Wirksame Führung in Banken und Sparkassen 9783658290313, 3658290315

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Wirksame Führung in Banken und Sparkassen
 9783658290313, 3658290315

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1: Einleitung
Literatur
2: Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- und Umfeldfaktoren des Unternehmens
2.1 Wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen
Fazit aus diesem Abschnitt
2.2 Demografische Entwicklung und Management der Generationen
Fazit aus diesem Abschnitt
2.3 Kundenverhalten und Wertewelten
Fazit aus diesem Abschnitt
2.4 Digitalisierung und Innovationen
Fazit aus diesem Abschnitt
2.5 Folgen für Banken und Sparkassen
Literatur
3: Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für Führung
3.1 Geschäftsmodellentwicklung
Fazit aus diesem Abschnitt
3.2 Unternehmenskulturentwicklung
Fazit aus diesem Abschnitt
3.3 Organisationsentwicklung
Fazit aus diesem Abschnitt
3.4 Sonderfall Fusion
Fazit aus diesem Abschnitt
Literatur
4: Führung zwischen Tradition und Wandel
4.1 Transformationale Führung
Fazit aus diesem Abschnitt
4.2 Authentische, vertrauensbasierte Führung
Fazit aus diesem Abschnitt
4.3 Digital Leadership
Fazit aus diesem Abschnitt
4.4 Distance Leadership/virtuelle Führung
Fazit aus diesem Abschnitt
4.5 Agile Führung/Agiles Coaching
Fazit aus diesem Abschnitt
4.6 Zur Historie von Führungstheorien und -ansätzen
Fazit aus diesem Abschnitt
Literatur
5: Führung und Persönlichkeit
5.1 Führungsrolle
Fazit aus diesem Abschnitt
5.2 Persönlichkeitsmerkmale und Führungserfolg
Fazit aus diesem Abschnitt
5.3 Neuroscience Leadership
Fazit aus diesem Abschnitt
5.4 Führung und Biografie
Fazit aus diesem Abschnitt
5.5 Entwicklungsmöglichkeiten von Führungseigenschaften und -verhalten
Fazit aus diesem Abschnitt
Literatur
6: Ansätze für die Praxis
6.1 Strategische Ausrichtung
Fazit aus diesem Abschnitt
6.2 Kulturelle Ausrichtung
Fazit aus diesem Abschnitt
6.3 Organisatorische Ausrichtung
Fazit aus diesem Abschnitt
6.4 Auswahl- und Weiterentwicklung von Führungskräften
Fazit aus diesem Abschnitt
Literatur
7: Schlussbetrachtung

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Edition BANKMAGAZIN

Alfred Burkhart

Wirksame Führung in Banken und Sparkassen

Edition Bankmagazin Reihe herausgegeben von Stefanie Burgmaier, Wiesbaden, Deutschland Stefanie Hüthig, Wiesbaden, Deutschland

Ziel der Edition BANKMAGAZIN ist es, Trends und Herausforderungen in der Finanzwirtschaft zu beleuchten und Lösungen anzubieten. Indem sie die Theorie mit Beispielen aus dem Bankalltag verknüpfen, stellen die Fachautoren einen hohen Praxisbezug sicher. Interviews mit Verbänden und Geldinstituten aller drei Säulen zeigen, mit welcher Dynamik sich Themen wie Veränderungen beim Kundenverhalten, Digitalisierung, neue Konkurrenz durch junge Finanztechnolo­ gieunternehmen, War for Talents oder Dauerzinstief mit der Folge erodierender Margen in der Kreditwirtschaft entwickeln.

Weitere Bände in dieser Reihe: http://www.springer.com/series/15208

Alfred Burkhart

Wirksame Führung in Banken und Sparkassen

Alfred Burkhart SWK GmbH & CO. KG, Bad Homburg, Deutschland

ISSN 2569-118X     ISSN 2569-1198  (electronic) Edition Bankmagazin ISBN 978-3-658-29030-6    ISBN 978-3-658-29031-3  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29031-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­ grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikro­ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informatio­ nen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutions­ adressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Noch ein Buch über Führung? Echt jetzt? Die Regale der (Online-)Buchhandlun­ gen sind doch bereits voll davon. Und auch im Internet gibt es mehr als genug Veröffentlichungen, die sich damit auseinandersetzen. Ich habe lange überlegt, ob ich dem Angebot des Verlages nachkommen soll, ein Fachbuch zum Thema Führung zu schreiben. Nach einigen Stunden Recherche und einem Mindmap zu einer ersten Ideensammlung später habe ich mich ent­ schlossen, es dennoch zu wagen. Was mich überzeugt hat? Am Ende war es gerade diese Flut an vermeintlichen neuen Erkenntnissen zu Führung, die bei einem das schlechte Gefühl hinterlassen, nicht mehr auf dem Laufenden zu sein. Ständig neue Ansätze und Denkrichtungen vermitteln den Eindruck, mit dem eigenen Denken über Führung und dem damit verbundenen Verhalten hinterher zu hecheln. Der neuste Trend, der gerade durch die Häuser getrieben wird, nennt sich Faci­ litative Leadership. Dieser Ansatz setzt auf gängigen Methoden auf und erweitert sie nach eigenen Angaben. Die Rede ist dabei von gemeinsam geteilter Sinnhaftig­ keit, Reflexion, Klarheit und Orientierung. Und auch davon, bei aller empfundenen Belastung auf dem Weg zu bleiben, mit der Geschwindigkeit der Entwicklung mit­ halten zu können. Aber ist das wirklich neu? Haben Generationen von Führungskräften bisher alles falsch gemacht? Wenn man einige der heutigen Publikationen liest, könnte man sich durchaus die Frage stellen, wie es einem ohne das dort vermittelte Wissen gelingen konnte, die Herausforderungen der Vergangenheit zu meistern. Dies ist vergleichbar mit den Analysen von Expert*innen, die im Nachgang eines Fußball­ spiels ihre Schlüsse zum Besten geben. In Megazeitlupen werden Spielsituationen

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Vorwort

mehrfach nachbetrachtet, Striche gezogen, Urteile gefällt und abgeleitet, was man hätte alles besser machen sollen. Im Nachhinein ist man eben immer schlauer … Dieses Werk soll nicht dem gleichen Ansinnen nacheifern. Ich möchte Ihnen nicht erklären, wie die Führungswelt richtig funktioniert. Dies allein deshalb nicht, weil es nicht den einen Weg gibt, wie man Führung richtig anwendet. Ich habe zu häufig erlebt, wie sich ein in der Situation vermeintlich richtig angefühltes Vorge­ hen im Nachhinein als falsch herausgestellt hat. Nicht selten lernt man Führung gerade dadurch, dass man mit seinem Vorgehen daneben liegt oder sogar kräftig auf die Schnauze fällt und daraus für neue Situationen lernt. Außerdem wäre es nicht fair, zurückliegendes Verhalten aus der Vogelperspek­ tive und mit zeitlicher Distanz als falsch anzukreiden, um dann den Rotstift des Lehrmeisters anzusetzen. Was ich stattdessen möchte, ist, erlebte Situationen aus über fünfundzwanzig Jahren Führungsverantwortung und dreißigjähriger Berufstätigkeit in der Finanz­ welt Revue passieren zu lassen und eigene Schlüsse daraus zu ziehen, was im Kon­ text heutiger Rahmenbedingungen funktionieren kann und was sich eventuell als he­rausfordernd gestaltet. Ich möchte Ihnen einen Überblick über den aktuellen Dschungel der Führungs­ ansätze geben und Sie durch diesen hindurchführen, indem ich durch Beispiele gestützt einen Transfer in die Praxis von Banken und Sparkassen versuche. Ich hoffe, den einen oder anderen Ansatz etwas zu entmystifizieren, um zeigen zu kön­ nen, dass dahinter ganz pragmatische Denkrichtungen liegen. Dieses Buch trägt somit auch einen auf den ersten Blick pragmatischen Titel: „Wirksame Führung in Banken und Sparkassen“. Ich möchte damit vermeiden, mit einer neuen Kunstwortschöpfung einen neuen Führungsansatz zu suggerieren. Ich gebe zu, der Titel klingt nicht besonders sexy. Aber auch Führung muss sich nicht immer sexy anfühlen. Führung soll im Sinne des Unternehmens und unter Berück­ sichtigung der Belange der Mitarbeiter*innen Wirkung erzeugen. Dieses Buch richtet sich an Führungsverantwortliche in deutschen, mittelstän­ dischen Banken und Sparkassen. Auf die Besonderheiten deutscher und interna­ tionaler Großbanken kann ich nicht eingehen, da keine Erfahrungswerte aus der praktischen Zusammenarbeit bestehen. Die kulturellen und werteorientierten Un­ terschiede sind zudem in diesen Häusern im Vergleich zum Mittelstand aus meiner Sicht zu groß, als dass sich diese mit meinen Überlegungen in Einklang brin­ gen ließen. Ich möchte Sie mit den folgenden Ausführungen an meiner Denkwelt teilhaben lassen, Ihnen Angebote zur Reflexion machen und am Ende einige Ansätze aus meiner eigenen Arbeit vorstellen, die sich für mich als gangbar herausgestellt

Vorwort

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h­ aben. An der einen oder anderen Stelle möchte ich Sie anregen, neue Denkrich­ tungen einzuschlagen. Fühlen Sie sich herzlich eingeladen, Ihre persönlichen Beispiele, Ideen und durchaus auch gegenteiligen Sichtweisen mit mir auf meiner LinkedIn-Seite https://www.linkedin.com/in/alfred-burkhart-732ab999/ zu teilen und zu diskutie­ ren. Ich hoffe, Sie finden ebenso viel Freude beim Lesen des Buches, wie ich es beim Schreiben hatte. Dieses Buch ist all denjenigen gewidmet, die sich von den täglichen Heraus­ forderungen im Führungsalltag nicht entmutigen lassen, die die Neugier an ihrem Gegenüber und den Spaß an der Arbeit mit Menschen nicht verloren haben. Danke an alle, die mich zu diesem Buch inspiriert und die direkt oder indirekt zu seinem Entstehen beigetragen haben!

Berlin, Deutschland März 2020

Alfred Burkhart

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung �������������������������������������������������������������������������������������������������  1 Literatur �����������������������������������������������������������������������������������������������������  4 2 Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- und Umfeldfaktoren des Unternehmens���������������������������������  5 2.1 Wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen�����������������������  6 2.2 Demografische Entwicklung und Management der Generationen������������������������������������������������������������������������������������� 10 2.3 Kundenverhalten und Wertewelten��������������������������������������������������� 19 2.4 Digitalisierung und Innovationen����������������������������������������������������� 23 2.5 Folgen für Banken und Sparkassen��������������������������������������������������� 27 Literatur ����������������������������������������������������������������������������������������������������� 30 3 Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für Führung��������������������������������������������������������� 33 3.1 Geschäftsmodellentwicklung ����������������������������������������������������������� 34 3.2 Unternehmenskulturentwicklung ����������������������������������������������������� 42 3.3 Organisationsentwicklung����������������������������������������������������������������� 51 3.4 Sonderfall Fusion ����������������������������������������������������������������������������� 63 Literatur ����������������������������������������������������������������������������������������������������� 72 4 Führung zwischen Tradition und Wandel ��������������������������������������������� 77 4.1 Transformationale Führung��������������������������������������������������������������� 80 4.2 Authentische, vertrauensbasierte Führung ��������������������������������������� 87 4.3 Digital Leadership����������������������������������������������������������������������������� 91

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Inhaltsverzeichnis

4.4 Distance Leadership/virtuelle Führung��������������������������������������������� 96 4.5 Agile Führung/Agiles Coaching�������������������������������������������������������103 4.6 Zur Historie von Führungstheorien und -ansätzen���������������������������112 Literatur �����������������������������������������������������������������������������������������������������117 5 Führung und Persönlichkeit �������������������������������������������������������������������121 5.1 Führungsrolle �����������������������������������������������������������������������������������122 5.2 Persönlichkeitsmerkmale und Führungserfolg���������������������������������129 5.3 Neuroscience Leadership �����������������������������������������������������������������141 5.4 Führung und Biografie ���������������������������������������������������������������������147 5.5 Entwicklungsmöglichkeiten von Führungseigenschaften und -verhalten�����������������������������������������������������������������������������������150 Literatur �����������������������������������������������������������������������������������������������������156 6 Ansätze für die Praxis �����������������������������������������������������������������������������159 6.1 Strategische Ausrichtung�������������������������������������������������������������������162 6.2 Kulturelle Ausrichtung���������������������������������������������������������������������172 6.3 Organisatorische Ausrichtung�����������������������������������������������������������178 6.4 Auswahl- und Weiterentwicklung von Führungskräften�������������������182 Literatur �����������������������������������������������������������������������������������������������������196 7 Schlussbetrachtung�����������������������������������������������������������������������������������199

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Einleitung

Transformative Führung, partizipative Führung, agiles Führen, Servant Leader­ ship, Digital Leadership, authentische Führung, die Liste ließe sich durchaus erweitern, wenn es darum geht, moderne Führungsansätze aufzuzählen. Gibt man den Begriff „Führung“ im Suchfeld bei SpringerProfessional, der digitalen Fachbibliothek ein, erhält man über 42.000 Buchveröffentlichungen. Konzentriert man sich auf den Finance + Banking-Bereich, sind es immer noch über 6.500 Bücher, unter anderem auch Werke, die sich mit renditeorientierten Führungsstrategien auseinandersetzen. Darunter wiederum befinden sich zahlreiche Bücher, die sich ausschließlich Steuerungsthemen oder anderen betriebswirtschaftlichen Themen im Finanzwesen widmen. Beschränkt man sich bei der Suche auf die Begriffe „Führung“ und „Banken“, respektive „Sparkassen“, so bleibt am Ende ein einziges Werk aus dem Jahr 2015 übrig (Illig 2015). Warum ist das so, dass Führungsthemen derzeit in der modernen, sich wandelnden Unternehmenswelt einen regelrechten Hype erfahren, die Finanzwelt sich jedoch mit diesem Schwerpunkt allenfalls als Randthema zu beschäftigen scheint? Oder ist diese Vermutung an den Haaren herbeigezogen? Nur weil eine Literatursuche eher spärliche Ergebnisse liefert, bedeutet es noch lange nicht, dass Führung in der aktuellen Praxis von Banken und Sparkassen nachrangig behandelt wird. Obwohl … Nicht selten überwiegt auf den obersten Managementebenen die Grundmeinung, Führung müsse man nicht erlernen. Schließlich habe man es mit ­erwachsenen Menschen zu tun, die alle selbstverantwortlich ihre Arbeit erledigen und Konflikte lösen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Burkhart, Wirksame Führung in Banken und Sparkassen, Edition Bankmagazin, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29031-3_1

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1 Einleitung

Häufig nimmt sich der Vorstand eines Hauses aus der Riege der Führungskräfte aus. Als Manager müsse man sich um andere Belange kümmern als um die Führungsfähigkeiten der Ebene direkt unterhalb des Vorstandes. Schließlich wisse diese Ebene, was sie zu tun habe, und man würde täglich miteinander reden. Dabei bestünde jederzeit die Chance, dass Themen platziert werden könnten. Hat man als Außenstehender die Chance, z. B. im Rahmen eines Coachings der Führungsmannschaft oder einzelner Führungskräfte, ein Führungssystem zu durchdringen, so zeigen sich in einigen Häusern durchaus Herausforderungen: • Die oberste Führungsebene (Vorstand und zweite Führungsebene) hat die Bindung zur operativen Ebene verloren, da der Fokus auf politischen, strategischen und regulatorischen Schwerpunkten liegt. Entscheidungen werden dadurch ohne die Einbindung der ausführenden Fachebene getroffen, wichtige Erkenntnisse bleiben außen vor. • Vorstände geben zwar vor, neuen Organisations- und Arbeitsformen aufgeschlossen zu sein. Gerade in wirtschaftlich angespannten Zeiten scheinen jedoch die alten, angelernten Reflexe wiederaufzuleben, mittels derer man alle betrieblichen Belange managen und in den Griff bekommen möchte. • Die zweite Führungsebene filtert Informationen von unten nach oben, um bei dem eigenen Ressortvorstand möglichst positiv zu wirken und, um zu zeigen, dass man den eigenen Bereich im Griff hat. Vorhandene Probleme werden dadurch unter den Teppich gekehrt. • Teilweise wird die strategische Ausrichtung der Bank/Sparkasse immer noch allein vom Vorstand vorgenommen. Dies führt bei der zweiten Ebene zu einer „erlernten Hilflosigkeit“ und damit einem Zurücklehnen, was die strategische Verantwortung angeht. • Auf der zweiten Führungsebene werden Stellvertreterkriege geführt, die aus einer Uneinigkeit des Gesamtvorstandes herrühren. Diese wirken bis auf die operative Ebene, wo sie zu Reibungen bis hin zu einer mangelnden Umsetzungsstärke führen. • Führungsebenen vereinbaren unausgesprochen eine Allianz im Sinne von „Tust Du mir nicht weh, dann tue ich Dir nicht weh.“ Versuchen Mitarbeiter∗innen Eskalationsprozesse über Führung anzustoßen, stützen (decken) sich die Führungskräfte gegenseitig. Die Intervention des/der Mitarbeiter∗in läuft ins Leere. cc

Was macht gute Führung aus?

Die Antwort hängt ganz davon ab, wie man Führung definiert. Philipp (2010) beschreibt dies aus einer pragmatischen Sicht wie folgt:

1 Einleitung

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Ich verstehe unter Führung die generelle Fähigkeit, Menschen in die Lage zu versetzen, eine Leistung zu erbringen und auf Veränderungen angemessen zu reagieren, um Ziele zu erreichen. Dies schließt ausdrücklich die eigene Person mit ein. Die hohe Schule der Führung zeichnet sich dadurch aus, dass die Mehrzahl, der an der Zielerreichung Beteiligten, diese Ziele als wert- und sinnvoll empfindet und sie zu ihren Zielen macht. Leadership ist für mich demnach die englische Übersetzung von Führung und fokussiert etwas spezieller die Follower. Leader haben immer Follower – egal wie ihr formaler Status ist.

Wer sich die Frage „Wer macht mich eigentlich zur Führungskraft?“ selbstkritisch beantwortet, wird im Zuge dieser Definition zu folgender logischen Antwort kommen: „Meine zu führenden Mitarbeiter∗innen!“ Natürlich wird den mit Führen betrauten formal organisatorisch die disziplinarische Kompetenz verliehen. Und natürlich kann ein(e) den Mitarbeiter∗innen damit „Vorgesetzte(r)“ seine Führungsfunktion über Druck, Anweisungen und unter Androhung von Konsequenzen mit Leben erfüllen. Aber mal ehrlich: Kann man ernsthaft davon ausgehen, dass Mitarbeiter∗innen ihrer Führungskraft unter diesen Rahmenbedingungen gerne folgen und ihre Leistung erbringen? Menschen kommen zu Unternehmen, aber sie verlassen Vorgesetzte.

Bereits 2008 machte der Managementberater Dr. Reinhard K.  Sprenger deutlich, was in den jährlichen Gallup-Studien belegt wird: Der Grund, weshalb Mitarbeiter∗innen ein Haus verlassen, liegt in zunehmender Art und Weise in einer nicht funktionierenden Beziehung zwischen Mitarbeiter∗innen und ihren Führungs­kräften. Es scheint also etwas zu kippen auf der Waage der Führungsanforderungen. Definierten sich Führungskräfte in früheren Zeiten eher über einen fachlichen Rahmen und eine Aufgabenorientierung, scheint zunehmend die engere Orientierung am Menschen die Oberhand zu gewinnen. Wer keine Lust auf Menschen, ihre Einzigartigkeit und die damit verbundenen Herausforderungen im Arbeitsalltag hat, sollte sich gut überlegen, ob er/sie in der Ausführung einer Führungstätigkeit seine/ihre persönliche Erfüllung findet. Und damit kommen wir zu dem, was dieses Buch an Nutzen bringen kann. Wer die Wirkungsfaktoren aktueller externer Rahmenbedingungen sowie interner strategischer, kultureller und organisationaler Faktoren für sich reflektieren möchte, findet in den Kapiteln zwei und drei Anregungen hierzu. Beide Kapitel zeigen auf, wie sich Führung im Kontext voranschreitender Entwicklungen verändert hat und wohl auch weiter verändern wird.

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1 Einleitung

Kapitel vier vermittelt einen Überblick über ausgewählte, aktuelle Führungstheorien und -stile, greift aber auch einige traditionelle Ansätze auf. Aus nahezu allen diesen Ansätzen lassen sich Elemente entnehmen, die den heutigen Herausforderungen des Führungsalltags adäquat entsprechen. In Kapitel fünf wird es persönlich, zumindest dann, wenn näher durchleuchtet wird, welche Persönlichkeitsmerkmale wirksame Führung ausmachen und ob bzw. wie man als Führungskraft darauf Einfluss hat. Alle Kapitel sind mit Beispielen und Erfahrungswerten aus der Praxis angereichert, um den Transfer in den Unternehmens- und Führungsalltag von Banken und Sparkassen zu suchen. In Kapitel sechs soll am Beispiel der Rahmenbedingung „Digitalisierung“ ein Versuch unternommen werden, alle Teilaspekte der vorangegangenen Ausführungen praxistauglich in ein beispielhaftes Vorgehenskonzept zu überführen. Dieses kann, wie die in diesem Kapitel ergänzten Reflexionshilfen zur Führungspraxis, dabei unterstützen, die Wirksamkeit von Führung stärker in der Bank/Sparkasse zu festigen. Gehen wir es an …

Literatur Illig W (2015) Führung bei Veränderungsprozessen. Springer Fachmedien, Wiesbaden Philipp AF (2010) Die Kunst ganzheitlichen Führens: Ein Praxishandbuch für den Leader-­ Alltag. Literartur-VSM, Wien Sprenger RK (2008) Wer schlecht führt, fliegt. Manager Magazin. https://www.manager-magazin.de/magazin/artikel/a-567992.html. Zugegriffen am 10.11.2019

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Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- und Umfeldfaktoren des Unternehmens

Es wäre zu kurz gesprungen, Führungserfolg oder -misserfolg allein an der Person der Führungskraft festzumachen. Nähert man sich dem Thema Führung mit einem systemischen Blick, können die auf Führungskraft und Führungssystematik in einem Unternehmen einwirkenden Rahmenbedingungen nicht außer Acht gelassen werden. Die Geschichte zeigt, dass sich einzelne Führungsstile unter anderem am gesellschaftlichen und politischen Kontext oder, wie zu Zeiten der Industrialisierung, an einer rationalen, normativen und biologischen Perspektive orientiert haben. Der Psychologe Kurt Lewin (1890–1947) hat mit seiner Feldtheorie die Bedeutung der Situationswahrnehmung und -bewertung durch das Individuum hervorgehoben. Lewin geht von der Grundannahme aus, Verhalten sei zielgerichtet und eine Funktion des für das Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen „Lebensraumes“. Der Lebensraum umfasst sowohl die Person selbst als auch ihre Umgebung. Die Feldtheorie wird heute als allgemeine Rahmentheorie aufgefasst, mit deren Hilfe handlungs- und motivationspsychologische Fragestellungen ebenso bearbeitet werden können, wie etwa arbeits- und sozialpsychologische Fragestellungen (www.spektrum.de 2019). Auch eine eigene repräsentative Studie mit über 800 Führungskräften im Bankenbereich zeigt, dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem Führungsverhalten und der jeweiligen Situation und den Kontextfaktoren (Ressourcen, Strukturen, kulturellen Elementen einer Organisation) besteht (Burkhart 2012). Bei zahlreichen Coaching- und Supervisionsgesprächen (Reflexionsgespräche in Führungsteams oder mit einzelnen Führungskräften zur Verbesserung des © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Burkhart, Wirksame Führung in Banken und Sparkassen, Edition Bankmagazin, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29031-3_2

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

Führungsverhaltens) stoße ich in der Praxis regelmäßig auf Führungskräfte, die diesen Zusammenhang zum Thema machen. Immer wieder wird dabei deutlich, wie sehr aktuelle Umwelt- und Umfeldfaktoren, gerade in Zeiten des Umbruchs, die ­Führungssystematik des Hauses und damit das Führungsverhalten der Führungskräfte beeinflussen. Insofern macht es Sinn, auf die wesentlichen Rahmenbedingungen kurz einzugehen.

2.1

Wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen

Banken und Sparkassen haben bereits bessere Rahmenbedingungen erlebt als die aktuell vorherrschenden. So sehen sie sich (Stand: Dezember 2019 und anhaltend im Frühjahr 2020) unter anderem • dem möglichen Ende einer langen Wachstumsphase in Deutschland, • einer nachhaltend angespannten wirtschaftlichen Situation in einigen Ländern Europas, • den unklaren Folgen und möglichen Auswirkungen des Brexit, sowie • aktuellen globalen Handelskonflikten und deren Auswirkungen auf die Weltwirtschaft gegenüber (Wuermeling 2019). Hinzu kommen die wirtschaftlichen Auswirkungen unvorhersehbarer Ereignisse, wie z. B. die enormen Einbrüche der Aktienmärkte aufgrund des SARS-CoV-2 (Coronavirus) im Frühjahr 2020. Die aufsichtsrechtlichen Anforderungen bleiben weiterhin hoch, auch wenn die Forderungen nach ausreichendem Eigenkapital und einer adäquaten Risikooptimierung zurzeit weitestgehend erfüllt werden können. Die Kapitalanforderungen (BASEL IV, TRIM, MaRisk) wirken ebenso einschränkend auf die Geschäftspolitik, wie die Anforderungen aus dem Kunden- und Datenschutz (MIFID II, DSGVO, PSD II). Gleichzeitig nimmt der wirtschaftliche Druck weiter zu. Das Ergebnis im deutschen Privatkundengeschäft wird nach einem Rückgang um 62 % von 2010–2017, bei einem gleichzeitigen Anstieg der Cost-Income-Ratio in diesem Segment von 82 % auf 92 % in den nächsten fünf Jahren weiter zurück gehen. Allein zur Stabilisierung des bestehenden Ertragsniveaus wären effektive Kostensenkungen von 16 % erforderlich. Die Analysen einer zeb-Studie prognostizieren, dass z. B. Sparkassen bei einer anhaltenden Niedrigzinsphase und ohne kompensierende ­Maßnahmen im Jahr 2021 einen Nullgewinn ausweisen werden. Dies gefährdet die Rentabilität und Tragfähigkeit deren Geschäftsmodells (zeb 2018).

2.1 Wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen

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Erstaunlich ist, dass sich viele Entscheider∗innen heute von der wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahre überrascht zeigen. So machen sie gerne die Weltwirtschaftskrise 2008 und ihre Folgen als einen Hauptgrund für den negativen Trend aus, wie er sich heute abzeichnet. Dabei deuteten bereits Mitte der 90er-­ Jahre viele Anzeichen darauf hin, dass eine dringende Anpassung der Geschäftspolitik erforderlich sein würde, wollte man sein Institut zukunftsfähig aufstellen (siehe Background Information). Bereits 1994 weist die Priewasser-Prognose für den deutschen Bankenmarkt deutliche Rückgänge im Zinsüberschuss, eine Unwucht bei der Relation Zinsüberschuss zu Provisionsüberschuss mit eindeutigen Anzeichen für Sättigungsgrenzen im Provisionsüberschuss sowie anhaltend hohe Risikokosten mit Blick auf die kommenden 15 Jahre aus. Die Empfehlungen für die künftige Entwicklung der Geschäftsmodelle von Banken und Sparkassen waren: Kostensenkungsprogramme, vor allem im Personalbereich, eine intensive Nutzung der Standardisierungsmöglichkeiten, vor allem im Privatkundengeschäft, sowie das Eingehen strategischer Allianzen und strategischer Netzwerke (Priewasser 1994). Auch ohne die im Jahr 2008 beginnende Finanzkrise hätte somit dringend Handlungsnotwendigkeit bestanden, um der sich abzeichnenden Abschmelzung des Kundengeschäfts entgegenzuwirken. Die Finanzkrise und die bis heute anhaltenden Folgen daraus hatten daher eher die Funktion eines Brandbeschleunigers für einen sich bereits abzeichnenden Flächenbrand.

Strukturwandel und Wettbewerb Die Entwicklung des Wettbewerbs im deutschen Bankensektor wird entscheidend davon geprägt werden, wie gut es neuen Technologien und Wettbewerbern gelingt, im Finanzsystem Fuß zu fassen und wie schnell die traditionellen Akteure im Finanzsystem neue Technologien adaptieren können. (Buch 2018)

Bezeichnend für die Dynamik am Markt neuer Technologien ist, dass einige der im Überblickswerk „Innovative Geschäftsmodelle im Banking“ (TME Institut für Vertrieb und Transformationsmanagement e.V. 2014) aufgeführten FinTechs heute nicht mehr, oder so nicht mehr existieren. Neue FinTechs entstehen, bestehende werden aufgekauft oder verschwinden aufgrund des Wettbewerbsdrucks komplett. Zusätzlich zu FinTech-Unternehmen entwickeln die sogenannten BigTechs, wie Apple, Google, Amazon und Facebook auf ihren eigenen Technologieplattformen Produkte und Dienstleistungen, die im direkten Wettbewerb zu den traditionellen Anbietern im Finanzsystem stehen. Ungeachtet konkreter Anbieter gibt die Deutsche Bundesbank einen Überblick zu technologischen Finanzinnovationen und deren Hauptanwendungsgebieten. Abb. 2.1 greift diese auf.

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

Abb. 2.1  Technologische Finanzinnovationen und Hauptanwendungsgebiete. (Copyright: Deutsche Bundesbank, Frankfurt am Main, Deutschland)

Diese Finanzinnovationen können den Wettbewerb in Teilen des Finanzsystems erhöhen und damit die Margen senken (z. B. durch Crowdlending oder auch Robo Advisor). Die Auswirkungen dieser Innovationen auf die Struktur des Finanzsystems sind derzeit kaum final abschätzbar. Die technologischen Neuerungen leiten jedoch einen Strukturwandel im Finanzsektor ein. Nach wie vor verspüren Finanzinstitute einen hohen wirtschaftlichen und regulatorischen Druck, wenn es um die dauerhafte Sicherung oder gar zukunftsorientierte Weiterentwicklung ihres Geschäftsmodells geht. Aktuell ist beobachtbar, dass strategische Projekte konsequenter vorangetrieben werden. Dabei haben aufsichtsrechtliche Themen und Projekte nach wie vor Vorrang. Ebenso konsequent geht man, nicht zuletzt aufgrund der technologischen Möglichkeiten, die Standardisierung von Prozessen mit dem Ziel an, Effizienz und damit Kosteneinspareffekte zu erzielen. Auf der Ebene des Managements ist der Spannungsbogen zwischen der Gewährleistung einer MaRisk-konformen Risikotragfähigkeit, einer notwendigen Ertragsstabilisierung, einer zukunftsgerichteten Entwicklung des Hauses und einer gleichzeitigen Kostenoptimierung deutlich spürbar. Mit Blick darauf ist es zielführend, die einzelnen Teilbereiche der Bank/­ Sparkasse strategisch miteinander zu verzahnen, die Wechselwirkungen der ­unterschiedlichen strategischen Ziele auf der Ebene des Managements zu diskutieren und daraus resultierend, eine abgestimmte Planung und Umsetzung im Gesamthaus zu koordinieren. Aufsichtsrechtlich wird dem unter anderem über die schlüssige Dokumentation der Risiko- und Geschäftsstrategie Rechnung getragen.

2.1 Wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen

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In der Praxisumsetzung zeigen sich indes Unwuchten in der Steuerung des Gesamthauses. Insbesondere dann, wenn unterschiedliche Vorstellungen zu strategischen Zielrichtungen der Bank/Sparkasse unter Vorständen bestehen und diese nicht auf Augenhöhe ausdiskutiert und in eine gemeinsame Zielausrichtung überführt werden. Der regulatorische und wirtschaftliche Druck kommt zunehmend auf der Mitarbeitendenseite an. Sei es, wenn die umfangreichen Auflagen der Beratungsdokumentation im Kundengespräch umgesetzt werden müssen oder, wenn Kostensenkungsmaßnahmen über Einsparungen bei den Personalkapazitäten realisiert werden. Praxisbeispiel

Ein in der Praxis beobachtbarer nachteiliger Effekt entsteht durch das an Benchmarks orientierte Einsparen von Personalkapazitäten. Diese Benchmarkwerte orientieren sich an den besten Häusern der vergleichbaren Bankengruppe. Mit Blick auf diese Werte spart das Finanzinstitut in einigen Fällen in Vorausschau auf gerade erfolgte oder künftig geplante Prozessoptimierungen bereits Personalkapazitäten ein, obwohl die Effizienz in Form von Arbeitsentlastung durch verschlankte Prozesse auf der Arbeitsebene längst noch nicht ankommen ist. Dadurch entsteht ein Überforderungs- bzw. Überlastungsgefühl bei den Mit­ arbeiter∗innen. Sie müssen die gleiche Menge an Arbeit mit gleicher Qualität, aber weniger Personal umsetzen. Dauert dieser Zustand länger an, führt dies nicht selten zu Unzufriedenheit und mit zunehmender Häufigkeit zu krankheitsbedingten Ausfällen. Im Coaching suchen die betroffenen Fachführungskräfte bzw. Team­ leiter∗innen nach Lösungen für diese Situation. Ein „die Mitarbeiter∗innen bei der Stange halten“ greift in vielen Fällen längst nicht mehr. Der Ansatz, die Engpasssituation mit der darüber geordneten Führungskraft zu besprechen, scheitert oft daran, dass diese sich wiederum, oft in vorauseilendem Gehorsam, mit dieser Problematik beim Vorstand nicht positionieren will, um ihrer eigenen Reputation nicht zu schaden. Oder sie unternimmt einen Versuch, ihr zuständiger Ressortvorstand kann sich jedoch im Gesamtvorstand nicht durchsetzen. Auch die fehlende Abstimmung im Gesamtvorstand ist regelmäßig Thema im Coaching der zweiten Führungsebene, vor allem bei Führungskräften mit Vertriebsverantwortung. Dominiert zum Beispiel der Steuerungsvorstand den Gesamtvorstand, kann dies zu einer übersteigerten Regulatorik im Gesamthaus führen. Die Arbeitsanweisungen und Regelungen, die dann von den Mitarbeiter∗innen umzusetzen sind, gehen über ein gefordertes Normalmaß hinaus. Die Folge für

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

den Marktbereich: Es wird zusätzliche Bearbeitungszeit gebunden, die dann die eigentliche Zeit mit dem Kunden/der Kundin schmälert. In Folge dessen entsteht ein „Stellvertreterkrieg“ auf der Ebene direkt unterhalb des Vorstandes, der bis auf die operative Ebene der Mitarbeiter∗innen ausgetragen wird

Fazit aus diesem Abschnitt Regulatorische Anforderungen und der anhaltende wirtschaftliche Druck auf die Banken und Sparkassen dürfen den Blick auf die Menschen in den Häusern nicht in der Art verändern, dass diese als Kostenstellen oder Plankapazitäten gesehen werden. Eine chancenorientierte Kommunikation ist einer angstschürenden Auseinandersetzung vorzuziehen, wenn es darum geht, Mitarbeiter∗innen Mut für die anstehenden Veränderungen zu machen.

2.2

 emografische Entwicklung und Management D der Generationen

Demografische Entwicklung Es fehlt an allen Ecken und Enden an jungen Nachwuchskräften. Vor allem am Markt fehlen dringend erfahrene Berater∗innen. Aufgrund des Eintretens geburtenschwacher Jahrgänge in den Arbeitsmarkt wird dieser Mangel noch verschärft, wenn die Generation der Baby-Boomer in den Ruhestand eintritt. So wird es auch in den kommenden Jahren schwierig bleiben, geeignete Fachkräfte zu rekrutieren. Heute sind die Folgen der demografischen Entwicklung längst in der Bankenlandschaft angekommen. Die Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg benennt die Risiken für Banken und Sparkassen ohne ein Management der demografischen Entwicklung wie folgt: • • • • • •

Verlust von (implizitem) Wissen Mangel an erfahrenen Mitarbeiter∗innen und an qualifizierten Nachwuchskräften Anstieg altersbedingter Fehlzeiten Geringere Zufriedenheit wegen nicht-altersgerechter Führung Geringere Bindung wegen fehlender Entwicklungsmöglichkeiten Reduzierte Leistung bei Innovationsentwicklung, Produktivitätssteigerung und Veränderungsprozessen

2.2 Demografische Entwicklung und Management der Generationen

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Als Folge dieser Risiken ergibt sich eine reduzierte Wettbewerbsfähigkeit (Felfe 2012). Führungskräfte erleben in der Praxis gleich in zweierlei Hinsicht eine Herausforderung: Einerseits müssen sie sicherstellen, insbesondere das Erfahrungswissen der reifen Mitarbeiter∗innen im Haus zu halten und im Idealfall frühzeitig auf nachfolgende zu übertragen. Andererseits müssen die Kompetenzen der jüngeren Mitarbeiter∗innen schnell entwickelt und ihr Erfahrungswissen zügig aufgebaut werden. Beide Aspekte sind zeitaufwendig und erfordern eine große Nähe zu den jeweiligen Mitarbeiter∗innen. Durch die zunehmende Größe der Häuser und die damit verbundenen räumlichen Distanzen, die eine Führungskraft häufig überbrücken muss, um alle ihr zugeordneten Mitarbeiter∗innen an den unterschiedlichen Standorten zu führen, ist diese Nähe oft nicht ausreichend leistbar. Abb. 2.2 greift einzelne Stufen auf, in denen Menschen lernen bzw. Kompetenzen aufbauen. Je nach Kompetenzstufe sind unterschiedliche Aufgaben von Führung erforderlich. Gerade bei den Stufen der „unbewussten Inkompetenz“ und „bewussten Inkompetenz“, die immer dann auftreten, wenn Neuerungen erlernt, verinnerlicht und angewendet werden müssen, braucht es eine hohe Betreuungsintensität durch die Führungskraft. Sei es, um ihnen die Sorgen und Ängste vor anstehenden Herausforderungen zu nehmen, sie bei einem engagierten Schritt in Richtung Neuerung zu

Abb. 2.2  Lern- und Entwicklungsstufen von Menschen und Aufgaben für Führung

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

stützen oder, um sie mit gezielten Personalentwicklungsmaßnahmen am Arbeitsplatz zu begleiten (z. B. durch Training on the Job, Coaching). Bei den reifen Mitarbeiter∗innen gilt, das auf der Stufe der „bewussten Kompetenz“ vorhandene Wissen und die damit verbundenen Fähigkeiten zu vertiefen und in Routine zu überführen. Die Delegation von Aufgaben und die Anreicherung des Verantwortungsbereichs tragen hierzu bei. Das auf der Ebene der „unbewussten Kompetenz“ vorhandene implizite Wissen gilt es, auch für andere zu sichern (z. B. durch Mentoring, altersgemischte Lern- und Arbeitstandems). Der Führungskraft muss ein Spagat zwischen notwendiger Nähe und fehlender Zeit, bei teilweise zu hohen Führungsspannen und großen räumlichen Distanzen, gelingen. Schaut man sich die Häufigkeiten an, die Teamleiter∗innen mit dem Coaching ihrer Mitarbeiter∗innen tatsächlich verbringen, so zeigen sich hier große Defizite. Dass Mitarbeiter∗innen die erforderlichen Entwicklungsschritte daher nicht oder zu langsam machen, ist nicht verwunderlich. Praxisbeispiel

Speziell mit der Übertragung des Wissens von erfahrenen Mitarbeiter∗innen, die das Haus (aus Gründen des Ruhestands oder der Umorientierung) verlassen, tut sich das ein oder andere Finanzinstitut schwer. Häufig haben Schlüsselpersonen bereits die Bank/Sparkasse verlassen, wenn ihre Nachfolger∗innen die Funktion übernehmen. Selbst wenn eine gewisse Zeit des Übergangs möglich ist, weil z. B. der Nachfolger/die Nachfolgerin in der gleichen Abteilung arbeitet, gelingt selten eine systematische Übergabe des Wissens, vor allem des Anteils, der nicht in Arbeitsanweisungen und Stellenbeschreibungen nachgelesen werden kann: des impliziten Wissens oder auch Erfahrungswissens. Implizites Wissen stellt den Teil des Wissens eines Individuums dar, den es sich im Laufe seiner Entwicklung durch Erfahrungen angeeignet hat. Dieser Teil des Wissens ist dem Individuum häufig nicht bewusst präsent und lässt sich – wenn überhaupt – nur recht mühsam in Worte fassen. Dies hat zur Folge, dass sich implizites Wissen nicht ohne weiteres übertragen lässt. Um der Wissensabwanderung im Haus vorzubeugen, hat ein Finanzinstitut den systematischen Wissenstransfer mittels einer Wissensstafette eingeführt und umgesetzt. Dabei steht der direkte Austausch zwischen den Menschen im Vordergrund. Drei Zielfelder standen im Mittelpunkt: • Führungswechsel –– Reibungslose und effiziente Wechsel gestalten. –– Dialog zwischen Vorgänger∗in und Nachfolger∗in und die Integration der Mitarbeiter∗innen in den Prozess stehen im Vordergrund.

2.2 Demografische Entwicklung und Management der Generationen

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• Fachwechsel –– Expertenwissen sichern und auf Nachfolger∗innen bzw. Organisationseinheiten übertragen. –– Prozessorientiertes Vorgehen mit Methoden der Stafette. • Projekt-Debriefing –– Expert∗innenwissen sichern und auf Nachfolger∗innen bzw. Organisationseinheiten übertragen. –– Prozessorientiertes Vorgehen mit Methoden der Stafette. Die nachfolgenden Fragestellungen helfen, um sich einen Überblick zur Ausgangssituation zu verschaffen: • Wer wird in absehbarer Zeit das Team verlassen und wertvolles Wissen mitnehmen? • Welche anderen Personen besitzen erfolgskritisches Wissen für die Zukunft? Wer würde noch von diesem Wissen profitieren? • Wie viel Wissenstransfer und Informationsaustausch sind in meinem Team erforderlich? • Kommt der Wissensaustausch zwischen den Altersgruppen von selbst in Gang oder muss ich diesen bewusst fördern? Am Beispiel eines Führungswechsels soll im Folgenden die Vorgehensweise des Finanzinstituts in der Praxis vorgestellt werden. Die Wissensstafette für den Führungswechsel ist eine Methode zum Transfer des Erfahrungswissens von ausscheidenden oder wechselnden Führungskräften auf deren Nachfolger∗innen. In halbstrukturierten Interviews wird das personengebundene Wissen erhoben und in moderierten Übergabegesprächen zwischen Vorgänger∗in und Nachfolger∗in transferiert. Im Regelfall startet bei den Führungskräften, die bis zu ihrem Ausscheiden kürzer (bei Kündigung) oder gleich einem Jahr (anlässlich des bevorstehenden Ruhestandes) bei dem Finanzinstitut arbeiten, automatisch der Prozess der Wissensstafette. Der Prozess wird von einem/einer neutralen Experten/Expertin, dem/der internen Bildungspartner∗in, moderiert. Die Wissensstafette gibt Orientierung und Struktur bei der Übernahme einer neuen Position, indem systematisch Hintergrund- und Erfahrungswissen erarbeitet werden. Die strukturierte Vorgehensweise und die kompetente Begleitung durch den/die interne(n) Personal Business Partner*in (Bildungspartner*in) als Moderator∗in, tragen wesentlich zum schnellen und erfolgreichen Umstieg in die neue Führungsaufgabe bei. Zwei Aspekte stehen im Vordergrund: Zum einen der persönliche Dialog zwischen Vorgänger∗in und Nachfolger∗in, zum anderen die

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

gegenseitige Erwartungs- und Zielklärung zwischen der neuen Führungskraft und ihrem/ihrer Vorgesetzten. Bei bestimmten Teilabschnitten im Prozess können darüber hinaus die Mitarbeiter∗innen integriert werden. In den Übergabegesprächen werden die Aufgaben- und Wissensgebiete des Wissensgebers/der Wissensgeberin strukturiert und in einer Mindmap visualisiert. Der Wissensnehmer/die Wissensnehmerin kann dabei eige Wissensbedürfnisse einbringen, die dann unmittelbar ihren Niederschlag in der Mindmap finden. Diese Mindmap kann als eine Art Wissenslandkarte angesehen werden. Abb. 2.3 zeigt die Grundstruktur der Wissenslandkarte, die die Ausgangsbasis für das Gespräch bildet. Um ein Gefühl für die weitere Vorgehensweise zu vermitteln, werden nachfolgend exemplarisch einige Fragen zu drei Teilfeldern der Wissenslandkarte aufgeführt, die als Leitfragen für die Gesprächsführung dienen: Kulturwissen • Wie würden Sie einem Außenstehenden die Kultur des Hauses/des Bereichs/ der Abteilung beschreiben? • Woran lässt sich das festmachen (Beispiele)? • Wie würde der Vorstand/die unmittelbare Führungskraft dies beschreiben? • Was sind geheime Spielregeln, Do’s und Dont’s, die in keinem Schriftstück geregelt sind? Beziehungsnetzwerk • Welche Arbeitskreise, Erfahrungsrunden gibt es? Welchen Nutzen bringen sie für die eigene Arbeit? • Wo sollte man aus politischen, strategischen oder sonstigen Gründen unbedingt anwesend sein? • Welche kann man delegieren? • Welche Ansprechpartner∗innen/Expert∗innen aus den benachbarten Abteilungen gibt es? • Was können diese Expert∗innen zusätzlich an Wissen beitragen? • In welcher Weise beeinflussen die Schnittstellen die eigene Arbeit? • Gibt es Schnittstellenmeetings? • Gibt es Überschneidungen/Ergänzungen? • Welche Absprachen gibt es? • Gibt es konkurrierende Situationen und wie geht man damit um? • Welche externen Kontakte sind wichtig, welche sind weniger wichtig?

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Abb. 2.3  Grundstruktur Wissenslandkarte

2.2 Demografische Entwicklung und Management der Generationen

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

Erfahrungswissen • Was lässt sich aus Ihrer Erfahrung nicht einfach so „lernen“? • Welchen Anteil haben Erfahrungswissen und Fachwissen zueinander (in %)? • Was hat sich aus Ihrem Erfahrungsschatz bewährt, um dieses Know-how aufzubauen? • Wie ist es Ihnen gelungen, Fachwissen mit Erfahrungswissen zu verknüpfen? • Welche Ratschläge würden Sie aus der Brille des/der erfahrenen Hasens/ Häsin einem Neuling geben? • Welche Stolpersteine gab es und wie sind Sie damit umgegangen? • Was machen Sie, wenn Sie mal nicht mehr weiterwissen? Das Gespräch läuft oft in Interviewform ab. Dabei stehen unter anderem Arbeitsalltag, Ergebnisse und besondere Erfolge bzw. Misserfolge im Zentrum. Es wird ein Aktionsplan formuliert, mit der verantwortlichen Führungskraft abgestimmt und der Ablauf und Verantwortlichkeiten genau festlegt (welche Themen sollen wie/wann/durch wen vermittelt werden?). Damit es nicht nur beim impliziten Wissenstransfer bleibt, entstehen aus diesen Gesprächen oft ergänzende Dokumente, wie z. B. Prozessbeschreibungen, Checklisten, Handbücher oder sogar Audio-Aufzeichnungen. Kann ein Sechs-Augengespräch nicht realisiert werden, da der Nachfolger/die Nachfolgerin z. B. extern besetzt wird und erst nach Ausscheiden der Führungskraft die Stelle antritt, erfolgen die Gespräche zeitlich versetzt ­(Führungskraft mit Bildungspartner∗in, anschließend Bildungspartner∗in mit Nachfolger∗in). Management der Generationen Gerade in Zeiten großen Umbruchs nehmen die Spannungen in altersgemischten Teams tendenziell zu: Die Arbeitsgeschwindigkeiten sind teilweise unterschiedlich. Der dabei erforderliche Einsatz technologischer Tools erfolgt in unterschiedlichen Graden. Neuerungen werden jeweils unterschiedlich schnell auf die eigene Arbeit adaptiert und Einzelne können mit der Veränderungsgeschwindigkeit unterschiedlich schnell Schritt halten. Einzelnen Generationen lassen sich Tendenzen in ihren Neigungen, Werten, Einstellungen oder beruflichen Präferenzen zuschreiben. Die Tab. 2.1 gibt einen Überblick zu den Generationen und den sie prägenden Einflüssen.

2.2 Demografische Entwicklung und Management der Generationen

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Tab. 2.1  Zeitliche und sachliche Abgrenzung der Generationen (Krüger 2016)

Generation Babyboomer Generation X

Generation Y Generation Z

cc

Geburtszeitraum Prägende Einflüsse 1946–1964 Aufarbeitung von 2. Weltkrieg und Kriegsfolgen, Wirtschaftsaufschwung/ „Wirtschaftswunder“ 1965–1979 Individualisierung, Bildung von Subkulturen (Jugend/Studenten) und Protestbewegung, erste Ölkrise/ „Ölpreisschock“, beginnender demografischer Wandel (Antibabypille) 1980–1994 (bis Einzug des Computerzeitalters in fast 2000) sämtliche Lebensbereiche/Digitalisierung ab 1995 (ab Wirtschaftliche Unsicherheit/Finanzkrise, 2001) „Nine Eleven“ und internationale Folgen

Heutiges Alter 56–74 Jahre 41–55 Jahre

20–40 Jahre 19 Jahre und jünger

Doch wie wirkt sich dies auf ihre Präferenzen mit Blick auf die Arbeitswelt aus?

Tab. 2.2 liefert einige Antworten hierauf. Die Employer Branding Agentur Junges Herz (2019) verweist im Vergleich zu den Vorgängergenerationen auf die veränderten Werte der Generation Z. Dazu gehören: • Wunsch nach freier Entfaltung und dennoch unbefristete Verträge.

• Große Sorgen in Bezug auf die eigene Zukunft. • Immer weniger Identifikation mit bekannten Managern wie Martin Winterkorn, Tim Cook oder Bill Gates. • Wunsch nach Flexibilität und Wechselhaftigkeit in der Arbeitswelt. • Schlagworte wie Work-Life-Balance oder Familienfreundlichkeit finden immer weniger Gehör, da sie von vielen Arbeitgebern meist nur versprochen, jedoch nicht eingehalten werden. • Führungsverantwortung wird zunehmend unattraktiver. Freizeit spielt eine viel größerer Rolle. • Die Arbeitgebermarke gewinnt immer mehr an Bedeutung, da erlerntes Verhalten (Bewertungen im Internet, Tests, Vergleiche, Rankings) immer wichtiger wird. • Die Digitalisierung gehört zwingend in den Berufsalltag. Social Media Verbot in der Ausbildung? Ein No-Go! • Arbeitsmarktforscher stellen das Konzept der festen Arbeitsplatzzuweisung vermehrt in Frage. Home-Office und Office-Sharing sind keine Mode-Trends.

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

Tab. 2.2  Postulierte Generationspräferenzen hinsichtlich der Arbeitswerte und Mitarbeiterbindungsmaßnahmen (Hülsbeck und Scheren 2017) Arbeitswerte/ HRM-Methode Arbeitswerte

Babyboomer Generation X Entscheidungsgewalt über andere Menschen haben; Ein prestigeträchtiger, hoch angesehener Job; Ein gutes Gehalt und gute Arbeitsbedingungen; Beschäftigungssicherheit.

Generation Y Eine interessante und abwechslungsreiche Arbeit; Einen Beitrag für die Menschen und die Gesellschaft leisten; Mit Menschen arbeiten; Sozialer Kontakt mit den Kollegen. Flache Hierarchien; Mitarbeiterbindung Gehalt; Unternehmenskultur; Tantieme; Wertschätzung; Aktienoptionen; Lob; Altersvorsorge. Integre Arbeitsweise; Flache Hierarchien; Flexible Unternehmenskultur; Arbeitszeitmodelle. Individuelle Arbeitsaufgaben; Wertschätzung; Herausfordernde Lob. Arbeit.

Wenn es um das Miteinander von Menschen geht, ist das Denken in Schubladen grundsätzlich nicht förderlich. So ticken sicherlich nicht alle Vertreter∗innen einer bestimmten Generation gleich. Wer zum Beispiel zwischen 1946 und 1964 geboren ist und somit der Generation Babyboomer (oder auch Digital Immigrants) „zugeordnet“ wird, kann sehr wohl eine sehr hohe Affinität und Kompetenz im Umgang mit neuen Technologien vorweisen. Dies ist unter anderem durch Persönlichkeitsmerkmale bedingt, worauf in Kap. 5 noch näher eingegangen wird. Führungskräfte versuchen die Unterschiedlichkeiten im Team in der Praxis in Teamsitzungen durch für alle gleichsam geltende Anweisungen und Maßnahmen auszubalancieren. Was als erster Schritt hilfreich ist, kann seine komplette Wirkung oft nicht entfalten, da die Gründe für Leistungsunregelmäßigkeiten oder Unstimmigkeiten im Team individuell sehr unterschiedlich sein können. Ein weiteres Spannungsfeld beim Management unterschiedlicher Generationen liegt darin, dass junge Nachwuchskräfte mit zunehmender Ungeduld schneller von Aufstiegsmöglichkeiten und/oder Lohnsteigerungen profitieren wollen. Führungskräfte können jedoch aufgrund der restriktiven Gehalts- und Personalentwicklungspolitik einzelner Häuser nur unzureichend auf diese Forderungen eingehen. Und nicht immer ist dies auch opportun, da sonst die Spannbreite an personalpoli-

2.3 Kundenverhalten und Wertewelten

19

tischen Maßnahmen je Mitarbeiter∗in zu schnell ausgereizt wird. Die Gefahr steigt, dass die jungen Potenzialträger∗innen das Haus verlassen. Gehen sie wiederum auf diese Forderungen ein, verspüren ältere Mitarbeiter∗innen eine Ungerechtigkeit. Nach ihrem Empfinden verdienen die jüngeren Kolleg∗innen zu schnell zu viel bzw. erhalten früher Entwicklungsmöglichkeiten, als dies bei ihnen in der Vergangenheit der Fall war. Im Extremfall setzen Führungskräfte ausschließlich auf die jüngeren Mit­ arbeiter∗innen im Team, weil diese mit den anstehenden Veränderungen schneller Schritt halten können. Bei den reiferen Mitarbeiter∗innen entsteht dabei oft das Gefühl, auf dem Abstellgleis geparkt zu werden. Fazit aus diesem Abschnitt Die Erwartungen unterschiedlicher Generationen an die Arbeitswelt machen Führungskräfte zunehmend zu Vermittlern zwischen den unter Umständen divergierenden Werte- und Arbeitsvorstellungen ihrer Mitarbeiter∗innen. Unabhängig der Einordnung von Mitarbeiter∗innen in einzelne Generationengruppen ist es ratsam, einzeln auf die aktuelle Situation und die künftigen beruflichen Vorstellungen je Mitarbeiter∗in einzugehen. So wird Führung höchst individuell und holt den Einzelnen bei seinen Wahrnehmungen, Einstellungen und Wertvorstellungen ab. Hierzu bedarf es einer Nähe zum Mitarbeiter/zur Mitarbeiterin und einem angemessenen Pensum an zeitlichen Ressourcen.

