Wettbewerb zu externen Dienstleistern.
2.5 Gestaltungsfelder der Fabrik Der für die Fabrik wesentliche HauptgeschäftsProzess ist die Auftragserfüllung. Die hier zu erbringenden Teilprozesse umfassen die Auftragsklärung, Konstruktion (soweit auftragsspezifisch erforderlich), Arbeitsvorbereitung, Beschaffung der Rohmaterialien und Zukaufteile, Teilefertigung, Montage, Prüfung, Verpackung und den Versand sowie die zu-
31
2 Planungsbasis
2 Kultur
Technik
Organisation
P r o z e s s e
Standort und Gebäude
Mitarbeiter
Nachhaltigkeit
Marktleistung
Bild 2.8: Gestaltungsfelder der Fabrik © IFA G8900SW_B
gehörige Qualitätsprüfung und Auftragssteuerung. Diese Teilprozesse sind von den Fabrikressourcen zu erbringen, die in Bild 2.8 unter den Begriffen Technik, Organisation und G8900SW Mitarbeiter zusammengefasst sind. B Sie bilden gewissermaßen die Säulen der Fabrik, die ihrerseits auf einem Standort mit seinen Gebäuden stehen. Eine überzeugende Marktleistung wird aber nicht nur durch die materiellen und menschlichen Ressourcen erbracht, sondern auch durch Aspekte der Unternehmenskultur und der Nachhaltigkeit bestimmt, die einerseits aus der übergreifenden Unternehmensvision und anderseits aus lokalen Gegebenheiten resultieren.
Außensicht
Innensicht
Produktionsstandort
Fabrik
dient der Versorgung eines Marktsegmentes mit Sachgütern unter logistischen und wirtschaftlichen Aspekten.
stellt eine lokale Bündelung von Produktionsfaktoren zur Darstellung der ganzen oder eines Teils der Wertkette von Sachgütern dar.
Bild 2.9: Gegenüberstellung Produktionsstandort und Fabrik © IFA G9630SW_B G9630SW B
32
Mit Bild 2.8 sind die zentralen Gestaltungsfelder der Fabrik benannt, die in diesem Buch hinsichtlich ihrer Strukturierung und Dimensionierung unter dem besonderen Aspekt der Wandlungsfähigkeit behandelt werden. Kosten- und Wirtschaftlichkeitsbetrachtung sind Bestandteil des Planungsprozesses und werden dort behandelt. Die übrigen in Bild 2.7 genannten Hauptprozesse haben ebenso wie die Supportprozesse keinen mit der Auftragsabwicklung vergleichbaren Einfluss auf die Fabrikauslegung. Ihre Ressourcenbeanspruchung betrifft hauptsächlich Büroflächen, Personal und Infrastruktur, deren Auslegung im Rahmen der Gesamtplanung erfolgt.
2.6 Produktionsstandort und Fabrik
Sämtliche Unternehmensprozesse und -funktionen müssen sich jedoch an den Kundenforderungen, Marktleistungen und einem spezifischen Leitbild ausrichten, dessen Entwicklung unter dem Aspekt der Wandlungsfähigkeit erfolgt.
2.6 Produktionsstandort und Fabrik Vor dem Hintergrund der bisher skizzierten Entwicklungen der Produktionskonzepte stellt sich für das einzelne Unternehmen die Frage, in welchem Umfang und mit welcher strategischen Ausrichtung es seine Produkte herstellen will. Danach ist über den Ort der Produktion zu entscheiden. Dabei ist zwischen einer Außensicht und einer Innensicht zu unterscheiden, Bild 2.9. Der Begriff Produktionsstandort stellt dabei die Außensicht dar. Im Rahmen der geschilderten Entwicklung von Geschäftsfeldern, Marktleistungen und den dazu notwendigen Prozessen gilt es zunächst, aus einer globalen Perspektive geeignete Produktions standorte festzulegen. Diese versorgen ein Marktsegment mit bestimmten Sachgütern und Dienstleis-
tungen eines Geschäftsfeldes unter wirtschaftlichen und logistischen Kriterien. Danach erfolgt in einem zweiten Schritt – meist auf einem zusammenhängenden Grundstück – die konkrete Gestaltung der Fabrik im Sinne einer Innensicht des Produktions standortes. Die Fabrik stellt sich dann als eine lokale Bündelung der primären Produktionsfaktoren Personal, Betriebsmittel, Gebäude und Material sowie den abgeleiteten Faktoren Wissen, Qualifikation und Kapital dar. Diese Faktoren realisieren in Form von Prozessen denjenigen Teil der Wertkette, der zur Darstellung der vom Produktionsstandort abgeforderten Sachgüter notwendig ist. Der Begriff Wertkette soll im Gegensatz zur Wertschöpfungskette auch Tätigkeiten wie Lagern, Transportieren, Prüfen usw. umfassen, die nicht wertschöpfend, aber aufgrund des gewählten Fertigungsprinzips nicht vermeidbar sind. Innerhalb der Fabrik können dabei durchaus mehrere Produkte für unterschiedliche Geschäftsfelder und unterschiedliche Anteile an der Wertkette hergestellt werden. Wie bereits ausgeführt, versucht man aus Gründen der eindeutigen Verantwortung für Kosten, Qualität und Lieferfähigkeit in diesem Fall möglichst räumlich und organisatorisch abgegrenzte Teilfabriken zu betreiben (häufig Minifabriken, Business Units usw. genannt), die sich lediglich einer gemeinsamen Infrastruktur für Energieversorgung, Datenverarbeitung, Sozialeinrichtungen, Versorgung usw. bedienen.
Lieferkettenposition
Kundensicht
An welcher Stelle der Lieferketten ist die Fabrik positioniert?
Wie wird die Fabrik vom Kunden wahrgenommen?
2
Geschäftsfelder Marktleistung / Prozesse Produktionsstrategie
Besitzverhältnisse
Bild 2.10: Sichten zur Entwick lung von Fabriktypen
Wem gehören die Produktionsmittel?
Standort
Fabriktyp
Organisation Was ist das dominierende Organisationsprinzip?
© IFA G9637SW_B
G9637SW B
33
2 Planungsbasis
2.7 Morphologie von Fabriktypen
2
hervorstechendes strategisches Merkmal im Sinne einer Wettbewerbspositionierung ist. Dabei lassen sich sechs Formen unterscheiden, Bild 2.12.
Aus diesen Überlegungen lässt sich nun eine Morphologie der Fabriktypen entwickeln, die vier Merkmalausprägungen kombiniert. Diese entstammen ihrerseits bestimmten Sichten auf eine Fabrik und werden primär durch die Produktionsstrategie bestimmt, Bild 2.10. Die erste Sicht betrifft die Position des Unternehmens in der Lieferkette (meist Supply Chain genannt) zwischen den Rohstofflieferanten und den Endverbrauchern, Bild 2.11. Ein Extremfall ist ein Unternehmen, das die für sein Produkt notwendigen Rohstoffe und das Endprodukt mit sämtlichen Zwischenprodukten selbst herstellt und dieses direkt an den Endverbraucher liefert. Dieser Fall war in der industriellen Produktion zu Beginn des Industriezeitalters in amerikanischen Automobilfabriken anzutreffen. In Folge der immer stärkeren Differenzierung und Spezialisierung ist dies heute wirtschaftlich und logistisch nicht mehr machbar, so dass sich mittlerweile Lieferanten für Rohstoffe, Teile, Komponenten, Module, Teilsysteme und Endprodukte herausgebildet haben. Diese beziehen jeweils eine Stufe von Vorprodukten und liefern diese an einen Kunden, der ein Weiterverarbeiter, Zwischenhändler oder Endkunde sein kann. In der zweiten Sicht auf Fabriktypen geht es darum, wie der Kunde die Fabrik wahrnimmt, was also ihr
Beschaffung
Lieferanten Rohstoffe
Lieferanten 2. Stufe
Bild 2.11: Bestandteile einer Lieferkette © IFA G9638SW_B
34
Lieferanten 1. Stufe
Die Hochtechnologiefabrik ist durch Produkte mit einer technischen Spitzenstellung im Weltmarkt gekennzeichnet, z. B. hinsichtlich ihrer Funktionen, Leistungsdichte, Lebenszykluskosten, Verfügbarkeit usw. Die Fertigungs- und Montageprozesse operieren nahe an natürlichen Grenzwerten (s. Abschnitt 3.3) mit meist selbst entwickelten Technologien bei höchster Prozessqualität. Das Innere und Äußere der Fabrik spiegelt den hohen, selbst gesetzten Anspruch auf Hochtechnologie. Es werden die Preise des Innovators erzielt (Premiumpreise), so dass Kosten, Lieferzeiten und Variantenbeherrschung noch keine große Rolle spielen. Die reaktionsschnelle Fabrik stellt den Faktor Zeit in das Zentrum ihres Handelns. Sie ist gekennzeichnet durch eine Hochleistungslogistik, die sich ebenfalls an Grenzwerten – in diesem Fall der Durchlaufzeit – orientiert. Da die Produkte keine technische Führerschaft beanspruchen, liegt der Wettbewerbsvorteil in der raschen Verfügbarkeit beim Kunden. Aufträge werden hier oftmals direkt vom Kunden bzw. Vertrieb in die Produktion eingesteuert. In der atmenden Fabrik liegt der Fokus darauf, Produkte mit saisonal bedingten starken Absatzschwankungen, wie sie typisch für die Hausgeräte- und Sportartikelindustrie sind, in einem weiten Stückzahlbereich wirtschaftlich fertigen zu können. Erreicht wird dies durch einen vergleichsweise niedrigen Automatisierungsgrad, sehr flexible
Produktion
EndproduktLieferant
Distribution
Kunden 1. Stufe
Kunden 2. Stufe
EndVerbraucher
2.7 Morphologie von Fabriktypen
High-Tech Fabrik (strategisches Merkmal: Technologie) • Innovative Produkte • Innovative Technologien • Höchste Prozeßqualität
Low-Cost Fabrik (strategisches Merkmal: Kosten)
Reaktionsschnelle Fabrik
2
(strategisches Merkmal: Zeit)
• Striktes Target-Costing • Produktfokussierung • Konsequentes Controlling
• Grenzwertorientierung • Hochleistungslogistik • Marktorientierung
Variantenflexible Fabrik
Atmende Fabrik
(strategisches Merkmal: Vielfalt)
(strategisches Merkmal: Mengenhub)
• Später Kundenentkopplungspunkt • Variantenbildende Produktionsendstufe • Modulare Produkt- und Produktionsstruktur
Kundenindividuelle Fabrik
• Integrationsfähigkeit neuer Produkte • Wirtschaftlichkeit bei schwankenden Produktionsmengen • Erweiter- und Reduzierbarkeit
(strategisches Merkmal: Individualität) • intensive Kundenintegration • partnerschaftliche Lieferantenbeziehung • ausgeprägte Variantenflexibilität • hohe Logistikkompetenz
Bild 2.12: Fabriktypen aus Kundensicht
G8629SW B
© IFA G8629SW_B
Arbeitszeitmodelle und Mehrfachqualifikation der Mitarbeiter. Als Folge dessen können neue Produkte rasch integriert und Erweiterungen oder Verringerungen des Fabrikausstoßes in kurzer Zeit realisiert werden. Ist das Produktspektrum durch eine große Variantenvielfalt im Sinne einer möglichst kundenindividuellen Marktversorgung gekennzeichnet, ist die variantenflexible Fabrik anzustreben. Sie ist durch modulare Strukturen sowie eine Fertigungstechnik gekennzeichnet, die eine möglichst späte Variantenbildung erlaubt. Die weiterentwickelte Form der variantenflexiblen Fabrik ist die kundenindividuelle Fabrik. Sie folgt dem Gedanken der kundenindividuellen Massenfertigung (mass customization), der in Abschnitt 4.10 noch erläutert wird. Hier unterscheidet sich jeder Auftrag vom nächsten hinsichtlich technischer Ausprägung, Menge und Liefertermin. Der Kunde kann im Extremfall internetgestützt sein Produkt selbst konfigurieren, direkt in der Fabrik bestellen und dessen Herstellung ebenfalls über das Internet
verfolgen. Voraussetzung ist die durchgängige Beherrschung aller Geschäftsprozesse vom Kunden (Auftragsspezifikation) bis zum Kunden (Produkt bereitstellung). Befinden sich Produkte in der Reifephase und stehen sie infolge zahlreicher Wettbewerber unter starkem Preisdruck, gilt es, in der Low-Cost-Fabrik durch striktes Zielkostenmanagement, Fokussierung auf wenige Produkte mit großen Stückzahlen und eine konsequente Vermeidung jeglicher Verschwendung die Selbstkosten ständig zu senken. Dies erfordert ein starkes Controlling. Die skizzierten Fabriktypen aus Kundensicht werden in der reinen Form nicht auftreten, denn natürlich müssen in einer realen Fabrik fast alle strategischen Merkmale Berücksichtigung finden, aber eben mit unterschiedlicher Betonung. Bild 2.13 zeigt für die sechs Fabriktypen qualitativ die Ausprägung der in Bild 1.7 entwickelten Wettbewerbsfaktoren. Es wird deutlich, dass die kundenindividuelle Fabrik den meisten Wettbewerbsfaktoren genügt, gefolgt von der variantenflexiblen Fabrik.
35
2 Planungsbasis
Fabriktyp
2
Merkmal
High Tech Fabrik
Reaktionsschnelle Fabrik
Technologie Geschwindigkeit
Atmende Fabrik
Variantenflexible Fabrik
Low Cost Fabrik
Kundenindividuelle Fabrik
Mengenhub
Vielfalt
Kosten
Kundenwunsch
Wettbewerbsfaktoren
Kosten Zeit Qualität Innovationsfähigkeit
Lerngeschwindigkeit
Wandlungsfähigkeit Ausprägung:
schwach
mittel
stark
Bild 2.13: Charakterisierung von Fabriktypen aus Kundensicht © IFA G9586SW_B
Als nächste Dimension zur Entwicklung einer Morphologie von Fabriktypen ist gemäß Bild 2.10 die Frage nach dem dominierenden Organisationsprinzip zu erörtern. Hier ist die funktionale, segmentierte, vernetzte und virtuelle Fabrik zu unterscheiden. Die funktionale Fabrik ist in Bereiche mit gleicher Technologie gegliedert, durch die eine Vielzahl unterschiedlicher Produkte wandert, beispielsweise mechanische Bearbeitung, Elektronikfertigung, Montage. Dem Vorteil der Ressourcenflexibilität und Know-how-Bündelung stehen die bekannten Nachteile langer Durchlaufzeiten und hoher Bestände mit der Folge großer Trägheit gegenüber. Bedarf es einer hohen Flexibilität und kurzen Reaktionszeit, entsteht die segmentierte Fabrik, die aus schlagkräftigen, kleinen Produktionseinheiten mit eindeutiger Produkt- und Marktorientierung sowie voller Ergebnisverantwortung besteht. Innerhalb dieser Einheiten kommt je nach Stückzahl und Variantenzahl das Linienprinzip, Segmentprinzip oder Werkstättenprinzip zum Einsatz. Nimmt die Zahl der Produkte und ihrer Varianten immer weiter zu, ist zur Vermeidung eines Kollapses eine Komplexitätsreduktion durch eine drasti-
36
sche Reduktion der Eigenfertigungsteile und der Lieferanten unabdingbar. Es kommt zur Ausbildung der vernetzten Fabrik mit einer in mehreren Stufen gestaffelten Folge von Zulieferanten für Subsysteme, Module, Komponenten und Teile, die durch zwischengeschaltete Logistikdienstleister koordiniert werden. Um kurzfristige Chancen für ein komplexes Produkt oder System wahrzunehmen, können sich mehrere Fabriken temporär und projektbezogen zusammenfinden und ihre Prozesse und Ressourcen bündeln. Solche Kooperationen sind auch zwischen Wettbewerbern denkbar, wenn es um die Auslastung sehr teurer Einrichtungen geht. Ist das Unternehmen, das dem Kunden gegenüber in Erscheinung tritt, selbst nicht an der Produktion beteiligt, spricht man vom virtuellen Unternehmen. Dieses nimmt im Extremfall nur Marketing- und Auftragsabwicklungsfunktionen wahr. In der vierten Dimension der Fabrikmorphologie nach Bild 2.10 drücken sich die Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln aus. Beginnend mit dem risikoreichsten Fall des Eigentums suchen viele Unternehmen eine Entlastung von der dauerhaften
2.7 Morphologie von Fabriktypen
Bindung an die Produktionsanlagen durch Miete oder Leasing. Großes Interesse haben sogenannte Betreibermodelle gefunden [Sche04, S. 441ff.]. Dabei übernimmt entweder der Anlagenhersteller oder ein externer Dienstleister den Betrieb der Produktionsanlage auf dem Betriebsgelände oder in unmittelbarer räumlicher Nähe und liefert einbaufertige Systeme und Komponenten an die Endmontage. Bild 2.14 verdeutlicht das Betreibermodell am Beispiel der Automobilfabrik zur Herstellung des compact cars smart [Bar98]. In diesem Fall erbringen 15 Zulieferer auf dem Gelände der Micro Compact Car Company (MCC) im lothringischen Hambach 80% der Wertschöpfung des Smart. Disponiert werden durch geschickte Bestellbündelung an insgesamt etwa 80 Lieferanten lediglich 1.000 Positionen gegenüber 6.000 bis 8.000 in einer klassischen Automobilfertigung. In diesem Fall betreibt die Firma Magna den Rohbau und wird für jede fertige Karosserie bezahlt. Das Gleiche gilt auch für die Lackieranlage, betrieben von der Firma Eisenmann.
Bremsen (Bosch) Umschlagfläche für Kleinteile (Rhenus)
Montage Interieur/ Exterieur
2
Anbauteile (Dynamit Nobel) Türen, Klappen (Ymos)
Treffpunkt Einfahr- und „Bistro“ Prüfabschnitt
Montage Antrieb
Antrieb (KruppHoesch)
Die Anlagenbetreiber entwickeln sich damit zum Problemlöser ihrer Kunden. Sie erweitern so ihre Kompetenz als Anlagenhersteller auf die dauerhafte Beherrschung der Produktionsprozesse. Dies ist nicht ohne ihre Beteiligung an der Entwicklung des Endproduktes und der gesamten Fabrik möglich. Es entsteht eine längerfristige Kundenbindung. Für den Hersteller des Endproduktes ermöglichen Betreibermodelle die Entlastung von kapitalintensiven Investitionen und die Konzentration auf die Kernprozesse Marketing und Vertrieb, Produktentwicklung, Endmontage und Service. Im Fall von Markteinbrüchen sitzen beide Partner im selben Boot und tragen das jeweilige Risiko. Gleichwohl verlangt der Produzent vom Betreiber die Gewährleistung der vereinbarten Qualität, Liefertreue und Preise. Als weitere Eigentumsform wird schließlich die Kooperation praktiziert, bei der zwei oder mehr Unternehmen gemeinsam eine Produktionsanlage errichten und sie für unterschiedliche Produkte nutzen. Aus den genannten vier Dimensionen entsteht zusammengefasst ein morphologisches Schema der Fabriktypen, Bild 2.15.
Montage Cockpit (VDO)
Produktionsvorbereitungszentrum Förderbrücke Direktanlieferung
Bild 2.14: Betreibermodell am Beispiel MCC
Rohbau (Magna)
Lackiererei (Eisenmann)
Montageweg an Systempartner vermietete Anlagen
© IFA G5341SW_Wd_B
G5341SW Wd B
37
2 Planungsbasis
Ausprägungsformen
Sichten
2
Wahrnehmung des Marktes
kostenminimal
variantenflexibel
mengenflexibel
reaktionsschnell
Position in der Lieferkette
Teilelieferant
Komponentenlieferant
Modullieferant
Ausrichtung der Organisation
funktional
segmentiert
vernetzt
virtuell
Besitzverhältnisse der Produktionsmittel
Eigentum
Miete
Leasing
Kooperation
hoch technologisch
kundenindividuell
Subsystem- Endproduktlieferant lieferant
Betreibermodell
Bild 2.15: Morphologie der Fabriktypen © IFA G9585SW_B
Daraus lässt sich durch Kombination je einer G9585SW B Merkmalsausprägung der vier Sichten eine – immer noch idealtypische – Fabrik beschreiben. Eine solche Beschreibung eignet sich besonders als Ausgangsbasis einer Strategiediskussion beim Umbau oder Neubau einer Fabrik. Sie verhindert damit eine zu enge Betrachtung und Reduktion der Fabrikplanung auf das Thema Layout- und Material flussoptimierung.
[Eve03]
[Faß00]
[Gau99]
2.8 Literatur [Bar98]
[Bou97]
38
arth, H., Gross, W.: Fabrik mit B Modellcharakter – Neue Zielhierarchien bei der Fabrikplanung. Zeitschr. f. Wirtsch. Fertigg., 93 (1998) 1–2, S. 15–17 Boutellier, R., Schuh, G., Seghezzi, H. D.: Industrielle Produktion und Kundennähe – Ein Widerspruch? In: Schuh, G., Wiendahl, H.-P. (Hrsg.): Komplexität und Agilität: Steckt die Produktion in der Sackgasse? Springer, Berlin Heidelberg 1997
[Gau04]
[Hor98]
[Hor07]
[Kap97]
versheim, W. (Hrsg.): InnovationsmaE nagement für technische Produkte. Springer, Berlin Heidelberg 2003 Faßnacht, W., Frühwald, Ch.: Controlling von Logistikleistung und -kosten. In: Baumgarten, H., Wiendahl, H.-P., Zentes, J. (Hrsg.): Springer Expertensystem Logistik, Beitrag 5.03.03, S. 1–16. Berlin Heidelberg 2000 Gausemeier, J., Fink, A.: Führung im Wandel. Hanser, München Wien 1999 Gausemeier, J., Hahn, A., Kespohl, H.-D., Seifert, L.: Vernetzte Produktentwicklung. Der erfolgreiche Weg zum Global Engineering Networking. Hanser, München Wien 2004 Horváth, P., Gleich, R.: Die Balanced Scorecard in der produzierenden Industrie. Konzeptidee, Anwendung und Verbereitung. Zeitschr. f. Wirtsch. Fertigg., ZWF 93 (1998) S. 562–568 Horváth & Partners (Hrsg.): Balanced Scorecard umsetzen. 4. Aufl. Schäffer Pöschel, Stuttgart 2007 Kaplan, R.S., Norton, D.P.: Balanced Scorecard, Strategien erfolgreich
2.8 Literatur
[Kap01]
umsetzen. Deutsche Übers. von Peter Horváth. Schäffer Pöschel, Stuttgart 1997 Kaplan, R.S., Norton, D.P.: Die strategiefokussierte Organisation. Führen mit der Balanced Scorecard. (Deutsche Übers. von Peter Horváth.) Stuttgart 2001
[Por08]
[Sche04]
orter, M. E.: Wettbewerbsstrategie – P Methoden zur Analyse von Branchen und Konkurrenten. 11. Aufl., Campus, Frankfurt/M. 2008 Schenk, M., Wirth, S.: Fabrikplanung und Fabrikbetrieb. Methoden für die wandlungsfähige und vernetzte Fabrik. Springer, Berlin Heidelberg 2004
2
39
Kapitel 3 Produktions anforderungen
3
3.1
Reaktionsschnelligkeit
3.2
Mengen- und Variantenflexibilität 48
3.3
Grenzwertorientierung
3.4
Selbstorganisation und Partizipation
3.5 3.6
42
Kommunikation Vernetzung und Kooperation
46
51
3.7
Demographische Entwicklung
65
3.8 Unternehmenskultur 3.8.1 Organisatorische Sicht 3.8.2 Architektonische Sicht
67 67 69
3.9
Nachhaltigkeit
71
3.10
Leitsätze Produktion
73
3.11
Literatur
74
57 60 61
Bild 3.1:
Entwicklung der Produktionsanforderungen
45
Bild 3.2:
Auftragsstrategien mit unterschiedlichem Kundenentkopplungspunkt (Eidenmüller 1995)
46
Bild 3.3:
Produktionskonzepte bei starken Mengenschwankungen
47
Bild 3.4:
Potenziale zur Senkung der Lebenszykluskosten (Perlewitz, BMW)
49
Bild 3.5:
Chancengleichheit durch erweiterte Wirtschaftlichkeitsrechnung
50
Bild 3.6:
Grenzwertebenen und Zielgrößen der Produktion
52
Bild 3.7:
Beispiele für Grenzwertansätze in der Produktion
53
Bild 3.8:
Zyklus der Grenzwertbetrachtung
54
Bild 3.9:
Streckengrenzleistung einer Fahrspur (Gudehus)
55
Bild 3.10: Traditionelle und grenzwertorientierte Verbesserung (Hartung, Mc Kinsey)
56
Bild 3.11: Merkmale der grenzwertorientierten Fabrik
57
Bild 3.12: Potenziale der Mitarbeiterpartizipation
58
Bild 3.13: Veränderung von Mitarbeiterrollen
59
Bild 3.14: Wahrscheinlichkeit von Kommunikation in Abhängigkeit der Entfernung zwischen Arbeitsplätzen (Allen)
61
Bild 3.15: Phasen der Dezentralisierung der Produktion (Windt)
62
Bild 3.16: Netzwerktypen (nach Pfohl)
63
Bild 3.17: Stufen der partnerschaftlichen Kooperation (Windt)
64
Bild 3.18: Altersentwicklung in Deutschland
65
Bild 3.19: Ziele und Maßnahmen einer alternsgerechten Gestaltung von Arbeit
66
3
43
Bild 3.20: Ebenen der Kulturbetrachtung
66
Bild 3.21: Ausdrucksformen einer Unternehmenskultur
67
Bild 3.22: Unternehmenskultur-Portfolio
69
Bild 3.23: Stationen der Kreislaufwirtschaft
71
Bild 3.24: Jährliches Anfallpotenzial von Elektrogeräten in Deutschland
73
Bild 3.25: Leitsätze einer zukünftigen Produktion
74
Die in Kap.1 geschilderten Veränderungstreiber stellen vielfältige Anforderungen an die zukünftige Produktion, deren wesentlichen Aspekte Bild 3.1 zunächst im Überblick zeigt. Ausgangspunkt der Betrachtung sind die Kundenanforderungen aus den turbulenten Märkten, die hier noch einmal auf drei Begriffe reduziert wurden. Funktional überlegene Produkte und Dienstleistungen mit langfristigem Kundennutzen müssen rasch verfügbar sein. Die daraus entwickelte Marktleistung umfasst die in Abschn. 2.3 erläuterten Produkte, Systeme und Anlagen, ergänzt um Serviceleistungen, die vor, während und nach der Nutzungsphase erbracht werden. Daraus resultieren Anforderungen an die Produktion, die sich aus vier Sichten entwickeln lassen. Diese sind nach den zwei Ebenen innen/außen bzw. rational/emotional gegliedert. Die rationale Außensicht reflektiert die von den Kunden wahrgenommene Verhaltensweise und wird hier mit den Begriffen reaktionsschnell und mengen-/variantenflexibel ver-
knüpft. Daraus leiten sich die inneren Forderungen nach Ausrichtung der Prozesse an sogen. Grenzwerten ab, gefolgt von der weitgehend partizipativ gestalteten Selbstorganisation und einer kooperativen Vernetzung mit externen Wertschöpfungspartnern. Die rationale Sicht wird ergänzt durch eine emotionale Sicht, die nach außen durch einen bestimmten Markenauftritt und ein bestimmtes Produktimage geprägt wird und das sich nach innen durch die Transparenz der Abläufe und ein ästhetisch angemessenes Erscheinungsbild darstellt. Übergreifend steht die Wertesicht. Hier prägt der Begriff der nachhaltigen Entwicklung und die Verpflichtung zu einer Unternehmenskultur nach außen die Produktgestaltung im Lebenszyklus und nach innen die Prozessgestaltung im Lebenszyklus der Einrichtungen. Die Anforderungen sollen nun im Einzelnen auf Basis der umfangreichen Literatur so weit erläutert werden, dass sich daraus erste Vorstellungen über Visionen, Leitbilder und Typen zukunftsrobuster Fabriken entwickeln lassen.
Kundenanforderungen
Marktleistung
• überlegene Funktionalität • langfristiger Nutzen • rasche Verfügbarkeit
• Produkt • System / Anlage • Service
Innensicht rationale Sicht
• grenzwertorientiert • selbstorganisiert • vernetzt / kooperativ
emotionale Sicht
• transparent • attraktiv
Wertesicht
• nachhaltig agieren • der Unternehmenskultur verpflichtet
3
Außensicht • reaktionsschnell • mengenflexibel • variantenflexibel • markenbezogen • produktbezogen
Produktionsanforderungen Bild 3.1: Entwicklung der Produktionsanforderungen © IFA G8903SW_B
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
G8903SW B
45
3 Produktionsanforderungen
3.1
3
Reaktionsschnelligkeit
Als übergeordneter Ansatz der wettbewerbsfähigen Fabrik kann die marktgerechte Reaktionsschnelligkeit gelten. Sie bedeutet, dass die Fabrik in der Lage sein muss, die von den Kunden gewünschte Leistung in der gewünschten Menge und zum gewünschten Termin in der vereinbarten Qualität liefern zu können. Als Schlussfolgerung ergibt sich daraus, dass der Kundenwunsch zum Zeitpunkt der Auftragsbestätigung eindeutig definiert sein muss. Ist dies bei komplexeren Produkten nicht möglich – typisch hierfür sind Produktionsanlagen – ist die Vereinbarung von Zwischenterminen erforderlich, an denen die Detailspezifikationen festzulegen sind. Marktgerechte Reaktionszeiten bedingen, dass nur noch das produziert wird, was verkauft wurde. Dieses Konzept wird auch als Production on Demand bezeichnet [Bul97] Es bedeutet nicht nur, dass die Fertigung erst nach dem Auftragseingang beginnt, sondern dass auch das erforderliche Material auftragsspezifisch bestellt wird. Voraussetzung für diesen Ansatz ist, dass die Summe der Beschaffungszei-
ten und internen Lieferzeiten kürzer als die verlangte Lieferzeit ist. Das wird trotz großer Anstrengungen nicht immer möglich sein. Für diesen Fall bietet sich die Einführung eines Kundenentkopplungspunktes an. Er bezeichnet diejenige Stelle in der betrieblichen Logistikkette mit ihren Teilfunktionen Beschaffung, Fertigung, Montage und Versand, ab der die Aufträge bestimmten Kunden zugeordnet sind [Eid95, Wien96]. Vor dem Kundenentkopplungspunkt erfolgt eine kundenanonyme Abwicklung aufgrund von Absatzprognosen. Je nach dem Verhältnis der geforderten Lieferzeit zur internen Durchlaufzeit für die vier Abschnitte der Logistikkette ergeben sich vier Auftrags- oder Bevorratungsstrategien, Bild 3.2. Bei der Lagerfertigung erhält der Kunde das bestellte Produkt direkt aus dem Fertigwarenlager. Die Produkte werden auf Basis eines Produktionsprogramms in optimalen Losgrößen beschafft, gefertigt, montiert und eingelagert. Mit steigender Variantenzahl stößt dies auf zunehmende Probleme, weil die Kapitalbindung zu groß wird, die Vorhersagegenauigkeit für die
Strategie
Lagerfertigung
Kunde
Lieferant
Variantenmontage
Auftragsfertigung
kundenspezifische Einmalfertigung
Beschaffung
Fertigung
programmgebunden
Montage
kundenabhängig
Versand Zwischenlager
Bild 3.2: Auftragsstrategien mit unterschiedlichem Kundenentkopplungspunkt (Eidenmüller 1995) Institut für Fabrikanlagen und Logistik © ©IFA G0268SW_Wd_B
46
G0268SW Wd B
Kundenentkopplungspunkt
3.1 Reaktionsschnelligkeit
Menge
Kundenbedarf wirtschaftliche Obergrenze technische Obergrenze
Produktionsmenge
realisierte Flexibilität
wirtschaftliche Untergrenze 1 1
2
notwendige Überproduktion
2
Zeit
3
unwirtschaftliche Produktion
3
3
erzwungene Unterproduktion
a) starres Produktionskonzept technische Obergrenze Menge
wirtschaftliche Obergrenze vom Markt geforderte Flexibilität = realisierte Flexibilität
Kundenbedarf = Produktionsmenge
wirtschaftliche Untergrenze
b) mengenflexibles Produktionskonzept © Institut für Fabrikanlagen und Logistik
Zeit
G8913SW B
Bild 3.3: Produktionskonzepte bei starken Mengenschwankungen © IFA G8913SW_B
einzelnen Varianten stark abnimmt und damit der Servicegrad sinkt. In solchen Fällen versucht man, standardisierte Teile, Komponenten oder Teilsysteme vorzufertigen, zwischenzulagern und diese erst nach Eingang eines Auftrags kundenspezifisch in der Variantenmontage zusammenzusetzen. Zahlreiche Produkte des Maschinenbaus, der Verkehrstechnik, der Elektrotechnik und Elektronik sind auf diese Weise schnell lieferbar, zunehmend innerhalb von 24 bis 72 Stunden. Es kann jedoch technisch unmöglich oder unwirtschaftlich sein, die Komponenten für jeden denkbaren Kundenwunsch vorzufertigen, sei es, weil sie entsprechend den Kundenforderungen dimensioniert werden müssen oder weil ihre Bevorratung zu teuer ist. Dann bietet sich die Auftragsfertigung an, bei der lediglich das Ausgangsmaterial und die Fremdkomponenten für zentrale Produktbaugruppen aufgrund von Absatzprognosen bevorratet werden. Deren Fertigung erfolgt erst im Auftragsfall. Der Rest besteht
aus Standardkomponenten, die sich zusammen mit den kundenspezifisch gefertigten Komponenten in der Montage zum Kundenprodukt vereinigen. Den vierten Fall stellt die kundenspezifische Einmalfertigung dar, die eine komplette Neukonstruktion erfordert und bei der die Beschaffung erst nach dem Entwurf und der Teiledimensionierung einsetzt. Der Kundenentkopplungspunkt selbst stellt sich aus logistischer Sicht als Zwischenlager mit einem definierten Bestand für die kundenneutralen Komponenten dar, aus dem sich der in Flussrichtung nachfolgende Bereich bei Bedarf bedient, meist nach dem Warenhausprinzip. Bei Entnahme einer bestimmten Menge erfolgt automatisch eine Nachfertigung. Die übrigen im Bild 3.2 gezeigten Lagerpunkte sind meist als dynamische Zwischenpuffer häufig in Form mobiler Regale mit einem festen Speichervolumen ausgelegt. Sie gleichen die Wartezeiten zwischen den Arbeitsstationen aus, die aufgrund unterschiedlicher Bearbeitungszeiten und Losgrößen entstehen.
47
3 Produktionsanforderungen
3
Weiterhin ist zu beachten, dass Produkte in ihrem Lebenszyklus durchaus nach unterschiedlichen Auftragsstrategien hergestellt werden, je nachdem wie sich das gewünschte Verhältnis von Lieferzeit und Durchlaufzeit darstellt, wie groß das Stückzahlvolumen je Zeiteinheit und wie groß die Zahl der Varianten ist. Darüber hinaus wird ein Unternehmen i. d. R. nicht nur ein Produkt in einem Markt anbieten. Für die Fabrikplanung und -steuerung stellt die Beherrschung dieser ständigen Veränderungen die zentrale Herausforderung dar.
3.2 Mengen- und Varianten flexibilität Ein hervorstechendes Merkmal der Produktion in einem turbulenten Markt ist neben der kurzen zur Verfügung stehenden Reaktionszeit die starke Schwankung der Nachfrage bei gleichzeitig zunehmender Variantenanzahl der Produkte und ihrer Komponenten. Konnte man dem Variantenproblem bisher zumindest teilweise durch eine geschickte Baukastenkonstruktion begegnen, stellt die zunehmende Mengenschwankung die Unternehmen vor ein Dilemma. Einerseits ist eine Lagerhaltung sämtlicher Varianten nicht mehr möglich, anderseits stoßen automatisierte Produktionskonzepte auf zwei Grenzen, die in Bild 3.3 skizziert sind. Vorausgesetzt sei ein über der Zeit stark schwankender Kundenbedarf. Die Schwankungsbreite wird auch als Mengenhub bezeichnet und drückt aus, das Wievielfache die in einem Zeitraum von z. B. einem Jahr maximal verkaufte Menge eines Produktes bezogen auf den Minimalwert beträgt. Typisch hierfür sind saisonabhängige langlebige Konsumgüter, wie Waschmaschinen, die z. B. einem Mengenhub von 1 zu 6 im Laufe eines Jahres unterliegen. Ein starres Produktionskonzept, gekennzeichnet durch weitgehende Automatisierung der Einzelprozesse, Verkettung der Arbeitsstationen, lange Rüstzeiten und geringen Personaleinsatz, meist in 2 oder
48
3 Schichten betrieben, ist durch zwei Grenzen in der Ausbringungsmenge bestimmt (Bild 3.3a). Zum einen besteht eine technische Obergrenze, die durch die Taktzeit und die maximale Anzahl von Schichten begrenzt ist. Diese Grenze wird aus wirtschaftlichen Gründen meist nicht auf den Maximalwert des Kundenbedarfs ausgelegt. Jedoch bedingt diese Obergrenze im Falle einer hohen Nachfrage entweder ein Vorziehen von Aufträgen in Form einer Überproduktion, die zwischengelagert werden (Situation 1), oder eine vorübergehende Erhöhung der Lieferzeit, weil der Bedarf nicht produziert werden kann (Situation 3). Die wirtschaftliche Untergrenze der Produktion wird durch die Fixkosten des Systems bestimmt. Automatisierte Systeme haben naturgemäß hohe fixe Kosten (Abschreibung, Verzinsung, Wartung, Instandhaltung usw.) und vergleichsweise geringe variable Kosten (Personal, Energie, Betriebsstoffe usw.). Bei hoch automatisierten Produktionsanlagen liegt die Wirtschaftlichkeitsgrenze bei 80 bis 90% der Nennkapazität. Liegt die geforderte Produktionsmenge unterhalb dieses Grenzwertes, entstehen Verluste (Situation 2). Ziel eines mengenflexiblen Produktionskonzeptes ist es, die Mengenschwankungen des Marktes zum einen durch Ausweitung der wirtschaftlichen Grenzen nach oben und unten möglichst vollständig abfangen zu können, Bild 3.3b. Damit gelingt es, einerseits auch bei geringen Absatzmengen aufgrund eines möglicherweise veränderlichen Automatisierungsgrades wirtschaftlich zu fertigen. Anderseits ist anzustreben, die technische Kapazitätsobergrenze z. B. mit Hilfe modularer Arbeitsstationen rasch verändern zu können. Dieser Ansatz stößt in der Praxis aufgrund des vorherrschenden Prinzips der Wirtschaftlichkeitsrechnung jedoch auf erhebliche Vorbehalte, da dort von weitgehend konstanten Produktionsmengen und von einer Lebensdauer der Produktionsanlage ausgegangen wird, die länger als die Produktlebensdauer ist, also keine nennenswerte Anlagenumstellung erfordert. Beide Voraussetzungen sind in der mengen- und variantenflexiblen Produktion aber nicht gegeben und führen daher zwangsläufig zur Betrachtung der Lebenszykluskosten. Darunter werden alle Kosten
3.2 Mengen- und Variantenflexibilität
Kostenanteil 100 % 80 70 60 50 40
ungeplante Folgekosten (31%)
Produkt
4,6% Anlagenkonzept
Organisation
10
7,3%
3
ungeplante -85% Folgekosten (4,7%)
geplante Betriebskosten (44%)
geplante Betriebskosten (42,7%)
30 20
Kostenreduktionspotential 30,4%
18,5%
Einmalaufwand (25%)
Einmalaufwand (22%)
0
-3%
-12%
Planungsalternative I
Ist - Zustand Bild 3.4: Potenziale zur Senkung der Lebenszykluskosten (Perlewitz, BMW) © IFA G8918SW_B
zusammengefasst, die in den Systemlebensphasen Planung, Konstruktion, Herstellung, Beschaffung, Inbetriebnahme, Anlauf, Betrieb und Institut für Fabrikanlagen und Logistik G8918SW B Stilllegung in direkten oder indirekten Prozessen erzeugt werden oder vorhersehbar sind [Suz02]. Bei den Betriebskosten ist zwischen geplanten Betriebskosten und den ungeplanten Folgekosten durch Stillstände aufgrund technischer und organisatorischer Störungen, Ausschuss und Nacharbeit sowie von Umbauten zu unterscheiden. Am Beispiel einer Roboterschweißstraße für PKWKarosserien zeigte sich, dass von den 100% Kosten im Lebenszyklus der Anlage nur 25% auf die Phasen bis zum Betriebsbeginn entfielen, jedoch 44% auf die geplanten Betriebskosten und 31% auf ungeplante Kosten, Bild 3.4 [Perl98]. Damit war der letztgenannte Kostenblock größer als die gesamten Kosten für die Erstinvestition. Die Betreiberfirma schätzte, dass durch bessere Anlagenplanung und -beschaffung sowie eine fertigungsgerechte Produktentwicklung und geänderte Fertigungsorganisation eine Kostenreduzierung bei zukünftigen Anlagen von etwa 30%
insbesondere durch Verringerung der ungeplanten Folgekosten um 85% möglich ist. Diese sind hauptsächlich durch ein Anlagenkonzept zu senken, das rasche Veränderungen des Produktes, der Produktionsmenge und der Fertigungstechnik und einen schnellen Wiederanlauf der Anlage erlaubt. Vorschläge hierzu finden sich in [ElM09]. Die Ansätze zur Mengenflexibilisierung unterscheiden sich jedoch in den beiden Produktionsabschnitten Fertigung und Montage beträchtlich. Die Entwicklung der Fertigungstechnik ist seit Einführung der numerischen Steuerung in den 1950er Jahren durch die zunehmende Verknüpfung von Arbeitsstationen mit automatischem Werkstück- und Werkzeugwechsel bis hin zu flexiblen Fertigungssystemen geprägt. Allerdings erwiesen sich diese mit zunehmender Variantenbildung der Teile bei kleineren Losen und kürzeren Lieferzeiten als zu wenig flexibel. Die Abkehr von automatisierten Fertigungstechniken hin zu organisatorischen Lösungen wie die schlanke Produktion, Geschäftsprozessorientierung, Total Quality
49
3 Produktionsanforderungen
3
Management oder Einführung von Gruppenarbeit hat sich ebenso wenig bewährt. Man hat erkannt, dass erst das Zusammenwirken neuer fertigungstechnischer Konzepte zusammen mit einer flexiblen Arbeitsorganisation und erweiterten betriebswirtschaftlichen Mess- und Controllinginstrumenten weiterführt [Tön99]. Das Ziel solcher adaptiven Fertigungssysteme ist nicht der Abbau der Automatisierung, sondern die durchgängige Gestaltung der Systemkonzepte, Steuerung/Regelung, Sensorik und Mensch-Maschine-Schnittstellen mit dem Ziel hoher Varianten- und Prozessflexibilität. Als anzustrebende Lösung werden „intelligente“, d. h. mit eigener Sensorik, Aktorik und Steuerung ausgestattete, universelle Module gefordert, die zu mobilen Fertigungseinheiten konfigurierbar sind. Infolge ihrer weitgehenden Unabhängigkeit von einer speziellen Bearbeitungsaufgabe sind sie nachhaltig wandlungsfähig und damit investitionssicher. Ihre einfache Rekonfigurierbarkeit im Rahmen eines definierten Flexibilitätsbandes erlaubt zusammen mit einer intuitiven Bedienerführung auf der Basis standardisierter Mensch-Maschine-Schnittstellen
Stufe 1
kurze Lernkurven und die Entwicklung spezifischer Nutzerfähigkeiten [Abe06]. Ein weiterer Ansatz liegt darin, mehrere Fertigungsverfahren in einer Maschine zu kombinieren und damit die komplette Bearbeitung eines Teils in einer Aufspannung zu ermöglichen. Neben der offensichtlich höheren Fertigungsgenauigkeit wegen des Entfalls mehrerer Umspannungen ist der Flexibilitäts- und Zeitgewinn beträchtlich. Die Montage ist im Gegensatz zur Fertigung durch das Fügen vieler Teile mit unterschiedlichen Fügeverfahren in einzelnen Montagestationen gekennzeichnet. Neben den Fügeprozessen verursachen die Teilebereitstellung, -zuführung und -positionierung sowie der Transport zwischen den Montagestationen einen erheblichen Teil des Montageaufwandes. Während die Fügeprozesse aus Qualitätsgründen überwiegend automatisch ablaufen oder zumindest automatisiert überprüft werden, erfolgt die Teilehandhabung noch vielfach manuell. Lediglich bei großen Stückzahlen, wie sie in der Konsumgüter-, Elektro- und Automobilbranche üblich sind, verknüpft man die automatischen Füge- und Prüfstationen mit Transportbändern,
Stufe 2
Stufe 3
600.000
Kosten pro Jahr []
Stufe 3 Änderung
500.000
Planung
400.000
Stufe 2 Verkettung
300.000
Nacharbeit Instandhaltung
200.000
Stufe 1 100.000
Mitarbeiter Investition
0 manuell
automatisch
direkte Kosten werden erfasst
heutiger Stand
manuell
automatisch
operative Kosten
50
G6732SW B
automatisch
indirekte Kosten
müssen erfasst und bewertet werden
notwendige Erweiterung
Bild 3.5: Chancengleichheit durch erweiterte Wirtschaftlichkeitsrechnung Institut für Fabrikanlagen und Logistik ©©IFA G6732SW_B
manuell
3.3 Grenzwertorientierung
auf denen die Fügeobjekte mit Hilfe von Werkstückträgern identifiziert, positioniert, gespeichert und transportiert werden. Die Frage der Mengen- und Variantenflexibilität stellt sich hier also primär für automatische Montageanlagen, die ähnlich wie Fertigungsanlagen bereits bei einer Auslastung unter 90% im Zweischichtbetrieb unwirtschaftlich sein können. Verstärkt wird die Problematik durch kurze Produktlebenszyklen, die bei einigen Elektronikprodukten, wie z.B. Mobiltelefonen, bei unter einem Jahr liegen. Auch hier ist zunächst der Blickwinkel der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung zu erweitern. Bild 3.5 zeigt als Beispiel das Ergebnis einer Untersuchung der jährlichen Betriebskosten einer Montagestation in der Endmontage von Nutzfahrzeugen. Vergleichsobjekte waren zwei Montagestationen mit einer ähnlichen Aufgabe, von denen die eine weitgehend manuell und die andere weitgehend automatisch betrieben wurde. Stufe 1 zeigt die aus den Arbeitsplatz- und Mitarbeiterkosten resultierenden Jahreskosten nach dem üblichen Stand der Kostenrechnung. Die manuelle Montagestation ist trotz deutlich niedriger Arbeitsplatzkosten der automatischen Station infolge der hohen Personalkosten eindeutig unterlegen. Die Situation kehrt sich zugunsten der manuellen Lösung um, wenn in Stufe 2 auch die Kosten für die Instandhaltung, die Nacharbeit und die so genannten Verkettungsverluste einbezogen werden. Darunter versteht man Ausfallzeiten einer Station, die nicht durch die Station selbst bedingt sind, sondern durch Störungen der vor- oder nachgelagerten Stationen. Diese Störungen führen trotz der üblichen Pufferplätze entweder zu Wartezeiten, weil keine Werkstückträger zufließen, oder zu Blockierzeiten, weil diese nicht abfließen können. Der Vergleich zwischen manueller und automatischer Montage fällt in Stufe 3 noch deutlicher zugunsten der manuellen Lösung aus, wenn bei vollständiger Berücksichtigung der Lebenszykluskosten auch noch die Kosten für die Planung und Veränderungen der Station sowie für den Produktionsausfall infolge einer Modelländerung des Fahrzeugs einbezogen werden.
Im Hinblick auf die geforderte Flexibilität der Montage wird deutlich, dass hoch automatisierte Lösungen aufgrund der verborgenen Kosten und Verluste unwirtschaftlich und träge sein können. Anderseits kann die Lösung auch nicht in einem bedingungslosen Ersatz der automatisierten durch manuelle Systeme bestehen. Vielmehr ist zu fordern, dass der Automatisierungsgrad durch Hinzufügung, Entfernen oder Ersetzen von automatisierten und manuellen Prozess- und Transportmodulen sowohl einer Mengen- als auch einer Produktänderung rasch angepasst werden kann. Solche Lösungen wurden bereits als sogenannte hybride Montagesysteme realisiert [Lot06]. Dies setzt allerdings eine aktive Mitgestaltung durch die Werker und das untere Management voraus und ist nur bei entsprechender Qualifikation und Motivation aller Mitarbeiter realisierbar [Wien99].
3
3.3 Grenzwertorientierung Die Leitbildentwicklung der Fabrik kann durch eine Grenzwertbetrachtung wertvolle Impulse insbesondere im Hinblick auf die Reaktionsschnelligkeit erhalten. Der Begriff Grenzwert stammt aus der Mathematik und bezeichnet den Wert einer Zahlenfolge, gegen den diese konvergiert. Im Umwelt- und Arbeitsschutz bezeichnen Grenzwerte zulässige Werte bestimmter Messgrößen – z. B. Schall oder Schadstoffanteile in Luft, Boden oder Wasser –, die nicht überschritten werden dürfen. Für den Bereich der Fabrik können als grenzwertoptimierte Prozesse diejenigen Wertschöpfungsschritte verstanden werden, welche die theoretisch mögliche Grenze zur Minimierung des Aufwandes für die Organisation und Durchführung der Produktion unter stabilen Bedingungen erreichen. Diese Fragestellung wurde im Rahmen eines Verbundprojektes unter fertigungstechnischen, umformtechnischen und logistischen Aspekten untersucht [Doe00]. Die dort betrachteten Wertschöpfungsschritte basieren auf den Kernprozessen der Fabrik, nämlich Beschaffen, Bearbeiten, Montieren, Transportieren und Lagern.
51
3 Produktionsanforderungen
3
Die Einsatzfaktoren in diesen Prozessen sind Material, Energie, Information, Fläche, Mitarbeiter und Kapital. Als wesentliche Grenzwertobjekte sind technische Einzelprozesse wie die Teilefertigung und Montage sowie logisch-organisatorische Abläufe der Auftragsabwicklung relevant. Eine weitere wichtige Unterscheidung betrifft die Grenzwertebenen. Bild 3.6 führt drei Ebenen mit ihren Voraussetzungen auf. Die einzelnen Prozesse werden nach den rechts im Bild aufgeführten Zielgrößen bewertet, um einen objektiven Maßstab für die Grenzwerte zu erhalten. Als erste Zielgröße gelten unter dem Primat der Wirtschaftlichkeit die Kosten. Ihr folgt die Zeit als universelle Ziel- und Bewertungsgröße, weil sich hieraus viele Folgegrößen wie z.B. der im Prozess gebundene Arbeitsvorrat oder die benötigte Fläche für die Lagerung ableiten. Die Qualität ist ebenso eine für alle Prozesse wichtige Zielgröße, hängt doch von ihr die Zuverlässigkeit der Ausbringung des Prozesses ab. Neben diesen drei klassischen Zielgrößen ist in der Produktion noch die Beherrschung der Prozess-, Teile- und Produktvielfalt von zunehmender Bedeutung. Und schließlich soll mit dem Begriff der Nachhaltigkeit die Ressourcen- und Umweltschonung durch die Produktionsprozesse betont werden. Auf der ersten Ebene der Grenzwertbetrachtung geht man von den betrieblich realisierbaren Grenzwerten
Voraussetzungen
Modelle / Theorien
Grenzwertebenen
Natürliche (physikalische) Grenzwerte
aus, die derzeit durch eine Optimierung vorhandener Einrichtungen und Abläufe erreichbar sind. Durch inner- oder überbetriebliche Vergleiche in Form von Benchmarking und mit Techniken der ständigen Verbesserung oder der Vermeidung von Verschwendung lassen sich gegenüber dem Istzustand bereits weiterreichende Ziele definieren. Die zweite Grenzwertebene setzt Idealbedingungen voraus; diese Werte lassen sich derzeit zwar technisch realisieren, praktisch aber nur unter Laborbedingungen. Wegen dieser Voraussetzungen ist daher auch noch keine wirtschaftliche Umsetzung möglich, jedoch sind damit Ziele formulierbar, die in absehbarer Zeit erreichbar sind. Die dritte Grenzwertebene orientiert sich schließlich an theoretischen Modellen des Prozesses und definiert auf dieser Basis sogenannte natürliche physikalische Grenzwerte. Diese Betrachtung erfordert einen langen Planungshorizont und eine visionäre Begeisterung. Am Beispiel des Einsatzes von Kühlschmierstoff für das Schleifen von Metall würden die drei Grenzwertebenen folgende Aussagen erlauben. Der derzeit betrieblich erreichbare Wert liegt bei 10 l/min Kühlschmierstoff pro mm Schleifscheibenbreite. Mit der sogen. Minimalmengenschmierung und -kühlung sind im Labor 0,0001 l/min pro mm Schleifscheibenbreite technisch realisierbar, und rein physikalisch gesehen erscheint als theoretischer Grenzwert das Schleifen von Stählen ganz ohne Kühlschmierstoff möglich [Doe00].
Zielgrößen
• Kosten • Zeit
Derzeit technisch realisierbare Grenzwerte
Idealbedingungen
• Qualität • Vielfalt
Derzeit betrieblich realisierbare Grenzwerte
Optimierung Best Practice
• Nachhaltigkeit Bild 3.6: Grenzwertebenen und Zielgrößen der Produktion © IFA G8904SW_B
52 © Institut für Fabrikanlagen und Logistik
G8904SW B
3.3 Grenzwertorientierung
Prozesselemente Zielgrößen
Beschaffen
Bearbeiten
Montieren
Transportieren
Lagern
Kosten
global minimal
Komplettbearbeitung
teilbezogener Grenzwert
keine Leerfahrten
Kostenminimum
Zeit
100% Service
keine Wartezeit
1 Montagestufe
100% Service
100% Service
Qualität
0-Fehler Einbau
0-Fehler Einbau
0-Fehler Funktion
0-Beschädigung
0-Beschädigung
Vielfalt
bedarfsgerecht
variantenneutral
rüstfrei
wahlfreier Zugang chaot. Lagerung
Nachhaltigkeit
ohne Verpackung
ohne Kühlmittel
0-Emission
0-Emission
3
0-Emission
Bild 3.7: Beispiele für Grenzwertansätze in der Produktion © IFA G8901SW_B
zeigt in stark vereinfachter Darstellung, ©Bild Institut3.7 für Fabrikanlagen und Logistik G8901SW B
wie solche natürlichen Grenzwerte, isoliert betrachtet, für die Zielgrößen der genannten Prozesselemente aussehen könnten. Bei den Beschaffungskosten kann man sich beispielsweise den jeweils global minimalen Einstandspreis vorstellen, die gelieferten Artikel kommen alle pünktlich in der bestellten Menge am Verbrauchsort an, sind ohne Fehler beim Einbau, decken die geforderte Vielfalt ab und benötigen keine Verpackung, die entsorgt werden müsste. Beim Bearbeitungsprozess ist als Grenzwertansatz die Komplettbearbeitung eines Werkstücks mit mehreren Verfahren in einer Aufspannung denkbar, die Durchlaufzeit besteht nur aus wertschöpfenden Prozessen, die Teile sind beim Einbau fehlerlos, die Vielfalt wird durch verschleißfreie, programmierbare Werkzeuge beherrscht (z.B. Laserstrahl) und der Prozess erfordert keine Kühl- oder Schmiermittel. Ähnliche Überlegungen sind auch für die übrigen Prozesse angedeutet. Das Problem dieser vereinfachten Betrachtungsweise liegt darin, dass die Veränderung eines Prozessparameters fast immer Auswirkungen auf mehrere Zielgrößen hat. Daher ist ein Ansatz zu empfehlen, der von einer kombinierten Vorwärts- und Rück-
wärtsbetrachtung der Grenzwertermittlung ausgeht, Bild 3.8. Ausgangspunkt ist eine Festlegung des Untersuchungsbereichs und die Feststellung des Istzustandes. Je nach dem gewählten Betrachtungsobjekt (ganze Fabrik, Einzelprozesse, Teilprozesse) sind die zu erreichenden Ziele zu definieren. Für die Grenzwertbetrachtung ist die Konzentration auf zunächst eine Zielgröße wichtig, um einerseits die Komplexität zu reduzieren, die durch die Zielgrößenabhängigkeit gegeben ist, und anderseits eine einfache Kommunikation zu sichern. Die Identifikation der Defizite und der zunächst nicht veränderlichen Einflussparameter ist noch Bestandteil der Zieldefinition. Von zentraler Bedeutung ist die anschließende Ermittlung derjenigen Prozessparameter, welche den größten Einfluss auf die gewählte Zielgröße besitzen. In der betriebswirtschaftlichen Sicht sind es beispielsweise die Kostentreiber, in der Logistik der Systembestand, in der Zerspanungstechnik die Schnittgeschwindigkeit usw. Für die gefundenen signifikanten Parameter sind konkrete Werte festzulegen, die aber nicht trivial gesetzt, sondern logisch nachvollziehbar sein müssen. Beispielsweise ist ein Durchlaufzeitwert von Null für ein Werkstück durch eine Fertigung ein solcher trivialer Grenzwert. Ein
53
3 Produktionsanforderungen
Quantifizierung der Grenzwerte
Potenzialwertbestimmung und Zielgrößenauswirkung
Priorisierung der Parameter
Ermittlung signifikanter Parameter
3
Grenzwerte und Parameter
Zieldefinition
Identifikation der Hindernisse
Aufwand zur Beseitigung
Istzustand Bestimmung des Optimums
Optimum
Priorisierung der Hindernisse
Bild 3.8: Zyklus der Grenzwertbetrachtung © Institut für Fabrikanlagen und Logistik
© IFA G8890SW_B
G8890SW B
sinnvoller Grenzwert ist demgegenüber die Summe der Prozesszeiten, was bedeuten würde, dass das Werkstück niemals wartet. Manchmal gelingt es auch, Grenzwerte rechnerisch zu bestimmen. So kann man beispielsweise die Streckengrenzleistung einer Fahrspur in Fahrzeugen pro Stunde in Abhängigkeit von der Fahrzeuglänge, der Notbremskonstante, einer Reaktionszeit und der Fahrgeschwindigkeit berechnen. Bild 3.9 zeigt das Ergebnis einer derartigen Berechnung am Beispiel von vier Fahrzeugklassen [Gud05]. Es wird deutlich, dass für jeden Typ eine (in diesem Fall erstaunlich niedrige) grenzwertoptimale Fahrgeschwindigkeit existiert, deren Unter- bzw. Überschreitung zu einem Abfall des Grenzdurchsatzes führt. Der Autor betont, dass derart bestimmte Grenzleistungswerte zwar zur Verkehrslenkung eingesetzt werden, sie aber keineswegs das Kostenminimum für die Transportleistung selbst darstellen. Der Vergleich eines gefundenen Grenzwertes mit dem Istwert offenbart den vorhandenen Stellbereich und
54
gibt einen Hinweis, wie weit der vorhandene Prozess bereits technisch oder logistisch ausgereizt ist. Im nächsten Schritt geht es um die Ermittlung des Potenzialwertes und des Einflusses verschiedener Prozessparameter auf den gewählten Zielwert. Je größer der Abstand zwischen Istwert und Grenzwert ist und je stärker die Wirkung einer Parameteränderung auf den Zielwert ist, desto größer ist das Potenzial. Allerdings werden sich Parameteränderungen aufgrund systembedingter Zusammenhänge gegensätzlich oder gleichgerichtet auswirken. Das Durchdringen dieser Wechselwirkungen stellt die zentrale Herausforderung der Grenzwertbetrachtung dar und erfordert in der Regel einen analytischen Ansatz gepaart mit Expertenwissen. Im Gegensatz zur FMEA-Methode (Failure Mode and Effects Analysis) wird also nicht nach Fehlern und ihren Auswirkungen gefragt, sondern es werden im Sinne einer Wirkanalyse die Auswirkungen der Änderung von Prozessparametern auf das zu erschließende Potenzial ermittelt. Die anhand ihres Potenzials unterscheidbaren Parameter sind nun zu priorisieren, wobei durchaus
3.3 Grenzwertorientierung
Streckengrenzleistung [Fahrzeuge/h]
2.000
Mini-PKW Normal-PKW
3
Groß-PKW
1.500
Lastzug 1.000
500
0 Bild 3.9: Streckengrenzleistung einer Fahrspur (Gudehus)
0
20
40
60
80
100
120
140
160
Fahrgeschwindigkeit [km/h]
© IFA G8917SW_B
geringe Veränderungen große Potenziale erschließen © Institut für Fabrikanlagendie und Ausbringung Logistik G8917SW können, wie beispielsweise einer automatischen Montageanlage durch die Verfügbarkeitssteigerung einer Engpassstation [Köh00]. Nach Festlegung der Parameter mit ihren Grenzwerten und Abhängigkeiten stellt sich die Frage des Umsetzungsaufwandes. In einer Art vorausschauender Rückwärtsbetrachtung sind zuerst die Hindernisse zu identifizieren, die es zu überwinden gilt. Hilfreich können hier die von Suzaki definierten sieben Arten der Verschwendung sein, nämlich hohe Bestände, Überproduktion, Wartezeit, Transport, Produktionsfehler, Bewegung und Arbeitsprozesse [Suz02]. Anschließend sind Lösungen zur Beseitigung der Hindernisse zu entwickeln und es ist der dazu notwendige Aufwand zu bestimmen. Je nach Grenzwertebene und Umfang des Objektes kommen hierfür die in den jeweiligen Fachgebieten üblichen Methoden wie z.B. Konstruktionsmethodik [Pah07] oder die Logistische Engpassanalyse [Wien99] zum Einsatz. Schließlich sind die Hindernisse nach ihrem Aufwand-Nutzen-Verhältnis zu bewerten und in eine Prioritätsfolge zu bringen. Dies garantiert aber noch kein gesamtwirtschaftliches Optimum, denn die
B
Verfolgung eines Grenzwertes hat bei der Hindernisbeseitigung fast immer Folgen für die anderen, nicht betrachteten Ziele. Falls Synergien entstehen, ist dies zu begrüßen, bei Widersprüchen zu den anderen Zielen ist eine Folgenabschätzung erforderlich. Erst in der Zusammenschau entsteht ein betriebliches Optimum. Bild 3.10 stellt abschließend den strategischen Grundgedanken der grenzwertorientierten Potenzialerschließung dem traditionellen Vorgehen gegenüber. Üblicherweise wird der durch Benchmarking oder Kundenforderungen definierte Zielzustand reaktiv mit Hilfe einzelner Verbesserungsschritte angestrebt; das weitere Potenzial bleibt mangels einer objektiven Messlatte verborgen. Demgegenüber wählt der Grenzwertansatz eine deutlich aggressivere Ausgangsposition, die durch die beschriebene Optimierung an das wirtschaftliche Optimum heranführt. Für die Fabrikplanung bietet sich die Grenzwertbetrachtung eher auf einer aggregierten Ebene an. Dazu gehören der Beschaffungsprozess, die Prozesskette zur Fertigung einer Teilegruppe oder Montage
55
3 Produktionsanforderungen
Verbesserungspotential durch Reduzieren
Verbesserungspotential durch Aufbauen maximales Potential
verborgenes Potential
3
Ist Verbesserungs- Ziel- Wirtschaftiches schritte zustand Optimum a) Traditionelles Vorgehen: „Reagieren“
Ist
Grenz- Anpassungs- Wirtschaftliches wert schritte Optimum
b) Orientierung an Grenzen: „Agieren“
Bild 3.10: Traditionelle und grenzwertorientierte Verbesserung (Hartung, Mc Kinsey) © IFA G8919SW_B
einer Produktgruppe und die Auftragsdurchführung vom Eingang der Kundenbestellung bis zur Auslieferung. Innerhalb dieser Bereiche die GrenzG8919SW kann B © Institut für Fabrikanlagen und Logistik wertbetrachtung dann auf einer operativen Ebene unter technischen, logischen und organisatorischen Aspekten einsetzen. Als Beispiel soll die Frage der Variantenbildung dienen. Vielfach werden Produktvarianten durch die unterschiedlichen Ausprägungen einzelner Teile bestimmt. Dies führt zu einer sehr frühen Festlegung im Auftragsdurchlauf. Ändert der Kunde während dieser Zeit seine Meinung, ist das Teil für diesen Auftrag nicht mehr brauchbar; möglicherweise muss das Produkt demontiert oder gar verworfen werden. Als Grenzwert kann man nun definieren, dass die Teilevariante erst in der letzten Stufe der Montage fertig werden soll. Der Lösungsansatz besteht darin, die Variantenbestimmenden Teilprozesse in die Montage zu verlagern und damit die traditionelle Grenze zwischen Fertigung und Montage bis zu einem gewissen Grad aufzuheben. Das zu überwindende Hindernis besteht darin, diesen Prozess in einer industriellen Montageumgebung und ohne Beschädigung der bereits verbauten Teile zu beherrschen. Die Umsetzung erfordert die Trennung der Bearbeitung in eine variantenneutrale Vorfertigung und eine variantenspezifische Endbearbeitung, die als Station in die Montage integriert wird. Einzelheiten werden in Abschnitt
56
4.11 unter dem Begriff Produktionsstufenkonzept näher erläutert. Fasst man die Grenzwertbetrachtungen stark vereinfacht zusammen, lassen sich nach Bild 3.11 aus externer Marktsicht und interner Prozesssicht folgende Merkmale angeben. Ausgehend von einer hundertprozentigen Erfüllung der Kundenwünsche hinsichtlich der Funktionalität, des Preises und des Termins strebt das Unternehmen eine Begleitung des Kunden bei der Nutzung des gelieferten Produktes über den gesamten Lebenszyklus an. Es produziert keine Aufträge auf Vorrat. Für die Prozesse folgt daraus zunächst die Forderung, nur solche Tätigkeiten durchzuführen, die eine Wertsteigerung der zu liefernden Produkte und ihrer Bestandteile bewirken. In den Prozessen selbst sollen keine Wartezeiten auftreten, weder des Materials noch der Betriebsmittel und Menschen. Aus Qualitätssicht liefern alle Prozesse nur fehlerfreie Produkte an den internen oder externen Kunden. Die Forderung nach maximaler Variantenvielfalt soll durch die Möglichkeit erfüllt werden, die endgültige Ausführung in der letzten Stufe der Produktentstehung bestimmen zu können. Schließlich bedingt die Nachhaltigkeit eine Lebenszyklusbetrachtung unter dem Gesichtspunkt der Wiederverwendung und -verwertung sowohl der an die Kunden gelieferten Produkte als auch der
3.4 Selbstorganisation und Partizipation
im eigenen Unternehmen eingesetzten Ressourcen und Prozesse. Letztere unterliegen dem Gebot der Minimierung des Energieverbrauchs bis auf den physikalischen Grenzwert und der Umweltbelastung auf Null. Es ist unverkennbar, dass das Konzept der Grenzwertorientierung starke Ähnlichkeit mit dem Konzept der schlanken Produktion aufweist, worauf Abschnitt 4.6 noch detailliert eingeht.
3.4 Selbstorganisation und Partizipation Die Arbeitsorganisation der vergangenen Jahrzehnte war durch eine starke fachliche Aufgabendifferenzierung gekennzeichnet. Die strikte Unterteilung in Hand- und Kopfarbeit führte einerseits zu vielen spezialisierten direkten Tätigkeiten mit entsprechend aufgefächerten Berufsbildern (z.B. Dreher, Fräser, Schweißer) und ebenso spezialisierten Planungs-, Steuerungs- und Kontrolltätigkeiten, wie Arbeitsplaner, Fertigungssteuerer, Maschineneinrichter, Qualitätsprüfer usw. Das Ziel bestand in einer weitgehenden Vorausplanung unter Verwendung von Standards bei möglichst weitgehender Mechanisierung und Automatisierung. In der Folge
entstanden die bereits eingangs geschilderten hierarchischen und bürokratischen, wandlungsträgen Organisationen. Dieses Konzept ist durch drei Entwicklungen infrage gestellt worden. Zunächst hat die zunehmende Automatisierung den Anteil der standardisierbaren und direkten Fertigungsaufgaben ständig verringert. Gerade die verbleibenden, immer anspruchsvolleren Tätigkeiten entziehen sich aber der weitgehenden Vorausplanung und Kontrolle. Weiterhin hat der allgemeine gesellschaftliche Wertewandel zur Folge, dass strenge Hierarchien mit wenig Gestaltungsspielraum, Führung durch Befehl und Gehorsam gekoppelt mit starker Verhaltens- und Leistungskontrolle nicht mehr akzeptiert werden. Schließlich erfordern die geschilderten turbulenten Produktionsbedingungen neben einer aktuellen Fachkompetenz vermehrt Methodenkompetenz vorzugsweise zur Lösungssuche und -bewertung sowie Sozialkompetenz zur Konfliktlösung und Teamfähigkeit. In der Wissenschaft und betrieblichen Praxis besteht eine weitgehende Übereinstimmung darin, dass neuere Organisationskonzepte, die weniger auf Disziplin und Unterordnung, als vielmehr auf Selbststeuerung, Engagement, Eigeninitiative sowie Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten beruhen, neue Chancen zur Beherr-
3
Marktleistung: • 100% Kundenwunscherfüllung (Funktion, Preis, Termin) • Begleitung über den gesamten Produktlebenszyklus • Produktion nur für Kundenaufträge
Prozesse:
Bild 3.11: Merkmale der grenzwertorientierten Fabrik
Kosten
nur wertschöpfende Tätigkeiten
Zeit
keine Wartezeiten von Material und Ressourcen
Qualität
beherrschte Prozesse und fehlerfreie Produkte
Vielfalt
Variantenbildung in der Produktionsendstufe
Nachhaltigkeit
vollständige Lebenszyklusbetrachtung der Ressourcen und Prozesse
© IFA G8898SW_B
57
3
Dezentralisierungsgrad
3 Produktionsanforderungen
hoch
mittel
niedrig
Planung
Partizipationspotenzial
Inbetriebnahme Hochlauf
Betrieb
Lebensphase Bild 3.12: Potenziale der Mitarbeiterpartizipation © IFA G8895SW_B
schung einer komplexen und turbulenten Umwelt eröffnen. Vielfach findet sich für diesen Ansatz der Fabrikanlagen undBegriff Logistik der Selbstorganisation, G8895SW B der eng mit dem Begriff der Partizipation verknüpft ist. Selbstorganisation bedeutet in diesem Zusammenhang, definierte Prozesse mit einem eindeutigen Ergebnisbezug zu verantworten [Brö00]. Voraussetzung dafür ist ein erhöhter Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Mitarbeiter nicht nur zur Bewältigung des täglichen Arbeitsprogramms (horizontale Partizipation), sondern auch in der Gestaltung und Veränderung der Arbeitsplätze und -abläufe (vertikale Partizipation). Durch die Beteiligung der Mitarbeiter an anspruchsvollen Aufgaben wird ein gesteigertes Engagement bei Prozessinnovationen und bei der Verbesserung von Produktivität und Qualität erwartet [Grei89]. Wie stark die Beteiligten dabei eingebunden werden können, hängt einerseits vom Dezentralisierungsgrad und andererseits von der Lebenszyklusphase des Produktionssystems ab, Bild 3.12 [Menz00].
58
Unterscheidet man bei einem Produktionssystem die Phasen Planung, Inbetriebnahme einschließlich Hochlauf auf Sollstückzahl und den stabilen Dauerbetrieb, so ist auch bei niedrigem Dezentralisierungsgrad in der Betriebsphase die größte Einflussnahme des Mitarbeiters auf die Gestaltung des Arbeitsplatzes und des Prozesses möglich. Bei der Inbetriebnahme und dem Hochlauf von Produktionseinrichtungen wird das Potenzial bereits abnehmen. Sehr gute Erfahrungen liegen mit Facharbeitern als Anlagenbetreibern vor, wenn diese die Einrichtungen von Anfang an mit aufbauen, Stück für Stück testen und in Betrieb nehmen. Die Beteiligung an langfristigen, unternehmensrelevanten Entscheidungen in der Planungsphase dürfte sich demgegenüber auf die Information und Befragung der Mitarbeiter beschränken. Allerdings ist bei stark vernetzten, dezentralisierten Unternehmen auch eine kontinuierliche Beteiligung der Beschäftigten an der Planung denkbar, besonders bei Umbauten als Folge von Änderungen der Produkte und der Technologie.
3.4 Selbstorganisation und Partizipation
Diese Art von Selbstorganisation und Partizipation verändert das Verhältnis der Arbeitskräfte zu den Unternehmen grundlegend. An die Stelle umfassender Vorgaben und Kontrollen treten flexible, ergebnisorientierte Steuerungsinstrumente, wozu insbesondere das Führen mit Zielvereinbarungen zählt. Für die Mitarbeiter ergeben sich daraus neue Aufgaben und Rollen, Bild 3.13. Die früher vorherrschende Funktionsorientierung hatte für den einzelnen Mitarbeiter eine nach Berufen gegliederte hochgradig regulierte Arbeit zur Folge. Die Verantwortung für Abläufe und Ergebnisse nahm ab, je näher der Mitarbeiter am eigentlichen Produktionsprozess war. Er wurde nach Leistung und Anwesenheit bezahlt. Mit zunehmender Ergebnisorientierung entstehen neue Mitarbeiterrollen in einer nach Teams gegliederten Organisation, die jeweils zu definieren sind. Der Einzelne wird zum Gruppenmitglied, wird eventuell Gruppensprecher. Ein Prozess- oder Segmentleiter koordiniert mehrere solcher Gruppen. Die Verantwortung wird weiter nach unten verlagert, es entstehen zunehmend individuelle Fähigkeits-, Erfahrungs- und Aufgabenprofile. Inwieweit sich weitergehende Formen der
Verantwortung
Gestern
Selbstorganisation entwickeln, bleibt abzuwarten. Denkbare Rollen sind jedenfalls Auftragsmanager, die für ein bestimmtes Auftragsspektrum wie ein Unternehmer im Unternehmen agieren, unterstützt von Innovatoren, die neue Produkte und Prozesse entwickeln, sowie Konfiguratoren zur kundenindividuellen Produktzusammenstellung und Moderatoren zur Begleitung von Veränderungsprozessen [Brö00]. Ein weitergehender Vorschlag wurde von Wirth unter dem Begriff Kompetenzzellen entwickelt [Wir00]. Dabei handelt es sich um die kleinste wandlungsfähige Wertschöpfungseinheit einer Fabrik. In ihr findet eine multilaterale Zusammenarbeit von Personen statt, die mit Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet sind und ihre Leistung in einem Kompetenznetzwerk als Unternehmer anbieten (zitiert nach [ScWi04], S. 365ff). Inwieweit solche Rollen angenommen und erfolgreich umgesetzt werden, ist stark von der Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit des Unternehmens abhängig. Denn auch wenn Produktionsanlagen sowie hochproduktive und wandelbare Fabriken ohne intensive Beteiligung der Beschäftigten in Zukunft kaum erfolgreich geplant und betrieben werden dürften, sind mit steigendem Erfolgsdruck
Heute
3
Morgen
Funktionsorientiert
Ergebnisorientiert
Veränderungsorientiert
• Maschinenbediener • Vorarbeiter • Meister • Programmierer • Betriebsleiter
• Gruppenmitglied
• Auftragsmanager
• Gruppensprecher
• Innovator
• Prozessleiter
• Konfigurator
• Segmentleiter
• Moderator
Regulierung Dezentralisierung
Bild 3.13: Veränderung von Mitarbeiterrollen © IFA G8894SW_B
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
G8894SW B
59
3 Produktionsanforderungen
3
60
auch offene und versteckte Widerstände zu erwarten. Sie resultieren aus der Unsicherheit, den Ängsten sowie dem befürchteten Einkommens-, Macht- und Prestigeverlust der Betroffenen. Dem Versprechen von mehr Autonomie und Souveränität steht die Unsicherheit des Arbeitsverhältnisses und der Arbeitsdauer gegenüber. Darüber hinaus werden in dezentralen selbst organisierten Organisationsstrukturen klassische Karrieremuster, etwa für Facharbeiter oder Betriebsingenieure infrage gestellt. Schließlich ist der Verlust der „fachlichen Heimat“ für den Einzelnen zu bedenken. Er ist in seinem Team oft der einzige Spezialist für ein bestimmtes Verfahren oder eine bestimmte Technik und gerät so in die Gefahr, dass sein Wissen schnell veraltet. Werden die Teams häufiger umgestellt, können sich keine Lerneffekte entfalten und es droht darüber hinaus der Verlust der „organisatorischen Heimat“. Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Gruppe geht verloren, die sozialen Kontakte verkümmern. Um die unbestrittenen Vorteile der Selbstorganisation im Spannungsfeld von Dynamik und Stabilität erschließen und erhalten zu können, bedarf es zur Überwindung ihrer Hemmnisse und Gefahren Mut, Entschlossenheit und einiger Spielregeln. Hierzu zählen Transparenz der Ziele und des Vorgehens, Vereinbarungen über die Verwendung der Mitarbeiter nach der Umstellung, Beteiligung nicht nur an den operativen, sondern auch strategischen Überlegungen des Managements, intensive Kommunikation von „oben nach unten“ und „unten nach oben“ sowie Ergebnisoffenheit [Brö00]. Dies setzt vor allem eine hoch entwickelte Vertrauenskultur voraus, die sich meist erst schrittweise entwickelt und bewähren muss. Die Entwicklung des Leitbildes einer partizipativen Fabrik ist unverzichtbarer Bestandteil der wandelbaren Fabrik. Der Entwicklungsprozess hierfür wird in seiner Dauer und personalen Intensität häufig unterschätzt und ist wesentlich konfliktreicher als die Erarbeitung etwa eines neuen Fertigungskonzeptes oder einer neuen Beschaffungslogistik. Ihre frühzeitige Einbindung in den Prozess der Fabrikplanung ist daher dringend zu empfehlen.
3.5 Kommunikation Partizipation darf sich jedoch nicht auf den Planungsprozess beschränken, sondern setzt sich beim Betrieb der Fabrik fort. Routineaufgaben werden heute verstärkt von Maschinen übernommen. Der Mitarbeiter befasst sich eher mit Sonderaufgaben und ständigen Verbesserungen. Diese Aufgaben sind durch ihren offenen Ausgang und hohen Grad an Kontextgebundenheit geprägt. Dabei erzeugt die Unschärfe im Hinblick auf Input und Output einen hohen Abstimmungs- und Kommunikationsbedarf. Die interpersonelle Kommunikation ist in diesen Bereichen anderen Kommunikationsformen überlegen. Durch den gemeinsamen realen Wahrnehmungsraum der Gesprächspartner werden die Inhalte durch zusätzliche Informationen ergänzt und mit dem Know-how des Einzelnen verknüpft. Durch die körperliche Anwesenheit können Missverständnisse vermieden und Entscheidungen gezielter getroffen werden. Aus dieser Entwicklung ergibt sich eine Reihe von gestalterischen Anforderungen an die Produktion. Ausgangspunkt ist ein Kommunikationskonzept, das alle wesentlichen Kommunikationsformen in der Fabrik festlegt. Hierzu bestehen zwei Ansätze: Die Betriebsorganisation bestimmt durch die Prozessabläufe und Aufbauorganisation Partner, Form oder Ablauf der Kommunikation in der Fabrik. Beispielsweise begünstigen flache Hierarchien und die Integration indirekter Arbeitsinhalte die Kommunikation. Die Fabrikplanung bestimmt demgegenüber die bauliche Gestaltung der Kommunikation. So unterstützen und beschleunigen kurze Wege zwischen Kommunikationspartnern, die Schaffung einer angenehmen Arbeitsumgebung oder die Einrichtung von Kommunikationsorten die Kommunikationsprozesse. Die räumliche Ausbildung eines Gebäudes beeinflusst den Menschen dabei in seinem Kommunikationsverhalten. Insbesondere wurde durch Untersuchungen gezeigt, wie die räumliche Nähe mit der Kommunikationshäufigkeit korreliert. Bild 3.14 zeigt die Kommunikationswahrscheinlichkeit zwischen zwei Personen in Abhängigkeit von der räumlichen Entfernung [All07].
3.6 Vernetzung und Kooperation
Wöchentliche Kommunikation
5
Bild 3.14: Wahrscheinlichkeit von Kommunikation in Abhängigkeit der Entfernung zwischen Arbeitsplätzen (Allen)
4 3
3
2 1 0 0
20
40
60
80
[m]
100
Entfernung
© IFA 14.781_B © Institut für Fabrikanlagen und Logistik
14.781 B
Während die Prozessgestaltung also die Grundlagen einer kommunikationsförderlichen Fabrik legt, kann die Architektur diesen Ansatz durch bauliche Einrichtungen unterstützen. So gilt beispielsweise als Stand der Technik die räumliche Integration indirekter Bereiche in die Produktionsgebäude (häufig in Form eines Galeriekonzeptes) sowie die Anordnung von Informationsständen und Besprechungsräumen in der Fabrik [Nyh05]. Diese Aspekte werden noch näher in Kap. 8 und 10 betrachtet.
3.6 Vernetzung und Kooperation Aus den vorhergehenden Abschnitten wurde bereits deutlich, dass neben der technisch-logistischen Betrachtung die eher weichen Faktoren wie die Organisation und zukünftige Mitarbeiterrollen für die moderne Fabrik von eminenter Erfolgsbedeutung sind. Dies wird dadurch verstärkt, dass sich die Organisation der Produktion seit den frühen 1990er Jahren als Reaktion auf zunehmende Vielfalt und Geschwindigkeit, in mehreren Schritten hin zu mehr Dezentralität entwickelt hat, Bild 3.15 [Win01, S.11]. Ausgehend von den stark hierarchisch geprägten Formen der Aufbauorganisation entwickelten sich
über den Ansatz der schlanken Produktion kleine, zunehmend selbständige Profit- und Costcenter, unterstützt durch Gruppenarbeit und Teambildung. Parallel hierzu fand eine Vereinfachung der Ablauforganisation statt. Ausgehend von einer Ressourcenanpassung vor allem unter dem Gesichtspunkt der Gemeinkostensenkung folgte die radikale Reorganisation nach Geschäftsprozessen entlang der Wertschöpfungskette. Bei mehreren Produkt-Markt-Kombinationen entstanden daraus eigene Minifabriken in der Fabrik, die weitgehend selbständig agieren. Als weitere Konsequenz ergab sich daraus häufig auch eine modulorientierte Neugestaltung der Produkte und Prozesse. Mit dieser stufenweisen Herausbildung selbständiger Unternehmensteile bei gleichzeitiger Konzentration auf Kernkompetenzen und Verlagerungen der übrigen Aufgaben an externe Lieferanten und Dienstleister war der Schritt zu unternehmensübergreifenden Kooperationen, seien sie längerfristig oder zeitgebunden, folgerichtig. Dabei beschränkt sich die Kooperation nicht mehr auf die Produktion, vielmehr sind vermehrt auch Einkaufs-, Liefer- und Entwicklungsverbünde zu beobachten. Es bilden sich über reine Logistikketten im Sinne traditioneller Kunden-Lieferanten-Beziehung hinaus stabile Netzwerksarrangements und in einer weiteren Stufe auch wandelbare Produktionsnetze. Darunter seien Unternehmensverbunde verstanden, die sich zeitlich
61
3 Produktionsanforderungen
Starke Hierarchisierung
Verä
3
nder
Verän
Lean Production / Lean Management unge
deru
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Bildung kleiner Einheiten (Profit-/ Costcenter)
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Teambildung / Gruppenarbeit
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„Networking“
n
Aufbau von wandelbaren Produktionsnetzen Produkt- und Prozessgestaltung
Segmentierung
Business-ProcessReengineering Ressourcenanpassung
Zentrale PPS
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
Dezentralisierung
Selbststeuerung
D5007ASW Wd B
Bild 3.15: Phasen der Dezentralisierung der Produktion (Windt) © IFA D5007ASW_Wd_B
begrenzt dynamisch konfigurieren [Wien96]. Zulieferer und Kunden erhalten hier die Rolle von Wertschöpfungspartnern, die bereits in die Produkt- und Prozessentwicklung eingebunden sind. Dass sich nun auch die klassische Produktionsplanung und -steuerung (PPS) hin zu dezentralen Lösungen verändern muss, liegt auf der Hand und erfährt Unterstützung durch die Internettechnologie, deren Konstruktionsprinzip die Dezentralität von Rechenleistung, Datentransport und Datenspeicherung ist. Als Vision wird unter dem Begriff „Internet der Dinge“ die Möglichkeit untersucht, dass alle Gegenstände der realen Welt ein Teil des Internets sind. Dies wird realisiert, indem sie über ein Stück digitaler Logik in Form von Kleinstcomputern und RFID-Tags (sogen. Funketiketten) mit der digitalen Welt permanent in Verbindung stehen und sich mittels Agententechnologie ihren Weg suchen [Bul07]. Wesentliche Merkmale wandelbarer Produktionsnetze sind bewusst vorgehaltene Redundanzen, so dass mehrere Partner in einem derartigen Netz dieselbe
62
Leistung erbringen können. Um kapazitive Engpässe zu beseitigen oder kapitalintensive Investitionen nicht zu verdoppeln, ist eine Ressourcenteilung zwischen bestimmten Netzwerkpartnern möglich. Weiterhin ist eine Aufteilung der Funktionen charakteristisch. Sie kann in einer Konzentration einzelner Partner auf Kernkompetenzen oder in einer Funktionsbündelung bestehen, beispielsweise im Beschaffungswesen. Schließlich ist eine Mehrfachbindung in verschiedenen Netzen möglich [Win01]. Produktionsnetze bilden sich aus unterschiedlichen Gründen und lassen sich nach Pfohl in vier Typen gliedern, Bild 3.16 nach {Pfo04]. Das strategische Netzwerk wird durch ein im Fokus des Netzes stehendes Unternehmen geführt, das meistens ein Endprodukthersteller oder Handelsunternehmen mit enger Kundennähe ist. Vorreiter dieser Netze sind die Automobilunternehmen, die ihre Lieferanten vertraglich eng binden. Partnerschaft im eigentlichen Sinne findet nicht statt,
3.6 Vernetzung und Kooperation
dazu sind die einseitigen Vorteile und die Abhängigkeiten zu groß. Das regionale Netzwerk bündelt spezialisierte kleine und mittlere Firmen, die ihre Beziehungen fallweise aktivieren, durchaus aber auch in Konkurrenz zueinander agieren. Durch die Beziehungen zu örtlichen Institutionen entstehen Wettbewerbsvorteile gegenüber entfernten Wettbewerbern, der lokale Verbund tritt nach außen wie ein großes Unternehmen auf. In einem operativen Netzwerk greifen die Partner mit Hilfe eines unternehmensübergreifenden Informationssystems auf Leistungen der übrigen Partner zu, wobei Fertigungs- und Logistikkapazitäten im Vordergrund stehen. Häufig sind mehrere Partner in der Lage, die gleichen Prozesse auszuführen, ohne dass sie Konkurrenten sind; das Produktspektrum ist dabei unterschiedlich. Virtuelle Unternehmen arbeiten schließlich auf der Basis eines gemeinsamen Geschäftsverständnisses kurzfristig und projektähnlich zusammen, um eine Geschäftsgelegenheit gemeinsam zu nutzen. Sie bleiben unabhängig, treten aber dem Kunden gegenüber als Einheit auf.
Distributor Logistik-Dienstleister
Produkte mit kurzen Lebenszyklen wie Modeware und Spielzeug, aber auch Software und Elektronikprodukte gelten als Anwendungsbeispiel. Für eine Fabrik bedeutet die Einbindung in Produktionsnetze einen weiteren wichtigen Gestaltungseinfluss, kann sich doch dadurch ein noch stärkerer Wandlungsbedarf ergeben als durch eine Produktoder Prozessveränderung. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Sicht der Kooperation. Netzwerke sind ja keine formalen, mit standardisierten Prozessen und Regularien geführte Organisationen, sondern vergleichsweise lose gekoppelte Kommunikationsstrukturen. Die Sozialwissenschaft betrachtet Netzwerke als eigenständige Sozialstrukturen angesiedelt zwischen Unternehmen und Markt, die es aufgrund ihrer Flexibilität und Offenheit den beteiligten Akteuren ermöglichen, sich ein Bild von ihrer eigenen Operationsweise zu machen, und danach Erwartungen und Absichten aufeinander abstimmen können. Unsicherheiten, Risiken und Informationsdefizite sind damit besser beherrschbar als in formalen Organisationen.
Designer
3
Produzent
fokales Unternehmen (Produzent) Broker
Logistik-Dienstleister Zulieferer
Lieferant, Logistik-Dienstleister
Marketer, Distributor
Zulieferer
a) Strategisches Netzwerk
b) Virtuelle Unternehmung Zulieferer LogistikDienstleister
Distributor
Produzent 1
Produzent 2 evtl. koordinierendes Unternehmen
d) Regionales Netzwerk
c) Operatives Netzwerk
Bild 3.16: Netzwerktypen (nach Pfohl) © Institut für Fabrikanlagen und Logistik
© IFA D5087SW_Wd_B
D5087SW Wd B
63
3 Produktionsanforderungen
Die Ausprägung solcher Netzwerke wird durch den Grad der Autonomiepreisgabe bestimmt. In der Industrie sind unter diesem Aspekt typische Stufen der partnerschaftlichen Kooperation zu finden, Bild 3.17, [Win01}, S. 1.
3
Ausgehend vom klassischen Zulieferer als Verkäufer von Fertig- und Halbfertigprodukten sind als Folge der Produktmodularisierung Systemlieferanten mit enger Vertragsbindung entstanden. Mit zunehmender Auslagerung und Dezentralisierung erfolgte eine Unterscheidung in Stamm- und Ausweichlieferanten. Ein grundlegend neuer Schritt ist die gemeinsame Planung und Nutzung von Ressourcen in einem Netz gleichberechtigter Partner. Mit wachsender Transparenz und intensiverer Zusammenarbeit verschwimmen die Unternehmensverbünde. Für die Mitwirkenden in solchen Netzwerken entstehen aufgrund der unterschiedlichen Organisationskulturen und etablierten Vorgehensweisen bisweilen überraschende Situationen. Sie stellen eine neue Art der Herausforderung für die Unternehmen dar, die aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Formalisierung- und Vertragsregelung nur durch den schrittweisen Aufbau einer Vertrauensbeziehung zu bewältigen ist. Vertrauen bindet, ohne im formellen Sinne zu verpflichten. Es entwickelt
sich durch Investitionen in Zeit und Personal sowie durch persönliche Kontakte. Stabile dauerhafte Kooperationsbeziehungen sind einerseits das wichtigste Fundament, andererseits muss der vertraute, langjährige Partner aber nicht in jedem Fall die innovativste und produktivste Lösung in einem auf projektförmige, kurzfristige Zusammenarbeit angelegten Produktionsnetz bringen. Es gilt also, die Spannung zwischen dem Wunsch nach verlässlichen Beziehungen und innovativen Lösungen durch neue Partner, die auch neue Risiken mit sich bringen, auszubalancieren. Generell kann man davon ausgehen, dass in den hier zur Debatte stehenden Produktionsnetzwerken als Koordinationsmittel die Gegenseitigkeit der Interessen gilt und als Koordinationsform der diskursive Aushandlungsprozess steht, die auf wechselseitigen Interessen beruhen, die Konfliktregulierung durch die Einflussstärke in einem Aushandlungsprozess geschieht und sich die Steuerung und Kontrolle des Netzes am Ergebnis orientiert, das nach vereinbarten Spielregeln geteilt wird. Für die organisatorische Gestaltung der Fabrik sind die hier nur knapp skizzierten Aspekte von großer Bedeutung für die Ausprägung der Beschaffung sowie der Kapazitätsdimensionierung, -planung und -steuerung.
Virtuelle Partner Netzwerkpartner Stamm- und Ausweichlieferanten Systemlieferanten Klassische Zulieferer
Outsourcing/ Dezentralisierung
Modularisierung
Bild 3.17: Stufen der partnerschaftlichen Kooperation (Windt) © IFA G3676ASW_Wd_B
64
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
G3676ASW Wd B
Ressourcenteilung
verschwimmende Unternehmensgrenzen
3.7 Demographische Entwicklung
50
[Mio Personen]
45,5
Altersgruppe 20 bis unter 60 Jahre
46,3 44,1
38,0
Basisdaten 2006 Bevölkerungsstand 35 [Mio] 30
2000: 2050:
35,4
Altersgruppe (Jahre) < 20 20-60 >60 [%]
82,3 75,1
21,1 55,3 16,1 47,2
25
23,6 36,7
27,9
27,7
27,5
24,2
Altersgruppe 60 Jahre und älter
21,3
20
3
39,4
40
19,4
0 2000
2010
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
2020
2030
2040
2050
14.783 B
Bild 3.18: Altersentwicklung in Deutschland (Statistisches Bundesamt) © IFA 14.783_B
3.7 Demographische Entwicklung Ein für die Produktionsgestaltung wichtiger Faktor ist die Altersentwicklung der deutschen Bevölkerung. Sie wird regelmäßig vom Statistischen Bundesamt vorausberechnet. Die Zahlen aus dem Jahre 2006 für die nächsten 4 Dekaden zeigt Bild 3.18. Sie sagen zum einen den stetigen Rückgang der Bevölkerungszahl, vor allem aber eine deutliche Veränderung der Altersstruktur voraus. Die für die Produktion zur Verfügung stehende Altersgruppe von 20 bis unter 60 Jahre wird sich demnach von dem Spitzenwert 46,3 Mio. auf 35,4 Mio. Menschen verringern. Das hat auch langfristig einen Anstieg des mittleren Alters der Beschäftigten zur Folge. So stellt beispielsweise die Volkswagen AG fest, dass die Mitarbeiter, die im Jahre 1998 den Golf IV bauten, ein mittleres Lebensalter von 38,9 Jahren hatten, das 10
Jahre später auf 42,2 Jahre angestiegen war und ohne Gegenmaßnahmen im Jahre 2018 sogar 47,1 Jahre betragen würde. Eine wichtige Untersuchung stellt auch der „Zukunftsreport demographischer Wandel“ dar, in dem insbesondere die Konsequenzen für die Innovationsfähigkeit beleuchtet werden. [Pac00]. Da viele Unternehmen aufgrund dieser Altersentwicklung einen Produktivitätsverlust ihrer Mitarbeiter befürchten, sind sie gefordert, Strategien für eine alternde Belegschaft zu entwickeln, welche die Entwicklung der körperlichen Leistungsfähigkeit und Kompetenz berücksichtigen. Hierzu sind drei Modelle bekannt [Ger07]. Das Defizitmodell geht von einem unvermeidlichen körperlichen und geistigen Verfall aus und reagiert mit Frühverrentung und Schonarbeitsplätzen. Das seit Anfang der 1990er Jahre entwickelte Kompetenzmodell erkennt zwar den Abbau der körperlichen Leistungsfähigkeit an,
65
3 Produktionsanforderungen
Ergonomische Optimierung Gesundheitsförderung
3
Prospektive Produktionsplanung
Kompetenzentwicklung
• Erhalt der körperlichen Leistungsfähigkeit • Erhalt und Entwicklung von Kompetenz
Alternsgerechter Personaleinsatz Bild 3.19: Ziele und Maßnahmen einer alternsgerechten Gestaltung von Arbeit
Laufbahngestaltung
© IFA 14.932SW_B
betont aber die reichhaltige Erfahrung und die Fähigkeit zur Problemlösung. Das Differenzmodell trennt das kalendarische vom biologischen Alter und sieht 14.932SW B © Institut für Fabrikanlagen und Logistik das biologische Alter als Ergebnis der individuellen Begabung, Bildung, gesundheitlichen Konstitution und vor allem der Erwerbsbiographie. Als Ergebnis der differenzierten Betrachtung empfiehlt eine Arbeitsgruppe die in Bild 3.19 aufgeführten Maßnahmen einer alternsgerechten Arbeitsgestaltung, die zum Erhalt von Leistungsfähigkeit und
Kompetenz aber nicht erst mit 50 Jahren einsetzen dürfen, sondern viel früher [Ger07]. Die ergonomische Optimierung konzentriert sich auf die Vermeidung körperlicher Fehlhaltungen. Mit der Kompetenzentwicklung wird eine kontinuierliche Weiterqualifizierung und eine lernförderliche Umgebung angestrebt, wie sie mit der Gruppenarbeit verwirklicht wird. Der alternsgerechte Personaleinsatz wird durch Jobrotation und Schonarbeitsplätze
Artefakte • Technologie • Kunst • Verhalten
bewusst und sichtbar, aber zu deuten
Werte und Normen Präferenzen für • Ziele und Zustände • Handlungsmaximen • Verhaltensvorschriften
höhere Stufe des Unbewussten
Grundlegende Annahmen über • Umwelt • Realität, Zeit und Raum • menschliche Wesen • menschliche Handlungen • menschliche Beziehungen
als selbstverständlich vorausgesetzt, unsichtbar, unterbewusst Bild 3.20: Ebenen der Kulturbetrachtung © IFA G8905SW_
itut für Fabrikanlagen und Logistik
66
G8905SW B
3.8 Unternehmenskultur
Aspekt
Ausprägung
Kommunikation
formell
informell
Kritikumgang
Schuldsuche
Fehler als Chance
Zusammenarbeit
Einzelkämpfer
Team
Persönlicher Umgang
hierarchie- u. titelbetont unklar
unkompliziert sachbezogen transparente Verfahren
Informationspolitik
achtungs-/ respektorientiert Gerüchteküche
Identifikation
stolz auf die Firma
herablassend / abfällig schnelle, sachliche Information hämische Witze, Distanzierung
Beförderungsverfahren Kundenwertung
Bild 3.21: Ausdrucksformen einer Unternehmenskultur
3
© IFA G8907SW_B
unterstützt. Ein ganzheitlicher Ansatz wird mit der © Institut für Fabrikanlagen und Logistik G8907SW Laufbahngestaltung angestrebt, die über das gesamte Erwerbsleben einen weit reichenden Wechsel an Belastungen und Beanspruchungen ermöglicht. Für den Fabrikplaner besonders relevant ist der Ansatz der alternsgerechten Produktionsplanung, der voraussehbaren Veränderungen der Altersstruktur durch wandlungsfähige Arbeitsplätze und Arbeitsinhalte begegnet. Und schließlich ist die präventive Gesundheitsförderung zu beachten, mit der Anreize in Form von Sportprogrammen, Rückenschulungen, Ernährungsseminaren usw. geschaffen werden, sich dem Thema Gesundheit und Altern aktiv zu stellen.
3.8 Unternehmenskultur
3.8.1 Organisatorische Sicht In den vorhergehenden Abschnitten wurde deutlich, dass die nach innen gerichtete Selbstorganisation und Partizipation sowie die nach außen gerichtete Vernetzung und Kooperation zwingende Voraussetzungen für die Bewältigung eines komplexen und dynamischen Umfeldes darstellen. Ob die Veränderung eines Unternehmens von einer eher hierarchischbürokratischen Ordnung hin zur offenen, spontanen und risikofreudigeren Verhaltensweise gelingt,
B
hängt weniger von Organisationsstrukturen und Managementsystemen, als vielmehr von der Unternehmenskultur ab. Stark vereinfacht versteht man unter der Unternehmenskultur die Gesamtheit von Werten, Zielen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Symbolen, Visionen, Leitbildern, Mythen, Denkweisen und Verhaltensweisen, die von Menschen in einem Unternehmen als gemeinsame Grundlage ihres Handelns akzeptiert werden [Blei96]. Danach bildet sich die Unternehmenskultur evolutorisch und prägt die Einstellung der Mitarbeiter zur Aufgabe, zum Produkt, zu den Kollegen, zur Führung und zum Unternehmen. Sie realisiert sich nach Schein in drei Ebenen, Bild 3.20 [Schei84] Auf der sichtbaren Ebene werden Verhaltensweisen, Darstellungsformen z.B. der Bekleidung, der Architektur, der Büros usw., Rituale und Symbole kommuniziert, die manchmal nur vor dem Hintergrund der darunterliegenden Ebenen zu deuten sind. Diese umfassen als Nächstes die zugrunde liegenden Werte und Normen, die meist unbewusst das Verhalten und die Handlungen der Menschen in der Organisation steuern. Noch tiefer liegen auf der untersten Ebene nicht hinterfragte grundlegende Annahmen über die Unternehmensumwelt und die Handlungen und Beziehungen der mit dem Unternehmen verbundenen Menschen. Wie sich die Unternehmenskultur in den Ausdrucksformen spiegelt, verdeutlicht Bild 3.21 an einigen Beispielen [Blei96].
67
3 Produktionsanforderungen
3
68
Die Kultur wird meist durch überzeugende Gründerpersönlichkeiten geprägt und wirkt nach innen und außen identitätsstiftend. Ihre weitere Entwicklung hängt von dem Vorbild und Vorleben der jeweiligen Führung ab. Die Unternehmenskultur steht aber nicht für sich, sondern ist Teil einer nationalen und branchenspezifischen Kultur, so dass sie durchaus mehrere Subkulturen enthält. Wesentlich erscheint die Übereinstimmung der Unternehmenspolitik und -strategie mit den Werten und Normen der Unternehmenskultur [Blei96]. Die Unternehmenskultur stellt also eine Art Filter für die Wahrnehmung der internen und externen Anforderungen dar und ist insofern einschränkend, weil vielleicht Umbrüche gar nicht oder zu spät erkannt werden bzw. falsch darauf reagiert wird. „Wir waren hundert Jahre erfolgreich, warum müssen wir jetzt alles grundlegend infrage stellen?“, ist die typische Aussage einer traditionalistischen Unternehmenskultur. Die Ausprägung der Unternehmenskultur ist außerordentlich vielgestaltig und hängt sehr stark von der Dauer des Zusammenseins und der Homogenität der Ausgangsbasis ab. Sie ist damit immer einzigartig. Dennoch sind in der umfangreichen Literatur zu diesem Thema mehrere Versuche einer ordnenden Typologie zu finden, die Bleicher in mehrere Dimensionen fasst [Blei96]. Diese betreffen die Offenheit (außen/innen, änderungsfeindlich/ änderungsfreundlich), die Differenziertheit (Spitze/ Basis, Einheit/Vielfalt), die Kulturprägung durch Führung (instrumentell/entwicklungsorientiert, kosten-/nutzenorientiert) und die Kulturprägung durch Mitarbeiter (Mitglieder/Akteure, kollektiv/ individuell). Daraus leitet Bleicher die beiden Muster einer opportunistischen und einer verpflichtenden Unternehmenskultur ab. Erstere ist gekennzeichnet durch eine wenig differenzierte, traditionsbestimmte, insulare Haltung der Spitze, die durch Quantifizierung aller Vorgänge und eine verengte technokratische, kostenorientierte Haltung die Mitarbeiter in eine reglementierte Aufgabenerfüllung drängt. Es entsteht eine opportunistische Werteverfolgung durch Kollektive; sachlich und sozial Notwendiges tritt hinter
Dringliches zurück. Demgegenüber erweist sich die dem Sachlichen und Sozialen verpflichtete Unternehmenskultur als offen und veränderungsbereit, die sensibel auf den Wandel der Umwelt reagiert, vielfältige Subsysteme mit Basisorientierung zulässt und die Nutzenorientierung vor die Kostenorientierung stellt. Vor dem Hintergrund der Wandlungsfähigkeit gewinnt die Unternehmenskultur eine enorme Bedeutung. Sie ist einerseits langlebig, unterliegt aber andererseits auch einem Wandel, vor allem in krisenhaften Situationen. Den notwendigen Wandel der Unternehmenskultur bewusst anzustoßen, ihn aber nicht in allen Schritten für planbar zu halten, scheint ein pragmatischer Weg für ein kulturbewusstes Management zu sein [Blei96]. Hilfreich zur Versachlichung dieses stark emotionalen Themas ist eine Gegenüberstellung der Soll- und Ist-Unternehmenskultur, wobei die Orientierung bezüglich Kunde/Markt, Strategie und Zukunft, Produkt, Innovation, Technologie, Unternehmen, Mitarbeiter, Resultate/Leistung und Kosten abgefragt wird. Daraus leitet Gausemeier ein Portfolio ab, das stabile, alte und neue Kulturkomponenten bezüglich ihrer zukünftigen Bedeutung und gegenwärtigen Ausprägung gegenüberstellt, Bild 3.22 [Gau99]. Während die stabilen Komponenten für die Zukunft wichtig und bereits ausgeprägt sind, müssen neue Komponenten noch entwickelt werden. Alte Komponenten sind noch stark ausgeprägt, verlieren aber in Zukunft an Bedeutung. Sowohl die Entwicklung der neuen als auch der Rückbau der alten Komponenten ist ein primär durch die Führung zu leistender Prozess, häufig mit externer Moderatorenhilfe. Die Steigerung der Wandlungsfähigkeit wird umso eher gelingen, je besser die Strategie zu ihrer Formulierung, die Organisation zu ihrer Durchsetzung und die Unternehmenskultur zur inneren Zustimmung der Beteiligten aufeinander abgestimmt sind. Erst die Reflexion darüber, ob eine Organisation von ihrer inneren Befindlichkeit her in der Lage ist, Veränderungen zu wollen, zu können und durchzuhalten, schafft die Voraussetzungen, gewünschte Werthaltungen
3.8 Unternehmenskultur
7
Kunden- und Marktorientierung
Strategische Orientierung Zukunftsorientierung
Bedeutung der Ausprägung für die zukünftige Strategie
Innovationsorientierung
Mitarbeiterorientierung
6
Technologieorientierung
5
3
Stabile Kulturkomponenten
Neue Kulturkomponenten
Produktorientierung Resultats- und Leistungsorientierung
4
Unternehmensorientierung Kostenorientierung
3
2 Alte Kulturkomponenten 1 Bild 3.22: UnternehmenskulturPortfolio
1
2
3
4
5
6
7
Gegenwärtige Ausprägung
© IFA G8916SW_B
und Einstellungen auch wirklich erreichen.G8916SW Hier © Institut für Fabrikanlagen und zu Logistik ist eine lernende Auseinandersetzung mit kulturellen Fragen erforderlich, die zu einem gemeinsam akzeptierten Verständnis bestimmter Werthaltungen führt. Diese müssen gelebt werden, gestützt durch Anreiz- und Sanktionssysteme.
3.8.2 Architektonische Sicht Eine wichtige Möglichkeit, die Unternehmenskultur zum Ausdruck zu bringen, besteht in einem dieser Kultur angemessenen Auftritt einer Fabrik durch ihr architektonisches Gesamtkonzept. Schon der erste Eindruck eines Besuchers prägt unbewusst seine Einstellung und vertieft sich, wenn er in die Gebäude, die Fabrikhallen und Büros eintritt. Für den Fabrikplaner ist diese „weiche“ Seite der Planung im Sinne einer Differenzierung vom Wettbewerb zu beachten. Die folgenden Ausführungen leiten in die Themenstellung ein. Sie werden in Abschnitt 11.6 unter den Begriffen Anmutung und Ästhetik vertieft.
B
Die Gestalt eines Fabrikgebäudes kann nicht allein aus den Anforderungen der Produktion hergeleitet werden, sondern erwächst aus einem kreativen Findungsprozess im Kontext von Standort, Klima, Gesellschaft und Mensch. Über die rein funktionelle Zweckmäßigkeit hinaus setzt eine sinnvolle Gebäudestruktur positive Impulse für Motivation und Kommunikation [Rei05]. Leider prägt jedoch die Unwirtlichkeit der Industrie- und Gewerbegebiete immer mehr das Erscheinungsbild unserer Städte und Landschaften. Die Verwechslung der ökonomischen Ziele „billig“ und „wirtschaftlich“ rechtfertigt Anonymität, Banalität und Hässlichkeit. Die landauf, landab aus den Angeboten der Baumärkte schnell zusammengeschusterten ‚Auftritte‘ vieler Unternehmen verwechseln einfach mit einfältig. Der Architekturkritiker C. Hackelsberger bezeichnete diese Gebiete zutreffend als „Gewerbesteppen“. Niemand würde sich freiwillig länger als die bezahlte Arbeitszeit hier aufhalten. Die Gebäude und die dazwischen liegenden Resträume
69
3 Produktionsanforderungen
3
70
werden klaglos als gesellschaftliches Niemandsland akzeptiert. Die Gewerbetreibenden selber „verbauen“ sich ihre Zukunft durch kurzsichtige, strategisch unkluge Bauentscheidungen, denn oft bedingt bereits die nächste Produktionsumstellung die notwendige Verlagerung des Unternehmens. Zurück bleiben ökologisch abgestrafte Brachflächen, die der Stadt und Landschaft auf Dauer entzogen sind. Minimales Budget, knappe Bautermine und sequenzielle statt kooperative Fachplanungen verhindern die selbstverständlichste Art zu bauen – nämlich eine Bauaufgabe als Aufgabe gut zu lösen. Dabei ist gerade der Industriebau eine besondere Domäne der Architektur, die sich fernab von Stilmoden der klassischen Bauaufgaben eine innere Freiheit bewahrt hat. Er ist offen für neue Technologien, Konstruktionen, Materialien und stellt eine äußert spannende Aufgabe auf der Suche nach neuen Konzeptionen dar. Eine aus architektonischer Sicht wie auch der Einschätzung der Wandlungsfähigkeit zentrale Frage besteht darin, in welchem Verhältnis Form und Funktion eines Gebäudes zueinander stehen. In Anlehnung an [Ben78] entwickelte die Architekturtheorie zwei scheinbar diametrale Positionen der Formfindung. „Form follows function“ markierte, ausgehend von dem amerikanischen Architekten und Theoretiker Louis Sullivan, zum Ende des 19. Jahrhunderts die funktionale Notwendigkeit als Anlass und Ausdruck formaler Gebäudegestaltung. Die Architekten des neuen Bauens versuchten in der Blütezeit des Bauhauses mit diesem Slogan die Fesseln der eklektizistischen Stile zu überwinden. In Reaktion auf die resultierende ästhetische Banalität späterer Kistenbauten versprachen sich viele Architekten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Ausweitung der gestalterischen Vielfalt und eine formale Dominanz ihrer Entwürfe durch das Motto „function follows form“. Damit erfolgte ein „Hineinentwerfen“ von Programmen und Prozessen in vorbestimmte Baugeometrien. Beide Strategien sind zumindest für die hier verfolgte Fragestellung wandlungsfähiger Fabrikbauten wenig zielführend. Sie betrachten jeweils nur eindimensi-
onal ein Kriterium des komplexen Zusammenhangs von Umwelt, Mensch, Funktion und Form. Es stellt sich in einem Projekt oft die Frage, welche der gegenwärtigen Funktionen und Formen auf lange Sicht Bestand haben. Die Momentaufnahme eines temporären Produktionsprogramms oder die Modewelt eines kurzlebigen ästhetischen Zeitgeistes eignen sich wenig zur robusten Gestaltbestimmung. Gefragt sind daher gleichermaßen aus Prozess-Sicht (Funktion) wie aus Raum-Sicht (Form) entwickelte ganzheitliche Lösungsansätze. Es kommt darauf an, eine bewusste positive Bündelung von Wesensmerkmalen mit vielen, möglichst sich ergänzenden Teilantworten auf komplexe Fragestellungen zu finden. Das Ergebnis einer solchen Lösungsfindung soll in Anlehnung an die ganzheitliche Denkweise des amerikanischen Ingenieurs Buckminster Fuller [Kra99] mit dem Begriff „performance“ charakterisiert werden. Die hieraus abgeleitete Strategie „form follows performance“ [Rei05] strebt nach einer umfassenden Antwort der Formfindung auf eine ganzheitlich erfasste Fragestellung. Die spezifische formale Ausprägung des Gebäudes ist dabei nicht im Voraus „gesetzt“, sondern ergibt sich aus der räumlichen Lösung geforderter Leistungsmerkmale. Ausgehend von den jeweils zu Grunde liegenden Visionen sind also z.B. auch die neuen Bautechnologien zu nutzen, der Energieverbrauch zu optimieren und ökologische Belange zu beachten. Darüber hinaus ist die als notwendig erkannte Flexibilität in Form einer auf allen Gestaltungsebenen definierten Wandlungsfähigkeit zu sichern. Dabei ist die personale Kommunikation durch eine entsprechende Raumgestaltung und Ausstattung zu fördern. Insgesamt gilt es, durch den Industriebau einen erkennbaren Beitrag zur Unternehmenskultur und Identitätsstiftung zu leisten. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Bemühung können sehr wirtschaftliche Produktionsstätten, wohlproportionierte Räume, faszinierende Konstruktionen und angenehme Arbeitsplätze sein. Ein Fallbeispiel für die synergetische Planung eines Montagewerks für Automotive-Komponenten ist in [Rei03] aufgeführt.
