Wirklichkeit und Wahrnehmung des Heiligen, Schönen, Guten: Neue Beiträge zur Realismusdebatte 3897857278, 9783897857278

In jüngerer Zeit wird vor allem in der analytisch geprägten Philosophie unter dem Stichwort 'Realismus/Antirealismu

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Wirklichkeit und Wahrnehmung des Heiligen, Schönen, Guten: Neue Beiträge zur Realismusdebatte
 3897857278, 9783897857278

Table of contents :
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Titel
Inhalt
Einleitung
1. EINFÜHRUNG: REALISMUS UND ANTIREALISMUS
Richard Schantz: Wahrnehmung und Welt
Werner Stegmaier: Diesseits von Realismus und Anti-Realismus: Die Realität der Orientierung
2. WIRKLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG DES HEILIGEN
Winfried Löffler: Die Rolle religiöser Erfahrung bei Swinburne, Plantinga und Alston
Gregor Nickel/Dieter Schönecker: Richard Swinburnes Begriff der religiösen Erfahrung. Eine Analyse und Kritik
Sebastian Maly: Die Vielfalt der Religionen als Problem für William P. Alstons religiöse Epistemologie
Elisabeth Heinrich: Wie realistisch ist William P. Alstons Theorie der Erscheinung?
Alexandra Grund: Das Heilige in der Vielfalt der Erfahrungen. Zum epistemologischen Realismus und seinen Schwierigkeiten am Beispiel der religionsphilosophischen Konzepte von R. Otto und W. Gantke
Gregor Nickel: Mutmaßendes Sehen oder wahrscheinliche Wahrnehmung? - Kues contra Oxford
3. WIRKLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG DES SCHÖNEN
Maria E. Reicher: Die Wahrnehmung des Schönen
Gerhard Ernst: Der Sinn für Schönheit
Reinhold Schmücker: Warum ich kein ästhetischer Realist bin
Georg W. Bertram: Die Objektivität der Künste
4. WIRKLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG DES GUTEN
Andreas Trampota: Tugend als Wahrnehmungspotenzial. Der Begriff der ethischen Wahrnehmung in tugendethischen Konzeptionen
Nico Scarano: Handlungsorientierung statt Wahrheitssuche? Epistemologie der Moral vom Standpunkt einer antirealistischen Metaethik
Christoph Halbig: Zwei Probleme aus der Meinungsverschiedenheit
Die Autorinnen und Autoren

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ISBN 978-3-89785-727-8

WIRKLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG DES HEILIGEN, SCHÖNEN, GUTEN · Heinrich | Schönecker (Hrsg.)

In jüngerer Zeit wird vor allem in der analytisch geprägten Philosophie unter dem Stichwort »Realismus/Antirealismus« eine Debatte geführt, die zwei auf den ersten Blick einfache Fragen zum Inhalt hat: Gibt es eine vom menschlichen Geist unabhängige, an sich existierende Realität, und wenn ja, wie und in welchem Umfang können wir sie erkennen? Realisten beantworten diese beiden Fragen positiv, Anti-Realisten hingegen geben eine negative Antwort. Der Band stellt diese Fragen im expliziten Bezug auf die Wirklichkeit des Heiligen, Schönen und Guten: Gibt es so etwas wie eine erkenntnisstiftende Wahrnehmung des Heiligen, Schönen, Guten? Im ersten Teil geht es um verschiedene Varianten des sogenannten Argumentes von der religiösen Erfahrung in der Religionsphilosophie (Alston, Plantinga, Swinburne), mit dem behauptet wird, dass es religiöse (mystische) Wahrnehmung gibt und dass sie, bei allen Unterschieden, prima facie ebenso zuverlässig ist wie normale Wahrnehmung auch. Im zweiten Teil werden realistische und antirealistische Positionen zur Ästhetik vertreten. Auch hier lautet die Frage ähnlich: Gibt es so etwas wie einen Sinn für genuine ästhetische Qualitäten als Grundlage genuiner ästhetischer Urteile? Während die Existenz ästhetischer Qualitäten vermutlich stärker umstritten ist als die moralischer Werte oder normativer Urteile, ist umgekehrt, wie der dritte Teil zeigt, sehr zweifelhaft, ob es so etwas wie moralische Wahrnehmungen überhaupt gibt. Vielleicht ist das Gute also wirklich; aber ob wir es wahrnehmen, steht auf einem anderen Blatt.

Elisabeth Heinrich | Dieter Schönecker (Hrsg.)

WIRKLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG DES HEILIGEN, SCHÖNEN, GUTEN Neue Beiträge zur Realismusdebatte

Heinrich/Schönecker (Hrsg.) · Wirklichkeit und Wahrnehmung

Elisabeth Heinrich / Dieter Schönecker (Hrsg.)

Wirklichkeit und Wahrnehmung des Heiligen, Schönen, Guten Neue Beiträge zur Realismusdebatte

mentis PADERBORN

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Einbandabbildung: Rica Schönecker: Compressus eris

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706

© 2011 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Straße 19, D-33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Satz: Rhema – Tim Doherty, Münster [ChH] (www.rhema-verlag.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN: 978-3-89785-727-8

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung 7 1. EINFÜHRUNG: REALISMUS UND ANTIREALISMUS Richard Schantz Wahrnehmung und Welt 17 Werner Stegmaier Diesseits von Realismus und Anti-Realismus: Die Realität der Orientierung 39 2. WIRKLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG DES HEILIGEN Winfried Löffler Die Rolle religiöser Erfahrung bei Swinburne, Plantinga und Alston 67 Gregor Nickel/Dieter Schönecker Richard Swinburnes Begriff der religiösen Erfahrung. Eine Analyse und Kritik 125 Sebastian Maly Die Vielfalt der Religionen als Problem für William P. Alstons religiöse Epistemologie 147 Elisabeth Heinrich Wie realistisch ist William P. Alstons Theorie der Erscheinung? 171 Alexandra Grund Das Heilige in der Vielfalt der Erfahrungen. Zum epistemologischen Realismus und seinen Schwierigkeiten am Beispiel der religionsphilosophischen Konzepte von R. Otto und W. Gantke 181

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Inhaltsverzeichnis

Gregor Nickel Mutmaßendes Sehen oder wahrscheinliche Wahrnehmung? – Kues contra Oxford 193 3. WIRKLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG DES SCHÖNEN Maria E. Reicher Die Wahrnehmung des Schönen 213 Gerhard Ernst Der Sinn für Schönheit 243 Reinhold Schmücker Warum ich kein ästhetischer Realist bin 263 Georg W. Bertram Die Objektivität der Künste 281 4. WIRKLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG DES GUTEN Andreas Trampota Tugend als Wahrnehmungspotenzial. Der Begriff der ethischen Wahrnehmung in tugendethischen Konzeptionen 303 Nico Scarano Handlungsorientierung statt Wahrheitssuche? Epistemologie der Moral vom Standpunkt einer antirealistischen Metaethik 323 Christoph Halbig Zwei Probleme aus der Meinungsverschiedenheit Die Autorinnen und Autoren 371

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EINLEITUNG In jüngerer Zeit wird vor allem in der analytisch geprägten Philosophie unter dem Stichwort »Realismus/Antirealismus« eine Debatte geführt, die zwei auf den ersten Blick einfache Fragen zum Inhalt hat: Gibt es eine vom menschlichen Geist unabhängige, an sich existierende Realität, und wenn ja, wie und in welchem Umfang können wir sie erkennen? Realisten beantworten diese beiden Fragen auf die eine oder andere Weise positiv, Anti-Realisten hingegen geben eine negative Antwort. Der gesunde, oder jedenfalls naive Menschenverstand geht davon aus, dass etwa Bäume und Berge auch dann existieren, wenn kein vernünftiges Wesen da ist, das auf sie erkennend Bezug nimmt. Ähnliches gilt jenem Menschenverstand – und den realistischen Philosophien, die sich an ihn anschließen – für diejenigen Entitäten, die nicht auf perzeptive Weise dem Menschen unmittelbar gegeben zu sein scheinen, also z. B. für Naturgesetze und die von ihnen bestimmten Objekte (Elektronen, Kräfte, Felder, usw.), aber auch für die Gegenstände und Gesetze der Mathematik: Dass die Planetenbahnen Ellipsen sind, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht und dass die Kuben der Bahnhalbachsen der Planeten in einem festen Verhältnis zu den Quadraten ihrer Umlaufzeiten stehen, sind astronomische Gesetze, beschrieben mit Hilfe der Mathematik, die, so der Realismus, Kepler entdeckt hat, die aber schon gültig waren, bevor sie von ihm entdeckt wurden. Erfunden haben wir – dem Realismus zufolge – nur die Sprachen und Theorien, mit deren Hilfe wir die objektive Realität beschreiben und erklären; entdeckt wird dagegen das, was da ist und in seiner Existenz und Natur von uns beschrieben wird, ohne in seiner Existenz und Natur von unseren Beschreibungen abhängig zu sein. Doch dem Anti-Realismus zufolge entdecken wir nicht einfach Gegenstände, Gesetze und ihre Eigenschaften als Bestandteile des Universums, sondern sie werden vom menschlichen Geist erdacht oder erzeugt. Dass diese grobe Gegenüberstellung aber nicht erschöpfend ist, kann man schon daran erkennen, dass es, so eine dritte Variante, vielleicht Gegenstände an sich (unabhängig von Menschen) gibt, diese aber entweder gar nicht oder infolge der Natur der menschlichen Sprache und des menschlichen Erkenntnisvermögens nur begrenzt erkannt werden können. Man sieht leicht, dass solche Fragen und Probleme fast so alt und grundlegend sind wie die Philosophie selbst. So waren schon Platon und Aristoteles unterschiedlicher Meinung bezüglich des ontologischen Status von Wahrnehmungsgegenständen und Universalien, und dieser Streit entbrannte von neuem in der

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Einleitung

mittelalterlichen Philosophie. Und auch der erkenntnistheoretische Skeptizismus, der von der realistischen Prämisse ausgeht, dass es einen wesentlichen Unterschied gibt zwischen den Weisen, in denen uns die Dinge erscheinen, und denen, wie sie wirklich sind, spielte bereits in der antiken Philosophie eine wichtige Rolle. Zu Beginn der Neuzeit rückte dann das durch Descartes’ methodischen Zweifel initiierte Problem des Realismus bezüglich der Außenwelt in den Brennpunkt der philosophischen Aufmerksamkeit und sollte die folgenden Jahrhunderte ganz maßgeblich bestimmen (Locke, Berkeley, Hume, Kant). Dennoch ist die neuere Debatte zwischen Realismus und Anti-Realismus durch epistemologische, sprachphilosophische und ontologische Antworten vor allem, aber keineswegs nur, aus der analytischen Philosophie unbestreitbar vorangebracht worden. Dies ist eine in der gegenwärtigen Philosophie offenkundige und allgemein anerkannte Tatsache, und sie spiegelt sich auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes. Nun ist es (de facto) umstritten, was genau »Realismus« und »Anti-Realismus« eigentlich bedeuten, und es gibt diverse ontologische, semantische und epistemologische Varianten nicht nur auf der allgemeinen Ebene (das gilt vor allem für die besagte dritte Möglichkeit, die einen großen Spielraum an Deutungsmöglichkeiten eröffnet), sondern auch und vor allem innerhalb der verschiedenen Felder und Disziplinen. Klar ist aber, dass Realismus (auf einem Gebiet) und Anti-Realismus (auf einem anderen Gebiet) einander nicht ausschließen, und manchmal scheinen sie sogar einander zu implizieren. So ist es z. B. möglich (und tatsächlich häufig der Fall), dass im Feld der theoretischen Erkenntnis (Erkenntnis allgemein, Mathematik, Natur- und Sozialwissenschaften) ein mehr oder weniger robuster Realismus vertreten wird (hier gibt es, wie gesagt, eine Vielzahl von Varianten), während gleichzeitig eine anti-realistische Position in der Ethik, Ästhetik oder Religionsphilosophie eingenommen wird. (Umgekehrt geht das nicht oder nur auf einschränkende Weise: Realisten in der Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie können nicht grundsätzlich Anti-Realisten sein). Eine starke Version des Realismus in der Ethik kann man knapp auf die These bringen, dass ethisch-normative Aussagen wie »Diese Handlung ist moralisch verboten« durch moralische Tatsachen wahr gemacht werden, die als Tatsachen unabhängig von menschlicher Erkenntnis sind (auch hier gibt es offenkundig feinere, aber auch größere Unterschiede und Varianten); analoges gilt dann in der Ästhetik für Aussagen wie »Dieses Bild ist schön«. In der Religionsphilosophie besteht der Realismus in der These, dass wir Heiliges (bzw. in theistischer Perspektive einen personalen Gott, seine Existenz und seine Eigenschaften) erkennen können; theistische Antirealisten wie Gordon Kaufman und John Hick gehen dagegen davon aus, dass unsere Rede von Gott gar keine oder nur einen schwach analoge Referenz hat, ohne dass sie deshalb zu Atheisten oder Agnostikern würden. Wer bezüglich der theoretischen Erkenntnis Realist ist, ansonsten aber Anti-Realist, geht also davon aus, dass es in der Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie Probleme sui generis gibt, die die jeweilige realistische Position unplausibel machen.