2.3

Kundenverhalten und Wertewelten

Kundenkommunikation wird digitaler Exemplarisch für die zahlreichen Untersuchungen zum veränderten Kundenverhalten wird auf die Studie von 2b AHEAD eingegangen. Die Trendstudie untersucht mit dem Blick auf das Jahr 2025 die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Dialog zwischen Kund∗innen und Unternehmen und somit ein Kernelement in der Kunde-Bank-Beziehung (2b AHEAD ThinkTank 2018). Die folgenden acht zentralen Erkenntnisse … • Kund∗innen suchen eine maximale Individualisierung, bei eigenem minimalen Aufwand.

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

• Kund∗innen erwarten Individualität, Menschlichkeit, Einfachheit, Geschwindigkeit und Automatisierung. • Bots werden von Kund∗innen genutzt, um das Informationsmanagement zu erleichtern. • Aus der Interaktion mit dem Kunden/der Kundin generierte Daten bilden einen Schlüssel zu den Kundenbedürfnissen. • Kund∗innen geben ihre Daten nur gegen einen Mehrwert preis. • Unternehmen sind auf intelligente Systeme zur Generierung dieser Daten angewiesen. • Kund∗innen erwarten eine Intelligenz im Unternehmensdialog. • Der Kundendialog 2025 ist ein Dialog zwischen den Bots des Kunden/ der Kundin und denen des Unternehmens. … führen zu diesen sechs zentralen Strategieempfehlungen: • Kundensegmentierungen sind out. Die Einzigartigkeit des Einzelnen steht im Vordergrund. • Eine radikale Vereinfachung der Kundenkommunikation ist erforderlich. • Kund∗innen sollen situativ wählen können, über welchen Kanal sie kommunizieren wollen. • Der Einsatz von Personal und Infrastruktur muss einen individuellen und adaptiven Kundendialog ermöglichen. • Der Kundendialog ist der zentrale Treiber der gesamten Wertschöpfungskette. • Insourcing statt Outsourcing. Der Kundendialog wird zum Profitcenter des Unternehmens.

Zu ähnlichen Erkenntnissen kommt Bain (Bain & Company 2019), wenn auf die Schlussfolgerungen künftiger Kundenerfahrungen hingewiesen wird. Kund∗innen wollen demnach an eine einfache Technik herangeführt werden. Die Struktur der Bankstellen muss konsequent in Richtung Digitalisierung ausgerich­ tet werden. Die Spanne reicht hierbei von vollautomatisierten Service-Stellen bis hin zu beratungsintensiven (durch Technik unterstützten) Vertrauensgeschäften. Berater∗innen/Betreuer∗innen in Banken/Sparkassen agieren hierbei beziehungsorientiert als Digital-, aber auch Finanzcoaches. Dabei nutzen sie nach innen und außen alle virtuellen Kanäle, die möglich und sinnvoll sind.

2.3 Kundenverhalten und Wertewelten

21

Praxisbeispiel

Immer mehr digital affine Kund∗innen suchen digital affine Bankmitar­ beiter∗innen als gleichwertige Sparringspartner∗innen. Das bedeutet, dass die digitale Kompetenz bei den Mitarbeiter∗innen, vor allem am Markt, stark ausgeprägt sein muss. Will ein Haus alle Mitarbeiter∗innen in ihrer digitalen Kompetenz stärken und entwickeln, braucht dies Zeit und eine hohe Qualifizierungsund Trainings-/Coachingintensität (vgl. Lern- und Entwicklungsstufen in Abb. 2.2). Hinzu kommt, dass für die Umsetzung digitaler Dienstleistungen eine entsprechende Infrastruktur bereitgestellt werden muss. Nach wie vor sind zahlreiche Filialen nicht mit schnellen Internetzugängen ausgestattet. Auch fehlen z. B. Tablets, mittels derer dem Kunden/der Kundin flexibler das Internetangebot der Bank/Sparkasse nähergebracht werden kann. Dies führt wiederum dazu, dass erlerntes digitales Wissen der Mitarbeiter∗innen in der Praxis (Lernen am Arbeitsplatz) mangels nicht vorhandener Nutzungsmöglichkeiten der Technik nicht angewendet werden kann und wieder verloren geht. Führungskräfte sollten einerseits, wie bereits angesprochen, die notwendige Nähe für die Begleitung der Mitarbeiter∗innen bei der Entwicklung der digitalen Kompetenz gewährleisten. Andererseits liegt es in ihrer Verantwortlichkeit, die für die Arbeit der Mitarbeiter∗innen erforderlichen Ressourcen und Mittel sicherzustellen. In der Praxis ein häufiges Dilemma, denn gerade Führungskräfte auf der operativen Ebene verfügen oft nicht über die notwendigen Entscheidungskompetenzen bzw. den Einfluss, um entgegen vorhandener rigider Einsparprogramme Investitionen anzustoßen. Sie baden es am Ende aus, wenn diese strukturellen Aspekte auf der Managementebene bewusst oder unbewusst keine Berücksichtigung bei der Ausrichtung der Strategie finden. Wertewelten in Verbindung mit Arbeit 4.0 In seiner Studie „Wertewelten Arbeiten 4.0“ hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit Nextpractice 1.200 Personen danach befragt, wie sie Arbeit heute erleben und welche Arbeitswelt sie sich in der Zukunft, bezogen auf das Jahr 2030 wünschen (Nextpractice 2016). Die Studie identifiziert sieben klar unterscheidbare Wertewelten: 1 . Sorgenfrei von der Arbeit leben können (30 % der Befragten). 2. Den Wohlstand hart erarbeiten (15 %).

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

3 . Balance zwischen Arbeit und Leben finden (14 %). 4. Sinn außerhalb seiner Arbeit suchen (13 %). 5. Engagiert Höchstleistung erzielen (11 %). 6. Sich in der Arbeit selbst verwirklichen (10 %). 7. In einer starken Solidargemeinschaft arbeiten (9 %). Da die erste Wertewelt die stärkste Gruppe bildet, soll diese Einschätzung in Tab. 2.3 etwas näher beleuchtet werden. Sie zeigt, welche Themen die befragten Beschäftigten mit Blick auf das Jahr 2030 anstreben und ablehnen. Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich leicht ableiten, dass ausgerechnet die in der Tab. 2.3 aufgeführten ersten vier Aspekte der angestrebten und abgelehnTab. 2.3  Die Top 10 der angestrebten und abgelehnten Themen der Gruppe „Sorgenfrei von der Arbeit leben können“ und deren Ausprägung in Bezug auf die Entwicklung der Arbeit (Mehrfachnennungen möglich) Thema (angestrebt) Lebensgefühl ist geprägt von sozialer Sicherheit Personalschlüssel ermöglicht arbeiten ohne Druck Planungssicherheit über das ganze Erwerbsleben In familiärer Arbeitsatmosphäre aufgehoben sein Beschäftigungslage eröffnet Chancen für alle Entlohnung ist sozial gerecht und ausreichend Unternehmer sind fürsorglich und rücksichtsvoll Für soziale Gerechtigkeit und Umverteilung stehen Kann sich und die Familie von der Arbeit ernähren Harmonie und Zufriedenheit wichtiger als Karriere

Häufigkeit der Nennung 25,6 % 24,9 %

21,3 % 21,3 %

20,6 % 19,9 % 19,1 %

19,1 % 18,4 %

17,0 %

Thema (abgelehnt) Klima von Druck und sozialer Kälte bei der Arbeit Trotz sinkendem Einkommen immer mehr arbeiten Berufliche Unsicherheit erschwert Lebensplanung Arbeitsverdichtung längst am Limit angekommen. Der Arbeitsmarkt stellt viel zu hohe Anforderungen Eine egoistische und oberflächliche Gesellschaft Dem rücksichtslosen Konkurrenzkampf aussetzen Gesellschaftliche Spaltung in Arme und Reiche Umfassende Flexibilisierung erhöht Stressniveau Distanzierte Anonymität: Jeder ist ersetzbar

Häufigkeit der Nennung 28,5 % 24,9 %

24,5 % 23,1 %

22,4 % 19,5 % 17,3 %

17,3 % 17,0 %

16,2 %

2.4 Digitalisierung und Innovationen

23

ten Themen aktuell, und in den kommenden Jahren wahrscheinlich noch stärker, mit umgekehrter Wirkung zutreffen werden. Zahlreiche langjährige Mitarbeiter∗innen, die nicht auf unmittelbare Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Unternehmen oder Arbeitsweisen zurückgreifen können, vergleichen daher den aktuellen Zustand mit dem zurückliegender Jahre und kommen zu einem für sie negativen Ergebnis. Treffen ihre Wertevorstellungen auf eine sich wandelnde, abweichende Wertewelt der Bank/Sparkasse, entsteht Unzufriedenheit. Auf Dauer leidet die Identifikation und in letzter Konsequenz die Bindung. Für Führungskräfte ist es daher erforderlich, in Mitarbeitergesprächen oder Teamrunden mit den Wertvorstellungen der Mitarbeiter∗innen in Resonanz zu gehen, um diese mit denen des Unternehmens abzugleichen. Weichen beide voneinander ab, beginnt ein Aushandlungsprozess. An dessen Ende lässt sich die/der Mitarbeiter∗in (unter Umständen im Zuge von Kompromissen) im Idealfall auf die Wertewelt des Hauses ein. Entsteht keine Einigung kann es für beide Parteien s­ innvoll sein, wenn die/der Mitarbeiter∗in das Haus verlässt. Nichts zu tun, ist die schlechteste aller Alternativen. Denn stellt sich die Führungskraft dieser Diskussion nicht, kann dies bei der/ dem Mitarbeiter∗in eine „Dienst nach Vorschrift-­Haltung“ hervorrufen. Fazit aus diesem Abschnitt Es ist unabdingbar, sich als Führungskraft gemeinsam mit den Mitarbeiter∗innen mit den veränderten Kundenanforderungen auseinanderzusetzen. In Dienstleistungsunternehmen ist es zwingend erforderlich, das tägliche Geschäft vom Kunden her zu denken. Wer auf Augenhöhe mit Kund∗innen partnerschaftlich agieren möchte, muss seine Kompetenzen entsprechend darauf ausrichten. Bestehen dabei bei Mitarbeiter∗innen unterschiedliche Wertvorstellungen, so ist Führung gut darin beraten, sich mit diesen auseinanderzusetzen, um sie mit denen des Unternehmens in Einklang zu bringen und gangbare Wege im Sinne des Unternehmens möglich zu machen.

2.4

Digitalisierung und Innovationen

Diese beiden Themen dominieren die aktuelle Geschäftspolitik von Banken und Sparkassen neben der Regulatorik wohl am stärksten. So stand auch der Handelsblatt-­Banken-Gipfel in den Jahren 2018/2019 unter dem Fokus der Digitalen Transformation. Kurz zusammengefasst die Trends und ihre Auswirkungen auf Banken, die im Fokus der Big 4 der Managementberatung (Deloitte, EY, KPMG und PwC) bzw.

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

der Big 5 der Strategieberatung (Bain, BCG, McKinsey, Roland Berger und Strategy&) stehen: • Artificial Intelligence: Hierdurch gewinnen Finanzinstitute neue Erkenntnisse aus vorhandenen Daten, verbessern die Kundenerfahrung (Customer Experience) und automatisieren Geschäftsprozesse, die bis dato nur mit manuellen Eingriffen funktionierten (Auge-Dickhut und Zerndt 2018). • Internet of Everything: Finanzinstitute können die Möglichkeiten flexibler Finanzierungsmodelle besser nutzen. So z. B. bei Borrowing-Base-­Finanzierungen, bei denen dem Kreditnehmer∗in im Rahmen der Finanzierung seines Umlaufvermögens revolvierend liquide Mittel zur Verfügung gestellt werden (Jünemann 2018). • Virtual und Augmented Reality: Finanzinstitute können es Kund∗innen durch computergestützte 3D-Umgebungen, z. B. im Bereich der Immobilienfinanzierung ermöglichen, virtuelle Erlebnisse von Immobilien zu schaffen und eine direkte Schnittstelle zum Berater/zur Beraterin zu generieren (Galer 2017). • Robotic Process Automatation: Im Bankgeschäft kann eine Anwendung dieser Technologie zu enormen Effizienzsteigerungen bei den etablierten Prozessen führen (Safar 2019). • Digital Payments: Finanzinstitute können Bezahlsysteme für Kund∗innen bequemer und einfacher gestalten (Walter 2018). • Cyber Security: Finanzinstituten gelingt es, Cyberangriffe mit entsprechenden Softwarelösungen abzuwehren (IBM 2019). • Cloud Computing: Finanzinstitute lagern Leistungen wie Zahlungsdienstleistungen und Mobile Banking an Cloud-Anbieter aus (PwC 2019). Die Folgen daraus (Candylabs 2018): • • • •

Neue Technologietrends wachsen exponentiell, Plattformen drängen sich zwischen Hersteller und Kund∗innen, disruptive Angreifer zerstören Märkte immer schneller und innovative Geschäftsmodelle verdrängen alte Wertschöpfungsmethoden.

Eine Studie mehrerer renommierter Universitäten kommt mit Blick auf die sich verändernde Rolle der Bankmitarbeitenden zum Schluss: „The banking client 2025 is empowered by digital bots and digitally assisted client advisors.“ (Gasser et al. 2017).

2.4 Digitalisierung und Innovationen

25

Es scheint somit bereits in der nahen Zukunft keine Funktion oder Stelle in Banken und Sparkassen mehr zu geben, die nicht maßgeblich vom Einfluss der Digitalisierung betroffen sind. Fragen

Was aber wiederum löst diese Entwicklung bei den Mitarbeiter∗innen, insbesondere von Finanzinstituten mit traditionellen Geschäftsmodellen, aus? Abb. 2.4 stellt die Betroffenheit von Mitarbeiter∗innen bei betrieblichen Veränderungen und mögliche Veränderungsauslöser gegenüber. Aus der Perspektive der einzelnen Mitarbeitenden ergeben sich zwei Blickrichtungen auf anstehende Veränderungen (siehe Betroffenheits-Matrix in Abb. 2.4): • Wie umfangreich ist die Veränderung und wie sehr beeinflusst diese das Denken und Verhalten? • In welchem Umfang wird die Veränderung als persönliche Bedrohung (Arbeitsplatz, Stellung, Reputation, etc.) empfunden? Sind das Ausmaß der Veränderungen und die wahrgenommene, persönliche Be-

Abb. 2.4  Change-Auslöser und Matrix der Betroffenheit

drohung hoch ausgeprägt, reagieren Menschen mit Angst und Reaktanz. In Folge darauf verschließen sie sich der Veränderung und/oder versuchen den ursprünglichen

26

2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

Grad der persönlichen Freiheit, den sie vor der Veränderung für sich wahrgenommen haben, wiederherzustellen. Ordnet man nun mögliche anstehende Veränderungen in diese Betroffenheits-­ Matrix ein, so findet sich ausgerechnet die Digitale Transformation im kritischsten Sektor (Kreutzer et al. 2017). Praxisbeispiel

In einem Change-Workshop mit Servicekräften einer lokalen Bank sollten die Mitarbeiter∗innen bildhaft ihre Vorstellungen zur Filiale der Zukunft festhalten. Das Ergebnis zeigte: • • • •

Weniger Filialen als aktuell vorhanden, kaum noch Mitarbeiter∗innen im Servicebereich, einen hohen Grad an Automatisierung, eine stärkere Konzentration auf Beratung.

Die Beschäftigten schätzten somit die mögliche Entwicklung ihres Aufgabenbereichs richtig ein. Damit verbunden ging, vor allem bei den älteren Mitarbeiter∗innen, eine große Verunsicherung und Sorge um die eigene Entwicklung bzw. den künftigen Einsatzbereich einher. Die Kernfragen, die sie sich stellten, waren: • Werde ich in naher Zukunft die Filiale wechseln müssen?

• Wird es meinen Aufgabenbereich überhaupt noch geben? • Muss ich künftig, obwohl ich mich all die Jahre dagegen entschieden

habe, in der Beratung aktiv sein? • Wie schnell muss ich mich an die neue Situation gewöhnen? • Schaffe ich es überhaupt, in meinem Alter den Anforderungen noch ge-

recht zu werden? In den Vorgesprächen zu den Workshops vermutete die Vertriebsleitung des Hauses eine grundsätzliche starke Abwehrhaltung gegenüber den anstehenden Neuerungen. Stattdessen zeigten sich eher Verunsicherung und Angst. Der Vorstand der Bank hatte einen klaren Ausblick auf künftige Entwicklungen vermittelt. Die direkten Führungskräfte hatten es jedoch bis zu diesem Zeitpunkt versäumt, die betroffenen Mitarbeiter∗innen abzuholen.

2.5 Folgen für Banken und Sparkassen

27

Fazit aus diesem Abschnitt Führung soll Orientierung schaffen und Sinn stiften, statt Angst und Perspektivlosigkeit einen Nährboden zu geben. Worthülsen und distanziertes Führungsverhalten lösen eher letzteres aus. Eine ehrliche und faire Auseinandersetzung mit den Zukunftsthemen der Bank/Sparkasse schafft Klarheit und mehr Verbindlichkeit im Zuge der zu gehenden Entwicklungsschritte bei den Mitarbeiter∗innen.

2.5 cc

Folgen für Banken und Sparkassen Welche Auswirkungen haben diese Rahmenbedingungen für Banken und Sparkassen?

Oliver Wyman (2018) entwickelt zwei Szenarien:

Abb. 2.5  Evolutionsszenario: Nachhaltige und prekäre Positionierung von lokalen und überregionalen Banken als Orchestratoren bzw. Zulieferer (Oliver Wyman 2018)

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

Abb. 2.6  Disruptionsszenario: Nachhaltige und prekäre Positionierung von Banken als Orchestratoren bzw. Zulieferer (Oliver Wyman 2018)

• Ein Evolutionsszenario (vgl. Abb. 2.5), in dem die Stabilität des deutschen Bankenmarktes den Marktteilnehmer∗innen eine schrittweise Anpassung an die Veränderungen erlaubt. • Ein Disruptionsszenario (vgl. Abb. 2.6), bei dem insbesondere umfassende Veränderungen durch neue Technologien zu drastischen Folgen am Arbeitsplatz und bei den Arbeitsprozessen führen. Auch wenn Banken und Sparkassen aktuell vereinzelt das Regionalprinzip aufgeben, die Mehrheit agiert in einem lokalen Markt. Um sich dort im Zuge einer schrittweisen Anpassung (Evolutionsszenario) bis zum Jahr 2030 als „Platzhirsche“ zu behaupten, müssen sie wie folgt auftreten: • Als auf die lokale Wirtschaft und deren Bedürfnisse angepasster Allfinanzanbieter, • mit einer intelligenten Nutzung von überregionalen (durch technologische Plattformen gestützten) Angeboten, • mit einer starken Eigenmarke, • der Verbindung zu anderen lokalen Services und

2.5 Folgen für Banken und Sparkassen

29

• einem starken Engagement in der lokalen Community, vor allem in Ballungsräumen und wirtschaftlich starken Regionen. Anders stellt sich dies bei einer disruptiven Entwicklung dar, die einschneidendere Veränderungen nach sich zieht. Führen Finanzinstitute ihr Geschäftsmodell als traditioneller Vollanbieter mit Abdeckung der gesamten Wertschöpfungskette fort, so wird in diesem Szenario ihr Modell als prekär und damit nicht überlebensfähig angesehen. Für Banken und Sparkassen zeichnet sich daher vornehmlich eine Rolle als Lotse im Financial Services Dschungel ab. Als Orchestratoren und Zulieferer fungieren sie hierbei • als Bindeglied zwischen Technologie und Mensch, • mit der Aufgabe, Betreuungs-, Erklärungs- und Maklertätigkeiten umzusetzen und • als Filterfunktion zwischen zahlreichen Angeboten und Kund∗innen. Ungeachtet eines möglichen evolutionären oder disruptiven Szenarios sieht Oliver Wyman den deutschen Bankenmarkt reduziert. Unter Einbindung der Szenarien ergibt sich eine Verringerung von heute 1.600 Instituten auf ca. 300 bis 150 im Jahr 2030. Ob es größeren Unternehmen, auch im Zuge der vorgenannt prognostizierten anstehenden Konsolidierungswelle, besser gelingt, Führung systematisch zu e­ tablieren? Das folgende Kapitel versucht Antworten hierauf, als auch zu weiteren Fragen rund um strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen zu geben. Reflexionsfragen zum Kapitel

• Handelt und kommuniziert der Gesamtvorstand der Bank/Sparkasse abgestimmt und geschlossen? • Werden Stellvertreterkriege auf den Ebenen unterhalb des Vorstandes vermieden, indem strategische Ziel-Inkongruenzen auf der Ebene des Managements frühzeitig und offen ausdiskutiert und so weit wie möglich ausgeräumt werden? • Wird das Geschäftsmodell mutig und unter Einbindung des vorhandenen Know-­how des Hauses weiterentwickelt?

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2  Aktuelle und künftige Herausforderungen für Führung aus den Umwelt- …

• Betrachtet man die Personalkapazitäten frühzeitig und ehrlich unter dem Fokus der in den kommenden Jahren ausscheidenden Generation der Babyboomer? Wie wird der Wissenstransfer von Schlüsselpersonen sichergestellt? • Wie geht Führung mit den Werten, Einstellungen und Job-Präferenzen der unterschiedlichen Generationen im Team um? • Wie geht die Bank/Sparkasse bzw. Führung mit den unterschiedlichen Erwartungen der Mitarbeiter∗innen an die Arbeitswelt 4.0 um? • Welche personalpolitischen Instrumente sind den Führungskräften an die Hand gegeben, um junge Mitarbeiter∗innen zu binden und die Motivation reifer Mitarbeiter∗innen aufrecht zu erhalten? • Lebt Führung die Umsetzung digitaler Kompetenzen vor? Stellen Führungskräfte sicher, dass Mitarbeiter∗innen digitale Kompetenzen an den Kundenkontaktpunkten, dort wo erforderlich, auf Augenhöhe umsetzen? • Wie können Mitarbeiter∗innen Innovationen und der Einsatz von neuen Technologien chancen- und nutzenorientiert vermittelt werden? • Wie reagieren Führungskräfte auf die Ängste und Fragen zögerlicher Mitarbeiter∗innen? Gibt man ihnen ausreichend Zeit und Möglichkeiten für die geforderten Entwicklungsschritte?

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Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für Führung

Aus dem vorangegangenen Kapitel geht hervor, dass vor allem Digitalisierung und Innovationen als Haupttreiber der Veränderung von Finanzinstituten fungieren. Banken müssen ihr Geschäftsmodell neu denken. Erneuerungen von Produkten, Prozessen oder eine Veränderung der Marktbearbeitung gehen mit Innovationen einher. Innovationen in der Finanzbranche gingen stets technologische Innovationen in anderen Branchen voraus. Eine Studie des World Economic Forum (2016) verdeutlicht, dass alle wesentlichen Innovationen in der Finanzdienstleistung erst durch die Einführung neuer technologischer Möglichkeiten außerhalb des Finanzsektors ermöglicht wurden: • 1960er-Jahre: Halbleiter-Mikroprozessoren ermöglichten die Speicherung digitaler Daten. Kreditkarten konnten ausgegeben werden. • 1970er-Jahre: Durch den Einsatz von Großrechnern wurde die Stapelverarbeitung über Nacht möglich. Nachrichtendienste wie der SWIFT-Nachrichtenstandard wurden möglich (SWIFT = Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication). • 1980er-Jahre: Terminals und PCs leiteten die Automatisierung der Finanzwelt ein und erleichterten die offline Abwicklung von Bankgeschäften. Banken und Sparkassen stellten Geldausgabeautomaten bereit. • 1990er-Jahre: Das Internet erleichterte den internationalen Datentransfer und ermöglichte die Digitalisierung von Finanzdienstleistungen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Burkhart, Wirksame Führung in Banken und Sparkassen, Edition Bankmagazin, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29031-3_3

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

• 2000er-Jahre: Smart Devices schafften eine neue Möglichkeit der Interaktion zwischen Bank-/Sparkassenkunden und den zentralen Datenquellen der Bank/ Sparkasse. • 2010er-Jahre: Mobile-Angebote schafften die Möglichkeit, einen reibungslosen und bequemen Zahlungsverkehr per Mobile-Payment einzuführen. Auch künftig werden technologische Entwicklungen wie Biometrik, Cloud Computing, Cognitive Computing, Distributed-Ledger-Technology (DLT), wie z. B. Blockchain, Maschinen-Lernen und Predictive Analytics, Quantencomputer sowie Robotics das Bankengeschäft verändern. cc

Was also tun? Abwarten und die sogenannten early adopter ihre Erfahrungen machen lassen, um dann selbst auf den sicherfahrenden Zug aufzuspringen? Aber wann ist der richtige Zeitpunkt zum Handeln?

Die Zeit drängt. Treffen deutsche Finanzinstitute keine Gegenmaßnahmen kostet sie die anhaltende Niedrigzinsphase 2,0 Prozentpunkte Eigenkapitalrendite, die Digitalisierung ebenfalls 2,0 Prozentpunkte und die Regulierung weitere 1,7 Prozentpunkte (McKinsey 2016). 75  % der Banken rutschen damit bis 2021  in die Verlustzone. Die Folge: Handeln unter Druck und das in volatilen (volatility), unsicheren (uncertainty), komplexen (complexity) und ambiguen (ambiguity) Zeiten. Willkommen in der VUCA-Welt. Was bedeutet dies für die Aufgaben, Kompetenzen und Weiterentwicklung der Führungskräfte, vor allem des Topmanagements von Banken und Sparkassen? Die folgenden Ausführungen sollen Antworten im Kontext der hierfür relevanten strategischen, kulturellen und organisatorischen Rahmenbedingungen liefern.

3.1

Geschäftsmodellentwicklung

Trotz aller Studien und Prognosen kann niemand mit absoluter Sicherheit vorhersagen, wie sich das Geschäftsmodell einer Bank oder Sparkasse in den kommenden Jahren verändern wird. Für Management und Führung bringt dies eine völlig neue Herausforderung mit sich, wie Professor Peter Kruse, Psychologe und europäischer Vordenker sowie Wegbereiter des Human Resource Managements, in einem Interview mit der Chefredakteurin von managerSeminare Nicole Bußmann (2014a) treffend beschreibt:

3.1 Geschäftsmodellentwicklung

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Führungskräfte geraten zunehmend in eine Komplexitätsfalle. Sie stehen vor dem Problem, dass sie auf der einen Seite die Menge der sie betreffenden Informationen kaum noch hinreichend erfassen können, während andererseits die Auswirkungen ihres eigenen Handelns ebenso wie das Handeln eines jeden anderen Beteiligten durch die Vernetzung immer unüberschaubarer werden. Wenn die Schere zwischen der Komplexität auf der einen Seite und dem immer geringeren Planungshorizont auf der anderen Seite zu weit auseinandergeht, gerät Führung unter Druck. Bislang definiert sich Führung ganz zentral darüber, strategische Vorhersagen zu machen und zu sagen, wo’s lang geht, was getan werden muss. Heute sind solche Ansagen aufgrund der Komplexität, die von den Systemen erzeugt wird, nicht mehr so ohne weiteres möglich. Führungskräfte können immer weniger der Rolle des Vordenkers gerecht werden – sie geraten in ein Legitimationsproblem.

Kruse (2010) ist es auch, der das Ausprobieren neuer Möglichkeiten kollektiver Beteiligung als unverzichtbaren Erfolgsfaktor jeder Organisationsentwicklung sieht. Damit einher geht ein enormer, unaufhaltsamer kultureller Wandel. cc

Was aber bedeutet dies für die Entscheider*innen in Banken und Sparkassen?

Eine gute Ausgangslage zur Beantwortung dieser Frage schafft das AGIL-­ Schema von Parsons (1951). Der Soziologe entwickelte bereits früh ein theoretisches Modell, mit dem die Grundfunktionen beschrieben werden, die ein jedes System, sei es eine Tankstelle, eine Bank oder ein soziales Großsystem, zur Selbsterhaltung erfüllen muss. Die folgenden vier Grundprinzipien spiegeln die Balance zwischen Verharren und Verändern wider: 1. Adaption: Anpassung des Systems an seine Umwelt – Systeme müssen sich an ihre äußere Umwelt anpassen (z. B. an Gesetze, Öffentlichkeit) und mit ihrer Umgebung vernetzen (z. B. mit dem politischen System und Wirtschaftssystem). 2. Goal attainment: Festlegung von Zielen und Durchführung des zielverwirklichenden Handelns – Systeme müssen die instrumentellen Probleme der Zielerreichung bewältigen und diese evaluieren (Erfolgskontrolle). 3. Integration: Sicherung des Zusammenhaltes – Systeme müssen das Bestehen und den Zusammenhalt ihrer einzelnen Elemente gewährleisten (Integration aller Teilsysteme). 4. Latent pattern maintenance: Absicherung der Struktur des Systems – Aufrechterhaltung jener Grundprinzipien des Systems, die das System produzierte und wieder reproduziert (z. B. Wissensbestände, Sinndeutungen, Wertevorstellungen und Normen).

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

Die Organisationspsychologen Scholl et al. (2014) adaptierten Parsons Grundüberlegungen in den deutsch-sprachigen Raum. Darin ist Parsons’ Adaption mit Anpassung, Goal Attainment mit Richtung, Integration mit Einbindung sowie Latency mit Vertrauen überführt. Praxisbeispiel

Übersetzt man das AGIL-Schema in die Führungspraxis einer Bank/Sparkasse, so lassen sich die folgenden Aspekte ableiten: • Adaption: Gesundes Gleichgewicht zwischen einer regelmäßigen Überprüfung des strategischen Ein-/Zweijahres-Rahmens und einer realistischen Einbindung zukunftsrelevanter, langfristiger Trends. • Goal attainment: Prüfung der Auswirkungen auf das Führungsverhalten in der Bank/Sparkasse und gegebenenfalls Anpassung der quantitativen und qualitativen Führungsziele. Einbindung eines Führungs-Feedbacks, um die Wirksamkeit der gesetzten Ziele zu überprüfen. • Integration: Ausrichtung aller Führungsinstrumente der Bank/Sparkasse auf die neuen Rahmenbedingungen und Ziele (z. B. Bonifizierungssysteme, Zielsystematiken, Anforderungsprofile der Führungskräfte etc.). • Latent pattern maintenance: Regelmäßige Supervision bzw. Gesprächszirkel zu relevanten Führungsthemen sowie Sicherstellung des Wissenstransfers ausscheidender Führungskräfte. Kunert und Buber (2017) gehen über den Gedanken der Selbsterhaltung hinaus. Sie zeigen in ihren Untersuchungen, welche Faktoren auf den Ebenen Mitarbeitermotivation, Teamklima, Führung und Kultur auf den Organisationserfolg einzahlen (vgl. Abb. 3.1). Ihre Erkenntnisse: • Der Einfluss von Unternehmenskultur auf den Organisationserfolg ist ausnahmslos nachweisbar. • Der situationsspezifische Einsatz verschiedener Führungsstile ist mehrfach als erfolgversprechend nachgewiesen worden. • Organisationskultur und Führung tragen zu Zufriedenheit und Commitment bei. cc

Was bedeutet dies für Finanzinstitute und ihre Führungskräfte?

Zum einen lässt sich aus den vorgenannten Ausführungen ableiten, dass es für die Organisation bedeutend ist, gleichsam stabilitätsfördernde als auch flexibilitätsunterstützende Merkmale abzubilden. Zum anderen muss es den Führungskräf-

3.1 Geschäftsmodellentwicklung

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Abb. 3.1  Facetten der Organisationskultur (Kunert und Buber 2019)

ten gelingen, die Organisation dadurch in Balance zu halten, indem sie auf unterschiedliche situationale Gegebenheiten stets adäquat reagieren. Oder wie Kruse es formuliert (Bußmann 2014b): Alle Systeme versuchen stabile Zustände zu erreichen. Alle Systeme bilden Ordnungsmuster. Um von einer stabilen Ordnung zur anderen zu kommen, muss man die bestehende Stabilität stören. (…) Lebensfähigkeit heißt, eine Fähigkeit zum Übergang zwischen Ordnungsmustern, die dann aber bitteschön wieder stabil sind. Sonst bin ich nicht handlungsfähig. (…) Wenn man einmal versteht, was gemeint ist mit Funktionsoptimierung und Prozessmusterwechsel, wenn man strategisch mit diesem Unterschied umgeht, dann kann man als Management die Verunsicherung ertragen, die damit einhergeht, weil man weiß, dass man dort ein höheres Ziel anpeilt.

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für … Ich würde mir wünschen, dass Manager aus der Idee des Steuerns und Regelns manchmal aussteigen, um sich gemeinschaftlich mit ihren Mitarbeitern die Phase des Übergangs zu neuen Mustern zu erlauben. Und dann müssen sie wissen, dass sie dafür einen Preis bezahlen, dass sie für einen Moment nicht mehr so leistungsfähig sind wie im alten Muster. Aber sie investieren diesen Preis, um das nächsthöhere Muster erreichen zu können. Und das nennt man dann unter anderem nicht Management, sondern Unternehmertum.

Praxisbeispiel

In Workshops mit Vorständen zu Transformations- und Changeprozessen in Banken kommt die Diskussion regelmäßig an einen erfolgskritischen Punkt. An diesem wird das Spannungsfeld zwischen mutigen, strategischen Entscheidungen zu Gunsten der Innovationskraft und Modernisierung der Bank und einer schwierigen Vorhersagbarkeit der Erfolgswahrscheinlichkeit dieser Entscheidungen thematisiert. Gerade kleinere Finanzhäuser verfügen über geringere Investitionsmöglichkeiten, um die teils kapitalintensiven technologischen Neuerungen einführen zu können. Hinzu kommt, dass ihnen die Kapazitäten für die Umsetzung dieser zeit- und arbeitsintensiven Projekte im eigenen Haus nicht im erforderlichen Maße zur Verfügung stehen. Ziehen sie Mitarbeiter*innen aus der Linie in die Projektarbeit, fehlen ihnen diese in der Marktbearbeitung oder der operativen internen Expertenarbeit. Infolge dessen setzen sie auf die Dynamik und Entwicklungskraft der Finanzverbünde, denen sie angehören. Agieren diese zu langsam oder an den Bedürfnissen des Marktes vorbei, gefährden sie die Zukunftsfähigkeit ihrer Mitgliedsinstitute. Und umgekehrt: Auch wenn diese Entwicklungen rechtzeitig und in der erforderlichen Qualität bereitstehen, scheitert die Umsetzung unter Umständen an der Anschlussfähigkeit zum aktuellen strategischen Reifegrad des jeweiligen Instituts. Im Workshop führt dies häufig zu der Aussage: „Was sollen wir denn machen. Wir sind auf das Entwicklungstempo der Rechenzentrale angewiesen.“ Dies lässt sich zwar nicht gänzlich von der Hand weisen, kommt aber – provokant formuliert – einem strategischen Offenbarungseid nahe. Die Beispiele der „Zukunftsbank V8“ der Volksbank Hohenlimburg eG (2019) oder „VB-NEXT“ der Volksbank Ruhr-Mitte eG (2019) zeigen, dass innovative Ansätze sowohl jenseits als auch innerhalb von Verbundlösungen umgesetzt werden können. Im Rahmen eines modernen, innovativen Filialkonzeptes kommen dort unter anderem vielfältige Kommunikationswege, flexible und persönliche Berater*innen und kundenorientierte Serviceleistungen in innovativen Räumlichkeiten mit Lounge-Charakter zum Einsatz.

3.1 Geschäftsmodellentwicklung

cc

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Wie aber Veränderungen aus Sicht des Managements angehen?

Nach Capgemini Invent (2017a) gelingen Veränderungsprozesse bzw. die Transformation in Richtung Digitalisierung des Geschäftsmodells in strategischer und kultureller Hinsicht nur in iterativen Sprints. Was dies bedeutet, verdeutlicht Abb. 3.2. Neben der Verzahnung von Strategie und Kultur, kommt der Verankerung der neuen Themen in der Organisation, bis hin zum „Einüben“ und Verinnerlichen neuer Verhaltensweisen in den jeweiligen operativen Teams, eine zentrale Bedeutung zu. Die hier aufgeführten Grundschritte ähneln letztendlich den Stufen in Parsons AGIL-Schema. Dies zeigt, dass die wesentlichen Grundzüge einer Geschäftsmodellentwicklung seit jeher stabilen Grundmustern folgen. Herausforderung Change Wie schwerfällig Veränderungsentscheidungen fallen und wie träge die damit verbundenen Umsetzungsprozesse verlaufen, zeigt der Organisationsberater Heinz Peter Wallner (2016), wenn er von „verwöhnten Organisationen“ spricht. Demnach wurden Mitarbeiter*innen und Führungskräften in vielen Unternehmen, unter der Grundannahme einer stabilen Zukunftsentwicklung, zahlreiche Privilegien, Sonderleistungen und Extras zuerkannt. Solche Unternehmen bezeichnet er als „aus der Gewohnheit verwöhnte Organisationen“. Dies betrifft alle Organisationen, die sich bisher dem Wandel entziehen konnten, weil der Druck nicht spürbar war und ein Erfolgsjahr das nächste jagte. Die Folge: • Es dominiert eine Zone der Entlastung, in der jede Form von „Müssen“ eine enorme Überzeugungskraft benötigt. • Zumutbare Leistungen und Aufgaben müssen ständig neu verhandelt werden.

Abb. 3.2  Culture Transformation Journey

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

• Müssen Privilegien z. B. auf Basis gesetzlicher Anforderungen oder veränderter Rahmenbedingungen zurückgenommen werden, wird das sogleich als Zumutung empfunden. In diesen erfolgsverwöhnten Unternehmen fehlt der Veränderungswille. Der Ruf nach „Simplify!“ verdeutlicht letztendlich das Unvermögen, im Wandel bestehen und Komplexität meistern zu können. Daten und Hinweise aus der Praxis lassen keinen Zweifel zu, dass sich die Unternehmenswelt weiter und immer schneller beschleunigen wird. Gordon Moore, Mitbegründer von Intel und Pate des Moore’schen Gesetzes für exponentielles Wachstum, beobachtete die exponentielle Entwicklung in der Computertechnologie bereits 1965. Die Grundthese besagt, dass sich die Leistung neuer Computerchips real im Mittel etwa alle 20 Monate verdoppelt. Und da fast alle Technologien inzwischen eine digitale Komponente haben, hat heute aus Sicht der Singularity University fast jede aktuelle Technik exponentielles Potenzial (vgl. Dörner 2016). Somit erscheint es logisch, wenn John P. Kotter (2011), Professor an der Harvard Business School und Botschafter des Change-Managements, die Fähigkeit, sich durch lebenslanges Lernen weiterzuentwickeln, als eine der wichtigsten Eigenschaften von Führungspersönlichkeiten benennt. Diese Fähigkeit und der damit einhergehende Wille zur Veränderung ermöglichen es ihnen, mit einem komplexen und veränderlichen Geschäftsumfeld zurechtzukommen und sichern dadurch den wirtschaftlichen Erfolg des ganzen Unternehmens. Ismail et al. (2017) sehen es ebenso, wenn sie darauf verweisen, dass die Anforderung der Weiterbildung insbesondere für Vorstandsmitglieder gilt, damit sie die neuen Realitäten einer exponentiellen Welt noch besser verstehen. Sie verweisen auf Rob Nail, Geschäftsführer und Mitbegründer der Singularity University. Dieser hat sechs Eigenschaften für neue Führungsqualitäten definiert:

1. Visionärer Kundenvertreter: Wenn Kundenerfahrungen und -bedürfnisse bei den Produkt- und Dienstleistungsentscheidungen Berücksichtigung finden, sind Kund*innen eher bereit, auch in Experimentierphasen des Unternehmens treu zu bleiben. 2. Dateninformierter Experimentator: Aus einem Hochgeschwindigkeitschaos heraus Ordnung schaffen. Schnell, über eine intensive Verbindung mit dem Kunden/der Kundin, iterieren und institutionelles Wissen ansammeln.

3.1 Geschäftsmodellentwicklung

41

3. Optimistischer Realist: Die Realität einer Situation oder Gelegenheit verstehen und quantifizieren. Positive Ergebnisse in Szenarien erkennen und ins Team übertragen. 4. Extreme Anpassungsfähigkeit: Fokus verändern und Fähigkeiten dementsprechend anpassen. Sich genauso exponentiell verändern wie die Technologie oder Organisation. 5. Radikale Offenheit: Herausforderung bewältigen, eine große, auch externe, und vielfältige Community zu bewältigen. Kritik und Empfehlungen aus der Crowd aufnehmen und neue Ebenen der Innovation eröffnen. 6. Extremes Selbstvertrauen: Konflikte müssen ausgetragen und Skeptiker überwunden werden. Mut und Ausdauer aufbringen, um zu lernen, sich anzupassen und das Unternehmen disruptiv zu verändern.

Um die Bank zukunftsfähig weiterzuentwickeln reichen weitreichende, strategische Ansätze und mutige Entscheidungen allein jedoch nicht aus. Capgemini Invent (2017b) macht in einer Umfrage unter 340 Unternehmen und mehr als 1.700 Teilnehmer*innen kulturelle Faktoren als den zentralen Hebel für z. B. die digitale Transformation aus (vgl. Abb. 3.3). Ein Grund mehr, sich intensiver mit kulturellen Faktoren und der Rolle von Führung auseinanderzusetzen.

Abb. 3.3  Unternehmenskultur als zentrale Hürde bei der digitalen Transformation

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

Fazit aus diesem Abschnitt Um mit der exponentiellen, technologischen Entwicklung Schritt halten zu können, bedarf es einer Kultur des sich Einlassens und Ausprobierens. Führung sollte dabei gleichsam stabilitätsfördernd als auch flexibilitätsunterstützend im Rahmen einer Vorbildfunktion agieren. Strategie und Kultur sollten Hand in Hand gehen, um die Vision des Hauses tragfähig in Umsetzung zu bringen.

3.2

Unternehmenskulturentwicklung

„Culture eats strategy for breakfast!“ Dieser Satz wird Peter Drucker, Pionier der modernen Managementlehre und ehemaligem Professor an der New York University, zugeschrieben, auch wenn sich in der Literatur keine direkten Belege hierfür finden lassen. Drucker (2007) geht davon aus, dass jeglicher Versuch eine Strategie umzusetzen, die der Unternehmenskultur entgegensteht, durch ebenjene vereitelt wird. Die Kultur einer Organisation hat damit einen deutlich stärkeren Einfluss, als es Vision, Werte, Ziele, Strategien und Projekte je haben werden. Zu ähnlichen Schlüssen kommen auch Strategy& in Zusammenarbeit mit PwC (2015): • Strategie kann ohne Unternehmenskultur nicht funktionieren; • Es ist entscheidend, dass sich Strategie und Unternehmenskultur gegenseitig ergänzen; • Es ist bedeutsam die kulturellen Stärken als Hebel für die Befähigung und Beschleunigung eines Transformationsprozesses zu nutzen und damit kulturellen Schwächen entgegenzuwirken. Dazu, was Kultur ausmacht und welche Faktoren eine Kultur bestimmen, gibt es zahlreiche Definitionen und Ansätze. Ilic (2018) stellt die unterschiedlichen Perspektiven von Unternehmenskultur gegenüber. Je nach eingenommenem Blickwinkel kommt Führung dabei eine direkte oder indirekte Wirkung für eine Kulturveränderung zu.

3.2 Unternehmenskulturentwicklung

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Aus dem Blickwinkel der Kulturanthropologie: • Kultur ist in allen Personen (somit auch den Führungskräften) der Organisation, in ihren geteilten und gezeigten Einstellungen und Gedanken, begründet. Aus dem Blickwinkel der Systemtheorie: • Relevant sind die (auch über Führung) gelebten Entscheidungen mit Wirkung auf Kultur. Aus dem Blickwinkel der Betriebswirtschaft: • Führung als Einflussgröße für Veränderungen. Aus dem Blickwinkel der Psychologie: • Führungskraft als zentrale Person für Veränderung.

Henne oder Ei? – Prägt die Kultur den Menschen oder der Mensch die Kultur? Das mittlere Management von Banken und Sparkassen tendiert in der Praxis zu schnell und häufig dazu, negativ in Richtung Vorstand und dessen Veränderungsunfähigkeit zu reflektieren. Sätze wie „Es bringt überhaupt nichts, Veränderungen anzustoßen, denn die da oben ändern ja eh nichts“ münden in eine selbsterfüllende Prophezeiung. Besteht aber nicht doch die Möglichkeit, aus dem eigenen Mikrokosmos der zu verantwortenden Filiale/Abteilung heraus die Rahmenbedingungen so zu gestalten und dadurch Strahlkraft zu erzeugen, dass diese auf andere Bereiche bzw. Abteilungen wirken? Zelesniack und Grolman (2019) verweisen in diesem Zusammenhang auf die Reziprozität einer Unternehmenskultur. Kultur prägt einerseits das Verhalten ihrer Mitglieder. Andererseits wird Kultur auch von den Mitarbeitern durch ihr Verhalten und Gewohnheiten produziert, definiert und vermittelt. Mit anderen Worten: Jede Handlung eines Organisationsmitgliedes ist ihrerseits kulturell beeinflusst und beeinflusst in der Gesamtheit aller Handlungen auch die Organisationskultur.

Da Führungskräften oftmals eine Vorbild- und Vorreiterfunktion zugeschrieben wird, kommt ihnen im Zuge dieser Reziprozität eine besondere Bedeutung zu.

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

cc

Wollen Führungskräfte unterhalb des Vorstandes Veränderungsimpulse wirksam setzen, ist es empfehlenswert, sich Verbündete für die angedachte Intervention zu suchen. Allzu häufig konfrontieren Führungskräfte des mittleren Managements im Alleingang den Vorstand damit, eingefahrene Wege zu verlassen bzw. die in ihren Augen kritischen Aspekte zu beheben. Dadurch erzeugen sie eine zu geringe Schlagkraft und die Intervention verpufft.

Der Soziologe Pierre Bourdieu (1986) verweist auf kreiskausale Mechanismen der Ordnungsbildung. Er beschreibt einen Prozess, in dem die Mikroebene (der Habitus einzelner Akteure) erst die Makroebene (ein soziales Feld/sozialer Raum) hervorbringt. Von dieser wird sie wiederum in ein übergreifendes Muster gezwungen. Durch die Interaktion der Akteure in diesem Feld kommt es zur emergenten Ausbildung von Grenzen und Strukturen, das heißt die verschiedenen, mit unterschiedlicher Macht und unterschiedlichem Ansehen gekennzeichneten Positionen entstehen (vgl. Abb. 3.4). Der Mensch prägt seine Umwelt den Strukturen seines Habitus entsprechend. Übersetzt bedeutet dies: Die einzelnen Akteur*innen einer Organisation und insbesondere Führungskräfte schaffen sich ihren kulturellen Raum durch ihr Erlebens-, Interpretations- und Verhaltensmuster selbst, der dann wiederum einen beeinflussenden Faktor auf Einstellungen und Verhalten der Akteur*innen einnimmt. Abb. 3.4 Ordnungsbildung in der Konzeption von Pierre Bourdieu

3.2 Unternehmenskulturentwicklung

45

Auch Edgar H. Schein (1995), Professor der Sloan School of Management am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Vorreiter auf dem Gebiet des Forschungsfeldes Organisationskultur, sieht Kultur „… als die Summe aller gemeinsamen und selbstverständlichen Annahmen, die eine Gruppe im Laufe ihrer Geschichte erlernt hat. Sie ist der Niederschlag des Erfolgs.“

Scheins Ansatz kommt dem von Bourdieu sehr nah, wenn er drei Ebenen der Unternehmenskultur definiert: • Ebene eins, die Ebene der Artefakte, beschreibt er als das, was man bei genauen Beobachtungen und Gesprächen mit Insidern wahrnehmen kann. Es wird über Verhalten, Rituale, Erzählungen und Anekdoten sichtbar. Diese haben für die Mitarbeiter*innen zwar eine gewisse Bedeutung und prägen das aktuelle Zusammenarbeiten, sind ihnen aber letztlich nicht wirklich wichtig. So wechseln Mitarbeiter*innen relativ leicht vom allgemeinen Sie zum Du in der Ansprache. Sie passen ihr Kommunikationsverhalten schnell an andere Muster und Prozesse in den Meetings an oder lassen sich leicht auf neue Arbeitsmethoden ein. Veränderungen auf dieser Ebene gelten allenfalls als leichte Impulse und tragen noch nicht substanziell zur Veränderung der Kultur bei. • Ebene zwei, den öffentlich propagierten Werten, liegt die Frage des „Warum“ zu Grunde. Warum werden Entscheidungen in der vorliegenden Art und Weise getroffen? Warum laufen Arbeitsprozesse nach den vorliegenden Mustern ab? Das wahrnehmbare Verhalten der Organisationsmitglieder wird hierbei durch eine tieferliegende Denk- und Wahrnehmungsebene gesteuert. Diese kann sich mit propagierten Werten und Prinzipien decken. Die gemeinsam erlebten Geschichten der Organisationsmitglieder prägen die Organisation und beeinflussen unterschwellig viele alltägliche Entscheidungen. Es sind somit stark wirksame kulturelle Anker, die sich fest in den Bewertungsrahmen der Organisation eingeprägt haben. Veränderungen können auf dieser Ebene dadurch wirksam werden, dass eine Gruppe von Mitgliedern der Organisation neue Erfahrungen sammelt und diese mit den anderen Mitgliedern der ­Organisation teilt. Die so gesammelten Erfahrungen und Erlebnisse können dann neue Wahrnehmungen und Bewertungsmuster erschaffen. • Ebene drei wiederum, die unausgesprochenen gemeinsamen Annahmen, geht auf die Ursprünge und Historie des Unternehmens zurück. Die Werte und Annahmen der Unternehmensgründer bilden die Basis für einen gemeinsamen Lernprozess der bestehenden und neuen Mitarbeiter*innen. Diese Ebene spiegelt die „versteckten Wurzeln“ der Unternehmenskultur. Sie gibt Antworten auf

46

3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

die Fragen wie: „Wer sind wir? Warum gibt es uns?“ Auf dieser Ebene finden sich kulturelle Elemente, die Auskunft darüber geben, welche Grundhaltungen die Organisation hat, wie sie die Umgebung für sich definiert, welches Verhältnis sie zu anderen Organisationen hat etc. cc

Welche Rolle spielt Führung hierbei?

Schein hebt die Rolle der Leitung hervor. Wenn es um die Beeinflussung von Kultur und deren Weiterentwicklung geht, sieht er Leitung als hauptverantwortlich. Mitarbeiter*innen beobachten das Verhalten der Führungskräfte ganz genau: • Stimmen Worte und Taten überein? • Folgen den Worten auch wirklich Taten? • Welches Verhalten wird im Unternehmen belohnt, welches bestraft? Schein hebt zudem die Bedeutung von Charisma als wirksame Eigenschaft einer Führungskraft hervor. Mittels dieser kann die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter*innen besser gewonnen und gebunden werden. Charismatische Führungskräfte handeln, so Schein, glaubwürdiger, können die Probleme des Unternehmens besser in Richtung Mitarbeiter*innen transformieren und überwinden deren Skepsis bei Veränderungsprozessen leichter. Hiermit greift Schein den Ansatz der transformationalen Führung auf, der in Kap. 4 noch intensiver beschrieben wird. Damit Veränderungen gelingen, bringt Schein zwei Prinzipien ins Spiel: 1. Die Einsicht, neue Gewohnheiten und Denkweisen erlernen zu müssen (Überlebensangst), muss größer sein als die Lernangst (Angst vor Inkompetenz, in Folge dessen Bestrafung, Verlust der persönlichen Identität oder Gruppenzugehörigkeit), die entstehen kann, wenn man sich auf Neuerungen einlässt. 2. Wesentlich für Veränderungen ist es, die Lernangst zu verringern. Dies stärkt das psychologische Sicherheitsgefühl. Manager*innen müssen sich darauf einstellen, vor allem diesen zweiten Aspekt umzusetzen. Dies gelingt über eine positive Formulierung der Vision, formelles Training auch in und mit Teams, eine Beteiligung der Lernenden bei der Entwicklung der Lernprozesse, informelles Training und praktische Übungen, Coaching und Feedback, positive Erlebensbeispiele in der Praxis, Unterstützungsgruppen im Sinne einer kollegialen Beratung und die passenden Belohnungs- und Disziplinierungssysteme und Organisationstrukturen (Schein 2010).

3.2 Unternehmenskulturentwicklung

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Ähnlichkeiten zum Kulturmodell bzw. Acht-Stufen-Prozess von Kotter (2011) sind deutlich erkennbar (Ein Gefühl der Dringlichkeit erzeugen, eine Führungskoalition aufbauen, Vision und Strategie entwickeln, die Vision des Wandels kommunizieren, Mitarbeiter*innen auf breiter Basis befähigen, schnelle Erfolge erzielen, Erfolge konsolidieren und weitere Veränderungen einleiten, neue Ansätze in der Kultur verankern). Auch Kotter sieht das Top-Management im Lead, wenn es darum geht Veränderungen anzustoßen und umzusetzen. Wenn jeder im Top-Management ein vorsichtiger, dem Status quo verpflichteter Manager ist, dann wird ein mutiger Revolutionär aus den unteren Reihen immer scheitern.