3.9 Nachhaltigkeit
3.9 Nachhaltigkeit Infolge der mit ihrem Betrieb verbundenen großen Material- und Energieströme hat die Fabrik starke Auswirkungen auf ihr näheres und weiteres Umfeld, die nicht mehr vernachlässigt werden können. Bis in die 1970er Jahre folgten die Erzeugung und der Verbrauch der industriellen Güter noch weitgehend dem Quelle-SenkePrinzip. Rohstoffe aus der Natur werden zu Werkstoffen, aus denen Teile entstehen, die sich zu Produkten vereinigen. Die in den Verkehr gebrachten Produkte belasten die Umwelt zum einen durch ihre Nutzung, danach durch ihre Entsorgung. Eine Rückführung fand bis auf die Metallschrottverwertung kaum statt. Erst die vom Club of Rome veranlassten Studien zeigten, dass viele natürliche Rohstoffquellen bereits in absehbarer Zeit erschöpft, die Grenzen des Wachstums also erreicht sind [Mead90]. Daraufhin setzte bei weiter steigender Güterproduktion und immer knapperen Deponieflächen in den Industrienationen allmählich ein Umdenken ein. Im Abfallgesetz von 1986 wurde die Prioritätenfolge „Vermeidung vor Verwertung vor Beseitigung“ festgeschrieben. Weiterhin wurden als Abfall Stoffe definiert, die nicht oder nicht mehr Produkt sind und die anfallen, ohne dass der Zweck der Handlung darauf gerichtet ist.
Die mit der Weltbevölkerung und den technischen Möglichkeiten rasant steigende Produktion, Nutzung und Entsorgung von Gütern hat sowohl zu lokalen wie globalen Umweltschäden geführt, die nicht mehr ignoriert werden können. Auf der internationalen Umweltkonferenz 1972 in Stockholm wurden erste Anstrengungen unternommen, durch die Festlegung gemeinsamer Entwicklungsziele der Bedrohung entgegenzutreten. Erst 1992 konnte auf der Konferenz der Vereinigten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro in der Agenda 21 das Leitbild der nachhaltigen, umweltgerechten Entwicklung (sustainable development) konkretisiert werden, das die gleichrangige Behandlung ökologischer, ökonomischer und sozialer Belange fordert [Umw97]. Eine wichtige Rolle spielt hierbei der Ressourcenschutz, für den folgende Managementregeln gelten:
3
• Die Nutzung erneuerbarer Naturgüter darf auf Dauer nicht größer sein als ihre Regenerationsrate. • Die Nutzung nicht erneuerbarer Naturgüter darf auf Dauer nicht größer sein als die Substitution ihrer Funktionen. • Die Freisetzung von Stoffen und Energie darf auf Dauer nicht größer sein als die Anpassungsfähigkeit der natürlichen Umwelt.
sortenreine Werkstoffe
funktionsfähige Produkte
Produktentwicklung
Produktion
Distribution
Nutzung
verbrauchte Produkte
Rückführung
Aufbereitung
verwertbare Produkte
funktionsfähige Produkte und Komponenten
funktionsfähige Komponenten
Abfall
Remontage
Reinigen Prüfen Bearbeiten
Beseitigung
verbrauchte Komponenten
Demontage
Bild 3.23: Stationen der Kreislaufwirtschaft © IFA G8892SW_B © Institut für Fabrikanlagen und Logistik
G8892SW B
71
3 Produktionsanforderungen
3
Für die Fabrik haben diese Leitlinien unmittelbare Konsequenzen für die Gestaltung der Produktionsprozesse. Es gilt durch eine anlageninterne Kreislaufführung, Ressourcen wie Rohstoffe, Energie und die natürliche Umwelt im Sinne der Leitlinien zu schonen. Anderseits sind die Produkte so zu gestalten, dass auch sie während ihrer Nutzung möglichst wenige Ressourcen verbrauchen, die Umwelt nicht belasten und dass die in ihnen enthaltenen Komponenten und Werkstoffe möglichst weitgehend wieder verwendet bzw. wiederverwertet werden können. Für diesen Ansatz hat sich auch der Begriff der Kreislaufwirtschaft eingebürgert, deren wesentliche Stationen Bild 3.23 zeigt [Sel97]. Gegenwärtig werden umfassende Zertifizierungssysteme im Sinne eines Green Buil- ding Standards für Gebäude und Anlagen ent wickelt. Die nach Entwicklung, Produktion und Distribution an den Endkunden genutzten Güter sollen in einem ersten Kreislauf möglichst direkt von einem weiteren Verwender bis zum Ende ihrer Nutzungsdauer verbraucht werden. Auch wenn das Produkt als Ganzes nicht mehr funktioniert, haben aber meist nicht alle seine Komponenten das Ende ihrer Nutzungsdauer erreicht, so dass eine Demontage, Aufarbeitung und Remontage wieder funktionsfähige Produkte oder Komponenten hervorbringt, die erneut in den Verkehr gelangen. Ist eine Wiederverwendung nicht möglich, erfolgt eine Zerlegung mit dem Ziel der Gewinnung sortenreiner Wertstoffe und ihrer Rückführung bzw. der gefahrlosen Abfallbeseitigung. Es ist nicht zu übersehen, dass mit diesem Ansatz auch neue Güterströme entstehen, die ihrerseits neue Belastungen der Umwelt bedeuten. Eine wichtige Forderung besteht daher darin, ein sogen. Stoffstrommanagement zu etablieren, dem eine ökologisch und ökonomisch ausgewogene und optimierte Logistik zugrunde liegt. Das 1994 verabschiedete und 1996 in Kraft getretene Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz greift diesen Ansatz umfassend auf [KrW96]. Es schreibt in seinen wesentlichen Punkten fest:
72
• Abfallvermeidung vor Verwertung vor Beseitigung • Anlageninterne Kreislaufführung • Erweiterte Produktverantwortung von Herstellern •
und Vertreibern über den ganzen Lebenszyklus Produktgestaltung so, dass die Rückgewinnung von Komponenten zur Wiederverwendung, sortenreinen Werkstoffen und Separierung von Schadstoffen zur gefahrlosen Beseitigung möglich ist.
Weiterhin werden Strategien zur Langlebigkeit, Nutzungsdauerverlängerung und Nutzungsintensivierung gefordert. Mittlerweile versucht der Gesetzgeber, alle Rechtsvorschriften, die – entweder als Hauptzweck oder als Nebenwirkung – sich mit Schutz und Pflege der Umwelt und den natürlichen Lebensgrundlagen befassen, unter dem Begriff Umweltrecht zu bündeln. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgelegt, dass der Gesundheits- und Umweltschutz als wichtiges Gemeinschaftsgut sogar Eingriffe in Grundrechte rechtfertigt, wie z.B. das Eigentum oder die Berufsfreiheit. Dennoch kann der Begriff „Umweltrecht“ auch heute noch nicht als ein klar abgrenzbares Rechtsgebiet betrachtet werden. Eine übersichtliche Zusammenfassung der Gesetzestexte haben Kröger und Klauß veröffentlicht [Krö01]. Für die Fabrikgestaltung ergeben sich aus diesem und weiteren Gesetzen, welche die Rücknahmeverpflichtung verbrauchter Produkte sowie den Arbeitsund Umweltschutz betreffen, wichtige Randbedingungen und Schlussfolgerungen. Einerseits sind alle fabrikinternen Prozesse im Hinblick auf die interne Kreislaufführung zu überdenken. Besondere Aufmerksamkeit verdienen hier die Fertigungsabfälle wie z.B. Metallspäne und die mit ihnen verknüpften Hilfs- und Betriebsstoffe wie Emulsionen, Schmieröl, Fette, Säuren, Laugen usw. Andererseits sind Überlegungen über den Lebenszyklus der in der Fabrik eingesetzten Betriebsmittel erforderlich. Auch sie unterliegen dem Kreislaufwirtschaftsgesetz. Ihre Wartung, Instandhaltung und Nutzungsverlängerung durch Komponententausch ist durch entsprechende Aufstellung, Medienanschlüsse sowie Demontage- und Umbaumöglichkeit zu gewährleisten. Schließlich ist auch das Fabrikgebäude mit
3.10 Leitsätze Produktion
seinem Tragwerk, der Hülle, der Medienversorgung, der Belüftung oder Klimatisierung und der Beleuchtung unter dem Lebenszyklusgedanken zu gestalten. Angesichts des steigenden Aufkommens an zurückfließenden Gütern wird sich darüber hinaus die Frage zukünftiger Demontagefabriken stellen, die eine Dienstleistungsproduktion erbringen. Baumgarten hat für Elektrogeräte Beispielrechnungen durchgeführt, mit welchem Anfallpotenzial für die Produkte dieser Branche zu rechnen ist. Bild 3.24 verdeutlicht die Dimension der Massenströme allein für diese wenigen Produkte [Baum00]. Bei rund 1 Mio. to Altgeräten pro Jahr haben Haushaltsgroßgeräte (Waschmaschinen, Spülmaschinen und Kühlschränke) mit rund 600.000 to den größten Gewichtsanteil, während bei den Stückzahlen die Kleingeräte mit rund 34 Mio. Stück dominieren. Unter Berücksichtigung der Sammel-, Wiederaufbereitungs- und Rückführkosten bestimmt sich daraus eine optimale Anzahl von 20 Montagefabriken in Deutschland nur für Waschmaschinen. Ob sich in
Zukunft eine eigene Demontage- und Produktverwertungsindustrie entwickeln wird, ist noch nicht absehbar. Erste Erfahrungen deuten darauf hin, dass aus vielen Gründen eine Integration von Neuproduktion und industrieller Aufarbeitung in derselben Fabrik nicht sinnvoll ist. Dennoch wird sich der Bereich Wartung, Instandhaltung und kundenspezifische Aufarbeitung im Sinne einer Serviceleistung weiter entwickeln und muss bei der Neu- und Umplanung von Fabriken Berücksichtigung finden.
3
3.10 Leitsätze Produktion Die Schilderung der insgesamt sieben Anforderungsbündel hat deutlich gemacht, dass diese in einer realen Fabrik nicht alle gleichermaßen erfüllt werden können. Es wird im konkreten Fall darum gehen, zunächst die Gründe zu erkennen, die für einen Wandel sprechen. Solche Gründe sind zum einen marktbezogen und las-
Menge [T to/J]
Menge [Mio Stck/J] Basisdaten 1999 • Anzahl Haushalte • Spezif. Nutzungsdauer • Ausstattungsquote
700 600
35 [Mio Stück/ Jahr]
500
25
400
20
300
15
200
10
100
5
0
ltssha te u a H rä ßge gro
ltss h a te u a H rä nge klei
ngs a l t u nik h r e o U n t elektr
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0
Bild 3.24: Jährliches Anfallpotenzial von Elektrogeräten in Deutschland IFA G8893SW_B ©© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
G8893SW B
73
3 Produktionsanforderungen
Reaktionsschnell:
Marktübliche Lieferzeiten und Liefertreue übertreffen.
Mengen- u. variantenflexibel: Mengenschwankungen und Produktvarianten wirtschaftlich beherrschen.
3
Grenzwertorientiert:
Bekannte Grenzen überwinden und natürliche physikalische und logische Grenzen zum Maßstab machen.
Selbstorganisiert:
Notwendige Struktur- und Ablaufänderungen auf allen Ebenen initiieren und partizipativ durchführen.
Vernetzt:
Kernkompetenzen unternehmensübergreifend dynamisch und temporär vernetzen.
Kulturbewusst:
Gemeinsam akzeptierte Wertvorstellungen und Verhaltensweisen entwickeln und nach außen und innen glaubwürdig vermitteln.
Nachhaltig:
Produkte, Produktionsprozesse und Produktionsmittel im gesamten Lebenszyklus unter dem Kreislaufgedanken energie-, ressourcenund umweltschonend gestalten und betreiben.
Bild 3.25: Leitsätze einer zukünftigen Produktion © IFA 15.052_B
sen sich wesentlich an Indikatoren wie nachlassender Lieferfähigkeit und sinkendem Marktan© Institut für Fabrikanlagen undLiefertreue, Logistik 15.052 B teil und unbefriedigender Eigenkapitalrendite festmachen. Die durch das Unternehmen selbst induzierten Veränderungsimpulse sind demgegenüber hauptsächlich durch Besitz- und Strategiewechsel sowie wesentliche Produkt- und Prozessänderungen bedingt. Als vorläufiges Fazit lassen sich die zukünftigen Produktionsanforderungen durch folgende Eigenschaften und Leitsätze ausdrücken, Bild 3.25. Bevor nun aus diesen Leitsätzen konkrete Gestaltungsfelder entwickelt werden, sollen einige wichtige Fabrikkonzepte vorgestellt werden, die – historisch gewachsen – in unterschiedlicher Weise versuchen, die hier diskutierten Anforderungen zu erfüllen.
3.11 Literatur [Abe06]
74
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3.11 Literatur
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3
75
3 Produktionsanforderungen
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3
76
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Kapitel 4 Bekannte Produktionskonzepte
4
4.1
F. W. Taylor
81
4.8
Das Fraktale Unternehmen
96
4.2
Gruppenarbeit
82
4.9
Agilitätsorientierter Wettbewerb
97
4.3
Fertigungsinseln
84
4.10
Kundenindividuelle Massenproduktion
98
4.4
Flexible Fertigungssysteme
86
4.5
Fertigungssegmente
87
4.6
Die schlanke Produktion und das Toyota Produktionssystem Just in Time
4.7
78
4.11
Das Produktionsstufenkonzept
101
4.12
Forschungsansätze
103
89
4.13
Zwischenfazit
107
93
4.14
Literatur
107
Bild 4.1:
Charakteristische Merkmale einer unbeherrschten Fertigung
82
Bild 4.2:
Formen von Arbeitsstrukturen (Bullinger)
83
Bild 4.3:
Prinzip einer Fertigungsinsel
85
Bild 4.4:
Losweise Fertigung und One-Piece-Flow-Fertigung (nach Suzaki)
86
Bild 4.5:
Definitionsmerkmale von Fertigungssegmenten (Wildemann)
87
Bild 4.6:
Wirkungen der Segmentierung (Wildemann)
88
Bild 4.7:
Merkmale der Automobil-Großserienhersteller 1989 (Womack u. a.)
89
Bild 4.8:
Elemente des Toyota Produktionssystems
90
Bild 4.9:
Kontinuierliche Verbesserung mit dem PDCA-Zyklus
93
Bild 4.10: Beispiel für eine nach dem Pull-Prinzip gesteuerte Produktion
94
Bild 4.11: Merkmale agiler Unternehmen im vierdimensionalen Wettbewerb (nach Goldman u. a.)
98
Bild 4.12: Entwicklungsstufen der Produktion zur Mass Customization (Piller)
99
Bild 4.13: Konzeption der Mass Customization (Piller)
100
Bild 4.14: Verringerung der Komplexität durch späte Variantenbildung
101
Bild 4.15: Struktur und Elemente des Produktionsstufenkonzeptes
102
Bild 4.16: Holonisches System mit kooperierenden autonomen Holons
104
Bild 4.17: Lebenszyklen von Organismen und künstlichen Produkten
105
Bild 4.18: Leitprojekt Europäisches Produktionssystem (Westkämper)
106
4
79
4.1
F. W. Taylor
Als „Vater der wissenschaftlichen Betriebsführung“ hat Frederic Winslow Taylor (1856–1915) in den USA erstmals die rationelle Gestaltung von Fabrikabläufen grundlegend untersucht und in seinem Buch „The Principles of Scientific Management“ zusammenfassend beschrieben [Tay11]. Er stellt als Hauptaufgabe des Managements heraus, den maximalen Wohlstand des Unternehmens verbunden mit dem maximalen Wohlstand der Beschäftigten zu sichern, und betont vier Prinzipien:
• Die • • •
Entwicklung einer echten Management-Wissenschaft, die wissenschaftlich begründete Auswahl des Arbeiters, dessen wissenschaftliche Ausbildung und Entwicklung und die vertrauensvolle und enge Zusammenarbeit zwischen Management und Mitarbeitern.
Taylor gewann aus seinen Erfahrungen in verschiedenen Unternehmen die Überzeugung, dass durch die unüberlegte Anwendung von Faustregeln und die Übernahme herkömmlicher Arbeitsweisen eine enorme Verschwendung verursacht wird. Auf Basis sorgfältiger Zeit- und Bewegungsstudien entwickelte er standardisierte Arbeitsabläufe mit starker Zerlegung in einzelne Arbeitsschritte und einer strikten Trennung der Vorausplanung einerseits und der Arbeitsdurchführung andererseits. Als wesentliche Elemente dieses neuen Ansatzes nennt Taylor:
• • • • • •
• Arbeitsanweisungen für die Arbeiter • Die Definition von Zielen verknüpft mit einem gro• • • •
Die Gedanken Taylors haben bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in der Großserien- und Massenfertigung die Vorstellungen zur Organisation der Produktionsabläufe geprägt. Der sogenannte Taylorismus erfuhr jedoch schon früh Kritik. Seine Grenzen zeigten sich insbesondere mit der zunehmenden Automatisierung, der förmlichen Explosion der Anzahl der Produkte und ihrer Varianten, dem gestiegenen Anspruch an die Qualität der Produkte und Prozesse sowie mit dem gewandelten Verständnis der Rollenverteilung zwischen Management und Arbeitern. Dennoch bleiben wesentliche Aussagen Taylors bis heute beachtenswert, die Gaugler in sechs Punkten (hier verkürzt dargestellt) zusammenfasst [Gaug96, S. 44ff.]:
4
• Voraussetzung einer marktwirtschaftlichen Ord• • •
eitstudien mit entsprechenden Methoden und Z Geräten Funktionsmeister zur Unterweisung der Arbeiter und zur Vorausplanung der Arbeit Standardisierung aller Werkzeuge, Arbeitsabläufe und -bewegungen Einrichtung eines Planungsraums oder einer -abteilung Das Ausnahmeprinzip des Management-Eingriffs A nwendung des Rechenschiebers und anderer zeitsparender Werkzeuge
ßen Bonus bei erfolgreicher Durchführung Differentiallohn K lassifizierungssysteme für Produkte und Betriebseinrichtungen Fertigungssteuerungssysteme Modernes Kostenrechnungswesen
• •
nung mit dem permanenten Zwang zur Stückkostensenkung Ü bereinstimmung der unternehmensrelevanten Interessen von Arbeitgeber und Kapitalgeber einerseits und der Arbeitnehmer andererseits Systematische Entwicklung von Bestverfahren statt Faustregeln Entscheidende Rolle der mittleren und unteren Führungskräfte Intensive Zusammenarbeit zwischen Management und Arbeitskräften Betonung der extrinsischen (von außen geförderten) Motivation, ohne die intrinsische (in der Person begründete) Motivation zu vernachlässigen.
Taylors Methoden können als erstes umfassendes System gelten, die Betriebsorganisation wissenschaftlich zu betreiben. Neben Taylor waren es Frank Bunker Gilbreth und seine Frau Lilian (Bewertungs- und
81
4 Bekannte Produktionskonzepte
Deutscher Ingenieure im Jahre1918 gegründete Ausschuss für wirtschaftliche Fertigung (AWF) und die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Betriebsingenieure (ADB). 1924 entstand schließlich der Reichsausschuss für Arbeitsstudien (REFA), der sich speziell den Zeit- und Bewegungsstudien widmete und eine umfassende Methodenlehre zur Arbeitsgestaltung, Planung und Steuerung von Büro- und Produktionsarbeit veröffentlichte, die regelmäßig aktualisiert wird (http://www.REFA.de).
4.2 Gruppenarbeit Mit der rasanten Entwicklung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg entstand zunächst ein reiner Verkäufermarkt, der vergleichsweise standardisierte Produkte anbot. Sie wurden in großen
Häufigkeit
Arbeit
4
Zeitstudien) sowie Henry Lawrence Gantt (Erfinder des Gantt-Charts, heute meist Balkenplan genannt), welche die Produktionsabläufe systematisch beobachteten, verbesserten und in neue Fabrikabläufe umsetzten. Henry Ford (1863–1947) gilt als konsequenter Anwender der Lehren Taylors. In seinen Fabriken entwickelte er die Normung, Typisierung und die Austauschbarkeit der Teile zusammen mit der Arbeitsteilung und Präzisionsarbeit zu seiner Massenfertigung, die Automobile zu einem für breite Bevölkerungskreise erschwinglichen Gut machten [Spur00]. In Deutschland wurden die Ideen Taylors durch Wissenschaftler wie Adolf Wallichs in Aachen und Georg Schlesinger in Berlin aufgegriffen und weiterentwickelt [Spur00]. Die deutsche Industrie übernahm viele der amerikanischen Produktionsmethoden unter dem Begriff der Rationalisierung und gründete 1921 das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW), heute Rationalisierungskuratorium der Wirtschaft. Vorläufer waren der im Rahmen des Vereins
Zugang
Bestand Abgang
Zeit
a) Schwankender Bestandsverlauf
Durchlaufzeit
b) Breite Durchlaufzeitverteilung Häufigkeit
Durchlaufzeit
100%
zulässige Abweichung
Bearbeitungszeit 10% Rüstzeit
2%
Transportzeit
2%
Störzeit
2%
Liegezeit
84% zu früh
c) Hoher Liegezeitanteil Bild 4.1: Charakteristische Merkmale einer unbeherrschten Fertigung © IFA G9125SW_B
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
82
G9125SW B
d) Schlechte Termintreue
zu spät
4.2 Gruppenarbeit
]
Montage
Einrichten
Meister/ Vorarbeiter
Kontrolle Reparatur
An-/Abtransport, Verpackung
Montage
Kontrolle Reparatur
Einrichten Meister/ Vorarbeiter
An-/Abtransport, Verpackung
Arbeitswechsel (Job Rotation)
Montage
Arbeitsteilung
4
Kontrolle Reparatur
Einrichten
Meister/ Vorarbeiter
An-/Abtransport, Verpackung
Arbeitserweiterung (Job Enlargement)
An- u. Abtransport, Verpackung, Montage Meister/ Kontrolle, Reparatur, Einrichten Vorarbeiter
Arbeitsbereicherung (Job Enrichment) Ziel: teilautonome Arbeitsgruppe
Bild 4.2: Formen von Arbeitsstrukturen (Bullinger)
© Institut für Fabrikanlagen und
© IFA G2949ASW_Wd_B
Stückzahlen weitgehend nach den von Taylor und Ford entwickelten Grundsätzen gefertigt. Mit der stärkeren Produktdifferenzierung und der Erschließung immer weiterer Märkte sanken die Losgrößen; immer mehr unterschiedliche Aufträge machten die Fabrik immer unübersichtlicher. Hohe Bestände, lange Durchlaufzeiten und sinkende Termintreue waren die Folge. Bild 4.1 zeigt das charakteristische Verhalten einer auf diese Weise außer Kontrolle geratenen Werkstatt. Im Durchlaufdiagramm, das den kumulativen Zugang und Abgang der Aufträge an einem Arbeitsplatz im Zeitablauf darstellt, wird sichtbar, dass starke Schwankungen im Auftragszugang infolge einer zu spät reagierenden Kapazitätsanpassung zu starken Schwankungen im Abgang und in der Folge zu hohen und vor allem stark schwankenden Beständen führen (Bild 4.1a). Da Bestände unmittelbar die Durchlaufzeit beeinflussen, ergeben sich breite, linksschiefe Häufigkeitsverteilungen mit wenigen
schnellen Aufträgen, einem breiten Mittelfeld an Normalaufträgen und wenigen, aber teilweise extrem langsamen Aufträgen (Bild 4.1b). Betrachtet man nun die Durchlaufzeitanteile (Bild 4.1c), wird in Werkstättenfertigungen selten mehr als 10 bis 15% Bearbeitungszeitanteil erreicht. Theoretische und praktische Untersuchungen haben gezeigt, dass in dieser Fertigungsart bei einer gewünschten Auslastung von 96–98% prinzipiell nicht weniger als 80% Liegezeit erreicht werden können [Nyh03]. Im Endergebnis entsteht eine völlig unbefriedigende Termintreue (Bild 4.1d). Einige Aufträge werden zu früh fertig, der überwiegende Teil zu spät. Lässt man eine zulässige Abweichung von z. B. ± 2 Arbeitstagen zu, sind häufig nur 30% der Aufträge pünktlich. Zur Lösung der aus der starken Produktdifferenzierung resultierenden Probleme entstanden zahlreiche strategische, organisatorische und ingenieurwissenschaftliche Lösungsansätze. Aus strategischer Sicht wurde die Bildung von Geschäftseinheiten empfohlen, die für jeden Markt eine eigenständige
83
4 Bekannte Produktionskonzepte
4
Zielverfolgung vorsieht. Als Folge daraus entstehen auf je eine Produktfamilie fokussierte selbständige Fabriken in der Fabrik. Vorschläge aus der Personal- und Organisationslehre stellten den Mitarbeiter in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Rückführung planender und steuernder Tätigkeit aus den Büros in die Fabrik, der Abbau von Hierarchien und Regeln und die stärkere personale Kommunikation sollen helfen, die zunehmende Vielfalt zu beherrschen. Gleichzeitig kann damit den wachsenden Bedürfnissen nach Selbständigkeit und Selbstverwirklichung der Mitarbeiter entsprochen werden. Die daraus entwickelten Arbeitsformen lassen sich unter dem Begriff der Gruppenarbeit zusammenfassen. Eine Gruppe übernimmt eine ganzheitliche Aufgabe, z.B. die Fertigung einer Teilgruppe oder die Montage eines Gerätes vollständig oder teilweise. Die Gruppenmitglieder verteilen die notwendigen Aufgaben selbständig; kontrolliert wird nur das Endergebnis. Man unterscheidet drei Formen der Gruppenarbeit, die Bild 4.2 am Beispiel einer Montageaufgabe verdeutlicht. Dabei bildet die klassische Arbeitsteilung mit strikter Aufgabentrennung den Ausgangspunkt. Beim Arbeitsplatzwechsel (Job Rotation) können die mit der eigentlichen Montage betrauten Mitarbeiter aufgrund einer entsprechenden Qualifizierung unterschiedliche Montageaufgaben übernehmen. Alle übrigen Tätigkeiten wie Einrichten der Maschinen, Qualitätsprüfung und Reparatur sowie Verpackung und Transport sind davon ausgenommen. Es findet aber bereits ein Abbau der Monotonie der meist kurzzyklischen Arbeit statt. Bei der Arbeitserweiterung (Job Enlargement) versucht man demgegenüber, mehrere verschiedene Tätigkeiten auf der gleichen Qualifikationsebene zu einer neuen, inhaltlich erweiterten Aufgabe zusammenzufassen. Die Tätigkeit der Gruppenmitglieder kann bereits vom Takt entkoppelt sein. Die nicht Wertschöpfenden Tätigkeiten erfolgen aber noch an separaten Arbeitsstationen. Zusätzlich zur Verbesserung der Arbeitszufriedenheit soll eine stärkere Identifikation der Werker mit „ihrem“ Produkt erreicht werden.
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Die Arbeitsbereicherung (Job Enrichment) geht noch einen Schritt weiter in Richtung der sogenannten teilautonomen Arbeitsgruppe. Hier werden nicht nur die direkt produktiven Tätigkeiten, sondern auch alle übrigen indirekt produktiven Tätigkeiten wie Qualitätsprüfung und Maschineneinrichtung, aber auch weitere Tätigkeiten wie Materialbeschaffung, Wartung, Instandhaltung usw., einer Arbeitsgruppe übertragen. Ein Vorarbeiter oder Meister führt übergeordnete Planungs- und Steuerungsaufgaben wie Personal-, Termin- und Arbeitszeitplanung durch. Überträgt man auch noch diese indirekt produktiven Aufgaben dem Team, entstehen sogenannte autonome Arbeitsgruppen, die ihre Aufgaben selbständig organisieren und für die Ablieferung der Produkte in der verlangten Qualität und Menge zum verlangten Termin verantwortlich sind. Ansprechpartner der Gruppe nach innen und außen ist meist ein Gruppensprecher, der aber aktiv im Team mitarbeitet. Teilautonome und autonome Arbeitsgruppen kommen dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung am weitesten entgegen, stellen aber fachlich und menschlich die höchsten Anforderungen. Wichtige Punkte sind hier die Arbeitszeit- und Entgeltregelung sowie eine kontinuierliche Schulung und Verbesserung.
4.3 Fertigungsinseln Die skizzierten strategischen und organisatorisch geprägten Ansätze haben ihre Ergänzung in ingenieurwissenschaftlichen Lösungen gefunden, an deren Anfang die Untersuchung der immer größeren Teilevielfalt eines Unternehmens stand. Den Ausgangspunkt hierfür bildete in Deutschland neben den Arbeiten von Lange und Roßberg [Lan54] die von Mitrovanow begründete Gruppentechnologie [Mit60]. In weitergehenden Arbeiten konnte gezeigt werden, dass in jedem scheinbar noch so heterogenen Teilespektrum Gruppen ähnlicher Teile existieren. Sie verursachen zwar nur etwa 20 bis 30% der Herstellkosten der zugehörigen Produkte, umfassen jedoch nahezu 70% aller Teile [Opi67, Arn75]. Um
4.3 Fertigungsinseln
diese sogenannten Teilefamilien zu finden, setzte man vielfach Klassifizierungssysteme ein, von denen das Opitz-Klassifizierungssystem für Maschinenbaueinzelteile die größte Verbreitung gefunden hat [Opi66]. Es bot sich zunächst an, für diese Teilefamilien wie Wellen, Zahnräder, Hebel usw. Variantenzeichnungen und -arbeitspläne zu nutzen. Derartige Teilefamilien haben in der Regel eine ähnliche Arbeitsfolge und durchlaufen damit auch eine Reihe gleicher Maschinen. Die verschiedenen Lose benötigen lediglich kleinere Umrüstungen, womit Rüstzeiten eingespart werden. Der breite Einsatz der Teilefamilienfertigung blieb jedoch aus, weil das Grundprinzip der Werkstättenfertigung beibehalten wurde und damit der organisatorische Aufwand zur terminlichen Planung und Steuerung der Teilefamilienaufträge beträchtlich war. Die Notwendigkeit kürzerer Durchlaufzeiten und niedriger Bestände zwang zu einer Abkehr vom Primat der Vollauslastung aller Arbeitsplätze. In den 1970er Jahren entstanden – den Gedanken der Teilefamilien weiter entwickelnd – sogenannte Fertigungsinseln, die alle Betriebseinrichtungen und Mitarbeiter zur Herstellung einer Gruppe ähnlicher Teile räumlich und organisatorisch zusammenfassten. Dabei nahm man in Kauf, dass nicht alle Maschinen
ständig belegt waren. Unter Nutzung der Gruppenarbeit konnten diese Fertigungsinseln nun weitgehend selbständig betrieben werden, wozu insbesondere auch die Materialbereitstellung, Feinterminierung und Reihenfolgebildung der Aufträge zählt. Wichtige Arbeiten hierzu erfolgen durch den Ausschuss für wirtschaftliche Fertigung (AWF), der sich in Arbeitskreisen intensiv mit der Gestaltung und Einführung von Fertigungsinseln befasste [AWF84]. Bild 4.3 zeigt den prinzipiellen Aufbau einer Fertigungsinsel. Aus dem Behälter vor der Insel erfolgt die Entnahme der Rohteile. Im Gegensatz zur Werkstattfertigung wird aber der entsprechende Arbeitsgang nicht komplett für das ganze Los fertig gestellt und weitertransportiert, sondern jedes einzelne Teil des Loses wird unmittelbar nach Fertigstellung der Arbeitsoperation an den nächsten Arbeitsplatz weitergegeben, entweder durch den Werker oder auf einer Rollenbahn mittels Schwerkraft. Hierfür ist mittlerweile der Begriff „One-Piece-Flow“ oder auch „Single-Piece-Flow“ (Ein-Stück-fließt-Prinzip) gebräuchlich [Arz05].
4
Fertigungsinseln zeichnen sich durch niedrige Bestände und damit Durchlaufzeiten aus. Ein Liegen der Teile zwischen den einzelnen Arbeitsgängen wird durch die flussorientierte Maschinenaufstellung und
M1 M2
Eingang
Ausgang
M3 M4 Bild 4.3: Prinzip einer Fertigungsinsel
Werker
Werkstück in Bearbeitung
Werkstück wartet
M1 bis M4 Bearbeitungsmaschinen
© IFA G9121SW_B
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
G9121SW B
85
4 Bekannte Produktionskonzepte
4
das zeitlich überlappte Fertigen eines Loses vermieden. Bild 4.4 zeigt an einem einfachen Beispiel die enorme Zeit- und Bestandsverringerung einer Fertigungsinsel gegenüber der Werkstattfertigung nach [Suz94]. In diesem Fall kann statt der insgesamt 20 Minuten Durchlaufzeit eine Reduzierung auf 8 Minuten erreicht werden. In der Praxis wurden Durchlaufzeitsenkungen von mehreren Wochen auf einen Tag nachgewiesen [Grab00]. Wegen der meist unterschiedlichen Bearbeitungszeiten der einzelnen Arbeitsgänge ist es nicht möglich, alle Betriebsmittel einer Fertigungsinsel voll auszulasten. Das kann bei teuren Maschinen zu nicht vertretbaren Leerkosten führen. Auch kann mit zunehmender Anzahl der in einer Fertigungsinsel gefertigten Teilevarianten der Rüstzeitaufwand problematisch werden. Deshalb wird auch in Zukunft die klassische Werkstättenfertigung Bestand haben.
4.4 Flexible Fertigungssysteme Die skizzierte Entwicklung der Fertigungsinseln ließ die Frage des Automatisierungsgrades der Betriebseinrichtungen und ihrer Verknüpfung zunächst offen. Mit dem Durchbruch der numerischen Steuerung von Werkzeugmaschinen in den 1960er Jahren und der damit möglichen automatischen Durchführung kompletter Bearbeitungsoperationen unterschiedlicher Teile unmittelbar hintereinander eröffneten sich alternative Realisierungschancen der Teilefamilienfertigung. Ein erster wichtiger Schritt bestand in der Entwicklung von Bearbeitungszentren. Sie erlauben die Bearbeitung eines Werkstücks in einer Aufspannung von verschiedenen Seiten mit unterschiedlichen Verfahren wir Fräsen, Bohren, Gewindeschneiden usw. Voraussetzung hierfür ist der automatische Werkzeugwechsel. Verknüpft man nun mehrere Bearbeitungszentren und weitere notwendige Arbeitsstationen zum Wa-
One-Piece-Flow Fertigung mit Transportlosgröße 1
Losweise Fertigung mit Transportlosgröße 5 Zeit [min]
Bearbeitungszeit = 1min/Stück
Zeit [min]
0
0
5
1
Bearbeitungszeit = 1min/Stück
1 min
5 min 2
10
1 min
5 min 3
15
1 min
5 min 4
20 5 min
1 min 8 4 min Werkstück
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
G8979SW B
Bild 4.4: Losweise Fertigung und One-Piece-Flow-Fertigung (nach Suzaki) © IFA G8979SW_B
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verschiedene Prozesse
4.5 Fertigungssegmente
Markt- und Zielausrichtung • Bildung abgegrenzter ProduktMarkt-Produktion-Kombination • Strategische Erfolgsfaktoren
Produktorientierung • Koordinationsaufwand • Leistungsverflechtung • Fertigungstiefe
Fertigungssegment Mehrere Stufen der logistischen Kette • Integration mehrerer unternehmensinterner Wertschöpfungsstufen
Bild 4.5: Definitionsmerkmale von Fertigungssegmenten (Wildemann)
Kosten-/ Ergebnisverantwortung
Übertragung indirekter Funktionen
4
• Instandhaltung • Transport • Materialbereitstellung • Steuerung • Rüsten • Qualitätskontrolle
© IFA G9122SW_B
schen und Prüfen der Werkstücke, entsteht ein Flexibles Fertigungssystem. Das Schema eines solchen G9122SW B © Institut für Fabrikanlagen und Logistik Konzeptes zeigt Bild 6.30. Zusätzlich zu den Bearbeitungs- und Hilfsstationen sind in ein solches System ein Werkstück- und ein Werkzeuglager integriert, die mit je einem Transportsystem den Werkstück- bzw. Werkzeugtransport gewährleisten. An den einzelnen Stationen befinden sich lokale Werkstück- und Werkzeugpuffer. Die Steuerung der Bausteine erfolgt in einem hierarchischen System mit Hilfe eines übergeordneten Leitrechners. Das Transportsystem für die meist auf Spannpaletten befestigten Werkstücke und die Werkzeuge besteht häufig aus schienengeführten Transportwagen mit einer Übergabeeinrichtung. Aber auch fahrerlose Transportsysteme (FTS) und programmierbare Handhabungsgeräte – z.B. Industrieroboter – finden Verwendung. Flexible Fertigungssysteme erlauben also die automatische, ungetaktete und richtungsfreie Fertigung einer definierten Gruppe ähnlicher Teile und stellen damit gewissermaßen eine automatisierte Fertigungsinsel dar. Nach einer anfänglich starken Verbreitung in den 1980er Jahren wurde ihr Einsatz wegen der nicht mehr beherrschbaren marktinduzierten Teilevielfalt,
der enormen Kosten für die Verkettungs- und Speichersysteme sowie der aufwendigen Programmierung und Steuerung unwirtschaftlich. Diese Kosten konnten durch einfachere Verkettungssysteme z. B. mithilfe von Robotern und standardisierten Speichersystemen erheblich verringert werden, so dass Fertigungssysteme heute wieder ihren Platz gefunden haben, speziell für Anlaufserien und Ersatzteile in der Automobilindustrie und deren Zulieferer.
4.5 Fertigungssegmente Sowohl Fertigungsinseln als auch flexible Fertigungssysteme sind aufgrund ihrer ursprünglichen Zielsetzung und Anwendung zunächst nicht an die Teile eines bestimmten Produktes gebunden. Erst die immer stärkere Marktausrichtung der Produktion und die damit einhergehende starke Dezentralisierung führte zu dem Gedanken, sich zum einen nicht auf die Wertschöpfung in der Fertigung zu beschränken, sondern auch die weiteren Stufen der Wertschöpfung wie Montage, Verpackung und Versand in Form or-
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4 Bekannte Produktionskonzepte
4
ganisatorischer Einheiten zusammenzufassen. Zum anderen erfolgte eine Konzentration dieser Einheiten auf je ein Produkt, um damit eine spezifische Wettbewerbsstrategie verfolgen zu können. Wildemann hat diese Einheiten Fertigungssegmente genannt und sie zum Konzept der modularen Fabrik erweitert [Wild88]. Bild 4.5 führt die Definitionsmerkmale von Fertigungssegmenten auf. Hinsichtlich der Markt- und Zielausrichtung bedienen Fertigungssegmente spezifische Markt-Produkt-Kombinationen, die jeweils unterschiedliche Strategien umsetzen, wie beispielsweise höchste Qualität oder kürzeste Durchlaufzeiten. Die Produktorientierung verringert den Koordinations- und Steuerungsaufwand, minimiert die Leistungsverflechtung zwischen den Segmenten und resultiert in einer hohen Fertigungstiefe.
Zeit
Kosten
Qualität
Die bereits angesprochene Integration mehrerer Stufen der logistischen Kette in einem Fertigungssegment führt zur räumlichen Zusammenfassung von Fertigung und Montage und hebt damit die klassische Trennung dieser Bereiche auf. Die daraus resultierenden technischen Probleme der unmittelbaren Nachbarschaft unverträglicher Technologien (z.B. emissionsintensive Fertigungsprozesse neben genauen und sauberen Montageprozessen) sind durch geeignete Maßnahmen der Arbeitsplatz- und
Bereichsplanung z.B. durch geeignete Kapselung der Maschinen) im Rahmen der Fabrikplanung zu lösen. Durch die Übertragung indirekter Funktionen auf die Mitarbeiter im Fertigungssegment wird wie in der Fertigungsinsel eine ganzheitliche Beeinflussung des Endergebnisses erreicht. Häufig schafft eine entsprechende Prämiengestaltung auch Anreize zur ständigen Verbesserung der Prozesse mit dem Ziel jeglicher Vermeidung von Verschwendung. Schließlich ist die Kosten- und Ergebnisverantwortung je nach Art des Kunden unterschiedlich. Erfolgt eine innerbetriebliche Weitergabe der Produkte des Segmentes, wird dieses als Cost- oder Servicecenter organisiert. Liefert das Segment an einen Endkunden zu Marktpreisen, gestaltet man es als Profit Center [Wild88]. Zur Planung der Segmente nennt Wildemann eine Reihe von Gestaltungsprinzipien. Diese sind die Flussoptimierung, die Bereitstellung kleiner, ggf. mehrfach vorhandener Kapazitäten, die räumliche Konzentration mit variablem Layout, selbststeuernde Regelkreise, die Komplettbearbeitung von Teilen und Gruppen, die Prüfung der Teile bzw. Baugruppen durch die Werker, die zeitliche Entkopplung der menschlichen Arbeit von der Maschinenlaufzeit und die Teamorientierung. Fertigungsinseln und -segmente können als wichtigste Weiterentwicklung der Fertigungsorganisati-
Mitarbeiterzufriedenheit
20 - 30%
Kundenzufriedenheit
15 - 20%
Fehler
15 - 50%
Ansprechpartner für Kunden
20 - 30%
Prozesskosten
20 - 40%
Bearbeitungszeiten
20 - 30%
Liegezeiten
15 - 60%
Durchlaufzeiten
20 - 70%
Lieferzeiten
15 - 30%
Anzahl Abteilungen im Prozess
20 - 50%
Bild 4.6: Wirkungen der Segmentierung (Wildemann) © IFA G9126SW_B
88
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
G9126SW B
4.6 Die schlanke Produktion und das Toyota Produktionssystem
Merkmale • Leistung Produktivität (Std./ Auto) Qualität (Montagefehler/ 10 Autos) • Layout Fläche (qm/ Auto/ Jahr) Größe des Reparaturbereichs (% der Montageflächen) Lagerbestand (Tage für 8 ausgewählte Teile) • Arbeitskräfte % der Arbeitskräfte in Teams Job Rotation (0 = keine, 4 = häufig) Anzahl Vorschläge je Beschäftigtem Anzahl der Lohngruppen Ausbildung neuer ProduktionsArbeiter (Std) Abwesenheit (%) • Automation Schweißen (% der Arbeitsgänge) Lackieren (% der Arbeitsgänge) Montage (% der Arbeitsgänge)
japanische Werke in Japan
japanische Werke in Nordamerika
amerikanische Werke in Nordamerika
alle europäischen Werke
16,8 60,0
21,2 65,0
25,1 82,3
36,2 97,0
0,5
0,8
0,7
0,7
4,1
4,9
12,9
14,4
0,2
1,6
2,9
2,0
69,3 3,0 61,6 11,9
71,3 2,7 1,4 8,7
17,3 0,9 0,4 67,1
0,6 1,9 0,4 14,8
380,3 5,0
370,0 4,8
46,4 11,7
173,3 12,1
86,2 54,6 1,7
85,0 40,7 1,1
76,2 33,6 1,2
76,6 38,2 3,1
4
Bild 4.7: Merkmale der Automobil-Großserienhersteller 1989 (Womack u. a.) © IFA G9128SW_B
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
G9128SW B
on der 1990er Jahre gelten und haben nachweislich signifikante Verbesserungen der marktrelevanten Zielgrößen Qualität und Kosten und Zeit bewirkt, die Bild 4.6 zusammenfasst. [Wild00].
4.6 Die schlanke Produktion und das Toyota Produktions system
Eine Weiterentwicklung des Segmentansatzes führt zu sogenannten indirekten Segmenten, in denen auch die Geschäftsprozesse indirekter Funktionen ergebnisverantwortlich abgewickelt werden [Wild00]. Führt man in einem Unternehmen zu den so definierten direkten und indirekten Segmenten auch noch den Vertrieb und die Produktentwicklung zusammen, entstehen sogenannte Produkteinheiten, auch Geschäftseinheiten oder Business Units genannt. Diese bedienen ein Marktsegment über den ganzen Produktlebenszyklus. Der Gefahr des Know-how-Verlustes in den einzelnen Produkteinheiten ist durch die Bildung sogenannter Support- oder Funktionszentren zu begegnen, z. B. für CAD-Technik, bestimmte Fertigungsverfahren oder Beschaffungswege.
Der Begriff der schlanken Produktion (Lean Produktion) geht auf eine fünfjährige weltweite Studie der Endmontage von etwa 100 Automobilfabriken in Japan, Nordamerika und Europa zurück, die vom Massachusetts Institute of Technology durchgeführt wurde [Wom90]. Sie kam aufgrund der gravierenden Unterschiede in den vier Merkmalsgruppen Leistung, Layout, Arbeitskräfte und Automation in den drei geografischen Regio nen Amerika, Europa und Asien zu dem Schluss, dass die japanischen Werke in allen Kategorien im Mittel deutlich besser abschnitten als ihre amerikanischen und europäischen Wettbewerber, Bild 4.7. Gleichwohl zeigten sich aber auch beträchtliche Unterschiede innerhalb einer Untersuchungsgruppe.
89
4 Bekannte Produktionskonzepte
4
Darüber hinaus traten auch in den Leistungsdaten der Produktentwicklung gravierende Unterschiede zutage. Diese betrafen sowohl den Entwicklungsaufwand und die -dauer für ein neues Modell, als auch den Anteil der Zulieferer an der Entwicklung sowie die Dauer des Erreichens der normalen Produktivität und Qualität nach dem Produktionsbeginn. Die 1990 in den USA und 1991 in deutscher Übersetzung erschienene Studie stieß in Deutschland auf großes Interesse und löste nachhaltige Debatten über die Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Automobilindustrie und des Standorts Deutschland aus. Es wurde deutlich, dass die Defizite nicht mehr durch Einzelmaßnahmen wie Gemeinkostenwertanalyse, Computer Integrated Manufacturing, Rüstzeitverkürzung und neue PPS-Systeme zu beheben waren. Vielmehr war ein ganzheitlicher Ansatz mit dem „Augenmerk auf Perfektion“ erforderlich: kontinuierlich sinkende Kosten, null Fehler, keine Lagerbestände und beliebige Produktvielfalt [Wom00]. Das bedingte eine durchgängige Betrachtung der Konstruktions- und Produktionsprozesse unter
Einschluss der Lieferanten und Beachtung der Kundenwünsche. Mit einer beispiellosen Kraftanstrengung ist es der deutschen Industrie gelungen, sowohl die Produkte als auch die Prozesse deutlich zu verbessern. Dies war aber mit einem enormen Anstieg der Arbeitslosenzahlen verbunden, was auch zu einer erheblichen Kritik am Konzept der schlanken Produktion geführt hat. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Zahl der Beschäftigten mit steigender Produktion nicht mehr zu. Um die Beschäftigung trotz ständiger Aufwandssenkung zu sichern, sind daher neue Produkte in neuen Märkten, der Ausbau von Dienstleistungen und Zusammenschlüsse von Unternehmen erforderlich. Die schlanke Produktion ist kein geschlossenes, theoretisch begründetes Unternehmenskonzept, sondern die Quintessenz aus der Analyse erfolgreicher Unternehmen. Sie beruht im Wesentlichen auf dem von der Toyota Motor Company kontinuierlich entwickelten Toyota Produktionssystem (TPS), das allerhöchste Produktqualität zu niedrigstmöglichen Kosten mit
TPS Toyota Produktion System Just - in - Time
Total Quality Control
Automation
Definition: Bedarfsorientierte Materialbereitstellung nach Menge, Ort und Zeit
Definition: Vollständige Fehlervermeidung 100% fehlerfreie Produkte
Definition: Prozessunterbrechungsmöglichkeit bei Problemen
Elemente: • Produktionsnivellierung • Pull Produktion • Kontinuierliche Fließfertigung • Durchgängige Taktzeit
Elemente: • Stabile, fähige Prozesse • Kontinuierliche • Internes Kunden-Lieferanten Verbesserung (Kaizen) Prinzip • Total Productive • Kleine Regelkreise Maintenance • Visual Management
Elemente: • Maschinenselbstabschaltung • Band-Stop System • Elektronische Produktionsanzeige (Andon) • Fehlervermeidung (Poka Yoke)
Flexible Produktion • Gleichmäßiger Betrieb
• Rasche Produktion
• Flexible Mitarbeiterschaft
Vermeidung von Verschwendung • Ausschluss u. Nacharbeit
• Überproduktion • Lagerbestände • Nicht wertschöpfende Bewegung •Wartezeiten •Transport und Handhabung
Bild 4.8:für Elemente des und Toyota Produktionssystems G9129SW B © Institut Fabrikanlagen Logistik © IFA G9129SW_B
90
4.6 Die schlanke Produktion und das Toyota Produktionssystem
den geringsten Lieferzeiten anstrebt [Ohn86]. Die daraus abgeleiteten Ziele der Produktion sind:
• Produktivität durch Beseitigung jeglicher Art von • • •
Verschwendung Qualität durch sichere Prozesse, die eine hohe Produktqualität ermöglichen Flexibilität durch reaktionsfähige Arbeitsplätze und Mitarbeiter Humanität durch maximale Einbeziehung des Mitarbeiterwissens
Im Kern steht ein organisations- und menschenzentriertes Gestaltungsmodell der Produktion, das auf Motivation, Kreativität und Können der Mitarbeiter setzt. Gestaltungsziele sind neben der Intensivierung der Kundenbeziehungen der Abbau von Hierarchiestufen, die Verkürzung von Entscheidungswegen, die Verlagerung von Aufgaben auf die ausführende Ebene und die verstärkte Kooperation mit Zulieferern bereits in der Entwicklungsphase des eigenen Produktes [Ohn93]. Aus diesem Ansatz heraus haben sich fünf aufeinander bezogene Elemente des Toyota Produktionssystems entwickelt, die Bild 4.8 in Anlehnung an eine Darstellung von Oeltjensbruns [Oelt00] zusammenfasst. Das Fundament des TPS bildet die Vermeidung von Verschwendung, die in einer Art Grenzwertbetrachtung die notwendige Wertschöpfung eines Produktes mit dem absolut minimal notwendigen Einsatz von Betriebsmitteln, Material, Teilen, Platz und Arbeitszeit anstrebt [Suz89]. Ausschuss und Nacharbeit ist bei konsequenter Anwendung des Kunde-Lieferanten-Verhältnisses dadurch zu vermeiden, dass nur 100% geprüfte Teile bzw. Baugruppen von einer Arbeitsstation an die nächste weitergehen. Dies gilt auch für externe Lieferanten. Überproduktion entsteht durch „optimale Losgrößen“, Rüstzeiteinsparungen, Füllaufträge zur Vermeidung von Maschinenstillständen und Materialverschnittoptimierung. Sie führt zu unnötigen Beständen in den Lägern und in der Produktion. Das Pull-Prinzip und die überlappte Fertigung nach dem
One-Piece-Flow-Prinzip vermeidet dies. Eng mit dem Thema Bestände verknüpft sind unnötige Wartezeiten von Material, Mensch und Maschinen. Sie entstehen durch Liegen der Teile nach einem Arbeitsgang, Liegen in der Warteschlange, Liegen vor dem Rüsten des Arbeitsplatzes und Liegen im Los. Wichtige Ansätze zur Vermeidung dieser Art von Verschwendung sind Fertigungssegmente mit U-förmiger Anordnung der Arbeitsstationen, extrem kurze Rüstzeiten der Maschinen und Begrenzung des Systembestandes durch eine definierte Anzahl zulässiger Teile vor bzw. in einem Arbeitssystem. Unnötiger Transport und unnötige Handhabung von Teilen entstehen durch ihre mehrfache Zwischenlagerung und Kommissionierung auf dem Weg vom Lieferanten bis zum Einbauort in der eigenen Fabrik. Ein ideales Anliefer- und Bereitstellungskonzept vermeidet dies durch eine durchgängige Lieferkette, bei der die Teile von der letzten Arbeitsstation des Lieferanten in der abgerufenen Menge ohne Verpackung auf geeigneten Werkstückträgern unmittelbar an den Verwendungsort des Verbrauchers gelangen. Das wird nicht immer gelingen. Dann ist es Aufgabe der werksübergreifenden Logistik, für die bedarfsgerechte Anlieferung zu sorgen, und Aufgabe des internen Transportwesens, die rechtzeitige Bereitstellung an den Verbrauchsort zu gewährleisten. Die Teilehandhabung innerhalb des Segments ist Aufgabe der Werker. Das zweite fundamentale Prinzip des Toyota Produktionssystems besteht in der Schaffung einer flexiblen Produktion, die auf Änderungen der Produkte, ihrer Absatzmengen und -varianten sowie der eingesetzten Verfahren und Prozesse rasch reagiert. Dies geschieht durch eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Arbeit auf Basis einer ausgewogenen Folge von Produktvarianten mit großen und kleinen Arbeitsinhalten (die sogenannte Nivellierung), die rasche Reaktion auf Fehler mit dem Ziel ihrer dauerhaften Beseitigung sowie mit Hilfe breit qualifizierter Mitarbeiter, die je nach Bedarf einen oder mehrere Arbeitstakte beherrschen. Dies setzt die bereits beschriebene Gruppenarbeit voraus. Mit seinem dritten Element Total Quality Control strebt das TPS eine vollständige Fehlervermeidung mit dem Ziel an, 100% fehlerfreie Produkte im ausgepackten
4
91
4 Bekannte Produktionskonzepte
4
Zustand beim Kunden zu erreichen. Dies setzt eine durchgängige Betrachtung aller Geschäftsprozesse vom Marketing über die Produktentwicklung und den Vertrieb bis hin zur Auftragsabwicklung und den Service voraus. Stabile, nach Regeln des Qualitätsmanagements gestaltete fähige Prozesse, das bereits angesprochene interne Kunden-Lieferanten-Prinzip (nur 100% Gutteile an den nächsten Arbeitsabschnitt) und kleine Regelkreise bewirken die frühestmögliche Entdeckung von Fehlern und ihre Beseitigung durch den Verursacher ohne Einschaltung einer zusätzlichen Qualitätsprüfung. Neben der Selbstprüfung durch die ausführenden Mitarbeiter (Lieferant) unterstützt die Folgekontrolle durch den Ausführenden des nächsten Arbeitsschrittes (Kunde) das Entdecken seltener Fehler. In einem solchen Fall weist er die Annahme und Weiterverarbeitung ab und gibt das fehlerhafte Teil an den Verursacher zurück. Ein nächstes wichtiges Instrument stellt die transparente Darstellung von Informationen über den Arbeitsablauf für alle Mitarbeiter dar, wie beispielsweise Produktionszahlen, Fehlerraten, Nutzungsgrade, Materialverbrauch usw. Mit diesem sogenannten Visual Management ist es möglich, den bisherigen Verlauf wichtiger Kennzahlen im Vergleich zu den angestrebten Zielen, aber auch ungewöhnliche Zustände auf einen Blick zu erkennen. Zum Visual Management zählen deshalb auch die eindeutige Kennzeichnung von Material und Werkzeugen mit deren Lagerort sowie die detaillierte Darstellung von Arbeitsabläufen und der Betriebszustand von Maschinen und Anlagen. Eine überragende Bedeutung nimmt weiterhin der Prozess der kontinuierlichen Verbesserung (japan. kaizen: Veränderung zum Besseren) ein. Ziel ist es, durch die von den Mitarbeitern vorgeschlagenen und umgesetzten ständigen kleinen Verbesserungen der Prozesse und Abläufe eine stetige Steigerung von Produktivität und Qualität zu erreichen. Als bewährte Methode zur Systematisierung dieses Prozesses gilt der Plan-Do-Check-Action-Zyklus, Bild 4.9. Diese nach seinem Erfinder Edwards Deming auch Deming-Zyklus benannte Aktivitätsfolge beginnt als Erstes mit der Themenwahl, der Situationsanalyse,
92
der Lösungsmethode und dem Verbesserungsplan (Plan = Planen), gefolgt von der Umsetzung (Do = Tun) und der Überprüfung des Erreichten (Check = Prüfen). Bei positivem Ergebnis werden die Arbeitsmethoden standardisiert und visualisiert, um ihre sofortige Anwendung zu gewährleisten (Action = Aktion). Als wichtige Grundsätze gelten Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung am Arbeitsplatz, die durch die 5A-Kampagne erreicht werden. Die 5A umfassen [Teu96]:
• Aussortieren • • • •
unnötiger Dinge (Material, Werkzeuge, Unterlagen) Aufräumen (jedes Ding an seinem Platz) A rbeitsplatz sauber halten (Maschinen, Betriebsmittel, Fußboden) A nordnung zur Regel machen (Standards) A lle Punkte einhalten und ständig verbessern (Selbstdisziplin).
Ständige Verbesserungen können nicht Innovationen im Sinne einer radikalen Neugestaltung ersetzen, sondern zielen eher darauf ab, die Potenziale eines Prozesses möglichst rasch zu nutzen und ein Absinken der Produktivität zu verhindern. KVP setzt eine Strukturierung und Detaillierung der Unternehmensziele bis auf die Mitarbeiterebene voraus, die in bereichsgebundenen oder -übergreifenden kontinuierlichen Qualitätszirkeln oder zeitlich befristeten Kleingruppen abgearbeitet werden. Wesentlich ist die Identifizierung der Mitarbeiter mit diesen Zielen. Die umfassende produktive Instandhaltung (Total Productive Maintenance TPM) richtet ihr Augenmerk im Rahmen der ganzheitlichen Qualitätsbetrachtung auf die Anlageneffizienz. Sie wird bestimmt durch das Produkt aus Verfügbarkeit, Leistungsfaktor und Qualitätsfaktor. Während die Verfügbarkeit durch Maschinenstörungen und Rüstzeiten bestimmt wird, ergibt sich der Leistungsfaktor durch fehlende Aufträge und Geschwindigkeitsverluste. Der Qualitätsfaktor berücksichtigt schließlich fehlerhafte Teile und Anlaufverluste. Mit Hilfe der vorbeugenden Instandhaltung über die ganze Nutzungszeit der Anlagen und die Übernahme einfacher Wartungsarbeiten durch die Werker erkennen diese eventuell drohende
4.7 Just in Time
KVP
Plan
Act
Do
Verbesserung
Check
Standards
Bild 4.9: Kontinuierliche Verbesserung mit dem PDCA-Zyklus
4
Zeit
© IFA G9130SW_B
Ausfälle frühzeitig. In Verbindung mit dem Prozess der kontinuierlichen Verbesserung und seinen Techniken sind so eine Minimierung LebenszyklusG9130SW © Institut für Fabrikanlagen der und Logistik kosten und eine Maximierung der Anlagenausbringung erreichbar, s. a. [Har07].
4.7 Just in Time Das vierte wesentliche Element des TPS-Systems zielt unter dem von Taiichi Ohno geprägten Begriff „Just in Time“ (JIT) darauf ab, sämtliche zur Produktion notwendigen Faktoren „gerade rechtzeitig“ bereitzustellen [Ohn86]. Damit werden die Ziele niedrige Bestände, kurze Durchlaufzeiten und hohe Termintreue unterstützt. Das JIT-Konzept betrachtet deshalb die gesamte Wertschöpfungskette vom Lieferanten über die eigene Produktion bis zur Auslieferung an den Kunden. Die in Bild 4.8 links genannten Elemente des JIT zielen auf einen möglichst gleichmäßigen Fluss der Aufträge durch die Produktion. Hierbei zielt die Produktionsnivellierung zunächst auf eine Glättung der Auftragsinhalte der meist unregelmäßig eintreffenden Aufträge, während das Pullprinzip das Warenhausprinzip betont. Als ideal wird eine
B
Fließfertigung mit durchgehender Taktzeit über alle Wertschöpfungsstufen hinweg angesehen. Für den Beschaffungsprozess resultiert aus dem JITAnsatz die produktionssynchrone Anlieferung der Zukaufteile möglichst ohne Wareneingangslager direkt an den Verbrauchsort. Im Fall der Bereitstellung von Varianten in der Reihenfolge ihres Einbaus – z.B. bei Ausstattungsvarianten eines PKW – spricht man von einer Just-in-Sequence-Beschaffung (JIT). Diese Art der Beschaffung eignet sich nur für Teile mit hohem bis mittlerem Verbrauchswert (A- und B-Teile) und hoher bis mittlerer Vorhersagegenauigkeit des Verbrauchs (X- und Y-Teile) [Wild 98]. Auch sind eine enge Abstimmung zwischen Lieferanten und Verbraucher, hohe Lieferzuverlässigkeit und beherrschte Prozesse sowie nicht zu starke Mengenschwankungen Voraussetzung für diese Beschaffungsart, bei der teilweise nur noch für 2 bis 4 Stunden Bestände am Verbrauchsort vorgehalten werden. Für die übrigen Teile verfolgt man andere Lieferkonzepte, wie beispielsweise die Vergabe der kompletten Bewirtschaftung der C-Teile an einen externen Dienstleister oder die Anlieferung von Artikelgruppen durch einen Lieferanten, das sogenannte C-Teile-Management. Generell strebt man die Reduzierung der Anzahl der Zulieferpositionen an, sei es durch die Bündelung von Artikeln oder durch den Aufbau von Entwicklungspartnerschaften mit der späteren Zulieferung von
93
4 Bekannte Produktionskonzepte
Ausgehend von einem Lager fertiger Erzeugnisse entnimmt der Kunde (hier der Vertrieb) beim Vorliegen
Pull-Steuerung
Schweißerei Pull-Steuerung
Mechanische Fertigung Pull-Steuerung
Externer Lieferant
Zwischenlager
Materialfluss
Produktionsbereich
Steuerung
Bild 4.10: Beispiel für eine nach dem Pull-Prinzip gesteuerte Produktion ©©IFA G1278SW_Wd_B Institut für Fabrikanlagen und Logistik
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G1278SW Wd B
Pull-Steuerung
Kunde
Zuschnitt
Pull-Steuerung
Erzeugnislager
Pull-Steuerung
Erzeugnismontage
Beschaffung
Pull-Steuerung
eines konkreten Kundenauftrages das entsprechende Produkt und liefert die gewünschte Menge sofort aus. Ist ein bestimmter Bestandswert unterschritten, geht nach der Entnahme eine Information an die Erzeugnismontage, diese Produktvariante in einer definierten Menge und in einer vereinbarten Zeit nachzuliefern. Als Informationsträger dient eine Karte, welche die Artikelnummer, den erzeugenden Bereich, den verbrauchenden Bereich und die zu fertigende Menge festlegt. Dieser Beleg wird als Kanban bezeichnet, was japanisch so viel wie Schild oder Karte bedeutet. Die Erzeugnismontage bedient sich ihrerseits der vorgelagerten Puffer, in denen einbaufertige Schweißteile bzw. Vormontagegruppen liegen, die wiederum mit Hilfe weiterer Kanban-Karten nachgefertigt werden. Diese Regelkreise setzen sich bis zum Zuschnitt der Blechteile bzw. bis zur mechanischen Fertigung fort. In diesem konkreten Fall erfolgte die Anbindung der externen Lieferanten für das Blechmaterial und die Zukaufkomponenten (Hydraulikteile) ebenfalls über Kanbans, die über Fax oder zunehmend elektronisch übermittelt werden. Das Pullprinzip realisiert also eine weitgehend kontinuierliche Fließfertigung, ist aber an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Hierzu zählen eine
Vormontage
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Komponenten und Systemen. Die wesentlichen Voraussetzungen für die JIT-Anlieferung sind eine hohe Zuverlässigkeit des Lieferanten hinsichtlich seiner Prozesse und eine sichere Anlieferung. Die erste Voraussetzung erfüllt man durch eine Lieferantenqualifizierung und regelmäßige Auditierung. Der zweiten Problematik begegnet man im Fall genügend großer Liefervolumina durch Ansiedlung der Zulieferanten in sogenannten Zulieferparks in der unmittelbaren Nähe des Verbrauchers. Weitere Anlieferkonzepte befinden sich in stetiger Entwicklung und werden später bei der Gestaltung der Beschaffungslogistik diskutiert (s. Abschn. 9.5.1). Die Anwendung des JIT-Prinzip in der Produktion läuft auf das sogenannte Pull-Prinzip hinaus. Im Gegensatz zum Push-Prinzip, bei dem einzelne Aufträge in der Reihenfolge entsprechend dem Arbeitsplan vor die Arbeitsstation geschoben werden, zieht man beim Pull-Prinzip die Aufträge nach dem Warenhausprinzip beginnend mit der letzten Arbeitsstation aus der Fertigung heraus. Bild 4.10 zeigt ein Beispiel für eine nach dem Pull-Prinzip gesteuerte Produktion.
4.7 Just in Time
100% fehlerfreie Produktion jedes Abschnitts, eine begrenzte Zahl von Varianten, eine durch die Kapazitätsflexibilität beherrschbare Mengenschwankung und die strikte Einhaltung der je Kanban vereinbarten Lieferzeit. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen wird eine einfache, dezentrale Steuerung mit kontrollierten Beständen erreicht. Sind diese nicht gegeben, greifen andere Verfahren wie die Con-Wip-Steuerung (Constant Work in Process) [Hop96] oder die BOA (Belastungsorientierte Auftragsfreigabe) [Wie97]. Das besondere Merkmal der Con-Wip-Steuerung ist der Verzicht auf variantenspezifische Pufferlager. Vielmehr erfolgt ein Impuls zur Nachfertigung statt an die vorgelagerten Stufen direkt an den Beginn der Fertigungskette. Es handelt sich demnach um eine bestandsgeregelte PullFertigung nach dem Fließprinzip. Für den Fall sehr unterschiedlicher Aufträge, die nach dem Werkstättenprinzip (Push) abgefertigt werden, bietet sich die Belastungsorientierte Auftragsfreigabe (BOA) an, die mit einer kombinierten Bestands- und Durchlaufzeitregelung arbeitet. Aufträge werden erst freigegeben, wenn sichergestellt ist, dass in der Zukunft ein vorab definiertes Bestandsniveau an jeder der betreffenden Arbeitsstationen nicht überschritten wird. Das Verfahren schützt die Werkstatt vor einer Überlastung und damit vor einem unkontrollierten Bestandsaufund -abbau. Die Just-in-Time-Produktion erfordert neben den bereits erwähnten sicheren Fertigungsprozessen auch zuverlässige Transport-, Lager- und Bereitstellprozesse vom Wareneingang bis zur Auslieferung. Aus Sicht der Fabrikplanung ergeben sich daraus Anforderungen an eine einfache und gut überschaubare Positionierung der Werkstücke auf den Ladungsträgern. Ferner empfiehlt sich der Einsatz mobiler Zwischenlager möglichst mit Durchlaufregalen, die einfache Übergabemöglichkeit der Ladungsträger von den Transportfahrzeugen in Zwischenlager oder an den Verbrauchsort sowie ein sicheres Transportsystem mit hoher Anlieferfrequenz. Hinsichtlich der Distribution der in der Produktion erzeugten Güter macht das Toyota Produktionssystem keine spezifischen Aussagen, jedoch gilt auch hier das Prinzip des Fließens, möglichst niedriger
Bestände und kurzer Auslieferungszeiten. Die Verteilung der Güter an den Handel und Endverbraucher ist Aufgabe der Distributionslogistik, meist über Zwischenlager, in denen eine Bündelung von Artikeln und ihre Auslieferung an den kundennahen Entnahmeort erfolgt. Als wesentliche technische Funktionen treten hier das Umschlagen, Lagern, Kommissionieren und der Transport auf. Da die Distribution die Fabrikplanung nur bezüglich des Abgabepunktes auf dem Fabrikgelände berührt, soll dieses Thema nicht weiter vertieft werden. Hinweise zur Gestaltung der Distributionslogistik finden sich z.B. bei Wildemann [Wil10]. Mit zunehmender Verflechtung der globalen Warenströme hat sich der Gegenstand der Betrachtung vom einzelnen Unternehmen auf Logistikketten und -netzwerke ausgeweitet. Dabei wird sowohl der Güterfluss stromaufwärts zum Lieferanten des Lieferanten als auch stromabwärts bis zum Kunden des Kunden betrachtet und als Versorgungskette, Wertschöpfungskette und insbesondere als Supply Chain (engl. supply: liefern, chain: Kette) bezeichnet [Co01, Bu04, Senn07]. Als Kernaufgaben des jeweiligen Kettengliedes gelten die Prozesse Beschaffen (source), Herstellen (make) und Liefern (deliver) sowie die Retourenprozesse z.B. von Reklamationen (return). Sie sind im sogen. Supply Chain Operations Reference Model (SCOR-Model 8.0) beschrieben, das laufend weiterentwickelt wird [http://www.supplychain.org]. Das Supply Chain Management (SCM) gestaltet, plant und steuert die betroffenen Material-, Informations- und Werteflüsse in den Netzwerken mit dem Ziel einer hohen Kundenzufriedenheit (Preis, Qualität, Liefertreue) sowie der Senkung des Aufwandes (Bestände, Schnittstellen) und einer rascheren Marktanpassung. Damit konkurrieren also nicht mehr einzelne Unternehmen, sondern ganze Wertschöpfungsketten miteinander. Besonders ausgeprägt sind derartige Lieferketten in der Automobilindustrie. Das letzte Hauptelement des Toyota Produktionssystems wird mit dem Kunstwort Autonomation bezeichnet. Damit wird die Fähigkeit eines automatischen Systems umschrieben, beim Auftreten von Problemen in Form von Maschinenstörungen, Qualitätsproble-
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95
4 Bekannte Produktionskonzepte
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men oder Montagefehlern entweder selbsttätig oder durch Eingriff der Werker anzuhalten. Technisch wird dieser Vorgang durch maschineninterne Sensoren bzw. durch eine sogenannte Reißleine entlang einer Fertigungs- oder Montagelinie realisiert. Die Störungsanzeige erfolgt mit Signallampen an der betreffenden Station sowie an einer gut sichtbaren elektronischen Anzeigetafel und bewirkt ein schnelles Eingreifen von Spezialisten der Qualitätssicherung und Instandhaltung [Oelt00]. Zusammenfassend ist zum Ansatz Lean Production und dem zugrunde liegenden Toyota Produktionssystem festzustellen, dass es erfolgreiche Gestaltungsprinzipien für die Gestaltung der Beschaffungs- und Produktionsabläufe umfasst. Es wurde von zahlreichen Unternehmen aufgegriffen und seit den 1990er Jahren in Form sogenannter Produktionssysteme etabliert. Spath hat den Ansatz auf den Begriff Ganzheitliche Produktionssysteme (GPS) erweitert, die er wie folgt definiert: „Ganzheitliche Produktionssysteme sind methodische Regelwerke und Handlungsanleitungen zur Herstellung von Produkten. Sie stellen eine Art Betriebsanleitung für die Produktion vor allem unter Berücksichtigung organisatorischer, personeller und wirtschaftlicher Aspekte dar“ [Spa03]. Dombrowski gibt wichtige Hinweise zur Implementierung derartiger Systeme und weist auf Probleme der Planung und Bewertung hin [Dom08]. Die Prinzipien der schlanken Produktion sind nicht nur für die Automobilindustrie, sondern auch für viele andere Branchen des Maschinenbaus, der Elektrotechnik und des Aggregatebaus anwendbar. Die Automobilindustrie war auch hier Vorreiter, zunehmend greifen aber auch mittelständische Unternehmen den Ansatz auf. Allerdings sind die Voraussetzungen hinsichtlich der Produktgestaltung und der eingesetzten Produktionstechniken zunächst nicht immer gegeben, so dass erst mit einer neuen logistikgerecht gestalteten Produktgeneration und den gleichzeitig dazu entwickelten varianten- und mengenflexiblen Fertigungstechniken die Potenziale eines schlanken Produktionskonzeptes erschlossen werden können. Was das Konzept der schlanken Produktion und der ganzheitlichen Produktionssysteme für die Fabrik-
planung und die wandlungsfähige Fabrik bedeutet, wird in den einschlägigen Veröffentlichungen nicht weiter ausgeführt, da der Fokus auf den eigentlichen Produktionssystemen der Fertigung und Montage liegt. Die Übertragung der Grundgedanken auf die Fabrik als System ist vielversprechend und wird in den weiteren Kapiteln stufenweise zum Konzept der wandlungsfähigen Fabrik entwickelt.
4.8 Das Fraktale Unternehmen Einen Versuch, die seit den 1970er Jahren erkennbaren Entwicklungen der Produktionsorganisation zu einem ganzheitlichen Ansatz zusammenzufassen, stellt der von Warnecke geprägte Begriff der Fraktalen Fabrik dar [War92], später ausgeweitet auf das ganze Unternehmen [War93]. Als fraktal wird in einem neueren Zweig der Mathematik – der fraktalen Geometrie – ein selbstähnliches Gebilde bezeichnet, das mit wenigen einfachen Bildungsgesetzen komplexe Strukturen aufzubauen gestattet. Im übertragenen Sinne ist ein fraktales Unternehmen demnach ein offenes System, das aus selbständig agierenden und ihrer Zielausrichtung ähnlichen Einheiten – den Fraktalen – besteht, die hinsichtlich ihrer Ziele und Leistungen eindeutig beschreibbar sind. Sie bilden durch dynamische Organisationsstrukturen einen vitalen Organismus, der auf Impulse von außen durch Veränderungen seiner Struktur und seines Verhaltens reagiert [War93]. Das Konzept hebt vier wesentliche Organisationsprinzipien hervor:
• Selbstorganisation • • •
durch Eigenverantwortung und Funktionsintegration Selbstoptimierung durch eine kontinuierliche Unternehmensentwicklung Zielorientierung durch ein ganzheitliches, am Markt ausgerichtetes Unternehmenszielsystem Dynamik gemessen am Zielerreichungsgrad der einzelnen Unternehmensfraktale.
4.9 Agilitätsorientierter Wettbewerb
Wenngleich Fraktale eine deutliche Ähnlichkeit mit Segmenten besitzen, geht der Ansatz des fraktalen Unternehmens doch über die segmentierte und modulare Fabrik hinaus. Zum einen wird die Selbstorganisation aus der gemeinsamen Zielorientierung im Sinne einer innerbetrieblichen Marktwirtschaft heraus betont. Hierdurch sind selbstinitiierte Veränderungen nicht nur innerhalb des Fraktals, sondern auch Veränderungen des Aufgabenumfangs und der Beziehung zu anderen Fraktalen gewissermaßen von unten nach oben möglich. Zum anderen sollen die Mitarbeiter der Fraktale zum Treiber von Verbesserungen und Veränderungen werden, weil sie im Gegensatz zu einer bürokratisch zentral planenden Organisation wesentlich schneller auf turbulente Marktbewegungen reagieren können. Ein solcher Ansatz erfordert die Ausweitung der klassischen Sichten auf Prozesse, Materialfluss und Information sowie Wirtschaftlichkeit und Finanzen auf eher weiche Faktoren wie sozio-informelle Beziehungen, strategische Aspekte und die Unternehmenskultur [War95]. Als wesentlich wird vor allem hervorgehoben, dass es keinen allgemeingültigen Projektplan geben kann, der zum fraktalen Unternehmen führt. Vielmehr sind die Bereitschaft zum Wandel und die Veränderungen der Unternehmenskultur die prägenden Elemente dieses pragmatischen Ansatzes eines dynamischen Unternehmens. Das Konzept hat wichtige Impulse zu einer ganzheitlichen Sicht auf die Produktion mit der Betonung auf den permanenten Wertzuwachs der fraktalen Wertschöpfungseinheiten gegeben, die in einem Netzwerk eigener und partnerschaftlicher Potenziale zusammenarbeiten.
4.9 Agilitätsorientierter Wettbewerb In den USA ist aufbauend auf einer umfangreichen Industriestudie unter dem Begriff „Agile Manufacturing“ ein Unternehmenskonzept entwickelt worden, das die nochmals gesteigerte Reaktionsfähigkeit
(eben „Agilität“) gegenüber jedem Kundenwunsch hervorhebt [Gold91]. Dabei tritt der Entwicklungsprozess eines neuen Produktes oder einer neuen Dienstleistung gegenüber dem Fertigungsprozess in den Vordergrund, um die Zeitspanne zwischen der ersten Idee und den ersten Verkaufserlösen (Concept-to-Cash-Flow-Time) möglichst kurz zu halten [Gold96]. In einem „Wettbewerbsraum“, der die vier Dimensionen Kundenmehrwert, Kooperation, Organisation und Menschen umfasst, sollen sich die Unternehmen positionieren, um neue Kundenkreise schnell zu erschließen. Damit wird der Tatsache der ständigen und unvorhersehbaren Veränderungen Rechnung getragen, denen die Unternehmen ausgesetzt sind. Um die Unternehmen für diese Herausforderung zu rüsten, empfehlen die Autoren in diesem Wettbewerbsraum deren ganzheitliche Gestaltung in sechs Ebenen, die Bild 4.11 mit den zugehörigen Ansätzen zusammenfasst.
4
Ausgehend von den artikulierten oder vorausgesehenen Kundenwünschen ist es Aufgabe des Marketings, kombinierte Produkt-Dienstleistungsangebote mit maximalem Kundennutzen zu definieren. Dabei ist es Aufgabe der Produktion, diese in beliebigen Losgrößen zum Bedarfszeitpunkt bereitzustellen. Der ganze Entwurfsprozess ist ganzheitlich auf diese Aufgabe auszurichten, wobei Lieferantenbeziehungen und Produktionsprozesse unter Beachtung der Kundenbeziehungen zu verknüpfen sind. Nach Auslieferung sind die Produktverwendung und die Produktentsorgung im Sinne eines Life-Cyle-Service zu begleiten. Bei der Organisation geht es um neue Kombinationen von technischen Einrichtungen und hochqualifiziertem Fachwissen in einem Netzwerk, das aus internen und externen Teilnehmern unter Einschluss des Wettbewerbs besteht. Dem Management fällt dann die Aufgabe zu, von einer zentralen Befehls- und Kontrollstruktur Abschied zu nehmen und statt dessen Führung im Sinne einer vorgelebten Unternehmensstruktur zu praktizieren, die auf Vertrauen setzt, die Mitarbeiter unterstützt statt bevormundet und damit motivierend wirkt. Als ultimativer Erfolgsfaktor wird
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4 Bekannte Produktionskonzepte
Mehrwert für Kunden schaffen
Entwicklungsansatz
Marketing
Individualisierte Kombination von Produkten und Dienstleistungen mit maximiertem Kundennutzen
Produktion
Produktion von Gütern und Dienstleistungen nach Kundenanforderung in beliebigen Losgrößen
Entwurf
Ganzheitliche Methoden zur Integration der Lieferbeziehungen, Produktionsprozesse, Kundenbeziehungen, Produktverwendung und -entsorgung
Organisation
Neue produktive Möglichkeiten des Zusammenfügens von Ressourcen (Fachwissen und Anlagen) unabhängig von ihrer geographischen Ansiedlung innerhalb eines Unternehmens oder innerhalb von Gruppen miteinander kooperierender Unternehmen
Management
Verlagerung der Befehls- und Kontrollphilosophie hin zur Ebene der Führung, Motivation, Unterstützung und des Vertrauens
Mensch
Entwicklung einer erfahrenen, begabten und innovativen ganzheitlichen Mitarbeiterschaft als ultimativer Faktor zur Unterscheidung der erfolgreichen von den nicht erfolgreichen Unternehmen
Kooperieren, um Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen
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Menschen und Informationen als Hebelkraft nutzen
Agilitätsebene
Organisieren, um den Wandel zu meistern
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
10.030SW B
Bild 4.11: Merkmale agiler Unternehmen im vierdimensionalen Wettbewerb (nach Goldman u. a.) © IFA 10.030SW_B
schließlich eine innovative, begabte und erfahrene Mitarbeiterschaft angesehen, die es zu entwickeln und zu fördern gilt. Insgesamt werden von den Autoren des agilitätsorientierten Wettbewerbs keine detaillierten Vorschläge oder Rezepte zur Ausgestaltung von Prozessen oder Fabriken angeboten, sondern der Blick auf eine lebendige Kundenbeziehung gelenkt und die Bedeutung der Mitarbeiter mit ihrem Wissen, Können und ihrer Kreativität hervorgehoben. Damit begreifen agile Unternehmen den Wandel als Chance zur offensiven Nutzung neuer Geschäftsmöglichkeiten. Für die Fabrikplanung bedeutet ein solcher Ansatz die Notwendigkeit einer schnellen Veränderungsmöglichkeit von Prozessen, Produktionseinrichtungen und Abläufen.
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4.10 Kundenindividuelle Massen produktion Im Zuge der weiteren Wettbewerbsdifferenzierung sehen sich viele Unternehmen gezwungen, immer mehr Varianten zu entwickeln, welche die spezifischen Wünsche ihrer Kunden erfüllen. In den vorangegangenen Ausführungen zum agilitätsorientierten Wettbewerb klang diese Notwendigkeit bereits an und wurde auf das ganze Unternehmen bezogen. Dieser Ansatz führt jedoch zu einem immer höheren Aufwand für die Konstruktion, Produktion und Logistik, dem keine kostendeckenden Preise mehr gegenüberstehen. Einen Ausweg aus diesem auch als Komplexitäts- oder Variantenfalle bezeichneten Dilemma versucht der Ansatz der Mass Customization, im deutschen Sprachgebrauch auch als kundenindividuelle Massenproduktion bekannt.
4.10 Kundenindividuelle Massenproduktion
Ziel dieses erstmals von Davis formulierten Ansatzes ist es, die Methoden der Großserienfertigung auf die Herstellung kundenindividueller Produkte und Dienstleistungen anzuwenden [Dav87]. Nahezu 10 Jahre später erweiterte Pine von der IBM-Unternehmensberatung den Gedanken von Davis in einer Reihe von Artikeln weiter und veröffentlichte 1993 sein Buch „Mass Customization“, das als Standardwerk zu diesem Thema gelten kann [Pin93]. Er überwindet das von Porter entwickelte Wettbewerbsmodell, das von einer Aufteilung der Produktstrategien entweder nach Kostenführerschaft oder nach Differenzierung in überlegene Produktfunktionalität, Qualität und Lieferzeit ausgeht. Demgegenüber ist es das erklärte Ziel des kundenindividuellen Massenproduzenten, die klassischen Großserienhersteller durch das gezielte Besetzen von Nischenmärkten anzugreifen, die allmählich ausgeweitet werden. Als Voraussetzung gelten eine hoch flexible Produktion, die vernetzte Zusammenarbeit kleiner Produzenten und die enge informationstechnische Verknüpfung von Kunden, Lieferanten und Produzenten bei der Entwicklung neuer Produkte. Dies erfordert in den einzelnen Unternehmen flache Hierarchien mit weitgehend autonomen Teams. In Deutschland hat vor allem Piller den Begriff der kundenindividuellen Produktion bekannt gemacht [Pil06]. Gestützt auf zahlreiche Beispiele beschreibt
er Mass Customization als logische Fortentwicklung der Variantenproduktion der 1980er Jahre, Bild 4.12. Stand in der Massenfertigung der 1960er Jahre den Preisforderungen des Marktes die Leistungsanforderung nach höchster Effizienz gegenüber, erweiterten sich die Marktforderungen in den 1970er Jahren um neue Ansprüche an das Qualitätsniveau, denen die Produktion durch die Einführung eines umfassenden Qualitätskonzeptes begegnete. Mit der wachsenden Vielfalt auf der Produktseite in den 1980er Jahren wurde die Notwendigkeit einer hohen Produktionsflexibilität deutlich. Ein wichtiger Ansatz hierzu bestand in der computerintegrierten Fertigung (CIM), die infolge mangelnder Anpassung der Organisation jedoch nicht den erhofften Erfolg brachte. Erst die komplette Reorganisation aller Geschäftsprozesse und die Gliederung der Produktion in kunden- bzw. produktorientierte Segmente stellte die notwendige Flexibilität sicher. Mit der weiteren Individualisierung der Leistung entstand dann die Notwendigkeit, nicht nur den Kunden, sondern auch die Lieferanten einzubinden. Aus diesem Ansatz heraus entwickelt Piller folgende Definition: „Mass Customization ist die Produktion von Gütern und Leistungen für einen (relativ)
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1960: Masse
1970: Qualitätsbewegung
1980: Variantenmanagement
heute: Mass Customization
Bild 4.12: Entwicklungsstufen der Produktion zur Mass Customization (Piller)
Marktanforderung Individualität
Vielfalt
© IFA 10.023SW_B © Institut für Fabrikanlagen und Logistik
Qualität
Leistungsanforderung Preis
Effizienz
Qualität Flexibilität
Kundenintegration
10.023SW B
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4 Bekannte Produktionskonzepte
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großen Absatzmarkt, welche die unterschiedlichen Bedürfnisse jedes einzelnen Nachfragers dieser Produkte treffen. Die Produkte werden dabei zu Preisen angeboten, die der Zahlungsbereitschaft von Käufern vergleichbarer massenhafter Standardprodukte entsprechen“ [Pil06]. Mass Customization wird als wichtiges Instrument gesehen, um die Kundenbindung zu erhöhen. Die Umsetzung geschieht nach zwei Konzepten, die sich nach dem Zeitpunkt der Individualisierung des Produktes unterscheiden, Bild 4.13. Bei der sogenanten Soft Customization erfolgt die Anpassung durch den Kunden entweder selbstständig, im Handel oder im Rahmen einer Serviceleistung. Demgegenüber erfolgt bei der Hard Customization die Individualisierung in der Fabrik entweder durch entsprechende Fertigungsoperationen, Montage aus Modulen oder durch standardisierte Prozesse, die in Stückzahl eins umgestellt werden können. Das Bild enthält zu den
Für die Fabrikplanung bedeutet das Konzept der kundenindividuellen Massenfertigung nach dem Prinzip der Hard Customization eine Weiterentwicklung der Unternehmensorganisation in produkt- und marktspezifische Segmente. Hier arbeiten in räumlicher Nähe Konstruktion, Fertigung und Logistik unmittelbar auftragsbezogen zusammen. Verbunden damit ist ein hohes Maß an Informationsaustausch und personaler Kommunikation entlang der Wertschöpfungskette. Darüber hinaus wird die Fertigungsplanung und -steuerung anspruchsvoller und die Lieferanten müssen bereit sein, auch kleine Mengen in kurzer Zeit zu liefern. Schließlich verlangt die rasche Auslieferung des Fertigproduktes an den Kunden, der meist der Endnutzer ist, ein hohes Maß an logistischer Kompetenz.
Soft Customization
Hard Customization
Kein Eingriff in die Fertigung, Vollzug der Individualisierung außerhalb des Unternehmens
Varietät basiert auf Aktivitäten der Fertigung Änderung der internen Funktionen notwendig
Selbstindividualisierung Konstruktion und Fertigung standardisierter Produkte mit eingebauter Flexibilität, die vom Kunden selbst angepasst werden Bosch: selbstgestaltbares Armaturenbrett im KFZ Lutron: Programmierung von Lichtsteuerungen
Individuelle End- / Vorproduktion mit standardisierter Restfertigung Entweder die ersten (Materialverarbeitung) oder die letzten Wertschöpfungsschritte (Montage, Veredelung) werden kundenindividuell durchgeführt, alle anderen standardisiert Mattel: anpassbare Barbiepuppe Dolzer: maßgeschneiderte Herrenanzüge
Individuelle Endfertigung im Handel / Vertrieb Auslieferung eines einheitlichen Rohprodukts, das im Handel nach Kundenwunsch vollendet wird.
Modularisierung nach Baukastenprinzip Erstellung kundenspezifischer Produkte aus standardisierten kompatiblen Bauteilen
Paris Miki: individuelles Brillendesign Smart: Anpassung von Interieur und Design des Kleinwagens beim Händler
Dell: modulare Computer Krone: anpassbare Nutzfahrzeuge und Aufleger
Serviceindividualisierung Ergänzung von Standardprodukten um individuelle sekundäre Dienstleistungen
Massenhafte Fertigung von Unikaten Individuelle Leistungserstellung über ganze Wertkette durch standardisierte Prozesse
ChemStation: Bestandsmanagement für Reinigungsstellen Zoots: Profilverwaltung bei chemischer Reinigung
Küche-Direkt: Einbauküchen My Twinn: Puppen nach Vorbild NBIC: Fahrräder mit individuellen Rahmen
Bild 4.13: Konzeption der Mass Customization (Piller)
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik © IFA 14.784_B
100
einzelnen Fällen Beispiele, die den jeweiligen Anwendungsschwerpunkt verdeutlichen.
14.784 B
Umfang kundenindividueller Wertschöpfungsstufen
4.11 Das Produktionsstufenkonzept
konventionelle Produktstruktur
Produktstruktur bei verlagerter Variantenbildung
Anzahl Varianten
Anzahl Varianten
Fertigungsschritte
• Varianz in der Fertigung vermeiden • wenige, standardisierte Baugruppen
äußere Varianz
• Verlagerung der Variantenbildung in die Endmontage
Fertigungsschritte
Maßnahmen:
Reduktion der inneren Varianz
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äußere Varianz
Bild 4.14: Verringerung der Komplexität durch späte Variantenbildung © IFA 12.082SW_B
4.11 Das Produktionsstufen konzept 12.082SW B © Institut für Fabrikanlagen und Logistik Das Konzept der kundenindividuellen Produktion fördert geradezu die Entstehung immer neuer Produktvarianten. Bisher zielt der stark marketinggeprägte Ansatz vorwiegend auf Konsumgüter ab, wie z.B. Schuhe, Bekleidung, Möbel usw., jedoch ist seine Ausbreitung auf Investitionsgüter nicht aufzuhalten. Der generelle Ansatz besteht darin, die kundenindividuellen Varianten durch die Kombination von – auf Lager gefertigten – kundenneutralen Baugruppen und kundenspezifischen Teilen zu erzeugen, wobei Letztere erst nach Auftragseingang fertig gestellt werden. Dadurch kann die Anzahl der Varianten in den frühen Fertigungsstufen reduziert werden. Bild 4.14 verdeutlicht den damit erzielbaren Effekt [Wie04, S.13]. Die für den Kunden wahrgenommene äußere Varianz hat bei früher Variantenbildung hohe Bestände an Zwischenfabrikaten, lange Durchlaufzeiten und einen großen Steuerungsaufwand zur Folge. Stellt man nun die klassische Trennung von Fertigung und Montage infrage und gelingt es damit, die variantenbildenden Fertigungsprozesse in die Montage zu ver-
lagern, wird dadurch die innere Varianz und damit die Komplexität der gesamten Produktion verringert. Möglichst wenige standardisierte Baugruppen bilden dabei die kundenneutrale Produktbasis. Die Produktion wird also nicht mehr in Fertigung und Montage gegliedert, sondern in eine so genannte Produktionsvorstufe mit variantenneutralen sowie eine sogenannte Produktionsendstufe mit variantenbildenden Prozessen. Dies wird dann als Produktionsstufenkonzept bezeichnet. Es wurde im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundvorhabens mit Industriepartnern entwickelt und praktisch erprobt [Wie04]. Bild 4.15 zeigt das Prinzip. Die klassische Teilefertigung weicht der Produktionsvorstufe, in der sowohl variantenneutrale Teile als auch variantenneutrale Baugruppen entstehen. In der durch einen Puffer entkoppelten Produktionsendstufe erfolgt dann die Fertigstellung des kundenspezifischen Produktes, wozu die Fertigbearbeitung variantenneutraler Teile (sogenannte Restfertigung), die Fertigmontage variantenneutraler Baugruppen (sogenannte Baugruppenrestmontage), die Endmontage des kompletten Produktes und die Funktionsendprüfung des Produktes gehören. In der
101
4 Bekannte Produktionskonzepte
Fertigung
Montage
traditionelle Produktionsstruktur
Teilelager
Vorstufe: Integration variantenneutraler Montageprozesse in die Vorstufe Endstufe: Integration variantenbildender Fertigungsprozesse in die Endstufe
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Produktionsendstufe
Produktionsvorstufe Produktionsstufenkonzept
Puffer
Teil oder Baugruppe variantenneutral
© Institut Fabrikanlagen und Logistik Bildfür 4.15: Struktur und Elemente
Teil oder Baugruppe variantenspezifisch
14.785 B des Produktionsstufenkonzeptes
© IFA 14.785_B
idealtypischen Produktionsendstufe erfolgen die variantenbildenden Restfertigungsprozesse unmittelbar, bevor das Variantenteil verbaut wird [Roe02]. Nach den bisherigen praktischen Erfahrungen haben sich folgende wesentlichen Einsatzvoraussetzungen ergeben:
• Das •
• •
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Produkt sollte über möglichst eindeutig definierbare technische Variantenmerkmale verfügen. Es muss fertigungstechnisch möglich sein, diese Variantenmerkmale im Rahmen der Endmontage zu erzeugen und in den Montageablauf zu integrieren. Das Produkt sollte ein Endprodukt sein oder zumindest Modulcharakter besitzen, um einen starken Kundenbezug zu gewährleisten. Die Produktionsendstufe muss hinsichtlich der eingesetzten Montage-, Fertigungs- und Prüfungsbetriebsmittel einen großen Mengenbereich
• •
ohne variantenbedingte Rüstzeit wirtschaftlich abdecken. Die Teilebereitstellung erfolgt in der Produktionsvorstufe verbrauchsgesteuert und in der Produktionsendstufe bedarfsgesteuert. Die Mitarbeiterqualifikation in der Montage muss sich von Tätigkeiten mit starkem Wiederholcharakter hin zu einer produktorientierten Kompetenz entwickeln, die mit dem Begriff Montagefacharbeiter beschrieben werden kann.
Das skizzierte Konzept konnte in einigen in [Wie04] dokumentierten Fällen praktisch erprobt werden. Es hat sich gezeigt, dass die Produktkonstruktion in Bezug auf die klare Trennung von variantenneutralen und variantenspezifischen Merkmalen systematisch anzupassen ist. Wichtige Ansätze hierzu liefert u. a. Schuh [Schu89] und [Schu05]. Weiterhin sind modulare Betriebsmittel für weitere Fertigungsverfahren erforderlich, die eine lokale Bearbeitung von be-
4.12 Forschungsansätze
reits vorgefertigten variantenneutralen Teilen ohne Qualitätsminderung und deren Integration in den Montageprozess hinsichtlich Taktzeit und Umgebungsbedingungen erlauben. Schließlich muss sich auch die Beschaffungs- und Bereitstell-Logistik sowie die Qualitätssicherung den neuen Anforderungen stellen. Insgesamt ist das Produktionsstufenkonzept eine technologisch anspruchsvolle Aufgabe, kann jedoch einen neuen Wettbewerbsvorteil im globalen Wettbewerb bedeuten. Das Konzept konnte in einem weiteren Verbundprojekt auf eine global verteilte Produktion erweitert werden. Unter dem Begriff Globales Varianten Produktionssystem GVP erfolgt nunmehr die Aufteilung des Produktes in die Produktionsstufen Beschaffung, kompetenzgetriebene Eigenfertigung und marktnahe Komplettierung [Nyh08]. Da diese Aufteilung den standortspezifischen Umfang einer Fabrik in einem Produktionsnetz bestimmt, wird der Ansatz ausführlich in Abschnitt 14.6 erläutert. Für die Fabrikplanung ergeben sich aus dem Produktionsstufenkonzept spezielle Anforderungen hinsichtlich wandlungsfähiger und rekonfigurierbarer Produktionssysteme auf der Bereichsebene.
4.12 Forschungsansätze • IMS Das bedeutendste Forschungsprogramm zur Entwicklung zukünftiger Produktionssysteme ist das von Japan initiierte internationale Rahmenprojekt „Intelligent Manufacturing System“ (IMS), das zunächst die folgenden von Australien, Kanada, der Europäischen Union, der Europäischen Freihandelsorganisation EFTA, Japan und den USA getragenen fünf Themen bearbeit hat [www.ims.org].
• Lebenszyklus
zukünftiger Produkte und Produktionseinrichtungen mit generellen Modellen, Kommunikationsnetzen, Nachhaltigkeit, Wiederaufarbeitung und neuen Wirtschaftlichkeitsrechnungen.
• Prozesse unter den Gesichtspunkten Nachhaltig• •
•
keit, technologische Innovationen, flexible und autonome Produktionsmodule. Strategie-, Planungs- und Entwicklungswerkzeuge zur Unterstützung der Reorganisation und Strategieentwicklung. Mensch, Organisation und soziale Aspekte zur Verbesserung des Ansehens der Produktion, Arbeitskräfteentwicklung, Betrieb autonomer verlagerter Fabriken, verbessertes Wissensmanagement und angemessene Leistungsindikationen. Virtuelle, vernetzte Unternehmen unter Berücksichtigung der Information und Logistik in Lieferketten, Unterstützung von Entwicklungskooperationen und Concurrent Engineering-Prozessen sowie die Zuordnung von Kosten, Verantwortung und Ergebnissen zu den Elementen der vernetzten Produktion.
4
Nach zehnjähriger Arbeit wurde das Projekt abgeschlossen und mit den Ländern Japan, Republic of Korea, Schweiz, den USA sowie der EU im Jahre 2005 neu gestartet. Es dient heute primär als Rahmen für Industrie und Forschungseinrichtungen, um weltweit Partner für Projekte zur Bewältigung der Produktions- und Organisationsprobleme des 21. Jahrhunderts zu finden. Von den abgeschlossenen Projekten soll das Holonic Manufacturing System (HMS) kurz vorgestellt werden, da es wichtige Anregungen für die wandlungsfähige Fabrik enthält. Der zentrale Begriff des Holonic Manufacturing ist das Holon, ein von Arthur Koestler 1967 in seinem Buch „The Ghost in the Machine“ [Koe67] geprägtes Kunstwort. Er beschreibt damit eine autonome Struktureinheit in einem sozialen oder biologischen System, die einerseits aus kleineren Einheiten besteht und gleichzeitig Bestandteil einer größeren Einheit ist. Das Wort ist zusammengesetzt aus dem griechischen Wort holos für das Ganze und dem Suffix on, das so viel wie Bestandteil bedeutet. Ein Holon ist demnach ein Ganzes und gleichzeitig Teil eines größeren Ganzen. Im Rahmen des erwähnten IMS-Programms wurde der Begriff auf die Produktionswelt übertragen
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4 Bekannte Produktionskonzepte
4
und ein Holon als autonome und kooperierende Gestaltungseinheit eines Produktionssystems zur Umwandlung, zum Transport, zur Lagerung und/ oder Validierung von Informationen und physischen Objekten definiert [Sei94]. Ähnlich wie ein Fraktal besteht ein Holon aus Untereinheiten, die zueinander in einer starken Beziehung stehen. Das Holon kooperiert als Ganzes wiederum mit anderen Holons in einer als Holarchy bezeichneten Systemordnung. Es ist einerseits autonom und anderseits kooperationsfähig. Bild 4.16 deutet diese Zusammenhänge in einem Schema an [Thar96]. Wendet man dieses Schema auf ein Holonisches Produktionssystem an, integriert dieses alle notwendigen Aktivitäten vom Auftragseingang über die Konstruktion und Fertigung bis hin zum Marketing, um das agile Produktionsunternehmen zu realisieren [Sei94]. Die Holarchy definiert dabei die Regeln der Zusammenarbeit und die Grenzen der Autonomie der Holone. Das einzelne Holon kann hier ein physisches Objekt wie z. B. eine Werkzeugmaschine oder Vorrichtung sein, oder eine Information darstellen, wie
z. B. eine Zeichnung oder einen Arbeitsplan. Menschen sind, soweit sinnvoll, Bestandteile von Holons, werden in ihrer Rolle und Bedeutung für den Unternehmenserfolg aber nicht so stark betont wie bei dem Ansatz des agilitätsorientierten Wettbewerbs. Zur Umsetzung dieser noch sehr konzeptionellen Ideen wurde das sogen. HMS-Konsortium gegründet. Im Rahmen dieses Konsortiums werden u. a. rekonfigurierbare Maschinen entwickelt, die sich bei Produkt- und Mengenänderungen autonom in kurzer Zeit anpassen können und auf Störungen mit einem automatischen Wiederanlauf oder Notlaufbetrieb reagieren. Aber auch neue Steuerungsstrategien und intelligente Spannvorrichtungskonzepte gehören zu den Projekten. Eine Übersicht über einige Teilaspekte und die Abgrenzung zu Fraktalen und den im Folgenden kurz erläuterten Bionischen Systemen finden sich in [Deen08]. Insgesamt zielt das Holonische Produktionssystem auf eine hohe Reaktionsfähigkeit bei Veränderungen des Marktes und der Umwelt. Es soll sich daher dynamisch anpassen und seine Pläne und Strategie ständig kontrollieren.
Holon Holarchy
Holon
Holon
Holarchy Autonomes Holon
kooperativ
Autonomes Holon
kooperativ
Bild 4.16: Holonisches System mit kooperierenden autonomen Holons © IFA G9507SW_B © Institut für Fabrikanlagen und Logistik
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G9507SW B
4.12 Forschungsansätze
Tod
Entsorgung Abnutzung
Altern Erholung
wissensbasierte Information
Reparatur
Verletzung
Fehler
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Nutzung
Aktivität
Produkt
Individuum genetische Information
Gebrauchsinformation
Zwischenprodukt
Organe
Herstellungsinformation
Rohstoff
Zelle
Organismus
künstliches Produkt
Bild 4.17: Lebenszyklen von Organismen und künstlichen Produkten © Institut für Fabrikanlagen und Logistik
© IFA G9506SW_B
G9506SW B
• Bionic Manufacturing Ein bemerkenswerter Ansatz ist das aus japanischen Forschungsmitteln gespeiste Projekt Bionic oder Biological Manufacturing. Der von Okino [Oki89] und Ueda propagierte und laufend weiterentwickelte Ansatz beruht auf einer Analogiebetrachtung des Lebenszyklus lebender Organismen und industriell erzeugter Produkte, Bild 4.17 [Ued95]. Ein Organismus baut aufgrund genetischer Informationen, die in der DNA (Desoxyribonucleinsäure) gespeichert sind, aus Zellen zunächst Organe und daraus das lebensfähige Individuum auf. Es steuert sich aufgrund der vererbten Informationen und der durch Erfahrung mit der Umwelt erlernten Informationen, die als BN (Brains and Neurons) bezeichnet werden. Das künstliche Produkt entsteht analog dazu in einem Produktionsprozess aus Rohstoffen und Zwischenprodukten, die als Teile, Unterbaugruppen und Baugruppen auftreten. Die notwendigen Herstellungsinformationen bestehen aus Zeichnungen, Stücklisten, Arbeitsplänen und dem Wissen der
Mitarbeiter. Im Laufe der Produktnutzung entstehen Gebrauchsinformationen wie Betriebsstunden, Ausfälle und Reparaturvorgänge. In der heute üblichen Produktion sind die Herstell- und Gebrauchsinformationen außerhalb des Produktes gespeichert. Der Ansatz des Bionic Manufacturing möchte nun Erkenntnisse aus der Biologie über das Entstehen, Wachsen und Vergehen biologischer Lebensformen auf die Herstellung, die Nutzung, Reparatur und Entsorgung industrieller Produkte übertragen. Demnach besteht ein Bionic Manufacturing System (BMS) aus autonomen Einheiten, die wie organische Zellen mit ihrer Umwelt kommunizieren. Die Koordination zwischen den Zellen erfolgt mit Hilfe von Enzymen, denen in einem Produktionssystem die Produktionsplanungs- und Steuerungsfunktionen entsprechen. Wie bei der hierarchischen Gliederung eines Organismus in Zellen, Organe und Individuum, geht das BMS ebenfalls von einer hierarchischen Ordnung in autonome kleinste Einheiten aus, die sich zu Gruppen formieren und schließlich ein komplettes Produktionssystem bilden.
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4 Bekannte Produktionskonzepte
Nachhaltiges Management Wandlungsfähige Strukturen Synergetische Netzwerkbildung
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Adaptive und hohe Leistungsfähigkeit
Europäische Sozialstandards Methodologien für eine wettbewerbsfähige und nachhaltige Entwicklung
Technische Intelligenz
Europäische Umweltstandards Innovationskultur Europäische Qualitätsstandards Bild 4.18: Leitprojekt Europäisches Produktionssystem (Westkämper)
Lernende Unternehmen
© IFA 14.787_B
14.787 B Ansatz wird beim BMS Ähnlich wie im holonischen ein Kernelement mit dem Namen Modelon definiert [Oki89]. Ein Modelon besteht aus einer Hierarchie von Kinder-Modelons, Operatoren (enzymischen Aktionen) und einer Umgebung zur Speicherung von Informationen, die zwischen den Modelons ausgetauscht werden. Die gesamte Struktur soll einerseits integriert und abgestimmt agieren, anderseits aus in sich geschlossenen Einheiten mit lokaler Entscheidungsfreiheit bestehen. Als Fernziel des BMS wird angestrebt, dass Werkstücke und Produkte die notwendigen Informationen zu ihrer Herstellung und die Kenntnis der benötigten Werkzeuge und Maschinen in sich tragen. Soll das Produkt reproduziert werden, überträgt es diese Informationen an die Produktionseinheiten und Elemente und löst dort die eigentlichen Herstellprozesse aus. Dieser Ansatz wird mit dem Konzept der gentelligenten Bauteile an der Leibniz-Universität Hannover im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 653 „Gentelligente Bauteile im Lebenszyklus“ konkretisiert [http://www.sfb653.uni-hannover.de]. Das Kunstwort „gentelligent“ bringt den genetischen und intelligenten Charakter der innovativen Bauteile zum Ausdruck. Ein gentelligentes Bauteil verfügt im Inneren über notwendige Informationen zu seiner eindeutigen Identifizierung, Reproduktion sowie zu
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106
seinem Entstehungsprozess. Damit wird es möglich, Informationen an nachfolgende Bauteilgenerationen und im Sinne des lebenslangen Lernens während der Nutzungsphase zu vererben. So entstehen neue Nutzungsmöglichkeiten in den Bereichen Produktionsund Fertigungsplanung, Fertigung, Instandhaltung, Reparatur bis hin zum Recycling und dem Plagiatschutz. Eine Anwendung der Grundidee findet sich in [Den07]. Für die Fabrikgestaltung ergeben sich aus diesen Forschungen noch keine unmittelbaren Konsequenzen. Jedoch ist der generelle Ansatz erkennbar, auf Veränderungen rasch und flexibel reagieren zu können. Dies wird durch verteilte, autonome und kooperierende Strukturen mit dezentraler Steuerung, Flexibilität und Lernfähigkeit sowie der Fähigkeit zur Evolution und Reproduktion erreicht. Dies wird sich langfristig auf die Produktionslogistik im Sinne einer Selbststeuerung der Fertigungsobjekte auswirken.
• Manufuture Mittlerweile hat auch die EU das Thema Produktion im Rahmen des Rahmenprogramms „Manufuture“ aufgegriffen und strebt ein Europäisches Produktionssystem an, das sämtliche Komponenten für eine wettbewerbsfähige und nachhaltige Entwicklung umfasst [http://www.manufuture.de] [Jov09].
4.14 Literatur
Bild 4.18 zeigt die wesentlichen Komponenten, die im Rahmen von Ausschreibungen entwickelt werden sollen [Wes07]. Während die auf der rechten Bildseite genannten Ziele die Randbedingungen der Produktion wie Unternehmenskultur, Qualität, Umwelt und Sozialstandards betonen, zielen die links angedeuteten Ziele auf die technische Ausprägung der Produktionssysteme hinsichtlich ihrer Wandlungsfähigkeit in einer vernetzten Umgebung sowie eine an die wechselnden Bedingungen der Produktion angepasste Fähigkeit zu einer Hochleistung im technischen und logistischen Sinne. Ergänzt werden diese Felder durch ein nachhaltiges wirtschaftliches, ökologisches und soziales Management sowie durch den Ansatz der ständig lernenden Organisation.