Einleitung

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Diese Probleme sind vor allem ontologischer und epistemologischer, in der Ethik auch moralpsychologischer Natur. Das ontologische Problem betrifft den ontischen bzw. ontologischen Status, also die Existenzformen oder Seinsweisen des Guten, Schönen und Heiligen. Hier stellt sich die Frage, was »das Gute«, »das Schöne« oder »das Heilige« überhaupt ist oder sein kann, wenn es denn existiert; was genau ist überhaupt eine moralische oder ästhetische Tatsache, und was ist überhaupt das Heilige? Doch selbst wenn man einen kohärenten Begriff dessen bilden könnte, was das Gute (etwa Güter, Handlungen, Intentionen), das Schöne (das Kunstschöne, das Naturschöne, aber auch Gegenstände mit anderen ästhetischen Eigenschaften), und das Heilige (Gott oder gottähnliche Wesen) sind, wenn sie denn existieren, bleibt immer noch die Frage, welche Gründe dafür sprechen, dass sie existieren, und auf welche Weise wir sie durch diese Gründe erkennen. Denn selbst wenn es das Gute, Schöne, Heilige gibt, bleibt die Frage, wie wir sie erkennen können, wo doch unsere sonstigen Erkenntnisweisen (empirische Anschauung, apriorische Begriffsbildung) sich von der behaupteten Erkenntnis des Guten, Schönen und Heiligen erheblich zu unterscheiden oder für sie eben nicht geeignet scheinen. Dass sie sich erheblich unterscheiden, ist in jüngerer Zeit vor allem in der analytischen Religionsphilosophie bestritten worden, wenn auch auf durchaus verschiedene Weisen. In der Tat entstand die Idee zu diesem Band – oder vielmehr die Idee zu dem DFG-Netzwerk, aus dem das Buch hervorgegangen ist (Das Gute, Schöne und Heilige wahrnehmen – epistemologischer Realismus und AntiRealismus in der gegenwärtigen Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie) – aus der Beschäftigung mit der religionsphilosophisch motivierten Epistemologie William Alstons, der zusammen mit Alvin Plantinga die sogenannte »Reformed Epistemology« begründet hat (wobei Plantinga jedoch, wie wir meinen, einen ganz andersgearteten Ansatz vertritt). Alstons Kernthese, die er vor allem in seinem Hauptwerk Perceiving God entwickelt hat, lautet so: Es gibt mystische (religiöse) Wahrnehmungen Gottes, die prima facie nicht weniger Geltungsanspruch erheben müssen als andere Wahrnehmungen auch. Mystische Wahrnehmungen haben mit normalen Wahrnehmungen bestimmte Züge gemeinsam, so dass von mystischen Wahrnehmungen sinnvoll die Rede sein kann; und wo sie von normalen Wahrnehmungen unterschieden sind, wäre es Ausdruck eines epistemischen Imperialismus, nur diese, aber nicht jene für vertrauenswürdig zu halten. Dieser These liegt das sogenannte »principle of credulity« zugrunde, das auch bei Richard Swinburne Anwendung findet, allerdings in einem ganz anderen Kontext (daher fällt das sogenannte »argument from religious experience« bei Swinburne auch ganz anders aus als bei Alston): Swinburne bettet es in ein kumulativ-induktives Argument ein; und dieser Versuch, bestehende Sachverhalte (die Existenz des Universums überhaupt, seine Wohlgeordnetheit, die Entstehung von Bewusstsein und einiges mehr) durch die Existenz einer ewigen, omnipotenten, allwissenden, vollkommen freien und daher auch körperlosen und vollkommen guten Person

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Einleitung

zu erklären, unterscheidet sich prinzipiell nicht von anderen probabilistischen Versuchen, diese (oder andere) Sachverhalte zu erklären. Und auch Plantingas Ansatz vertritt im Kern diese Idee, dass sich religiöse (genauer: christliche) Überzeugungen insofern von anderen Überzeugungen (etwa über Mathematik, die Welt, die eigene Person) nicht unterscheiden, als sie wie diese basal sind, also zwar nicht im klassischen Sinne begründet, aber dennoch warranted, das heißt: entspringend aus einem richtig funktionierenden Erkenntnisvermögen, das zweckmäßig zur Wahrheitsfindung eingerichtet ist und sich in einem angemessenen kognitiven Umfeld befindet (ein solches Erkenntnisvermögen ist der sensus divinitatis). Während bei Alston und Swinburne (wenn auch auf unterschiedliche Weise) der Begriff der religiösen Erfahrung bzw. Wahrnehmung zentral ist, spielt dieser Begriff bei Plantinga keine substantielle Rolle; es geht bei ihm allgemeiner um Überzeugungen, die allerdings eine bestimmte erfahrungsartige, affektive Färbung haben. Nach grundsätzlicheren und einführenden Überlegungen zur RealismusAntirealismus-Debatte aus realistischer und antirealistischer Perspektive (Richard Schantz als Vertreter des direkten Realismus, Werner Stegmaier als Philosoph der Orientierung) geht der erste Teil des Buches auf die eben skizzierten Theorien in der analytischen Religionsphilosophie ein. Einen ausführlichen und kritischen Überblick über den Begriff und die Rolle religiöser Erfahrung (Wahrnehmung) bei Alston, Plantinga und Swinburne liefert der Aufsatz von Winfried Löffler. Die anderen Beiträge beschäftigen sich dann mit diversen Aspekten und Details dieser analytischen Philosophien: mit dem Begriff der religiösen Erfahrung bei Swinburne (Gregor Nickel und Dieter Schönecker); mit der Frage, ob und wie die unbestreitbare Vielfalt religiöser Erfahrung für Alstons religiöse Epistemologie ein unüberbrückbares Problem ist (Sebastian Maly); sowie mit der Frage, ob Alston tatsächlich, wie er behauptet, einen erkenntnistheoretischen Realismus vertritt (Elisabeth Heinrich). Gewissermaßen von außen nähern sich zwei weitere Beiträge dem Thema dieses ersten Teils: Alexandra Grund diskutiert aus religionswissenschaftlicher Sicht den Begriff des Heiligen und seiner Erfahrung; und Gregor Nickel versucht zu zeigen, dass neben der gegenwärtigen analytischen Philosophie auch die philosophische Tradition in Gestalt des Cusanus einen substantiellen Beitrag zur Theorie der religiösen Wahrnehmung leisten kann. Die Mitglieder des DFG-Netzwerkes verfolgten, neben der zentralen Beschäftigung mit neueren Überlegungen zur religiösen Erfahrung, auch die Aufgabe, die Wirklichkeit und Wahrnehmung des Schönen und Guten neu zu überdenken und dabei vor allem die neueren epistemologischen Ansätze aus der analytischen Religionsphilosophie zu berücksichtigen. Doch die Einschätzung fiel eher negativ aus: Kaum jemand zeigte sich von den Überlegungen Alston, Swinburnes oder Plantingas überzeugt oder auch nur hinreichend motiviert, sie auf die Ethik oder Ästhetik (oder genauer: Metaethik und Metaästhetik) zu übertragen. Das heißt aber nicht, dass die Wirklichkeit des Guten und Schönen (oder allgemeiner gesagt: genuin moralischer oder ästhetischer Eigenschaften) rundum bestritten

Einleitung

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wurde. So vertritt etwa Maria E. Reicher einen ästhetischen Realismus, den sie mit der These verbindet, dass genuine ästhetische Werturteile durch eine spezielle Art von (ästhetischer) Wahrnehmung begründet werden, also durch ein unmittelbares Erleben ästhetischer (Wert-)Qualitäten; dagegen versteht Gerhard Ernst so etwas wie einen Sinn für Schönheit als ein Vermögen der Vernunft. Der Ansatz von Georg W. Bertram widersetzt sich eher der üblichen Unterscheidung von Realismus und Anti-Realismus, behauptet aber dennoch, dass Objektivität im Zusammenhang mit Kunstwerken geltend gemacht werden kann, wobei auch Wahrnehmungsaktivitäten eine wichtige Rolle spielen. Reinhold Schmücker dagegen kritisiert die Argumente für einen ästhetischen Realismus und vertritt also selbst einen ästhetischen Anti-Realismus. Während in der Ästhetik die zentrale Rolle von Wahrnehmungen unbestreitbar ist, wie auch immer man sie philosophisch deutet – klarerweise sehen wir ja Gemälde, und wir hören Symphonien –, ist es in der Ethik umstritten, ob Wahrnehmungen, oder so etwas wie Wahrnehmungen, überhaupt eine substantielle Rolle spielen. Gewiss taucht der Wahrnehmungsbegriff in der jüngeren Tradition intuitionistischer Ansätze (etwa bei Meinong, Moore, Scheler, Lonergan, Murdoch) und auch in der zeitgenössischen Ethik (etwa bei McNaughton, McDowell, Nussbaum) auf. Um aber von so etwas wie moralischer Wahrnehmung zu sprechen, muss man natürlich zunächst einmal fragen – eine Frage, die aber in diesem Kontext tatsächlich selten gestellt wird –, was denn wesentlich für Wahrnehmungen ist, damit die Rede von moralischer Wahrnehmung überhaupt sinnvoll und gerechtfertigt ist: Wodurch wird überhaupt ein psychisches Ereignis zu einer Wahrnehmung, und was macht nun eine moralische Wahrnehmung zu einer Wahrnehmung? Gewiss muss man moralische Wahrnehmungen von gewöhnlichen Wahrnehmungen zwar abgrenzen; aber zugleich müssen sie ja auch etwas mit solchen gewöhnlichen Wahrnehmungen gemeinsam haben, das es rechtfertigt, überhaupt von moralischen Wahrnehmungen zu sprechen. Die Grundstrategie bei der Explikation der moralischen Wahrnehmung wäre dann analog zu der von Alston und Swinburne: Es gibt moralische Wahrnehmungen, und sie sind nach dem Prinzip der Glaubwürdigkeit prima facie gerechtfertigt. Nun werden auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht als Paradigmen stets die »Standardwahrnehmungen« der sog. fünf Sinne herangezogen; und dabei ist noch einmal besonders dominant das Sehen. Was es aber überhaupt bedeutet, etwas wahrzunehmen, ist höchst umstritten. Schon über den Gegenstand von Wahrnehmungen herrscht keine Einigkeit: Sind es, wie der direkte Realismus behauptet, physische Objekte, die uns in der Wahrnehmung ohne Vermittlung gegeben werden, oder sind die direkten Objekte des Bewusstseins in der sinnlichen Wahrnehmung mentale Repräsentationen (sogenannte »Sinnesdaten«)? Damit verknüpft ist die Frage, ob Wahrnehmung begriffs- oder sprachabhängig ist, oder jedenfalls in irgendeiner Weise interpretativ imprägniert, so dass es so etwas wie eine unmittelbare oder eben direkte Wahrnehmung gar nicht gäbe. Wesentlich für

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Einleitung

Standardwahrnehmungen scheint aber zu sein, dass einem Subjekt etwas als sound-so außerhalb seiner Selbst gegeben wird, und dass dieses Gegebene mit einer affektiven oder phänomenalen Qualität gegeben wird. Aber es ist nicht klar, ob damit das, was wir Wahrnehmungen nennen, von anderen psychischen Ereignissen wirklich hinreichend abgegrenzt ist, also insbesondere von Gedanken und Gefühlen. Viele Fragen tun sich hier auf, deren Beantwortung schwierig ist und die tendenziell nahelegen, die Rede von der moralische Wahrnehmung sei eher irreführend: Müssen moralische Erlebnisse, um Wahrnehmungen zu sein, einen ›sinnlichen Gehalt‹ haben wie die Standardwahrnehmungen (z. B. Farbe, Geruch, Geschmack, Tonhöhe, Oberflächenbeschaffenheit)? Was wäre dieser Gehalt? Gibt es also einen sinnlichen Gehalt in der moralischen Wahrnehmung, der nicht-propositional erfasst wird? Was wird, wenn überhaupt, wahrgenommen: die Richtigkeit oder Falschheit einzelner Handlungen, die Richtigkeit oder Falschheit von Handlungstypen, Werte, oder so etwas wie moralische Geltung? Wenn Wahrnehmungen immer Wahrnehmungen von Diesem und Jenem sind, können dann in moralischen Wahrnehmungen nur einzelne moralische Beschaffenheiten wahrgenommen werden, nicht aber so etwas wie moralische Geltung? Müsste man dann nicht eher vom Fühlen solcher Geltung sprechen? Wie verhalten sich (moralische) Wahrnehmungen zu (moralischen) Wahrnehmungsurteilen? Wenn es moralische Wahrnehmungen gibt, gibt es dann für solche Wahrnehmungen einen eigen Sinn (einen sensus moralis)? Kann man vielleicht einen Sinn für Moral (als der Fähigkeit, moralische Wahrnehmungen zu haben) annehmen, auch wenn man keine Theorie darüber hat, wo oder was genau dieser Sinn ist? Wenn es moralische Wahrnehmungen gibt, impliziert dies zwingend, dass moralische Wahrnehmungen auch als Entscheidungskriterium fungieren? Wie verhalten sich Fühlen (weit gefasst) und Wahrnehmen zueinander? Darf man moralische Wahrnehmungen mit den in der Moralpsychologie behandelten moralischen Gefühlen (etwa Verachtung, Dankbarkeit, Mitleid, Scham) gleichsetzen? Sind moralische Wahrnehmungen immer spontan? Wenn Spontaneität soviel bedeutet wie nicht-abgeleitet, wie lassen sich dann moralische Wahrnehmungen von selbst-evidenten Propositionen – also Propositionen, die wir als wahr erkennen, indem wir die Bedeutung der in ihnen gebrauchten Begriffe verstehen – unterscheiden, da auch diese die wesentliche Eigenschaft der Unbegründbarkeit haben? Aufgrund solcher Fragen und Schwierigkeiten überrascht es vielleicht nicht, dass der Wahrnehmungsbegriff hinsichtlich des Guten nur im Beitrag von Andreas Trampota eine wichtige Rolle spielt, und selbst dort nur im Kontext der Tugendethik, damit auch im vielleicht uneigentlichen Sinne und jedenfalls in deutlicher Absetzung zum ethischen Intuitionismus. Auch Nico Scarano beschäftigt sich mit der epistemischen Relevanz der Wahrnehmung des moralisch Guten und Schlechten, doch er tut dies erkennbar am Rande und aus eindeutig anti-realistischer Perspektive, in der rationale Argumentation über moralische Fragen aber dennoch durch den Kohärenzgedanken möglich sein soll. Bei Christoph Halbig

Einleitung

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schließlich ist zwar die Wirklichkeit und Erkennbarkeit des Guten prominent und auch gegenüber dem Faktum andauernder Meinungsverschiedenheiten begründbar, aber die Wahrnehmung spielt dabei kaum eine Rolle. Vielleicht ist das Gute also wirklich; aber ob wir es wahrnehmen, steht auf einem anderen Blatt. Dieser Band fasst, wie gesagt, die Beiträge des DFG-Netzwerkes zusammen. Mit einer Ausnahme handelt es sich dabei um Originalbeiträge. Wir danken allen Mitgliedern für ihr Engagement und die fruchtbaren Diskussionen. Der DFG gilt unser Dank für die Finanzierung des Netzwerkes sowie einer Druckkostenbeihilfe. Frau Elke Schmidt hat große Hilfe bei der Redaktion geleistet. Siegen, im Januar 2011

Elisabeth Heinrich, Dieter Schönecker

1. EINFÜHRUNG: REALISMUS UND ANTIREALISMUS

Richard Schantz

WAHRNEHMUNG UND WELT Viele Philosophen glauben, dass der Empirismus und der Realismus einander ausschließende philosophische Standpunkte darstellen. Eine empiristische Erkenntnistheorie und eine realistische Metaphysik, so ist allenthalben zu hören, sind miteinander unverträglich. Demgegenüber möchte ich zeigen, dass eine moderne, moderate Form des Empirismus die natürliche erkenntnistheoretische Ergänzung des ontologischen oder metaphysischen Realismus ist. Der Realismus ist die These, dass es eine objektive Welt gibt, eine Welt interagierender physischer Gegenstände in Raum und Zeit, die kontinuierlich und völlig unabhängig von unseren Wahrnehmungen, unseren Gedanken und unserer Sprache existieren und die unabhängig von uns gewisse Eigenschaften haben und in gewissen Beziehungen zueinander stehen. Häufig wird gegen den Realismus der Einwand erhoben, dass er erkenntnistheoretisch naiv ist, weil er kurzerhand annimmt, dass wir einen direkten perzeptiven und kognitiven Zugang zu äußeren Gegenständen und Tatsachen haben. Diesen erkenntnistheoretischen Einwand darf der Realist keineswegs auf die leichte Schulter nehmen. Auch wenn eine Definition der Wahrheit nicht mit einem Kriterium der Wahrheit verwechselt werden darf, gewinnt der Realismus dennoch beträchtlich an Plausibilität, wenn es ihm gelingt, unseren kognitiven Zugang zur Realität sicherzustellen. In diesem theoretischen Rahmen beschäftigt sich der Aufsatz mit der traditionellen Sinnesdatentheorie, mit Quines naturalisierter Erkenntnistheorie, mit den Glaubenstheorien der sinnlichen Wahrnehmung, mit Davidsons Kohärentismus und mit McDowells Philosophie der Wahrnehmung. In kritischer Auseinandersetzung mit McDowells »minimalem Empirismus« wird schließlich eine eigene Version des Empirismus entwickelt. Dabei wird just eine Version der Auffassung verteidigt, die McDowell als einen Mythos brandmarkt, der Auffassung, dass es ein gegebenes Element in der Erfahrung gibt, das unabhängig vom Denken ist und das einen charakteristischen nichtpropositionalen und sogar nichtbegrifflichen Inhalt besitzt.