Unabhängig von der Grundhaltung einzelner Top-Manager*innen stellt Kotter die Bedeutung einer schlagkräftigen Führungskoalition heraus. In der richtigen Zusammensetzung, mit dem notwendigen Vertrauen, gemeinsamen Zielen und der Selbstverpflichtung zu Exzellenz kann es besser gelingen, die Organisation zum höchstmöglichen Leistungslevel zu führen. Als problematisch sieht es Kotter an, wenn gerade in Veränderungsprozessen solche funktionierenden Führungsteams fehlen. Einsame Entscheidungen von etablierten oberen Führungsebenen, die bei einer Vielzahl von Reengineeringaktivitäten und bei der Strategieüberarbeitung gerne das Einbinden weiterer Führungsebenen aussparen oder dem keine Bedeutung beimessen, schätzt er als fatal ein. Nun könnte man anführen, dass die „alten“ Kultur-Entwicklungsmodelle die heutige Realität nicht mehr zeitgemäß abbilden. Neuere Entwicklungsansätze bringen indes nichts wirklich Neues. So identifiziert z. B. das Six Pack-Modell der Unternehmenskulturentwicklung (Strobl 2018), ausgehend von der Frage, was eine nachhaltig positive Unternehmenskultur charakterisiert, sechs Dimensionen: Leistung, Struktur, Verantwortung, Entwicklung, Führung und Beziehung. Cibulka (2018) verbindet den Beitrag der Unternehmenskultur zum Unternehmenserfolg mit kollektiven Werten, Normen und Überzeugungen. Bailom et  al. (2013) wiederum heben die Einstellungen, Werte, Denkmuster und Verhaltensweisen des Top-Management-Teams hervor, die sie als Grundlagen für einen nachhaltigen Erfolg sehen. Penning Consulting (2018) untersuchen in ihrer zusammen mit Forsa durchgeführten Studie insbesondere die Rolle des mittleren Managements in Veränderungsprozessen und bei der Umsetzung unternehmenskulturrelevanter Aspekte. Ihre Erkenntnisse:

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

• Insbesondere bezüglich des respektvollen Umgangs, der Sinnvermittlung und den Karriereperspektiven erzielen Unternehmen mit hohem Engagement einen höheren Erfüllungsgrad. • In Unternehmen mit hohem Engagement konzentriert sich das Mittelmanagement mehr auf menschenbezogene Führungsaufgaben wie Coaching, Feedback und Mitarbeitermotivation. • In Unternehmen mit hohem Engagement kann das Mittelmanagement häufiger Prozesse eigenverantwortlich gestalten und verbessern, nicht nützliche Veränderungen werden als Lernerfahrung genutzt. • Führungskräfte in Unternehmen mit hohem Engagement-Level investieren mehr Zeit in Führungsaufgaben. • In Unternehmen mit niedrigem Engagement-Level und hoher Belastungszuschreibung stehen operative Managementaufgaben im Fokus. • In Unternehmen mit niedrigem Engagement werden insbesondere die Personalführungs-, Strategieentwicklungs- und Change-Management-Funktion weniger wahrgenommen.

Lässt sich Kultur systematisch entwickeln? Kaduk und Osmetz (2019) betonen, dass es zur Veränderung der Kultur der Strukturarbeit bedarf. Sie fordern ein, dass Strukturveränderungen stets so radikal vorgenommen werden müssen, dass es keine Möglichkeiten gibt, an den neuen Leitplanken vorbeizuarbeiten bzw. diese zu ignorieren. Sie halten es für wichtig, die Reaktion der Mitglieder einer Organisation auf die neue Kultur genau zu beobachten und zu ergründen, wie es ihnen mit der neuen Kultur geht. Linear-kausale Wirkungen bezeichnen sie in diesem Zusammenhang als Illusion. Am Ende kommt Kulturentwicklung einem Experimentieren mit ungewissem Ausgang gleich, bei dem man in Kauf nehmen muss, dass es sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeiter*innen gibt, die damit nicht zurechtkommen. Letztendlich deckt sich dies mit der ersten Stufe der Lern- und Entwicklungsstufen (Unbewusste Inkompetenz) aus Abb. 2.2 in Kap. 2. Für alle, die kulturelle Aspekte nach wie vor als Sozialromantik und Kuschelkursdenken empfinden, sei zuletzt auf die Untersuchungen von Greve (2019) zum Burnout von Organisationen verwiesen. Darin nennt er die in Tab. 3.1 dargestellten wichtigsten Insolvenzursachen. Wenn auch die betriebswirtschaftlichen Faktoren dominieren, finden sich doch vier kulturelle Aspekte unter den Top 10. Ganz oben: Deutliche Defizite bei Führung.

3.2 Unternehmenskulturentwicklung

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Tab. 3.1 Insolvenzursachen Sachebene 1. Fehlendes Controlling 2. Finanzierungslücken 3. Unzureichendes Debitorenmanagement 6. Investitionsfehler 7. Falsche Produktionsplanung 9. Ungenügende Marktanpassung 13. Unkontrollierte Investition und Expansion

Kulturelle Ebene 4. Autoritäre, rigide Führung 5. Ungenügende Kommunikation 8. Dominanz persönlicher über sachlicher Motivation 10. Egozentrik, fehlende Außenorientierung 11. Mangel an strategischer Reflexion 12. Personalprobleme 14. Zuviel Wechsel im Management

Die Zahlen in der Tabelle weisen auf die Reihenfolge ihrer Bedeutung hin

Praxisbeispiel

Die Entwicklung der Unternehmenskultur erfährt bei der Sicherung bzw. Gestaltung der Zukunftsfähigkeit von Banken und Sparkassen eine zunehmende Bedeutung. Die Bereitschaft bzw. die Notwendigkeit steigt, die bestehende Kultur unter dem Blickwinkel disruptiver Anforderungen an die Unternehmensentwicklung in Frage zu stellen. Nach wie vor fällt es der Managementebene schwer, Kulturentwicklung als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses zu sehen, der sich einige Jahre hinziehen kann. Vereinzelt werden Workshops durchgeführt, die den Hebel in Richtung neue Kultur umlegen sollen. Auf ein systematisches Führungskräftefeedback und Führungskräftecoaching wird ebenso verzichtet, wie auf eine Einbindung der Mitarbeiter*innen, z.  B. durch regelmäßige Resonanz-/Feedbackrunden. Doch selbst wenn diese regelmäßig durchgeführt werden, bedeutet dies lange nicht, dass die Rückmeldungen der Mitarbeiter*innen ernsthaft und systematisch umgesetzt werden, wie das nachfolgende Beispiel verdeutlicht. Bei der Durchführung eines Kulturworkshops mit Mitarbeiter*innen aus allen Teilbereichen und Hierarchiestufen wurden in einer Bank die folgenden Umsetzungshebel identifiziert: • Change Seele einhauchen – Bessere interne Kommunikation: –– Vorbildfunktion Vorstand –– Verpflichtende standardisierte Regel-Jour-Fixe –– Qualität von Information sicherstellen • Führungskultur und Delegation: –– Entscheidungskompetenz/Verantwortung übertragen –– Rahmenbedingungen für Delegation schaffen

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

• Abbau von Standort-/Bereichsegoismen: –– Konsequente Dezentralisierung von Verantwortung –– Konsequente Ausrichtung des Bonifizierungs-Systems an den Gesamtbankzielen Die Themen wurden in halbjährlichen Kulturdialogen mit Mitarbeiter*innen aus allen Teilbereichen der Bank auf ihre Umsetzung überprüft, weiterhin existierende Handlungspunkte wurden an den Vorstand adressiert. Da die Bank sich, wie andere Finanzinstitute, verstärkt den wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen stellen musste, rückten die kulturellen Aspekte und die damit verbundenen Rückmeldungen der Mitarbeiter*innen zunehmend in den Hintergrund. Vier Jahre später wurden als Ergebnis einer weiteren Dialogrunde mit Mitarbeiter*innen der Bank die folgenden Handlungspunkte identifiziert: • Offene, schnellere, zeitnahe, ehrliche Kommunikation auch kritischer Themen. • Das Leitbild ist definiert und unter der Mitwirkung vieler erarbeitet. Man muss es leben! Der Vorstand hat hierbei eine Vorbildfunktion, Reden und Handeln müssen im Einklang stehen. • Das Management sollte den Führungskräften und Mitarbeiter*innen entsprechendes Vertrauen entgegenbringen und sie im Rahmen ihrer Kompetenzen die übertragenen Handlungs- und Entscheidungsspielräume nutzen lassen. • Projekte bis zum Ende durchziehen – bestehende Probleme ernst nehmen und umgehend beheben. Das Alltagsgeschäft der Mitarbeiter*innen leidet darunter und führt zu zeitraubenden „work-arounds“. In vier Jahren hatte sich nichts verändert. Die Bank hatte über die Jahre hinweg nie ein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Die Folge: Die Ergebnisse der internen Mitarbeiterbefragung verschlechterten sich von Jahr zu Jahr, die Zufriedenheit und Identifikation mit der Bank nahmen ab, die Fluktuation zu. Schade, dass dem Propheten im eigenen Haus so selten Aufmerksamkeit gewidmet wird …

Fazit aus diesem Abschnitt Führungskräfte nehmen eine zentrale Rolle bei der Umsetzung von Veränderungen und der Beeinflussung der Unternehmenskultur ein. Mutig sollten sie gemeinsam mit ihren Mitarbeiter*innen neue Denkweisen und Gewohnheiten erlernen. Ziehen

3.3 Organisationsentwicklung

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Führungskräfte gemeinsam an einem Strang und in die gewünschte Richtung, können sie eine enorme Umsetzungskraft erzeugen.

3.3

Organisationsentwicklung

Welche Rolle spielt der Mensch im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (KI)? Mit dieser Frage eröffnen Daugherty und Wilson (2018) ihr Werk Human + Machine, bei dem sie KI und die Zukunft der Arbeit thematisieren. Ihre Antwort darauf: • KI birgt ein beispielloses Potenzial, Unternehmen zu verändern. • Das Management braucht die richtige Geisteshaltung, um Arbeit völlig neu zu denken. • Nach der Standardisierung und Automatisierung von Prozessen folgt die dritte Welle, die Adaption von Prozessen. • KI verstärkt die menschlichen Fähigkeiten, als symbiotischer Partner und ermöglicht Produktivitätszuwächse, die vorher nicht möglich waren. • Es braucht eine Kultur des Experimentierens, um den Umfang und Anwendungsbereich eines Prozesses neu zu denken. Idealerweise sollte ein KI-System seine Entscheidungen erklären und den menschlichen Kolleg*innen eine gewisse Autonomie beim Treffen von Entscheidungen belassen. • Unternehmen müssten darauf achten, dass die Beschäftigten, die mit KI arbeiten, nicht das Gefühl der Handlungsmacht verlieren. • Führung muss die Sorgen der Mitarbeiter*innen ernst nehmen, sowie rechtliche und ethische Fragen berücksichtigen, um einen verantwortungsvollen Einsatz von KI zu fördern. Eine Studie der PwC (2019) zu Arbeitskräften der Zukunft 2030 sieht es für Unternehmen als zentrale Aufgabe an, die Agilität und Anpassungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter*innen zu entwickeln. Organisations can’t protect jobs which are made redundant by technology – but they do have a responsibility to their people. Protect people not jobs. Nurture agility, adaptability and re-skilling.

KI ist aktuell eine der einschneidendsten, aber für viele Banken und Sparkassen noch am weitesten entfernte Entwicklung für die Gestaltung von Arbeitsprozessen. Dieses Beispiel ist jedoch bewusst gewählt, weil es zeigt, wie Organisation künftig völlig neu gedacht werden muss. cc

Was kennzeichnet die Organisation 2.0 und welche Auswirkungen hat dies auf Führung?

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

Foegen und Kaczmarek (2016) nehmen Abstand von einer exakten Definition der Organisation 2.0. Nach ihren Erkenntnissen ist es zur Realisation einer Organisation 2.0 sinnvoll, positive Erfahrungen auf der Teamebene aufzubauen. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf die folgenden sich wiederholenden Muster: • Weg vom Silo- hin zum Prozessdenken: Unternehmen denken in Wertschöpfung für Kund*innen. • Weg vom Heldentum, hin zur Kollaboration: Reaktionsfähige Teams, die Zusammenarbeit ständig optimieren und verbessern. • Weg vom Spezialisten hin zur Interdisziplinarität: Expert*innenwissen wird im Team verteilt, Wissensengpässe dadurch vermieden. • Weg vom Mikromanagement hin zur Selbstorganisation: Gemeinsame Ziele und Standards ermöglichen es, an einem Strang zu ziehen. • Weg von Wissensinseln hin zur Vernetzung von Menschen und ihrem Wissen. • Weg von festen Arbeitszeiten und -plätzen hin zu flexiblen Arbeitsmodellen. • Weg von starren Regeln und Abläufen hin zu flexiblen Strukturen.

Führung in der agilen Organisation Steht Organisation 2.0 somit für eine zunehmende Agilität und Verschlankung der Strukturen? Beschäftigt sich ein Unternehmen mit dem Thema der Agilität, so muss es sich nach innen betrachtet mit dem Status quo, den Zielvorstellungen und dem Transformationsprozess hin zur Agilität auseinandersetzen. Nach außen hin ist das Ausmaß an Veränderungsnotwendigkeit bestimmend für weitere Schritte. Trägt man beide Perspektiven zusammen, ergibt sich der erforderliche agile Reifegrad der Organisation. Dieser wiederum dient als Indikator für den Entwicklungsgrad der Organisation in Richtung 21. Jahrhundert, mit einem Veränderungsbedarf auch in struktureller Hinsicht (Werther und Bruckner 2018). cc Der Zusammenhang von Agilität und Lean lässt sich vereinfacht über folgende Formel ausdrücken (vgl. Wibas 2019): Agilität = Lean + Innovation + Arbeit 4.0)

3.3 Organisationsentwicklung

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Womack und Jones (1996) definieren für Lean fünf Kernprinzipien: • • • • •

Definiere Wert aus Kundensicht Identifiziere den Wertstrom Bringe die Arbeit in Fluss (Flow) Erzeuge den Sog der Arbeit (Pull) Strebe stets nach Perfektion (Kaizen)

Im Mittelpunkt steht der Ansatz, Kund*innen den größtmöglichen Wert zu schaffen, Verschwendung zu vermeiden und die Fähigkeiten der Mitarbeiter*innen zu nutzen. Diese fünf Prinzipien stecken auch in Agilität (vgl. auch Abschn. 4.5). Agilität hat zudem einen besonderen Fokus auf Innovation, denn die Innovationsgeschwindigkeit bzw. das „früh und regelmäßig Liefern“ bildet einen wichtigen Kern agiler Arbeit. Dem entspricht es, Verschwendung zu vermeiden, indem keine Produkte oder Services geliefert werden, die am Markt vorbei gehen. Führung baut in einer Agile & Lean Organisation auf dem Bild eines/einer intrinsisch motivierten Mitarbeiters/Mitarbeiterin auf. Deren Arbeit ist selbstverantwortlich. Sie wollen wertvolle Beiträge zum Großen und Ganzen des Unternehmens leisten. Dementsprechend gestalten sich auch die Führungsprinzipien. Führung etabliert ständige Lernzyklen, damit die Mitarbeiter*innen sich selbst entwickeln können; Führung erkennt und fördert die Potenziale der Mitarbeiter*innen durch Coaching; Führung unterstützt ständige Verbesserungen und gibt den Raum dafür und schafft eine gemeinsame Zielausrichtung durch gemeinsame Abstimmungsprozesse über alle Ebenen hinweg. Was auffällt: Es wird bei diesen Prinzipien nicht von „der Führungskraft“ sondern personenunabhängig von „Führung“ ausgegangen. So ist es nicht verwunderlich, dass Slogar (2018) von einem Paradigmenwechsel spricht, wenn er darauf eingeht, dass Führung in agilen Organisationen von jedem Mitarbeiter/jeder Mitarbeiterin im Rahmen von Kooperationsrollen und hierzu vereinbarter Spielregeln ausgeht und sich nicht über Macht und Autorität auf eine exklusive Gruppe von Personen beschränkt. Führung findet dann jenseits von engen Kontrollen, der Tabuisierung von Fehlern und einer Konzentration von Entscheidungen an wenigen Stellen statt. Sinnstiftung, Kreativität, Selbstwirksamkeit, Selbstorganisation und Eigenverantwortung treten an ihre Stellen, verbunden mit einem Arbeitsumfeld, das all dies möglich macht.

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

Verändert die Arbeitswelt 4.0 die Organisation grundlegend? Ich spare mir an dieser Stelle umfangreiche Ausführungen über Arbeit 4.0 und bündle diese stellvertretend in Abb. 3.5. Sie zeigt eine Roadmap zur zukünftigen Entwicklung der Dienstleistungsbranche im Kontext digitaler Arbeit (Institut für Innovation und Technik 2016). Betrachtet man diese Zukunftsmodelle von Arbeit und der damit einhergehenden organisationalen Entwicklung, kann der Eindruck entstehen, dass künftig kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Stork (2019) fasst die Auswirkungen auf eine mögliche Neugestaltung der Organisation in Abb. 3.6 zusammen. Eine intensivere Zusammenarbeit mit den Kund*innen bei der Produktentwicklung und der Verbesserung von Dienstleistungen, das stärkere Einbinden von Plattformen zur Abbildung des Produkt- und Dienstleistungsangebotes, Wissensgenerierungen im Netz innerhalb und außerhalb der Organisation und ein intensiveres Schaffen von Innovationsräumen und -möglichkeiten führen dazu, dass sich die Führungsebenen einerseits verschlanken und andererseits eine völlig neue Funktion übernehmen. Hierzu mehr in Kap. 4. Aber ist das wirklich so? Findet der Umbruch in den Organisationsstrukturen von Banken und Sparkassen ähnlich disruptiv statt wie die Entwicklung des Geschäftsmodells? Vorreiter neuer Organisationsformen mit hoher Mitarbeitermotivation kommen nicht nur von jungen Unternehmen und Start-Ups. Der ehemalige Unternehmensberater und McKinsey-Partner Frédéric Laloux untersuchte Organisationen unterschiedlichster Größe, unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Branchen, die von der Norm abweichen. Er geht der Frage nach, wie eine radikal neue Form sinnstiftender Zusammenarbeit aussehen kann und sucht bei den Organisationen nach Gemeinsamkeiten, die den Unterschied gegenüber herkömmlichen Organisationen ausmachen. Laloux spricht in seinem vielbeachteten Werk Reinventing Organizations (2015) von einem Paradigmenwechsel, wenn es Unternehmen gelingt, ein neues Modell zu entwickeln, das die Arbeit produktiv, erfüllend und sinnvoll macht. Er vergleicht Organisationsmodelle in der Vergangenheit und Gegenwart und leitet daraus Ansätze für ein neues Modell ab. Dabei bedient er sich einer Beschreibung, die die Weltsicht, die Bedürfnisse, die kognitive und die moralische Entwicklung einbindet. Er bezeichnet jede Stufe der Entwicklung und das damit verbundene Organisationsmodell mit zwei erklärenden Begriffen und einer Farbe. Die folgende Übersicht konzentriert sich ausschließlich auf die organisationale Seite.

Abb. 3.5  Roadmap zur zukünftigen Entwicklung der Dienstleistungsbranche im Kontext digitaler Arbeit

3.3 Organisationsentwicklung 55

56

3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

Abb. 3.6  Auswirkungen der Arbeit 4.0 auf die Organisation

Überblick

Tribale impulsive Organisation (Rot) Ständige Machtausübung durch den Anführer/die Anführerin, um den Gehorsam der Untergebenen zu sichern. Angst hält die Organisation zusammen. Sehr reaktiv, kurzfristiger Fokus. Gedeiht in chaotischen Umgebungen. Wichtige Durchbrüche: Arbeitsteilung und Befehlsautorität. Traditionelle und konformistische Umgebungen (Bernstein) Stark formalisierte Rollen innerhalb einer hierarchischen Pyramide, Anweisungen und Kontrolle von oben nach unten (Was und Wie), Stabilität ist der höchste Wert und wird durch exakte Prozesse gesichert, die Zukunft ist die Wiederholung der Vergangenheit. Wichtige Durchbrüche: Formale Rollen (stabile und skalierbare Hierarchien) und Prozesse (langfristige Perspektive). Moderne leistungsorientierte Organisation (Orange) Das Ziel ist, besser zu sein, als die Konkurrenz, Profite zu erwirtschaften und zu expandieren. Durch Innovation kann man an der Spitze bleiben. Management durch Zielvorgaben (Anweisung und Kontrolle bei dem, was getan wird; Freiheit dabei, wie es getan wird). Wichtige Durchbrüche: Innovation, Verlässlichkeit und Leistungsprinzip.

3.3 Organisationsentwicklung

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Postmoderne pluralistische Organisation (grün) Innerhalb der klassischen Pyramidenstruktur, Fokus auf Kultur und Empowerment, um eine herausragende Motivation der Mitarbeiter*innen zu erreichen. Wichtige Durchbrüche: Empowerment, werteorientierte Kultur und Berücksichtigung aller Interessengruppen (Steakholder-Modell).

Wie gelingt es einer Organisation, gemeinsam mit den Menschen, den Wechsel zwischen den Stufen zu ermöglichen? Laloux bezeichnet den Wechsel von einer zu nächsthöheren Stufe als kognitiven, psychologischen und moralischen Akt mit dem Mut, mit einer neuen Weltsicht zu experimentieren. Das Wachsen in eine neue Form des Bewusstseins ist immer ein sehr persönlicher, einzigartiger und sehr geheimnisvoller Prozess. Man kann ihn niemandem ­aufzwingen. … Wir können aber Umgebungen schaffen, die das Wachstum zu späteren Stufen fördern.

Welche Rolle Führung hierbei einnimmt? Bewusst oder unbewusst etablieren Führungskräfte in der Organisation diejenigen Strukturen, Praktiken und Kulturen, die ihnen sinnvoll erscheinen und mit ihrem Umgang mit der Welt korrespondieren. Das bedeutet, dass eine Organisation sich nicht weiter entwickeln kann als die Entwicklungsebene, auf der sich Führung befindet.

Praxisbeispiel

Eine Grundhaltung, die auch Laloux beschreibt, ist in der Praxis gut beobachtbar: Mit dem Blick auf Digitalisierung und eine moderne Organisation werden aktuell häufig die (Führungs-) Leitbilder angepasst. Ein kooperatives Miteinander rückt dabei zunehmend in den Mittelpunkt. Beispiele wie „Wir pflegen mit unseren Mitarbeiter*innen auf allen Ebenen eine langfristige zielorientierte, vertrauensvolle Partnerschaft. Diese unternehmensfördernde Zusammenarbeit sichern wir durch kooperative Führung, Kommunikation und Mitarbeiter*innen-Qualifizierung.“ sind gängige Formulierungen.

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

Sich auf Werte und Leitbilder zu beziehen, ist nur im postmodernen Paradigma (grün) sinnvoll. Gerät nun, wie aktuell, die wirtschaftliche Situation unter Druck, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, eher die Grundhaltung einer modernen, auf Leistung ausgerichteten Organisation (orange) einzunehmen und die Werte dem Profit wieder unterzuordnen. Vorstände sehen dann aus ihrer Sicht keine andere Möglichkeit, als einen Schritt in der Entwicklungsstufe zurückzugehen. Und genau dieses Phänomen wird in Zeiten von anhaltender Niedrigzinsphase und Druck auf die Gewinn- und Verlustrechnung wohl auch in den kommenden Jahren beobachtbar sein. Die Annahme, dieses Verhalten sei hauptsächlich bei älteren Unternehmenslenker*innen ausgeprägt, die, kurz vor dem eigenen Ruhestand stehend, einen gravierenden Einschnitt im Unternehmen vermeiden wollen, ist übrigens nicht haltbar. Vielmehr ist es eine Frage der eigenen Überzeugungen, Persönlichkeit und Glaubenssätze und nicht des Berufsalters. Damit wird erneut bestätigt, wie sehr vor allem das obere Management richtungsweisend agiert. Als letzte Entwicklungsstufe sieht Laloux die integrale evolutionäre Organisation (petrol). Als Kennzeichen hierfür nennt er • Selbstführung, ohne Hierarchie und Konsens (mittels komplexer adaptiver Systeme, wie man sie aus der Natur her kennt); • Das Einbringen der inneren Ganzheit des Einzelnen (und damit auch der in Organisationen oft verpönten emotionalen, intuitiven und spirituellen Aspekte); • Die Mitglieder der Organisation werden eingeladen, zuzuhören und zu verstehen, was die Organisation werden will und welchem Sinn sie dienen möchte (evolutionäres Vorgehen). In dieser Stufe der Organisation gibt es keine Vorgesetzten. Teams führen sich selbst. Analyse, Planung, Prioritätensetzung, Entscheidung oder die Bewertung von Arbeitsleistung werden im Team verteilt. Die Teams erhalten Unterstützungsleistungen (Fortbildung, Methoden) und werden von Berater*innen in der Funktion eines Coaches ohne disziplinarische Macht begleitet, deren Aufgabenerfüllung nicht mit einem an das Teamergebnis geknüpften Zielbonus gebunden ist. Arbeiter*innen werden zu Führenden, es erfolgt ein Wissensaustausch zwischen den Teams, Kollegiale Beratung, Vertrauen geht vor Kontrolle, Konflikte werden über Mediationen gelöst, das Projektmanagement wird radikal vereinfacht, die Umstände bestimmen die Prioritäten der Projektbearbeitung, es gibt kein Organigramm, keine Stellenbeschreibung, keine Stellenbezeichnungen, aber viele freiwillige Arbeitsgruppen und Rollendefinitionen.

3.3 Organisationsentwicklung

59

Laloux sieht die folgenden evolutionären Praktiken (petrol) für eine Selbststeuerung in Abgrenzung zu den modernen Praktiken (orange) als förderlich an: • Selbstorganisierte, durch Berater*innen unterstützte, Teams statt einer hierarchischen Organisationsstruktur; • Unterstützende Funktionen wie IT, Personalentwicklung, Controlling etc. werden von den Teams selbst oder freiwilligen Arbeitsgruppen statt von eigenen Abteilungen übernommen; • Koordination von Treffen und Besprechungen bei Bedarf statt feststehender, geregelter Treffen auf allen Ebenen; • Ein radikal vereinfachtes Projektmanagement. Mitarbeiter*innen besetzen Projekte selbst statt großer Projektabteilungen zur Kontrolle und Priorisierung komplexer Projekte; • Flexibel, definierte Rollen statt ausführlicher Stellenbeschreibungen; • Entscheidungen werden, basierend auf einem Beratungsprozess, dezentralisiert statt hierarchisch von Vorgesetzten getroffen; • Krisen werden durch einen transparenten Austausch von Informationen und unter hoher Beteiligung kollektiver Intelligenz gelöst statt von oben durch die Geschäftsführung; • Mehrstufige Praktiken der Konfliktlösung statt Überdeckung von Konflikten; • Konfliktlösung durch Mediation und seltene Entlassungen statt Entlassung von Mitarbeiter*innen als Ausübung von Autorität durch Vorgesetze; • Alle Informationen, einschließlich derjenigen zu Finanzen und Vergütung, fließen in Echtzeit an alle statt Nutzung von Informationen zur Machtausübung; • Flexible Neuverteilung von Rollen, basierend auf der Übereinkunft von Kolleg*innen statt starkem Kampf um wenige Beförderungen, die zu politischen Spielen und schädlichem Verhalten führen; • Jede/r ist verantwortlich, Dinge anzusprechen, die außerhalb des eigenen Autonomiebereichs liegen statt Silodenken, bei dem jede/r Manager*in allein über den Bereich bestimmt; • Fokus auf Teamleistung und individueller Beurteilung durch kollegiale Prozesse statt Fokus auf individueller Leistung und Beurteilung durch Vorgesetzte; • Selbst festgelegte Gehälter mit einem Abgleich unter Kolleg*innen, keine Boni, aber gleiche Anteile am Gewinn und geringere Einkommensunterschiede statt Entscheidung von Vorgesetzten und Leistungsprinzipien, die zu großen Einkommensunterschieden führen können. Die Ausführungen von Laloux klingen nach Utopie und Fantasterei? Laloux verleiht seinen Ausführungen Nachdruck, indem er einige erfolgreiche Unterneh-

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

men nennt, darunter Buurtzorg, FAVI, Morning Star oder auch Sun Hydraulics, die bereits heute evolutionär arbeiten und aufgestellt sind. In Deutschland versucht sich z. B. die Jöckel Innovation Consulting GmbH in die Reihe der genannten Unternehmen einzuordnen.  Wer sich die Abgrenzung der Praktiken in der vorgenannten Aufzählung näher ansieht, wird feststellen, dass die evolutionären Praktiken die große Mehrheit heutiger Banken und Sparkassen an die Grenzen des Machbaren führen wird. cc

Was also ist ein gangbarer Weg zu einer fortschrittlichen Organisation und welche Rolle spielt Führung hierbei?

Schlegel (2019) stellt dar, wie sich die Bewusstseinsebene auf die Führungsarbeit auswirkt. Wenn man, wie in Abschn. 3.2 beschrieben, davon ausgeht, dass Individuen als einzelne Teile eines Ganzen auch auf die Organisation wirken, so muss sich Führung die folgenden Fragen stellen: • Welchen Führungsstil bevorzugen Mitarbeiter*innen auf den Entwicklungsstufen? • Wie agiert eine Führungskraft auf der jeweiligen Ebene? • Wie kann eine Führungskraft mit Teams, in denen Mitarbeiter*innen auf verschiedenen Stufen vertreten sind, gut umgehen? In Kenntnis von Ich-Entwicklungsmodellen lässt sich der Gedanke des Reifegrades eines Mitarbeiters/einer Mitarbeiterin, wie ihn Hersey et al. (2012) in ihrem Modell des Situativen Führens formuliert haben, auf die Bewusstseinsentwicklung des Geführten hin anwenden.

Das Führungsmodell des „Situativen Führens“ geht im Wesentlichen von zwei Komponenten aus: dem sogenannten Reifegrad des Mitarbeiters/der Mitarbeiterin und dem dazu passenden Führungsstil, d. h. dem Verhalten der Führungskraft wie es von Mitarbeiter*innen empfunden wird. Grundidee des Modells: Jede(r) Mitarbeiter*in besitzt bestimmte Fähigkeiten und will und kann diese weiterentwickeln. Diese Fähigkeiten liegen zum einen im Bereich der fachlichen Anforderungen, zum anderen in den persönlichen Stärken und Schwächen. Beides entspricht dem Reifegrad. Dieser kann je nach Aufgabenstellung und Situation variieren. Jedem Reifegrad wird ein bestimmter Führungsstil zugeordnet, bzw. die Führungskraft sollte je Reifegrad jeweils den adäquaten Führungsstil ein-

3.3 Organisationsentwicklung

61

setzen. Das Modell des „Situativen Führens“ verlangt von der Führungskraft eine neue Qualität des Führungsverhaltens. Sie muss zum einen sicher erkennen können, welchen Reifegrad ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin bezogen auf eine Aufgabe/Situation hat, zum anderen muss sie die Instrumente unterschiedlicher Führungsstile beherrschen. Ziel des Modells: das Potenzial der Mitarbeiter*innen optimal zur Geltung zu bringen. Damit kann für das Unternehmen/die Organisation ein optimales Ergebnis erzielt werden. Gleichzeitig führt es für die Mitarbeiter*innen zu einem Höchstmaß an persönlichem Engagement und Motivation.

Ambidextrie – Sowohl das eine als auch das andere Um die digitale Transformation voranzutreiben, müssen Unternehmen agil werden. Gleichzeitig sollen und wollen sie aber auch stabil und effizient sein. Das scheint für viele auf den ersten Blick ein unvereinbares Szenario zu sein. Dabei müssen Innovation und Effizienz keine Gegensätze sein. Im Gegenteil: Innovationen und traditionelles Kerngeschäft können sich im Idealfall gegenseitig ergänzen. Organisationen, die die Herausforderung meistern, Exploitation und Exploration gleichermaßen bedienen und gestalten zu können, werden bereits 1996 von Tushman und O’Reilly als „Ambidextrous Organizations“ herausgestellt. Duwe (2018) beschreibt diese Ambidexdrie bzw. Beidhändigkeit wie folgt: Im Kern des Konzeptes steht das parallele Orchestrieren und Ausbalancieren von Exploration, dem Erschließen von technologischem Neuland, neuer Geschäftsmodelle und neuer Märkte, sowie Exploitation, dem Ausbau und der evolutionären Weiterentwicklung des bestehenden Geschäfts. Organisationale Ambidextrie oder Beidhändigkeit beschreibt also die Kompetenz von Organisationen, einerseits ganz neue Lösungsräume hervorzubringen, während sie parallel ihre vorhandenen Produktprogramme optimieren und auf Kosteneffizienz trimmen. Beidhändig geführte Organisationen schaffen sich den Raum für Technologiesprünge und völlig neue Lösungen, während sie sich mit ihren bestehenden Produkten im Preiswettbewerb in gesättigten Märkten erfolgreich behaupten. Beidhändige Unternehmen treiben intensiv ihr Kerngeschäft voran und schaffen sich auf diese Weise den finanziellen Spielraum, um in Forschung und Entwicklung für die Zukunft zu investieren. Sie sind Umsetzer und Unternehmer zugleich und zählen sowohl inkrementelle als auch radikale Innovationen zu ihren zentralen Handlungsfeldern. Ihr Geheimnis liegt darin, das Beste der Vergangenheit zu zelebrieren und zu nutzen, während gleichzeitig neue Innovations- und Geschäftsfelder erschlossen werden.

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

Diese Unternehmen sind agiler, anpassungsfähiger und dadurch besser für den digitalen Wandel gewappnet. Sie sind durch eine hybride Organisationsstruktur gekennzeichnet, d. h. es existieren hierarchische Strukturen parallel mit agilen. Der Transformationsprozess muss dabei bei den Menschen und der Unternehmenskultur beginnen und nicht auf einer abstrakten Ebene der Organisation. Es liegt an den Führungskräften, sie bewusst auszugestalten. In dieser hybriden Welt braucht es Führungskräfte, die ein Ambidextrie-förderndes Umfeld schaffen können. So betonen auch Gloger und Rösner (2014), dass agile Organisationen Management und Führung genauso brauchen wie traditionelle Organisationen. Praxisbeispiel

Im Coaching von Beteiligten eines agilen Projektmanagements zeigt sich häufig, ob das Zusammenspiel von hierarchischer und agiler Welt im Unternehmen wirklich funktioniert. In einem Fall kamen weder der Product Owner (in der agilen Arbeit mit Scrum verantwortlich für die Wertmaximierung des Produkts und die Arbeit des Entwicklungsteams) noch der Scrum Master (trägt dafür Sorge, dass das agile Scrum-Team möglichst effektiv und ungestört arbeiten kann, dass die wenigen Scrum Regeln reibungslos für das Scrum-Team funktionieren und dass alle Beteiligten die Scrum Theorie, Praktiken, Regeln und Werte verstehen lernen) ihren Aufgaben im agilen Projektmanagement nach. Konkret: Absehbare Kapazitäts- und Budgetengpässe wurden nicht thematisiert. Das Projekt entwickelte sich von Sprint zu Sprint bis zum Zeitpunkt, an dem die absehbaren Engpässe zu einer immensen Zeitverzögerung und Belastung eines am Projekt beteiligten Entwicklers führten. Seine Interventionsversuche liefen ins Leere. In einem klärenden Gespräch sollte die Linienführungskraft des Entwicklers eine Lösung der Situation mit der Linienführungskraft des Product Owners vornehmen. Stattdessen erfolgte die Antwort, dass eine Klärung an der Schnittstelle zur Hierarchie nicht vorgesehen sei. Dies müssten die Verantwortlichen im agilen Projekt selbst klären. Im Ergebnis verfing sich die Situation in einer Endlosschleife. In der Folge führte diese zu weiteren Verzögerungen bis hin zur drohenden Nichteinhaltung aufsichtsrechtlicher Fristen. Im Nachgang tragisch und sicherlich ein Extremfall: Der Entwickler erlitt einen psychisch bedingten Herzinfarkt und fiel monatelang aus. Bevor sich Kap.  4 mit den unterschiedlichsten traditionellen und modernen Führungsstilen auseinandersetzt, sollen die speziellen Herausforderungen betrachtet werden, die Führung im Sonderfall einer Fusion und damit dem Zusammenschluss (mindestens) zweier Organisationen und Kulturen zu bewältigen hat.

3.4 Sonderfall Fusion

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Fazit aus diesem Abschnitt Die Möglichkeiten der Arbeitswelt 4.0 verändern Organisationen nachhaltig. Arbeits- und Abstimmungsprozesse werden hierarchiedurchlässiger und agiler. Der/ die intrinsisch motivierte, selbstverantwortlich agierende Mitarbeiter*in nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Führung etabliert ständige Lernzyklen, damit die Mitarbeiter*innen sich selbst entwickeln können; Führung erkennt und fördert die Potenziale der Mitarbeiter*innen durch Coaching; Führung unterstützt ständige Verbesserungen und gibt den Raum dafür und schafft eine gemeinsame Zielausrichtung durch gemeinsame Abstimmungsprozesse über alle Ebenen hinweg.

3.4

Sonderfall Fusion

Natürlich ist der Zusammenschluss von Bankhäusern an sich keine Besonderheit. Von 2004 bis 2017 sank die Zahl der Kreditinstitute in Deutschland von 2401 auf 1823 (Deutsche Bundesbank 2019), darunter zahlreiche Fusionen. Und die Zahl der Zusammenschlüsse wird weiter steigen, folgt man Raimund Röseler, Chef der Bankenaufsichtsbehörde Bafin. Er spricht von einer drastischen Wandlung des Bankenmarktes und davon, dass nicht alle Banken überleben werden (2019). Dass Fusionen (Mergers) jedoch keine Selbstläufer sind, vermerkt das Handelsblatt (2018). Demnach schneiden lediglich 32  % aller fusionierten Institutionen besser ab als die Konkurrenz. Auch Nerdinger und Pundt (2012) stellen heraus, dass die ökonomischen Ergebnisse trotz der Häufigkeit von Fusionen eher negativ sind. Als Grund nennen sie die mangelnde Berücksichtigung der Mitarbeiter*innen in einem solchen Prozess. Wenn diese dann in Form eines „Merger-Syndroms“ reagieren, wird der Prozess an sich erheblich erschwert.

Marks und Mirvis (1986) haben für die psychologischen Folgen von Mergers & Acquisitions den Begriff Merger-Syndrom geprägt. Dabei handelt es sich um eine Reihe von charakteristischen Verhaltensweisen und Reaktionen, die bei diesen Ereignissen auftreten können. Die wichtigsten lassen sich so zusammenfassen:

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

1. Befangenheit: Die Mitarbeiter*innen sind von den Ereignissen der Fusion vollständig eingenommen und spekulieren verstärkt über die ­Folgen für die eigene Person. Aufgrund dieser Ablenkung sinkt die Arbeitsleistung. 2. Gerüchteküchen: In den fusionierenden Unternehmen verbreiten sich Gerüchte und wilde Spekulationen, die Mitarbeiter*innen beschäftigen sich bevorzugt mit den schlimmsten anzunehmenden Zukunftsentwicklungen. In der Folge wird die Unternehmenskommunikation kaum noch wahrgenommen. 3. Stressreaktionen: Bei den Mitarbeiter*innen finden sich gehäuft Aggressionen, Rückzugsverhalten und körperliche Reaktionen wie Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. 4. Eingeschränkte Kommunikation: Der Kontakt zwischen Belegschaft und Entscheider*innen verringert sich, die Ziele des Zusammenschlusses und das weitere Vorgehen werden intransparent. 5. Unglaubwürdige Kontrolle: Wenn das Management beteuert, dass es über einen detaillierten Plan für die Fusion verfügt, mit dem sich alle Schwierigkeiten kontrollieren und abfedern lassen, wird ihm nicht geglaubt. 6. Kampf der Kulturen: Die Differenzen zwischen den Kulturen der beteiligten Unternehmen werden besonders prägnant wahrgenommen, ähnliche Kulturmerkmale werden gezielt ausgeblendet. 7. Wir versus Sie: Die Mitarbeiter*innen konzentrieren sich auf die Differenzen zu den neuen Kolleg*innen, diese werden im Laufe der Zeit verschärft wahrgenommen. 8. Gewinner versus Verlierer: Bei den Mitarbeiter*innen des übernommenen Unternehmens entsteht schnell ein Verlierergefühl, das zu Resignation und hoher Fluktuation führt. 9. Angriff und Verteidigung: Die Mitarbeiter*innen konzentrieren sich auf die Veränderungen in der anderen Organisation und versuchen gleichzeitig, die eigene vor dem Wandel zu schützen. Eine vergleichbare Haltung sehen sie auch im anderen Unternehmen. 10. Kulturüberlegenheit: Die Bewertung der eigenen Leistung wird zu einem permanenten Vergleich mit der anderen Kultur, wobei jeder seine eigene Kultur als überlegen betrachtet.

3.4 Sonderfall Fusion

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Datta (1991) verweist bei seiner Untersuchung von 173 Mergers & Acquisitions auf die Herausforderungen bei einer Fusion, insbesondere mit Blick auf die Unterschiede im Managementstil der fusionierenden Unternehmen. Wenn die Bereitschaft zum Risiko, die Ermutigung zur Partizipation an Entscheidungsprozessen und die Betonung formaler Aspekte in beiden Unternehmen gravierend voneinander abweichen, hat dies negative Folgen auf das Ergebnis der Fusion. Häufig gibt es im Zuge von Fusionen einen vermeintlich stärkeren Partner, der, selbst wenn alle Beteiligten versichern, es finde eine Fusion auf Augenhöhe statt, aufgrund seiner Größe, Finanzkraft etc. als der dominantere eingeschätzt wird. Die Mitarbeiter*innen des vermeintlich schwächeren Unternehmens unterstellen dem Management eben dieses dominanten Unternehmens gerne Arroganz. Sie vermuten, dass die Vorstände vorgeben, zu wissen, was am besten für das übernommene Unternehmen ist bzw. dass sie Letzteres für inkompetent erklären. Vermeiden lässt sich dies, wenn die organisationalen und psychologischen Bedingungen beachtet werden. Zu den organisationalen Bedingungen zählen vor allem die Merkmale der übernehmenden Organisation sowie die Übereinstimmung zwischen den Kulturen. Den psychologischen Bedingungen werden die wahrgenommene Kontrolle, die erlebte Gerechtigkeit der Fusion und die Möglichkeit der Identifikation zugeordnet. Greift man den Aspekt der Identifikation heraus, ist zu berücksichtigen, dass durch eine Fusion die Identität des Unternehmens und damit der Erfolg der Fusion bedroht wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Mitarbeiter*innen mehr mit der alten als mit der neuen Organisation identifizieren und in „wir“ versus „die“ – Kategorien denken (Klendauer et al. 2003). Jöns und Schultheis (2002) nennen weitere Faktoren, die für den wahrgenommenen Erfolg oder Misserfolg einer Fusion bei den Mitarbeiter*innen stehen: • Die berufliche Situation und die damit verbundene zu erwartende Perspektive; • Ein möglicher, bevorstehender Ruhestand und die damit verbundene gleichgültige Einstellung gegenüber Veränderungen; • Eine zu erwartende Verschlechterung der eigenen Situation. Im letzteren Fall wird die Fusion als Stress erlebt. Es entstehen Ängste, z. B. vor Arbeitsplatzverlust, Wechsel des Arbeitsortes, veränderten Karriereplänen usw., die in der Folge verschiedenste psychische Stressreaktionen wie Frustrationen, Ärger, Erschöpfung etc. nach sich ziehen können. Ebenso wichtig ist der Grad der empfundenen Beteiligung der Führungskräfte und Mitarbeiter*innen beim Fusionsprozess. Ist der wahrgenommene Grad hoch, können Menschen auch länger andauernde und belastendere Ereignisse ertragen.

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

Gerade durch die Beteiligungsmöglichkeit über Projektgruppen und die damit verbundene Einbindung bei Entscheidungen ergibt sich eine gute Gelegenheit, den Mitarbeiter*innen ein Gefühl der Kontrolle und der Partizipation zu vermitteln. Dadurch lassen sich Widerstände verringern und die Akzeptanz für Verände­ rungsmaßnahmen erhöhen. Erfahrungsgemäß verringert sich die Kritik gegenüber Vorgesetzten. Ein besonderer Augenmerk liegt zudem darauf, welche Erfahrungen die Unternehmen mit bisherigen Fusionen bereits gemacht haben. Insbesondere den psychologischen Fragen sollten, aufgrund zurückliegender Erkenntnisse aus vergleichbaren Situationen, eine ebenso hohe Bedeutung bei der Planung und Umsetzung beigemessen werden, wie den betriebs- und finanzwirtschaftlichen Aspekten. Praxisbeispiel

Eine Praxisbank reflektierte die Erfahrungen zu einer vor einigen Jahren zurückliegenden Fusion wie folgt, um diese bei einem anstehenden Zusammenschluss mit einer anderen Bank zu berücksichtigen: • In beiden Häusern muss die Sinnhaftigkeit der Fusion/Maßnahme vermittelt werden. • Übermittlung regelmäßiger und fortlaufender Information zum Stand und Fortgang der Fusion. • Schwerpunkt bei dieser Fusion: kennenlernen und ankommen. • Frühzeitig Menschen/Kolleg*innen miteinander in Kontakt bringen (nicht erst beim Umzug). • Räumliche Zusammenführung schneller vollziehen (auch bei den Filialen). • Alles dafür tun, dass die Menschen sich gut aufgenommen fühlen: –– Ehrlich miteinander umgehen und reden. –– Zeigen, dass wir uns einfühlen können. –– Akzeptanz schaffen: mehr erklären, warum man was, wie tut. • Die richtigen Worte finden: Wir werden an unseren Aussagen gemessen. • Wie organisieren wir uns im Bereich/den Teams, damit wir keinen Rückschritt in der vorhandenen Prozessoptimierung machen? Es sollen sich nicht immer die gleichen Kolleg*innen adressiert fühlen. • In zukünftigen Projekten mehr die Mitarbeiter*innen einbinden (Delegation als Mittel, um selbst mehr Zeit für Führung zu haben). Freiräume für Mitarbeiter*innen dafür schaffen. • Mehr Transparenz zu Projektentscheidungen schaffen. • Entscheidungskompetenzen und Verantwortlichkeiten transparenter machen.

3.4 Sonderfall Fusion

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• Achtung, Zeitverzug Kommunikation: –– Einheitlichkeit sicherstellen. –– Dem Flurfunk entgegenwirken. • Erneute Einbindung der Mitarbeiter*innen in fusionsbedingte Projektarbeit. Den Kommunikationsaspekt aus dem vorgenannten Beispiel stellen Schweiger und DeNisi (1991) als besonders relevant heraus, wenn sie fordern, dass möglichst offen und ehrlich kommuniziert wird (sogenannte „Realistische-­ FusionsVorausschau“). Auch Klendauer et al. (2003) empfehlen, der Kommunikation während des Fusionsprozesses besonders viel Bedeutung beizumessen. Insbesondere das Top-Management hat einen Einfluss darauf, die Motivation der Mitarbeiter*innen durch die Glaubwürdigkeit der Information positiv zu beeinflussen. Die persönliche Kommunikation und der persönliche Kontakt mit den Mitarbeiter*innen steht hierbei eindeutig vor Rundmails und Blockbeiträgen. Zudem gilt es die Führungskräfte unterhalb des Top-Managements in der Art zu gewinnen und vorzubereiten, dass diese die notwendigen Informationen glaubwürdig an die Mitarbeiter*innen weitergeben. Zeitpunkt und Häufigkeit der Kommunikation sind ebenso relevant, um unkontrollierbaren Gerüchten vorzubeugen. Erfahren Mitarbeiter*innen Details zu Abläufen und künftigen Entwicklungen eher über Dritte statt über das eigene Haus, verspielt das Management leicht seine Glaubwürdigkeit. Entscheidend ist daher ein möglichst intensiver Dialog mit den Mitarbeiter*innen. Die folgende Übersicht enthält Ideen zu Informationen im Rahmen einer Mitarbeiterversammlung (möglichst zeitnah in den beteiligten Häusern):

1. Das Wichtigste zuerst: • Die Fusion ist Fakt! • Es gibt keine fusionsbedingten Kündigungen (wenn realistisch)! • Es gibt eine Beschäftigungsgarantie (wenn realistisch), jedoch keine Arbeitsplatzgarantie! • Der Vorstand ist sich seiner Vorbildfunktion bewusst, fängt zuerst bei sich selbst an und beginnt mit X (statt Y)! • Übernehmendes Institut wird X (Begründung). 2. Warum Fusion? • Pro und Contra der geprüften Alternativen. • Nutzen für Kund*innen und Mitarbeiter*innen.

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

3. Spielregeln der Fusion • Transparenz durch umfassende Information. • Transparenz über Ablauf und Kriterien bei Stellenbesetzungen. • Qualifikation statt „Proporz und Seilschaften“, Qualität statt Betriebsgröße. • Fairness und Wertschätzung gegenüber Leistungen der jeweiligen anderen Bank/Sparkasse. • Kund*innen haben Vorrang, auch in Fusionszeiten. 4. Ernstnehmen der Mitarbeiter*innen • Umfassende, regelmäßige Information und Kommunikation. • Regelmäßige Befragungen über den Verlauf der Fusion aus Mitarbeiter*innensicht. • Regelmäßige Zeiten für direkte Gespräche mit Vorständen („heißer Draht per Telefon“ oder Gesprächsrunden mit Mitarbeiter*innen, Vorstandsblog/-chat). 5. Wann ist die Fusion für uns ein Erfolg? • Identifikation der Mitarbeiter*innen mit der Fusion in den beteiligten Häusern. • Identifikation mit der neuen Bank/Sparkasse. • Mitarbeiter*innen bescheinigen in Befragungen, dass der Fusionsprozess insbesondere bei Personalentscheidungen transparent und fair verlaufen ist. • Kundenzufriedenheit bleibt mindestens auf dem gleichen Niveau wie heute (falls Messgrößen vorhanden). • Produktivität steigt durch Synergieeffekte nach Ablauf von 3 Jahren um X. 6. Was wir von Ihnen als Mitarbeiter*in wünschen: Aktive Mithilfe am Gelingen der Fusion, denn Fusionen werden von Menschen gemacht, d. h. z. B.: • Aktiv auf Kolleg*innen des anderen Hauses zugehen; • Verständnis darüber, dass nicht alle Wünsche hinsichtlich Positionen erfüllt werden können (kein Aufblähen der Hierarchie und Abteilungen); • Die Fusion als Chance begreifen; • Kund*innen den Nutzen der Fusion glaubhaft erläutern; • Bereitschaft, in Projektgruppen, Arbeitskreisen und anderen Veranstaltungen mitzuwirken;

3.4 Sonderfall Fusion

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• Verständnis, dass nicht alle Entscheidungen von heute auf morgen getroffen werden können. Insbesondere in den internen Abteilungen und Stabsabteilungen wird die letzte Klarheit über den eigenen konkreten Arbeitsplatz z. T. erst am (TT.MM.JJJJ) geschaffen werden können; • Die sich in einer Fusion bietenden Chancen für die persönliche Weiterentwicklung durch Flexibilität und Veränderungsbereitschaft nutzen.

cc

Welche Implikationen bringt der Zusammenschluss von Unternehmen für Führung mit sich?

Fusionen bilden zwar einen Sonderfall der Organisationsentwicklung, am Ende sind die entscheidenden Aspekte für eine wirksame Führung jedoch die gleichen wie bei anderen Veränderungsprozessen. Der Unterschied besteht in der Geschwindigkeit, mit dem ein positiver Entwicklungsgrad erzielt werden muss, um die neu entstandene Bank oder Sparkasse wieder handlungsfähig zu machen. Jöns und Schultheis (2002) führen neben den Funktionsbereichen oder Abteilungsgrößen die Hierarchieebene als einen entscheidenden, strukturellen Einflussfaktor für das Erleben der Fusion durch die Mitarbeiter*innen an. Grundsätzlich kann angenommen werden, dass Führungskräfte durch ihre exponierte Stellung stärker in Fusionen involviert sind. Werden daher die Führungspositionen nicht schnell genug besetzt, entsteht ein (Entscheidungs-) Vakuum, dass bei instabilen Strukturen und Abläufen wie ein Brandbeschleuniger wirkt. Praxisbeispiel

Dass die genannten Aspekte nicht rein theoretischer Art sind, zeigen Erfahrungen bei einer Fusionsbegleitung zweier Bankhäuser mit dem Fokus Unternehmenskultur. Die in diesem Zusammenhang durchgeführte quantitative und qualitative Kulturanalyse zeigten die folgenden Handlungsbedarfe: • Mehr Stabilität im Tagesgeschäft: Ein Großteil der für die tägliche Arbeit erforderlichen Anweisungen, Verzeichnisse und Regelungen scheint noch ungeregelt. Kritisch ist dies vor allem im direkten Kundenverkehr (Außenwirkung).

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

• Zuständigkeiten regeln: Bei diversen Teams sind die Zuständigkeiten und die neuen Arbeitsabläufe noch unklar. Dies führt im Team und im Workflow mit anderen Abteilungen zu Abstimmungsproblemen und verzögert die Arbeitsabläufe. • Teams bilden und entwickeln: Durch die aktuelle Zersplitterung der Teams an unterschiedlichen Orten fallen Abstimmungs- und Kommunikationsprozesse noch schwer. Dies birgt Fehlerpotenzial und schafft Mehraufwand. • Verantwortung und Vertrauen: Führungskräfte und Mitarbeiter*innen wünschen sich mehr Einbindung und Verantwortung (und damit Vertrauen). Dies schlägt sich im Kompetenzrahmen oder auch in der Wertschätzung der täglichen Arbeit nieder. Zentraler Erfolgsfaktor: Kommunikation! • Ganzheitliche Orientierung über Balanced Scorecard: Die reine Konzentration auf die Finanzperspektive schmälert die Ergebnisse anderer Teilbereiche der Bank (strategischer Fokus unausgewogen). • Mehr Mut bei Entwicklung des Geschäftsmodells: Die aktuellen Ansätze werden honoriert. Es besteht jedoch Sorge, dass die Kosten- und Risikoorientierung künftige Innovationen ausbremst. Auf Basis dieser Analyse richtete sich der anschließende Maßnahmenplan der Bank daran aus, dass diejenigen Aspekte, die den täglichen Arbeitsablauf der Mitarbeiter*innen am meisten beeinträchtigten, in den Vordergrund gestellt wurden. Dem folgten Maßnahmen, die sich auf die Zukunft des neuen Instituts fokussierten. Über die Einrichtung eines zweimal im Jahr stattfindenden Kulturdialogs mit Mitarbeiter*innen aus allen Teilbereichen des Unternehmens (ohne Beteiligung der Führungskräfte) wurde die Umsetzung der Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit hin überprüft. Nach einem Jahr wurde das kulturelle Zusammenwachsen der beiden Alt-Banken als deutlich verbessert wahrgenommen. Zum Abschluss einige Fragen zur Reflexion des Prozesses der Inneren Fusion, d. h. des Prozesses des Zusammenwachsens: Fragen

1. Ist eine gemeinsame und wechselseitig akzeptierte Geschäftsstrategie vorhanden? 2. Ist die gemeinsame angestrebte (Soll-)Unternehmenskultur im Leitbild verankert?