4.13 Zwischenfazit
•
•
Produkt- und Prozessgrößen der Produktionsmodule sowie Unterstützung der Selbststeuerung Verlagerung der Mitarbeitertätigkeiten von der „optimalen“ Ausführung vorgeplanter Produktionsabläufe hin zu gestaltenden und überwachenden Aufgaben mit eindeutiger Ergebnisverantwortung für die vom Kunden verlangte Menge, Qualität und Lieferzeit definierter Produkte Beachtung einer nachhaltigen Entwicklung in Bezug auf Wirtschaftlichkeit, Umwelt und soziale Standards
Als zentrale Schlussfolgerung ergibt sich die nachdrückliche Forderung nach wandlungsfähigen Fabriken, die sich je nach Veränderungsimpuls auf einer oder mehreren Ebenen an neue Forderungen anpassen können. Dieser Begriff ist von ähnlichen Begriffen wie Umrüstbarkeit, Flexibilität, Rekonfigurierbarkeit, Transformierbarkeit und Agilität abzugrenzen, um ihn bewertbar zu machen. Diesem Anliegen widmet sich das folgende Kapitel.
Zusammenfassend lassen sich alle neueren Produktionskonzepte durch folgende Eigenschaften kennzeichnen:
4.14 Literatur
• Einsatz modularer Einheiten für die Bearbeitung,
[Arn75]
•
•
• •
Montage, Lagerung und den Transport mit „lokaler Intelligenz“ in Form von integrierter Sensorik, Aktorik, Informationsverarbeitung und -speicherung Rasche Anpassung der Produktionssysteme bei Veränderung der Produkte, ihrer Varianten und Mengen durch Rekonfigurierbarkeit, Skalierbarkeit, Mobilität und standardisierte Schnittstellen Einfache Konfiguration dieser Einheiten zu Prozessketten, mit denen einbaufertige bzw. verkaufsfähige Teile, Baugruppen und Produkte mit hoher Qualität in kleinsten Stückzahlen im Kundenauftrag erzeugt werden können Einfache Vernetzungsfähigkeit der Produktionseinheiten in Produktionsverbünden Dezentralisierung der Planung, Steuerung und Überwachung der technischen und logistischen
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Kapitel 5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
5
5.1
Flexibilität
115
5.2
Rekonfigurierbarkeit
120
5.3
Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbefähiger
5.6
Klassen der Veränderungsfähigkeit der Produktionsleistung 131
5.7
Bewertung der Veränderungsfähigkeit
135
Regelkreis der Wandlungsfähigkeit
141
Leitbild der wandlungsfähigen Fabrik
143
Literatur
145
121 5.8
5.4
Gestaltungsfelder der Veränderungsfähigkeit
127 5.9
5.5
Morphologie der Veränderungsfähigkeit
128 5.10
112
Bild 5.1:
Charakterisierung von Flexibilitätstypen der Produktion (nach Rakesh Narain u. a.)
116
Bild 5.2:
Flexibilitätsbereiche und Flexibilitätsarten der realen Flexibilität
117
Bild 5.3:
Gliederung der Produktionsflexibilität
118
Bild 5.4:
Flexibilitätsarten in Montagesystemen (Eversheim)
119
Bild 5.5:
Flexibilitätsansätze in der Fabrikplanung
120
Bild 5.6:
Gegenüberstellung Flexibilität und Wandlungsfähigkeit (Zäh, Reinhart)
121
Bild 5.7:
Wandlungsfähigkeit von Unternehmensstrukturen (Westkämper)
122
Bild 5.8:
Eigenschaften des Systems Fabrik (Hernández)
123
Bild 5.9:
Veränderungstypen der Fabrik aus systemtheoretischer Sicht (Hernández)
124
Bild 5.10: Ableitung der Wandlungsfähigkeit aus Systemeigenschaften
125
Bild 5.11: Ableitung der Wandlungsbefähiger einer Fabrik
125
Bild 5.12: Definition der Wandlungsbefähiger einer Fabrik
126
Bild 5.13: Gestaltungsfelder der Veränderungsfähigkeit von Markt- und Produktionsleistung.
127
Bild 5.14: Morphologie der Wandlungsfähigkeit von Produktionsunternehmen
128
Bild 5.15: Veränderungstreiber und -fokus aus Markt- und Produktionssicht
129
Bild 5.16: Korrespondierende Ebenen von Produktion, Veränderungsfähigkeit und Produkten
131
Bild 5.17: Charakterisierung von Produktionsunternehmen aus Sicht der Veränderungs- und Vernetzungsfähigkeit
133
Bild 5.18: Gliederung der Fabrikobjekte
134
5
113
5
Bild 5.19 Zuordnung der Fabrikobjekte zu den Fabrikebenen und ihre jeweilige Bedeutung
135
Bild 5.20: Veranschaulichung der Wandlungspotenzialarten
136
Bild 5.21: Beispiel Wandlungsarten und -merkmale für ein Fabrikobjekt (Heger)
137
Bild 5.22: Wandlungsorientierte Bewertung von Fabrikobjekten (nach Heger)
138
Bild 5.23: Ermittlung des Ist- und Soll-Wandlungspotenzials für das Bewertungsobjekt „Anlagenverteilung“
139
Bild 5.24: Vergleich der Soll- und Ist-Wandlungsfähigkeit (Beispiel)
140
Bild 5.25: Einordnung der wirtschaftlichen Wandlungsfähigkeit
141
Bild 5.27: Bausteine und Merkmale der Wandlungsfähigkeit aus fabrikplanerischer Sicht 142
114
Bild 5.26: Regelkreis der Veränderungsfähigkeit
142
Bild 5.28: Erfolgsfaktoren des Wandels
143
Bild 5.29: Vision der wandlungsfähigen Fabrik
144
5.1
Flexibilität
Die Notwendigkeit der situationsgerechten Anpassung eines Produktionsunternehmens an die vielfältigen externen und internen Herausforderungen ist aus den bisherigen Ausführungen hinreichend deutlich geworden. Insgesamt haben sich das erforderliche Ausmaß und die Geschwindigkeit, mit der die Veränderungen umzusetzen sind, infolge des globalen Güter- und Dienstleistungsmarktes seit den 1990er Jahren deutlich erhöht. Die Anpassung betrifft zum einen die Marktleistung und zum anderen die Geschäftsprozesse, wie sie in Abschnitt 2.3 bzw. 2.4 als strategische Basis der Fabrik vorgestellt wurden. Die Fähigkeit, diese Anpassung vornehmen zu können, soll zunächst ganz allgemein als Veränderungsfähigkeit bezeichnet werden. In der Literatur und Praxis finden sich hierzu unzählige begriffliche Ausprägungen. Die folgenden Ausführungen können daher nur eine begrenzte Auswahl vorstellen, die im Wesentlichen durch ihren Bezug zur Produktion geprägt ist. Der am häufigsten diskutierte Begriff ist Flexibilität der Produktion. Aus umfangreichen Literaturstudien, u. a. von de Toni und Tonchia [Ton98], die auf über 120 Veröffentlichungen zu diesem Thema basiert, wird deutlich, dass zunächst zwischen einer statischen und dynamischen Flexibilität zu unterscheiden ist. Die statische Flexibilität beschreibt die Fähigkeit, in einer definierten Spannweite von Produkten, Prozessen und deren Mengen im Hinblick auf Qualität, Kosten und Lieferzeit stabil zu operieren. Die dynamische Flexibilität beschreibt demgegenüber die Fähigkeit, in kurzer Zeit und ohne wesentliche Kosten das Produktionssystem hinsichtlich Kapazität, Struktur und Abläufen zu verändern. Die Flexibilität kann sich dabei zum einen auf die gesamte Wertschöpfungskette vom Lieferanten bis zum Kunden beziehen (horizontale Klassifizierung), zum anderen kann sie unterschiedliche Ebenen der Produktion vom einzelnen Arbeitsplatz über den Bereich und den Standort bis hin zu einem Produktionsnetzwerk betreffen (vertikale Klassifizierung). Ferner ist der zeitliche Aspekt der Flexibilität zu betrachten, der
auch als Reaktionsgeschwindigkeit zu deuten ist. Zu unterscheiden sind hier eine kurz-, mittel- und langfristige Flexibilität, auch als operative, taktische und strategische Flexibilität bezeichnet. Schließlich ist von Bedeutung, auf welches Objekt sich die Flexibilität der Produktionsleistung bezieht. Damit wird einerseits das Produktspektrum mit seinem Volumen und Mix angesprochen, andererseits die in ihnen enthaltenen Teile mit ihren unterschiedlichen Ausgangsmaterialien, Fertigungsverfahren und Arbeitsfolgen. Als problematisch erweist sich die Messung der Flexibilität und der damit einhergehenden Kosten. Hier liegen noch keine allgemein anerkannten Verfahren und Methoden vor. Als wichtigste Möglichkeiten gelten nach De Toni und Tonchia direkte, indirekte und synthetisch verdichtete Messgrößen. Bei Ersteren wird das Flexibilitätsverhalten des betrachteten Systems in verschiedenen Situationen anhand möglicher Optionen oder Maßnahmen untersucht, während bei den indirekten Messgrößen die Charakteristik der Flexibilität (technisch, organisatorisch) oder die Kosten und/oder der Aufwand, der mit der Flexibilität verbunden ist, ermittelt wird. Mit synthetischen Messgrößen wird schließlich versucht, die (interne) Systemflexibilität in ein Verhältnis zum angestrebten (externen) Ziel zu setzen und daraus eine Art Erfüllungsgrad zu berechnen. Letzten Endes entzieht sich die Flexibilität einer exakten Messung und ist eher mit der Fähigkeit einer Person oder einer Organisation zu vergleichen, auf Störungen aus der Umwelt in einer angemessenen Zeit und mit einem angemessenen Aufwand zu reagieren, ohne sich selbst zu gefährden. Flexibilität wird aber auch immer stärker als strategischer Ansatz in einem zunehmend unsicheren Umfeld gesehen und weiter ausdifferenziert. Rakesh Narain, R.C. Yadav et al. weisen in einer umfangreichen und sorgfältigen Literaturstudie mit 70 Quellen auf fehlende Leitlinien zur Bestimmung der notwendigen Flexibilität einer Organisation hin [Rak00]. Die Autoren empfehlen eine Unterscheidung in die drei Flexibilitätstypen notwendige, ausreichende und kompetitive Flexibilität, denen sie bestimmte Problemklassen und Lösungsansätze zuordnen, Bild 5.1.
5
115
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
Merkmal Flexibilitätstyp Fokus
Problemklasse
5
Flexibilitätselemente
Ausprägung notwendig operativ kurzfristig A unvorhersehbare / sporadische Probleme
ausreichend
kompetitiv
taktisch mittelfristig
strategisch langfristig
B Produktqualität, -kosten und -zeit
C Produkt- und Umweltveränderungen
• Maschine • Produkt • Arbeitskräfte • Materialwirtschaft • Operationsfolge • Volumen
Prozess Operationen Programm Material
• Produktion • Expansion • Markt
• Universalmaschinen • Layout • Modulares PPS-System • Universalvorrichtungen • NC-Steuerung
• Maschinenflexibilität • Universalbearbeitungszentren • Werkzeug- u. Vorrichtungshandhabung • Materialbereitstellung • mehrfach qualifizierte Mitarbeiter • fertigungsgerechte Teilkonstruktion
• umrüstbare Maschinen • neue Fertigungsverfahren • alternative Arbeitsfolgen • flexible Materialhandhabungssysteme • modulare, flexible Maschinenzellen • flexibles Layout • Fabrik- Informationsu. Kontrollsystem
Lösungsansätze
Bild 5.1: Charakterisierung von Flexibilitätstypen der Produktion (nach Rakesh u. a.) © IFA 9897SW_B
Die notwendige Flexibilität ist erforderlich, um auf kurzfristige, operative Probleme reagieren zu können, die sporadisch und unvorhersehbar in Form von Produktänderungen, Maschinenstörungen, Personalausfall, Lieferproblemen und Bedarfsschwankungen auftreten. Sie betreffen die unmittelbar an der Auftragsabwicklung beteiligten technischen, logistischen und personalbezogenen Ressourcen. Die Lösungsansätze zielen auf deren ausreichende Elastizität und Umrüstbarkeit ab. Mit der mittelfristig taktisch angelegten Flexibilität – von den Autoren als ausreichende Flexibilität bezeichnet – wird eine für das gegenwärtige Geschäftsfeld erforderliche Prozessfähigkeit und Prozesssicherheit hinsichtlich Produktqualität, Lieferzeit und Liefertreue sowie der Herstellkosten gesichert. Hierzu müssen die Fertigungsprozesse die Bearbeitung unterschiedlicher Teile mit unterschiedlichen Materialien ohne größeren Aufwand erlauben. Dies erfordert leicht umrüstbare Maschinen und Messwerkzeuge sowie eine flexible Handhabung und
116
Teilebereitstellung und entsprechend qualifizierte Mitarbeiter. Schließlich zielt die strategisch angelegte langfristig wirkende kompetitive Flexibilität auf die Beherrschung von Veränderungen der Produkte sowie des Käufer- und Wettbewerbsverhaltens. Hier wird die gesamte Produktion betrachtet, wobei die angeführten Lösungsansätze auf der Ebene der Maschinen und ihren Handhabungseinrichtungen sowie des Layouts und Steuerungssystems angesiedelt sind. Konkrete Lösungsvorschläge werden dem Charakter der Veröffentlichungen gemäß für die drei Flexibilitätstypen nicht gemacht, auch fehlt der Bezug zur Logistik und zu den Gebäuden und ihren Einrichtungen sowie die Einbeziehung des Produktionsstandortes und seiner Erschließung. Jedoch ist mit dieser Gliederung eine wertvolle Basis zur systematischen Behandlung der Flexibilitätsgestaltung verfügbar. Im deutschsprachigen Schrifttum hat sich u. a. Kaluza auf Basis umfangreicher eigener Arbeiten und unter Auswertung zahlreicher Literaturstellen intensiv
5.1 Flexibilität
mit dem Begriff der Flexibilität auseinandergesetzt [Kal05]. Er definiert einen breiten Begriff der Flexibilität, der die wesentlichen betriebswirtschaftlichen Aspekte umfassen soll: „Flexibilität ist die Eigenschaft eines Systems, proaktive oder reaktive sowie zielgerichtete Änderungen der Systemkonfiguration zu ermöglichen, um die Anforderungen von sich ändernden Umweltbedingungen zu erfüllen“ ([Kal05], S. 9). Hinsichtlich der hier besonders interessierenden produktionswirtschaftlichen Flexibilität unterscheidet Kaluza zwischen einer realen und dispositiven Flexibilität [Kal95]. Die reale Flexibilität beschreibt die Anpassungsfähigkeit der menschlichen Arbeitsleistung, Betriebsmittel und Werkstoffe, wobei hier die ersten beiden Elementarfaktoren interessieren. Deren Flexibilität wird in qualitativer, quantitativer und struktureller Hinsicht unterschieden. Bild 5.2 zeigt die daraus entwickelte Systematik der Flexibilitätsarten, denen ausgewählte Instrumente oder Maßnahmen der Flexibilitätspolitik zugeordnet sind [Kal89].
Flexibilitätsbereich
Qualitative Flexibilität
Reale Flexibilität
Quantitative Flexibilität
Strukturelle Flexibilität
Während die qualitative Flexibilität die grundsätzliche Fähigkeit der personellen bzw. technologischen Ressourcen charakterisiert, unterschiedliche Aufgaben zu erledigen, beschreibt die quantitative Flexibilität die mengenmäßige, zeitliche und intensitätsmäßige Bandbreite des jeweiligen Leistungsfaktors. Die strukturelle Flexibilität hängt personalseitig davon ab, wie weit es gelingt, durch Maßnahmen der Arbeitsfeldvergrößerung die Trennung zwischen planenden, ausführenden und kontrollierenden Tätigkeiten aufzuheben. Die strukturelle Flexibilität wird demgegenüber produktionsseitig durch die Art des Layouts und der Steuerung bestimmt und wird mit den Begriffen Durchlauffreizügigkeit, Fertigungsmittelredundanz und Speicherfähigkeit beschrieben. Neben diese auch als potenzielle Flexibilität interpretierbare reale Flexibilität stellt Kaluza die bereits erwähnte dispositive Flexibilität, die er nach der Flexibilität der Produktionsplanung und der Flexibilität der Produktionssteuerung unterscheidet. Unterstützende Maßnahmen der Flexibilitätspolitik sind für die erstgenannte Flexibilitätsart Maßnahmen der
Flexibilitätsart
Personelle Flexibilität Technologische Flexibilität
Personelle Flexibilität Technologische Flexibilität
Arbeitsstrukturbedingte Flexibilität Produktionsstrukturbedingte Flexibilität
5
Maßnahmen der Flexibilitätspolitik • Berufsausbildung • Weiterbildung • Vielseitigkeit • Rüstflexibilität • Änderung des Personalbestandes • Änderung des Personaleinsatzes • Änderung der Personaleinsatzzeiten • Änderung der Arbeitsintensität • Erweiterungsfähigkeit • Kompensationsfähigkeit • Quantitative, zeitliche und intensitätsmäßige Anpassung • Arbeitsfeldvergrößerung • Arbeitsfelderweiterung (job enlargement) • Arbeitsfeldbereicherung (job enrichement) • Aufgaben- und Arbeitsplatzwechsel (job rotation) • Schaffung von Gruppenautonomie • Durchlauffreizügigkeit • Fertigungsmittelredundanz • Speicherfähigkeit
Bild 5.2: Flexibilitätsbereiche und Flexibilitätsarten der realen Flexibilität © IFA 10.000SW_B
117
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
5
Produktgliederung und Systeme zur Produktionsplanung, während die zweite Flexibilitätsart durch Verfahren der Fertigungssteuerung und eine bessere Kommunikation unterstützt werden kann. Insgesamt spricht Kaluza mit diesen Flexibilitätsarten bereits wesentliche Elemente an, die bei einer auf Veränderungsfähigkeit zielenden Fabrikplanung unbedingt zu berücksichtigen sind. Dies sind die Arbeitsorganisation, die Produktionseinrichtungen und die logistische Planung und Steuerung der Auftragsabwicklung. Wichtige Anstöße zur Betrachtung der Flexibilität der Fertigung sind seit den 1960er Jahren den Arbeiten zur Teilefamilienfertigung und Gruppentechnologie zu verdanken. Damit sollten die Nachteile der Werkstättenorganisation bezüglich der hohen Bestände und langen Durchlaufzeiten überwunden werden. Sie haben in der Folge zu Fertigungsinseln, Segmenten und Flexiblen Fertigungssystemen bis hin zur schlanken Produktion geführt (vgl. Abschnitt 4.3 bis 4.6). Diese mussten einerseits flexibel sein, andererseits aber eine wirtschaftliche Auslastung der Maschinen erlauben. In diesem Zusammenhang wurde bereits 1981 vom Institut für Fabrikanlagen der Universität Hannover
Flexibilitätsbereich
der Versuch unternommen, die Produktionsflexibilität durch drei Unterbegriffe zu beschreiben [Wie81]. Bild 5.3 gliedert den Vorschlag nach Flexibilitätsbereich und Flexibilitätsart, ergänzt durch Beispiele. Mit der technologischen Flexibilität soll zum einen die Möglichkeit beschrieben werden, unterschiedliche Fertigungsverfahren in einer Maschine einsetzen zu können (Vielseitigkeit). Dies erlaubt es zum einen, unterschiedliche Werkstücke einer Grundform, z.B. Drehteile oder kubische Teile, möglichst in einer Aufspannung im Arbeitsraum einer Maschine komplett zu bearbeiten. Umrüstbarkeit bedeutet zum anderen, verschiedene Fertigungsaufgaben mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand durchführen zu können. Die strukturelle Flexibilität, auch Durchlauffreizügigkeit genannt, ermöglicht es demgegenüber, einen Auftrag mit unterschiedlichen Reihenfolgen von Arbeitsgängen durch ein System zu steuern. Sie wird wesentlich durch die mehr oder weniger starke Orientierung des Layouts an der Ablauffolge der Arbeitsvorgänge bestimmt. Schließlich beschreibt die kapazitive Flexibilität die quantitativen Reserven eines Produktionssystems (Erweiterungsfähigkeit), die Verschiebungsmög-
Flexibilitätsart
Beispiele Drehen Bohren Fräsen
Vielseitigkeit Technologische Flexibilität Umrüstbarkeit
Strukturelle Flexibilität
Werkzeug
Durchlauffreizügigkeit
Werkstück
ng Bindu
lge O-Fo an AV Durchlaufze it
Ablauforientierung Layout
Erweiterungsfähigkeit
Kap. Zeit
Kapazitive Flexibilität
Kompensationsfähigkeit
Prod. vol.
A
B
C
Produkte
Zeit
Speicherfähigkeit
Prod. vol.
Absatz Produktion
Zeit
Bild 5.3: Gliederung der Produktionsflexibilität © IFA 10.001SW_B
118
5.1 Flexibilität
Kennzeichen der Flexibilität
Arten der Flexibilität
Definition der Flexibilität
Umsteuer-Flexibilität
Der Montageablauf einer bzw. mehrerer verschiedener Varianten bedingt eine unterschiedliche Steuerung des Materialflusses
Zeitpunktorientierte Flexibilität Umstell-Flexibilität
Bei der Montage an einem Objekt werden in einer Station mehrere Montageaufgaben durchgeführt
Umrüst-Flexibilität
Bei der Montage von aufeinander folgenden Losen werden die Einrichtungen den geänderten Montageaufgaben angepasst
Zeitraumorientierte Flexibilität Umbau-Flexibilität
Ereignisorientierte Flexibilität
Störungs-Flexibilität
Beispiele C1 A
D
E
C2 Greifer 2
1
Vorrichtungssatz
5
2 1 3
C´
Nach Auslauf eines Produktes wird auf der umgebauten Montageanlage ein anderes Produkt montiert
Bei Funktionsstörungen im Montagesystem wird der Teiledurchfluss durch AusfallStrategien aufrechterhalten
B
A
B
C
E´ D
E
X A
B
C
D
E
F
Bild 5.4: Flexibilitätsarten in Montagesystemen (Eversheim) © IFA G1115SW_B
lichkeiten im Produktionsprogramm (Kompensationsfähigkeit) und schließlich die Möglichkeit, Unterschiede im Absatz- und Kapazitätsverlauf durch Zwischenlagerung von Halb- oder Fertigprodukten auszugleichen (Speicherfähigkeit). Diese ausschließlich auf die Teilefertigung bezogenen Definitionen stellen einen weiteren Baustein zum Begriff der wandlungsfähigen Fabrik dar. Ähnliche Überlegungen wie für die Teilefertigung wurden von Eversheim in den frühen 1980er Jahren auch für Montagesysteme entwickelt [Eve83]. Für die Auslegung der dazu notwendigen Baukastenelemente war es notwendig, die Flexibilitätsarten der Montage zu definieren, Bild 5.4. Während sich die zeitpunktorientierte Flexibilität auf den laufenden Montageprozess an einzelnen Stationen bezieht und entweder eine Umsteuerung oder Umstellung für einzelne Werkstücke ermöglicht, betrifft die zeitraumorientierte Flexibilität die Umrüs-
tung oder den Umbau des gesamten Montagesystems auf eine andere Variante bzw. ein anderes Produkt. Die Störungsflexibilität, die bei Montagesystemen wegen der kurzen Taktzeiten eine besondere Rolle spielt, ist schließlich ereignisbezogen und betrifft im Wesentlichen Ausfallstrategien beim Auftreten zeitlich nicht vorhersehbarer Funktionsstörungen. Lösungen für solche Montagesysteme erscheinen zunehmend am Markt. In kurzer Zeit können alternativ manuelle oder automatische Stationen in einem Montagesystem ausgewechselt werden, um sich unterschiedlichen Produkten oder schwankenden Stückzahlen anzupassen [Lot06]. Mit dem Begriff der Flexibilität auf Fabrikebene haben sich auch schon die Klassiker der Fabrikplanung wie Kettner und Aggteleky auseinandergesetzt, Bild 5.5 [Her03]. Kettner fordert in der Planungsphase einer Fabrik eine möglichst weit vorausschauende Planung, die
119
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
Flexibilität durch sorgfältige, vorausschauende Planung Aspekte Flexibilität durch der Flexibilität Überdimensionierung Flexibilität im Planungsablauf
5
Arten der Flexibilität
Erweiterungsflexibilität im Layout
Kapazitätsflexibilität
a) Ansatz nach Kettner
Universalität der Flexibilität Betriebsmittel in der Strukturplanung Fehlerelastizität
Mobilität der Betriebsmittel Flexibilität in der Layoutplanung
Flexibilität der Transportund Lagersysteme Anpassungsfähigkeit der baulichen Gestaltung Leistungsfähigkeit der Ver- und Entsorgungssysteme
b) Ansatz nach Aggteleky
Bild 5.5: Flexibilitätsansätze in der Fabrikplanung © IFA 10.125_B
eine gewisse Flexibilität im Ablauf als Reaktion auf Änderungen während der Planung zulässt sowie das Vorhalten einer Reserve im Sinne einer Überdimensionierung. Die Fabrik selbst soll leicht erweiterbar sein und eine gewisse Kapazitätsflexibilität besitzen [Ket84]. Aggteleky unterscheidet bereits konkreter zwischen der Struktur- und Layoutflexibilität [Agg87]. Erstere wird durch universelle Betriebsmittel und die Unempfindlichkeit einer Produktionseinrichtung gegen abweichende Betriebsbedingungen gewährleistet, während die Layoutflexibilität bereits die wesentlichen Fabrikelemente Betriebsmittel, Lager- und Transportsysteme, die Gebäude und die technische Infrastruktur anspricht. Deutlich wird bei diesen Ansätzen, dass die Spannweite der heute üblichen Veränderungen aufgrund der damals vergleichsweise stabilen Absatzverhältnisse noch nicht berücksichtigt werden konnte und der Begriff Wandlungsfähigkeit nicht erforderlich war.
120
5.2 Rekonfigurierbarkeit Aus fertigungstechnischer Sicht sind Lösungsansätze zur technologischen Flexibilisierung von Werkzeugmaschinen und Produktionsanlagen hervorzuheben, die unter dem Begriff der Rekonfigurierbarkeit seit den 1990er Jahren diskutiert werden. Hier geht es darum, durch Gliederung der Fertigungseinrichtungen in funktionsfähige Komponenten in kurzer Zeit neue Maschinenkonfigurationen beispielsweise durch Einfügen einer Bewegungsachse oder einer Werkzeugspindel zu ermöglichen. Diese werden nach ihrer mechanischen Koppelung durch eine übergeordnete Steuerung erkannt und nach Start eines Steuerprogramms produktiv. Erste Ansätze wurden in den USA von Koren vorgestellt [Kor01]. In Deutschland wurden im Rahmen des Forschungsprojektes METEOR (http://www.meteor2010.de) zusammen mit der Werkzeugmaschinenindustrie weitergehende Lösungen für rekonfigurierbare Werkzeugmaschinen und Fertigungssysteme entwickelt [Abe06]. Während
5.3 Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbefähiger
rekonfigurierbare Montagesysteme als Stand der Technik gelten können, befinden sich rekonfigurierbare Fertigungssysteme überwiegend noch in der Forschungs- und Entwicklungsphase. Eine umfassende Übersicht über den Stand der Forschung über wandlungsfähige und rekonfigurierbare Produktionssysteme gibt [Wie07].
Szenarien“ verstanden. Demgegenüber ist „... Reaktionsfähigkeit ein Potenzial, um jenseits vorgedachter Dimensionen und Korridore agieren zu können“. Später präzisiert Reinhart den Begriff Wandlungsfähigkeit wie folgt: „Wandlungsfähigkeit wird als Potenzial verstanden, eine schnelle Anpassung auch jenseits vorgehaltener Korridore in Bezug auf Organisation und Technik bei einem geringen Investitionsaufwand zu ermöglichen“ [Rein08]. Eine anschauliche Darstellung hierzu zeigt Bild 5.6 (s. auch [Nyh08] S. 25). Danach greift bei Veränderungsimpulsen, die ein bestimmtes Maß nicht überschreiten, die im System „eingebaute“ Flexibilität. Die damit notwendige Veränderung geschieht innerhalb des Systems, ein Umbau und demnach auch ein Rückbau sind nicht erforderlich. Überschreitet die Anforderung aus einem Veränderungsimpuls den so definierten Flexibilitätskorridor, muss sich das System wandeln. Hierzu ist ein Lösungsraum vorgedacht, innerhalb dessen sich das System verändern kann. Dieser erlaubt zwar nahezu beliebige Konfigurationen von Betriebsmitteln, ist aber nicht
5.3 Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbefähiger Die Frage, welche Flexibilität aus Sicht der Fabrikplanung für die gesamte Fabrik erforderlich ist, wird seit Ende der 1990er Jahre unter dem Begriff der Wandlungsfähigkeit diskutiert. So weist Reinhart bereits 1997 auf die Wandlungsfähigkeit als neue Dimension der Flexibilität hin [Rein97]. Er präzisiert den Begriff als Kombination von Flexibilität und Reaktionsfähigkeit [Rein00]. Flexibilität wird hier als „Möglichkeit zur Veränderung in vorgehaltenen Dimensionen und
Wandlungsfähigkeit
5
Flexibilitätskorridor f2
Anforderungen
Wandlungsfähigkeit Flexibilitätskorridor f1 Flexibilitätskorridor f3
0
1
2
Flexibilität
• vorgehaltener Fähigkeitsbereich • skalierbar in festgelegten Korridoren • Rückbau nicht vorgesehen
3
4
5
6
Zeit
Wandlungsfähigkeit
• vorgedachter Lösungsraum • Veränderung im Bedarfsfall • Rückbauoption als Grundeigenschaft
Bild 5.6: Gegenüberstellung Flexibilität und Wandlungsfähigkeit (Zäh, Reinhart) © IFA 14.788_B
121
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
Wandlungsfähigkeit kurzfristig
5
Geschäftsprozesse / Betriebsorganisation
Immobilien
mittelfristig
langfristig
• Anzahl, Lage, Größe der Standorte • Gebäude, Infrastruktur • Maschinen, Anlagen Art, Anzahl Anordnung Ausstattung
Mobilien
• Arbeitsplätze • Betriebsmittel Werkzeuge Vorrichtungen Prüfmittel Programme
• Logistik Lager, Materialfluss und Transport
Informationsverarbeitung
• Architektur • Methoden • Applikationen
Personal
• Anzahl • Qualifikation • Motivation heutiger Zustand
wandlungsfähiger Zustand
Bild 5.7: Wandlungsfähigkeit von Unternehmensstrukturen (Westkämper) © IFA 10.053_B
unbegrenzt, beispielsweise hinsichtlich der Größe oder der Genauigkeit von Produkten. Tritt nun ein Veränderungsimpuls auf, der einen Wandel erfordert, wie z.B. ein erheblicher Stückzahlanstieg, ist eine strukturelle Veränderung erforderlich, die aber ggf. auch wieder zurückgebaut werden kann. Wichtige Anstöße zur Wandlungsfähigkeit des gesamten Produktionsunternehmens kommen auch von Westkämper [West99]. Er differenziert die Wandlungsfähigkeit der Unternehmensstrukturen nach Elementen (Immobilien, Mobilien, Informationsverarbeitung und Personal) sowie Zeithorizonten (kurz-, mittel-, langfristig), Bild 5.7. Daraus leitet er die Notwendigkeit technischer Innovationen ab, welche eine kontinuierliche Umplanung und Umkonfiguration der Produktion erlauben, und zeigt hierzu konkrete Ansätze auf [West00]. Auch hier wird Flexibilität von der Wandlungsfähigkeit wie folgt abgegrenzt: „Ein System wird als flexibel bezeichnet, wenn es im Rahmen eines prinzipiell vorgedachten Umfangs von Merkmalen sowie deren Ausprägungen an veränderte Gegebenheiten reversibel anpassbar ist.“
122
Und weiter: „Ein System wird als wandlungsfähig bezeichnet, wenn es aus sich selbst heraus über gezielt einsetzbare Prozess- und Strukturvariabilität sowie Verhaltensvariabilität verfügt. Wandlungsfähige Systeme sind in der Lage, neben reaktiven Anpassungen auch antizipative Eingriffe vorzunehmen. Diese Aktivitäten können auf Systemveränderungen wie auch auf Umfeldveränderungen hinwirken.“ Als wesentliche Ansatzpunkte zur Gestaltung der Wandlungsfähigkeit werden Führung, Mensch, Technik und Organisation herausgearbeitet. Eine darauf aufbauende ausführliche Beschreibung des Stuttgarter Ansatzes eines wandlungsfähigen Unternehmens findet sich in [West09]. Als weiterentwickelte Form der Wandlungsfähigkeit von Fabriken definiert Wirth flexible, temporäre Fabriken, die nur für eine begrenzte Zeit mit einem bestimmten Produkt einen bestimmten Markt bedienen [Wir00]. Ausschlaggebend für diesen Ansatz ist die Erkenntnis, dass die Dauer der Lebenszyklen der Produkte, Prozesse, Fabrikgebäude und Flächennutzung immer weiter auseinanderdriftet, vgl. Bild 1.4. Hier werden neben der bisher bekannten Diskussion des Produktes und der Produktionsprozesse die Art
5.3 Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbefähiger
der Gebäude (Universalgebäude, Billigbauten, modulare mobile Gebäude) und die Rolle des Fabrikgrundstücks im Rahmen der Städteplanung thematisiert. Damit einhergehend sieht Wirth einen Rollen- und Funktionswandel in der Fabrikplanung. Er umfasst neben der klassischen „Kernplanung“ von Betriebsmitteln, Personal und Flächen nunmehr auch den lokalen Lebenszyklus einer temporären Fabrik mit Vorbereitung, Hochlauf, Demontage und Umzug sowie deren externe Vernetzung und Logistik. Als Weiterentwicklung dieses Ansatzes schlagen Schenk und Wirth die kompetenznetzbasierte Fabrik vor, die in eine heterarchische (im Gegensatz zur hierarchischen) Netzwerkorganisation eingebunden ist ([Sche04], S.364 f). Sie besteht aus kleinsten überlebensfähigen und wandlungsfähigen Wertschöpfungseinheiten, den sogen. Kompetenzzellen. Das Institut für Fabrikanlagen und Logistik hat das Thema der wandlungsfähigen Fabrik ebenfalls frühzeitig aufgegriffen und hierzu in Form von Vorträgen, Aufsätzen und realisierten Fabriken konkrete
Beiträge geleistet [Wie98, Wie00, Wie01, Her03]. Die von Hernández zusammen mit Wiendahl am IFA entwickelte Systematik der Wandlungsfähigkeit geht von einem systemtheoretischen Ansatz aus und bildet die methodische Basis dieses Buches bezüglich der Wandlungsfähigkeit einer Fabrik [Her03]. Dabei ist als besonderes Anliegen die frühzeitige Einbindung der Belange des Industriebaus hervorzuheben. Daraus sind Vorschläge zu einer Integration der Prozess- und Raumsicht im frühen Stadium einer Fabrikplanung entstanden [Rei99, Rei01, Rei04], die von Nyhuis und Reichardt zum Ansatz der Synergetischen Fabrikplanung weiterentwickelt wurden [Rei04, Nyh04, Rei07]. Der IFA-Ansatz der Wandlungsfähigkeit geht von der Definition einer Fabrik als System aus, welches die in Bild 5.8 genannten und in diesem Zusammenhang wesentlichen Eigenschaften besitzt [Ulr95, Dörr99].
5
Mit dem Begriff Ganzheit und Teile wird hervorgehoben, dass die Eigenschaft einer Fabrik nicht die
Ganzheit und Teile Zweck- und Zielorientierung
Vernetztheit
output
System
Dynamik
Offenheit System
Fabrik
Lenkung
Ordnung und Entwicklung
Umfeld
Komplexität
Bild 5.8: Eigenschaften des Systems Fabrik (Hernández) © IFA 10.137BSW_B
123
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
5
Summe der Eigenschaft ihrer Teile ist, sondern das Zusammenwirken ihrer Teile als Ganzes. Die hohe Beziehungsdichte wird durch die Vernetztheit beschrieben. Die einzelnen Elemente sind nicht einfach linear, sondern in vermaschten Regelkreisen mit teilweiser Rückkopplung verknüpft. Die Offenheit der Fabrik ergibt sich aus den starken Wechselbeziehungen zur Umwelt. Zweifelsohne besitzt eine Fabrik eine hohe Komplexität, welche eine Voraussetzung für ihre Überlebensfähigkeit ist, weil sie in kurzer Zeit verschiedene Zustände annehmen kann. Sie beruht auf der Anzahl der Elemente und den möglichen Beziehungen zwischen ihnen und der Umwelt. Die Dynamik des Systems Fabrik beschreibt das Verhalten im Zeitablauf der Durchführung von Prozessen und ergibt sich aus der Veränderung der Systemelemente. Mit der Lenkung wird die Fähigkeit zur Kontrolle des Systems verstanden. Sie erfolgt teilweise automatisch, überwiegend jedoch durch die Mitarbeiter. Die Entwicklungsfähigkeit kann als Lernfähigkeit interpretiert werden, auf Impulse durch Anpassung oder Veränderung zu reagieren. Die Zweck- und Zielorientierung schließlich ist der Treiber, um den Vorstel-
Veränderungsfokus
Veränderungsart
Relationen der Elemente Strukturkopplung
flexible Reaktion
lungen und Forderungen der Umwelt zu genügen; hier sind es die Anspruchsgruppen Markt, Politik, lokales Umfeld usw. Ein System strebt stets einen Gleichgewichtszustand mit seiner Umwelt an, was im Falle von Umweltveränderungen zu einer Anpassung zwingt. Besitzt es diese als Veränderungsbefähiger benennbare Eigenschaft nicht, gerät es aus dem Gleichgewicht bis hin zur Zerstörung. Die Systemtheorie kennt zwei Arten der Veränderung, die als Strukturkopplung und Transformation bezeichnet werden, Bild 5.9. Bei der Strukturkopplung ändern sich lediglich die Relationen zwischen den Systemelementen. Sie kann daher als eine flexible Reaktion gedeutet werden, die mit Hilfe definierter Regelmechanismen abläuft, wie beispielsweise die Umlenkung eines Auftrags auf eine alternative Maschine. Die Transformation verändert demgegenüber nicht nur die Relationen der Elemente, sondern auch ihre Eigenschaften und Funktionen so weit, dass neue Strukturen und Systeme entstehen. Als Beispiel ist die Umwandlung einer Werkstattfertigung in eine Anzahl von Fertigungsinseln angeführt.
Veränderungsbefähiger definierte Regelmechanismen und eindimensionale Freiheitsgrade der Relationen
• Elementveränderung • Relationenveränderung • Funktionsveränderung
Material-/ Informationsfluss laut Arbeitsplan alternative Kapazitätseinheit neuer Materialund Informationsfluss
Werkstatt
System/Subsystem Neubildung durch Transformation
Beispiel
Wandlungsprozess
mehrdimensionale Freiheitsgrade der Elemente und der Relationen Fertigungsinseln
Bild 5.9: Veränderungstypen der Fabrik aus systemtheoretischer Sicht (Hernández) © IFA 10.146_Wd_B
124
5.3 Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbefähiger
Wandlungsprozess
Dynamik
Änderungsrate von Elementen und Beziehungen
Bild 5.10: Ableitung der Wandlungsfähigkeit aus Systemeigenschaften
Komplexität
Vernetztheit
Fähigkeit, zahlreiche Systemzustände in angemessener Zeit einzunehmen
Regelkreise, die das System wachsen bzw. schrumpfen lassen oder stabil halten
5
Wandlungsfähigkeit
© IFA 10.149A_B
Die Wandlungsfähigkeit des Systems Fabrik ermöglicht demnach die Transformation eines Systems. Sie wird im Wesentlichen von drei der in Bild 5.8 genannten insgesamt acht Systemeigenschaften getragen, die Bild 5.10 noch einmal aufführt und durch die relevanten Systemeigenschaften ergänzt [Her03]. Um eine Transformation durchführen zu können, müssen die Systeme bestimmte Eigenschaften besitzen, die im Folgenden als Wandlungsbefähiger
bezeichnet werden. Damit wird eine inhärente Eigenschaft beschrieben, die in einem bestimmten Zeitraum aktivierbar ist und eine gewünschte Veränderung bewirkt. Aus den drei wandlungsrelevanten Systemeigenschaften lassen sich die in Bild 5.11 aufgeführten Wandlungsbefähiger ableiten [Her03]. Mobilität sowie Erweiterbarkeit und Reduzierbarkeit lassen sich der Systemdynamik zuordnen. Sie charakterisieren die Änderungsfähigkeit von Objekten hinsichtlich Ort und Ausdehnung. Modularität sowie
Relevante Systemeigenschaften der Fabrik
Dynamik
Komplexität
Vernetztheit
Modularität
Erweiter- und Reduzierbarkeit
Bild 5.11: Ableitung der Wandlungsbefähiger einer Fabrik
Mobilität
A
B
C
Funktions- und Nutzungsneutralität
Vernetzungs fähigkeit Desintegrations und Integrationsfähigkeit
© IFA 10.211D_Wd_B
125
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
A
B
C
Universalität
Dimensionierung und Gestaltung für verschiedene Anforderungen hinsichtlich Produkt oder Technologie, z.B. Variantenflexibilität
Mobilität
Örtlich uneingeschränkte Bewegbarkeit von Objekten, z.B. Maschinen auf Rollen
Skalierbarkeit
5
Technische, räumliche und personelle Atmungsfähigkeit (Erweiter- und Reduzierbarkeit), z.B. flexibles Arbeitszeitmodell
Modularität
Standardisierte, funktionsfähige Einheiten oder Elemente, z.B. Plug & Produce-Module
Kompatibilität
Vernetzungsfähigkeit bzgl. Material, Information, Medien und Energie, z.B. einheitliche Softwareschnittstellen
Bild 5.12: Definition der Wandlungsbefähiger einer Fabrik © IFA 15.053_B
Funktionsneutralität und Erweiterungsneutralität sind mit der Komplexitätseigenschaft verknüpft und beschreiben die Fähigkeit, verschiedene Systemzustände einzunehmen. Schließlich sind die Wandlungsbefähiger Vernetzungsfähigkeit sowie Desintegrationsfähigkeit und Integrationsfähigkeit aus der Systemeigenschaft Vernetztheit abgeleitet. Bei der praktischen Anwendung dieser Begriffe hat sich gezeigt, dass sie weiter vereinfacht und auf fünf Begriffe reduziert werden können, die Bild 5.12 mit den zugehörigen Definitionen zeigt. Neben dieser systemtechnischen Betrachtung ist es für die praktische Umsetzung der Wandlungsfähigkeit wichtig, nach den Akteuren eines Unternehmens zu fragen, die über den Grad der Wandlungsfähigkeit und dessen Konkretisierung entscheiden.
• Aus Sicht des Managements interessiert die Frage, wie rasch ein gesamtes Unternehmen auf Risiken und Chancen reagieren soll, wobei im Wesentlichen Aspekte wie Markt- und Produktstrategie,
126
Finanzierung, Kooperation, Organisation und Standorte im Vordergrund stehen. • Die Betriebswirtschaft fragt nach den Chancen und Risiken sowie der Kosten-/Nutzenrelation der Veränderungsfähigkeit. Lohnt sich z.B. eine Investition zur Erhöhung der Veränderungsfähigkeit einer Produktion durch ein flexibles Fertigungssystem, die sich erst bei der zweiten oder dritten Produktänderung amortisiert? E • ine dritte Sicht betrifft die technische Realisierung der Veränderungsfähigkeit der einzelnen Elemente einer Fabrik, beginnend mit den Fertigungs- und Montageeinrichtungen über die Logistiksysteme und deren Steuerung bis hin zu den Gebäuden und ihren Einrichtungen. • Und schließlich ist aus arbeitswissenschaftlicher Perspektive zu fragen, welche Voraussetzungen auf der Ebene der Mitarbeiter hinsichtlich ihrer Motivation, Qualifikation und der Entgeltsysteme geschaffen werden müssen, um eine reibungslose Produktionsanpassung zu gewährleisten.
5.4 Gestaltungsfelder der Veränderungsfähigkeit
5.4 Gestaltungsfelder der Veränderungsfähigkeit
te Veränderungsfähigkeit zu erreichen. Dazu zeigt Bild 5.13 eine Übersicht.
Für das einzelne Unternehmen stellt sich nun die Frage, wie die allseits geforderte Flexibilität, Rekonfigurierbarkeit und Wandlungsfähigkeit zu definieren und konkret zu gestalten ist. Dazu erscheint es zweckmäßig, zunächst einen Oberbegriff für die verschiedenen Arten der Anpassungsfähigkeit zu wählen und diesen später für die verschiedenen Objektklassen und -ebenen einer Fabrik zu konkretisieren. Aufgrund zahlreicher Diskussionen auch auf internationaler Ebene wird im Folgenden hierfür der Begriff der Veränderungsfähigkeit (engl. changeability) gewählt, s.a. [Wie07]. Im zweiten Schritt sind die Gestaltungsfelder zu benennen, die zusätzlich zur klassischen Fabrikplanung bearbeitet werden müssen, um eine gewünsch-
Ausgangspunkt der Betrachtung sind die ausführlich erläuterten externen und internen Veränderungstreiber, die sich als Volatilität der Nachfrage und der vom Markt erzwungenen Varietät des Leistungsangebotes darstellen. Ein häufiger Veränderungstreiber ist eine neue Unternehmensstrategie, ausgelöst durch einen Wechsel des Eigentümers oder des Managements. Das Unternehmen kann darauf mit einer Umgestaltung der Marktleistung oder der Produktionsleistung reagieren. In beiden Fällen bedarf es dazu der Anpassung der Veränderungsfähigkeit durch die erläuterten Veränderungsbefähiger. Im Falle der Marktleistung sind dies z.B. ein modularer Aufbau der Produkte oder Dienstleistungen, die Einführung eines Plattformkonzeptes oder ein späterer Zeitpunkt der Variantenbildung z.B. durch Programmierung. Im
intern
extern
Veränderungsbefähiger Produkte • Modularität • Plattformkonzept • Variantenbildung
VeränderungsTreiber • Volatilität • Varietät • Marktstrategie
Veränderungsfokus Marktleistung • Produkt • Stückzahl • Produktmix
Bewertung und Kennzahlen der Veränderungsfähigkeit
VeränderungsAusmaß • Ebene • Dauer u. Häufigkeit • Aufwand
5
VeränderungsStrategie • notwendig • ausreichend • wettbewerbsfähig
Veränderungsbefähiger Prozesse • Modularität • Skalierbarkeit • Mobilität
Veränderungsfokus Produktionsleistung • Prozesse • Einrichtungen • Organisation
VeränderungsNutzung • Planung • Training • Umsetzung
Bild 5.13: Gestaltungsfelder der Veränderungsfähigkeit von Markt- und Produktionsleistung. © IFA 14.790_B
127
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
Einflussgröße
5
Ausprägung
Veränderungstreiber
Unsicherheit extern / intern
Varietät Produkte / Prozesse
Veränderung Produktportfolio
Veränderungsfokus
Marktleistung
Produktionsleistung
Geschäftsprozesse
Veränderungspotenzial
operativ / notwendig
taktisch / ausreichend
strategisch / kompetitiv
Einschränkungen / Freiheitsgrade
technisch / logistisch
organisatorisch / kulturell
wirtschaftlich / finanziell
Veränderungsausmaß
Ebene und Spannweite
Häufigkeit und Dauer
Aufwand/Ertrag
Bild 5.14: Morphologie der Wandlungsfähigkeit von Produktionsunternehmen © IFA 9903SW_B
Falle der Produktionsleistung sind im Wesentlichen die Fertigungsprozesse, die Produktionseinrichtungen und ggf. die Organisation veränderungsfähig zu gestalten. Die hierzu nützlichen Veränderungsbefähiger sind neben der Modularität vor allem die Skalierbarkeit und Mobilität. In welchem Ausmaß die Veränderungsfähigkeit gesteigert wird, hängt von der gewählten Strategie ab, die – wie bereits beschrieben – von einer unmittelbar notwendigen über eine vorläufig ausreichende bis hin zu einer strategischen Ausrichtung reicht. Erst hieraus kann dann das Ausmaß der angestrebten Veränderungsfähigkeit bestimmt werden, gekennzeichnet durch die Veränderungsebenen vom einzelnen Arbeitsplatz bis zur ganzen Fabrik, die angenommene Häufigkeit und zulässige Dauer einer Veränderung sowie den als zulässig erachteten Aufwand, z.B. die Mehrkosten für eine leicht veränderbare technische Gebäudeausrüstung. Die verbesserte Veränderungsfähigkeit bleibt wertlos, wenn sie nicht im Falle eines Veränderungsimpulses rasch aktiviert werden kann. Dazu bedarf es eines Konzeptes zur Nutzung der Veränderungsfähigkeit in Form von Ablaufplänen, eines Trainings der dazu notwendigen Personen sowie der Bereitstellung der
128
technischen Mittel zur Umsetzung. Dieser Ansatz lässt sich analog zu den Konzepten eines schnellen Rüstvorganges entwickeln. Schließlich ist es wünschenswert, eine vorhandene oder geplante Veränderungsfähigkeit wirtschaftlich bewerten zu können und sie möglichst mit Kennzahlen belegen zu können.
5.5 Morphologie der Verände rungsfähigkeit Aus der Vielfalt der Einflussgrößen und ihren Ausprägungen lässt sich eine morphologische Matrix der Veränderungsfähigkeit von Produktionsunternehmen entwickeln, Bild 5.14. Theoretisch kann jede Ausprägung einer Einflussgröße mit jeder anderen kombiniert werden, so dass eine sehr große Vielfalt von Erscheinungsformen der Veränderungsfähigkeit entstehen würde. Für die praktische Anwendung sind diese in einige Typen zu ordnen. Bevor dies geschieht, sollen die Einflussgrößen und ihre jeweiligen Ausprägungen kurz erläutert werden.
5.5 Morphologie der Veränderungsfähigkeit
Marktsicht
Veränderungstreiber
• Marktbedarf • Kundengeschmack • Wettbewerber • Produkttechnologie
Marktleistung
Veränderungsobjekte
• Produktportfolio • Volumen • Herstellkosten • Lieferzeit • Liefertreue
Produktionssicht • unsichere Prozesse • Produktionsverfahren • I u. K-Technologie • Kooperation
Produktionsleistung • Technik / Logistik • Organisation • Mitarbeiter • Gebäude • Standort
5
Geschäftsprozesse Bild 5.15: Veränderungstreiber und -fokus aus Markt- und Produktionssicht
• Kernprozesse • Supportprozesse
© IFA 9902SW_B
Zunächst sind die Veränderungstreiber nicht nur durch Unsicherheit des Marktes und Varietät der Produkte im Sinne von Risiken geprägt, sondern beinhalten auch Chancen durch die Verfügbarkeit neuer Produktionsverfahren, allen voran die Lasertechnik, die Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Mikrotechnologie und RFID-Technologie. Auch werden bereits internetgestützte neue Formen der Kooperation in Entwicklungs-, Zuliefer-, Produktions- und Logistiknetzen genutzt. Der Veränderungsfokus als zweite Einflussgröße umfasst drei Objekte, die Bild 5.15 mit den zuvor diskutierten Veränderungstreibern zeigt. Die aus Marktsicht notwendige Marktleistung besteht neben dem Produktmix, mit funktional überlegenen Produkten und hohem Kundennutzen, aber auch in einer Anpassungsfähigkeit des Liefervolumens bei Bedarfsschwankungen und dies bei sinkender Lieferzeit und hoher Liefertreue bei gleichzeitig sinkenden Herstellkosten. Die Produktionsleistung als Oberbegriff der von der Produktion zu erbringenden Auftragserfüllung wird hier auf der Ebene von sechs Befähigerelementen betrachtet, die im Fokus der Veränderungsfähigkeit liegen können. Im Kern bestehen sie aus der Fertigungstechnik mit der damit
verbundenen Produktionslogistik, der Aufbau- und Ablauforganisation mit den Mitarbeitern sowie den Produktionsgebäuden und dem sie tragenden Grundstück. Diese Elemente stehen im Wechselspiel zur Marktleistung, das im Rahmen der Fabrikplanung zu konkretisieren ist. Die bisher genannten zwei Ausprägungen der Veränderungsfähigkeit sind zunächst auf die Verbesserung der Marktleistung (externe Sicht) bzw. der Produktionsleistung (interne Sicht) gerichtet. Es bestehen aber auch Wechselbeziehungen zwischen diesen beiden Leistungsarten. Ein neues Produkt erfordert neue Produktionsleistungen. Umgekehrt kann aber eine zunächst produktneutrale neue Produktionsleistung – z.B. die Einführung des Elektronenstrahlschweißens – neue Möglichkeiten der Produktgestaltung bieten. Der dritte Veränderungsfokus bezieht sich daher auf durchgängige Geschäftsprozesse (vgl. Bild 2.7). Neben den Hauptprozessen Marktschließung, Produktentwicklung, Auftragsgewinnung, Auftragserfüllung und Service verdienen die unterstützenden Prozesse der Personalwirtschaft, Informations- und Kommunikationstechnik, des Rechnungswesen, der
129
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
5
130
Allgemeinen Dienste und der Qualitätssicherung eine gleichrangige Beachtung im Hinblick auf die Veränderungsfähigkeit eines Unternehmens. Im Hinblick auf die wachsende Bedeutung des Service als eigenes Betätigungsfeld ist dessen erhöhter Veränderungsfähigkeit besondere Aufmerksamkeit zu widmen. In der Regel wird der primäre Veränderungsfokus die Marktleistung sein. Daraus ist anhand einer Analyse der Geschäftsprozesse die Anforderung an die Produktionsleistung und ihre Wandlungsfähigkeit zu bestimmen. In anderen Fällen kann aber auch die schleichende Verschlechterung der technischen, logistischen und wirtschaftlichen Produktionsleistung den Anlass zu einer grundlegenden Veränderung geben. Nach der Festlegung des Veränderungsfokus stellt sich die Frage, wie viel Veränderungsfähigkeit denn in die Markt- bzw. Produktionsleistung „eingebaut“ werden soll und wie groß demnach das Veränderungspotenzial sein müsste (Bild 5.14). Dies hängt letztlich von der gewählten Veränderungsstrategie ab, die sich als notwendig, ausreichend und kompetitiv darstellt. Sie können auch als operativ, taktisch und strategisch bezeichnet werden. Die Art der Veränderungen, die diesen Typen zugeordnet sind, betreffen beim operativen Veränderungspotenzial die üblichen Marktschwankungen und Störungen, die auch in einem einigermaßen stabilen Umfeld unvermeidbar sind. Die Reaktion darauf erfolgt spontan im Rahmen eingeübter Routinen und erfordert keine Strukturveränderungen etwa des Produktes oder des Produktionssystems. Beispiele sind auf der Produktseite Variantenkonstruktionen oder Baukastensysteme, die kundenindividuell kombiniert werden. Auf der Produktionsseite gehört das Umrüsten einer Maschine oder eines Montagearbeitsplatzes einschließlich Programm-, Werkzeugund Vorrichtungswechsel zum notwendigen Veränderungspotenzial. Beim taktischen Veränderungspotenzial geht es um die mittelfristig stabile Fähigkeit, ein definiertes Produktionsspektrum hinsichtlich Qualität, Kosten und der logistischen Leistungsgrößen Lieferzeit und Liefertreue ausreichend sicher liefern zu können. Dies umfasst z.B. Maßnahmen zur Einführung von
umrüstfreien Fertigungsverfahren, ermöglicht aber auch kurzfristige Veränderungen von Fertigungs-, Montage- und Logistikstrukturen, beispielsweise durch Einführung von Fertigungssegmenten, Verringerung der Fertigungstiefe oder Anlieferung von Komponenten just in time. Schließlich zielt das strategische Veränderungspotenzial darauf ab, sehr schnell neue Produktvarianten, Produkte und Prozesse einführen zu können. Damit sind kompetitive Vorteile im Preis oder in der Lieferzeit zu erringen, die sowohl die Kunden als auch den Wettbewerber überraschen. Die Strategie besteht hier darin, Turbulenz produktiv zu erzeugen statt sie nur reaktiv zu beherrschen. Wie bereits erläutert, hat ein Unternehmen aber keine beliebigen Freiheitsgrade. Ihre möglichst genaue Beschreibung dient der Offenlegung tatsächlicher oder vermeintlicher Einschränkungen hinsichtlich der Veränderungsfähigkeit. Zu unterscheiden sind zunächst technische und logistische Freiheitsgrade, die man auch als Freiheitsgrade der Hardware bezeichnen kann. Hier geht es darum, welche Werkstoffarten, Fertigungsverfahren, Montagetechniken, Handhabungs-, Transport- und Lagerprozesse überhaupt beherrscht werden einschließlich der dazu notwendigen Planungs-, Steuerungs- und Prüfprozesse. Die organisatorisch-kulturellen Freiheitsgrade sind demgegenüber eher „weicher“ Natur. Sie betreffen die Möglichkeit, die Aufbau- und Ablauforganisation ohne erhebliche Widerstände zu verändern und die dazu erforderliche Qualifikation, Lernfähigkeit und Veränderungsbereitschaft zu erreichen. Letzteres ist offenbar eine Frage der Unternehmens- und insbesondere der Führungskultur. Schließlich sind die ökonomischen Freiheitsgrade oft bestimmend für eine wünschenswerte Veränderungsfähigkeit. Diese können Forderungen an die Wirtschaftlichkeit einer Investition sein, wie beispielsweise eine konzernweit vorgeschriebene Amortisationsdauer oder auch eine finanzielle Einschränkung in Form einer vorgegebenen Investitionssumme zur Umstellung einer Produktion oder zum Bau einer neuen Fabrik. Als letzte wesentliche Einflussgröße der Veränderungsfähigkeit ist gemäß Bild 5.14 schließlich das Veränderungsausmaß zu nennen. Hier ist zu klären,
5.6 Klassen der Veränderungsfähigkeit der Produktionsleistung
auf welcher Ebene und mit welcher Spannweite des Produktes bzw. der Produktion die Wandlungsfähigkeit angestrebt wird. Sie kann auf der Produktseite vom Einzelteil und dessen Werkstoff, Form, Dimension und Genauigkeit bis zum Produktmix reichen und auf der Produktionsseite vom Einzelarbeitsplatz bis zum Standort in einem Produktionsnetzwerk gehen. Ein zeitbezogenes Veränderungsmerkmal ist die Häufigkeit der möglichen Veränderungen, die produktseitig an die Frequenz des Auftragswechsels, der Produktänderungen, der Produktneueinführung oder der Produktportfolioveränderung gekoppelt ist. Dem stehen im Extremfall in der Produktion Umrüstvorgänge mehrmals am Tag, Kapazitätsveränderungen mehrmals pro Woche, Strukturveränderungen mehrmals pro Monat oder Standortveränderungen im Abstand weniger Jahre gegenüber. Eng gekoppelt an die Häufigkeit der Veränderung ist deren Dauer. Generell ist festzustellen, dass operative Veränderungen von einem Auftrag zum nächsten möglichst im Minutenbereich liegen sollen und Strukturveränderungen mit taktischem Charakter im Wochen- bis Monatsbereich gefordert werden. Und selbst strategische Veränderungen der Produkte oder einer ganzen Produktion müssen bereits im Bereich eines Jahres erfolgen können, um die Umstellungskosten noch durch Premiumpreise des Erstanbieters decken zu können. Eine darüber hinausgehende Veränderungs-
Produktionsebene
Bild 5.16: Korrespondierende Ebenen von Produktion, Veränderungsfähigkeit und Produkten
fähigkeit bezieht sich dann auf das Unternehmen als Ganzes, das in einem globalen Markt nach zukunftsträchtigen Bestätigungsfeldern sucht, in denen das Produktportfolio über ein Vertriebs- und Produktnetz platziert wird. Schließlich sind der zulässige Aufwand für eine Veränderung, gemessen an interner und externer Personalkapazität, sowie der damit verbundene Ertrag von großer Bedeutung für die Wirtschaftlichkeit einer wandlungsfähigen Gestaltung technischer, organisatorischer oder personaler Elemente der Markt- oder Produktleistung.
5.6 Klassen der Veränderungs fähigkeit der Produktions leistung Wie bereits angedeutet, ist es für praktische Anwendungen wenig sinnvoll, nur einen einzigen Veränderungsbegriff für ein ganzes Produktionsunternehmen zu definieren. Veränderungsfähigkeit dient vielmehr als Oberbegriff für verschiedene Veränderungsklassen entsprechend den verschiedenen Ebenen einer Produktion, denen entsprechende Ebenen der Marktleistung zugeordnet werden können.
Klassen der Veränderungsfähigkeit
Produktebene
6
network Netzwerk
agility Agilität
product portfolio Produktportfolio
5
factory Fabrik
transformability Wandlungsfähigkeit
product group Produktgruppe
4
system Bereich
Flexibilität reconfigurability Rekonfigurierbarkeit
product instance Einzelprodukt
3
cell System
Flexibilität flexibility Rekonfigurierbarkeit
2
station Zelle
Flexibilität change over ability Umrüstbarkeit
1
process Arbeitsstation
5
Umrüstbarkeit
part group Teilegruppe
part instance Einzelteil
Teileelement
© IFA 14.791_B
131
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
Diese Ebenen der Produktionsleistung bzw. Marktleistung lassen sich aus Sicht der Fabrikplanung mit je sechs Begriffen kennzeichnen, die der klassischen Hierarchie einer Fabrik und ihrer Produkte folgen. Ihnen lassen sich dann unterschiedliche Typen der Veränderungsfähigkeit zuordnen. Bild 5.16 gibt eine Übersicht, s.a. [ElM09].
5
132
Die unterste Ebene entspricht einer einzelnen Arbeitsstation, die in der Regel aus einer Maschine und einem Mitarbeiter besteht. Hier wird eine definierte Operation mit Hilfe bestimmter Fertigungsverfahren an einem Werkstück durchgeführt, wie z.B. eine Drehoperation, Oberflächenbehandlung usw. Sie führt zu der Herstellung eines sogenannten Teileelementes, wie z.B. eine Bohrung, eine Verzahnung oder eine Fläche. Entsprechend wird in einer Montagestation eine Menge von Teilen zu einer Unterbaugruppe gefügt. Um den Prozess zu verändern, ist eine Umrüstbarkeit erforderlich, die bei automatischen Stationen durch einen Wechsel des Steuerprogramms erfolgt. Die nächste Ebene umfasst eine Fertigungszelle, die eine Folge von Operationen zur Herstellung eines einbaufertigen Werkstücks und seiner Varianten durchführen kann. Meist sind derartige Zellen numerisch gesteuert und führen auch einen automatischen Werkzeugwechsel durch. Analog dazu erfolgt in einer Montagezelle das mehr oder weniger automatisierte Fügen einer funktionsfähigen Baugruppe. Solche Zellen müssen hinsichtlich Werkzeug- und Programmwechsel nicht nur umrüstfähig sein, sondern auch eine Flexibilität hinsichtlich neuer Teile bzw. Baugruppen besitzen. Ein System besteht grundsätzlich aus mehreren Stationen oder Zellen und stellt je nach den durchgeführten Operationen ein Fertigungs- oder Montagesystem dar. Es kann ohne oder mit Zwischenpuffern ausgestattet sein und in unterschiedlichen Konfigurationen wie Kreis, Linie, Netz usw. auftreten. Diese Systeme dienen der Herstellung einer Gruppe unterschiedlicher Teile bzw. Baugruppen, die dennoch eine bestimmte Ähnlichkeit aufweisen. Da nicht alle Varianten von Teilen bzw. Baugruppen bei der Installation des Systems bekannt sind, muss auch eine strukturelle Veränderung durch Hinzufügen oder Entfernen von
Komponenten sowie eine andere räumliche Anordnung dieser Komponenten möglich sein. Neben der Flexibilität wird also auch eine Rekonfigurierbarkeit gefordert. Fasst man mehrere solcher Fertigungs- und/oder Montagesysteme zusammen, entstehen Bereiche, deren Fertigungs- und Montageeinheiten durch Logistiksysteme wie Lager-, Transport- und Umschlagsysteme ergänzt werden. Ihre Aufgabe ist die Herstellung unterschiedlicher Komponenten. Diese bestehen aus in sich abgeschlossenen, meist vorgeprüften und verwendungsfähigen Produkten. Die Bereiche müssen sowohl flexibel als auch für den Fall geänderter Produkte rekonfigurierbar sein. Die Ebene der Fabrik führt mehrere solcher Produktionsbereiche zusammen, die jeweils eine definierte Marktleistung erbringen. Neben der Fertigung, Montage und Logistik bedarf es dazu bestimmter Infrastruktureinrichtungen zur Versorgung mit Material, Energie und Medien, Information und zur Entsorgung. Hier ist zusätzlich zur Rekonfigurierbarkeit der Teilsysteme auch die Anpassungsfähigkeit der Planung und Steuerung sowie der Infrastruktursysteme und der Mitarbeiter an die neuen Aufgaben erforderlich. Diese Eigenschaft soll als Wandlungsfähigkeit bezeichnet werden. Schließlich ist eine Fabrik in der Regel in ein Produktionsnetz eingebunden. Solche Produktionsnetze bestehen aus mehreren Fabriken an verschiedenen Standorten und sind oft eng verknüpft mit Lieferanten von Produktkomponenten oder Teilprodukten. Veränderungen auf dieser Ebene sind meist strategiegetrieben wie z.B. der Eintritt in einen neuen Markt, die Veränderung des Produktportfolios durch Einführung oder die Entfernung eines Produktes aus dem Angebot, oder die Integration einer neu erworbenen Firma. Dies erfordert Agilität und ist in erster Linie eine Aufgabe der Unternehmensführung. Die damit beschriebenen Typen der Veränderungsfähigkeit sollen wie folgt definiert werden:
• Umrüstbarkeit bezeichnet die operative Fähigkeit einer einzelnen Maschine oder eines einzelnen Arbeitsplatzes, zu jedem gewünschten Zeitpunkt
5.6 Klassen der Veränderungsfähigkeit der Produktionsleistung
Segment 1 Sehr hoch
Agile Organisationen
Vernetzungsfähigkeit
Segment 2 Wandlungsfähige Organisationen
hoch
Segment 3
5
Flexible Organisationen
mittel
Segment 4 niedrig
Bild 5.17: Charakterisierung von Produktionsunternehmen aus Sicht der Veränderungs- und Vernetzungsfähigkeit
Autonome Organisationen
niedrig
mittel
hoch
Sehr hoch
Veränderungsfähigkeit
© IFA 9900SW_B
mit minimalem Aufwand und in kürzester Zeit definierte Arbeitsoperationen einer bekannten Werkstück- oder Baugruppenfamilie durchführen zu können. Die Umstellung ist reaktiv und kann manuell oder automatisch erfolgen. • Flexibilität bezeichnet die operative Fähigkeit eines Fertigungs- oder Montagesystems, sich reaktiv auf eine vorab definierte Anzahl von Werkstücktypen bzw. Baugruppen durch Hinzufügen oder Wegnahme einzelner Funktionselemente in kurzer Zeit mit geringem Aufwand hinsichtlich Hard- und Software umstellen zu können. Die Umstellung erfolgt teilweise manuell, teilweise automatisch. • Rekonfigurierbarkeit bezeichnet die taktische Fähigkeit eines ganzen Produktions- oder Logistikbereichs, sich auf eine neue – aber ähnliche – Familie von Komponenten einschließlich der zugehörigen Eigenfertigungs- bzw. Zukaufteile überwiegend reaktiv durch Veränderung der Fertigungsverfahren, Materialflüsse und Logistikfunktionen in mittlerer Zeit mit mittlerem Aufwand hinsichtlich Hard- und
Software anpassen zu können. Die Umstellung erfolgt überwiegend manuell und bedarf in der Regel eines Planungsvorlaufs sowie einer Hochlauf- und Optimierungsphase. • Wandlungsfähigkeit bezeichnet die taktische Fähigkeit einer ganzen Fabrik, sich auf eine andere – in der Regel aber ähnliche – Produktfamilie reaktiv oder proaktiv also vorausschauend – umzustellen und/oder die Produktionskapazität zu verändern. Das erfordert strukturelle Eingriffe in die Produktions- und Logistiksysteme, in die Gebäudestruktur und deren Einrichtungen, in die Aufbau und Ablauforganisation sowie in den Personalbereich. Die Umstellung erfordert einen längeren Planungsvorlauf, ist dann aber in verhältnismäßig kurzer Zeit durchführbar. Sie erfolgt in abgegrenzten Teilprojekten mit straffem Projektmanagement und einer Hochlauf- und Optimierungsphase. Die Wandlungsfähigkeit setzt flexible, rekonfigurierbare und umrüstbare Systeme auf den darunterliegenden Ebenen voraus.
133
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
• Agilität bezeichnet die strategische Fähigkeit eines ganzen Unternehmens, überwiegend proaktiv neue Märkte zu erschließen, die dazu erforderliche Marktleistung zu entwickeln und die notwendige Produktionsleistung aufzubauen, ggf. verteilt über mehrere Standorte. Sie erfordert erhebliche Management-, Finanzierungs- und Organisationsfähigkeiten.
5
Versucht man nun, ganze Produktionsunternehmen hinsichtlich ihrer Veränderungsfähigkeit zu differenzieren, muss neben den geschilderten Fähigkeiten zur Veränderung auf den verschiedenen Ebenen und deren Objekten noch die Fähigkeit zur Vernetzung mit in Betracht gezogen werden. Bild 5.17 zeigt ein daraus entwickeltes Portfolio zur strategischen Positionierung von Produktionsunternehmen bezüglich ihrer Fähigkeit zur Anpassung. Das Portfolio wird durch die Merkmale „Veränderungsfähigkeit“ mit der Ausprägung niedrig, mittel, hoch und sehr hoch und „Vernetzungsfähigkeit“ mit den gleichen Attributen beschrieben.
Die Veränderungsfähigkeit korrespondiert in ihrer Ausprägung mit den in Bild 5.16 genannten Begriffen Umrüstbarkeit, Rekonfigurierbarkeit, Flexibilität, Wandlungsfähigkeit und Agilität. Die Stufen der Vernetzungsfähigkeit beziehen sich demgegenüber auf die Intensität der Kooperation mit Lieferanten, Entwicklungspartnern, Produktionspartnern und Kunden. In der niedrigen Ausprägung entspricht die Vernetzungsfähigkeit den traditionellen Beziehungen mit Lieferanten und Produktionsunternehmen zum Ausgleich von Kapazitätsbedarfsspitzen. Eine mittlere Vernetzung beschreibt die Vergabe kleinerer Artikelgruppen oder Komponenten an Zulieferer, die bereits an der technischen Entwicklung beteiligt sind. Eine hohe Vernetzung sieht vor, dass bereits wesentliche Komponenten oder auch Subsysteme von einem Kooperationspartner entwickelt und zugeliefert werden. Auch existieren mehrere Standorte des Produktionsunternehmens, zwischen denen eine Arbeitsteilung bezüglich der Produkte oder deren Komponenten bestehen. Im Fall einer
Technik (T)
Fabrikfelder
Organisation (O)
Raum (R)
Fabrikebenen T.I.1 Ebene I Werk
Ebene II Fabrik
Ebene III, IV Bereich Unterbereich
Ebene V: Arbeitsstation
Bild 5.18: Gliederung der Fabrikobjekte © IFA 13.440_B
134
Technische Anlagen – Zentralen
T.II.1 Technische Anlagen – Verteilung T.II.2 Informationstechnik
O.I.1 Aufbauorganisation
O.II.1 Produktionskonzept O.II.2 Logistikkonzept O.II.3 Struktur
T.III, IV.1 Lagermittel O.III, IV.1 Arbeitsorganisation T.III, IV.2 Transportmittel
T.V.1 Produktionstechnologie T.V.2 Produktionsmittel T.V.3 Sonstige Mittel
O.V.1 Qualitätssicherungskonzept
R.I.1 R.I.2 R.I.3
Grundstück Generalbebauung Außenanlagen
R.II.1 R.II.2 R.II.3 R.II.4 R.II.5
Layout Bauform Tragwerk Hülle Anmutung
R.III, IV.1 Ausbau
R.V.1 Arbeitsplatzgestaltung
5.7 Bewertung der Veränderungsfähigkeit
Fabrikebenen
Fabrikfelder
Technik (T)
Organisation (O)
Raum (R)
keine Bedeutung
Ebene I: Werk
Ebene II: Fabrik
Ebene III/IV: (Unter-) Bereich
Ebene V: Arbeitsstation
Fabrikobjekte T.V.1 T.IV.1 T.II.2 T.III.1 T.III.2 T.I.1 T.I.2 T.I.3 O.V.1 O.IV.1 O.IV.2 O.IV.3 O.III.1 O.I.1 R.V.1 R.V.2 R.V.3 R.VI.1 R.IV.2 R.IV.3 R.IV.4 R.IV.5 R.III.1 R.I.1
Technische Anl. -Zentralen Technische Anl. -Verteilung Informationstechnik Lagermittel Transportmittel Produktionstechnologie Produktionsmittel Sonstige Mittel Aufbauorganisation Produktionskonzept Logistikkonzept Struktur Arbeitsorganisation Qualitätssicherungskonzept Grundstück Generalbebauung Außenanlagen Layout Bauform Tragwerk Hülle Anmutung Ausbau Arbeitsplatzgestaltung
geringe Bedeutung
5
mittlere Bedeutung
hohe Bedeutung
Zuordnung zur Ebene
Bild 5.19 Zuordnung der Fabrikobjekte zu den Fabrikebenen und ihre jeweilige Bedeutung © IFA 13.441A_Wd_B
sehr hohen Vernetzung wird das lokale Produktionsunternehmen zum Integrator für bestimmte Marktleistungen durch die Koordination von Sach- und ggf. Dienstleistungen für einen bestimmten Markt, der geografisch oder nach Kundengruppen gegliedert ist. Die Kooperationspartner sind Entwicklungspartner für Subsysteme, Produktionspartner für Teile- und Komponentengruppen sowie Logistikpartner für die Teilebereitstellung oder die Warenverteilung und -zwischenlagerung. In dem so aufgespannten Feld lassen sich vier Segmente definieren, die in Anlehnung an die Veränderungstypen als agile Organisationen, wandlungsfähige Organisationen, flexible Organisationen und autonome Organisationen bezeichnet werden sollen. Die Segmente 1, 2 und 3 sind selbsterklärend. Segment 4 umfasst autonome Organisationen, die nur
eine schwache äußere Vernetzung mit Lieferanten pflegen und intern lediglich auf Arbeitsplatz und Fertigungs- oder Montagesystemebene umrüstbar bzw. rekonfigurierbar sind.
5.7 Bewertung der Veränderungsfähigkeit Um den Begriff der Veränderungsfähigkeit für die Praxis handhabbar zu machen, ist zunächst eine Ordnung der Fabrikobjekte erforderlich. Daher empfiehlt es sich, die von der Wandlung betroffenen Objekte zum einen nach den Detaillierungsebenen der Fabrik und zum anderen nach der Art der Wandlungsfähig-
135
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
keit zu ordnen. Bild 5.18 zeigt auf der linken Seite die Detaillierungsebenen der Fabrik. Gegenüber Bild 5.16 hat sich aufgrund von Forschungsprojekten [Nyh04, Wie05, Rei07] sowie der praktischen Erfahrungen in zahlreichen Fabrikprojekten gezeigt, dass eine so feine Gliederung nicht erforderlich ist.
5
Daher wurden die Ebene Netzwerk durch den Begriff „Werk“ ersetzt (weil hier nur die Außenbeziehungen interessieren) und die Ebenen Zelle, System und Bereich zu einem Begriff „Bereich/Unterbereich“ zusammengefasst. Die Arten der Wandlungsfähigkeit beziehen sich auf die technischen Einrichtungen, die Organisation und die räumliche Anordnung der Fabrikobjekte. In die hierdurch gebildete Matrix können nun 26 Fabrikobjekte erster Ordnung eingegliedert werden. Für jedes der 26 Objekte wurde eine Untergliederung in insgesamt 116 Fabrikobjekte zweiter Ordnung erarbeitet, die in Anhang A 1 beschrieben sind.
Universalität Mobilität
A
Weiterhin ist zu beachten, dass ein Fabrikobjekt auf jeder Fabrikebene mit einer unterschiedlichen Bedeutung auftritt. Bild 5.19 verdeutlicht dies an einer Darstellung, bei der gegenüber Bild 5.18 die Spalten und Zeilen vertauscht sind. Um eine mehrfache Behandlung der Objekte im Rahmen der Fachplanungen zu vermeiden, ist es zweckmäßig, sie einer bestimmten Ebene zuzuordnen, wie im Bild durch die Rasterung der jeweiligen Felder gekennzeichnet. Die einzelnen so definierten Wandlungsobjekte besitzen unterschiedliche Fähigkeiten, sich zu verändern. Heger hat die in Bild 5.11 und 5.12 beschriebenen Wandlungsbefähiger aufgrund umfangreicher Untersuchungen auf acht Begriffe erweitert und zur Basis einer umfassenden Bewertungssystematik der Wandlungsobjekte einer Fabrik gemacht. Bild 5.20 zeigt die von ihm so genannten Wandlungspoten zialarten angewandt auf ein fiktives Fabrikplanungsobjekt [Heg07]. Sie stehen zueinander teilweise in
Neutralität Skalierbarkeit
B C
Fabrikobjekt
notwendige Verbindung
Objektspezifisches Wandlungspotential
Inputs und Outputs A
B C
A
A A
Standardisierung
Erweiterung, Reduzierung und Bewegung Kompatibilität Modularität
Bild 5.20: Veranschaulichung der Wandlungspotenzialarten © IFA 13.445_B
136
gewandeltes Objekt Schnittstellen
5.7 Bewertung der Veränderungsfähigkeit
Fabrikobjekt: Technische Anlagen und Verteilung
Wandlungspotenzialart A
B
Wandlungspotenzialmerkmale und Merkmalsart
Universalität
Ver- und -entsorgungsnetz Medienraster
(qualitativ) (quantitativ)
Skalierbarkeit
Reserve Zugänglichkeit
(quantitativ) (qualitativ)
Modularität
Aufbau Absperreinrichtungen
(qualitativ) (qualitativ)
Kompatibilität
Kennzeichnung Art der Anschlüsse
(qualitativ) (qualitativ)
C
Bild 5.21: Beispiel Wandlungsarten und -merkmale für ein Fabrikobjekt (Heger)
5
© IFA 13.448_B
Wechselwirkung. Sie werden in Anlehnung an Bild 5.12 wie folgt definiert:
weiteren Verlauf dieses Kapitels wird die von Heger vorgeschlagene Systematik weiter benutzt.
• Universalität und Neutralität beschreiben die Mög-
Stellt man nun die Wandlungsobjekte und die Wandlungsbefähiger einander gegenüber, zeigt sich, dass nicht jedes Wandlungsobjekt jeden Wandlungsbefähiger aufweist. Beispielsweise ist der Wandlungsbefähiger „Mobilität“ für ein Grundstück grundsätzlich nicht anwendbar, ebenso wie für die Fabrikstruktur oder die Arbeitsorganisation. Jedem Fabrikobjekt zweiter Ordnung ist daher eine Reihe von Merkmalen zugeordnet, die für die Beurteilung der Wandlungsfähigkeit relevant sind und für alle Objekte gleichermaßen gelten. Bild 5.21 zeigt am Beispiel des Fabrikobjektes Technische Anlagen und Verteilung das Vorgehen. Zunächst zeigt sich, dass von den 8 Wandlungsbefähigern nur die vier angeführten zutreffen. Daraus werden je Klasse in diesem Fall zwei Wandlungsmerkmale entwickelt, die entweder qualitativer oder quantitativer Natur sind.
•
•
•
lichkeiten, ein Objekt für unterschiedliche Aufgaben einsetzen zu können, wobei im ersten Fall das Objekt unempfindlich gegen Einflüsse anderer Objekte ist und im zweiten Fall keine Einflüsse auf andere Objekte ausübt. Mobilität und Skalierbarkeit sichern im ersten Fall eine örtlich uneingeschränkte Beweglichkeit, während die Skalierbarkeit neben der räumlichen auch eine technische und organisatorische Erweiterung oder Reduktion der Leistung des Objektes erlaubt. Modularität und Kompatibilität beschreiben die Art des Objektaufbaus. Modulare Einheiten sind in sich funktionsfähig, was aber ohne Kompatibilität hinsichtlich Material-, Medien-, Energie- und Datenflüssen wirkungslos bleibt. Standardisierung ist nur in Verbindung mit Universalität, Modularität und Kompatibilität sinnvoll anwendbar und zielt auf die fabrikübergreifende Austauschbarkeit und Vereinfachung der Fabrikobjekte.
Schließlich wird es immer objektspezifische Wandlungsbefähiger geben, die sich nicht eindeutig einer der bisherigen Befähigerarten zuordnen lassen. Im
Das Objekt Technische Anlagen und Verteilung selbst besteht aus den drei Objekten Haupttrassen, Netze und Anschlüsse, denen in Bild 5.22 a die 7 Wandlungsmerkmale zugeordnet sind. Sie gelten für alle drei Unterobjekte. Eine vollständige Auflistung der Wandlungspotenzialmerkmale für alle 116 Objekte zweiter Ordnung findet sich in Anhang A 2.
137
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
Fabrikobjekt 1. Ordnung
T.IV.1
Technische Anlagen - Verteilung
Fabrikobjekte 2. Ordnung
T.IV.1.1 Haupttrassen T.IV.1.2 Netze T.IV.1.3 Anschlüsse
Wandlungsmerkmale • Ver- und Entsorgungsnetz (UN) *) • Medienraster (UN) • Reserve (SK) • Zugänglichkeit (SK) • Aufbau (MD) • Absperreinrichtungen (MD) • Kennzeichnung (KO) • Art der Anschlüsse (KO)
*) UN Universalität, MD Modularität, SK Skalierbarkeit, KO Kompatibilität
5
a) Fabrikobjekte und zugehörige Wandlungsmerkmale (Beispiel)
Teilpotenzial
Wandlungsmerkmal
Beschreibung
Zielerreichung
Medienraster
Weite des Rasters, mit dem die Medien verlegt sind
> 21 m 15 bis 21m 9 bis 15 m 3 bis 9 m 21 m (15 m, 21 m] (9 m, 15 m] (3 m, 9 m] (0 m, 3 m] (0 %, 10 %] (10 %, 40 %] (40 %, 70 %] (70 %, 100%] >100 % nicht erfüllt vereinzelt erfüllt teilweise erfüllt größtenteils erfüllt erfüllt nicht erfüllt vereinzelt erfüllt teilweise erfüllt größtenteils erfüllt erfüllt nicht erfüllt vereinzelt erfüllt teilweise erfüllt größtenteils erfüllt erfüllt nicht erfüllt vereinzelt erfüllt teilweise erfüllt größtenteils erfüllt erfüllt nicht erfüllt vereinzelt erfüllt teilweise erfüllt größtenteils erfüllt erfüllt
0% 25% 50% 75% 100% 0% 25% 50% 75% 100% 0% 25% 50% 75% 100% 0% 25% 50% 75% 100% 0% 25% 50% 75% 100% 0% 25% 50% 75% 100% 0% 25% 50% 75% 100% 0% 25% 50% 75% 100%
Ist-Teilpotenzial IstAuswahl wert x
5
Soll-Teilpotenzial AusSoll-Wert wahl
50%
75% x
x
50%
75% x
x 75%
25% x
x 25%
100% x
x 25%
100% x
x 25%
75% x
100%
75% x x
x
50%
IstPotenzial:
40,6%
100% x SollPotenzial:
87,5%
Bild 5.23: Ermittlung des Ist- und Soll-Wandlungspotenzials für das Bewertungsobjekt „Technische Anlagen-Verteilung“ © IFA 14.793_B
139
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
Techn. AnlagenVerteiler Bewertungsklassen sehr hoch hoch mittel niedrig
5
sehr niedrig
WP [%]
Elektrohängebahn
Hochregallager
Prod.mittel Abfüll.
Prod.mittel Ansatz
Struktur
Prod.konzept
Tragwerk
Layout
Generalbebauung
Bauform
Ausbau
Hülle
WPDifferenz [%]
100
100
80
80
60
60
40
40
20
20
0
0 -20 -40 -60 -80 -100 Bewertungsobjekt Ist-Wandlungspotenzial Soll-Wandlungspotenzial Ist-Soll-Wandlungspotenzialdifferenz
WP Techn. Anl. – Verteil. Prod.-mittel Abfüll. Prod.-konzept
Bewertungsklassen übermäßig angemessen befriedigend ausreichend bis mangelhaft ungenügend
: Wandlungspotenzial : Technische Anlagen – Verteilung : Produktionsmittel : Abfüllung : Produktionskonzept
Bild 5.24: Vergleich der Soll- und Ist-Wandlungsfähigkeit (Beispiel) © IFA 13.467_B
Insgesamt wird deutlich, dass keine ideale Wandlungsfähigkeit definiert werden kann, sondern nur eine angemessene Wandlungsfähigkeit, die dann gegeben ist, wenn die Ist-Wandlungsfähigkeit mit der Sollwandlungsfähigkeit der einzelnen Objekte mit einer vernünftigen zulässigen Abweichung übereinstimmt. Für die festgestellten Defizite sind technische oder organisatorische Lösungen zu erarbeiten und der dazu notwendige Aufwand ist abzuschätzen. Der letzte Schritt besteht dann in der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der ermittelten Maßnahmen. In der Regel wird die Sollwandlungsfähigkeit jedoch zu höheren Aufwendungen gegenüber klassischen, wenig wandlungsfähigen Lösungen führen. Dieser Mehraufwand ist wirtschaftlich nur dadurch zu rechtfertigen, dass bei Veränderungen der Objekte die Aufwendungen für die Veränderung um so viel geringer sind, dass die Mehrinvestitionen in möglichst kurzer Zeit amortisiert werden. In der Regel
140
wird dies zu einer wirtschaftlichen Wandlungsfähigkeit führen, die unterhalb der Sollwandlungsfähigkeit liegt. Die Grundüberlegungen zur Betrachtung der Wandlungskosten eines Wandlungsobjektes über seinen Lebenszyklus sind in Bild 5.25 schematisch verdeutlicht [Heg07] Die konventionelle wandlungsträge Lösung wird zwar geringere Objektkosten verursachen, dafür aber hohe direkte und indirekte Durchführungskosten. Die hoch wandlungsfähige Lösung ist demgegenüber durch eine Mehrinvestition gekennzeichnet, der jedoch deutlich niedrigere Wandlungsprozesskosten gegenüberstehen. Die Summe beider Kosten über den Lebenszyklus führt zu einer dazwischenliegenden Lösung. Heger hat zur Bewertung der Wirtschaftlichkeit der Wandlungsfähigkeit einen Vorschlag auf Basis der Kapitalwertmethode entwickelt, die aber hier nicht näher erläutert werden soll [Heg07]. Letzten Endes handelt es sich um eine unternehmerische Entschei-
5.8 Regelkreis der Wandlungsfähigkeit
dung, bei der sich die Frage stellt, wie viel die Wandlungsfähigkeit wert ist. In realen Projekten wurde beispielsweise als Richtwert 8 bis 10% Mehrkosten gegenüber einer konventionellen wandlungsträgen Lösung vereinbart.
rietät der Produkte und Prozesse zu unterscheiden. Die Dimension und Tragweite dieser Unsicherheiten führt im nächsten Schritt zu einem wünschenswerten Veränderungspotenzial, das operativ, taktisch oder strategisch angelegt sein kann. Das Unternehmen unterliegt jedoch unabhängig von dem wünschenswerten Veränderungspotenzial bestimmten Einschränkungen unterschiedlicher Art. Diese bestimmen als vorhandene Freiheitsgrade den Handlungsspielraum. Letzterer ist nun als mögliches Veränderungsausmaß hinsichtlich der Veränderungsobjekte zu definieren. Die Gegenüberstellung des möglich erscheinenden Veränderungsausmaßes mit dem zuvor bestimmten wünschenswerten Veränderungspotenzial wird in der Regel einen technischen und/oder organisatorischen Konflikt offenbaren. Dessen Auflösung kann durch die Erweiterung der Freiheitsgrade oder durch Infragestellung der Veränderungstreiber erfolgen. Sie führen unter Berücksichtigung der Veränderungsstrategie ggf. in mehreren Iterationsschleifen zur potenziellen Veränderungsfähigkeit der Marktund/oder Produktleistung. Daraus ergeben sich dann konkrete Aktionen zur Veränderung von Strukturen und Abläufen. Es wird deutlich, dass nicht nur die Veränderung selbst, sondern auch die potenzielle
5.8 Regelkreis der Wandlungsfähigkeit Offensichtlich geht es bei der Festlegung der Wandlungsfähigkeit generell darum, ein wirtschaftlich sinnvolles Gleichgewicht zwischen den externen Forderungen des Marktes und den internen Möglichkeiten des Unternehmens zu finden. Bild 5.26 zeigt hierzu ein einfaches Wirkschema, das eine Außen- und Innensicht unterscheidet, aus deren dynamischem Zusammenspiel sich die potenzielle Veränderungsfähigkeit der Markt- und Produktionsleistung ergibt. Beginnend mit den genannten Veränderungstreibern ist dort zwischen externen und internen Unsicherheiten und der vorhandenen oder beabsichtigten Va-
Wandlungskosten
Kostenbetrachtung im Lebenszyklus konventionell wandlungsträge
1 Wandlungsobjektkosten • Anfangs-, Erst- und Errichtungsinvestitionen • Ersatz- und Zusatzinvestition
• Umstellung, Abbau • Wiederherstellung der Prozessfähigkeit
3 Indirekte Durchführungskosten • Produktionsausfall => Entgangener Gewinn • Mehrarbeit • Bestandskosten
höchst wandlungsfähig
1 Kosten
2 Direkte Durchführungskosten
5
1 2
…
… Varianten
3
2 3 niedrig
hoch
Wandlungsfähigkeit
Bild 5.25: Einordnung der wirtschaftlichen Wandlungsfähigkeit © IFA 14.794_B
141
B
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
Strategie
Vorhandene Freiheitsgrade
Externe und interne Veränderungstreiber
Potenzielle Veränderungsfähigkeit
Innensicht
Außensicht
• Marktleistung • Produktionsleistung
5
Wünschenswertes Veränderungspotenzial
Mögliches Veränderungsmaß
Bild 5.26: Regelkreis der Veränderungsfähigkeit
Aktionen
© IFA 9899SWA_B
und tatsächlich erreichte Veränderungsfähigkeit dynamischen Einflüssen unterliegt, die permanent in einer Außen- und Innensicht abzugleichen sind. Aus der systematischen Analyse der Fabrikbausteine hinsichtlich ihrer Wandlungsfähigkeit lassen sich bereits Ansätze für die Wandlungsfähige Fabrik ab-
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
Adaptive•Gebäude
• Nutzungsneutralität • modularer Aufbau • Erweiter- bzw. Reduzierbarkeit • Atmungsfähigkeit
leiten, die ein hohes Erfolgspotenzial besitzen, Bild 5.27. Am Anfang sollte immer eine durchdachte Marktstrategie stehen, welche die gesamte Organisation auf den Kundennutzen ausrichtet. Dies führt zu
Zukunftsrobuste Technik und Technologien
• Werkzeugneutrale Variantenbildung
• schneller Variantenwechsel • elastische Bereichsverkettung • mobile Ressourcen Anforderungsgerechte Produktionsstrukturen
Marktorientierte Produktausrichtung
• produktorientierte Aufbauorganisation • prozessorientierte Ablauforganisation • marktnahe Variantenerzeugung • Kundennutzenorientierung
• Humanzentrierung • Mitarbeiterpartizipation • Autonomie und Verantwortung • attraktive Entlohnungssysteme • flexible Arbeitszeiten
• Integrationsfähigkeit neuer Produkte • plattformorientierte Segmentierung • Programmflexibilität • Layouterweiterbarkeit
Anforderungsgerechte • Logistikstrategien
• dezentrale Belieferung • dezentrale Lagerung • einfache Steuerungsprinzipien • Nutzung von Kooperationen
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik Bild 5.27: Bausteine und Merkmale der Wandlungsfähigkeit aus fabrikplanerischer Sicht
© IFA 14.795_B
142
5.9 Leitbild der wandlungsfähigen Fabrik
Erfolgreicher Wandel
Wandlungsprozess • Kongruenz zwischen Wandlungsanforderung und Wandlungsziel • Vom Markt geforderte Geschwindigkeit • Geringer Veränderungsaufwand
Wandlungsfähigkeit • Konfigurations- und Rekonfigurationspotenzial
Wandlungskompetenz • Veränderungs- und Anpassungsbereitschaft der Mitarbeiter
Wandlungsbeherrschung • Qualität des geplanten Wandels
5
Bild 5.28: Erfolgsfaktoren des Wandels © IFA 10.150_Wd_B
anforderungsgerechten Produktstrukturen, wie sie beispielsweise im GVP-Ansatz beschrieben wurden (vgl. Abschn. 4.11). Die eingesetzten Technologien und Techniken müssen dem Gedanken folgen, genau die Losgrößen zu fertigen, die der Kunde bestellt. Die Logistikstrategien der Belieferung und Auftragsabwicklung müssen dem Flussprinzip folgen. Die Gebäude sind adaptiv zu gestalten. Schließlich ist die Einbeziehung der Mitarbeiter in die Gestaltung und den Betrieb der Fabrik unerlässlich. Diese Aspekte werden in den folgenden Kapiteln jeweils auf den verschiedenen Fabrikebenen vertieft behandelt. Die Ausführungen dieses Kapitels haben deutlich gemacht, dass der Begriff Wandlungsfähigkeit konkret fassbar wird. Wenn man Wandlungsfähigeit als strategischen Erfolgsfaktor ansieht, sind die in Bild 5.28 dargestellten Zusammenhänge zu beachten [Her07]. Ein erfolgreicher Wandel wird nur gelingen, wenn der Wandlungsprozess als ein strategischer Ansatz aufgefasst wird, der den permanenten Abgleich zwischen Soll- und Ist-Wandlungsfähigkeit im Auge hat, sich auf die am Markt geforderte Geschwindigkeit einstellt und dabei den Aufwand nicht außer Acht lässt. Dabei genügt es nicht nur, die notwendige Wandlungsfähigkeit im Sinne einer Prozessfähigkeit zu erreichen, sondern sie im Falle einer notwendigen
Veränderung auch in der notwendigen Zeit zu nutzen, den Wandlungsprozess also auch zu beherrschen. Dies wiederum setzt die Wandlungskompetenz der Mitarbeiter voraus.
5.9 Leitbild der wandlungs fähigen Fabrik Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich eine Visionen der wandlungsfähigen Fabrik entwickeln, die ihrerseits auf den Leitbildern einer zukunftsfähigen Produktion basiert. Bild 5.29 unterscheidet dabei entsprechend Bild 2.9 nach der Außensicht (Produktion) und der Innensicht (Fabrik). Abweichend von der konventionellen Fabrik, die durch Wandlungsträgheit und interne Optimierung gekennzeichnet ist, muss sich die zukünftige Produktion an Marktstrategien und den daraus abgeleiteten Produkten ausrichten. Dies erfordert Teams, die auf der Basis von klar kommunizierten Zielen eigenverantwortlich Geschäftsprozesse planen und betreiben. Sie orientieren sich dabei an technischen und betrieblichen Grenzwerten der Praxis, aber auch an physikalischen und logistischen Grenzen.
143
5 Systematik der Veränderungsfähigkeit
Leitbild Produktion • Ausrichtung an Markt und Strategie • Eigenverantwortliche Teams • Orientíerung an best practice und Grenzwerten • Angemessene Wandlungsfähigkeit auf allen Fabrikebenen
5
• Nutzungsneutrale, kommunikationsfördernde Gebäude mit ästhetischer Qualität • Externe Vernetzungsfähigkeit • Nachhaltigkeit aus wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Sicht
Vision Fabrik • Gliederung in Wertschöpfungseinheiten • Fabrikumrüstzeit „Null“ • Plug & Produce-Technik • Variantenbildung in Produktionsendstufen • Material immer im Fluss • Vorgetestete mobile Produktionsmodule • Erscheinungsbild spiegelt den Anspruch der Marke • Emission „Null“ • Attraktive und gesunde Arbeitsumgebung
Bild 5.29: Vision der wandlungsfähigen Fabrik © IFA G9536BSW_Wd_B
In der Ausführung der Fabrik gilt der Grundsatz angemessener Wandlungsfähigkeit und Mobilität der Betriebsmittel und der Organisation, und dies auf allen Strukturebenen vom Standort der Fabrik über die Gebäude, die Produktionssysteme bis hin zum einzelnen Arbeitsplatz. Dies bedingt nutzungsneutrale Gebäude, die mehrere Produkt- und Prozessgenerationen überdauern und dennoch einen gestalterischen Anspruch verwirklichen, der dem Selbstverständnis des Unternehmens und seiner Marktleistung entspricht. Weiterhin ist eine ausgeprägte externe Vernetzungsfähigkeit in logistischer, organisatorischer und kommunikationstechnischer Hinsicht zu gewährleisten, um mit Lieferanten, Entwicklungspartnern oder Kunden effektiv kooperieren zu können. Der Begriff der Nachhaltigkeit umfasst schließlich einen auf Dauer angelegten wirtschaftlichen Erfolg, der aber die Berücksichtigung der sozialen Belange der Mitarbeiter und ein ökologisch verantwortliches Handeln einschließt. Als Vision entstehen daraus Fabriken, die sich – nach Wertschöpfungseinheiten für unterschiedliche Marktanforderungen gegliedert – in kürzester Zeit aufwandsarm umrüsten lassen. Als Metapher kann
144
ein modernes Theater dienen, dessen Bühnentechnik einen geräuschlosen Szenenwechsel in wenigen Minuten bei offenem Vorhang erlaubt. Diese Umrüstfähigkeit bedingt in einer Fabrik Produktionsmodule, die im Minuten- bis Stundenbereich rekonfigurierbar sind, weil sie sich dank einer leichten Beweglichkeit und einer lokalen Steuerung mit einer übergeordneten Steuerung verständigen können. Wegen der notwendigen Variantenbeherrschung muss die klassische Trennung zwischen Vorfertigung und Montage infrage gestellt werden. Die Variantenbildung erfolgt in sogenannten Produktionsendstufen im spätestmöglichen Schritt der Endmontage durch Integration variantenbestimmender Fertigungsoperationen in den Montageablauf. Eine weitere logistisch motivierte Vision ist der gleichmäßige Fluss des Materials durch die Wertschöpfungsstufen. Dies sichert niedrigste Bestände, kürzeste Durchlaufzeiten und demzufolge eine höchste Reaktionsfähigkeit. „Produziere in einem Tag das, was der Kunde bis zum Abend des vorherigen Tages bestellt hat, nicht mehr, aber auch nicht weniger“, so könnte eine Maxime dieser Vision lauten. Schließlich geht die wandlungsfähige Fabrik bis hin zu vorgetesteten, mobilen Fab-
5.10 Literatur
rikmodulen, die auf dem Fabrikgelände, aber auch zu anderen Standorten hin verschoben werden können. Dabei gilt die Null-Emissions-Fabrik als Maßstab ebenso wie eine gesunde und attraktive Arbeitsumgebung. Bevor der dazu notwendige Planungsprozess unter dem Begriff Synergetische Fabrikplanung in Kap.15 im Detail entfaltet wird, müssen die Planungsinhalte bekannt sein, die zu einer funktionsfähigen Fabrik führen. Diese werden entsprechend den in Bild 5.18 dargestellten Ebenen Arbeitsstation, Unterbereich/ Bereich, Werk und Fabrik beschrieben. Dabei wird jede Ebene einerseits aus der funktionalen und andererseits aus der räumlichen Gestaltungssicht beschrieben.
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[Heg07]
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5.10 Literatur [Kal89] [Abe06]
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147
Kapitel 6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
6
150
6.1
Übersicht
155
6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3
Produktionstechnologie Fertigungsverfahren Montageverfahren Logistikverfahren
158 158 162 168
6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3
Betriebsmittel Fertigungsmittel Montagemittel Logistikmittel
176 178 186 195
6.4
Literatur
203
Bild 6.1:
Bestimmungsgrößen einer Arbeitsstation
155
Bild 6.2:
Randbedingungen und Ziele der Arbeitsgestaltung (nach Martin)
156
Bild 6.3:
Gestaltungsfelder einer Arbeitsstation aus Prozesssicht
156
Bild 6.4:
Merkmale für die Hauptgruppen der Fertigungsverfahren (Spur)
158
Bild 6.5:
Veränderungsfähigkeit von Fertigungsverfahren
161
Bild 6.6:
Bestandteile und Struktur eines Montageproduktes (Spur)
162
Bild 6.7:
Bestimmung von Produktvarianten (Schuh)
163
Bild 6.8:
Teilfunktionen einer Montagestation
163
Bild 6.9:
Teilfunktionen beim Montieren (nach VDI 2860)
164
Bild 6.10: Gliederung der Fertigungshauptgruppe Fügen (DIN 8593)
165
Bild 6.11: Handhabungsrelevante Werkstückmerkmale (FhG IPA)
166
Bild 6.12: Teilfunktionen des Handhabens (VDI 2860)
167
Bild 6.13: Veränderungsfähigkeit von Montageverfahren
167
Bild 6.14: Haupt- und Teilprozesse der industriellen Produktion
168
Bild 6.15: Elemente und logistische Kennlinien der Produktionsprozesse in einem exemplarischen Prozesskettenplan
169
Bild 6.16: Logistische Zielgrößen für die Referenzprozesse der Produktion
170
Bild 6.17: Trichtermodell und Durchlaufdiagramm einer Arbeitsstation (nach Bechte)
171
Bild 6.18: Logistische Zielgrößen im Durchlaufdiagramm
172
Bild 6.19: Logistische Kennlinien einer Arbeitsstation (Beispiel)
173
Bild 6.20: Parameter der Produktionskennlinien
174
6
151
6
152
Bild 6.21: Transportkennlinien
175
Bild 6.22: Ideale und reale Servicegradkennlinie für einen Lagerartikel
175
Bild 6.23: Gliederung der Betriebsmittel aus Sicht der Fabrikplanung
177
Bild 6.24: Einteilung von Werkzeugmaschinen (Spur)
178
Bild 6.25: Produktivität und Flexibilität von Fertigungseinrichtungen (nach Weck)
179
Bild 6.26: Elemente einer Werkzeugmaschine (Tönshoff)
180
Bild 6.27: Automatisierungsstufen von Einzelmaschinen (in Anlehnung an Spath)
181
Bild 6.28: Aufbau einer Werkzeugmaschine am Beispiel eines Drehautomaten (Hüller Hille Hessap)
182
Bild 6.29: Rekonfigurierbare Werkzeugmaschine (Denkena)
182
Bild 6.30: Prinzip eines flexiblen Fertigungssystems
183
Bild 6.31: Hydraulische Doppelständerpresse (Werkbild Dunkes GmbH)
184
Bild 6.32: Veränderungsfähigkeit von Fertigungsmaschinen
185
Bild 6.33: Einteilung der Montagesysteme nach Leistung und Komplexität (B. Lotter)
186
Bild 6.34: Montagearbeitsplatz für manuelle Montage (Bosch Rexroth)
187
Bild 6.35: Montagearbeitsplatz für satzweise Montage (Lotter)
188
Bild 6.36: Montagearbeitsplatz für stückweise Montage (LP-Montagetechnik)
188
Bild 6.37: Gestaltung U-förmiger Montagesysteme
189
Bild 6.38: Manuelle Fließmontage
190
Bild 6.39: Mehrstationen-Montagemaschine in Rundtaktbauweise (Lotter)
191
Bild 6.40: Anordnungs- und Verkettungsprinzipien von Montagesystemen
192
Bild 6.41: Systembaukasten für Längstransfer-Montageanlagen (Werkbild team technik)
192
Bild 6.42: Roboterbauformen für die Montage (Hesse)
193
Bild 6.43: Veränderungsfähigkeit von Montagestationen und -maschinen
193
Bild 6.44: Teil- und Elementarprozesse der Logistik (in Anlehnung an Fleischmann, Gudehus und ten Hompel)
195
Bild 6.45: Komponenten eines Stückgut-Lagers
196
Bild 6.46: Typische Lagerbauarten für Stückgüter (Schulze)
197
Bild 6.47: Ausführungsformen von Hochregallagern (ten Hompel)
198
Bild 6.48: Liftsysteme (Kardex)
199
Bild 6.50: Staplerarten (nach ten Hompel)
200
Bild 6.49: Fabrikübliche Stückgüter-Fördermittel
200
Bild 6.51: Beispiel eines Kommissioniersystems (Gudehus)
201
Bild 6.52: Realisierungsbeispiele von Kommissioniersystemen
202
Bild 6.53: Veränderungsfähigkeit von Logistikeinrichtungen
203
6
153
6.1
Übersicht
Arbeitsstationen bilden aus fabrikplanerischer Sicht den kleinsten Baustein der Prozessgestaltung. Sie realisieren eine Arbeitsaufgabe im Zusammenspiel von Mensch und Betriebsmitteln mit dem Ziel, bei geringstmöglichem Aufwand eine Werterhöhung eines Einzelteils, einer Komponente oder einer Baugruppe zu bewirken. Bild 6.1 nennt die Bestimmungsgrößen, welche eine Arbeitsstation beschreiben. Als Eingangsgrößen gehen das Ausgangsmaterial in Form von Rohmaterial, Halbzeug, vorbearbeiteten Teilen, Fertigteilen, Teilesätzen oder teilmontierten Baugruppen in die Station ein. Zur Durchführung des Arbeitsprozesses sind i.d.R. Energie (z.B. Strom, Dampf, Brenngas) sowie Prozessmedien erforderlich (z.B. Wasser, Schutzgas). Die notwendige Information steht in Form von Zeichnungen, Arbeitsplänen, Steuerprogrammen und Arbeitsanweisungen zur Verfügung. In der Arbeitsstation wird mit Hilfe eines Betriebsmittels (Werkzeugmaschine, Montageeinrichtung, Glühofen usw.) sowie von Werkzeugen und ggf. Vorrichtungen der eigentliche Arbeitsprozess durchgeführt. Je nach dem Grad der Automatisierung ist der Mensch dabei mehr oder weniger
intensiv eingebunden. Die Arbeitsstation erfordert eine bestimmte Fläche für das Betriebsmittel, den Menschen sowie das an der Arbeitsstation bereitgestellte und fertig gestellte Material. Betriebsmittel, Mensch und Fläche sind also die Grundgrößen der Arbeitsstation. Am Ausgang der Arbeitsstation steht das Arbeitsergebnis bereit, hier ganz allgemein als Produkt bezeichnet. Zusätzlich fallen jedoch auch unerwünschte Ergebnisse in Form von Materialabfall (z.B. Späne, Reststücke, Zunder, Hilfsstoffe) an, die sachgerecht zu entsorgen sind. Ebenso unerwünscht sind Emissionen in Form von Lärm, Schwingungen, Wärme, Gasen, Stäuben und Dämpfen, die vor allem unter gesundheitlichen Aspekten beherrscht werden müssen. Schließlich liefert die Arbeitsstation auch Informationen, z. B. über das Arbeitsergebnis hinsichtlich ausgewählter Qualitätsmerkmale, der Zeitdauer und der Menge. Die Arbeitsstation bildet meist ein Glied in einer Prozesskette, welche durch die Einbindung in den Materialfluss, Informationsfluss, Kommunikationsfluss und die Arbeitsorganisation der nächsthöheren Ebene gekennzeichnet ist. Schließlich zählen die Umgebungsbedingungen der Arbeitsstation aus Prozesssicht (z.B. Klimatisierung, Reinraum) und Humansicht (Belüftung, Beleuchtung, Farbgebung usw.)
6
Umgebungsbedingungen
Betriebsmittel
• Material • Energie • Medien • Information
Eingang
Mensch
Fläche
• Produkt • Abfall • Emissionen • Informationen
Ausgang
Einbindung in
Bild 6.1: Bestimmungsgrößen einer Arbeitsstation
• • • • •
Materialfluss Energiefluss Informationsfluss Kommunikationsfluss Organisation
© IFA 10.179SW_B
155
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Menschengerechte Arbeitsgestaltung
Ziele
• Technisch - wirtschaftliche Rationalität • Individueller Gesundheitsschutz • Soziale Angemessenheit • Persönlichkeitsförderung
Ökonomisches Prinzip (Mehrwert) Bild 6.2: Randbedingungen und Ziele der Arbeitsgestaltung (nach Martin) © IFA 10.178SW_B
6
zu ihren Gestaltungselementen. Letztere gehören zum Gestaltungsfeld des Gebäudes und werden in Kap. 10 noch ausführlich behandelt. Bei der Gestaltung von Arbeitsstationen stehen sich eine technisch-wirtschaftliche und eine menschlichorganisatorische Sicht gegenüber, die es zu einer langfristig erfolgreichen Synthese zu vereinigen gilt. Bild 6.2 zeigt diese Pole unter den Begriffen ökonomisches Prinzip (Mehrwert erzeugen) und menschengerechte Arbeitsgestaltung, aus denen sich vier Ziele entwickeln [Mar94]. Die technisch-wirtschaftliche Rationalität verlangt eine funktional richtige Zuordnung der maschinellen und menschlichen Leistungen einschließlich der optimalen Kombination der Systemelemente,
die Abstimmung von Arbeitsanforderung und menschlichen Fähigkeiten sowie den wirtschaftlichen Einsatz des Menschen. Der individuelle Gesundheitsschutz gewährleistet die Vermeidung arbeitsbedingter Erkrankungen, den Abbau von Über- und Unterforderung sowie das Schaffen von Wohlbefinden bei der Arbeit. Mit der sozialen Angemessenheit der Arbeit ist die Sicherstellung sozialer Normen, die Förderung zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die Partizipation der Beteiligten an der Arbeitssystemgestaltung angesprochen. Letztere erweist sich wegen der ausführlich diskutierten häufigen Umfeldveränderungen aus Gründen einer raschen und effektiven Planung sowie notwendigen Akzeptanz der Mitarbeiter zunehmend als unverzichtbar. Schließlich zielt die Persönlichkeitsförderung darauf ab, Arbeitssysteme so zu gestalten, dass sich Mitarbeiter bewähren, bestätigen und selbst verwirklichen können, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen erweitern und Dispositionsspielräume gewinnen. Die konkreten Gestaltungsfelder einer Arbeitsstation ergeben sich nach diesen Vorüberlegungen aus Prozesssicht im Rahmen der Fabrikplanung entsprechend Bild 6.3. Dabei ist zu beachten, dass diese Planungsaufgaben nicht etwa von einer einzelnen Person erfüllt werden können, sondern stets die Zusammenarbeit eines sachkundigen Planungsteams bedingen, dessen Zusammensetzung und Vorgehensweise Kapitel 15 noch ausführlich darlegt.