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Richard Schantz

1. Realismus Ich vertrete hinsichtlich der Beziehungen, in denen unsere Sprache und unsere Gedanken zur Realität stehen, einen realistischen Standpunkt. 1 Ich glaube, dass es eine objektive Welt gibt, eine Welt interagierender physischer Gegenstände in Raum und Zeit, die kontinuierlich und völlig unabhängig von unseren Wahrnehmungen, unseren Gedanken und unserer Sprache existieren und die unabhängig von uns bestimmte Eigenschaften haben und in bestimmten Beziehungen zueinander stehen. Zu behaupten, dass ein Gegenstand unabhängig von unseren epistemischen Fähigkeiten existiert, heißt nicht, zu behaupten, dass er unerkennbar ist, oder dass wir keine wahren Überzeugungen über ihn erwerben können. Es heißt nur, dass er durch unsere Überzeugungen oder durch die Begriffsschemata, die wir gebrauchen, nicht irgendwie konstituiert oder konstruiert wird. Anders als für die verschiedenen Formen des Antirealismus gibt es für den Realismus – den Standpunkt des reflektierten Commonsense – keinen Konflikt zwischen der Unabhängigkeit eines physischen Gegenstandes, seiner Autonomie, und seiner epistemischen Zugänglichkeit, der Möglichkeit, Wissen über ihn zu erwerben. Deshalb muss der Realist weder äußere Gegenstände zu bloßen Konstruktionen aus den Materialien der subjektiven Erfahrung degradieren, noch muss er bei der skeptischen Behauptung Zuflucht suchen, dass die objektive Realität jenseits unseres Erkenntnisvermögens liegt, dass sie unsere Fähigkeiten, sie zu erkennen, prinzipiell überschreitet. Ich verteidige nicht nur eine realistische Metaphysik, sondern auch einen realistischen Wahrheitsbegriff, der von der ersteren nicht impliziert wird. 2 Dabei knüpfe ich an die grundlegende Intuition an, dass eine Aussage genau dann wahr ist, wenn es sich in der Welt so verhält, wie die Aussage sagt, dass es sich in ihr verhält. Auf diesem Grundgedanken aufbauend, habe ich die Korrespondenztheorie der Wahrheit zu rehabilitieren versucht, der zufolge, grob gesprochen, eine Aussage genau dann wahr ist, wenn es einen Sachverhalt gibt, dem sie korrespondiert. Eine adäquate Form der Korrespondenztheorie muss sich mit drei metaphysischen Aspekten befassen: Dem Wahrheitsträger, der Korrespondenzrelation und dem Wahrmacher – derjenigen Realität, der der Wahrheitsträger korrespondiert. Ich werde hier einfach voraussetzen, dass Aussagen, im Sinn des Inhalts von Aussagesätzen, die angemessenen Wahrheitsträger sind, die Dinge, die wahr oder falsch sein können. Ferner werde ich annehmen, dass Wahrmacher – Tatsachen oder Sachverhalte – vertraute Entitäten sind: Gegenstände, die gewisse Eigenschaften haben und in gewissen Beziehungen zueinander an verschiedenen raumzeitlichen Positionen stehen. Zum Beispiel wird die Aussage, dass Gras grün ist, dadurch wahr gemacht, dass Gras grün ist. Die Tatsache, dass Gras grün ist, ist sowohl eine 1 2

Vgl. Schantz, Der sinnliche Gehalt und Wahrheit. Vgl. Schantz, Wahrheit und Truth and Reference.

Wahrnehmung und Welt

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notwendige als auch eine hinreichende Bedingung für die Wahrheit der Aussage, dass Gras grün ist. Es ist wahr, dass p, genau dann, wenn p. Tatsachen, so wie ich sie verstehe, sind keine künstlichen, ganz nach dem Modell der entsprechenden Aussagen fabrizierten und strukturierten Objekte, keine bloße Schatten mithin, die unsere sprachliche Praxis des Aufstellens von Behauptungen wirft, wie etwa Peter Strawson und Donald Davidson meinen. 3 Und Tatsachen sind auch keine wahren Gedanken, wie Frege behauptet hat. 4 Vielmehr sind Tatsachen Bestandteile der von unserer Sprache und unseren Gedanken konstitutiv unabhängigen objektiven Realität. 5 Korrespondenz erfordert nichts so Anspruchsvolles wie eine Relation eines strukturellen Isomorphismus zwischen Aussagen und Tatsachen, wie der frühe Wittgenstein und Russell einst geglaubt haben. 6 Gewöhnliche Referenz ist genug. Trotz der vielen Einwände, die gegen die Idee erhoben wurden, halte ich weiterhin daran fest, dass der Begriff der Korrespondenz als Referenz ausformuliert werden kann. 7 Daher sollte meines Erachtens eine adäquate Version der Korrespondenztheorie die Wahrheit einer Aussage durch referentielle Beziehungen zwischen ihren Teilen und Aspekten der Welt erklären. Der zugrunde liegende Gedanke ist, dass die Wahrheitsbedingungen von vielen Aussagetypen eine Funktion ihrer logischen Struktur und der Referenz der Termini ist, die diese Struktur füllen. So ist eine Aussage des elementarsten Aussagetyps, eine singuläre prädikative Aussage des Typs »a ist F«, dann und nur dann wahr, wenn der Gegenstand, auf den durch den Gebrauch des singulären Terminus’ »a« Bezug genommen wird, die Eigenschaft hat, für die der generelle Terminus »F« steht. Ferner ist es ein wesentliches Element des realistischen Standpunkts, dass Wahrheit Verifizierbarkeit überschreitet, dass eine Aussage wahr sein kann, obwohl wir nicht in der Lage sind, dies jemals festzustellen. Wahrheit und objektive Realität können nicht auf das zurückgeführt werden, was wir herausfinden können. Wahrheit ist kein epistemischer Begriff. Ich habe anderenorts gezeigt, dass und warum epistemische Analysen – also Analysen, die den Begriff der Wahrheit durch Verifizierbarkeit, durch gerechtfertigte Behauptbarkeit, durch permanente Glaubwürdigkeit oder durch Rechtfertigbarkeit unter idealen Bedingungen definieren wollen – zum Scheitern verurteilt sind. In ihren zahlreichen Kritiken am Standpunkt des alethischen Realismus behaupten die Verfechter epistemischer Konzeptionen der Wahrheit, die alethischen Antirealisten, dass Wahrheit kein epistemisch uneingeschränkter Begriff ist und daher nicht aus einer Beziehung zu einer externen oder, wie sie gerne sagen, »transzendenten« Tatsache 3 4 5 6 7

Vgl. Strawson, Truth und Davidson, The Structure. Vgl. Frege, Der Gedanke. Vgl. Schantz, Wahrheit, S. 147–177. Vgl. Wittgenstein, Tractatus und Russell, The Problems. Vgl. Schantz, Wahrheit und Truth and Reference.

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Richard Schantz

bestehen kann, sondern vielmehr nur aus einem positiven epistemischen Status des Wahrheitsträgers innerhalb unserer Sprache, unserer Gedanken oder unserer Erfahrung. 8

2. Ein populärer Einwand Häufig wird gegen den Realismus der Einwand erhoben, dass er erkenntnistheoretisch naiv ist, weil er kurzerhand annimmt, dass wir einen direkten perzeptiven und kognitiven Zugang zu äußeren Gegenständen und Tatsachen haben. Damit, so wird oft verkündet, fällt er hinter grundlegende Einsichten Kants und sogar der Britischen Empiristen zurück. Hilary Putnam hat, während der Phase seines Denkens, in der er einen »Internen Realismus« propagierte, diesen Einwand gegen den »Metaphysischen Realismus« folgendermaßen formuliert: As far back as Berkeley and Kant it had been pointed out that the notion of a »correspondence« is difficult once one becomes even a little bit psychologically sophisticated. […] Early philosophical psychologists – for example, Hume – pointed out that we do not literally have the objects in the mind. The mind never compares an image or word with an object, but only with other images, words, beliefs, judgments, etc. The idea of a comparison of words or mental representations with objects is a senseless one. So how can a determinate correspondence between words or mental representations and external objects ever be singled out? How is the correspondence supposed to be fixed? 9

In die gleiche Kerbe haut Michael Williams: Justification is a matter of accomodating beliefs that are being questioned to a body of accepted beliefs. Justification always terminates with other beliefs and not with our confronting raw chunks of reality, for that idea is incoherent. 10

Und schließlich sagt Donald Davidson: If meanings are given by objective truth conditions there is a question how we can know that the conditions are satisfied, for this would appear to require a confrontation between what we believe and reality; and the idea of such a confrontation is absurd. 11

Es gibt, so lautet dieser Einwand, kein reines, unvermitteltes Bewusstsein von äußeren Gegenständen oder Tatsachen, so wie sie an sich selbst sind, unabhängig von unseren Weisen, sie zu konzeptualisieren. Deshalb können wir unsere Aussagen und Überzeugungen – unsere sprachlichen und nichtsprachlichen Repräsentationen – nicht mit der Welt selbst vergleichen, um zu sehen, ob sie mit ihr übereinstimmen oder ihr korrespondieren. Der angebliche Vergleich einer Über8 9 10 11

Vgl. Schantz, Why Truth. Putnam, Realism, VIII. Williams, Belief , S. 112. Davidson, Coherence Theory, S. 307.

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zeugung mit der Realität stellt sich zu guter Letzt als lediglich ein Vergleich einer Überzeugung mit anderen Überzeugungen heraus. Wir können aus dem Zirkel unserer Überzeugungen nicht ausbrechen, um an die Realität selbst heranzukommen. Überzeugungen, so lautet die Konklusion, können nur durch die interne Kohärenz in einem System von Überzeugungen gerechtfertigt werden. Diesen erkenntnistheoretischen Einwand darf der Realist keineswegs auf die leichte Schulter nehmen. Er darf sich nicht damit zufrieden geben, abstrakt über die ontologische Struktur der Welt zu reden, über die Wahrheitsbedingungen unserer Überzeugungen und der Aussagen, die sie ausdrücken – darüber, was der Fall sein muss, damit das, was wir glauben und behaupten, wahr ist. Auch wenn eine Definition der Wahrheit nicht mit einem Kriterium oder Test der Wahrheit verwechselt werden darf, gewinnt der Realismus dennoch beträchtlich an Plausibilität, wenn es ihm gelingt, unseren kognitiven Zugang zur Realität sicherzustellen und insbesondere zu erklären, wie wir feststellen können, ob die Aussagen, die wir treffen, und die Überzeugungen, die wir hegen, wahr oder falsch sind. Da der Realismus die prinzipielle Möglichkeit des Irrtums anerkennt, muss er, um der impliziten skeptischen Herausforderung zu begegnen, zeigen, dass und wie die Gefahr einer massiven Divergenz zwischen unseren Repräsentationen und der Wirklichkeit abgewendet werden kann.

3. Die Sinnesdatentheorie und ihre Konsequenzen Der größte Teil unserer Überzeugungen und unseres Wissens beruht auf der sinnlichen Wahrnehmung. Ich mag gerechtfertigt sein zu glauben, dass dort ein Sofa steht, weil ich es sehe, und dass Zucker in meinem Tee ist, weil ich ihn schmecke. Und ganz ähnlich verhält es sich mit den anderen sinnlichen Modalitäten. Es nimmt deshalb nicht wunder, dass der Empirismus – die Auffassung, dass unser gesamtes Wissen auf dem Zeugnis der Sinne gründet – lange Zeit die erkenntnistheoretische Diskussion beherrschte. Es ist ein ganz natürlicher Gedanke, dass uns die sinnliche Wahrnehmung ein direktes Bewusstsein von Gegenständen und Ereignissen in unserer Umgebung zu verschaffen vermag und dass ein solches direktes Bewusstsein eine wesentliche Rolle in der epistemischen Rechtfertigung spielt. Um so erstaunlicher ist es, dass die erkenntnistheoretische Diskussion in der westlichen Philosophie seit dem siebzehnten bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein von der Auffassung beherrscht wurde, dass wir äußere physische Gegenstände nie direkt oder unmittelbar wahrnehmen können, sondern dass die direkten Objekte des Bewusstseins in der sinnlichen Wahrnehmung eine besondere Art mentaler Repräsentationen sind – Descartes’ und John Lockes »Vorstellungen«, George Berkeleys und David Humes »Sinneseindrücke«, John Stuart Mills und Ernst Machs »Empfindungen« oder Bertrand Russells und G. E. Moores »Sinnesdaten«. Diese subjektiven Entitäten werden in jüngerer Zeit, vor allem in

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kognitionswissenschaftlichen Kontexten, häufig auch »Perzepte« genannt. Charakteristisch für Sinnesdaten ist, dass sie, im Unterschied zu äußeren, physischen Gegenständen, dann und nur dann existieren, wenn sie wahrgenommen werden. Das wichtigste Argument, das für die Existenz von Sinnesdaten als den direkten Objekten der Wahrnehmung ins Feld geführt wurde, ist das Argument aus der Sinnestäuschung. 12 Seine grundlegende Prämisse ist, dass die Dinge unter gewissen Bedingungen anders aussehen, als sie wirklich sind. So sieht zum Beispiel ein gerades Ruder, das mit einem Ende ins Wasser eingetaucht wird, gekrümmt aus. In allen diesen Fällen, so fährt das Argument fort, wird eine Eigenschaft – in unserem Beispiel die Eigenschaft gekrümmt zu sein – direkt wahrgenommen. Aber diese direkt wahrgenommenen Eigenschaften sind, ex hypothesi, keine Eigenschaften von gewöhnlichen physischen Gegenständen, in unserem Beispiel des Ruders. Also, so wird gefolgert, müssen diese direkt wahrgenommenen Eigenschaften Eigenschaften von inneren, mentalen Objekten sein, von Sinnesdaten eben. Damit hat das Argument sein Beweisziel schon fast erreicht. Denn da es keine feststellbare qualitative Differenz zwischen der Wahrnehmung unter ungewöhnlichen Bedingungen und der Wahrnehmung unter Normalbedingungen gibt, die einen unterschiedlichen ontologischen Status ihrer jeweiligen Gegenstände anzeigen könnte, gelangt das Argument rasch zu seiner eigentlichen Konklusion, dass wir immer nur Sinnesdaten direkt wahrnehmen. Die Sinnesdatentheorie ist vor allem im zwanzigsten Jahrhundert heftig unter Beschuss geraten. 13 Ihre Widersacher weisen insbesondere auf ihre erkenntnistheoretisch verheerenden Konsequenzen hin. Sobald ihre zentrale These, dass die direkten Gegenstände des Bewusstseins in der Wahrnehmung immer Sinnesdaten, nie aber äußere, physische Gegenstände sind, einmal akzeptiert wird, sind im wesentlichen nur noch zwei Theorien der Wahrnehmung und der Außenwelt möglich: Der Repräsentationale oder Indirekte Realismus und der Phänomenalismus. Die Verfechter des Repräsentationalen Realismus, dessen prominentester und einflussreichster Fürsprecher, historisch gesehen, sicherlich John Locke ist, bestreiten gewöhnlich nicht, dass wir äußere, physische Gegenstände wahrnehmen – Gegenstände, deren Existenz und Natur unabhängig davon ist, dass wir sie wahrnehmen. Aber wir nehmen diese Gegenstände nur indirekt oder mittelbar wahr, mittels der direkten oder unmittelbaren Wahrnehmung der phänomenalen Erscheinungen, die sie infolge einer kausalen Interaktion in unserem Bewusstsein hervorrufen. Unser gesamtes Wissen von der objektiven Realität, selbst das, was wir gewöhnlich für direktes Wahrnehmungswissen halten, beruht auf dem noch direkteren Wissen von Sinnesdaten.