 Fazit aus diesem Abschnitt

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3. Sind die Personalentwicklungsinstrumente (Leistungsbeurteilung, Zielvereinbarung, Förderung und Entwicklung) harmonisiert und mit der Strategie und dem Leitbild verknüpft? 4. Ist das Zielsystem auf die neue Strategie und das Leitbild angepasst? 5. Gilt bei der Harmonisierung der Arbeitsabläufe wirklich das Prinzip „Wer macht es am besten“ und nicht „der kleinere Partner hat sich dem größeren Partner unterzuordnen“ (dto. bei personellen Entscheidungen)? 6. Gibt es Partnerschaften, z. B. auf Geschäftsstellenebene? 7. Wird bei Arbeitskreisen, Projektgruppen, Trainingsgruppen auf eine ausreichende „Mischung“ geachtet? 8. Wird Transparenz gewährleistet, auch bei Personalentscheidungen? 9. Wurde eine klare Aussage zur Beschäftigungssituation getroffen? 10. Werden Kund*innen genügend in die Fusion einbezogen? 11. Ist der „Auftritt“ nach außen vereinheitlicht: Logo, Geschäftspapiere, Werbung, Preisverzeichnisse etc.? 12. Liegen handfeste Daten zur Identifikation/Akzeptanz der Fusion bei Kund*innen und Mitarbeiter*innen vor? 13. Tritt die (oberste) Führungsebene als geschlossenes Team auf? 14. Wird der Betriebsrat offen und umfassend in die innere Fusion einbezogen? 15. Wurde die Fusion genügend gefeiert (Mitarbeiter*innen, Kund*innen)? 16. Wird „Unangenehmes“, wie z. B. Kontonummernumstellung, als Chance für Verbesserung der internen Zusammenarbeit sowie zur Erhöhung der Kundenbindung begriffen? 17. Wird bei der Fusion neben der Ratio auch genügend über die Emotionen der Mitarbeiter*innen gesprochen? 18. Werden Ideen/Chancen/Nutzen der Fusion genügend an Kund*innen und Mitarbeiter*innen auf unterschiedlichen Kanälen ­kommuniziert? Fazit aus diesem Abschnitt Fusionen bedeuten ein Höchstmaß an organisationaler Instabilität. Daher gilt es Führungspositionen so schnell wie möglich zu besetzen, um den Mitarbeiter*innen zügig den erforderlichen neuen Orientierungsrahmen und damit die Stabilität für die tägliche Arbeit zurückzugeben. Einer transparenten Kommunikation, dem ­Regeln von Zuständigkeiten, einer ehrlichen und pragmatischen Auseinandersetzung mit den Arbeitsprozessen an den Kundenschnittstellen und einem zügigen Entscheiden, um Unsicherheiten in Sicherheiten umzuwandeln, kommen dabei eine zentrale Rolle im Rahmen der Führungsaufgaben zu.

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3  Strategische, kulturelle und organisatorische Rahmenbedingungen für …

Reflexionsfragen zum Kapitel

• Agieren das Management bei der Geschäftsmodellentwicklung und die Führungskräfte bei der Arbeit mit den Mitarbeiter*innen gleichsam stabilitätsfördernd als auch flexibilitätsunterstützend? Wenn ja, mit welchen Maßnahmen? • Gesteht man sich in der Bank/Sparkasse zu, dass eine vorübergehende Phase der Instabilität Leistungseinbußen mit sich bringen kann? • Wird Changeprozessen im Rahmen des Projektmanagements adäquat Aufmerksamkeit gewidmet und mit welchen Mitteln werden Führungskräfte und Mitarbeiter*innen in diese Prozesse eingebunden? • Agieren Führungskräfte als Veränderungsbegleiter ihrer Mitarbeiter*innen? • Sind sich die Führungskräfte ihrer Vorbildfunktion bei der Ausgestaltung der Unternehmenskultur der Bank/Sparkasse bewusst? Ziehen alle an einem Strang, in dieselbe Richtung? • Existiert eine offene Diskurspolitik im Haus oder verhält sich das ganze Haus zu konform nach den Vorstellungen des/der Vorstandsvorsitzenden? • Wie gelingt es der Bank/Sparkasse, in einen regelmäßigen Austausch mit den Mitarbeiter*innen zur aktuell wahrgenommenen Unternehmenskultur zu kommen? • Wie steht das Management der Bank/Sparkasse zu den Ansätzen einer Arbeitswelt 4.0 sowie Organisation 2.0 und wie nähert man sich neuen Organisationsformen an, ohne das Haus und die Menschen zu überfordern? Welche Rolle nimmt Führung dabei ein?

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Führung zwischen Tradition und Wandel

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Welcher Führungsstil ist der richtige? Und gibt es überhaupt den richtigen Führungsstil?

Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, dass es umfangreiche Anforderungen an und Herausforderungen für Führung gibt. Lassen sich diese Anforderungen tatsächlich alle in einem Führungsstil vereinen? Man muss kein Experte sein, um diese Frage mit „Nein“ zu beantworten. Wenn es aber unterschiedliche Führungsstile gibt, wie grenzen sich diese voneinander ab? Eberhardt und Majkovic (2015) benennen in ihrer explorativen Studie gleich neun Führungsstile. Die Tab.  4.1, 4.2 und 4.3 geben einen kurzen Überblick zu deren zentralen Merkmalen. Philipp (2010) verweist im Zusammenhang mit Führungsstilen auf eine Langzeitstudie der Harvard University. Danach prägen die eigenen Führungsvorbilder das spätere Verhalten einer Führungskraft und den damit verbundenen Führungsstil nachdrücklich. Erlebte der/die Arbeitnehmer*in eine Führungskraft, die ihn/sie forderte und förderte und führte dies zum Erfolg, nahm er/sie später in Führungsverantwortung eine ähnliche Grundhaltung ein.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Burkhart, Wirksame Führung in Banken und Sparkassen, Edition Bankmagazin, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29031-3_4

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Tab. 4.1  Personal, Co- und Liquid Leadership Personal Leadership Führung erfordert ein individualisiertes Vorgehen; Mitarbeitende sind einzigartige, nicht austauschbare Individuen; Sicherung von Talenten durch Fokus auf das Individuum; Jedes Individuum bringt sein eigenes „Paket mit“; Führungsperson in der Rolle eines/einer Direktors/Direktorin bzw. Coach; Mitarbeiter*innenentwicklung nimmt an Bedeutung zu.

Co-Leadership Zunehmende Interdependenzen erfordern das Aushandeln gemeinsamer Benefits; Fähigkeit, Beziehungen und ein heterogenes Netzwerk aufzubauen; Flexible Anpassung des Führungsstils; Unterschiedliche Personen mit den essenziellen Informationen zusammenführen und das Gesamtbild erhalten.

Liquid Leadership Führungspersonen sollten Orientierung geben; Rolle als Mentor*in/Navigator*in, die/der den Mitarbeitenden hilft, Netzwerke aufzubauen; Klare Ziele und Erwartungen definieren; Mit dem Team eine gemeinsame Identität, Vision und Zielsetzungen entwickeln; Eine Zunahme von OnlineBeziehungen führt zu einem höheren Bedürfnis, persönliche Begegnungen herzustellen; Führungskräfte schaffen bei persönlichen Begegnungen positive Interaktionen und positive gemeinsame Erfahrungen.

Eigene Darstellung in Anlehnung an Eberhardt und Majkovic (2015) Tab. 4.2  Complexity, Age- und Gender-related Leadership Complexity Leadership Mitarbeitenden die Möglichkeit geben, neue Ideen auszuprobieren. „Try, fail and restart“ (jedoch ressourcenschonend); Wie Wissenschaftler*innen denken: Intellektuelle Neugier als Entwicklungsmotor; Mitarbeitende dazu befähigen, zielorientiertere Fragen zu stellen; Intensive Auseinandersetzung mit den Resultaten der Führungsentscheidungen; Regelmäßige Adaption von Strategien.

Age-related Leadership Führungspersonen sollten fähig sein, die Stärken von unterschiedlichen Altersgruppen zu nutzen; Signifikante Altersunter-­ schiede zwischen den Führungspersonen und den Mitarbeitenden bedingen Erwartungsklärungen und Zieldefinitionen; Stärken und Schwächen der Teams identifizieren; Kooperative und positive Begegnungsräume für unterschiedliche Altersgruppen schaffen.

Gender-related Leadership Geschlechterneutrales Vorgehen bei der Identifikation von Talent; Gleichstellungsinitiativen in die Agenda von Führungspersonen integrieren anstelle von Delegation an Verantwortliche für Diversität; Mentoring Programme für Frauen; Frauen, die in Top-­ Managementpositionen ankommen wollen, sollten fähig sein, ihr Netzwerk zu mobilisieren; Authentizität, Moralität, und Ehrbarkeit gelten als erstrebenswerte Führungstugenden unabhängig vom Geschlecht der Führungsperson.

Eigene Darstellung in Anlehnung an Eberhardt und Majkovic (2015)

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Tab. 4.3  Change, Intercultural und Sustainable Leadership Change Leadership Eine Prognose für die Zukunft entwickeln; Führungskräfte sollten sich raschen ökonomischen, nationalen und politischen Veränderungen anpassen und ihre Führungsstrategien entsprechend adaptieren; Vernetztes Denken.

Intercultural Leadership Die kulturelle Denkart weiterentwickeln und den eigenen kulturellen Horizont erweitern; Sich mit den wesentlichen kulturellen Bräuchen ihrer Mitarbeitenden bekannt machen; Interkulturelle Kompetenzen im Ausland erlernen; Interkulturellen Austausch unterstützen (z. B. Auslandstätigkeiten); Interkulturelle Teams fördern.

Sustainable Leadership Führung agiert als Vorbild in den Themen der sozialen Verantwortung und der Nachhaltigkeit; Systemdenken verbessern und sich der Auswirkungen der Entscheidungen außerhalb der Organisationsgrenzen bewusster werden; Die Implikationen der Führungsentscheidungen auf interne und externe Stakeholder abschätzen lernen; Soziale Verantwortung und Rentabilität in ein Gleichgewicht bringen.

Eigene Darstellung in Anlehnung an Eberhardt und Majkovic (2015)

Unabhängig von Führungsstilen zeigt Philipp einen 9-fachen Pfad der ganzheitlichen Führung auf: 1. Bei sich selbst beginnen: Selbstverantwortung, (De-)Mut, Ethik, Disziplin, Entwicklung; 2. Werte und Respekt: Fairness, Fürsorge, Respekt, Leistungswille, In tegrität; 3. Visionärer Realitätssinn: Pro-aktiv, Beharrlichkeit, Vision, Mission, Aktionsplan; 4. Fokussieren: Transparenz, Prioritäten setzen, Konzentration der Kräfte; 5. Planung und Management: Resultate erzielen, Probleme lösen, effektive Meetings; 6. Im Sinne der Sache handeln: Die Aufgabe ist wichtiger als das eigene Ego, Authentizität; 7. Kommunikation: Empathie, Mitgefühl, zuhören, verstehen, verstan den werden; 8. Kooperation: Win-Win, Unterschiedlichkeit, Teams, Synergie; 9. Sich selbst erneuern: Kompetenz-Netzwerke, evolutionäres Lernen, Lebensbalance finden und halten.

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

Er sieht diesen Pfad als Entwicklungsstufen, bei dem sich die Stufen 1–5 und 9 tendenziell mit sich und dem direkten Umfeld beschäftigen, während die Stufen 6–8 mehr die Interaktion mit anderen im Fokus haben.

Führungsstile sieht er lediglich als Orientierung. Sie sollen dazu einladen, sich selbst zu reflektieren: • Wo erkenne ich mich am ehesten wieder? • Wo bin ich authentisch? • Wohin möchte ich mich weiterentwickeln? Wenn im Folgenden einzelne, aus heutiger Sicht moderne Führungsstile beschrieben werden, soll diese Einladung erneuert werden. Verschaffen Sie sich gerne einen Überblick und gewinnen Sie einen Eindruck davon, welche(r) Führungsstil(e) Sie am ehesten anspricht/ansprechen. Als ersten Einstieg, gibt Abb. 4.1 einen groben Überblick über populäre Führungsstile der heutigen Zeit.

4.1

Transformationale Führung

Kaum ein Führungsstil wird in den vergangenen Jahren so als idealtypisch angepriesen wie die transformationale Führung. Gleichzeitig löst kaum ein Führungsstil mehr Verunsicherung bei erfahrenen Führungskräften aus, geht mit ihm doch häufig die Forderung nach mehr charismatischer Führung einher. cc

Warum braucht es überhaupt eine transformationale Führung?

Sprenger (2017) verweist auf die Notwendigkeit, sich künftig verstärkt mit dem Entwurf von Krisen- und Zukunftsszenarien zu beschäftigen. Als zukunftsfähig bezeichnet er Firmen, in denen wahrscheinliche und unwahrscheinliche Szenarien diskutiert werden (z.  B. in Open-Space-Konferenzen) und Meinungsvielfalt zur notwendigen Redundanz führt. Ebenso sieht er Unternehmen als gut vorbereitet, die Eigensinn und Widerspruchsgeist, Gehorsam und Konformität vorziehen. Sprenger betont, dass es einer Ambiguitätstoleranz bedarf, die Führung massiv fordern wird. Das bedeutet, dass Führung auf Prinzipien verzichten und stattdessen

Abb. 4.1  Merkmale aktueller Führungsstile

4.1 Transformationale Führung 81

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

Unklarheit, Mehrdeutigkeiten und Paradoxien mögen und darin Chancen statt Risiken erkennen muss. Am Beispiel von Digitalisierung zeigt er Ambiguitäten auf, die er an sieben Unterschieden in Leitung und Führung festmacht: 1. Physisch/virtuell: Kommunikation und Kooperation verlagern sich in den virtuellen Raum. Dies bedingt, kommunikationsfördernde Architekturen und Gehaltssysteme neu zu denken. 2. Innen/außen: Die Unternehmensgrenzen verschwimmen. Zeitarbeit, Befristungen und Digitalnomadentum machen das Identitätsstiftende von Unternehmensgrenzen bewusst. 3. Kurzfristig/langfristig: Insgesamt wird die Instabilität innerhalb und außerhalb der Unternehmen zunehmen. Langfristige Planung ist schwierig, lineare Führung mit Zielen, starre Budgetprozesse und langatmige Reportings gehören der Vergangenheit an. 4. Privat/beruflich: Die Vorstellungen von Karriere und Sinnsuche vervielfältigen sich. Die neue Währung ist Zeit, Gesundheit und Sinn. Führung wird sich daher vom „One size fits all“ kulturell wie arbeitsorganisatorisch verabschieden. 5. Vertikal/horizontal: Hierarchie, Netzwerk, Co-Leadership und Projekte überlagern und unterlaufen sich flexibel. Führung wird indirekter. Es gilt nicht mehr, einzelne Mitarbeiter*innen zu optimieren, sondern Netze zu flechten und Aufmerksamkeit zu kanalisieren. Fachliche Überlegenheit wird Führung nur noch selten legitimieren. Auch ein Drohen funktioniert bei flexiblen Spezialist*innen nicht. 6. Individuell/kollektiv: Es gilt digitale Eliten zu einem Kollektiv zu vereinen. 7. Ökonomisch/moralisch: Theoretisch lassen sich bereits heute technische Möglichkeiten nutzen, mit soziometrischen Informationen das Verhalten des Mitarbeiters/der Mitarbeiterin („Wo ist er? Was tut er? Wohin geht er?“) bis hin zu seiner Stimmung zu kontrollieren. Ethisch führt dies zu der Frage, wie weit man gehen sollte und darf. Sprenger resümiert: Es ist eine Herausforderung für viele Unternehmen, eine veränderungsbereite und -fähige Organisation zu schaffen. Man hat ja alle zum Gegner, die aus dem Herkömmlichen ihre Vorteile ziehen. Und das sind vorrangig die Führungskräfte selbst. Aber es hilft nichts, ungestörtes Arbeiten ist der sichere Weg ins Verderben. Wenn man das Unternehmen zukunftsfähig machen will, dann muss man es transformationsfähig machen.

4.1 Transformationale Führung

83

Bedenkt man, dass der transformationale Führungsstil bereits auf das Jahr 1978 zurückgeht, so ist umso verwunderlicher, dass dieser Ansatz mit großer Zeitverzögerung erst im aktuellen Umfeld seine Renaissance erlebt. Der Politologe James MacGregor Burns (1978) differenzierte im Rahmen einer Untersuchung über Führung im politischen Kontext zwei Arten von Führungskräften. • Diejenigen, die Gefolgschaft dadurch erreichen, dass sie Vorteile aller Art (Belohnung) gegen die Leistung der Geführten tauschen (transaktional). • Diejenigen, die durch eine wechselseitige Pflichtgemeinschaft mit den Geführten deren Motivation und Zusammenhalt kontinuierlich steigern (transformierend). Während Burns davon ausging, dass entweder der transaktionale oder der transformierende Führungsstil zur Anwendung kommt, weitete Bass (1985) dies bei seiner Anwendung auf Führung im Unternehmen auf einen zweidimensionalen Ansatz aus. Nach seiner Meinung existieren beide Führungsstile unabhängig voneinander und können sowohl allein als auch gleichzeitig zur Anwendung kommen. Bei der transaktionalen Führung orientiert sich die Führungskraft an Zielen als auch am bestehenden Werteniveau und der Persönlichkeitsstruktur und den damit einhergehenden Erwartungen der Geführten. In Zeiten nachhaltiger Unsicherheit und Veränderung braucht es jedoch mehr als das. Ausgehend von den Zielen, Werten und Wünschen der Mitarbeiter*innen gilt es, diese tief greifend und dauerhaft zu wandeln und auf eine höhere Stufe zu transformieren. Bass und Avolio (1990) nennen die folgenden Merkmale einer transformationaler Führung: • • • • • • • • • •

Vorbildfunktion, die Bewunderung, Respekt und Vertrauen erzeugt; Werte und Ideale werden vermittelt; Charismatisches Verhalten; Inspirierende und herausfordernde Vision der Zukunft zeichnen; Bedeutungsvolle Ziele setzen; Hohe Leistungserwartungen zeigen; Anregung neuer Ideen und Denkweisen; Kritisches Hinterfragen des Status quo; Kreativität und Innovationen fördern; Persönliche Unterstützung gemäß der individuellen Bedürfnisse und Wünsche der Geführten; • Weiterentwicklung der Geführten.

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

Ein Führungsverhalten, das mit einer charismatischen Attribuierung der Führungsperson einhergeht, bringt positive Auswirkungen auf Motivation und Leistung der Mitarbeiter*innen hervor, die ansonsten nicht oder kaum zu erzielen wären. Furtner (2016) nennt die folgenden positiven Effekte einer transformationalen Führung: • Die individuelle Leistung, die Gruppenleistung und die Gesamtleistung der Organisation, • die Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmotivation der Geführten, • die Effektivität der Geführten, • die freiwilligen Mehrleistungen der Geführten, • die Unterstützung der Arbeitskolleg*innen, • die Kreativität und Innovationsfähigkeit der Geführten, • die organisationale Innovation und das organisationale Lernen, • die Selbstwirksamkeit (den Glauben an die eigenen Fähigkeiten) der Geführten, • das emotionale Vertrauen der Geführten, • die Identifikation und die (moralische) Verpflichtung der Geführten zu ihrer • Führungskraft und Organisation, • die Hoffnung, den Optimismus, die Ausdauer und die Widerstandsfähigkeit • der Geführten, • das emotionale Wohlbefinden der Geführten. Wenn Charisma jedoch eine zentrale Bedeutung bei diesem Führungsstil einnimmt, zieht dies unweigerlich die Frage nach sich, ob diese Eigenschaft tatsächlich erlernbar ist. Und wodurch zeichnet sich eine charismatische Führung überhaupt aus? Conger und Kanungo (1998) formulieren ein Modell, indem sie das charismatische Führungsverhalten betrachten. Es zeichnet sich demnach folgendermaßen aus: • Kommunikation einer Vision: Die Führungskraft bietet inspirierende Ideen und Visionen und kann diese beeindruckend präsentieren. • Politisches Gespür: Die Führungskraft erkennt rechtzeitig Gefahren und Risiken aber auch Chancen im sozialen und technischen Umfeld. • Unkonventionelles Verhalten: Die Führungskraft überrascht durch ungewöhnliche Maßnahmen und Abweichung von gewohnten Abläufen. • Persönliche Risikobereitschaft: Die Führungskraft nimmt persönliche Risiken in Kauf und scheut keinen persönlichen Aufwand.

4.1 Transformationale Führung

85

• Sensibilität für Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen: Die Führungskraft zeigt Interesse für die Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen und behandelt diese mit Respekt. • Empowerment: Die Führungskraft gestaltet und delegiert verantwortungsvolle Aufgaben an die Mitarbeiter*innen. Nach Furtner (2016) haben Persönlichkeitseigenschaften und Motive einen Einfluss darauf, ob eine Führungskraft als mehr oder weniger charismatisch wahrgenommen wird: Eine introvertierte (in sich gekehrte) Führungskraft wird es schwieriger haben, tatsächlich von ihren Geführten als charismatisch wahrgenommen zu werden. Es ist jedoch nicht unmöglich: Durch intensives Training können die spezifischen ­Wirkmechanismen (z.  B.  Formulierung einer Vision, rhetorische Fähigkeiten) des Charismas entwickelt werden. Wichtig ist an diesem Punkt immer, dass die Führungskraft authentisch ist und nicht in eine unnatürliche Rolle fällt. Dies würde den Wirkmechanismus des Charismas „zerstören“.

Ebenso zerstörerisch für das soziale Umfeld kann es sein, wenn eine Führungskraft Charisma auf Basis sogenannter „dunkler Eigenschaften“ entwickelt. Antrieb ist dann ein Egoismus, der dem absoluten Selbstzweck dient (Abb. 4.2).

Abb. 4.2  Motivationale Wirkkraft des Charismas

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

Eine relativ selbstlose und soziale Führungskraft zeigt im Sinne eines hellen Charismas einen reduzierten Ego-Fokus. Sie verfolgt höhere Ideale und Ziele und handelt nachhaltig für ihr Umfeld. Dadurch ergeben sich wiederum langfristig positive Konsequenzen für das soziale Umfeld. Harms und Credé (2010) nennen eine weitere Einflussgröße, die das Charisma und die transformationale Führung möglicherweise begünstigt: Die emotionale Intelligenz. Emotional intelligenten Führungskräften gelingt es, die eigenen Emotionen und Gefühle richtig wahrzunehmen. Ebenso sind sie in der Lage, die Emotionen und Gefühle von anderen Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Sie verfügen über das entsprechende Einfühlungsvermögen (Empathie), um die Emotionen und Gefühle von anderen Menschen zu verstehen und positiv zu beeinflussen. Auch wenn die emotionale Intelligenz förderlich für das Auftreten von transformationaler Führung sein kann, ist sie jedoch nicht der alles entscheidende Faktor. Praxisbeispiel

Ich arbeite in Einzelcoachings gerne mit Persönlichkeits-/Motivstrukturanalysen (vgl. Abschn. 5.2). Dies deshalb, um schneller einen Zugang zu den Möglichkeiten und Entwicklungsfeldern von Führungskräften zu erhalten. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass es nicht jedem Menschen in die Wiege gelegt ist, sich mit den eigenen Emotionen und erst recht der emotionalen Welt anderer adäquat auseinander zu setzen. Man spürt regelrecht das Unbehagen, wenn sich das Gespräch in diese Richtung neigt. Die Führungskräfte versuchen dann auszuweichen, zu bagatellisieren oder zu theoretisieren. Teilweise suchen sie Gesprächsanleitungen und Tools, wie sie emotionalen Situationen mit Ihren Mitarbeiter*innen besser gerecht werden können. In seltenen Fällen möchten sie dies komplett vermeiden und nehmen sich als Vorgesetzte das Recht, Emotionalität aus dem Berufskontext auszuklammern. Wird Emotionalität Bestandteil des Coachings, kann es vorkommen, dass sie das Coaching nicht weiterführen, um sich der für sie unangenehmen Situation zu entziehen. Dennoch müssen dies keine schlechten Führungskräfte sein. Im Gegenteil: Sie begeistern ihre Mitarbeiter*innen über ihr Engagement und/oder ihre hohe Expertise im Fachlichen und Methodischen. Sie sind innovativ und motiviert und vermitteln dies ihren Mitarbeiter*innen Tag für Tag. Sie fordern ihre Mitarbeiter*innen zu Höchstleistungen und geben ihnen Stütze und Orientierung, teilweise bis über die eigenen Belastungsgrenzen hinaus. Nicht immer sind sie extrovertiert, sondern eher von stiller und zurückgenommener Art, aber dennoch hoch respektiert bei den Teams, die sie verantworten.

4.2 Authentische, vertrauensbasierte Führung

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Ihre Herausforderungen liegen in der Konfliktbewältigung. Bei der Selbstreflexion fehlen ihnen wichtige innere Zugangswege, um sich selbst und das Miteinander mit anderen besser einordnen zu können. Sie spüren, dass es ihnen schwerer fällt, in Konfliktsituationen an das Kernthema des Mitarbeiters/der Mitarbeiterin heranzukommen. Es gelingt ihnen nicht, sich auf deren Bedürfnisebene einzulassen, erst recht, wenn es um die Verletzung emotionaler Bedürfnisse geht. Nun erleben sie in zunehmendem Maße, dass man ihnen durch neue Führungsstile, wie dem transformationalen, vorhält, sich ihren Schwächen stellen zu müssen. Mehr Charisma, mehr Emotionalität, mehr Psychologie und Soziologie statt Betriebswirtschaft, Jura, Mathematik oder IT. Wie so häufig führt es eher zu Verunsicherung und Ablehnung, wenn bei allen Führungskräften versucht wird, im Zuge einer ­„Das-machen-wir-jetzt-künftig-alle-gleich-Forderung“ mit der Heckenschere Konformismus zu erzeugen. An dieser Stelle spreche ich mich daher deutlich für Diversität und einen genauen Blick dafür aus, was es im Kontext der spezifischen Führungssituation und Aufgabe wirklich braucht. Kap. 5 wird dies deutlicher thematisieren. Dennoch soll dies kein Alibi sein, sich bei der Reflexion über die eigenen Führungsaufgaben und Grundhaltungen mit den dafür erforderlichen Sachverhalten nicht auseinandersetzen zu müssen.

Fazit aus diesem Abschnitt Die Merkmale des bereits über 40 Jahre alten transformationalen Führungsstils rücken aktuell in den Fokus der Führungspraxis. Führung zeichnet sich in diesem Kontext durch Charisma und das Einbringen einer emotionalen Komponente (im Sinne der Selbstreflexion, aber vor allem der Auseinandersetzung mit den Emotionen und Gefühlen von Mitarbeiter*innen) aus.

4.2

Authentische, vertrauensbasierte Führung

Ein Führungsstil, der auf reinem Vertrauen aufbaut? Gerade jetzt? Gerade in Krisenzeiten in denen Regulatorik und die damit verbundene Kontrollnotwendigkeit in den Finanzhäusern dominiert? Manche werden diese Forderung als unrealistische Sozialromantik abtun. Dass aber genau dies funktioniert, zeigt Kronawitter (2013) in Zusammenarbeit mit der Ruhr-Universität Bochum. Seine auf Vertrauen ausgerichtete Unterneh-

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

mens- und Führungskultur führt zu einem signifikant höheren Commitment der Mitarbeiter*innen seiner Raiffeisenbank, als dies bei zwei Referenzgruppen der Fall ist. Zudem zeigen alle Werte der in der Mitarbeiterbefragung verwendeten Skalen Bereichsklima (Vorgesetztenverhalten, Zusammengehörigkeitsgefühl), Unternehmensklima (Motivation der Belegschaft, Stimmung im Unternehmen), Unternehmensstruktur (kurze Entscheidungswege, klare Regeln, Kooperation), Kontinuität (langfristige Planung, Stabilität, Krisensicherheit), Tätigkeitsanreiz (Anerkennung, angemessene Bezahlung), berufliche Entfaltung (Aufstiegs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten), Tätigkeit (Abwechslung, Vollständigkeit der Arbeit, eigene Planung) und Arbeitsbedingungen (Möglichkeit zur Erholung in Pausen, Flexibilität der Arbeitszeit) überdurchschnittlich bessere Ausprägungen. Betrachtet man die Merkmale, die der Vorstand der Genossenschaftsbank einer vertrauensbasierten Führung zuordnet, sind dies • ein Verzicht auf individuelle Vorgaben und Produktkampagnen, stattdessen eine hohe Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Mitarbeiter*innen, • eine Abkehr von Provisionen und variablen Vergütungen, stattdessen marktgerechte Gehälter, • ausreichende Konditionsspielräume im Kundengeschäft je Berater*innen, mit unternehmerischer Verantwortung für einen adäquaten Deckungsbeitrag je Kund*in, • Vollmachten für den Einkauf von Sachmitteln und ausreichende Befugnisse zur direkten Klärung von Reklamationen und Beschwerden je Mitarbeiter*in, • eine offene Krisenkommunikation, statt Intransparenz und Schüren des Flur­funks, • eine flache Hierarchie und effiziente Entscheidungswege mit einer von Unmittelbarkeit und Direktheit geprägten Kommunikation, • eine Fehlerkultur, die nicht darauf abzielt, Schuldige zu finden, • Teams mit verteilten Aufgaben, die sich ergänzende Kompetenzen gemeinsam nutzen, sowie Beteiligung der Mitarbeiter*innen an Projekten, • konsequentes Handeln mit ebenso konsequenten Reaktionen bei Nichteinhaltung der vereinbarten Spielregeln, • Authentizität, d. h. wahrnehmbare Kommunikation und Leben grundsätzlicher Werte, ohne dabei die Normen eines Sozialverhaltens, die Spielregeln der Bank oder die gesetzlichen Vorschriften zu verletzen, • persönlicher Austausch von Informationen, statt sich hinter E-Mails zu ver­stecken,

4.2 Authentische, vertrauensbasierte Führung

• • • • • • • • •

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eindeutige Entscheidungen, statt quälender Konsens, der richtige Einsatz von Talenten und zielgerichtete Personalentwicklung, ein gerechtes Handeln aus innerer Überzeugung, Mitarbeiter*innen, die ihre freien Tage selbst verantworten, die Reaktivierung von Qualifikationen von beruflichen Wiedereinsteiger*innen und Sicherung von Qualifikationen vor dem Ruhestand, die Würdigung besonderer Anlässe (Persönliche Begegnungen wirken dabei stärker als digitale Kontakte), ein umfangreiches, beidseitiges Feedback an Mitarbeiter*innen und Führungskräfte, offene Türen bei den Führungskräften und hierarchiefreies Entstehen und Entfalten von Innovationen.

Dabei gilt, dass es sich bei den genannten Punkten nicht um eine Entweder-­ oder-­Auswahl handelt. Diese Aspekte wirken nur dann, wenn sie gemeinsam von allen in der Bank verinnerlicht und gelebt werden. Vertrauen lässt sich nicht einfordern, man kann es sich nur verdienen. Ob die Unternehmenskultur dieser kleinen Bank auf größere Häuser übertragbar ist, bleibt offen. Die Authentizität aller Beteiligten, vor allem jedoch der Führungskräfte, hat dabei eine zentrale Bedeutung. Avolio et al. (2004) definieren authentisch Führende: Those individuals who are deeply aware of how they think and behave and are perceived by others as being aware of their own and others’ values/moral perspectives, knowledge, and strengths; aware of the context in which they operate; and who are confident, hopeful, optimistic, resilient, and of high moral character.

Gardner et al. (2005) wiederum betonen, dass Authentizität in der Führung über die Person des Führenden hinaus geht und gleichsam die Beziehung mit Geführten und Kolleg*innen umfasst. Abb. 4.3 greift diesen prozessualen Charakter auf. Führende erreichen dabei zunächst Authentizität durch Selbst-Bewusstheit. Diese ist Voraussetzung für eine Selbstregulation. Hieraus entstehen authentische, vorbildhafte Handlungsweisen, die das Eingehen authentischer Beziehungen ermöglichen. Die Führungskraft versetzt sich selbst in die Lage, Authentizität bei anderen auszubilden. Hierzu erforderlich ist ein spezifischer organisationaler Rahmen, der förderlich auf die Führerenden-Geführten-Beziehung einwirkt. Damit schließt sich der Kreis zu den von Kronawitter aufgeführten Variablen.

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

Abb. 4.3  Bezugsrahmen Authentische Führung

Praxisbeispiel

Wie schwierig es sich gestaltet, dass Führungskräfte, vor allem des mittleren Managements, authentisch bleiben, zeigt sich nicht selten, wenn es darum geht, gerade unangenehme Unternehmensentscheidungen mitzutragen. So stellen Führungskräfte in Führungsworkshops und -Coachings regelmäßig die Frage, wie offen sie ihren Mitarbeiter*innen gegenüber kommunizieren dürfen, dass sie nicht gänzlich hinter der Entscheidung des oberen Managements stehen. Sie erleben einen intrapsychischen Konflikt, d. h. in ihnen entstehen unvereinbare, einander entgegengerichtete Handlungstendenzen (stehe ich kommentarlos zur Entscheidung des Managements und mache mich selbst unglaubwürdig oder vertrete ich meine Meinung und verhalte mich dadurch dem Management gegenüber illoyal). Dieses Erleben führt häufig zu emotionalen Spannungen. Wenn Führung wirksam sein soll, müssen alle Führungsebenen eines Hauses an einem Strang und in dieselbe Richtung ziehen. Die Frage stellt sich somit nicht, ob die Filial-, Team- oder Abteilungsleitung die Entscheidung des Vorstandes oder der Bereichsleitung mitträgt. Vielmehr ist zu klären, welche Widersprüche und Fragen offen sind, die eine vollumfängliche Identifikation aktuell noch nicht möglich machen und wie diese ausgeräumt werden können. Aber selbst wenn dieser Diskurs auf allen Führungsebenen geführt wurde, kann der innere Widerspruch bei der jeweiligen Führungskraft aufgrund diffe-

4.3 Digital Leadership

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renzierter Wertvorstellungen nach wie vor bestehen bleiben. Der Hauptansatz des Coaching liegt dann darin, eine vertretbare innere Grundhaltung zu entwickeln, die ein leichteres Handling des Widerspruchs möglich macht. Zusätzlich können gesichtswahrende Kommunikationsansätze in Richtung Mitarbeiter*innen erarbeitet werden. Können intrapsychische Konflikte nicht gelöst werden, verliert die Führungskraft ihre Authentizität und damit Überzeugungs- und Strahlkraft auf die Mitarbeiter*innen. Kommt dies häufiger vor, sollte sich die betroffene Person im Ex­ tremfall zum eigenen Selbstschutz mit der Entscheidung auseinandersetzen, die Bank/Sparkasse zu verlassen oder ihre Rolle als Führungskraft aufzugeben.

Fazit aus diesem Abschnitt Eine auf Vertrauen ausgerichtete Unternehmens- und Führungskultur führt zu einem signifikant höheren Commitment der Mitarbeiter*innen. Authentizität schafft Vertrauen, schließt ein sich-selbst-bewusst-werden mit ein und weitet sich auf die Beziehungen zu den Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen aus. Gelingt es Führungskräften auf Dauer nicht, vorhandene innere Konflikte zur eigenen Grundhaltung im Vergleich zu den Zielvorstellungen des Unternehmens aufzulösen bzw. tragbar zu machen, setzten sie ihre Authentizität und damit Glaubwürdigkeit bei den Mitarbeiter*innen aufs Spiel.

4.3

Digital Leadership

Ist Digital Leadership neuer Wein in alten Schläuchen, wie es Wächter (2019) provokant formuliert? Im übertragenen Sinne verbirgt sich dahinter die Frage, ob sich die digitale Transformation eines Unternehmens überhaupt mit den erfahrenen Langzeit-Führungskräften vollziehen lässt. Die Antwort hierauf überlasse ich jedem selbst, ebenso wie es in der Selbstverantwortung einer jeden Führungskraft liegt, sich für die digitale Transformation fit zu machen und sich der hierfür erforderlichen Veränderung zu unterziehen. Greift man die in Abschnitt 2.4 erläuterten Auswirkungen der Digitalisierung und die damit verbundene Veränderungsnotwendigkeit von Banken und Sparkassen auf, nimmt Führung jedenfalls den Platz einer zentralen Stellschraube ein. Dies bestätigen auch Hays (2016) in ihrer Umfrage unter Führungskräften zu den Herausforderungen der digitalen Transformation für die Arbeitsorganisation in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Demzufolge gaben 53 % der Führungs-

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

kräfte (bei 591 Befragten) an, eine der fünf größten Herausforderungen für die Arbeitsorganisation sei die nötige Anpassung der Führungskultur an flexible Arbeitsmodelle. Aber was meint Digital Leadership genau? Wagner (2018) zeigt vier Blickrichtungen für eine erste Begriffseingrenzung: 1 . Führung mit digitalen Techniken (wörtliche Übersetzung) 2. Führung von digitalen Talenten (sinngemäße Übersetzung) 3. Digitale Marktführerschaft (sinngemäße Übersetzung) 4. Erfolgreiche Führung in Zeiten der digitalen Transformation (holistische Übersetzung) Definition 4 bezieht die ersten beiden Interpretationen mit ein und bildet die Basis für die nachfolgenden Ausführungen. Petry (2019) sieht bei Führungskräften in diesem Zusammenhang einerseits eine Treiber-, als auch Befähiger-Rolle für die Entwicklung eines digitalen Mindsets, und damit der Einstellung oder auch Grundhaltung zur Digitalisierung im Unternehmen. Dieses geht über das Verständnis der digitalen Kundenerfahrung hinaus, erstreckt sich auf das ganze Unternehmen und erfasst somit auch interne Prozesse und Vorgehensweisen. Capgemini Invent (2015) geben einen Überblick darüber, wie sich Zusammenarbeit im digitalen Zeitalter verändert: • Hyperconnectedness: Zusammenarbeit geschieht in Netzwerken aus Netzwerken, wobei es unmöglich wird, alle Verbindungen zu kontrollieren. • Wissensmanagement: Statt individuelles Wissen wird kollektives Wissen sehr viel wichtiger – selbst erfahrene Expert*innen müssen auf Kenntnisse Dritter vertrauen. • Flache Hierarchien: Virtuelle und kurzlebige Teams ersetzen bürokratische und hierarchische Strukturen. • Kommunikation: Virtuelle Arbeitsplätze in unterschiedlichen Zeitzonen verändern die Kommunikation. • Einfluss: Informelle Gruppen und Meinungsführer*innen können großen Einfluss auf den Erfolg einer Organisation haben. • Arbeitsweisen: Innovationsprozesse sind von Interaktionen und nicht-­ routinierten Prozessen geprägt. • Schnelligkeit: In allen Arbeitsbereichen wird der Innovations- und damit auch der Veränderungsrhythmus erhöht.

4.3 Digital Leadership

93

Den digitalen Reifegrad von Führungskräften ordnen sie mit Hilfe eines Digital Leadership Assessments in einer Digital Leadership Matrix ein (vgl. Abb. 4.4). Radermacher (2018) betont im Kontext einer zunehmenden Digitalisierung die Bedeutung des Netzwerks und die damit erforderliche Steigerung der Vernetzungsdichte. An Stelle von Zielvereinbarung und Kontrolle sieht er die Gestaltung optimaler Rahmenbedingungen für Kooperation. Das Konzept einer hierarchisch steuernden Führung steht mit der digitalen Transformation vor seinem Offenbarungseid. An die Stelle rigider Weisungs- und Berichtsketten tritt zunehmend die Impulskraft moderierter, sich selbst organisierter Netzwerke.

Er vergleicht Führen im digitalen Umfeld mit dem Hüten von Katzen. Eigensinnig, unabhängig und gelegentlich kapriziös und damit anders als die gehorsamen und folgsamen Hunde, stellen Mitarbeiter*innen das ArbeitgeberArbeitnehmer-­ Verhältnis zunehmend auf den Kopf. Flexible Arbeits- und Kooperationsmodelle untergraben die Bindung gut qualifizierter, innovativer und kreativer Mitarbeiter*innen an das Unternehmen. Die Arbeit selbst, die Freude daran und die Entfaltungsmöglichkeiten der eigenen Potenziale gewinnen zentralen Stellenwert. Eine ergebnisorientierte Führung jenseits starrer

Abb. 4.4  Digital Leadership Matrix, Quelle: Capgemini Invent. (Eigene Übersetzung)

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

Strukturen, verbunden mit Anerkennung und Wertschätzung der Mitarbeiter*innen, löst eine auf Kontrolle ausgerichtete Präsenzkultur ab. Während die Digitalisierung traditionelle Arbeitskonventionen in Frage stellt, müssen sich Führungskräfte damit auseinandersetzen, wie sich den verändernden Rahmenbedingungen im Führungsverhalten Rechnung tragen lässt. Buhse (2014), Experte und Vordenker für Digital Leadership, hat mit dem Akronym VOPA+ versucht eine Antwort darauf zu geben. Das VOPA+ Modell wurde gezielt als Antwort auf die Herausforderungen einer VUKA-Umwelt entwickelt. In seinem Zentrum steht die Vertrauenskultur. Diese dient als Basis, digitalen Veränderungsprozessen erfolgreich begegnen zu können. Die Anforderungen an die ­Führungskraft fasst das Modell in vier Dimensionen zusammen: „Vernetzung“, „Offenheit“, „Partizipation“ und „Agilität“.

Vernetzung: Es gilt Vernetzungen zwischen Menschen über verschiedene Kanäle und soziale Plattformen herzustellen. Führungskräfte sind dennoch gehalten, den direkten persönlichen Austausch zwischen den Mitarbeitenden zu ermöglichen. Offenheit: Offenheit bedeutet, den gegenseitigen Wissensaustausch zu fördern und Informationen allgemein zugänglich zu machen. Eine Form des aktiven, kurzen Wissensaustauschs bildet beispielsweise ein Weekly Standup-Meeting. In diesem beantwortet jeder Mitarbeitende 3–4 zentrale Fragen wie: „Welche Aufgaben bearbeite ich während dieser Woche?“, „Welche Aufgaben/Projekte stehen zukünftig an?“, „Wie hoch ist mein Auslastungsgrad?“ und „Wie geht es mir?“. Partizipation: Partizipation bedeutet, kollektives Wissen anhand von konstruktiven, motivierenden und hierarchiefreien Formen des Austausches mit Einbezug möglichst vieler Personen zu nutzen – sei es in Form von Präsenzworkshops (z. B. Open Space) oder virtuellen Workshops über Onlineplattformen (z.  B. der Cloud-Lösung Trello oder bank-/sparkasseninterne Plattformen). Dabei hat jede(r) Mitarbeitende die Gelegenheit, sich einzubringen. Agilität: Wesentliches Merkmal von Agilität ist, sich schnell an ein sich permanent veränderndes Umfeld anpassen zu können und aus den gemachten Erfahrungen zu lernen. Agilität bezeichnet auch die Bereitschaft, Neues zu wagen sowie eigene Lösungsansätze und Handlungsoptionen zu entwickeln. Vertrauen (entspricht dem +): Eine Vertrauenskultur zu schaffen heißt, in die fachlichen und sozialen Fähigkeiten der Mitarbeitenden zu vertrauen und ihnen die Möglichkeit zur Selbststeuerung und -verantwortung zu geben.

4.3 Digital Leadership

95

Führungskräfte, die das VOPA+ Modell in ihrer Werthaltung verinnerlicht haben, richten ihre Alltagshandlungen danach aus. Sie sind in der Lage, in sich ständig wechselnden Kontexten die verschiedenen Führungsstile agil und flexibel anzuwenden. Das hilft ihnen im digitalen Zeitalter erfolgreich zu führen. Praxisbeispiel

Teilweise ist für einzelne Führungskräfte nicht unmittelbar nachvollziehbar, worum es genau geht, wenn von einem Aufbau von digitalen Kompetenzen gesprochen wird. Grundsätzlich sind immer alle dafür, mehr digitales Know-how in die Bank/Sparkasse zu bringen. Wie dies aber konkret bei den Mitarbeiter*innen erfolgen soll, ist nicht immer transparent. So musste, wie in einem Fall, dem Vorstand klar werden, dass sich die Wahrscheinlichkeit zum Erreichen der strategischen Ziele, wie z. B. „ein agiles Vorgehen zur Förderung von Innovationen etablieren“ oder „Digitale Angebote entwickeln und Produkte digitalisieren“ dadurch erhöht, dass die Mitarbeiter*innen der Bank ihrerseits ihre digitalen Kompetenzen aufbauen. Dadurch lenken sie ihr Verhalten stärker in die gewünschte Richtung und zahlen damit mittelbar oder unmittelbar auf diese Ziele ein. Erst nach dieser Erkenntnis gab er die erforderlichen Projektschritte zur Entwicklung einer Kompetenzsystematik frei. Auch in den Fachbereichen reicht es oft nicht aus, digitale Kompetenzen und Verhaltensanker zu definieren (siehe Abschn. 6.4). Häufig nimmt dies für die Anwendung eine zu hohe Abstraktionsebene ein. So bedarf es einer zusätzlichen Übersetzung, was dies in der Arbeitspraxis des Mitarbeiters/der Mitarbeiterin bedeutet. Beispielsweise wirkt sich dies folgendermaßen aus: • Aufbau und Nutzung einer CRM (Customer-Relationship-Management) -Systematik. • Einsatz eines Ticket-Systems/der Vorgangssteuerung zur Schaffung von Transparenz zu Arbeitsabläufen. • Einbindung von Recherche-Ergebnissen im Internet in die eigene Arbeit. • Nutzung von Foren, Suchmaschinen, Netzwerken und weiteren Plattformen zur Erweiterung des eigenen Wissens, des Wissens des Teams/der Bank/Sparkasse. • Berücksichtigung von Vorgaben bei fallabschließenden Vorgängen. • Bedachte und zielorientierte Nutzung der digitalen Anwendungen und Geräte in der Bank/Filiale/am Arbeitsplatz.

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

• Einbindung von Spezialisten in den Beratungsprozess über Videokanäle. • Unterstützung von Kolleg*innen per TeamViewer (oder ähnlicher Software) bei Problemlösungen. • Aktives Einbringen in hausinterne Foren im Intranet statt reine Konsumentenhaltung. • Adressatengerechte Kommunikation per Chat und Mail (Einhaltung der Netiquette). • Beteiligung am Aufbau von Wissensdatenbanken im Team/der Abteilung/ der Bank/Sparkasse. • Effizienter Einsatz arbeitsplatzbezogener Tools. • Nutzung hausinterner Chats und Foren zum Austausch und zur Diskussion. • Sicherer Umgang mit Mobile Devices (Mobile Phones, Tablets etc.) im Kundenkontakt. Bereits heute und künftig noch viel mehr wird es notwendig sein, persönliche Bindung auch über unpersönliche, digitale Kanäle zu gewährleisten. Im Kundenverkehr ist dies in Banken und Sparkassen seit langem Normalität. In der Führung von Mitarbeiter*innen stellt dies jedoch nach wie vor ein großes Lernfeld dar, das uns zum nachfolgenden Führungsstil bringt. Fazit aus diesem Abschnitt Führungskräfte müssen sich selbst fit machen, um die Herausforderungen der digitalen Arbeit bewältigen zu können. Die Gestaltung optimaler Rahmenbedingungen für eine Kooperation der Mitarbeiter*innen innerhalb und außerhalb der Bank/ Sparkasse stellt eine weitere zentrale Erfolgskomponente für Partizipation und Agilität dar. Der Auf- und Ausbau digitaler Kompetenzen schafft mehr Optionen, um das Geschäftsmodell der Bank/Sparkasse weiterzuentwickeln.

4.4

Distance Leadership/virtuelle Führung

In der Banken- und Sparkassenwelt reißt der Trend zu immer größer werdenden Organisationseinheiten und Geschäftsgebieten nicht ab (vgl. Zeb 2018). Dabei gibt es durchaus Erfahrungen aus der Praxis, dass sich kleinere Organisationseinheiten besser händeln lassen.

4.4 Distance Leadership/virtuelle Führung

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Eines dieser Beispiele ist W. L. Gore. Das Unternehmen, das vor allem durch seine wasserdichte Bekleidungsmembran Gore-Tex bekannt ist, zählt nach wie vor zu den erfolgreichsten Unternehmen der Welt. Es hat bei mehr als 10.000 Mitarbeitenden nur drei Hierarchie-Ebenen: Es gibt den/die (demokratisch gewählte/n) CEO, eine Handvoll Abteilungsleiter*innen und den ganzen Rest. Sämtliche Entscheidungen fallen in selbstverwalteten Teams mit acht bis zwölf Mitgliedern – ob über Neueinstellungen, die Bezahlung oder über die Art der bearbeiteten Projekte. Statt formeller Organisationsstrukturen gibt es informelle. An die Stelle von Vorgaben und Anweisungen treten kulturelle, auf Vertrauen basierende Abmachungen unter den Mitarbeiter*innen. In Deutschland hat der Mittelständler neun Werke ausschließlich in Bayern. Jedes Werk bildet eine eigenständige Zelle von maximal 200 Mitarbeiter*innen. Der Vorteil dieser kleinen, eigenständigen Werke: höhere Effizienz. Denn schon bei mehr als 150 Mitarbeiter*innen kann es schwierig werden, mit allen Arbeitskolleg*innen schnell und unmittelbar zu kommunizieren und sich umeinander zu kümmern. Deshalb ist die Größe der ­einzelnen Werke begrenzt. Wächst ein Werk über 200 Personen im Schichtbetrieb hi­ naus, muss ein Neues her oder die Arbeit wird in ein anderes verschoben. Die Nähe der Werke zueinander und die flache Hierarchie ermöglichen es den Mitarbeiter*innen, sich auch zwischen den Zellen schnell und direkt auszutauschen. Jeder kann mit jedem sprechen und jeder soll jedem behilflich sein. Barrieren durch vorgegebene hierarchische Strukturen werden vermieden.

Wachsende Organisationseinheiten, z. B. durch Fusionen, haben bei Finanzinstituten häufig zur Folge, dass sich das Geschäftsgebiet flächenmäßig ausweitet. Um nicht zu viele Hierarchieebenen einzuführen, tragen Führungskräfte dann oft die disziplinarische Verantwortung für mehrere Standorte. Hinzu kommt, dass eine zunehmende Anzahl von Mitarbeiter*innen im Home-Office oder mobil ihre Arbeit verrichtet. Die Besonderheiten eines international ausgerichteten Finanzunternehmens mit den damit verbundenen kulturellen und sprachlichen Herausforderungen kämen noch hinzu, bleiben an dieser Stelle aber außen vor, um den Rahmen nicht zu weit auszudehnen. Alle diese Rahmenbedingungen führen dazu, dass räumliche Distanzen entstehen, die eine starke zeitliche Präsenz der Führungskräfte bei ihren Teams und Mitarbeiter*innen vor Ort nicht mehr im gewünschten Maße möglich machen und damit die direkte Kommunikation eingeschränkt ist.

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

Das ist nicht wirklich neu. Heute stehen jedoch vielfältige technologische Möglichkeiten zur Verfügung, mit deren Unterstützung Nähe zu den Mitarbeiter*innen auf unterschiedliche Art und Weise hergestellt werden kann. Kommunikationskanäle, wie z. B. Videokonferenzen, Cloud-Working und Net Meeting bieten gute Gelegenheiten, Informationen auszutauschen und Teammitglieder in Austausch miteinander zu bringen. Wald (2014) kommt daher folgerichtig zu der folgenden Definition: Erfolgt aufgrund des Mangels an direkten Kontakten die wechselseitige Einflussnahme zwischen Führungskräften und Geführten hauptsächlich mit Hilfe neuer Informations- und Kommunikationsmittel (IuK) beziehungsweise mittels sozialer Medien, so wird dies hier grundsätzlich als virtuelle Führung verstanden.

cc

Was aber ist erforderlich, um Teamarbeit im virtuellen Raum bzw. auf Distanz wirklich effizient zu gestalten?

Wie gut die einzelnen Häuser auf die dabei erforderlichen Rahmenbedingungen eingestellt sind, zeigte sich durch die Extremsituation im Frühjahr 2020 als zahlreiche Mitarbeiter*innen aufgrund der Präventiv- oder Quarantänemaßnahmen zum Covid-19 (Coronavirus) ihre Arbeit von zu Hause aus verrichten mussten. Bereits die Sicherstellung einer effektiven Kommunikation stellt im virtuellen Raum eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Einfaches lässt sich per Mail, Textnachricht oder internem Messagingsystem klären. Dringendes und Klärungsbedürftiges via Telefon oder Live-Chat und Komplexes am besten mit Hilfe einer Videokonferenz oder dann doch wieder persönlich von Angesicht zu Angesicht. In der Anfangsphase eines virtuellen Teams bedarf es daher einer hohen Unmittelbarkeit von Feedback, d. h. einer möglichst synchronen Kommunikation mit geringen Verzögerungen. Hierzu tragen z. B. Face-to-Face-Meeting, Telefon-, Videokonferenz, aber auch gute Nachbereitungsmöglichkeiten, wie z. B. Net Meeting-­Aufzeichnungen bei. Zusätzlich sind viele symbolische Informationen zur reinen Nachricht, wie z. B. mimische Hinweise oder der Klang der Stimme hilfreich, um die Sozialisation und Teambildung zu fördern. Remdisch (2005) hebt die Vorteile und Nachteile virtueller Teams hervor. Tab. 4.4 stellt diese gegenüber. Sie betont insbesondere das Dilemma, in einer virtuellen Welt Vertrauen aufzubauen. Vertrauen entsteht durch Face-to-Face-Interaktionen. Es entsteht mit der Zeit und je besser man andere kennt. Die virtuelle Welt jedoch beruht auf einem entgegengesetzten Prinzip: Schnelle Kontakte und eine Zusammenarbeit mit weitgehend Unbekannten.