Technologie
Technik
• Fertigungsverfahren
• Betriebsmittel
• Montageverfahren
• Informationsbereitstellung
• Logistikverfahren
• Ver-/ Entsorgung
Arbeitsstation • Belastung • Beanspruchung • Gesundheit / Sicherheit Ergonomie
• Aufgabe • Anforderung • Arbeitszeitmodell • Entgeltverfahren Organisation
Bild 6.3: Gestaltungsfelder einer Arbeitsstation aus Prozesssicht © IFA 10.177SW_B
156 © In
6.1 Übersicht
Die Ausgangssituation ist durch die Fertigungs- oder Montageaufgabe eines Teile- bzw. Baugruppenspektrums gegeben, das in der Zukunft zu produzieren ist. Hierzu sind im Rahmen der Technologieplanung Fertigungs- bzw. Montagefunktionen zu bestimmen und die lokalen Logistikfunktionen der Materialbereitstellung und -entsorgung einschließlich der dazu notwendigen Informationen festzulegen. Dabei spielen strategische Überlegungen hinsichtlich der zukünftig wichtigen Technologien auf Basis der sogen. Technologiedifferenzierung eine große Rolle. Diese wird nach der Technologiekompetenz und Technologieattraktivität bewertet [Zeh97]. Unter der Technologischen Kompetenz werden sowohl die produktionstechnischen Fähigkeiten bezüglich einer bestimmten Technologie als auch die zur Verfügung stehenden Ressourcen für die Erfüllung einer Fertigungsaufgabe verstanden. Das Potenzial zur Weiterentwicklung der Technologischen Kompetenz wird durch die Technologieattraktivität beschrieben. Sie berücksichtigt die Verfügbarkeit von Technologien, die Interdependenzen zwischen Technologien und eventuelle Substitutionstechnologien [Nyh09]. Die Technologische Kompetenz und die Technologieattraktivität eines Produktionsprozesses definieren dessen Position im sogen. Technologieportfolio. Damit lassen sich die strategische Relevanz und das Entwicklungspotenzial der Produktionsprozesse erkennen und eine Einteilung in Kernkompetenz-, Differenzierungs- und Standardprozesse vornehmen. In Kernkompetenzen wird investiert, bei Standardprozessen wird desinvestiert und bei Differenzierungs prozessen wird eine weitere Zerlegung vorgenommen, die entweder zu Kern- oder Standardprozessen führt. Für den Fabrikplaner ist die Kenntnis dieser strategischen Überlegungen insofern von Bedeutung, als sie möglicherweise zu neuen Anforderungen an die Prozess- und Gebäudegestaltung führen. Die Einbettung dieses Ansatzes in die strategische Standortplanung wird in Abschnitt 14.5 weiter ausgeführt. Die so bestimmten Technologien sind durch die Technikplanung in Arbeitsmittel in Form von Betriebsmitteln (Werkzeugmaschinen, Montagestationen, Lagerund Transporteinrichtungen) umzusetzen. Ferner ist
die Informationsbereitstellung für das Betriebsmittel und den Werker zu gestalten und schließlich die Verund Entsorgung des Materials durch Speicher- und Einlegegeräte sowie die Abfallentsorgung (Späneförderer, Kühlmittelreinigung) technisch umzusetzen. Technologie- und Technikplanung sind nur bei einem neuen Produkt erforderlich. Meist wird im Rahmen der Arbeitsplatzgestaltung der überwiegende Teil der bereits eingesetzten Technologien übernommen. Für vorhandene Produkte liegen i.d.R. Arbeitspläne vor, die für jedes Werkstück die Arbeitsfolge, die erforderlichen Betriebsmittel und die benötigte Rüstzeit und Stückzeit enthalten. Sie bilden später die Basis für die Kapazitäts- und Materialflussplanung. Das Gestaltungsfeld Organisation und Ergonomie nimmt den Menschen in den Blick, der den Arbeitsprozess durchführt. Die hier gefundenen Lösungen unterliegen im besonderen Maße zahlreichen Vorschriften und insbesondere der Mitbestimmung durch den Betriebsrat, so dass dessen frühzeitige Einbeziehung dringend geboten ist. Ziel der Organisation ist es zunächst, die durchzuführende Aufgabe je Arbeitsstation generell festzulegen. Sie kann von reinen überwachenden und monotonen Tätigkeiten bis zu anspruchsvollen Aufgabenbündeln reichen, wie sie in Fertigungsinseln und -segmenten anzutreffen sind. Aus der Arbeitsaufgabe resultieren Anforderungen an den Menschen, die bestimmte Fähigkeiten erfordern und damit die Basis für eine Personalplanung und -rekrutierung oder für Qualifizierungsmaßnahmen bilden. Zu den Aufgaben der Organisationsgestaltung gehört weiterhin der Entwurf eines Arbeitszeitmodells, das wegen der raschen Reaktionsfähigkeit auf Kundenbedürfnisse eine hohe Bedeutung hat. Schließlich ist das Entgeltverfahren zu bestimmen, das zunehmend darauf abzielt, dem Mitarbeiter nicht seine Arbeitskraft abzukaufen, sondern ihn nach dem Arbeitsergebnis zu bezahlen, wobei er weitgehende Dispositionsspielräume erhält. Das vierte Gestaltungsfeld einer Arbeitsstation behandelt deren Ergonomie (griech. Ergon=Arbeit, nomos=Regel). Hierbei geht es darum, die Beanspruchung, die aus der Belastung des Werkers durch die Arbeitsaufgabe resultiert, so zu halten, dass sie für
6
157
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
das Individuum auf Dauer schädigungslos, ausführbar, zumutbar, zufriedenheitsfördernd und sozialverträglich ist [Mar94]. Dabei ist ein Weg zwischen einer Über- und Unterforderung zu finden. Oberstes Ziel der ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung ist die Erhaltung der Gesundheit und körperlichen Unversehrtheit der Mitarbeiter. Im Folgenden werden die vier Gestaltungsfelder vertieft.
6.2 Produktionstechnologie
6
6.2.1 Fertigungsverfahren
Unter dem Begriff Produktionstechnologie sollen alle Verfahren zusammengefasst werden, die als Fertigungsverfahren zur Herstellung von geometrisch bestimmten Werkstücken dienen, als Montageverfahren Teile und Baugruppen und Endprodukte zusammenfügen und als Logistikverfahren Transportund Lagerungsvorgänge von Teilen, Baugruppen und Produkten realisieren. Diese Gliederung der Produktionstechnologie wird aus Sicht der Fabrikplanung gewählt, weil sich diesen drei Teilgebieten später eindeutig Betriebsmittel und in einem weiteren Schritt Produktions- bzw. Logistikbereiche zuordnen lassen. Hierdurch ergibt sich ein Widerspruch zur DIN 8580 (Fertigungsverfahren) [DIN8580], die den Begriff Montage nicht kennt, in der Hauptgruppe „Fügen“ aber die Kernfunktion der Montage beschreibt.
Schaffen der Form
Sämtliche Verfahren werden im Folgenden nur so weit vorgestellt, dass ihre Eigenschaften hinsichtlich ihres Wirkprinzips für den Fabrikplaner verständlich werden, ohne etwa die physikalischen oder chemischen Grundlagen zu erläutern. Ihre Auswahl im Rahmen der Fabrikplanung erfolgt durch Verfahrensspezialisten und bedarf i.d.R. eines langen Vorlaufs, um entweder aus langjähriger Praxis oder mit Hilfe von Vorversuchen die notwendige Prozessfähigkeit und Prozesssicherheit zu gewährleisten.
Die Fertigungsverfahren sind in der DIN 8580 genormt, die eine Einteilung nach sechs Hauptgruppen entsprechend den in Bild 6.4 genannten Merkmalen vornimmt [Spu96]. Die Herstellung der durch Werkstoff, Geometrie, Maße, Toleranzen und Oberflächenrauigkeiten in Zeichnungen dokumentierten Werkstücke erfolgt entweder durch Schaffen der Form aus einem formlosen Stoff, durch Verändern der Form eines Ausgangsmaterials oder durch Ändern von Stoffeigenschaften. Die Gruppe der Urformverfahren umfasst hauptsächlich Gießverfahren, die Metalle, Keramiken oder Kunststoffe aus dem flüssigen, breiigen oder pastenförmigen Zustand in eine Form bringen. Die so entstandenen Gussrohlinge erfahren bei metallischen und keramischen Werkstoffen i. d. R. noch eine
Zusammenhalt schaffen
Zusammenhalt schaffen
Zusammenhalt vermindern
Zusammenhalt vermehren
Hauptgruppe 1 Urformen
Hauptgruppe 2 Umformen
Hauptgruppe 4 Fügen
Hauptgruppe 5 Hauptgruppe 3 Beschichten Trennen
Bild 6.4: Merkmale für die Hauptgruppen der Fertigungsverfahren (Spur) © IFA 10.181SW_B
158
Ändern der Stoffeingenschaften
Ändern der Form
Hauptgruppe 6 Stoffeigenschaft ändern
6.2 Produktionstechnologie
mechanische Nachbearbeitung, während Kunststoffteile aufgrund ihrer hohen Form- und Maßgenauigkeit sowie Oberflächengüte meist direkt verwendbar sind. Die Umformverfahren unterscheiden das Massivumformen und das Blechumformen. Bei erstem erfolgt die Umformung eines festen oder teigigen Körpers in eine andere geometrische Form, wobei die Masse und der Stoffzusammenhang beibehalten werden. Es entstehen einerseits Halbzeuge wie Bleche, Rohre und Stäbe, anderseits Werkstücke wie Schrauben, Kurbelwellen oder Zahnräder, die eine hohe Festigkeit besitzen. Der Umformprozess kann für Stahl bei Raumtemperatur (Kaltumformen), zwischen 600 und 900°C (Halbwarmumformen) und bei 1000–1200°C (Warmumformen) erfolgen [Doe96]. Die Verfahren der Blechumformung verformen ein ebenes Blech zu dreidimensionalen Teilen mit annähernd gleicher Wandstärke. Unter den Trennverfahren dominiert beim Zerteilen das Scherschneiden zur Blechverarbeitung und zur Herstellung von Rohteilen aus Stangenmaterial für die Massivumformung. Zu den Trennverfahren zählt weiterhin das Spanen mit geometrisch bestimmten Schneiden (Drehen, Bohren, Fräsen, Hobeln, Räumen, Sägen). Hier werden von einem Rohteil mit Hilfe der Schneiden eines Werkzeugs Werkstoffschichten in Form von Spänen zur Änderung der Werkstückform und/oder der Werkstückoberfläche mechanisch abgetrennt [DIN8589]. Dabei hat sich die Schnittgeschwindigkeit durch den Einsatz jeweils neuer Schneidwerkstoffe ständig erhöht und reicht bei einem unlegierten Baustahl und Einsatz von Schneidkeramik an 2000 m/min heran. Spanen mit geometrisch unbestimmter Schneide (Schleifen, Honen, Läppen) erfordert Werkzeuge, die in einen Schleifkörper oder ein Schleifband gebundene Schleifkörner zum Materialabtrag benutzen, wobei das Schleifen mit geometrisch bestimmten Schleifscheiben die größte Bedeutung hat. Ein wichtiges Trennverfahren ist weiterhin das Abtragen, das in thermisches, chemisches und elektro-chemisches Abtragen gegliedert ist. Beim thermischen Abtragen erfolgt eine Energieerzeugung durch Funken oder energiereiche Strahlen (Laserstrahl, Elektronen-
strahl). Das chemische Abtragen nutzt demgegenüber chemische Reaktionen zwischen dem Werkstückwerkstoff und einem Wirkmedium (Säure, Lauge) zum gezielten Abtrag. Bei den thermischen Abtragverfahren hat das Laserstrahlverfahren wegen des verschleißfreien und programmierbaren Werkzeugs eine große Bedeutung erlangt. Es findet Einsatz für praktisch alle Fertigungsverfahren, wobei das Trennen, Fügen und die Oberflächenbehandlung im Vordergrund stehen. Die Verfahrensgruppe Fügen dient in ihren vielfältigen Ausprägungen der unlösbaren oder lösbaren Verbindung von Werkstücken zu komplexen Bauteilen sowie zu Komponenten, Baugruppen und Produkten. Mit komplexen Bauteilformen, zunehmenden Funktionsansprüchen und steigenden Sicherheitsanforderungen sowie leichter Demontierbarkeit zum Zwecke des Recycling erfährt die Fügetechnik weitere Anforderungen. Als wesentliche konkurrierende Fügeverfahren sind das Schweißen und Löten, Kleben, Nieten, Durchsetzfügen, Falzen und Schrauben zu nennen. Spezielle Fügeverfahren haben sich zur Montage von feinwerktechnischen und elektronischen Geräten entwickelt, die bei großen Stückzahlen mit kurzen Taktzeiten Verwendung finden. Ein besonderes Augenmerk gilt beim Fügen der Prozesssicherheit, die möglichst durch eine Messung wesentlicher Prozessparameter während der Prozessdurchführung sichergestellt wird. Dies geschieht beispielsweise beim Schweißen durch Überwachung des Schweißstroms oder beim Verschrauben durch Messung des Drehmomentverlaufs während des Einschraubvorganges. Bei der Auswahl des Fügeverfahrens spielen zahlreiche Kriterien eine Rolle, die von funktionalen (Werkstoff, Form, Festigkeit, Korrosion) über verfahrenstechnische (Vor- und Nachbearbeitung, Fertigungsmittel, Automatisierbarkeit und Flexibilität) bis hin zu Kosten-, Mensch- und Umweltaspekten (Investition, Betriebskosten, Umweltverträglichkeit, Ergonomie, Mitarbeiteranforderungen) reichen [Dor96]. In der Hauptgruppe Beschichten finden sich alle Fertigungsverfahren, die dem Aufbringen von Verschleißund Korrosionsschichten auf Bauteile dienen. Da verschleiß- und korrosionsfeste Werkstoffe i. d. R. sehr teuer sind, können lokal aufgebrachte Schutzschichten
6
159
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
6
160
zu enormen Kosteneinsparungen führen, wobei die Kostenvorteile der Lebensdauererhöhung des Bauteils den Beschichtungskosten gegenüberzustellen sind [Stef96]. Die einzelnen Beschichtungsverfahren beruhen auf elektrochemischen Effekten (kathodisches Abscheiden, stromloses Abscheiden, Anodische Oxidation), mit denen metallische Grundwerkstoffe, Kunststoffe und Keramiken mit Schichtdicken zwischen einigen Mikrometern bis zu 100 Mikrometer versehen werden können. Organische Beschichtungsverfahren bringen beim Lackieren organische Polymere flüssig oder pastenförmig auf den Grundkörper auf und wandeln ihn mittels chemischer oder physischer Veränderungen in einen fest haftenden Film. Demgegenüber arbeitet das Pulverbeschichten mit lösungsmittelfreien Pulvern, die neben dicken Polymerschichten auch die Erzeugung von Schichten aus Polyethylen, Nylon und Fluorpolymeren erlauben. Die zu beschichtenden Werkstücke müssen so weit erwärmt werden, dass das Pulver auf der Oberfläche schmilzt und einen zusammenhängenden Film bildet, dessen Dicke bis in den Millimeterbereich hinein wachsen kann. Das Verfahren ist daher auf metallische und keramische Werkstoffe beschränkt. Sehr widerstandsfähige, aber bruchempfindliche Schichten sind durch das Emaillieren zu gewinnen. Auf einen i.d.R. metallischen Grundwerkstoff werden als Emailschlick aufbereitete oxidische Mineralien und Fluoride schichtweise aufgebracht und bei 550– 900°C eingebrannt. Technische Anwendungen finden sich vorzugsweise bei Bauteilen der chemischen Industrie, der Lebensmitteltechnik und in Hausgeräten, die gegen Säuren und Laugen sowie bei Temperaturen zwischen -50°C bis 450°C beständig sein müssen. Ein Verfahren, das insbesondere dem Korrosionsschutz metallischer Bauteile dient, ist das Schmelztauchen. Die vorbehandelten Bauteile tauchen in eine flüssige Metallschmelze aus Aluminium, Zinn oder Zink und erhalten beim stetigen Herausziehen eine Schicht zwischen 20 und 80 Mikrometer Dicke. Zum Aufbringen dünner, harter, verschleißfester Schichten mit guten Korrosions- und Gleiteigenschaften aus Nitrid und Carbid z. B. auf Werkzeuge und Armaturen haben die Beschichtungsverfahren aus der Dampfphase große Bedeutung erlangt. Bei der physi-
kalischen Abscheidung (PVD = physical vapour deposition) erfolgt die Verdampfung oder Zerstäubung des Beschichtungswerkstoffs und das Abscheiden auf dem Grundwerkstoff in Schichtdicken zwischen wenigen Nanometern und einigen 10 Mikrometern. Anwendungen finden sich in der Dünnbeschichtung optischer, magnetischer, mikroelektronischer und optischer Bauteile, aber auch beim Aufbringen dekorativer Schichten. Die chemische Abscheidung aus der Dampfphase (CVD=chemical vapour deposion) setzt eine gasförmige Metallverbindung des Beschichtungswerkstoffes bei Temperaturen zwischen 600 und 1000°C voraus. Dieses Gas setzt sich durch einen chemischen Reaktionsprozess beim Durchleiten über den Grundwerkstoff in Schichtdicken zwischen 0,1 und 20 Mikrometern mit sehr guter Haftung ab. Als weiteres wichtiges Beschichtungsverfahren gilt das thermische Spritzen, das in seinen drei wesentlichen Verfahrensbenennungen Flammspritzen, Lichtbogenspritzen und Plasmaspritzen darauf hinweist, mit welcher Energiequelle der Spritzwerkstoff zu schmelzflüssigen Partikeln aufgeschmolzen wird. Diese erreichen mit hoher kinetischer Energie den zu beschichtenden Grundkörper, wo sie eine mehr oder weniger poröse Schicht zwischen 50 Mikrometern und einigen Millimetern bilden. Wegen der geringen thermischen Belastung des Grundwerkstoffs durch Temperaturen zwischen 100°C und 250°C lässt sich eine breite Palette von Beschichtungswerkstoffen und Grundwerkstoffen kombinieren. Die Spritzschichten erfordern i.d.R. noch eine Nachbearbeitung zur Verbesserung der Porosität, Haftung, Härte und Zähigkeit, wobei spanende Verfahren der Erziehung einer definierten Geometrie und Oberflächenrauigkeit dienen. Als letztes Beschichtungsverfahren ist das Auftragsschweißen zu nennen, das im Gegensatz zu den Spritzverfahren den Grundwerkstoff so weit erwärmt, dass er mit dem i.d.R. hoch legierten Schweißzusatzwerkstoff eine schmelzflüssige Verbindung eingeht. Ähnlich wie bei den Fügeschweißverfahren erfolgt die Energiezufuhr durch Brenngas, Lichtbogen, Widerstandserwärmung oder Laserstrahlen. Es entstehen so hochverschleißfeste und korrosionsfeste Schichten mit starker Haftung, die bei hochbeanspruchten
6.2 Produktionstechnologie
Fertigungsverfahren
Ebene Station Bereich Fabrik 5 3/4 2
Werk 1
Hemmnisse
Urformen
Gießform, Einsatzstoffe, Anlagengröße
Umformen
Umformwerkzeug, Emission
Trennen
Werkzeug, Emission
Fügen
Emission
Beschichten
Emission, aggressive Bäder
Stoffeigenschaften ändern
Emission, Anlagengröße
Veränderungsfähigkeit:
niedrig
mittel
hoch
6
Bild 6.5: Veränderungsfähigkeit von Fertigungsverfahren © IFA 10.194SW_B
Bauteilen des Maschinenbaus, der Chemie- und Verfahrenstechnik und des Kraftwerkbaus Verwendung finden. Besonders geeignet ist das Verfahren zur Reparatur verschlissener oder beschädigter Bauteile. Als letzte Hauptgruppe der Fertigungsverfahren soll die Wärmebehandlung metallischer Werkstoffe beschrieben werden, die sich für die hier wesentlichen Eisenbasiswerkstoffe in thermische, thermochemische sowie thermomechanische Verfahren gliedern lässt [MaM96]. Ziel der Wärmebehandlung ist generell die Verbesserung der Gebrauchseigenschaften des Werkstoffs hinsichtlich der Umformbarkeit, Bearbeitbarkeit, Härte, Festigkeit usw. Die gewünschten Eigenschaftsänderungen erfolgen in Wärmebehandlungsanlagen und verändern das Bauteil entweder mit seinem ganzen Volumen (durchgreifend) oder in oberflächennahen Bereichen (nicht durchgreifend). Bei Nichteisenwerkstoffen finden thermische und vermehrt auch thermomechanische Verfahren Anwendung. Bei den thermischen Verfahren (Glühen, Härten, isothermisches Umwandeln und Altern) erfahren die Bauteile einen kontrollierten Temperatur-ZeitVerlauf mit den Phasen Erwärmen, Halten und Abkühlen bei durchgreifender Gefügeänderung in Öfen.
Bei bereichsweiser Veränderung sind Tauchen, Induktion, Flammen sowie der Einsatz von Laser- und Elektronenstrahlen üblich. Thermochemische Verfahren bringen feste, flüssige oder gasförmige Stoffe durch Diffusion in randnahe Werkstoffbereiche ein, die durch anschließendes Härten und Anlassen die gewünschten Eigenschaften erhalten. Thermomechanische Wärmebehandlungen erfolgen mit Hilfe mechanischer Umformprozesse, die einen gewünschten Temperatur-Zeit-Verlauf bewirken. Im Rahmen der Fabrikplanung interessieren die Verfahren primär unter dem Gesichtspunkt ihrer Veränderungsfähigkeit auf den in Kapitel 5 entwickelten fünf Ebenen einer Fabrik. Bild 6.5 zeigt die Beurteilung für die sechs Hauptgruppen der Fertigungsverfahren mit den drei Stufen niedrige, mittlere und hohe Veränderungsfähigkeit. Diese zunächst sehr grobe Klassifizierung kann nur einen ersten Anhaltspunkt bieten und soll im Wesentlichen dazu dienen, vermeintliche oder nach dem Stand der Technik tatsächlich bestehende Hemmnisse der Veränderungsfähigkeit zu erkennen und nach Wegen zu ihrer Überwindung zu suchen. Als Ansätze hierzu können gelten:
161
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
• Ersatz
von abbildenden Werkzeugen durch programmierbare Werkzeuge. Wenn sich abbildende Werkzeuge (z.B. Schmiedegesenke oder Tiefziehwerkzeuge) nicht vermeiden lassen, Einsatz von Rapid-Tooling-Methoden und modularen Werkzeugen. Vermeiden umweltbelastender Einsatz- und Hilfsstoffe, z.B. durch Trockenbearbeitung. Verfahren zum Beschichten und Stoffeigenschaft ändern für einzelne Werkstücke und/oder einzelne Werkstückzonen ermöglichen.
und Baugruppen sowie ggf. Software in Form von Betriebs- und Anwendungsprogrammen zu funktionsfähigen Produkten. Zusätzlich erforderlich sind häufig formlose Betriebs- und Hilfsstoffe wie Fette, Kleber usw. Die Verbindung der Teile ist entweder zerstörungsfrei lösbar (z.B. Verschraubung) oder durch einen zerstörenden Trennvorgang wieder aufhebbar (z.B. Nietverbindung). Der Montageprozess wird wesentlich durch die Struktur des zu montierenden Produktes bestimmt, die Bild 6.6 als Schema zeigt.
Nach dieser knappen Übersicht über die Fertigungsverfahren sollen im Folgenden die Montageverfahren erläutert werden. Wie bereits erwähnt, ist dieser Begriff nicht genormt, und es existiert auch keine so tiefgreifende Gliederung mit entsprechenden Normen, wie bei den Fertigungsverfahren. Wegen der Bedeutung für die Fabrikplanung ist aber die Kenntnis der wesentlichen Teilverfahren unerlässlich.
Die Strukturierung kann nach funktionalen oder montageorientierten Kriterien erfolgen. Die Entscheidung, wie viel Zusammenbaustufen erforderlich sind und auf welcher Baugruppenebene bei Variantenprodukten die Festlegung der individuellen Variante erfolgt, bestimmt die gesamte Gliederung der Montage in Abschnitte. Generell ist anzustreben, den sogenannten Variantenbildungspunkt so spät wie möglich in der Montagereihenfolge zu positionieren, um unnötige Zwischenbestände an halbfertigen Baugruppen und Produkten zu vermeiden. Bild 6.7 verdeutlicht den Ansatz. Im Beispiel links werden die Varianten sehr früh gebildet. Das bedeutet je Pro-
• •
6
6.2.2 Montageverfahren Die Montage umfasst sämtliche Vorgänge des Zusammenbaus von geometrisch bestimmten Einzelteilen
Produktstruktur
Zusammenbau des Montageobjektes
Bestandteile Ausgangselement Produkt
Gliederung
Produktebene
P
BG
Zwischenstufe Baugruppe
BG
Baugruppenebenen
BG
BG
Eingangselemente Einzelteile und formlose Hilfsstoffe
ET
ET
ET
ET
ET
HS
ET
P Produkt ET Einzelteil
Bild 6.6: Bestandteile und Struktur eines Montageproduktes (Spur) © IFA G0656_B
162
HS
Einzelteilebene
Zergliederung des Montageobjektes
•
BG Baugruppe HS formloser Hilfsstoff
6.2 Produktionstechnologie
Produktebene 0
Anfangsvarianten
1
2 3
4 Bild 6.7: Bestimmung von Produktvarianten (Schuh)
a) vor Optimierung
Endvarianten b) nach Optimierung
© IFA 15.054_B
duktebene sehr viele Varianten, die disponiert und zwischengelagert werden müssen. Die optimierte Struktur kommt demgegenüber mit deutlich weniger Zwischenvarianten aus. Betrachtet man die Vorgänge, die zum Zusammenbau eines Produktes aus Einzelteilen und Baugruppen erforderlich sind, ist ein einfaches Grundschema hilf-
reich, das Bild 6.8 zeigt. Der hier gewählte klassische Black-Box-Ansatz geht davon aus, dass jede Station ein Element in einem Produktionsfluss darstellt. Aus der vorhergehenden Station führt ein Transportsystem eine teilmontierte Baugruppe auf einem Werkstückträger zu, der eine Fixierung und Identifizierung des Montageobjektes erlaubt. Es läuft nun ein Fügevorgang auf dem Werkstückträger ab, meist
6
Teilebereitstellung
Handhabungssystem
Bunkern Vereinzeln Orientieren
Teilefluss
Magazinieren Übergeben Positionieren
vorhergehende Station
Bild 6.8: Teilfunktionen einer Montagestation
Transportieren
Fügen
Transportieren
nachfolgende Station
Produktfluss
© IFA 10.196A_B
163
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Montieren (VDI 2860) Gesamtheit aller Vorgänge, die dem Zusammenbau von geometrisch bestimmten Körpern dienen. Dabei kann grundsätzlich formloser Stoff zur Anwendung kommen.
6
Fügen (DIN 8593)
Handhaben (VDI 2860)
Kontrollieren
Justieren
Sonderoperationen
Montagefunktion
Speichern
Menge verändern
Bewegen
Sichern
Kontrollieren
Handhabungsfunktion
Bild 6.9: Teilfunktionen beim Montieren (nach VDI 2860) © IFA 0879SW_Wd_B
gefolgt von einer Qualitätsprüfung. Anschließend übergibt das Transportsystem den Werkstückträger an die nächste Station. Ein eigenständiger, querliegender Teilefluss stellt sicher, dass die von der internen Logistik bereitgestellten Teile zunächst lokal in einer definierten Menge gespeichert werden. Dieser als Bunkern bezeichneten Funktion folgen das Herauslösen einzelner Teile aus dem Haufwerk, das anschließende Orientieren in einer räumlich definierten Lage und schließlich die Positionierung des geordneten Teils in einer vorbestimmten Lage auf dem Werkstückträger. Zur Überbrückung kleinerer Störungen und von Taktzeitunterschieden erfolgt bisweilen eine Zwischenpufferung der geordneten Teile in einem Magazin. Auch die Anlieferung der Teile im vorgeordneten Zustand ist üblich. (Auf die Funktionen und Formen der Teilebereitstellung von Teilen vom Lieferanten bis zum Verbrauchsort in der Fabrik geht der Abschnitt 6.2.3 Logistikverfahren aus technischer Sicht und der Abschnitt 9.5.1 Beschaffungsmodelle aus strategischer Sicht genauer ein.) Die VDI-Richtlinie 2860 definiert das Montieren und seine Teilfunktionen gemäß Bild 6.9. Dabei werden neben dem bereits erwähnten Fügen, Handhaben und Kontrollieren im Sinne einer Qualitätsprüfung noch das Justieren und Sonderoperationen aufgeführt. Unter
164
Justieren wird die geometrische Feineinstellung funktional in Beziehung stehender Teile einer Baugruppe verstanden, während in Sonderoperationen Baugruppen z. B. gereinigt, bedruckt oder markiert werden. Die dazu notwendigen Stationen unterscheiden sich aus Sicht der Fabrikplanung nicht von einer Fügestation. Als Kernfunktionen der Montage können demnach das Fügen und Handhaben gelten, die daher näher zu betrachten sind. Die bei den Fertigungsverfahren in Abschnitt 6.2.1 bereits kurz charakterisierte Hauptgruppe 4 „Fügen“ unterteilt die DIN 8593 nach Bild 6.10 in 9 Teilgruppen. Zusammengesetzte Verbindungen fügen Teile durch Auf- und Einlegen, Ineinanderschieben, Einhängen sowie Einrenken. Der gefügte Zustand wird durch Schwerkraft, Reibung und Formschluss aufrechterhalten. Manche Verfahren nutzen die elastische Verformung der beteiligten Werkstücke oder Hilfsteile zur Sicherung. Zusammengesetzte Verbindungen sind zerstörungs- und beschädigungsfrei zerlegbar. Bei Füllverbindungen dringen gas- oder dampfförmige, flüssige, breiige oder pastenförmige Stoffe durch Einfüllen, Tränken oder Imprägnieren in hohle oder poröse Körper. Die so entstandenen Verbindungen sind i.d.R. ohne Schwierigkeiten z.B. durch Erwärmen lösbar.
6.2 Produktionstechnologie
Fügen (DIN 8593) Fügen ist das auf Dauer angelegte Verbinden oder sonstige Zusammenbringen von zwei oder mehr Werkstücken geometrisch bestimmter Form oder von ebensolchen Werkstücken mit formlosem Stoff. Dabei wird jeweils der Zusammenhalt örtlich geschaffen und im Ganzen vermehrt.
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
4.6
4.7
4.8
Zusammensetzen
Füllen
Anpressen Einpressen
Fügen durch Urformen
Fügen durch Umformen
Fügen durch Schweißen
Fügen durch Löten
Kleben
DIN 8593 Teil 1
DIN 8593 Teil 2
DIN 8593 Teil 3
DIN 8593 Teil 4
DIN 8593 Teil 5
DIN 8593 Teil 6
DIN 8593 Teil 7
DIN 8593 Teil 8
4.9
Textiles Fügen
6
Bild 6.10: Gliederung der Fertigungshauptgruppe Fügen (DIN 8593) © IFA 0915SW_Wd_B
Pressverbindungen verbinden Fügeteile durch Kraftschluss, wobei diese im Wesentlichen nur elastisch verformt werden. Untergruppen dieses Verfahrens sind Schrauben, Klemmen, Klammern, Fügen durch Pressverbindungen, Nageln, Einschlagen und Verteilen. Auch diese Verbindungen sind überwiegend zerstörungsfrei lösbar, manchmal unter Zuhilfenahme besonderer Vorrichtungen. Umformverbindungen fügen Teile i.d.R. durch örtliches Umformen und sichern die Verbindungen dabei durch Formschluss. Untergruppen sind Umformen draht- und bandförmiger Körper und Nietverfahren. Die Verbindungen sind nur durch Beschädigung oder Zerstören der Fügepartner lösbar. Schweißverbindungen verbinden Teile unter Anwendung von Wärme und/oder Kraft (Schmelz- bzw. Pressschweißen) mit oder ohne Schweißzusatz. Ziel der Schweißverbindung ist es i.A., die Festigkeit des Grundwerkstoffs zu erreichen. Die Verbindung ist nur zerstörend lösbar. Bei Lötverbindungen unterscheidet die DIN 8593 Weich-, Hart- und Hochtemperaturverbindungen. Das eingebrachte Lot liegt mit seiner Schmelztemperatur unterhalb derjenigen der Fügewerkstoffe. Daher ist mit Einschränkungen eine Lösung der Verbindung möglich, das sogenannte Entlöten. Klebeverbindungen nutzen als Fügemittel physikalisch oder chemisch abbindende nichtmetallische
Klebstoffe, welche die Fügepartner durch Adhäsion und Kohäsion verbinden. Ein Lösen ist mit Einschränkungen möglich. Textilverbindungen fügen textile Faserstoffe von der Herstellung der Garne, Fäden und Stoffe bis hin zum Fügen von Halb- und Fertigprodukten. Eine weitergehende Normung existiert noch nicht. Diese Fügeverfahren sind in der hier interessierenden Produktion von Maschinenbau- und Elektroprodukten eher selten anzutreffen und werden nicht weiter betrachtet. Das als zweite Kernfunktion der Montage bezeichnete Handhaben ist nach der VDI-Richtlinie 2860 neben dem Fördern und Lagern als Teilfunktion der Funktion „Materialfluss bewirken“ zu interpretieren. Handhaben erscheint dabei als letztes Glied des Materialflusses von der Unternehmensgrenze bis zum Fügeort auf dem Werkstückträger der Montagestation. Die Funktionen Fördern und Lagern (Speichern) bilden zusammen mit dem Handhaben die innerbetrieblichen logistischen Funktionen ab, die externe Entsprechungen besitzen. Hierauf geht der Abschnitt 6.2.3 Logistikverfahren noch genauer ein. Das Handhaben stellt gewissermaßen die Mikrologistik einer Montagestation im unmittelbaren Vorfeld des Fügens dar. Zum tieferen Verständnis der Handhabungsfunktionen ist es zunächst erforderlich, den Blick auf diejeni-
165
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Werkstückmerkmale Werkstückeigenschaften geometrische Werkstückdaten
6
kennzeichnende Formelemente
• Form (Verhaltenstyp)
• Bohrung
• Ausdehnung Abmessungen
• Sicke, Wulst
• Seitenverhältnisse
• Schlitz
• Absatz,Bund • Ausschnitt
Werkstückverhalten
physikalische Eigenschaften
Ruheverhalten
Förderverhalten
• Werkstoff • Schwerpunkt
• Standsicherheit
• Gleitfähigkeit • Rollfähigkeit
• Steifigkeit • Bruchfestigkeit
• Symmetrien
• Nut, Einstich
• Größenklassen
• Fase
• Masse • Oberflächenbeschaffenheit
• Haken
• Temperatur
• Ausklinkung
• Bearbeitungszustand
•
stabile Orientierung
• Vorzugsorientierung
• Richtungsstabilität
• Stapelfähigkeit • Hängefähigkeit
Bild 6.11: Handhabungsrelevante Werkstückmerkmale (FhG IPA) © IFA G0576_B
gen Merkmale eines Werkstücks zu richten, die sein Verhalten in der Ruhe und in Bewegung bestimmen. Diese Merkmale unterscheiden sich grundlegend von den Werkstückeigenschaften, die der Konstrukteur im Hinblick auf dessen Funktion bestimmt. Bild 6.11 gruppiert die Werkstückmerkmale einerseits in die Handhabungseigenschaften hinsichtlich Geometrie, kennzeichnenden Formelementen und physikalischen Merkmalen und nennt andererseits die in der Ruhe und bei Förderung wesentlichen Eigenschaften. Bei den geometrischen Werkstückdaten dominiert die Form, die zu Werkstücktypen mit ähnlichem Handhabungsverhalten führt. Als schwierig zu handhaben gelten sogenannte Wirrteile, die sich im Haufwerk verhaken können, wie z.B. Sicherungsringe oder Schraubenfedern, und häufig zu Störungen im Zuführsystem führen. Bei den kennzeichnenden Formelementen ist wesentlich, ob sie in der Außenoder Innenkontur des Werkstücks liegen, und bezüglich der physikalischen Eigenschaften sind Teile geringer Steifigkeit – z.B. Gummidichtungen – und Teile mit empfindlichen Oberflächen schwer hand-
166
habbar. Diese Werkstückeigenschaften wirken sich unterschiedlich auf das im Bild 6.11 im Einzelnen genannte Ruheverhalten aus, etwa nach der Positionierung im Werkstückträger und auf das ebenfalls weiter detaillierte Förderverhalten z.B. auf einem Gurtband. Für den Montagesystem- und Fabrikplaner ist dieses scheinbar untergeordnete Thema deshalb von Bedeutung, weil Handhabungssysteme häufig eine erhebliche Störquelle mit Auswirkungen auf den Nutzungsgrad, die Zugänglichkeit und den Platzbedarf darstellen. Bild 6.12 definiert und gliedert das Handhaben in die 5 Elementarfunktionen Speichern, Menge verändern, Bewegen, Sichern und Kontrollieren. Diese lassen sich so zusammensetzen, dass in sich geschlossene Funktionsfolgen entstehen, die technisch in einem Gerät zu realisieren sind. Das Speichern stellt einer Montagestation den lokalen Teilevorrat zur Verfügung und zwar entweder ungeordnet, z.B. als Haufwerk in einem Bunker, teilgeordnet, z.B. in Form von geschichteten Blechteilen, oder
6.2 Produktionstechnologie
Handhaben (VDI 2860) Handhaben ist das Schaffen, definierte Verändern oder vorübergehende Aufrecherhalten einer vorgegebenen räumlichen Anordnung von geometrisch bestimmten Körpern in einem Bezugskoordinatensystem. Es können weitere Bedingungen – wie z.B. Zeit, Menge und Bewegungsbahnen – vorgegeben sein.
Elementarfunktionen
Speichern
ergänzende Funktionen
zusammengesetzte Funktionen
geordnetes Speichern
teilgeordnetes Speichern
Mengen verändern
Bewegen
Sichern
Kontrollieren
Teilen
Drehen
Halten
Prüfen …
Vereinigen
Verschieben
Lösen
Abteilen
Schwenken
Spannen
… Anwesenheit
… Position
Zuteilen
Orientieren
Entspannen
… Identität
… Orientierung
Verzweigen
Positionieren
… Form
Messen
Zusammenführen
Ordnen
… Größe
Zählen
Sortieren
Führen
… Farbe
Orient. messen
Weitergeben
… Gewicht
Pos. messen
geordnetes Speichern
(Fördern)*
*
6
Diese Funktionen sind nach Definition keine Handhabungsfunktionen, wurden jedoch hier mit aufgenommen, um Funktionsfolgen vollständig beschreiben zu können.
Bild 6.12: Teilfunktionen des Handhabens (VDI 2860) © IFA G0682_Wd_B
geordnet, z.B. in einem Teilemagazin. Die Teilfunktion Menge verändern teilt Werkstücke aus einem Vorrat ab oder vereinigt Teile in einer bestimmten Reihenfolge. Beim Bewegen erfolgt ein Drehen oder
Montageverfahren
Ebene Station Bereich Fabrik 5 3/4 2
Verschieben von Teilen, um sie in eine gewünschte räumliche Lage zu bringen, während das Sichern dem Spannen bzw. Entspannen von Werkstücken dient. Dies geschieht entweder beim Bewegen, meist aber
Werk 1
Fügen
Hemmnisse
Emmission
Handhaben • Speichern
nicht wesentlich
• Menge verändern werkstückspezifische Formelemente
• Bewegen • Sichern • Kontrollieren
stark merkmalabhängig
Veränderungsfähigkeit:
niedrig
mittel
hoch
Bild 6.13: Veränderungsfähigkeit von Montageverfahren © IFA 10.195SW_B
167
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
6
in der Fügeposition, um Beschleunigungs- bzw. Fügekräften standzuhalten. Das abschließend aufgeführte Kontrollieren prüft nicht die Qualität des Ergebnisses der Fügeoperation, sondern handhabungsrelevante Merkmale, wie z.B. die Identität, Lage oder Anzahl. Das entsprechende Signal der Prüfeinrichtung löst dann die Folgeoperation wie z.B. Greifen, Fügen oder den Weitertransport des Werkstücks oder Werkstückträgers aus. Dieser Weitertransport ist wiederum Teil der Materialflusskette zum innerbetrieblichen Lieferanten – z.B. die Teilefertigung – und darüber hinaus zum externen Zulieferer. Bevor die damit ausgesprochenen logistischen Verfahren im nächsten Abschnitt vorgestellt werden, ist die Veränderungsfähigkeit der Montageverfahren zu diskutieren, deren Aussagen Bild 6.13 zusammenfasst. Bei den Fügeverfahren, die in der Montage eingesetzt werden, kann generell von einer hohen Wandlungsfähigkeit ausgegangen werden. Bei den Handhabungsverfahren wird die Wandlungsfähigkeit naturgemäß primär durch diejenigen werkstückspezifischen Formelemente bestimmt, welche zur Unterscheidung der Lagen und der Kräfteeinwirkung zur Veränderung in die gewünschte Lage dienen. Auch hier können einige Ansätze zur Überwindung der Wandlungshemmnisse von Montagevorgängen auf Stationsebene genannt werden:
• Verändern
• •
der Werkstückeigenschaften, die handhabungsrelevant sind, ohne dadurch die Funktion des Werkstücks zu beeinträchtigen. Vorschläge zur montagegerechten Produktgestaltung finden sich z.B. bei Boothroyd und Dew hurst [Boot83], sowie Redford und Chal [Red94] und Hesse [Hes06a]. Ersatz von mechanischen Kräften durch berührungslos wirkende elektrische oder magnetische Kräfte. Einsatz der Bildverarbeitung statt mechanisch abtastender Prüfoperationen.
Die im Folgenden erläuterten logistischen Verfahren bewegen sich auf Stationsebene, also im unmittelbaren Umfeld der Fertigungs- bzw. Montagestation.
168
6.2.3 Logistikverfahren Der Begriff Logistik stammt vermutlich aus dem militärischen Bereich und fasst die Aufgaben zusammen, die der Unterstützung der Streitkräfte dienen [Pfo00]. In den 1980er Jahren hat sich davon angeregt die Unternehmenslogistik mit den Teilbereichen Industrie-, Handels- und Dienstleistungslogistik entwickelt [BZW00]. Generell geht es darum, Objekte raum-zeitlich zu verändern, um sie in der richtigen Menge, Zusammensetzung und Qualität zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zur Verfügung zu stellen. Dabei sind minimale Kosten und ein kundengerechter Lieferservice zu gewährleisten [Gud07, Pfo00, Hom07]. Die hier interessierende Industrielogistik gliedert ihre Funktionen in Beschaffungs-, Produktions-, Distributionsund Entsorgungslogistik. Die Entsorgungslogistik wird hier nicht weiter betrachtet. Die verbleibenden Hauptprozesse lassen sich nach Bild 6.14 in weitere Teilprozesse gliedern [Gud07, Pfo00, Dan01, AIK08]. Im Beschaffungsprozess gelangen bestellte Waren über außerbetriebliche Transportprozesse in das Wareneingangslager. Die anschließende Fertigung,
Hauptprozesse
Teilprozesse
Beschaffung
Transportieren Lagern Kommissionieren Planen u. Steuern
Fertigung/ Montage
Fertigen Lagern Kommissionieren Montieren Transportieren Planen u. Steuern
Distribution
Lagern Kommissionieren Verpacken Transportieren Umschlagen Planen u. Steuern
Logistischer Teilprozess
Technologischer Teilprozess
Bild 6.14: Haupt- und Teilprozesse der industriellen Produktion © IFA 10.456SW_B
6.2 Produktionstechnologie
Transportkennlinien
Produktionskennlinien Leistung
Leistung
Durchlaufzeit
Lagerverweilzeit Lagerbestand
Transportbestand
P3
P1 Substrat
Maskenherstellung
Lieferverzug
Transportzeit
Produktionsbestand
P2
Lagerkennlinien
P5
P6
P7
Phtotolitho- Beschich- Prüfgraphie tung u. prozess Abtrag mechanische Bearbeitung
T
P9
P8 Vereinzeln
P4
P10
L2
L3
Systemanbieter
Aufbau- u. Verbindungstechnik
Gehäuse Herstellung
Prozesse:
P
Produzieren/Prüfen
T
Transportieren
L
Lagern
6
Synchronisationspunkt
Bild 6.15: Elemente und logistische Kennlinien der Produktionsprozesse in einem exemplarischen Prozesskettenplan © IFA 1888SW_Wd_B
Montage und die Distribution benötigen zu einem bestimmten Zeitpunkt i.A. nicht einen, sondern mehrere Artikel, meist in unterschiedlichen Mengen, die als Kommission bezeichnet werden. Der entsprechende Prozess heißt Kommissionieren. Alle Beschaffungs- und Teilprozesse sind zu planen, zu steuern und zu überwachen. Die anschließende Fertigung und Montage umfasst, neben ihren bereits erläuterten technologischen Teilprozessen, ebenfalls Lager- und Transportprozesse, jedoch werden hier Roh- und Halbfertigteile bewegt und gelagert. Wenn die Montage örtliche Lagereinrichtungen besitzt, sind auch dort Kommissionierprozesse anzutreffen. Auch die Fertigung und Montage ist je nach Fertigungsort mehr oder weniger genau zu planen und zu steuern. Die Distribution – auch Warenverteilung oder Lieferung genannt (vergl. auch Bild 9.1) – verantwortet die Bereitstellung der produzierten oder eingekauften Artikel beim Kunden, der ein Vertriebslager, ein Händler oder der Endkunde sein kann. Dies erfordert neben dem Lagern, Kommissionieren und Transportieren auch den Schutz der Waren durch Verpacken,
das Zusammenstellen zu Transporteinheiten und ggf. den Umschlag der Transporteinheiten z.B. beim Wechsel des Transportmittels von einem LKW auf die Bahn oder ein Schiff. Auch Distributionsprozesse sind zu planen, zu steuern und zu überwachen. Aus Sicht der Fabrikplanung lassen sich diese Teilprozesse auf die Referenzprozesse Produzieren (Fertigen, Montieren), Transportieren und Lagern reduzieren. Zu ihrer Darstellung haben sich sogen. Prozesskettenelemente nach Kuhn [Kuh95] einerseits und logistische Kennlinien von Nyhuis/Wiendahl [Nyh03] andererseits bewährt. Mit Ersteren lässt sich die logische Verknüpfung der Elementarfunktionen zu sogen. Prozesskettenplänen visualisieren, wobei diese für jeweils einen Artikel oder eine Artikelgruppe mit gleicher Funktionsfolge gilt. Logistische Kennlinien beschreiben demgegenüber die funktionalen Wirkzusammenhänge zwischen den logistischen Zielgrößen Bestand, Durchlaufzeit, Leistung und Termineinhaltung an einer Arbeitsstation oder einem Fertigungsbereich. Bild 6.15 zeigt einen exemplarischen Prozesskettenplan zur Herstellung von mikroelektronischen
169
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Zielgrößen
Referenzprozesse Produktion
6
Unternehmenssicht
Kundensicht
Produzieren
Transportieren
Breitstellen
Termineinhaltung
hohe Termintreue
hohe Termintreue
niedriger Lieferverzug
Durchlaufzeit
niedrige Durchlaufzeit
niedrige Transportzeit
niedrige Lagerverweilzeit
Leistung
hohe Auslastung
hohe Auslastung
hohe Auslastung
Bestand
niedriger Umlaufbestand
niedriger Transportbestand
niedriger Lagerbestand
Kosten
geringe Kosten je Leistungseinheit
geringe Kosten je Transportvorgang
geringe Lagerhaltungskosten
Bild 6.16: Logistische Zielgrößen für die Referenzprozesse der Produktion © IFA 6223SW_Wd_B
Speicherelementen, sogen. Chips. Dieses Element wird auf einer Siliziumscheibe (sogen. Wafer) als elektronische Schaltung realisiert, vereinzelt und in ein Gehäuse eingebaut. Der Verbraucher – hier ein Laptophersteller – ruft die Bauteile aus einem Lager nach Bedarf ab. Jedes Element dieser Prozesskette realisiert eine der drei logistischen Elementarfunktionen und benötigt zu seiner Leistungserfüllung Arbeitsmittel, Personal, Flächen und Steuerungsinformationen. Ein Prozesskettenelement kann ein Unternehmen als Ganzes abbilden, ist aber auch hierarchisch über die Fabrikebenen bis hin zu einer einzelnen Arbeitsoperation zerlegbar. Für die hier interessierende Ebene „Arbeitsstation“ sollen nun die drei in Bild 6.15 angedeuteten logistischen Kennlinien der Produktion, des Transports und des Lagerns erläutert werden, da sie zu deren Dimensionierung aus fabrikplanerischer Sicht von großer Bedeutung sind [Nyh03]. Zunächst ist nach den logistischen Zielgrößen dieser drei Referenzprozesse zu fragen, die Bild 6.16 zusammenfasst. Gegenüber den genannten Elementarprozessen wird das Produzieren mit der Qualitäts-
170
prüfung zusammengefasst, weil diese heute meist unmittelbar am Arbeitsplatz erfolgt. Auch das Lagern erfährt eine Ergänzung durch das Bereitstellen der ausgelagerten Ware an einen definierten Ort, z.B. in ein Zwischenlager oder an den Verbrauchsort. Die Zielgrößen lassen sich nach einer Außen- und Innensicht gliedern. Termineinhaltung und Durchlaufzeit nimmt der jeweilige Kunde wahr, es sind daher logistische Leistungsmerkmale. Demgegenüber sind Leistung (und damit verknüpft die Auslastung), Bestände und Kosten interne Zielgrößen. Sie gilt es zu maximieren bzw. minimieren. Wie können die drei Prozesse und die mit ihnen verbundenen Zielgrößen aus logistischer Sicht modelliert, dimensioniert und gestaltet werden? Für den Referenzprozess Produzieren hat sich das von Kettner und Bechte entwickelte Trichtermodell und Durchlaufdiagramm bewährt, Bild 6.17 [Bech84]. Die Arbeitsstation erscheint hier als Trichter, dessen Füllung den Bestand an wartenden Aufträgen und dessen variable Öffnung die eingestellte Kapazität darstellt. Das Volumen der Kugeln ist ein
6.2 Produktionstechnologie
Maß für den Arbeitsinhalt in Vorgabestunden. Beobachtet man dieses System über einen längeren Untersuchungszeitraum, lassen sich die Zugangs- und Abgangsereignisse im sogenannten Durchlaufdiagramm abbilden, dessen untere Kurve den kumulierten Abgangsverlauf und dessen obere Kurve den kumulierten Zugangsverlauf enthält. Bei Beginn einer Messung liegt i.d.R. ein Anfangsbestand vor, zum Ende des Untersuchungszeitraums ein Endbestand. Die Steigung der Abgangskurve entspricht der mittleren Leistung, gemessen in Vorgabestunden pro Arbeitstag, und die Steigung der Zugangskurve der Belastung der Station in derselben Messeinheit. Wird der Zugang zu einem beliebigen Zeitpunkt angehalten, reicht der dann vorhandene Bestand so lange, wie es dem Verhältnis von Leistung und Bestand entspricht. Dieser Wert heißt demzufolge Reichweite und die Beziehung „Reichweite gleich Bestand dividiert durch Leistung“ wird als Trichterformel bezeichnet. Die mittlere Durchlaufzeit errechnet sich demgegenüber als Mittelwert der Durchlaufzeiten der individuellen Aufträge [Wie97, Nyh03]
Damit sind bereits zwei der in Bild 6.15 genannten Zielgrößen des Prozesses „Produzieren und Prüfen“ erläutert und es fehlen noch Auslastung und Terminabweichung. Alle diese Größen lassen sich entsprechend Bild 6.18 im Durchlaufdiagramm sichtbar machen. In der Bildmitte steht das sogenannte logistische Zielkreuz mit den nach außen wirkenden Leistungsgrößen Durchlaufzeit und Terminabweichung und den nach innen wirkenden Größen Auslastung und Bestand. Diesen Größen zugeordnet sind ihre Darstellungen im Durchlaufdiagramm. Der Bestand erscheint hier als Fläche zwischen der Zu- und Abgangskurve. Die Durchlaufzeit jedes Auftrages wird durch ein Rechteck dargestellt, dessen Länge der Durchlaufzeit und dessen Breite dem Arbeitsinhalt entspricht. Auch die Terminabweichung erscheint als Rechteck, allerdings wird seine Länge hier durch die Zeitdifferenz zwischen dem geplanten und dem tatsächlich erreichten Abgangszeitpunkt bestimmt. Die Differenz kann positiv (zu spät), negativ (zu früh) oder null (pünktlich) sein. Schließlich erscheint die
6
Arbeit [Vorgabestunden]
zugehende Aufträge
Zugangskurve
Endbestand
Zugang
wartende Aufträge (Bestand) maximale Kapazität aktuelle Leistung
mittlere Belastung
Abgangskurve Anfangsbestand
abgefertigte Aufträge
mittlere Leistung Untersuchungszeitraum
a) Trichtermodell
Abgang
Zeit [Betriebskalendertage]
b) Durchlaufdiagramm
Bild 6.17: Trichtermodell und Durchlaufdiagramm einer Arbeitsstation (nach Bechte) © IFA G0476SW_Sh_B
171
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Auslastung
AbPlan
AbIst Durchlaufzeit
Terminabweichung
Zu
D
W
+
Ist zu spät
T
B
Ab
6
Plan
A
_
zu früh
Bestand
Arbeit Zu Ab
Zeit
Bild 6.18: Logistische Zielgrößen im Durchlaufdiagramm © IFA 1558SW_Wd_B
Auslastung als Verhältnis von Istabgang und Planabgang. Zum Aufbau der Durchlaufdiagramme sind lediglich Zu- und Abgangstermine, sowie der Arbeitsinhalt jedes Auftrages erforderlich. Als Nächstes stellt sich die Frage, wie diese Zielgrößen an einer Arbeitsstation zusammenhängen. Bild 6.19 gibt die Antwort in Form der sogenannten Produktionskennlinien an einem Beispiel. Demnach wächst die Leistung (auch Durchsatz oder Ausbringung genannt) einer Produktionsstation mit wachsendem Bestand erst proportional, dann zunehmend schwächer bis zum Erreichen der Kapazitätsgrenze. Die Reichweite und damit auch die Durchlaufzeit steigen entsprechend der erwähnten Trichterformel mit dem Bestand. Der momentane Betriebszustand der Arbeitsstation wird durch die eingefügten Punkte gekennzeichnet. Demnach operierte die Station bei 60 Stunden Bestand mit voller Nutzung der Kapazität von 16 Stunden je Betriebskalendertag (also Zweischicht-
172
betrieb), wobei eine Durchlaufzeit der Aufträge von etwa 3,8 Betriebskalendertagen erreicht wurde. Die Kennlinien lassen sich entweder mittels Simulationsexperimenten punktweise bestimmen oder mit Hilfe von Näherungsgleichungen berechnen [Nyh03]. Offensichtlich ist das logistische Systemverhalten einer Arbeitsstation umso günstiger, je steiler die Leistungskennlinie verläuft. Dann ist es nämlich möglich, mit geringen Beständen und damit kurzen Durchlaufzeiten eine hohe Leistung bzw. Auslastung zu erreichen. Der Fabrikplaner bestimmt maßgeblich den Kennlinienverlauf, während es Aufgabe des Fertigungssteuers ist, den Betriebspunkt auf der Kennlinie entsprechend den gewählten Zielen festzulegen. Daher ist die Kenntnis der Parameter, welche die Kennlinie bestimmen, von fundamentaler Bedeutung, um sie gezielt beeinflussen zu können.
6.2 Produktionstechnologie
Kapazität
Betriebspunkte 9
16
BKT
Std/BKT
7
Reichweite
Leistung
6 10 5
Durchlaufzeit
8
4 6
3
4
Durchlaufzeitgrößen
Leistung 12
2
2
6
1
0
0 0
20
40
60
80
100
120
Std
Bestand BKT: Betriebskalendertag Std: Vorgabestunden Bild 6.19: Logistische Kennlinien einer Arbeitsstation (Beispiel) © IFA D0173NP_B
Bild 6.20 zeigt eine strukturierte Gliederung dieser Parameter, die zwischen einem Idealprozess und einer an die Realität angepassten Kennlinie unterscheidet [Nyh03]. Die ideale Leistungskennlinie geht davon aus, dass Zu- und Abgangsprozesse an der Station so aufeinander abgestimmt sind, dass unmittelbar vor Beendigung eines Auftrages der nächste Auftrag eintrifft. Es muss also weder die Station noch ein Auftrag warten. Für diesen Fall ist die Kennlinie exakt berechenbar und wird in ihrem Verlauf einerseits durch die maximal mögliche Leistung der Station, den sogenannten idealen Mindestbestand und den zeitlichen Überlappungsgrad der einzelnen Teile eines Loses bestimmt. Als idealer Mindestbestand wird der durch den Bearbeitungsprozess gebundene Bestand bezeichnet. Er hängt zum einen nur von der Einzelbearbeitungszeit, der Auftragslosgröße und der Rüstzeit der Station und andererseits von der Mindestübergangszeit ab, die bis zur Bereitstellung
des Auftrages an der nächsten Arbeitsstation vergeht. In der Praxis liegen aber die genannten idealen Bedingungen nicht vor, es kommt zu unregelmäßigen Zugängen mit der Folge einer mehr oder weniger stark schwankenden Belastung. Häufig ist die Flexibilität der Station nicht ausreichend, um diesen Schwankungen zu folgen, und schließlich ist die Flexibilität der Zuordnung des vor der Station liegenden Arbeitsvorrates bei mehreren gleichen Arbeitsstationen mehr oder weniger ausgeprägt. Welche Einflussmöglichkeiten im Rahmen der Fabrikplanung bestehen, eine derartige Arbeitsstation logistisch günstig zu gestalten, macht der Blick zurück auf den rechten Teil von Bild 6.20 deutlich. Ausgehend von den drei klassischen Ansatzpunkten Technik, Mensch und Organisation legt der Fabrikplaner mit der Kapazitätsstruktur, d. h. der Anzahl und Verknüpfung der Arbeitsstationen, zunächst die Leistung fest. Eine geschickte Verfahrens- und Be-
173
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Kennlinientyp
Beeinflussung durch Technik Mensch Organisation
Kennlinienparameter Kapazität je Arbeitssystem
Ideale Kennlinie Leistung = Kapazität Idealer Mindestbestand Bestand
maximal mögliche Leistung Idealer Mindestbestand
Kapazitätsmindernde Störungen Leistungsgrad Anzahl gleicher Arbeitssysteme Losgröße
Mittelwert und Streuung der Auftragszeiten
Einzelzeit Rüstzeit
6
Mindestübergangszeiten
Approximierte Kennlinie
Transportzeit sonstige Mindestübergangszeiten
Überlappungsgrad
Belastungsstreuung
Streckfaktor
Kapazitätsstreuung
Bestand
Flexibilität der Bestandszuordnung
Bild 6.20: Parameter der Produktionskennlinien © IFA 4905SW_Wd_B
triebsmittelauswahl gewährleistet geringe Rüstzeiten, verringert Losgrößen und damit den Mittelwert und die Streuung der Auftragszeit. Und schließlich sorgen ein durchdachtes Layout mit kurzen Transportwegen sowie eine prozessnahe Qualitätsprüfung für geringe gebundene Bestände durch Prüf- und Transportvorgänge. Der zweite in Bild 6.15 genannte Referenzprozess betrifft das Transportieren, genauer gesagt, ein einzelnes Transportmittel. Hier kann es sich beispielsweise um einen Gabelstapler oder Elektrohängezug handeln. Auch diese Einheit lässt sich mit logistischen Kennlinien beschreiben, deren Verlauf denen der Produktionskennlinie gleicht, Bild 6.21 [Wie00]. Im Gegensatz zur Produktionsleistungskennlinie existieren zwei Transportleistungskennlinien. Die Transportlastleistung berücksichtigt ausschließlich Lastfahrten, während die Transportgesamtleistung zusätzlich die Leerfahrten des Transportmittels einschließt. Der Hauptparameter der Leistungskennlini-
174
en ist die Transportarbeit, die im System gebunden ist, aber nicht als Menge oder Volumen des Transportgutes, sondern in Form von Transportstunden. Mit wachsendem Bestand steigt die Leistung zunächst proportional an. Im Übergangsbereich der Kennlinien konkurrieren die anstehenden Aufträge zunehmend um das Transportmittel, so dass Warteschlangen entstehen und die Auslastung nur noch unterproportional bis zur Vollauslastung steigt. Entsprechendes gilt für den Verlauf der Durchlaufzeitkennlinie, welche der Summe aus der mittleren Durchführungszeit und der mittleren Leerfahrtzeit entspricht. Analog zur Produktionsleistungskennlinie bestimmt der Fabrikplaner anhand der notwendigen Materialbewegungen auf Basis des Layouts zunächst die Transportkapazität. Die nächste Aufgabe besteht dann in der Minimierung der Leerfahrten, z.B. durch Einrichten von Rundkursen. Ziel ist auch hier, die Kapazität des Systems möglichst voll zu nutzen und dies bei niedrigstmöglichem Bestand an Ware, die durch das Transportsystem gebunden ist. Damit wird
6.2 Produktionstechnologie
Transportleistung
Gesamtleistung
Lastleistung
Leerleistung
Bild 6.21: Transportkennlinien
Mittlerer Transportbestand
© IFA 7774SW_Wd_B
gleichzeitig das Ziel kurzer Transportzeiten unterstützt. Die genaue Ableitung der Transportkennlinie findet sich in [Egl00] und [Egl01]. Als letzter logistischer Elementarprozess ist das Lagern von Waren oder Artikeln zu betrachten. Dieser Prozess ist immer dann erforderlich, wenn zwei aufeinanderfolgende Prozesse hinsichtlich ihres Abgangs- und Zugangsverhaltens zeitlich und mengenmäßig nicht aufeinander abgestimmt sind. Dies ist nur bei zwangsläufig getakteten Prozessen der Fall, beispielsweise in einer Großstufenpresse. Dort wird z.B. ein Autodach in 5 bis 7 Werkzeugen stufenweise von der flachen Platine in das fertige Dach umge-
6
formt. Bei jedem Niedergang des Oberteils wirken alle Werkzeuge gleichzeitig auf das jeweilige Werkstück ein, beim Hochfahren erfolgt synchron der Weitertransport. Im System ist also nur der Bestand gebunden, der zwingend zur Prozessdurchführung und zum Weitertransport erforderlich ist. Natürlich möchte man in einer Fabrik jede Art von Beständen vermeiden, weil sie Kapital binden, eine Lagerorganisation benötigen und Fläche belegen. Daher wird in manchen Unternehmen der Begriff Lager oder Bestand aus dem Vokabular gestrichen und stattdessen z.B. von dynamischen Zwischenpuffern o. Ä. gesprochen. Bisweilen entstehen daraus
ideale Servicegradkennlinie 100%
Servicegrad [%]
reale Servicegradkennlinie
Bild 6.22: Ideale und reale Servicegradkennlinie für einen Lagerartikel
Sicherheitsbestand bedingt durch: • verspätete Lieferungen • Unterlieferungen • Erhöhung der Nachfrage
0 0
MIndestbestand
Planbestand
mittlerer Lagerbestand [Stück]
© IFA 10.093SW_Mb_B
175
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
auch Visionen oder Vorgaben einer bestandslosen Fabrik. Für die Fabrikplanung sind solche Vorgaben wenig hilfreich, weil unrealistisch. Stattdessen sind die Gesetzmäßigkeiten eines Lagers auf die jeweilige Situation anzuwenden und nach Grenzwerten zu suchen, wie sie in Abschnitt 3.3 dargelegt wurden. Einen logischen Ansatz hierzu bietet die von Lutz entwickelte Servicegradkennlinie [Lut02], die ihrerseits auf der von Gläßner entwickelten Kennlinie für den mittleren Lagerverzug aufbaut [Glä95]. Bild 6.22 zeigt den prinzipiellen Verlauf.
6
176
Betrachtet wird zunächst ein einzelner Artikel oder auch eine logistisch ähnliche Gruppe von Artikeln mit Zu- und Abgang in ein bzw. aus einem Lager. Ähnlich wie bei den Produktionskennlinien lässt sich auch für die Servicegradkennlinie ein Idealzustand definieren und daraus eine Idealkennlinie berechnen, die nur von den Losgrößen des Zu- bzw. Abgangs bestimmt wird. In der Realität treten jedoch sowohl auf der Zugangsseite als auch auf der Abgangsseite Mengen- und Terminabweichungen sowie Schwankungen im Bedarf auf, die einen Sicherheitsbestand erforderlich machen. Dies führt dann zu der realen Servicegradkennlinie. Für die Berechnung der Kennlinien stehen Gleichungen zur Verfügung, die in [Nyh03] und [Lut02] beschrieben sind. Der Lagerbestand wird praktisch ausschließlich durch das Prozessverhalten der Zu- und Abgangsseite bestimmt. Es ist zunächst überraschend, dass demnach keine Beeinflussungsmöglichkeiten durch die Technik oder den Menschen gegeben sind. Dies liegt darin begründet, dass Lagern als Verfahren ein Prozess ist, bei dem das Material in Raum und Zeit, aber nicht in seinem Zustand verändert wird. Einflüsse durch Mensch und Technik treten erst auf, wenn der Lagerprozess durch logistische Betriebsmittel seine Realisierung erfährt. Für die Fabrikplanung bestehen daher die wesentlichen Eingriffsmöglichkeiten darin, die Zugangs- und Abgangsprozesse zu harmonisieren. Hierzu zählen die Angleichung der Losgrößen auf der Zugangs- und Abgangsseite (die sogen. synchronisierte Produktion), die Vergleichmäßigung der Verbrauchsraten, die Minimierung von Lieferzeit- und Mengenabweichungen und schließlich kurze Wiederbeschaffungszeiten.
Auf Stationsebene sind diese Ansatzpunkte überwiegend durch übergeordnete Strukturen und Strategien vorbestimmt, die im Rahmen der Fabrikstrukturplanung stattfinden und aus dem generellen Logistikkonzept der Fabrik abgeleitet werden müssen. Im Wesentlichen kann der Fabrikplaner zusammen mit dem Logistiker nur durch eine geordnete Materialbereitstellung und -entsorgung an den Arbeitsstationen Einfluss auf diese Ziele nehmen. Bei Montagestationen erfüllt die Zuführtechnik diese Aufgabe und an automatisierten Werkzeugmaschinen sind vergleichbare Einrichtungen anzutreffen. Insgesamt stellt sich die Frage der Wandlungsfähigkeit für die logistischen Verfahren Transportieren und Lagern nicht, sondern erst im Zusammenspiel mit vor- und nachgelagerten Prozessen und darüber hinaus dann, wenn die dazu notwendigen Betriebsmittel in ihren technischen Ausprägungen bekannt sind. Sowohl der Aspekt der Beeinflussungsmöglichkeit durch Technik und Mensch als auch der Aspekt der Veränderungsfähigkeit erfährt seine Behandlung auf den nächsthöheren Ebenen im Zusammenhang mit den dort beschriebenen Logistikverfahren. Im Folgenden soll nun die in Bild 6.3 als zweites Gestaltungsfeld bezeichnete Technik so weit erläutert werden, dass für den Fabrikplaner die aus Planungssicht wesentlichen Merkmale der Betriebsmittel für Fertigung, Montage und Logistik hervortreten. Sie sind zu ergänzen um die zum Betrieb der Arbeitsstationen notwendige Informationstechnik sowie die Ver- und Entsorgungstechnik. Auch dieses Feld ist hinsichtlich seiner Beeinflussungsmöglichkeiten durch den Fabrikplaner und die Merkmale der Wandlungsfähigkeit zu ergänzen.
6.3 Betriebsmittel Zur Umsetzung der im vorherigen Abschnitt geschilderten Fertigungs-, Montage- und Logistikverfahren dienen technische Anlagen, Geräte und Einrichtungen, die zusammenfassend als Betriebsmittel bezeichnet werden. Als mehr betriebswirtschaftlich
6.3 Betriebsmittel
Betriebsmittel Gesamtheit der Einrichtungen, Geräte und Anlagen zur Erfüllung einer Produktionsaufgabe Teilsystem
Montagemittel
Logistikmittel
• Handarbeitsplätze • Fertigungsmaschinen
• Handmontageplätze • Fügestationen • Montagemaschinen • Zubringeinheiten
• Lagereinrichtungen • Transport-/Fördereinrichtungen • Kommisioniergeräte • Verpackungsgeräte • Umschlaggeräte
Werkstücksysteme
• Werkstückträger • Spannvorrichtungen • Werkstückspeicher • Be- und Entladegeräte
• Werkstückträger • Greifer • Spannvorrichtungen
• Ladungsträger • Lastaufnahmemittel
Werkzeugsysteme
• Werkzeuge / Messmittel • Werkzeugspeicher • Werkzeugwechsler
• Fügewerkzeuge • Messmittel
Steuerung
• Steuerungs- und Überwachungsgeräte • Maschinendatenerfassung
• Steuerungs- und Überwachungsgeräte • Zustandserfassung
• Steuerungsgeräte • Identifizierungs-/ Rückmeldeeinrichtungen
Peripherie
• Steuerschränke • Abfallförderer • Abfallspeicher • Filteranlagen • Schutzvorrichtungen
• Steuerschränke • Leitungs- und Medientrassen • Schutzvorrichtungen
• Steuerschränke • Ladestationen • Leitstand • Schutzvorrichtungen
Montagesysteme
Logistiksysteme
Prozessbefähiger
Stationsebene
Fertigungsmittel
Bereichsebene
Fertigungssysteme
6
Bild 6.23: Gliederung der Betriebsmittel aus Sicht der Fabrikplanung © IFA 10.270SW_B
geprägter Begriff ist auch die Bezeichnung Ressource (frz. Hilfsmittel) gebräuchlich. Er umfasst neben den Betriebsmitteln auch noch die menschlichen Einsatzkräfte (Humanressourcen), Geldmittel (Finanzressourcen) und Rohstoffe. Aus Sicht der Fabrikplanung gliedert Bild 6.23 die Betriebsmittel in Fertigungs-, Montage- und Logistikmittel. Das Bild unterscheidet die Stationsebene und die Bereichsebene entsprechend den Strukturierungsebenen der Fabrik (vgl. Bild 5.18). Die Besonderheit der Betriebsmittel liegt darin, dass sie als körperliche Einheit verstanden werden, die hinsichtlich Materialfluss, Informations- und Energiefluss in sich verknüpft und daher nicht in Teilen funktionsfähig sind. Eine Ausnahme bilden sehr große Anlagen mit einem durchgängigen Fertigungs- und/oder Montageprozess für Großserien- oder Massenprodukte, wie etwa eine integrierte Vorfertigungs- und Montageanlage für Waschmaschinen oder eine Anlage zur kompletten Herstellung von Verbrennungsmotoren, eine
Lackieranlage für Automobilkarossen, eine Papiermaschine oder eine verkettete Druck- und Faltanlage für Zeitungen. Bei diesen Betriebsmitteln mit Großanlagencharakter dominieren die Prozessbeherrschung und der Materialfluss die gesamte Fabrikgestaltung. Im Folgenden werden die Betriebsmittel auf Stationsebene und Bereichsebene behandelt. Aus Sicht der Fabrikplanung ist es zweckmäßig, die Betriebsmittel zunächst funktional und später auch bei ihrer Dimensionierung und Anordnung in Teilsysteme zu zerlegen, die Bild 6.23 in der ersten Spalte aufführt. Aus Prozesssicht steht der Arbeitsraum des Betriebsmittels, häufig auch Wirkraum genannt, im Vordergrund. In ihm vollzieht sich die Veränderung des Produktes. Der Arbeitsraum befähigt die Betriebsmittel zur Durchführung des Verfahrens und kann deshalb als Prozessbefähiger bezeichnet werden. In der technischen Ausprägung handelt es sich bei Betriebsmitteln um Handarbeitsplätze oder um mehr oder weniger automatisierte Stationen oder Maschinen. Viele der Verfahren benötigen bei
177
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Maschinen zum Urformen
Stranggussmaschinen
Maschinen zum Umformen
Pressen Hämmer
Schleudergussmaschinen
Walzmaschinen
Druckgussmaschinen
Ziehmaschinen
Biegemaschinen
Spritzgussmaschinen
6
Galvanoformende Maschinen
Maschinen zum Trennen
Zerteilende Maschinen -Scheren -Schneidpressen Spanende Maschinen - Drehmaschinen - Fräsmaschinen - Bohrmaschinen - Schleifmaschinen - Honmaschinen - Läppmaschinen - Bearbeitungszentren Abtragende Maschinen - Erodiermaschinen
Maschinen zum Fügen
Schweißmaschinen Lötmaschinen
Maschinen zum Beschnitten
Galvanisiermaschinen
Maschinen zum Ändern der Stoffeigenschaften Nitrierautomaten Härteöfen
Nietmaschinen
Lackiermaschinen
PVD-Anlagen
Klebemaschinen
PVD-Anlagen
CVD-Anlagen
Schraubmaschinen
CVD-Anlagen
Ionenbeschleunigeranlagen
Ionenplattiermaschinen
PVD: Physikal Vapour Deposition CVD: Chemical Vapour Deposition
Bild 6.24: Einteilung von Werkzeugmaschinen (Spur) © IFA 10.253SW_B
ihrer Anwendung Einrichtungen zum Handhaben, Spannen, Bewegen der Werkstücke im Arbeitsraum sowie zur deren Be- und Entladung. Ebenso sind meist Werkzeuge und Messmittel erforderlich. Die mehr oder weniger automatische Steuerung, Überwachung und Rückmeldung der Prüfvorgänge ist ebenfalls notwendig und erfordert meist eine nicht unerhebliche Peripherie, die der Entsorgung von Abfallstoffen, dem Arbeitsschutz und nicht zuletzt der Unterbringung der bisweilen voluminösen Gehäuse für die Energie- und Informationssteuerungsmodule dient.
6.3.1 Fertigungsmittel Fertigungsmittel dienen der Durchführung der in Abschnitt 6.2.1 vorgestellten Fertigungsverfahren. Handarbeitsplätze bestehen aus einem Arbeitstisch, der das zu bearbeitende Werkstück, eventuelle Spannvorrichtungen – z.B. einen Schraubstock – sowie Werkzeuge zur Durchführung der Arbeitsoperation aufnimmt. Derartige Handarbeitsplätze finden sich in der industriellen Produktion eher selten, z.B. als Rohrbiegeplatz, Entgratplatz, Schweißplatz usw.
178
Den weitaus überwiegenden Teil der Betriebsmittel bilden Fertigungsmaschinen, deren wesentliche Ausführungsformen Bild 6.24 entsprechend der Gliederung nach den Fertigungsverfahren zeigt [Spu96]. Sie sollen nicht im Einzelnen erläutert werden, da ihre Eigenschaften aus fabrikplanerischer Sicht sehr ähnlich sind. Für den Fabrikplaner wichtiger ist die Aufteilung der Fertigungsmaschinen in Einzelmaschinen und Maschinensysteme, die sich weiter nach dem Grad der Produktivität und Flexibilität einteilen lassen, Bild 6.25. Einzelmaschinen reichen hinsichtlich der Flexibilität von Einzweckmaschinen, die nur ein bestimmtes Teil herstellen können, über umrüstbare Einzweckmaschinen über Bearbeitungszentren mit eingeschränktem Teilespektrum bis hin zur numerisch gesteuerten Universalmaschine, die lediglich hinsichtlich der Werkstückabmessungen begrenzt ist. Flexible Mehrmaschinensysteme (Flexible Fertigungszelle, Flexibles Fertigungssystem, Flexible Transferstraße) verknüpfen mehrere Einzelmaschi-
6.3 Betriebsmittel
starre Mehrmaschinensysteme
Transferstraße
umrüstbare Transferstraße
Produktivität
integriertes starres Fertigungssystem
flexible Transferstraße
flexible Mehrmaschinensysteme
flexibles Fertigungssystem
flexible Fertigungszelle
Einzweckmaschine
Einzelmaschinen
umrüstbare Einzweckmaschine
Bild 6.25: Produktivität und Flexibilität von Fertigungseinrichtungen (nach Weck)
Bearbeitungszentrum
numerisch gesteuerte Universalmaschine
6
Flexibilität
© IFA 10.342SW_B
nen zu einem durchgängigen Werkstückfluss mit einer mehr oder weniger flexiblen Reihenfolge der Operationen. Die Gruppe der Maschinensysteme mit höchster Produktivität und geringster Flexibilität sind getaktete Transferstraßen, die mehr oder weniger auf unterschiedliche Werkstücke umrüstbar sind. Die Umrüstung beschränkt sich hier aber auf unterschiedliche Abmessungen und Ausprägungen einer eng begrenzten Teilegruppe wie beispielsweise Motorblöcke. Die hier nur kurz angedeuteten Erscheinungsformen der Fertigungsmittel lassen sich aus Sicht der Fabrikplanung auf vergleichsweise wenige Merkmale reduzieren. Als exemplarisch kann die Gruppe der numerisch gesteuerten Universalmaschine gelten. Ihren prinzipiellen Aufbau zeigt Bild 6.26 [Toe95]. Eine ausführliche Einführung bieten auch Weck und Brecher [Wec05]. Das Maschinengestell bestimmt die räumliche Struktur der Maschine mit ihren unbeweglichen und beweglichen Teilen. Führungen ermöglichen die Verschiebung oder Drehung beweglicher Teile und bestimmen wesentlich die Genauigkeit der gefertigten Werkstücke. Antriebe stellen die mechanische
Energie zur Erzeugung von Haupt- und Vorschubbewegungen zur Verfügung und schließlich dient die Steuerung einerseits der Beeinflussung der Motoren und Stellglieder (Leistungssteuerung) und andererseits der Ablaufsteuerung und -regelung der Werkstück- und Werkzeugbewegungen (Informationssteuerung). Letztere erfolgt mit Hilfe einer NC-Steuerung (engl. Numerical Control). Die Steuerung ist vielfach an ein lokales Datennetz (LAN Local Area Network) angeschlossen, das den elektronischen Austausch von Steuer- und Ablaufdaten mit den übergeordneten Systemen erlaubt. Aus Sicht der Fabrikplanung bestimmt das Gestell der Maschine den Flächenbedarf, die Höhe den Raumbedarf und ihr Gewicht die Bodenbelastung sowie die Aufstellungsart mit oder ohne Fundament. Antrieb und Prozess sind demgegenüber maßgeblich für die Energieanschlüsse bzw. Medienversorgung, wie z.B. Druckluft oder Kühlwasser. Die Werkzeugsysteme bestehen aus Werkzeugen und Messmitteln, die eine Werkzeugvorbereitung auftragsweise kommissioniert und bereitstellt. Bei größeren Werkzeugmengen sind sowohl maschinenintegrierte als auch separate Werkzeugspeicher anzutreffen, ggfs.
179
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Bewegungsachsen x, y, z
Führung
Werkstück
Antrieb z
y Steuerung
Gestell x
Gestell
6
Ständer Fundament
Schlitten Supporte
Führungen
Geradführungen
Lagerung
Antrieb
Hauptantrieb
Nebenantrieb
Steuerung
Leistungssteuerung
Informationssteuerung
Bild 6.26: Elemente einer Werkzeugmaschine (Tönshoff) © IFA 10.254SW_B
mit speziellen Be- und Entladegeräten. Werkzeugsysteme sind aus Sicht der Fabrikplanung flächenverbrauchende Nebensysteme, die aus ergonomischer Sicht zu gestalten und im Rahmen der Flächen- und Anordnungsplanung zu berücksichtigen sind. Zur Handhabung und Speicherung der Werkstücke vor und im Arbeitsraum der Maschine dienen Werkstücksysteme. Werkstückpaletten, auch Werkstückträger genannt, die häufig spezielle Spannvorrichtungen tragen, stellen die räumliche Positionierung und Fixierung der Werkstücke auch unter dem Einfluss der teils erheblichen Zerspanungskräfte sicher. Der Werkstückwechsel kann manuell erfolgen, es sind aber auch separate Werkstückspeicher mit automatischen Be- und Entladegeräten gebräuchlich. Die Teilsysteme der Werkstückhandhabung beanspruchen je nach Werkstückgröße erhebliche Flächen. Sie bilden die Nahtstelle zum innerbetrieblichen Materialflusssystem und werden maßgeblich durch die Fabrikplanung und Logistik gestaltet. Steuerungssysteme sind üblicherweise Bestandteile der Werkzeugmaschine und treten für den Nutzer als Bedientafel oder Steuerpult in Erscheinung. Die Ergeb-
180
nisse eines Prozesses können Qualitätsdaten sein, es werden aber auch organisatorische Rückmeldungen wie Gutstückmenge und Fertigstellungszeit über das Bedienpult eingegeben, die den logistischen Regelkreis der Produktionsplanung und -steuerung schließen. Steuerungssysteme erfordern aus Sicht der Fabrikplanung lediglich einen Flächen- und Betriebsmittelbedarf für Steuerschränke und Verbindungstrassen. Die Peripherie eines Fertigungsmittels wird neben den bereits behandelten Werkstück- und Werkzeugsystemen maßgeblich durch die Entsorgung von Abfallstoffen und deren Zwischenspeicherung sowie Schutzvorrichtungen bestimmt, die aus Umwelt- und Arbeitsschutzvorschriften resultieren. Sie beanspruchen einerseits nennenswerte Flächen und sind andererseits in den Entsorgungskreislauf einzubinden, ohne den Produktionsfluss zu stören. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Kühlschmierstoffe, die bei Vermischung mit Spänen und Schleifstaub zu erheblichen Deponiekosten führen und daher entweder zu vermeiden (Trockenverarbeitung), zu reduzieren (Minimalmengenkühlschmiersystem) oder zu substituieren sind [Tro02].
6.3 Betriebsmittel
Flexible Fertigungszelle Bearbeitungszentrum Maschine Arbeitsraum
NC
• Werkstück • Werkzeug • Vorrichtung
Werkzeugspeicher
NC Numerische Steuerung Kraftantrieb
Bild 6.27: Automatisierungsstufen von Einzelmaschinen (in Anlehnung an Spath)
Werkstückspannstation
Werkzeugwechsler
6
Palettenwechsler
© IFA 10.255SW_B
Für die Auswahl von Fertigungsmaschinen spielen neben dem durch die Bearbeitungsaufgabe bestimmten Verfahren deren Flexibilität und Produktivität eine bedeutende Rolle. Hierzu lieferte Bild 6.25 bereits eine grobe Einteilung. Flexibilität und Produktivität einer Fertigungseinrichtung hängen neben der Strukturierung in eine oder mehrere Einheiten stark vom Automatisierungsgrad der Einheiten ab [Spa97]. Die Automatisierung bezieht sich dabei auf den Programmablauf der Werkzeug- und Werkstückbewegung, den Werkzeugwechsel und den Werkstückwechsel. Bild 6.27 verdeutlicht nach einem Vorschlag von Spath die sich daraus ergebenden Automatisierungsstufen von Einzelmaschinen [Spa97] und gliedert damit die Einzelmaschine in Bild 6.27 weiter auf. Ausgehend vom Wirk- oder Arbeitsraum, in dem der eigentliche Fertigungsprozess stattfindet, entsteht durch Hinzufügen eines Kraftantriebs und einer lokalen Steuerung eine Fertigungsmaschine. Kann diese Maschine mittels eines lokalen Werkzeugmagazins mit verschiedenen Werkzeugen (z.B. Bohrer, Fräser, Gewindeschneider) und einem automatischen Werkzeugwechsler sowie einer integrierten Messein-
richtung unterschiedliche Bearbeitungsoperationen in einer Aufspannung am selben Werkstück durchführen, spricht man von einem Bearbeitungszentrum (BAZ). Bild 6.28 zeigt ein Bearbeitungszentrum zur Fertigung kleiner rotationssymmetrischer Teile. Die Rohteile werden in einen umlaufenden Werkstückspeicher eingelegt. Eine senkrecht und waagerecht geführte Drehspindel greift und spannt ein Rohteil mittels Spannfutter. Die zerspanende Formgebung erfolgt durch die numerisch gesteuerte Bewegung des rotierenden Teiles entlang eines stillstehenden Drehwerkzeuges, das in einem Trommelrevolver eingespannt ist. Die herunterfallenden Späne entsorgt der Späneförderer nach außen in einen Spänebehälter. Der Trommelrevolver enthält alle Werkzeuge zur kompletten Bearbeitung des Teiles, auch Bohr- und Gewindeoperationen sind möglich. Durch Drehen des Revolverkopfes in definierte Positionen kommen die einzelnen Werkzeuge zum Einsatz. Nach dem Ende der Bearbeitung legt die Drehspindel das fertige Teil auf dem Werkstückspeicher ab, dieser rückt einen Schritt vor und befördert das nächste Rohteil in die Startposition. Im Bild ist ebenfalls die für den Fabrikplaner wesentliche Maschinengrundfläche er-
181
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Gestell
Führungen
Antriebe
Drehspindel Arbeitsraum Steuerung Werkzeuge Grundfläche
6 Späneförderer
Plattform
METEOR Vertikale MultiTechnologie Werkzeugmaschine
Konfiguration 1: Drehen, Fräsen, Anfasen
182
Bild 6.28: Aufbau einer Werkzeugmaschine am Beispiel eines Drehautomaten (Hüller Hille Hessap)
Werkstückspeicher
Module
© IFA 10.402SW_B
Sub-Module
Horizontalbearbeitung
Werkzeuge
Drehen
Spindeln
Vertikalbearbeitung
Handling
Konfiguration 2: Drehen, Bohren
Handhabung
Achsen …
Konfiguration X: Bohren, Anfasen, Drehen
Bild 6.29: Rekonfigurierbare Werkzeugmaschine (Denkena) © IFA 15.055_B
6.3 Betriebsmittel
Ein- und Auslagerung
Werkzeuglager
Übergabesystem Zellenrechner
Leitrechner
PPSSystem
B
B
W
M
Übergabesystem
Leitstand
6
Werkstücklager Ein- und Auslagerung
Bearbeitungsstation • Werkzeugspeicher • Funktion: W Waschen, B Bearbeiten, M Messen • Werkstückspeicher
Werkstückfluss
Werkzeugfluss
Informationsfluss
Bild 6.30: Prinzip eines flexiblen Fertigungssystems © IFA 9127SW_B
kennbar. Bei Bearbeitungszentren für prismatische Teile erfolgt die Werkstückspannung außerhalb der Maschine auf einer sogen. Werkstückpalette, die mit einem Palettenwechsler in die Maschine ein- und ausgefahren wird. Wird auch der Werkzeugwechsel und eine Werkstückspannstation außerhalb des Arbeitsraums hinzugefügt, entsteht eine flexible Fertigungszelle (FFZ). Die üblichen Werkzeugmaschinen und -systeme sind zwar im Rahmen ihres definierten Teilespektrums flexibel, weitgehende Veränderungen des Werkstückspektrums, die eine Integration oder die Entfernung von Bearbeitungseinheiten erfordern, sind i.d.R. nicht möglich. Wie in Kapitel 5 diskutiert, kann für den Fall der Forderung nach einer kurzfristigen Umstellung die Rekonfigurierbarkeit einen Lösungsansatz bieten. Bild 6.29 stellt dazu ein im Rahmen eines Verbundforschungsprojektes entwickeltes Konzept für eine rekonfigurierbare Werkzeugmaschine vor.
Die Maschine erlaubt ausgehend von einer Plattform, die das Gestell und die Bewegungsachsen umfasst, Module und Submodule zu kombinieren. Damit sind je nach Werkstückanforderungen unterschiedliche Konfigurationen möglich, von denen drei Beispiele in das Bild eingefügt sind. Verknüpft man mehrere Arbeitsstationen über ein zentrales Werkstück- und Werkzeugmagazin sowie entsprechende Wechseleinrichtungen hinsichtlich Material- und Informationsfluss, spricht man von einem flexiblen Fertigungssystem (FFS), dessen Struktur Bild 6.30 zeigt. Die Aufgabe eines FFS besteht in der vollautomatischen Herstellung eines Werkstückspektrums – z.B. Hebel, Zahnräder, Wellen usw. – in einem großen Stückzahlenbereich in beliebiger Reihenfolge. Die einzelnen Stationen führen nicht nur Bearbeitungsaufgaben durch, sondern übernehmen auch Nebenfunktionen, wie z.B. Messen und Waschen der Teile. Die Steuerung des Systems erfolgt durch einen Leitrechner, der einerseits die Auftragsdaten mit
183
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Pressgangleitung
Motor (groß)
Oberdeckel (Zylinder) Motor (klein) Zylinderrohr Unterdeckel (Zylinder)
Querhaupt (Ober) Führung (am Ständer)
Ständer (Links)
Führung (am Stößel) Ständer (Rechts)
Stößel
6
Presstisch
Touch-PanelSteuerung PC670
Zweihandpult Tischplatte
Flurebene
Bild 6.31: Hydraulische Doppelständerpresse (Werkbild Dunkes GmbH) © IFA 15.056_B
dem PPS-System austauscht und andererseits die Zellenrechner der Teilsysteme steuert. Letztere kommunizieren ihrerseits mit den lokalen Maschinensteuerungen. Ein FFS stellt aus Sicht der Fabrikplanung eine in sich geschlossene Einheit dar, die in den Material-, Informations-, Energie- und Personenfluss der nächsthöheren Planungsebene einzubinden ist. Im Allgemeinen stellen Werkzeugmaschinen für die Fabrikplanung keine besonderen Anforderungen dar. Lediglich bei Maschinen, deren Arbeitsbewegung verfahrensbedingt vertikal ist und die größere Werkstücke bearbeiten, lassen sich spezielle Fundamente nicht vermeiden. Das trifft besonders für Umformmaschinen zu, die zusätzlich durch starke Schwingungen und Lärmemission gekennzeichnet sind. Bild 6.31 zeigt eine hydraulische Doppelständerpresse. Sie ist mit einem Ein-Zylinder-Antrieb ausgerüstet, der sich im oberen Querhaupt befindet und eine maximale Presskraft von 2500 kN aufbringt. Der Antrieb erfolgt über einen Hauptmotor und einen Ne-
184
benmotor mit einer installierten Motorleistung von 55 kW bzw. 15 kW. Diese Auslegung ermöglicht bei Betrieb zum einen den langsamen Einrichtbetrieb und zum anderen sind bei gleichzeitigem Betrieb beider Motoren höhere Stößelgeschwindigkeiten im Eilgang für den Vor- und Rücklauf der Presse zu erzielen. Mit einer Abmessung von 7m x 5m x 6m (Höhe x Breite x Tiefe) und einem Gewicht von ca. 40 to stellt sie einen nahezu unverrückbaren Fixpunkt dar. Für die Veränderungsfähigkeit der Fabrik sind die wandlungsrelevanten Merkmale der Fertigungsmaschinen von primärer Bedeutung. Bild 6.32 stellt diese, abgeleitet aus ihren Teilsystemen (vgl. Bild 6.23 erste Spalte), zusammen, geordnet nach der Maschine, dem Material-, Werkzeug- und Informationsfluss. Mit wachsendem Merkmalswert wird die Veränderungsfähigkeit auf den einzelnen Ebenen un-
6.3 Betriebsmittel
terschiedlich beeinflusst. Je größer Abmessungen und Gewicht und je geringer die Zerlegbarkeit der Maschine aus Sicht der Maschineninstallation und Demontage ist, desto wandlungsträger ist sie. Benötigt sie eigene Fundamente und spezielle Schutzeinrichtungen, wird die Maschine zu einem Fixpunkt im Layout, der die Wandlungsfähigkeit auf allen fünf Ebenen praktisch zu null werden lässt. Aus den in der rechten Spalte von Bild 6.32 aufgeführten Hemmnissen lassen sich folgende Empfehlungen für eine hohe Wandlungsfähigkeit ableiten:
• Selbsttragende Bauweise der Gestelle, um speziel• • •
le Fundamente zu vermeiden. Gliederung der Maschine in Module, die in sich funktionsfähig und vorgetestet sind. A npassung der Module nach Gewicht und Abmessung an übliche Ladegewichte und -profile, um Schwer- und Sondertransporte zu umgehen. Trassenführung der Energie- und Medienversorgung in modularer Form mit Steckverbindungen.
Fertigungsmaschinen
• Module
•
•
zum Anschluss von Medien und Steuereinheiten, Filter- und Reinigungseinrichtungen sowie modulare Späneförderer, um die Maschine an ein geändertes Layout ohne aufwändige Installationsarbeiten anpassen zu können. Flexibel und mit kurzen Installationszeiten andockbare Module zum Werkstück- und Werkzeugwechsel sowie zur Werkstück- und Werkzeugspeicherung. Aufhebung der Trennung zwischen technischer (NC-Steuerung) und logistischer (PPS-System) Informationsbereitstellung an der Fertigungsmaschine mit Hilfe universeller Werkerinformationssysteme.
Es wird deutlich, dass diese Maßnahmen in erster Linie die Flexibilität und Wandlungsfähigkeit beeinflussen, während die Umrüstbarkeit und Rekonfigurierbarkeit durch das Maschinenkonzept und die Gliederung seiner Subsysteme selbst bestimmt wird.
Ebene
InformaMaterial-/ tionsfluss Werkzeugfluss
Maschine
Station Bereich Fabrik 5 3/4 2
6
Hemmnisse Werk 1
Äußere Abmessungen Gewicht / Fundamentierung Zerlegbarkeit aus Installationssicht Rekonfigurierbarkeit aus Funktionssicht Energie-/ Medienbedarf Kühlschmiermittelbedarf Lähm-/ Schwingungsmission Arbeits- und Sicherheitsschutz
Ladeprofil LKW, Bahn, Container Bodentragfähigkeit Monoblockbauweise fehlende Funktionsmodule Leitungs-/ Trassenführung Zentrale Aufbewahrung Dämmgehäuse, Bodenisolierung Platzbedarf
Automatisierung Werkstückwechsel lokaler Arbeitsvorrat Automatisierung Werkzeugwechsel lokaler Werkzeugbestand
Werkstückträger, Greifer, Spanneinr. Variantenzahl u. Werkstückvolumen Werkzeugspannsysteme Werkzeuganzahl u. -verschließ
Anbindung an PPS-System Informationsbereitstellung
Datenübertragung Datenübertragung
Veränderungsfähigkeit mit wachsendem Merkmalswert:
niedrig
mittel
hoch
Bild 6.32: Veränderungsfähigkeit von Fertigungsmaschinen © IFA 10.256SW_B
185
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
6.3.2 Montagemittel Die Montage unterscheidet sich von der Fertigung aus Sicht der Fabrikplanung und des Fabrikbetriebs durch folgende Eigenschaften:
•
6
•
• ine Fertigungsmaschine benötigt zur HerstelE lung eines Werkstücks Ausgangsmaterial, das i.d.R. aus einem Stück Halbzeug aus gleichem oder ähnlichem Werkstoff in wenigen geometrischen Varianten besteht. Demgegenüber sind in der Montage je nach Produktaufbau sehr viele, meist völlig unterschiedliche Teile in z.T. mehreren Varianten zu fügen und ihr funktions- und lagerichtiger Einbau ist zu prüfen. Bei Fertigungsprozessen steht als ein wichtiges Qualitätsmerkmal die Genauigkeit der Teile im Vordergrund. Daher spielt bei den hohen Prozesskräften die Steifigkeit und das dynamische Ver-
•
halten der Werkzeugmaschine eine große Rolle. Demgegenüber kommt es bei Montageprozessen bei vergleichsweise geringen Prozesskräften auf die Positionierungsgenauigkeit der Fügeteile und die Sicherheit der Fügeprozesse an. Die Auftragszeiten eines Fertigungsprozesses der variantenreichen Serienfertigung bewegen sich typischerweise im Stundenbereich, je nach Teilekomplexität und Losgröße zwischen 0,5 und 20 Stunden. Sonderfälle sind Fertigungsstraßen für Großserien mit Taktzeiten im Minutenbereich. Demgegenüber sind bei Montageprozessen der variantenreichen Serienfertigung wegen der kurzen Greif- und Fügezeiten Taktzeiten im Sekunden- bis Minutenbereich üblich. Untere Grenzwerte liegen bei 2 bis 3 Sekunden. Die mittlere unterbrechungsfreie Laufzeit von Fertigungsprozessen liegt im Bereich von Stunden und die mittlere Entstördauer bei 10 bis 20
70 One Piece Flow Montage
60 50
manuelle Fließmontage
flexible Montage
Produktkomplexität [Anzahl Teile bzw. Vorgänge]
40 30
Hybride Montage
20 10
manuelle Einzelplatzmontage
0 0
200
400
600
800
1000
1200
0 10
1600
1800
Leistung [Stck/Std]
20 30 40 50
automatische EinzelplatzMontageeinheit
60 70
automatische Fließmontage
Bild 6.33: Einteilung der Montagesysteme nach Leistung und Komplexität (B. Lotter) © IFA 15.057_B
186
1400
starre Montage
6.3 Betriebsmittel
Bezeichnung Fügemittel Ebene 1 Greifbehälter Ebene 2
Ebene 1 s
Montageobjekt
Arbeitsfläche
a
b g3
i
e 0 bis 325
Arbeitshöhe
h1 350-550 h2 1000-1250
Fußfreiraum
i
Fußstütze
h2
min. 120
Kniefreiraum
k 520-720
Sehabstand
s abhängig von der Sitzflächenhöhe
Beinraumtiefe
t1 min. 350
Fußraumtiefe
t2 min. 800
Fußneigung
5-10 Grad
Greifraum
g1 1400-1600 g2 200-250 g3 600-650
6
t1
Ablagebehälter
a) Draufsicht
b 250-300
h1
k g2
Sitzhöhe Arbeitsstellendistanz
Ebene 2 e
g1
Maße [mm]
Arbeitsflächenhöhe a 900-1080
t2
b) Seitenansicht
c) empfohlene Maße
Bild 6.34: Montagearbeitsplatz für manuelle Montage (Bosch Rexroth) © IFA 10.336SW_B
Minuten. Automatische Montageprozesse erzeugen demgegenüber wegen der vielen Teile und der kürzeren Taktzeiten viel häufiger Störungen, die im Minutenabstand auftreten können, und sie benötigen Entstörzeiten ebenfalls im Bereich einiger Minuten. Daraus erklärt sich die Tatsache, dass Fertigungsmaschinen vielfach ohne Aufsicht im Nachtbetrieb betrieben werden können, während Montagestationen und gar verkettete Systeme eine ständige personelle Überwachungs- und Eingriffsbereitschaft vor Ort erfordern. F • ertigungsmaschinen sind aus den genannten Gründen prinzipiell besser zu automatisieren, wohingegen in der Montage Automatisierungsgrade von mehr als 20 bis 30 % eher selten anzutreffen sind. Aus diesen Gründen spielt die manuelle Montage gegenüber einer automatischen Montage so lange eine bedeutende Rolle, wie es aufgrund der Produktstruktur und Fügetechnik erforderlich ist, jedes einzelne Teil am Arbeitsplatz zu bevorraten, zuzuführen, zu fügen, den Fügeprozess zu prüfen und das fertige
Zwischen- oder Endprodukt weiterzugeben oder abzulegen. Die Montagemittel lassen sich gemäß Bild 6.33 nach der Leistung und der Anzahl zu montierender Teile bzw. Montagevorgänge gliedern, wobei in diesem Feld eine mehr oder weniger flexible Handmontage und eine automatische Montage in zwei Grundformen unterschieden werden [Lot06a]. Bei den manuellen Montagearbeitsplätzen steht der Mensch mit seinen Bewegungsräumen sowie seiner physischen und psychischen Belastung im Mittelpunkt. Bild 6.34 zeigt hierzu die wesentlichen Abmessungen eines Arbeitsplatzes, der sowohl eine sitzende als auch stehende Arbeit erlaubt [Mar94]. Aus logistischer Sicht ist hervorzuheben, dass die Produkte losweise montiert werden. Bei einem Produkt- oder Variantenwechsel ist der Inhalt der Greifbehälter ganz oder teilweise auszutauschen. Zur Durchführung der Arbeit sind als Betriebsmittel ausgehend vom Menschen der Arbeitstisch, die Sitz-
187
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Drehteller 1 für 18 Produkte Montagevorrichtung
Presse T5
T6
T4 Drehteller 2 für 6 Teilebehälter (Schüttgut)
T3 T2
T1
16 cm Fügeposition 60 c
m
6
Ablage Fertigprodukt
Bild 6.35: Montagearbeitsplatz für satzweise Montage (Lotter) © IFA 12.496SW_B
gelegenheit bzw. der Stehplatz, die Greifbehälter und das Fügemittel zu nennen. Die Ablage des Arbeitsergebnisses erfolgt entweder in einen transportablen Ablagebehälter hinein, möglichst in geordneter Form, oder auf einem Förderband. Die räumliche Anordnung
Montageschlitten auf Kugelrollbahn
T5
T6
der einzelnen Arbeitsmittel berücksichtigt die dargestellten Maße für Tischhöhe, Sehabstand, Greifweite und die Freiräume zur ungehinderten Bewegung. Die durch den Menschen ausgeführten Vorgänge lassen sich nach den fünf Bewegungselementen Fügen,
Greifbehälter (Schüttgut)
T7 T8
T4
T9 T3
drehbarer Arbeitstisch mit Werkstückaufnahme T10
T2
T1
T11 Kugelrollbahn
Basisteil
Fertigprodukt
Bild 6.36: Montagearbeitsplatz für stückweise Montage (LP-Montagetechnik) © IFA 12.469SW_B
188
6.3 Betriebsmittel
Kommissionierlager Kommissionierwagen
Fertigprodukt A
Fertigprodukt B
10
9
8
7
6 5
4
3
6 1
2
3
Vormaterial
4
Produkt A
5
Vormaterial
1
2
Produkt B
Bild 6.37: Gestaltung U-förmiger Montagesysteme © IFA 12.504SW_B
Greifen, Verrichten, Hinlangen und Bringen gliedern [MTM87]. Dabei wird zunächst deren zeitminimale Reihenfolge unter Vermeidung schwieriger Bewegungen im Sinne einer Bewegungsvereinfachung angestrebt. Eine weitere Verbesserung lässt sich durch das gleichzeitige Ausführen gleicher oder unterschiedlicher Bewegungen mit beiden Händen und durch die Beseitigung nicht wertschöpfender Tätigkeiten erreichen. Als Maß für den Wirkungsgrad eines Montagearbeitsplatzes gilt nach Lotter das Verhältnis der Summe aller Primärmontagevorgänge PMV und der Summe aller Montagevorgänge (=Summe der Primärmontagevorgänge + Summe der Sekundärmontagevorgänge) [Lot06a]. Unter Primärmontagevorgängen sind dabei alle Vorgänge zu verstehen, die der Erhöhung der Wertschöpfung eines Produktes während seines Montagevorganges dienen, während Sekundärmontagevorgänge die notwendigen, nicht vermeidbaren Aufwendungen darstellen, die keine Wertschöpfung bewirken.
Reichen die Maßnahmen zur weiteren personalbezogenen Leistungssteigerung nicht aus, ist eine Teilmechanisierung und ggf. Automatisierung angebracht. Dies führt zunächst zur satzweisen und teilautomatisierten Montage. Bild 6.35 zeigt einen Montagearbeitsplatz, an dem auf einem Drehteller 1 mit 18 Werkstückaufnahmen zunächst das Grundteil T1 aus einem Greifbehälter durch Weitertakten eingelegt wird [Lot06a]. Danach wird der Drehteller 2 so weit gedreht, dass Teil T2 in die optimale Greifposition gelangt. Dieses Teil wird nun auf Teil T1 18-mal gefügt. Der Vorgang wiederholt sich, bis alle 6 Teile gefügt sind und geordnet abgelegt werden. Bemerkenswert sind zum einen die kurzen Greifwege (Reduktion von Sekundäraufwand) und zum anderen der zeitparallele Einsatz einer automatischen Fügepresse. Daher werden solche Montagelösungen auch als hybride Montagesysteme bezeichnet.
189
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
6
Geht man hinsichtlich der Vereinzelung noch einen Schritt weiter, entsteht die stückweise Montage, auch als One-Piece-Flow-Montage bezeichnet. Ein Lösungsbeispiel als Einzelarbeitsplatz zeigt Bild 6.36 [Lot06b]. Hier nimmt der Werker das Basisteil auf, legt es auf einen Werkstückträger, der auf einem sogen. Montageschlitten auf einer Kugelrollbahn verschiebbar ist, und bewegt den Schlitten manuell in die jeweils optimale Greif- und Fügeposition für das nächste Teil. In diesem Fall sind insgesamt 11 Teile zu fügen, bis das Fertigprodukt geordnet abgelegt werden kann. Der Vorteil dieses Systems liegt in der Minimierung der Werkerbewegungen und der Materialversorgung von außen, was sich vorteilhaft bei einem Variantenwechsel auswirkt. Bei stark schwankendem Bedarf ist auch ein flexibler Personaleinsatz möglich. Dazu zeigt Bild 6.37 eine Lösung in Form eines U-förmigen Systems, in dem zwei Produkte A und B montiert werden. Je nach verlangter Ausbringung können z.B. im Bereich A ein bis drei Werker arbeiten und im Bereich B ein bis zwei Werker, die eine mehr oder weniger große Anzahl von Montageoperationen durchführen.
2
1 a) Skelettbandordnung
b) Schoßbandanordnung Bild 6.38: Manuelle Fließmontage © IFA 12.503SW_B
190
Die Kommissionierung der zu verbauenden Teile erfolgt durch einen besonderen Mitarbeiter, der die Teile je Variante stückzahlgenau an den Einzelstationen bereitstellt. Sind noch mehr Fügestationen erforderlich und sind automatische Stationen nicht wirtschaftlich, kommt die manuelle Fließmontage zum Einsatz, deren Verkettung durch unterschiedliche Auslegung des Transportmittels erfolgt, Bild 6.38. Gemäß Bild 6.33 sind damit die Leistungsgrenzen manueller Montagesysteme erreicht. Sind die Varianten nicht zu umfangreich und reichen die Losgrößen für mehrere Stunden durchgehenden Betriebs, kommen Montageautomaten zum Einsatz. Dabei erfolgen alle Fügeoperationen synchron in einem kurzen Takt. Bild 6.39 zeigt einen sogen. Rundtaktautomaten mit zwei Einlegestationen für die Teile A und B und einer Fügestation. Vorteilhaft ist die große Ausbringung mit bis zu 1800 Stück pro Stunde, nachteilig sind die geringe Variantenflexibilität und die Störanfälligkeit bei Zuführproblemen. Wenn eine Station gestört ist, steht die ganze Maschine. Schließlich ist die Anzahl der Stationen durch die Größe des Rundschalttisches begrenzt, 18 Stationen gelten als obere Grenze.
4
3
6
5
6.3 Betriebsmittel
Presse
Rundtakteinheit
Vertikalzylinder (Z Achse) Einlegegerät
Horizontalzylinder (X Achse) Spannzylinder (Greifbewegung) Steuerung Werkstück B
Einlegegerät 1
VWF Fügestation
1
Werkstück A VWF 2
6
Einlegegerät 2 Bild 6.39: Mehrstationen-Montagemaschine in Rundtaktbauweise (Lotter)
Werkstückträger
Baugruppe
VWF = Vibrationswendelförderer
© IFA 10.341SW_B
Sind mehr Teile zu montieren und will man verkettete Automaten vermeiden, ist eine Verkettung der Stationen durch Transfersysteme erforderlich, deren Anordnungsprinzipien Bild 6.40 zeigt. Liniensysteme können ohne oder mit Puffern ausgeführt sein, offen oder geschlossen sein. Karreeanordnungen (ohne oder mit Puffer) vereinfachen die Rückführung leerer Werkstückträger, sind jedoch innen praktisch nicht zugänglich, so dass die Materialbereitstellung im Rücken des Werkers oder neben ihm erfolgen muss. Ein Beispiel für ein modulares Montagesystem zeigt Bild 6.41. Hier sind die Stationen einzeln mit unterschiedlichen Füge- und Messverfahren ausrüstbar, die durch ein modulares Transfersystem verkettet werden. Das modulare System erlaubt auch die Integration von manuellen Arbeitsstationen.
Wie bereits erwähnt, hat die Teilezuführung in der Montage gegenüber der Teilefertigung eine nahezu gleichrangige Bedeutung wie der Fügeprozess selbst. In der manuellen Montage erfolgt sie durch die Montageperson mittels eines Griffs in einen meist ungeordneten Teilevorrat, unterstützt durch eine Vorvereinzelung und griffgerechte Anordnung der Teilebehälter. Will man diesen manuellen Vorgang automatisieren, sind ein Speicher, eine Ordnungseinrichtung und ein Handhabungsgerät erforderlich, wie bereits in Bild 6.8 angedeutet wurde. Aus einem Vorratsbunker, der verschiedene Arten von Austragemechanismen besitzen kann (Vibrationsförderung, Bandaustrag, Schiebebewegungen usw.) fallen Teile in ein Vereinzelungs- und Ordnungsgerät. An einer Übergabeposition übernimmt ein Handhabungsgerät das Teil in einer definierten Lage und legt es in der Fügeposition ab.