12 13

Vgl. Schantz, Der sinnliche Gehalt, S. 17–24. Vgl. dazu und zum Folgenden ebd., S. 28–89.

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Aber wenn wir immer nur Sinnesdaten, nie aber die physischen Gegenstände und Ereignisse in unserer Umgebung direkt wahrnehmen können, dann stellt sich natürlich geradezu zwangsläufig die Frage, wie wir wissen können, welche Eigenschaften physische Gegenstände haben, ja, wie wir sicher sein können, dass sie überhaupt existieren. Die Sinnesdaten fungieren diesem Einwand zufolge als ein Schleier, der unseren perzeptiven und kognitiven Zugang zur Außenwelt blockiert. Die Sinnesdatentheorie reißt eine logische Kluft zwischen inneren Objekten, den Sinnesdaten, und der äußeren, physischen Realität auf, eine Kluft, die weder durch deduktive noch durch induktive Schlüsse jemals überbrückt werden kann. Wir sind gewissermaßen in der Welt unserer Sinnesdaten eingesperrt. Kein triftiges Argument, sondern allenfalls eine Form von Magie vermag uns von der hellen auf die dunkle Seite des Schleiers der Wahrnehmung zu führen. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus scheint die unvermeidliche Konsequenz des Repräsentationalen Realismus zu sein. Der Phänomenalismus, den George Berkeley als erster entfaltet und den John Stuart Mill dann in wesentlichen Punkten weiterentwickelt hat, stellt eine direkte Reaktion auf die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten des Repräsentationalen Realismus dar. Wenn die Wurzel des Skeptizismus in der Unterscheidung zwischen äußeren, physischen Gegenständen und unseren Sinnesdaten liegt, dann brauchen wir, so scheint es, diese Gegenstände nur mit den Sinnesdaten zu identifizieren, um den Skeptizismus zu untergraben. Der radikale phänomenalistische Vorschlag lautet daher, dass ein physischer Gegenstand nichts anderes als ein Komplex von Sinnesdaten ist. Das Problem der Außenwelt soll mithin durch eine ontologische Reduktion gelöst werden. Das notorische Problem mit diesem Vorschlag ist jedoch, dass es dem Phänomenalismus einfach nicht gelingen will, der gewöhnlichen Auffassung der physischen Welt als kontinuierlich und unabhängig davon existierend, ob sie wahrgenommen wird oder nicht, gerecht zu werden. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass das ehrgeizige Projekt des moderneren, im Zuge der sprachlichen Wende in der Philosophie aufgekommenen Analytischen Phänomenalismus, Aussagen über physische Gegenstände vollständig durch Aussagen über Sequenzen von Sinnesdaten zu analysieren oder in solche Aussagen zu übersetzen, fehlgeschlagen ist.

4. Quines naturalisierter Empirismus Der traditionelle fundamentalistische Empirismus ist mittlerweile ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Ein Meilenstein in dieser Entwicklung ist Willard Van Quines Angriff auf zwei Dogmen, durch die seiner Meinung nach der Empirismus charakterisiert war: Erstens, dass es eine grundsätzliche Dichotomie gibt zwischen analytischen Aussagen, Aussagen, die allein aufgrund der Bedeutung der in ihnen vorkommenden Wörter wahr sind, und synthetischen Aussagen, deren Wahr-

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heit auch von der Weise abhängt, wie die Welt ist; und zweitens dem Dogma des Reduktionismus, dem zufolge jede sinnvolle Aussage auf Aussagen zurückgeführt werden kann, die sich auf die unmittelbare Erfahrung beziehen. 14 Was Quine an die Stelle des zweiten, grundlegenderen der beiden Dogmen setzt, ist seine holistische These, dass die Sätze unserer Theorie der Welt nicht einzeln durch widrige Beobachtungen anfechtbar sind, weil diese Sätze nur gemeinsam, als eine Theorie, ihre beobachtbaren Konsequenzen implizieren. Mit seinen eigenen Worten: »My countersuggestion […] is that our statements about the external world face the tribunal of sense experience not individually but only as a corporate body.« 15 Nach Quines Sichtweise hängt die Wahrheit unserer Aussagen durchaus sowohl von der Sprache als auch von außersprachlichen Tatsachen ab; es ist nur so, dass diese Dualität von Faktoren nicht auf die Aussagen unserer Theorie, wenn man sie einzeln betrachtet, zurückgeführt werden kann. Trotz seiner heftigen Kritik am traditionellen Empirismus versteht Quine seine eigene Erkenntnistheorie immer noch als eine Version des Empirismus, aber als einen aufgeklärten, naturalisierten Empirismus, einen ohne Dogmen. Er ist bestrebt, die empiristische Idee zu bewahren, dass unsere Aussagen über die Welt dem »Tribunal der Erfahrung« gegenübertreten müssen, obwohl sie ihm nur als ein ganzes System gegenübertreten können. Während Quine in seinem klassischen Aufsatz Two Dogmas of Empiricism die Peripherie des Netzes von Sätzen, die unsere Theorie der Welt ausdrücken, als »Erfahrung« beschrieben hatte, ist er später dazu übergegangen, die Rede über Erfahrung durch die Rede über neurale Aufnahme an den sensorischen Rezeptoren zu ersetzen. Der Kontaktpunkt zwischen der Theorie und der empirischen Welt wurde jetzt als »Oberflächenreizungen« charakterisiert. Das Tribunal der Erfahrung stellt sich mithin als Aktivierungen unserer Nervenenden heraus. 16 Quine identifiziert buchstäblich die sinnliche Evidenz, auf der unsere Überzeugungen über die Welt beruhen, mit diesen neurophysiologischen Prozessen, wenn er sagt: »The stimulations of his sensory receptors is all the evidence anybody has had to go on, ultimately, in arriving at his picture of the world.« 17 In scharfem Gegensatz zu seinen empiristischen Vorgängern läßt Quine jegliche Anforderung eines Bewusstseins von der Evidenzrelation fallen. Der neurale Input ist weder dem Bewusstsein gegeben, noch ist er uns, unter normalen Umständen, auf irgendeine andere Weise kognitiv verfügbar. Wenige Leute wissen, statistisch gesprochen, irgendetwas von den physiologischen Prozessen, die sich an ihren sensorischen Rezeptoren abspielen. 18 Um demnach die gute alte empiristische Frage zu beant14 15 16 17 18

Vgl. Quine, Point of View, S. 20 Ebd., S. 41 Vgl. Quine, Theories, S. 40 Quine, Ontological Relativity, S. 75 Vgl. Quine, Theories, S. 40

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worten, wie sich die sinnliche Evidenz zu der Theorie verhält, die sie stützt, lenkt Quine den Fokus seines neuen, naturalisierten Empirismus auf die Relation zwischen dem neuralen Input einer Person und ihrem sprachlichen Output, der, auf der elementarsten Ebene, aus der Äußerung von Beobachtungssätzen besteht.

5. Die Glaubenstheorie der sinnlichen Wahrnehmung Die gravierenden Schwierigkeiten des Repräsentationalen Realismus und des Phänomenalismus waren für viele Philosophen der Beweggrund, die zentrale These dieser beiden Theorien über Bord zu werfen, die These, dass wir immer nur Sinnesdaten direkt wahrnehmen. Sie entschieden sich im Gegenzug für eine Spielart des Direkten Realismus. Diese Auffassung ist eine Form von Realismus, weil ihr zufolge physische Gegenstände unabhängig davon existieren, dass sie wahrgenommen werden. Und sie ist eine direkte Form des Realismus, weil sie behauptet, dass wir gewöhnlich physische Gegenstände direkt oder unmittelbar wahrnehmen, ohne die epistemische Vermittlung von besonderen mentalen Bindegliedern. Wir brauchen unser Wissen von der Außenwelt nicht durch problematische Schlüsse aus einer rein subjektiven Basis herzuleiten. Aber mit dieser Behauptung kann es der Direkte Realismus nicht bewenden lassen. Er muss zudem eine plausible Form der sinnlichen Erfahrung entwickeln, die in der Lage ist, mit solchen Phänomenen wie Sinnestäuschungen und Halluzinationen zu Rande zu kommen, die nach der Meinung so vieler traditioneller Philosophen nur durch die Einführung von Sinnesdaten angemessen erklärt werden können. Schauen wir uns zunächst diejenige Version des Direkten Realismus an, die die Verfechter der Glaubenstheorie der sinnlichen Wahrnehmung, allen voran David Armstrong, George Pitcher, aber auch Daniel Dennett, befürworten. 19 Diese Autoren sind davon überzeugt, dass eine plausible Theorie der Erfahrung formuliert werden kann, die als ihren zentralen Begriff den Begriff des Glaubens oder der Überzeugung verwendet. Sie zeichnen uns das folgende Bild von der sinnlichen Wahrnehmung: Physische Gegenstände und Ereignisse stimulieren unsere Sinnesorgane und als ein kausales Produkt dieser Prozesse erwerben wir direktes, unmittelbares Wissen von ihrer Existenz und ihren Eigenschaften. Der Erwerb dieses Wissens ist die sinnliche Wahrnehmung. Dieses Wissen lässt sich wiederum nach der Standardanalyse des Wissensbegriffs durch wahre, gerechtfertigte Überzeugungen explizieren. Was aber wird aus den Sinnesdaten, dem Herzstück des traditionellen Nachdenkens über die Erfahrung, im begrifflichen Rahmen der Glaubenstheorien? 19

Vgl. Armstrong, Perception; Pitcher, A Theory; Dennett, Content und Conciousness Explained; vgl. auch Schantz, Der sinnliche Gehalt, S. 117–140.

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David Armstrongs Standpunkt ist klar. Er identifiziert Sinnesdaten oder, wie er lieber sagt, Sinneseindrücke kurzerhand mit dem Erwerb von Überzeugungen oder Neigungen zu solchen Überzeugungen über die physische Realität. Er sagt: To speak of our sense-impressions, therefore, will be to speak of our conscious acquirings of immediate beliefs or inclinations to believe in particular propositions about the physical world, by means of our senses, without considering whether these propositions are true or false. 20

Prima facie ist diese Position nicht sonderlich plausibel. Sie scheint der Phänomenologie der Wahrnehmung nicht gerecht zu werden. Der Einwand liegt nahe, dass Sinneseindrücke nicht mit Überzeugungen gleichgesetzt werden können, sondern dass die Überzeugungen auf den Sinneseindrücken beruhen, dass die Sinneseindrücke uns mit Gründen für die entsprechenden Überzeugungen versehen. Es ist kein unerklärbares Faktum, dass sich eine bestimmte Wahrnehmungsüberzeugung einstellt; sie stellt sich ein, weil ihr ein Sinneseindruck zugrunde liegt. Betrachten wir eine Situation, in der eine weiße Rose mit rotem Licht beleuchtet wird und in der eine Person infolgedessen die falsche Meinung erwirbt, eine rote Rose zu sehen. Besteht der sinnliche Gehalt ihrer Erfahrung einzig und allein aus dieser Meinung? Ist nicht darüber hinaus in dieser Situation irgend etwas in ihrem visuellen Feld irgendwie rot? Ist ihr etwas Rotes nicht anders denn als ein Objekt einer Meinung gegeben? Wenn nicht irgendetwas in dieser Situation irgendwie rot wäre, wie könnten wir uns dann verständlich machen, dass jeder normale Beobachter in dieser Situation die Meinung erwirbt, dass die Rose rot aussieht und nicht etwa gelb oder grün oder lila? Und zudem, wenn die Person darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass sie in Wirklichkeit eine weiße Rose wahrnimmt, die unter den besonderen Beleuchtungsverhältnissen nur rot aussieht, dann verändert sich das phänomenale Aussehen der Rose keineswegs; sie wird unter unveränderten Bedingungen weiterhin rot aussehen und weiterhin die Überzeugung, dass sie rot aussieht, wenn nun auch nicht mehr die Überzeugung, dass sie rot ist, verursachen. Wie aber soll es der Glaubenstheorie zufolge möglich sein, dass die Röte, die die Rose zu haben scheint, auch dann ein konstantes phänomenales Datum bleibt, wenn sich die entsprechenden kognitiven Einstellungen in allen möglichen Weisen verändern können? Das rote Aussehen einer Rose für eine Person ist verträglich mit ihrer Überzeugung, dass sie tatsächlich rot ist, mit ihrer Überzeugung, dass sie nicht rot ist, und mit ihrer Ungewissheit, ob sie rot ist oder nicht. Das phänomenale Aussehen eines Gegenstandes scheint mithin gegen alle relevanten doxastischen Variationen immun zu sein. Wie soll dann aber der qualitative Inhalt der Erfahrung dennoch durch das begriffliche Repertoire der Glaubenstheorie erfasst werden können?

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Armstrong, Perception, S. 128.

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George Pitcher ist davon überzeugt, mit solchen Einwänden durch eine komplexere glaubenstheoretische Analyse zu Rande kommen zu können. 21 Er untergliedert zu diesem Zweck seine Analyse phänomenalen Aussehens in drei Fälle. Die ersten Fälle sind Standardsituationen der Wahrnehmung, in denen wir, wenn etwas soundso für uns aussieht, auch die Überzeugung erwerben, dass es soundso ist. Wenn wir ein am Ufer liegendes Ruder bei hellem Tageslicht betrachten, und es sieht gerade aus, dann erwerben wir wahrscheinlich auch die Überzeugung, dass es gerade ist. Für die mittleren Fälle hingegen gilt, dass, wenn etwas soundso für uns aussieht, wir eine gewisse Neigung oder Disposition erwerben, zu glauben, dass es soundso ist. Ein Beispiel soll veranschaulichen, was Pitcher und zuvor schon Armstrong mit dieser Rede von einer »Neigung, zu glauben« meinen. Angenommen, ich befinde mich in einem Eilzug auf der Strecke zwischen Berlin und Hamburg. Plötzlich, während ich aus dem Fenster schaue, taucht in meinem visuellen Feld für einen kurzen Augenblick eine tigerähnliche Gestalt auf. Ich kann in dieser Situation weder sicher sein, dass ich wirklich einen Tiger gesehen habe, denn in unseren Regionen sind Tiger sehr selten in freier Landschaft anzutreffen; noch kann ich sicher sein, dass ich durch meinen Gesichtssinn getäuscht wurde, denn möglicherweise handelte es sich hier um einen aus einem Zoo ausgebrochenen Tiger. In dieser Situation erwerbe ich den Glaubenstheoretikern zufolge eine Neigung zu glauben, dass ich einen Tiger sehe oder gesehen habe. Charakteristisch für diese mittleren Fälle ist, dass die Evidenz der Sinne und unabhängige Informationen in einen gewissen Konflikt miteinander geraten. Aber die schwierigsten Fälle, die dritten, lassen sich damit immer noch nicht befriedigend behandeln. Dies sind die Fälle, in denen die Dinge anders aussehen, als sie sind, in denen der Beobachter jedoch weiß, dass dies so ist. Wenn wir doch wissen, dass das zur Hälfte ins Wasser eingetauchte Ruder in Wirklichkeit gerade ist, dann werden wir wohl kaum geneigt sein, zu glauben, dass das gekrümmt aussehende Ruder tatsächlich gekrümmt ist. Pitcher versucht, diese letzten Fälle durch den Begriff einer »unterdrückten Neigung zu glauben« zu neutralisieren: I think that in Last Cases, the perceiver may plausibly be said to causally receive an inclination to believe […] but it is an inclination that, for one reason or another, he resists and indeed overcomes, one that he quashes or sharply suppresses, so that it is an attenuated inclination. 22

Ich glaube nicht, dass Pitcher diese Situationen richtig beschreibt. Wenn das ins Wasser eingetauchte gerade Ruder gekrümmt aussieht, ich aber weiß, dass es in Wirklichkeit gerade ist, habe ich nicht die geringste Neigung zu glauben, dass es gekrümmt ist. Vor allem aber habe ich keine Neigung, die ich allererst unterdrücken oder überwinden müsste. So wie die Rede von einem unterdrückten 21 22

Vgl. Pitcher, A Theory, S. 86–96. Ebd., S. 92f.