4.4 Distance Leadership/virtuelle Führung

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Tab. 4.4  Vor- und Nachteile virtueller Teams Vorteile Flexible Einbindung von Expert*innen verschiedener Standorte Teamzusammensetzung orientiert sich nach Fähigkeiten, nicht nach Verfügbarkeit Hoher Grad an Selbstorganisation der Mitarbeiter*innen

Nachteile Geringere Identifikation mit der Organisation/dem Team Unsicherheit bzgl. Aufgaben, Rollen, Verantwortlichkeiten, Prioritäten Aufbau von Vertrauen ist schwierig

Reduktion von Reisekosten für Teammitglieder Optimierung der Zeitressource (reduzierte Reisezeiten, ggf. 24h-Arbeit) Optimierte Informationsversorgung

Gefühl der Isolation Abhängigkeit von Informations- und Kommunikations-Technologie Erhöhter Organisationsaufwand für lokale Treffen Schwierigkeit des Leistungs-Feedbacks Missverständnisse und Konflikte entstehen schneller

Eigene Darstellung in Anlehnung an Remdisch (2005)

Das Dilemma liegt darin, dass die Schwierigkeit, Vertrauen aufzubauen, mit einem zunehmenden Grad an Virtualität steigt. Gleichzeitig setzt das Arbeiten im virtuellen Team starkes Vertrauen in Personen voraus, die man nur virtuell kennt. Als eine zentrale Aufgabe einer virtuellen Führungskraft benennt sie daher den Aufbau von Vertrauen im Team. Gelingen kann dies durch die folgenden Aufgaben, die wiederum nicht wesentlich von denen in realen Teams abweichen: • Aktiv steuern, Informationsaustausch organisieren, Interaktion fördern (nicht nur aufgabenbezogene, sondern auch soziale Kommunikation); • Eigenschaften/Qualifikationen jedes einzelnen Teammitglieds, die zum Teamerfolg beitragen sollen, benennen; • Beiträge einzelner zum Teamerfolg hervorheben; • Anzeichen für Vertrauensbrüche nachgehen und Vertrauen wiederherstellen; • Misserfolge konstruktiv kommunizieren/das Lernpotenzial vermitteln; • Aufgabenkonflikte nutzen, um kreative Lösungen zu finden (statt Personenkonflikte daraus entstehen zu lassen). Häufig herrscht die Meinung vor, dass im virtuellen Raum völlige Freiheit für alle Beteiligten existiert. Das Gegenteil ist der Fall. Von allen Beteiligten sind mit hoher Disziplin eher eine größere Anzahl von Regeln einzuhalten als bei der Zusammenarbeit realer Teams.

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

Fragen

Die Klärung folgender Fragen können die Arbeit (nicht nur) im virtuellen Team unterstützen: • • • • • • • • • •

Ob, wann und wie regelmäßig sollen Treffen stattfinden? Wie werden Entscheidungen getroffen? Welche Erwartungen haben die Teammitglieder aneinander? Wie wird Feedback gegeben (im Team und vom Team-Leader)? Wie wird Kritik formuliert und wie wird damit umgegangen? Wie wird mit der Nichtbeachtung von Absprachen umgegangen? Wie werden E-Mails gehandhabt (wann abgerufen, wann beantwortet)? Wie kann man im Team Unterstützung einholen? Wie wird mit Erfolgen/„Spaß“ umgegangen? Wie wird mit Vertraulichkeit umgegangen (im Team/nach außen)?

Die Führungskraft auf Distanz muss Arbeitsaufgaben präzise strukturieren, eine gute Einarbeitung gewährleisten und dafür sorgen, dass Ziele, Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar sind. Denn im virtuellen Raum werden Missverständnisse bei Aufgaben und Entscheidungen, Schwierigkeiten bei der Aufgabenerreichung, fehlerhafte Prozesse, etc. oftmals erst viel später erkannt als bei realen Gruppen. Virtuelle Teams effektiv einzusetzen, ist ein diffiziles Unterfangen: Die Personalberatung Rochus Mummert (2013) stellt fest, dass rund 75  % der virtuellen Teams aufgrund der hohen Anforderungen an Teammitglieder und vor allem an Führungskräfte scheitern. Von der Führung traditioneller Teams bekannte Führungsherausforderungen potenzieren sich für Teamleitungen virtueller Teams. Akin und Rumpf (2013) betonen, dass vor der virtuellen Zusammenarbeit meist keine vorbereitenden Trainingsmaßnahmen stattfinden, weder für Führungskräfte noch für Teammitglieder. Und dies, obwohl es einer immensen Vorbereitung von Führungskräften und Teammitgliedern auf die Arbeit in virtuellen Teams bedarf. cc

Wie sollte erfolgreiches Führungsverhalten in virtuellen Teams ausgestaltet sein? Fajen (2017) nennt:

• Regelmäßige elektronische Kommunikation (bilateral als auch im gesamten Team) initiiert durch die Führungskraft; • Einsatz reichhaltiger Kommunikations- und Informationsmedien;

4.4 Distance Leadership/virtuelle Führung

101

• Teammitgliedern die notwendige Infrastruktur für die elektronische Kommunikation zur Verfügung stellen; • Die Führungskraft sollte Sprache bewusst einsetzen und sich rückversichern, ob Informationen wie beabsichtigt angekommen sind; • Organisation gelegentlicher Face-to-Face Treffen; • Die Führungskraft sollte über den genauen Standort und die Rahmenbedingungen der Arbeit ihrer Teammitglieder informiert sein; • Informationsfilterung und gleichzeitige Informationsdistribution; • Die Führungskraft sollte erreichbar sein und virtuelle Präsenz zeigen (z. B. durch eine Politik der offenen virtuellen Tür und ein schnelles Reagieren auf An­fragen); • Teammitgliedern klar strukturierte Aufgaben und regelmäßiges Feedback geben, um selbstständige Arbeit zu ermöglichen. Grote et  al. (2004) verweisen in diesem Zusammenhang auf das Sensing als eine der wesentlichen Führungsaktivitäten virtueller Teamleiter*innen. Sensing fokussiert auf die visuellen und die auditiven Sinnesmodalitäten und bedeutet, dass Leiter*innen virtueller Teams diese Sinnesmodalitäten für die im virtuellen Raum agierenden Menschen schärfen müssen. Dies insbesondere dafür, wie sie denken, fühlen und handeln, aber auch dafür, wie sie selbst über Informations- und Kommunikationsmedien wirken. Abb. 4.5 verdeutlicht, dass virtuelle Führung keinen eigenständigen Führungsstil darstellt, sondern vielmehr als integrativer Ansatz diverse Führungsstile und Verhaltensansätze in sich vereint. Praxisbeispiel

In der Praxis von Banken und Sparkassen erfährt virtuelle Führung eine große Interpretations-Bandbreite. Einige Institute sammeln gerade erst Erfahrung mit mobilen oder Home-Office Arbeitsplätzen, der sogenannten alternierenden Telearbeit. Für andere Institute ist dies bereits regelmäßiger Bestandteil ihrer Führungspraxis. Ein Aspekt zeigt sich bei der Führung auf Distanz jedoch durchgängig: Damit Vertrauen auf Distanz aufgebaut werden kann, sind regelmäßige Präsenz-­ Treffen unabdingbar. Technologie kann Distanzen zwecks Kommunikation und zum Austausch untereinander wunderbar überbrücken. Wenn es aber menscheln soll, bedarf es auch der Menschen hierzu. So berichtet eine Bereichsleiterin einer Bank in einem Workshop darüber, dass sie in Anlehnung an die Systematiken und Arbeitsmethoden der agilen Arbeit regelmäßige Treffen aller Teammitglieder organisiert, um persönliche Beziehungen untereinander zu fördern.

Abb. 4.5  Mehrdimensionales Modell des für multikulturelle virtuelle Teams am besten geeigneten Führungsverhaltens. (Quelle: Fajen 2017)

102 4  Führung zwischen Tradition und Wandel

4.5 Agile Führung/Agiles Coaching

103

Während der räumlichen Trennung wird der persönliche Austausch durch eine Chatfunktion auf den Arbeitsgeräten der Mitarbeiter*innen unterstützt. Dort werden in erster Linie persönliche, nichtfachliche Themen ausgetauscht. Den fachlichen, regelmäßigen Austausch versucht sie neben dem gängigen Mailverkehr einmal pro Woche zum Wochenstart über kurze, halbstündige Video- oder Telefonkonferenzen mit allen, die gerade Zeit und die Möglichkeit hierzu haben, sicherzustellen. Das Prinzip Selbstverantwortung setzt sie als hohes Gut bei allen Mitarbeiter*innen an. Im Mittelpunkt des Führens stehen die eigenverantwortlichen Aktivitäten der Mitarbeiter*innen, deren Umsetzung der Aufgaben und die daraus resultierenden Umsetzungsergebnisse. Am Ende der Woche ruft sie bei jedem Mitarbeiter/jeder Mitarbeiterin persönlich an, um das persönliche Befinden zu erkunden und kurz die Woche Revue passieren zu lassen. Zu viel des Guten? Vertrauen braucht eben eine gewisse Nähe, auch oder vor allem in der virtuellen Welt.

Fazit aus diesem Abschnitt Die Aufgaben von Führen in virtuellen Teams/bei der Führung auf Distanz ­unterscheiden sich augenscheinlich nicht von denen bei der Führung von Präsenzteams. Um Nähe über Distanz zu gewährleisten und Vertrauen auf Distanz aufzubauen bzw. aufrecht zu erhalten, bedarf es einer Kombination aus einer effizienten Nutzung technischer Möglichkeiten und einem regelmäßigen Austausch auch auf der persönlichen Ebene in Präsenztreffen. Führung sollte den persönlichen Kontakt zu Beginn der Arbeit auf Distanz intensiver gestalten und dann im weiteren Verlauf je nach Komplexität des dahinterliegenden Sachverhaltes angemessen ausrichten.

4.5

Agile Führung/Agiles Coaching

Ist es eine vorübergehende Modeerscheinung oder doch eine zwingende Notwendigkeit, sich mit Agilität und den damit verbundenen Organisations- und Arbeitsstrukturen und veränderten Führungsaufgaben in der Bank oder Sparkasse auseinandersetzen zu müssen? Und was meint Agilität überhaupt im Unternehmenskontext von Banken und Sparkassen? Dass Agilität an sich nicht neu ist, ist unbestritten. Bereits vor über vierzig Jahren hat es sich in der Softwareentwicklung durchgesetzt, schrittweise vorzugehen und damit eine zuverlässige Basis für Projektpläne zu schaffen. Dies ist heute in diesem Bereich eine gängige Praxis.

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

2001 entwickelten einige Verfechter dieser Methodik das „Agile Manifest der Softwareentwicklung“. Damit begann die Verbreitung des Begriffs „agil“ als Bezeichnung für eine neue Vorgehensweise und Organisation im Gegensatz zur traditionellen. Agiles Vorgehen zeichnet sich aus durch: • Vorgehen: Kleine Schritte mit kurzfristigem zeitlichen Rahmen, die aufeinander aufbauende, bereits benutzbare Teilergebnisse liefern; • Kontrolle: Kontinuierliche Überprüfung der Teilergebnisse und der Arbeitsweise unter regelmäßiger Einbindung der Nutzer; • Planung: Kontrolle als Basis für die Adaption der Planung der nächsten Schritte. Dieses Vorgehen funktioniert umso besser, je mehr die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: • Flexibilität: Bereitschaft für ein der Situation angepasstes Vorgehen statt strikter Einhaltung von Prozessen; • Offenheit: Bereitwilliges Aufnehmen neuer Kundenwünsche und Einsichten statt konsequenter Einhaltung längerfristiger Pläne; • Zusammenarbeit: Weitgehend autonome, sich selbst organisierende, funktionsübergreifend zusammengesetzte und von teamexternen Personen unabhängige Teams; • Form: Vorrang der persönlichen, spontanen Kommunikation vor Schriftlichkeit.

Der vermeintliche Siegeszug dieser Vorgehensweise bei der Softwareentwicklung hat zu einer erheblichen Verbreitung von „agil“ geführt und zum Bestreben, auch Bereiche außerhalb der Softwareentwicklung agiler zu gestalten. Korn (2016) gibt zu bedenken: All dies bedeutet in vielen Unternehmen eine erhebliche Veränderung gegenüber etablierten „Spielregeln“ und gipfelt oft in Idealvorstellungen einer insgesamt „agilen Organisation“ die sich von unten nach oben ohne Manager und ohne Anweisung und Kontrolle gestaltet.

4.5 Agile Führung/Agiles Coaching

105

Dies führt nicht selten dazu, dass Organisationen mit der Einführung agiler Strukturen überfordert sind und an der Umsetzung in der Praxis scheitern. Praxisbeispiel

Banken und Sparkassen gehen verstärkt dazu über, Schlüsselfunktionen für die Entwicklung und Einführung von Innovationen im Sinne eines CDO (Chief Digital Officers) einzurichten. Dies ist grundsätzlich sinnvoll, rückt die Thematik damit näher an die Vorstandsebene. Da diese Funktionen aber oft als Querschnittsfunktionen daran gemessen werden, wie schnell sie Neuerungen umsetzen, stoßen sie häufig auf Widerstände in den klassischen Linienfunktionen. Die Fachabteilungen und Bereiche verteidigen häufig ihre, nicht selten in Eigenentwicklung, aufgebauten Systeme und Vorgehensweisen als einzig funktionierende Lösung. Greift z. B., wie in einer Praxisbank erfolgt, ein Innovationsverantwortlicher in diese Konzepte durch Prozessveränderungen ein, fühlen sich die Fachverantwortlichen in ihrer Freiheit beschnitten und in ihrer zurückliegenden Arbeit nicht ausreichend gewürdigt. Hilfreich sind daher eine hohe Transparenz zur Sinnhaftigkeit möglicher Neuerungen für die betroffene Abteilung/den betroffenen Bereich sowie eine frühzeitige Einbindung der Betroffenen in den Veränderungsprozess. Alberts und Hayes (2009) schlagen vor, ein abgewandeltes Verständnis von agil zu verfolgen, das einer eher hybriden Vorgehensweise entspricht und sowohl ein inkrementell-adaptives Vorgehen als auch ein stark planbestimmtes und auf strikt einzuhaltende Prozesse abgestütztes Vorgehen ermöglicht. Nach ihren Vorstellungen ist eine Organisation dann „agil“, wenn die sie bildenden Menschen die folgenden Fähigkeiten und Eigenschaften mitbringen: 1. Robustheit: die Fähigkeit, aufgaben-, situations- und bedingungsübergreifend effektiv zu bleiben 2. Belastbarkeit: die Fähigkeit, sich von Unglücksfällen, Schäden oder einer destabilisierenden Störung der Umgebung zu erholen oder sich darauf einzustellen 3. Reaktionsfähigkeit: die Fähigkeit, auf eine Veränderung der Umgebung rechtzeitig zu reagieren 4. Flexibilität: die Fähigkeit, mehrere Lösungsmöglichkeiten einzusetzen und nahtlos von einer zur anderen überzugehen

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

5. Innovationsfähigkeit: die Fähigkeit, neue Dinge zu tun und alte Dinge auf eine neue Art und Weise zu tun 6. Anpassungsfähigkeit: die Fähigkeit, Arbeitsprozesse zu ändern und die Organisation zu ändern. Nur mal rein theoretisch: Wenn die Mitarbeiter*innen von Banken und Sparkassen diese Fähigkeiten mitbringen, braucht es dann überhaupt noch Führungskräfte? Korn (2016) behauptet, erfolgreiche Führung war schon immer agil. Diese These untermauert er dadurch, dass er Führung auf vertrautem, als stabil und sicher eingeschätztem Boden als mittelfristig entbehrlich hält. Er sieht Führung dann als nützlich, wenn sie die Entwicklung der oben genannten Fähigkeiten und deren ­Einsatz durch die Mitarbeiter*innen unterstützt und wenn ihr Ausmaß und ihre Art zur jeweiligen Situation passt. Um sich Klarheit darüber zu verschaffen, welche Arten von Führung geeignet sind, mit Unsicherheit und Unplanbarkeit umzugehen, formuliert er folgende Fragen: cc

cc cc cc

Braucht es auf unsicherem Boden vor allem charismatische und durchsetzungsstarke Führungspersonen mit einem ausgezeichneten Gespür für den richtigen Weg in hochkomplexen Situationen? Oder brauchen wir die freie Kooperation vieler entscheidungskompetenter Mitarbeiter*innen? Braucht es trotz allem möglichst klare Strukturen und Verantwortlichkeiten, um die Komplexität nicht noch zu erhöhen? Wie strikt darf und muss Führung sein? Ist selbstorganisierte Teamarbeit eine unrealistische Idealisierung?

Oestereich und Schröder (2017) plädieren für die Selbstorganisation und eine damit verbundene kollegiale Führung. Als Merkmale hierfür führen sie auf: • Ein hierarchisch organisiertes, soziales System, bei dem die Verantwortung dynamisch und situativ an die jeweils passenden Personen verteilt wird; • Schnelle und flexible Entscheidungen; • Interne Freiräume und Möglichkeiten; • Einfache Führungs- und Organisationswerkzeuge, die von jedem Mitarbeiter/ jeder Mitarbeiterin einfach angewendet werden können; • Führung als selbstverständliche Ergänzung der wertschöpfenden Arbeit und nicht nur auf exklusive Führungskräfte beschränkt;

4.5 Agile Führung/Agiles Coaching

107

• Berücksichtigung beider Aspekte: Hohe Komplexität und Dynamik sowie effiziente, leistungsfähige Prozesse; • Klare, sichere, belastbare, aber flexible Unternehmensstrukturen. Möglichkeit der Skalierung und Aufrechterhaltung von Innovation; • Der Einzelne kann in seinem Rahmen eigenverantwortlich Ideen umsetzen. Hierfür hat jeder die Chance übergreifende Ressourcen zu erhalten; • Nutzung der Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Menschen, statt Gleichmacherei; • Pragmatische Anwendung sozio- und holokratischer Grundprinzipien. Förderung wichtiger sozialer Werte und Haltungen; • Viele Ideen und Praxisbeispiele zeigen, wie es funktionieren kann. Praktiken werden ergänzt durch passende Theorien und Denkmodelle; • Zweck: Erzeugung von Kundennutzen, so profitabel, dass das Unternehmen für Inhaber*innen und Mitarbeiter*innen sinnvoll ist. Ihre Organisationsarchitektur ist von kollegialen Kreisen geprägt: Geschäftskreise (Kreis der direkten Wertschöpfung, wie Privatkunden, Firmenkunden, Digitale Kunden etc.), Unterstützungskreise (Marketing, Personalwesen, interne IT etc.) und Koordinationskreise (Kreise für übergreifende Führungs-, Entscheidungs- und Koordinationsarbeit, wie z. B. Strategiekreis etc.). Im Rahmen dieser Architektur und Systematik wird Führung über Prozesse und Werkzeuge anstelle von personenzentrierter Verantwortung abgebildet. Abb.  4.6 zeigt ein Musterbeispiel eines solchen Instruments, den Führungsmonitor. Pull statt Push. Der Führungsmonitor setzt auf das Prinzip, dass sich jede(r) Einzelne einer Aufgabe verantwortungsbewusst annimmt. Das Ergebnis der Arbeit wird allen Beteiligten zur Reflexion bereitgestellt. Dies fördert gleichzeitig das Lernen der Organisation. Auch Slogar (2018) postuliert in einer agilen Organisation von einer hierarchischen Führungsstruktur abzusehen. Stattdessen setzt auch er auf ein professionelles, verantwortungsbewusstes und distribuiertes Verständnis von Führung im Sinne einer Selbstorganisation und Selbstverantwortung der Mitarbeiter*innen. Wolf (2003) wiederum sieht das Prinzip Selbstverantwortung kritisch, wenn er anmerkt: Einerseits gehören nunmehr Selbstkoordination und kreative Problemlösung zum offiziellen Aufgabenkanon der Gruppe, andererseits fehlen Zeit und Personal, um diese Aufgaben angemessen erfüllen zu können.

Abb. 4.6  Führungsmonitor, Grafik von Bernd Oestereich (http://kollegiale-fuehrung.de); Lizenz: Attribution-ShareAlike 4.0 International (CC BY-SA 4.0)

108 4  Führung zwischen Tradition und Wandel

4.5 Agile Führung/Agiles Coaching

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So ist es wiederum Korn (2016), der auf die Herausforderungen der Selbstorganisation z. B. in Matrixorganisationen hinweist. Innerhalb dieser werden Teams sehr oft aus Mitgliedern diverser Organisationslinien zusammengesetzt oder aus Personen, die jeweils mehreren Chefs/Chefinnen unterstellt sind (disziplinarisch einer Linienführungskraft, fachlich einer Marktsegmentleitung). cc Bei der Matrixorganisation werden die nach Funktionen gegliederten vertikalen Linien von projekt- oder produktorientierten horizontalen Linien überlagert. Es entstehen dadurch Schnittstellen, welche von Mitarbeitenden oder von Teams besetzt werden können. Mit der Matrixorganisation sollen die Vorteile aus Funktional- und Spartenorganisation kombiniert werden, indem das Unternehmen nach Funktionen und nach Sparten (bestimmten Objekten) untergliedert wird. Dadurch entsteht eine flexible Organisation, welche durch ein hohes Expertenwissen gekennzeichnet ist (vgl. Gabler Wirtschaftslexikon 2019). Es liegt dann letzten Endes am Team oder gar am einzelnen Teammitglied selbst, die konkurrierenden Interessen und Vorgaben der verschiedenen ihm übergeordneten Organisationslinien unter einen Hut zu bringen. Dies scheitert regelmäßig daran, dass dem Team oder der Person in der Regel die Mittel und Entscheidungskompetenzen zur selbstständigen Gestaltung eines solchen Interessenausgleichs fehlen. In anderen Fällen sind die Kompetenzen zwar vorhanden, werden aber aus Angst vor Fehlern nicht wahrgenommen. Oder das Management greift trotz einer klaren Regelung zur Selbstverantwortung der Mitarbeiter*innen in der Matrix, im Sinne eines Mikromanagements, regelmäßig in die Entscheidungshoheit der operativen Ebene ein und hebelt damit die Matrix aus. Geht man aber nicht von einer Agilität der kompletten Organisation aus, wie bei den Ausführungen zur Ambidextrie in Abschn. 3.3 angenommen, so hat Führung durchaus ihre Berechtigung. So z. B. im Kontext der Projektagilität oder wenn das eigene Team agiler aufgestellt werden soll (Freyth und Baltes 2017). Schiefer und Nitsche (2019) geben einen umfassenden Überblick, wie sich die Rolle der Führungskraft in agilen Organisationen gestaltet. Als wesentlich stellen sie heraus: • Rahmenbedingungen für agiles Arbeiten schaffen = unterstützende, steuernde und gestaltende Funktion (Hofert 2017); • Hindernisse aus dem Weg räumen, erforderliche Ressourcen zur Verfügung stellen und Mitarbeiter*innen unterstützen, falls Hilfestellung erforderlich ist (Hofert 2017);

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

• Einen offenen, hierarchieübergreifenden Dialog fördern, Transparenz und Vertrauen schaffen sowie eine konstruktive Feedback- und Fehlerkultur formen, die Lernen, Kritik, Veränderung und Eigenständigkeit ermöglicht (Häusling et al. 2017); • Für eine effiziente Partizipation und Engagement jeder einzelnen Person sorgen und einen offenen Wissensaustausch fördern (Fox 2017); • Ein übergreifendes Denken der Mitarbeiter*innen unterstützen, das konträr zum klassischen Silo-Denken die Wertschöpfung des Unternehmens im Gesamten in den Vordergrund stellt und nicht die Leistung eines Einzelnen (Lasnia und Nowotny 2018); • Die Eigenständigkeit der Mitarbeiter*innen durch konsequentes Delegieren von Entscheidungen und Verantwortungen sowie dem Zuspruch bei der Entwicklung eigener Lösungsansätze fördern und fordern (Scheller 2017); • Das entstehende Vertrauensverhältnis stetig überprüfen, um Vertrauensbrüche zu reflektieren (Geschwill und Nieswandt 2016); • Für Produktivität und Ergebnisorientierung im Team sorgen. Der Fokus liegt auf der Leistung der Mitarbeiter*innen sowie auf einer maximalen Wertschöpfung. Dies stellt die Mitarbeiter*innen mit ihren Bedürfnissen und Kompetenzen stärker in den Mittelpunkt (Geschwill und Nieswandt 2016). Führung übernimmt dabei immer mehr die Rolle eines Agilen Coachs. Schiefer und Nitsche benennen jedoch auch Hindernisse von Seiten der Führungskräfte… • Selbstwahrnehmung der Führungskräfte: Sie nehmen sich selbst agiler wahr, als ihre Mitarbeiter*innen sie erleben (Geschwill und Nieswandt 2016); • Machtausübung seitens der Führungskraft: Im Rahmen agiler Personalführung können sie weniger Macht auf ihre Mitarbeiter*innen ausüben, da ihre Kon­ trollfunktion abnimmt und sie weniger Anweisungen erteilen können (Lasnia und Nowotny 2018). Das Machtmotiv ist bei vielen Führungskräften allerdings tendenziell eher stark ausgeprägt, da sie dadurch dem Streben nach Selbstbehauptung, Anerkennung, Kontrolle und Status nachgehen (Hofert 2017); • Horten von Wissen: Im Rahmen des agilen Führungsverständnisses wird Wissen offen geteilt. Die Mitarbeiter*innen der Fachbereiche sind die neuen Expert*innen. Es gelingt Führungskräften nicht mehr, Informationen für sich zu behalten, um eine Expertenstellung oder Machtposition zu halten und sich dadurch unentbehrlich zu machen (Appelo 2010).

4.5 Agile Führung/Agiles Coaching

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…und von Seiten der Mitarbeiter*innen: • Übernahme von Verantwortung: Manche Mitarbeiter*innen möchten aufgrund mangelnder Motivation oder Qualifikation nicht mehr Verantwortung übernehmen. Dies blockiert ihre Veränderungsbereitschaft (Geschwill und Nieswandt 2016); • Überforderung und Unsicherheit: Mitarbeiter*innen können sich in einem volatilen Geschäftsumfeld unwohl fühlen und eine ständige Veränderung sowie die geforderte Flexibilität als Stressfaktoren erleben (Appelo 2010). Das kann Angst auslösen, die im Extremfall in der inneren oder in der tatsächlichen Kündigung endet (Fox 2017); • Teamdynamik: Besteht ein Team aus Mitarbeiter*innen, die zusätzliche Verantwortung scheuen und sich gegen die Veränderung sträuben sowie einer Führungskraft, die an alten Führungsmustern hängt und nicht die Notwendigkeit zur Weiterentwicklung erkennt, existieren denkbar schlechte Bedingungen für agile Führung.

Praxisbeispiel

Um ihre Führungskräfte auf die Anforderungen der Agilität in der Bank vorzubereiten, hat ein Haus begleitend zu diversen Trainingsmaßnahmen ein Booklet herausgegeben. Dieses gibt neben den Erläuterungen zur Agilität, Hinweise zu den Auswirkungen für das Führungsverständnis und praktische Tipps zur He­ rangehensweise an veränderte Arbeitsbedingungen. Es gibt den Führungskräften der Bank Impulse zu folgenden Fragestellungen/Aspekten: • Warum beschäftigen wir uns mit dem Thema Agilität? • Was genau ist Agilität auf der Persönlichkeitsebene, Kundenebene, Teamebene und Prozessebene? • Was ist der Kern des agilen Arbeitens in der Bank (Werte, Prinzipien, Framework, Methoden und Techniken)? • Standpunkt der Bank zur Agilität im Abgleich mit dem aktuellen Führungsverständnis (Merkmale der Bank, agile Merkmale, darauf einzahlende Führungskompetenz). • Wo ist der Einsatz agiler Methoden in der Bank sinnvoll? • Agile Führung und die Bedeutung für die Führungskräfte (Rolle, Kompetenzen, Herausforderungen beim Einführen von agilen Methoden).

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

• Wie funktioniert die Umsetzung (mögliche Herangehensweise an agile Projekte)? • Abgerundet wird der Handlungsleitfaden durch eine kleine agile Toolbox für den Praxisstart. Fazit aus diesem Abschnitt Immer mehr Banken und Sparkassen streben danach Teilbereiche ihres Hauses agiler auszurichten. Dabei macht eine hybride Vorgehensweise Sinn, d. h. es werden lediglich die Teilbereiche neugestaltet, die sich mit Innovationen oder einer iterativen, prozessualen Arbeitsweise (z.  B. in der IT) auseinandersetzen. Der Selbstverantwortung aller Beteiligten kommt eine hohe Bedeutung zu. Führung verteilt sich auf unterschiedliche Rollen, als fachlicher Impulsgeber (z. B. in der Funktion eines Product Owners) oder methodischer Coach und Mediator bei Konflikten (z. B. in der Funktion eines Scrum Masters). Nicht Hierarchie, sondern die konkrete Lösung von Aufgaben und Problemen im Netzwerk von Fachexpert*innen steht im Vordergrund. Das Umsetzungsteam regelt Prioritäten und die Umsetzung von Maßnahmen eigenverantwortlich.

4.6

Zur Historie von Führungstheorien und -ansätzen

Warum in einem Kapitel über Führungsstile und -ansätze erst an dieser Stelle auf die Historie eingegangen wird und nicht bereits zu Beginn? Zum einen, weil es nicht Ziel ist, das wiederzugeben, was zahlreichen Fachpublikationen bereits umfangreich gelungen ist. Zum anderen, weil dieses Kapitel im Rückblick zeigen soll, dass viele der vorgenannten Führungsaspekte trotz modernem Anstrich nicht gänzlich neu sind, sondern ihre Ursprünge und Grundphilosophien bereits einige Jahre bzw. Jahrzehnte zurückliegen. Aber worauf sollte man eingehen, wenn man sich mit der Historie von Führungstheorien und -ansätzen auseinandersetzen möchte? Und wo sollte man anfangen? Die ältesten Führungstheorien setzen die Führungsperson in den Mittelpunkt des Interesses. Hieraus entwickelten sich die Führungsstil-Ansätze und Theorien zur situativen Führung. In den 60er-Jahren wurden im deutschsprachigen Raum Führungstheorien entwickelt, die sich nicht mehr nur auf die Führungskraft und ihr Verhalten beziehen, sondern versuchen, die Organisation als Ganzes, als System zu erfassen. Als bekanntestes Beispiel dient das St. Galler Managementkonzept und der von dem ös-

4.6 Zur Historie von Führungstheorien und -ansätzen

113

terreichischen Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmensberater, Fredmund Malik, daraus weiterentwickelte Ansatz der erlernbaren, wirksamen Führung. In den 70er-Jahren formten sich Ansätze, in denen die Beziehung zwischen Führenden und Geführten ins Zentrum der Betrachtung rückt, wie beispielsweise Servant Leadership, die Leader-Member-Exchange (LMX)-Theorie und Team Leadership. Es existieren motivations-, machtorientierte und psychologische Ansätze von Führung. Nicht zuletzt dürfen die Management by-Ansätze (Management by Objectives, Management by Delegation, Management by Exception, Management by Decision Rules) nicht außer Acht gelassen werden, will man sich einen umfangreichen Überblick verschaffen. Wie bereits erwähnt, werden diese Theorien und Ansätze in diesem Buch nicht aufgearbeitet, da es bereits zahlreiche ausgezeichnete Publikationen hierzu gibt (z.  B.  Stippler et  al. 2011: Führung  – Überblick über Ansätze, Entwicklungen, Trends). Eine grafisch interessant aufbereitete Übersicht zu Führungstheorien bietet HRM INSPIRATION (2017) in ihrer Streetmap Leadership. Dennoch kann ein Aufgreifen der wissenschaftlichen und praxisorientierten Historie von Führung nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, wenn es darum geht, die Wirkungsmittel erfolgreicher Führung zu hinterfragen. Provokant könnte man sogar die Frage stellen: Fragen

Braucht es wirklich neue Führungsansätze oder sind die eigentlichen Kompetenzen, die eine Führungskraft mitbringen sollte, nicht seit jeher die gleichen, nur in einem sich veränderten Umfeld immer wieder neu orchestriert? Einem Ansatz soll daher etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, dessen Begründer bereits früh viele Entwicklungen in der Unternehmensführung vorhergesehen hat. Bereits 1970 formulierte der Management-Vordenker Peter F. Drucker, ehemals Professor an der Claremont Graduate University, acht Prinzipien wirksamer und effektiver Führung: 1. Die richtigen Ziele setzen: Fragen, was zu tun ist, Prioritäten festlegen und diese strikt einhalten. 2. Prüfen, was gut und richtig für das Unternehmen ist: Die Interessen der wichtigsten Stakeholder in Entscheidungen mit einbeziehen.

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

3. Einen Aktionsplan aufstellen: Sich den gewünschten Ergebnissen nähern, Ideen in die Tat umsetzen und einen Umsetzungsplan erstellen. Dieser sollte öfters überarbeitet werden. 4. Handeln und Verantwortung übernehmen: Der Entscheidungsfindung, der Kommunikation, den Chancen und Risiken sowie den Besprechungen besondere Aufmerksamkeit widmen, um Pläne in konkrete Maßnahmen zu übersetzen. 5. Stimmige Kommunikation sicherstellen: Alle müssen den Umsetzungsplan verstehen. Klären, dass jede/r weiß, welche Aufgaben er/sie erledigen muss und welchen Beitrag er/sie damit zur Zielerreichung des Unternehmens leistet. 6. Sich auf Chancen konzentrieren: Jede Form von Wandel als Chance betrachten, statt als Bedrohung. Innerhalb und außerhalb des Unternehmens systematisch Ausschau nach Veränderungen halten. 7. Eine effiziente Sitzungskultur schaffen: Dafür sorgen, dass die Zusammenkünfte effektive Arbeitstreffen sind und nicht aufgeregte Diskussionsrunden. Eine effektive Nachbereitung der Sitzung sicherstellen. 8. Sich als Teil des Hauses verstehen: Der „Wir-Form“ den Vorzug vor der „Ich-­ Form“ geben. Führung wirkt vor allem dann, wenn die Menschen im Unternehmen der Führungskraft vertrauen. Bonusprinzip: Erst zuhören, dann sprechen. Anhand der ersten beiden Prinzipien erwerben sich Führungskräfte das erforderliche Wissen, das sie brauchen, um wirksam zu sein. Die Prinzipien drei bis sieben stehen für ein effektives Handeln, das auf dem erworbenen Wissen aufsetzt. Das letzte Prinzip bildet das Grundverständnis ab, das eine Wirksamkeit von Führung überhaupt erst möglich macht. cc

Warum diese Prinzipien zeitlos sind und auch heute noch eine hohe Aussagekraft besitzen?

Nach Druckers Einschätzung ist die Erhöhung der Produktivität von Wissensarbeiter*innen das wichtigste Ziel, welches das Management im 21. Jahrhundert erreichen muss (1959). Er verweist damit weit vor dem Beginn des heutigen Digitalisierungs- und Innovationszeitalters auf die Bedeutung eines optimalen Informationssystems, die Notwendigkeit von Innovationen – auch, um die qualifizierten, sachkundigen Mitarbeiter*innen anzuziehen  – und das Erfordernis der Selbstautonomie von Wissensarbeiter*innen (Drucker 2004).

4.6 Zur Historie von Führungstheorien und -ansätzen

115

Und selbst das Thema nachhaltige Unternehmensführung scheint Drucker nicht außer Acht zu lassen, wenn er sich im Anschluss an die Fragen „Was ist zu tun?“ und „Wo liegen meine Prioritäten?“ über die folgenden Fragen mit möglichen Hemmnissen auseinandersetzt (2004). • • • •

Ist unser Vorgehen ethisch einwandfrei? Ist unser Vorgehen legal? Ist unser Vorgehen unternehmensintern akzeptabel? Ist unser Vorgehen mit unseren Ideen, unseren Werten und unserer Unternehmenspolitik kompatibel?

Die Bedeutung der Ansätze Druckers hebt auch Professor Fredmund Malik (1998) hervor, wenn er schreibt: Man muss nicht alle Auffassungen Druckers teilen, aber man braucht sehr gute Argumente, um sie abzulehnen. Ignorieren kann man sie jedenfalls nicht, wenn man ernst genommen werden will.

Die Prinzipien wirksamer Führung haben heute noch die gleiche Gültigkeit, wie vor 50 Jahren. Tab. 4.5 versucht einen groben Brückenschlag zwischen den Prinzipien Druckers und den Anforderungen an eine moderne Arbeitswelt. Die Rahmenbedingungen für Führung haben sich einschneidend verändert. Wenden Führungskräfte von Banken und Sparkassen diese Prinzipien jedoch auch heute bei der strategischen Ausrichtung des Hauses oder im operativen Führungsalltag konsequent an, werden sie auch diesen Rahmenbedingungen gerecht. Dass dies durchaus auch von den Mitarbeiter*innen so gesehen wird, zeigen Köhler und Hamm (2019) in ihrer Studie „Wettbewerbsfaktor Mensch“. Dort stellen sie unter dem provokanten Titel „New Work? No way!“ in einer repräsentativen Erhebung mit 1.100 Mitarbeitenden unterschiedlicher Unternehmen, Branchen, Hierarchien und Altersgruppen in Deutschland überraschende Ergebnisse vor. Statt agiler Projektteams (Agilität und Innovation), selbstorganisiertem Arbeiten (operative Freiheit) oder New Leadership Ansätzen (Offenheit, Toleranz, Fehlerkultur, Führung als Coach) lösen vor allem authentische Führung mit Vorbildfunktion, Fürsorge im Sinne beruflicher Weiterentwicklungsmöglichkeiten und ein sicherer Arbeitsplatz Begeisterung bei Mitarbeiter*innen aus. Laut der Studie sind Glaubwürdigkeit, Orientierung, klare Zielvorgaben und natürlich auch Handlungsspielraum innerhalb gesteckter Grenzen gefragt. Die vornehmliche Aufgabe der Führungskräfte sollte es sein, die Unternehmensstrategie zu vermitteln und mit ihrem Team einen sinnvollen Beitrag dazu zu leisten. So die Erwartungen der Mitarbeiter*innen, oder wie Köhler es formuliert:

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

Tab. 4.5  Prinzipien nach Drucker und ihre Anwendung in der aktuellen Arbeitswelt Prinzip nach Drucker Anwendung in der aktuellen Arbeitswelt Richtige Ziele setzen. Erfährt gerade bei der Führung virtueller oder selbstverantwortlicher Teams eine hohe Bedeutung, da dies insbesondere der Eigenverantwortlichkeit und Selbststeuerung jedes einzelnen Teammitgliedes bedarf. Ein wichtiges Element agiler Arbeitsformen, wie z. B. Design Prüfen, was gut und Thinking, aber auch erfolgreicher Changeprozesse. richtig für das Unternehmen ist. Einen Aktionsplan Insbesondere bei Führung auf Sicht, steigender Komplexität und erstellen. stetigen Veränderungen relevant. Bindet Mitarbeiter*innen im Zuge einer zunehmenden Handeln und Digitalisierung und Agilität mehr in Führungsverantwortung und Verantwortung Führungskräfte mehr in Arbeitsprozesse ein. übernehmen. Sinnhaftigkeit ist nach wie vor eines der zentralen Elemente der Stimmige Mitarbeitermotivation und -bindung. Wirkt zudem der Gefahr der Kommunikation Informationsüberfrachtung in einer zunehmend digitalen sicherstellen. Unternehmenskommunikation entgegen und schafft Verbindlichkeit. Sich auf Chancen Schafft ein positives Veränderungsumfeld: Sog statt Druck. konzentrieren. Insbesondere durch die Nutzung neuer Möglichkeiten und Tools Eine effiziente aus der digitalen und agilen Arbeitswelt. Sitzungskultur schaffen. Sich als Teil des Stellt Authentizität und Glaubwürdigkeit sicher. Hauses verstehen. Eigene Darstellung Viel wichtiger als reflexartig modischen Buzzwords zu folgen, ist es, sich in den Unternehmen wieder mit dem zu beschäftigen, was echte Führung ausmacht.

Die Aussagen der „alten Meister“, wie Drucker oder Malik, haben somit auch heute noch Gewicht. So gehen beide in ihren Überlegungen davon aus, dass Führung erlernt werden kann. Aber ist dem wirklich so? Mit dieser Frage soll sich das folgende Kapitel auseinandersetzen. Fazit aus diesem Abschnitt Tradierte Ansätze von Führung haben nach wie vor ihre Berechtigung. Übersetzt man sie in die moderne Welt bzw. wendet man sie auf die aktuellen Anforderungen und Rahmenbedingungen an, so sind ihre Kernmerkmale ebenso wirkungsvoll, wie die neuerer, moderner Ansätze.

Literatur

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Reflexionsfragen zum Kapitel

• Welche Elemente neuer Führungsstile/-ansätze passen am besten zur gewünschten Führungskultur der Bank/Sparkasse? Zahlen diese auf das Unternehmensleitbild und die Strategie des Hauses positiv ein? Auf was kommt es bei Führung wirklich an? • Bringen die Führungskräfte des Hauses die erforderlichen Persönlichkeitsmerkmale mit, um das gewünschte Führungsverhalten in der Praxis umzusetzen? • Wie gelingt es, Emotionalität angemessen in den Führungsalltag einfließen zu lassen? • Woran lassen sich Authentizität und Vertrauen im Führungsverhalten konkret festmachen? Wie wird beides für die Mitarbeiter*innen erlebbar? • Wie ist der digitale Reifegrad der einzelnen Führungskräfte? Wie sind die damit verbundenen Zielvorstellungen? Wie werden Führungskräfte dahingehend entwickelt? • Wie stellt Führung Nähe bei der Führung von Mitarbeiter*innen auf Distanz sicher? • Welche Maßnahmen/Regelungen werden getroffen, um eine effiziente Teamarbeit im virtuellen Raum bzw. auf Distanz sicher zu stellen? • In welchen Teilbereichen der Bank/Sparkasse machen agile Arbeitsmethoden Sinn? • Wie werden die damit betrauten Führungskräfte und Mitarbeiter*innen auf die agile Arbeit vorbereitet? • Wie geht man an den Schnittstellen zur Hierarchie der Bank/Sparkasse miteinander um, ohne die agilen Arbeitsprozesse in Frage zu stellen bzw. auszuhebeln?

Literatur Akin N, Rumpf J (2013) Führung virtueller Teams. Gruppendynamik & Organisationsberatung 44(4):373–387 Alberts DS, Hayes RE, Honekamp W (Übersetzer) (2009) Power to the edge. Re Di Roma, Remscheid Appelo J (2010) Management 3.0. Leading Agile Developers, Developing Agile Leaders. Addison-Wesley Professional, Upper Saddle River Avolio BJ, Gardner WL, Walumbwa FO, Luthans F, May DR (2004) Unlocking the mask: a look at the process by which authentic leaders impact follower attitudes and behaviors. Leadersh Q 15(6):801–823 Bass BM (1985) Leadership and performance beyond expectations. Free Press, New York

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4  Führung zwischen Tradition und Wandel

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5

Führung und Persönlichkeit

cc cc cc

Gibt es die ideale Führungskraft? Wenn ja, welche Eigenschaften muss sie mitbringen, um Führungserfolg sicherzustellen? Können Führungskräfte einer Bank oder Sparkasse überhaupt in eine gewünschte Zielrichtung entwickelt werden?

Fragen wie diese beschäftigen sicherlich viele Entscheider*innen von Finanzinstituten, wenn es darum geht, das eigene Haus konsequenter an künftige Anforderungen anzupassen und die Führungskräfte hierzu enger in die Verantwortung zu nehmen. In der Praxis kommt es häufiger vor, dass die existierende Führungsmannschaft einem kritischeren Blick als noch vor zehn Jahren unterzogen wird, um da, wo erforderlich, „gegenzusteuern“. Aber wo genau setzt man an? Häufig wird die Verantwortung dafür, dass es nicht „rund läuft“ alleine in der Person der Führungskraft gesehen. Abb. 5.1 zeigt, dass die Wirkungszusammenhänge von Führung in der Bank oder Sparkasse viele Variablen und „Sollbruchstellen“ haben, die es zu betrachten gilt. In dem in der Abb.  5.1 dargestellten systemischen Gefüge nimmt die Führungskraft eine Schlüsselposition ein. Auf sie wirken die über Ziele übersetzten strategischen und kulturellen Rahmenbedingungen der Bank oder Sparkasse. Ebenso braucht es einen Schulterschluss zwischen ihr und der ihr übergeordneten

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Burkhart, Wirksame Führung in Banken und Sparkassen, Edition Bankmagazin, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29031-3_5

121

122

5  Führung und Persönlichkeit

Abb. 5.1  Wirkungszusammenhang Führung. (Eigene Darstellung)

Führungskraft. Steht sie mit allem im Einklang, wirkt sie im gewünschten Maß auf die zu führenden Mitarbeiter*innen, einzeln und im Team. In den folgenden Kapiteln sollen diese Wirkungszusammenhänge detaillierter betrachtet werden, um mögliche Ansatzpunkte für die Steigerung des Wirkungsgrades von Führung zu prüfen.

5.1

Führungsrolle

In einer Vielzahl von sozialpsychologischen Schriften wird das Individuum als Rollenspieler*in betrachtet, als handelndes Subjekt, das auf bestimmte Rollenerwartungen in spezifischer Weise reagiert (vgl. Dahrendorf 2006; Linton 1979). Nach Parsons und Bales (1955) bildet die Rolle den Schnittpunkt von Persönlichkeit und Gesellschaft. Akteur*innen richten dabei in Interaktion mit anderen ihr Handeln an den ihnen bekannten Rollenerwartungen aus. Ein optimales Rollenhandeln ist dann gegeben, wenn eigene Bedürfnisse und die Erwartungen des Gegenübers erfüllt werden. Bei der Auseinandersetzung mit der Wirkungsweise von Führungsrollen gibt es unterschiedliche Perspektiven, aus denen heraus sich ein Rollenverständnis interpretieren lässt.

5.1 Führungsrolle

123

• Die funktionalistische Perspektive Diese Perspektive wurde durch die Arbeiten von Linton (1945) geprägt und von Parsons (1951) weiterentwickelt. Demnach interagieren zwei Akteur*innen auf Basis eines stabilen, sozialen Systems miteinander. Ihrer Interaktion liegen Werte und Normen zu Grunde. Es wird erwartet, dass sich die Rolleninhaber*innen nach den Werten und Normen des Rollensystems richten und sich konform verhalten. Häufig orientiert sich die zweite Führungsebene einer Bank/Sparkasse an Wertvorstellungen und Verhaltensweisen ihres Ressortvorstandes. Ändert sich der kulturelle Rahmen des Hauses aufgrund der Anpassung des Geschäftsmodells, z. B. im Zuge einer stärkeren Digitalisierung in Richtung einer Netzwerkkultur, ist es insbesondere für die Vorstandsebene wichtig, das damit verbundene Verhalten vorzuleben. Scheren sie nämlich mit ihrem Verhalten aus dem vereinbarten Kultur-­Zielbild aus, so setzen sie automatisch einen neuen Rahmen, an dem sich die Bereichsleitung informell orientiert. • Die symbolische interaktionistische Perspektive Diese Perspektive geht davon aus, dass Rollen in einem hohen Maße gestaltbar sind. Soziale Interaktion bedingt demnach die Abstimmung von Erwartungen und Handlungen. Mead (1968) weist in diesem Kontext auf die zusätzliche Bedeutung von Symbolen, verdeutlicht durch Gesten, für den Abstimmungsvorgang hin. Er betont, dass über die Eigenwahrnehmung hinaus zusätzlich das Verhalten von Interaktionspartner*innen durch Rollenübernahme antizipiert wird. Dieses Einlassen auf andere vollzieht sich in Form eines Perspektivenwechsels. Dabei sieht jede(r) Interaktionspartner*in sich selbst aus der Sicht seines Gegenübers. In diesem Zusammenhang spricht man von der Verinnerlichung der Erwartungen des Interaktionspartners/der Interaktionspartnerin an sich selbst. Turner (1962) fügt der Rollenübernahme eine aktive Komponente zu. Im Interaktionsprozess werden die Rollen interpretiert, gedeutet und in der Folge gestaltet. Die Beziehung zweier Rollenträger*innen bleibt dabei immer offen und wird nicht final stabilisiert. Aus diesen Überlegungen heraus lässt sich vermuten, warum sich die Führungsmannschaft direkt unter dem Vorstand in „vorausschauendem Gehorsam“ verhält, um dessen Erwartungen zu entsprechen. • Die integrierende Perspektive Dreitzel (1980) versucht mit seinem Ansatz die beiden vorgenannten Perspektiven zu verbinden und damit deren Schwachstellen auszumerzen, indem er die Herkunft der für eine Rolle wichtigen Normen nach kulturellen, organisations- und situationsbezogenen Aspekten klassifiziert.

124

5  Führung und Persönlichkeit

Je nach Begründung der Normen lassen sie für den Rolleninhaber/die Rolleninhaberin entweder kaum interpretative Spielräume (kulturelles System, organisationsspezifisch) oder große Gestaltungsspielräume (situationsspezifisch) verbunden mit einer hohen Interpretationskraft der Rollenträger*innen zu. Wiswede (1977) führt in diesem Zusammenhang an, dass die Größe des Interpretationsspielraums vom Selbstbild des Individuums, von dessen Rollenerfahrung, seiner Macht und damit seiner Abhängigkeit von der vorliegenden Rollenalternative abhängt. Demnach würde in jeder Situation ein Interpretationsspielraum vorliegen. Mit Blick auf die Bank/Sparkasse bedeutet dies, dass Vorständen einer Bank mehr Interpretationsspielraum gegeben ist als z. B. der dritten Führungsebene. • Die organisationale Perspektive Dieser Ansatz versucht das Verhalten und die Beziehungen von Personen innerhalb einer Organisation zu erklären. Nach Katz und Kahn (1978) wird ein System (eine Organisation) durch rückgekoppelte und sich wiederholende Interaktionsprozesse gebildet. Die wiederkehrenden Aktivitäten von Mitgliedern der Organisation lassen sich nach Auffassung der Autoren als komplexes System von Rollen interpretieren. Die einzelnen Rollen stehen dabei in funktionaler Beziehung zueinander. Eine Rolle kann direkt mit einem Arbeitsplatz, dieser kann aber auch mit mehreren Rollen verbunden sein. cc

Welche Rückschlüsse lassen sich aus diesen Perspektiven für die Führungspraxis von Banken und Sparkassen ziehen?

• Jede Aufgabe im Unternehmen generiert ein dazu gehöriges Rollenverständnis. Nur wenn die eigene Rolle klar nachvollziehbar ist, kann jede Führungskraft zielgerichtet auf den Unternehmenszweck hinarbeiten. • Arbeiten Führungskräfte gezielt an ihrem eigenen Rollenverständnis, kann dies vor allem in kritischen Situationen bzw. Konfliktsituationen von Vorteil sein. Wer sich selbst in seiner Rolle und in der Wechselwirkung mit anderen hinterfragt, kann anschließend eine bessere Wirkung auf die zu führenden Mitarbeiter*innen erzielen. • Rollen dürfen nicht dazu eingesetzt werden, um sich für das Unternehmen, in dessen Auftrag man tätig ist, vollkommen zu funktionalisieren. Noch schlimmer wird es, wenn funktionalisierte Führungskräfte dies durch ihre Rolle auf die nächsten Mitarbeiterebenen übertragen, diese quasi im Sinne der eigenen Rolle „gebrauchen“.

5.1 Führungsrolle

125

• Die Vorbildfunktion von Führungskräften ist wesentlich dafür, dass sich Mitarbeiter*innen an deren Rollenverständnis orientieren. • Führungsgrundsätze/-leitlinien machen in der Art Sinn, da diese das Werte- und Normengerüst des „Rollensystems Führung“ abbilden, an dem sich alle Führungskräfte orientieren sollen.

Rollendilemmata, Rollenkonflikte und die möglichen Folgen für Führungskräfte In der Führungspraxis existieren eine Reihe von Dilemmata, denen Führungskräfte ausgesetzt sind und die aufgrund unterschiedlicher Anforderungen bzw. Erwartungen an ihre Rolle unvermeidbar auftreten. Führungskräfte stehen zum Beispiel vor dem Problem, ihren Mitarbeiter*innen das richtige Maß an Fremd- und an Selbstbestimmung zukommen zu lassen. Den Mitarbeiter*innen müssen einerseits gewisse Handlungseinschränkungen auferlegt werden (z.  B. im Rahmen regulatorischer Vorgaben oder prozessualer Erfordernisse). Andererseits sind, insbesondere bei den neuen Formen und Strukturen der Arbeitsorganisation, zunehmend Selbstständigkeit und ein selbstbewusstes, verantwortungsbewusstes Handeln der Mitarbeiter*innen gefragt. Treier (2019) fasst die Komplexität von Rollenerwartungen an eine Person in einer Organisation in Abb. 5.2 zusammen: Das Rollenverhalten aus organisationaler Perspektive stellt demnach ein Sen­ der-­Empfänger-Modell dar. Der Ansatz betont die wechselseitige, bidirektionale Verhaltensbeeinflussung zwischen Führungskraft und Geführten im Führungsprozess. Führung wird als interaktiver Prozess betrachtet, beeinflusst von den Persönlichkeitsmerkmalen der Geführten und der Führungskraft sowie der relevanten Situation. Ausgangspunkt sind die Rollenerwartungen des Senders, z.  B. einer Führungskraft, an den/die jeweiligen Arbeitsplatzinhaber*in, z. B. an einen ihrer Mitarbeiter*innen. Ob und inwieweit der/die Mitarbeiter*in auf die gesendete Rolle reagiert, hängt unter anderem davon ab, wie diese/r die gesendete Rolle wahrnimmt und interpretiert und wie er/sie dieses innere Abbild schließlich in Handlungen und Tätigkeiten überführt. Führungskraft und Mitarbeiter*in beeinflussen sich also aktiv und wechselseitig im Führungsprozess. Durch die zunehmende gesellschaftliche Differenzierung, die vielfältigere Arbeitsteilung und die Trennung von Arbeit und Freizeit übernimmt der Einzelne eine Vielzahl sozialer Funktionen. Mit dieser Vielfalt an Funktionen, die einander auch widersprechen können, wird Individualisierung notwendig, und damit verbunden auch der Umgang mit Rollenkonflikten (vgl. Parsons 1972).