191
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Linienanordnung
Karreeanordnung
• feste Stations- und Werkstückreihenfolge
• feste Stations- und Werkstückreihenfolge
• starr verkettet • offenes System
• starr verkettet • geschlossenes System mit und ohne Werkstückträgereinsatz
Sonderformen
• Baumstruktur
• elastisch verkettet • offenes System • Netz
6
• elastisch verkettet • geschlossenes System mit Werkstückträgereinsatz Station
Puffer
• elastisch verkettet • geschlossenes System mit und ohne Werkstückträgereinsatz • Fläche
Materialflussrichtung
Bild 6.40: Anordnungs- und Verkettungsprinzipien von Montagesystemen © IFA G7773SW_Wd_B
Aus Sicht der Fabrikplanung gelten Zuführeinrichtungen als platzaufwendig und störanfällig [Zie85]. Daher sind eine ständige Überwachung und ein rascher Zugang im Störfall wichtig. Einen Ausweg aus
der Problematik bietet die Teileerstellung direkt vor Ort und die unmittelbare Eingabe in die Fügeposition. Dann übertragen sich die Störungen des Fertigungsprozesses aber direkt auf die Montage. Oder die Teile
Steckverbindungen
Prozessmodul Basismodul Transfermodul Linearstrecke Transfermodul Umlenkung Bild 6.41: Systembaukasten für Längstransfer-Montageanlagen (Werkbild team technik) © IFA 12.773SW_B
192
6.3 Betriebsmittel
a) Waagrecht-Gelenkarmroboter
b) Vertikal-Gelenkarmroboter
c) Portalroboter
Bild 6.42: Roboterbauformen für die Montage (Hesse) © IFA 15.058_B
werden außerhalb der Montageanlage in Magazine einsortiert und von einem Handhabungsgerät aus dem Magazin entnommen. Neben den bisher beschriebenen technischen Lösungen stellen Einlegegeräte und Industrieroboter eine wichtige Komponente in der Montagetechnik dar. Erstere besitzen bis zu 3 Freiheitsgrade, die meist
Werk 1
Station / Maschine
Äußere Abmessungen Gewicht Zerlegbarkeit aus Installationssicht Rekonfiguration aus Funktionssicht Energie- und Medienbedarf Lärmemission Arbeits- und Sicherheitsschutz
Ladeprofil, Gebäuderaster Bodentragfähigkeit Monoblockbauweise fehlende Funktionsmodule spezielle Medien lärmintensive Fügeprozesse Platzbedarf
Automatisierung Werkstückwechsel Stationsverkettung Anzahl Werkstückträger
Taktzeit zu geringe Puffer kleine Lose
Anbindung an PPS-System Informationsbereitstellung Zustandserfassung/Qualitätssicherung
Anbindung SPS – PPS Anzahl Varianten Anzahl Merkmale
Veränderungsfähigkeit mit wachsendem Merkmalswert:
6
Hemmnisse
Materialfluss
Ebene Station Bereich Fabrik 5 3/5 2
Informationsfluss
Montageeinrichtungen
nur lineare Bewegungen erlauben. Roboter sind demgegenüber durch mindestens drei frei programmierbare Linear- oder Drehachsen gekennzeichnet, die sich in unterschiedlicher Weise kombinieren lassen. Bild 6.42 zeigt gebräuchliche kinematische Anordnungen, die vorwiegend in der Montage eingesetzt werden [Hes06b].
niedrig
mittel
hoch
Bild 6.43: Veränderungsfähigkeit von Montagestationen und -maschinen © IFA 10.353SW_B
193
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
6
In der Montagetechnik finden sich überwiegend Horizontal- und Vertikalknickarmroboter, während Portalroboter eher der Be- und Entladung von Werkzeugmaschinen dienen. Zunehmende Geschwindigkeit und Genauigkeit sowie sinkende Preise machen Roboter in Verbindung mit schnellen Greiferwechselsystemen und dem Einsatz der Bildverarbeitung zu universellen Geräten, die sich den menschlichen Fähigkeiten nähern und den „Griff in die Kiste“ nicht mehr utopisch erscheinen lassen. Die teilweise großen Kräfte und schnellen, ausladenden Bewegungen der Roboter bedingen jedoch strenge Anforderungen an den Arbeitsschutz und die Zugänglichkeit. Betrachtet man Montagestationen und -maschinen abschließend aus Sicht ihrer wandlungsrelevanten Merkmale, lässt sich analog zu den Fertigungs-Betriebsmitteln deren Gliederung nach den Stationen bzw. Maschinen sowie dem Material- und Informationsfluss vornehmen, s. Bild 6.43. Montagestationen und -maschinen sind hinsichtlich der Abmessungen mit Fertigungsmaschinen vergleichbar, allerdings durchwegs leichter, weil die Gestelle praktisch nur Gewichtskräfte aufnehmen müssen, während die Fügekräfte innerhalb des Wirkraums der Fügestation bleiben. Sind viele Stationen verkettet, können wegen der großen Abmessungen der Anlage Hallengrundrisse und Gebäuderaster zum Hemmnis werden. Generell unterstützt eine funktional orientierte Modulbauweise die Veränderungsfähigkeit auf allen Ebenen und ist nachdrücklich zu fordern. Medienbedarf, Lärmschutz und Arbeitsschutz spielen in der Montage keine große Rolle, lediglich die Energie- und Medienzufuhr an den Fügeort kann wegen der vielen dazu notwendigen Schläuche und Leitungen bei einer Umstellung sehr zeitaufwändig werden. Auch hier sind modulare Lösungen mit Steck- und Schnappverbindungen anzustreben. Mit zunehmender Automatisierung des Werkstückwechsels kann dessen Taktzeit im Vergleich zur Fügetaktzeit engpassbestimmend werden. Im Sinne der Veränderungsfähigkeit spielt aber die Frage, wie Fügestation und Werkstückwechseleinrichtung konstruktiv miteinander verbunden sind, die größere Rolle. Generell wird das Verschieben des Werkstückträgers
194
in die Fügestation vermieden. Stattdessen erfolgt bei automatischen Stationen lediglich ein Anhalten und Fixieren des Werkstückträgers im Materialfluss. Je mehr Stationen verkettet sind und je weniger Pufferplätze zwischen ihnen bestehen, desto schwieriger ist eine Veränderung auf allen Ebenen. Schließlich ist der Informationsfluss i.A. nicht so umfangreich wie bei Fertigungsstationen und -systemen, weil ein Fügevorgang deutlich weniger Steuerungsdaten erfordert als ein Fertigungsprozess. Dafür ist jedoch infolge der kurzen Taktzeiten die Bereitstellungsund Abfragefrequenz meist deutlich höher und kann insbesondere bei vielen Varianten mit raschem Loswechsel zu einem Hemmnis für die Veränderung auf Stations- und Systemebene werden. Ein besonderes Merkmal von Montagestationen und -systemen ist schließlich die permanente Qualitätsprüfung entweder während oder unmittelbar nach dem Fügeprozess. Sie muss mit hoher Zuverlässigkeit erfolgen und kann bei einem Varianten- oder gar Produktwechsel wegen der erforderlichen Prozesssicherheit zu einem Umrüst- bzw. Rekonfigurationshemmnis werden. Aus den diskutierten Hemmnissen lassen sich ähnlich wie bei den Fertigungsmitteln folgende Forderungen für eine hohe Wandlungsfähigkeit ableiten:
• Gliederung
• • •
•
der Fügestationen, Montagemaschinen und -systeme in transportfähige, funktional selbstständige und vorgetestete Module, die rasch auswechselbar sind. Einfache Umstellung der Zuführsysteme auf Varianten der Zuführteile durch Vermeidung mechanischer Ordnungselemente. Aufstellung der Montagemittel in Gebäuden mit großer Stützweite, um eine unproblematische Erweiterung zu ermöglichen. Energie- und Medienanschlüsse der Montagestationen über ein modulares, im Raster angeordnetes Versorgungssystem sicherstellen, z. B. durch einen Doppelboden oder eine Versorgungsebene über den Betriebsmitteln. Werkerinformationssysteme an den Arbeitsplätzen über Bildschirme statt Einsatz von Papierdokumenten.
6.3 Betriebsmittel [
Teilprozess 1 Lagern
Elementarprozess • Warenannahme • Identifikation • Lagerortbestimmung • Einlagern • Kommissionieren • Auslagern • Versand
2 Fördern
• Beladen • Entladen • Lastfahrt • Leerfahrt
3 Verpacken
• Bereitstellen Packmittel • Bereitstellen Packgut • Verpacken • Ladeeinheiten bilden
4 Kommissio- • Bereitstellung Artikelmenge nieren • Fortbewegung Kommissionierer • Entnahme geforderte Warenmenge • Abgabe Auftragsmengen
Teilprozess
Elementarprozess
5 Umschlagen • • • • •
Beladen Entladen Sortieren Einlagern Auslagern
6 Sortieren
• Zufördern • Vorbereiten • Identifizieren • Verteilen • Abfördern
7 Planen und Steuern
• Mengen- und Kapazitätsplanung • Auftragsabwicklung • Informationsbereitstellung (vorauseilend, begleitend) • Erzeugung der Rückmeldungen • Controlling
6
61SW
Bild 6.44: Teil- und Elementarprozesse der Logistik (in Anlehnung an Fleischmann, Gudehus und ten Hompel) © IFA 15.059_B
Diese Forderungen wirken sich unmittelbar auf die Veränderungsfähigkeit der Stations-, System- und Bereichsebene aus. Die Fabrikstruktur und der Produktionsstandort kann bei Erfüllung dieser Forderungen verglichen mit Fertigungseinrichtungen dann rasch verändert werden.
6.3.3 Logistikmittel Zur Erfüllung der in Bild 6.14 aufgeführten logistischen Haupt- und Teilprozesse dienen Logistikmittel, die in Bild 6.23 schon aufgeführt wurden. Es handelt sich hier um Funktionen, bei denen Stückgüter ohne Veränderung ihrer funktionalen Eigenschaften nach den Kriterien Menge, Zeit und Ort gespeichert oder verändert werden. Ähnlich wie in der Zuführtechnik der Montage sind Geometrie, Abmessungen, Gewicht und Empfindlichkeit des Stückgutes bestimmend für die Auswahl der Logistikmittel. Der Betrachtungsschwerpunkt der folgen-
den Ausführungen liegt auf den innerbetrieblichen Logistikfunktionen, welche die vorher geschilderten Fertigungs- und Montagefunktionen miteinander verknüpfen. Die Gestaltung der externen Logistik behandelt Kap. 9. Bevor die Logistikmittel näher erläutert werden, ist es zweckmäßig, die den logistischen Teilprozessen zugrunde liegenden Elementarprozesse zu betrachten, weil so die Bedeutung der Klassifizierungsmerkmale und ihrer Ausprägung unmittelbar verständlich wird, s. Bild 6.44. Die Elementarprozesse des Lagerns umfassen die Warenannahme und Identifikation, die Bestimmung des Lagerortes, das Einlagern, Kommissionieren, Auslagern und den Versand an den vereinbarten Übergabepunkt, z.B. eine Verladerampe [Hom07]. Fördern setzt sich aus dem Be- und Entladen des Fördermittels sowie dessen Last- und Leerfahrt zusammen.
195
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Lagersysteme für Stückgüter Ladungsträger
• Palette • Tablar • Kasten • Behälter
Lastaufnahmemittel • Gabel (starr, bewegl.) • Seitengreifer • Zug-/SchubVorrichtung • Teleskoptisch • Rollentisch • Tragkettenförderer
6
Lagerfördermittel
Lagermittel
• Handfahrgeräte • Gabelstapler • Hochhubwagen • Schubmaststapler • Schmalgangstapler • Verteilerwagen • Regalbediengeräte • Stapelkräne
• Bodenlager • Regallager - Handregal - Flachregal - Mittel-/Hochregal - Durchlaufregal - Verschieberegal - Umlaufregal • Stetigförderer
Bild 6.45: Komponenten eines Stückgut-Lagers © IFA 10.459SW_B
Das Verpacken dient dem Warenschutz. Hierzu müssen Packmittel und das Packgut – in der Regel eine Kommission – zum eigentlichen Verpackungsprozess bereitgestellt und anschließend Ladeeinheiten gebildet werden. Innerhalb der Fabrik werden praktisch nur Waren verpackt, die zum Versand bestimmt sind. Generell versucht man, Verpackungen zu vermeiden und stattdessen spezielle Mehrwegladungsträger einzusetzen, die sowohl die Beibehaltung der Ordnung als auch den Schutz des Ladungsgutes während des Transportes gewährleisten. Das Kommissionieren besteht aus dem Bereitstellen einer sortenreinen Artikelmenge aus einem Lager, der Entnahme der verlangten Menge aus dem Artikelbehälter durch den Kommissionierer, dem Abgeben dieser Artikelmenge in einen Kommissionierbehälter, dem Zusammenführen weiterer Artikel in diesen Behälter zu einer Auftragsmenge (Kommission) sowie dem Zurückschicken der leeren Artikelbehälter. Ein Umschlagprozess findet nur in Ausnahmefällen in einer Fabrik statt und ist meist außerbetrieblichen Umschlagplätzen z.B. Containerbahnhöfen oder Bahnversandstationen vorbehalten. Auch das Sortieren spielt in der Fabriklogistik eine eher untergeordnete Rolle. Es dient der Aufteilung
196
eines heterogenen Stückgüter-Warenstroms – wie er beispielsweise für Paketverteilzentren oder Gepäcksortieranlagen in Flughäfen typisch ist – auf verschiedene Zielpunkte. Die Elementarprozesse sind naturgemäß ähnlich wie beim Lagern oder Transportieren, nur sind die umzuschlagenden Einheiten meist wesentlich größer und gegen Transportund Witterungseinflüsse durch eine Verpackung geschützt. Sämtliche Abläufe erfordern schließlich Planungs-, Steuerungs- und Überwachungsprozesse, die ihrerseits aus der Mengen- und Kapazitätsplanung der logistischen Einheiten bzw. logistischen Mittel bestehen, gefolgt von der Auftragsabwicklung mit Erstellung von Begleitpapieren sowie deren Freigabe und Auftragsverfolgung. Eine große Rolle spielt die den Aufträgen vorauseilende Information, die immer stärker auf elektronischem Wege erfolgt. Aber auch die begleitende Information im Sinne der jederzeitigen Ortsbestimmung wird zunehmend selbstverständlich. Schließlich sind Rückmeldungen z.B. über erfolgte Lagerentnahmen oder abgeschlossene Transportvorgänge zu erzeugen, die Eingang in die statistischen Auswertungen finden.
6.3 Betriebsmittel
Die zu den vorgestellten logistischen Teil- und Elementarprozessen notwendigen Betriebsmittel erfüllen ihre Funktionen meist im Zusammenspiel mit mehr oder weniger automatisierten Geräten und dem Logistikpersonal. Zunächst sollen die Lagerbetriebsmittel vorgestellt werden. Bild 6.45 unterscheidet hierbei vier Komponenten eines Lagersystems für Stückgüter. Der Ladungsträger – auch Lagerhilfsmittel und Förderhilfsmittel genannt – kann tragend (Palette, Tablar), umschließend (Kasten, Boxpalette) oder abschließend (Behälter, Container) sein. Er dient der Bildung von Ladungseinheiten oder Transporteinheiten und kann von Fördermitteln aufgenommen werden [Dan01]. Innerhalb des Ladungsträgers erfolgt je nach Erfordernis des Schutzes oder der automatischen Be- und Entladung
a) Bodenblocklager
c) Durchfahrregal
der einzelnen Stückgüter in bzw. von Ladungsträgern eine Fixierung durch Aufnahmeleisten oder Zwischenböden mit passenden Vertiefungen. Aus Sicht der Fabrikplanung ist die Vielfalt der Ladungsträger möglichst weitgehend zu minimieren. Das Lastaufnahmemittel dient der Handhabung der Ladungseinheiten bei den in Bild 6.44 genannten Elementarprozessen und ist mit dem Lagerfördermittel fest oder austauschbar verbunden. Weite Verbreitung finden starre und verstellbare Gabeln, die den Ladungsträger anheben. Seitengreifer setzen eine entsprechende Festigkeit der Seitenwände des Ladungsträgers voraus. Die übrigen Lastaufnahmemittel ziehen, schieben, heben oder rollen den Ladungsträger.
6
b) Palettenregal
d) Verschieberegal
stitut463SW Bild B 6.46: Typische Lagerbauarten für Stückgüter (Schulze) © IFA 10.463SW_B
197
6
Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
6 Gabelstapler
Schubmaststapler
Schmalgangstapler
Regalbediengerät
Hubhöhe
8,5 m
12 m
13 m
55 m
Gangbreite
> 3.000 mm
2.700 mm bis 2.800 mm
1.500 mm bis 1.700 mm
750 mm bis 1.500 mm
Modulbreite
> 5.400 mm
5.100 mm bis 5.200 mm
3.900 mm bis 4.100 mm
3.150 mm bis 3.900 mm
Bild 6.47: Ausführungsformen von Hochregallagern (ten Hompel) © IFA 15.060_B
Die Lagerfördermittel nehmen Ladungsträger im Lager auf und transportieren sie von einem Abgabepunkt auf einen Lagerplatz (einlagern), von einem Lagerplatz auf einen Bereitstellpunkt (auslagern) oder zwischen zwei Lagerplätzen (sortieren). Bei nicht automatisierten Lagern dienen hierzu Handfahrgeräte, Gabelstapler und Hochhubwagen sowie Schubmaststapler, bei denen der Fahrer ebenerdig bleibt. In Regalbediengeräten fährt der Bediener mit dem Gerät zu dem einzelnen Lagerplatz. Die Kernfunktion Speichern erfüllt das Lagermittel, s. Bild 6.46. Die Ladungsträger können im Block oder in Zeilen am Boden lagern und werden dann als Bodenblocklager bezeichnet, Bild 6.46 a. Wegen des Platzbedarfs und der Zugänglichkeit kommen überwiegend Regallager zum Einsatz, die als Handlager, Mittel- oder Hochregal ausgeführt sind. Bild 6.46 b zeigt als Beispiel ein Palettenregal mit Quereinstapelung von Palettenboxen.
198
Wenn sich die Ladungsträger im Regal bewegen können, spricht man von einem Durchfahr- oder Durchlaufregal, Bild 6.46 c. Sind Einzelregale mit Ladungsträgern als Ganzes beweglich, handelt es sich um ein Verschiebe- oder Umlaufregal (s. Bild 6.46 d). Das Haupteinsatzgebiet von Regallagern findet sich innerhalb der Fabrik in den Eingangs- und Ausgangslagern sowie in Auslieferungslagern von Versandunternehmen. Bild 6.47 vermittelt eine Vorstellung von den Ausführungsformen, die je nach Bauhöhe mit unterschiedlichen Lagerfördermitteln betrieben werden [Hom07]. Wegen ihres schnellen Zugriffs, der kompakten Bauweise, des Schutzes vor Staub und seiner Mobilität wird für die innerbetriebliche Zwischenlagerung von B-Teilen, Werkzeugen und Verbrauchsmaterial häufig das in Bild 6.48 gezeigte Liftsystem
6.3 Betriebsmittel
eingesetzt. Es erlaubt für Kommissionierzwecke den schnellen Zugriff auf die Artikel in mehreren Ebenen. Eine besondere Rolle nehmen Stetigförderer ein, die sowohl Speicher- als auch Transportfunktionen übernehmen. Ihr Speichervermögen wird durch die Anzahl der Ladungsträger bestimmt, die sie aufnehmen können. Lager, die eine Bewegung des Ladungsträgers und/oder von Regalteilen erlauben, heißen auch dynamische Lager, sonst handelt es sich um statische Lager. Ausführliche Darstellungen der Lagersysteme, ihrer Komponenten, Technik und Dimensionierung finden sich u. a. bei Dangelmeier [Dan01], ten Hompel [Hom07], Gudehus [Gud07] und Furmans [Fur08]. Als Nächstes sind die Transportmittel zu behandeln. Spielt sich der Transport außerhalb der Fabrikgebäude ab, spricht man von transportieren, während innerhalb der Gebäude eher der Begriff fördern benutzt wird. Für die Fabrikplanung interessieren daher primär die innerbetrieblichen Fördersysteme für Stückgüter, die Bild 6.49 nach Stetig- und Unstetigförderern unterscheidet.
1. Horizontalbewegung
Rutschen, Rollenbahnen und Bandförderer finden für vergleichsweise kurze Strecken Verwendung, z.B. bei der Verkettung von Maschinen oder Montagestationen. Trag- und Schleppkettenförderer überbrücken größere Distanzen, etwa zur materialflusstechnischen Verbindung von Produktionsbereichen oder Hallen. Letztere sind unter der Hallendecke angeordnet, um den Hallenboden für Maschinen und Personal frei zu halten. Der weitaus überwiegende Teil der eingesetzten Fördersysteme ist unstetig, wobei man flurgebundene Förderzeuge wie Gabelstapler, Schlepper und Wagen sowie Handfahrzeuge und flurfreie Förderzeuge unterscheidet. Bild 6.50 zeigt zwei typische Vertreter von Staplern mit ihren Leistungsbereichen [Hom07]. Zu den flurfreien Fördermitteln zählen Elektrohängebahnen, die ihre Lasten entlang einer Deckenschiene befördern. Krane, Zug- und Hubgeräte sowie Aufzüge werden zusammenfassend als Hebezeuge bezeichnet und dienen vorwiegend dem senkrechten Transport von Einzellasten. Beim Verpackungsprozess wurde anhand der in Bild 6.44 erläuterten Elementarprozesse deutlich,
Vertikalbewegung
6
2. Horizontalbewegung
Bild 6.48: Liftsysteme (Kardex) © IFA 15.061_B
199
6
Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
Innerbetriebliche Fördersysteme für Stückgüter
stetig
6
unstetig
•
Rutsche
•
Flurförderzeuge
•
Rollenbahn
•
Elektrohängebahn
•
Bandförderer
•
Kran
•
Tragkettenförderer
•
Zug- u. Hubgerät
•
Schleppkettenförderer
•
Aufzug
© IFA 10.462SW_B
Kennwerte Fahrgeschwindigkeit Hubgeschwindigkeit Antriebsleistung Hubhöhe Tragfähigkeit Stapelhöhe[Paletten]
Gabelstapler [km/h] [m/s] [kW] [m] [t] [-]
Bild 6.50: Staplerarten (nach ten Hompel) © IFA 15.062_B
200
Bild 6.49: Fabrikübliche Stückgüter-Fördermittel
9–3 0,23 – 0,6 4 – 120 ca. 9 1 – 16 8 und 5
Schubmaststapler 7 – 14 0,15 – 0,5 5 – 20 ca. 12 1 – 2,5 12 und 7
6.3 Betriebsmittel
dass hier mit Ausnahme großer Versandhäuser mit großen Durchsatzmengen vergleichsweise einfache Geräte notwendig sind. Logistisch wesentlich ist die Zusammenführung von Kommissionen in transportund lagerfähige Packungen, die zu Ladungseinheiten verknüpft und als solche gegen das Auseinanderfallen z.B. durch Einwickeln in Folien gesichert werden. Die zugehörigen Betriebsmittel bestehen aus Lagern für die Packstoffe, die Fördereinrichtungen für die ankommenden Packstücke sowie ggf. Folienwickeloder Umreifungsanlagen. Die Teilprozesse des Kommissionierens bestehen prinzipiell aus einer Kombination von Lager-, Transport- und Umschlagprozessen, wobei die Person des Kommissionierers selbst zum Transportgut wird, wenn er sich zur Ware hinbewegt, statt dass die Ware zu ihm kommt. Als Beispiel zeigt Bild 6.51 ein System, bei dem die Artikel an ihrem Lagerplatz verbleiben (statische Bereitstellung), der Kommissionierer mit dem Regelbediengerät senkrecht und waagerecht fährt (zweidimensionale Fortbewegung), die Entnahme der geforderten Artikelmenge und das Zusammenführen in die Kommissionierbox durch den Kommissionierer erfolgt (manuelle Entnahme) und die Übergabe der Kommission an einen definierten Ort erfolgt (zentrale Abgabe). In der Fertigung spielt die Kommissionierung wegen der vergleichsweise wenigen Teilearten keine wesentliche Rolle. Demgegenüber setzt sich in der Montage immer stärker die Kommissionierung der Artikel für Baugruppen und Endprodukte durch. Dies liegt zum einen an der steigenden Variantenzahl und der damit verbundenen Verwechselungsgefahr. Weiterhin kann sich der Montagewerker auf die eigentlichen Füge- und Prüfaufgaben konzentrieren. Und schließlich steigen der Platzbedarf und die damit verbundene Unübersichtlichkeit insbesondere bei voluminösen Artikeln schnell so stark an, dass es sinnvoll ist, den Kommissioniervorgang von der eigentlichen Montageaufgabe zu trennen. Bild 6.52 zeigt zwei Ausführungsformen derartiger Kommissioniersysteme für Montagefabriken. Im Fall a) wird die Ware aus einem Lager zum Kommissionierer geführt, im Fall b) läuft der
6 Bild 6.51: Beispiel eines Kommissioniersystems (Gudehus) © IFA 10.464SW_B
Kommissionierer wie in einem Supermarkt die Regale ab und sammelt die Artikel einer Kommission in einen Warenkorb. Allen Logistikmitteln gemeinsam ist, dass sie, verglichen mit Produktionsmitteln, einen großen Flächenbedarf haben, der leicht unterschätzt wird und sorgfältiger Planung bedarf. Dieser ergibt sich vielfach aus den Sicherheitsbestimmungen, die entsprechende Abstände zu beweglichen Betriebsmitteln und Schutzvorrichtungen verlangen. Darüber hinaus verbergen sich gerade in diesem Bereich wertvolle Potenziale zur Durchlaufzeitverkürzung der Aufträge. Auf die Betriebsmittel für die Teilprozesse Umschlagen und Sortieren wird hier nicht näher eingegangen, weil sie, wie bereits erwähnt, in der Fabrik eher selten auftreten. Hier sei auf die einschlägige Literatur verwiesen [Hom07]. Der letzte in Bild 6.44 genannte logistische Teilprozess „Planen und Steuern“ erfordert die üblichen Betriebsmittel der Datenverarbeitung wie Rechner, Bildschirme, Server und Datennetze sowie Anzeigetafeln und Bedienpulte. Sie sind entweder Bestandteile der jeweiligen Teilsysteme oder befinden sich in den entsprechenden Büros der Mitarbeiter.
201
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
5
1
5 6
1 Hochregallager 2 Regalbediengerät
2
5
4
3 Rollenbahn
2
1
Unterflurschleppkettenförderer
2
Kommissionierer
3
Elektrisch angetriebener Kommissionierwagen (Abgabe der Güter)
4
Palettenregal (Bereitstellung)
5
Abgabe der Kommissioniereinheit
6
Versand
7
Kommissionierwagen mit Leerpalette
4 Bereitstellung 5 Kommissionierer 2
3
4
6 Abgabe der Güter 7 Versand 3
4
7 1
5 6 7
6
a)
Dynamische Kommissionierung „Ware zum Mann“
b) Statische Kommissionierung „Mann zur Ware“
Bild 6.52: Realisierungsbeispiele von Kommissioniersystemen © IFA 11.436SW_Mb_B
Die wandlungsrelevanten Merkmale der Logistikmittel sind hinsichtlich der eingesetzten Geräte ähnlich denen der Montagemittel, s. Bild 6.53. Gewicht, Zerlegbarkeit und Rekombinierbarkeit sind direkt vergleichbar. Medienbedarf und Lärmschutz spielen praktisch keine Rolle. Der Arbeitsschutz ist wegen der teils großen Gewichte der Ladungen und der schwebenden Lasten besonders zu beachten. Für den Materialfluss sind die Ausführungsvarianten der Ladungsträger ein bedeutendes Hindernis auf allen Ebenen. Der Materialfluss wird durch die Anzahl der Übergabepunkte von einem Logistikmittel zum anderen behindert, z.B. von einem Transportgerät in ein Lager. Sind die Teilsysteme wiederum zu starr verkettet, behindert dies die Veränderungsfähigkeit auf allen Ebenen. Schließlich kann der Informationsfluss ein Hemmnis der Veränderungsfähigkeit werden, wenn die logistischen und technischen Teilsysteme nicht schnittstellenkompatibel und die Auftragsinformationen zu weit von den ausführenden Personen entfernt verfügbar sind. Ein spezielles Problem ist eine zuverlässige Bestandsinformation der Artikel, die körperlich im System vorhanden sind. Wesentliche Hemmnisse
202
liegen hier in einem ungeregelten Zugriff auf die logistischen Systeme, insbesondere in Nachtschichten. Die diskutierten Hemmnisse führen zu folgenden Forderungen für die Wandlungsfähigkeit der Logistikmittel:
• Schaffen • • •
modularer, durchgängiger Ladungsträger über die gesamte Logistikkette Modulare Gestaltung der Logistikgeräte und Einrichtungen Große Stützenraster der Gebäude Informationssysteme mit Einblick in den physischen Lagerbestand und Ablauf der Logistikprozesse.
Mit diesen Überlegungen ist die Diskussion der Betriebsmittel aus funktional-technischer Sicht abgeschlossen. Entsprechend Bild 6.3 ist als Nächstes das organisatorische und ergonomische Umfeld auf Einzelplatzebene zu betrachten. Wegen des großen Umfangs wird der organisatorische Teil der Arbeitsplatzgestaltung im folgenden Kapitel 7 behandelt, während die ergonomische Sicht wegen ihrer engen Beziehung zur Raumplanung Gegenstand von Kapitel 8 ist.
6.4 Literatur
Wandlungsrelevante Merkmale
Ebene
Hemmnisse Fabrik 2
Werk 1
Äußere Abmessungen
Stützenraster Gebäude
Gewicht Zerlegbarkeit Rekombinierbarkeit Arbeitsschutz
Bodentragfähigkeit Monoblockbauweise mechanische Schnittstellen Platzbedarf
Materialfluss
Bereich 3/4
Ladungsträger Übergabepunkte Verkettungsgrad
Ausführungsvarianten mangelnde Normung zu geringe Puffer
Informationsfluss
Logististikeinrichtungen und -geräte
Station 5
Anbindung an PPS-System Auftragsinformation Bestandsinformation
Kompatibilität räumliche Entfernung ungeregelter Zugriff
Veränderungsfähigkeit mit wachsendem Merkmalswert:
niedrig
mittel
6 hoch
Bild 6.53: Veränderungsfähigkeit von Logistikeinrichtungen © IFA 10.465SW_B
6.4 Literatur [AIK02]
[Bech84]
[Boot83]
[BWZ00]
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203
6 Funktionale Arbeitsplatzgestaltung
[Egl00]
[Fur08]
[Glä95]
6 [Gud07]
[Hes06a]
[Hes06b]
[Hilg85]
[Hom07]
[Krü99]
204
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[Ku95]
[Lot06a]
[Lot06b]
[Lut02]
[MaM96]
[Mar94]
[MTM87]
[Nyh03]
[Nyh09]
[Pfo00]
[Red94] [Spa97]
[Spu96]
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6.4 Literatur
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[Wie97] [Wie00]
[Zeh97]
[Zie85]
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6
205
Kapitel 7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
Detlef Gerst 7.1
Begriff der Humanressource
7.2
Humanressourcen und Produktionsleistung
Kompetenz- und Personalentwicklung 7.3.1 Berufliche Handlungskompetenz 7.3.2 Strategien der Kompetenzentwicklung 7.3.3 Personalentwicklung
211
7.4
Arbeitsstrukturierung
216
7.5
Motivation
218
7.6
Entgeltgestaltung
221
7.7
Arbeitszeitgestaltung
225
7.8
Literatur
230
211
7.3
7
208
212 212 214 214
Bild 7.1:
Dimensionen der beruflichen Handlungskompetenz
213
Bild 7.2:
Lernformen
214
Bild 7.3:
Ansätze und Ziele der Arbeitsstrukturierung
217
Bild 7.4:
Bedürfnispyramide und Arbeitssystemgestaltung [nach Scha00: ; Spa04]
219
Bild 7.5:
Motivationstheorie nach Porter und Lawler
220
Bild 7.6:
Systematik der Leistungsanreize
221
Bild 7.7:
Methoden der Arbeitsbewertung
222
Bild 7.8:
Entgeltformen
222
Bild 7.9:
Verhältnis von Lohn und Leistung
225
Bild 7.10: Systematik der Arbeitszeitmodelle
226
Bild 7.11: Verlauf der physiologischen Leistungsbereitschaft (nach Bjerner / Holm / Svenson und Graf, zitiert nach Landau)
227
Bild 7.12: Gestaltungsbereiche der gleitenden Arbeitszeit
229
7
209
7.1
Begriff der Humanressource
Wie der im Jahr 2004 zum Unwort des Jahres gewählte Begriff des Humankapitals ist auch der Begriff der Humanressource umstritten. Kritiker sehen die Gefahr, dass das Produktionspersonal lediglich in einer monetären Perspektive betrachtet und zudem zu einem Objekt der Produktionsplanung herabgewürdigt wird. In der Fachliteratur dient der Begriff der Humanressource jedoch ganz im Gegenteil dem Ziel, das spezifisch menschliche Leistungsvermögen hervorzuheben und durch geeignete Maßnahmen zu entwickeln. Aus der Perspektive der Humanressourcenentwicklung sucht man nach Möglichkeiten, die Effizienz der Produktion dadurch zu steigern, dass bei der Arbeitssystemgestaltung persönliche Wachstumsmotive der Mitarbeiter berücksichtigt werden. Dies beruht auf der Annahme, dass über die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens nicht zuletzt die Kompetenz, Motivation und die zeitliche Flexibilität der Arbeitskräfte entscheiden. Mitarbeiter als Ressource zu betrachten, lenkt die Aufmerksamkeit u. a. auf die personellen Kapazitäten. Hierauf bezogene Gestaltungsfelder sind die Personalbeschaffung, die langfristige Bindung von Personal an das Unternehmen und die Arbeitszeitgestaltung. Als Ressource sind Mitarbeiter zudem in qualitativer Hinsicht von Bedeutung. Hervorzuheben sind vier Merkmale, in denen sich Mitarbeiter von Betriebsmitteln unterscheiden.
• Menschliche •
Arbeit ist durch eine spezifische Flexibilität gekennzeichnet, die sich allenfalls in Teilaspekten technologisch kopieren lässt. Ein weiteres Merkmal ist ihre Kreativität. Weil Menschen in der Lage sind, von programmierten Handlungsroutinen abzuweichen, können sie originelle und zugleich angemessene Lösungen für
Der Beitrag wurde erstmals veröffentlicht als Gerst, D: „Humanressourcen“, in: Arnold u. a. (Hrsg.): Handbuch Logistik, 3. Aufl., S. 343–361. Springer, Berlin Heidelberg 2008. Die Autoren danken Herrn Dr. Gerst und dem Springer-Verlag für die Genehmigung zum Abdruck.
•
•
technologische und organisatorische Probleme entwickeln. Mitarbeiter sind darüber hinaus spezifische Wissensträger. Während Maschinen in der Lage sind, nahezu unbegrenzte Mengen an Informationen zu speichern und zu verarbeiten, besitzen Menschen ein breites Erfahrungs- und Kontextwissen, das ihnen eine Orientierung auch in neuartigen Situationen erlaubt. Schließlich verfügen Mitarbeiter über einen freien Willen, der ihre Arbeitsleistung maßgeblich beeinflusst. Aus diesem Grund ist die Motivation ein zentrales Thema der Entwicklung von Humanressourcen. Zusammenfassend orientiert sich der Begriff der Humanressource durch die Betonung von Flexibilität, Kreativität, spezifisch menschlicher Kompetenz und der Motivation an einem Gegenmodell zum Menschen als „flexibler Maschine“.
7.2
7
Humanressourcen und Produktionsleistung
Der Zusammenhang zwischen den Humanressourcen und der Produktionsleistung wird erst erkennbar, wenn der Begriff der Produktion nicht auf Methoden und Algorithmen reduziert wird, welche Werkstoffe in Teile und Produkte transformieren sowie den Bestand und die Material- und Produktströme regulieren. Auch wenn es bei der Gestaltung von Produktionsprozessen letztlich das Ziel sein muss, den menschlichen Einfluss auf die Qualität der Produktions- und Logistikleistung zu reduzieren, darf nicht übersehen werden, dass Menschen in der Lage sind, auf unvorhergesehene technologische und organisatorische Störungen zu reagieren, und improvisieren können, wo die bürokratische Steuerung versagt [Wel91]. Damit übernehmen Mitarbeiter zentrale Funktionen für die Wirtschaftlichkeit einer industriellen Produktion. Entwickelte Humanressourcen spielen vor diesem Hintergrund eine entscheidende Rolle für eine hohe Leistungsfähigkeit der Produktion und
211
7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
7
diese ist wiederum Voraussetzung für eine hohe Logistikleistung sowie geringe Logistikkosten. Während die technologischen Kenntnisse durch die unmittelbare Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden, gilt dies nicht in gleichem Maße für logistische Zusammenhänge. Neben dem oft fehlenden Verständnis für die komplexen Zusammenhänge spielen die in der Produktion eingesetzten Anreizsysteme für das Steuerungsverhalten eine große Rolle, denn diese entscheiden darüber, ob sich das Produktionspersonal neben der Qualität lediglich an der Produktivität und der Auslastung orientiert oder zudem an den Zielen der Bestandsminimierung, der kurzen Lieferzeit oder der hohen Liefertreue. Kompetenz, personelle Verfügbarkeit und Zielorientierung des Produktionspersonals sind demnach wichtige Eingangsgrößen für die Produktionsplanung [Wie02].
7.3
Kompetenz- und Personalentwicklung
Die Berufs- und Weiterbildungsforschung beschäftigt sich heute bevorzugt nicht mehr mit Qualifikationen, sondern mit Kompetenzen. Der Begriff der Qualifikation bezeichnet Wissen als formalen Ausdruck anerkannter beruflicher oder fachlicher Fähigkeiten von Arbeitnehmern [Int04: S. 5]. Der Begriff der Kompetenz ist umfassender. Er bezeichnet die Expertise eines Menschen als Ausdruck seiner Kenntnisse und Fähigkeiten, die in einem bestimmten Kontext beherrscht werden [Int04: S. 5]. Lernprozesse werden heute als selbst organisiert verstanden. Lernen besteht demzufolge nicht in einem Eintrichtern und Akkumulieren von vorstrukturierten Lerninhalten. Menschen lernen vielmehr dadurch, dass sie neue Lerninhalte an vorheriges Wissen anknüpfen, einen Bezug zu bekannten Zusammenhängen herstellen sowie neues Wissen mit praktischen Fragestellungen verbinden. Eine praktische Konsequenz dieser Auffassung liegt darin, Lernprozesse so zu gestalten, dass sich dem
212
Lernenden der praktische Sinn und Zusammenhang der Lerninhalte erschließt. Neben dieser „Verankerung“ des Wissens in praktischen Fragen ist für den Lernerfolg entscheidend, dass der Lernende immer wieder dazu angeregt wird, Lerninhalte aus unter schiedlicher Perspektive zu durchdenken und zu hinterfragen.
7.3.1 Berufliche Handlungskompetenz Um vorhandene Kompetenzen und Kompetenzdefizite zu ermitteln oder Anforderungen in Form von Kompetenzprofilen abzubilden, ist es erforderlich, einzelne Gesichtspunkte der beruflichen Handlungskompetenz zu unterscheiden. Eine verbreitete und in der Praxis bewährte Typologie beinhaltet vier Kompetenzbereiche: Die Fachkompetenz, methodische Kompetenz, Individual- bzw. Selbstkompetenz sowie die Sozial- und Kommunikationskompetenz. Abb. 7.1 erläutert diese Begriffe und setzt sie in Bezug zu einem Handlungsrahmen, der noch näher erläutert wird. Im Unterschied zum Qualifikationsbegriff rückt in der Kompetenzforschung die Individual- und Selbstkompetenz in den Mittelpunkt. Bergmann setzt die Kompetenz sogar mit der Expertise gleich: „Kompetenz bezeichnet die Motivation und Befähigung einer Person zur selbständigen Weiterentwicklung von Wissen und Können auf einem Gebiet, so dass dabei eine hohe Niveaustufe erreicht wird, die mit Expertise charakterisiert werden kann“ [Ber00: S. 21]. Die heutige berufspädagogische Forschung unterscheidet zusätzlich das explizite vom impliziten Wissen und betont, dass die Handlungskompetenz auf beiden Wissensbereichen beruht. Der Begriff des expliziten Wissens bezeichnet bewusstes, logisch strukturiertes und mitteilungsfähiges Wissen. Implizites Wissen entstammt der Erfahrung; es erlaubt das sichere Ausführen von Aufgaben, liegt aber nicht in einer bewussten und sprachlichen Form vor. Die Forschung geht davon aus, dass das explizite Wissen nur etwa 20 % der individuellen Handlungsfähigkeit begründet [Sta99: S. 52]. Damit beruht die berufliche Handlungskompetenz
7.3 Kompetenz- und Personalentwicklung
Handlungskompetenz
Handlungsfähigkeit Fachkompetenz
Methodenkompetenz
Individual- bzw. Selbstkompetenz
Fachliches Wissen und fachspezifische Erfahrungen
Fähigkeit, durch gezieltes Vorgehen Lösungswege zu finden
Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und zu eigenverantwortlichem Handeln und Lernen
Sozial- und Kommunikationskompetenz Fähigkeit zur Teamarbeit und zur Verständigung
Explizites Wissen Implizites Wissen/ Fertigkeiten
Handlungsbereitschaft Zuständigkeit / Organisationale Einbindung
7
11.627_Wd_B
Bild 7.1: Dimensionen der beruflichen Handlungskompetenz © IFA 11.627_Wd_B
zumindest auf explizitem und implizitem Wissen in den oben genannten vier Wissensbereichen. Dieses Wissen begründet jedoch nach aktueller Auffassung nur die Handlungsfähigkeit, d. h. die kognitiven Voraussetzungen, um bestimmte Aufgaben erfolgreich ausführen zu können. Im Rahmen der Untersuchung von Innovationsprozessen wurde das Modell der Handlungskompetenz um zwei weitere Aspekte erweitert, nämlich durch die Motivation bzw. die Handlungsbereitschaft und die organisatorische Einbindung bzw. Zuständigkeit der Mitarbeiter [Sta02]. Wird jemand offiziell für eine bestimme Aufgabenstellung für zuständig erklärt, so erhöht dies dem Modell zufolge die Handlungskompetenz. Die oben genannten vier Kompetenzdimensionen, die Unterscheidung von implizitem von explizitem Wissen, die Handlungsbereitschaft und die organisatorische Einbindung lassen sich zu einem Modell zusammenfassen, anhand dessen sehr viel an enttäuschten betrieblichen Erwartungen an die Leistung der Mitarbeiter erklärbar wird. Beispiels-
weise werden Erwartungen an eine Beteiligung von Mitarbeitern am Verbesserungsprozess regelmäßig durch eine fehlende organisatorische Einbindung der Mitarbeiter enttäuscht. Orientiert an dem Modell lassen sich zudem Ansatzpunkte für eine Kompetenzentwicklung gewinnen. Deutlich wird, dass betriebliche Maßnahmen zur Verbesserung der Mitarbeiterkompetenz unterschiedliche Kompetenzbereiche ansprechen müssen. Zur Steuerung von Prozessen der Kompetenzentwicklung werden in der betrieblichen Praxis Kompetenzprofile entwickelt, die stärker die fachlichen und die methodischen Kompetenzen der Mitarbeiter abbilden. Der Grund für diese Spezialisierung liegt darin, dass die Diagnose der Selbst- und der Sozialkompetenz den betrieblichen Praktiker vor schwierige methodische Probleme stellt. Werden nur die fachlichen und methodischen Kompetenzen analysiert oder in Soll-Kompetenzprofilen dargestellt, verleitet dies dazu, die Bedeutung von Selbstkompetenz sowie sozialer und kommunikativer Kompetenz systematisch zu verkennen.
213
7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
7.3.2 Strategien der Kompetenz entwicklung
7
plexe Aufgabenstellungen bewältigen. Vermitteln lässt sich hierbei sowohl explizites als auch implizites Wissen in allen vier Kompetenzdimensionen. Eine besondere Stärke liegt in dem großen Erfahrungsbezug und in der Verbesserung der Selbst- und Sozialkompetenz. Der Nachteil des teilformalisierten Lernens liegt in dem begrenzten Spielraum für theoretische Vertiefungen, was Wissenslücken hinterlassen kann. Diese können nur durch formalisiertes Lernen geschlossen werden. Die dritte Lernform ist das informelle Lernen. Hierbei handelt es sich um ein unstrukturiertes Erfahrungslernen, das vorwiegend am Arbeitsplatz, beim Ausüben von Arbeitstätigkeiten oder im Gespräch mit Kollegen stattfindet. Informelles Lernen ist erfahrungsorientiert und führt zur Stärkung des informellen Wissens. Informelles Lernen wird von den Beteiligten meist nicht bewusst als Lernen wahrgenommen. Es ist jedoch unumgänglich zur Verbesserung von Fertigkeiten und für die Weitergabe von informellem Wissen an Kollegen.
Lernen wurde lange Zeit mit formeller Weiterbildung in Form von formalisierten Schulungen oder Trainingsmaßnahmen gleichgesetzt. Diese traditionellen Lernformen sind zwar für bestimmte Qualifizierungsziele sinnvoll, als alleinige Strategie jedoch auch mit Nachteilen verbunden. Die klassische Weiterbildung gilt als vergleichsweise teuer, chronisch verspätet und zu wenig in den praktischen Problemstellungen und den Erfahrungshorizonten der Teilnehmer verankert. Demgegenüber wird heute das arbeitsbezogene Lernen höher gewichtet [Deh01; Ger04; Son00]. Diesem Ansatz zufolge soll Lernen einen möglichst deutlichen Bezug zu den Arbeitsaufgaben aufweisen und insbesondere die Selbst- und Sozialkompetenz optimieren. Um alle in Bild 7.1 benannten Teilkompetenzen zu verbessern, ist eine Vielfalt an Lernarrangements erforderlich. Hier werden drei Lernformen und entsprechende Lernarrangements unterschieden, Bild 7.2.
7.3.3 Personalentwicklung
Das formalisierte Lernen ist systematisch und didaktisch angeleitet. Es findet vor allem in Kursen, Schulungen und Trainingsmaßnahmen statt und eignet sich insbesondere für die Fach- und Methodenkompetenz sowie für die Vermittlung von explizitem Wissen. Das teilformalisierte Lernen erfolgt in einer arbeitsintegrierten Lernumgebung, in der Lernprozesse bewusst unterstützt, aber nicht im Detail didaktisch vorstrukturiert werden. Ein Beispiel hierfür ist die Lerninsel, in der Mitarbeiter eigenständig und unter Verwendung von Schulungsunterlagen kom-
Mit der Qualifizierung, der Verhaltensoptimierung und der Laufbahngestaltung lassen sich drei zentrale Aufgabengebiete der Personalentwicklung voneinander abgrenzen. In der Fachliteratur ist auch von wissensorientierten [Son01a], verhaltensorientierten [Son01b] und laufbahnbezogenen Verfahren der Personalentwicklung [Scha00] die Rede. Übergeordnetes Ziel ist jeweils die mittel- und langfristige Abstimmung des Personals mit den Anforderungen der Produktion. Verfahren der Personalentwicklung können direkt oder indirekt auf das Individuum ein-
Formalisiertes Lernen
Teilformalisiertes Lernen
Informelles Lernen
Definition
Systematisches, didaktisch angeleitetes Lernen
Wenig strukturiertes Lernen (arbeitsintegrierte Lernumgebung)
Unstrukturiertes Erfahrungslernen
Beispiele
•Schulungen •Kurse •Training
Lernen •am Arbeitsplatz •in einer Lernstatt •in einer Lerninsel
Lernen am Arbeitsplatz Bild 7.2: Lernformen © IFA 14.798_Wd_B
214
7.3 Kompetenz- und Personalentwicklung
wirken. Eine direkte Einwirkung geschieht beispielsweise durch Schulungsmaßnahmen zum Erwerb beruflichen Wissens. Ein indirektes Einwirken auf das Individuum erfolgt vermittelt über die Gestaltung der Arbeitssysteme. Ein Beispiel hierfür ist die Einführung von Gruppenarbeit. Im Bereich der wissensbezogenen Verfahren zielt die Personalentwicklung auf eine optimale Abstimmung der persönlichen Kompetenzen mit den Anforderungen der Arbeitstätigkeiten. Hierzu muss erfasst werden, welches Wissen bzw. welche Kompetenzen Mitarbeiter zur Ausführung bestimmter Tätigkeiten benötigen. Möglich ist eine reaktive Orientierung, als besser geeignet gilt eine prospektive Orientierung. Instrumente, die der Personalentwicklung hierbei zur Verfügung stehen, sind die Anforderungsanalyse, die Szenarienbildung und die Personalbeurteilung. Die Personalbeurteilung liefert Informationen über das aktuelle Leistungsvermögen sowie über Entwicklungspotenziale der Mitarbeiter. Sie umfasst eine Analysephase, an die sich Entwicklungspläne anschließen, welche konkrete Maßnahmen, den zeitlichen Ablauf sowie eine abschließende Bewertung beinhalten. Aktuelle Ansätze wissensbezogener Verfahren berücksichtigen individuelle Lernstile, sind realitätsnah und komplex in den Lernzielen. Für den gewerblichtechnischen Bereich werden Lernaufgabensysteme, Lerninseln, Übungsfirmen und Lernbüros vorgeschlagen [Son01a]. Auch für den Bereich der verhaltensorientierten Maßnahmen existiert eine Vielfalt an Instrumenten. Verbreitet sind Versuche einer Verhaltensmodifikation durch Trainingsmaßnahmen sowie verschiedene Ansätze der Beratung und Betreuung. Eingesetzt wird zudem das Veränderungsmanagement als mittelfristig wirkende Maßnahme bei konkreten Veränderungsvorhaben. Die Organisationsentwicklung zielt demgegenüber neben der Akzeptanzsicherung bei Veränderungen auf eine nachhaltige Verbesserung der Organisationskultur. Neuere Ansätze der Verhaltensmodifikation zeichnen sich durch ein ganzheitliches Vorgehen aus. Hintergrund sind Studien, die den langfristigen Effekt von Trainingsmaßnahmen wie beispielsweise einer Gruppenentwicklung oder
einem Outdoor-Training anzweifeln. Kritisiert werden das geringe Transferpotenzial, der punktuelle Charakter der Maßnahmen sowie der Alibi-Charakter, der sich ergibt, wenn nicht zugleich die Arbeitssysteme verbessert werden. Als besser geeignet gelten Ansätze, die Trainingsmaßnahmen mit Maßnahmen der Arbeitssystemgestaltung kombinieren. Dies wird damit begründet, dass die Arbeitsstrukturierung langfristige Konsequenzen für die Persönlichkeit der Mitarbeiter hat. Die Aufgaben einer laufbahnbezogenen Personalentwicklung [Scha00] liegen in der Gestaltung eines Laufbahnsystems, welches die Anforderungen der Organisation mit den individuellen Karriereorientierungen vereinbart. Laufbahnen lassen sich in zwei Richtungen gestalten. Vertikale Laufbahnen beinhalten den hierarchischen Aufstieg, daneben aber auch den hierarchischen Abstieg mit der Sonderform der Scheinbeförderung. In der horizontalen Laufbahn erhalten Mitarbeiter andere Aufgabenfelder, ohne dass sie hierbei auf- oder absteigen. Dass die horizontale Laufbahn in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat, liegt an der Verschlankung der Unternehmenshierarchien. Die Personalentwicklung berücksichtigt bei der Laufbahngestaltung die Motive der Mitarbeiter. Deren Bereitschaft zum vertikalen Aufstieg ist in der Regel stärker ausgeprägt als die zur horizontalen Veränderung. Begründet wird der Vorrang der Karriereorientierung durch den Wunsch nach Autonomie, nach der Gewinnung von Machtpositionen, nach Selbstentfaltung, Prestige und nicht zuletzt nach einer Erhöhung von Gehalt und Einkommen. Für die horizontale Veränderung sind andere Motive ausschlaggebend: der Wunsch nach einer interessanteren und weniger belastenden Aufgabe oder die Suche nach Erfolgserlebnissen, die die bisherige Position zu wenig bietet. Gebremst wird die Veränderung in horizontaler Richtung durch das Interesse an einer stabilen beruflichen Entwicklung. Angesichts dieser Problemlagen steht die Personalentwicklung vor der Aufgabe, Karrierewege transparent zu machen und den Mitarbeitern Entwicklungsperspektiven zu ermöglichen. Hierbei ist es vorteilhaft, die Laufbahngestaltung nach Er-
7
215
7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
werbsphasen zu untergliedern und beispielsweise die Eingliederung, die frühen, mittleren und späteren Karrierejahre sowie den Austritt aus dem Unternehmen zu unterscheiden.
7.4
7
216
Arbeitsstrukturierung
Für die organisatorische Sicht der Fabrikplanung besonders wichtig ist die Arbeitsstrukturierung. Sie bezeichnet die Arbeitsteilung und die Zuweisung von Verantwortung innerhalb und zwischen betrieblichen Funktionsbereichen. Personenunabhängige Strategien definieren Tätigkeiten und Aufgaben, die in einer Stellenbeschreibung ohne konkreten Personenbezug zusammengefasst werden. Personenbezogene Strategien verknüpfen die Gestaltung von Arbeitssystemen gezielt mit den Bedürfnissen bestimmter Mitarbeiter. Während die Folgen der Arbeitsstrukturierung für die Motivation, Kompetenz, Gesundheit und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter mittlerweile nahezu einheitlich beurteilt werden, sind die Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit umstritten. Forschungen zur sogenannten High Performance Work Organisation (HPWO) sehen die Wirtschaftlichkeit bestimmter partizipativer und teamorientierter Arbeitsstrukturen erst durch die Kombination mit leistungsorientierten Entgeltsystemen, flexiblen Arbeitszeitregelungen und Trainingsmaßnahmen gegeben [App00]. Zu den grundlegenden Ansätzen der Arbeitsstrukturierung zählen die Arbeitserweiterung (auch Jobenlargement), der Arbeitsplatzwechsel (Job-rotation), die Arbeitsbereicherung (auch Job-enrichment) und die teilautonome Gruppenarbeit (vgl. auch Abschn. 4.2 Gruppenarbeit). Bild 7.3 zeigt die Ansätze in Bezug auf die damit erreichbaren Ziele. Der Ansatz des Arbeitsplatzwechsels ist in der Tabelle nicht enthalten, weil sich seine Effekte nicht generalisierend beurteilen lassen. Dieser Ansatz kann je nach einbezogenen Aufgaben entweder im Sinne einer Arbeitserweiterung oder einer Arbeitsbereicherung
praktiziert werden. Im Regelfall beschränkt sich der Arbeitsplatzwechsel jedoch auf die Arbeitserweiterung. Bei der Arbeitserweiterung wird ein bereits bestehender Arbeitsumfang durch ähnliche Tätigkeiten erweitert. Dies lässt sich zum Beispiel durch einen verlängerten Montagezyklus erreichen. Hierdurch erhöhen sich in der Regel nicht die Qualifikationsanforderungen, den Mitarbeitern werden jedoch in einem bescheidenen Rahmen Belastungswechsel und eine größere Vielseitigkeit der Arbeit ermöglicht. Im Unterschied hierzu werden bei der Arbeitsbereicherung andere, in der Regel auch mit höheren Denkund Qualifikationsanforderungen verbundene Tätigkeiten ergänzt. Die Arbeitsbereicherung folgt dem Konzept der vollständigen Arbeitsaufgabe [Hac98], das neben der reinen Ausführung auch die Planung, Vorbereitung und Kontrolle umfasst. Ein Beispiel ist die Erweiterung der Aufgaben eines Maschinenbedieners durch die Wartung, Qualitätsprüfung und Auftragssteuerung. Die Arbeitsbereicherung geht in der Regel mit einer Höherqualifizierung, teilweise auch mit einem höheren Arbeitsentgelt einher. Die teilautonome Gruppenarbeit beruht auf einer Gruppe von Mitarbeitern, die in einem gewissen Rahmen ihre Arbeitstätigkeiten selbst plant, vorbereitet und kontrolliert [Ant94]. Damit kombiniert sie Strategien der Arbeitserweiterung und -bereicherung und setzt hierbei einen Schwerpunkt durch die Übertragung von Aufgaben im Bereich der Personalführung. Je größer die Anteile der Arbeitsbereicherung ausfallen, desto besser ist die Gruppenarbeit geeignet, Belastungen zu reduzieren und langfristig die Kompetenzen der Mitarbeiter zu erhalten oder zu erweitern. Die heutige Verbreitung der teilautonomen Gruppenarbeit lässt sich mit der wachsenden Komplexität der Produktionsprozesse erklären. Ihr wesentlicher Leistungsvorteil ist die Flexibilität und die Geschwindigkeit, mit der sie angesichts vielfältiger Produktionsanforderungen und Umgebungseinflüsse angemessene Handlungsstrategien entwickeln kann [Ger06]. Mit der Gruppenarbeit können eine Verbesserung der Produktqualität, eine Verminderung von Durchlaufzeiten, eine Verringerung arbeits-
7.4 Arbeitsstrukturierung
Ansätze Arbeitserweiterung (Job-enlargement)
Ziele
Arbeitsberei- Teilautonome cherung (Job- Gruppenarbeit enrichement)
Kompetenzentwicklung fördern Physische Belastungen verringern Monotonie abbauen Arbeitsmotivation erhöhen Kommunikation fördern Verantwortung fördern Flexibilität des Arbeitssystems erhöhen
7
Verbesserungsprozess (KVP) fördern Störanfälligkeit des Arbeitssystems verringern Führung von Routineaufgaben entlasten Menschlichem Leistungsabbau vorbeugen kaum erreichbar
erreichbar
sehr gut erreichbar
14.799 Wd B Bild 7.3: Ansätze und Ziele der Arbeitsstrukturierung
© IFA 14.799_Wd_B
ablaufbedingter Wartezeiten und eine Verringerung von Stillstandszeiten erreicht werden [Uli01: S. 260]. Um die zeitliche Flexibilität und die Zielorientierung von Arbeitsgruppen zu steigern, ist es vorteilhaft, die Gruppenarbeit mit einem Prämienentgelt (s. Abschn. 7.5.3) und mit dem Modell der gleitenden Arbeitszeit (s. Abschn. 7.6.3) zu kombinieren. Personenbezogene Konzepte der Arbeitsstrukturierung umfassen die differentielle und die dynamische Arbeitsgestaltung. Bei der differentiellen Arbeitsgestaltung orientiert sich die Gestaltung von Arbeitsaufgaben an den individuellen Interessen und Kompetenzen. Bei der dynamischen Arbeitsgestaltung erfolgt eine laufende individuelle Aktualisierung der Arbeitsaufgaben mit dem Ziel, wandelnden Kompetenzen und Interessen Rechnung zu tragen. Mit dem Ansatz der sozio-technischen Systemgestaltung verfügt die Arbeitswissenschaft über einen
normativ gehaltvollen Ansatz der Arbeitsstrukturierung. Er beruht auf der Annahme, dass Betriebe aus technologischen und sozialen Teilsystemen bestehen und dass es im Interesse der Wirtschaftlichkeit darauf ankommt, beide Systeme aufeinander abzustimmen. Der Ansatz trifft Aussagen über die Aufgabengestaltung und konzentriert sich hierbei auf die Gruppenarbeit, die er als effiziente Arbeitsform ansieht. Die zentralen Annahmen des sozio-technischen Systemansatzes lauten [Fri99; Ric58; Uli01]:
• Die • •
Gruppe ist an effizienter Organisation und Aufgabenerfüllung interessiert. Eine Gruppe ist effizienter, wenn sie ganzheitliche Aufgaben vollenden kann. Zusammenhängende Aufgaben innerhalb einer Gruppe erfordern befriedigende soziale Beziehungen der Gruppenmitglieder.
217
7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
• Verfügt eine Gruppe über ein abgegrenztes Territorium, dann wirkt sich dies positiv auf die sozialen Beziehungen aus. Darüber hinaus wurden vom Londoner Tavistock Institut, das den sozio-technischen Systemansatz maßgeblich begründet hat, Prinzipien der Arbeitsstrukturierung formuliert, die sich auf das Individuum beziehen [nach Fri99]. Der Einzelne soll:
• auch fachlich gefordert werden, • an seinem Arbeitsplatz lernen, • auch allein Entscheidungen treffen können, • Rückhalt und Anerkennung erfahren, • seine Arbeit als sinnhaft erleben und • seine Arbeit als Beitrag zu einer wünschenswer-
7
ten Zukunft erfahren. Neben der Unterscheidung des technologischen Systems vom sozialen System wurde auch eine Abgrenzung von drei Systemtypen vorgeschlagen. Diese sind die Person, Organisation und Technologie [Fri99]. Ziel einer soziotechnischen Systemgestaltung ist eine Abstimmung der Schnittstellen dieser drei Systeme. Galt der sozio-technische Systemansatz lange Zeit als Grundlage zur Anpassung des sozialen Systems an das technologische, so hat sich in der Forschung ein Paradigmenwechsel vollzogen, demzufolge das technologische System bereits in der Phase der Produktionsplanung an die Belange des sozialen Systems angepasst werden muss [Zin97]. Dieser Ansatz wird heute jedoch noch wenig praktiziert, mit der Folge, dass auftretende Probleme im sozialen System wie mangelnde Motivation, Dienst nach Vorschrift, hohe Krankheits- und Abwesenheitsraten aus Kostengründen kaum verringert werden können.
7.5
Motivation
Die Leistung eines Mitarbeiters ist neben seiner Kompetenz und der Arbeitsplatzgestaltung entscheidend von seiner Motivation abhängig. Motivation
218
lässt sich nicht direkt beobachten, beobachten lassen sich lediglich ihre Resultate in Form von Handlungen und Handlungsergebnissen. Generell bezieht sich der Begriff der Motivation auf die Handlungsenergie, die Richtung, in die diese Handlungsenergie gelenkt wird, sowie auf die Ausdauer, mit der eine Person ein Ziel verfolgt [Kir05: S. 321; Rob01: S. 155]. Warum eine Person eine bestimmte Handlung ausführt oder unterlässt, ist entweder auf eine intrinsische oder extrinsische Motivation zurückzuführen. Bei der intrinsischen Motivation ist es die Ausführung einer Handlung selbst, die eine Person antreibt. Dies trifft zu, wenn eine Arbeit als selbst bestimmt, fachlich herausfordernd und als Grundlage persönlichen Wachstums empfunden wird. Bei der extrinsischen Motivation wird eine Handlung durch die damit verbundenen Belohnungen oder nicht eintretenden Belohnungen bzw. Bestrafungen begründet. Während das tayloristische Menschenbild von einem primär extrinsisch, d. h. durch Entgelt und angedrohte Bestrafungen motivierbaren Mitarbeiter ausgeht, spielt in modernen Arbeitsorganisationen die intrinsische Motivation eine wachsende Rolle. In der Motivationsforschung lassen sich zwei Theoriegruppen voneinander abgrenzen. Inhaltstheorien zielen auf eine inhaltliche Bestimmung der menschlichen Antriebe und deuten menschliches Verhalten durch das Bedürfnis, einen spezifischen Mangel zu beseitigen. Prozesstheorien erklären das Handeln vor dem Hintergrund komplexer mehrstufiger Entscheidungsprozesse. Aus beiden Ansätzen lassen sich Richtlinien für die Arbeitsstrukturierung und die Personalführung ableiten. Die bekannteste Inhaltstheorie stammt von Abraham Maslow. Sie unterscheidet die in Bild 7.4a dargestellten 5 Klassen von Bedürfnissen. Die „Bedürfnispyramide“ beruht auf der Annahme, dass jeweils eine Motivklasse aktuell das Handeln einer Person bestimmt, wobei höhere Klassen erst aktiviert werden, sobald die Bedürfnisse auf den niederen Stufen befriedigt wurden. Im Unterschied zu den vier unteren Motivklassen ist auf der obersten Ebene keine Sättigung mehr möglich, weshalb Maslow hier von einem Wachstumsmotiv im Unterschied zu den
7.5 Motivation
Wachstumsmotiv
Handlungs- und Entscheidungsspielräume, Partizipation, Lernmöglichkeiten, ...
Selbstverwirklichung
Karrierechancen, Status, Entgelthöhe, Handlungsspielräume, Lob, ...
Anerkennung Defizitmotive
Zusammenarbeit, Einbindung in Entscheidungsprozesse, ...
Soziale Beziehungen
Sicherheit des Arbeitsplatzes, soziale Sicherung (Krankheit, Rente), ...
Sicherheit
Entgelthöhe, Arbeitsumgebung, Arbeitsschwere, Pausen, ...
Physiologische Grundbedürfnisse
a) Motivklassen
b) Gestaltungsbereiche
Bild 7.4: Bedürfnispyramide und Arbeitssystemgestaltung [nach Scha00: ; Spa04] © IFA 14.800_B
vier Defizitmotiven spricht. Folgt14.800 manB dem Modell von Maslow, dann entsprechen den 5 Motivebenen jeweils spezifische Bereiche der Arbeitsgestaltung (Bild 7.4b). Physiologische Grundbedürfnisse lassen sich beispielsweise im Bereich der Entgeltgestaltung befriedigen, Sicherheitsbedürfnisse durch ein sicheres Arbeitsverhältnis, Bedürfnisse nach sozialen Beziehungen durch kooperative Arbeitsformen, Bedürfnisse nach Anerkennung durch Karrieremöglichkeiten und das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung durch Lernmöglichkeiten.
• Mitarbeiter lassen sich auf ganz unterschiedliche
Als eine der ersten Inhaltstheorien der Motivation zeigt die Bedürfnispyramide die Vielfältigkeit menschlicher Motive auf. Als problematisch haben sich jedoch die Abgrenzung der Bedürfnisse und die Annahme einer hierarchischen Anordnung erwiesen. Spätere theoretische Ansätze reduzieren die Anzahl der Bedürfnisklassen und geben die Annahme einer hierarchischen Ordnung auf. Gemeinsam ist jedoch die Betonung von Leistungs- und Wachstumsmotiven. Inhaltstheorien stellen hierdurch Annahmen der tayloristischen Arbeitsorganisation in Frage und weisen Wege zu einem produktiveren Mitarbeitereinsatz. Wesentliche Konsequenzen sind:
•
•
7
Weise motivieren, nicht nur – wie der Taylorismus unterstellt – durch die finanzielle Kompensation für aufgebrachte Mühen und erlittene Beanspruchungen. Die persönlichen Wachstumsbedürfnisse der Mitarbeiter stellen für das Unternehmen ein wertvolles Potenzial dar. Handlungs- und Entscheidungsspielräume sollten deshalb nicht stärker eingeschränkt werden als unbedingt erforderlich. Nur so kann die freiwillige Kooperationsbereitschaft der Mitarbeiter gewonnen werden. Die Aufgabe der Führungskräfte besteht darin, eine Arbeitsumgebung zu schaffen, in der die Bedürfnisbefriedigung der Mitarbeiter mit den Unternehmenszielen verknüpft wird und in der das persönliche Leistungsmotiv trainiert werden kann.
Prozesstheorien der Motivationsforschung setzen inhaltlich benennbare Motive voraus, erklären menschliches Handeln jedoch in erster Linie als Ergebnis von Entscheidungsprozessen, die verschiedene Stufen des Arbeitsprozesses einbeziehen. Motivation entsteht diesen Ansätzen zufolge im Wesentlichen
219
7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
7
aus dem Arbeitsprozess und seiner gedanklichen Vorwegnahme. Die meisten Prozesstheorien arbeiten zum einen mit dem Wert, den bestimmte Arbeitsprozesse und deren Ergebnisse für einen Mitarbeiter haben. Zum anderen argumentieren sie mit der Erwartung, die ein Mitarbeiter darüber hat, ob diese Werte überhaupt erreichbar sind. Eine der bekanntesten Prozesstheorien, die neben der Arbeitszufriedenheit auch die Arbeitsmotivation erklärt, stammt von Porter und Lawler (Bild 7.5) [Port68; Tho03]. Der Theorie zufolge wird sich ein Mitarbeiter nur anstrengen, wenn er eine Belohnung erwartet, die für ihn einen Wert darstellt. Inwieweit diese Anstrengung zu einer Leistung führt, ist zum einen von den persönlichen Fähigkeiten abhängig und zum anderen von der Rollenwahrnehmung, d. h. davon, wie der Mitarbeiter den Handlungserfolg definiert. Anstrengung und Leistung führen zu intrinsischen und extrinsischen Belohnungen, die zudem unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit beurteilt werden. Die empfundenen Belohnungen begründen schließlich den Grad der Arbeitszufriedenheit. Die Theorie von Porter und Lawler umfasst
Wertigkeit der Belohnung
Fähigkeiten und Persönlichkeitsbezüge
Entscheidungsprozesse, die einen Mitarbeiter von Beginn einer Arbeitsaufgabe bis zu deren Abschluss begleiten. Aus Prozesstheorien wie der von Porter und Lawler lassen sich vor allem praktische Konsequenzen für die Personalführung ableiten.
• Führungskräfte
•
•
sollten unter Beteiligung der Mitarbeiter eine klare Zielorientierung schaffen und verdeutlichen, worin die betrieblichen Ziele bestehen. Zur Verbesserung der Zielorientierung dienen gemeinsam erarbeitete Ziele, die im Rahmen von Zielvereinbarungen schriftlich festgehalten werden. Führungskräfte sollten Bedingungen schaffen, unter denen Mitarbeiter die gewünschten Ergebnisse auch erreichen können. Dies erfordert die Beseitigung von technologischen und organisatorischen Hindernissen sowie Maßnahmen zur Kompetenzentwicklung. Führungskräfte sollten ihr Verhalten auf unterschiedliche Wertorientierungen und Kompe-
Wahrgenommene gerechte Belohnung Intrinsische Belohnung
Anstrengung
Leistung
Zufriedenheit Extrinsische Belohnung
Wahrgenommene Wahrscheinlichkeit der Belohnung bei Anstrengung
Rollenwahrnehmung
Bild 7.5: Motivationstheorie nach Porter und Lawler © IFA 14.801_B
220
14.801 B
7.6 Entgeltgestaltung
Entgelt Monetäre Anreize
Erfolgsbeteiligung Betriebliche Sozialleistungen Prämien aus betrieblichem Vorschlagswesen
Leistungsanreize
Aus- und Weiterbildung Aufstiegsmöglichkeiten Gruppenmitgliedschaft Nichtmonetäre Anreize
Leistungsförderndes Betriebsklima Partizipation Arbeitszeit- und Pausenregelung Herausfordernder Arbeitsinhalt
Bild 7.6: Systematik der Leistungsanreize
Attraktive Arbeitsplatzgestaltung
© IFA 14.802_B 14.802 B
tenzen der Mitarbeiter abstellen. Beispielsweise eignet sich ein partizipativer und ein leistungsorientierter Führungsstil bei kompetenten und entscheidungsstarken Mitarbeitern, während bei weniger kompetenten Mitarbeitern und uneinigen Arbeitsgruppen eher eine direktive Führung angemessen ist.
• erworbener sozialer Vorrechte wie etwa durch die • • •
7.6
Entgeltgestaltung
Entscheidend für die Entgeltgestaltung sind die Kriterien, an denen sich die Höhe der Entlohnung für eine geleistete Arbeit orientieren soll. Hierbei werden zwei Ziele verfolgt: Die Realisierung einer als gerecht empfundenen Entlohnung und die Steuerung der Mitarbeiterleistung. Welche Entgeltsysteme dem Kriterium der Gerechtigkeit entsprechen, ist eine kulturabhängige Frage [Wäc97]. Je nach herangezogenem Gerechtigkeitskriterium ist das Entgelt Ausdruck
• des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, e • rworbener Qualifikationen und Berufsabschlüsse,
7
Dauer der Organisationszugehörigkeit oder durch das Dienstalter, sozialer Bedürfnisse wie beispielsweise durch die Verantwortung für Ehepartner und Kinder, der allgemeinen Schwierigkeit der Arbeitsaufgabe, der spezifischen Leistung des Mitarbeiters.
In heutigen Entgeltsystemen spielen alle diese Perspektiven eine Rolle, wobei das Verhältnis von Angebot und Nachfrage und die Leistung dominieren. Wer eine seltene, aber auf dem Arbeitsmarkt stark nachgefragte Qualifikation vorweisen kann, verfügt auch über eine relativ gute Verdienstchance. Daneben hat in vielen Entgeltsystemen die individuelle Leistung einen hohen Stellenwert. Hierbei geht es den Unternehmen neben einer gerechten Entlohnung darum, das Mitarbeiterverhalten in eine gewünschte Richtung zu steuern. In diesem Sinne ist Entgelt ein Leistungsanreiz, d. h. eine Belohnung für eine spezifische Anstrengung. Neben den monetären sind jedoch auch nichtmonetäre Leistungsanreize bekannt, die ebenfalls einen starken Einfluss auf das Mitarbeiterverhalten ausüben können, die Bild 7.6 nach Thommen und Achleitner [Tho03: S. 692] zeigt. Die Gestaltung von
221
7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
Methoden der qualitativen Analyse des Anforderungsbildes
Methoden der Quantifizierung
Summarische Betrachtung
Analytische Betrachtung
Reihung
Rangfolgeverfahren
Rangreihenverfahren
Stufung
Lohn- /Gehaltsgruppenverfahren Stufenverfahren
Bild 7.7: Methoden der Arbeitsbewertung © IFA 14.803_B
monetären Leistungsanreizen sollte deshalb immer im Zusammenhang mit der Gesamtheit möglicher Anreize gesehen werden.
7
Entgeltsysteme werden häufig in Form einer Ent14.803 B geltsäule dargestellt. Den Sockel bildet hierbei ein anforderungsabhängiges Grundentgelt, darauf folgen leistungsabhängige sowie weitere tarifliche und übertarifliche Entgeltbestandteile. Die Ermittlung der Grundentgelte erfolgt auf der Grundlage einer Arbeitsbewertung. Bei der Arbeitsbewertung werden die Anforderungen einer Arbeit im Verhältnis zu anderen Arbeiten unter Verwendung eines einheitlichen Maßstabes bewertet. Das Ziel liegt hierbei in der anforderungsabhängigen Entgeltdifferenzierung. Neben der Grundentgeltermittlung lässt sich die Arbeitsbewertung noch für zwei weitere Ziele einsetzen: die Personalentwicklung und die Optimierung von Arbeitsprozessen. Für die Arbeitsbewertung steht die vom REFA-Verband entwickelte 3-Stufen-Methode zur Verfügung. Der erste Schritt besteht in der Erfassung und Beschreibung der Arbeitstätigkeit, des Arbeitsplatzes
und der Organisationsbeziehungen. Schritt zwei umfasst die Analyse der Anforderungsarten. Der dritte Schritt besteht in der Bewertung der Anforderungen und der zusammenfassenden quantitativen Bewertung der Arbeitstätigkeit. Zur Arbeitsbewertung werden summarische und analytische Betrachtungsweisen unterschieden. Während summarische Methoden von der Tätigkeit als Ganzes ausgehen und diese entweder miteinander oder mit Beispielkatalogen vergleichen und so zu Lohn- oder Gehaltsgruppen gelangen, bewerten analytische Methoden die einzelnen Anforderungsarten getrennt und errechnen anschließend einen Gesamtarbeitswert, der einer Lohn- oder Gehaltsgruppe zugeordnet werden kann. Innerhalb der summarischen und der analytischen Betrachtungsweise lässt sich jeweils unterscheiden, ob zur Quantifizierung die Methode der Reihung oder der Stufung angewendet wird. Während die Reihung auf einer Rangfolge von Arbeitstätigkeiten oder einzelnen Arbeitsanforderungen anhand des Schwierigkeitsgrades erfolgt, gibt es bei der Stufung genau definierte Stufen, entweder für Lohn- und Gehaltsgruppen bei der summarischen Be-
Struktur Reine Entgeltformen
Leistungsbezug
Zusammengesetzte Entgeltformen
Nicht leistungsreagibel
•Zeitlohn •Gehalt •Zeitentgelt
•Standardlohn •Polyvalenzlohn
Leistungsreagibel
•Akkordentgelt •Prämienentgelt •Zielentgelt •Zeitentgelt mit Leistungszulage •Zeitentgelt mit Ergebnisbeteiligung
Bild 7.8: Entgeltformen © IFA 14.804_B
222 14.804 B
7.6 Entgeltgestaltung
trachtung oder für die einzelnen Anforderungsmerkmale bei der analytischen Betrachtung. Alle in Bild 7.7 enthaltenen Methoden führen zur quantitativen Bewertung von Arbeitstätigkeiten [Doe97]. Das Rangfolgeverfahren beruht auf einer Reihe von paarweisen Vergleichen, wodurch alle in einem Betrieb vorhandenen Tätigkeiten in eine Rangfolge gebracht werden. Im Unterschied hierzu orientiert sich das Lohn- bzw. Gehaltsgruppenverfahren an einem Katalog, der in abgestufter Form Arbeitstätigkeiten charakterisiert. Ein Beispiel wäre die Kategorie „schwierige Facharbeiten, die besondere Fähigkeiten und langjährige Erfahrung voraussetzen“. Als Hilfsmittel dienen sogenannte Richtbeispiele. Grundlage der analytischen Arbeitsbewertung sind Anforderungskataloge, die zumeist tarifvertraglich festgelegt werden. Orientierungshilfe ist hierbei das 1950 auf einer internationalen Konferenz zur Arbeitsbewertung formulierte Genfer Schema, das geistige Anforderungen, körperliche Anforderungen, Verantwortung und die Arbeitsbedingungen unterscheidet. Analytische Verfahren sind das Rangreihenverfahren und das Stufenverfahren. Das Rangreihenverfahren beruht auf Rangreihen, die für jede Anforderungsart existieren und je nach Schwere der Arbeit entsprechende Wertzahlen enthalten. Zur Orientierung dienen Beispieltätigkeiten, die auch als Brückenbeispiele bezeichnet werden. Das Stufenverfahren, oder auch Stufenwertzahlverfahren, beruht auf Bewertungstafeln, die ebenfalls für jede Anforderungsart Werte für die Schwierigkeit angeben. Die Einstufung orientiert sich jedoch an qualitativen Begriffen wie „sehr hoch, hoch, mittel, gering, sehr gering“ oder an umfassenden Beschreibungen der jeweiligen Höhe der Anforderungsstufe. Auch bei diesem Verfahren erleichtern Beispiele die Orientierung. Wie bei dem Rangreihenverfahren wird für jedes Anforderungsmerkmal eine Punktzahl ermittelt. Die Gesamtpunktzahl ermöglicht die Einordnung in eine Lohn- oder Gehaltsgruppe. Das Stufenverfahren zeichnet sich durch seine „leichte Handhabung für den Bewerter und gute Verständlichkeit für den Mitarbeiter“ aus [Tho03].
Bei den Entgeltformen lassen sich reine Lohnformen von zusammengesetzten Lohnformen unterscheiden, s. Bild 7.8. Während sich reine Lohnformen ausschließlich entweder an der Arbeitszeit, der Arbeitsschwierigkeit oder der Leistung orientieren, kombinieren zusammengesetzte Lohnformen mehrere dieser Merkmale. Darüber hinaus unterscheiden sich Entgeltformen darin, ob sie unmittelbar auf die Leistung reagieren oder das Entgelt konstant bleibt. Leistungsreagibel ist das Akkord- und Prämienentgelt, aber nicht das Zeitentgelt. Das Zeitentgelt beruht auf einer festen Vergütung für eine bestimmte Zeiteinheit. Es zählt zu den reinen Lohnformen und ist darüber hinaus nicht unmittelbar leistungsreagibel. Dies bedeutet nicht, dass von einem Mitarbeiter im Zeitentgelt nur die reine Anwesenheit erwartet wird, doch ändert sich das Entgelt bei schwankender Leistung nicht. Das Zeitentgelt ist „vorteilhaft bei Arbeiten,
7
• die einen hohen Qualitätsstandard verlangen, • die sorgfältig und gewissenhaft ausgeführt wer• • •
den müssen, bei denen eine große Unfallgefahr besteht, deren Leistung nicht oder nur sehr schwer (quantitativ) messbar ist, wie dies bei kreativen Aufgaben der Fall ist, bei denen die Gefahr besteht, dass Mensch oder Maschine überfordert oder zu stark beansprucht werden.“ [Tho03: S. 716].
Der Nachteil des Zeitentgelts wird in dem fehlenden finanziellen Leistungsanreiz gesehen. Eine Möglichkeit, das Zeitentgelt mit Leistungsanreizen zu versehen, liegt in der Kombination mit Leistungszulagen. Diese werden auf der Grundlage einer Bewertung des individuellen Verhaltens gewährt, d. h. sie honorieren kausale Leistungsbeiträge. Ein Grenzfall zwischen einem leistungsreagiblen und einem nicht-leistungsreagiblen Entgelt ist der vor allem in der Automobilindustrie verbreitete Standardlohn. Bei dieser dem Leistungsentgelt zugerechneten Entgeltform müssen die Mitarbeiter für einen bestimmten Zeitraum definierte Leistungsziele
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7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
7
224
erreichen. Eine Zielabweichung ist nicht relevant für das Entgelt, zieht aber eine Ursachenanalyse und Maßnahmen nach sich. Zu den leistungsreagiblen Entgeltformen zählt das Akkordentgelt, das die von einem Mitarbeiter oder im Falle des Gruppenakkords die von einer Gruppe beeinflussbare Mengenleistung entlohnt. Leistungsmerkmal ist hier der Leistungsgrad, der die Leistung in Bezug zu einer Normalleistung angibt. Das Akkordentgelt enthält einen finanziellen Leistungsanreiz, ist jedoch auch mit einigen Nachteilen verbunden. Es besteht vor allem die Gefahr, dass Mensch und Maschine zu stark beansprucht und dass Qualitätsziele vernachlässigt werden. Nicht eingesetzt werden sollte das Akkordentgelt deshalb bei Unfallgefahren oder bei Arbeiten mit einem hohen Qualitätsanspruch. Wesentlich flexibler als das lediglich auf die Mengenleistung zielende Akkordentgelt ist das Prämienentgelt. Das Prämienentgelt beruht auf einem anforderungsabhängigen Grundentgelt, das um eine veränderbare Prämie ergänzt wird. Orientieren können sich die Prämien beispielsweise an der Mengenleistung, der Qualität, der Produktivität, der Ersparnis von Material und Zeit sowie der Nutzung von Produktionsmitteln. Das Prämienentgelt ist grundsätzlich offen für die Unterstützung logistischer Ziele, doch orientieren sich die Prämien im Bereich der Produktionsarbeit in der Regel eher an der Produktivität und kaum am logistischen Zielsystem. Hierdurch kann es aus logistischer Sicht zu einer Fehlsteuerung kommen. Der Polyvalenzlohn setzt sich aus einem anforderungsorientierten Grundlohn und einer Könnenszulage zusammen. Ziel dieses Entgeltsystems ist die Förderung der Qualifizierungsbereitschaft und der individuellen Kompetenz. In der Praxis stellt sich neben der Gewichtung des Könnens die Frage nach Instrumenten zur Bewertung der Kompetenz [Uli01]. Eine Möglichkeit besteht darin, die Kompetenz durch die erforderliche Lernzeit auszudrücken. Der Indikator kumuliert die Zeiten, die erforderlich sind, um die Aufgaben in einem Arbeitssystem so weit zu lernen, dass sie „selbstständig und in normaler Zeit“ ausgeführt werden können [Pla04].
Das Zielentgelt wurde in dem neuen Entgeltrahmenabkommen (ERA) in den Tarifgebieten der Metallund Elektroindustrie formuliert. Es beruht auf einem Grundentgelt, welches durch eine Prämie ergänzt wird, die sich an Zielvereinbarungen orientiert. Eine weitere Möglichkeit einer kombinierten Entlohnung ist das Zeitentgelt mit einer Beteiligung am Unternehmensergebnis. Meist orientieren sich die Unternehmen hierbei am Umsatz oder am Gewinn vor Steuern. Ziel dieser Entgeltsysteme ist eine stärkere Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen sowie eine Begrenzung des unternehmerischen Entgeltrisikos. In der Fachliteratur wird auf einen Nachteil ergebnisorientierter Entgeltsysteme hingewiesen, der darin besteht, dass Leistung entwertet wird, wenn sie nicht zu einem Markterfolg führt [Bah01]. Entgelt ist die Gegenleistung für eine vom Mitarbeiter erbrachte Leistung. Der Begriff der menschlichen Arbeitsleistung lässt sich jedoch unterschiedlich definieren, zudem unterliegt er einem historischen Wandel. In den Hochzeiten des Taylorismus wurde Leistung mit der Geschwindigkeit gleichgesetzt, mit der eine Arbeitskraft fehlerfreie Produkte hergestellt hat. Angestellte waren für andere Aufgaben zuständig als Arbeiter, was unterschiedliche Tarifgefüge zur Folge hatte. Heute sind Produktionsarbeiter stärker als Mitgestalter gefordert, sie haben häufiger dispositive, kontrollierende und Aufgaben im Bereich der Prozessoptimierung. Damit gleichen sich die Tätigkeiten von Arbeitern und Angestellten zunehmend an. Dies stellt neue Anforderungen an die Entgeltgestaltung, die die Tarifpartner zu einheitlichen Entgelttarifverträgen für Arbeiter und Angestellte bewegt haben, 1988 im Tarifbereich der Chemischen Industrie, später in Elektro- und Metallindustrie (ERA). Entgeltsysteme korrespondieren mit dem jeweiligen Verständnis, das in einem Unternehmen über den Inhalt der Arbeitsleistung und damit auch über die Funktion der Arbeitskraft vorherrscht. Hierzu lassen sich grundsätzlich vier verschiedene Leistungsindikatoren unterscheiden (Bild 7.9). Unternehmen können Mitarbeiter dafür entlohnen, dass sie ihre Zeit zur Verfügung stellen, dass sie sich in einer spezifischen Form anstrengen, dass sie ein betriebswirtschaftlich
7.7 Arbeitszeitgestaltung
Leistungsindikator
Kriterium
Entgeltform
Eingebrachte Zeit
Arbeitszeit
Zeitentgelt
Qualitativ unterscheidbare Anstrengung
Betriebswirtschaftlich verwertbares Ergebnis
Erfolgreich verwertetes Ergebnis / Markterfolg
Arbeitssorgfalt, Flexibilität, Arbeitseinsatz, Teamverhalten
Produktivität, Kosteneinsparung, Lieferzeiten, Qualität
Umsatz, Gewinn, ...
Leistungsorientierte Entlohnung
Erfolgs- und ergebnisorientierte Entlohnung
Bild 7.9: Verhältnis von Lohn und Leistung © IFA 14.805_B
verwertbares Ergebnis erzielen und dafür, dass ein Markterfolg erzielt wurde. Bild 7.9 führt zu den Leistungsindikatoren die Kriterien auf, die sich in den entsprechenden Entgeltformen widerspiegeln. 14.805 B Moderne Unternehmen orientieren sich in den Entgeltsystemen zunehmend am betriebswirtschaftlich verwertbaren Ergebnis. Damit verschiebt sich die Funktion der Mitarbeiter. Statt deren spezifische Anstrengungen und die in das Unternehmen eingebrachte Zeit zu honorieren, wird als Leistung anerkannt, was die Mitarbeiter durch geschicktes Agieren zu Produktivitätssteigerung und Kosteneinsparung oder anderen unmittelbar verwertbaren Resultaten beitragen. In der Fachliteratur wird diese Entwicklung als Wandel von einem kausalen zu einem funktionalen Leistungsbegriff bezeichnet [Ben97].
7.7
Arbeitszeitgestaltung
Die Arbeitszeitgestaltung ist ein bestimmender Faktor für das Kapazitätsangebot und die Kapazitätsflexibilität einer Fabrik und eine wichtige Berechnungsgröße für die Auslegung der Betriebsmittelkapazität. Der Gegenstand der Arbeitszeitgestaltung ist die Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeiten
innerhalb einer definierten Betrachtungsperiode, z.B. einer Woche oder eines Monats. Dies schließt Urlaubsregelungen sowie die Gestaltung von Ruhe- und Erholungspausen ein. Die Ziele der Arbeitszeitgestaltung sind die Anpassung der personellen Kapazitäten an die Produktionsplanung, die Schaffung von ausreichenden Erholungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter, der Erhalt ihrer Gesundheit und dauerhaften Leistungsfähigkeit sowie die Berücksichtigung individueller Interessen. Auf welche dieser Ziele die Akzente gesetzt werden, kann zwischen den Arbeitszeitmodellen und im Rahmen deren konkreter Ausgestaltung stark variieren. Bei der Arbeitszeitgestaltung gilt die Vertragsfreiheit zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer, doch müssen gesetzliche und tarifvertragliche Vorschriften eingehalten werden. Die wichtigste gesetzliche Grundlage ist das Arbeitszeitgesetz (ArbzG). Historisch betrachtet handelt es sich hierbei um ein Arbeitnehmerschutzrecht. Lag die tägliche Arbeitszeit zu Beginn der Industrialisierung in Deutschland im Durchschnitt bei 15 Stunden und mussten selbst Kinder ab dem 6. Lebensjahr bis zu 12 Stunden schwerste körperliche Arbeit verrichten, beträgt die Arbeitszeit heute laut § 3 ArbzG in der Regel 8 Stunden pro Tag. Die Arbeitszeit kann auf 10 Stunden ausgedehnt werden, jedoch dürfen nach § 7 ArbzG innerhalb von 6 Monaten im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Weitere
7
225
7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
7
Regelungen zur Arbeitszeitgestaltung finden sich in den Tarifverträgen und den individuellen Arbeitsverträgen. Die zur Arbeitszeitgestaltung eingesetzten Arbeitszeitmodelle lassen sich grundlegend nach dem Grad ihrer Flexibilität unterscheiden, s. Bild 7.10. Es existieren jedoch verschiedene Definitionen für die flexible und die starre Arbeitszeit. Bezugspunkt für die Charakterisierung von Arbeitszeitmodellen ist zumeist die ebenfalls recht unterschiedlich definierte Normalarbeitszeit. Meist wird unter dem Begriff der Normalarbeitszeit eine regelmäßige und starr geregelte Arbeitszeit zwischen 7:00 Uhr und 19:00 Uhr verstanden. Unter den Bedingungen einer Normalarbeitszeit arbeitet derzeit noch die Mehrheit der Beschäftigten, doch wird dieses Arbeitszeitmodell durch verschiedene Varianten mehr und mehr verdrängt. Nicht jede Abweichung von der Normalarbeitszeit führt jedoch zu einer flexiblen Arbeitszeit. Dies gilt für die reduzierte regelmäßige Arbeitszeit, beispielsweise im Rahmen einer Teilzeitarbeit. Die Schichtarbeit weicht ebenfalls von der Normalarbeitszeit ab, fällt aber bei einem planbaren Schicht-
rhythmus noch nicht in die Kategorie der flexiblen Arbeitszeit. Eine weitere Gruppe von Arbeitszeitmodellen beruht auf einer unregelmäßigen Verteilung der Arbeitszeit, wie die Saisonarbeit oder die Arbeit à la carte. Auch hier muss es sich noch nicht um eine flexible Arbeitszeit handeln. Saisonarbeit kann einem starren Jahresrhythmus folgen und bei der Arbeit à la carte kann die Arbeit auf feste Tage oder Bruchteile von Tagen in der Woche verteilt ˇ werden. Nachreiner und Grzech-Sukalo [Nac97] zufolge müsste ein sinnvoller arbeitswissenschaftlicher Begriff der flexiblen Arbeitszeit das Merkmal des „Dispositions- bzw. Verhandlungsspielraumes in Bezug auf Dauer, Lage und Verteilung“ der Arbeitszeit hervorheben. Andernfalls würden so viele unterschiedliche Arbeitszeitmodelle unter dem Begriff der flexiblen Arbeitszeit zusammengefasst, dass keine verallgemeinernden Aussagen über diese Modellgruppe möglich wären. Starre Arbeitszeiten sind diesem Definitionsvorschlag zufolge durch die periodische Wiederholung von Arbeitsund Freizeitblöcken mit jeweils gleicher Dauer und Lage innerhalb eines Betrachtungszeitraumes gekennzeichnet.
Normalarbeitszeit Reduzierte Arbeitszeit Starre Arbeitszeit
Schichtarbeit Unregelmäßig verteilte regelmäßige Arbeitszeit ...
Arbeitszeitmodelle
Gleitende Arbeitszeit Flexibilisierte Teilzeit KAPOVAZ *) Flexible Arbeitszeit
Vertrauensarbeitszeit Langfristige Zeitkonten Job-Sharing ... *) Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit
14.806 B
226
Bild 7.10: Systematik der Arbeitszeitmodelle © IFA 14.806_B
7.7 Arbeitszeitgestaltung
Wie flexible Arbeitszeitmodelle zu bewerten sind, hängt sehr stark von der Perspektive des Bewertenden und von der Frage ab, wer über die zeitlichen Dispositionsspielräume verfügt. Bei der kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeit (KAPOVAZ) liegt die alleinige Disposition über die Arbeitszeit beim Arbeitgeber, weshalb dieses Modell nicht auf die Zustimmung der Gewerkschaften trifft. Andere Formen der flexiblen Arbeitszeit wie die Gleitzeitarbeit, die flexibilisierte Teilzeit oder die Vertrauensarbeitszeit können den Arbeitnehmern eine sehr viel weitergehende Zeitsouveränität erlauben. So ist es beim Jobsharing möglich, dass sich zwei Mitarbeiter einen Arbeitsplatz teilen und ihre Arbeitszeit frei einteilen. Andere Formen der flexiblen Arbeitszeit sind neben dem unbezahlten Langzeiturlaub (Sabbatical) verschiedene Varianten von Lebensarbeitszeitkonten, die beispielsweise den gleitenden Einstieg in den Ruhestand erlauben. In der heutigen Wirtschaft besteht aus verschiedenen Gründen die Notwendigkeit der Nacht- und Schichtarbeit. Es kann erforderlich sein, Investitionskosten dadurch zu rechtfertigen, dass eine kapitalintensive Anlage möglichst rund um die Uhr ausgelastet wird.
Weitere wirtschaftliche Gründe für die Nacht- und Schichtarbeit liegen in einem beschleunigten technologischen Wandel, der die Amortisationszeit für die Produktionsmittel verkürzt. Daneben werden Technologien eingesetzt, die – wie in der Stahlindustrie und der Chemischen Industrie – einen vollkontinuierlichen Betrieb erfordern. Ein weiterer Grund ist die Versorgung der Bevölkerung beispielsweise mit Energie oder mit ärztlichen Leistungen, die sich nicht auf die Normalarbeitszeit beschränken kann. Nach dem Arbeitszeitgesetz (§ 6 ArbzG) ist die Arbeitszeit bei der Nacht- und Schichtarbeit jedoch nach den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit zu gestalten. Menschengerecht bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Wohlbefinden und Gesundheit nicht beeinträchtigt und dass den Mitarbeitern eine angemessene Teilhabe am Sozialleben ermöglicht werden [Kna97]. Grundlage für den Erhalt von Wohlbefinden und Gesundheit ist die Berücksichtigung der „physiologischen Leistungskurve“ [Gra61; Sch93] zitiert nach Landau. Die Leistungskurve (Bild 7.11), welche den Verlauf der körperlichen und geistigen Leistungs-
7
Grenze der maximalen Leistungsfähigkeit
Dem Willen unzugängliche Notfallreserven
Grenze der physiologischen Leistungsbereitschaft Physiologische Nacht
Dem Willen zugängliches Leistungsvermögen
Unwillkürliche Leistungen
Bild 7.11: Verlauf der physiologischen Leistungsbereitschaft (nach Bjerner / Holm / Svenson und Graf, zitiert nach Landau) © IFA 14.807_Wd_B
6
8
10
12
14
16
18
20
22
24
2
4
6
Uhr
14.807 Wd B
227
7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
7
bereitschaft beschreibt, ist genetisch weitgehend festgelegt [Land01, S. 40]. Sie liegt mit gewissen Einschränkungen während der physiologischen Nachtzeit im Leistungsbereich, der dem freien Willen zugänglich ist. Der Verlauf der Kurve kann intra- und interindividuell variieren, eine Verschiebung der Kurve um eine Schicht oder um einen halben Tag ist jedoch aus biologischen Gründen nicht möglich. Zwar reagiert der Körper mit Anpassungen auf die Schichtarbeit, doch führen vor allem die Früh- und die Nachtschicht tendenziell zu einem Dauerkampf gegen die eigene innere Uhr. Diesen Dauerkampf gilt es durch arbeitswissenschaftlich abgesicherte Maßnahmen zu minimieren. Andernfalls drohen eine deutliche Beeinträchtigung des Wohlbefindens und ernsthafte Gesundheitsrisiken. In Phasen der geringen Leistungsfähigkeit steigt zudem das Risiko von Fehlhandlungen und Unfällen. Wie Untersuchungen bestätigen, geht die Frühschicht mit Schlafstörungen und Müdigkeit einher, während die Spätschicht und die Wochenendarbeit die Teilnahme am sozialen Leben beeinträchtigen [Kna97]. Die Probleme der Früh- und Spätschicht treten auch bei der Nachtschicht auf. Zusätzlich lassen sich bei der Nachtschicht weitere Beeinträchtigungen des Wohlbefindens durch Appetitstörungen und Magen-Darm-Beschwerden sowie gesundheitliche Beeinträchtigungen wie Magen-Darm- und HerzKreislauf-Erkrankungen nachweisen [Kna97]. Bei der Schichtplangestaltung sollten einer Studie zufolge, in der 9000 Schichtarbeiter untersucht wurden, folgende arbeitswissenschaftliche Empfehlungen beachtet werden [Kna97]:
• Die
• •
228
Anzahl der hintereinander abzuleistenden Nachtschichten sollte möglichst gering sein. Als maximal gelten vier, als ideal weniger als drei aufeinander folgende Nachtschichten. Dies gilt gleichermaßen für die Früh- und die Spätschichten. Einer geblockten Freizeit am Wochenende ist gegenüber einzelnen freien Tagen in der Woche der Vorzug zu geben. Vorwärts rotierende Schichtsysteme (Früh-, Spät-, Nachtschicht) sind besser als rückwärts rotierende
• • •
Arbeitszeitsysteme (Nacht-, Spät-, Frühschicht). Bei einer großen Arbeitsbelastung sollte die Schichtdauer verkürzt werden. Die Frühschicht sollte nicht um 6:00 Uhr, sondern erst um 7:00 Uhr beginnen. Schichtpläne sollten vorhersehbar sein und nicht kurzfristig durch den Arbeitgeber geändert werden.
In der arbeitswissenschaftlichen Literatur finden sich noch folgende weitere Empfehlungen:
• Auf eine Nachtschicht sollte eine möglichst lange • •
Ruhepause folgen. Diese sollte länger als 24 Stunden sein. In der Nachtschicht sollten die Leistungsanforderungen verringert werden. Dies schließt den Verzicht auf Leistungsanreize ein. Für Nachtarbeiter sollten zusätzliche betriebsärztliche Maßnahmen ergriffen werden. Das Recht auf arbeitsmedizinische Untersuchungen regelt § 6 ArbZG.
Eine Möglichkeit zur Berücksichtigung möglichst vieler dieser Empfehlungen liegt im Übergang von einem 3-Schicht- auf ein 4-Schicht- oder 5-Schichtsystem. Die zunehmende Verbreitung flexibler Arbeitszeiten lässt sich u.a damit begründen, dass im Interesse kurzer Lieferzeiten und einer hohen Liefertreue die Betriebsnutzungsdauer an die schwankende Nachfrage angepasst wird. Neue Produktions- und Logistikkonzepte wie Lean Production oder Justin-sequence verstärken diesen Trend. Ein weiterer Grund liegt in der relativen Zunahme von Dienstleistungen. Diese richten sich in der zeitlichen Gestaltung nach den Kundenwünschen. Erfahrbar ist dies nicht nur im Einzelhandel, sondern auch bei industrienahen Dienstleistungen. Hier wird häufig in Projekten gearbeitet, die ebenfalls eine zeitliche Flexibilität erfordern. Hinzu kommen eine größere gesellschaftliche Akzeptanz von flexiblen Arbeitszeiten und nicht zuletzt auch das Interesse der Beschäftigten an einer flexibleren Verfügung über ihre Zeit.
7.7 Arbeitszeitgestaltung
Bereich Länge des Gleitrahmens
Verhältnis Kernzeit / Gleitspanne
Schwankungsbreite der Zeitkonten
Beispiele 9 Std. 10 Std. … 7 Std. / 9 Std 5 Std. / 10 Std. keine Kernzeit …
+ 20 Std. / - 20 Std. +100 Std. / - 50 Std. …
Bereich
Beispiele
Mitbestimmung des Arbeitnehmers
selbstbestimmte Arbeitszeit fremdbestimmte Arbeitszeit nach Absprache
Ausgleichsmodus
nach Absprache automatisch Ampelmodell …
Ausgleichszeitraum für Zeitguthaben
wöchentlich monatlich jährlich …
Ausgleichsumfang für Zeitguthaben
stundenweise halbtags tageweise …
7
Bild 7.12: Gestaltungsbereiche der gleitenden Arbeitszeit © IFA 14.808_B
Die Möglichkeiten einer flexiblen Gestaltung der 14.808 B Arbeitszeit sind recht vielfältig. Seit langem bekannt sind Überstunden und Bereitschaftsdienste. Relativ neu sind Modelle der gleitenden Arbeitszeit, die Vertrauensarbeitszeit sowie längerfristige Arbeitszeitkonten und Jahres- oder Lebensarbeitszeitmodelle. Als Instrument zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten haben auch heute noch die Überstunden die größte Verbreitung. An deren Stelle treten aber zunehmend flexiblere und für den Arbeitgeber kostengünstigere Lösungen. Als ein häufig praktiziertes Modell wird im Folgenden die gleitende Arbeitszeit und als ein umstrittenes Modell die Vertrauensarbeitszeit vorgestellt. Modelle der gleitenden Arbeitszeit beruhen auf Vereinbarungen, die einen Gleitzeitrahmen festlegen, innerhalb dessen die Mitarbeiter ihre Arbeitszeit verteilen können (s. Bild 7.12 [u. a. nach Luc98; Mar94]). Meist werden zudem eine Kernzeit mit Anwesenheitspflicht sowie eine erlaubte Schwankungsbreite der Zeitkonten festgehalten. Ziele der Gestaltung
von Gleitzeitmodellen sind eine optimale Flexibilität der Arbeitszeitgestaltung und eine hohe Zeitsouveränität der Mitarbeiter. Die größte Flexibilität versprechen große Schwankungsbreiten und lange Ausgleichszeiträume. Die Folgen einer Gleitzeitregelung sind jedoch recht komplex und situationsabhängig. Beispielsweise können bei einem Konto mit einer sehr großen Schwankungsbreite bei Erreichen der Schwankungsgrenzen starke Handlungszwänge entstehen. Aus der Perspektive der Mitarbeiter ist die gleitende Arbeitszeit dann attraktiv, wenn die Mitarbeiter selbst die Lage und Länge der Arbeitszeit wählen können oder hierbei zumindest mit entscheiden. Eine größere Zeitsouveränität lässt sich zudem erreichen, wenn die Mitarbeiter flexibel den Umfang und den Ausgleichszeitraum für den Ausgleich positiver Zeitkonten wählen können. Ein weiterer Regelungsbereich ist der Ausgleichsmodus. Dieser kann in einer Absprache zwischen
229
7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
7
Arbeitnehmer und Arbeitgeber bestehen. Dieser Modus allein reicht dann nicht mehr aus, wenn die Grenze eines Schwankungsbereiches erreicht wird. Für diesen Fall werden sogenannte Ampelmodelle praktiziert, die abgestufte Handlungszwänge für den Kontenausgleich enthalten. Ein möglicher Modus ist der automatische Ausgleich, der erfolgt, sobald die Grenze des Schwankungsbereiches erreicht wird. Weiterhin zu regeln ist der Ausgleichszeitraum, in dem das Konto die Nulllinie erreichen muss. Üblich sind längere Perioden wie ein halbes oder ein Jahr. Die Vertrauensarbeitszeit ist dadurch gekennzeichnet, dass die Zeiterfassung abgeschafft wird und die Mitarbeiter stattdessen eigenverantwortlich ihre Arbeitszeit regulieren. Entscheidend für die Bewertung der Arbeitsleistung ist das Arbeitsergebnis, für das die Mitarbeiter die Verantwortung tragen. Da die Vertrauensarbeitszeit hochgradig unbürokratisch und flexibel ist, bietet sie große Chancen sowohl für den Arbeitgeber als auch den Arbeitnehmer. Dennoch ist die Vertrauensarbeitszeit vor allem in Gewerkschaftskreisen sehr umstritten. Kritiker befürchten eine Ausweitung der Arbeitsstunden, da die Schutzfunktion geregelter Arbeitszeiten entfällt und die Ergebnisverantwortung die Mitarbeiter zu einer „Selbstausbeutung“ und zum Verlust solidarischer Verhaltensweisen im Betrieb verleiten könnte. Wie eine Untersuchung zeigt, ist die „ungebremste Leistungssteigerung“ jedoch eine seltene Ausnahme [Böh04]. Vermehrt ist die ungeplante Fortschreibung einer Gleitzeitregelung zu beobachten, die meist vor der Einführung der Vertrauensarbeitszeit praktiziert wurde. Häufiger als die ungebremste Leistungssteigerung ist zudem die Realisierung von Vorteilen auf betrieblicher und Arbeitnehmerseite. Als entscheidend für die Einführung einer Vertrauensarbeitszeit, die sowohl zeitliche Flexibilität als auch Zeitsouveränität der Mitarbeiter erlaubt, sind Ausgleichsregelungen zu sehen, die eine Überlastung der Mitarbeiter verhindern. Als effizient haben sich folgende Maßnahmen erwiesen [Böh04]:
• Die
Ermöglichung einer individuellen Zeitdokumentation,
230
• virtuelle Ampelkonten, die abgestuft Handlungs• • • •
bedarf anzeigen, die Einrichtung eines Gremiums zur Klärung strittiger Fragen und Reklamationen (ClearingStelle), die Ermöglichung von bezahlter Mehrarbeit, optionale Modelle, die eine Rückkehr in die Zeiterfassung ermöglichen, verstärkte Anstrengungen zur Teamentwicklung mit dem Ziel einer Förderung solidarischer Verhaltensweisen.
Mit diesen Darlegungen sind die für den Fabrikplaner wesentlichen Aspekte der organisatorischen Arbeitsgestaltung abgeschlossen. Darüber hinaus ist aber die unmittelbare räumliche Arbeitsumgebung für eine zuverlässige und gesundheitserhaltende Arbeitsleistung von großer Bedeutung. Sie wird im folgenden Kapitel aus Sicht der Raumplanung behandelt.
7.8 [Ant94]
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7
231
7 Arbeitsorganisatorische Arbeitsplatzgestaltung
[Port68]
[Ric58]
[Rob01]
[Sch00] [Scha93] [Son01a]
7 [Son00]
[Son01b]
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Kapitel 8 Räumliche Arbeitsplatzgestaltung
8
234
8.1
Ergonomie
238
8.2
Raumausstattung
241
8.3 Farbgestaltung 8.3.1 Psychologische Farbwirkungen 8.3.2 Sicherheitsfarben, Kennzeichnung Medienleitung 8.3.3 Ganzheitliches Farbkonzept
242 242 243 243
8.4 Arbeitsschutz 8.4.1 Übersicht
244 244
8.4.2 8.4.3 8.4.4 8.4.5 8.4.6
Arbeitsstättenverordnung Mitbestimmung Tritt- und Absturzsicherheit Gefahrstoffschutz Lärmschutz und Lärmminderung 8.4.7 Wärme-, Kälte-, Vibrationsschutz 8.4.8 Elektrosicherheit und Strahlenschutz
244 246 247 248
8.5
252
Literatur
249 250 251
Bild 8.1:
Gestaltungsfelder und -elemente eines Arbeitsplatzes
237
Bild 8.2:
Aspekte der Arbeitsplatzgestaltung (nach REFA)
238
Bild 8.3:
Ergonomische Aspekte eines Arbeitsplatzes
239
Bild 8.4:
Sitz-Steharbeitsplatz (Bosch Rexroth)
239
Bild 8.5:
3D-Simulation eines Montagearbeitsplatzes (nach Modine)
240
Bild 8.6:
Mindestraumhöhen und Mindestlufträume für Arbeitsplätze (nach § 23 Arb. Stätt. V.)
241
Bild 8.7:
Zusammenhang der Arbeitsstätten-Verordnung und ArbeitsstättenRichtlinien mit anderen Gesetzen
244
Bild 8.8:
Übersicht Arbeitsstättenrichtlinien (nach Lehder)
245
Bild 8.9:
Prinzip der arbeitsrechtlichen Mitbestimmung (nach Dlugos)
247
Bild 8.10: Grenzwerte und technische Möglichkeiten zum Lärmschutz und zur Lärmminderung
248
Bild 8.11: Wärmeempfinden des Menschen bei zunehmender Wärmestrahlung (nach H. Peter)
249
Bild 8.12: Gefährdung von Bauwerken durch Schwingungen (nach Lehder)
250
8
235
Arbeitsplätze, technische Arbeitsmittel und Arbeitsorganisation sollten so gestaltet sein, dass im Rahmen einer auch ästhetisch anregenden räumlichen Umgebung sicherheits- und gesundheitsgerechtes Arbeiten gewährleistet ist. Aus Raum-Sicht bedeutet dies die Bereitstellung einer wandlungsfähigen, geordneten Struktur innerhalb des überschaubaren Sehfeldes eines Arbeitsbereiches. Arbeitsplätze müssen nach den Erkenntnissen der Ergonomie (von grch. ergon = Arbeit, Werk; nomos = Gesetz, Regel) menschengerecht gestaltet sein und optimale Arbeitsbedingungen bieten. Die Flächen und Wege am Arbeitsplatz sind auch mit Rücksicht auf Behindertengerechtigkeit zu gestalten. Je nach Anforderung des durchzuführenden Prozesses muss die Raumausstattung in Weiterführung eines geeigneten Raumzuschnitts durch Detaillösungen für Boden, Wand und Decke gestaltet werden sowie Hygiene, Reinigungsfreundlichkeit, Staubfreiheit und
ggf. Keimfreiheit gewährleisten. Eine ganzheitliche Farbgestaltung sollte alle Komponenten eines Arbeitsplatzes zu einem verbindlichen Gesamtkonzept zusammenführen. Genormte Sicherheitsfarben, Medienkennzeichnungen, psychologische Farbwirkungen sowie ästhetische Aspekte sind hierbei zu einer überzeugenden Farbharmonie zu integrieren. Besondere Vorkehrungen der Unfall-, Brand- und Schadensverhütung schützen Arbeitnehmer vor den Gefahren aus ihrer beruflichen Tätigkeit. Im Rahmen des Arbeitsschutzes sind daher bauliche und haustechnische Maßnahmen vorzusehen, um Gefährdungen aus Betriebseinrichtungen und Prozessen, Gefahrstoffen, Ver- und Entsorgungsmedien sowie Brand- und Explosionsgefahr zu vermeiden. Bild 8.1 zeigt die aus diesen Anforderungen resultierenden Gestaltungsfelder und Gestaltungselemente eines Arbeitsplatzes. Diese werden nachfolgend, auch in ihrer Bedeutung für die Wandlungsfähigkeit, näher beschrieben.