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Streik suggeriert, dass es zunächst einen Streik gab, der dann unterdrückt wurde, so suggeriert auch die Rede von einer unterdrückten Neigung, dass diese Neigung zuvor nicht unterdrückt war. Aber in unserem Beispiel gibt es keine Neigung zu glauben, die ich dann unterdrücken müsste. Vielmehr sollten wir sagen, dass die Neigung zu glauben durch unser zusätzliches Wissen, dass das Ruder gerade ist, verhindert wurde. Und so wie die Rede von einem verhinderten Streik suggeriert, dass dieser Streik gar nicht erst ausgebrochen ist, so suggeriert auch die Rede von einer verhinderten Neigung, dass sich diese Neigung gar nicht erst ausgebildet hat. Pitcher geht sogar so weit, zu behaupten, dass in einer solchen Situation die Neigung zu glauben, dass das Ruder gekrümmt ist, gar nicht vollständig unterdrückt werden kann; sie kann nur »teilweise« oder »weitgehend« unterdrückt werden. 23 Dem möchte ich entgegenhalten, dass wir aufgrund unseres gut bestätigten empirischen Wissens ziemlich sicher sein können, dass das Ruder infolge der Tatsache, dass es ins Wasser eingetaucht wird, nicht seine Eigenschaft gerade zu sein verliert und stattdessen die Eigenschaft gekrümmt zu sein annimmt. Vermutlich schwebte Pitcher ein ganz anderer Punkt vor, den er wegen seiner theoretischen Voreingenommenheit nur nicht angemessen zu analysieren vermochte. Denn was sich in dieser Situation nicht völlig unterdrücken oder überwinden lässt, auch wenn wir noch so viel über die physische Realität wissen, ist die phänomenale Präsenz eines gekrümmt aussehenden Ruders. Sinnliche Prozesse sind nicht im gleichen Maße reversibel wie kognitive Prozesse. Wir können durch kontinuierliches Lernen und Forschen unsere Überzeugungen über die Gegenstände unserer Wahrnehmung verändern. Aber wir können auf diese Weise nicht die phänomenalen Erscheinungen verändern, die die Gegenstände in uns hervorrufen, den qualitativen Gehalt der sinnlichen Erfahrung. Erfahrungen sind modular in dem von Jerry Fodor herausgearbeiteten Sinn. Sie bilden einen relativ autonomen Teil unserer mentalen Architektur; sie sind informational abgekapselt, weitgehend unempfänglich für Überzeugungen und Erwartungen. Unsere sensorischen Systeme haben keinen Zugang zu den Hintergrundinformationen, die den Subjekten der Erfahrung zur Verfügung stehen. Die Information, dass das Ruder gerade ist, steht uns, den Subjekten der Erfahrung, zur Verfügung, aber unsere visuellen Mechanismen haben keinen Zugang zu ihr. Deswegen bleibt eine Sinnestäuschung auch dann bestehen, wenn wir explizit wissen, dass es eine Täuschung ist. Der tiefere evolutionäre Grund dafür liegt darin, dass der Inhalt von Erfahrungen im Unterschied zum Inhalt von Überzeugungen phylogenetisch bestimmt ist, nicht ontogenetisch. Das heißt jedoch, dass die Glaubenstheorie der Erfahrung mit ihrer Begrifflichkeit des Glaubens, der Neigung zu glauben und der unterdrückten Neigung zu glauben, zum Scheitern verurteilt ist. In diesem theoretischen Ansatz wird der qualitative Charakter der Erfahrung ausgeklammert. Sinnliche Erfah-

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Ebd., S. 93.

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rungen und Überzeugungen sind beides innere, mentale Repräsentationen von äußeren Sachverhalten, aber sie unterscheiden sich ihrer Art nach. Der Fehler der Glaubenstheorie besteht darin, diesem wichtigen Unterschied nicht gebührend Rechnung zu tragen und mithin sinnliche Repräsentationen an begriffliche oder doxastische Repräsentationen zu assimilieren. Um den Unterschied zwischen sinnlichen und doxastischen Repräsentationen herauszupräparieren, ist es hilfreich, den vertrauten Kontrast zwischen der analogen und der digitalen Codierung von Information meinen eigenen theoretischen Zwecken dienlich zu machen. 24 Eine Repräsentation trägt die Information, dass ein Gegenstand a die Eigenschaft F besitzt, in digitaler Form, genau dann, wenn die Repräsentation keine zusätzliche Information über a trägt, keine Information, die nicht schon darin enthalten ist, dass a F ist. Wenn hingegen die Repräsentation eine zusätzliche Information über a trägt, eine Information, die nicht darin enthalten ist, dass a F ist, dann trägt die Repräsentation die Information in analoger Form. Wenn eine Repräsentation die Information, dass a F ist, in analoger Form trägt, dann trägt sie spezifischere Information über a, als dass a F ist. Der Unterschied zwischen analoger und digitaler Codierung von Information, und mithin zwischen sinnlicher und doxastischer Repräsentation, kann mit Hilfe des Unterschieds zwischen einem Bild von einem Sachverhalt und einer Aussage über diesen Sachverhalt erhellt werden. Angenommen, ich sehe einen Apfel auf einem Tisch, und ich treffe die Aussage, dass ein Apfel auf dem Tisch liegt, um Ihnen mitzuteilen, dass dies der Fall ist. Sie erhalten dadurch keine spezifischeren Informationen über den Apfel und den Tisch, als dass der Apfel auf dem Tisch liegt. Sie erfahren nichts über die Eigenschaften des Apfels – über seine Farbe, seine Form und seine Größe etc. Und ebenso wenig erfahren Sie über die entsprechenden Eigenschaften des Tisches. Wenn ich hingegen die Szene photographiere und ihnen das Bild zeige, dann erhalten Sie zwar auch die Information, dass der Apfel auf dem Tisch liegt. Aber diese Information ist eingebettet in reichere Informationen über die verschiedenen Eigenschaften des Apfels und des Tisches und über die präziseren räumlichen Relationen, in denen sie zueinander stehen – ob der Apfel etwa in der Mitte des Tisches liegt oder an der Kante, etc. Ein Bild, so weiß der Volksmund, ist tausend Worte wert. Viele Bilder besitzen einen Reichtum an Details, dem keine noch so komplexe Überzeugung oder Aussage jemals gerecht werden kann. Die Überzeugung, dass der Apfel auf dem Tisch liegt, abstrahiert von der Konkretheit der sinnlichen Repräsentation, von ihrer phänomenalen Mannigfaltigkeit. Das Bild und die Überzeugung repräsentieren beide denselben Sachverhalt, aber das Bild repräsentiert ihn in analoger, die Überzeugung dagegen in digitaler Form.

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Vgl. Dretske, Knowledge, S. 135–41.

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Wenn ich sage, dass sinnliche Erfahrungen Informationen so ähnlich codieren wie Bilder, dann will ich damit natürlich nicht sagen, dass wir, wenn wir wahrnehmen, irgendwie kleine Bilder im Kopf haben. Was wir im Kopf haben, sind vielmehr Repräsentationen: Informationen über Äpfel und Tische und dergleichen Dinge. Diese inneren sinnlichen Repräsentationen sind auch nicht die Gegenstände unserer Wahrnehmung. Dies anzunehmen, hieße einen ähnlichen Fehler zu begehen wie die Sinnesdatentheorie. Die Gegenstände unserer Wahrnehmung sind vielmehr die äußeren Dinge, die durch die inneren Repräsentationen repräsentiert werden, die Dinge, über die die Repräsentationen Information tragen. Die biologische Funktion der Wahrnehmung ist es, den kognitiven Mechanismen eines Organismus Informationen zu liefern, die er zur Kontrolle und Regulation seines Verhaltens selektiv benutzen kann. Der erfolgreiche Übergang von der sinnlichen zur begrifflichen und doxastischen Repräsentation ist der Kern unserer kognitiven Tätigkeit. Ein Organismus, dem es nicht gelingt, die ankommende sinnliche Information in eine begriffliche Form zu verwandeln, mag ein a wahrgenommen haben, das F ist, aber er hat nicht wahrgenommen, dass a F ist, und weiß mithin nicht, dass a F ist. Der Übergang von der sinnlichen zur begrifflichen Ebene besteht im wesentlichen darin, Unterschiede zu ignorieren, vom Konkreten zum Abstrakten überzugehen, und das heißt, Elemente der Information zu eliminieren, um eine Information herauszustellen, die Information etwa, dass es ein Apfel ist. Kognitive Tätigkeit – Wiedererkennung, Klassifikation und Identifikation – setzt die Elimination von überflüssiger Information voraus. Solange es uns nicht gelingt, auf diese Weise Informationen aus der sinnlichen Repräsentation herauszuziehen, solange kein Prozess der Digitalisierung stattfindet, können wir die Dinge in unserer Umgebung zwar wahrnehmen, aber wir können keine Überzeugungen über sie erwerben. Sehen und Glauben, sinnliche und doxastische Repräsentationen, dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Wir können ein a sehen, das F ist, ohne zu sehen, dass a F ist. Aber dennoch kann etwas nur dann als eine sinnliche Repräsentation betrachtet werden, wenn es an einen kognitiven Mechanismus gekoppelt ist, der imstande ist, die Information, die in der sinnlichen Repräsentation enthalten ist, für seine Bedürfnisse und Zwecke zu gebrauchen. Wir dürfen also nicht vergessen, dass sinnliche Repräsentationen, trotz ihrer epistemischen Neutralität, eine bestimmte Funktion innerhalb eines größeren informationsverarbeitenden Prozesses erfüllen.

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6. Davidsons Kohärentismus Die sinnliche Erfahrung ist also keine Form einer Überzeugung. Kann aber eine nichtdoxastische Erfahrung überhaupt epistemisch relevant sein? Donald Davidson leugnet dies. Er befürwortet im Wesentlichen einen kohärentistischen Zugang zu Wissen und epistemischer Rechtfertigung und bestreitet demnach hartnäckig, dass das, was sich an unseren Sinnesorganen abspielt, irgendetwas mit Rechtfertigung oder Evidenz zu tun hat. Er attackiert den Dualismus von Begriffsschema und empirischem Inhalt als das »dritte Dogma des Empirismus«, und er wirft auch Quine vor, diesem Dogma verhaftet zu bleiben. 25 Zu dem, was Davisdon mit »empirischem Inhalt« meint, gehören Sinnesdaten, Empfindungen und eben sensorische Stimuli. Diese sinnlichen Entitäten werden laut Davidson in empiristischen Theorien als der neutrale, außerhalb aller Begriffsschemata gelegene und somit uninterpretierte Inhalt aufgefasst, der nur darauf wartet, durch ein Schema interpretiert oder gedeutet zu werden. Das Dogma eines Dualismus von Schema und unorganisiertem Inhalt führt, so argumentiert Davidson, zum begrifflichen Relativismus, zur Relativierung von objektiver Wahrheit und objektiver Realität auf ein Begriffsschema. Die Idee eines Begriffsschemas und mit ihr die Idee des begrifflichen Relativismus hält Davidson jedoch für unverständlich. Seine Methodologie der radikalen Interpretation schließt, so behauptet er, die Möglichkeit aus, jemals entdecken zu können, dass andere Personen Begriffe und Überzeugungen haben, die sich von unseren eigenen Begriffen und Überzeugungen radikal unterscheiden. Davidson macht geltend, dass der Empirismus aufgegeben werden muss, weil sein Leitgedanke, dass Wissen und Bedeutung auf einer sinnlichen Evidenzquelle beruhen, nicht aufrechterhalten werden kann. 26 Die verschiedenen Versuche des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus, eine epistemische Basis für Rechtfertigung und Wissen außerhalb unserer Überzeugungen zu finden, in anderen Worten, Rechtfertigung letztlich auf das Zeugnis der Sinne zu gründen, hält er für vergeblich. Die Idee, dass Rechtfertigung etwas anderes als eine Beziehung einzig und allein zwischen Überzeugungen sein könnte, beruht laut Davidson auf einer Verwechslung von Rechtfertigung und Kausalität. So macht er an einer Schlüsselstelle geltend: The relation between a sensation and a belief cannot be logical, since sensations are not beliefs or other propositional attitudes. What then is the relation? The answer is, I think, obvious: the relation is causal. Sensations cause some beliefs and in this sense are

25 26

Vgl. Davidson, Inquiries, S. 183–198. Vgl. Davidson, Coherence Theory, S. 307–319.

32

Richard Schantz the basis or ground of those beliefs. But a causal explanation of a belief does not show how or why a belief is justified. 27

Erfahrungen und sensorische Stimulationen spielen eine kausale Rolle; sie sind kausale Vermittler zwischen äußeren Gegenständen und Ereignissen und unseren Meinungen über sie. Aber die Dimension der sinnlichen Erfahrung ist in Davidsons Kohärentismus epistemisch irrelevant. Eine Erfahrung kann nicht als Grund für eine Überzeugung fungieren und hat mithin keinen Einfluss auf die Frage, ob eine Überzeugung gerechtfertigt ist oder nicht. Rechtfertigung ist für ihn ausschließlich eine logische Angelegenheit. Einer Erfahrung eine epistemische Rolle zuzuschreiben, kann laut Davidson nur heißen, sie als epistemischen Vermittler zwischen unseren Überzeugungen und der objektiven Realität aufzufassen. Und er ist fest davon überzeugt, dass eine solche Sichtweise zum Skeptizismus führen muss, weil wir nicht sicher sein können, dass solche Vermittler uns verlässliche Informationen über die Welt verschaffen. Auch Willard Van Quines aufgeklärter naturalisierter Empirismus ist für skeptische Attacken anfällig, weil er der alten, fundamentalistischen Idee verhaftet bleibt, dass der Erwerb von Wissen über die Welt einen epistemischen Schritt vom Bereich des Subjektiven zum Bereich des Objektiven erfordert. 28 Durch die Aufgabe eines solchen Schritts, durch den Verzicht auf besondere epistemische Bindeglieder, hofft Davidson, den unmittelbaren Kontakt mit den vertrauten Gegenständen wiederherzustellen, die unsere Aussagen und Überzeugungen wahr oder falsch machen. 29

7. McDowells Diagnose John McDowell hat jüngst den Einwand erhoben, dass Davidsons kohärentistische Position, da sie nur kausale Beziehungen zwischen unserem Denken und unseren Erfahrungen erlaubt, den Bezug unseres Denkens auf die objektive Realität zu verlieren droht. 30 In Davidsons Bild werden, wie McDowell sich ausdrückt, »rationale Einschränkungen« von der Welt her auf das sich entwickelnde Netz unserer Überzeugungen preisgegeben. Die Tätigkeit des Rechtfertigens empirischer Überzeugungen ist kein selbständiges, in sich geschlossenes Spiel, sondern muss dem Zeugnis der Sinne verantwortlich sein. Wenn wir verstehen wollen, wie der Gebrauch von Begriffen zu gerechtfertigten empirischen Überzeugungen über die äußere Realität führen soll, dann müssen wir laut McDowell rationale Beziehungen zwischen Erfahrungen und Überzeugungen anerkennen, das heißt, 27 28 29 30

Ebd., S. 311. Vgl. ebd., S. 312–314; vgl. auch Davidson, Meaning. Vgl. Davidson, Inquiries, S. 198. Vgl. McDowell, Mind and World, S. 14–18, S. 137–147.