126

5  Führung und Persönlichkeit

Abb. 5.2  Sender-Rollen-Modell der Führung in Anlehnung an Katz und Kahn (1978, S. 196)

Kahn et  al. (1964) differenzieren bei Rollenkonflikten zwischen gesendeten Rollenkonflikten  – hierunter fallen Inter-Sender-, Intra-Sender- sowie der Inter-­ Rollen-­Konflikt – und Person-Rollen-Konflikt. Die Autoren zeigen weiterhin auf, dass eine Person als Folge fehlender oder mehrdeutiger Informationen bezüglich ihrer Arbeitsrolle ein Grad an Unsicherheit erfahren kann (Rollenambiguität). Rollenambiguität wiederum tritt in vier Formen auf: • • • •

Zielunsicherheit Mittel-Ziel-Wissen (Unsicherheit darüber, wie eine Arbeit auszuführen ist) Unsicherheit über Konsequenzen des Rollenverhaltens Unsicherheit bezüglich der Zukunft

Rizzo et al. (1970) verdeutlichen zudem, dass aus einer Kombination von Inter-­ Sender- und Person-Rollen-Konflikt die Konfliktform der Rollenüberforderung/ Rollenüberlastung entstehen kann. In Folge dessen kann Rollenstress entstehen. Tab.  5.1 gibt eine Übersicht über die unterschiedlichen Definitionen, die den einzelnen Konfliktformen aus Abb. 5.4 zu Grunde liegen.

5.1 Führungsrolle

127

Tab. 5.1  Rollenkonfliktarten und -beschreibungen Rollenkonflikt Definition (1) Intra-­ Widersprüchliche gesendete Informationen von einer Person an eine(n) Sender-­Konflikt Empfänger*in (Eine übergeordnete Führungskraft behauptet an einem Tag einen bestimmten Aspekt und am Folgetag das Gegenteil). (2) Inter-­ Unvereinbarkeit von unterschiedlichen Erwartungen mehrerer Sender-­Konflikt Personen an ein- und dieselbe Rolle (Eine übergeordnete Führungskraft und eigene Mitarbeiter*innen haben unterschiedliche Erwartungen zur Zielvereinbarung/-höhe). (3) Inter-Rollen-­ Unvereinbarkeit der Erwartungen einer Person an unterschiedliche Konflikt auszufüllende Rollen (Als Linienführungskraft müssen eigene Ziele umgesetzt werden, die den Projektzielen eines bereichsübergreifenden Projektes entgegenstehen). (4) PersonUnvereinbarkeit zwischen den Überzeugungen einer Person und ihrer Rollen-Konflikt Arbeitsrolle im Unternehmen (Freisetzung von Mitarbeiter*innen des eigenen Verantwortungsbereichs, obwohl die Kapazitäten bereits an den Belastungsgrenzen sind). Eigene Darstellung

Eigene empirische Untersuchungen mit 821 Führungskräften über alle Führungsebenen verteilt haben gezeigt, dass Führungskräfte mit Blick auf die täglich erlebte Arbeitspraxis Rollenkonflikte, wenn auch in einigen Fällen moderat, wahrnehmen. Es wurde zudem deutlich, dass je mehr Hierarchiestufen sich über der jeweiligen Führungsebene befinden, umso intensiver Rollenkonflikte wahrgenommen werden. Warum dem Thema Rollen und Rollenkonflikte so viel Platz eingeräumt wird, soll anhand eines Beispiels erklärt werden. Praxisbeispiel

Die Wirkungszusammenhänge aus Abb.  5.1 sind regelmäßig Thema im Coaching von Führungskräften. Um die Wirksamkeit von Führung zu überprüfen, gelangt man im Laufe des Coachingprozesses an nahezu alle Schnittstellen dieses systemischen Konstrukts. Immer kommt es zur Klärung des Rollenverständnisses in Abstimmung zu den Rollenerwartungen der unterschiedlichen Stakeholder der Führungskraft, vor allem der übergeordneten Führungskraft. Dabei wird leider allzu häufig deutlich, dass es keine eindeutige Ziel- und Aufgabenklärung zwischen den Führungsebenen gibt. Dies ist nicht nur bei Führungskräften der Fall, die ein Team neu übernommen haben oder die neu in ihre Führungsrolle hineinwachsen. Leider kommt diese Situation auch bei etablierten Führungskräften vor, die

128

5  Führung und Persönlichkeit

kaum oder sogar kein Feedback von der darüberliegenden Führungsebene erhalten. Ihr Führungsverhalten hat sich von den Erwartungen dieser Ebene entkoppelt. In der Folge kommt es zu Missverständnissen, die sich bereits im Rahmen der Auftragsklärung des Coachings andeuten. Es scheint eine Art Selbstverständnis vorzuliegen, dass mit der Übernahme oder Durchführung einer Führungsaufgabe bereits klar sein müsse, wie Führung umzusetzen sei. Wird dann von der übergeordneten Ebene eine Rollenklärung eingefordert, bleibt diese nicht selten schwammig und unklar. Die Folge: Es entsteht die oben erwähnte Rollenambiguität, was im Extremfall zu Rollenstress führen kann. Auch Inter-Sender-Konflikte treten in der Praxis nicht selten auf. Sie sind dann besonders ausgeprägt, wenn Vorstände über die zweite Führungsebene hinweg, direkt auf das mittlere Management durchgreifen und Aufträge verteilen. Bei engen Kapazitäten entstehen Engpässe, die sich für die betroffene Führungskraft kaum lösen lassen. Diese Aufträge können auch widersprüchlich zur Interessenslage der eigenen Führungskraft sein. Übrigens: Manche Führungskräfte tendieren dazu, an mehrere Mitarbeiter*innen gleichzeitig denselben Arbeitsauftrag zu verteilen, um sich dann später zu wundern, warum diese zu viel Zeit mit Doppelarbeiten vergeuden. Dieser Inter-Sender-Konflikt wird im Coaching gleichermaßen zum Thema, wenn sich die Anforderungen aus dem privaten und beruflichen Umfeld der Führungskraft nicht vereinbaren lassen. Auch Intra-Sender-Konflikte treten, wenn auch zum Glück seltener, auf. Wie z. B. in diesem Fall: Der Vorstand einer Bank konnte sich nach einiger Zeit nicht mehr daran erinnern, dass er seinem Bereichsleiter einen Auftrag erteilt hatte und war dann verwundert, dass dieser ihn pflichtbewusst ausgeführt hatte. Nicht unüblich werden vergleichbare Situationen mit dem Aussage-Klassiker: „Das habe ich so nie gesagt/gemeint“ abgewiegelt. Zunehmend lassen sich mit dem Wandel der Arbeitswelt und dem damit verbundenen Kulturwandel der Bank oder Sparkasse Person-Rollen-Konflikte bei Führungsverantwortlichen beobachten, z. B. wenn das eigene Wertegerüst nicht mehr zur Neuorientierung des Hauses passt. „Ich weiß nicht, ob ich mir das alles noch antun möchte“ ist dann die harmloseste verbale Ausprägung dieser Konfliktform, die im Coaching geäußert und aufgearbeitet werden muss. Im schlimmsten Fall führt dies zur inneren (stillen) Kündigung, Absentismus oder einem kompletten Ausfall der Führungskraft. Unabhängig von konkreten Praxisbeispielen liegt es auf der Hand, dass die veränderten Anforderungen an eine moderne Führung, wie sie in Kap. 4 genannt sind,

5.2  Persönlichkeitsmerkmale und Führungserfolg

129

eine klare Definition von Führungsrolle und -aufgaben für alle Führungspersonen der Bank/Sparkasse erforderlich machen. Seminare zur Vermittlung des neuen Verständnisses reichen hierzu nicht aus. Am Ende geht es um das konkret wahrnehmbare Führungsverhalten und die Messbarkeit dessen. Kap.  6 wird die Thematik noch ausführlicher aufgreifen. Fazit aus diesem Abschnitt Wenn Führung wirksam werden soll, muss auf unterschiedlichen Ebenen eine Rollenklarheit vorliegen. Dies sowohl im inneren, bei der Auseinandersetzung der Führungskraft mit den eigenen Vorstellungen zu Führung und den äußeren Anforderungen, als auch nach außen, an den Schnittstellen, die das Führungsdenken und -verhalten mit beeinflussen. Gelingt dies nicht, geht Führungswirkkraft verloren und führt im schlimmsten Fall zur Überforderung.

5.2

Persönlichkeitsmerkmale und Führungserfolg

cc Ein Persönlichkeitsmerkmal (auch Charaktereigenschaft oder -merkmal genannt) ist ein Begriff aus der Persönlichkeitspsychologie, der eine verhältnismäßig – auch über die Zeit – beständige Eigenschaft einer Person beschreibt, auf bestimmte Weise zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten (Psylex 2019). Vasella (2016) beschreibt die Herausforderungen, denen sich z. B. ein(e) CEO tagtäglich stellen muss und die damit verbundenen Eigenschaften wie folgt: • Das Mandat richtet sich an den Anforderungen der Unternehmensumwelt aus. • Es gilt langfristige Megatrends als auch kurzfristige Veränderungen zu erkennen, um erfolgreiche Strategien zu erarbeiten und umzusetzen. • Der Gestaltungswille muss mit einem Interesse an Menschen, Teams und der Primäraufgabe gepaart sein. • Die Interessen von zahlreichen Interessensgruppen müssen erkannt, ihre Relevanz eingeordnet und die Interessen entsprechend bedient werden. • Der/die Unternehmensleiter*in fungiert als semipermeable Membran zwischen Innen- und Außenwelt der Firma. • Der/die CEO benötigt ein klares Wertesystem, gepaart mit einer stabilen Ich-Identität und Selbstbewusstsein.

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5  Führung und Persönlichkeit

• Die Rolle verlangt Ausdauer (da Veränderungen Zeit brauchen) und zugleich Ungeduld (zur Beschleunigung von Prozessen). • Dauerbeanspruchungen werden schnell zum Alltag und zu einer 24/7 Herausforderung. • Multiple Reiseanforderungen oder zahlreiche lokale Verpflichtungen lassen kaum Zeit für die Familie, geschweige denn für Hobbies. • In Krisenzeiten braucht es ruhige Entschlossenheit und realistische Zuversicht, in guten Zeiten gilt es gesunde Unruhe zu stiften, um Veränderungen anzutreiben. • Ständig müssen Entscheidungen aufgrund fragmentarischer Informationen und unter Unsicherheiten gefällt werden, was eine entsprechende Risikobereitschaft voraussetzt. • Urteilskraft und Mut sind ebenso wichtig wie die Fähigkeit, mit Dilemmata umzugehen und frei von früher gefällten Entscheidungen und Konventionen immer wieder neu zu beurteilen und zu handeln. • Schlechte Nachrichten dürfen nicht zur Denkblockade führen. • Als Autoritätsperson und Identifikationsfigur ist der/die Leader*in exponiert und Zielscheibe interner und externer Bewunderung sowie Angriffen und Anfeindungen ausgesetzt. • Je nach Situation sollte der/die Leader*in die eigene emotionale Reaktion als diagnostischen Schlüssel gebrauchen können, ohne aber die Gefühle auszuagieren. • Im Fall von Kritik hilft Ruhe und Zuversicht. Die perfekte Führungskraft gleicht in dieser Beschreibung der berühmten „Eierlegenden Wollmilchsau.“ Selbst wenn man die Messlatte nicht ganz so hochlegt, wird kaum eine Führungskraft all diese Eigenschaften authentisch zu jeder Zeit in sich vereinen können, was sie auf anderen, nachgelagerten Führungsebenen der Bank oder Sparkasse auch nicht muss. Wenn man nun aber wüsste, welche Merkmale einer Persönlichkeit den Führungserfolg tatsächlich ausmachen, wäre es dann nicht zielführend, die komplette Führungsmannschaft in der Bank oder Sparkasse auf diese Kriterien hin zu überprüfen? Wäre es nicht folgerichtig, nur diejenigen in der Position zu belassen, die diesen Erfolg mit hoher Gewissheit garantieren? Ganz so einfach ist es leider nicht. Höft (2015) stellt sich exakt dieser Frage. Er bestätigt einerseits die bedeutende Rolle der Führungsperson selbst, mit ihren individuellen Merkmalen, bei der Erzielung von Führungserfolg. Andererseits verweist er auf das komplexe Zusammenspiel weiterer, unterschiedlicher Faktoren.

5.2  Persönlichkeitsmerkmale und Führungserfolg

131

Abb. 5.3  Rahmenmodell zu erfolgreicher Führung. (Quelle: Höft 2015)

Abb. 5.3 greift sein Rahmenmodell zur erfolgreichen Führung auf. Unterschiedliche Merkmale der Führungskraft (auch Dispositionen genannt) bilden die Grundlage für das von der Person typischerweise gezeigte (Führungs-) Verhalten. Dieses Führungsverhalten erfolgt dann wiederum im Zusammenspiel mit den geführten Mitarbeiter*innen. Diese bringen eigene Interessenlagen und Kompetenzen in die Interaktion ein. Die gemeinsame Arbeit von Führungskraft und Mitarbeiter*innen ist wiederum in eine Unternehmensumwelt eingebettet, die auf der Mikroebene (z. B. bei der konkreten Ausgestaltung der Arbeitsumgebung und Beschaffenheit der zu erledigenden Aufgaben) wie auch der Makroebene (z. B. den gesetzlichen Vorgaben, Umwelteinflüssen) auf den Führungserfolg Einfluss nimmt. Die Persönlichkeitsmerkmale der Führungsperson bilden nach diesem Modell den Hintergrund für Verhaltensgewohnheiten und prägen auch die Ausgestaltung von Interaktionen im Kontext von Führung.

132

5  Führung und Persönlichkeit

Welche Personenmerkmale halten aber der Wissenschaft stand, wenn es um einen positiven Zusammenhang mit Führungserfolg geht? Bei den gängigen wissenschaftlichen Metaanalysen können zu den untersuchten Eigenschaften von Personen im Sinne der Persönlichkeitspsychologie zwei große Merkmalsklassen (Traits und States) unterschieden werden (Kubiak und Weber 2006): • Trait-ähnliche Eigenschaften: Sie besitzen eine hohe Konstanz, sind über die Zeit (= stabil) und/oder in verschiedenen gleichartigen Situationen wiederholt beobachtbar (= konsistent); • State-ähnliche Merkmale: Besitzen eine größere Veränderlichkeit (= zeitliche Instabilität) und Modellierbarkeit (= Veränderungssensibilität). Hoffman et al. (2011) fassen den aktuellen Stand des Zusammenhangs zwischen Personenmerkmalen und Führungserfolg (erfasst über objektive Maße und Beurteilungsskalen) zusammen. Die wichtigsten Ergebnisse sind in Tab. 5.2 dargestellt. Viele Personenmerkmale in der Tabelle weisen einen substanziellen Zusammenhang mit Führungserfolg auf (vgl. letzte Spalte der Tab. 5.2 = pxy > 0,30). Insgesamt befinden sich die Ergebnisse aber mehrheitlich im niedrigen Korrelationsbereich zwischen 0,20 und 0,30. Höft (2015) hält auf Basis der Ergebnisse fest: Die bestehenden metaanalytischen Befunde zeigen, dass Personenmerkmale einen substanziellen Zusammenhang mit Führungserfolg aufweisen, allerdings statistisch gesehen auf eher niedrigem Niveau. Den höchsten Zusammenhang weist nicht (wie oftmals üblich) Intelligenz auf, sondern bestenfalls davon abgeleitete Konstrukte (Kreativität, Management- und Problemlösungsfertigkeiten, Entscheidungsverhalten) und persönlichkeitsnahe Aspekte (Dominanz, Charisma, interpersonale Fertigkeiten). Dies deutet darauf hin, dass die Prognose von Führungserfolg komplexer ist und eine sorgfältige Vorbereitung und Ausgestaltung der Diagnose verlangt.

Die Big Five Persönlichkeitseigenschaften Eine Untersuchung des Zusammenhangs der prominentesten Persönlichkeitseigenschaften, der Big Five, mit Führungserfolg kommt zu aussagekräftigeren Ergebnissen.

5.2  Persönlichkeitsmerkmale und Führungserfolg

133

Tab. 5.2  Metaanalyse zum Zusammenhang zwischen Personenmerkmalen und Führungserfolg. (Quelle: verkürzte Tabelle aus Hoffman et al. 2011) Merkmal Trait-ähnliche Merkmale Leistungsmotivation Initiative Ehrgeiz Energie Machtmotiv Dominanz Extraversion Gewissenhaftigkeit Ehrlichkeit/Integrität Selbstvertrauen Anpassung Kreativität Flexibilität Selbstmonitoring Charisma Intelligenz State-ähnliche Merkmale Fachwissen Berufserfahrung Interpersonale Fertigkeiten Verbale Kommunikation Schriftliche Kommunikation Managementfertigkeiten Problemlösungsfertigkeiten Entscheidungsverhalten Organisation und Planung

N 115.327 11.167 1.580 199 2.285 2.009 10.335 14.506 4.234 3.123 11.888 9.223 5.869 4.745 3.468 15.711 15.985 31.524 6.455 4.368 2.953 4.002 2.264 879 3.574 2.811 4.218

K 498 35 17 3 13 8 44 39 17 11 55 18 22 15 16 86 99 165 12 43 26 25 12 14 7 9 17

RXY 0,22 0,23 0,15 0,15 0,23 0,12 0,27 0,12 0,13 0,25 0,21 0,10 0,24 0,14 0,16 0,48 0,15 0,20 0,15 0,08 0,25 0,22 0,18 0,33 0,28 0,38 0,16

pxy 0,27 0,28 0,19 0,05 0,29 0,16 0,35 0,15 0,16 0,29 0,24 0,12 0,31 0,19 0,19 0,57 0,17 0,26 0,19 0,10 0,30 0,25 0,24 0,40 0,39 0,52 0,17

Anmerkungen: N Größe der Gesamtstichprobe, K Anzahl der berücksichtigten Einzelstudien, rxy unkorrigierter empirischer Zusammenhang, pxy Zusammenhang nach Artefaktkorrektur]

Die fünf Faktoren des Modells sind definiert als: E = Extraversion (Extraversion). Beispiel-Item: „Ich habe gerne viele Leute um mich herum.“ Bei hohen Werten dieses Faktors hat die Person eine positiv-emotionale Erlebnisbereitschaft nach Herzlichkeit, Geselligkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Aktivität, Erlebnishunger und Frohsinn.

134

5  Führung und Persönlichkeit

Eine niedrige Ausprägung beschreibt ein einzelgängerisches, introvertiertes Verhalten mit sozialem Rückzug, Kontaktscheue und kühler Reserviertheit. N = Emotionale Labilität (Neuroticism). Beispiel-Item: „Ich fühle mich oft angespannt und nervös.“ Hohe Werte beschreiben eine ausgeprägte Bereitschaft, Stress negativ zu empfinden bzw. stark auf diesen zu reagieren. Dies ist meist an eine hohe Neigung zu unangenehmen Affekten wie Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Depression gekoppelt. Weiterhin ist mit hohem Neurotizismus soziale Befangenheit, emotionale Instabilität sowie Impulsivität und Verletzlichkeit verbunden. Der Gegenpol mit niedrigen N-Werten ist emotionale Stabilität mit Gelassenheit und Widerstands fähigkeit gegenüber alltäglichen Belastungen und Stress, Ausgeglichenheit und positivem Selbstempfinden. O = Offenheit für Erfahrungen (Openness to experience). Beispiel-Item: „Ich finde philosophische Diskussionen langweilig.“ (invertiert: Zustimmung zu der Feststellung spricht für geringe Offenheit). Hohe Offenheits-Werte stehen für Unkonventionalität, Fantasie, Kreativität und Erlebnisoffenheit mit Interesse an kulturellen, spirituellen, philosophischen und ähnlichen Gebieten. Eine geringe Ausprägung geht mit wenig Interesse an Neuem und Ungewohntem, hoher Konventionalität und einem engen weltanschaulichen Horizont einher. A = Verträglichkeit (Agreeableness). Beispiel-Item: „Ich versuche, zu jedem, dem ich begegne, freundlich zu sein.“ Hohe Ausprägungen dieses Faktors weisen auf pro-soziale Aspekte wie Al­ truismus, Entgegenkommen, Gutherzigkeit, Großzügigkeit, Vertrauen und Bescheidenheit hin. Niedrige Ausprägungen stehen für egoistische Tendenzen, Misstrauen, Unfreundlichkeit und Feindseligkeit sowie für Frustrationsintoleranz und hohe Konfliktbereitschaft. C = Gewissenhaftigkeit (Conscientiousness). Beispiel-Item: „Ich arbeite hart, um meine Ziele zu erreichen.“ Eine hohe Ausprägung bedeutet Selbstkontrolle, Disziplin, Moralismus und Rigidität. Weiterhin spielen Kompetenz und Leistungsstreben eine große Rolle. Auch die Wertschätzung von Regeln und Ordnung sowie eine Neigung zu Planungen und methodischem Vorgehen sind hierin enthalten. Niedrige Ausprägungen gehen mit einer Tendenz zur Planlosigkeit, Impulsivität, niedriger Selbstkontrolle, mangelnder Zeiteinteilung und Unzuverlässigkeit einher.

5.2  Persönlichkeitsmerkmale und Führungserfolg

135

Judge et al. (2002) zeigten, dass Persönlichkeitseigenschaften offenbar von großer Bedeutung für zwei Aspekte des Führungserfolgs sind: wer überhaupt in Führungspositionen gelangt (Führungsemergenz) und wer die Leistung seiner Geführten positiv beeinflusst (Führungseffektivität). Sie zeigen, dass Extraversion insgesamt die wichtigste Eigenschaft ist. Extraversion steht in einem starken Zusammenhang sowohl mit der Führungsemergenz als auch mit der Führungseffektivität. Beide Ergebnisse sind nachvollziehbar: Wer kontaktfreudig, gesellig und durchsetzungsstark ist, fällt eher auf und hat es dadurch leichter, Führungskraft zu werden. Und um Geführte positiv beeinflussen zu können, bedarf es einer Vorliebe zur Kommunikation. Hierbei haben Extravertierte Vorteile gegenüber Introvertierten. Auch die Eigenschaft Offenheit, also die Bereitschaft, andere Meinungen anzunehmen und neue Wege zu beschreiten, ist mit beiden Aspekten des Führungserfolgs verbunden. Für die Führungsemergenz ist dieser Metaanalyse zufolge auch Gewissenhaftigkeit (Zuverlässigkeit, Gründlichkeit, Diszipliniertheit) von großer Bedeutung. Die beiden anderen Big-Five-Persönlichkeitseigenschaften, Verträglichkeit und emotionale Stabilität, sind dieser Studie zufolge weniger wichtig.

Blickt man auf relevante Eigenschaften und Fähigkeiten von Führungskräften virtueller Teams, so gibt es bisher noch keine validen empirischen Befunde. Die meisten Studien untersuchen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten Teammitglieder für die virtuelle Teamarbeit besitzen sollten. So greift man auf einige der Eigenschaften und Fähigkeiten erfolgreicher Führungskräfte zurück, die denen von Führungskräften erfolgreicher traditioneller Teams entsprechen. Aufgeführt werden • Organisationstalent, Kommunikationsfähigkeit und Empathie; • Technikaffinität, um über Informations- und Kommunikationsmedien Ziele zu kommunizieren, Informationen zu distribuieren und Feedback zu geben; • Die Fähigkeit, sozioemotionale Prozesse, wie den Aufbau von Vertrauen und Zusammenhalt, bei der digital vermittelten synchronen und asynchronen Interaktion zu fördern.

136

5  Führung und Persönlichkeit

Weibler (2016) hält fest, dass sich lediglich eine bestimmte Anzahl von empirisch belegten Eigenschaften mit Führung in Verbindung bringen lassen. Gestützt werden diese Erkenntnisse durch eine intensivere Analyse der biografischen Faktoren, die von Seiten der Person mitschwingen. Sie sind den Eigenschaften vorgelagert und beeinflussen deren Ausprägung in der Interaktion mit Umweltreizen. Abschnitt 5.4 greift dies auf. Es lohnt sich somit, sich mit der Persönlichkeit einer (angehenden) Führungskraft auseinanderzusetzen, um mögliche Stärken als auch Herausforderungen im Führungsalltag zu ermitteln. Praxisbeispiel

Im Rahmen meiner Tätigkeit als bundesweiter Projektverantwortlicher für strategische Personalkonzepte für Genossenschaftsbanken wurde mir in einem Steuerungskreis von Bankvorständen die Frage gestellt, warum sich Vorstände in der Regel lediglich am Rand mit personalrelevanten Themen auseinandersetzen und diese mit weniger Nachdruck als die restlichen betriebswirtschaftlichen Themen vorantreiben. Die Antwort fällt nicht ganz leicht. Blickt man auf die beruflichen Karrierepfade vieler Unternehmenslenker*innen, so sind diese in erster Linie von zah­ lengeprägten Entwicklungspfaden im Vertrieb (Schwerpunkt Firmenkundengeschäft), der Steuerungsbank oder der Funktion als ehemalige(r) Prüfer*in geprägt. Auch während der Qualifizierung zur Bankleitereignung sind Personalthemen nach meiner Erfahrung als Referent Pflichtthemen, die bei der Übernahme von Projekt- und Abschlussarbeiten als letztes gewählt werden. Hand aufs Herz: Wer sich sein bisheriges berufliches Leben mit Leidenschaft der Zahlen-, Rechts- und Prozesswelt gewidmet hat, wird nicht vor Begeisterung auf dem Tisch tanzen, wenn es gilt, sich mit soziologischen, philosophischen und/oder psychologischen Fragestellungen auseinander zu setzen. Mag sein, dass ich an dieser Stelle bewusst polarisiere. Aber mal ehrlich: Worüber lässt es sich angeregter unterhalten? Über bilanzielle Gestaltungsmöglichkeiten oder die ständig auftretende Herausforderung, die Mitarbeiter*innen bei den anstehenden Veränderungen mitzunehmen. Wer letzterem keine große Aufmerksamkeit widmen möchte, dem beantwortet sich die Ausgangsfrage in diesem Beispiel von selbst.

Das Reiss Motivation Profile Ein Ansatz, der vor allem im Coaching Transparenz zu den Motivstrukturen einer Führungsperson und den sich daraus ergebenden Stärken und Herausforderungen im Führungsalltag ermöglicht, ist die Reiss Motivation Profile Analyse.

5.3  Persönlichkeitsmerkmale und Führungserfolg

137

Das wissenschaftliche Fundament des Reiss Motivation Profile bildet die Motivationsforschung des amerikanischen Professors Steven Reiss. Durch zahlreiche Studien mit Tausenden von Teilnehmer*innen identifizierte er insgesamt 16 psychologische Bedürfnisse, die jeder Mensch in sich trägt (Gianella et al. 2018). Tab.  5.3 beschreibt die jeweiligen Motive aus dem Blickwinkel einer jeweils starken und im Gegensatz dazu geringen Ausprägung. Im Unterschied zu vielen anderen Persönlichkeitstests erfasst das Reiss Motivation Profile damit die komplette Motiv-, Antriebs- und Wertestruktur eines Menschen. Nach allen bisherigen Erkenntnissen kann man davon ausgehen, dass die festgestellten Motivausprägungen situations- und zeitüberdauernd sind und sich im Laufe des Lebens nicht kategorisch verändern. Um die Individualität einer Motivausprägung zu bestimmen, werden die Antworten, die Teilnehmer*innen beim Ausfüllen ihres Fragebogens gegeben haben, in Bezug zu den Antworten einer repräsentativen Vergleichsgruppe (Norm) gesetzt. Die Häufigkeitsverteilung der Motivausprägungen wird in der grafischen Darstellung des Reiss Motivation Profiles durch eine Skala mit Werten von −2 bis +2 sowie den Farben blau und orange ausgedrückt: • Ein „oranges“ Lebensmotiv im Wertebereich von −0,84 bis +0,84 stellt eine durchschnittliche Motivausprägung dar. Etwa 60 % aller Menschen besitzen das Lebensmotiv in dieser Ausprägung. Wer eine durchschnittliche Motivausprägung besitzt, strebt nach ausgewogenen Anteilen beider Motivdimensionen. • Ein „blaues“ Lebensmotiv im Bereich von +0,84 bis +2,0 drückt eine sehr starke Motivation für das Lebensmotiv aus. Ein „blaues“ Lebensmotiv im Bereich von −2,0 bis −0,84 beschreibt eine sehr geringe Motivation für das Lebensmotiv und damit eine hohe Motivation für das gegenteilige Bedürfnis. In diesen Spannen weisen nur ca. 20 % aller Menschen Ausprägungen auf. • Liegt der Wert zwischen −2,0 bis −1,7 oder +1,7 bis +2,0, sind es sogar nur noch etwa 2 %. • Je weiter sich der Motivwert der −2,0 oder +2,0 annähert, desto einzigartiger ist die Motivausprägung. Die wissenschaftlichen Gütekriterien, die man an ein solches Verfahren anlegen kann, werden durchgehend hervorragend erfüllt. Das bedeutet, die Ergebnisse der Analyse lassen aussagekräftige Schlüsse auf ein Verhalten in der Praxis zu. Abb.  5.4 zeigt das anonymisierte Beispiel einer Führungskraft eines Finanzinstituts.

138

5  Führung und Persönlichkeit

Tab. 5.3 Reiss-Motive Macht

Stark

Gering Unabhängigkeit

Stark

Gering Neugier

Stark

Gering

Anerkennung

Stark

Gering Ordnung

Stark

Gering

Ehre

Stark

Gering Idealismus

Stark

Wunsch zu führen und Einfluss auszuüben, Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme, ambitioniert, strebt Erfolg und Leistung an, Ehrgeiz, möchte sich durchsetzen. Übt nicht gerne Einfluss auf andere Menschen aus, will andere nicht führen, mag es, wenn andere die Führung bzw. die Verantwortung übernehmen. Schätzt persönliche Freiheit, Autarkie und Selbstbestimmung, möchte nicht von anderen abhängig sein, nimmt nicht gerne Hilfe von anderen an, möchte ihre/seine Individualität ausleben, strebt nach Autonomie. Wunsch nach emotionaler Verbundenheit mit anderen und Gemeinschaft, Teamfähigkeit, kann sich gut auf andere verlassen. Sucht nach Wissen und Wahrheit, Tendenz den Dingen „auf den Grund zu gehen“, Intellektualität, wissbegierig, nachdenklich, analytisch, interessiert sich für Ideen, Wissen oder Theorien unabhängig von ihrer praktischen Relevanz. Interessiert sich für praktische Dinge und Praktikabilität, praxisorientierter Umgang mit Wissen, Macherin/Macher, Anwendungsorientierung, bevorzugt einen praxisorientierten Zugang. Empfindsam gegenüber Kritik und Zurückweisung, Streben nach Akzeptanz und positivem Selbstwert, Vermeidung von Kritik. Selbstsicher, selbstbewusst, konstruktiv gegenüber Kritik, zeigt Grundoptimismus, kann Rückschläge besser verkraften als andere Menschen. Strebt nach Organisation, strukturiertem Vorgehen, legt Wert auf Sicherheit, Stabilität und Ordnung, legt Wert auf Details, bevorzugt es zu planen, tut sich schwer mit Veränderungen. Bevorzugt Flexibilität und wenig Struktur, hat Freude an Veränderungen, hat geringes Sicherheitsbedürfnis, kann chaotisch wirken, schätzt Spontanität, geringes Ordnungsbedürfnis. Orientiert sich an Prinzipien, moralische Integrität ist wichtig, Wertschätzung für Charakterstärke und Tradition, schätzt und wahrt Loyalität. Tendiert zu Zweckorientierung, orientiert sich am eigenen Wertegerüst, wenig an allgemeinen Prinzipien und Traditionen orientiert. Legt Wert auf soziale Gerechtigkeit und Fairness, engagiert sich für eine bessere Welt, humanitäre Orientierung. (Fortsetzung)

5.2  Persönlichkeitsmerkmale und Führungserfolg

139

Tab. 5.3 (Fortsetzung)

Beziehungen

Status

Rache

Körperliche Aktivität

Ruhe

Gering Favorisiert soziale Selbstverantwortung, realistisch pragmatische Haltung gegenüber sozialen Fragen. Stark Ist kommunikativ, gesellig und kontaktfreudig, aktives Sozialleben, liebt Späße, enger Kontakt zu Freunden, hat viele Bekannte, ist gern mit Menschen zusammen, liebt gemeinsame Aktivitäten mit anderen. Gering Legt wenig Wert auf ein aktives Sozialleben, ist gerne mit sich allein, braucht viel Zeit für sich selbst, vermeidet gesellige Veranstaltungen. Stark Legt Wert auf Prestige, Reichtum, Titel, öffentliche Aufmerksamkeit und Ansehen, Auftreten und Geld sind wichtig. Gering Legt Wert auf Bescheidenheit, Glaube an soziale Gleichheit, lehnt Snobbismus, Förmlichkeit, Statussymbole und Prestige ab. Stark Sucht Vergeltung und Revanche, ist konfliktbereit, hat Kampfgeist, sucht Konkurrenz und Wettkampf, Freude am Gewinnen. Gering Vermeidet eher Streit und Konflikte, vergleicht sich nicht gerne mit anderen, sucht nach Kompromissen und Harmonie. Stark Freude an Bewegung und körperlicher Fitness, energetisch, aktiv, schätzt physische Anstrengung. Gering Wenig Freude an körperlicher Anstrengung oder Sport, physisch bequem, vermeidet eher physische Anstrengungen oder Sport. Stark Hohe Sensitivität gegenüber Gefahren, Risiken oder Schmerzen, wird leicht nervös, empfindet häufiger Stress oder Angst. Gering Wenig Empfindsamkeit bzw. Sensitivität gegenüber Gefahren, Risiken oder Schmerzen, kann gut mit Stress umgehen, bewahrt bei Schwierigkeiten kühlen Kopf, mutig und unerschrocken.

In der Tabelle sind nicht alle 16 Motive aufgeführt, sondern nur diejenigen, die im beruflichen Kontext im weitesten oder engeren Sinne Relevanz für Führung besitzen. Eigene Darstellung.

140

5  Führung und Persönlichkeit

Abb. 5.4  Reiss-Profile Führungskraft

Praxisbeispiel

Das Reiss Profile in der Abb. 5.6 bildet die Motivstruktur einer jungen Nachwuchsführungskraft ab. Aktuell ist die Person noch in einem Team als gleichgestellter Mitarbeiter integriert. Wird sie aus dem Team heraus den Kolleg*innen als Führungskraft übergeordnet, bringt dies gleich mehrere Herausforderungen mit sich. So lassen die Ausprägungen der Motive „Macht“ und „Unabhängigkeit“ z. B. vermuten, dass sich die dann neue Führungskraft schwer von den Kolleg*innen abgrenzen kann und eine zu kollegiale Führung praktiziert. Dies kann in Situationen, in denen es gilt, die ehemals Gleichgestellten zu motivieren und zu begeistern, gut gelingen. Anspruchsvoll kann es dann werden, wenn es zu Konfliktsituationen kommt oder zu Situationen, bei denen die Führungskraft Entscheidungen treffen muss, die den Interessen des Unternehmens entsprechen und denen der Mitarbeiter*innen entgegenstehen. Da sich die Person gerne mit anderen umgibt (Motiv „Beziehungen“) und externen Zuspruch sucht (Motiv „Anerkennung“) kann dies zu Unbehagen führen (Motiv „Ruhe“), wenn einsame Entscheidungen zu sozialer Isolation der Füh-

5.3  Neuroscience Leadership

141

rungskraft durch das Team der ehemaligen Kolleg*innen führt. Dies kann in der Folge darin münden, Entscheidungen zu vermeiden, die sich gegen das eigene Team wenden. Es kann ein Person-Rollen-Konflikt (siehe Tab. 5.1) auftreten, der auf Dauer zu Stress führen kann. Dies vor allem dann, wenn die Führungskraft wiederum von ihrer Führungskraft mit dem aus Sicht des Unternehmens zu hinterfragenden Verhalten der Konfliktvermeidung konfrontiert wird. Fazit aus diesem Abschnitt Nur wenige Persönlichkeitsmerkmale einer Führungskraft lassen sich tatsächlich mit Führungserfolg in Verbindung bringen. Zu ihnen gehören Extraversion, Offenheit und Gewissenhaftigkeit, aber auch Charisma. Kennt man die Motivausprägungen einzelner Führungskräfte, kann man gezielt an einer Umsetzung des Rollenverständnisses von Führung im Sinne der Bank/Sparkasse, z.  B. im Zuge von Coachingmaßnahmen arbeiten.

5.3

Neuroscience Leadership

Begeben wir uns nun auf ein noch junges Feld der Führungsforschung. Die Neurowissenschaften machen es möglich, alte Fragen zu Sein und Handeln von Führungskräften neu zu beantworten. So befürworten Becker et al. (2011) ein besseres Verständnis von Anatomie und Physiologie des Gehirns. Hierdurch sollen innovative Erklärungsansätze für Führungseffektivität entwickelt, aber auch bestehende Führungsansätze validiert und fundiert oder auch revidiert werden. Es würde zu weit führen, Aufbau und Funktionsweise des Gehirns im Rahmen dieser Ausführungen zu behandeln. Daher soll ein Versuch unternommen werden, lediglich die Erkenntnisse der Neurowissenschaften für Führung zu beleuchten. Um dennoch einen leichteren Einstieg in die Thematik zu ermöglichen, soll kurz auf den integrativen Ansatz von Gordon (2008) Bezug genommen werden. Sie erläutert in ihren Ausführungen im Wesentlichen das Entstehen von • Emotionen und Kognitionen, • unbewussten und bewussten Wahrnehmungen und • stabilisierenden Verarbeitungsprozessen. Übergeordnet zu diesen Prozessen ist die grundlegende Intention des Gehirns, Belohnung zu maximieren und Bedrohung zu minimieren. Abb. 5.5 zeigt den Mechanismus, der sich in allen Handlungen wiederspiegelt und das menschliche Verhalten auf den drei Ebenen „Emotion“, „Kognition“ und „Selbstregulation“ steuert.

142

5  Führung und Persönlichkeit

Abb. 5.5  Integratives Gehirnmodell (Peters und Ghadiri 2013)

Diese Prozesse laufen sowohl bewusst als auch unbewusst im menschlichen Körper ab. Verarbeitungsprozesse laufen auf den drei Ebenen wie folgt ab: • Am schnellsten erfolgt dies auf der Ebene von Emotionen. Auf Basis von getriggerten, unbewussten Signalen verbindet das Gehirn potenzielle Bedrohungen und Belohnungen. Neurotransmitter werden ausgeschüttet, die, ausgehend vom Stammhirn und limbischen System, direkt in automatische Reaktionen umgewandelt werden. • Über ein Feedback der Großhirnrinde werden kognitive Vorgänge ausgelöst, die wiederum bewusst Handlungen steuern und eine selektive Wahrnehmung auslösen. • Die Ebene der Selbstregulation folgt verzögert. Neuroplastizität, d. h. funktionelle und strukturelle, adaptive Veränderungen im Bereich des zentralen Nervensystems, führen zur Aktivierung und Vernetzung von Gehirnarealen. Neue Verhaltensweisen werden eingeprägt, dies ermöglicht Lernvorgänge.

5.3  Neuroscience Leadership

143

Übersetzt bedeutet dies, dass man sich zwingend mit der Lerngeschichte von Menschen auseinandersetzen muss, wenn man verstehen will, wie sie sich aufgrund ihrer neuronalen Prozesse verhalten. Erfahrungen, Lernen und damit verbundenes Führungshandeln stützen sich auf die individuelle Lernbiografie der Führungskraft. Wie rational denken und handeln wir wirklich? Lakoff und Wehling (2016) formulieren einen weiteren Aspekt, der sich auf Denken und Emotionen bezieht. Danach denken wir zu 80 % unbewusst, formen die Welt höchst subjektiv, weil unsere Gehirne unterschiedlich geformt sind, und denken und sprechen vorwiegend in Metaphern, ohne uns dessen bewusst zu sein. Die Folge daraus: • Das rationale Unternehmen, in dem Emotionalität vollkommen außenvor gehalten wird, existiert nicht. Jede Entscheidung oder Handlung liegt unserer Erfahrung zugrunde, was Emotionen einschließt. • Unsere Wahrnehmung basiert auf Schemata, die in unserer frühen Kindheit entstanden. • Häufig sind die vorhandenen Unternehmenskulturen schädlich dafür, mit selbstreferenziellen, d. h. auf sich selbst bezogenen Prozessen kompetent umgehen zu können. Rationalität wird bevorzugt, Abweichungen sind oftmals karriereschädlich. Peters und Ghadiri (2013) betonen, dass subjektiv erfahrene Gefühle und zwischenmenschlich entwickelte Emotionen wichtige Funktionen im betrieblichen Alltag erfüllen. • Als Signalfunktion geben sie den Botschaften von Personen, z. B. im Mitarbeitergespräch, wichtige Bedeutungsinhalte. Führungskräften fällt es, sofern sie sich auf diese emotionale Ebene einlassen, leichter, die verbalen inhaltlichen Erläuterungen besser zu verstehen. • Als Entscheidungsunterstützungsfunktion kann ein intaktes Gefühlszentrum unternehmerische Entscheidungen beschleunigen. Die emotionale Bewertung bestimmt das Abwägen von Mühe und Werthaltigkeit des Ziels. • Als verhaltensorganisierende Funktion beeinflussen sie das Verhalten von Mitarbeiter*innen. Es werden bestimmte Verarbeitungs- und Aufmerksamkeitsressourcen gesteuert und dadurch ein zielorientiertes Handeln im Arbeitsprozess ermöglicht. Auch Ursache-Wirkungszusammenhänge werden beurteilt. • Die Kohäsionsfunktion schließlich fördert den Verbund zwischen Mitarbeiter*innen. Über eine Art emotionaler Ansteckung wird der Zusammenhalt und

144

5  Führung und Persönlichkeit

die Kontinuität innerhalb der Gruppe und damit die gemeinsame Schlagkraft gefördert. Geteilte Emotionen können gruppendynamische Prozesse fördern und damit zu produktiveren Arbeitsergebnissen führen. Kann ein spezielles Führungsverhalten das Verhalten von Mitarbeiter*innen lenken? Rock (2008) hat in seinem SCARF-Modell die Bedeutung von Verhaltensdimensionen für Führung zu bündeln versucht. Er identifiziert fünft Dimensionen (Status, Sicherheit/Vorhersehbarkeit (Certainty), Autonomie (Autonomy), Zugehörigkeit (Releatedness) und Gerechtigkeit (Fairness), deren Berücksichtigung im Verhalten der Führungskraft die Wahrscheinlichkeit von neuronalen Belohnungsreaktionen bei den Mitarbeiter*innen erhöht und die neuronalen Bedrohungsreaktionen reduziert. Die Dimension Status nimmt Bezug auf die Stellung zwischen Menschen. Ein Überlegenheitsgefühl kann, durch die Ausschüttung von Dopamin bedingt, das Belohnungssystem aktivieren. Die Bedeutung des Status für einen Menschen ist im Allgemeinen sehr stabil und beeinflusst soziale Interaktionen unbewusst. Wenn Führungskräfte Mitarbeiter*innen z. B. einem Team zuordnen, das über eine höhere Reputation verfügt, kann dies einer Statuserhöhung gleichkommen. Auch Lob, Anerkennung, Respekt und positives Feedback können ein höheres Statusempfinden bei Mitarbeiter*innen auslösen. Die Dimension Sicherheit/Vorhersehbarkeit bezieht sich auf das Bedürfnis eines Menschen, zukünftige Entwicklungen vorherzusehen. Die verständliche Darstellung der Aufgaben und Geschäftsprozesse, die Zergliederung komplexer Sachverhalte in einzelne Arbeitspakete nehmen Unsicherheit und steigern das Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen. Gerade Mitarbeiter*innen mit einem geringeren Selbstwertgefühl kann eine umfassende Information mehr Sicherheit und Orientierung geben (vgl. Ringleb et al. 2012). Bei der Dimension Autonomie steht das Gefühl der Selbstkontrolle der Ereignisse im Vordergrund. Wird das fundamentale Bedürfnis nach persönlicher Kon­ trolle gestärkt, löst dies bei Mitarbeiter*innen mehr Wohlbefinden und stärkere kognitive Funktionen aus. Beispiele für mehr Selbstkontrolle stellen eine flexiblere Arbeitszeit, eine stärkere Einbindung der Mitarbeiter*innen in Projekten und Prozessen oder mehr Handlungskompetenzen z. B. bei Kreditentscheidungen dar. Die Dimension Zugehörigkeit beschreibt das Bedürfnis, Teil einer Gruppe von Kolleg*innen zu sein. Der Körper entwickelt ein Bedrohungsverhalten, wenn soziale Interaktion fehlt. Um dem in Zeiten zunehmender Digitalisierung und Virtualität entgegenzuwirken, können Videokonferenzen, digitale soziale Unternehmensnetzwerke, aber auch klassische Teambildungsmaßnahmen und Mentoringprogramme

5.3  Neuroscience Leadership

145

zum Einsatz kommen. Zugehörigkeit meint insbesondere das Gefühl, sich als Teil einer Gruppe sicher zu fühlen (Wir-Gefühl). Unter der Dimension Gerechtigkeit ist der faire Umgang untereinander bzw. der wahrgenommene faire Austausch zwischen Menschen zu verstehen. Werden Kolleg*innen im Vergleich zu einem selbst von der direkten Führungskraft bevorzugt, wird das limbische System aktiviert und negative Gefühle ausgelöst. Werden wiederum Informationen von Führungskräften rechtzeitig weitergeleitet, kann dies zur Aufrechterhaltung der Motivation und des Engagements selbst in schwierigen Zeiten führen. Was ist gehirngerechte Führung? Hoffmann (2019) verweist darauf, dass gehirngerechte Führung eine Führungshaltung darstellt. Gehirngerechte Führung verlässt das mechanistische Führungsbild, nach dem Führungskräfte eine komplexe Situation mit sequenzieller Vorgehensweise zu lösen und mithilfe gelernter Führungsinstrumente Leistungsziele, Entwicklungsziele oder Verhaltensziele zu erreichen versuchen. Gehirngerechte Mitarbeiterführung ist ein dynamischer und wechselseitiger Prozess der bewussten Einflussnahme, um unter Berücksichtigung der individuellen Grundbedürfnisse und motivationalen Schemata das Verhalten der Mitarbeitenden auf die Ziele der Organisation auszurichten. Dies geschieht in erster Linie durch Beziehungsgestaltung.

Er hält folgende Fähigkeiten für geeignet, um von Seiten der Führungskräfte Beziehungen zu den Mitarbeiter*innen aufzubauen: • Selbstkenntnis und Selbstführung: Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung und Feedback, Reflexionsfähigkeit, Selbstmitgefühl, Resilienz und Umgang mit Stress, Umgang mit Glaubenssätzen, Achtsamkeit, positive Veränderung durch Achtsamkeit. • Eine positive Grundhaltung der Annäherung: Eine Fokussierung auf Potenziale und Lösungen. Führungskräfte mit dieser Grundeinstellung verstehen es, andere für diese positiven Emotionen zu sensibilisieren und sie darin zu stärken. • Effektives Zuhören: Diese Form des aktiven Zuhörens ist auf die Entwicklung des Gegenübers und nicht nur aktiv auf ein möglichst genaues Verständnis ausgerichtet. Führungskräften ist es dadurch möglich, sich in der Welt des Gegenübers einzufühlen und die erzählende Person in ihren eigenen Gedanken, Potenzialen und Lösungen zu ermutigen und zu unterstützen. • Empathie in Mitgefühl transformieren: Gelingt es Führungskräften an den Gefühlen oder der Intention einer anderen Person teilzuhaben, kann sie besser

146

5  Führung und Persönlichkeit

verstehen, was diese Person fühlt oder beabsichtigt. Mit dieser Empathie geht aber immer die Fähigkeit einher, nicht nur auf die Gefühle der anderen zu schließen, sondern sie auch selbst nachempfinden zu können. • Aufrichtige Wertschätzung und Anerkennung: Hierdurch zeigen Führungskräfte klar und mit echter Anerkennung, was sie am Denken und Verhalten ihrer Mitarbeiter*innen mögen. Hierfür braucht es Feingefühl und Unterstützung, um es dem Mitarbeiter/der Mitarbeiterin zu ermöglichen, ohne schlechte Gefühle die Anerkennung anzunehmen, um fähig zu werden, selbst Wertschätzung und Anerkennung weiterzugeben. • Druck rausnehmen: Druck meint hier die Herausforderung, für die Unternehmung einen Mehrwert in Form von Dienstleistungen oder Produkten zu generieren, ohne die Menschlichkeit aus den Augen zu verlieren. Fordern Führungskräfte ihre Mitarbeiter*innen in einem gesunden Maß, können diese zu Höchstleistungen motiviert werden. Zu viel Druck wird als belastend erlebt. Dies vor allem dann, wenn die Leistungserbringung aus einem Vermeidungsmechanismus heraus erfolgt, unliebsame Konsequenzen erleiden zu müssen, falls die erbrachte Leistung nicht genügt. Reinhardt (2014) resümiert unter Bezugnahme auf James (1890) bei seinen empirischen Überprüfungen von Neuroleadership in der Praxis: Neugier und Freiheit (bzw. Autonomie) sind zentraler Bestandteil der biologischen – und somit auch neurobiologischen – Natur des Menschen. Menschsein ist unauflöslich mit Neugier und Freiheit verbunden – und einem daraus resultierenden Drang zur Selbstveränderung und Weiterentwicklung. Wenn wir also unser evolutionstheoretisches Erbe zu akzeptieren bereit sind, dann eröffnet das zumindest einen ersten weiterführenden Eindruck dessen, woran eine „gehirngerechte Führung“ notwendigerweise scheitern muss, nämlich an dem Zwang einer sich permanenten Unterordnung unter Regeln, Prinzipien, Prozessen – und auch Verhaltensweisen von Vorgesetzten, die diesen Drang zur Selbstverwirklichung zu sehr beschränken. Kurz: Wir sollten nachdenken, ob die Vielzahl von Studien, die es im Zusammenhang mit zurückgehender Bindung, mangelhafter Identifikation, Leistungszurückhaltung usw. gibt, nichts anderes sind als ein Zeichen dafür, dass unser Gehirn „stärker“ ist als unsere – an falschen Prinzipien orientierte – (Unternehmens-)Kultur.

Zum Schluss des Kapitels noch eine kritische Analyse von Schiefer und Gattner (2019). Sie stellen darin fest, dass die Vertreter*innen des Neuroleadership-­ Ansatzes zu großen Teilen keine neuen Erkenntnisse liefern. Zwar begründen sie ihre Konzepte neurowissenschaftlich und eröffnen dadurch eine neue Perspektive, jedoch bedienen sie sich dabei existierender Ansätze oder lehnen sich an diese an.

5.4 Führung und Biografie

147

So jung die Wissenschaft zur gehirngerechten Führung auch ist, so bleibt abzuwarten, welche wirklich neuen Erkenntnisse sich hieraus in der Zukunft für das Thema Führung ergeben werden. Wer die Konzepte weiter vertiefen möchte, findet Anregungen im Ansatz des Supportive Leadership des renommierten Gehirnforschers Gerald Hüther (2009) oder in den Überlegungen von Elger (2013). Fazit aus diesem Abschnitt Erfahrungen, Lernen und ein damit verbundenes Führungshandeln stützen sich auf die individuelle Lernbiografie der Führungskraft. Will man daher verstehen, warum sich Führungskräfte in einer bestimmten Art und Weise aufgrund ihrer neuronalen Prozesse verhalten, muss man sich mit ihrer Lerngeschichte auseinandersetzen. Bestimmte Verhaltensweisen von Führungskräften erhöhen die neuronalen Belohnungsreaktionen und reduzieren die neuronalen Bedrohungsreaktionen von Mitarbeiter*innen. Gehirngerechte Führung stellt im Wesentlichen eine Führungshaltung dar, die an gewisse Fähigkeiten geknüpft ist.

5.4

Führung und Biografie

Durch Veränderungsprozesse werden die Mitarbeiter*innen und Führungskräfte in den Organisationen mit neuen Anforderungen konfrontiert. Sie müssen umdenken, sich weiterbilden, bereit sein für andere Aufgaben und neue Anforderungen. Es reicht nicht mehr aus, nur einen Beruf zu lernen. Denn die heutige Arbeits- und Berufswelt ist gekennzeichnet durch Umbruch- und Krisensituationen sowie durch Richtungsänderungen – zum Beispiel in Form von notwendigen Berufs- und Ortswechseln. Gefragt sind eine hohe soziale und psychische Mobilität sowie Lernund Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft. Die Biografie ist geprägt durch mehrfache Rollenwechsel. Die traditionellen Lebensformen und -entwürfe geraten durcheinander. Kollektive Normalbiografien werden zunehmend zur Ausnahme, individuelle biografische Muster nehmen zu. Dies gilt insbesondere für die weibliche Biografie. Sie weicht immer mehr von traditionellen Mustern ab. cc Normalbiografie: Weibliche und männliche Biografien durchlaufen (großteils auch noch in heutigen Zeiten) eine bestimmte Abfolge von Lebensereignissen mit bestimmten Konsequenzen. Die männliche Normalbiografie wird durch die Erwerbstätigkeit struktu­ riert und ist gekennzeichnet durch die Dreiteilung: Vorbereitungsphase auf die

148

5  Führung und Persönlichkeit

Erwerbstätigkeit  – Aktivitätsphase  – Ruhephase. Ist die weibliche durch die Familien­phase strukturiert, unterteilt sich die Biografie in die Phasen: Ausbildung – Familienphase – etwaiger Wiedereinstieg in den Beruf (vgl. Gieseke und Siebers 1995). Die mit dieser „Individualisierung“ verbundene Bedeutungszunahme des Subjekts geht mit der Pluralisierung von Sinnhorizonten und Lebensstilen, mit der Auflösung traditioneller Bindungen, einer zunehmenden Orientierungslosigkeit und einem Bedarf nach „Identitätsangeboten“ einher. Demzufolge steigt der Bedarf nach einem biografischen Sinn, d.  h. nach der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte und subjektiven Zukunftsentwürfen. Individuelle Entscheidungen über Ausbildung, Beruf, Freizeit usw. können nicht nur, sondern müssen getroffen werden (Münchhausen 2004).