8
Bild 8.1: Gestaltungsfelder und -elemente eines Arbeitsplatzes © Reichardt 14.809_JR_B
237
8 Räumliche Arbeitsplatzgestaltung
8.1
Ergonomie
Ziel einer ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung ist die Anpassung der Arbeitsbedingungen hinsichtlich Aufgabe und Umweltbedingungen an die Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen. Die verlangte Mengenleistung ist dabei in ausreichender Qualität bei niedrigen Arbeitssystemkosten und einer für den Menschen dauerhaft erträglichen Belastung und Beanspruchung unter Beachtung der Arbeitssicherheit zu gewährleisten. Bei der Gestaltung der Arbeitsplätze sind zum einen gesicherte Erkenntnisse aus den Gebieten zu berücksichtigen, die Bild 8.2 im oberen Bildteil zusammenfasst, während die Umgebungsbedingungen durch die Raumplanung im Hinblick auf die im unteren Bildteil genannten Faktoren zu gestalten sind [Ref9].
8
Bei der anthropometrischen Gestaltung (grch. anthropos = Mensch) geht es um die den Körpermaßen entsprechende Anordnung von Werkstücken, Werkzeugen und Bedienelementen. Dabei sind die Beweglichkeitsbereiche, Reichweiten und Sehbereiche zu beachten, die sich aus den Skelett- und Umrissmaßen des Menschen einschließlich eventueller Schutzkleidung ergeben. Alle Arbeitsvorgänge sollten ohne große Anstrengung im Einklang mit den körperli-
chen Möglichkeiten verrichtet werden. Industriearbeitsplätze in bewegter Produktion, Werkbänke oder Bürotätigkeiten sollten natürliche Seh-, Greif- oder Bewegungsvorgänge fördern. Für die Arbeitsplatzgestaltung geht es um die den Körpermaßen entsprechende Anordnung von Werkstücken, Werkzeugen und Bedienelementen, eine Zusammenstellung findet sich in [Rüs06] und [Lan06]. Bild 8.3 zeigt hierzu zwei exemplarische Aspekte. Im Bild 8.3a wird das maximale und optimale Blickfeld thematisiert. Diese Merkmale sind besonders bei kurzzyklischen Arbeiten mit gleich bleibender Körperhaltung, wie sie z. B. bei Fließmontagearbeiten auftreten, zu beachten. Bild 8.3b zeigt einige Abstands- und Bewegungsmaße des Menschen. Sie sind bei der Bemessung von Stand- und Bewegungsflächen an Arbeitsplätzen sowie Verkehrswegen zu berücksichtigen. Behindertengerechte Arbeitsplätze sollten eine Selbstverständlichkeit darstellen, wozu die Zugänglichkeit zum Arbeitsplatz und die Anpassungsmöglichkeiten des Arbeitsplatzes gehören. Bild 8.4 zeigt einen nach ergonomischen Gesichtspunkten gestalteten Handarbeitsplatz, der wahlweise sitzendes oder stehendes Arbeiten erlaubt. Die den Werker umgebende Hülle kennzeichnet seinen Arbeitsraum. Unterschiedliche Körpergrößen wer-
Anthropometrie Arbeitsphysiologie des Arbeitsplatzes unter Berücksichtigung von
Gestaltung
Bewegungstechnik Informationstechnik Sicherheitstechnik Schall
der Arbeitsumgebung hinsichtlich
Schwingungen Klima Beleuchtung Farbe Stäube, Gase, Dämpfe
Bild 8.2: Aspekte der Arbeitsplatzgestaltung (nach REFA) © IFA 14.810_B
© Institut für Fabrikanlagen und Log
238
14.810 B
8.1 Ergonomie
8 Bild 8.3: Ergonomische Aspekte eines Arbeitsplatzes © Reichardt 14.811_JR_B
den durch einstellbare Sitzhöhen und Fußauflagen berücksichtigt. Die empfohlenen Abmessungen für den Bewegungsraum und den Montagetisch sind Bild 6.24 zu entnehmen. Die arbeitsphysiologische Arbeitsplatzgestaltung berücksichtigt vorrangig die Beanspruchung durch Muskelarbeit. Dabei sind einseitige dynamische Muskelarbeit, statische Haltearbeit und gebeugte und gebückte Körperhaltungen zu vermeiden. Die Beanspruchung ist unterhalb der Dauerleistungsgrenze zu halten. Diese entspricht einer menschlichen Leistung, die ohne nennenswerte Arbeitsermüdung und ohne gesundheitliche Schäden arbeitstäglich auf Dauer erbracht werden kann. Die Arbeitsplatzgestaltung nach Gesichtspunkten der Bewegungstechnik folgt den drei Grundprinzipien Bewegungsvereinfachung, Bewegungsverdichtung sowie Teilmechanisierung und Automatisierung. Die Bewegungsvereinfachung baut auf den fünf Be-
Bild 8.4: Sitz-Steharbeitsplatz (Bosch Rexroth) © IFA 10.336SW_B
239
8 Räumliche Arbeitsplatzgestaltung
8
wegungselementen Fügen, Greifen, Verrichten, Hinlangen und Bringen auf. Es wird eine zeitminimale Reihenfolge dieser Bewegung unter Vermeidung schwieriger Bewegungen hinsichtlich Zielgenauigkeit und Sorgfalt angestrebt. Dies geschieht durch Verkürzung der Bewegungslängen und die entsprechende Anordnung der Betriebsmittel. Die Bewegungsverdichtung kann durch gleichzeitiges Ausführen gleicher oder unterschiedlicher Bewegungen mit beiden Händen und durch die Beseitigung unproduktiver, d. h. nicht wertschöpfender Tätigkeiten eine weitere Steigerung erreichen. Eine Teilmechanisierung und Automatisierung sollte erst oberhalb der maximal möglichen Bewegungsverdichtung beginnen, da der weiteren Zeitersparnis überproportionale Investitionen gegenüberstehen. Die informationstechnische Gestaltung befasst sich mit dem Informationsfluss zwischen Mensch, Betriebsmittel, Arbeitsgegenstand und Arbeitsumgebung, vorwiegend durch optische und akustische Signale. Dabei bestimmt die sichere Wahrnehmung und eindeutige Identifizierung die Anordnung und Gestaltung von Anzeigegeräten und Bedienelementen einer Maschine, aber auch die Gestaltung von Bildschirmmasken.
Die sicherheitstechnische Arbeitsplatzgestaltung dient der Unfallverhütung und der Verhinderung von Berufskrankheiten. DIN 31000 unterscheidet zwischen unmittelbarer, mittelbarer und hinweisender Sicherheitstechnik [DIN79]. Die unmittelbare Sicherheitstechnik vermeidet durch die konstruktive Ausführung von vornherein eine Gefährdung und hat Vorrang vor den weiteren Stufen. Die mittelbare Sicherheitstechnik sieht möglichst integrierte Schutzmaßnahmen an Gefahrenstellen vor, an denen die Möglichkeit einer Verletzung besteht. Dabei ist auf die Einhaltung der erforderlichen Sicherheitsabstände zu achten, um die Gefahrenstelle unzugänglich zu machen. Da sich Gefahrenstellen an Arbeitsplätzen nie ganz ausschließen lassen, sind diese durch Sicherheitszeichen oder Warneinrichtungen zu kennzeichnen und gegebenenfalls Körperschutzmittel bereitzustellen. Eine Übersicht über Maßnahmen der sicherheitstechnischen Arbeitsplatzgestaltung ist in [Leh05] und [Rüs07] zusammengestellt. Zur Erleichterung des Gestaltungsprozesses von Arbeitsplätzen unter ergonomischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten insbesondere in der manuellen Montage wurden verschiedene rechnerunterstützte Verfahren entwickelt. Durch die Modellierung des
Bild 8.5: 3D-Simulation eines Montagearbeitsplatzes (nach Modine) © Reichardt 14.812_JR_B
240
8.2 Raumausstattung
8 Bild 8.6: Mindestraumhöhen und Mindestlufträume für Arbeitsplätze (nach § 23 Arb. Stätt. V.) © Reichardt 14.813_JR_B
Menschen hinsichtlich seiner Körpermaße und Bewegungsbahnen sowie die Integration der Arbeitsplatzeinrichtung und Bereitstellungsmittel für Teile und Werkstücke in ein Arbeitsplatzmodell können – teilweise mit algorithmischer Unterstützung – günstige Anordnungen gefunden und dreidimensional dargestellt werden. Mittlerweile sind ausgereifte Modellierungs- und Simulationssysteme mit realitätsnaher Personendarstellung verfügbar. Bild 8.5 zeigt als Beispiel die mithilfe eines Simulationsprogramms erzeugte Darstellung eines Montagearbeitsplatzes, der in den Materialfluss einer größeren Anlage eingebunden ist.
8.2 Raumausstattung Am Arbeitsplatz sollte eine ausreichende Raumhöhe und ein Mindestluftraum für jeden ständig anwesenden Arbeitnehmer vorgesehen werden. Nach Bild 8.6
sind in Abhängigkeit von der Grundfläche des Arbeitsraumes entsprechend § 23 der Arbeitsstättenverordnung lichte Raumhöhen von mindestens 2,50 m bis über 3,25 m einzuhalten. Bei flexiblen Arbeitsplätzen mit variablen Grundflächen der Räume sollten die lichten Höhen weitsichtig ausgebildet werden. Ähnlich verhält es sich mit den Mindestlufträumen je Arbeitnehmer. Bei flexiblen, wandlungsfähigen Arbeitsplätzen sollten zumindest 15 m3 Luftraum je Person bereitgestellt werden. Die Medienführung am Arbeitsplatz sollte im Rahmen einer ordnenden Systemplanung variable Zuführungen und Auslässe für wechselnde Arbeitsplatzanordnungen ermöglichen. In der Halbleiterindustrie kann die Reinraumtechnik die Zuordnung spezieller Medien erfordern. Bei der Möblierung sind modular aufgebaute, variable Schrank- und Tischsysteme zu bevorzugen. Die Möbel sollten leicht zu bewegen sein, beständige und reinigungsfreundliche Oberflächen besitzen und über integrierte Installationsräume für Elektroleitungen, EDV und Telefon verfügen.
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8 Räumliche Arbeitsplatzgestaltung
8.3 Farbgestaltung
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„Zum Leben braucht der Mensch die Farbe. Sie ist ein ebenso notwendiges Element wie das Wasser und das Feuer“ (Fernand Léger). Farben wirken direkt über die im Auge erzeugten Reize auf das Zwischenhirn. Die physiologischen wie psychologischen Auswirkungen auf den arbeitenden Menschen sind vielfacher Art. Daher sollte die Farbgestaltung alle Komponenten wie Betriebsmittel, Gebäude, Medien und Einrichtung zu einem räumlich stimmigen Gesamtkonzept integrieren. Positive Auswirkungen auf die Mitarbeiter liegen in der Steigerung von Arbeitsfreude und Arbeitsleistung, Verbesserung von Betriebsklima und Sicherheit sowie in Anregungen zur Ordnung und Hygiene. Ein ganzheitliches Farbkonzept führt psychologische Farbwirkungen, Vorgaben für Sicherheitsfarben und die Kennzeichnung von Medienleitungen zu einer ästhetisch wie funktional überzeugenden Farbharmonie zusammen.
8.3.1 Psychologische Farbwirkungen In unserer Sprache haben sich verschiedene Fachwörter zum Ausdruck von Gemütsbewegungen eingebürgert. Viele sind schon einmal „kreidebleich“ geworden und haben sich erst wieder wohl gefühlt, wenn sie etwas „Farbe bekommen haben“. Zeitweise können wir „rot sehen“ oder „blau sein“, und man sollte lieber immer eine „weiße Weste“ anhaben. Weitere Phänomene von Farben sind bei [Gek07] zusammengestellt. Da die Gefühlscharaktere verschieden sind, werden bestimmte bevorzugte Farben für Kleidung oder Einrichtungsgegenstände ausgewählt, die entweder zur Betonung der persönlichen Note dienen oder durch ihre lebhaften oder ruhigen Töne – je nachdem was der betreffende Mensch braucht – das Wohlbefinden des Individuums heben. Den Grundfarben werden von Farbforschern charakteristische Eigenschaften zugeschrieben: Rot: Die Farbe des Feuers und des Blutes, Ausdruck von Leben und Tatkraft. Rot ist untrennbar mit Leidenschaft, Hitze, Zorn und Krieg verbunden. Sie gilt als eine anregende Farbe. Blau: Die Farbe des tiefsten Eises. Rein gefühlsmäßig verbindet man sie mit Unbegrenztheit – die kalte
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Weite des Raumes, Unendlichkeit. Blau spricht den Intellekt an, während Rot auf die Gefühlssphäre wirkt. Im symbolischen Sinne ist blau die Farbe der Wahrheit, die einer ruhigen Überlegung und niemals einer übereilten Entscheidung entspricht. Gelb: Die hellste der Grundfarben, die Farbe der Sonne und Ausdruck des Glanzes, des Strahlens und der Lebhaftigkeit. Ebenso wie Rot gilt Gelb als „maskuline“ Farbe, während Grün, Blau und Violett als „feminin“ betrachtet werden. Orange: Es ist eine Mischung aus Rot und Gelb und vereinigt daher das Kraftvolle im Rot mit dem leuchtend hellen Glanz des Gelbs. Grün: Eine Mischung aus Blau und Gelb; als Farbe der Natur bedeutet sie Heiterkeit, Auferstehung, Ruhe. Symbolisch ist es die Farbe der Hoffnung. Purpur: Eine Mischung aus Rot und Blau, an die sich Vorstellungen wie Pracht, Prunk und königliche Würde knüpfen; aber es hat wie Grün einen beruhigenden und besänftigenden Einfluss. Raum und Verhalten stehen in Beziehung zueinander. Ein Aktivitätsraum kann Verhalten beeinflussen, indem er Gegensätze gegeneinander ausspielt. Die Farbgestaltung eines Arbeitsraumes sollte sich nach der Art des Arbeitsvorgangs richten. Bei monotoner Arbeit ist die Anwendung einiger anregender Farbelemente im Raum empfehlenswert. Dabei sollten aber nicht große Flächen (Wände, Decken) mit einer anregenden Farbe versehen werden, sondern nur einige Elemente (z.B. Säule, Tür). Ist der Arbeitsraum groß, dann kann man ihn mit besonderen Farbelementen räumlich unterteilen. Stellt die in einem Arbeitsraum ausgeübte Tätigkeit hohe Anforderungen an die Konzentration, sollte die Farbgebung eher zurückhaltend sein, um unnötige Ablenkungen zu vermeiden. In diesem Fall sind Wände, Decke und andere Bauelemente mit möglichst hellen, farblich kaum wahrnehmbaren Tönen zu versehen. Für die Schaffung von Farbkontrasten ist zwischen der Farbgebung größerer Flächen (Wände, Möbel, etc.) und kleiner Flächen (Blickfänge für Knöpfe, Griffe, Hebel, etc.) zu unterscheiden. Für größere Flächen sollten Farben gewählt werden, die einen ähnlichen Reflexionsgrad aufweisen. Außerdem sollen bei größeren Flächen oder Gegenständen keine leuchtenden Farben verwendet werden, da sie die Netzhaut einseitig bean-
8.3 Farbgestaltung
spruchen, was sich in der Erzeugung von Nachbildern äußern kann. Die Orientierung und visuelle Erfassung des Arbeitsgutes wird durch die Schaffung eines Farbkontrastes zwischen Arbeitsgut und unmittelbarer Umgebung (Arbeitstisch oder Maschine) erleichtert. Auch hier sind Helligkeitsunterschiede zu vermeiden. Das „Erscheinungsbild“ Architektur, der sinnliche, optische Eindruck wird primär von der Farbe der Materialien und deren Struktur bestimmt. Es besteht also ein direkter Zusammenhang zwischen der Wahl des Baustoffes und dem Erscheinungsbild des fertigen Gebäudes. Im Außenraum bestimmt entweder die Eigenfarbigkeit von Materialien wie Sichtbeton, Metall, Holz, Naturstein, Kunststoff oder eine farbliche Beschichtung den Charakter eines Gebäudes. Im Innern des Gebäudes spielt die Materialwahl in Bezug auf die Behaglichkeit eine große Rolle. Neben der Farbigkeit der Materialien sind Stofflichkeit und Oberflächenstruktur (visuelle und haptische Wahrnehmung) wichtige Kriterien für das „Raumklima“. So haben beispielsweise lackierte Wände einen anderen Charakter als solche mit mattem Anstrich.
8.3.2 Sicherheitsfarben, Kennzeichnung Medienleitung In den meisten Ländern sind heute bestimmte Farben zur Kennzeichnung definierter Gefahren vorgeschrieben. Diese Vorbelegung einer Farbe mit einer bestimmten Information fördert die Entwicklung einer automatischen Schutzreaktion. Ähnlich der Ampelkodierung im Straßenverkehr regelt in Deutschland die DIN 4818 verbindliche RAL-Farben für bestimmte Gefahren. RAL steht für „Ausschuss für Lieferbedingungen und Gütesicherung (ursprünglich Reichsausschuss für Lieferbedingungen), der u. a. Farb-Codes festlegt (http//:ral. de). Die Farbe RAL 1004 (Goldgelb) signalisiert Vorsicht und weist auf mögliche Gefahren bei Transportbändern, Verkehrswegen und Treppenstufen hin. Brandbekämpfungseinrichtungen sollten in RAL 3001 (Signalrot) gekennzeichnet werden. Wie im Straßenverkehr steht Signalrot für Verbot, Halt, Gefahr. RAL 5010 (Enzianblau) hat nach DIN 4844 eine Gebotsfunktion und dient als Hinweiszeichen mit zusätzlichen sicherheitstechnischen Anweisungen für z.B. Lärmschutz. RAL 6001
(Smaragdgrün) signalisiert Gefahrlosigkeit und erste Hilfe. Diese Farbe findet Anwendung auf Piktogrammen für Fluchtwege, Türen der Notausgänge sowie Räumen und Geräten zur ersten Hilfe. In Ergänzung der Farbe von Brandbekämpfungseinrichtungen sind in DIN 2403 Kennzeichnungen von Medienleitungen festgelegt. Viele Unternehmen haben auf dieser Grundlage Werksvorschriften mit eigenen Kodierungen für Prozessmedien und Gebäudemedien erarbeitet. Sinnvollerweise ist auch die Flussrichtung der Medien durch z.B. entsprechende Banderolen anzugeben.
8.3.3 Ganzheitliches Farbkonzept Die Betriebsstätte als Ganzes sowie Arbeitsbereiche bis hin zu einzelnen Arbeitsplätzen sollte eine geordnete optische Struktur darstellen. Dabei verdeutlicht und unterstreicht die Farbgebung die Orientierung, Raumform, Anordnung der Betriebsanlagen und Beleuchtung. Hilfreiche Ordnungsprinzipien sind Achsen, Bezugsebenen, Gruppen oder geometrische Muster. Prozessfolgen können durch Linien oder Reihung verdeutlicht werden. [Ben07] bezieht in Erweiterung der eigentlichen Betriebsstätte ausdrücklich auch das Umfeld der Nachbarschaft von Industriebauten in ein ganzheitliches Farbkonzept ein. Neben den allgemeinen Raumwirkungen als Begrenzungsflächen der Bauteile des Gebäudes spielen die Farben der Maschinen und Einrichtungsgegenstände im funktionalen wie ästhetischen Bezug eine große Rolle. Psychologische Farbwirkungen, Sicherheitsfarben, Medienkennzeichnung und übergeordnete Unternehmensfarben sollten zu einem funktionellen wie ästhetisch überzeugenden Ganzen zusammengeführt werden. Oft erweist sich zwecks Herausarbeitung einer beabsichtigten Identität eine Differenzierung in akzentuierte Leitfarben und zurückhaltende Nebenfarben als sinnvoll. Hierzu bietet sich eine ganzheitliche Farbsimulation von Prozess, Gebäude, Medien und Einrichtung am 3D-Modell an. Herkömmliche Studien benutzen Farbkollagen zur Entwicklung von Farbharmonien. Die Vorteile der Farbstudien am 3D-Modell liegen in der Raumwirkung frei wählbarer Standorte der Betrachtung,
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243
8 Räumliche Arbeitsplatzgestaltung
Arbeitsstätten-Verordnung und Arbeitstättenrichtlinien berühren folgende Gesetze und gesetzesähnliche Vorschriften
Gewerbe-Ordnung (GewO) §120a Betriebssicherheit §120c Gemeinschaftsunterkünfte §120f Ermächtigungen §139g Befugnisse Arbeitssicherheitsgesetz §3 Betriebsarzt §6 Sicherheitskräfte
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) §618-619 : unabdingbare Schutzvorschriften beim Dienstvertrag
Arbeitsschutzvorschriften z.B. : Arbeitsstoff V. J. Arb. Sch. G Mu. Sch. G. MAX-Werte
Handelsgesetzbuch (HGB) §62 : Fürsorgepflicht des Arbeitgebers
Unfallverhütungsvorschriften Maschinenschutzgesetz
Betriebsverfassungsgesetz (BetrVerfG) §87 Mitbestimmung §89 Arbeitsschutz §90 Beratungsrecht §91 Mitbestimmung
Bauordnungsrecht der Länder
tarifvertraglich vereinbarte Regelungen
Sie verpflichten den Arbeitgeber bei der Arbeitsstättengestaltung zur Beachtung von:
allgemein anerkannten Regeln der - Sicherheitstechnik - Arbeitsmedizin und - Hygiene
arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sie z.B. vom Fachnormenausschuss Ergonomie im DIN dargestellt sind oder noch dargestellt werden
Bei der Durchführung dieser Aufgaben wirken mit:
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innerbetrieblich Fachkräfte
Vorgesetzte
außerbetrieblich Betriebsrat
Aufsichtsbeamte der Gewerbeaufsicht und Berufsgenossenschaft
Bild 8.7: Zusammenhang der Arbeitsstätten-Verordnung und Arbeitsstätten-Richtlinien mit anderen Gesetzen © IFA D3823_B
realistischer Farbverteilung von Leitfarben und Nebenfarben sowie in der Möglichkeit einer vergleichenden Bewertung von Farbvarianten. Besonders wichtige Bereiche, wie z.B. ein Foyer, können mittels Eingabe der Reflexionsgeraden der Materialien und Berechnung aller Licht- und Schattenwirkungen fotorealistisch simuliert werden.
8.4 Arbeitsschutz
8.4.1 Übersicht Für die Fabrikplanung und den Fabrikbetrieb spielt eine große Zahl von Vorschriften, Gesetzen und Verordnungen eine wichtige Rolle, die in ihren Grundzügen auch dem Fabrikplaner und in bestimmten
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Details insbesondere dem Architekten vertraut sein müssen. Dabei sind zwei Bereiche von besonderer Bedeutung, weil sie deren Tätigkeitsbereiche unmittelbar berühren. Zum einen hat der Gesetzgeber den Schutz des Arbeitnehmers in der gewerblichen Wirtschaft stark ausgebaut und die Einrichtung und den Betrieb gewerblicher Arbeitsstätten detailliert mit Verordnungen und Richtlinien belegt. Zum anderen bedeutet die gesetzliche Mitbestimmung eine weit reichende Beteiligung des einzelnen Arbeitnehmers und des Betriebsrats in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Belangen. Zunehmend berühren jedoch auch umweltrechtliche Aspekte den betrieblichen Ablauf.
8.4.2 Arbeitsstättenverordnung Eine Übersicht über die wesentlichen Gesetze und Vorschriften zu Arbeitsstätten vermittelt Bild 8.7 [Ave76]. Man erkennt, dass neben der Gewerbeord-
8.4 Arbeitsschutz
nung noch allgemeine Berührungspunkte zum Bürgerlichen Gesetzbuch, zum Handelsgesetzbuch und zum Betriebsverfassungsgesetz bestehen und dass spezielle Beziehungen durch das Arbeitssicherheitsgesetz, die Arbeitsschutzvorschriften, das Maschinenschutzgesetz, die Unfallverhütungsvorschriften, das Bauordnungsrecht und gegebenenfalls speziell tarifvertraglich vereinbarte Regelungen bestehen. Die Verordnung über Arbeitsstätten (ArbStättV) [Arb04] trat am 1. Mai 1976 in Kraft (zuletzt geändert durch Verordnung vom 24.08.2004) und stellt zusammen mit den Arbeitsstättenrichtlinien (ASR) [ASR06] das bisher letzte Glied der Arbeitsschutzgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland dar. Sie fasst zahlreiche geltende Einzelvorschriften des Arbeitsstättenrechts zusammen, modernisiert sie und ergänzt sie durch die neuesten Erkenntnisse des Arbeitsschutzes, der Arbeitsmedizin, der Arbeitshygiene und der Arbeitswissenschaft. Neu hinzugekommen ist der
Nichtraucherschutz. Die Verordnung gilt für alle Arbeitsstätten in Industrie, Handel und Dienstleistungsbetrieben [OSP05]. Gemäß §3 ArbStättV hat der Arbeitgeber die Arbeitsstätte einschließlich der dazu gehörenden Verkehrswege, Lager-, Maschinen- und Nebenräume, Erholungs-, Sanitär- und Sanitätsräume nach dieser Verordnung, den sonst geltenden Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften und nach den allgemein anerkannten sicherheitstechnischen, arbeitsmedizinischen und hygienischen Regeln sowie den sonstigen gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen einzurichten und zu betreiben. Die hier wesentlichen Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften sind sachbezogen, insbesondere die Verordnung für überwachungsbedürftige Anlagen, die Druckluftverordnung, die Arbeitsstoffverordnung, das Gesetz über technische Arbeitsmittel und die Strahlenschutzverordnung. Mehr personenbezogen sind demgegenüber das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG), das Mutterschutzge-
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Bild 8.8: Übersicht Arbeitsstättenrichtlinien (nach Lehder) © Reichardt 14.814_JR_B
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8 Räumliche Arbeitsplatzgestaltung
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setz (MuSchG) und die Unfallverhütungsvorschriften der gewerblichen Berufsgenossenschaften. Als allgemein anerkannte sicherheitstechnische, arbeitsmedizinische und hygienische Regeln gelten sowohl die einschlägigen Normen, VDI- und VDERichtlinien usw. als auch allgemein von Fachleuten anerkannte und in der Praxis bewährte Regeln. Sie sind insbesondere den 30 Arbeitsstättenrichtlinien (ASR) zu entnehmen, welche vom Bundesminister für Arbeit und Soziales veröffentlicht werden [ASR06]. Bild 8.8 zeigt eine Übersicht über die Arbeitsstättenrichtlinien. Sie betreffen hauptsächlich Belichtung, Raumklima, Ausbauten und Sozialbereiche. Diese Richtlinien stellen zwar keine rechtsverbindlichen Vorschriften dar, jedoch darf von ihnen und den übrigen anerkannten Regeln nur abgewichen werden, wenn Maßnahmen getroffen werden, die ebenso wirksam sind. Ergänzt werden diese Vorschriften durch die Bauordnungen der Länder, die sich zum Teil auch mit diesen überschneiden [OSP05]. Die Kontrolle der Ausführung der Arbeitsstättenverordnung und der übrigen Rechtsvorschriften des Arbeitsschutzes obliegt den Bundesländern. Diese haben die Gewerbeaufsichtsämter und die Berufsgenossenschaften mit der Durchführung beauftragt. Mit der Richtlinie 89/391 EWG (ArbeitsschutzRahmenRL) des Rates der Europäischen Gemeinschaft vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Sicherheit und zum Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit gewinnt die Europäische Gesetzgebung an Bedeutung. Die Richtlinie verpflichtet Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen zu vorbeugenden Maßnahmen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes. Die entsprechenden Maßnahmen sind mit dem Qualitäts- und Umweltmanagement durch ein Arbeitsschutzmanagement umzusetzen [KKSW01, KuKi05]. Spezifische Betriebseinrichtungen und Prozesse sowie die Verarbeitung von Gefahrstoffen bedingen geeignete Ver- und Entsorgungsmedien. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Vermeidung von Brand- und Explosionsgefahr. Gefährdungen zu erkennen und zu bewerten ist eine wesentliche Voraussetzung, um die Beschäftigten vor Unfällen und
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arbeitsbedingten Gesundheitsbeeinträchtigungen zu schützen. Im Sinne des auch im Rahmen der Wandlungsfähigkeit betrachteten Themas des Arbeitsschutzes sind die gesetzlichen Anforderungen für Tritt- und Absturzsicherheit, Gefahrstoffe, Lärmschutz und Lärmminderung, Wärme-, Kälte-, Vibrationsschutz sowie Elektrosicherheit und Strahlenschutz zu erörtern. Zuvor soll jedoch kurz auf die Mitwirkung der Arbeitnehmer bei der Arbeitsplatzgestaltung eingegangen werden.
8.4.3 Mitbestimmung Wie bereits erwähnt, ist bei der Gestaltung von Arbeitsstätten die Einbeziehung der Arbeitnehmer und des Betriebsrats verbindlich vorgeschrieben. Bei den Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer und des Betriebsrates ist zunächst zwischen Mitwirkung und Mitbestimmung zu unterscheiden. Bei der Mitwirkung haben die Beteiligungsberechtigten das Recht der Information, der Anhörung oder der Beratung; die Entscheidung jedoch wird vom Arbeitgeber getroffen. Die Mitbestimmung bedeutet demgegenüber ein Mitentscheidungsrecht, wobei drei Formen zu unterscheiden sind: Beim Initiativrecht können vom Arbeitnehmer oder vom Betriebsrat bestimmte Maßnahmen verlangt bzw. erzwungen werden. Das Widerspruchsrecht ermöglicht dem Betriebsrat den Einspruch gegen Maßnahmen, die der Arbeitgeber selbständig treffen kann. Durch das Zustimmungsrecht schließlich ist die Zustimmung des Betriebsrats zu bestimmten Maßnahmen des Arbeitgebers erforderlich. In Bild 8.9 ist erkennbar, auf welche Angelegenheiten sich die Beteiligungsrechte von Arbeitnehmer und Betriebsrat erstrecken [Dlu80]. So besitzt der Arbeitnehmer Informations-, Anhörungs- und Initiativrechte, die sich auf seinen Arbeitsplatz, den Arbeitsablauf und seine Person beziehen. Der Betriebsrat hat darüber hinaus noch wesentlich erweiterte Gebiete der Beteiligung. Diese betreffen neben den allgemeinen, ihn selbst berührenden Aufgaben vor allem soziale und personelle
8.4 Arbeitsschutz
Arbeitsplatz
Beteiligungsebene
Beteiligungsberechtigte
Arbeitnehmer • Arbeitsplatz • Arbeitsablauf • Personalakte • Beschwerde
Mitwirkung
Beteiligungsrechte
Informationsrecht
Mitbestimmung
Beteiligungs angelegenheiten
Initiativrecht
Betrieb
Betriebsrat • allgemeine Aufgaben - Amtsobliegenheiten - Rechte - Beschwerdeverfahren
• soziale Angelegenheiten - Arbeitsbedingungen - Arbeitsschutz - Sozialeinrichtungen - Arbeitsplatzgestaltung - Arbeitsablauf - Arbeitsumgebung
• personelle Angelegenheiten - Arbeitsplatzausschreibung - Berufsbildung - Einstellung - Entlassung - Ein- und Umgruppierung - Versetzung - Grundsätze der Beurteilung
• wirtschaftliche Angelegenheiten - Wirtschaftsausschuss - Betriebsänderungen - Interessausgleich - Sozialplan - Nachteilausgleich
Anhörungsrecht Beratungsrecht
Widerspruchsrecht Zustimmungsrecht
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Bild© 8.9: der arbeitsrechtlichen Mitbestimmung (nach Dlugos) InstitutPrinzip für Fabrikanlagen und Log 14.815 Wd B © IFA 14.815_Wd_B
Angelegenheiten der Arbeitnehmer. Gemäß den Absichten des Gesetzgebers, den Arbeitnehmer vor eventuellen negativen Auswirkungen unternehmerischer Entscheidungen zu schützen, bestehen hier auch die stärksten Beteiligungsrechte. Wie die Aufzählung in den beiden Gruppen zeigt, wird hier eine intensive Information, Beratung und Zustimmung des Betriebsrates in allen Belangen der Arbeitsplatzgestaltung und der Arbeitsplatzbesetzung gesichert, die im Gesetz detailliert geregelt ist [Fit06]. Die Beteiligung in wirtschaftlichen Angelegenheiten ermöglicht dem Betriebsrat durch die Einrichtung eines Wirtschaftsausschusses, sich laufend über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens zu informieren sowie bei den personenbezogenen finanziellen Folgen größerer Betriebsveränderungen mitzuwirken. Als beherrschender Grundsatz des Betriebsverfassungsgesetzes ist schließlich das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zum Wohle der Arbeitnehmer und des Betriebes hervorzuheben. Kann in bestimmten Fällen keine Übereinstimmung zwischen Arbeitge-
ber und Betriebsrat oder Arbeitnehmer erzielt werden, ist zunächst eine Einigungsstelle anzurufen und erst dann das Arbeitsgericht. Wie bereits erwähnt, werden nun die für die Arbeitsplatzsicherheit wesentlichen Aspekte vertieft.
8.4.4 Tritt- und Absturzsicherheit Stürze durch Ausrutschen, Fehltreten oder Stolpern müssen durch entsprechende Gestaltung der Trittflächen vermieden werden. Unfälle entstehen meist durch mangelhafte Rutschsicherheit oder unzulässige Unebenheiten von Fußböden. Je nach Anforderung können feinraue, raue oder profilierte Oberflächen zweckmäßig sein. Nach DIN 51130 sowie berufsgenossenschaftlichen Richtlinien werden rutschhemmende Eigenschaften von Trittflächen mit R-Gruppen charakterisiert. Muss in Arbeitsräumen oder auf Freiflächen mit erheblichen Verschmutzungen gerechnet werden, ist die Profilierung der Böden von Bedeutung. Bei Trittflächen und Gehwegen sind Steigungen und Neigungen von mehr als 25 % sowie Stolperkanten größer 6 mm zu vermeiden. Absturz-
247
8 Räumliche Arbeitsplatzgestaltung
gefahr besteht bei Falltiefen größer 1,0 m; nach Arbeitsstättenverordnung und Arbeitsstättenrichtlinien müssen geeignete Umwehrungen den Absturz in Gefahrbereiche verhindern.
8.4.5 Gefahrstoffschutz
8
Luftgetragene Gefahrstoffe wie Gase, Dämpfe, Nebel, Rauch oder Stäube können über die Atmungsorgane, die Haut sowie den Magen-Darm-Trakt in den Körper gelangen. Das Chemikaliengesetz (ChemG) sowie die Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) regeln grundsätzliche Rechtsvorschriften. Die Technischen Regeln für gefährliche Stoffe (TRGS), Technische Regeln für gefährliche Arbeitsstoffe (TRgA) sowie die Technischen Regeln für brennbare Flüssigkeiten (TRbF) definieren spezielle Anforderungen. Zum Gesundheitsschutz der Beschäftigten sind die zulässigen Konzentrationswerte in der Luft am Arbeitsplatz (MAK-Werte) für verschiedene sogenannte Gewerbegifte gesetzlich geregelt.
Bauliche Schutzmaßnahmen beziehen sich insbesondere auf die unmittelbare Erfassung und Abführung der Gefahrstoffe am Entstehungsort sowie die besondere Gestaltung von Gefahrstofflagern. Gefahrstofflager müssen unter Berücksichtigung der TRGS-Vorschriften über besondere Brandschutzeinrichtungen, Sicherheitsabstände, Zufahrten für die Feuerwehr, Fluchtwege und Beleuchtung verfügen. Darüber hinaus muss auf Gefahrstoffe bei der Bauerstellung durch zunehmenden Einsatz chemischer Produkte als Baumaterial (z.B. Bitumen, Fußbodenkleber, Anstrichstoffe) hingewiesen werden. Im Sinne der Wandlungsfähigkeit der Nutzung ist der Einsatz von baubiologisch einwandfreien Materialien höchst ratsam. Viele Bauherren legen schon bei der Festsetzung der Zielprojektion für die Gebäudestruktur besonderes Gewicht auf den Einsatz baubiologisch unbedenklicher Materialien. Der generelle Verzicht auf Lösungsmittel oder PVC in den verwandten
Bild 8.10: Grenzwerte und technische Möglichkeiten zum Lärmschutz und zur Lärmminderung © Reichardt 14.816_JR_B
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8.4 Arbeitsschutz
Bild 8.11: Wärmeempfinden des Menschen bei zunehmender Wärmestrahlung (nach H. Peter) © Reichardt 14.817_JR_B
Bauelementen ist auch wirtschaftlich interessant, wird doch die Gesundheit der Mitarbeiter nachhaltig geschützt.
8.4.6 Lärmschutz und Lärmminderung In Betriebsstätten tritt häufig Lärm als unerwünschte Form des hörbaren Schalls auf. Die Gesamtlautstärke der als störend empfundenen Geräusche setzt sich aus Anlagengeräuschen und sonstigen Geräuschen zusammen. Anlagengeräusche entstehen aus Fertigungsprozessen und Fertigungseinrichtungen, Fördertechnik sowie technischer Ver- und Entsorgung. Sonstige Geräusche sind alle möglichen Störeinflüsse wie z.B. Hintergrundgeräusche im Raum oder Straßenlärm von außen. Die geräuschbedingten Schwingungen breiten sich wellenförmig in verschiedenen Medien aus (Luftschall, Körperschall, Flüssigkeitsschall). Häufig wird an Maschinen und bei Bearbeitungsvorgängen primär Körperschall erzeugt und dieser als Luftschall abgestrahlt; jedoch entsteht Luftschall auch unmittelbar durch Strömungsvorgänge an z.B. Auspuffanlagen, Düsen oder Lüftern. Wie-
derholt auftretender und lang andauernder Lärm wirkt belästigend und schädigt die Gesundheit, hochfrequente und impulshaltige Geräusche sind im Allgemeinen gefährlicher als niederfrequente und kontinuierliche Geräusche. Lärmschwerhörigkeit, Sicherheitsrisiken, geringere Arbeitsleistung mit erhöhten Fehlerquoten bis hin zu vegetativen Befindlichkeitsstörungen können sich als Folgen schädlicher Lärmemission einstellen. Lärmminderungsmaßnahmen sind der Einsatz lärmarmer Maschinen, Lärmminderung an der Quelle sowie Minderung der Luftschallübertragung. Nach [Fas03] mindern Zwischenlagen aus Gummi, Kork oder Kunststoffen die Weiterleitung vom Körperschall in festen Bauteilen. Eine weitere bauliche Maßnahme der Luftschalldämpfung ist die Absorption von Schallanteilen durch die Verkleidung von Decken- und Wandflächen sowie der Innenflächen von Schallschutzkapselungen durch weiche und offenporige Materialien geringer Dichte. Schallschutzkabinen und Schallschirme dienen vor allem der direkten Lärmminderung am Arbeitsplatz. Geschlossene Kabinen mit eigenem Lüftungssystem können den Schallpegel um bis zu 30 dB verringern.
8
249
8 Räumliche Arbeitsplatzgestaltung
Bild 8.10 zeigt in Anlehnung an [Sch96] Grenzwerte für Lärmschutz und technische Möglichkeiten der Lärmminderung. Im Sinne der Wandlungsfähigkeit sollten die baulichen Systeme der Lärmminderung generell flexibel, mobil und mit geringem Aufwand umbaubar sein.
8.4.7 Wärme-, Kälte-, Vibrationsschutz Einige Produktions- oder Lagerprozesse verursachen erhebliche Wärme- oder Kältebelastungen; Gefährdungen der Gesundheit von Menschen dürfen hieraus nicht entstehen. Gefährdungen entstehen aus extremen klimatischen Parametern, wärmeoder kältestrahlenden Oberflächen sowie direktem Körperkontakt mit extrem temperierten Oberflä-
chen, Flüssigkeiten und Gasen. Bild 8.11 zeigt den Zusammenhang von Wärmebelastung und Schmerzempfinden (nach Peter in [Poe85] S. 10). Besondere bauliche Maßnahmen bestehen in der Abschirmung gefährdender Strahlung durch Reflexion und Absorption mittels fester oder mobiler Trennwände, Schutzschirmen, Kettenvorhängen, Drahtgewebe, Reflexionsanstrichen und Klimaschutzgläsern. Zur Unterstützung einer erhöhten Behaglichkeit dienen auch lüftungs- und klimatechnische Maßnahmen. Betriebseinrichtungen, Transportmittel und Werkzeuge erzeugen während ihres Einsatzes mechanische Vibrationen. Diese übertragen sich über Kontaktstellen als Teilkörpervibrationen in Hände und Arme bzw. über Fußboden oder Sitz
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Bild 8.12: Gefährdung von Bauwerken durch Schwingungen (nach Lehder) © Reichardt 14.818_JR_B
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8.4 Arbeitsschutz
als Ganzkörpervibrationen. Bei Tätigkeiten hoher Konzentration oder Feinmotorik wirken spürbare Schwingungen lästig und leistungsmindernd; sie können gesundheitliche Schäden des Herzkreislaufsystems, der Nerven sowie des Knochenapparates fördern. Ein primärer technischer Vibrationsschutz vermindert oder beseitigt die Schwingungsursachen z.B. durch Verfahrenswechsel oder Einsatz anderer Betriebseinrichtungen. Beim sekundären technischen Vibrationsschutz wird das schwingende System so dimensioniert, dass die Schwingungen der vom Menschen berührten Gegenstände bei vorgegebener Eigenfrequenz möglichst gering bleiben. Bauliche Maßnahmen zur Verminderung von Schwingungsübertragung sind die Reduzierung der Eigenfrequenzen von Maschinen durch die Absetzung auf Federn oder Isolatoren aus Stahl, Gummi oder Kork. Dies bedingt flexible Anschlüsse für Medien- sowie Transportsysteme. Weiterhin müssen insbesondere bei Geschossbauten gefährdende dynamische Zustände beachtet werden, die sich aus der Anregung der Eigenfrequenz der Geschossdecken durch die Nähe zur Erregerfrequenz einer Betriebseinrichtung ergeben. Bild 8.12 zeigt den Zusammenhang von Schwingungsgeschwindigkeit, Eigenfrequenz und Gefährdung von Bauwerken [Leh05].
8.4.8 Elektrosicherheit und Strahlenschutz Elektrische Anlagen müssen zuverlässig einen unterbrechungsfreien und sicheren Betrieb gewährleisten. Umspann- und Gleichrichteranlagen sind in abgeschlossenen elektrischen Betriebsräumen unterzubringen. Schaltanlagen müssen gegen Berühren spannungsführender Teile sowie Eindringen von Fremdkörpern und Wasser gesichert sein. Gesundheitsgefahren erwachsen aus der elektrischen Durchströmung des menschlichen Körpers beim Berühren unter Spannung stehender Teile. Bei allen Maßnahmen, die einen Schutz durch automatische Abschaltung bewirken, ist im Gebäude ein Hauptpotenzialausgleich einzurichten. Dabei wird der
Schutzleiter über eine Potenzialausgleichsschiene mit metallischen Gebäudekonstruktionen, leitfähigen Teilen von Technikanlagen sowie metallischen Rohrleitungen verbunden. Neuere Forschungsergebnisse weisen auf den gesundheitsgefährdenden Einfluss von Elektrosmog am Arbeitsplatz hin. Darunter wird die unerwünschte Abstrahlung von technisch erzeugten elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern verstanden. Bei der Auswahl der Elektronikgeräte sollten geringe Anschlusswerte und strahlungsarme Komponenten, wie z.B. Flachbildschirme, bevorzugt werden. Strahlung tritt als elektromagnetische Strahlung sowie als Korpuskularstrahlung auf. Die wichtigste Strahlenquelle ist die Sonne. Gefährliche Wirkungen gehen vor allem von elektromagnetischen Strahlen mit Wellenlängen unter 10-8 m wie Röntgen- oder Gammastrahlen sowie von radioaktiven Korpuskularstrahlen aus. Die Intensität nimmt meist mit dem Quadrat der Entfernung von der Strahlenquelle ab. Entsprechende Schutzmaßnahmen sind unter Berücksichtigung der Eigenschaften der jeweilig auftretenden Strahlung zu planen. Bauliche Schutzmaßnahmen gegen Betastrahlen sind dünne Bleche, gegen Infrarotstrahlen reflektierende Flächen sowie gegen Funkwellen und technische Wechselströme Blechabschirmungen. Werkstoffe hoher Dichte, wie Bleiwände, werden zum Schutz vor Röntgen- und Gammastrahlen eingesetzt. Geräte und Anlagen, von denen eine gefährdende Strahlung hoher Intensität ausgeht, sollten bevorzugt in großer Entfernung von Aufenthaltsbereichen der Beschäftigten angeordnet werden. Eine wirksame Abschirmung bieten feste Trennwände aus Beton oder Ziegeln, flexible Wände aus Bleiziegeln oder mobile Schirme aus Blech oder textilen Werkstoffen. Mit diesen Ausführungen ist die Behandlung der Gestaltung auf Arbeitsplatzebene aus räumlicher Sicht abgeschlossen. Zusammen mit den Aspekten der funktionalen Arbeitsplatzgestaltung (Kap. 6) und organisatorischen Arbeitsplatzgestaltung (Kap. 7) fließen sie in die Gestaltung der Bereichsebene ein. Diese wird zunächst funktional betrachtet (Kap. 9), dann aus räumlicher Sicht (Kap. 10).
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8 Räumliche Arbeitsplatzgestaltung
8.5 Literatur rbeitsstättenverordnung: ArbStättV. A Bundesgesetzblatt Jg. 2004, Teil I, Nr. 44, S. 2149–2189 [ASR06] Arbeitsstättenrichtlinien. Vorschriften und Empfehlungen zur Gestaltung von Arbeitsstätten. Verlagsgesellschaft Weinmann, Filderstadt 2006 [Ave76] Avenarius, A., Pfützner, R.: Arbeitsplätze richtig gestalten nach der Arbeitsstättenverordnung, München 1976 [Ben07] Benad, M., Opitz, J.: Architekturfarben – Lehre der Farbgestaltung nach Friedrich Ernst v. Garnier. Verlag Anton Siegl, München 2007 [DIN79] Allgemeine Leitsätze für das sicherheitsgerechte Gestalten technischer Erzeugnisse. Beuth, Berlin Wien Zürich 1979 [Dlu08] Dlugos, G.: Mitbestimmung. In: Grochla, E. (Hrsg.): Handwörterbuch der Organisation. 2. Aufl., Stuttgart 1980 [Fas03] Fasold, W., Veres, E.: Schallschutz und Raumakustik in der Praxis – Planungsbeispiele und konstruktive Lösungen. 2. Aufl. Verl. Bauwesen, Berlin 2003 [Fit06] Fitting, K. u. a. (Hrsg.): Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), Handkommentar. 23. Aufl., München 2006 [Gek07] Gekeler, H.: Handbuch der Farbe – Systematik, Ästhetik, Praxis. 6. Aufl. Verl. DuMont Buchverlag, Köln 2007 [KK01] Kröger, D., Klauß, I.: Umweltrecht. Schnell erfasst. München Wien 2001 [KKSW01] Koether, R., Kurz, B., Seidel, U. a., Weber, F.: Betriebsstättenplanung und [Arb04]
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252
[KuKi05]
[Lan06]
[Leh05]
[OSP05] [Poe85]
[REf9]
[Rüs06]
[Rüs07]
[Sch96]
Ergonomie. Kap. 10.3: Arbeitsschutzmanagement, S. 335 ff., München Wien 2001 Kubitscheck, S., Kirchner, J.-H.: Kleines Handbuch der praktischen Arbeitsgestaltung: Grundsätzliches, Gestaltungshinweise, Gesetze, Vorschriften und Regelwerke, weiterführende Literatur. München Wien 2005 Lange, W., Windel, A.: Kleine Ergonomische Datensammlung. 11. Aufl. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2006 Lehder, G., Skiba, R.: Taschenbuch Arbeitssicherheit. 11. Aufl. Verl. Schmidt (Erich), Berlin 2005 Opfermann, R., Streit, W., Pernack, E. F.: Arbeitsstätten. 7. Aufl. Heidelberg 2005 Poeschel, E., Köhling, A.: Asbestersatzstoff-Katalog. Band 2: Arbeitsschutz. Schriftenreihe des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften e. V., Sankt Augustin 1985 R EFA (Hrsg.): Methodenlehre der Planung und Steuerung, 6 Bände, München 1991 Rüschenschmidt, H.: Ergonomie im Arbeitsschutz – menschengerechte Gestaltung der Arbeit. 2. überarb. Aufl. Verl. Technik und Information, Bochum 2006 Rüschenschmidt, H., Reidt, U., Rentel, A.: Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz – mit Ergonomie gestalten. 1. Aufl. Verl. Technik & Information, Bochum 2007 Schirmer, W.: Technischer Lärmschutz. VDI-Verlag, Düsseldorf 1996
Kapitel 9 Funktionale Arbeitsbereichs gestaltung
9.1
Übersicht über die Gestaltungsfelder
257
Kundenauftrags- entkopplungspunkt
258
9.3
Abwicklungsarten
260
9.4
Auftragsarten
261
9.5 9.5.1 9.5.2 9.5.3
Prozessmodelle Beschaffungsmodelle Produktionsmodelle Liefermodelle
262 262 265 265
9.2
9
254
9.6
Fertigungs- und Montageprinzipien
267
9.7
Produktionssegmente
269
9.8
Produktionsplanung und -steuerung
270
Auswahl und Konfiguration von Fertigungssteuerungsverfahren
274
Literatur
280
9.9
9.10
Bild 9.1:
Gestaltungsfelder der Fabrik aus Prozesssicht
257
Bild 9.2:
Bestimmung des Kundenauftragsentkopplungspunktes
258
Bild 9.3:
Abwicklungsarten von Aufträgen
259
Bild 9.4:
Auftragsarten
261
Bild 9.5:
Übersicht über gängige Beschaffungsmodelle
263
Bild 9.6: Informationsflüsse bei unterschiedlichen Produktionsmodellen (vereinfachte Darstellung)
264
Bild 9.7:
Struktur industrieller Fertigungsprinzipien
266
Bild 9.8:
Organisationsformen in der Montage (nach Eversheim)
268
Bild 9.9:
Beispiel einer segmentierten Fabrik (nach Brankamp)
269
Bild 9.10: Regelkreis der Produktionsplanung und -steuerung
270
Bild 9.11: Hauptaufgaben der PPS
271
Bild 9.12: Manufacturing Resource Planning (MRP II)
272
Bild 9.13: Modell der Fertigungssteuerung – Aufgaben und Wirkzusammenhänge
274
Bild 9.14: Zuordnung ausgewählter Steuerungsverfahren zu den Aufgaben der Fertigungssteuerung
275
Bild 9.15: Konfiguration der Fertigungssteuerung – Prozessanalyse und Zielfindung
276
Bild 9.16: Ausprägungen steuerungsrelevanter Merkmale
277
Bild 9.17: Konfiguration der Fertigungssteuerung
278
Bild 9.18: Konfiguration der Fertigungssteuerung – Ausgangslage in einem Praxisbeispiel
279
Bild 9.19: Konfiguration der Fertigungssteuerung – Praxisbeispiel
280
9
255
9.1
Übersicht über die Gestaltungsfelder
Aus Sicht der Arbeitsbereichsgestaltung bestehen verschiedene Möglichkeiten, auf die internen und externen Einflussgrößen der Fabrik zu reagieren und die Produktionsprozesse funktional zu gestalten, zu planen und zu steuern. Bild 9.1 zeigt die hier rele vanten Gestaltungsfelder, die sich an den Prozessen Beschaffung, Produktion und Lieferung orientieren. Im Zentrum der Betrachtungen steht zweifels ohne die Produktion. Sie ist konsequent nach der Wettbewerbsstrategie des Unternehmens und den Kundenanforderungen auszurichten. Zunächst ist unter Berücksichtigung von Lieferzeitanforderungen, Wiederbeschaffungszeiten und wirtschaftlichen Er wägungen festzulegen, welcher Teil der Produkte erst nach dem Vorliegen eines konkreten Kundenauftrages hergestellt wird und welcher Teil auf Lager zu fertigen ist. Dieser Punkt in der Produktion heißt Kundenauf tragsentkopplungspunkt. Aus dieser Entscheidung ergeben sich anschließend zentrale Anforderungen an die Art der Auftragsabwicklung. Weiterhin sind unter zusätzlicher Berücksichtigung der Produkt struktur und technologischer Restriktionen geeignete Fertigungs- und Montageprinzipien auszuwählen und
Lieferant
Unternehmen
Beschaffung • Auftragsauslösung • Art und Ort der Lagerhaltung • Anlieferungsform
ggf. Fertigungssegmente zu bilden. Schließlich ist die Planung und Steuerung für die Produktion derart zu konfigurieren, dass die geschaffenen Potenziale der Produktionsstruktur auch bestmöglich und nachhaltig umgesetzt werden. Die Produktion darf jedoch nicht losgelöst von den Beschaffungs- und Lieferprozessen gestaltet werden. Häufig beeinflusst der Kunde die Gestaltung der Produktion unmittelbar, wenn er beispielsweise eine stundengenaue Anlieferung fordert. Ebenso sind die Anforderungen der Beschaffung zu berücksichtigen, wenn z. B. mit dem Lieferanten vereinbart wurde, dass bestimmte Artikel mit einem Vorlauf von 2 Tagen angefordert werden können, andere jedoch selbst bevorratet werden. Mit der Wahl der Beschaffungs- bzw. Liefermodelle wird neben der Art der Auftragsauslösung insbeson dere auch festgelegt, wo und wie eine Lagerhaltung stattfinden muss, wie die Anlieferung erfolgt und wer für den Betrieb des Lagers verantwortlich ist. Diese Aspekte, die nachfolgend ausführlicher erläutert werden, sind bei der Arbeitsbereichsgestaltung inte griert zu berücksichtigen und müssen vom Fabrik planer in Zusammenarbeit mit der Logistik und Ar beitsvorbereitung bearbeitet werden. Dabei wird sich in der Praxis wegen der unterschiedlichen Produkte und ihren Absatzmärkten häufig eine Mischung aus
Produktion • Kundenentkopplungspunkt • Abwicklungsarten • Konfiguration der Produktion
9
Kunde Lieferung • Auftragsauslösung • Art und Ort der Lagerhaltung • Anlieferungsform
• Konfiguration der Produktionsplanung und -steuerung
Bild 9.1: Gestaltungsfelder der Fabrik aus Prozesssicht © IFA 14.964
257 © 2008 IFA
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
b) Fristenplan
a) Strukturstückliste
B B
M
F B
B
F
B
F
M
M
Anzahl Komponenten
ATZ B
Strukturstufen
B
M
B B F F
B
M
B M
F
B
Zeit
Gesamt-WBZ Produkt Lieferzeit Ziel
c) Kundenentkopplungspunkte
9
B
Beschaffungsteil
F
Fertigungsteil
M
Montagekomponente
ATZ
Zeit für Auftragsmanagement und Transport
WBZ
Wiederbeschaffungszeit Kundenauftragsentkopplungspunkt lt. Fristenplan
Anzahl Komponenten
ATZ
B B B
M
B B F F
M
B M
F
Gesamt-WBZ Produkt
Zeit
Lieferzeit Ziel
© 2008 IFA 14.965 Bild 9.2: Bestimmung des Kundenauftragsentkopplungspunktes © IFA 14.965
verschiedenen Beschaffungs-, Produktions- und Lie ferformen ergeben, die sich im Laufe der Zeit ändern können. Die Wandlungsfähigkeit der Fabrik wird also nicht nur von der Produktion, sondern auch von den Beschaffungs- und Liefermodellen bestimmt.
9.2 Kundenauftrags entkopplungspunkt Zentrales Kriterium für die Festlegung des Kunden auftragsentkopplungspunktes KEP (auch Customer Order Decoupling Point oder Order Penetration Point
258
genannt) ist das Verhältnis der geforderten Lieferzeit zur Wiederbeschaffungszeit des Produktes von der Materialbeschaffung bis zur Auslieferung. Insbesondere bei komplexeren Produkten wird der Kundenauftragsentkopplungspunkt im Allgemei nen nicht für das Produkt als Ganzes festgelegt, sondern es erfolgt eine differenzierte Zuordnung der Baugruppen und Einzelteile zu der Produktion vor bzw. nach dem KEP. Basis hierfür ist eine Pro duktstrukturanalyse, deren Schritte Bild 9.2 zeigt. Für ein betrachtetes Produkt bzw. einen Referenz vertreter je Produktklasse (gebildet nach Kriterien wie Kundenspezifität, Produktkomplexität, Dynamik der Nachfrage, Umsatzanteile usw.) wird der in der Strukturstückliste beschriebene Produktaufbau (Bild
9.2 Kundenauftragsentkopplungspunkt
9.2a) in einen sogenannten Fristenplan übertragen (Bild 9.2b). Dieser bildet alle relevanten Komponen ten mit ihren Wiederbeschaffungszeiten für die Kauf teile bzw. den Plandurchlaufzeiten für die Montage und Fertigung der Eigenfertigung über der Zeitachse ab. Ergänzend ist der Zeitanteil anzufügen, der für das Auftragsmanagement (von der Auftragsannahme bis zur Einstellung des Auftrages in das Planungsund Steuerungssystem) und den Transport bis zur Übergabe an den Kunden benötigt wird. Aus dem Fristenplan ergibt sich so die Gesamt-Wie derbeschaffungszeit für das Produkt. Wird zusätzlich die Ziel-Lieferzeit eingetragen (auch Lieferzeitfenster genannt), lässt sich erkennen, welche Komponenten auftragsanonym beschafft bzw. gefertigt und/oder montiert werden müssen. Bei diesen Komponenten liegt der Startzeitpunkt des zugehörigen Zeitelemen tes vor dem Beginn des Lieferzeitfensters. Sollten davon auch solche Komponenten betroffen sein, die speziell für einen Kundenauftrag beschafft bzw. her gestellt werden (sogen. kundenauftragsspezifische
Komponenten), so ist zu prüfen, ob sich durch Pro zessoptimierungen (z.B. Verkürzung von Liegezei ten) oder Strukturveränderungen der Beschaffung, Produktion oder Lieferung (z.B. durch einen Lieferan tenwechsel, ein Produktredesign oder die Wahl eines anderen Transportkanals) die Wiederbeschaffungs zeiten der von dieser Komponente direkt betroffenen Fertigungs- und Montageaufträge so weit reduzieren lassen, dass sich damit der Startzeitpunkt dieser Komponenten in das Lieferzeitfenster verschiebt. Ist dies nicht möglich, so muss die Ziel-Lieferzeit ent sprechend angepasst werden. Bei den Komponenten, bei denen der Startzeitpunkt innerhalb des Lieferzeitfensters liegt, besteht sowohl die Möglichkeit einer kundenauftragsbezogenen als auch einer kundenauftragsanonymen Beschaf fung bzw. Produktion. Unter Berücksichtigung der erforderlichen Versorgungssicherheit und der Wirt schaftlichkeit ist zu prüfen, welche der Alternativen sinnvoller ist. Wesentliche Kriterien sind hierbei die Mehrfachverwendung, die Bedarfsdynamik und der Wert der Komponenten.
9
auftragsanonyme Beschaffung
Fertigung und Montage auf Lager
auftragsanonyme Beschaffung
Fertigung auf Lager
auftragsanonyme Beschaffung
Belieferung aus Lager
auftragsbezogene Montage und Lieferung
Make-to-Stock (M-t-S)
Kunde
Lieferant
Abwicklungsart
auftragsbezogene Fertigung, Montage und Lieferung
Make-to-Order (M-t-O)
auftragsbezogene Konstruktion, Beschaffung, Fertigung, Montage und Lieferung
Beschaffung
Fertigung
auftragsanonymer Teil
Montage
auftragsspezifischer Teil
Assembleto-Order (A-t-O)
Engineerto-Order (E-t-O)
Lieferung
Kundenauftragsentkopplungspunkt
Bild 9.3: Abwicklungsarten von Aufträgen © 2008 IFA © IFA 12.061
259
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
Sind diese Entscheidungen gefallen, lassen sich die Kundenauftragsentkopplungspunkte in den Fristenplan eintragen (Bild 9.2c). In den Fällen, in denen noch eine Wahlfreiheit besteht, sollte die endgültige Festlegung jedoch erst erfolgen, wenn entsprechende Untersuchungen für alle relevanten Produktgruppen durchgeführt wurden. Daraus sind produktübergreifend die zu realisierenden Abwick lungsarten und die Prozessmodelle (siehe Abschn. 9.5) zu bestimmen.
9.3 Abwicklungsarten
9
Es lassen sich vier generelle Formen der Auftragsab wicklung unterscheiden: die Belieferung aus einem Fertigwarenlager, die auftragsbezogene Montage und die auftragsbezogene Produktion (jeweils von Stan dardprodukten) sowie die Herstellung von Produkten mit einem kundenspezifischen Engineeringanteil. Bild 9.3 zeigt die vier Hauptprozesse Beschaffung, Produktion (unterteilt in Fertigung und Montage) sowie Lieferung. Je nach Lage des Kundenauftrags entkopplungspunktes ergeben sich daraus die vier Arten der Auftragsabwicklung. Im Fall einer Belieferung aus einem Fertigwarenlager wird ein verkaufsfähiges Produkt auch ohne Vorlie gen eines Kundenauftrages aufgrund von Prognosen des Vertriebs produziert und auf Lager gelegt. Diese Produktionsart wird als Make-to-Stock bezeichnet (engl. stock = Lager). Beispiele sind Kameras, Haus haltsgeräte und Drucker. Bei dieser Abwicklungs art stehen dem Vorteil kurzer Lieferzeiten höhere Kapitalbindungskosten für die gelagerten Produkte gegenüber. Mit steigender Variantenzahl und höherem Produkt wert ist diese Abwicklungsart wirtschaftlich nicht vertretbar. Eine Alternative ist die auftragsbezogene Montage, als Assemble-to-Order (engl. assemble = montieren) bezeichnet. Bei dieser Abwicklungsart er folgt die Montage erst nach Kundenauftragseingang. Die Montage greift dabei auf vorgefertigte Standard
260
komponenten zurück. Das wohl bekannteste Beispiel ist die internetbasierte Bestellung eines Notebooks bei der Firma Dell. Über einen Produktkonfigurator kann der Kunde im Rahmen des Bestellvorganges Festplatten- und Arbeitsspeicherkapazität, Prozes sorleistung, Software und weitere Ausstattungs details festlegen. Da die Standardkomponenten in einem Lager vorgehalten werden, können kunden individuelle Produkte in kurzer Zeit montiert und ausgeliefert werden. Nicht immer ist es jedoch möglich, die Komponenten für alle denkbaren Kundenwünsche vorzufertigen, selbst wenn es sich um Standardteile handelt, sei es aus Kostengründen oder aus Gründen einer begrenz ten Lagerungsfähigkeit. In diesen Fällen wird auch die Fertigung der Komponenten erst nach Vorliegen des Kundenauftrages angestoßen. Bei dieser Abwick lungsart, auch als Make-to-Order bezeichnet, wird unterstellt, dass die Arbeitspläne bereits existieren und keine kundenspezifischen Anpassungen erfor derlich sind. Das Ausgangsmaterial wird zumeist auf Basis von Absatzprognosen beschafft. Ein typisches Beispiel für eine Make-to-Order-Auftragsabwicklung stellt die Fertigung hochwertiger variantenreicher Komponenten in der Automobilproduktion dar, wie z.B. Innenverkleidungen oder Sitze. Der vierte Fall, Engineer-to-Order, ist dann gegeben, wenn für mindestens eine Komponente des auszulie fernden Produktes aufgrund einer Kundenspezifika tion eine Konstruktionsleistung erforderlich ist. Im Falle der Eigenfertigung sind individuelle Arbeitsplä ne und Stücklisten erforderlich. Diese Abwicklungs art ist typisch beispielsweise für Erzeugnisse des Anlagenbaus. Abhängig von der Abwicklungsart unterscheiden sich auch die logistischen Zielgrößen, die es vorrangig zu verfolgen gilt. Generell sind die logistischen Ziele vor dem Kundenauftragsentkopplungspunkt auf die Reduzierung der Logistikkosten ausgerichtet. Daher stehen hier die Auslastung der bereitgestellten Res sourcen und die Bestandsminimierung im Vorder grund. Nach dem Kundenauftragsentkopplungspunkt liegt das Hauptaugenmerk auf der Logistikleistung, also im Wesentlichen auf Lieferzeit und Liefertreue. Für die Dimensionierung des Entkopplungslagers
9.4 Auftragsarten
Prognosen aus Vergangenheitsdaten und Marktindikatoren
Rahmenverträge
Kundenanfragen
Kundenbestellungen
Interne Produktentwicklung
Produktionsprogrammplanung Fertigungsauftrag (Lager)
Fertigungsprogrammplanung Beschaffungsprogrammplanung
Montageauftrag (Lager)
Lagernachfüllauftrag
Beschaffungsauftrag (La)
Kundenauftrag
Entwicklungsauftrag
Beschaffungsauftrag
Beschaffung
Fertigung
kundenauftragsneutrale Prozesskette
Montage
kundenauftragsbezogene Prozesskette
Lieferung
Kundenauftragsentkopplungspunkt
Bild 9.4: Auftragsarten
9
© IFA 12.966
gilt schließlich, dass einerseits die Versorgung der nachfolgenden Prozesse sichergestellt werden muss, andererseits das Bestandsniveau möglichst gering ist.
9.4 Auftragsarten Parallel zu den Abwicklungsarten lassen sich unter schiedliche Auftragsarten und daraus resultierende Anforderungen an die Planungsprozesse ableiten. Bild 9.4 zeigt die wesentlichen Auftragsarten, die in Abhängigkeit von der Auftragsauslösung unterschie den werden. Für die kundenauftragsneutrale Prozesskette werden Beschaffungs-, Fertigungs- und Montageaufträge aus
dem Produktionsprogramm und daraus abgeleiteten Fertigungs- und Beschaffungsprogrammen gebildet. Die Aufträge dienen dazu, die Bestände im Entkopp lungslager (dem Kundenauftragsentkopplungspunkt) auf einem definierten Niveau zu halten, um damit die Versorgungssicherheit für die nachfolgenden Prozes se sicherzustellen. Im Produktionsprogramm sind die Primärbedarfe (Bedarfe an verkaufsfähigen Erzeug nissen) mit Mengen- und Terminangaben dargestellt. Es wird auf der Grundlage von Vergangenheitsdaten und Marktindikatoren, aus Rahmenverträgen und ggf. aus Kundenanfragen erstellt. Unter Berücksich tigung von offenen Bestellungen und bereits aus gelösten Fertigungs- und Montageaufträgen sowie vorhandenen Beständen und ggf. Reservierungen werden anschließend die erforderlichen Sekundär bedarfe (Bedarfe an Rohstoffen, Teilen und Baugrup pen) ermittelt und in das Fertigungs- bzw. das Be schaffungsprogramm übertragen. Es folgt schließlich
261
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
9
262
die Mengenrechnung, welche die Auftragslosgrößen und die Bedarfstermine für die Beschaffungs-, Ferti gungs- und Montageaufträge festlegt. Fehler in der Produktionsprogrammermittlung oder den zugrunde liegenden Eingangsdaten wirken sich unmittelbar in erhöhten Beständen im Entkopplungslager oder in Form von Versorgungsengpässen aus. Weiterhin besteht in der kundenauftragsneutralen Prozesskette die Möglichkeit, eine Beschaffung bzw. Produktion auf der Basis von Lagernachfüllauf trägen durchzuführen (Pull-Prinzip). Die Auftrags auslösung erfolgt hierbei direkt nach der Entnahme von Material aus dem Entkopplungslager oder bei Unterschreiten eines Bestellauslösebestandes. Die Fertigungs- und Beschaffungsprogramme dienen in diesem Fall im Wesentlichen der Dimensionierung der Bestände (Maximalbestand, Bestellauslösebe stand) im Entkopplungslager. Planungsfehler in den zugrundeliegenden Programmen sind in diesem Fall nicht ganz so kritisch, da sich das Bestandsri siko auf den Maximalbestand begrenzt und Versor gungsproblemen in den nachfolgenden Prozessen durch eine entsprechende Dimensionierung des Bestellauslösebestandes entgegengewirkt werden kann. Problematisch erweist sich jedoch, dass die Bestände im Entkopplungslager bei hoher Varian tenvielfalt und schwankenden Bedarfen sehr groß werden. Vor dem Hintergrund kürzer werdender Produktlebenszyklen sowie bei Veränderungen ei nes Produktes im Rahmen der Produktpflege besteht zudem die Herausforderung, für die betroffenen Ar tikel die Bestände rechtzeitig auf ein angemessenes Niveau zu reduzieren, um das Verschrottungsrisiko zu minimieren, gleichzeitig aber die Vorsorgung der nachfolgenden Prozesse bzw. der Kunden noch sicherzustellen. In der kundenauftragsbezogenen Prozesskette sind konkrete Kundenaufträge oder interne Entwick lungsaufträge abzuarbeiten und ggf. Beschaffungs aufträge auszulösen. Artikelnummern, Mengen und Fertigstellungstermine sind also durch interne oder externe Kunden vorgegeben. Die Auftragsab wicklung beschränkt sich auf die Terminierung der einzelnen Prozessschritte und deren termingerechte Umsetzung.
9.5 Prozessmodelle Für die weitere Auslegung der Produktion ist eine Aufteilung in kundenauftragsbezogene und kun denauftragsneutrale Abschnitte nicht differenziert genug. Die einzelnen Prozesse müssen als leistungs fähige, auch unternehmensübergreifende Geschäfts prozesse ausgestaltet werden, ausgerichtet auf die optimale Erfüllung von Kundenanforderungen und Unternehmenszielen. Hierzu werden die in Bild 9.1 kurz vorgestellten Hauptprozesse Beschaffung, Pro duktion und Lieferung näher betrachtet.
9.5.1 Beschaffungsmodelle Der Beschaffungsprozess umfasst alle Aktivitäten zur Sicherstellung der wirtschaftlichen Versorgung eines Unternehmens mit den benötigten Fertigungs- und Montagematerialien, Handelswaren sowie Fremd leistungen. Er stellt die Verbindung zwischen den Lieferanten und der Produktion dar. Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich immer mehr Formen der Beschaffung herausgebildet, die eine möglichst sichere Versorgung bei minimalen Beständen und Prozesskosten zum Ziel haben. Eine Übersicht über die heute gängigen sechs Grundtypen der Beschaffung zeigt Bild 9.5. Sie lassen sich nach der Beschaffungsauslösung, der Art und dem Ort der Lagerhaltung und dem Eigentumsübergang unter scheiden, [Nyh03] und [Frü06]. Bei der klassischen Vorratsbeschaffung führt der Abnehmer alle Aktivitäten der Beschaffung, d. h. die Disposition und Bestellung, Warenannahme und -eingangsprüfung, Lagerhaltung und Bereitstellung am Verbrauchsort selbst durch. Es erfolgt bewusst eine Vorhaltung von Materialbeständen, die der Ver sorgungssicherheit für die nachfolgenden Prozess schritte dienen. Bei allen anderen Beschaffungsmodellen erfolgt die Lagerhaltung durch den Lieferanten bzw. Dienstleis ter (nachfolgend zusammenfassend als Lieferant be zeichnet) oder sie kann ganz entfallen. Dennoch sind bei diesen Modellen verschiedene Formen von Lager flächen in unmittelbarer Nähe des Verbrauchsortes
9.5 Prozessmodelle
Lager
Lieferung auf Abruf
(Fertigung und) Lieferung auf Auftrag
Warenannahme
Fertigung und Lieferung auf autom. Auftragimpuls
Lagerhaltung optional
Lager
fabrikplanungsrelevante Flächen
PufferLager
Fertigung Lieferung Fertigung
Synchrone Prod. prozesse
Bereitstellung in verbrauchsnahem Pufferlager
Vertragslager
Lager
Entnahme aus dem Konsignationslager
Fertigung
Einzelbeschaffung
Konsignationslager
Bereistellfläche
Bereitstellfläche
Fertigung
Vertragslagerkonzept
Lager
Bereitstellfläche
Fertigung Lieferung
Lager
Standardteilemanagement
Warenannahme
Bereitstellfläche
Fertigung
Lieferant
Bereitstellung in ein Konsignationslager
Lieferant
Lager
Konsignationskonzept
Lieferant
Lieferung auf Bestellung
Vorratsbeschaffung
Lieferant
Lager
Lieferant
Kunde
Lieferant
Lieferant
Eigentumsübergang
9
© 2008 IFA
Bild 9.5: Übersicht über gängige Beschaffungsmodelle © IFA 10.302
erforderlich und somit im Rahmen der Fabrikplanung zu berücksichtigen. Ein Konsignationslager ist ein vom Lieferanten unter haltenes Lager einschließlich einer Retourenfläche, auf welcher der Lieferant Artikel mit einem vertrag lich vereinbarten Mindestbestand vorhält. Der Ab nehmer kann über den Bestand jederzeit verfügen, der Lieferant bleibt jedoch bis zur Entnahme durch den Abnehmer Eigentümer der Ware. Das Konsigna tionskonzept kommt in der Regel bei hochwertigen Artikeln zur Anwendung. Aufgrund der Besonder heit der Eigentumsverhältnisse ist in vielen Fällen eine Sicherung der Ware z.B. durch abschließbare Lagerorte notwendig. Für die Beschaffung von Standardartikeln mit gerin gerer Wertigkeit eignet sich das Standardteilemanagement. Hierbei befüllt der Lieferant in regelmäßigen Abständen die in unmittelbarer Arbeitsplatznähe
befindlichen Materialpuffer bis zu einer mit dem Abnehmer vereinbarten Bestandshöhe. Bei den vorgenannten Beschaffungsmodellen erfolgt die Beschaffung bei der Vorratsbeschaffung aufgrund des Beschaffungsprogramms bzw. beim Konsignati onskonzept und beim Standardteilemanagement aufgrund von Materialentnahmen. Bei den übrigen drei Konzepten, nämlich dem Vertragslagerkonzept, der Einzelbeschaffung und den synchronisierten Pro duktionsprozessen erfolgt die Beschaffung hingegen aufgrund eines konkreten Kundenauftrags. Ein Vertragslager ist ein von einem Lieferanten un terhaltenes Lager in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Abnehmer. Dadurch ist eine bedarfssynchrone Anlieferung in hoher Frequenz auf Basis von Abru fen möglich. Diese Abrufe erfolgen in der Regel auf Grundlage von Kundenaufträgen. Es ist jedoch auch möglich, dass der Abruf durch eine Entnahme aus
263
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
einem dann zusätzlich erforderlichen Pufferlager ausgelöst wird. Auch bei der Einzelbeschaffung und den synchronisierten Produktionsprozessen erfolgt die Beschaffung immer für einen konkreten Kundenauftrag. Das Ma terial wird ohne Zwischenlagerung direkt an den Ver brauchsort geliefert. Merkmal der synchronisierten Produktionsprozesse sind gleich getaktete Fertigun gen bei Lieferant und Kunde, wobei die Produktions stätte des Lieferanten nah beim Abnehmer (teilweise auch auf dessen Werksgelände) angesiedelt ist. Bei den drei letztgenannten Beschaffungsmodellen sind auf Abnehmerseite keine Lagerhaltungspro zesse erforderlich. Jedoch sind im Rahmen der Fab rikplanung Bereitstellflächen einzuplanen, die eine zeitliche Entkopplung von Lieferung und Verbrauch ermöglichen. Zur Auswahl der im konkreten Anwendungsfall am besten geeigneten Beschaffungsmodelle und der Zu
9
a) Lagerfertigung ( M-t-S PUSH)
ordnung von Lieferanten und Materialnummern sind insbesondere die nachfolgend genannten Kriterien zu beachten [Nyh03]:
• der • • •
Kundenauftragsbezug des Beschaffungsgu
tes, die Wertigkeit der Artikel, die beschaffungsseitige Versorgungssicherheit und die Bedarfskonstanz für das Beschaffungsgut.
Ist eine Mehrfachverwendung eines Beschaffungs gutes nicht gegeben, so kommt grundsätzlich nur die Einzelbeschaffung in Frage. Gleiches gilt für hochwertige Beschaffungsgüter (A-Teile), die eine Lagerhaltung aufgrund sehr sporadischer Bedarfe sowohl für den Abnehmer wie auch für den Liefe ranten ausschließt. Für alle anderen A-Teile und überwiegend auch für die B-Teile sind das Konsigna
b) Lagerfertigung (M-t-S PULL)
• Produktionsprogrammplanung
• Bestandsführung • Fertigungsprogrammplanung • Auftragserzeugung • Terminierung (je Stufe) Fertigungs- bzw. Montageauftrag
Bestandsmeldung
Produktion
• Bestandsführung • Auftragserzeugung Bedarf
Kunde
c) Kundenauftragsbezogene Produktion ohne Engineeringanteil (M-t-O / A-t-O)
Lagernachfüllauftrag
Entnahmemeldung
Produktion
Bedarf
Kunde
d) Kundenauftragsbezogene Produktion mit Engineeringanteil (E-t-O) • Anpasskonstruktion
• Terminierung (Auftragsnetz)
Kundenauftrag
Kunde
Produktion
Bild 9.6: Informationsflüsse bei unterschiedlichen Produktionsmodellen (vereinfachte Darstellung) © IFA 14.967
264
Kundenauftrag
Fertigungs- und Montageauftrag
Fertigungs- bzw. Montageauftrag Produktion
• Terminierung (Auftragsnetz)
Kunde
9.5 Prozessmodelle
tionskonzept, das Vertragslagerkonzept und gegebe nenfalls die synchronisierten Produktionsprozesse auf ihre Anwendungsmöglichkeit zu prüfen. Alle drei Modelle zielen vorrangig auf die Reduktion der Bestandskosten ab, bewirken aber gleichzeitig auch eine Reduktion der Prozesskosten. Als Prozesskos ten werden die Kosten bezeichnet, die durch die Ver waltung von Bestellungen entstehen. Demgegenüber ist das Standardteilemanagement ausschließlich auf eine Verringerung der Prozesskosten ausgerichtet. Anwendungsschwerpunkt dieses Modells sind die C-Teile. Die klassische Vorratsbeschaffung schließ lich ist vorrangig dann anzuwenden, wenn die über den Einkauf erzielbaren Preisvorteile die erhöhten Logistikkosten nachweislich kompensieren und gleichzeitig die Versorgungssicherheit der Produkti on gewährleistet werden kann.
9.5.2 Produktionsmodelle Für den Produktionsbereich ergeben sich die Pro zessmodelle für die Fertigung und Montage aus den in Abschn. 9.4 erläuterten Auftragsarten. Bild 9.6 zeigt die wesentlichen Modelle mit ihren Informati onsflüssen. Make-to-Stock (M-t-S) bezeichnet die klassische kundenauftragsanonyme Herstellung von Standard produkten und deren Bevorratung in einem Fertigwa renlager. Abhängig vom Steuerungsprinzip werden dabei zwei Prozessmodelle unterschieden. Werden die Produktionsaufträge auf Basis eines Fertigungs- bzw. Montageprogramms (mit Mengen- und Terminvorga ben versehen) unter Berücksichtigung von Beständen in der Fertigungsprogrammplanung gebildet und nach ihrer Freigabe durch die entsprechenden Produktions bereiche ‚gedrückt’, so liegt ein Push-Modell vor (s. Bild 9.6a). Ein Pull-Prinzip hingegen funktioniert ver brauchsgesteuert; die Auftragsauslösung erfolgt nach der Entnahme der Produkte (und Unterschreiten eines Mindestbestandes) aus einem Lager und ist dadurch wesentlich einfacher (Bild 9.6b). Welches der beiden Modelle der Lagerfertigung zur Anwendung kommt, hängt im Wesentlichen von der Bedarfskonstanz, der Mehrfachverwendung der
betroffenen Artikel und der Anzahl der Varianten ab. Bei hoher Bedarfskonstanz, hoher Mehrfach verwendung und geringer Variantenanzahl eignet sich das Pull-Prinzip, in den anderen Fällen ist im Allgemeinen das Push-Prinzip trotz aufwändigerer Planungs- und Steuerungsprozesse zu empfehlen. Voraussetzung ist jedoch ein Produktionsprogramm, das die Bedarfsverläufe gut prognostiziert. Ist der Bedarf eher sporadisch (in der Regel verbunden mit einer geringen Mehrfachverwendung und einer hohen Variantenanzahl) und nur schwer prognosti zierbar, ist zu prüfen, ob die geforderten Lieferzeiten eine kundenauftragsbezogene Herstellung (M-t-O) zulassen. Bei einer kundenauftragsbezogenen Produktion (Make to Order „M-t-O“ und Assemble to Order „At-O“) werden die Produkte erst nach Vorliegen eines Kundenauftrages terminiert und freigegeben (s. Bild 9.6c). Wenn zusätzliche Engineeringleistungen z. B. in Form einer Anpassungskonstruktion erforderlich sind, greift das Modell Engineer to Order „E-t-O“ (s. Bild 9.6d). Das Produkt wird in beiden Fällen nach Prüfung und Freigabe ohne Lagerhaltung direkt an den Kunden geliefert. Eine Zwischenpufferung auf Auslieferflächen ist jedoch erforderlich, wenn Kun denaufträge aus mehreren Bedarfspositionen beste hen und eine Komplettlieferung erwünscht ist.
9
9.5.3 Liefermodelle Der Lieferprozess umfasst alle Informations- und Werteflüsse von der Übermittlung, Bearbeitung und Steuerung eines Kundenauftrages (Auftragsabwick lung) ab dem Zeitpunkt des Auftragseingangs sowie den Warenfluss vom Herstellort bzw. vom Lagerort bis zum vereinbarten Anlieferort beim Kunden. Jedem Beschaffungsprozess auf Abnehmerseite muss ein dazugehöriger Lieferprozess auf der Lieferanten seite gegenüberstehen. Folglich gibt es entsprechend den zuvor beschriebenen sechs Beschaffungsmodel len (vergl. Abschn. 9.5.1) auch sechs Liefermodelle mit überwiegend analogen Bezeichnungen: Abwicklung aus kundenneutralem Lager, Konsignationskonzept, Vertragslagerkonzept, Standardteilemanagement, Ein zellieferung und Synchronisierte Produktion [Frü06].
265
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
Ordnungskriterium Fertigungsprinzip
Räumliche Struktur
S
Arbeitsaufgabe
Fließprinzip Erzeugnisprinzip
Arbeitsfolge einer Teilefamilie
Fertigungsinsel / Gruppenprinzip
S
AG
S
S
S
Schleiferei
Bohrerei
Dreherei
S
S
AG
S
• Fertigungslinie
S
AG
AG S
S
AG
S
S
AG
Mensch
9
Baustellenprinzip
Mensch
S
S
AG
Mensch
Arbeitsgegenstand
• Montagelinie • Fertigungsinsel • Montageinsel
Material
• Großmaschinenbau • Schiffswerft
Abfall S
Werkbankprinzip
AG
© 2008 IFA
Arbeitsgegenstand (Baustelle)
• Schleiferei • Schweißwerkstatt
Stationen
Produkt
• Dreherei • Fräserei
Werkstattprinzip Verrichtungsprinzip
Arbeitsfolge definierter Varianten
S
Beispiele
AG S
• Handwerkliche Arbeitsplätze • Werkzeugmacherei
Station
D 3838
Bild 9.7: Struktur industrieller Fertigungsprinzipien © IFA D3838
Zentrales Unterscheidungsmerkmal ist zunächst die Art der Auftragsabwicklung und Übergabe des Materials an den Kunden (vgl. Bild 9.5). Für die Fa brikplanung sind diese Unterscheidungsmerkmale jedoch von untergeordneter Bedeutung. Relevant ist vielmehr, ob und ggf. an welchem Ort eine La gerhaltung für die fertigen Produkte erfolgen muss. Lieferantenseitig ist sowohl bei einer Abwicklung aus kundenneutralem Lager wie auch bei dem Standardteilemanagement ein Fertigwarenlager im eigenen Unternehmen erforderlich. Beim Konsig nationskonzept sowie bei der Einzellieferung kann eine Lagerhaltung im eigenen Unternehmen sinn voll sein, sofern es für die betroffenen Produkte unterschiedliche Abnehmer gibt. Sind die Produkte jedoch kundenspezifisch, so sollte geprüft werden, ob für die eigene Produktion ein M-t-O-Prozess und somit ein Verzicht auf eine eigene Lagerhaltung re alisiert werden kann. Beim Vertragslagerkonzept
266
ist ein separates Lager in räumlicher Nähe zum Kunden zu unterhalten. Die größten Auswirkun gen auf die eigene Produktion hat schließlich das Liefermodell der synchronisierten Produktion. Bei diesem auf beiden Seiten lagerlosen Prozessmodell muss die Produktion des Lieferanten kapazitiv und in der Beherrschung der Variantenvielfalt vollstän dig auf die Anforderungen des Abnehmers abge stimmt werden. Aufgrund sehr kurzer Lieferzeiten ist es in diesem Fall meist erforderlich, dass der Lieferant eine Produktionsstätte in unmittelbarer Nähe seines Kunden einrichtet. Aus Sicht eines Lieferanten sind die Anforderungen an ein solches Liefermodell fast ausschließlich in der Automobil zulieferindustrie und auch dort nur für hochwertige Komponenten gegeben, da sich die erforderlichen Investitionskosten nur bei langfristigen vertragli chen Bindungen und hohem Umsatz rechtfertigen lassen.
9.6 Fertigungs- und Montageprinzipien
9.6
Fertigungs- und Montage prinzipien
In der industriellen Praxis existiert eine nahezu un überschaubare Vielfalt an Fertigungsprinzipien, auf welche Weise die wesentlichen Systemkomponenten Werkstück, Mensch und Betriebsmittel einander zugeordnet sind. Jedes reale Fertigungssystem lässt sich jedoch durch seine Bewegungsstruktur, seine räumliche Struktur sowie seine zeitliche und organi satorische Struktur unterscheiden. Die Beweglichkeit oder Transportierbarkeit des Werkstückes kann infol ge seiner Größe oder seines Gewichtes eingeschränkt sein, wie Beispiele aus dem Schwermaschinenbau, Stahl- und Schiffbau zeigen. Der Beweglichkeit des Menschen können auf der einen Seite z.B. durch rein physiologisch bedingte Behinderungen, auf der anderen Seite aber auch durch fehlende Qualifika tion Grenzen gesetzt sein. Die Umsetzbarkeit eines Betriebsmittels wird durch sein Gewicht und seine Größe, aber auch durch besondere Anforderungen, wie z.B. Sonderfundamentierungen oder Emissions schutzmaßnahmen, eingeschränkt. Eine praxisnahe Einteilung der Organisationstypen ergibt sich, wenn man die räumliche Struktur von Fertigungsprinzipien betrachtet. Bild 9.7 führt die in der industriellen Praxis wesentlichen Fertigungs prinzipien nach ihrem Ordnungskriterium, den ge bräuchlichen Bezeichnungen und ihrer räumlichen Struktur jeweils mit einigen Beispielen auf. Da die Fertigung nach dem Verrichtungsprinzip, nach dem Fließprinzip und dem Gruppenprinzip die weitaus häufigsten Organisationsformen darstellen, sollen sie zuerst behandelt werden. Die Fertigung nach dem Verrichtungsprinzip, auch funktionale Fertigung oder Werkstattprinzip genannt, ordnet die Arbeitsplätze nach den Bearbeitungsver fahren an. Die Arbeitsgegenstände (Werkstücke oder Baugruppen) werden einzeln oder losweise von Ar beitsplatz zu Arbeitsplatz transportiert. Dort müssen sie warten, bis die in der Warteschlange befindlichen Lose abgearbeitet sind. Das Verrichtungsprinzip besitzt den großen Vorteil der flexiblen Anpassung an unterschiedliche Produkte und ihre unterschied
lichen Bearbeitungsfolgen. Zudem können die Res sourcen gut genutzt werden. Nachteilig ist jedoch die lange Durchlaufzeit im Produktionsprozess. Im Gegensatz zum Verrichtungsprinzip ist die Fließfertigung nach den Arbeitsfolgen des Erzeugnisses aufgebaut und wird daher auch Erzeugnisprinzip genannt. Hier ist der Durchlauf der Teile sehr kurz, weil die Werkstücke nach einer Bearbeitungsopera tion direkt zur nächsten Arbeitsstation transportiert werden und nicht auf die Fertigstellung anderer Teile warten müssen. Eine Fließfertigung, bei der die einzelnen Arbeitsstationen durch Pufferstrecken verbunden sind, wird als lose oder elastisch verkettet bezeichnet. Im Gegensatz dazu steht die starre Ver kettung, die keine Zwischenpuffer zur vorübergehen den Aufnahme von Werkstücken enthält. Bei einer starren Verkettung führen schon kleinere Störungen an einer einzelnen Arbeitsstation zum Stillstand der gesamten Anlage. Ein zentraler Nachteil der Fließfertigung besteht da rin, dass wegen der Einrichtung auf ein bestimmtes Produkt die Anlage bei technischen Änderungen nur mit großem Aufwand umzurüsten ist. Weiterhin wird die Produktion der Teile dann teuer, wenn bei fehlendem Bedarf für das vorgesehene Werkstück bzw. Produkt keine wirtschaftliche Auslastung der Betriebseinrichtungen möglich ist. Fertigungsinseln werden verstanden als die räumlich und organisatorisch zusammengefasste Anordnung sämtlicher Betriebsmittel, die erforderlich sind, um eine Gruppe ähnlicher Werkstücke oder Erzeugnisse möglichst vollständig herzustellen. Ein Liegen zwi schen den einzelnen Arbeitsschritten wird durch flussorientierte Maschinenaufstellung und über lapptes Fertigen (One Piece Flow: Ein Stück fließt) vermieden. Überlapptes Fertigen bedeutet sofortiges Weiterleiten von Teilen nach Fertigbearbeitung an einer Station anstatt einer losweisen Weitergabe. In einer Fertigungsinsel überträgt man aber nicht nur die eigentlichen Fertigungsoperationen, sondern auch organisatorische, planerische und kontrollie rende Funktionen an eine Gruppe von Mitarbeitern, welche die Fertigungsinsel in weitgehender Selbstver antwortung betreiben. Zu diesen Funktionen zählen die Materialanforderung, die Feinterminierung und
9
267
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
9
Reihenfolgebildung der Aufträge, die Arbeitsplanung einschließlich Erstellung der Steuerprogramme für die numerisch gesteuerten Werkzeug- und Messma schinen. Die Aufhebung der strengen Arbeitsteilung zwischen planenden und ausführenden Tätigkeiten bewirkt zusammen mit der räumlichen Konzentrati on der Arbeitsmittel gegenüber der konventionellen Werkstattfertigung eine wesentlich kürzere Durch laufzeit der Erzeugnisse bei deutlich erweitertem Handlungsspielraum der beteiligten Mitarbeiter (s. auch Abschn. 4.2 und 4.3). Neben diesen drei wichtigsten Organisationstypen spielt die Baustellenfertigung noch eine Rolle bei der Fertigung von Werkstücken mit großen Abmessun gen und Gewichten, verglichen mit den Bearbeitungs einrichtungen. Diese Fälle treten im Anlagen- und Großmaschinenbau auf, wie z.B. bei Druckgehäusen für Wasserkraftturbinen, oder sehr großen Wellen von Generatoren. In diesen Fällen richtet man die Werkstücke auf einer Spannplatte aus und setzt die Werkzeugmaschinen an die zu bearbeitenden Stel len. Den Extremfall der Baustellenfertigung stellen Werkstücke dar, die erst am Ort der Verwendung zu
Bewegungsgröße
Baustellenmontage
Reihenmontage
ortsgebundene Montageobjekte stationäre Arbeitsplätze
Bewegungsparameter
gs-
Gruppenmontage
Montageplätze
bewegte Arbeitsplätze aperiodischer Bewegungsperiodischer ablauf gerichtete ungerichtete Werker
Bewegung
Objektbewegung
© IFA D3853
268
D3853 Vr
Taktstraßenmontage
kombinierte Fließmontage
ortsveränderliche Montageobjekte
ortsveränderliche Montageobjekte
stationäre Arbeitsplätze
bewegte Arbeitsplätze
aperiodischer Bewegungsablauf
Bild 9.8: Organisationsformen in der Montage (nach Eversheim) © 2008 IFA
sammengebaut und fertig bearbeitet werden können, weil sie nicht mehr transportierbar sind. Ein in der Industrie relativ seltener Organisationstyp ist das Werkbankprinzip, das bei vorzugsweise hand werklichen Arbeitsgängen ohne großen Maschinen aufwand Anwendung findet. Solche Arbeitsplätze finden sich beispielsweise im Werkzeug- und Vor richtungsbau. Ähnlich wie für die Teilefertigung lassen sich auch für die Montage unterschiedliche Organisationsfor men definieren. Gemäß Bild 9.8 dient – wie bei den Fertigungsformen – die relative Bewegung von Mon tageobjekt und Montageplätzen zueinander als Ord nungskriterium. Die Baustellenmontage entspricht der Baustellenfertigung. Die Gruppenmontage arbei tet an einem feststehenden Objekt mit periodischer oder aperiodischer Bewegung der Arbeitsplätze. Reihenmontage oder Taktstraßenmontage sind unter dem Oberbegriff Fließmontage durch bewegte Mon tageobjekte gekennzeichnet und unterscheiden sich im Wesentlichen durch die Art der Bindung des Men schen an die Taktzeit bzw. Fließgeschwindigkeit bei kontinuierlich laufenden Werkstückträgern.
periodischer kontinuierl.
gerichtete Bewegung
Arbeitsplatzbewegung
Bewegungsablauf
periodischer Bewegungskontinuierl. ablauf gerichtete Bewegung
9.7 Produktionssegmente
Masse
Serie
Bestand/Auslastung
Bestand/Termintreue Versand
Termintreue/Lieferzeit Versand
Einzelmontage
Montagegr. 1
Montagelinie III
Montagelinie II
Montagelinie I
Einzel
Montagepool
Versand
Versand Masse
Montagegr. 3
Primärziele
Montagegr. 2
Typ
Struktur
Eingangslager
Insel 4
Einzelmaschinen
Fertigungslinie III
Fertigungslinie II
Fertigungslinie I
Insel 1
Insel 2
Insel 3
Ausgangslager
Insel 5
Wertschöpfung
9
© 2008 IFA Bild 9.9: Beispiel einer segmentierten Fabrik (nach Brankamp) © IFA 12.047
9.7 Produktionssegmente Die Anforderungen an eine Produktion sind in der Regel je nach Breite des Produktionsprogramms mehr oder weniger heterogen. Dies äußert sich in unterschiedlichen kundenseitigen Forderungen nach bestimmten Liefermodellen und logistischen Leistungsmerkmalen sowie den produktseitigen Rahmenbedingungen wie Produktstruktur und Vari antenvielfalt. Daher ist es häufig nicht möglich, allen Anforderungen mit nur einem Fertigungs- und einem Montageprinzip zu genügen. Wenn die Stückzahlen es zulassen, bietet es sich an, Fertigungssegmente als produktorientierte dezentrale Organisationseinheiten der Produktion zu bilden [Wil88]. Fertigungssegmente sind ge kennzeichnet durch eine spezifische Wettbewerbs
strategie, in deren Mittelpunkt Kostenreduzierung, Verkürzung der Durchlaufzeiten und/oder Quali tätsverbesserung stehen. Durch die Integration pla nender und indirekter Funktionen wird ein hoher Autonomiegrad angestrebt. Weiterhin zeichnen sich Fertigungssegmente dadurch aus, dass mehrere Stufen der logistischen Kette in ein Fertigungsseg ment integriert werden. So kann ein Segment auch aus mehreren Fertigungs- und/oder Montageinseln bestehen (vergl. auch Abschn. 4.5). Bild 9.9 zeigt exemplarisch drei Fertigungsseg mente eines Herstellers von Wasserpumpen, die in diesem Fall nach dem Stückzahlcharakter gebildet wurden. Eines der Segmente fertigt Massenproduk te mit weitgehend konstantem Absatz. Die primäre Zielsetzung besteht für dieses Segment in einer möglichst wirtschaftlichen Produktion, bewertet
269
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
Plan
Soll Zielvereinbarung • Strategische Positionierung
Produktionsplanung und -steuerung
• Bedarfe
Beschaffungsprogramm Fertigungs(Art, Menge, programm Termin) (Art, Menge, Termin)
Durchführung • Beschaffung • Produktion • Lieferung
Ist Logistisches Controlling
Beschaffungsprogramm Fertigungs(Art, Menge, programm Termin) (Art, Menge, Termin)
Betriebsdatenerfassung
Störungen, Änderungen
Bild 9.10: Regelkreis der Produktionsplanung und -steuerung © IFA G1392
9
© 2008 IFA
durch Auslastung und Umlaufbestand. Ein zweites Segment deckt die Anforderungen einer Serienferti gung mit einer höheren Varianz in den Produkten ab. Die integrierten Fertigungsinseln ermöglichen das „One Piece Flow-Prinzip“ und damit geringe Bestän de und Durchlaufzeiten. Abhängig von der Art der Kundenanbindung (s. Liefermodelle Abschn. 9.5.3) kann das Primärziel auch die Termintreue sein. Das dritte Fertigungssegment ist auf die Anforderungen einer Einzelfertigung ausgerichtet. Hier werden die kundenspezifischen Produkte mit hoher Varianten vielfalt termingerecht und mit kurzer Durchlaufzeit produziert. Aufgrund unterschiedlicher Bearbei tungsfolgen sind die Maschinen verrichtungsorien tiert aufgestellt. Für die drei Fertigungssegmente sind aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen und Restriktionen der Segmente selbst auch unterschiedliche Planungsund Steuerungsansätze erforderlich. Deren Grundla gen sowie Ansätze zur Auswahl und Konfiguration der zugehörigen Verfahren werden nachfolgend dargestellt.
270
9.8 Produktionsplanung und -steuerung Als Modell der Produktionsplanung eignet sich ein Regelkreis, den Bild 9.10 zeigt [Wie08]. Aus der Zielvereinbarung bezüglich der strategi schen Positionierung sowie den Kundenbedarfen entstehen Soll-Werte. Ein Produktionsplanungsund -steuerungssystem (PPS) erzeugt daraus mit unterschiedlichen Ansätzen ein Produkti onsprogramm, das weiter in Eigenfertigungs-, Beschaffungs- und Lieferprogramme aufgelöst wird. Diese sind im Durchführungsprozess zu be schaffen, zu produzieren und zu versenden. Nach der Durchführung werden die mit Hilfe einer Be triebsdatenerfassung gewonnenen Ist-Werte mit einem logistischen Controllingsystem in Form von Kennzahlen und Grafiken aufbereitet und mit den Plan- bzw. Soll-Werten verglichen. Die fest gestellten Abweichungen sind zu analysieren und Maßnahmen zur Verbesserung der Zielerreichung vorzuschlagen.
9.8 Produktionsplanung und -steuerung
Die Kernaufgaben der Produktionsplanung- und -steuerung sind die Produktionsprogrammplanung, die Produktionsbedarfsplanung sowie die Planung und Steuerung von Fremdbezug und Eigenfertigung, s. Bild 9.11 [Sch06]. Die Produktionsprogrammplanung bestimmt, welche Erzeugnisse in welcher Menge in den nächsten Planungsperioden produziert werden sollen. Dabei wird der zugrundeliegende Ab satzplan, der neben Absatzprognosen auch Kunden aufträge beinhaltet, in enger Abstimmung zwischen Vertrieb, Produktion und Einkauf auf seine Mach barkeit geprüft. Meist in Form einer Tabelle wird als Planungsergebnis der Primärbedarf verkaufsfähiger Erzeugnisse bzw. Erzeugnisgruppen für einen Pla nungshorizont von einem bis zu mehreren Jahren aufgelistet. Die Produktionsbedarfsplanung leitet aus dem Produktionsprogramm den erforderlichen Materialund Ressourcenbedarf ab. Unter Berücksichtigung von vorhandenen bzw. eingeplanten Beständen
ermittelt sie den Sekundärbedarf an Teilen und Baugruppen, terminiert die Fertigungsaufträge und ermittelt die Belastungen der Arbeitssysteme in Fertigung und Montage sowie die Bedarfstermine für das Beschaffungsmaterial. Als Ergebnis liegt das Beschaffungsprogramm sowie das Fertigungsund Montageprogramm vor, die nachfolgend in der Fremd- bzw. Eigenfertigungsplanung und -steue rung weiter ausgeplant und zur Durchführung frei gegeben werden. Zur Vermeidung einer scheingenauen Planung wird heute versucht, unter den Stichworten Dezentrali sierung und Segmentierung die Aufgaben der Ferti gungsplanung und -steuerung den durchführenden Bereichen zu übertragen. Dabei überlässt man den Mitarbeitern nicht nur die Ausführung, sondern bis zu einem bestimmten Umfang auch die Wahl der ein gesetzten Verfahren und Hilfsmittel. Das Ergebnis besteht in einer Reduktion der Planungstiefe und -komplexität bei gleichzeitiger Erhöhung der Quali tät der Aufgabenerfüllung (s. auch Abschn. 4.2).
9 Produktionsprogrammplanung
Netzwerkabsatzplanung
Produktionsbedarfsplanung
Netzwerkbedarfsplanung
Fremdbezugsplanung und -steuerung
Eigenfertigungsplanung und -steuerung
PPS-Controlling
Netzwerkkonfiguration
Querschnittsaufgaben
Lagerwesen
Kernaufgaben
Auftragskoordination
Netzwerkaufgaben
Datenverwaltung
Bild 9.11: Hauptaufgaben der PPS © IFA G1863 © 2008 IFA
G1863SW
271
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
Um die Effizienz der gesamten Wertschöpfungskette sicherzustellen, sind neben den vier Hauptaufgaben der PPS drei Querschnittsaufgaben erforderlich. Die Auftragskoordination stimmt Prozesse, Abläufe und Termine über die verschiedenen Unternehmensbe reiche hinweg ab. Das Lagerwesen ist für das Be standsmanagement und die Versorgungssicherheit gegenüber Fertigung und Montage sowie den Kunden verantwortlich. Das PPS-Controlling misst die logis tische Zielerreichung sowohl kundenseitig als auch unternehmensseitig. Kernaufgaben und Querschnitts aufgaben sind dabei auf eine sorgfältige Datenverwaltung der Stamm- und Bewegungsdaten angewiesen. Ergänzend zu den Kern- und Querschnittsaufgaben werden heute auch verschiedene Netzwerkaufgaben
der PPS zugerechnet [Sch06]. Diese fassen sämtliche planenden Aufgaben zusammen, die im Kontext ei nes Produktionsnetzwerkes zu sehen sind. Im Kern handelt es sich dabei um die strategisch ausgelegte Netzwerkkonfiguration, die übergreifende Absatz planung und die Netzwerkbedarfsplanung. Einen weit verbreiteten Sukzessiv-Planungsansatz zur Erfüllung der Kernaufgaben der PPS stellt das MRP II-Konzept dar. MRP II steht hier für Material Resource Planning. Bei diesem Ansatz wird nicht dem Anspruch einer Simultanplanung gefolgt, da davon ausgegangen wird, dass die Vielzahl der Pa rameter und Variablen und deren Interdependenzen sowie Unsicherheiten bei den zugrundeliegenden Pla nungsdaten zu einer Komplexität führt, die auch bei
Geschäftsplanung Aggregierte Absatzprogrammplanung Aggregierte Lagerplanung
9
Aggregierte Produktionsprogrammplanung
Ressourcenplanung
Produktionsprogrammplanung Grobkapazitätsplanung
Materialbedarfsplanung Kapazitätsbedarfsplanung
Durchlaufterminierung Kapazitätsterminierung
Auftragsfreigabe Feinterminierung / Maschinenbelegungsplanung
Auftragsüberwachung © 2008 IFA
11.882SW Lp(MRP II) Bild 9.12: Manufacturing Resource Planning © IFA 11.882
272
nein durchführbar ja
nein durchführbar ja
nein durchführbar ja
nein durchführbar ja
nein durchführbar ja
9.8 Produktionsplanung und -steuerung
der heutigen Rechnerleistung nicht zu beherrschen ist. Vielmehr wird die gesamte PPS in Teilprobleme bzw. Module zerlegt, Bild 9.12. Der MRP II-Ansatz ermöglicht eine Lösung der kurz dargelegten Planungsaufgaben in einem schrittwei sen Abstimmungsprozess, bei dem auf jeder Ebene Entscheidungsvariablen festgelegt werden, die als Eingangsgrößen in die nächste Planungsebene eingehen. MRP II steht dabei für Manufacturing Resource Planning und ist aus dem in den 1970er Jahren entwickelten MRP (Material Requirement Planning) hervorgegangen. Die Hierarchie der Pla nungsebenen orientiert sich am zeitlichen Horizont der Teilprobleme, wobei ausgehend von der strategi schen Geschäftsplanung eine kontinuierliche Verfei nerung des Material- und Kapazitätsbedarfs bis zur Belegung der einzelnen Maschinen mit einzelnen Arbeitsgängen erreicht wird. Rückkopplungen zwi schen den einzelnen Ebenen stellen die Machbarkeit eines Teilplans auf der jeweils nächsten Stufe sicher. Bei Abweichungen sind entweder Maßnahmen auf der Auftragsseite (Terminverschiebungen) oder der Ressourcenseite (Kapazitätsanpassungen) erforder lich. Das MRP II-Konzept stellt die Grundlage für vie le Softwaresysteme und deren EDV-technische Umsetzung dar. Gleichwohl zeigen die Ausfüh rungen zum Kundenauftragsentkopplungspunkt, den Abwicklungs- und Auftragsarten sowie den Prozessmodellen (vergl. Abschn. 9.2 bis 9.4), dass die spezifische Ausgestaltung der PPS, der Pla nungsgegenstand und die Planungstiefe an den gewählten Strukturen und Prozessen ausgerichtet werden müssen. Davon können alle Aufgaben der PPS betroffen sein. So ist der Detaillierungsgrad der Produktionspro grammplanung stark davon abhängig, in welchem Umfang kundenauftragsneutral produziert wird. Für die vor dem Kundenauftragsentkopplungspunkt liegenden Produktionsbereiche dient das Produkti onsprogramm der Erzeugung von kundenneutralen Fertigungs- bzw. Beschaffungsaufträgen; nach dem Kundenauftragsentkopplungspunkt sind demge genüber konkrete Kundenaufträge die Auslöser für
Fertigungs- und/oder Beschaffungsvorgänge. Das Produktionsprogramm dient in diesem Fall in erster Linie der Abschätzung des Kapazitäts- und Material bedarfs und wird dann meist nur auf der Ebene von Produktgruppen erstellt. Die Wahl der Prozessmodelle beeinflusst stark die Funktionen der PPS. So ist für die Fremdbezugs planung und -steuerung ausschlaggebend, welche Beschaffungsmodelle eingesetzt werden. Nur im Falle der klassischen Vorratsbeschaffung und der Einzelbeschaffung dient das Beschaffungsprogramm der Erzeugung konkreter Beschaffungsaufträge. Bei allen anderen Beschaffungsmodellen werden den Lieferanten lediglich Minimal- und Maximalbestände vorgegeben und/oder es erfolgt ein Materialabruf für aktuell bearbeitete Kundenaufträge. Grundlage der Kooperation sind bei diesen Beschaffungsmodellen Rahmenverträge. Auch die Gestaltung der Eigenfertigungsplanung und -steuerung und die Auswahl geeigneter Verfahren sowie deren Parametrierung sind in starkem Maße von den genannten Faktoren abhängig. Es wurden in der Vergangenheit viele Verfahren zur Steuerung von Produktionsprozessen entwickelt, die auf die Erfüllung einzelner Aufgaben für jeweils definierte Anwendungsbedingungen ausgerichtet sind. Da die Fertigungssteuerung unmittelbar den Produktions ablauf bestimmt und vielfache Konsequenzen für die Fabrikplanung nach sich zieht, soll diese Funktion etwas genauer betrachtet werden. Eine gute Übersicht über Funktionsweise, Anwen dungsvoraussetzungen und -grenzen der heute bekannten Steuerungsmodelle liefert Lödding [Löd09]. Als Fazit lässt sich festhalten, dass keines der bekannten Modelle für sich in Anspruch nehmen kann, den unterschiedlichen Anforderungen der Industrie umfassend gerecht zu werden. Es sollte daher angestrebt werden, unter Berücksichtigung der jeweiligen Rahmenbedingungen, Anforderungen und Fähigkeiten der Produktionsbereiche die in Fra ge kommenden Steuerungsansätze hinsichtlich der Einsatzmöglichkeiten zu überprüfen und in einer der jeweiligen Aufgabe angepassten Form – ggf. auch kombiniert – zu realisieren. Eine Vorgehensweise hierzu wird nachfolgend beschrieben.