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wir müssen Raum schaffen für die Idee, dass unsere Erfahrungen in Rechtfertigungsbeziehungen zu unseren Überzeugungen stehen können, dass Erfahrungen als Gründe und nicht nur als Ursachen für Überzeugungen dienen können. McDowell hegt die Befürchtung, dass Davidsons Standpunkt, da er die epistemische Relevanz der Erfahrung leugnet, einen Rückfall in den von Wilfrid Sellars so bezeichneten »Mythos des Gegebenen« hervorrufen wird. Sellars beharrt in seiner klassischen Kritik am Gegebenen darauf, dass epistemische Begriffe normative Begriffe sind, Begriffe, die für den logischen Raum der Gründe konstitutiv sind, und dass folglich die Erkenntnistheorie nicht dem naturalistischen Fehlschluss anheim fallen darf, die Ordnung der Natur mit dem Bereich des Normativen zu verwechseln. 31 Der Mythos des Gegebenen begeht den naturalistischen Fehlschluss, denn er verkörpert die Ansicht, dass der Raum der Gründe und Rechtfertigungen sich in dem Sinn weiter erstreckt als der Raum der Begriffe, dass rohe, nichtbegriffliche Gegebenheiten das Fundament unserer empirischen Überzeugungen bilden sollen. Die zugrunde liegende Idee ist, dass wir durch Bezugnahme auf ein gegebenes Element – etwas, das wir in der Erfahrung ohne Beteiligung der Spontaneität einfach empfangen – die erforderliche rationale Einschränkung von außerhalb des Bereichs unseres Denkens und Urteilens sicherstellen können. McDowell teilt Davidsons Ansicht, dass der Mythos des Gegebenen unhaltbar ist, weil wir die Beziehungen, aufgrund deren eine Überzeugung gerechtfertigt ist, nur als Beziehungen zwischen begrifflich organisierten Entitäten verstehen können. Sie halten den Versuch, den Raum der Gründe so weit auszudehnen, dass er nichtbegriffliche Entitäten einschließt, für aussichtslos. Alle echten Gründe müssen, so insistiert McDowell, wenigstens minimal artikulierbar sein. 32 Wenn Erfahrungen als nichtbegrifflich verstanden werden, dann können sie keine rationale Basis, keine Quelle der Rechtfertigung, für unsere Überzeugungen sein. Rohe Sinneseindrücke können nicht als Tribunal der Erfahrung fungieren. So weit stimmt McDowell mit Davidson überein. Aber er kann Davidsons uneingeschränkten Kohärentismus nicht akzeptieren. Um dem ständigen Schwanken zwischen dem Kohärentismus einerseits und dem Mythos des Gegebenen andererseits zu entkommen, ist McDowell bestrebt, eine neue Konzeption der Erfahrung zu entwickeln, deren wesentlicher Vorzug darin bestehen soll, dass sie als einzige einen rationalen Zusammenhang zwischen Erfahrung und Denken, zwischen Sinnlichkeit und Verstand, einräumen kann. Ihre zentrale Idee ist, dass Erfahrungen passive Zustände sind, Produkte der Rezeptivität, und gleichwohl schon begrifflichen Inhalt besitzen. Begriffliche Fähigkeiten werden nicht an einer nichtbegrifflichen Gegebenheit ausgeübt, sondern schon in der Rezeptivität in Anspruch genommen. 33 Es verhält sich nicht 31 32 33

Vgl. Sellars, Science, S. 127–196. Vgl. McDowell, Mind and World, S. 165. Vgl. ebd., S. 9–13.

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so, dass Begriffe erst in Überzeugungen ins Spiel kommen, die auf der Erfahrung beruhen; sie sind schon in den Erfahrungen selbst am Werk. Unsere Erfahrungen repräsentieren die Dinge als soundso. In einer nichttrügerischen Erfahrung werden wir gewahr, dass die Dinge soundso sind. Dass die Dinge soundso sind, ist der begriffliche Inhalt einer Erfahrung. Ein Wahrnehmungsurteil akzeptiert einfach den begrifflichen Inhalt, den die Erfahrung schon besitzt. Wie uns die Dinge erscheinen, ist nicht unter unserer Kontrolle, aber es ist an uns, zu entscheiden, ob wir glauben sollen oder nicht, dass die Dinge so sind, wie sie die Erscheinungen repräsentieren. Erfahrungen sind also McDowell zufolge begrifflich und propositional, aber nichtdoxastisch. Erfahrungen, die er als Zustände der »Offenheit für die Beschaffenheit der Realität« charakterisiert, sollen es der unabhängigen Realität selbst ermöglichen, einen rationalen Einfluss auf das sich entwickelnde Netz unserer Überzeugungen auszuüben. 34 Auf diese Weise hofft er verständlich zu machen, wie Erfahrungen in rationalen, und nicht bloß in kausalen, Beziehungen zu Überzeugungen stehen können.

8. Die epistemische Signifikanz von sinnlichen Repräsentationen Sicherlich ist McDowells Sichtweise, weil sie die epistemische Signifikanz der sinnlichen Erfahrung anerkennt, Davidsons Kohärentismus vorzuziehen. Aber ich glaube, wir müssen noch einen Schritt weitergehen. Ich werde just eine Version der Auffassung verteidigen, die McDowell als einen Mythos brandmarkt, der Auffassung, dass es ein gegebenes Element in der Erfahrung gibt, das unabhängig vom Denken ist und das einen charakteristischen nichtpropositionalen und sogar nichtbegrifflichen Inhalt besitzt. Das Gegebene ist kein Mythos. Und ich werde zeigen, dass dieses gegebene Element tatsächlich geeignet ist, eine wichtige evidentielle Rolle zu spielen. 35 In meiner Kritik an Glaubenstheorien der Wahrnehmung haben wir gesehen, dass die Erfahrung wesentlich nichtdoxastisch ist. 36 Für unser sinnliches Bewusstsein sind keine Überzeugungen erforderlich. Alles, was für meine Wahrnehmung eines Gegenstandes notwendig ist, ist, dass er mir phänomenal in einer gewissen Weise erscheint. Gewiss, etwas als einen Samowar zu erkennen, oder zu sehen, dass es ein Samowar ist, heißt die Überzeugung zu bilden, dass es ein Samowar ist, und wie alle Überzeugungen erfordert dies die Anwendung von Begriffen. Aber nicht jede Wahrnehmung ist eine Wahrnehmung-als oder eine Wahrnehmung-dass. Es scheint offenkundig zu sein, dass wir einen Samowar sehen können, obwohl 34 35 36

Vgl. ebd., S. 26. Vgl. Schantz, The Given. Vgl. auch Dretske, Seeing, S. 4–77.

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wir ihn nicht als solchen erkennen und obwohl wir nicht einmal den Begriff eines Samowars besitzen. Das Sehen eines Samowars besteht aus gewissen visuellen Erfahrungen, gewissen Weisen, in denen der Samowar für uns aussieht, und diese Erfahrungen erfordern keine Konzeptualisierung, kein Verständnis, was für eine Art Gegenstand ein Samowar ist. Man mag einräumen, dass es ein solches Phänomen wie nichtbegriffliches sinnliches Bewusstsein durchaus geben mag, aber im Gegenzug behaupten, dass dieses Bewusstsein, da es ex hypothesi nichtpropositional und nichtbegrifflich ist, epistemisch völlig wertlos ist. Dieser Einwand beruht auf der vertrauten Annahme, dass die Rechtfertigung einer propositionalen Entität nur von geeigneten Beziehungen zu anderen propositionalen Entitäten abhängen kann. Wie, so liegt es nahe zu fragen, können nichtpropositionale Erfahrungen propositionalen Überzeugungen über die Welt Rechtfertigung verleihen? Erfahrungen selbst besitzen keine Rechtfertigung; sie sind keine Entitäten, die für eine Rechtfertigung auch nur empfänglich sind. Und doch sollen sie in der Lage sein, Überzeugungen Rechtfertigung zu verleihen. Zahlreiche Philosophen haben behauptet, dass dies alles ziemlich mysteriös ist. Nichtsdestotrotz argumentiere ich dafür, dass subjektive Erfahrungen als Rechtfertiger für unsere empirischen Überzeugungen fungieren können. 37 Wenn mir unter normalen Bedingungen ein Gegenstand rot erscheint, bin ich dann nicht mehr gerechtfertigt zu glauben, dass er rot ist, als dass er blau oder gelb ist? Ich glaube schon. Es ist plausibel zu sagen, dass ich in der Weise, in der der Gegenstand für mich aussieht, einen Grund für die Überzeugung habe, dass er rot ist. Wenn ich sage, dass ein Subjekt S in der Weise, in der ihm ein Gegenstand x erscheint, einen Grund für die Überzeugung hat, dass x F ist, dann will ich damit nicht behaupten, dass S durch einen Prozess des Schließens oder Ableitens zu seiner Überzeugung gelangt sein muss. S muss nicht die Weise, in der ihm x erscheint, als einen Grund, als eine Prämisse für den Schluss, dass x F ist, benutzen. Kein bewusster diskursiver Prozess braucht zwischen dem Umstand, dass x F für S erscheint, und der daraus hervorgehenden Überzeugung, dass x F ist, zu vermitteln. Die resultierende Überzeugung zeichnet sich vielmehr durch ihre psychische Unmittelbarkeit aus. Für die Rechtfertigung unserer gewöhnlichen Wahrnehmungsüberzeugungen ist es nicht erforderlich, dass wir glauben, dass uns die Dinge soundso erscheinen. Es sind die Erfahrungen selbst, die Weisen, in denen uns die Dinge erscheinen, nicht unsere Überzeugungen über sie, von der die Rechtfertigung abhängig ist. Wir haben selten Überzeugungen über phänomenale Erscheinungen. Unsere Wahrnehmungsüberzeugungen beziehen sich gewöhnlich auf äußere Gegenstände und Ereignisse – nicht auf innere, sinnliche Repräsentationen von ihnen. Die Position,

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Vgl. Schantz, Sinnliche Evidenz.

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die ich verteidige, ist deshalb eine Form von Direktem Realismus. 38 Wir erwerben durch die Sinne normalerweise direktes Wissen über physische Gegenstände und Ereignisse. Der Erwerb dieses Wissen ist direkt, weil er nicht auf anderem Wissen oder anderen Überzeugungen beruht. Epistemische Rechtfertigung ist nicht allein eine Funktion unserer Überzeugungen und ihrer wechselseitigen Beziehungen. 39 Sowohl Überzeugungen als auch Erfahrungen – sowohl doxastische als auch sinnliche Repräsentationen – sind relevant für die Rechtfertigung unserer Überzeugungen über die Welt. Meine Position ist weder fundamentalistisch noch kohärentistisch. Einer ihrer integralen Bestandteile ist die Unterscheidung zwischen dem Haben von Gründen und dem Geben von Gründen oder, anders ausgedrückt, zwischen dem Zustand des Gerechtfertigtseins, eine Überzeugung zu hegen, und der Tätigkeit, die Überzeugung zu rechtfertigen, zu zeigen, dass sie gerechtfertigt ist. Es ist klar, dass meine Darlegungen primär den Zustand des Gerechtfertigtseins betreffen, nicht den Prozess des Zeigens oder Gebens einer Rechtfertigung. Ich glaube, dass viele einflussreiche Einwände gegen nichtpropositionale Rechtfertiger letztlich auf einer Verwechslung zwischen dem Zustand des Gerechtfertigtseins und der Tätigkeit des Rechtfertigens beruhen. Wenn man diese wichtige Unterscheidung übersieht, dann wird man geneigt sein, zu glauben, dass gerechtfertigt zu sein, die Fähigkeit impliziert, zu zeigen, dass man gerechtfertigt ist, das heißt, ein rechtfertigendes Argument zu schmieden. Natürlich müssen wir, um diese Tätigkeit des Rechtfertigens erfolgreich auszuführen, auf andere Überzeugungen Bezug nehmen, die wir hegen. Aber aus dem Umstand, dass wir eine Überzeugung nur rechtfertigen können, indem wir zeigen, dass sie in angemessenen Beziehungen zu anderen Überzeugungen steht, folgt nicht, dass eine Überzeugung nur durch ihre Beziehungen zu anderen Überzeugungen gerechtfertigt sein kann. Wir hätten nur recht wenige gerechtfertigte Überzeugungen, wenn ihre Rechtfertigung davon abhinge, dass wir erfolgreich die Tätigkeit ausgeführt hätten, ihren positiven epistemischen Status nachzuweisen. Für die Rechtfertigung einer Überzeugung scheint es nicht einmal notwendig zu sein, die Fähigkeit zu besitzen, eine solche Aktivität auszuführen. Vielen Subjekten fehlen die intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten, die erforderlich sind, um ihre Gründe zu artikulieren. So mag ein Subjekt in der Weise, in der ihm ein Tier erscheint, einen adäquaten Grund haben, zu glauben, dass es ein Krokodil ist, ohne in der Lage zu sein, die Weise, in er das Tier ihm erscheint, zu beschreiben, und folglich, ohne in der Lage zu sein, ein rechtfertigendes Argument zu formulieren. Unsere Unfähigkeit, die signifikanten Aspekte unserer Erfahrung eines Gegenstandes zu spezifizieren, hindert uns jedoch nicht daran, in der Weise, in der er uns erscheint, einen Grund für die Überzeugung zu haben, dass er soundso ist. 38 39

Vgl. dazu ausführlich Schantz, Der sinnliche Gehalt und Wahrheit. Vgl. Schantz, Sensory experience.

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Literaturverzeichnis Armstrong, David: Perception and the Physical World, London 1961. Davidson, Donald: Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 1984. Ders.: »A Coherence Theory of Truth and Knowledge«. In: Truth and Interpretation. Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, hg. von Ernest LePore. Oxford 1986, S. 307–319. Ders.: »The Structure and Content of Truth«. In: Journal of Philosophy 87, 1990, S. 279–328. Ders.: »Meaning, Truth and Evidence«. In: Perspectives on Quine, hg. von Robert B. Barrett/ Roger F. Gibson. Cambridge/MA 1990, S. 68–79. Dennett, Daniel: Content and Consciousness, London 1969. Ders.: Consciousness Explained, Boston u.a. 1991. Dretske, Fred: Seeing and Knowing, London 1969. Ders.: Knowledge and the Flow of Information, Oxford 1981. Fodor, Jerry: The Modularity of Mind, Cambridge 1983. Frege, F. L. Gottlob: »Der Gedanke«. In: Frege, Logische Untersuchungen, hg. von Günther Patzig. Göttingen 1976, S. 30–53. McDowell, John: Mind and World, Cambridge 1994. Pitcher, George: A Theory of Perception, Princeton 1971. Putnam, Hilary: Realism and Reason. Philosophical Papers, Band 3, Cambridge 1983. Quine, Willard Van: From a Logical Point of View, Cambridge 1953. Ders.: Ontological Relativity and Other Essays, New York 1969. Ders.: Theories and Things, Cambridge 1981. Russell, Bertrand: The Problems of Philosophy, Oxford 1912. Schantz, Richard: Der sinnliche Gehalt der Wahrnehmung, München 1990. Ders.: Wahrheit, Referenz und Realismus. Eine Studie zur Sprachphilosohie und Metaphysik, Berlin/New York 1996. Ders.: »Was ist sinnliche Evidenz?«. In: Logos 1, 1998, S. 175–214. Ders.: »The role of sensory experience in epistemic justification: A problem for coherentism«. In: Erkenntnis 50, 1999, S. 177–191. Ders.: »Truth and Reference«. In: Synthese 126, 2001, S. 261–281. Ders.: »The Given Regained. Reflections on the Sensuous Content of Experience«. In: Philosophy and Phenomenological Research 62, 2001, S. 167–180. Ders. (Hrsg.): What is Truth? , Berlin/New York 2002. Ders. (Hrsg.): The Externalist Challenge, Berlin/New York 2004. Ders.: »Why Truth is not an Epistemic Concept«. In: Truth and Speech Acts, hg. von Geo Siegwart/Dirk Greimann. New York/London 2007, S. 307–320. Sellars, Wilfrid: Science, Perception and Reality, London 1963. Strawson, Peter: »Truth«. In: Proceedings of the Aristotelian Society, Heft 24, 1950, S. 129– 156. Williams, Michael: Groundless Belief, New Haven 1977. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus Logico-Philosophicus, London 1922.