Veränderungsschritte laufen jedoch nicht immer idealtypisch ab. Sie führen unter Umständen zu Krisen. Selbstverständlichkeiten werden aufgelöst, neues Wissen und neue Elemente werden hinzugefügt. Eventuell müssen die vorhandenen kognitiven Strukturen verändert werden, um den neuen Situationen gerecht zu werden. Münchhausen (2004) nimmt auf die Veränderungsnotwendigkeit von Menschen in Organisationen wie folgt Bezug: • Brüche und Veränderungen im beruflichen Bereich führen oft dazu, dass Menschen neue Wege einschlagen und sich neuen Herausforderungen stellen. • Es existieren immer weniger fixe Orientierungspunkte in Bezug auf die eigene Biografie. • Zur Klärung der individuellen Ziele gehört, dass der/die Einzelne Prioritäten setzt und sich fragt, was langfristig der eigene Weg sein soll. • Ein neues Verhältnis zur eigenen Berufsbiografie wird nötig, genauso wie die Entwicklung von Mobilität und der Umgang mit Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt. • Übergänge müssen zunehmend selbst gestaltet werden. Die individuelle Identität ist möglicherweise erst ein Ergebnis von mühsamen und komplexen Lernprozessen. Hoerning (1987) untersuchte, wie Ereignisse im Leben eine Biografie beeinflussen. Sie resümiert, dass die Lebensereignisse sich auf die Biografien auswirken und sie – wenn auch unterschiedlich – prägen. Denn wie mit den verschiedenen Ereignissen umgegangen wird, ist bei jedem Menschen individuell und auch situativ unterschiedlich.

5.4  Führung und Biografie

149

Die emotionale Verarbeitung von Veränderungen ist hierbei sehr wichtig. Preißer (2001) verdeutlicht die Bewältigung von Ängsten und Konflikten. Werden diese im Zustand des Unbewussten und Unverarbeiteten gehalten, blockiert es die individuelle Lernfähigkeit in einer biografischen Perspektive. Zudem binden unbearbeitete Ängste und Konflikte psychische Energien. Der einzelne Mensch muss sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, um sich neue Lebensperspektiven eröffnen zu können. Jeder ist darin gefordert, eigene Entscheidungen zu treffen und eine individuelle Verantwortung zu übernehmen. Dies gilt insbesondere auch für Führungskräfte, deren Anforderungen an die Führungsrolle sich, wie in den vorangehenden Kapiteln erwähnt, in den vergangenen Jahren gravierend verändert haben. Die Vorerfahrung und Lerngeschichte legen hierbei die Grundlage für das individuelle Führungsverhalten. Dieses wird durch den zu führenden Mitarbeiter/die zu führende Mitarbeiterin, das zu führende Team, die jeweiligen zu bewältigen Aufgaben und die jeweilige Situation beeinflusst und von Seiten der Mitarbeiter*innen erlebbar. Erpenbeck und Heyse (1999) versuchen auf eben diese Lerngeschichte aufzusetzen. Sie verdeutlichen, dass sich Entwicklungsmaßnahmen für Führungskompetenzen in höherem Maße auf die in der Biografie und deren sozialen Kontext eingelagerten Kompetenzen der Lebensbewältigung einlassen müssen, wenn das Lernpotenzial der Führungskräfte angeregt und gestärkt werden soll. Es geht um eine Bewusstseinsbildung der Lernenden in der Form, dass ein Individuum das lebensgeschichtliche Wissen über sich selbst erarbeitet, beispielsweise durch die Erarbeitung so genannter Lebenskurven oder durch „Geschichten aus dem eigenen Leben“, bei denen die gesamte Führungsbiografie angesprochen wird. Hierdurch wird die Wiederaneignung eines Stücks der persönlichen Führungsgeschichte ermöglicht.

Fazit aus diesem Abschnitt Der Erwerb von neuen Führungskompetenzen ist biografisch geprägt und hängt in der Weiterentwicklung von den individuellen Erfahrungen des Einzelnen ab. Vorher muss sich der Einzelne aber durch Selbstreflexion die eigene Erfahrung und Einstellung bewusst machen. Ziel muss daher im Zusammenhang mit der eigenen Führungseinstellung sein, die eigenen Vorannahmen und Vermutungen immer wieder zu überprüfen.

150

5.5

5  Führung und Persönlichkeit

 ntwicklungsmöglichkeiten von FührungseigenE schaften und -verhalten

In den vorangegangenen Kapiteln ist viel auf die Veränderungsnotwendigkeit von Führungskräften eingegangen worden. Die Anmerkungen zur Persönlichkeitsentwicklung, Neuropsychologie und Biografie haben bereits angedeutet, dass eine Veränderung der Grundeinstellung und des Verhaltens von Führungskräften nicht ohne weiteres möglich sein dürfte. Somit soll zum Abschluss dieses Kapitels eine letzte grundlegende Frage beantwortet werden: cc

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit überhaupt, dass sich Führungskräfte veränderten Anforderungen anpassen können, wenn sie gewisse Eigenschaften hierfür nicht bereits mitbringen?

Roth (2007) verweist bei seinen Ausführungen auf zwei denkbare Muster der Veränderbarkeit der Persönlichkeit: der Veränderung eines Menschen aus sich he­ raus und der Veränderung durch andere Personen oder äußere Ereignisse. Als zeitlich überdauernde Muster sieht er die Persönlichkeitsmerkmale, bei denen er einigen eine deutlich höhere Stabilität zuweist (z.  B.  Intelligenz), als anderen (z. B. Neurotizismus und Extraversion). Abschn. 5.2 hat sich hiermit bereits ausführlicher auseinandergesetzt. Fokussiert man nun auf Lernprozesse, so verzweigt Roth auf drei Typen des Lernens: 1 . Das motorische oder prozedurale Lernen 2. Das kognitiv-intellektuelle oder deklarative Lernen 3. Das emotionale Lernen Das motorisch-prozedurale Lernen nimmt zwar mit zunehmendem Erwachse­ nenalter ab, ist jedoch ein Leben lang trainierbar und bis zu einem gewissen Grad erhaltbar. Für die weiteren Ausführungen hat dies wenig Relevanz. Es wird daher an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen. Mit Blick auf das kognitiv-intellektuelle Lernen zeigt sich, dass der Erwerb von Wissen bis ins hohe Alter gut möglich ist. Dies ist insofern relevant, als Führungspersonen in der Lage sein sollten, sich neues Wissen anzueignen und zu internalisieren. Die zweite Komponente des kognitiv-intellektuellen Lernens, die Wissensverarbeitung oder auch fluide Intelligenz, unterliegt wiederum größeren Einschränkungen. Diese geistige Beweglichkeit ist vornehmlich an das Arbeitsgedächtnis gebunden. Roth, der als Professor für Verhaltenspsychologie und Ent-

5.5  Entwicklungsmöglichkeiten von Führungseigenschaften und -verhalten

151

wicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen lehrt und forscht, verdeutlicht, dass die fluide Intelligenz bereits zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr ihren Höhepunkt erreicht. Ab dem 50. Lebensjahr nimmt sie dann, wegen der zunehmenden Einschränkung der Sinneswahrnehmung und der sinkenden Verarbeitungsgeschwindigkeit der assoziativen Netzwerke in unserer Großhirnrinde, stark ab. Dennoch gilt: Wer dauerhaft intellektuell anspruchsvolle Dinge tut, kann bis ins hohe Alter lernfähig und leistungsfähig bleiben. Verschiedene Funktionen des Gehirns sind jeweils in bestimmten Arealen der Großhirnrinde lokalisiert. Es sind nicht alle Teile des Gehirns an der Steuerung sämtlicher Körperfunktionen beteiligt. Die verschiedenen Rindenfelder werden nach ihren primären Aufgaben klassifiziert: Man unterscheidet motorische Felder, die zur Steuerung der Muskeln dienen, sensorische Felder, die Informationen aus den Sinnesorganen zu Wahrnehmungsinhalten verarbeiten, und assoziative Felder, die weder sensorische noch motorische Funktionen haben, sondern Sinneseindrücke mit Gedächtnisinhalten vergleichen, selbst Gedächtnisfunktion haben oder Stimmungen gegeneinander abwägen (vgl. Cornelsen 2010).

Beim emotionalen Lernen sind die Einschränkungen wiederum deutlicher spürbar. Es setzt sehr früh ein und stabilisiert sich zum Erwachsenenalter hin. Auch wenn die Ausbildung der Persönlichkeit nie endet, bilden sich Charakter und P ­ ersönlichkeit früh aus. Die Veränderbarkeit und Dynamik dieses Prozesses nehmen zum Erwachsenenalter hin stark ab. Die Folge: Persönlichkeit und Emotionalität sind nur noch in geringem Maße veränderbar. Auch Roth weist auf die Bedeutung von Motiven für das Lernen hin. Er sieht Motive (z. B. Bindung, Anerkennung, Sicherheit etc.) tief in der Persönlichkeit verwurzelt. Lernen durch Motivation misst er eine entscheidende Bedeutung bei. Dies ist dann intrinsisch (von innen heraus) bedingt, wenn eine Kongruenz der unbewussten Motive mit den bewussten Zielen erreicht werden kann. Die dadurch erfahrene Selbstwirksamkeit vermittelt, dass die Verwirklichung von Zielen durch das eigene Verhalten bestimmt werden kann und eine Belohnung in sich trägt und keine Belohnung von außen nötig hat. Die folgenden Merksätze hält er im Kontext Belohnung fest: 1. Die Art der Belohnung muss an die individuelle Motivstruktur der Person angepasst sein, deren Verhalten man ändern will. 2. Materielle und soziale Belohnungen nutzen sich schnell ab. 3. Belohnungen müssen einen gewissen Grad von Ungewissheit haben, um als solche zu wirken. 4. Belohnungen müssen dem Aufwand angemessen sein und als gerecht empfunden werden.

152

5  Führung und Persönlichkeit

5. Eine Belohnung muss sich verselbstständigen, damit sie intrinsisch wird. 6. Gewohnheiten tragen ihre Belohnung in sich.

Um das Verhalten einer Führungskraft zu ändern, macht es daher Sinn, sich intensiv mit ihren Motivstrukturen auseinanderzusetzen. Eine Verhaltensänderung tritt nur dann ein, wenn sie mit Blick auf die zentralen Motive eine wesentlich stärkere Belohnung verspricht, als es das Festhalten an Gewohnheiten liefert. Dies erscheint nicht wirklich neu. Aber mal ehrlich: Wer kennt schon die genauen Motivstrukturen seiner Führungskräfte, Kolleg*innen oder gar von sich selbst? Der Einsatz von Motivstrukturanalysen, wie in Abschn. 5.2 beschrieben, macht somit z. B. im Coaching Sinn, wenn sich die anschließenden Maßnahmen eng an den dominierenden individuellen Motiven und in Verbindung mit den Zielen der Führungskraft ausrichten. Wenn Roth somit final zu Einschätzungen darüber kommt, wie andere und damit auch Führungsverhalten geändert werden können, so scheinen diese in Anlehnung an die bisherigen Ausführungen in Kap. 5 folgerichtig: • Verhaltensänderung durch Befehl von oben ist die in der Praxis am häufigsten praktizierte, aber auch am wirkungslosesten. • Verhaltensänderung durch Appell an die Einsicht führt zu oberflächlichem Verständnis. Das unterbewusste, egoistische Ich stellt sich jedoch weiterhin gegen eine Verinnerlichung des Geforderten. • Verhaltensänderung durch Orientierung an der Persönlichkeit ist somit der einzige Ansatz, der nachhaltig greift. Die Herausforderungen liegen bei der Messbarkeit bzw. Beobachtbarkeit der Persönlichkeitsmerkmale und dem damit verbundenen zeitlichen Aufwand, der erforderlich ist, damit Verhaltensänderungen greifen. Münchhausen (2004) stützt die vorgenannten Überlegungen dadurch, in dem sie auf die biografieorientierte Kompetenzentwicklung eingeht. Hierbei steht die Erzeugung biografischen Wissens – sei es im Rahmen von Bildungsveranstaltungen oder beim Lernen im Arbeitsprozess – im Vordergrund. Es ist Ziel, einen didaktischen Umgang mit der Biografie einer Führungskraft in die Konzeption von Kompetenzentwicklung zu integrieren. Bei der Umsetzung einer biografieorientierten Kompetenzentwicklung wird von der grundlegenden Annahme ausgegangen, dass Kompetenzentwicklung und Lernen in einer komplexen Verknüpfung mit den eigenen biografischen Erfahrungen geschehen. Der einzelnen Führungskraft soll dabei beim Zugang zum eigenen Leben geholfen und sie dabei unterstützt werden.

5.5  Entwicklungsmöglichkeiten von Führungseigenschaften und -verhalten

153

Sie verweist auf Alheit (1996) und die von ihm benannten Voraussetzungen, die das biografische Lernen bei Individuen, in diesem Fall bei den Führungskräften, fördern: 1. Eine Reflexion auf die individuelle Biografie muss möglich sein. Dessen Stellenwert und deren Auswirkungen auf das biografische Wissen müssen in berufliche Veränderungsprozesse integriert werden. 2. Gewachsene Bindungen, Werte und Normen als auch die bisherigen Selbstverständlichkeiten lösen sich zunehmend auf. Daher muss das biografische Wissen stetig aktualisiert werden. 3. Im Rahmen einer biografischen Orientierung in der Kompetenzentwicklung müssen Räume und Konstrukte angeboten werden, um Biografizität (das bedeutet die Fähigkeit, moderne Wissensbestände an biografische Sinnressourcen anzuschließen und sich mit diesem Wissen neu zu assoziieren) aufzubauen, zu entwickeln und zu sichern. Auch wenn Methoden existieren, die eine Reflexion beim Einzelnen anregen oder eine Verknüpfung von Lerninhalten mit biografischen Erfahrungen erleichtern, bleibt die biografische Synthetisierung des neuen Wissens eine individuelle Leistung. Gräser (2013) hält in diesem Zusammenhang fest, dass eine wirksame Qualifizierung erlebnisorientiert gestaltet sein muss. Eine herausfordernde Situation allein wirkt an sich nicht. Vielmehr muss der Transfer in eine individuelle Erfahrung gelingen. Das sich heraus formende Muster für erfolgreiches Handeln muss letztendlich in der praktischen Anwendung am Arbeitsplatz seinen Niederschlag finden. Und dies nicht nur in der einmaligen Anwendung, sondern kontinuierlich, damit sich Routinen herausbilden. Münchhausen resümiert mit Blick auf den Lernbegleiter von Führungskräften: Die Lehrenden haben innerhalb der biografieorientierten Bildungsarbeit eine veränderte Rolle. Sie sind nicht mehr die fachlichen Experten, sondern vielmehr ModeratorInnen mit einer möglichst ausgeprägten Deutungskompetenz. Ihre Aufgabe ist es, für eine Erweiterung von Sichtweisen zu sorgen, für die Aushandlung von Perspektiven, für den Transfer zwischen (objektiven) Wissensbeständen und (subjektiven) Deutungsmustern. Ihre Aufgabe ist es nicht, richtige Antworten und Deutungen zu liefern, sondern vielmehr den Interpretationshorizont der Beteiligten zu erweitern. Lehrende unterstützen diese Prozesse und schaffen günstige biografieorientierte Lernsituationen. Dabei ist eine große didaktische Offenheit wichtig, aufgrund der Unberechenbarkeit der Teilnehmenden, dem möglichen Aufbrechen unerwarteter Themen oder einem abrupten diskursiven Wechsel.

154

5  Führung und Persönlichkeit

Geht man über das Lernen von einzelnen Führungskräften hinaus, z.  B. im Sinne der Veränderung einer Führungskultur, so muss Lernen auf die ganze bzw. Teile der Organisation übertragen werden. Organisationen fungieren als Wissenssysteme, in denen Wissen aufgebaut, angesammelt und gespeichert wird. Altes Wissen muss regelmäßig erneuert und überholte Haltungen und Verhaltensweisen abgelegt werden. Damit dies erfolgreich möglich ist, bedarf es eines Gleichgewichts zwischen einer Vertiefung dessen, was die Organisation bereits kann und der Entwicklung dessen, was die Organisation noch nicht kann. Abb. 5.6 greift die unterschiedlichen Ebenen des organisationalen Lernens auf. Beim Single-Loop-Lernen werden Fehler aufgespürt und korrigiert, ohne bestehende Strukturen zu verändern. Eine Anpassung an veränderte Umweltbedingungen erfolgt lediglich dann, wenn vertraute Handlungsmuster nicht mehr zum Ziel führen. Im Rahmen des Double-Loop-Lernens werden die grundlegenden Zielstellungen über konstruktive Lernprozesse in Frage gestellt. Diese können zur Überprüfung und Revision von Strukturen, Prozessen, Methoden und Produkten führen. Oft wird dies in Organisationen durch Krisensituationen ausgelöst (Shock-Learning).

Abb. 5.6  Drei Ebenen des organisationalen Lernens (Schildknecht 2018, in Anlehnung an Vahs 2015)

5.5  Entwicklungsmöglichkeiten von Führungseigenschaften und -verhalten

155

Deutero-Lernen wiederum ist durch die Sammlung und Kommunikation von Wissen über vergangene Lernprozesse „Lernen des Lernens“ oder „Metaebene des organisationalen Lernens“ gekennzeichnet. Es zielt auf die Erhöhung der Problemlösekapazität/des Handlungsspielraums einer Organisation ab. In der Praxis kann dies z.  B. dadurch erfolgen, dass ein Führungsteam als „Entwicklungsgemeinschaft“ zusammengebracht wird, in dem unterschiedliches Denken vertreten ist und das ein gemeinsames Ziel hat, das dem Kulturwandelziel entspricht. Die konsequente Umsetzung organisationalen Lernens ermöglicht schließlich die Entstehung einer lernenden Organisation. Praxisbeispiel

Gerade im Coaching von Führungskräften zeigt sich, wie sehr die vorgenannten Theorien in der Praxis greifen. Immer dann, wenn Führungskräfte bereit sind, sich tiefergehender mit sich, ihrer Persönlichkeit und ihren aus der eigenen Lerngeschichte gestützten Erfahrungswelt auseinanderzusetzen, um die eigenen internalisierten Glaubenssätze und Wertvorstellungen zu hinterfragen, können wahrnehmbare Weiterentwicklungen, wenn auch manchmal in kleinen Schritten, realisiert werden. Im Gegensatz dazu lässt sich bei einigen Führungskräften beobachten, dass sie an einem bestimmten Punkt des Coachings innerlich „zumachen“ und sich damit die Chance für Erkenntnisschritte und Weiterentwicklung nehmen. Sie scheuen davor zurück, sich mit ihrer Biografie auseinanderzusetzen, sich zu öffnen, um nicht verletzlich zu wirken oder sich in ihren Augen angreifbar zu machen. Oder sie messen diesen Erkenntnissen einfach keine Bedeutung bei. Damit verwalten sie das Ist und nehmen sich die Chance, ihre Wirkungsgrade durch das Erlernen neuer Erfahrungen und Ansätze zu erhöhen. In Abgrenzung zu individuellen Reflexionsmöglichkeiten entfalten Seminare, die allgemeine Führungsansätze und Situationen thematisieren, lediglich eine begrenzte Wirkungskraft. Hierbei muss es gelingen, die Teilnehmenden in ihren persönlichen Erfahrungswelten und aktuellen Herausforderungen abzuholen, um einen Transfer von der Theorie zur Praxis zu vermitteln. Auch E-Learning Maßnahmen sollten daher immer im Kontext der eigenen Erfahrungswelt resümiert und reflektiert werden und sich auf Beispiele der realen Führungspraxis beziehen.

156

5  Führung und Persönlichkeit

Fazit aus diesem Abschnitt Führungspersonen sind bis ins hohe Erwerbsalter in der Lage, sich Wissen anzueignen und zu verinnerlichen. Deutlichere Einschränkungen gibt es beim emotionalen Lernen. Persönlichkeit und Emotionalität sind früh ausgeprägt und nur noch in geringem Maß veränderbar. Dem Lernen durch Motivation wird eine ent­ scheidende Bedeutung beigemessen. Kennt man die Motivstrukturen von Führungskräften kann über eine Belohnung der Hauptmotive eine Verhaltensänderung erzielt werden. Auch eine Reflexion über die eigenen biografischen Erfahrungen schafft Lernmöglichkeiten. Reflexionsfragen zum Kapitel

• Haben alle Führungskräfte der Bank/Sparkasse ein klares Verständnis von ihrer Führungsrolle und ihren Führungsaufgaben? • Welche Möglichkeiten bieten sich den Führungskräften ihren Führungsalltag einzeln oder in Gruppen zu reflektieren? • Sind die Motivstrukturen der Führungspersonen der Bank/Sparkasse bekannt, um sich bei Entwicklungsmaßnahmen daran orientieren zu können? • Gibt die Bank/Sparkasse den Führungskräften ausreichend Raum, sich mit der eigenen Führungsbiografie auseinander zu setzen? • Greift man bei der Entwicklung von Führungskräften auf angemessene Methoden zurück, die ein biografieorientiertes Lernen unterstützen?

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5  Führung und Persönlichkeit

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6

Ansätze für die Praxis

cc

Welche Schlussfolgerungen lassen sich zusammengefasst aus den Ausführungen der vorangegangenen Kapitel ziehen?

1. Im Kontext externer Rahmenbedingungen ist eine chancenorientierte Kommunikation einer angstschürenden Auseinandersetzung vorzuziehen, wenn es darum geht, Mitarbeiter*innen Mut für die anstehenden Veränderungen zu machen. 2. Die Erwartungen unterschiedlicher Generationen an die Arbeitswelt machen Führungskräfte zunehmend zu Vermittlern zwischen den unter Umständen divergierenden Werte- und Arbeitsvorstellungen ihrer Mitarbeite*innen. Führung ist höchst individuell und holt den Einzelnen bei seinen Wahrnehmungen, Einstellungen und Wertvorstellungen ab. 3. In Dienstleistungsunternehmen ist es zwingend erforderlich, das tägliche Geschäft von dem Kunden/von der Kundin her zu denken. Wer auf Augenhöhe mit Kund*innen agieren möchte, muss seine Kompetenzen entsprechend darauf ausrichten. Führung muss dies über die Nähe zum Mitarbeiter/zur Mitarbeiterin und einem angemessenen Pensum an zeitlichen Ressourcen sicherstellen. 4. Eine ehrliche und faire Auseinandersetzung mit den Zukunftsthemen der Bank schafft Klarheit und mehr Verbindlichkeit im Zuge der zu gehenden Entwicklungsschritte bei den Mitarbeiter*innen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Burkhart, Wirksame Führung in Banken und Sparkassen, Edition Bankmagazin, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29031-3_6

159

160

6  Ansätze für die Praxis

5. Um mit der exponentiellen Entwicklung Schritt halten zu können, bedarf es einer Kultur des sich Einlassens und Ausprobierens. Führung sollte im Rahmen einer Vorbildfunktion gleichsam stabilitätsfördernd als auch flexibilitätsunterstützend agieren. 6. Führungskräfte nehmen eine zentrale Rolle bei der Umsetzung von Veränderungen und der Beeinflussung der Unternehmenskultur ein. Mutig sollten sie gemeinsam mit ihren Mitarbeiter*innen neue Denkweisen und Gewohnheiten erlernen. 7. Führung etabliert im Rahmen der Arbeitswelt 4.0 ständige Lernzyklen, damit die Mitarbeiter*innen sich selbst entwickeln können; Führung erkennt und fördert die Potenziale der Mitarbeite*innen durch Coaching; Führung unterstützt ständige Verbesserungen, gibt den Raum dafür und schafft eine gemeinsame Zielausrichtung durch gemeinsame Abstimmungsprozesse über alle Ebenen hinweg. 8. Eine auf Vertrauen ausgerichtete Unternehmens- und Führungskultur führt zu einem signifikant höheren Commitment der Mitarbeite*innen. Authentizität schafft Vertrauen, schließt ein sich-selbst-bewusst-werden mit ein und weitet sich auf die Beziehungen mit den Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen aus. 9. Führungskräfte müssen sich selbst fit machen, um die Herausforderungen der digitalen Arbeitsanforderungen bewältigen zu können. Die Gestaltung optimaler Rahmenbedingungen für eine Kooperation der Mitarbeiter*innen innerhalb und außerhalb der Bank/Sparkasse stellt eine weitere zentrale Erfolgskomponente für Partizipation und Agilität dar. 10. Um Nähe bei einer Führung auf Distanz zu gewährleisten und dabei Vertrauen aufzubauen bzw. aufrecht zu erhalten, bedarf es einer Kombination aus einer effizienten Nutzung technischer Möglichkeiten und einem regelmäßigen Austausch auch auf der persönlichen Ebene in Präsenzphasen. 11. Der Selbstverantwortung aller Beteiligten kommt im agilen Arbeitsumfeld eine hohe Bedeutung zu. Führung verteilt sich auf unterschiedliche Rollen, als fachliche/r Impulsgeber*in oder methodischer Coach und Mediator*in bei Konflikten. 12. Wenn Führung wirksam werden soll, muss auf unterschiedlichen Ebenen eine Rollenklarheit vorliegen. 13. Nur wenige Persönlichkeitsmerkmale einer Führungskraft lassen sich tatsächlich mit Führungserfolg in Verbindung bringen. Kennt man die Motivausprägungen einzelner Führungskräfte, kann man gezielt an einer Umsetzung des Rollenverständnisses von Führung im Sinne der Bank/Sparkasse, z. B. mit Hilfe von Coachingmaßnahmen arbeiten.

6  Ansätze für die Praxis

161

14. Erfahrungen, Lernen und ein damit verbundenes Führungshandeln stützt sich auf die individuelle Lernbiografie der Führungskraft. Gehirngerechte Führung stellt im Wesentlichen eine Führungshaltung dar, die an gewisse Fähigkeiten geknüpft ist. 15. Der Erwerb von neuen Führungskompetenzen ist biografisch geprägt und hängt in der Weiterentwicklung von den individuellen Erfahrungen des Einzelnen ab. 16. Führungspersonen sind bis ins hohe Erwerbsalter in der Lage, sich neues Wissen anzueignen und zu verinnerlichen. Deutlichere Einschränkungen gibt es beim emotionalen Lernen. Dem Lernen durch Motivation wird eine entscheidende Bedeutung beigemessen. 17. Auch eine Reflexion über die eigenen biografischen Erfahrungen schafft Lernmöglichkeiten.

cc

Was lässt sich aus diesen Erkenntnissen konzeptionell für die Praxis von Ban­ ken und Sparkassen mitnehmen?

Wie heißt es so schön: Viele Weg führen nach Rom. Ein Versuch, an dieser Stelle den einen perfekten Weg vermitteln zu wollen, der Führungskultur und Führungserfolg wirksam werden lässt, würde daher an Anmaßung grenzen. Betrachten Sie daher bitte die folgenden Ansätze als Vorschläge, als ein Brainstorming von Ideen, die in der Praxis einen durchaus erfolgreichen Einsatz erfahren haben. Im Sinne einer besseren Strukturierung, werden sich die folgenden Ausführungen an der Fragestellung „Wie gelingt es, die Rahmenbedingung technologischer Wandel/Digitalisierung in die Führungskultur und das Führungsverhalten zu implementieren?“ orientieren. Capgemini Invent (2017) empfiehlt die folgenden Schritte zur Weiterentwicklung der Führungskultur und Führungskräfte: • • • • • • •

Führungskräfteleitlinien an digitale Strategie anpassen Digitales Kompetenzmodell entwickeln Digitales Leadership Assessment einführen Rolle der Personalentwicklung klären Themen der Weiterentwicklung und Weiterbildungsformate anpassen Incentivierung der neuen Verhaltensweisen prüfen Begleitung der Veränderungen durch Change-Management und Kommunikation

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6  Ansätze für die Praxis

Abb. 6.1  Führungskräfteentwicklung in digitalen Zeiten. (Quelle: Capgemini Invent 2017)

Abb. 6.1 gibt einen Überblick hierzu. Die Vorgehensweise in Abb. 6.1 macht insofern Sinn, dass eine Grundverankerung von Führung im digitalen Umfeld zwingend an den strategischen und kulturellen Rahmenbedingungen ausgerichtet sein muss, um wirksam zu sein.

6.1

Strategische Ausrichtung

Die Antwort auf die unternehmerische Frage „Wie kann ich mit meiner Bank/Sparkasse die Herausforderungen der technologischen Entwicklung erfolgreich bewältigen?“ hängt entscheidend von der gewählten Strategie ab. Um den passenden Ansatz für eine strategische Entwicklung herauszufiltern, kann man sich des PAVE-Modells bedienen. Es stellt die Fragestellungen „Lässt sich die Zukunft vorhersagen oder nicht?“, und „Kann ich mich gezielt positionieren oder lässt sich die Welt aktiv gestalten?“ gegenüber. Tab. 6.1 zeigt die sich daraus ergebenden strategischen Optionen und Ansätze. Wie in Kap. 2 beschrieben, ist die Entwicklung der Rahmenbedingungen, insbesondere im technologischen Bereich, immer schwerer vorhersehbar. Geht man davon aus, dass eine gezielte Positionierung immer schwieriger wird und, dass ein unternehmerischer Ansatz immer eine aktive Gestaltungsgrundhaltung und -komponente enthält, so rücken die Ansätze Blue Ocean und Effectuation näher in die Betrachtung.

6.1  Strategische Ausrichtung

163

Tab. 6.1  Vier PAVE-Strategien im Umgang mit Herausforderungen Zukunft nicht vorhersagbar Weltbild: „Die Welt verändert sich dynamisch, ich lerne schnell, damit umzugehen.“ Adaption – anpassen, Planung – klassisches Management flexibel verändern Durchführung exakter Analysen und Prognosen zur Zukunft; Pläne schmieden, um Die laufende Entwicklung beobachten und sich eine gute Position in der Zukunft zu möglichst schnell an die besetzen. Entwicklungen anpassen. Ansätze: Markt- und Konkurrenzanalysen, Ansätze: Design Thinking, Kundenbedarfsanalysen Szenariotechniken Agil/Scrum, Action Learning Weltbild: „Ich habe genug Hebelwirkung und Weltbild: „Ich kann die Welt beeinflussen und die Macht, um meine Welt nach meinen Zukunft mit anderen Vorstellungen zu bauen.“ co-kreieren.“ Effectuation – iterativ Vision – visionär gestalten co-kreieren Einfluss nutzen, um Bilder der Zukunft Nutzung der eigenen Realität werden zu lassen. Mittel und Kontakte, um in einer veränderlichen und ungewissen Welt Neues zu erschaffen. Ansätze: Lernende Organisation, Presencing Ansätze: Effectuation, Blue Ocean (Wortschöpfung aus den englischen Worten sensing – Deutsch: Fühlen, Erspüren – und presence – Deutsch: Anwesenheit, Auftreten), Corporate Imagination

Zukunft vorhersagbar gezielt Weltbild: „Die Welt ist stabil genug für gute positionieren Vorhersagen und ich plane besser als die anderen.“

aktiv gestalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an Faschingbauer 2009

Die Blue Ocean-Strategie beschreibt einen systematischen Weg, neue Märkte zu kreieren, die (ohne Konkurrenz) neue Nachfrage erzeugen und höchstes profit­ ables Wachstum in Aussicht stellen. Aktuell gibt es zu dieser Strategie noch kaum praxistaugliche Veröffentlichungen, die sich auf Finanzinstitute referenzieren lassen. Eine der wenigen Veröffentlichungen, die sich im Internet finden lässt, ist „Banking Foresight: Blue Ocean Strategy For Integrated Development“ (De Silva 2011). Darin gibt der Autor einen ausführlichen Überblick über die Grundgedanken der Blue Ocean-Strategie. Die Ausführungen enthalten jedoch, außer in der Einleitung und im Schlussteil, keinen direkten Bezug zum Bankgeschäft. Die Aussagen bleiben sehr vage und allgemein.

164

6  Ansätze für die Praxis

Es entsteht der Eindruck, als sei diese Methode für den Banken- und Sparkassenmarkt nicht wirklich anwendbar, da die den Geschäftsmodellen zugrunde liegenden Produkte und Dienstleistungen ebenso leicht von anderen Anbietern entwickelbar und zum Teil sogar besser skalierbar sind. Aber trifft dies wirklich zu? Die Ausführungen von Trautmann (2019) liefern in Ansätzen eine Antwort. Er verweist darauf, dass Regionalbanken zwar beispielsweise mittels der Wertekurve zur Ermittlung der Kostentreiber das Produktportfolio vereinfachen können, um Kosten zu senken. Neue Fokus- und Divergenzpunkte können durch die Niveauerhöhung von Werttreibern (z. B. bei den Faktoren Omnikanal-Banking, Einfachheit der Produkte und Prozesse sowie günstiger Preis) jedoch nicht ausgeprägt werden, da diese schon durch den Wettbewerb (in diesem Fall Direktbanken) besetzt sind. Die Stoßrichtung der Produktportfoliooptimierung reicht somit nicht aus, um sich zu einem wirklich tragfähigen, neuen Leistungsversprechen hin zu entwickeln. cc Fokus- und Divergenzpunkte gelten als zentrales Gütekriterium für die Po­ sitionierung. Sie zeigen, wie einzigartig und tragfähig das Leistungsversprechen eines Unternehmens ist. Fokus bedeutet, dass man in einem Wettbewerbsfaktor ein hohes oder sehr hohes Niveau erreicht (bzw. umgekehrt beim Preis). Divergenz bedeutet, dass ein Vorsprung zum Wettbewerber existiert. Ein positiver Fokus allein reicht nicht aus, da ohne Divergenz für den Kunden/ die Kundin eine Austauschbarkeit der Anbieter besteht. Erreicht man beispielsweise im Vergleich zum Wettbewerb ein hohes Leistungslevel spricht man von Fokus und Divergenz. Somit bleibt Effectuation als unternehmerische Entscheidungslogik, die in Situationen der Ungewissheit eingesetzt werden kann (Reeves et al. 2015). Effectuation als unternehmerische Methode ist ein Ergebnis der internationalen Entrepreneurship-Forschung. Saras D. Sarasvathy, Professorin an der Darden School of Business, hatte die Idee, das Denken, Entscheiden und Handeln von Unternehmern als Expertise zu betrachten. Sarasvathy führte Ende der 90er-Jahre eine Untersuchung mit 30 sehr erfahrenen Unternehmer*innen durch (vgl. Sarasvathy 2001, 2008). Erstaunlicherweise lehnten diese erfahrenen Unternehmer*innen Marktforschung zum überwiegenden Teil ab. Damit wichen sie von den Grundüberzeugungen der 90er-Jahre stark ab. Im zweiten Schritt ermittelte Sarasvathy eine Reihe von Prinzipien, die die erfahrenen Unternehmer*innen anstelle von Prognosen und Planung anwandten. Diese Effectuation-Prinzipien lassen sich am besten im Kontrast zu den Prinzipien kausaler Logik (wie sie zum Beispiel im Management angewandt werden) erklären (Effectuation Intelligenz 2019):

6.1  Strategische Ausrichtung

165

1. Mittelorientierung statt Zielorientierung Kausale Logik bedeutet, Ziele festzulegen und dann Mittel und Wege finden, um die Ziele bestmöglich zu erreichen. Effectuation beginnt hingegen bei den vorhandenen Mitteln: Wer ich bin, was ich weiß und wen ich kenne. Die Mittel bestimmen, was machbar ist. 2. Leistbarer Verlust statt erwarteter Ertrag Kausale Logik orientiert sich am erwarteten Ertrag. Man wählt Ziele aus, die den besten Ertrag versprechen. Effectuation orientiert sich am leistbaren Einsatz oder Verlust. Da sich in einer ungewissen Zukunft keine Erträge vorhersagen lassen, sollte man nur das aufs Spiel setzen, was man zu verlieren bereit ist. 3. Umstände und Zufälle nutzen, statt vermeiden Nach kausaler Logik gilt es, den Zufall auszuschließen, da Überraschungen die Zielerreichung gefährden. Effectuation sieht den Zufall als Partner an: Es gilt, Überraschungen in Chancen zu verwandeln und Nutzen aus dem Ungeplanten zu ziehen. 4. Partnerschaften statt Konkurrenz Kausale Logik unterscheidet zwischen „den richtigen Partnern“ und grenzt sich gegen potenzielle Konkurrenz ab. Effectuation bedeutet, Partnerschaften mit denen einzugehen, die sich selbst selektieren und früh an einem noch unsicheren Vorhaben beteiligen. 5. Prozess Kausale Logik beginnt bei Ideen über die Zukunft. Die Idee ist der Kontext für Analyse und Vorhersagen der Zukunft. Gute Analysen sind die Voraussetzung für die Positionierung eines Vorhabens: Was genau möchte ich für wen genau umsetzen? Dann wird geplant, wie sich das Vorhaben optimal realisieren lässt. Das Ergebnis der Planung sind Ressourcen, die zur Umsetzung des Vorhabens benötigt werden. Kann man die Ressourcen bereitstellen, wird das Vorhaben laut Plan umgesetzt. Der Ablauf: Denken, denken, denken, handeln. Effectuation beginnt bei einem beliebigen Anlass zum Handeln und dem Blick auf vorhandene Mittel. Was kann ich mit den vorhandenen Mitteln sofort tun? Handeln bedeutet, seine noch vagen Vorhaben zu exponieren und andere zu finden, die bereit sind, mitzumachen. Wer ins Boot kommt, bringt weitere Mittel ein und beeinflusst die Zielrichtung des Vorhabens. Mit jedem neuen Partner/jeder neuen Partnerin erweitern sich die Möglichkeiten zum Handeln. Über jeden Zyklus werden aber auch die Ziele klarer. Über mehrere Runden wird so das Neue kreiert: Produkte, Dienstleistungen, Firmen, Märkte oder – ganz allgemein – neue Problemlösungen. Der Ablauf: Denken, handeln, denken, handeln, etc. (vgl. Abb. 6.2).

166

6  Ansätze für die Praxis

Abb. 6.2  Effectuation-Prozess. (Quelle: Effectuation Intelligenz 2019)

6. Haltung Kausale Logik geht davon aus, dass wir nur das steuernd beeinflussen können, was wir vorhersagen (also planen) können. Effectuation fokussiert auf all das, was wir durch unser Handeln gestalten können, wenn die Basis für Vorhersage und Planung fehlt: Alles, was ich steuernd gestalten kann, brauche ich nicht vorherzusagen. Gestaltbar ist all das, was auf vorhandenen Mitteln basiert und einen leistbaren Verlust aufweist. Gestaltbar ist auch, was durch Zufälle und geänderte Umstände möglich wird und was sich durch Vereinbarungen mit Partner*innen ergibt. 7. Die Logik wechseln Effectuation ist wie Auto fahren im ersten und zweiten Gang: Diese sind besonders nützlich, um erst einmal Fahrt aufzunehmen, wenn das Vorhaben noch vage und unsicher ist. Ab einem bestimmten Punkt fährt man jedoch besser in den höheren Gängen. Man schaltet in kausale Logik um. cc

Wie lässt sich der Effectuation-Ansatz in der Bank/Sparkasse anwenden?

Michael Faschingbauer stellt in einem Interview mit Sonja Alt die Einsatzmöglichkeiten von Effectuation in bestehenden Unternehmen vor (2017): Für Vieles in der Organisation kann das Planen weiterhin gut funktionieren oder ist sogar die beste Methode. Jetzt gibt es aber diese Felder, wo planen eben nicht so gut funktioniert. Wenn ich zum Beispiel plötzlich vor der Herausforderung stehe, dass ich nicht mehr weiß, wo zukünftig meine Konkurrenz herkommt, wie zum Beispiel in der

6.1  Strategische Ausrichtung

167

Medienbranche oder der Finanzwirtschaft. Oder wenn bei den digitalen Geschäftsmodellen überhaupt nicht mehr klar ist, wer Freund und Feind ist und was in Zukunft noch funktionieren kann. Genau für diese Fragestellungen brauche ich jetzt andere Ansatzpunkte: Mit wem kann ich in Interaktion treten? Gibt es Startups, die sich mit ähnlichen Dingen beschäftigen wie wir und die wir ins Boot holen können? Gibt es Unternehmen, die ähnlich strukturiert und mit der gleichen Herausforderung – zum Beispiel der Digitalisierung – kämpfen, mit denen ich mich zusammenschließen und gemeinsam etwas Neues ausprobieren kann? Ich brauche also nicht die ganze Organisation oder deren Kultur zu ändern. Vielmehr geht es darum, eine andere Methode anzuwenden auf eine spezielle Fragestellung.

Auch wenn an dieser Stelle kein kompletter Strategieprozess durchlaufen werden kann, sollen mit Blick auf die Ausgangsfrage wenigstens einige Elemente aus Effectuation grob skizziert werden, um dieses Management- und Führungstool greifbarer werden zu lassen. Im ersten Schritt gilt es, den Handlungsanlass für das gemeinsame Vorhaben zu aktivieren. Statt Veränderung „von oben herab“ anzuordnen ist es zielführender allen Beteiligten klar zu machen, warum es individuell sinnvoll sein könnte, sich zu engagieren und damit den Handlungsanlass für Beteiligte erlebbar zu machen. Der Vorstand ist aufgefordert, den Beteiligten seinen eigenen Handlungsanlass aus seiner Rolle heraus, aber auch aus persönlicher Sicht darzustellen: • Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf das Geschäftsmodell der Bank/Sparkasse? • Warum ist es ausgerechnet jetzt sinnvoll oder notwendig, zu handeln? • Welche Ansätze sind denkbar? • Gibt es Alternativen dazu, jetzt zu handeln? Im Vordergrund steht eine maximale Transparenz über die Dynamik, Chancen und Risiken rund um das Thema Digitalisierung. Die einzelnen Teilbereiche der Bank/Sparkasse erhalten in Kleingruppen den Auftrag, den Handlungsanlass aus ihrer eigenen Rolle und Perspektive zu erkunden und anhand von Leitfragen schriftlich z. B. auf einem Flipchart oder auf einer gemeinsamen Online-Plattform darzustellen. • Welche Not gilt es aus meiner/unserer Sicht abzuwenden? Welche Chancen gilt es zu nutzen? • Was würde passieren, wenn jetzt nichts passiert/wir jetzt nicht handeln? • Welche Auswirkungen hätte das auf mich persönlich/unser Team/den Bereich/ die Abteilung/die Bank/Sparkasse?

168

6  Ansätze für die Praxis

Dabei ist zu beachten: Es geht nicht nur um sachliche Begründungen für den Handlungsbedarf, sondern auch um persönliche Betroffenheit auf emotionaler Ebene. In einem zweiten strategischen Schritt kann unter Beteiligung mehrerer Führungsebenen (Empfehlung: mindestens Vorstand und zweite Führungsebene) der weitere Handlungsraum definiert werden. Hierbei werden z. B. die Leitplanken für ein gemeinsames Vorhaben abgesteckt, ohne sich auf ein fixes Ziel festlegen zu müssen. Die Leitplanken schaffen einen Raum der Möglichkeiten, in den die einzelnen Akteure autonom „hineinhandeln“ und Zukunft vereinbaren können. Leitplanken sollen diesen Raum sowohl definieren als auch abgrenzen. Innerhalb der Leitplanken hat all das Platz, was Teil des Vorhabens sein sollte oder könnte. Außerhalb der Leitplanken landet all das, was explizit nicht Teil des Vorhabens sein soll oder darf. Abb. 6.3 zeigt auszugsweise ein Beispiel aus der Praxis einer Bank zu drei zentralen strategischen Fragestellungen im Rahmen eines Zukunftsworkshops. Außerhalb der Leitplanken finden sich die Bedingungen, die im Rahmen neuer Ideen zwingend einzuhalten sind, so z.  B. die aus Kostengründen resultierende Forderung, keine Mehrkapazitäten aufzubauen. Ebenso wurde der „Leistbare Verlust“ im Rahmen quantitativer und qualitativer Größe festgelegt. Innerhalb der Leitplanken finden sich auszugsweise die Themen, die das Haus im Rahmen zukünftiger Projekte realisieren möchte. cc

Wie gelangen diese Handlungsansätze/Themen mit Effectuation in die Umsetzung?

Eine Möglichkeit bietet der sogenannte „Marktplatz der Macher“ (Faschingbauer und Mauer 2012). Ausgangspunkt für den Marktplatz der Macher sind Fragestellungen, auf die die Beschreibung „nicht vorhersehbar, aber durch Handeln gestaltbar“ zutrifft. Das können recht allgemeine und vage Fragen sein (Wie setzen wir die technologischen Anforderungen in der Bank/Sparkasse um? Welche Synergien können wir zwischen Kooperationspartnern herstellen? Was können wir tun, um die Kundenzufriedenheit bei unseren digital affinen Kund*innen zu heben?). Das Tool lässt sich allerdings auch auf den Start konkreter Vorhaben anwenden (Wie machen wir unsere Mitarbeiter*innen fit für die Zukunft?). Ist das Thema formuliert, folgt die Durchführung des Marktplatzes, am besten mit einem heterogenen Team. Abb. 6.4 gibt einen Überblick über den Prozess. In einem mehrstufigen Prozess werden vorhandene Mittel erhoben und daraus handlungsorientierte Vorhaben („Schnellboote“) entwickelt. Im Herzen des Ver-

6.1  Strategische Ausrichtung

169

Abb. 6.3  Praxisbeispiel Leitplankendefinition

fahrens steht der Marktplatz – eine rasche Folge von Dialogen: Dabei werden vage Ideen konkreter und Teammitglieder kommen an Bord. Nur die wirklich m ­ achbaren Vorhaben erhalten genug Unterstützung anderer und verlassen als Schnellboote den Hafen. Zum Schnellboot können alle Aktivitäten werden, die die Zukunft in die gewünschte Richtung formen. Verbindliche Vereinbarungen stellen sicher, dass die Schnellboote risikoarm und flexibel neue Wege erschließen. Geplant wird zunächst „auf Sicht“ über die kommenden Wochen und nicht auf ferne Ziele hin. Unter geschickter Ausnutzung des Ungeplanten können Boote, die in Richtung Indien starten mitunter Amerika entdecken. Abb. 6.5 illustriert die Fragestellungen im Rahmen der Schnellbootregatta.

170

6  Ansätze für die Praxis

Abb. 6.4  Prozess im Marktplatz der Macher

Abb. 6.5  Fragestellungen und Zeitplan im Rahmen der Schnellbootregatta

6.1  Strategische Ausrichtung

171

In einem nächsten Schritt muss der Ausgangspunkt zur Erschließung neuer Wege festgelegt werden. Die zentralen Fragen dafür lauten: Wer bin ich (Rollen-­ Identität, Werte)? Was weiß ich (Wissen, Fertigkeiten, Erfahrungen)? Wen kenne ich (Kontakte und Netzwerk)? Die Antworten auf diese Fragen stellen die Mittel dar, aus denen sich machbare Zukunftsvorhaben entwickeln lassen. Tab. 6.2 gibt einen Überblick hierzu. Diese Vorgehensweise setzt bei den vorhandenen Möglichkeiten der Bank/ Sparkasse an und zieht die internen Mittel und Ressourcen dem Einsatz externer Beratungsleistungen vor. Gerade Sparkassen und Genossenschaftsbanken können im Rahmen dieser Systematik das enorme Potenzial heben, das ihnen über ihre jeweiligen Verbünde (und im Falle von Genossenschaften ihrer Mitglieder) zur Verfügung steht. Ein wesentlicher Vorteil des Marktplatzes liegt in seiner Handlungsorientierung. Er vermeidet das unter Ungewissheit müßige Unterfangen, Entscheidungen über den Wert von bislang ungeprüften Ideen treffen zu müssen. Im Marktplatz entwickeln sich stattdessen diejenigen Ideen zu konkreten Vorhaben, die die Handlungsenergie der anwesenden Akteure aktivieren können. Im Vergleich zu anderen Methoden zur Ideengenerierung liegt die Stärke des Tools in der Wirkung der Dialoge. Ideen müssen sich nicht von Anfang an vor einem großen Entscheidungsgremium bewähren, wie es etwa beim Brainstorming oder in einem Vorschlagswesen der Fall ist. Die Dialoge geben dem Ideengeber die Gelegenheit, die Idee so weit zu entwickeln und mit den Impulsen anderer anzureichern, dass sie reifen kann und im Plenum überlebensfähig wird. Der Marktplatz mündet in konkrete, erste Schritte innovativer Vorhaben. Durch die Methode und deren Spielregeln ist sichergestellt, dass diese Schritte leistbar sind und auf dem aufbauen, was in der Organisation bereits vorhanden ist: Identität, Wissen und soziales Netzwerk. Die konsequente

Tab. 6.2  Mittel und Ressourceninventar Wer ich bin … Was ich weiß …

Ihre Mittel Charakter, Vorlieben, Eigenschaften, Werte, Normen, Identität, Leitbild, etc. Wissen, Tätigkeiten, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Erfahrungen, Kompetenzen, etc.

Wen ich Persönliches und berufliches Netzwerk, Kund*innen, Lieferant*innen, Partner*innen, kenne Interessent*innen, Wettbewerb, Informant*innen, … Meinungsmacher*innen, etc.

Ihre Ressourcen Geld, Reputation, Zeit, … Ideen, Patente, Prototypen, Namen, Marken, Reputation … Ressourcen der Netzwerkmitglieder

Darstellung leicht modifiziert, mit freundlicher Genehmigung von Michael Faschingbauer

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6  Ansätze für die Praxis

Mittelorientierung begünstigt diejenigen Vorhaben, die von der Organisation auch umgesetzt werden können. Der Marktplatz beschränkt sich nicht auf die Kreativität im Denken, sondern fördert die Kreativität im Tun. Fazit aus diesem Abschnitt Die Effectuation-Logik bindet als Führungsinstrument viele Beteiligte (nicht nur, aber vor allem auf den zentralen Führungsebenen) in der Bank/Sparkasse ein und schafft im Rahmen einer Vorgehensweise, die sich an agiles Arbeiten anlehnt, einen iterativen, verbindlichen Prozess für die Entwicklung strategisch relevanter Themenfelder.

6.2

Kulturelle Ausrichtung

Um die Umsetzung strategischer Ansätze kraftvoll voranzutreiben, bedarf es einer Kultur, die dies stützt (vgl. Abschn. 3.2). In der praktischen Anwendung kann sich der Führungskreis einer Bank oder Sparkasse eines einfachen Tools bedienen, um den Status quo zur aktuellen Kultur und die gewünschte Zielrichtung zu ermitteln und zu diskutieren: dem Kulturkreuz in Anlehnung an das Riemann-Thomann-Modell. Fritz Riemann (1975) und Christoph Thomann (1988) beschreiben vier gegensätzliche Grundausrichtungen des Menschen: Distanz (Bedarf nach einem hohen Maß an Freiheit und Rückzugsmöglichkeiten), Nähe (Wunsch nach Nähe und Bindung zu anderen Menschen), Dauer (Wunsch nach Verlässlichkeit und Prinzipientreue) und Wechsel (Wunsch nach Kreativität und Hang zum Risiko). Alle vier Grundausrichtungen kommen bei jedem Menschen in unterschiedlicher Ausprägung vor. Meistens sind jedoch zwei oder manchmal nur eine dieser Ausrichtungen maßgebend für das aktuelle Empfinden und Verhalten. Diese Grundausrichtungen haben einen direkten Einfluss auf das Kommunikations- und Beziehungsverhalten. Übersetzt man diese Grundausrichtungen auf Kulturdimensionen, so kann ein Modell abgeleitet werden, das unterschiedliche Kulturausprägungen beschreibt. Abb. 6.6 stellt diese dar. Die jeweiligen Kulturen bringen sowohl Vorteile als auch Nachteile mit sich. Dies hängt davon ab, in welchem Unternehmensumfeld und -kontext sie wirken. In der Abbildung werden Reinkulturen aufgeführt, die in der Praxis selten in dieser Form auftreten. Vielmehr findet sich in den Unternehmen eine Mischung der jeweiligen Kulturausprägungen.

6.2  Kulturelle Ausrichtung

173

Abb. 6.6  Unterschiedliche Kulturdimensionen

cc

Wie kann man dieses Modell für die Arbeit an der Unternehmens- und Führungskultur nutzbar machen?

Der folgende Ablaufplan greift die Vorgehensweise bei der Überarbeitung des Unternehmensleitbildes und der Führungsgrundsätze einer Bank im Rahmen eines eineinhalbtägigen Workshops auf. Der Personaler der Bank agierte hierbei als Moderator und nahm damit eine Doppelrolle (auch als Mitgestalter) ein. 1. Sichtung des aktuellen Status-quo zum Leitbild und zu den Führungsgrundsätzen unter der Maßgabe, unter anderem das Thema Digitalisierung (aber auch weitere aktuelle Rahmenbedingungen) zu berücksichtigen inklusive Darstellung der wahrgenommenen Handlungsansätze. 2. Vorabstimmung des Personalers mit dem Ressortvorstand zu Agenda und Vorgehen bei der Entwicklung des Leitbildes und der Führungsgrundsätze. 3. Information und Diskussion mit dem Gesamtvorstand und den Bereichsleitern zu Inhalt, Vorgehensweise und vor allem Nutzen des Ansatzes im Rahmen eines Jour-Fixes (Abb. 6.7 zeigt einen Auszug hieraus). Den kritischen Merkmalen wurde besondere Aufmerksamkeit gewidmet, damit kein Papiertiger entsteht.