9
273
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
9.9
Auswahl und Konfiguration von Fertigungssteuerungs verfahren
Es ist Aufgabe der Fertigungssteuerung, die Vorga ben der Planungsschritte auch bei unvermeidbar auftretenden Störungen bestmöglich umzusetzen. Ausgehend von diesem Grundverständnis hat Löd ding [Löd08] ein allgemeingültiges Modell der Fer tigungssteuerung entwickelt, das vier Aufgaben der Fertigungssteuerung definiert. Bild 9.13a zeigt diese am Trichtermodell einer Fertigung, während Bild 9.13b die elementaren Stell- und Regelgrößen sowie die beeinflussten Zielgrößen in den Wirkzusammen hängen abbildet. Die Aufgaben legen die Stellgrößen fest, während die Regelgrößen, die die Qualität der Zielerreichung bestimmen, sich aus der Differenz von je zwei Stellgrößen ergeben. Diese vier Aufga ben der Fertigungssteuerung werden zunächst kurz erläutert.
9
Mit der Auftragserzeugung werden Fertigungsauf träge auf Basis von Kundenaufträgen, dem Produkti onsprogramm und/oder Materialentnahmen erzeugt.
Auftragserzeugung
Disposition
Auftragsfreigabe
Somit legt sie den Planzugang und den Planabgang der einzelnen Fertigungsaufträge und über die Ter minierung indirekt auch deren Abarbeitungsreihen folge fest. Die Auftragsfreigabe bestimmt den Zeitpunkt, ab dem die Bearbeitung eines Auftrages erfolgen kann. In der Regel wird dabei auch die Verfügbarkeit des Materials geprüft und die Bereitstellung ausgelöst. Relevante Kriterien der Auftragsfreigabe sind bei spielsweise die von der Auftragserzeugung vorgege benen Plan-Zugangstermine und/oder die Verfügbar keit der benötigten Ressourcen. Mit der Reihenfolgebildung wird festgelegt, wel cher Auftrag in einer Warteschlange als jeweils nächster bearbeitet werden soll. Dazu wird jedem Auftrag nach definierten Kriterien ein Merkmal zugeordnet, das dessen Priorität im Vergleich mit den übrigen wartenden Aufträgen bestimmt. Es ist eine Reihe von Reihefolgeregeln bekannt, die verschiedene primäre Zielsetzungen unterstützen wie bspw. kurze Durchlaufzeiten oder Rüstzeitein sparungen. Mit der Kapazitätssteuerung schließlich werden Ar beitszeiten arbeitssystemspezifisch festgelegt und
IstZugang
PlanZugang Durchlaufzeit
Auftragsfreigabe
Bestand
Bestand Auslastung
Kapazitätssteuerung
Kapazitätssteuerung
IstAbgang
Rückstand
PlanAbgang
Auftragserzeugung
Termintreue 2
Reihenfolgebildung
4 1
3
Reihenfolgebildung
IstReihenfolge
ReihenfolgeAbweichung
PlanReihenfolge
Produktion Aufgabe Differenz
a) Aufgaben
Stellgröße
Regelgröße
Zielgröße
Wirkrichtung
b) Wirkzusammenhänge
Bild 9.13: Modell der Fertigungssteuerung – Aufgaben und Wirkzusammenhänge © 2008 IFA © IFA 14.969
274
14.969
Bild 9.13
9.9 Auswahl und Konfiguration von Fertigungssteuerungsverfahren
• Conwip • Engpasssteuerung • Belastungsorientierte Auftragsfreigabe
• MRP II • BestellbestandsVerfahren
Auftragsfreigabe
• Leistungsmaximierend • Rückstandsregelnd
• Kanban • Fortschrittszahlen
Kapazitätssteuerung
Auftragserzeugung
Reihenfolgebildung
• First In-First Out • Geringster Restschlupf • Rüstzeit-optimierend © 2008 IFA
14.970
Bild 9.14: Zuordnung ausgewählter Steuerungsverfahren zu den Aufgaben der Fertigungssteuerung © IFA 14.970
Mitarbeiter einzelnen Systemen oder Gruppen zu geordnet. Sie beeinflusst damit den Ist-Abgang einer Fertigung. Beispiele für ausgewählte Verfahren, die zur Erfül lung der Aufgaben herangezogen werden können, zeigt Bild 9.14. Aufgrund der Fülle der bekannten Verfahren ist an dieser Stelle nur eine knappe Dar stellung möglich. Für weitergehende Informationen sei daher auf die entsprechende Fachliteratur, insbe sondere [Löd08] und [Schö07] verwiesen. Von den Verfahren zur Auftragserzeugung ist der MRP II-Ansatz weit verbreitet, ebenso das Bestell bestands-Verfahren und das Kanban-Verfahren (eine Erläuterung zu Kanban findet sich in Abschn. 4.7), während das Fortschrittszahlenverfahren in ver netzten Lieferketten über mehrere Fertigungsstufen hinweg Anwendung findet. Bei der Auftragsfreigabe ist die Belastungsorientierte Auftragsfreigabe bekannt geworden [Wie97], ebenso
9
das ConWip-Verfahren [Hop96]. Beide zielen auf die Beherrschung der Durchlaufzeit mit Hilfe einer Bestandsregelung. Andere Ansätze gehen von einer Engpasssteuerung aus, wie bspw. der OPT-Ansatz (Optimized Production Technology) [Gol84]. Verfahren der Kapazitätssteuerung versuchen häu fig, eine maximale Auslastung der Arbeitsplätze zu erreichen, andere achten mehr darauf, durch eine Rückstandsregelung die Termineinhaltung zu unter stützen. Schließlich sollen Reihenfolgeregeln entweder die Durchlaufzeit, die Termineinhaltung oder die Rüst zeitminimierung unterstützen. Generell ist allerdings festzustellen, dass die Wirkung von Prioritätsregeln stark bestandsabhängig ist und die Regeln bei gerin gen Beständen alle auf die Regel „First-in-First-out“ hinauslaufen. Wichtig ist an dieser Stelle die Erkenntnis, dass jedes Verfahren einen spezifischen Einsatzbereich, aber auch eigene Einsatzvoraussetzungen und -grenzen
275
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
1
1
3 2
Fertigung
Controlling
Kunde
Lieferant
PPS
3 PPS
2 PPS
Fertigung
Montage
Kunde
Controlling
Controlling B
F
M
V
a) Kundenentkopplungspunkte
b) Prozessanalyse 2
3
2
Make-to-Order
Bestände
Bestände
Bestände
3
Assemble-to-Order
Termintreue
Auslastung
Auslastung
Auslastung
Termintreue
Durchlaufzeit
1
Durchlaufzeit
Make-to-Stock
Durchlaufzeit
1
Termintreue
c) Zieldefinition
9
© 2008 IFA
14.971
Bild 9.15: Konfiguration der Fertigungssteuerung – Prozessanalyse und Zielfindung © IFA 14.971
hat. Auch nehmen manche Verfahren mehrere der vier Aufgaben wahr. Soll in einem Anwendungsfall die Fertigungssteue rung konfiguriert werden, so sind zunächst die stra tegischen Zielsetzungen des Unternehmens, die Kun denanforderungen, die sich aus der Produktstruktur ergebenden Restriktionen und die Fähigkeiten der Produktion zu berücksichtigen. Ausgangspunkt ist die Festlegung der Kundenauf tragsentkopplungspunkte (Bild 9.15a), die Festle gung der einzelnen Regelstrecken der Produktion (Bild 9.15b) und die Quantifizierung der Zielgrößen für die einzelnen Regelstrecken (Bild 9.15c). In je der Regelstrecke können verschiedene Primärziele verfolgt werden. Wie bereits erläutert, dominiert im kundenneutralen Produktionsbereich die For derung nach einer wirtschaftlichen Produktion, während in den kundenauftragsbezogenen Produk tionsabschnitten die Logistikleistung als Ziel im Vordergrund steht.
276
Wichtig ist ferner, dass die Ziele der einzelnen Re gelstrecken aufeinander abgestimmt sind, sofern sie gemeinsam an der Erfüllung von Kundenaufträgen mitwirken. Wird beispielsweise für den kundenauf tragsbezogenen Teil einer Wertschöpfungskette eine hohe Termintreue bei kurzen Durchlaufzeiten als Ziel formuliert, so muss die Versorgungssicherheit für diesen Teil der Prozesskette entweder durch ein entsprechend dimensioniertes Entkopplungslager oder eine hohe Reaktionsfähigkeit und somit kurze Durchlaufzeiten der vorgeschalteten Regelstrecken sichergestellt werden. Handelt es sich hingegen um parallele Fertigungssegmente (siehe beispielsweise Bild 9.9: Beispiel einer segmentierten Fabrik), die verschiedene Produkte für unterschiedliche Kunden gruppen herstellen, so sind die Primärziele für die Segmente voneinander unabhängig. Im Weiteren sind die einzelnen Regelstrecken in Be zug auf die steuerungsrelevanten Merkmale zu ana lysieren, die sich aus den dort zu fertigenden Produk
9.9 Auswahl und Konfiguration von Fertigungssteuerungsverfahren
Die Produktion selbst beeinflusst die Auswahl der Fertigungssteuerungsverfahren zunächst über das gewählte Fertigungsprinzip, die Fertigungsart sowie die Art des Teilflusses. Die Materialflusskomplexität zeigt an, ob über alle zu bearbeitenden Produkte ein geradliniger oder stark vernetzter Materialfluss mit vielen Rückschleifen vorliegt. Damit einher geht in der Regel auch die Beurteilung der Engpasssituati on. Bei einem sehr geradlinigen Materialfluss wird es tendenziell wenige und konstante Engpässe ge ben, während man bei vernetzten Materialflüssen häufig wechselnde Engpasssituationen vorfindet. Weiterhin sind die Schwankungen des Kapazitätsbe darfs zu beurteilen. Zwar ergeben sie sich aus den Bedarfsschwankungen der Produkte, jedoch sind bei der Fertigung mehrerer Produkte trotz stärke
ten und der Produktion selbst ergeben (Bild 9.16). Die Produkte sind hinsichtlich ihrer Komplexität (gering teilige oder mehrteilige komplexe Erzeugnisse), des Produktwertes sowie verschiedener Bedarfskriterien (Absatzmenge und -schwankung sowie Variantenan zahl) zu unterscheiden. Ein weiteres entscheidungs relevantes Kriterium kann eine eingeschränkte Lagerfähigkeit der Produkte darstellen. Mit der Belastungsflexibilität schließlich wird ausgedrückt, ob der Abnehmer (sei es ein externer oder auch in terner Kunde) terminliche Verschiebungen in einem begrenzten Umfang akzeptieren kann. Grundsätzlich ist dies möglich, wenn auf ein Lager gefertigt wird. In Ausnahmefällen sind Terminverschiebungen aber auch bei einer kundenauftragsbezogenen Produktion mit dem Kunden vereinbar.
Kriterium
Produkt
Produktkomplexität
mehrteiliges Erzeugnis mit einfacher Struktur
geringteiliges Erzeugnis
mehrteiliges komplexes Erzeugnis
Produktwert
sehr niedrig
niedrig
mittel
hoch
sehr hoch
Absatzmenge pro Jahr
sehr niedrig
niedrig
mittel
hoch
sehr hoch
Variantenanzahl
sehr niedrig
niedrig
mittel
hoch
sehr hoch
Badarfsschwankungen
sehr niedrig
niedrig
mittel
hoch
sehr hoch
Lagerfähigkeit
sehr niedrig
niedrig
mittel
hoch
sehr hoch
Belastungsflexibilität
sehr niedrig
niedrig
mittel
hoch
sehr hoch
Arbeitsplanqualität Fertigungsprinzip
Produktion
Ausprägung
sehr niedrig (nicht vorhanden) Werkbankprinzip
Fertigungsart
Einmalfertigung
Teilefluss
Chargenfertigung
mittel
hoch
sehr hoch
BaustellenWerkstättenInselprinzip prinzip prinzip Einzel- u. KleinSerienfertigung serienfertigung Losweiser Überlappte Transport Fertigung
Fließprinzip Massenfertigung One-Piece Flow
Materialflusskomplexität Engpässe in der Produktion Schwankung des Kapazitätsbedarfs
sehr niedrig
niedrig
mittel
hoch
sehr hoch
sehr viele (wechselnd)
mehrere (konstant)
wenige
einer
keine
sehr niedrig
niedrig
mittel
hoch
sehr hoch
Kapazitätsflexibilität
sehr niedrig
niedrig
mittel
hoch
sehr hoch
Versorgungszuverlässigkeit durch Vorgänger
sehr niedrig
niedrig
mittel
hoch
Datenverfügbarkeit
sehr niedrig (nur je Auftrag)
mittel
hoch
9
sehr hoch sehr hoch (je Arbeitsplatz)
© 2008 IFA
Bild 9.16: Ausprägungen steuerungsrelevanter Merkmale © IFA 14.972
277
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
9
rer Bedarfsschwankungen auf Produktebene durch kompensatorische Effekte vergleichsweise konstante Kapazitätsbedarfe auf Arbeitssystemebene möglich. Je heterogener das Produktspektrum ist, desto grö ßer ist die Wahrscheinlichkeit hierfür. Schließlich ist noch die Versorgungssicherheit durch den Vorgän gerprozess zu berücksichtigen. Den vorgenannten Anforderungen und Restriktionen stehen die vorhan dene Kapazitätsflexibilität sowie die Datenverfügbar keit als Fähigkeiten der Produktion gegenüber. Auf der Grundlage der vorgenannten Informationen kann im nächsten Schritt die Konfiguration der Ferti gungssteuerung erfolgen, wozu Bild 9.17 ein Schema zeigt. Ausgehend von den quantifizierten Zielgrößen sowie den Ausprägungen der steuerungsrelevanten Merkmale ist für jede Aufgabe der Fertigungs steuerung zu prüfen, welches prinzipiell in Frage kommende Verfahren eingesetzt werden soll. Unter Berücksichtigung der erwarteten Ergebnisse (benö tigt als Input für die nachfolgende Aufgabe) und der Verfahrensanforderungen sind die Datenbedarfe und Datenquellen zu identifizieren. Ergänzend dazu ist das Controllingkonzept zu entwerfen, mit dem die Zielerreichung überprüft werden kann und mit des sen Hilfe sich bei Bedarf Maßnahmen zur Prozessver besserung ableiten lassen. Das Vorgehen zur Konfiguration soll nachfolgend an einem Praxisbeispiel erläutert werden [Nyh06]. Es handelt sich um einen Systemlieferanten für einen Nutzfahrzeughersteller. Im Rahmen eines Zieldefini
tionsworkshops wurde zunächst die Bedeutung der logistischen Zielgrößen ermittelt und mit dem aktu ellen Leistungsprofil verglichen (Bild 9.18a). Dabei zeigte sich, dass insbesondere hinsichtlich der Liefer treue der Fertigung ein erheblicher Handlungsbedarf bestand. In der Vergangenheit umging man die dies bezüglichen Schwächen, indem das Unternehmen die Produkte auf Lager fertigte und von dort an den Kunden auslieferte. Schwächen in der Termintreue wurden mit hohen Fertigwarenbeständen ausgegli chen. Daher einigte sich das Projektteam als zweites Hauptziel für die Konfiguration der Fertigungssteue rung auf die Reduktion der Fertigwarenbestände und damit der Kapitalbindungskosten. Fertigwarenbe stände sollten möglichst gänzlich entfallen. Das Unternehmen fertigt kundenspezifische Produkte in kleinen und mittleren Stückzahlen in einer hohen Varianz (Bild 9.18b). Die Belastungsflexibilität war aufgrund der Kundenanforderungen an die Termin einhaltung sehr gering. Die Fertigung war nach dem Werkstättenprinzip organisiert und zeichnete sich durch eine hohe Materialflusskomplexität aus. In der Vergangenheit hat das Unternehmen versucht, mit fle xiblen Arbeitszeitmodellen, einem Springerpool mit mehrfach qualifizierten Mitarbeitern und Fremdver gabe den Anforderungen bezüglich der logistischen Zielgrößen, insbesondere der Vermeidung von Termi nabweichungen, weitgehend gerecht zu werden. Die Ergebnisse entsprachen jedoch nicht den gesetzten Anforderungen. Daher sollte die Fertigungssteuerung insgesamt neu konfiguriert werden.
Datenquellen Datenbedarfe
Ziele
Auftragserzeugung
Auftragsfreigabe
Ergebnisse
Kapazitätssteuerung
Strecke (Fertigung/Montage)
Controlling
Bild 9.17: Konfiguration der Fertigungssteuerung © IFA 14.973
278 © 2008 IFA
Reihenfolgebildung
14.973
9.9 Auswahl und Konfiguration von Fertigungssteuerungsverfahren
gering / unbedeutend
•
Liefertreue
•
Lieferzeit
•
Herstellkosten
•
Kapitalbindungskosten
hoch / entscheidend
aktuelle Leistung
Bedeutung
a) Zieldefinition
•
Einzel- und Kleinserienfertigung
•
Fertigung nach dem Werkstättenprinzip
•
hohe Variantenzahl
•
sehr hohe Materialflusskomplexität
•
sehr niedrige Belastungsflexibilität
•
hohe Kapazitätsflexibilität
•
mittlere Schwankung des Kapazitätsbedarfs
b) Rahmenbedingungen Bild 9.18: Konfiguration der Fertigungssteuerung – Ausgangslage in einem Praxisbeispiel
© 2008 IFA © IFA 14.974
14.974
In den ersten Überlegungen stand zur Diskussion, eine Kanban-Steuerung zu realisieren. Aufgrund der hohen Produktvarianz und der geringen Stückzah len je Variante hätte ein solches Verfahren jedoch nicht zu den geforderten Bestandsreduzierungen im Fertigwarenbereich geführt. Generell gilt, dass eine Pull-Steuerung wie Kanban immer in ein Lager (den Kanban-Puffer) hineinproduziert und damit Lager bestände eine notwendige Verfahrensvoraussetzung sind. Weiterhin wurde überprüft, ob ein bestandsregeln des Verfahren (hier die belastungsorientierte Auf tragsfreigabe) eingesetzt werden kann. Bei diesen Verfahren erfolgt die Auftragsfreigabe, wenn die Bestände an den Arbeitssystemen einen vorgegebe nen Wert unterschreiten. Ziel dieser Verfahren ist es, mit konstanten Beständen auch die Durchlaufzeiten auf einem stabilen Niveau zu halten und somit die Planungs- und insbesondere die Terminsicherheit zu erhöhen. Voraussetzung ist, dass die Aufträge und
9
somit die Belastungen der Arbeitssysteme terminlich verschoben werden können. Dies geht aber nur, wenn die Kundenanforderungen eine Belastungsflexibilität zumindest in Grenzen zulassen oder die Produktion durch ein Lager vom Kunden entkoppelt ist. Da hier beides nicht der Fall war, kamen bestandsregelnde Verfahren ebenfalls nicht in Frage. Die für das Unternehmen letztlich gefundene Konfi guration ist in Bild 9.19 dargestellt. Die Auftragser zeugung erfolgt auf Basis der gemeldeten wöchent lichen Kundenbedarfe, für die im ersten Schritt eine retrograde Auftragsterminierung bis auf die Ebene der einzelnen Arbeitsvorgänge durchgeführt wird. Die dabei gewonnenen Informationen werden unter anderem genutzt, um den Kapazitätsbedarf mit drei unterschiedlichen Planungshorizonten (3 Wochen, 6 Wochen, 3 Monate) zu ermitteln und geeignete mit telfristige Maßnahmen zur Kapazitätsabstimmung (hauptsächlich Einplanung von Sonderschichten und Fremdvergabe) anzustoßen.
279
9 Funktionale Arbeitsbereichsgestaltung
Auftragserzeugung
Auftragsfreigabe
Reihenfolgebildung
Kapazitätssteuerung
Kundenbedarfe
Fertigungsauftrag
freigegebener Fertigungsauftrag
Fertigungsauftrag mit Rangwert
• Retrograde Auftragsterminierung • 3-Horizonte Kapazitätsbedarfsrechnung
• Auftragsfreigabe nach Termin
• Rangwert nach Restschlupf
• Rückstandsregelung
• Arbeitsverteilung
• kurzfristige Kapazitätsflexibilität
• Kapazitätsabstimmung
Controlling
Bild 9.19: Konfiguration der Fertigungssteuerung – Praxisbeispiel
9
280
© IFA 14.975
Die Auftragsfreigabe erfolgt nun streng nach berech netem Starttermin; andere Kriterien wie die Siche rung der Auslastung einzelner Arbeitssysteme durch Vorziehen von Aufträgen sind nicht mehr zugelassen. Die Reihenfolgebildung in der Produktion erfolgt ebenfalls ausschließlich nach Terminkriterien (Rest schlupf: freie ‚Pufferzeit’ bis zum Bedarfstermin). Für die Kapazitätssteuerung im Kurzfristbereich wur de schließlich ein Ansatz zur Rückstandsregelung gewählt. Sofern eine Differenz zwischen Planabgang und Istabgang an einem Arbeitssystem entsteht, kommen die kurzfristig umsetzbaren Maßnahmen zur Kapazitätsabstimmung wie die Nutzung flexibler Arbeitszeitmodelle und Einsatz des Springerpools zur Anwendung. Da für die Reihenfolgebildung und die Kapazitäts steuerung aktuelle arbeitsgangbezogene Rückmel dedaten benötigt werden, wurde zudem ein Logistik controllingsystem eingeführt, welches diese Daten liefert. Das System dient auch dazu, wichtige Pla nungsparameter wie zum Beispiel die Durchlaufzei ten und Kapazitäten der Arbeitssysteme fortlaufend
zu überprüfen und ggf. nachhaltige Änderungen in die Fertigungssteuerung zurückzuspielen. Mit diesem Beispiel sind die Überlegungen zur Ge staltung der Arbeitssystemebene aus Sicht der Pro duktionseinrichtungen und der Produktionslogistik abgeschlossen. Im folgenden Kapitel wird die zuge hörige Raumgestaltung behandelt.
9.10 Literatur [Frü06]
[Gol84]
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9.10 Literatur
[Hop96] [Löd08]
[Nyh03]
[Nyh06]
[Sch06]
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[Schö07]
[Wie97]
[Wie08]
[Wil98]
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9
281
Kapitel 10 Räumliche Arbeitsbereichs gestaltung
10
284
10.1 Kommunikation 10.1.1 Wege, Treppen, Zwischenräume 10.1.2 Anordnung und Verbindung Arbeitsbereiche 10.1.3 Lage, Form und Ausstattung Gemeinschaftsräume
287 289
292
10.2 Belichtung 10.2.1 Tageslicht 10.2.2 Natürliche Belichtung 10.2.3 Künstliche Beleuchtung 10.2.4 Lichtlenkung
293 293 294 297 299
10.3 Behaglichkeit
300
290
10.4 Rekreation 10.4.1 Pausenbereiche, Sozialräume 10.4.2 Kantine, Cafeteria, Teeküchen 10.4.3 Sport, Spiel, Freizeit
302 303 304 304
10.5 Brandschutz 10.5.1 Brandschutzkonzept, Brand abschnittsflächen 10.5.2 Abstandsflächen, Brandwände, Komplextrennwände 10.5.3 Feuerwiderstandsklassen 10.5.4 Flucht- und Rettungswege 10.5.5 Rauch- und Wärmeabzug, Feuer löscheinrichtungen
304
10.6 Literatur
310
305 306 307 308 309
Bild 10.1: Übersicht der Gestaltungsfelder und -elemente eines Arbeitsplatzes
287
Bild 10.2: Kommunikationsgerechte Raumgestaltung
288
Bild 10.3: Kommunikationsfördernde Strukturmerkmale
289
Bild 10.4: Bürokonzepte in Abhängigkeit von Anwesenheitszeit und Arbeitsweise (congena gmbH nach wikipedia)
290
Bild 10.5: Übersicht Bürokonzepte (congena gmbH nach wikipedia)
290
Bild 10.6: Zweigeschossiger Fabrikbau mit Zwischengalerien (Reichardt)
292
Bild 10.7: Einfluss des Raumquerschnitts auf den Tageslichtquotient
294
Bild 10.8: Lichtverteilung bei verschiedenen Dachformen
295
Bild 10.9: Vor- und Nachteile verschiedener Oberlichtformen
296
Bild 10.10: 3D-Simulation der Tageslichtverteilung einer Industriehalle
297
Bild 10.11: Nennbeleuchtungsstärke für industrielle Tätigkeiten
298
Bild 10.12: Auswirkung Erhöhung Beleuchtungsstärke auf Leistungsfaktoren
299
Bild 10.13: Systeme für seitlichen Lichteintrag
300
Bild 10.14: Behaglichkeitsfelder für Raumlufttemperatur und Strahlungstemperatur (nach Frank)
301
Bild 10.15: Behaglichkeitsfelder für Luftfeuchte und Raumlufttemperatur
303
Bild 10.16: Einfluss der Bauwerkselemente auf Nutzung und Brandschutz
304
Bild 10.17: Zulässige Größe von Brandabschnittsflächen
306
Bild 10.18: Brandschutzanforderungen an umgebende Gebäudeflächen
307
Bild 10.19: Ausführung von Brandwänden und Komplextrennwänden
308
10
285
10
286
Bild 10.20: Feuerwiderstandsklassen für Bauteile eines Gebäudes
309
Bild 10.21: Anforderungen an Rettungswege
310
Bild 10.22: Anforderungen an Rauch- und Wärmeabzug
311
Die Arbeitswelt ist Teil unseres Seins. Der Arbeitsbereich als persönlich erfassbarer Teilbereich von Fertigung, Werkstatt oder Büro sollte ein selbstverständlicher und gleichermaßen erfreulicher Teil unserer Persönlichkeit sein. Es muss falsch sein, die Lebensqualität auf die Zeit außerhalb der Arbeit zu reduzieren und die Trennung von Arbeit und Freizeit kantenscharf auszulegen. Messlatte bei der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse in Fabriken waren bislang die gesetzlichen Mindestforderungen für ausreichend Licht, Luft oder Schallschutz. Ihre Erfüllung galt allgemein schon als Inbegriff der Humanisierung des Arbeitsbereiches. Aber ebenso wichtig wie die messbaren Parameter für physisches Wohlbefinden sind die weniger eindeutig messbaren Parameter wie die Varianz des Tageslichtes und eine harmonische Umgebung. Auf der Gestaltungsebene Arbeitsbereich sind die baulichen Möglichkeiten zur Förderung von körperlichem und geistigem Wohlbefinden, Arbeits-
bereitschaft und Arbeitsleistung zu untersuchen. Bild 10.1 zeigt die wichtigsten Gestaltungselemente der Gestaltungsfelder Kommunikation, Belichtung, Behaglichkeit, Rekreation und Brandschutz. Im Weiteren werden diese erläutert und ihre Bedeutung für die Wandlungsfähigkeit näher betrachtet.
10.1 Kommunikation Der Einfluss der personalen Kommunikation auf die Schaffenskraft ist unleugbar, Kreativität und Innovation sind Grundvoraussetzungen wandlungsfähiger Unternehmen. Gebäude leisten einen wichtigen Beitrag, um unentdecktes Potenzial für Kommunikation zu erschließen. Immer mehr Menschen verbringen immer mehr Arbeitszeit in Projektteams, Entscheidungsgremien, Arbeitsgruppen und Gesprächs-
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Bild 10.1: Übersicht der Gestaltungsfelder und -elemente eines Arbeitsplatzes © Reichardt 15.180_JR_B
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10 Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
runden. Das alte japanische Sprichwort: „Das Gold liegt in den Köpfen der Mitarbeiter“, weist dabei den richtigen Weg zur Rückbesinnung auf die einzigartigen Talente des Menschen. In der tayloristischen Massenfertigung wurde Denken, Entscheiden und Handeln gespalten, jetzt muss Kopf- und Handarbeit wieder zusammengeführt werden. Die traditionellen „Kasten“ der Blaukittel und Weißkragen sind in Auflösung begriffen, Gemeinsamkeit wird zum Ideal. Material- und Kommunikationsfluss, bisher getrennt betrachtet, werden integriert – damit wird Kommunikation zu einem entscheidenden Produktionsfaktor. Fehler im physischen Materialfluss werden früher oder später evident, im geistigen Materialfluss Kommunikation bleiben sie meist unentdeckt. Für die Gebäudekonzeption bedeutet dies, Strukturen bereitzustellen, die die Kreativität der Nutzer anregen. Kommunikation geschieht außerhalb des Büros mehr zufällig, informell auf dem Flur oder formell gelenkt z.B. während einer Seminarveran-
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Bild 10.2: Kommunikationsgerechte Raumgestaltung © Reichardt 15.161_JR_B
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staltung oder einem Workshop. Gerade bei größeren Industriewerken wird nach [Rei01] durch eine entsprechende räumliche Gestaltung von Verkehrsflächen, Arbeitsbereichen und Gemeinschaftsräumen die Kommunikationsdichte nachweislich gefördert. Bild 10.2 zeigt Wirkungen der Raumgestaltung in Abhängigkeit von der Art der Kommunikation, die stark oder schwach nach innen gerichtet sein kann oder außenorientiert ist. Die für ein Projekt „richtige“ Mischung aus Innen- und Außenorientierung sollte schon in der Aufgabenstellung und Zielprojektion thematisiert werden. Folgerichtig könnten z.B. in der Ausformung der Architektur Kombinationen von größeren (gemeinschaftlichen) Gruppenräumen mit kleineren (individuellen) Denkzellen geboten werden. Kommunikation findet gezielt in Gemeinschaftsräumen und eher spontan in Verbindungsbereichen statt. Für die Architektur stellt sich die Frage eines anregenden Impulses für Kommunikation durch die Bereitstellung hierfür geeigneter Raumformen.
10.1 Kommunikation
10.1.1 Wege, Treppen, Zwischenräume Erschließungsflächen werden vielfach nur eindimensional als minimierte funktionale Notwendigkeit konzipiert. Im wahrsten Sinn des Wortes sind dies „Fluchtwege“. Flure und Treppen ohne Sonnenlicht mit fahler Ausleuchtung, schmal, räumlich gedrückt, manchmal sogar klaustrophob gestaltet, drängt es die Menschen, sie schnell zu durcheilen und ja nicht stehen zu bleiben. Es entsteht keinerlei Anreiz zum kurzfristigen Verweilen und zu einem spontanen Gedankenaustausch. Architektonische Mittel einer Neuinterpretation dieser „Fluchtwege“ sind Tageslicht, attraktive Blickbezüge und Angebote zum Verweilen, Bild 10.3 links. Baustrukturen, die ohne Not auf natürliches Licht für Treppen und Flurbereiche verzichten, sollten der Vergangenheit angehören. Die Varianz des Sonnenlichts, die Bewegung von Lichtflecken und Schattenbildern erzeugt eine dem Menschen angenehme At-
mosphäre. Attraktive Blickbezüge fördern vielfältige Anregungen durch Empfangen visueller Eindrücke, als Durchblicke nach links und rechts, oben und unten, über Galerien und Lufträume hinweg. Die natürliche menschliche Neugier erhält Befriedigung, das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein, erleichtert spontanen Kontakt durch Handzeichen oder Zuruf. Flure müssen nicht als immer gleiches Standardprofil und Treppenpodeste nicht als minimal mögliche Bewegungsflächen ausgeführt werden. Die Vorsehung „geplanter Zufälligkeiten“ der Begegnung durch räumliche Aufweitungen fördert die Möglichkeit des kurzzeitigen Verweilens. Teeküchen oder Kopierstationen können nach Bedarf diesen Situationen zugeordnet werden. Studien nach [Eba84] und [Bis98] belegen, dass 80 Prozent aller innovativen Ideen durch direkte personale Kommunikation entstehen und die informelle Kommunikation die Zusammenarbeit am Arbeitsplatz fördert. Kommunikationsarchitektur ist also eine höchst lohnende Angelegenheit.
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Bild 10.3: Kommunikationsfördernde Strukturmerkmale © Reichardt 15.162_JR_B
289
10.1.2 Anordnung und Verbindung Arbeitsbereiche
zeitweise
10 Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
ständig
Anwesenheit
Business Für die immer weniger trennscharf abgrenzbaren Teambüro Club Bereiche Fertigung, Montage, Arbeitsvorbereitung, Produktionsplanung- und Steuerung, Qualitätssicherung, etc. bis hin zur Forschung und Entwicklung Kombibüro sind veränderbare Raumbereiche mit Möglichkeiten des gegenseitigen Austausches oder der Verzahnung bereitzustellen. Noch immer werden Fabriken nach dem Muster isolierter Produktionshallen und GroßraumZellenbüro davon freistehender Verwaltungsbauten konzipiert büro und weisen separate, über eine Brücke verbundene Bauformen aus. An die Produktionshallen angedockt werden häufig auch isolierte Randbauten mit gerinkooperativ Arbeitsweise autonom ger Raumtiefe längs einer Brandwand ohne Einblick für FabrikanlagenBild und Logistik 15 270 in die Produktion. Der für Kommunikation© Institut so wich10.4: Bürokonzepte in Abhängigkeit von Anwesenheitszeit und Arbeitsweise (congena gmbH nach wikipedia) tige Austausch, die Verzahnung an der Nahtstelle © IFA 15.270 von Denken, Entscheiden und Handeln ist durch die meist nicht mehr rückgängig zu machende Wahl derartiger Lösungen stark eingeschränkt. destruktur entstehenden Kommunikationsräumen, Vorteilhaft sind demgegenüber variable Raumformen Bild 10.3 Mitte. Im Bürobau ist der Zusammenhang mit veränderlichen, transparenten Raumgrenzen sovon Gebäudeform und Gebäudetiefe für die Wahl der wie ein Angebot an übergeordneten, durch die GebäuArbeitsform offensichtlich. Der traditionelle Bürotyp
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ro nbü e l l e Z
© Institut für Fabrikanlagen und Logistik
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15.271
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| üro b i b Kom
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ub s Cl s e n i Bus
Bild 10.5: Übersicht Bürokonzepte (congena gmbH nach wikipedia) © IFA 15.271
10.1 Kommunikation
mit Mittelflur und beidseitigen Zellenbüros hat im Hinblick auf Kommunikation eindeutige Nachteile gegenüber Arbeitsformen wie Kombibüros, Gruppenräumen oder hieraus abgeleiteten Mischformen. Die Gebäudetiefe leitet sich beim Zellenbüro aus einem ca. 2 m breiten Flur und ca. 5 m tiefen, schmalen Räumen mit ca. 12 bis 13 m2 Gesamtfläche ab. KombiBüroformen mit Einbeziehung der ehemaligen Flure als Fläche für gemeinschaftliche Nutzungen oder Gruppenraumformen benötigen ca. 15 bis 18 m Gebäudetiefe. Wurde dieser Gestaltungsbereich bisher im Wesentlichen als ein von der Fabrikplanung völlig getrennter Komplex behandelt, rückt mit der zunehmenden Vermischung von Hand- und Kopfarbeitsplätzen diese Aufgabe in den Fokus des Fabrikplaners. Ohne zu sehr in die Details zu gehen, sollen hierzu einige Ansätze skizziert werden. Eine gute Übersicht zu diesem Thema bietet [Spat03]. Bild 10.4 ordnet die heute bekannten Bürokonzepte anhand der Parameter Anwesenheitszeit und Arbeitsweise ein, während Bild 10.5 ergänzend eine Vorstellung vom Layout dieser Konzepte vermittelt. Das klassische Zellenbüro bietet bei ständiger Anwesenheit und autonomer Arbeitsweise zwar einen störungsfreien Rückzugsraum, ist aber prinzipiell wandlungsträge und kommunikationsfeindlich. Der Gegenentwurf des Großraumbüros soll die Zusammenarbeit stärken, sie erfreuen sich aber wegen der starken Beeinträchtigung einer konzentrierten Arbeit durch Personenbewegungen, Telefonate und Besprechungen keiner großen Beliebtheit. Durch Aufteilung in überschaubare Bereiche und Vereinbarung eines Verhaltenskodex versucht man vielerorts, diesen Nachteilen zu begegnen. Teambüros bieten sich für temporäre Projektteams an. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis verbreitet, dass es auf eine zweckmäßige Kombination der Büroformen ankommt, die daher Kombibüro genannt wird. Hier sind auf einer größeren Fläche mit weitgehend transparenten und möglicherweise mobilen Trennwänden Einzelbüros mit davor angeordneten Arbeitsbereichen konzipiert. Konzentrierte Einzelarbeit und spontane Gruppenarbeit sind
gleichermaßen realisierbar. Schließlich gewinnt die Idee des Business Club zunehmend Anhänger. Nach dem Vorbild der in Flughäfen, Bahnhöfen und großen Hotels anzutreffenden Business Center werden im Unternehmen temporäre Arbeitsplätze für Einzelpersonen oder Arbeitsgruppen etabliert, die sich zurückziehen wollen bzw. mit internen und externen Teams nach neuen Lösungen suchen. Solche Ansätze bieten sich bspw. im Bereich Marketing, Forschung, Produktentwicklung und Engineering an. Bei der Gestaltung von Büroflächen wird auch immer mehr nach der Anwesenheitsdauer der Mitarbeiter gefragt. Wenn bspw. Vertriebsmitarbeiter nur etwa 50 % ihrer Arbeitszeit im Unternehmen verbringen und davon vielleicht noch einmal die Hälfte in Meetings, liegt es nahe, keine feste Zuordnung einer Person zu einem bestimmten Arbeitsplatz vorzusehen. Der Mitarbeiter hat dann vielleicht noch einen mobilen Container mit persönlichen Unterlagen. Zum Arbeitsbeginn holt er sich diesen aus einem Depot, sucht einen freien Schreibtisch, loggt sich mit seinem Laptop in das Firmennetz ein und ist in wenigen Minuten arbeitsfähig. Sollen zusätzlich Forschung und Entwicklung, Labore oder Werkstätten entstehen, kann dies für die Gebäudetiefe leicht 20 m und mehr bedeuten. Falls Anteile der Fertigung in Stockwerken übereinander gestapelt werden, können intelligent strukturierte Flächen mit freizügiger Grundrissentwicklung ohne störende Wände und Stützen als „Industrieloft“ konzipiert werden. Gerade für sich verändernde Arbeitsund Kommunikationsformen bieten variable Raumformen und Raumtiefen beste Voraussetzungen. Die Raumabschlüsse der verschiedenen Bereiche sollten untereinander reversibel und veränderbar sein, ohne großen Umstand Raumvergrößerungen oder Raumverkleinerungen erlauben sowie Austausch und gegenseitige Verzahnung ermöglichen. Diese mobilen Wandelemente sollten zum großen Teil transparent sein und so Einblicke und Durchblicke gewähren. Die Transparenz des Einzelnen in der Gruppe fördert den Aufbau und Erhalt einer Gemeinsamkeit, eines Wir-Gefühls, eines Teams zur Verwirklichung einer gemeinsamen Vision.
10
291
10 Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
Bei geschickter Neuinterpretation einer erweiterten Funktion der Verkehrsflächen können ganze Werkstrukturen von einer in Schnittprofil, Grundrissfigur und Verknüpfungsprinzip der Bauformen verankerten Kommunikationsidee profitieren. Ausgehend von skandinavischen Beispielen entstanden beispielsweise auf der Grundlage des innovativen Montagewerks von Saab in Malmö mehrere Varianten eines Kommunikationsrückgrats. In Umkehrung traditioneller Rezepte ist hier jeweils die Mitte der Fabrik nicht mit Materialfluss und Logistik, sondern durch die Kommunikations- und Rekreationsbereiche der Mitarbeiter belegt. Auch das Skoda-Automobilwerk in Mladá Boleslav bei Prag weist diese Struktur auf.
10.1.3 Lage, Form und Ausstattung Gemeinschaftsräume Ein vielfaches Angebot zu formeller, gelenkter Kommunikation sollte an strategisch wichtigen Stellen im Gebäude verteilt werden. Seminar- und Trai-
ningsräume bieten sich insbesondere an der Nahtstelle zur Produktion an. Je nach Bedarf erlauben Lamellen oder Jalousien vielfache Veränderungen für gewünschte Ein- oder Ausblicke. Besprechungsbereiche können an ähnlichen Stellen oder aufgrund häufigen Gästeverkehrs in der Nähe des Foyers liegen. Muffige Pausenräume und Umkleiden in Kellerlage sollten der Vergangenheit angehören und durch helle, luftige, attraktive Angebote abgelöst werden, Bild 10.3 rechts. An einer übergeordneten Stelle wie Dachterrasse oder an einem mit Pflanzen und Teich ausgestalteten Freibereich animiert eine Cafeteria oder Kantine mit Freizeitflair auch zum Besuch außerhalb der reinen Verköstigungszeiten und somit zum Informationsaustausch. Ein Beispiel für eine Lösung, bei der die Aspekte Kommunikation und Wandlungsfähigkeit im Vordergrund standen, zeigt Bild 10.6. Es handelt sich um ein zweigeschossiges Produktions- und Technologiegebäude für einen Hersteller hochwertiger Audiogeräte [Fi09]. Jedes Geschoss besitzt auf drei Seiten eine
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Bild 10.6: Zweigeschossiger Fabrikbau mit Zwischengalerien (Reichardt) © Reichardt
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10.2 Belichtung
Zwischengalerie zur Aufnahme der Büros für alle an der Technologieentwicklung, Arbeitsvorbereitung und Produktion beteiligten Bereiche. Eine zentrale Pausenfläche im Erdgeschoss, gläserne Bürofronten und ein zentral lokalisierter Besprechungsraum erlauben eine rasche Kommunikation. Das große Stützenraster von 16,8 x 8,4 m stellt einen hohen Grad an Wandlungsfähigkeit sicher. Soweit aus Emissionsgründen oder wegen besonderer klimatischer Bedingungen erforderlich, sind einige Bereiche mit einer Leichtbaukonstruktion gekapselt. Ein „inneres“ Wachstum ist ohne Eingriff in die Gebäudestruktur durch die nachträgliche Erweiterung der Galerien möglich.
10.2 Belichtung In den 1970er Jahren wurde in Ablösung bewährter Oberlichter in Shed-Bauweise die fensterlose, künstlich belichtete und belüftete Fabrik propagiert. Mittlerweile setzt eine Rückbesinnung auf die atmosphärische Qualität guter Belichtung von Arbeitsplätzen ein, Ziel ist jetzt vielfach die Tageslichtfabrik. Gründe hierfür liegen im steigenden ökologischen Bewusstsein, aber auch in der durch innovationsorientierte Produktion höheren Qualifikation der Mitarbeiter. Nach [Schu94] ist im Industriebau die ausgiebige Nutzung natürlichen Lichtes eine höchst ratsame Strategie. Einmal bietet sie den großen ökonomischen wie ökologischen Vorteil der dauerhaften Einsparung von Energie für Zwecke der Raumbeleuchtung. Darüber hinaus ist Licht, und insbesondere Tageslicht, der wichtigste Faktor bei der menschlichen Arbeit. 80 bis 90 % seiner Informationen nimmt der Mensch durch optische Wahrnehmung auf. Licht beeinflusst Motivation und Wohlbefinden des Menschen. Vor allem natürliches Licht, also die Erlebbarkeit wechselnder Lichtintensitäten und Lichtatmosphären, wirkt auf den Organismus anregend. Unbestritten ist der physische Einfluss des herrschenden Wetters auf die Stimmung des Menschen. Der Tagesrhythmus von 24 Stunden bestimmt unser Wach- und Schlafverhalten
und ist damit ein unverzichtbarer Zeitgeber für vegetative Körperfunktionen (vgl. auch Bild 7.11). Als gesicherte Erkenntnis gilt, dass die Varianz des Sonnenlichtes Fehlerquoten in der Produktion verringert. In Ergänzung zu natürlichem Licht und zur Ausleuchtung in Dunkelzeiten muss eine sorgfältige Planung alle Bedingungen für eine künstliche Beleuchtung erfassen und zu einer Gesamtgestaltung integrieren. Die Lichtverteilung im Raum kann insbesondere bei tiefen Gebäudequerschnitten durch Systeme der Lichtumlenkung optimiert werden. Im Weiteren werden die Gestaltungselemente Tageslicht, natürliche Belichtung, künstliche Beleuchtung und Lichtumlenkung anhand von Strukturmerkmalen sowie ihrer Bedeutung für Wandlungsfähigkeit näher erläutert.
10.2.1 Tageslicht Das Tageslicht vermittelt vor allem durch seine stetige Veränderung seiner Komponenten wie Intensität, Richtung und spektrale Zusammensetzung wesentlich mehr Informationsinhalte als ein statischer Zustand, wie er beim Kunstlicht auftritt. Tageslicht bewirkt nicht nur bessere Sehbedingungen, es erleichtert auch durch seine Varianz die optischen Wahrnehmungsabläufe, vergrößert die Informationsaufnahme und verringert die mentale Belastung. Die somit erhöhte freie Gehirnkapazität steigert die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit und verhindert Fehlleistungen. Die intelligente Nutzung der kostenlosen Ressource Tageslicht ist durchaus nicht selbstverständlich. Der Lichtplaner C. Bartenbach beklagt gerade im Industriebau ein mangelhaftes Verständnis für Tageslicht. “Leider sind die Vorkehrungen zur Nutzung des Tageslichtes oft überaus dürftig. Eigentlich ist das unverständlich, da gerade in diesen Bereichen sich jeder Fehler sofort finanziell auswirkt und Investitionen für Licht-, Seh- und Wahrnehmungsmittel gemessen an den Investitionen der Gebäude und Produktionsmittel verschwindend klein sind“ [Bar98]. Sonnenlicht hat die Eigenschaft, als kurzwelliges Licht durch die Glasflächen einzutreten, danach als langwellige Wärmestrahlung den Innenraum aufzuheizen.
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293
10 Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
Bild 10.7: Einfluss des Raumquerschnitts auf den Tageslichtquotient © Reichardt 15.164_JR_B
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Die thermische Komponente großer Glasflächen muss also jeweils beachtet werden. Fußten Untersuchungen zu Lichtausbeute und Wärme bisher auf überschlägigen graphischen Nachweisen im Schnittprofil des Gebäudes bzw. auf einer groben Abschätzung der erwarteten Raumaufheizung, stehen heute ausgereifte Techniken wie 3D-Licht- und Energiesimulationen zur Verfügung. Es geht bei einer angemessenen Belichtung der Arbeitsbereiche vor allem um die Ziele einer gleichmäßigen Ausleuchtung und Lichtausbeute. Eine gleichmäßige Ausleuchtung vermeidet Schlagschattenwurf und ist blendfrei. Die auf der Arbeitsebene gemessene Gleichmäßigkeit der Lichtverteilung hängt von deren Abstand zu den Lichtöffnungen im Dach ab, während eine gute, gleichmäßige Lichtausbeute durch die Größe und Art der Verglasung bestimmt wird. Der Vergleichsmaßstab des im Innenraum verfügbaren Tageslichts zur außen herrschenden Lichtstärke bei bedecktem Himmel wird mittels des Tageslichtquotienten TQ ermittelt.
10.2.2 Natürliche Belichtung Bild 10.7 zeigt den Verlauf des Tageslichtquotienten TQ über die Raumbreite bei verschiedenen Raumquerschnitten, wie sie in der Praxis anzutreffen sind. Als Tageslichtquotient wird das Verhältnis der Beleuchtungsstärke im Innenraum zur Beleuchtungsstärke draußen bei bedecktem Himmel mit TQ = innen (lx) / außen (lx) definiert. Für alle Raumformen des Bildes wird die Summe der Tageslichtöffnungen mit einem Sechstel der Raumgrundfläche vorausgesetzt. Dieser Parameter wird als Fensterfaktor KF bezeichnet und als KF = Fensterfläche / Raumgrundfläche definiert. Der für ein Seitenfenster typische Tageslicht verlauf wird unter der erwähnten Annahme für KF im oberen linken Bildteil dargestellt. Der mittlere erzielbare TQ-Wert ist, bedingt durch die geometrische Lage des Fensters zum Himmelsaus-
10.2 Belichtung
Bild 10.8: Lichtverteilung bei verschiedenen Dachformen © Reichardt 15.165_JR_B
schnitt, nicht optimal. Durch den exponentiellen Abfall der Intensität des eintretenden Tageslichtes vom Fenster in den Raum wird das bereits eingeschränkte Tageslicht schlecht nutzbar. Daher ist es kaum möglich, durch Seitenfenster beleuchtete tiefere Räume ohne künstliche Ergänzungs beleuchtung zu nutzen. Arbeitsplätze, deren Tageslichtquotient 2 % oder niedriger ist, kommen ohne künstliche Beleuchtung im Allgemeinen als Tageslichtarbeitsplätze nicht in Frage. Eine grobe Faustregel lautet, dass Punkte im Raum, von denen aus kein Stück der freien Himmelsfläche zu sehen ist, meistens nicht ausreichend mit Tageslicht beleuchtet sind. Bei Lichteintrag von oben kann die Raummitte besser mit Tageslicht versorgt werden. Bei entsprechender Gestaltung der Eintrittsflächen ist eine gleichmäßige Ausleuchtung zu erzielen. Aus den genannten Kriterien hat sich im Industriebau eine Reihe von Dachbelichtungsformen in
Variation der sogenannten Shed-Dachformen (engl. shed = Schuppen, Verschlag) entwickelt, die auf der nördlichen Erdhalbkugel nach blendfreiem Nordlicht ausgerichtet sind. Das Shed-Dach kommt vor allem bei großflächigen Bauten zum Einsatz. Durch mehrfaches Hintereinandersetzen von kleinen satteldachartigen Aufbauten bleibt die Dachhöhe insgesamt gering. Die Neigung der beiden Seiten jedes Reiters ist normalerweise verschieden, in der Regel steht eine Seite sogar senkrecht, damit das Gebäude weniger Stützen für den Dachaufbau benötigt. Die steile Seite wird meist in Glas ausgeführt. Bild 10.8 zeigt eine vereinfacht dargestellte Lichtverteilung in Hallenräumen für im Industriebau übliche Dachformen und Bild 10.9 nennt für diese Oberlichtformen charakteristische Vor- und Nachteile für die Belichtung. Mit dem einfallenden Tageslicht gelangt Wärme in den Raum, die an Sonnentagen auf Maximalwerte ansteigt.
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10 Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
Bild 10.9: Vor- und Nachteile verschiedener Oberlichtformen © Reichardt 15.166_JR_B
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Neben möglichen Blendungserscheinungen an den Arbeitsplätzen muss die unzulässige Aufheizung des Raums und der Einrichtungen durch die Sonneneinstrahlung kompensiert werden. Dies kann zum Teil durch Sonnenschutzsysteme geleistet werden, die die Sonneneinstrahlung verhindern. Dadurch wird auch die Lichtstärke entsprechend reduziert. Die Folge ist das Paradoxon, dass an schönen Sonnentagen bei wirksamem Sonnenschutz vielfach Kunstlicht in Betrieb genommen werden muss. Nach Norden ausgerichtete Oberlichter in Shedform gewährleisten eine gleichmäßige Beleuchtung ohne wechselnde Licht- und Schattenspiele. Blendgefahr besteht dadurch nicht und ein Sonnenschutz ist in der Regel nicht notwendig. Mit Monitordächern ist bei geschickter Anordnung ebenfalls eine gute Hallenausleuchtung erzielbar; Sonnenstrahlen können dann gezielt, ohne Blendgefahr oder Hallenaufheizung, in die Halle eindringen.
Die für ein Industrieprojekt zu realisierende Lichtführung kann nach [Bra05] nur unter weitsichtiger Abwägung einer Vielzahl von Aspekten von Prozess, Logistik und Nutzererforderungen entwickelt werden. Die Wandlungsfähigkeit im Hinblick auf Tageslichtnutzung hängt hierbei entscheidend von der Wahl lichttechnisch günstiger Oberlichtformen und Raumquerschnitte ab. Die voraussichtliche Lichtverteilung kann mit Hilfe von 3D-Lichtsimulationen zur Variantenbewertung insbesondere bei einer Kombination mehrerer Oberlichtformen zwecks Vermeidung nachteiliger Belichtung untersucht werden. Bild 10.10 zeigt als Auszug einer Tageslichtsimulation die Ermittlung verfügbarer Lichtmengen an den Arbeitsplätzen einer großen Halle von 126 m x 40 m. Wichtige Parameter des Lichtmodells waren insbesondere die geographische Lage und Himmelsausrichtung der Halle, die Hallengeometrie sowie die Farben und Reflektionsgrade aller Flächen des Innenraums.
10.2 Belichtung
10.2.3 Künstliche Beleuchtung Für den ungestörten Sehvorgang werden nach Schätzungen von Medizinern etwa 75 % des gesamten menschlichen Energiehaushaltes benötigt. In Ergänzung der natürlichen Belichtung kommt daher der künstlichen Beleuchtung am Arbeitsplatz eine überragende Bedeutung zu. Diese beinhaltet den Aspekt der Humanisierung der Arbeitswelt, aber auch Aspekte einer wirtschaftlichen Arbeitsplatzgestaltung. Die wesentlichen lichttechnischen Gütemerkmale, die berücksichtigt werden müssen, um eine optimale Beleuchtung zu erzielen, sind Beleuchtungsniveau, Gleichmäßigkeit der Beleuchtungsstärke, Begrenzung der Blendung, Lichtrichtung und Lichtfarbe sowie die Wirtschaftlichkeit. Als Gütekriterium für den Helligkeitseindruck wird die Beleuchtungsstärke Lux (lx) herangezogen. Sie ist definiert als Lichtstrom (gemessen in Lumen) pro m2. Der Lichtstrom einer Kerze beträgt etwa 10 Lumen. Aufgrund physiologisch-optischer, arbeitsphysiologischer und psychologischer Untersuchungen gelten folgende Empfehlungen:
• 200 lx als Mindest-Beleuchtungsstärke für stän• •
dig besetzte Arbeitsplätze, 500 bis 2000 lx als optimaler Bereich für Arbeitsstätten in Gebäuden und 2000 bis 4000 lx als Bereich für besonders feine Arbeiten.
Als Kompromiss zwischen wirtschaftlich realisierbarer und wissenschaftlich erforderlicher Beleuchtungsstärke führt DIN 5035 Teil 2 Mindestrichtwerte der Nennbeleuchtungsstärke für 176 unterschiedliche Tätigkeiten an. Die Werte liegen für die meisten Arbeitsstätten zwischen 200 lx und 1000 lx. Bild 10.11 zeigt vorgeschriebene Nennbeleuchtungsstärken, Lichtfarben, Farbwiedergabeeignung und Blendklassen für häufige industrielle Tätigkeiten nach DIN 5035. Flächen relativ hoher Leuchtdichte verursachen im Gesichtsfeld Störungen, und durch Blendung wird das Wohlbefinden beeinträchtigt. Beleuchtungsanlagen, bei denen Nutzer das Empfinden äußern, das Licht sei zu grell, sind in den meisten Fällen in Bezug
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Bild 10.10: 3D-Simulation der Tageslichtverteilung einer Industriehalle © Reichardt 15.167_JR_B
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10 Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
Bild 10.11: Nennbeleuchtungsstärke für industrielle Tätigkeiten © Reichardt 15.168_JR_B
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auf Blendungsbegrenzung ungenügend ausgelegt. Näheres regelt DIN 5035. Reflexblendung wird verursacht durch Spiegelung hoher Leuchtdichten auf glänzenden Oberflächen. Sie kann durch passende Leuchtenanordnung, matte Geräteoberflächen oder abgetönte Raumwände und -decken verringert werden. Lichtrichtung und Schattigkeit beeinflussen in starkem Maße die Erkennbarkeit räumlicher Gegenstände, und eine unnatürliche Lichtrichtung kann die falsche Wiedergabe der plastischen Form bewirken. Durch einen genügend hohen Vertikalanteil des Lichtes kann der Silhouetteneffekt gemildert werden, der entsteht, wenn Gegenstände oder Personen vor hellen Fensterflächen beobachtet werden. In Industriebetrieben sollte ein Verhältnis von vertikaler zu horizontaler Beleuchtungsstärke von 1:3 angestrebt werden. Veränderliche Stimmungen von Licht und Farbe haben nach [Deh01] über die Wahrnehmung von
Helligkeit hinaus physisch-psychische Wirkungen auf Wohlbefinden und Stimmung des Menschen. Die Lichtfarbe bestimmt sich nach ihrer spektralen Strahlungsverteilung. Die Farbtemperatur ist ein Maß für den Farbeindruck einer Lichtquelle. Sie wird definiert als die Temperatur, auf die man einen schwarzen Körper aufheizen müsste, damit er Licht einer Farbe abgibt, das (bei gleicher Helligkeit und unter festgelegten Beobachtungsbedingungen) der zu beschreibenden Farbe am ähnlichsten ist. Die Einheit für die Farbtemperatur ist Kelvin (K). Elektrische Lampen werden bezüglich ihres Farbeindrucks in drei Lichtfarben eingeteilt: ww - warmweiß (bis 3300 K), nw - neutralweiß (3300 K–5000 K), tw - tageslichtweiß (ab 5000 K). Die Farbwiedergabe beeinflusst in hohem Maße das farbige Aussehen von Objekten, sie wird durch den Farbwiedergabeindex Ra gekennzeichnet (1 = Glühlampe bis 4 = Natriumdampfleuchte), wobei Glühlampen am wenigsten farbverfälschend wirken. Eine relativ neue
10.2 Belichtung
Bild 10.12: Auswirkung Erhöhung Beleuchtungsstärke auf Leistungsfaktoren © Reichardt 15.169_JR_B
Entwicklung sind true-lite Lampen, die gegenüber herkömmlichen Leuchten einen wesentlich höheren spektralen Infrarotanteil aussenden und dadurch der Farbwiedergabe des natürlichen Sonnenlichtes noch mehr entsprechen. Ein Vergleich zwischen unterschiedlichen Beleuchtungsanlagen ist immer zweckmäßig, wobei zu beachten ist, dass vergleichbare beleuchtungstechnische Qualitätsmerkmale die Grundlage bilden. Bei betriebswirtschaftlichen Überlegungen ist auch der elektrische und mechanische Aufbau der Leuchte zu berücksichtigen, im Besonderen die Montage- und Wartungsfreundlichkeit. Flexible, wandlungsfähige Arbeitsplätze sollten zumindest in der Anschlussleistung der Beleuchtung weitsichtig ausgelegt werden. Gutes Licht schafft nachweislich eine höhere Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, verhindert vorzeitige Ermüdung, fördert Merkfähigkeit und logisches Denken, fördert Sicherheit und Schnelligkeit und reduziert schließlich die Fehlerhäufigkeit und Unfälle [Rüs05].
Bild 10.12 zeigt die Auswirkung erhöhter Beleuchtungsstärke auf die Arbeitsleistung, Ermüdung sowie die Abnahme von Unfällen. Im Rahmen der erwähnten 3D-Lichtsimulation können außer dem Nachweis der Beleuchtungsstärken unter Berücksichtigung geplanter Leuchtenfabrikate fotorealistische Nachtstimmungen erzeugt werden.
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10.2.4 Lichtlenkung Ein Problem der Seitenbelichtung ist der Einfluss von Raumhöhe, Raumtiefe und Einschränkung des seitlichen Lichteinfalls durch benachbarte Gebäude. Bei üblichen Raumhöhen sind Raumtiefen größer als 7,0 m nicht mehr natürlich auszuleuchten, ein Grund, weshalb historische Geschossbauten auch bei großen Raumhöhen selten Fertigungstiefen von mehr als 15 m bereitstellten. Damit stellt sich die Frage, wie blendfreies Sonnenlicht in die Tiefe des Raumes geleitet werden kann. Hier erweisen sich Systeme
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10 Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
Bild 10.13: Systeme für seitlichen Lichteintrag
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© Reichardt 15.170_JR_B
der Lichtumlenkung als besonders hilfreich, weil sie das Sonnenlicht in Raumtiefen von bis zu 20 m transportieren. Die Idee der Lichtlenkung ist nicht neu; schon 1900 bestand ein Patent zur Umlenkung des Sonnenlichtes über Spiegel ins Gebäudeinnere. Der Lichtexperte Ch. Bartenbach erforscht seit vielen Jahren Möglichkeiten der gleichmäßigen Ausleuchtung größerer Raumtiefen durch Reflexion des Tageslichtes an Decken, besonders geformten Fassadenelementen oder Gläsern mit integrierten Elementen. In Zukunft könnten nach [Bar01] LED-Systeme hierfür besonders geeignet sein. Die von Gutjahr und Müller [Mül01] entwickelten holographischen Folien ermöglichen eine gezielte Lichtlenkung, mit der über verhältnismäßig schmale Fassadenstreifen die Ausleuchtung der Raumtiefe sichergestellt werden kann, während der Rest der Fassade freien Durchblick bietet. Unter Einbeziehung von gegenwärtig verfügbaren Tech-
niken der Lichtlenkung zeigen die Darstellungen in Bild 10.13 Möglichkeiten für Lichtlenksysteme an einem Büroraum auf. Über Spiegelreflektoren, Lightshelfs oder Mikroprismenplatten lässt sich das Licht weit in die Tiefe des Raumes lenken und den für Büroarbeit nutzbaren Tageslichtquotienten deutlich anheben.
10.3 Behaglichkeit Für den Menschen wirkt ein Raumklima behaglich, wenn die Regulierungsvorgänge des Körpers zur Verhinderung seiner Abkühlung oder Überwärmung fast unbemerkt vor sich gehen. Die Behaglichkeitsempfindung ist hierbei in einem breiten Bereich unterschiedlich, sie variiert nach Art und Dauer von
10.3 Behaglichkeit
Beschäftigung, Lebensalter, Geschlecht, Gesundheitszustand und Kleidung. Für das thermische Wohlbefinden können keine Standard- oder Normenwerte im Sinne physikalischer Stoffwerte genannt werden, vielmehr entsteht individuelle thermische Behaglichkeit aus dem Zusammenwirken und der Verflechtung der physikalischen Raumklimakomponenten Raumlufttemperatur und Strahlungstemperatur, Luftfeuchte, Luftbewegung und Luftreinheit. Weitere Aspekte der Behaglichkeit wie Farbgestaltung und Lärmempfindung sind in Abschnitt 8.3.1 bzw. 8.4.6 thematisiert. Bei der Frage nach dem behaglichen Zustand einer Person muss ihre eigene Wärmeabgabe mit einbezogen werden. Sie setzt sich zusammen aus trockener Wärme (Konvektion und Strahlung) sowie aus feuchter Wärme (Verdunstung). Die Wärmeproduktion des Menschen ist je nach Tätigkeit sehr verschieden. Eine Wärmeabstrahlung an kalte Oberflächen wird wie die Abkühlung bei Zugerscheinungen empfunden, während die Strahlung hoch temperierter Heizflächen oder stark
erwärmter Sonnenschutzeinrichtungen eine Wärmebelästigung darstellt. Gerade im Bereich von Toren sollte bei schwerer Arbeit eine zusätzliche Auskühlung durch Zugerscheinungen vermieden werden. Bei vielen Arbeitsprozessen lässt sich aufgrund des eingesetzten Produktionsverfahrens oder wegen der klimatischen Umgebungsbedingungen nur ein erträgliches Raumklima aufrechterhalten. Als erträglich wird ein raumklimatischer Zustand bezeichnet, bei dem keine gesundheitlichen Schäden zu erwarten sind. Durch die Thermoregulation steigt bei höheren Belastungen und Temperaturen die Schweißproduktion und somit die Abgabe der Wärme durch Verdunstung. Durch Schadstoffanfall und Luftverschlechterung, wozu auch Wärme und Feuchtigkeit zählen, ergeben sich nach [Opf00] Bedingungen für die Lufterneuerung, einen bestimmten Luftzustand oder ein günstiges Raumklima für verschiedene Industriebetriebe. Das einen Arbeitsplatz umgebende Temperaturfeld wird durch Lufttemperatur und Strahlungstem-
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Bild 10.14: Behaglichkeitsfelder für Raumlufttemperatur und Strahlungstemperatur (nach Frank) © Reichardt 15.171_JR_B
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10 Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
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peratur gekennzeichnet. Die Lufttemperatur soll sich je nach Tätigkeit in einem Bereich von 18 bis 24°C bewegen. Der untere Grenzwert gilt für eine leichte körperliche Tätigkeit, der obere für den Ruhezustand. Die durchschnittliche Strahlungstemperatur kann etwa 3 bis 4°C unter der Raumlufttemperatur liegen. Das arithmetische Mittel aus Lufttemperatur und Strahlungstemperatur entspricht in etwa dem Temperaturempfinden; so werden eine Lufttemperatur von 22°C und eine Strahlungstemperatur von 18°C wie eine gleichmäßige Umgebungstemperatur von 20°C empfunden. In den Sommermonaten ist eine Temperatur von 26°C bei leichter Arbeit noch als behaglich zu bezeichnen. Die Temperaturen der einzelnen Raumumschließungsflächen sollten sich durch eine entsprechende Wärmedämmung so ausbilden, dass sie möglichst wenig vom Durchschnittswert abweichen. Bild 10.14 zeigt Behaglichkeitsfelder des Menschen für die Temperaturen von Raumluft, Raumumschließungsflächen und Fußböden. Im Zusammenspiel mit den haustechnischen Lösungen für Heizung und Kühlung müssen insbesondere die Ausbaumaterialien des Gebäudeausbaus auf die geforderten Behaglichkeitswerte abgestimmt werden.
Luftfeuchte, Luftbewegung, Luftreinheit Bild 10.15 zeigt Behaglichkeitsfelder in Abhängigkeit von Luftfeuchte und Luftgeschwindigkeit von der Raumlufttemperatur. Danach sollte die Luftfeuchtigkeit in der Regel im Bereich von 35 bis 65 % liegen. Bei höheren Lufttemperaturen ist zur Erhöhung des Wärmeabgabeanteils durch Verdunstung eine niedrige Raumluftfeuchtigkeit anzustreben, andernfalls macht sich eine Schwülempfindung bemerkbar. Die zulässige Luftbewegung ist abhängig von der Raumlufttemperatur. Einer Temperatur von 20°C kann eine Luftbewegung von 0,15 m/s, von 22°C bereits eine solche von 0,20 m/s zugeordnet werden. Wird eine Tätigkeit mit viel Bewegung ausgeübt, kann die Luftgeschwindigkeit höher liegen.
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Als Bewertungsmaßstab für die Luftreinheit werden Behaglichkeit beeinträchtigende Luftverunreinigungen durch Stäube, Gase und Dämpfe sowie Gerüche herangezogen. Die Höhe der zuzuführenden Außenluftmenge hängt von der Zahl der anwesenden Menschen sowie der besonderen industriellen Nutzung ab. Treten in speziellen Räumen schädliche Gase und Dämpfe auf, so lässt sich der stündliche Luftwechsel nicht mehr pauschal angeben, sondern ist in Abhängigkeit von der anfallenden Gas- und Dampfkonzentration zu ermitteln. Richtwerte finden sich in [Leh98] und [Ski00]. Es empfiehlt sich oft, sehr hohe Luftwechselraten durch die Addition mehrerer räumlich verteilter Teilmodule zu gewährleisten und somit gegenüber Klimazentralen in Form technischer Großsysteme Teilnutzungen zu ermöglichen. Die Notwendigkeit der Wandlungsfähigkeit von Arbeitsbereichen sowie eine individuelle Einflussnahme auf die Umgebung bedingen sensibel steuerbare Systeme für kleinvolumige Arbeitsbereiche, die einen möglichst hohen Anteil natürlicher Ventilation besitzen. Im Sinne einer nachhaltigen Wandlungsfähigkeit sollte aus der integralen Betrachtung von Prozessund Raumsicht insgesamt eine angemessene Flexibilität der Raumkonditionierung definiert werden. Die Systeme von Haustechnik und Gebäudestruktur sind dann ohne große Veränderungen an neue Anforderungen aus Temperatur und Luftfeuchte anzupassen.
10.4 Rekreation Nach konzentrierter Arbeit sollen Erholungsbereiche zur erforderlichen Rekreation der Arbeitnehmer beitragen. Eine geschickte Integration in das Werksgefüge und die attraktive räumliche Gestaltung der Rekreationsbereiche sind unverzichtbar für den Arbeitserfolg. Ein mental zunehmend fordernder Arbeitsprozess kann negative Folgen psychischer Über- und Unterforderung bedingen. Ausgleichende Erholungsphasen fördern Gemeinschaftsgefühl, Sozialkompetenz und Teamfähigkeit. Rekreationsbereiche bieten also ein hohes Potenzial für die Identifikation der Mitarbeiter mit „ihrem“ Unternehmen.
10.4 Rekreation
Bild 10.15: Behaglichkeitsfelder für Luftfeuchte und Raumlufttemperatur © Reichardt 15.172_JR_B
Die bauliche Unterstützung der notwendigen Erholungsphasen kann durch ansprechende Gestaltung von Pausenbereichen und Sozialräumen, Kantine und Cafeteria sowie Anlagen für Sport, Spiel und Freizeit geleistet werden. Eine weitsichtige Planung vermeidet negative Folgen psychischer Über- und Unterforderung, indem sie notwendige Rekreationsräume nicht auf das gesetzliche Mindestmaß vorgeschriebener Pausenzeiten beschränkt. Wandlungsfähigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang auch die räumlich angebotene Flexibilität, sich den Wünschen und Neigungen der Nutzer anzupassen und eine Prise „Freizeitflair“ zu vermitteln.
10.4.1 Pausenbereiche, Sozialräume Nach dem Regelwerk der Arbeitsstättenrichtlinien sind bei mehr als 10 Arbeitnehmern Pausenbereiche auszuweisen. Bei besonderen gesundheitlichen Gründen sowie aufgrund besonderer Art der Tätigkeit
können darüber hinaus separate Pausenräume erforderlich werden (§ 29 ArbStättV). Vielfach wird das Pausenbrot an der Maschine eingenommen, weil attraktive Pausenbereiche fehlen oder zu weit entfernt sind. Insbesondere bei Fabriken mit spezifischen, die Behaglichkeit beeinflussenden Fertigungsprozessen, sollte durch attraktive Pausenbereiche eine Entspannungsmöglichkeit gegeben sein. Aus einer integralen Sicht von Prozess und Raum ergeben sich oft Möglichkeiten für „Oasen“ als räumlich attraktive und bepflanzte Rückzugsbereiche inmitten der Produktion. Der Begriff Sozialräume umreißt den Mindestbedarf nach Arbeitsstättenrichtlinien für Umkleiden, Waschplätze und Toiletten. Diese „Nebenräume“ werden oft in einer Kellerlage ohne jeglichen Außenbezug untergebracht; eine glücklichere Positionierung mit natürlichem Licht und möglicher Blickbeziehung nach draußen verbessert die Atmosphäre nachhaltig.
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10.4.2 Kantine, Cafeteria, Teeküchen
10.4.3 Sport, Spiel, Freizeit
Ausgewiesene Bereiche zur Einnahme von Mahlzeiten, Snacks oder Getränkeaufbereitung sollten an räumlich attraktiven, besonderen Stellen des Gebäudes angeboten werden, wenn möglich mit Außenbezug. Auf einer besonnten Terrasse speist man angenehm, lockere Gespräche in Luft und Sonne fördern Sozialkompetenz und Teamfähigkeit. Materialien, Lichtführung, Möblierung und Farbeinsatz sollten den besonderen Charakter des Ortes unterstützen und einem ganzheitlichen Gestaltungskonzept folgen. Teeküchen sollten an attraktiver Stelle des Gebäudes im Schnittpunkt von Wegen angeordnet sein. Aufwertungen der Flurbereiche vor Treppen, Galeriebereiche mit Einblick in Produktion, Landschaft oder Foyer bieten sich für einen kurzweiligen Aufenthalt mit frischem Cappuccino an. Der durch Büros und angrenzende Raumbereiche ziehende röstfrische Duft wirkt entspannend und anregend zugleich.
Fortschrittliche Unternehmen unterstützen die Erholungsphasen der Mitarbeiter mit Saunabesuch, Fitnessstudio oder Tenniscourts. Gemeinschaftliche Aktivitäten außerhalb der Arbeitszeit sind teamfördernd und können dazu beitragen, persönliche Konflikte zwischen Mitarbeitern abzubauen. Es bietet sich an, geeignete Teilbereiche von Dachflächen und Außenanlagen weitsichtig für solche Aktivitäten zu reservieren. Spätere Maßnahmen, wie z.B. Dachbegrünung, Anlage eines Trimmpfades mit Sportgeräten o. Ä., können dann Schritt für Schritt erfolgen.
10.5 Brandschutz Der Begriff Brandschutz umfasst alle Eigenschaften und Maßnahmen, die dem Schutz von Personen und Sachwerten gegen Brand dienen. Der generelle Zu-
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Bild 10.16: Einfluss der Bauwerkselemente auf Nutzung und Brandschutz © Reichardt 15.173_JR_B
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10.5 Brandschutz
sammenhang von Nutzung, vorbeugendem und abwehrendem Brandschutz sowie der Brandsanierung ist in Bild 10.16 zusammen mit den beeinflussenden Bauwerkselementen dargestellt. Je nach Ausprägung der Bauwerkselemente ergeben sich Anforderungen bzw. Einschränkungen für Nutzung, vorbeugenden Brandschutz, abwehrenden Brandschutz sowie Behaglichkeit oder Schallschutz. Sie bestimmen aber auch Brandverhinderung, Risiken der Brandbekämpfung sowie die spätere Sanierbarkeit. Da bei Industriebauten die Nutzungsarten sehr vielfältig sind, ist das Thema unter Berücksichtigung von Standardregelungen der Landesbauordnungen sehr komplex [AGI03]. Eine leistungsfähige Gebäudestruktur vermag Beiträge eines wirkungsvoll vorbeugenden, also gleichsam im Entwurf eingebauten, passiven Brandschutzes zu erbringen. Eine hohe Transparenz der Fabrik fördert z.B. die Früherkennung von Brandherden. Die Systematik der Fluchtwege sollte den Nutzern eine intuitiv nachvollziehbare, horizontale und vertikale Orientierung im Werk nahe legen. Bei geschickter Zonierung können hoch installierte, brandgefährdete Bereiche in unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft zusammengefasst werden. Ein ganzheitliches Brandschutzkonzept führt die Anforderungen aus Raum, Prozess und Logistik zusammen und liefert die Voraussetzung für bauliche und technische Maßnahmen zum Schutz von Personen und Sachwerten. Auf der Grundlage der Brandlastermittlung werden notwendige Abstandsflächen zwischen Gebäuden und maximale Brandabschnittsflächen in Gebäuden festgelegt. Hieraus ergibt sich nach [Löb07] die Ausführung von feuerabschottenden Brandwänden, Komplextrennwänden sowie Anforderungen an die Feuerwiderstandsklasse oder Baustoffe. Auf besondere Aspekte der Genehmigung von Werksbauten im europäischen Umfeld wird in [Schn08] hingewiesen. Weiterhin ist die Lage, Länge und Ausführung der Flucht- und Rettungswege zu beachten. Schließlich sind aktive technische Maßnahmen des Brandschutzes wie Rauch-, Wärmeabzug und Feuerlöscheinrichtungen vorzuhalten. Die folgenden
Ausführungen verdeutlichen Strukturmerkmale dieser Elemente und gehen auf Aspekte der Wandlungsfähigkeit ein.
10.5.1 Brandschutzkonzept, Brandabschnittsflächen Bei der Erstellung von Brandschutzkonzepten für Industriebauten sind nach [Beu03] die Vorschriften der jeweiligen Landesbauordnungen, Verordnungen über bauaufsichtliche Verfahren und Bauvorlagenverordnung sowie die Muster-Richtlinie über den baulichen Brandschutz im Industriebau in jeweils gültiger Fassung zu beachten (Musterbau-Industrierichtlinie M IndBauRL: http://www.bauordnungen. de). Die Bauordnungen der Länder enthalten eine Fülle materieller Bestimmungen bezüglich des Brandschutzes, welche sich allerdings hinsichtlich der Risikosituation insbesondere auf Wohnungsbauten und verwandte Gebäude beziehen. Daher werden in der Regel größere Werksbauten nach der MusterIndustriebaurichtlinie von Sachverständigenbüros für Brandschutz beurteilt. Wesentliche Teile der zur Prüfung behördlicher Genehmigungsfähigkeit angefertigten Ausarbeitung sind die Objektbeschreibung, der Bezug zu gesetzlichen Bestimmungen, eine brandschutztechnische Risikobewertung und die Darstellung des Brandschutzkonzepts anhand von rechnerischen Nachweisen und Planunterlagen. Die Objektbeschreibung erläutert die Konstruktion des Gebäudes und weitere bauliche Merkmale sowie die vorgesehene Nutzung. Schon an dieser Stelle ist das Thema der Wandlungsfähigkeit einzubringen, um zukünftig nicht mit der ersten, vielleicht brandschutztechnisch unterschätzten Werksveränderung große Probleme für Gebäude, Haustechnik und Betrieb zu verursachen. Die brandschutztechnische Risikobewertung erfasst die Summe der nutzungsbedingten Brandbelastung aller Materialströme im Werk nach Sicherheitskategorien sowie die Brandlast der Baukonstruktion. Wichtige Ergebnisse einer Brandlastberechnung nach DIN 18230 sind die maximale Größe und die erforderliche Feuerwiderstandsdauer eines Brandbe-
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10 Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
kämpfungsabschnitts. Die Feuerwiderstandsdauer gibt an, wie viele Minuten ein Bauteil unter Brandbelastung seine Funktion erfüllt (DIN 4102, Teil 2). Dabei wird hinsichtlich der Feuerwiderstandsklassen zwischen feuerhemmend (mindestens F 30), feuerbeständig (mindestens F 60) und hochfeuerbeständig (mindestens F 120) unterschieden. Die Angaben F 30, F 60 und F 120 beziehen sich jeweils auf die nach Minuten angegebene Feuerwiderstandsdauer. Bild 10.17 zeigt nach der Muster-Industriebaurichtlinie sowie DIN 18230 die zulässige Größe der Brandabschnittsflächen. Das sind durch Brandwände oder Komplextrennwände begrenzte zulässige zusammenhängende Geschossflächen. Weiterhin ist die Feuerwiderstandsdauer tragender und aussteifender Bauteile in Abhängigkeit von der Sicherheitskategorie der Nutzung und der Anzahl Geschosse des Bauwerks angegeben. Für die Wandlungsfähigkeit der Generalbebauung sind insbesondere Anforderungen an Abstandsflächen, Brandwände (F 90) und Komplextrennwände (F 120, F 180) entscheidend.
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Bild 10.17: Zulässige Größe von Brandabschnittsflächen © Reichardt 15.174_JR_B
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Komplextrennwände werden oft bei hohen Brandlasten durch Lagergüter wie z.B. Papier gefordert und schränken durch die bauortbedingte Ausführung in Stahlbeton eine spätere Wandlungsfähigkeit erheblich ein.
10.5.2 Abstandsflächen, Brandwände, Komplextrennwände Bild 10.18 zeigt eine Übersicht der Anforderungen an Abstandsflächen von Gebäuden sowie Umfahrten, Aufstellflächen und Bewegungsflächen für die Feuerwehr. Es fällt auf, dass die lichten Abstände zwischen Gebäuden, in Erweiterung der Bestimmungen der Landesbauordnungen, durch die notwendigen Flächen für Brandbekämpfung und Rettungswege bestimmt werden. Daher empfiehlt sich zur Absicherung von Bebauungskonzepten eine frühzeitige Prüfung feuerschutztechnischer Belange. Brandabschnitte begrenzen durch feuerbeständige Raumumgrenzungen Brandschäden und ermöglichen
10.5 Brandschutz
Bild 10.18: Brandschutzanforderungen an umgebende Gebäudeflächen © Reichardt 15.175_JR_B
sichere Fluchtwege in weniger gefährdete Bereiche. Nach den Landesbauordnungen sind Brandabschnitte auf 40 m x 40 m =1600 m2 begrenzt. Die Anwendung der Industriebaurichtlinie und insbesondere Sondermaßnahmen wie Sprinkleranlagen gestatten hiervon abweichend größere zusammenhängende Produktionsflächen. Brandabschnitte werden durch Brandwände begrenzt. Sie sollen im Katastrophenfall die Feuerentwicklung örtlich begrenzen und werden deshalb mit mindestens eineinhalbstündigem Feuerwiderstand in nicht brennbarer Konstruktion (F 90-A) gefordert. Bei höheren Risiken aus z.B. Lagern besonders gefährdeter Güter werden Komplextrennwände erforderlich. Hier sind erhöhte Anforderung an Feuerwiderstandsdauer oder Detailausbildung einzuhalten. Bild 10.19 zeigt Ausführungsvorgaben zur Vermeidung des Brandüberschlags bei Überdachführung, im Gebäudewinkel und bei inneren Öffnungen für Brandwände und Komplextrennwände.
10.5.3 Feuerwiderstandsklassen
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Der Einsatz nicht brennbarer oder zumindest schwer entflammbarer Materialien für Tragwerk, Hülle, Medien und Ausbau soll Entstehung und Ausbreitung von Bränden entgegenwirken. Die Konstruktion muss mindestens so lange standsicher sein, bis alle lebensrettenden Maßnahmen durchgeführt sind. In Abhängigkeit von den Forderungen der Feuerwehr und Bauordnung und den Ausführungen des Brandschutzkonzeptes ergeben sich eine Feuerwiderstandsdauer von F 0 bis F 90 für Tragwerksteile und F 90 bis F 180 für Brandabschnitte bildende Wände sowie Anforderungen an die Baustoffe für Hülle und Ausbauten. Bild 10.20 zeigt eine Übersicht von Feuerwiderstandsklassen der Bauteile nach der Muster-Industriebaurichtlinie. So ist z.B. für das Bauteil eines Türelementes mit der Anforderung „Feuerwiderstand bis 60 Minuten“ die Bezeichnung „F 60“ festgelegt.
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10 Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
Bild 10.19: Ausführung von Brandwänden und Komplextrennwänden © Reichardt 15.176_JR_B
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Der gesamte Bereich der Haustechnik muss einer ähnlichen Betrachtung unterzogen werden. Installationsschächte, Kabel, Lüftungsleitungen und Rohre sind überwiegend in nicht brennbaren Materialien auszuführen. Alle Mediendurchführungen durch nicht brennbare Wände sind brandschutztechnisch abzudichten. Alle Öffnungselemente wie Türen, Tore, Klappen in abschottenden Bauteilen müssen bauaufsichtlich zugelassen sein.
10.5.4 Flucht- und Rettungswege Vertikale und horizontale Flucht- und Rettungswege gewährleisten im Brandfall den raschen und sicheren Austritt aus dem Gebäude. Zufahrten von Rettungswegen und Einstiegsmöglichkeiten für die Brandbekämpfung sind auszuweisen und dauerhaft freizuhalten. Tageslicht, Transparenz, Überblick, Einblick und Ausblick sind weitere architektonische Mittel, um eine unmittelbare Orientierung mit
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direkter Auffindbarkeit der Fluchtwege zu gewährleisten. Das allgemeine Bewertungsschema von Landesbauordnung, Arbeitsstättenverordnung und Arbeitsstättenrichtlinien geht davon aus, dass für einen Menschen an beliebiger Stelle nach höchstens 35 m Ausgänge und Notausgänge ins Freie oder aber in andere gesicherte Bereiche erreicht werden können. Die Muster-Industriebaurichtlinie gestattet in Abhängigkeit von der Raumhöhe und der brandschutztechnischen Infrastruktur größere Rettungswegelängen. Bild 10.21 illustriert Anforderungen an Rettungswege in Abhängigkeit von der Lage im Gebäude, dem Feuerwiderstand des Gebäudes und der Raumhöhe. Bei Hallenhöhen über 10 m ist, bedingt durch den vorteilhaften Rauchabzug in die Hallenhöhe (vgl. Abschn. 10.5.5) demnach eine tatsächliche Rettungsweglänge von bis zu 105 m möglich. Notwendige Treppen sind in einem Zuge zu allen angeschlossenen Geschossen zu führen und müssen in einem eigenen durchgehen-
10.5 Brandschutz
Bild 10.20: Feuerwiderstandsklassen für Bauteile eines Gebäudes © Reichardt 15.177_JR_B
den Treppenraum liegen, der einschließlich seiner Zugänge und des Ausgangs ins Freie so angeordnet und ausgebildet ist, dass er gefahrlos als Rettungsweg genutzt werden kann. Die inneren Umfassungswände müssen nach den jeweiligen Landesbauordnungen mindestens der Feuerwiderstandsklasse F30 entsprechen. Sämtliche Flucht- und Rettungswege sind nach DIN 4844 zu kennzeichnen. Nach den Vorgaben von Arbeitsstättenverordnung und -richtlinien werden hinterleuchtete Piktogramme sowie Sicherheitsbeleuchtung gefordert.
10.5.5 Rauch- und Wärmeabzug, Feuerlöscheinrichtungen Zur Abführung lebensgefährdender Brandgase sind in Abhängigkeit einer von Raum, Prozess und Logistik abhängigen Brandlastermittlung Rauchabzugsvorrichtungen in Hallendächern oder Seitenwänden vorzusehen. Deren thermische Wirksamkeit stellt sich
nur bei Vorhandensein geeigneter Zuluftöffnungen ein. Für den Nachweis eines thermischen Ablaufes im Einzelfall empfiehlt sich eine 3D-Rauchgassimulation. Die allgemeinen Anforderungen der MusterIndustriebaurichtlinie gehen für Produktions- bzw. Lagerräume mit selbsttätiger Löschanlage und einer Fläche von über 1600 m2 davon aus, dass eine Rauchabführung in ausreichender Weise über Rauchabzüge mit einer aerodynamisch wirksamen Fläche von 0,5%, bezogen auf die Grundfläche, gewährleistet wird. Die Rauchableitung muss den Schutzzielen und Geräteanforderungen der Normenreihe DIN 18232 entsprechen. Die geometrische Öffnungsfläche der Zuluftöffnungen muss mindestens im Verhältnis 1,5 zu 1 zu den geometrischen Eintrittsflächen aller Rauchabzugsflächen des größten Rauchabschnitts stehen. Bild 10.22 illustriert Anforderungen an den Rauch- und Wärmeabzug nach der Muster-Industriebaurichtlinie für Flächen < 200 m2 und Flächen > 1600 m2. Auf je-
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Bild 10.21: Anforderungen an Rettungswege © Reichardt 15.178_JR_B
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der zur Brandbekämpfung erforderlichen Ebene, also auch auf Galerien, muss eine 2,5 m hohe rauchfreie Schicht (Atmungsluft ohne toxische Verqualmung) im Rettungsbereich von Personen rechnerisch nachgewiesen werden. Reserven in der Hallenhöhe sind also auch aus Sicht des Brandschutzes eine weitsichtige bauliche Investition in zukünftige Wandlungsfähigkeit. Als aktive weitere technische Maßnahmen zur Brandbekämpfung können über eine Brandmeldeanlage selbsttätige Löschanlagen gesteuert, sowie Außenhydranten und Wandhydranten angeordnet werden. Ein geforderter Sprinklerschutz (engl. to sprinkle = sprengen) ist umfassend auf die jeweiligen Brandabschnitte auszulegen. Die Ausführung der Sprinkleranlage ist Gegenstand einer gesonderten Fachplanung, die eine enge Abstimmung mit dem Sachversicherer des Werkes, dem Sachverständigen für Löschanlagen und den zuständigen Behörden erfordert.
Damit sind die Darlegungen über die Raumgestaltung auf Bereichsebene abgeschlossen. Diese fließen nun unter Berücksichtigung der funktionalen Bereichsgestaltung nach Kap. 9 in die Gestaltung eines Fabrikgebäudes ein, die im folgenden Kapitel 11 behandelt wird.
10.6 Literatur [AGI03]
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10.6 Literatur
Bild 10.22: Anforderungen an Rauch- und Wärmeabzug © Reichardt 15.179_JR_B
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10 Räumliche Arbeitsbereichsgestaltung
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Kapitel 11 Gebäudegestaltung
11.1 Tragwerk 11.1.1 Projektanforderungen und Lastannahmen 11.1.2 Strukturform als statisches System 11.1.3 Spannweite 11.1.4 Werkstoffwahl und Fügeprinzip 11.1.5 Profilierung der Stützen, Träger und Decken
11
314
318
11.3.4 Leitungsnetze 11.3.5 Auslässe
339 340
11.4 Ausbau 11.4.1 Böden 11.4.2 Wände 11.4.3 Decken 11.4.4 Kerne 11.4.5 Treppen
341 342 345 345 347 348
318 320 324 325 328
11.2 Hülle 11.2.1 Schutzfunktionen 11.2.2 Produktion und Logistik 11.2.3 Belichtung, Ausblick, Kommunikation 11.2.4 Ökologie und Energiegewinnung
330 330 331
11.3 Medien 11.3.1 Ver- und Entsorgungssysteme 11.3.2 Technikzentralen 11.3.3 Haupttrassen
334 336 337 339
333 334
11.5
Beispiele für wandlungsfähige Gebäude
349
11.6 Anmutung und Ästhetik 350 11.6.1 Strukturelle Ordnung 350 11.6.2 Einfachheit 351 11.6.3 Balance von Einheit und Vielfalt 351 11.6.4 Unverwechselbarkeit 351 11.6.5 Emotionale Qualität, Atmosphäre 352 11.7
Literatur
352
Bild 11.1: Gestaltungsfelder eines Gebäudes
317
Bild 11.2: Strukturmerkmale eines Gebäudes
319
Bild 11.3: Projektanforderungen an Tragwerke
320
Bild 11.4: Übersicht der Lastannahmen für ein Tragwerk
321
Bild 11.5: Strukturformen und statische Systeme für Hallen
322
Bild 11.6: Strukturformen eines Tragwerks
323
Bild 11.7: Tragwerksbeispiele
323
Bild 11.8: Variantendiskussion eines Tragwerks für eine PKW-Montagehalle
324
Bild 11.9: Relative Kosten von Holztragwerken
325
Bild 11.10: Relative Kosten von Stahltragwerken
326
Bild 11.11: Tragglieder mit alternativen Werkstoffen
327
Bild 11.12: Werkstoffe und Fügeprinzipien für Tragwerke
328
Bild 11.13: Profilierung von Traggliedern
329
Bild 11.14: Schutzfunktions-Merkmale von Gebäudehüllen
331
Bild 11.15: Merkmale einer Gebäudehülle aus Produktionssicht
332
Bild 11.16: Fassadensysteme für ein Montagewerk (Beispiel)
332
Bild 11.17: Merkmale einer Gebäudehülle aus Sicht von Belichtung, Ausblick und Kommunikation
333
11
Bild 11.18: Merkmale einer Gebäudehülle aus Sicht von Ökologie und Energiegewinnung 334 Bild 11.19: Mediensystem-Hierarchie
335
Bild 11.20: Modulares Versorgungssystem für ein Motorenwerk
336
315
316
Bild 11.21: Störungsfreie Lage von Technikzentralen
338
Bild 11.22: 3D-Modellierung der Medienführung eines Besprechungsraums (Beispiel)
340
Bild 11.23: Beispiel für ein wandlungsfähiges Zuluftsystem
341
Bild 11.24: Übersicht Strukturelemente Gebäudeausbau
342
Bild 11.25: Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Böden
343
Bild 11.26: Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Wänden
344
Bild 11.27: Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Decken
346
Bild 11.28: Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Gebäudekernen
347
Bild 11.29: Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Treppen
348
Bild 11.30: Baukastenprinzip für Gebäude (Beispiele)
349
Die architektonische Durchbildung eines Gebäudes umfasst die vier gestaltprägenden Komponenten seiner Baustruktur: Tragwerk, Hülle, Medien und Ausbau. Die „Leistungsfähigkeit“ eines Gebäudes, also seine Fähigkeit, gegenwärtigen und zukünftigen Zwecken zu dienen, wird im Wesentlichen durch die Ausprägung der gewählten technischen und baukonstruktiven Lösungen im Zusammenspiel dieser Komponenten bestimmt. Adam zeigt in [Ada04] eine Vielzahl von Beispielen mit höchst unterschiedlichen Lösungen für Industriebauten. Bild 11.1 illustriert die Methodik einer integrierten Variantendiskussion von Strukturmerkmalen aus Sicht der Prozesse und des umhüllenden Raums. Wesentlich dabei ist die Unterscheidung in unveränderliche, schwer veränderliche und leicht veränderliche Strukturmerkmale im Vergleich zu der vermuteten Veränderung der Anforderungen. Hieraus ergibt sich die notwendige zukünftige Wandlungsfähigkeit des Gebäudes.
Das Tragwerk ist das zeitbeständigste und somit am schwersten veränderliche System einer Baustruktur. In der Regel ist es ausgelegt für die gesamte Nutzungsdauer des Gebäudes. Ein Tragwerk besteht aus den für die Standsicherheit eines Gebäudes notwendigen flächenartigen und stabartigen Bauteilen, Aussteifungen und Fundamenten. Dabei finden vor Ort gefertigte oder elementierte Komponenten aus Stahl, Stahlbeton, Holz oder Leichtmetall sowie Kombinationen dieser Baustoffe Verwendung. Die Wahl der Tragstruktur hat großen Einfluss auf die langfristige Nutzbarkeit sowie auf die architektonische innere und äußere Gestalt. Die Hülle grenzt einen geschützten Innenraum als eigenständigen klimatischen Bereich gegenüber dem Außenraum ab. Sie besteht aus unbeweglichen geschlossenen oder transparenten Elementen für Fassaden und Dächer sowie beweglichen Teilen wie Toren, Türen, Fenstern oder Rauchabzugselementen. Insbesondere Aspekte der natürlichen Belichtung,
11
Bild 11.1: Gestaltungsfelder eines Gebäudes © Reichardt 14.782_JR_B
317
11 Gebäudegestaltung
11
318
Ausblick und Kommunikation bestimmen die langfristige Qualität und Wandlungsfähigkeit der Gebäudehülle. Der Begriff Medien kennzeichnet die Gesamtheit aller für Produktionsprozesse, Nutzerbehaglichkeit und Gebäudesicherheit notwendigen Zentralen, Leitungswege und Anschlüsse. Insbesondere Aspekte der Modularität, Nachrüstbarkeit, aber auch einfache Erreichbarkeit zu Wartungszwecken prägen den Grad der Wandlungsfähigkeit von Medien. Unter Ausbau sollen Treppen, Kernbereiche, besondere Einbauten sowie alle statisch nicht notwendigen Bauteile verstanden werden. Als Grundsatz sollten möglichst wenige, nicht veränderliche Ausbausysteme die Wandlungsfähigkeit der Prozesse einschränken oder behindern. Schließlich entsteht die Anmut einer Industrie- und Gewerbearchitektur aus Atmosphäre, struktureller Ordnung, Einfachheit sowie der Balance von Einheit und Vielfalt. Die daraus resultierende wohltuende Harmonie wird erreicht durch eine an lebendige Organismen erinnernde, innere Schlüssigkeit der Elemente in ihrem Verhältnis zur Gesamtheit. Dabei spielt die unmittelbare Erfassung klar artikulierter Bau- und Architekturformen, das sofortige Verständnis und die Ablesbarkeit der Aufgaben der Elemente wie Tragwerk, Hülle und Ausbau im Gesamtgefüge eine entscheidende Rolle. Dabei bedarf es keiner besonderen Verkleidung oder Kaschierung. Eine hohe ästhetische Qualität bedingt keinesfalls hohe Kosten. Das Prinzip der Einfachheit, der Reduktion auf das Wesentliche, darf nicht verwechselt werden mit der Banalität, Einfallslosigkeit und Primitivität des gemeinen Wirtschaftsbaus. Die gebotene Notwendigkeit der Wirtschaftlichkeit verträgt sich vielmehr hervorragend mit Knappheit, fehlender Verkleidung und Vermeidung von Zierrat. Die „Leistungsfähigkeit“ eines Gebäudes, also seine Fähigkeit, gegenwärtigen und zukünftigen Zwecken zu dienen, wird im Wesentlichen durch die Ausprägung der gewählten technischen und baukonstruktiven Lösungen im Zusammenspiel von Tragwerk, Hülle, Medien und Ausbau bestimmt. Dringlichstes Ziel der Gebäudeplanung ist daher die eingehende Diskussion und einvernehmliche Abstimmung umfassender Leistungsmerkmale mit allen Planungsbeteiligten.
Auf Grundlage des von der Produktionsplanung optimierten Layouts erweist sich eine übergreifende Modularität der Betriebsmittel und der Flächen als besonders hilfreich für die gegenseitige Abstimmung von Prozess- und Raumplanung. Eine gemeinsame Maßordnung vereinfacht die räumliche Zuordnung von Mediensystemen zu Produktionseinheiten sowie deren Anpassung im Sinne von Wandlungsfähigkeit. Darüber hinaus erleichtert sie die einfache Nachrüstbarkeit von Gebäudeelementen wie z.B. Hallentoren in der Fassade. Die geschickte Kombination der unveränderlichen, schwer veränderlichen und veränderlichen Strukturmerkmale bedingt die angestrebte Wandlungsfähigkeit des Gebäudes für gegenwärtige Aufgaben, erweiterte Aufgaben sowie neue, noch nicht bekannte Aufgaben. Unveränderliche Strukturmerkmale sind die Tragfähigkeit von Fundamenten und Bodenplatte. Schwer veränderliche Strukturmerkmale sind die Tragfähigkeit von Stützen- und Trägerquerschnitten oder die Diagonalverbände der statischen Aussteifung, die die Erweiterung einer Halle einschränken. Veränderliche Strukturmerkmale sind versetzbare geschlossene oder transparente Fassadenelemente, die je nach Bedarf die Tageslichtzuführung von der Hallenfassade oder der Dachfläche gestatten. Bild 11.2 fasst in einer Übersicht die Strukturmerkmale der Gestaltungsfelder Tragwerk, Hülle, Medien, Ausbau und Anmutung zusammen. Nachfolgend sollen diese besonders mit Blick auf ihre Bedeutung für Wandlungsfähigkeit erörtert werden.
11.1 Tragwerk
11.1.1 Projektanforderungen und Lastannahmen Zur Erfüllung der vielfältigen und sich teilweise widersprechenden Anforderungen eines spezifischen Projektes gilt es, einen Ansatz für die Tragwerksgestaltung zu finden, der sich an der langfristig
11.1 Tragwerk
Bild 11.2: Strukturmerkmale eines Gebäudes © Reichardt 15.181_JR_B
geltenden Produktionsstrategie des Unternehmens orientiert. Bild 11.3 zeigt Beispiele von häufigen Projektanforderungen an Tragwerke. Primär prägen die aus den Produktions- und Logistikprozessen resultierenden geometrischen und verfahrenstechnischen Parameter die Tragwerkstruktur, die ihrerseits die Installationsführung bestimmt. Wie ausführlich in Kapitel 5 entwickelt, spielt die Veränderbarkeit von Flächen und Einbauten eine große Rolle. Schließlich sind Personen- und Sachschutz sowie Behaglichkeit wichtige Anforderungen der Nutzungsphase. Übergeordnet sind wirtschaftliche Aspekte der Kosten und Bauzeit. Im Rahmen der in Kapitel 15 ausführlich dargestellten Synergetischen Fabrikplanung werden die projektspezifischen Anforderungen zu einem Anforderungsprofil zusammengeführt und die konkreten Parameter mit allen Beteiligten, insbesondere unter dem Aspekt der langfristigen Wandlungsfähigkeit, abgeglichen.
Sind zumindest grundsätzliche Projektanforderungen geklärt, geht es zu einem sehr frühen Zeitpunkt um eine überschlägige erste Dimensionierung der Tragwerkteile. Hierfür stehen Tabellenwerke wie [Kra07] zu einer ersten Abschätzung der Tragwerksglieder zur Verfügung, wobei die Lastannahmen für Verkehrslasten, Einzellasten und dynamische Lasten zu ermitteln sind. Sollten nicht alle Daten verfügbar sein, müssen im Team Annahmen getroffen werden. So stellen sich in jedem Projekt frühzeitig Fragen zur Lage der Technikzentralen oder Medienabhängungen, die mit entsprechendem Weitblick mangels genauer Definition angenommen werden müssen. Es empfiehlt sich, die in der Praxis zusammengeführte Kombination aus Festlegungen und Annahmen nach Projektteilen zu dokumentieren und mit dem Projektfortgang immer weiter zu präzisieren. Bild 11.4 zeigt eine Übersicht wichtiger Lastannahmen für die Hauptelemente eines Tragwerks. Davon sind einige prozessbedingt, andere den örtlichen
11
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11 Gebäudegestaltung
Bild 11.3: Projektanforderungen an Tragwerke © Reichardt 15.182_JR_B
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320
Gegebenheiten, wie z. B. Schneelasten, geschuldet. Die Bodenplatte spielt für die Wandlungsfähigkeit eine besondere Rolle, bestimmt sie doch entscheidend die Möglichkeit einer Ortsveränderung der Betriebseinrichtungen oder der Umwidmung von Bereichsflächen, z.B. von einem Logistikbereich in einen Fertigungsbereich oder umgekehrt. Der Aspekt der Lastreserven verdient eine eingehende Diskussion. Hohe Lastreserven bedingen finanzielle Vorinvestitionen durch Überdimensionierung von Tragwerksteilen, stellen aber gleichzeitig einen entsprechenden Grad an Wandlungsfähigkeit dar. Hier gilt es, strategische und wirtschaftliche Gesichtspunkte sinnvoll abzuwägen. Erweiterungen in Fläche oder Höhe müssen bei den jeweiligen Lastannahmen vorausschauend berücksichtigt werden, ebenso erwartete Änderungen der Produktion mit einer möglicherweise neuen Generation von Betriebsmitteln und deren baulichen Anforderungen.
11.1.2 Strukturform als statisches System Die Eigenschaften eines Tragwerks werden durch die architektonische Ausprägung von Stützen und Trägersystemen, Deckensystemen, Bodenplatte, Fundamenten, tragenden Wänden und Kernen bestimmt. Diese Merkmale der Art der Kräfteverteilung des statischen Systems definieren die Strukturform. Die Wahl der Strukturform, das Prinzip der Lastableitung und Aussteifung entscheiden über mögliche Erweiterungsrichtungen sowie die Eignung zur Aufnahme besonderer Lastfälle. Grob lässt sich in Anlehnung an [Eng07] eine Einteilung in acht Tragwerksfamilien vornehmen: Balkentragwerke, Trägerroste, Rahmen, Bögen, Schrägkabelkonstruktionen, Seilbinder, Kuppeln sowie Seilnetze und Textilkonstruktionen. Für übliche Anforderungen an Produktionsstätten lassen sich nach [Gri97] vereinfachend vier Gruppen
11.1 Tragwerk
Bild 11.4: Übersicht der Lastannahmen für ein Tragwerk © Reichardt 15.183_JR_B
der Strukturformen von Hallentragwerken bilden: Stützen und Binder, Rahmen, Bögen und Raumtragwerke. Bild 11.5 zeigt eine Übersicht von Strukturformen für Hallentragwerke in Form von Stützen/ Binder-Tragwerken und Rahmenkonstruktionen. Bogentragwerke und Raumtragwerke finden in Fa brikbauten eher selten Anwendung. Grundsätzlich muss jedes Hallen- und Geschossbauwerk in Längs- und Querrichtung ausgesteift werden. Rahmen oder Bogentragwerke sind in Querrichtung bereits stabil und erfordern deshalb nur eine zusätzliche Aussteifung in Längsrichtung. Gerichtete Tragsysteme weisen eine eindeutige Unterscheidung in der Lage von Haupt- und Nebenträgern aus, die Vertikallasten werden hier einachsig über die Hauptträger in die Stützen geführt. Demgegenüber verteilen ungerichtete Tragwerke die Vertikallasten zweiachsig über alle Tragglieder in die Stützen. Ungerichtete Tragwer-
ke sind daher meistens nur auf quadratischem Stützenfeld wirtschaftlich, die Erweiterung in zwei Richtungen fällt jedoch leichter als bei gerichteten Strukturen. Der Zusammenhang von Modularität, Spannweite, Aussteifung, Lastverteilung und Erweiterung muss nach Bild 11.6 für jedes Projekt eingehend aus Prozess- und Raumsicht diskutiert werden. Dabei ist zwischen der horizontalen und vertikalen Erweiterungsrichtung zu unterscheiden. Hier empfiehlt sich bereits eine 3D-Modellierung des Tragwerks, um Kollisionen mit der Prozess- oder Haustechnik frühzeitig zu erkennen. Generell bedeutet ein hoher Grad an Wandlungsfähigkeit immer vielfältige Anbau- und Ausbaumöglichkeiten. Das Tragwerk großer Hallen sollte den Einbau von Galerien für produktionsnahe Bürofunktionen wie Arbeitsvorbereitung, Fertigungssteuerung, Qualitätssicherung usw. gestatten und somit die innere Wandlungsfähigkeit unterstützen.
11
321
11 Gebäudegestaltung
Bild 11.5: Strukturformen und statische Systeme für Hallen © Reichardt 15.184_JR_B
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Bild 11.7 zeigt zwei realisierte Projektbeispiele mit der Darstellung äußerer und innerer Erweiterungsoptionen. Im Fall der Pumpenfabrik mit Modulen von 21 x 21 m können 6 Module in Längsrichtung ohne Produktionsstörung angebaut werden. Das Innere des vorgesetzten Moduls ist mit Büroflächen ausgestattet, die sich in die Fabrik fortsetzen und dadurch eine direkte Kommunikation unterstützen (s. auch Bilder 15.57 und 15.58). Auch im Werk für PKWKühlelemente können autonome Großmodule von 18 bzw. 36 m Spannweite störungsfrei angebaut werden. Statt eines separaten Kopfbaues bietet eine integrierte Bürogalerie Platz für das gesamte Management mit direkter Einsicht in die Produktionsabläufe. Für Flachbauten und Hallen ist die natürliche Ausleuchtung der Arbeitsbereiche durch Oberlichter zu empfehlen. Die Belichtungsflächen laufen dann senkrecht oder parallel zur Spannrichtung des Tragwerks. Bei senkrechter Führung der Belichtungsflächen zum
322
Tragwerk liegen die Konstruktionsglieder innerhalb und außerhalb der temperierten Hülle des Gebäudes. Diese Bauweise ist mit den hierdurch auftretenden Kältebrücken im Sinne einer energiebewussten Bauweise kaum vertretbar. Weitaus sinnfälliger ist es, die Belichtungsflächen parallel zu einer in filigrane Träger aufgelösten Konstruktion anzuordnen, so dass das Tageslicht die Trägerzone durchdringen kann. Ausführungsbeispiele von Belichtungselementen sowie Zusammenhänge von Lichtöffnungen, Raumhöhe und Raumtiefe sind in Abschnitt 11.2.3 Natürliche Belichtung, aufgeführt. Für die Wirtschaftlichkeit weit gespannter Hallentragwerke sind insbesondere die Ableitung von Anpralllasten durch Staplerverkehr an Stützen sowie die Summe aller Abhängelasten des Dachtragwerks von Bedeutung. Bei weit gespannten Hallendächern sollte zugunsten der Lastminimierung des Dachtragwerks der Einsatz bodengestützter Medienverteilsysteme geprüft werden.
11.1 Tragwerk
Bild 11.6: Strukturformen eines Tragwerks © Reichardt 15.185_JR_B
11
Bild 11.7: Tragwerksbeispiele © Reichardt 15.186_JR_B
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11 Gebäudegestaltung
Bild 11.8: Variantendiskussion eines Tragwerks für eine PKW-Montagehalle © Reichardt 15.187_JR_B
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Für die Lösungsfindung eines spezifischen Projektes empfiehlt sich die Diskussion von Planungsalternativen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten. Bild 11.8 zeigt die Gegenüberstellung einiger exemplarischer modularer Strukturformen und statischer Systeme für das Projektbeispiel Hallentragwerk einer PKW-Montagehalle. Vor- und Nachteile von Aspekten aus Prozess, Architektur, Haustechnik und Wirtschaftlichkeit fließen in eine integrierte Bewertung ein.
11.1.3 Spannweite Die Festlegung der Spannweiten für Halle oder Geschossbau ist eine der wichtigsten, wenn nicht die zentrale Frage aus Prozess- und Raumsicht. Der Zielvorstellung möglichst weniger behindernder Stützen steht die gebotene Wirtschaftlichkeit des Tragwerks
324
gegenüber. Die Optimierung zielt auf einen aus beiden Sichtweisen tolerierbaren Kompromiss. Polonyi untersuchte für eine ca. 300 m2 große Halle mit 6,5 m lichter Höhe die Kostenentwicklung in Abhängigkeit von Spannweite, Dachlast und Werkstoff [Pol03]. Die zugrunde gelegten alternativen statischen Systeme Zweigelenkrahmen, Fachwerkträger und zweifache Unterspannung wurden dabei jeweils vergleichend für Stahl- und Holzquerschnitte berechnet. Nach Bild 11.9 und Bild 11.10 lassen sich relative Kosten in Abhängigkeit von der Spannweite ableiten. Im industriellen Hallenbau sind demnach gegenüber Standardlösungen mit 20 m Spannweite solche von 30 m bis 50 m ohne gravierende Mehrkosten der Konstruktion unter der Voraussetzung minimierter Dachlasten (geringe Schneelasten, kleine Abhängelasten) möglich. Desgleichen sind in Druck- und Zugzone aufgelöste unterspannte Holzkonstruktionen
11.1 Tragwerk
im Bereich von 21 m bis 30 m Spannweite überraschenderweise fast kostenneutral. In einem weiteren Systemvergleich wurden für die bereits angesprochene PKW-Montagehalle im Rahmen der Variantendiskussion Spannweiten von 15 x 15 m, 20 x 20 m und 24 x 24 m vergleichend bewertet. Verschiedene Ausführungen eingespannter Stützen in Stahl und Beton sowie Dachtragwerke in Stahl, Spannbeton und Holz flossen in die Diskussion ein. Die schließlich ausgeführte Lösung von 21 x 21 m Stützenraster bietet gegenüber dem ursprünglich vorgesehenen Raster von 15 x 15 m einen langfristigen Mehrwert bei ca. 10% höheren Konstruktionskosten.