Werner Stegmaier

DIESSEITS VON REALISMUS UND ANTI-REALISMUS: DIE REALITÄT DER ORIENTIERUNG Der Beitrag stellt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des lagerbildenden Gegensatzes Realismus-Antirealismus. Sie ist von einer Philosophie der Orientierung aus zu beantworten (vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung). Danach ist Realität nicht zuerst das, wonach man fragen und das man sichern oder rechtfertigen kann, sondern das, von dem aus man erst fragen, dessen man sich versichern und das man rechtfertigen kann, die Realität der Orientierung. Die theoretische Frage nach der Realität setzt schon einen besonderen, theoretischen Standpunkt in der Orientierung voraus, der nur unter bestimmten Bedingungen und auf Zeit eingenommen werden kann. Der Beitrag umreißt die Bedingungen der Möglichkeit, wechselnde Standpunkte in der Orientierung einzunehmen, und situiert aus dieser Sicht die Realität des Wahren, des Schönen, des Heiligen und des Guten in der Orientierung. Er geht in folgenden Schritten vor: 1. Alternative Positionen Realismus – Anti-Realismus 2. Das Bedürfnis nach plausiblen Positionen in der philosophischen Orientierung 3. Die Realität der Orientierung I: Standpunkte, Horizonte und Perspektiven 4. Die Realität der Orientierung II: Anhaltspunkte und ihre Passungen 5. Die Realität der Orientierung III: Zeichen und ihre Spielräume 6. Ursprünglichkeit, Zeitlichkeit und Begrenztheit der Orientierung 7. Fluchtpunkte der Orientierung: das Wahre, Schöne, Heilige und Gute 8. Die Realität des Wahren in der Orientierung 9. Die Realität des Schönen in der Orientierung 10. Die Realität des Heiligen in der Orientierung 11. Die Realität des Guten in der Orientierung.

1 Alternative Positionen Realismus – Anti-Realismus 1.1 ›Realismus‹ und ›Anti-Realismus‹ sind alternative ›Positionen‹, denen Philosophen sich zuordnen oder denen sie zugeordnet werden. Sie bilden ›Lager‹ um sich, und diese Lager tragen argumentative Stellungskämpfe aus, »endlose Strei-

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tigkeiten«, wie Kant sie genannt hatte, damals noch auf dem »Kampfplatz« der »Metaphysik«. 1 Doch man kämpft heute zumeist mehr sportlich als feindselig. Man tauscht mit dem anderen Lager Argumente aus, und die Argumente des anderen Lagers gelten als soweit plausibel, dass man über sie diskutieren kann, in der Regel aber nicht soweit, dass sie veranlassen würden, in das andere Lager überzugehen. Dennoch kann man sich in verschiedenen Streitpunkten verschiedenen Lagern zugesellen oder ihnen zugesellt werden. Die Positionen sind beweglich. 1.2 Der Hauptstreitpunkt zwischen ›Realisten‹ und ›Anti-Realisten‹ ist die Frage, ob man die Realität (die Realität überhaupt und die des Guten, Schönen und Heiligen) so erfassen kann, wie sie an sich ist, oder nicht. Die antike und mittelalterliche Philosophie war in diesem Sinn eher realistisch (mit Ausnahmen), die neuzeitliche wurde zunehmend anti-realistisch (ebenfalls mit Ausnahmen). Mit dem Vormarsch der Analytischen Philosophie wird der Realismus nun wieder diskussionsfähig. Nach einer Unterscheidung, die die antike Philosophie einführte und die auch die neuzeitliche übernahm, war die Wahrnehmung zeitlich der erste Zugang zur Realität, der zweite das Denken, sachlich jedoch umgekehrt: das Denken sollte die zunächst gegebenen vorübergehenden sinnlichen Wahrnehmungen in bleibende nicht-sinnliche Begriffe fassen (wurde der Gegensatz des Vorübergehenden und Bleibenden zu dem des Vergänglichen und Ewigen zugespitzt, entstand Metaphysik). Umstritten blieb, welcher Zugang die Realität in ihrer Eigenheit erfasst, die Wahrnehmung oder das Denken, und darüber bildeten sich in der Neuzeit die Lager des Empirismus und des Rationalismus aus. 1.3 Kant hatte den Streit so zu entscheiden versucht, dass er Wahrnehmung und Denken teils aneinander band, teils voneinander trennte. Im ›theoretischen Gebrauch‹ der Vernunft sollten, nach einer wiederum alten metaphysischen Unterscheidung, Wahrnehmungen der ›Inhalt‹ von ›Formen‹ des Denkens sein. In ihrem ›praktischen Gebrauch‹ sollte die Vernunft dagegen von Wahrnehmungen unabhängig, ›autonom‹, selbstgesetzgebend sein. Beim Schönen, Erhabenen und Zweckmäßigen der Natur dagegen, das auf Wahrnehmung angewiesen, aber ebenfalls nicht durch bloße Wahrnehmung zu erfassen ist, sollten Wahrnehmung und Denken sich in einem ›freien Spiel‹ bewegen, und der Religion, deren Gegenstände sich der Wahrnehmung wiederum entziehen, die aber wahrnehmbare Symbole braucht, sollte ›innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ ein Spielraum für positive Setzungen bleiben. Kants Philosophie, historisch und systematisch einer der wichtigsten Anhaltspunkte der Realismus-Anti-Realismus-Debatte, lässt sich so teils dem realistischen, teils dem anti-realistischen Lager zurechnen; die Alternative bleibt hier unentschieden.

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Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede, A VIII.

Diesseits von Realismus und Anti-Realismus

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1.4 Um die Alternative entscheiden zu können, müsste man feststellen können, ob nach der alten Formel Erkenntnis und Realität übereinstimmen, ob also unter den Bedingungen der Eigenheiten der menschlichen Wahrnehmung und ihrer Organe wie des menschlichen Denkens und seines Organs, des Gehirns, die Realität in ihren Eigenheiten wiedergegeben wird. Das ist nicht denkbar. Denn dazu müssten wir mit unserer Erkenntnis aus den Bedingungen unserer Erkenntnis heraustreten, unsere Erkenntnis unabhängig von unserer Erkenntnis erkennen können. (Man kann darin eine anti-realistische Position sehen. Eine dazu alternative Position ist jedoch nur möglich, wenn sie zeigen kann, wie unsere Erkenntnis unabhängig von unserer Erkenntnis erkannt werden kann.) 1.5 Die Entscheidung zwischen Realismus und Anti-Realismus wird noch schwieriger, wo es um Wahrnehmung und Wirklichkeit des Guten, Schönen und Heiligen geht. Soweit sie überhaupt der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sind, geben ihnen doch erst die mit ihrer Wahrnehmung verbundenen Begriffe ihre (allgemeine) Bedeutung und (individuelle) Bedeutsamkeit. Was immer hier in der wahrgenommenen Wirklichkeit vorausgesetzt wird, bleibt (vorläufig) heillos umstritten. 2 So wird die Unterscheidung von Wahrnehmung und Denken selbst unscharf . Gehirnphysiologisch sind sie gar nicht zu trennen. Soweit bekannt, unterscheiden die Informationsverarbeitungsprozesse des Gehirns nicht nach Wahrgenommenem und Gedachtem. 1.6 Die von Husserl ausgehende Phänomenologie stellte die Unterscheidung mit dem Argument, dass in den Gegebenheiten des Bewusstseins die Quellen des Bewusstseins nicht mehr zu unterscheiden sind, im ganzen in Frage und ging auf den Begriff der Intention zurück. Wahrnehmung und Denken sind danach intentional, sofern sie sich auf etwas außer ihnen richten und durch es erfüllt werden. Doch im Begriff der Erfüllung wirkt die alte Unterscheidung von Form und Inhalt fort, die die Entscheidung zwischen Realismus und Anti-Realismus unentscheidbar macht; denn die Form (der Intention) fordert als solche einen Inhalt (Realität), ohne dass sie deshalb auch gegeben sein müsste. Intentional angelegt sind aber auch die Begriffe der Interpretation im Interpretationismus Hans Lenks und Günter Abels und der Beobachtung in der Systemtheorie Niklas Luhmanns, die sich dezidiert anti-realistisch positionieren. Die Begriffe der Interpretation und der Beobachtung setzen, wie der Begriff der Intention ein Intendiertes, nun ein Interpretiertes bzw. Beobachtetes voraus, das dann als von der Intention, Interpretation oder Beobachtung abhängig oder unabhängig oder als sowohl abhängig als auch unabhängig betrachtet und damit ebenso anti-realistisch wie realistisch verortet werden kann. Aber man muss auch nicht voraussetzen, dass wir uns zu dem, was wir Realität nennen, immer schon intentional verhalten. In unserer 2

Vgl. die Zusammenfassungen der metaethischen Debatten von Nico Scarano, Edgar Morscher und Thomas Schmidt in: Düwell/Hübenthal/Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, S. 25–60.

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alltäglichen Orientierung ist das zunächst und zumeist nicht der Fall. Und aller intentionalen Erkenntnis, allem Wahrnehmen und Denken, aller Interpretation und Beobachtung geht schon Orientierung voraus.

2 Das Bedürfnis nach plausiblen Positionen in der philosophischen Orientierung 2.1 Angesichts der sportlichen Konkurrenz in der Zuschreibung von Eigenheiten der Realität an das Wahrnehmen oder Wahrgenommene, das Denken oder das Gedachte, das Interpretieren oder das Interpretierte, das Beobachten oder das Beobachtete müssen die gegnerischen Lager, wenn sie ihre Claims abstecken, einander Terrains einräumen. Behauptet man als Realist, die Wahrnehmung und ihre Verarbeitung im Denken erfasse die Realität in ihren Eigenheiten, muss man zugestehen, dass darüber Streit entstehen kann; behauptet man als Anti-Realist, Wahrnehmung und Denken bzw. das, was als solches unterschieden wird, gebe nur aufgrund von deren eigenen Eigenheiten Realität wieder, muss man zugestehen, dass dies in der alltäglichen Erfahrung kaum eine Rolle spielt und in der Regel nicht bemerkt wird, dass die theoretische Einstellung von der natürlichen Einstellung laufend dementiert wird. 2.2 Die Entscheidung für Realismus oder Anti-Realismus ist so zuletzt eine Frage nicht mehr von Argumentationen, sondern von Plausibilitäten. ›Argument‹ kommt von ›arguere‹, ›klar, durchsichtig machen‹: Argumente sollen durchsichtig oder explizit machen, was zuvor undurchsichtig oder implizit war. ›Plausibel‹ kommt von ›plaudere‹, ›Beifall klatschen‹: plausibel ist jemandem das, dem er unmittelbar, ohne weitere Fragen und Begründungen, zustimmt. Plausibel sind nicht nur Argumente, aber alle Argumente müssen plausibel sein. Doch Argumente sind nicht an sich plausibel; dasselbe Argument kann den einen überzeugen, den andern nicht oder ihm ›passen‹ oder nicht. Es ›passt‹ ihm dann, wenn es ›zu‹ den Argumenten ›passt‹, die ihm schon plausibel sind; ›passen‹ die Argumente ›zusammen‹, hält er sie für ›sinnvoll‹. Ist einem andern ein Argument nicht plausibel, kann man es mit anderen Argumenten versuchen, die ihm eher plausibel sind, und so im ›Aufbau‹ von Argumentationen ein Argument durch andere ›stützen‹. Aber auch solche Argumentationen müssen irgendwo enden, und dort, wo sie enden, muss man sich mit bloßen Plausibilitäten begnügen. 3 Diese kann man dann wiederum ›teilen‹ oder nicht. So hat man es auch bei der Entscheidung zwischen gut mit Argumenten bewehrten philosophischen Positionen zuletzt mit einer Entscheidung zwischen Plausibilitäten zu tun. In einem Streit wie dem zwischen Realismus und Anti-Realismus muss man darum zu den Plausibilitäten zurückgehen. 3

Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 15f.

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2.3 Wenn aller Erkenntnis Orientierung vorausgeht, so geht alle Orientierung von Plausibilitäten, fraglosen ersten Annahmen, aus. (Schon um nach irgendetwas fragen zu können, muss man von etwas ausgehen, das zu gleicher Zeit nicht in Frage steht, und sei es nur die Sprache, in der man die Frage stellt und die man dabei nicht in Frage stellt.) Orientierung ist die Leistung, sich in einer neuen Situation zurechtzufinden, um erfolgversprechende Handlungsmöglichkeiten auszumachen, durch die sich die Situation bewältigen lässt. 4 Orientierung ist nicht erst das Ergebnis, die Orientierung, die man ›hat‹ und die dann mehr oder weniger ›fest‹ sein kann, sondern zunächst der Prozess, sie zu ›suchen‹ und zu ›finden‹. Orientierungsprozesse setzen immer dann ein, wenn neue Situationen erkundet, neue Gegebenheiten und Belange erschlossen werden müssen. Dabei kann es sich um neue Situationen ebenso im Umgang mit andern wie im umgebenden Gelände handeln, und zu neuen Situationen im Umgang mit andern gehören auch Gesprächs- und Argumentationssituationen. 2.4 In beiden Fällen beginnen Orientierungsprozesse nicht mit Intentionen; Ausrichtungen auf bestimmte Gegebenheiten und Belange werden erst möglich, wenn sich solche Gegebenheiten und Belange in der Situation schon gezeigt haben. In der Orientierung findet man immer auch, was man nicht gesucht hat. Orientierung darf sich vorab nicht völlig festlegen, sie muss, wenn sie sich nicht von vornherein neuen Anforderungen neuer Situationen verschließen will, offen bleiben für Irritationen und Überraschungen; dabei können dann auch gewohnte Plausibilitäten neuen weichen. 2.5 Dennoch können die Orientierungsprozesse nicht unbegrenzt weiterlaufen; die Anforderungen einer neuen Situation setzen unter Zeitdruck, sie zu bewältigen. So muss man sich vorläufig an etwas halten, das zunächst wiederum nur plausibel, unmittelbar zustimmungsfähig sein kann, unter den neuen Umständen aber ungewiss bleibt. Man muss sich schon in der alltäglichen Orientierung für die eine oder andere Plausibilität entscheiden und dies unter bleibender Ungewissheit. Man kann für seine Entscheidung dann nach Argumenten suchen; ob man das tut und wie weit man dabei geht, hängt jedoch wieder von dem Zeitdruck ab, unter dem man dabei steht. 2.6 Die philosophische Orientierung hat in der Regel mehr Zeit als die alltägliche. Sie kann ihren Frageprozess nahezu unbegrenzt fortsetzen. Um sie dem alltäglichen Zeitdruck zu entziehen, sind freilich besondere Bedingungen notwendig, sei es der Rückzug in die einsame Meditation oder die (organisatorisch und finanziell aufwändige) Institutionalisierung von Forschungs- und Lehrprozessen an Akademien und Universitäten. Aber auch die philosophische Meditation und die tägliche Arbeit in einer Institution haben ihre Zeit, und auch sie müssen von 4

Vgl. ebd., S. 1f.