174

6  Ansätze für die Praxis

Abb. 6.7  Nutzen und kritische Merkmale der Überarbeitung des Unternehmensleitbildes

4. Vorstand und Führungskräfte nahmen die folgende Aufgabenstellung als Vorbereitung mit: a) Sie sollten in Einzelarbeit für sich die Stelle im Kulturkreuz bestimmen, an der die aktuelle Kultur im Haus der Praxisbank verortet wird (Ist-Kultur). Sie sollten diese Stelle mit einem Kreis markieren. Die Stelle, an der der Kreis positioniert wird, ist ebenso aussagekräftig (Bsp.: Wenn die aktuelle Kulturausprägung der Praxisbank von allen vier Kulturen identische Anteile enthält, wäre der Kreis direkt in der Mitte des Modells positioniert. Herrscht eine ausschließliche Hierarchiekultur vor, befindet sich der Kreis rechts oben im Feld Hierarchiekultur). b) Sie sollten in einem weiteren Schritt die Ziel-Kultur mit einem Kreuz markieren Maßgeblich hierfür war die Fragestellung „Wie muss die Kultur der Praxisbank sein, damit diese die Strategie der Bank zukunftsfähig trägt?“. 5. Erstellung einer Übersicht mit den aggregierten Einzelergebnissen für die weitere Bearbeitung im Workshop (siehe Abb. 6.8). In der Mehrheit tendieren die Führungskräfte zu einer Ziel-Netzwerkkultur. 6. Besprechung des Ergebnisses im Workshop mit Sammlung von qualitativen Beispielen anhand der Leitfragen „Bitte beschreiben Sie kurz, weshalb Sie die aktuelle Kultur wie angegeben wahrnehmen.“ und „Notieren Sie bitte kurz (auf Moderationskarten oder mittels einer Cloudlösung) in Worten oder einem Satz,

6.2  Kulturelle Ausrichtung

175

Abb. 6.8  Ergebnis der Abfrage Kulturkreuz Praxisbank

woran Kund*innen, Mitglieder und Mitarbeiter*innen erkennen würden, dass die Zielkultur erfolgreich umgesetzt/gelebt wird.“ 7. Arbeit in Kleingruppen mit der folgenden Aufgabenstellung: Bereitgestellte Unterlagen: • Unternehmensstrategie und -ziele der Praxisbank • Vorliegende Praxisbeispiele/Muster anderer Banken • Perspektive Kund*in/Mitglied – Bitte setzen Sie sich auf den Stuhl des Kunden/der Kundin/des Mitgliedes: „Wie machen wir unseren Kund*innen/Mitgliedern deutlich, wofür wir stehen, wie wir unsere Vision erreichen wollen, woran wir uns messen lassen wollen?“ Leitfragen: a) Welche 3 bis 5 Aspekte sollten aus Ihrer Sicht im Leitbild einen herausragenden Platz erhalten? b) Übliche Zielfelder bei einem Leitbild sind neben dem Selbstverständnis/den Werten auch Kund*innen, Mitarbeiter*innen, Betriebswirtschaft/Finanzen, Leistungen/Kernkompetenzen: Welche Aussagen sind Ihnen hier besonders wichtig?

176

6  Ansätze für die Praxis

8. Zusammentragen, Konsolidierung und Schärfung der erarbeiteten Sätze. 9. In einem separaten Schritt wurden (auch auf Basis des neuen Leitbildes) Führungsgrundsätze erarbeitet. Die Aufgabenstellung hierzu lautete: Bereitgestellte Unterlagen: • Unternehmensstrategie und -ziele der Praxisbank • Leitbildentwurf vom Vortag • Vorliegende Praxisbeispiele/Muster anderer Banken • Eigene Erfahrungen als Führungskraft insbesondere bei typischen und schwierigen Führungssituationen. (Wie geht eine gute Führungskraft, wie eine weniger gute Führungskraft mit diesen Situationen um?) Leitfragen: a) Was sind aus Ihrer Sicht die 5 bis 7 wichtigsten Führungseigenschaften (Führungsverhaltensweisen) einer Führungskraft der Praxisbank heute und in naher Zukunft, die auf die Strategie und das neue Leitbild einzahlen? b) Welches Führungsverhalten ist erforderlich, um diese Eigenschaften für die Mitarbeiter*innen erlebbar zu machen (Beschreibung der Eigenschaften durch konkretes Tun)? Im Nachgang zum Workshop erfolgten die nächsten Schritte: 1 . Aufbereitung der Ergebnisse aus dem Workshop durch die Marketingabteilung. 2. Präsentation der Ergebnisse auf einer Mitarbeitermesse. 3. Im weiteren Verlauf: Einbindung der Mitarbeiter*innen in den Prozess, um diese in die Umsetzung des Leitbildes nach innen mitzunehmen und zu beteiligen. Zusätzlich: Reflexion und Feedback der Mitarbeiter*innen zu den Führungsgrundsätzen: Finden wir uns darin wieder? Werden die zentralen Aspekte auch aus Mitarbeitersicht behandelt? 4. Die Führungsgrundsätze fließen in eine neue digitale Führungskräftebewertung (Feedback) ein. 5. Weiterentwicklung des Mitarbeiterbeurteilungssystems und damit verbunden die Überarbeitung der Funktions- und Anforderungsprofile für Mitarbeiter*innen und Führungskräfte. Alternativ zu diesem Vorgehen können Leitbild und Führungsgrundsätze auch Bottom-up erarbeitet werden, was Einbindung und Identifikation aller Beteiligten erhöht, aber mehr Zeit und Aufwand erfordert.

6.2  Kulturelle Ausrichtung

cc

177

Wie aber vermeidet man, dass die mit viel Mühe und unter hoher Beteiligung ausgearbeiteten Ergebnisse zum Papiertiger werden?

Entscheidend ist, wie die Bank die übergeordneten Grundsätze und Philosophien einerseits in eine praktikable und pragmatische Messsystematik, andererseits in die alltäglichen Führungsinstrumente überführt. Messung Die selbstverordneten Elemente des Unternehmensleitbildes lassen sich mittels Kunden- (nach außen) und Mitarbeiterbefragungen (nach innen) prüfen. Dabei muss dies nicht immer durch umfangreiche, zeit- und kostenintensive Onlinebefragungen erfolgen. Stichprobenartige Erhebungen mittels Tablet (in der Filiale), Bewertungsbuttons (im Web) oder einfach und analog mittels des Einwerfens von grünen, gelben oder roten Bällen in einen Korb beim Verlassen der Filiale geben Aufschluss über die Meinung der Kund*innen. Mitarbeiter*innen wiederum können ihre Eindrücke und die ihrer Kolleg*innen zur gelebten Unternehmenskultur, z. B. im Rahmen von Soundingboards oder anderer Kommunikationsrunden, einbringen. Im Falle von Soundingboards entsendet jeder Teilbereich der Bank/Sparkasse eine(n) Mitarbeiter*in (z.  B. zweimal im Jahr) in eine Gesprächsrunde, in der aktuelle Fragestellungen mit Bezug zu Strategie und Unternehmenskultur thematisiert und gefeedbackt werden. Die ausgewählten Mitarbeiter*innen holen sich im Vorfeld die Meinungen ihres direkten Umfelds ein. So entsteht unterjährig zeitnah ein konkretes Bild zur aktuellen Stimmungslage und zum Wirkungsgrad der Umsetzung diverser Maßnahmen im Haus. Nicht selten werden in diesen Runden auch Rückmeldungen zur wahrgenommenen Führungskultur gegeben. Instrumente Bei der Einbindung der kulturellen Aspekte in das Führungsinstrumentarium der Bank/Sparkasse, sollten die folgenden Instrumente überprüft und angepasst werden: • Führungskräftefeedback: Die Befragung hat in der offenen Form (direkte Rückmeldung) den größtmöglichen Nutzen für die einzelne Führungskraft. Im Falle einer nicht vorhandenen Vertrauenskultur besteht die Option, die Mitarbeiter*innen anonym zu befragen.

178

6  Ansätze für die Praxis

• Anforderungsprofile für Mitarbeiter*innen und Führungskräfte: Einbindung der kulturellen Aspekte und digitalen Merkmale bei den qualitativen, fachübergreifenden Kompetenzen zur Festlegung der neuen Soll-Kompetenzen (siehe Abschnitt 6.4). • Beurteilungs-/Personalentwicklungs-Gesprächsbögen: Abgleich der Soll-/Ist-­ Kompetenzen, um mögliche Entwicklungsmöglichkeiten zu identifizieren (siehe Abschnitt 6.4). • Anpassung des Qualifizierungsangebotes, abgestimmt auf die neu geforderten Kompetenzen. • Eventuelle Anpassung der Zielsystematik mit der Einbindung von qualitativen Zielen, z. B. zur Stärkung der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit zur Förderung einer Netzwerkkultur. • Ausrichtung der Projektarbeit (Führungsinstrument Delegation) auf agile Projekte, wo sinnvoll und möglich. Fazit aus diesem Abschnitt Gelebte Kultur funktioniert nur dann, wenn alle im Haus, vor allem aber die Führungskräfte im Rahmen ihrer Vorbildfunktion, selbstverantwortlich und nachdrücklich auf die Sollkultur „hinarbeiten“. Vor allem Mitarbeiter*innen messen Führungskräfte jeden Tag an ihren Aussagen und damit verbundenen Handlungen. Diverse Führungsinstrumente unterstützen die Führungskraft dabei. Sie müssen im Sinne der Sollkultur angepasst und gelebt werden, um Sollbruchstellen zu vermeiden.

6.3

Organisatorische Ausrichtung

Dr. Ralf Kölbach (2019), Vorstand der Westerwald Bank, stellt die Bedeutung einer veränderten Form von Führung in Banken und Sparkassen heraus, wenn er ein neues, deutlich gesteigertes Niveau der Beweglichkeit eines Unternehmens zur Bewältigung der Herausforderungen der VUCA-Welt (siehe Kap.  3) einfordert. Er hält fest: Offensichtlich sind es nicht alte Führungsstile aus der Zeit des Industriezeitalters; insbesondere der direktive Stil passt nicht zu selbstbewussten Beschäftigten, die Zugriff auf das gesamte Wissen haben und Mitverantwortung anstreben. Führung in der digitalen Transformation muss sich mit dem Kernthema befassen, das gerade deshalb wichtiger wird, weil so viel digitalisiert wird: der Emotion.

6.3  Organisatorische Ausrichtung

179

Er stellt die transformationale Führung (siehe Abschn. 4.1) und das Empowering Leadership (zielt darauf ab, alle Organisationsmitglieder am Führungsprozess zu beteiligen) heraus, da beide auf enge Beziehungen zwischen Führenden und Geführten setzen. cc

Was aber bedeutet dies bei der organisatorischen Neugestaltung von Führungsstrukturen?

Der Reiz ist groß, in Zeiten unter Druck geratener Ergebnisrechnungen Führungsspannen einzusparen und damit einhergehend Kosten zu reduzieren. Blickt man auf neue Arbeitsorganisationen (siehe Abschnitt  3.3), so lohnt sich dieser Schritt auch unter dem Aspekt, Führungsverantwortung zu verteilen und die Selbstverantwortung der Mitarbeiter*innen zu stärken (siehe Abschnitt 4.5). Hat z.  B. eine Abteilungsleitung Retail im Zuge einer Neuorganisation des Marktbereiches 90 Mitarbeiter*innen zu führen, ist dies in einer Flächenbank allein aufgrund der zu überbrückenden Distanzen objektiv kaum möglich, da Nähe und damit einhergehend ein Einschätzen der Mitarbeiter*innen kaum gewährleistet werden kann. Werden aber auf die Möglichkeiten einer digitalen Kommunikation und Führung zurückgegriffen (siehe Abschnitt 4.3) und werden einzelne Führungsaufgaben auf andere Funktionsträger neu verteilt, kann Nähe neu definiert, modern übersetzt und sichergestellt werden. Tab. 6.3 gibt eine Beschreibung zu einer möglichen Verteilung von (Führungs-) Aufgaben auf unterschiedliche Funktionen in der Bank/Sparkasse am Beispiel des Retailgeschäfts einer Bank aus der Praxis wieder. In diesem Beispiel wird die Verantwortung für die operative Excellenze an die Retail-Mitarbeiter*innen der jeweiligen Filialen übertragen. Sie sind es auch, die bei der Verbesserung der Retail-Prozesse eng eingebunden werden. Die Koordinator*innen nehmen die Funktion eines (agilen Performance-)Coaches ein. Sie sorgen dafür, dass das „Wie“, also die Verbesserung der Zusammenarbeit und die Entwicklung zu einer besseren bzw. stabilen Leistungsfähigkeit innerhalb der Retail-Teams sichergestellt wird. Die Abgrenzung zur Filialleitung erfolgt in der Art, dass diese für die Repräsentation der Filiale nach außen zuständig ist und die Qualität im Beratungsgeschäft vor Ort verantwortet. Die Abteilungsleitung hat die disziplinarische Gesamtverantwortung für die Retail-­Mannschaft und damit auch für die Personalentwicklung. Ebenso nimmt sie die Rolle eines Product-Owners (siehe Abschnitt 3.3) ein, indem sie die Teams mit

Einsatz- und Vertretungsplanung; Beteiligung an Mitarbeiter-Gesprächen (Sechs-AugenGespräche).

Koordinator*in Service Team Sorgt für Nähe und Befähigung; Stärkt die Selbstverantwortung der Mitarbeiter*innen im Service; Trifft ad-hoc-­ Entscheidungen für definierte Aufgabenstellungen; Partner*in der Geschäftsstellenleitung. Nähe erzeugen; Fachliche Befähigung der Mitarbeiter*innen sicherstellen.

Darstellung des Ergebnisses aus dem Workshop mit der Bank

Service Mitarbeiter*innen WER: Definition der Sorgen für operative Exzellenz im Service; Rolle Pflegen die „Wer bin ich?“ Willkommenskultur; „Wer sind meine Unterstützen den/die Stakeholder?“ Berater*in bei den noch zu „Was sind die definierenden Erwartungen an Aufgabenstellungen; mich?“ Beraten in zu definierenden „Wechselwirkung mit anderen Rollen?“ Vertriebsthemen (z. B. Bedarfsfeld Liquidität). Schaffen WOZU: Willkommenskultur; Definition der Das „sympathische, Funktion kompetente Gesicht“ der (Sinnbeitrag) Bank; Verantwortlich für einen exzellenten Serviceauftritt der Bank. Für Ordnung auf den WAS/WIE: Geschäftsstellen sorgen; Definition der Kundenservice Prozesse, Stellenbeschreibung, sicherstellen. Service-Drehbuch

Tab. 6.3  (Führungs-)Aufgaben Retailgeschäft aus der Praxis einer Bank Bereichsleitung Medialer Vertrieb und Service Neben den bisherigen Aufgaben: Schafft den strategischen und organisatorischen sowie kulturellen Rahmen; Trägt Verantwortung für den Service; Koordination Gesamtbereich.

Mitarbeiter-Gespräche führen; Daueraustausch mit den Koordinator*innen (direkte Führung); Fitmachen der Koordinator*innen.

Prozess- und Strategieverantwortlichkeit; Vernetzen des Service mit anderen Bereichen.

Personalverantwortlichkeit; Strategische Einbindung in die Gesamtbank. Qualitätssicherung für Servicethemen; „Galionsfigur“ für den Service.

Abteilungsleitung Stationärer Service Sichert die Qualitätsstandards; Sorgt für einheitliche Prozesse; Kommuniziert einheitliche Ziele.

180 6  Ansätze für die Praxis

6.3  Organisatorische Ausrichtung

181

dem „Was“ und somit den inhaltlichen Aufgaben betraut. Sie sorgt damit für einen klaren Arbeitsrahmen. Die Bereichsleitung fungiert im Sinne eines strategischen Impulsgebers und Change-Managers. Ihre Aufgabe ist es, die strategischen Vorgaben der Gesamtbank mit dem eigenen Bereich zu verzahnen und in greifbare und umsetzbare Handlungsansätze zu übersetzen. Darüber hinaus setzt sie den sinngebenden Rahmen für den kompletten Bereich und gibt einen motivationsstiftenden Ausblick auf künftige Entwicklungen. Damit einher geht eine frühzeitige Information der Beteiligten und ein Qualifizierungskonzept, das die Betroffenen zeitnah einbindet und auf ihre veränderte Rolle vorbereitet. Die Retail-Teams als auch die Koordinator*innen erarbeiten in jeweils kleinen Gruppen ihre künftigen Zuständigkeiten und ihr Rollenverständnis mit aus. Ergänzt wird dies durch ein Kommunikationskonzept, das die Möglichkeiten einer modernen, digitalen Informations- und Kommunikationstechnik nutzt, um die räumliche Distanz für die Führungskräfte zu überbrücken. • So können regelmäßige Praxisaustauschrunden per Webinare oder Videokonferenzen durchgeführt werden. • Das gemeinsame Arbeiten an Themen kann über hausinterne Cloudlösungen Transparenz in die Zusammenarbeit, aber auch Verantwortlichkeit bei den Mitarbeiter*innen für die Bearbeitung von Themen, bringen. • Chatkanäle sorgen neben dem üblichen Mailverkehr dafür, dass Sachverhalte zeitnah und informell geklärt werden können. Alle diese Möglichkeiten können den Aufbau und die Sicherstellung einer vertrauensvollen Beziehung zwischen den interagierenden Menschen nicht ersetzen. Um dies zu gewährleisten, ist ein hoher Grad an Präsenzaustausch dennoch ein Muss. Fazit aus diesem Abschnitt Führungsrolle und Führungsaufgaben lassen sich in der Organisation auf unterschiedliche Funktionen verteilen. Entscheidend ist, dass sich alle Beteiligten ihrer Selbstverantwortung bewusst sind und diese dementsprechend leben.

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6.4

6  Ansätze für die Praxis

Auswahl- und Weiterentwicklung von Führungskräften

Dieses Kapitel soll und kann die umfassenden Werke, die sich mit Active Sourcing und anderen Rekrutierungsansätzen oder der Vielzahl von Qualifizierungsmöglichkeiten für Führungskräfte auseinandersetzen, nicht ersetzen. Dennoch soll der Versuch unternommen werden, einige wenige, pragmatische Ansätze zu liefern, die sich ohne große Einbindung von externen Expert*innen umsetzen lassen. Auswahl von Führungskräften cc

Braucht es wirklich immer ein umfassendes Assessment Center, wenn es darum geht, Führungskräfte extern oder intern zu rekrutieren?

Zumindest die Bewerbungsunterlagen (Anschreiben, Lebenslauf etc.) können unter eignungsdiagnostischen Gesichtspunkten vernachlässigt werden, da sie von Bewerber*innen unter Aspekten des Eindrucksmanagements selbst gestaltet werden. Dies unterstreicht auch der durchschnittliche Validitätskoeffizient (r misst die Aussagekraft eines Verfahrens für die tatsächliche Prognose eines bestimmten Merkmals für die Praxis. Der Validitätskoeffizient drückt aus, wie stark das Testverfahren zum Beispiel mit beruflichen Leistungen korreliert. Der Wert bewegt sich zwischen −1 und +1), der sich bei dieser Bewertungsmethode bei r  =  0,18 befindet und damit sehr niedrig ist (vgl. Rastetter 1996). Eignungsdiagnostisch nur unwesentlich aussagekräftiger ist die Bedeutung von Arbeitszeugnissen, deren durchschnittlicher Validitätskoeffizient bei r = 0,26 liegt (vgl. Cook 1991). Gründe hierfür sind (vgl. Weuster 1994): • Die Annahme, die berufliche Vergangenheit sei ein Prädiktor für die künftige Arbeit des Bewerbers/der Bewerberin; • Der Einfluss der indirekten Akteure und Rahmenbedingungen (Gesetzgeber, Richter, Tarifparteien, Verfasser von Fachliteratur); • Die Fehler bei der Zeugnisausstellung (Beobachtungsfehler, psychische Fehler, bewusste Fehler, Selbstausstellung, Formulierungsfehler); • Fehler bei der Zeugnisverwendung (Sorgfaltsfehler, Analysefehler, Bewertungsfehler).

6.4  Auswahl- und Weiterentwicklung von Führungskräften

183

Die am häufigsten angewandte Methode im Rahmen einer Eignung von Personen für eine bestimmte Funktion ist das Interview. Das Interview kann in zwei differenzierte Methoden unterschieden werden: Das einfache Vorstellungs-/Einstellungsinterview und das Förder-/Beurteilungsinterview. Beim Vorstellungsinterview handelt es sich in der Regel um den ersten persönlichen Kontakt zwischen Beurteilendem/Beurteilender und Beurteiltem/Beurteilter. Häufig bildet es in der betrieblichen Praxis oft die einzige Grundlage, um von dem Bewerber/von der Bewerberin einen möglichst genauen Eindruck zu gewinnen. Dieser Sachverhalt verliert im Förder- bzw. Beurteilungsinterview an Bedeutung, da hier ein längerer Beobachtungszeitraum zugrunde liegt. Diese Methode ist im Unternehmen oft im Rahmen der betrieblichen Personalentwicklung oder im Rahmen von Beurteilungssystemen institutionalisiert. Dass sowohl das Vorstellungsinterview mit r  =  0,14 (vgl. Rastetter 1996) als auch das Förder-/Beurteilungsinterview mit r = 0,14 bis r = 0,23 (vgl. Cook 1991) recht niedrige durchschnittliche Validitätskoeffizienten aufweisen, zeigt, dass auch diese Methode der Eignungsdiagnostik Fehlerpotenziale aufweist. Hier lassen sich anführen (vgl. Adrian et al. 2010): • Fehlerquellen auf Seiten des Beurteilers (der eigene körperliche und seelische Zustand, die eigenen Gefühle, insbesondere Sympathie/Antipathie, die eigenen Motive, die eigene Einstellung, die eigene Lebenserfahrung, tiefenpsychologische Mechanismen wie z. B. Verdrängung, Verschiebung, Projektion); • Fehlerquellen auf Seiten des Beurteilten (Täuschungsmanöver, Überformung des Verhaltens, tiefenpsychologische Mechanismen, wie z. B. Projektion, Regression, Ich-Einschränkung); • Sozialpsychologische Einflüsse (Rollenverhalten, gruppendynamische Prozesse, Wahrnehmung, Beurteilungssprache und -form); • Randbedingungen (die jeweilige Institution, gesellschaftliche Lage). Als weiteres Instrument der Eignungsdiagnostik bei der Auswahl von Führungskräften wird zunehmend der biografische Fragebogen genutzt, dessen eigentlicher Ursprung im Bereich der klinisch-therapeutischen Diagnostik liegt. Stehle und Schuler (1986) heben hervor, dass es sich bei dem biografischen Fragebogen um eines der validesten Einzelverfahren handelt (Validitätskoeffizienten von r = 0,40 bis r = 0,70). Dem Einsatz bei der Personalauswahl liegt die Annahme zugrunde, dass sich aus einer Vielzahl von biografischen Merkmalen eines Bewerbers (z. B. Verläufe

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6  Ansätze für die Praxis

von Schul- und Berufsausbildungen, Freizeitverhalten, Werthaltungen und Einstellungen zu Eltern, Familie, Beruf und anderen wichtigen Lebensbereichen, Verhalten bei folgenreichen Entscheidungen) Anhaltspunkte für Aussagen über den wahrscheinlichen künftigen Berufserfolg ableiten lassen. Gegenüber dem herkömmlichen Vorstellungsgespräch bietet er folgende Vorteile (Rischar 1990): • Erwartungen, Wahrnehmung, Idealvorstellung und eventuell Antipathie der Einstellenden spielen keine Rolle; • Alle Angaben werden in die Urteilsfindung einbezogen; • Die statistische Auswertung lässt keine Überbewertung negativer Informationen zu. Durch die hohe Validität wird der Einsatz des biografischen Fragebogens für die Eignungsdiagnostik interessant, sollte jedoch nicht als alleiniges Auswahlinstrument eingesetzt werden. Assessment Center gelten als am häufigsten eingesetzte eignungsdiagnostische Instrumente. Im Zuge der Durchführung lassen sich über das beobachtbare Verhalten der Teilnehmer Rückschlüsse darauf ziehen, wie sich die potenzielle Führungskraft in verschiedenen Dimension (z.  B. Überzeugungskraft, Integrationsfähigkeit, Führungsfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Initiative, Kommunikationsfähigkeit und Fähigkeit zur Erreichung eines Konsens) bewährt. Aufgrund der Beurteilung durch verschiedene Beobachter*innen können eine höhere Vorhersagequalität und Objektivität als bei anderen Auswahlmethoden erzielt werden. Durch die Trennung von Beobachten und Bewerten werden die mit anderen Verfahren einhergehenden Risiken (z.  B. vorschnelle Entscheidung, erster Eindruck usw.) oftmals vermieden. In der Kritik steht das Assessment Center hauptsächlich aufgrund seines Kosten-/Nutzen-Verhältnisses. Die Einbindung von Teilnehmer*innen und Beobachter*innen ist relativ aufwendig und daher teuer. Kompa (2004) sieht in Assessment Centern gar einen Monopolanspruch für Stabsstellen in Unternehmen, um die Kontrolle über die Auswahl von Führungskräften zu wahren. Wie auch immer man zur Durchführung von Assessment Centern persönlich steht, so lässt sich hinsichtlich der Evaluation dieses Verfahrens feststellen, dass es sich um ein prädiktiv valides (r = 0,40 bis r = 0,75) Instrument zur Evaluierung berufsrelevanter Leistungen handelt, das den anderen Beurteilungs- und Auswahlmethoden überlegen ist (vgl. Breisig und Schulze 1998). Kleinmann (1996) erwähnt ergänzend dazu Variablen, die eine Erhöhung der Validität des Assessment Center-Verfahrens nach sich ziehen. Es sind dies:

6.4  Auswahl- und Weiterentwicklung von Führungskräften

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• Verzicht auf eine Beobachterrotation; • Nur wenige zu beobachtende Anforderungsdimensionen für die Beobachter*innen; • Die Verwendung von Checklisten für die Beobachtung; • Die Bekanntgabe der Anforderungsdimensionen für die Teilnehmer*innen; • Die Kenntnis der individuellen situationsübergreifenden Verhaltenskonsistenz der Teilnehmenden. Strebt man hohe Validitäten bei der Potenzialanalyse der Kandidat*innen an, sollte man sich der Professionalität der Eignungsdiagnostik versichern. Kein Verfahren erhält dabei bezüglich der Validität so gleichmäßig gute Noten wie das Assessment Center. Je besser man einzelne Verfahren mit einander kombiniert, umso höher fällt die Aussagekraft aus. Und gerade, wenn es darum geht, Führungskräfte als zentrale Schlüsselfunktionen in der Bank/Sparkasse zu besetzen, sollte man sich nicht leichtfertig auf den ersten Eindruck oder die subjektive Gefühlswelt verlassen. Am Rand möchte ich an dieser Stelle mit der Absicht, bewusst zu polarisieren, noch einen Aspekt mit einbringen: Warum bei der Besetzung von Führungskräften bei Fusionen zu Auswahlverfahren gegriffen wird, erschließt sich mir bei aller gewollten Neutralität nicht immer. Wenn oft über mehrere Jahre hinweg die Wirksamkeit einer Führungskraft in der Praxis beobachtet werden kann, so sollte es auch möglich sein, sich argumentativ für oder gegen eine Besetzung auszusprechen. Häufig scheut man eher vor einem Aushandeln der Positionen und der damit verbundenen Notwendigkeit zurück, einer Führungskraft mitteilen zu müssen, dass es am Ende (aus welchen Gründen auch immer) nicht gereicht hat, sie im neuen Haus an gleicher Stelle weiter einzusetzen. Etwas mehr Mut beim Überbringen negativer Botschaften könnte die Kosten für Alibi-Auswahlverfahren ersparen, deren (häufig eh bereits im Vorfeld feststehendes) Ergebnis gerne als Grund für die Entscheidung vorgeschoben wird. Wenn das Assessment Center aber dazu dient, dass Entscheidungen ehrlich und ohne politische Hintergründe besser validiert werden können, so rechtfertigt dies deren Einsatz allemal. Aber auch dann gilt es zu bedenken, dass es erfahrenen Führungskräften, die seit 20 Jahren keine Erfahrungen mit solchen Auswahlverfahren sammeln konnten, oft schwerfällt, sich authentisch darauf einzulassen. Dies kann am Ende zu einer falschen Interpretation der Beobachtungen im Vergleich zum tatsächlich gezeigten Führungsverhalten in der langjährigen Praxis führen.

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6  Ansätze für die Praxis

Praxisbeispiel

Ein Haus wählte im Zuge der Nachfolgeregelung einer Führungsposition entgegen der gängigen Praxis einen eher ungewöhnlichen Ansatz. Im Zuge eines externen Auswahlverfahrens stellte man den verbleibenden beiden potenziellen Kandidaten für die Leitung einer Rechnungswesen-Abteilung die Aufgabe, sich mit realen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Unter Bereitstellung diverser Unterlagen des Hauses (z. B. der Bilanz) und exakten Situationsbeschreibungen galt es, • eine bevorstehende Sitzung zum Jahresabschluss mit einem externen Prüfer vorzubereiten, • eine Problematik hinsichtlich der Urlaubs- und Krankheitsregelungen mit dem (echten) zukünftig zu führenden Team zu besprechen und zu lösen, • eine real existierende Schnittstellenproblematik bei der Zusammenarbeit mit dem Leiter der Controlling-Abteilung zu klären. Diese Vorgehensweise bringt unter anderem die folgenden Vorteile mit sich: • Ein sofortiges Abgleichen des künftigen, zu erwartenden Miteinanders von Führungskraft, Teammitgliedern und Fachverantwortlichen – Stimmt die „Chemie“ untereinander? • Die Bewältigung realer Situationen, die die künftige Praxis der Führungskraft abbilden, wird überprüft – Passen methodische, soziale, persönliche und fachliche Kompetenzen zum tatsächlichen Arbeitsumfeld? • Ein faires und ehrliches Kennenlernen von Arbeitssituation und -umfeld für Bewerber*innen – Passt beides zu deren eigenen Vorstellungen und Erwartungen? Kompetenzsystematik für die Auswahl von Führungskräften und Entwicklung von Führungsverhalten Für die Auswahl von Führungskräften im Zuge der Nachbesetzung, aber auch für die Überprüfung der vorhandenen Kompetenzen im Sinne der Soll-Führungskultur ist es sinnvoll, Kompetenzen zu definieren, die über Fachkompetenzen hinaus, z. B. positiv auf eine gewünschte Netzwerkkultur oder einen zunehmenden Digitalisierungsgrad in der Bank/Sparkasse, einzahlen. Abb. 6.9 zeigt eine Sammlung zukunftsfähiger Kompetenzen, wie sie in einer bereichsübergreifenden Runde von Führungskräften inklusive Vorstand einer Bank definiert wurden, in einem sogenannten Kompetenzrad.

6.4  Auswahl- und Weiterentwicklung von Führungskräften

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Abb. 6.9  Kompetenzrad Praxisbank

Eine andere Bank hat die folgenden 12 Basiskompetenzen und vier vertiefende Kompetenzen für Führungskräfte für sich definiert: Basiskompetenzen (gelten für alle Mitarbeiter*innen inklusive Führungskräfte) 1. Eigene Arbeit transparent machen und Wissen teilen 2. Persönliche und mediale Dialogfähigkeit und Feedbackkompetenz 3. Es-geht-Haltung 4. Eigenverantwortung und Selbststeuerungskompetenz 5. Zielverständnis/Zielorientierung 6. Bereichs- und hierarchieübergreifendes Vertrauen 7. Perspektivenwechsel 8. Qualitätsorientierung 9. Resilienz 10. Umgang mit Komplexität 11. Identifikation mit der Vision der Bank 12. Glaubwürdigkeit

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6  Ansätze für die Praxis

Vertiefende (und ergänzte) Kompetenzen für Führungskräfte 1. Inspirationsfähigkeit 2. Steuerungskompetenz für Individualität 3. Loslassen/Zutrauen 4. Interne Vernetzung fördern Diese Definition allein reicht nicht aus, wenn ein möglichst hoher Grad an Eindeutigkeit bei der Interpretation der Begriffe erzielt werden soll. Insofern ist es notwendig, zu den einzelnen Kompetenzen Verhaltensanker bzw. Beschreibungen zu generieren, woran man im Verhalten erkennen würde, dass die jeweilige Kompetenz in der gewünschten Form umgesetzt ist. Im Folgenden werden für vier Kompetenzen aus der vorgenannten Liste die jeweiligen Beschreibungen aufgeführt. Sie machen anschaulich, wie sich die neuen Anforderungen, die sich aus einem zunehmenden technologischen Wandel ergeben, im Verhalten der Mitarbeiter*innen auswirken (sollen): Eigene Arbeit transparent machen und Wissen teilen „Stellt die eigene Arbeit transparent dar und unterstützt damit andere. Verbessert die eigene Arbeit anhand von Querverbindungen und Rückmeldungen kontinuierlich. Kommuniziert und teilt Erfahrungen/Wissen über die Bank und deren Dienstleistungen mit anderen (z. B. über MAPS oder LinkedIn).“ Eigenverantwortung und Selbststeuerungskompetenz „Bereitschaft, die Konsequenzen des eigenen Handelns zu tragen. Wahrung der Unternehmensinteressen durch eigenes wirtschaftliches Verhalten. Steht ehrlich zu eigenen Fehlern oder Fehlentscheidungen. Erledigt Aufgaben aus eigenem Antrieb. Entwickelt eigene Vorschläge und Lösungen und setzt diese in praktische Arbeit um. Lernt selbstorganisiert mit freiwilligem Engagement. Entwickelt die eigene Persönlichkeit (auch) unter Nutzung von neuen Anforderungen weiter. Nutzt moderne Medien und Technologien, um den eigenen Arbeitstag effizient zu strukturieren.“ Perspektivenwechsel „Interessiert sich aktiv für Erfahrungen und den Standpunkt anderer und ist offen gegenüber Neuem. Fähigkeit, Neues in das Unternehmen hineinzubringen. Entwicklung von neuen Ideen im Zusammenhang mit Kund*innen, Produkten oder internen Abläufen. Nimmt die Kundenperspektive ein.“ Inspirationsfähigkeit „Regt andere an, über den Tellerrand hinauszudenken. Fördert kreatives Denken. Weitet den Blick der Mitarbeiter*innen für das große Ganze. Gibt Impulse.

6.4  Auswahl- und Weiterentwicklung von Führungskräften

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Erhöht die Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Unternehmenszielen und Entscheidungen (auch durch den Einsatz moderner Medien und Technologien).“ Diese Beschreibungen finden Einzug in eine Online-Anwendung, die in den turnusmäßigen Gesprächen zwischen Mitarbeiter*innen und Führungskräften oder Führungskräften und deren übergeordneten Führungskräften zur Anwendung kommen. Einige Häuser legen den Gesprächsturnus für diese systematischen, umfassenden Gespräche auf ein oder zwei Jahre fest. Im Zuge der immer schnelleren Anpassungsnotwendigkeit auf die sich veränderten Rahmenbedingungen ist eher ein einjähriger Rhythmus anzustreben. Dafür verändert sich in einem Zeitraum von zwei Jahren einfach zu viel. Im Rahmen der Soll-Ist-Analyse und unter Einbindung der Stärken der im Gespräch im Fokus stehenden Person können in Folge Entwicklungsmöglichkeiten abgeleitet und in die Umsetzung gebracht werden. Als ergänzende Reflexions- oder Potenzialeinschätzungshilfen können Persönlichkeitsanalysen wie das in Abschnitt 5.2 beschriebene Reiss-Motivation-Profile zum Einsatz kommen, die z. B. in Coachinggesprächen oder auch Förderprogrammen für junge Nachwuchskräfte vertieft werden können. Herausfordernde Situationen zur Potenzialeinschätzung und -förderung Apropos Förderprogramme … Programme zur Auswahl und Entwicklung von Potenzialkanditat*innen schaffen eine gute Basis für die Nachbesetzung von Führungspositionen in der Bank/Sparkasse. Für die Organisation bringen diese Programme die folgenden Vorteile mit sich: • Größere Sichtbarkeit aller Ebenen der Leadership Pipeline (definiert ein Konzept, welches verschiedenen Führungsebenen sowie die damit jeweils typischerweise verbundenen Funktionen und Aufgaben beschreibt) innerhalb der Organisation. • Bereichsübergreifende Identifikation von Talenten innerhalb der Organisation. • Entwicklung und Bindung von High Potentials. • Sicherung der Zukunftsfähigkeit des Hauses durch die Befähigung der Führungsmannschaft auf allen Ebenen. Einige Häuser setzen in Ergänzung systematischer Beurteilungs-, Leistungsund Entwicklungsgespräche sogenannte Potenzial-Leistungs-Übersichten ein, um Mitarbeiter*innen gezielt zu ihrem aktuellen und möglichen Reifegrad fördern und fordern zu können. Abb. 6.10 zeigt das Praxisbeispiel einer Bank.

Abb. 6.10 Neun-Felder-Potenzial-Leistungs-Matrix

190 6  Ansätze für die Praxis

6.4  Auswahl- und Weiterentwicklung von Führungskräften

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Eine Einschätzung kann in Folge eines Beurteilungs-/Entwicklungsgesprächs durch die jeweiligen Linienführungskräfte oder als Ergebnis einer sogenannten Talente-­Konferenz erfolgen, bei der vielversprechende Kandidat*innen bereichsübergreifend durch die obersten Führungsebenen betrachtet werden. Bei der Anwendung der Neun-Felder-Leistungs-Potenzial-Matrix sollte beachtet werden, dass sich Menschen in und aus den jeweiligen Feldern der Matrix bewegen können. Talent beschränkt sich nicht nur auf Leistung. Nur eine bestimmte Anzahl der Leistungsträger*innen bringt hohes Potenzial mit. Potenzial muss in Leistung umgesetzt werden, damit jemand z. B. in einem Talentpool bleiben kann. Um das Potenzial von Mitarbeiter*innen einschätzen zu können, ist es daher hilfreich, sie mit herausfordernden Aufgaben zu betrauen. Dabei können sie zeigen, ob sie sich für weitere Aufgaben und/oder Positionen eignen. Führungskräfte sollten sich zur Einschätzung ihrer Mitarbeiter*innen die folgenden Fragen stellen: • Liefern sie mit Blick auf die letzten 12 Monate konsistente und gute Geschäftsergebnisse? • Zeigt die Mehrheit der Kompetenzen für die aktuelle Funktion und einige Kompetenzen für die nächsthöhere Funktionsebene eine Passung an? • Sind sie bereit für mehr Verantwortung und/oder eine Ausweitung der Aufgaben (z. B. Projektverantwortung) auf der gleichen Ebene, oder sind sie bereit für die nächste Funktionsebene? • Haben sie eine Chance von 75 %, um auf der nächsten Funktionsebene kompetent aufzutreten? • Treiben sie ihre eigene Entwicklung voran und setzen sich für Entwicklungsmöglichkeiten ein, z. B. bei der Übernahme eines Projekts? • Zeigen sie Begeisterung für eine Karriere bei der Bank/Sparkasse? • Streben sie nach einer größeren Aufgabe, einer höheren Funktion? Nicht nur die Auswahl der Potenzialträger*innen der Bank/Sparkasse bedarf einer sorgfältigen Planung und Vorgehensweise, auch das anschließende Förderprogramm sollte eng an die Gegebenheiten des Hauses angelehnt sein. Das folgende Beispiel eines Finanzinstituts zeigt grob die einzelnen Bausteine des hausinternen Förderprogramms: • Rollenverständnis Führungskraft –– Führungsgrundlagen –– Führung von Teams, Gruppendynamik –– Führungsleitlinien und Führungsinstrumente der Bank

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6  Ansätze für die Praxis

• Die Führungskraft als Vorbild –– Selbstreflexion zu Führungsrolle und Aufgaben inklusive Persönlichkeitsanalysen –– Gesundheit und Resilienz als Führungskompetenz der Zukunft • Gesprächsführung –– Grundlagen Kommunikation –– Schwierige Gespräche führen –– Moderation, Präsentation und Gestaltung von Teammeetings • Veränderungs- und Gestaltungskompetenz –– Innovation und Digitalisierung leben –– Changemanagement –– Projektmanagement inklusive agilen Projektmethoden • Unternehmerische Kompetenz –– Management-Dialoge –– Learning-Journey – Innovationskultur erleben Das Programm verläuft 1,5 bis 2 Jahre und wird durch Mentoring, Coaching, Hospitationen, Vorträge und weitere, auf den Teilnehmer/die Teilnehmerin abgestimmte individuelle Maßnahmen flankiert. Die Potenzialkräfte arbeiten während der ganzen Zeit in der Linie/in ihren Fachbereichen. Zusätzlich bearbeiten die angehenden Führungskräfte in Kleingruppen ein reales Projekt der Bank, das sie am Ende des Förderprogramms dem Vorstand präsentieren. Reflexionshilfen für Führung In Kapitel sechs sollen nicht nur konzeptionelle Ideen zur Führungsarbeit behandelt werden. Etwas ausführlicher sollen zwei unmittelbar für die eigene Führungsarbeit anwendbare Reflexionshilfen vorgestellt werden: Die „Freitagsreflexion zur Wirksamkeit von Führung“ und die „Selbstreflexion Führung mit Skalen“. Im Blickfeld der „Freitagsreflexion“ steht die Problematik, häufig zu wenig Zeit für die eigentliche Führungstätigkeit zu finden. Am Ende der Woche können die folgenden Fragen dazu beitragen, die eigene Wirksamkeit von Führung rückblickend zu hinterfragen: 1. Was war mein Fokus/oberste Priorität/wichtigstes Ziel in Bezug auf Führung diese Woche? 2. Wie hoch war mein Grad an Aufmerksamkeit darauf in %? 3. Wo war meine Aufmerksamkeit noch? Was hat mich abgelenkt? 4. Was hat diese Woche gut funktioniert (Bitte begründen Sie, was Sie mit „gut“ meinen)?

6.4  Auswahl- und Weiterentwicklung von Führungskräften

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5. Wodurch habe ich dafür gesorgt, dass es so gut funktioniert hat? 6. Was hat diese Woche weniger gut funktioniert (Bitte erklären Sie, was Sie mit „weniger gut“ meinen)? 7. Was war mein Anteil daran? Und was lerne ich daraus? 8. Mein Fazit für diese Woche: ____________________________________ 9. Auf einer Zufriedenheitsskala von 0 = „schreckliche Woche, ich bin unzufrieden mit mir“ bis 10 = „hervorragende Woche, besser hätte sie nicht sein können“, gebe ich der Woche eine: ____ 10. Folgendes nehme ich mir für die kommende Woche vor: _________________ Etwas umfangreicher stellt sich die „Selbstreflexion zur Zufriedenheit mit dem wahrgenommenen eigenen Führungsverhalten mit Skalen“ dar. Es handelt sich hierbei um eine Vorgehensweise, die vor allem im Coaching ihre Anwendung findet. Aber auch ohne fremde, externe Anleitung kann diese Systematik zur Bestimmung des aktuellen Status-quo und des gewünschten Zielbildes in der Eigenanwendung beitragen. Die Grundbasis bildet die folgende Übersicht von bis zu fünf Skalen (vgl. Abb. 6.11). Skala A thematisiert die „Zufriedenheit mit der eigenen Wirksamkeit von Führung/dem eigenen Führungsverhalten“. Die Skalen B-E setzen sich mit den bis zu „vier größten Hebeln (Führungsaufgaben)“ auseinander, „die die Zufriedenheit und damit die Wirksamkeit von Führung verbessern“. Aber der Reihe nach … beginnen Sie mit der Reflexion auf Skala A. Fragen zur Skala A: • Wo ordnen Sie Ihre Gesamtzufriedenheit mit Ihrer Wirksamkeit von Führung/ mit Ihrem Führungsverhalten auf einer Skala von 1–10 ein (1 ist der niedrigste, 10 der höchste Wert). • Bitte beschreiben/notieren Sie für sich, weshalb Sie zu dieser Einschätzung kommen. Was gelingt Ihnen bereits gut? Wie merken Ihre Mitarbeiter*innen, dass Sie bei der vorgenommenen Einschätzung stehen? Was noch? Beschreiben Sie bitte Ihre Status-quo-Einschätzung so ausführlich wie möglich. • Wohin möchten Sie auf der Skala gelangen? • Wenn nicht auf die 10, was hält Sie davon ab die 10 zu wählen?

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6  Ansätze für die Praxis

Abb. 6.11  Skalierungsvorlage zur Reflexion des Führungsverhaltens

• Wenn Morgen alles so ist, wie es bei Ihrer Zieleinschätzung sein soll, wie würde das aussehen? Beschreiben Sie bitte Ihren Zielzustand so ausführlich wie möglich? Fragen zu Skala B-E: • Bitte benennen Sie die folgenden bis zu vier weiteren Skalen: Was sind aus Ihrer Sicht die größten Hebel, wenn es darum geht, Ihr Führungsverhalten zu verbessern? Woran müssen Sie arbeiten, wenn Sie auf Skala A Ihrem definierten Ziel näherkommen wollen? Bitte notieren Sie diese Aspekte bei jeweils einer Skala. Gehen Sie bitte bei den Skalen B-E nach jeweils folgender Systematik vor: • Wenn Sie Ihr erstes definiertes Handlungsfeld betrachten: Wo schätzen Sie sich auf dieser Skala (B) aktuell ein? Was gelingt Ihnen aktuell gut? Was genau würden Ihre Mitarbeiter*innen sagen, weshalb Sie bei der vorgenommenen Einschätzung stehen? Was Ihre übergeordnete Führungskraft? Was noch? • Sie haben zu Ihrem jetzigen Ziel bereits einige erfolgreiche Schritte zurückgelegt? Was hat Sie weitergebracht? Welche von diesen Maßnahmen kann Sie

6.4  Auswahl- und Weiterentwicklung von Führungskräften

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vielleicht auch bei künftigen Schritten weiterbringen? Welche eigenen Ressourcen waren hilfreich? Wer hat Sie dabei unterstützt? Können Sie auf diese Ressourcen und Unterstützung erneut zurückgreifen? • Wo liegt Ihr Ziel bei dieser Skala? Wenn Sie an die optimale Umsetzung dieses Handlungsfeldes denken, was setzten Sie erfolgreich um, wenn Sie dieses Ziel erreicht haben? • Gehen Sie bitte zur heutigen Ausgangssituation zurück. Stellen Sie sich bitte vor, sie wären im Vergleich zu diesem Ausgangspunkt in drei Monaten einen Schritt weiter: Was tun Sie an diesem Punkt, was Sie heute nicht tun? Wenn ich Ihr Mitarbeiter/Ihre Mitarbeiterin wäre, woran würde ich erkennen, dass Sie bei diesem Handlungsfeld einen Schritt weiter wären? • Gehen Sie bitte einen weiteren Schritt in Richtung Ihres definierten Ziels: Was hat sich nun verändert? Was hat Ihr Verhalten auf dieser Stufe bei Ihren Mitarbeiter*innen bewirkt, was es auf der Stufe davor nicht bewirkt hat? Wiederholen Sie bitte diese Einschätzung bei allen Teilschritten auf Skala B. Gehen Sie anschließend bei der weiteren Skala bitte gleich vor, auch wenn es Ihnen monoton und schwerfällig erscheint. Geben Sie bitte nicht zu schnell auf, wenn es Ihnen schwerfällt. Schließlich denken Sie intensiv über Ihre Weiterentwicklung nach. Dabei ist es normal, dass die einzelnen Antworten nicht unmittelbar auf dem Serviertablett liegen. Priorisieren Sie nun bitte auf allen Skalen B-E, welche der einzelnen Schritte Ihnen in der Abfolge logisch erscheinen (Bitte nicht mehr als vier bis fünf Priorisierungen, da mehr Schritte kurzfristig erfahrungsgemäß nicht in Umsetzung gebracht werden können). • Gibt es aus Ihrer Sicht Schritte, die sich gegenseitig bedingen bzw. die logisch aufeinander folgen? • Welche Schritte sollten Sie zuerst auf welcher Skala umsetzen, bevor Sie weitere Schritte auf der gleichen oder einer anderen Skala gehen? Überlegen Sie anschließend, was zur Umsetzung der jeweiligen priorisierten Schritte beitragen kann: • Was können Sie konkret tun, um auf Ihrer Skala (z. B. B) den definierten Schritt weiter zu kommen? Was sind Ihre eigenen Ressourcen, die Sie hierfür nutzen können? • Wer kann Sie dabei unterstützen? • Was aus Ihren früheren Maßnahmen kann dabei dienlich sein? Lohnt es sich, diesen früheren Schritt noch einmal zu versuchen?

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6  Ansätze für die Praxis

• Was genau vereinbaren Sie nun für sich? Was tun Sie konkret und bis wann? • Wie wollen Sie damit umgehen, wenn es Hindernisse bei der Umsetzung dieses Schrittes gibt? Welche könnten dies sein? Wie gewährleisten Sie, dennoch den Schritt weitergehen zu können? Gibt es etwas, womit Sie sich belohnen möchten, wenn Sie diesen Schritt für sich erledigt haben? Wiederholen Sie dies bitte bei den weiteren, von Ihnen definierten Priorisierungsschritten. Sofern Sie diese Vorgehensweise komplett durchhalten, erhalten Sie am Ende einen Stufen-Entwicklungsplan, der Ihnen einzelne Entwicklungsschritte aufzeigt und den Sie in einzelnen Umsetzungsstufen vorantreiben können. Gleiches lässt sich übrigens als Führungsinstrument für das Tätigkeitsfeld Ihrer Mitarbeiter*innen gemeinsam mit diesen erarbeiten. Weiterhin haben sich Gesprächszirkel im Sinne einer kollegialen Beratung als sinnvoll erwiesen. Hierarchieübergreifend treffen sich dabei Führungskräfte unter interner oder externer Moderation, um aktuelle strategische oder kulturelle Herausforderungen zu besprechen, erfolgreiche Vorgehensmodelle abzugleichen oder Lösungsansätze für herausfordernde Situationen mit Mitarbeiter*innen oder Teams auszutauschen. Letzteres setzt eine gut ausgeprägte Vertrauenskultur voraus. Fazit aus diesem Abschnitt Zukunftsgerichtete Kompetenz- und Anforderungsprofile bieten eine gute Grundlage für die Rekrutierung neuer Mitarbeiter*innen und Führungskräfte. Gleichzeitig bilden sie zusammen mit einer systematischen Gesprächssystematik die Basis für eine gezielte Personalentwicklung in der Bank/Sparkasse. Werden Auswahlverfahren und Potenzialanalyseverfahren für (angehende) Führungskräfte durchgeführt, sollte eine Kombination mehrerer Verfahren gewählt werden, um die Aussagekraft zu erhöhen. Förderprogramme dienen dazu, Potenzialträger auf künftige Führungsaufgaben- und Funktionsprofile vorzubereiten. Reflexionshilfen tragen dazu bei, sich der eigenen Wirksamkeit von Führung bewusst zu werden.

Literatur Adrian GI, Albert I, Riedel E (2010) Die Mitarbeiterbeurteilung: Hinweise und Hilfen für Beurteiler. Boorberg, München

Literatur

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Schlussbetrachtung

AGA, AGA, einen hab’ ich noch… (Otto, deutscher Komiker)

Manchmal kommen die Situationen, die Führungskräfte, aber auch Mitarbeiter*innen in der Praxis erleben, einer Situationskomik gleich, wenn der dahinterliegende Sachverhalt nur nicht zu ernst wäre. Auch Führungskräfte sind letztendlich nur Menschen. Und wie heißt es so schön, „wo gemenschelt wird, da passieren Fehler.“ Insofern wäre es hilfreich, wenn alle etwas nachsichtiger und mit mehr Leichtigkeit miteinander umgehen würden. Das würde so manche Mediation ersparen und die Kündigung manch eines guten Mitarbeiters/einer guten Mitarbeiterin verhindern. Ich spare mir an dieser Stelle eine umfangreiche Zusammenfassung. Stattdessen möchte ich zum Schluss eines Buches über Führung diejenigen zu Wort kommen lassen, die Führung mittelbar und unmittelbar betrifft: die Mitarbeiter*innen. Denn pragmatischer kann man, jenseits aller Führungstheorien und neumodischen Worthülsen, aus meiner Sicht nicht ausdrücken, worauf es bei Führung ankommt. Bei einem Austausch mit Mitarbeiter*innen einer Bank raten diese ihren Führungskräften: • „Versteht unser Geschäft. Durchdringt die Kernaspekte dessen, was wir tagtäglich tun und welche Herausforderungen damit verbunden sind.“ • „Hört zu und verteidigt euch nicht. Nehmt uns ernst und setzt euch glaubhaft mit unseren Themen auseinander.“ © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Burkhart, Wirksame Führung in Banken und Sparkassen, Edition Bankmagazin, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29031-3_7

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7 Schlussbetrachtung

• „Nehmt die Worte der euch unterstellten Führungskräfte nicht als gottgegeben. Macht euch ab und zu euer eigenes Bild.“ • „Bindet uns in Prozesse und Entscheidungen ein. Wir haben tagtäglich die Abläufe und die damit verbundenen Herausforderungen vor Augen und können diese besser beschreiben als jeder andere in der Bank/Sparkasse.“ • „Entscheidet und schiebt wichtige Entscheidungen nicht auf. Begründet eure Entscheidungen, damit wir sie nachvollziehen können.“ • „Treibt die Dinge aktiv voran und sitzt sie nicht aus.“ • „Seid ehrlich in eurer Kommunikation und versucht uns nichts vorzumachen oder schönzureden. Wir erfahren es über den Flurfunk sowieso.“ • „Behandelt uns fair. Verlangt nichts von uns, was ihr nicht selbst auch tun würdet.“ Ich schließe dieses Buch mit dem Satz einer lieben Freundin, Ariane Roth, der mir zwischendurch immer wieder bewusst macht, worauf es im Miteinander von Menschen aber vor allem im Umgang mit der eigenen Person letztendlich ankommt: Was immer Sie künftig in Ihrer Führungspraxis an Herausforderungen und im Umgang mit anderen Menschen zu bewältigen haben und wo immer Sie Ihre berufliche Orientierung im Zusammenhang mit einer Führungsaufgabe noch hinführen wird, denken Sie bitte daran: Das Leben hat immer Vorrang!