11.1.4 Werkstoffwahl und Fügeprinzip Im Industriebau steht eine Vielzahl von Werkstoffen zur Verfügung, um die teilweise großen geforderten Stützweiten und Deckenlasten zu gewährleisten. Die
hohe statische Belastbarkeit prädestiniert den Werkstoff Stahl insbesondere für elementierte Konstruk tionen sowie große Hallenspannweiten. Brettschichtholzbinder und unterspannte Holzkonstruktionen eignen sich für Hallen mittlerer Spannweite. Konstruktionen aus Leichtmetall ermöglichen aufgrund des geringen Gewichtes der Bauteile den raschen Aufbau und Abbau temporärer Tragstrukturen. Bei der Wahl des Werkstoffs sind die Belange des Brandschutzes zu berücksichtigen. Ausschlaggebend ist neben der Einstufung der Brennbarkeit des Materials die in eine Konstruktion durch Prozesse, Betriebseinrichtungen und Logistik eingebrachte Brandlast. Mit geeigneten Anstrichsystemen sind z.Zt. Brandschutzanforderungen an Stahlhallen bis F 90 erzielbar. Für Holzkonstruktionen sind durch entsprechende Querschnitte oder aufblähende Anstriche z.Zt. Brandschutzwerte bis F 60 erreichbar. Geschossbauten mit hohen Brandschutzanforderungen an die Feuerbeständigkeit von Stützen, Trägern
11
Bild 11.9: Relative Kosten von Holztragwerken © Reichardt 15.188_JR_B
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11 Gebäudegestaltung
Bild 11.10: Relative Kosten von Stahltragwerken © Reichardt 15.189_JR_B
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und Decken können in Stahlbeton- oder Stahlverbundbauweise erstellt werden. Bild 11.11 zeigt die Dimensionierung von Decken und Stützen mit verschiedenen Werkstoffen bzw. Werkstoffkombinationen. Stahlverbundbauteile erlauben im Vergleich zur Stahlbetonbauweise schlankere Querschnitte bei geringerer statischer Höhe. Weitere Kriterien für die Werkstoffauswahl sind die Korrosionsbeständigkeit und Wetterbeständigkeit der Konstruktion. Tragwerke aus Stahl, Holz und Stahlbeton müssen mit entsprechenden Maßnahmen vor Schlagregen geschützt werden, Stahl ist durch Feuerverzinkung oder Beschichtungen gegen Korrosion zu schützen. Bei den meist geforderten kurzen Bauzeiten sind in der Werkstatt vorgefertigte elementierte Tragwerke oft vorteilhaft gegenüber vor Ort erstellten Konstruktionen aus Ortbeton. Sie erlauben nicht nur eine beinahe witterungsunabhängige Montage auch bei
326
Frostgraden, sondern weisen weitere grundsätzliche Vorteile gegenüber monolithischen Konstruktionen auf. Die Wahl des Fügeprinzips (Schweißen, Schrauben oder Stecken) bestimmt die Geometrie der Anschlussknoten und entscheidet über den zeitlichen Verlauf von Planung, Fertigung und Montage. Die einfache Lösbarkeit konstruktiver Verbindungen ermöglicht eine spätere Verstärkung oder Nachrüstung von Deckenträgern bei höherer Belastung und ist also ein Merkmal der Wandlungsfähigkeit. Darüber hinaus ist beim Rückbau des Gebäudes keine Trennung der Baustoffe für Recyclingzwecke erforderlich. Nach dem Grad der Vorfertigung und Elementierung lassen sich vier Gruppen der Fügung von Traggliedern bilden: Monolithische Konstruktionen, sogenannter Ortbeton, werden mit homogenen, unlösbaren Verbindungen auf der Baustelle erstellt. Homogene, jedoch lösbare Verbindungen entstehen durch Schweißen von Stahlverbindungen. Mit entspre-
11.1 Tragwerk
Bild 11.11: Tragglieder mit alternativen Werkstoffen © Reichardt 15.190_JR_B
chendem Aufwand können solche Tragwerke wieder in einzelne Tragglieder zerlegt werden. Bei einer Teilvorfertigung können die mit einer Teilbewehrung versehenen Deckenelemente als verlorene Schalung dienen: Sie erhalten ihre Endstabilität durch den am Einsatzort aufgebrachten Beton. Den höchsten Grad der Elementierung mit kompletter Vorfertigung aller Komponenten stellt ein geschraubtes Stahlskelett dar, die additive Fügung ermöglicht grundsätzlich Veränderungen der Tragglieder. Bild 11.12 zeigt eine Übersicht alternativer Werkstoffe und Fügeprinzipien für Hallen und Geschossbauten. Nach [Ack88] steht für Hallenbauten eine große Anzahl von Werkstoffen mit unterschiedlichen Eigenschaften besonders hinsichtlich erreichbarer Feuerschutzklassen zur Verfügung. Bei Geschossbauten beschränken sich diese auf Stahlbeton, Stahl und Stahl-BetonVerbundlösungen. Gegenwärtig werden nach [Rei08] auch innovative brandgeschützte Holzkonstruktionen für den Industrie- und Gewerbebau interessant.
Für die wandlungsfähige Fabrik erscheint die Verwendung von elementierten Bausätzen (vgl. auch Beispiele Bild 11.30) der angemessene Ansatz bei der Entwicklung von Tragwerken. Die komplette Vorfertigung mit schnell lösbaren Verbindungen erleichtert Veränderungen; Träger können vergleichsweise einfach und schnell verstärkt oder ersetzt werden. Durch die Herausnahme von Deckenfeldern sind nachträglich notwendige Vertikalverbindungen zwischen Geschossbereichen möglich, z.B für Fördereinrichtungen. Notwendige interne Erweiterungen lassen sich durch Galerieflächen realisieren, die bei entsprechender Vorbereitung an bestehende Stützen oder Träger angehängt werden können (vgl. auch Beispiel Bild 10.6). Nach [Lac84] ist der Entwurfsgedanke des Bausatzes grundsätzlich in den Werkstoffen Stahl, Stahlbeton, Holz und Leichtmetall zu verwirklichen. Besondere Detaillösungen wie Steckverbindungen erlauben eine rasche Montage und Demontage der Tragglieder, sie
11
327
11 Gebäudegestaltung
unterstützen somit Anforderungen nach temporären oder gar mobilen Fabriken. Im Einzelfall müssen die Mehrkosten gegenüber der gewonnenen Wandlungsfähigkeit abgewogen werden, die sich in kürzeren Umbauzeiten und geringerer Störung des laufenden Betriebs darstellt.
11.1.5 Profilierung der Stützen, Träger und Decken Je nach Strukturform, Spannweite, Werkstoff und Fügeprinzip ergeben sich für die Bauelemente von Stützen, Trägern, Dachdecken, Geschossdecken und Bodenplatte eine Vielzahl leistungsfähiger Detailausführungen. Der Grundsatz möglichst weniger Stützen wurde bereits angeführt. Andererseits eignen sich Stützen zur Aufhängung der Förder- und Haustechnik. Auch Laufschienen für Hallenkräne sowie Schwenkkräne und sonstige Hebezeuge können bei entsprechender Dimensionierung an Stützen befestigt werden. Stüt-
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Bild 11.12: Werkstoffe und Fügeprinzipien für Tragwerke © Reichardt 15.191_JR_B
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zen eignen sich auch für die Führung von vertikalen Trassen der Haustechnik wie Steigleitungen, Fallrohre oder Luftkanäle. Darüber hinaus können Traggerüste für die Ver- und Entsorgung der Betriebsmittel mit Strom, Druckluft oder Wasser an den Stützen befestigt werden. Kreuzförmige Stützen minimieren Flächenverluste durch Medienführung im Stegschatten. Bei elementierten Tragwerken kann die Bauzeit durch Fundamentkörper verringert werden, die an die Stützen angeformt sind. In der Fundamentplatte verankerte Anprallsockel führen die Anpralllasten ohne eine zusätzliche statische Beaufschlagung der Stützen ab. Am Stützenschaft kann eine Absenkung der Fundamentoberkante die horizontale Abführung von Medienleitungen oder deren Nachrüstung unter der Bodenplatte erleichtern. In Abhängigkeit von Dachlast und lichter Höhe wurde bei der bereits vorgestellten Variantendiskussion einer PKW-Montagehalle die Stützenausführung in den Werkstoffen Beton und Stahl mit verschiedenen Profilierungen
11.1 Tragwerk
Bild 11.13: Profilierung von Traggliedern © Reichardt 15.192_JR_B
untersucht und die jeweiligen Kosten von Stützen, Träger und Fundamenten für ein Modulfeld von 20 m x 20 m ermittelt (vgl. Bild 11.8). In dem vorliegenden Fall erwies sich die Betonstütze mit angeformtem Fundament als die wirtschaftlichste Lösung. Die Profilierung der Träger als Vollwand, Wabenträger, Fachwerkträger oder unterspannte Träger hat Einfluss auf die Medienverteilung sowie die Tageslichtverteilung. Filigrane Träger erlauben die Führung von Medientrassen innerhalb der Trägerzone; bei Vollwandträgern verringert sich demgegenüber die lichte nutzbare Hallenhöhe um den unterhalb der Träger notwendigen Installationsraum. Geschosshohe Fachwerkträger ermöglichen die Integration von Wartungsstegen oder Technikgalerien im Dachtragwerk. Durchlässige Träger unterstützen die Ausbreitung einer natürlichen Lichtführung im Dachbereich, entsprechend profilierte Träger können zur Optimierung der Ausleuchtung von Arbeitsflächen durch Lichtumlenkung herangezogen werden.
Waagerecht konstruierte Dachdecken sind vorteilhaft für die systematische Anbringung von Medientrassen sowie die Anordnung der Leuchten. Gegenüber aufgrund der notwendigen Dachentwässerung leicht geneigten Flächen und Träger bietet die Horizontaldecke bei leicht erhöhtem konstruktivem Aufwand den „Mehrwert“ immer gleicher Abhängabstände für Medien sowie Prozess- oder Fördertechnik. Eine stimmige Systemplanung der Medien ist von großem Vorteil bei Planung, Bau sowie späterer Veränderung. Die Dachdecken sollten durch möglichst wenige Aussteifungsverbände beeinträchtigt sein und Nachrüstungen von Belichtungsöffnungen oder notwendigen Dachdurchdringungen durch entsprechende Werkstoffwahl und modulare Elementierung erlauben. Die Detailausbildung der Unterseite der Dachdecken sollte nach den Anforderungen von Lichtverteilung im Raum, Schallabsorption sowie Abhängmöglichkeiten für Medien gewählt werden. Oberflächen mit hoher
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11 Gebäudegestaltung
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Lichtreflexion erhöhen die Raumhelligkeit; poröse Oberflächen durch gelochte Bleche oder eingehängte Segel dämpfen den Schallpegel. In die Deckenmaterialien eingearbeitete Sicken und Nuten gestatten vielfältige reversible Abhängmöglichkeiten. Die Vorteile elementierter Systeme für Geschossdecken gegenüber der monolithischen Bauweise liegen in der Integration der Medien, nachträglicher Veränderbarkeit und beschleunigtem Bauablauf. Befestigungsdetails wie sogen. Halferschienen in jedem Element gestatten eine variable Installationsführung und vertikale Geschossverbindungen sind auch nachträglich in einem Modulelement leicht möglich. Bei größeren Spannweiten können die Medien bei geschickter Organisation innerhalb der statischen Höhe des Deckenelements geführt werden, wenn sie als Rippenplatten ausgeführt sind. Die Tragfähigkeit der Bodenplatte ist ein entscheidender Faktor für die langfristige Wandlungsfähigkeit. Hohe Belastbarkeit sollte durchgängig ohne Einschränkungen über die gesamte Fläche gegeben sein. Ein weiterer Aspekt betrifft die Ebenheit. Gerade bei monolithischen Bodenplatten (Vakuumbeton) ist die damit erreichte Höhentoleranz durch spätere Aufbauten nicht mehr auszugleichen, muss also weitsichtig auf die Erfordernisse der Prozesstechnik eingestellt sein. Medienführung, Fördertechnik, Prozessentsorgung, Sonderfundamente und Fluchtwege stellen weitere Anforderungen an die Detailausbildung der Bodenplatte. Lassen sich Einbauten für Kabelwege, Laufschienen oder Späneentsorgung nicht vermeiden, sollten Abdeckungen ebenengleich und befahrbar sein. Sonderfundamente oder Gruben für bestimmte Maschinen schränken die Wandlungsfähigkeit erheblich ein und die Lage von Fluchttunneln sowie deren Zugänge sollten auf lange Sicht geprüft werden. Befolgt man die aufgeführten Prinzipien, wird man in Anlehnung an [Pol03] wenig Verständnis für die Dekoration eines Bauwerkes mit einer nicht notwendigen oder nicht sinnvollen Konstruktion haben. Bild 11.13 fasst die Merkmale der Wandlungsfähigkeit bei der Profilierung von Stützen, Trägern und Decken zusammen.
11.2 Hülle Die bauliche Umhüllung eines Tragwerkes umfasst vertikale Fassadenflächen sowie horizontale oder geneigte Dachflächen. Sie bestehen in der Regel aus einer Kombination aus geschlossenen und transparenten Flächen. Nach Bedarf sind Öffnungselemente als Fenster, Türen oder Tore in die Hüllflächen integriert. Die Aufgaben einer Hülle umfassen Schutzfunktionen, Anforderungen aus Produktion und Logistik, Belichtung, Ausblick, Kommunikation sowie Ökologie und Energiegewinnung. Eine Vielzahl möglicher Lösungen sind in [Her04] und [Sch06] mit Bauarten und Beispielen zusammengestellt.
11.2.1 Schutzfunktionen Je nach geographischem Standort ist die Hülle für den geeigneten Klimaschutz auszulegen. Nach Angaben der Wetterdienste sind durchschnittliche Temperaturwerte für Kälte- und Hitzeperioden sowie Regenperioden, Windrichtungen und Windstärken bestimmbar. Zur Festlegung der Wand- und Dachaufbauten empfiehlt sich eine integrale 3D-Betrachtung von Energieverlusten und Energiegewinnen der Hülle im Rahmen der synergetischen Fabrikplanung. Hierbei sollten auch alle prozessbedingten Energieströme wie Maschinenabwärme in die Betrachtung einfließen. Diese Betrachtung ist alternativ für mehrere Wandaufbauten sowie unter der Zugrundelegung zukünftiger Energiepreis-Szenarien durchzuführen. Die Lage des Gebäudes zu vorherrschenden Windrichtungen hat Einfluss auf die Anordnung von Toren, Vordächern sowie Rauchwärmeabzügen. Fordern Gesetze und Auflagen die Einhaltung bestimmter Schallwerte, sind geschlossene Flächen und Öffnungen der Hülle entsprechend auszulegen. Die Lage an Autobahnen oder Flughäfen kann einen Lärmschutz von außen nach innen oder spezielle schallreflektierende Schutzmaßnahmen vor der Fassade erfordern. Bild 11.14 zeigt in einem Überblick wesentliche Merkmale für die Schutzfunktionen Kälte, Hitze, Regen, Wind und Schall. Der Wert des Wärmedurchgangskoeffizienten (U-Wert) bestimmt die Wärmedämmung,
11.2 Hülle
Bild 11.14: Schutzfunktions-Merkmale von Gebäudehüllen © Reichardt 15.193_JR_B
der Energiedurchlasswert (g-Wert) den Energieeintrag durch solare Strahlung. Je nach geographischem Ort ist für die Ausführung der Dachsysteme die maximale anzusetzende Regenmenge (Regenspende) maßgebend. Die Forderung nach einer hohen Wandlungsfähigkeit der Hülle bedeutet in der Regel die Vermeidung tragender Außenwände, da Massivkonstruktionen Umbauten oder Erweiterungen einen großen Widerstand entgegensetzen. Modulare, elementierbare Systeme lassen sich hingegen schneller und wirtschaftlicher an neue Anforderungen adaptieren.
11.2.2 Produktion und Logistik Bauliche Anforderungen an die Hülle aus den Bedingungen von Produktion und Logistik beziehen sich nach Bild 11.15 vor allem auf An- und Auslieferstellen, Fluchtwege, Montageöffnungen der Einrichtung sowie Durchdringungen der Hülle mit Medientechnik aus Prozessen, Brandschutz und Haustechnik. Im Sinne eines hohen Grades baulicher Wandlungsfähigkeit sollten Massivkonstruktionen für Dach und Wand vermieden werden und stattdessen eine Vielzahl weicher, also leicht veränderbarer Zonen
vorgesehen werden. Für die vertikalen Fassaden empfiehlt sich eine Elementierung transparenter oder teiltransparenter (opaker) Bauteile im Torraster von ca. 3,00/4,50 m x 4,50 m. Auf dieser Grundlage sind übliche Torgrößen, seitliche Fluchttüren sowie LKW-Einfahrten in die Halle wandlungsfähig zu gestalten.
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Vordächer für eine wettergeschützte Ladung und Entladung von Fahrzeugen sollten mit eigener Fundamentierung an beliebiger Stelle möglich sein. Eine Auswechselbarkeit der Fassadenstiele zwischen Bodenplatte und Traggurten erlaubt größere Fassadenöffnungen zur Einbringung großer Maschinen und unterstützt auch eine rasche Hallenerweiterung. Belichtungsflächen, Rauchwärmeabzugsanlagen sowie notwendige Durchstoßpunkte für Prozessabluft lassen sich in bandartige Dachstrukturen integrieren. Elementierte transparente und geschlossene Paneelsysteme für Sheds und Stehverglasungen können jederzeit an neue Erfordernisse angepasst werden. Bild 11.16 zeigt nach dieser Strategie entwickelte geschlossene und transparente Fassadensysteme eines Montagewerkes für PKW-Kühlsysteme.
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11 Gebäudegestaltung
Bild 11.15: Merkmale einer Gebäudehülle aus Produktionssicht © Reichardt 15.194_JR_B
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Bild 11.16: Fassadensysteme für ein Montagewerk (Beispiel) © Reichardt 15.195_JR_B
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11.2 Hülle
11.2.3 Belichtung, Ausblick, Kommunikation Nach den Bestimmungen der Arbeitsstättenrichtlinien sind für Hallen bis zu 2.000 m2 Größe 10% der Grundfläche für transparente Fassaden in Augenhöhe vorzuhalten. Für größere Hallen ergibt sich aufgrund der Hallentiefe keine Forderung nach direktem Ausblick, hier wird von möglicher Tageslichteinführung durch Oberlichter ausgegangen. Um das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter zu steigern, achten Unternehmen zunehmend auf helle Arbeitsplätze. Wandlungsfähige Arbeitsräume sind keine Dunkelflächen, sondern haben über entsprechende Öffnungen der Hülle Anteil am Tagesablauf und an den Veränderungen des Wetters. Durch entsprechende Profilierung der Dachflächen kann eine blendfreie Grundversorgung der Arbeitsflächen mit natürlichem Zenitlicht erfolgen, die eine Voraussetzung für angenehmes Arbeiten ist. Über Ausblick und Belichtung hinaus können Fassaden
wichtige Beiträge zur Kommunikation eines Gebäudes mit der Umgebung leisten sowie Identität und Signifikanz vermitteln. Bild 11.17 zeigt in einem Überblick, welche Elemente der Hülle die Merkmale Belichtung, Ausblick und Kommunikation bestimmen können. Ein besonderes Augenmerk verdient die Entwässerung ausgedehnter Dachflächen. Über entsprechende Profilierung der Teilflächen muss an jeder Stelle des Daches eine Neigung von mindestens 2% zur eindeutig gerichteten Ableitung der Regenspenden bestehen. Dies kann bei weit gespannten Tragwerken zur Notwendigkeit der statischen Überhöhung der Traggurte führen. Schadensfälle an Dächern durch kurzzeitigen Schlagregen mit Überlastung der Einläufe führten zur Überarbeitung der DIN- und EN-Normen mit der Berücksichtigung regionaler Mengenangaben für Jahrhundertregen mit Auswirkungen auf die Gestaltung von Notüberläufen.
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Bild 11.17: Merkmale einer Gebäudehülle aus Sicht von Belichtung, Ausblick und Kommunikation © Reichardt 15.196_JR_B
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11 Gebäudegestaltung
11.2.4 Ökologie und Energiegewinnung Fassadenflächen eignen sich in hervorragender Weise für aktive Maßnahmen zur Verbesserung von Ökologie und Energiebilanz. Begrünte Fassaden und Dächer können als ökologisch wertvolle Maßnahmen in die Berechnung von Ausgleichsflächen einbezogen werden. Dachbegrünungen wirken verzögernd und damit entlastend auf die Einbringung von Regenspenden in die kommunalen Vorfluter, sie bewirken entwässerungstechnische Erleichterungen beim Genehmigungsverfahren. Mittlerweile steht eine große Zahl erprobter Systeme für die aktive Energiegewinnung an Fassaden bereit. Thermische Kollektoren zur Warmwassererzeugung, Photovoltaikkollektoren zur Stromerzeugung und Windkraftanlagen sind als separat aufgestellte oder in die Fassaden- und Dachelemente integrierte Systeme denkbar. Ihre Effizienz in Abhängigkeit von der Gebäudeausrichtung sowie Wirtschaftlichkeitsüberlegungen sollten im Rahmen der synergetischen Fabrikplanung am 3D-Computermodell optimiert werden.
Bild 11.18 zeigt eine Übersicht von Merkmalen aus Ökologie und Energiegewinnung und ihre Einbindung in die Gebäudehülle. Es ist zu erwarten, dass in Anlehnung an [Hau07] der für Wohnbauten bereits eingeführte „Passivhausstandard“ (jährlicher Heizenergiebedarf kleiner als 15 kWh/m2) zukünftig sinngemäß auch auf Indus trie- und Gewerbebauten übertragen wird. Gegenwärtig entwickeln eine Großzahl von Fassaden- und Systemherstellern integrative Systeme zur Nutzung insbesondere solarer und geothermischer, umweltfreundlicher, „passiver“ Energien. Weiterhin wird an Zertifizierungssystemen zur Erlangung eines „Green Building Standards“ auch für Industrie- und Gewerbebauten gearbeitet. Die ökologisch und energetisch bewusste Fassade verheißt also ein Stück Zukunftssicherheit.
11.3 Medien Unter dem Sammelbegriff Medien sollen sowohl die für das Gebäude notwendigen haustechnischen Medien wie auch im Gebäude geführte Prozessmedien
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Bild 11.18: Merkmale einer Gebäudehülle aus Sicht von Ökologie und Energiegewinnung © Reichardt 15.197_JR_B
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11.3 Medien
Bild 11.19: Mediensystem-Hierarchie © Reichardt 15.198_JR_B
der Fertigungseinrichtungen verstanden werden. Die in der Praxis übliche Trennung in „Haustechnik“ (ausgelegt vom Fachplaner Bau) und „Prozesstechnik“ (ausgelegt vom Betriebsplaner) birgt ein hohes Risiko an Abstimmungsverlusten und ermöglicht selten die Nutzung sinnfälliger Synergien. Die Gesamtheit der Mediensysteme sollte angesichts steigender Komplexität, insbesondere aber unter dem Primat der Energie- und Rohstoffeinsparung, ganzheitlich optimiert werden. Beispiele für die energetische Optimierung von Industriegebäuden finden sich bei [Hat06]. Zur Planungsoptimierung bieten sich fortgeschrittene EDV-Programme zur 3D-Modellierung aller Systeme, 3D-Simulation von Energieverlusten/ Energiegewinnen bis hin zur thermodynamischen 3D-Strömungssimulation an. Daniels beschreibt in Leitsätzen allgemeine Anforderungen und Prinzipien für die Planung haustechnischer Systeme [Dan96]: • Suche nach Optimum aus Investitions- und Verbrauchskosten. • Minimierung von Energie-, Rohstoffverbrauch und Schadstoffausstoß im Rahmen ganzheitlicher Wirtschaftlichkeitsbetrachtung.
• Diskussion über Art und Bereitstellung von Elektrotechnik, Heiz- oder Kühlenergie (evtl. eigenes Blockheizkraftwerk). • Sorgfältige Bedarfsermittlung und Dimensionierung nach Kennwerten mit ausreichenden Reserven für wachsenden Bedarf. • Sorgfältige Planung der Versorgungssysteme für Prozess und Bau, wenn möglich mit kurzen Wegen, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an neue Technologien ohne Nutzungsausfall. • Separate, jederzeit zugängliche Technikzentralen, Haupttrassen, Leitungsnetze und Auslässe nach übergeordneter Systemplanung, gemeinsame Haupt- und Nebentrassen mit Kennzeichnung der Medien und deren Flussrichtung.
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Der Aspekt der Wandlungsfähigkeit ist von besonderer Bedeutung für die Gestaltung der Ver- und Entsorgungssysteme, Technikzentralen, Haupttrassen, Leitungsnetze und Auslässe. Bild 11.19 verdeutlicht die Hierarchie dieser Systeme im Gebäudegefüge. Für den Fabrikplaner sind insbesondere Lage und Ausbildung von Zentralen und Haupttrassen von Bedeutung, sollten sie doch gegenwärtige wie künftige Produktionsbelange nicht behindern.
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11 Gebäudegestaltung
11.3.1 Ver- und Entsorgungssysteme Hinsichtlich der Ver- und Entsorgungssysteme sind in Weiterführung der Erschließungssystematik der Generalbebauung die Medienstrukturen der Gebäude auszulegen. Übergabepunkte, Qualität, Quantität und vor allem Erweiterungsmöglichkeiten bestimmen die Verteil- und Sammelstrukturen. Zu den Verund Entsorgungssystemen zählen im Wesentlichen die Stromversorgung, Heizung, Wasser- und Abwassernetze, Druckluftnetze, Kühlwasser- und Schmierstoffbereitstellung. [Pis07] und [Kri08] zeigen in ihren Zusammenstellungen grundsätzliche Bauarten für Ver- und Entsorgungssysteme auf. Grundsätzlich ist zu klären, ob eine mehr zentrale oder dezentrale Auslegung von Ver- und Entsorgung besser ist. Für Medien, die in größeren Mengen überall im Werk benötigt werden, bietet sich die zentrale
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Bild 11.20: Modulares Versorgungssystem für ein Motorenwerk © Reichardt 15.199_JR_B
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Bereitstellung an. Vorteilhaft sind dann niedrige Investitions- und laufende Kosten. Auch ist der Einsatz von Wärmerückgewinnungstechniken für Lüftungsanlagen oft wirtschaftlich. Nachteilig wirken sich bei zentralen Anlagen mögliche Betriebsstörungen bei Defekten aus. Anzahl und Volumen der Leitungen sind in der Regel höher als bei dezentralen Anlagen, dies bedingt eine entsprechende Bereitstellung horizontaler und vertikaler Leitungswege im Gebäude. Nachteilig wirken darüber hinaus die mit langen Leitungswegen verbundenen Effizienzverluste. Der Trend zu Kompaktanlagen mit immer höheren Wirkungsgraden führt zur Dezentralisierung von Systemen. Die größere Unabhängigkeit dezentraler Anlagen bei Planung, Betrieb und Veränderung bedeutet gerade für modulare Fabrikkonzepte einen erheblichen Zuwachs an Flexibilität und Wandlungsfähigkeit.
11.3 Medien
Bild 11.20 zeigt als Beispiel für eine dezentrale Lösung das technische Versorgungssystem eines Montagewerkes für Motoren mit vier „Teilfabriken“. Jeder dieser ca. 5.000 m² umfassenden Hallen ist ein dreigeschossiges Servicegebäude mit Technikflächen für Lüftungsanlagen und Trafos als zentrales Penthaus zugeordnet. Als Verteilstruktur für Lüftung, Druckluft und Elektroenergie wurde ein kammartiger verzweigter Längsfluss gewählt. Die modulare Struktur erlaubt jederzeitige störungsfreie Anpassungen der Versorgungssysteme an zukünftige Anforderungen der Teilfabriken.
11.3.2 Technikzentralen Zur Medienerzeugung (Druckluft, Dampf, Kühlluft usw.) sowie deren Bedienung, Überwachung und Filterung werden die wichtigsten maschinentechnischen Aggregate in Technikzentralen zusammengefasst. Deren Lage im Gebäude, der Raumbedarf, die Raumanforderungen und Erweiterungsmöglichkeiten sind in eine sinnvolle Gesamtkonzeption einzubeziehen. Die Lage der Technikzentralen im Gebäude wird bestimmt durch die Kombination der Aspekte zentrale oder dezentrale Anordnung sowie Einbau in das Gebäude oder freie Aufstellung. Lüftungs- und Klimaanlagen haben ihre Zentrale oft in einem Technikgeschoss in der Nähe der Wärmezentrale (Heizraum und Verteilung) und der Kälteanlage (Kältemaschine). Die gemeinsame Unterbringung von Lüftungszentrale und Heizungsanlage in einem Raum ist aus Gründen des Feuerschutzes nicht zulässig. Vorteilhaft ist die enge räumliche Anbindung der Zentralen an die vertikalen Installationsschächte der Gebäudekerne. Wichtig für die Bauplanung sind die frühzeitige Angabe der Lastannahmen für den Endausbau der Technikzentralen sowie Vorkehrungen für den nachträglichen Austausch von Technikaggregaten. Weiterhin sind Abschottungen gegen Lärm, Brand sowie Schwingungen zu bedenken. Lage und Auslegung von Sprinklerzentralen und Sprinklertanks erfordern eingehende Diskussion mit Sachversicherern und Behörden und müssen in genauer Abstimmung mit dem strategischen Werksausbau der Generalbebauung erfolgen.
Die Vorteile einer zentralen Anordnung liegen in meist geringeren Investitionen durch den insgesamt kleineren Flächenbedarf sowie in Synergien bei der Maschinenausrüstung. Dezentrale Anlagen begünstigen demgegenüber die Wandlungsfähigkeit, da beim Umbau einzelner Produktionsbereiche die notwendigen Mediensysteme feingliedriger angepasst und bei partiellem Ersatz von Trassen oder Netzen Störungen der laufenden Produktion minimiert werden. Die Lage im Untergeschoss hat den Vorteil der günstigen Abschirmung von Geräuschen und Erschütterungen; hohe Gerätegewichte sind dann ohne große Bedeutung für das Tragwerk. Nachteilig wirken sich gerade bei hohen Hallen lange Wege und Flächenverluste im Grundriss für die Führung der Haupttrassen aus. Die Auswechselung der Anlagen kann über einfache Förderzüge baulich gewährleistet werden. Die Lage von Zentralen im Erdgeschoss sollte grundsätzlich vermieden werden, da sie für jegliche Erweiterungsoptionen meist Fixpunkte im Grundriss darstellen. Heute lassen sich selbst Trafoanlagen ohne große Mühe aus der ebenen Fläche verbannen. Der wesentliche Vorteil einer Zentrale in einem Zwischengeschoss liegt in insgesamt kleineren Kanalquerschnitten, allerdings müssen erhöhte Schallschutzmaßnahmen durch Abschirmung und federnde Aufstellung aller schwingenden Anlagenteile gewährleistet sein. Als eine Möglichkeit mit guter Wandlungsfähigkeit bieten sich insbesondere bei nicht allzu hohen Gebäuden wetterfeste, frei aufgestellte Technikkomponenten an, die auf die Dachdecke oder seitlich an Fassaden gesetzt werden. Als bauliche Vorkehrung sollte dann eine entsprechende Rahmenkonstruktion weitere Technikmodule für optionale Werksum- oder -ausbauten aufnehmen können und zukünftig erwartete Lasten bereits jetzt berücksichtigen. Neue Entwicklungen gehen in Richtung „ship and plug in“. Dabei handelt es sich um mobile Baueinheiten aus komplett vorgerüsteten Technikcontainern, die am Produktionsort nur noch miteinander verbunden werden müssen, um sofort die technische Ver- und Entsorgung aufzunehmen. Eine weitere Variante ist die Unterbringung von Zentralen innerhalb der oft geschosshohen Tragwerkszo-
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11 Gebäudegestaltung
ne weit gespannter Hallen. Die Untergurte der Träger können zur Auflage von Traversen für Technikbühnen oder Wartungsstegen genutzt werden, zudem steht der gesamte Dachhimmel zum variablen Einbau von Technikanlagen zur Verfügung. Bei dieser Strategie empfiehlt sich eine frühzeitige enge Abstimmung von Tragwerksentwurf und Medienplanung am 3DComputermodell. Vorteile der Lage von Zentralen innerhalb des Tragwerks gegenüber aufgesetzten separaten Penthäusern liegen in langfristig variabler Anordnung, konstruktiv einfacherer Einfädelung von Haupttrassen und Leitungsnetzen sowie wettergeschützter Wartung. Demgegenüber müssen im Einzelfall besondere Kapselungen für Schallschutz oder Brandschutz beachtet werden. Bild 11.21 zeigt eine modulare Penthauslösung auf dem Geschossbau eines Motorenwerkes, weiterhin die containerartige „ship and plug“-Technikzentrale auf dem Hallendach eines Montagewerkes für Kühlsysteme sowie die im Tragwerk einer Reifenfabrik integrierte Technikgalerie. Die Trafoanlagen wurden in die beiden Penthäuser des Motoren- bzw. Montage-
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Bild 11.21: Störungsfreie Lage von Technikzentralen © Reichardt 15.200_JR_B
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werkes jeweils integriert und entsprechende Einzellasten von bis zu 40 kN sowie die Einbringwege über Förderzeuge bzw. Autokran und Absetzflächen durch Gitterroste berücksichtigt. Vor- und Nachteile dieser grundsätzlichen Lösung sind anhand der Kriterien Lasthöhe, Brandschutz, Schallschutz, Erweiterbarkeit und Zugänglichkeit angeführt. Der Raumbedarf für Technikzentralen ist frühzeitig zu bestimmen, da Gebäudeentwurf und Tragwerk hiervon maßgeblich beeinflusst werden. Anforderungen der Schalldämpfung müssten frühzeitig bedacht werden, da sie großen Einfluss auf den Raumbedarf haben. Die benötigte lichte Raumhöhe wird oft unterschätzt, gerade bei Untergeschossen führen zu spät erkannte Zwänge zu einer unübersichtlichen und wenig wandlungsfähigen Medienführung in den Zentralen. Im Zuge einer strategischen Werksplanung mit langfristiger Wandlungsfähigkeit sollten denkbare Stufenlösungen auch für einen zunehmenden Steuerungs- und Regelungskomfort vorausgedacht und im zukünftigen Raumbedarf berücksichtigt werden.
11.3 Medien
Für gute Erweiterungsmöglichkeiten sind entsprechende bauliche sowie technische Vorkehrungen zu treffen. Da der Lebenszyklus der Technikaggregate ca. 5 bis 15 Jahre beträgt, sollten die Maschinenkomponenten der Zentralen modular aufgebaut, austauschbar und erweiterungsfähig sein. Es empfiehlt sich eine im Rahmen der synergetischen Fabrikplanung erstellte 3D-Computermodellierung der Zentralen mit Dokumentation und Wartung der Komponenten über ein projektbegleitendes Facility-Management (s. auch Kap. 17).
11.3.3 Haupttrassen Von den Technikzentralen führen die vertikalen und horizontalen Sammelstränge der Haupttrassen zu den weiteren Verteilsystemen der Leitungswege. Vertikale Haupttrassen werden oft in den Schächten der Gebäudekerne geführt, horizontale Haupttrassen in oder unterhalb der Tragkonstruktion von Hallendächern oder Geschossdecken. Mit besonderem Bedacht muss die vorausschauende Positionierung der Haupttrassen bezüglich möglicher horizontaler oder vertikaler Erweiterungsoptionen gewählt werden. Oft blockieren nur mit großem Aufwand verlegbare Medienpakete sinnvolle Wachstumseinrichtungen eines Gebäudes und strangulieren förmlich seine weitere Entwicklung. Schächte und Kanäle der Haupttrassen sind so zu planen, dass sie den Anforderungen an Standsicherheit, Brandschutz, Feuchtigkeitsschutz, Wärmeschutz und Hygiene entsprechen. Darüber hinaus ist eine gute Zugänglichkeit für Wartung und Reinigung anzustreben. Kleine Schächte sollten von außen bedienbar, müssen jedoch nicht begehbar sein. Da in großen Schächten häufig zu wartende Ventile oder Regelungseinrichtungen vorhanden sind, sollten diese unbedingt begehbar sein. Bei Systemauswahl und Detailplanung des Tragwerks kommt der Führung von Haupttrassen besondere Bedeutung zu. Neuralgische Punkte sind bei Geschossbauten die Anschlüsse der horizontalen Kanalstrecken an die vertikalen Schächte. Statische Aussteifungsaufgaben der Kerne können durch ungeschickte Medienführung beeinträchtigt wer-
den, die Anschlussöffnungen müssen eine auch für Nachrüstung der Haupttrassen ausreichende Breite vorhalten. Horizontale Haupttrassen durchqueren oft die Zone der statischen Unterzüge von Tragkonstruktionen. Entscheidend für die freizügige Führung der Trassen, insbesondere ihre Kapazität für spätere Nachrüstungen, ist die Werkstoffwahl und Profilierung der Träger. Oft werden in der Planung nicht alle Kollisionen zwischen Tragwerk und Trassen erkannt, dies führt bei der späteren Realisierung leicht zum Verlust lichter Höhe durch unplanmäßige Führung von Trassen unterhalb des Tragwerkes. Eine Kollisionsprüfung von Tragwerk und Medien mit Hilfe der 3D-Modellierung vermeidet die Unterschreitung geforderter lichter Höhen, geometrisch unbefriedigende Knoten sowie hierdurch entstehende Ausbauprobleme.
11.3.4 Leitungsnetze Nach der Festlegung der Haupttrassen gilt es, ein sinnvolles Leitungsnetz zu den Auslässen aufzubauen. Die weitere Verästelung der Medien verhält sich in ihren vertikalen und horizontalen Gebäudewegen wie bereits für Haupttrassen ausgeführt. Als weiterer Aspekt kommt der geometrischen Festlegung der verschiedenen Netze gerade für die langfristige Wandlungsfähigkeit besondere Bedeutung zu. Der Modularität der Gebäudestruktur sollte eine alle Leitungsnetze koordinierende Systemplanung entsprechen. Die Dichte der flächen- und raumdeckenden Ver- und Entsorgung muss weitsichtig aufgebaut, Belange von Haustechnik und Prozess müssen zusammengeführt werden. Alle Netze sollten leicht zugänglich und ohne Störungen der Produktion veränderbar sein. Horizontale und vertikale Befestigungspunkte am Gebäude sollten nach übergeordneten Systemmaßen mit einheitlichen Montagesystemen erfolgen. Die Farbcodierung nach Werkskonzept mit Angabe der Flussrichtungen der Medien stellt eine wertvolle Hilfe zur jederzeitigen Identifikation der Leitungsnetze dar. Bild 11.22 zeigt die im Rahmen der Systemplanung entwickelte 3D-Kanalführung für Zu- und Abluft sowie Leuchten und Sprinklernetz im Besprechungs-
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11 Gebäudegestaltung
Bild 11.22: 3D-Modellierung der Medienführung eines Besprechungsraums (Beispiel) © Reichardt 15.201_JR_B
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raum eines Montagewerkes. Im vorliegenden Fall werden alle Leitungsnetze durch ein Systemraster von 1,25 m störungsfrei koordiniert, die elementierten Deckenspiegel mit akustisch wirksamen Lochplatten sind hierauf geometrisch passend abgestimmt.
11.3.5 Auslässe Bei vielen Arbeitsprozessen entstehen Staub, Gase oder Dämpfe. Die Absaugung dieser schädlichen oder störenden Stoffe geschieht am besten am Ort ihrer Entstehung mit Hilfe von Auslässen. Dies sind die Übergangsstellen der Leitungsnetze, durch die Medien in den Raum eintreten (Zuluftauslass) oder aus dem Raum abströmen (Abluftauslass). Sie müssen mit größter Sorgfalt bemessen und ausgeführt werden, um Störungen (Zugerscheinungen, Verschmutzungen am Arbeitsplatz) zu vermeiden.
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Medienauslässe sollten vom Grundsatz immer leicht räumlich veränderbar sein, um wechselnde Maschinenaufstellungen und den Einsatz neuer Betriebseinrichtungen mit neuen Anforderungen nicht zu behindern. Die Lage der Auslässe in Fläche und Raum wird sinnvollerweise durch eine 3D-Systemplanung bestimmt, dies vermeidet Kollisionen verschiedener Medien an einem Punkt. Im Sinne eines hohen Grades an Wandlungsfähigkeit sollten insbesondere die Lage von Leuchten, Datenauslässen und Luftführungen eingehend untersucht werden. Die Verteilung der Leuchten orientiert sich außer an den geforderten flächendeckenden Beleuchtungsstärken auch an einer räumlich robusten Anordnung für unterschiedliche Hallennutzungen. Die Datenauslässe in Halle und Geschossbau sollten eine möglichst freizügige Anordnung der Betriebsmittel sowie der Büros gestatten. Bild 11.23 zeigt ein Beispiel für eine wandlungsfähige Zuluftführung und Auslasssysteme aus Textilmateri-
11.4 Ausbau
al in einer Großbäckerei. Die schlauchartige Anlage verteilt die Luft mikrofein durch die Gewebeporen, verursacht praktisch keinen spürbaren Luftzug, ist leicht zu reinigen (Waschmaschine) und in ihrer Länge oder ihrer Lage sehr leicht veränderbar.
11.4 Ausbau Nachdem die grundlegenden Strukturen von Tragwerk, Hülle und Medien geklärt sind, geht es um den Ausbau der Räume. Hierfür stehen eine Vielzahl von Systemen und Materialien zur Verfügung. Die Ausbausysteme für Böden, Wände und Decken sollten auf die Belange der Benutzer abgestimmt sein, jedoch unter Vermeidung von veränderungshemmenden Zwangspunkten. Dem Anspruch eines hohen Grades an Wandlungsfähigkeit von Ausbauten käme die Vorstellung einer von Akt zu Akt leicht
veränderlichen Theaterbühne entgegen oder einer Messeständen vergleichbaren bewusst temporären Raumgestaltung. Dies bedeutet den weitestgehenden Verzicht auf Massivkonstruktionen für Ausbauten zu Gunsten von modularen, variablen, einfach umzurüstenden Ausbausystemen auch für Treppen und Kernbereiche. Auch Böden, Wände, Decken, Kerne und Treppen sollten folglich in ihren gestalterischen wie technischen Details als elementierte Bausätze entwickelt werden. In [Pot07] ist das Grundlagenwissen des baukonstruktiven Ausbaus zusammengestellt. Dabei können selbst hohe Brandschutzanforderungen ohne Einsatz der Massivbauweise durch eine reversible Leichtbaukonstruktion erfüllt werden. Als Haus im Haus ausgeführte Kabinenbauweisen tragen sie dieser Vorstellung Rechnung; bei entsprechender Detailausbildung sind sie in hohem Maße räumlich variabel und erlauben einen einfachen Umbau ohne Beeinträchtigung der laufenden Prozesse.
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Bild 11.23: Beispiel für ein wandlungsfähiges Zuluftsystem © Reichardt 15.202_JR_B
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11 Gebäudegestaltung
Bild 11.24 zeigt einen Überblick über die 5 Gestaltungsfelder und jeweils 4 Gestaltungselemente des Ausbaus. Nachfolgend sollen an diesen Elementen Strukturmerkmale für Wandlungsfähigkeit aufgezeigt werden.
11.4.1 Böden Bild 11.25 zeigt die für die Wandlungsfähigkeit von Böden wesentlichen Strukturelemente und deren Parameter im Überblick. Der Nutzer nimmt zunächst die Oberfläche wahr, während die bauphysikalischen Anforderungen aus Prozess- und Umweltanforderungen resultieren. Wesentlich für die Wandlungsfähigkeit sind u. a. die nachhaltige Robustheit der Konstruktion, die aufwandsarme Einbringung von Installationen und deren Änderungen sowie eine grundlegende Elementierung für spätere Veränderungen. Diese Aspekte werden nun weiter vertieft.
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Bild 11.24: Übersicht Strukturelemente Gebäudeausbau © Reichardt 15.203_JR_B
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Die Oberfläche wird primär durch die Belastung bestimmt. Baustoffe für Industrieböden sollten daher über hohe Beanspruchbarkeit bei gleichzeitiger langer Lebensdauer verfügen, eine den Anforderungen gemäße Ebenheit der Fläche aufweisen und einen geringen Unterhaltsaufwand erfordern. Außerdem sollten sie wirtschaftlich, schnell, einfach und rationell zu erstellen sein. Diese Anforderungen lassen sich mit monolithischen oder mehrschaligen Konstruktionen erfüllen. Oberflächen aus Beton haben sich seit Jahrzehnten als dauerhafter Fußbodenbelag bewährt. Sie verfügen über hohe Tragfähigkeit und lange Lebensdauer, sind weitgehend unempfindlich gegen Verschmutzungen und mechanische Einwirkungen sowie gegen Wasser und Frost. Böden aus Beton sind leicht sauber zu halten und zu reinigen, Kosten für die Instandhaltung fallen kaum an. Auch können ausgebaute Betonböden wieder verwendet werden, indem der aufbereitete Altbeton zu neuem Betonzuschlag gebrochen wird. Monolithische Bodenplatten
11.4 Ausbau
Bild 11.25: Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Böden © Reichardt 15.204_JR_B
aus Stahlfaserbeton ersetzen die normalerweise vor Ort einzubauende konstruktive Bewehrung durch Stahlfasern. Bei mehrlagigen Konstruktionen wird meist nachträglich eine Hartstoffverschleißschicht aufgebracht. Geforderte Belastbarkeit und Ebenheit des Gesamtaufbaus richten sich nach den Vorgaben der Betriebsmittel für Prozess und Logistik. Nachträgliche Veränderungen von Ebenheit und Belastbarkeit sind kaum möglich. Es empfiehlt sich in Abstimmung mit der Prozess-Sicht, gegenwärtige Minimalanforderungen weitsichtig zu überprüfen. Weitere Strukturmerkmale der Oberfläche sind ausreichende Rutschsicherheit nach DIN 5130 und einfache Reinigung. Hier sollten langfristig auch andere Nutzungen ermöglichende Beläge bevorzugt werden. Hallenböden sollten im Sinne einer hohen Wandlungsfähigkeit von Prozess und Logistik möglichst frei von Installationen sein, bei Geschossdecken empfiehlt sich oft die Integration von System für Elektroenergie, DV/Telefon, Lüftung sowie Kühlung
und Heizung. Es ist ratsam, derartige Installationen nicht direkt in die statische Deckenkonstruktion einzuarbeiten, sondern als Teil eines hiervon unabhängigen Belages auszubilden. Montagesysteme wie Hohlraumböden oder Doppelböden ermöglichen auf vielfache Weise nachrüstbare Medienführung und variable Medienauslässe. Bauphysikalische Anforderungen an Böden entstehen aus Projektvorgaben vor allem für Wärmeschutz, Schallschutz, Brandschutz, Ableitfähigkeit sowie Dichtigkeit. Der Wärmeschutz des Bauteils „Boden“ sowie ausreichende Fußwärme für Arbeitsbereiche sollten im Rahmen der 3D-Energiesimulation betrachtet und nachgewiesen werden. Höhere Oberflächentemperaturen des Hallenbodens durch bessere Dämmwerte erhöhen oft die Möglichkeiten der veränderten Anordnung von Arbeitsplätzen in der Halle und unterstützen hierdurch die Wandlungsfähigkeit. Die Dichtigkeit des Hallenbodens kann sowohl als Absperrung gegen von außen eindringende Ausgasungen als auch als Schutz gegen von innen
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11 Gebäudegestaltung
Bild 11.26: Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Wänden © Reichardt 15.205_JR_B
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und außen versickernde Stoffe erforderlich werden. Anstriche und Beläge auf Epoxydharz-Basis finden in diesen Fällen Anwendung. Bei nachträglichen Beschichtungen besteht das Problem der einwandfreien Haftung durch die zwischenzeitliche Verschmutzung des Untergrundes. Anforderungen aus Brandschutz, Schallschutz und Ableitfähigkeit beziehen sich zumeist auf Geschossdecken. Generell sollten, soweit möglich, nur nicht brennbare Materialien, Baustoffklasse A1, verwendet werden. Beläge auf PVC-Basis erscheinen auf den ersten Blick sehr wirtschaftlich. Berücksichtigt man aber die Freisetzung gesundheitsgefährdender Stoffe bei Brand und die hohen Entsorgungskosten für Sondermüll nach Umbauten, kann bei ganzheitlicher Betrachtung von ihrem Einsatz nur abgeraten werden. Bei entsprechender Detailausbildung sind Beeinträchtigungen durch unzureichenden Trittschallschutz vermeidbar. Da in Zukunft der Einsatz von Rechnersystemen wohl noch weiter zunimmt, sollten im Sinne der Wandlungsfähigkeit
entsprechende Werte des Bodens für die Ableitung elektrischer Spannungen flächendeckend vorgesehen werden. Die technische Installation von Bodensystemen sollte immer leicht nachrüstbar und im Prinzip auch generell leicht austauschbar ausgeführt werden. Der Grad der Elementierung bestimmt maßgeblich den Aufwand des nachträglichen Umbaus von Böden. Voraussetzung für Erweiterungen, Rückbau oder Austausch von Systemen ist eine durchgängige maßliche Systematik der Bauteile. Ist ein Industrieboden gefordert, der großen Gewichten standhalten und sich darüber hinaus durch Langlebigkeit und Wiederverwertbarkeit auszeichnen soll, können die Flächen auch mit der sogenannten Stelcon-Großflächenplatte sowie mit dem Stelcon-Sechseck-Element erstellt werden. Diese Großflächenplatten werden in der Betonqualität B 55 und im Standardmaß 200 x 400 cm hergestellt. Sie sind 14 bis16 cm dick und besitzen eine spezielle Einfassung mit Winkeleisen, die die Kanten vor Beschädigungen schützt. Eingesetzt
11.4 Ausbau
wird diese Großflächenplatte z.B. für Fertigböden in Werks- oder Lagerhallen, aber auch als Befestigung von Hafen- und Gleisanlagen, auf Umschlagplätzen in der Chemieindustrie, auf Zufahrtswegen sowie bei Tankstellen. Bei der Detailausbildung notwendiger Konstruktionsfugen sollten Störstellen in Form von Induktionsschleifen oder Transponderpunkten aus Prozess und Logistik beachtet werden.
11.4.2 Wände Bild 11.26 zeigt die wesentlichen Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Wänden im Überblick, die den Merkmalen der Böden entsprechen. Während die Oberfläche unterschiedliche Funktionen zu erfüllen hat, bestimmen bauphysikalische Anforderungen die technische Ausprägung. Immer wichtiger werden einfach einzubringende und veränderbare Installationen. Und schließlich gilt es auch hier, eine durchgehende Systematik für die Elementierung zu finden, die mit dem Gebäuderaster harmoniert. Gerade moderne Arbeitsformen mit dem dynamischen Wechsel von z.B. Labor-, Büro- und Werkstattarbeit erfordern Raumgrenzen, die an die jeweiligen Größen der Arbeitsgruppen und ihre Arbeitsinhalte leicht anpassbar sind. In Abkehr von der Massivbauweise ermöglicht hier die Systembauweise eine Freizügigkeit in der Wahl der Wandoberfläche sowie die beliebige Positionierung von geschlossenen Flächen, Verglasungen und Türen. Der Aspekt der die einzelnen Bereiche verbindenden Transparenz ist für die personale Kommunikation in einem Werk besonders wichtig, denn der Sichtkontakt fördert das Teamverständnis. Grundsätzlich stehen zwei Systeme für Leichtbauwände zur Verfügung: sogenannte Trockenbauwände aus Gipsplatten und Schalenwände aus Holz-, Kunststoff- oder Metallplatten. Trockenwände aus Gipsplatten werden auf Aluminium- oder Holzständerwerken aufgebracht, verspachtelt und gestrichen oder mit Tapete belegt. Schalenwände bestehen im Unterschied hierzu aus oberflächenfertig angelieferten und über Systemfugen verbundenen Elementen. Verglasungen und Türen sind
nicht Störungen der Wandfläche, sondern gleichberechtigte Elemente. Solche Bausätze können in wenigen Tagen abgebaut und in neuer Kombination an einem anderen Ort des Werkes wieder aufgebaut werden. Bei entsprechender Detailausbildung sind Installationen für Elektroversorgung, EDV/Telefon sowie Heizung und Kühlung z.B. in Sockelbereiche oder Fensterbankkanäle integrierbar. Bei einigen Systemen sind Büromöbel wie z.B. Hängeschränke oder Bücherborde in den Systemfugen der Schalen arretierbar. Durch die zusätzliche Anordnung von Dämmelementen im Zwischenraum von Gipsplatten oder Schalenwänden können besondere bauphysikalische Anforderungen aus Schallschutz, Wärmeschutz oder Brandschutz erfüllt werden. Trockenwände mit entsprechenden Plattenfüllungen genügen Anforderungen bis zu drei Stunden Feuerwiderstand und entsprechen hiermit Komplextrennwänden der Feuerschutzklasse F 180. Mit elementierten Schalenwänden sind Feuerwiderstände bis zu zwei Stunden entsprechend F 120 erzielbar. Schalenwände sind durch die Präzision der industriellen Fertigung auch für die Raumabschlüsse von Reinräumen geeignet. Die erforderliche Fugendichtheit kann auch nachträglich über geeignete Versiegelungen erzielt werden. Der besondere Vorteil von Schalenwänden gegenüber Trockenbaukonstruktionen liegt in der schmutzvermeidenden Wiederverwendbarkeit der Bauteile. Sie unterstützen hiermit die Wandlungsfähigkeit gerade bei empfindlichen Einrichtungen aus Prozess und Logistik. Grundlage jeglicher Elementierung ist auch hier eine durchgängige maßliche Systematik für alle geschlossenen Flächen, Verglasungen und Türen. Vorzugsraster für die Grundrissanordnung sind 1,00 m, 1,20 m, 1,25 m und 1,50 m.
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11.4.3 Decken Decken unterliegen hinsichtlich der Wandlungsfähigkeit den gleichen Merkmalen wie Böden und Wände. Bild 11.27 zeigt die entsprechenden Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Decken im Überblick.
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11 Gebäudegestaltung
Bild 11.27: Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Decken © Reichardt 15.206_JR_B
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Die wechselnden Raumanforderungen moderner Arbeitsformen erfordern in Entsprechung der Wandsysteme flexible Deckensysteme. Kabinenbauweisen bieten den Vorteil aufeinander abgestimmter Wandund Deckenelemente. Die Präzision der industriellen Vorfertigung bietet hier beste Gewähr für den Nachweis bauphysikalischer Anforderungen sowie durchdachter Elementierung der Installation. Ein wesentliches Merkmal der Wandlungsfähigkeit ist die lichte Raumhöhe. Räume über 50 m2 sollten 2,75 m, Räume über 100 m2 eine Raumhöhe von 3,00 m nicht unterschreiten. Bei flexibler Grundrissgestaltung muss die Raumhöhe kleinerer Räume auf zukünftige Entwicklungen überprüft werden. Als Bauprinzip werden bei Systemdecken Montageplatten unter einem Traggerüst aus Metall befestigt. Der entstehende Hohlraum kann zur Medienführung genutzt werden. Für die Montageplatten steht eine Vielzahl von Materialien zur Verfügung. Die Oberflächen sollten von hoher Beständigkeit sein und reinigungsfreundlich ausgeführt werden. Als Systemrasterung sind Maße von 0,50 m, 0,60 m, 0,625 m
oder 1,00 m gebräuchlich, Revisionsöffnungen für die darüber liegende Installation können über speziell aufnehmbare Platten oder eingeformte Öffnungen ausgebildet werden. Ein weiteres wesentliches Merkmal von Wandlungsfähigkeit ist der lichte Installationsraum der Deckenkonstruktion. Nachrüstungen für z. B. erhöhte Lüftungsanforderungen bedeuten meist größere Querschnitte der Lüftungskanäle. Diese können nur bei ausreichender Dimensionierung des zur Verfügung stehenden Hohlraums untergebracht werden. Die Installation und Medienauslässe für Elektroversorgung, EDV/Telefon, Lüftung sowie Kühlung und Heizung sollten modular ausgeführt und somit ohne gegenseitige Beeinträchtigung veränderbar sein. Über entsprechende Detailausbildung der Montageplatten sowie Zwischenlagen im Deckenhohlraum kann bauphysikalischen Anforderungen zu Schallschutz, Brandschutz, Wärmeschutz und Reinraumtechnik entsprochen werden. Gelochte Platten verbessern durch Erhöhung der Schalldiffusion die Raumakustik. Dämmlagen aus nicht brennbaren Materialien wie Mineralwolle oder spezielle
11.4 Ausbau
Feuerschutzplatten erhöhen die Feuerwiderstandsdauer von Deckenkonstruktionen oder einzelnen Medientrassen. Die erforderliche Fugendichtheit für Reinräume kann wie bei den Wandsystemen über entsprechende Versiegelungen auch nachträglich erzielt werden. Bei der Elementierung sollte auf eine durchgängige maßliche Systematik mit Minimierung von Passfeldern geachtet werden. Ein ungestörtes Verlegeraster vermeidet für Medieneinbauten gestörte Randbereiche mit möglichem Austausch von Elementen über die ganze Fläche. Clips- und Steckverbindungen oberflächenfertiger Systeme für Deckenplatten und Installationen minimieren den zeitlichen Aufwand sowie die Verschmutzungsgefahr bei Umbauten.
11.4.4 Kerne Kerne sind mit zusätzlichen Funktionen versehene Gebäudebereiche konzentrierter statischer Kraftableitung. Aus wirtschaftlichen Gründen empfiehlt es
sich oft, die Vertikallasten und Horizontalkräfte eines Hallentragwerks über Stahlbetonwände abzutragen und die hierbei entstehenden Räume für Aufzüge, Fluchttreppen oder Installationsschächte zu nutzen. Die generelle Positionierung und räumliche Anordnung derartiger Kernbereiche sollte eingehend mit den Belangen der Fabrikplanung diskutiert werden, da einmal festgelegte Kerne praktisch nicht mehr veränderbar sind. Aus dem Konzept der Tragwerksplanung ergeben sich Vorschläge für die Lage der Kerne im Gebäude sowie die erforderliche Kernbreite und Kerntiefe. Kerne sollten weitsichtig derart positioniert werden, dass mögliche Optionen der Veränderung von Prozess und Logistik auf keinen Fall beeinträchtigt werden. Die lichten Raummaße der Installationsschächte sind auf zukünftig ausreichende Dimensionen zu überprüfen. Veränderungen der Einrichtung aus Prozess und Logistik erfordern oft die Bereitstellung zusätzlicher Medien. Entsprechende Reserven sind in den Schächten vorzusehen.
11
Bild 11.28: Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Gebäudekernen © Reichardt 15.207_JR_B
347
11 Gebäudegestaltung
Ein neuralgischer Punkt vieler Installationsschächte ist der Bereich der horizontalen Ausfädelung von Trassen und Leitungen. Auch hier müssen Reserven für zusätzliche Medientrassen eingeplant werden. Schließlich sollten die Zugänge zu den brandschutztechnisch sensiblen Schächten die Wartung, Nachrüstung und den Austausch der Installationen auf einfache Art ermöglichen. Ein wesentliches Merkmal für Wandlungsfähigkeit ist die Detailausbildung der Aufzugsräume für Personen- und Lastenaufzüge. Gerade im Hinblick auf den alle 15 bis 25 Jahre notwendigen Austausch der Fahrstuhltechnik sollten der lichte Aufzugsraum sowie die Türbreite und Türhöhe weitsichtig auch für größere Transportvolumen ausgelegt werden. Die im Sinne der Wandlungsfähigkeit gebotene Elementierung und damit Veränderbarkeit von Kernen ist aus vorher genannten Gründen gerade bei Konstruktionen aus Ortbeton stark eingeschränkt. Kerne können jedoch auch in Betonfertigteilkonstruktionen
11
Bild 11.29: Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Treppen © Reichardt 15.208_JR_B
348
sowie in Stahlfachwerkbauweise mit späterer Ausfachung der Wandscheiben erstellt werden. Durch die Montagetechnik der Elemente sind hierdurch Veränderungen auch von Kernbreite und Kerntiefe grundsätzlich möglich. Bild 11.28 zeigt abschließend die angesprochenen Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Kernen im Überblick.
11.4.5 Treppen Liegen Treppen innerhalb von Kernen, sind sie unter Nutzung der feuerbeständigen Raumteile in der Regel als Fluchttreppen ausgebildet. Fluchttreppen können aber auch an anderer Stelle im Gebäude angeordnet sein. Der für Fluchttreppen nach Bauordnung erforderte Raumabschluss mit einem Feuerwiderstand von 1,5 Stunden (F 90) kann auch mit Montageelementen in Trockenbau bis hin zu vollflächigen Verglasungen realisiert werden. Wie bei den Kernen gilt es, die Lage der Fluchttreppen im Gebäude weitsichtig
11.5 Beispiele für wandlungsfähige Gebäude
Bild 11.30: Baukastenprinzip für Gebäude (Beispiele) © Reichardt 15.209_JR_B
festzulegen. Nachträgliche Veränderungen bedingen außer der Umkonstruktion auch eine Überprüfung der Fluchtwege und eine erneute Brandschutzgenehmigung. Die geforderten Treppenbreiten und Türbreiten richten sich nach der Anzahl der im ungünstigsten Fall flüchtenden Personen, daher sollten z.B. optionale Büroerweiterungsflächen bei der Auslegung bereits berücksichtigt werden. Wartungstreppen unterliegen nicht den Anforderungen an Fluchttreppen, deren Lage im Gebäude richtet sich vielmehr nach funktionalen Erfordernissen. Die notwendige Treppenbreite, Treppensteigung sowie Detailausbildungen müssen nach den einschlägigen Arbeitsstättenrichtlinien und Unfallverhütungsvorschriften angelegt werden. In Ergänzung zu den Fluchttreppen nicht notwendige Treppen, wie z.B. Foyertreppen oder Galerietreppen, können als offene Treppen ohne abgeschlossenen Treppenraum ausgeführt werden. Treppenbreite und Treppensteigung sollten sich an einer auch zukünftig
zu erwartenden Benutzerzahl orientieren. Grundsätzlich sollte im Hinblick auf Wandlungsfähigkeit elementierten Treppenkonstruktionen der Vorzug gegenüber der ortsfesten Betonbauweise gegeben werden. Die Ausführung der Treppenläufe, Podeste und Stufen kann auch nachträglich in einer Vielzahl von Materialien verändert werden. Bild 11.29 zeigt die angesprochenen Strukturmerkmale der Wandlungsfähigkeit von Treppen im Überblick.
11
11.5 Beispiele für wandlungs fähige Gebäude Bild 11.30 zeigt zwei realisierte Ausführungen von Fabrikbauten, bei denen die Wandlungsfähigkeit im besonderen Maße bei der Gestaltung von Tragwerk, Hülle, Ausbau und Medien im Vordergrund stand.
349
11 Gebäudegestaltung
Die gesamte Gebäudekonzeption ist in beiden Fällen im „Baukastenprinzip“ als modulare Konstruktion mit getrennten Bauelementen für Tragwerk, Hülle, Medien und Ausbau ausgeführt. Im Fallbeispiel der Großbäckerei ergaben sich aufgrund der Projektanforderungen ein Tragwerk als Holzskelettkonstruktion, für die hiervon konsequent entkoppelte Gebäudehülle eine Metall-Glasfassade und für die Lüftungstechnik modulare Umluftgeräte innerhalb der Tragwerkzone. Durch die strikte Trennung der Systeme konnte eine störungsfreie Erweiterung der Backhalle um 1 Rasterfeld (ca. 6 x 22 m) gleichsam „über das Wochenende“ realisiert werden. Auch bei der pharmazeutischen Produktion wurde auf eine weitgehend störungsfreie modulare Erweiterbarkeit der Gebäude sowie innere Wandlungs fähigkeit geachtet.
11.6 Anmutung und Ästhetik
11
350
Architektur spiegelt immer die Kräfte wider, die bei ihrer Entstehung wirksam waren. Leider trifft dies auf die überwiegende Zahl hässlicher Industrie- und Gewerbebauten zu. Es hat den Anschein, als sähen Unternehmen in ihren Gebäuden oft nur lästige Notwendigkeiten, auf die man am liebsten ganz verzichten würde. Architektur ist der elementarste und der dauerhafteste Ausdruck gesellschaftlicher Kultur. Wenn Industrie und Gewerbe sich nicht dem Vorwurf der kulturellen Barbarei aussetzen wollen, müssen sie ihre Einstellung und ihren Umgang mit der Architektur überdenken. Nur wenn die Gestaltungselemente aus Standort, Bauform, Tragwerk, Hülle, Medien und Ausbau auf der Grundlage integrierender Zielprojektionen mit Geschick und Kreativität zusammengeführt werden, entstehen ästhetische Gestaltwerte, die wir mit ‚Anmutung‘ bezeichnen. Beispiele für anmutige Fabrikbauten finden sich in [Uff09]. Für die jeweilige Aufgabenstellung ist daher nach [Mes05] und [Kni06] eine kreative gestalterische Gesamtstrategie für Form, Material und Farbe zu
erarbeiten. Diese Strategie sollte bis in die Ausbildung von Details und Fügungen durchgängig erkennbar sein und für „Außen“ wie „Innen“ gleichermaßen gelten. Dabei sind gestalterische Details wie Entwurf der Fassadenproportionen oder Farbeinsatz sekundäre Gestaltmerkmale. Wesentlicher für die Gesamtwirkung des Gebauten ist zunächst die Tektonik der Volumenentwicklung und Baukörperverteilung. Oft wird bei gestalterischen Missständen mit dem Alibi der gebotenen „Wirtschaftlichkeit“ argumentiert und ein bewusster Verzicht auf Anmutung einem hohen Kostendruck zugeschrieben. Vielfältige Gegenbeweise liefern Beispiele hervorragender Industriearchitektur. Gerade die als Abbild des Produktionsprozesses sehr funktionalen Fabrikbauten des in seiner Zeit als Knickerpfennig verschrienen Autokönigs Henry Ford belegen eindrucksvoll, wie höchste Wirtschaftlichkeit durchaus mit vorbildlicher Anmutung vereinbar ist [Hil74]. Der Ausspruch Fords „good design pays“ zeigt ein hohes Bewusstsein für auch ästhetisch vorbildlich gestaltete Arbeitsstätten: Schon in den 1920er und 1930er Jahren wurden die Reduzierung von Krankenstand und Kündigungen mit langfristiger Bindung von Mitarbeitern an das Unternehmen in die Gesamtwirtschaftlichkeit einbezogen. Die Zielvorstellungen einer anmutigen Industriearchitektur lassen sich mittels der grundsätzlichen Parameter strukturelle Ordnung, Einfachheit, Balance von Einheit und Vielfalt sowie Unverwechselbarkeit zusammenfassen. Als weiterer Gestaltungswert sollte nach [Böh06] die emotionale oder „atmosphärische“ Qualität eines Bauwerkes in die Betrachtung einbezogen werden.
11.6.1 Strukturelle Ordnung Im Gegensatz zur willkürlichen Beliebigkeit des chaotischen Neben-, Über-, Durcheinander in Städten und Gebäuden schafft das Prinzip der strukturellen Ordnung wohltuende Harmonie. Sie wird erreicht durch eine durchgängige Beziehung der Teile und des Ganzen, einer an lebendige Organismen erinnernde innere Schlüssigkeit der Elemente
11.6 Anmutung und Ästhetik
in ihrem Verhältnis zur Gesamtheit. Dabei spielt die unmittelbare Erfassung klar artikulierter Bauund Architekturformen, das sofortige Verständnis und die Ablesbarkeit der Aufgaben der Elemente wie Tragwerk, Hülle und Ausbau im Gesamtgefüge eine entscheidende Rolle. Die strukturelle Ordnung formt mit Hilfe einer ihr eigenen gestalterischen Grammatik Grundriss, Schnitt und Aufriss wie selbstverständlich aus. Notwendige Erklärungen zum Verständnis des Gebauten erübrigen sich, da die Beziehung der Teile so intuitiv erfassbar wird. Ein Beispiel für strukturell geordnete Bauformen ist eine modulare Werksstruktur auf Grundlage eines Hallensegmentes.
11.6.2 Einfachheit Bei Industriebauten bedarf es keiner besonderen Kunst der Verfüllung, Verkleidung oder Kaschierung. Diese Art zu gestalten, nämlich eine Bauaufgabe „ohne Kulissenzauber“ zu lösen, entspricht auf wohltuende Weise dem rationalen Bauprinzip mittelalterlicher Städte. Eine hohe ästhetische Qualität bedingt also keinesfalls hohe Kosten. Das Prinzip der Einfachheit, der Reduktion auf das Wesentliche, darf nicht verwechselt werden mit der Banalität, Einfallslosigkeit und Primitivität des gemeinen Wirtschaftsbaus. Die gebotene Notwendigkeit der Wirtschaftlichkeit verträgt sich hervorragend mit Knappheit, fehlender Verkleidung und Vermeidung von Zierrat. Die landauf, landab aus Baumärkten schnell zusammengeschusterten „Auftritte“ vieler Unternehmen sprechen leider eine andere Sprache, sie verwechseln einfach mit einfältig. Gerade die intelligente Reduktion des Einsatzes von Formen, Materialien und Farben erlaubt eindringliche ästhetische Wirkungen. Eine von überflüssigen Kaschierungen befreite substantielle Qualität wirkt auf den Betrachter unmittelbar und nachhaltiger als der Versuch, durch Effekthascherei eine Mogelpackung vorzuführen.
11.6.3 Balance von Einheit und Vielfalt Die Ausgewogenheit der visuellen Informationen im Spannungsfeld zwischen Monotonie und Chaos
bedingt unsere subjektive ästhetische Behaglichkeit. Dabei bedürfen sich Einheit und Vielfalt unabdingbar gegenseitig, sind gleichsam notwendige Pole, zwischen denen für jedes Projekt die Balance neu justiert werden muss. Das Übergewicht einer sofort in Gänze erfassbaren Gleichartigkeit und Monotonie führt unmittelbar zur Langeweile, aufgeregte Mannigfaltigkeit endet in chaotisch empfundenem Durcheinander. Die aufgeregten Schrägheiten kurzlebiger Tagesmoden sind rasch vergessen und wirken im Rückblick weniger Jahre meistens peinlich. Der Königsweg liegt in der Formulierung eines städtebaulich und architektonisch nachhaltig gültigen gestalterischen Rahmens. Langfristig festgelegte Bauhöhen oder ein Kanon des Materialeinsatzes mit Optionen für in diesem Rahmen stattfindende gestalterische Freiräume eröffnen auch zukünftig individuelle Lösungen.
11.6.4 Unverwechselbarkeit Unverwechselbarkeit steht für die bewusste Erinnerbarkeit der Gestalt eines Ortes als Gegensatz zur nicht erinnerbaren Bedeutungslosigkeit. Es hat oft den Anschein, als sei die Anonymität der Bedeutungslosigkeit bewusste Zielvorgabe vieler Industrieprojekte, wie sonst könnte man den Verzicht auf erinnerbare Gestaltwerte in der Masse erklären? In Reaktion hierauf versuchen einige Unternehmen mit kurzweiligen Designgags auf sich aufmerksam zu machen – an Überraschungseffekten orientierte formale Willkür wird höchst selten den Charakter eines Gebäudes nachhaltig definieren. Nur aus der schöpferischen Zusammenführung von spezifischem Nutzungsauftrag, besonderer örtlicher Situation und bewusster Auswahl der Komponenten von Bauform und Gebäude entsteht unverwechselbare gestalterische Qualität. Derartige MehrwertArchitektur hat bei viel geringerem Kapitaleinsatz einen weitaus höheren Werbeeffekt als aufwendige Werbekampagnen in Druck- und Filmmedien. Sie ist die Verkörperung der „Mission“ eines Projektes, geschaffen durch die kreative Gesamtleistung des Planungsteams.
11
351
11 Gebäudegestaltung
11.6.5 Emotionale Qualität, Atmosphäre
11
Anmutige Bauwerke berühren in uns eine innere Saite, es stellt sich eine positiv besetzte Beziehung des Betrachters zum Gebauten ein. Diese emotionale Qualität bewirkt in Anlehnung an [Böh06] die tiefere Wahrnehmung von Raum, Material, Farbe und Licht weit über organisatorische und funktionelle Bezüge hinaus. Bewusst gestaltete Art und Form der Raumgebung, Orientierung, Blickbezüge usw. bewirken ein sofortiges Verständnis für die architektonische Struktur und erleichtern ihre Benutzbarkeit. Die Art und Weise von Materialverwendung und Fügung vermittelt den Eindruck hoher industrieller Präzision oder handwerklich künstlerischer Spontanität. Bauliche Parallelen zur Qualität des gefertigten industriellen Produkts werden so direkt hergestellt oder sind zumindest interpretierbar. In Entsprechung zum Produktdesign sollte einer durch Gebäude angeregten emotionalen Qualität besondere Beachtung in der Zielfindung eines Projektes zukommen. Beispiele und Anregungen hierfür können in den Workshops zur Zielprojektion vermittelt und modernisiert werden. Kurz gefasst sollte das Äußere eines Gebäudes den Anspruch des Unternehmens und das Innere des Gebäudes den Anspruch des Produktes widerspiegeln, und damit nach [Rei05] Ästhetik und Effizienz im Einklang stehen.
[Böh06]
[Dan96]
[Eng07]
[Gri97] [Hat06]
[Hau07]
[Her04]
[Hil74]
[Kni06]
[Kra07]
11.7 Literatur [Ada04]
[Ack88]
[Ack93]
352
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[Kri08]
[Lac84]
[Mes05]
öhme, G.: Architektur und AtmoB sphäre. 1. Aufl. Verl. Fink (Wilhelm), Paderborn 2006 Daniels, K.: Haustechnik, ein Leitfaden für Architekten und Ingenieure. Verl. Oldenbourg, München 1996 Engel, H.: Tragsysteme – Structure Systems. 3. Aufl. Verl. Hatje Cantz, Ostfildern 2007 Grimm, F.: Hallen aus Stahl. Stahlinformationszentrum, Düsseldorf 1997 Hatz, R.: Auf Sparflamme. Energetische Optimierung von Industriebauten. In: db 8/2006, S. 71–75 Hausladen, G., de Saldanha, M., Liedl, P.: ClimaSkin-Konzepte für Gebäudehüllen, die mit weniger Energie mehr leisten. 1. Aufl. Verl. Callwey, München 2007 Herzog, T., Krippner, R., Lang, W.: Fassaden Atlas. 1. Aufl. Verl. Birkhäuser, Basel 2004 Hildebrand, G.: Designing for Industry. The Architecture of Albert Kahn. The Massachusetts Institute of Technology, 1974 Knittel-Ammerschuber, S.: Erfolgsfaktor Architektur – Strategisches Bauen für Unternehmen. 1. Aufl. Verl. Birkhäuser, Basel 2006 Krauss, F., Führer, W., Jürges, T.: Tabellen zur Tragwerklehre. 10. Aufl. Verl. Rudolf Müller, Köln 2007 K rimmling, J., Preuß, A., Deutschmann, U.: Atlas Gebäudetechnik – Grundlagen, Konstruktionen, Details. 1. Aufl. Verl. Rudolf Müller, Köln 2008 Lachenmann, G.: Industrialisiertes Bauen. In: Ackermann, K.: Industriebau, Ausstellungskatalog, S. 118–141 Messedat, J.: Corporate Architecture – Entwicklung, Konzepte, Strategien. 1. Aufl. Verl. Av edition, Ludwigsburg 2005
11.7 Literatur
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[Pol03]
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[Rei08]
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11
353
Kapitel 12 Generalbebauung
12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4
12
356
Anforderungsprogramm Flächenbedarf und Raumspiegel Prozess- und Logistikelemente Ver- und Entsorgung Besondere Anforderungen
359 359 362 364 365
12.3.1 Einbruch, Diebstahl 12.3.2 Brandschutz, Explosionsschutz
12.2 Bauformen 12.2.1 Schnittprofil 12.2.2 Grundrissfigur 12.2.3 Verknüpfungsprinzip
365 366 368 370
12.4 Generalbebauungsplan (Masterplan) 12.4.1 Ablauf 12.4.2 Zonierung und Ordnungsraster 12.4.3 Erschließungs-, Ver- und Entsorgungssystem 12.4.4 Bauten, Freiflächen
12.3 Objektschutz
372
12.5 Literatur
372 372
372 372 374 375 376 378
Bild 12.1: Übersicht Gestaltungsfelder und -elemente der Generalbebauung
359
Bild 12.2: Primäre und sekundäre Einflussfaktoren für den Flächenbedarf (nach Aggteleky)
360
Bild 12.3: Raumspiegel einer Fabrik (Beispiel)
361
Bild 12.4: Beispiel einer 3D-ID-Card (Putzroboter)
362
Bild 12.5: Merkmale der Wandlungsfähigkeit für Betriebseinrichtungen
363
Bild 12.6: Beispiel einer 3D-ID-Card (Entfettungsmaschine)
365
Bild 12.7: Energieoptimierung eines Gebäudes (Beispiel Großbäckerei)
366
Bild 12.8: Bauformen: Typologie von Schnittprofilen
367
Bild 12.9: Merkmale verschiedener Hallen-Schnittprofile (nach Dangelmaier)
368
Bild 12.10: Typologie von Grundrissfiguren
369
Bild 12.11: Typologie der Verknüpfungsprinzipien
370
Bild 12.12: Wandlungsfähigkeitsmerkmale einer Kombination aus Geschoss- und Hallenbau
371
Bild 12.13: Faktoren der Generalbebauung (nach Dolezalek, Warnecke)
373
12
Bild 12.14: Ablaufschema zur Erstellung eines Generalbebauungsplans (nach Aggteleky) 374 Bild 12.15: Zonierung und Ordnungsraster einer Generalbebauung (Beispiel)
375
Bild 12.16: Anordnung von Erschließungs-, Ver- und Entsorgungssystemen
376
Bild 12.17: Flächengliederung Generalbebauung (Beispiel)
377
Bild 12.18: Variantendiskussion Werksverlagerung (Beispiel)
378
357
Mit der Generalbebauung wird die umfassende gegen wärtige wie zukünftige Leistungsfähigkeit der städte baulichen Gesamtkonzeption einer Fabrik festgelegt. Die Ausprägungen des Anforderungsprogramms be stimmen die Wahl der Bauformen und die Kriterien des Objektschutzes. Der Generalbebauungsplan fasst Leitlinien für das Arrangement der Baukörper und die Zonierung der Verkehrs- und Freiflächen in möglichen Baustufen zusammen. Im Sinne eines möglichst hohen Grades der Wandlungsfähigkeit kommt der Auswahl und Verknüpfung der Bauformen besondere Bedeu tung zu. Bild 12.1 zeigt die sich daraus ergebenden Gestaltungsfelder und -ebenen der Generalbebauung, die im Folgenden detailliert beschrieben werden.
12.1 Anforderungsprogramm Ein im Planungsteam abgestimmtes Pflichtenheft de finiert den gegenwärtigen wie zukünftigen Flächen bedarf, die Modularität der Bauformen in Flächen-
und Höhenelementen, die Prinzipien der Ver- und Entsorgung sowie darüber hinausgehende besondere Anforderungen. Das Anforderungsprogramm sollte über die gesamte Planungszeit fortgeschrieben und laufend präzisiert werden. Dabei werden sich erste Annahmen bestätigen oder müssen Korrekturen er fahren.
12.1.1 Flächenbedarf und Raumspiegel Grundlage von Layoutplanung und Raumplanung ist die möglichst frühzeitige Erfassung aller wesentli chen quantitativen und qualitativen Raumanforde rungen. Die Quantifizierung der gegenwärtigen und zukünftig benötigten Nutzflächen der verschiedenen Bereiche lässt sich am besten auf übersichtliche Art in Tabellenform zu sogenannten Raumspiegeln zusammenfassen (s. Anhang B Raumspiegel). Forde rungen an die quantitative räumliche oder qualitati ve Ausbildung der Nutzungsbereiche mit Angaben zu Stützenabstand, bevorzugter Raumproportion,
12
Bild 12.1: Übersicht Gestaltungsfelder und -elemente der Generalbebauung © Reichardt 15.210_JR_B
359
12 Generalbebauung
Bild 12.2: Primäre und sekundäre Einflussfaktoren für den Flächenbedarf (nach Aggteleky) © Reichardt 15.211_JR_B
12
360
maximaler Bodenbelastung oder lichter Hallenhöhe können in die Tabellen eingearbeitet werden. Durch entsprechende Kennzeichnung sollten gemeinsam im Planungsteam getroffene Festlegungen von ersten Annahmen differenziert werden; Korrekturen oder Präzisierungen erfolgen dann durch die Fortschrei bungen des Raumspiegels während der Planung. Zur Ermittlung des Flächenbedarfs können abstrakte oder projektbezogene Methoden herangezogen wer den. Abstrakte Ermittlungen fußen auf allgemeinen Erfahrungen wie Richtwerten oder Kennziffern sowie synthetischer Herangehensweise als additive Erzeu gung aller Teilflächen. Projektbezogene Methoden leiten die Flächenermittlung aus einem vorhandenen Ist-Zustand ab. Drei Faktoren bestimmen den Flächenbedarf einer Produktion. Dies sind die Betriebsmittel, das Roh material, die angearbeiteten Werkstücke und die Fertigprodukte sowie die Bedienflächen und Mani pulationsräume für den Arbeitsprozess mit notwen
digen vor- und nachgeschalteten Hilfsfunktionen. Frühzeitig sollte auch der jeweils anzustrebende Raumzuschnitt diskutiert und als Merkmal in die Raumspiegel übernommen werden. Bild 12.2 zeigt eine Übersicht wichtiger primärer und sekundärer Einflussfaktoren des Flächenbedarfs einer Produk tion. Während sich die primären Einflussgrößen unmittelbar aus der Geometrie und den Abmessun gen der drei Faktoren bestimmen, ergeben sich die sekundären Einflüsse aus dem Betrieb der Produk tion unter Beachtung logistischer, ergonomischer und lokaler Gegebenheiten. Die Vorgehensweise zur Flächenermittlung werden in Abschn. 15.5.2 „Struk turdimensionierung“ vertieft. Die rechteckige Grundrissform für Nutzungsbereiche und Betriebsräume ist schiefwinkligen Zuschnitten aus Gründen besserer funktioneller Nutzung immer vorzuziehen. Aus Sicht einer guten innerbetriebli chen Kommunikation, der Qualitätssicherung, des
12.1 Anforderungsprogramm
Personenflusses, der Besucherführung usw. sollte der Zuschnitt der Betriebsbereiche so gewählt wer den, dass das Verhältnis von Länge zu Breite etwa zwischen 1:1,5 bis 1:3 liegt. Freistehende Stützen innerhalb der Nutzungsflächen sind nach Möglich keit zu vermeiden. Stützen sollten weder die Aufstel lung der Betriebsmittel noch ihre Bedienung oder Instandhaltung stören. Die Mindestbreite einer Be triebsfläche muss von Fall zu Fall ermittelt werden, sie ist die Voraussetzung für spätere Möglichkeiten andersartiger Zuordnungen der Betriebsmittel. Diese Überlegungen sind im Rahmen der Gebäudeplanung im Sinne einer angemessenen Wandlungsfähigkeit zu diskutieren und führen in der Regel zu möglichst großen Stützweiten (s. Abschn. 11.1 „Tragwerk“). Der Raumspiegel kann weitere Anforderungen zu lichter Raumhöhe sowie besonderer Lage von Berei chen im Raumgefüge beinhalten. Bei der Festlegung der anzustrebenden lichten Raumhöhe sollte die Möglichkeit nachträglich einziehbarer Galerien als
einfachste Art der internen Raumreserve erwogen werden. Durchgängig frei verfügbare lichte Raum höhen sind zwar generell anzustreben, jedoch stören wenige die nutzbare Raumhöhe einschränkende Träger dann nicht, wenn die Stützenabstände groß zügig ausgeführt sind. Vielfach sind bei ungünstiger Ausbildung des Tragwerkes nicht die Unterkanten der Träger für das verbleibende Lichtraumprofil maßgebend, sondern die unter dem Tragwerk ge führte Medienverteilung. Auch die Möglichkeiten der Ausleuchtung mit Tageslicht sowie die Raum konditionierung unter Nutzung natürlicher äußerer Umgebung sind für die Lage des Raumes in direkter Angrenzung an die Gebäudehülle oder innerhalb des Gebäudevolumens entscheidend. Nach DIN 277 werden Flächenarten unterschieden in Hauptunterflächen, Nebennutzflächen, Verkehrs flächen und Konstruktionsflächen. Es ist ratsam, frühzeitig im Projekt einen gemeinsamen Sprachge brauch zu vereinbaren. Unliebsame Überraschungen
12
Bild 12.3: Raumspiegel einer Fabrik (Beispiel) © Reichardt 15.212_JR_B
361
12 Generalbebauung
durch falsche Flächenansätze bei Kostenschätzun gen können so vermieden werden. Es bietet sich an, die Inhalte der Raumspiegel vom Grobrahmen bis zu den Feindaten direkt mit der parallel laufenden 3D-CAD-Planung zu verknüpfen. Redundanzen oder unterschiedliche Planungsstände werden dann mit Hilfe der jederzeit aktuellen Auswertungen der Syn ergetischen Fabrikplanung vermieden. Für laufende Budgetschätzungen können überdies ausgewählte, quantifizierbare Gewerke mit Kostenrichtwerten versehen und zu Teilbudgets aufsummiert werden. Bei entsprechender Strukturierung der Raumspiegel erlaubt diese Vorgehensweise darüber hinaus die rasche, zumindest überschlägige Bewertung von Pla nungsalternativen. Erfahrungsgemäß ist eine Gliederung der Raumpla nung nach Projektteilen und Ebenen sinnvoll; die Struktur der Tabellen sollte die Fortführung und Erweiterung der Raumspiegel zu späteren Raum büchern, ergänzt um Ausbaumerkmale wie Boden
12
Bild 12.4: Beispiel einer 3D-ID-Card (Putzroboter) © Reichardt 15.213_JR_B
362
beläge oder Türtypen, ermöglichen. Bild 12.3 zeigt Auszüge aus der Grobermittlung des Flächenbedarfs für ein Montagewerk sowie hieraus abgeleitete erste Präzisierungen der räumlichen und haustechnischen Anforderungen in einem Raumspiegel. Im Sinne einer später geforderten Wandlungsfähig keit sollten Flächen für gegenwärtige Zwecke opti miert werden, denkbare, alternative Zuordnungen aber bereits jetzt vorausschauend auf Kollisionsver meidung sowie mögliche Synergiepotenziale geprüft werden. Während des Projektverlaufes sollten hierbei erste Annahmen nach Bestätigung weiter verfeinert oder nach Änderung korrigiert werden.
12.1.2 Prozess- und Logistikelemente Jede Fabrikplanung optimiert das Zusammenspiel der Prozess- und Logistikelemente primär unter dem Gesichtspunkt eines Materialflusses mit minimaler Durchlaufzeit und minimalen Beständen. Je nach
12.1 Anforderungsprogramm
Größe und Gewicht erfordern die dazu notwendigen Betriebseinrichtungen die Berücksichtigung vielfäl tiger Schnittstellen zur Raumplanung. Bodentragfä higkeit, lichte Höhe, Stützenstellung, Medienver- und Entsorgung, Lärmschutz sind beispielsweise im Fall von Umformpressen wichtige Anforderungen an das räumliche Umfeld. Vielfach führt die traditionelle Entkopplung von Einrichtungsplanung und Raumplanung zu Abstim mungsproblemen; dauerhafte Funktionsmängel der Einrichtungen oder Baufehler sind die Folge. Im Rahmen der Synergetischen Fabrikplanung werden die Prozess- und Logistikelemente der Ein richtungsplanung bereits in der Entwurfsplanung als 3D-Strukturen erfasst und in das umgebende Raummodell gesetzt, um Kollisionen zu erkennen. In vielen Fällen ergibt sich aus der Verflechtung der 3D-Strukturen für Prozess und Logistik im Raum eine horizontale sowie vertikale Modularität der Ein richtungsplanung. Diese Maßordnungen bilden dann
die Grundlage für weitergehende Untersuchungen zur Auswahl geeigneter Bauformen, Tragwerke und Medienstrukturen. Um diesen Abgleich zwischen Prozess- und Raumpla nung zu unterstützen, sind „ID-Cards“ für Prozessund Logistikelemente nützlich. Sie fassen alle für die Fabrikplanung relevanten Angaben zusammen und erlauben darüber hinaus ihre Verwendung für Materialflusssimulationen. Aber auch z.B. die Simu lation der Wärmelasten oder Farbkonzepte können auf Grundlage der „ID-Cards“ rasch durchgespielt werden. Die ID-Cards befinden sich in einer elekt ronischen Bibliothek, die im Rahmen des Facility Management gepflegt wird. Bild 12.4 zeigt das 3D-Modell sowie das Foto eines „Putzroboters“ für Gummiverbundelemente als Teil einer neuen Produktionsanlage. Die Abmessungen sind in den drei Ansichten dargestellt, ergänzt um Flächen- und Gewichtsangaben. Ein besonderer Bereich der Karte ist für Textfelder reserviert, hier
12
Bild 12.5: Merkmale der Wandlungsfähigkeit für Betriebseinrichtungen © Reichardt 15.214_JR_B
363
12 Generalbebauung
können z.B. Umbauerfordernisse bei Übernahme bestehender Einrichtungen, Ausstattungsmerkma le oder Liefertermine dokumentiert werden. Mit zunehmender Planungstiefe wird die ID-Card er gänzt, auch Ver- und Entsorgungsangaben können entsprechend grafisch oder textlich nachgetragen werden. Überdies sind bei geschickter Projektie rung auf Grundlage der bereits in der Entwurfspha se angelegten „ID-Cards“ spätere Dokumentationen für Zwecke des Facility Management während der Produktionszeit möglich. Der Grad räumlicher Wandlungsfähigkeit der Pro zess- und Logistikelemente wächst mit der Realisie rung der Einrichtungen als freizügig verschiebbare „Möbel“ in einer Halle. Es gilt, alle Einschränkungen für eine einfache räumliche Veränderung zu vermei den. Bild 12.5 zeigt die Merkmale räumlicher Wand lungsfähigkeit für Elemente aus Prozess und Logistik nach Art der Befestigung, Art der Ver- und Entsor gung sowie Art der Fördertechnik auf. Insbesondere sollten Spezialfundamente und Gruben, im Boden angeordnete starre Ver- und Entsorgungssysteme so wie die Abhängigkeit von speziellen Fördersystemen vermieden werden (vgl. auch Bilder 6.3.2 und 6.4.3).
12.1.3 Ver- und Entsorgung
12
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Ein aus Sicht der Prozessplanung sekundäres, für die Raumplanung aber primäres Thema stellen die Ver- und Entsorgungssysteme für die Arbeitsplätze und Einrichtungen dar. Deren oft unerwartet großes Volumen und ihre häufig schlechte Anpassungs fähigkeit an veränderte Layouts stellen ernsthafte Hindernisse für eine als notwendig erkannte Verän derung dar. Eine unbedingte Voraussetzung für die Erörterung, Bewertung und Auswahl der späteren Detaillösun gen ist die frühzeitige Erfassung und Dokumentati on der Anforderungen in entsprechenden Tabellen, die ein Fortschreiben der Informationsstände auf einfache Art erlauben. Weiterhin sollten die Anfor derungen der Ver- und Entsorgung den jeweiligen Bereichen der Raumspiegel direkt zugeordnet sein. Eine derartige Kopplung von Anforderungen an
Raum und Haustechnik vermeidet unterschiedliche Planungsstände und bietet eine gute Grundlage für Szenarien der Wandlungsfähigkeit, da Alternativen ganzheitlich betrachtet werden können. Insbeson dere bieten sich die erläuterten „ID-Cards“ der Einrichtungsplanung für die 3D-Eintragung aller Ver- und Entsorgungsanschlüsse sowie aller not wendigen textlichen Daten wie benötigte Druckluft mengen, Elektroleistungen etc. an. Bild 12.6 zeigt die Übersicht von Anschlussmedien am Beispiel einer Entfettungsmaschine für eine Gummiproduktion. In Verfeinerung der 3D-Kons truktion des Elementes sind hier alle notwendigen Leistungsaufnahmen, Medienanschlüsse- und -ab gänge berücksichtigt; späteren Abstimmungsproble men zwischen Prozesstechnik und Haustechnik wird so vorgebeugt. Der Minimierung des Energiebedarfs kommt im An gesicht der globalen Klimaproblematik eine immer wichtigere Rolle zu. Neue Produktionsanlagen sollten bei der technisch-wirtschaftlichen Betriebsanalyse eine energetische Kostenanalyse aller Verbrauchs stellen des Prozesses einbeziehen. Für die Erstellung einer integralen Energiesimulation kann im Rahmen der synergetischen Fabrikplanung direkt auf die Daten der entsprechenden „ID-Cards“ zugegriffen werden. Bei der Ermittlung von Leistungsdaten sind spezifi sche Nutzungsprofile und vor allem der sogenannte Gleichzeitigkeitsfaktor zu berücksichtigen. Dieser trägt der Tatsache Rechnung, dass selbst bei Vollbe trieb einer Fabrik nie alle Verbraucher gleichzeitig und mit ihrer Nennleistung eingeschaltet sind. Dieser Faktor liegt beispielsweise für Maschinenfabriken bei 0,25 bis 0,4. Natürlich ist bei der Bemessung der Leistung der voraussichtliche Endausbau der Fabrik zu berücksichtigen, gleichzeitig sind aber auch die ständige Verbesserung der Produktivität und des Wirkungsgrades der eingesetzten Betriebsmittel im Laufe ihrer Nutzungszeit zu beachten. Auch hier er weist sich das modulare Prinzip der energetischen Versorgungseinrichtungen als sinnvoll. Ein Lösungsansatz besteht auch darin, dass die Fa brik ihren Energiebedarf von einem örtlichen Versor
12.2 Bauformen
Bild 12.6: Beispiel einer 3D-ID-Card (Entfettungsmaschine) © Reichardt 15.215_JR_B
gungsunternehmen bezieht, das die dazu notwendi gen Transformatoren, Druckluft- und Dampferzeuger usw. auf dem Fabrikgelände in Eigenregie betreibt und das nur den tatsächlichen Verbrauch abrechnet. Bild 12.7 zeigt die Prozess- und Energieoptimierung am Beispiel einer Großbäckerei [Rei98]. Hier wurde u. a. durch geschickte Kopplung von Prozesstechnik und Haustechnik mittels Techniken der Wärmerück gewinnung der Jahresenergiebedarf gegenüber einer konventionellen Lösung für Heizung um 62%, für Lüftung um 39% reduziert.
12.1.4 Besondere Anforderungen Im Rahmen der Generalbebauung sind vielfältige be sondere Fragestellungen aus dem Anforderungspro gramm denkbar. Neben weiteren Anforderungen aus Ver- und Entsorgung wie Reinraumtechnik können aus der Einrichtungsplanung besondere Steifigkeiten
für Geschossdecken oder Kranbahnen für Brücken krane zur Montage schwerer Maschinen resultieren. Auch hier empfiehlt es sich, diese Anforderungen in die „ID-Cards“ der Prozess- und Logistikeinrichtun gen aufzunehmen und von Projektbeginn bis Projek tende alle sich hieraus ergebenden Verflechtungen zu beachten.
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12.2 Bauformen Pevsner [Pev98] definiert Fabrikgebäude als Bau werke einer gewissen Größe, in denen Produkte in hoher Stückzahl hergestellt werden. Traditionell werden nach [Dol73] und [Agg80] aus Raumsicht Industrie- und Gewerbebauten nach Gebäudetypen für die Grundfunktionen Fertigung und Montage,
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12 Generalbebauung
Bild 12.7: Energieoptimierung eines Gebäudes (Beispiel Großbäckerei) © Reichardt 15.216_JR_B
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Lagerung, Verwaltung, Entwicklung, Sozialbereiche, Ausstellung und Verkauf sowie nach der Form des Gebäudeschnitts unterschieden. Diese bauliche Typisierung nach Grundfunktionen und zugeordneten Gebäudetypen ist insbesondere für die Fragestellung der Wandlungsfähigkeit wenig sinnvoll, da sich immer stärker eine prozessorien tierte Gliederung nicht nur der Organisation, son dern auch der zugehörigen Geschäftsprozesse und der dazu notwendigen Einrichtungen und Räume durchsetzt. Dies führt wiederum zu multifunktio nalen Gebäuden, deren Teilbereiche atmungsfähig sein müssen und bei einer kurzfristigen Nutzungs änderung keine großen bautechnischen Probleme und Kosten verursachen. Die richtige Auswahl und Ausformulierung des Gebäudeschnitts ist daher von größter Bedeutung, werden hierdurch doch meist irreversibel Tragfähigkeit, lichte Höhen, natürliche Belichtung, Installationszonen sowie Erweiterungs optionen festgelegt.
12.2.1 Schnittprofil Bild 12.8 zeigt wichtige Schnittausprägungen mit angetragenen Erweiterungsrichtungen für Flach bauten, Hallenbauten, Geschossbauten, Kombina tionsformen und Sonderbauten. Flach-, Hallen- und Geschossbauten stellen den überwiegenden Typ dar, modifiziert durch unterschiedliche Dachausprägun gen (s. Abschn. 11.2). Kombinationsformen entstehen aus projektspezifischen Additionen dieser Grund prinzipien. So besteht der oft anzutreffende Bautyp einer niedrigen Produktions- oder Montagehalle mit seitlicher Verwaltung eigentlich aus einem Flachbau mit hieran einseitig angeschobenem Geschossbau. Sonderbauten entstehen als Tragegerüste mit techni schen Aggregaten für Raffinerien oder in Silobauwei se mit tragenden Stahlregalen für Hochregalläger. Bild 12.9 stellt eine Übersicht baulicher Merkmale für die Schnittprofile Geschossbau, Flachbau und Halle
12.2 Bauformen
zusammen. Der Geschossbau ist der eigentliche Urtyp des Fabrikgebäudes, mannigfaltige Verfeinerungen entstanden in den englischen Textilspinnereien des 18. Jahrhunderts, aber auch in den amerikanischen Automobilfabriken zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er findet heute noch Gebrauch in der feinmechani schen, optischen und elektronischen Industrie sowie in der Lebensmittel- und Bekleidungsindustrie. Für die pharmazeutische Industrie sind Geschossbauten durch die Nutzung der Schwerkraft für den Verti kaltransport von schüttbaren Gütern geeignet. Flachbauten entstanden in großer Zahl zu Anfang des 20. Jahrhunderts als bauliche Antwort auf die Prozessvorgaben nach zusammenhängenden, eben erdigen Flächen. Die Einführung des Fließbandprin zips in der amerikanischen Automobilproduktion begünstigte Konzepte der einfachen Erweiterbarkeit auf einer Ebene und auch schwerste Maschinen wa ren auf der Bodenplatte einfach montierbar.
Die Entwicklung und Verfeinerungen von Hallen bauten bei Henry Ford beschreibt [Buc03]. Bis in die Gegenwart bietet der Hallenbau, insbesondere bei Vorhaltung ausreichender lichter Höhen für spätere Galerieeinbauten sowie als konsequenter Modulbau für vielfache externe Erweiterungen, sehr gute Mög lichkeiten der Wandlungsfähigkeit. Hallenbauten entstehen aus zusätzlichen Anfor derungen nach großer Spannweite, großer, lichter Höhe oder schwerer Fördertechnik. Bei geschickter Auslegung ist ein hohes Maß an interner Wand lungsfähigkeit durch vielfältige Ausbaureserven erzielbar. Gegenüber der für äußere Wandlungs fähigkeit vorteilhaften Richtungslosigkeit von Flachbauten sind Hallenbauten meist sinnvoll nur in einer Achse erweiterbar. Für Tragwerke, Förder technik sowie technischen Ausbau ist bei der Erstel lung ein höherer Aufwand gegenüber Flachbauten zu veranschlagen.
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Bild 12.8: Bauformen: Typologie von Schnittprofilen © Reichardt 15.217_JR_B
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Bild 12.9: Merkmale verschiedener Hallen-Schnittprofile (nach Dangelmaier) © Reichardt 15.218_JR_B
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Geschickt arrangierte Kombinationsformen nutzen die jeweiligen Vorteile der Schnittprofile und bieten bei Vorliegen eines schlüssigen, alle Werkbereiche verknüpfenden Gesamtkonzepts eine gute Chance für nachhaltige Wandlungsfähigkeit.
12.2.2 Grundrissfigur In der Praxis erweist sich die Wahl des Schnittprofils als alleiniges Kriterium zur Definition der Bauform in vielen Fällen als notwendig, aber nicht hinreichend. Die Zuordnung von Nutzungsbereichen sowie deren Ausrichtung und Veränderbarkeit wird außer durch den Gebäudeschnitt maßgeblich durch die Dispositi on in der Fläche, der Grundrissfigur, bestimmt. Als Grundtypen, die je nach Schwerpunkt durch zentra lisierend oder dezentralisierend wirkende Faktoren geprägt sind, ergeben sich kompakte, geschlossene Umrissfiguren oder gegliederte, ausgreifende Um rissfiguren, s. Bild 12.10.
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Bei der kompakten, geschlossenen Umrissfigur werden alle Raum- bzw. Nutzungsbereiche unter dem Dach eines Gesamtraums zusammengefasst. Solche homo genen Großformen weisen oft zusammenhängende Raumbereiche auf und führen in vielen Fällen zu gro ßen Baukörpern und ausgedehnten Innenraumdimen sionen. Zur eigentlichen Raumdefinition dienen dann vom Tragwerk unabhängige Raumtrennelemente. Die spezifischen Einflussfaktoren, die zu solchen geschlossenen bzw. kompakten Baukörperformen – und damit zu einer inneren Großraumstruktur – füh ren, sind oft eine funktionell und technologisch be dingte Zusammengehörigkeit aller Produktions- und Nebenbereiche. Weitere Merkmale sind die einfache Bildung von größeren und dadurch wirtschaftlichen Einheiten bei hohen haustechnischen Anforderun gen mit kostengünstigen gebäudetechnischen An lagen größerer Kapazität, die Vermeidung größerer Transportwege sowie die Einsparung von Bauland bei hohen Grundstückspreisen.
12.2 Bauformen
Bild 12.10: Typologie von Grundrissfiguren © Reichardt 15.219_JR_B
Die im Grundsatz universelle Anwendbarkeit des Großraums für verschiedenartige Anforderungen aus Prozess, Logistik und Verwaltung bedeuten ein hohes Maß an zukünftiger Wandlungsfähigkeit. Aus energetischer Sicht sind geringe Wärmeverluste durch günstige Verhältniswerte A/V (Quotient aus Hüllfläche A und Volumen V) sowie kürzere Ver- und Entsorgungsleitungen vorteilhaft. Die interne Wand lungsfähigkeit ist bei Vermeidung von Zwangspunk ten wie zu engen Stützrastern oder ungünstiger Lage von Kernbereichen gegeben. Bei der gegliederten, ausgreifenden Umrissfigur wird das gesamte Bauvolumen in mehrere gleiche oder verschiedenartige Gebäudetrakte gegliedert. Die Glie derung erfolgt dabei durch Versatz, Stapelung, Abtrep pung, Verzahnung oder Koppelung der Baumassen. Die vollständige Trennung der Bauwerke als freistehende Einzelbaukörper kann zwar als ein eigener Grundtyp an gesehen werden, hier zählt sie aber aus Vereinfachungs gründen zu der Gruppe der gegliederten Bauwerke.
Alle diese heterogenen Baukörperformen haben in den meisten Fällen kleinere, überschaubare Raumund Körperdimensionen und zeichnen sich durch mehr Außenwandflächen je Quadratmeter Grundflä che aus. Die spezifischen Einflussfaktoren, die zu geglieder ten Baukörperformen führen, sind oft unterschied liche bauliche und räumliche Forderungen der Pro duktion, wie höhere Lasten, verschiedene Höhen, höhere Luftfeuchtigkeit, verschiedene Lüftungs- und Klimatisierungsforderung etc. Weiterhin können ge fährdende oder belästigende Teilprozesse wie lärm-, schwingungs- und erschütterungserzeugende Pro zesse, gas-, dampf-, staub- oder geruchs-emittierende Verfahren sowie Bereiche mit erhöhter Brand- und Explosionsgefahr, die eigenen, speziellen Sicher heitsbestimmungen unterliegen, zu einer baulichen Separierung führen. Eine größere Hüllfläche ist zwar in der Regel ener getisch und kostenmäßig ungünstig, kommt aber
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humanen Anforderungen nach mehr Ausblick durch größere Außenwandanteile mit ausreichender Vergla sung in Augenhöhe sowie kleinmaßstäblichen Raumbzw. Bereichsdimensionen mit eigenen, getrennten Sozialbereichen (Umkleideräume, Pausenräume, Toiletten, Ruheräume etc.) entgegen.
12.2.3 Verknüpfungsprinzip Im Hinblick auf eine möglichst dynamische Wand lungsfähigkeit von Bauformen muss als weiteres Krite rium der bisherigen Charakterisierung in Schnitt und Grundrissfigur die prinzipielle Art der typologischen Verknüpfung der Baukörper betrachtet werden. Einzelne Hallen oder ganze Werksbereiche werden durch die „Lebensadern“ der sie durchziehenden Magistralen für Erschließung, Medientrassen und übergeordnete Wege des Materialflusses verbun
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Bild 12.11: Typologie der Verknüpfungsprinzipien © Reichardt 15.220_JR_B
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den. Ebenso legt die einmal gewählte Stellung und Verbindung benachbarter Baukörper gegenseitige Kommunikationsbeziehungen fest. Ein einmal ge wähltes Verknüpfungsprinzip wirkt nach [Kar90] anregend oder hemmend für die „innere“ Erwei terung (Nachrüstung von Medien) oder „äußere“ Erweiterung (Addition zusätzlicher Werksbereiche). Der Wahl des Verknüpfungsprinzips kommt daher eine überragende Bedeutung zu, da durch die viel fache Überlagerung unverzichtbarer Funktionen an den Schnittstellen der Baukörper Veränderungen oft schwerwiegender durchzuführen sind als im Schnitt oder Grundriss des einzelnen Baukörpers. In Weiterführung von Prinzipien zur Bildung addi tiver Formen können im Industriebau die nach Bild 12.11 aufgeführten Verknüpfungsprinzipien das langfristige Arrangement von Baukörpern und die entsprechenden Erweiterungsoptionen bedingen.
12.2 Bauformen
Bild 12.12: Wandlungsfähigkeitsmerkmale einer Kombination aus Geschoss- und Hallenbau © Reichardt 15.221_JR_B
Das Prinzip der Koppelung führt zu einem additiven Gefüge von Baukörpern. Die Aufreihung von Baukör pern entlang einer Bewegungslinie, oft als zentrale Erschließung im Sinne eines alle Werkbereiche tan gierenden Rückgrats verstanden, kann entlang einer Achse erfolgen. Reservierte Baufelder entlang der Achse können als zusätzliche Erweiterungsflächen zu einem späteren Zeitpunkt gefüllt werden. Das Hofprinzip ordnet demgegenüber meist rechtwink lig Baukörper um einen platzartigen Freiraum an; bei geschickter Auslegung können Erweiterungen ringartig erfolgen. Beim Stern sind die Baukörper ebenfalls um einen Freiraum, jedoch mittels freier Winkel angeordnet. Die weitere Loslösung der Baukörperanordnungen von einem erkennbaren Bauprinzip führt zur chaotischen Baukörperstellung nach (fraktaler) Zufälligkeit. Beim Kreuz werden die Baukörper entlang zweier lotrechter Bewegungslinien aufgereiht, Quadranten weisen dann
um einen Zentralkörper rotierende Baufelder aus. Bei Spirale und Kreis sind die Baukörper in Abhängigkeit von (imaginären) Bewegungslinien einer statischen oder dynamischen Kreisgeometrie angeordnet. Das Netzprinzip regelt mittels eines unterlegten Koordi natensystems die gegenwärtige und zukünftige Bezie hung von bekannten und unbekannten Flächen. Die Auswahl von Schnittprofil, Grundstücksfigur und Verknüpfungsprinzip sollte auf Grundlage von Prozess- und Raum-Sicht gegenwärtiger wie zukünf tiger Projektkriterien erfolgen. Bild 12.12 zeigt den Schnitt, den Grundriss und die Verknüpfung mit Er weiterungsoptionen am Beispiel einer Kombination aus Geschoss- und Hallenbau. Durch die Anordnung der Baukörper werden die Erweiterungsrichtungen in Grundriss und Schnitt, aber auch die mehrfache „Nutzung der Verknüpfungsräume“, z.B. für Besu cher, Medienführung und Rekreation bestimmt. Die Merkmale der Wandlungsfähigkeit der Bauform sind hiernach eindeutig definiert.
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12.3 Objektschutz Je nach Art und Gefährdung des Betriebes erfordern Werksanlagen besondere Maßnahmen hinsichtlich Einbruch, Diebstahl, Brandschutz und Explosions schutz. Eine Übersicht möglicher Faktoren mit Bei spielen sind in [AGI04] zusammengestellt.
ein einmal erarbeitetes Brandschutzkonzept nicht bei der ersten Änderung der Betriebsmittel obsolet sein, sondern vielmehr Reserven bei Fluchtweglängen und Rauchabzugsfaktoren aufweisen. Die Räume für explosive Stoffe sollten auf einfache Weise vergrößert oder bei Entfall durch geeignete Baukonstruktionen rückbaufähig sein. Die technischen Details sind in Abschn. 10.5 beschrieben.
12.3.1 Einbruch, Diebstahl
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Die traditionelle Lösung gegen Einbruch und Dieb stahl ist eine das gesamte Werksgelände umfassende äußere Sicherung durch Zaunanlagen. Je nach Lage der Pforte können ausgedehnte Parkplätze für Mit arbeiter und Besucher auch vor dem eigentlichen Werkszugang liegen. Zäune stellen vielfach keine wirkliche Sicherung gegen unbefugte Betreter dar. Sie sind für geübte Täter relativ einfach zu überwin den. Aus städtebaulicher Sicht wie auch aus der Sicht einer hohen Wandlungsfähigkeit der Außenanlagen bei Erweiterungen kann bei Einsatz von Tür- und Glasscheibensensoren sowie Bewegungsmeldern auf Zaunanlagen ganz verzichtet werden. Durch ein solches integriertes, auf definierte, besondere Si cherheitsbereiche abgestimmtes Sicherheitskonzept kann in Abstufungen auch auf veränderte Nutzungen leicht reagiert werden. Moderne Alarmanlagen erlau ben die automatische Weiterl