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Fall zu Fall wenigstens zu vorläufigen Abschlüssen kommen. So muss man auch hier wenigstens vorläufig feste Positionen beziehen, die wenigstens vorläufig plausibel erscheinen. Dass auch Philosoph(inn)en Position beziehen, entspricht einem grundlegenden Orientierungsbedürfnis. Doch gerade sie werden nur so lange an einer Position festhalten, wie deren Plausibilität nicht erschüttert wird, sei es durch plausible Argumente, sei es durch Plausibilitäten anderer Art, etwa der, dass sich mit der Zeit die Fragen verändert haben. Sehen Philosoph(inn)en die Vorläufigkeit ihrer Positionen, werden sie sie sportlich einnehmen und offene Auseinandersetzungen mit anderen suchen, sehen sie sie nicht, werden sie sich feindselig auf sie versteifen und sie selbstgerecht verteidigen. In kantischen Termini ist die sportliche Variante die kritische und selbstkritische, die feindselige die dogmatische.

3 Die Realität der Orientierung I: Standpunkte, Horizonte und Perspektiven 3.1 Vor der philosophischen Alternative Realismus und Anti-Realismus ist die erste unleugbare Realität die Orientierung über diese Alternative. 3.2 Die erste Realität der Orientierung wiederum ist der Standpunkt, von dem aus man jeweils sich orientiert. 5 Der Standpunkt einer Orientierung ist im Sinn der Alternative von Realismus und Anti-Realismus weder real noch nicht-real: Er ist real und doch weder für die Wahrnehmung noch für das Denken gegeben. Er ist zunächst der körperliche Standpunkt, der Standpunkt des eigenen Körpers. Dieser ist der Bezugs- und Ausgangspunkt der Orientierung und damit auch aller Wahrnehmung und allen Denkens. Man kann ihn wohl bewegen, doch man bewegt sich dabei mit ihm mit, man kann ihn wechseln, bleibt dabei aber immer auf einem Standpunkt. Insofern ist der Standpunkt ein Absolutes der Orientierung. 6 Sofern sein jeweiliger Ort und seine Bewegungen aber kontingent sind und ihm andere Standpunkte gegenüberstehen, ist er ein (paradoxes) kontingentes Absolutes. 7 Der Standpunkt ist aber nicht einfach der Körper, auch nicht der jeweilige physikalische Schwerpunkt des Körpers (der sich im Sitzen und Liegen ändert) und auch nicht der Punkt, auf dem der Körper steht (oder sitzt oder liegt). Als Bezugs- und Ausgangspunkt aller sinnlich-körperlichen Wahrnehmung ist er vielmehr ihr ›blinder Fleck‹ und als solcher selbst nicht wahrzunehmen. Aber er ist 5 6 7

Vgl. ebd., S. 191–225. Dalferth, Wirklichkeit des Möglichen, S. 149, spricht von »absoluter Lokalisierung«. Hier könnte ›Relativismus‹ vermutet werden, und Relativismus wird in der Philosophie zumeist gefürchtet. Man fürchtet absolute Haltlosigkeit. Der Gegensatz zum Relativismus wäre jedoch der ›Absolutismus‹, der Absolutismus eines absolut Bewegungslosen. Die Orientierung hält sich dagegen ohne Furcht vor Haltlosigkeit an ihr bewegliches Absolutes und schafft sich von ihm aus ihren Halt, einen Halt, der seinerseits immer in Bewegung bleibt und bleiben muss (s.u.).

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auch wieder nicht der blinde Fleck der Augen; niemand wird seinen Standpunkt in seinen Augen sehen. 8 So ist der Standpunkt wohl an den Körper gebunden, hat jedoch weder in ihm noch außer ihm einen bestimmten Ort: Er ist nur eine imaginäre und bewegliche Mitte des Körpers. Auch in einem Meinungsstreit geht man von einem Standpunkt aus und kann Standpunkte einnehmen, z. B. ›persönliche‹, ›sachliche‹, ›politische‹, ›moralische‹. Sie sind nicht unmittelbar von körperlichen Standpunkten abhängig, jedoch von Lebensgeschichten, in denen man zu ihnen gekommen ist und die ihrerseits mit Körpern verbunden sind. Auch das Denken hat einen Standpunkt, von dem aus es denkt und den es auch für das Denken seiner selbst schon voraussetzen muss. So ist er auch für das Denken nicht gegeben. Als Kant deutlich wurde, dass ein Standpunkt ein weder sinnlich noch intellektuell Gegebenes und doch Bedingung aller Orientierung ist, begann er eine erste Philosophie der Orientierung zu entwickeln. 9 Auslöser war die Unterscheidung von rechts und links. Rechts und links sind vom jeweiligen Standpunkt aus anders »gegeben«, 10 lassen sich aber weder wahrnehmen noch begrifflich erfassen (»dari, non intelligi«) 11 – man kann nach rechts sehen, sieht rechts selbst dort aber nicht. Mit Hans Blumenberg bleibt der Standpunkt eine absolute Metapher, die nicht »nicht in Begrifflichkeit aufgelöst« und nur durch eine andere Metapher »ersetzt bzw. vertreten oder durch eine genauere korrigiert werden« kann. 12

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Vgl. Wittgenstein, Tractatus, 5.633–5.634. Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 78–96. Manifest wurde Kants schon mit seiner frühen Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (1768) einsetzende Philosophie der Orientierung in seiner berühmten Abhandlung Was heißt: Sich im Denken orientiren? von 1786. Den Begriff des Sich-Orientierens nahm er von Moses Mendelssohn auf. In Aristoteles’ Kosmologie, nach der jeder Körper seinen ihm zugehörigen Ort im Kosmos hat, sind diese Unterschiede (noch) nicht auf einen Standpunkt bezogen (pros haemas kai thesei), sondern im Ganzen selbst unterschieden (en auto to holo dihoristai, Physik III 5, 205 b 31–34). Nach Hans Wagner (Aristoteles, Physikvorlesung, S. 519) bezieht sich ›thesei‹ auf »die Lagerelation zwischen Gefügegliedern«. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA IV, S. 484. Nach Kants früher Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume ist der körperliche Standpunkt »der erste Grund […], den Begriff der Gegenden im Raume zu erzeugen« (AA II, S. 378f.). Als körperlicher unterscheidet er sich vom transzendenten »Standpunkt«, »aus dem« der Vernunft »notwendig schwindlicht wird, weil sie sich […] von allem mit der Erfahrung stimmigen Gebrauch gänzlich abgeschnitten sieht« (Kritik der reinen Vernunft, A 689/B 717). Kant gebraucht den Begriff »Standpunkt« häufig, bes. in der Kritik der reinen Vernunft, in der Regel aber im übertragenen Sinn des Standpunkts einer Beurteilung. Der ›bodenständige‹ Sinn ist noch spürbar in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 425: »Hier sehen wir nun die Philosophie in der That auf einen mißlichen Standpunkt gestellt, der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel, noch auf der Erde an etwas gehängt oder woran gestützt wird.« und in Opus postumum, AA XXI, S. 348: »Vom Schwindeln aus einem hohen Standpunct u. der Seekrankheit«. Blumenberg, Paradigmen, S. 12f.

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3.3 Von Standpunkten aus tun sich Horizonte auf, die die Orientierung (paradoxerweise) zugleich begrenzen. 13 Man nimmt in der Orientierung alles ›vor‹ einem Horizont wahr und versteht alles ›in‹ einem Horizont, doch auch einen Horizont sieht man nicht und kann ihn nur schwer denken. Wie der Standpunkt ist auch der Horizont eine Realität eigener Art, der der Wahrnehmung und dem Denken aller weiteren Realität vorausgeht. Man sieht immer nur ›bis‹ zu einem Horizont, der immer fern ist. Nähert man sich ihm, weicht er zurück; man kann ihn wie seinen Standpunkt nicht überschreiten, aber verschieben. Am Horizont endet die Orientierung, aber nimmt man den Standpunkt eines Horizontes ein, tun sich dort wieder neue Horizonte auf. Blickt man auf den Horizont, macht man ihn zum Gegenstand der Erkenntnis, ist er schon nicht mehr der Horizont; man sieht oder denkt das, was man dann sieht oder denkt, bereits wieder vor oder in einem anderen Horizont (so thematisierte Heidegger die Zeit, in deren Horizont er das ›Sein‹ zu verstehen suchte, im Horizont des menschlichen ›Daseins‹). ›Horizont‹ ist die absolute Metapher für die weder sichtbare noch unsichtbare Grenze des Wahrnehmens, Denkens und Verstehens. 3.4 Auch Horizonte sind beweglich. Man kann sie von einem Standpunkt aus erweitern und verengen und kann sie mit dem Standpunkt verschieben. Das Wahrnehmungsfeld zwischen einem Standpunkt und einem Horizont ist eine Perspektive. Perspektiven kann man verschieben und wechseln und gewinnt dadurch Alternativen im Wahrnehmen, Denken und Verstehen der Realität. In der Orientierung kann man alle Realität immer auch anders sehen und verstehen und auf diese Weise Arten von Realität differenzieren. Und doch kann man eine Perspektive immer nur von einer andern aus einnehmen: So entsteht Kontinuität auch im Wechsel von Perspektiven, ohne dass etwas Bestimmtes immer als dasselbe bleiben müsste, also ohne ein Apriori, wie es die europäische philosophische Tradition lange gesucht hat. Seit der frühen Neuzeit wurde für die Malerei eine Perspektivkunst entwickelt, 14 die Modell auch für die Erschließung der Techniken des natürlichen Sehens wurde. Neben der Körperperspektive, der Figurendarstellung in Verkürzungen und Schrägansichten, und der Raumperspektive in der Prospektmalerei, die man schon in der griechischen und römischen Antike kannte, unterschied die Perspektivkunst die Bedeutungsperspektive, die Vergrößerung des Bedeutenderen und die Verkleinerung des weniger Bedeutenden, die in der religiösen bildenden Kunst des Mittelalters vorherrschten, die Zentralperspektive, die in der italienischen Frührenaissance zum Durchbruch kam, die Farbperspektive, die Nutzung von Farb- und Lichtabstufungen zur Erzeugung des Eindrucks von Tiefe und Weite, für die die französische, burgundisch-niederländische und venezianische Malerei prägend wurde, und schließlich die Verschleierungsperspektive, die 13 14

Vgl. Elm (Hrsg.), Horizonte, und darin Stegmaier, Orientierung zum Handeln, S. 251–266. Vgl. König/Kambartel, Perspektive.

Diesseits von Realismus und Anti-Realismus

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durch Unschärfen in den Konturen (mezzo confuso) den Figuren Atmosphäre gibt, worin vor allem Leonardo und Tizian führend waren.

4 Die Realität der Orientierung II: Anhaltspunkte und ihre Passungen 4.1 In Perspektiven wird Realität anhand von Anhaltspunkten erschlossen. 15 Bei einem Gang über eine weite vorpommersche Ebene bieten sich als Anhaltspunkte einsam stehende Eichen, Weiden einschließende Zäune, vielleicht ein weiterführender Weg, in der Ferne eine Kirchturmspitze an, bei einem Segeltörn auf der Ostsee die Küstenlinie, Tonnen und Leuchttürme, Anlegemöglichkeiten, aber auch Vorschriften für die Seefahrt, das Können der Mannschaft und die aktuellen Windverhältnisse, bei Gesprächen während des Spaziergangs oder des Segeltörns die sich ergebenden Themen und Beiträge, die Ausführlichkeit ihrer Behandlung, die Beteiligung der Anwesenden, der Ton, in dem gesprochen wird, die Stimmung, die aufkommt, das Vertrauen, das entsteht usw. Anhaltspunkte der Orientierung können ganz verschiedener Art und von unterschiedlichem Belang sein. Sie tauchen auf und verschwinden, verdichten einander oder ziehen voneinander ab. Man behält sie im Auge, im Ohr oder im Gedächtnis, wenn und solange sie von Belang sind, und geht dann zu andern über, und mit ihnen verändert sich unablässig die Situation. Sie haben kein Ende außer im Tod und setzen auch nicht schon ein Ziel voraus – für einen Spaziergang oder einen Segeltörn und ein Gespräch braucht man kein Ziel, nur Zeit. Auch Ziele müssen sich in Anhaltspunkte der Situation einfügen oder ergeben sich oft erst aus ihnen. Hat man ein Ziel und hat man es erreicht, ist am Ziel wieder eine neue Orientierung notwendig, für die sich wieder neue Anhaltspunkte auftun. 4.2 Das Wort ›Orientierung‹ gibt es heute in fast allen europäischen Sprachen; das deutsche Vokabular der Orientierung hat ein Schwergewicht im Wortfeld des Halts. Die Sprache des Halts verweist darauf, dass man in der Orientierung von einer unablässigen Bewegung ausgeht, in der man Halt in doppeltem Sinn sucht: Stopp und Stütze, jedoch nicht Stillstand. Der Anhaltspunkt, engl. ›clue‹ (›grober Hinweis‹), frz. ›indice‹ (›Anzeichen‹), ital. ›punto d’appoggio‹ (›Stützpunkt‹), ist ein ›Punkt‹, an dem die Orientierung in ihrer Bewegung (a) ›anhält‹, mit dem sie (b) ›sich aufhält‹ und den sie (c) ›festhält‹, jedoch nur so, dass sie ihn ›im Auge behält‹. Sie ›hält sich‹ (d) zu ihm ›auf Distanz‹, ›hält sich zurück‹ (e), ihn sogleich (f) ›für‹ haltbar ›zu halten‹. Sie setzt sich statt dessen zu ihm (g) in ein ›Verhältnis‹, in dem sie ihn ›gegen‹ weitere Anhaltspunkte ›halten‹ und so über seine ›Haltbarkeit‹

15

Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 226–267.

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entscheiden kann. Anhaltspunkte der Orientierung bleiben (h) ›unter Vorbehalt‹, sind nur vorläufige Anhaltspunkte, Anhaltspunkte bis auf weiteres. 4.3 Anhaltspunkte, an die sich die Orientierung vorläufig halten kann, richten sie aus. In ihnen sind die Gegebenheiten der Situation zu imaginären und beweglichen ›Punkten‹ abgekürzt. Diese Abkürzung schafft eine erste Übersicht über die Situation. Auch Abstraktionen in Begriffen schaffen Übersicht, auch sie sind Abkürzungen der Orientierung. Sie ziehen von der Fülle des in der Situation Gegebenen Merkmale ab, um sie losgelöst von der jeweiligen Situation zu bleibenden Begriffen zu verknüpfen. Abkürzungen der Situation in markante Punkte ziehen die Fülle dagegen zusammen, um zunächst über die jeweilige Situation zu orientieren. Man kann sie darum Kontraktionen nennen. Abstrakte Begriffe können immer nur durch abstrakte Begriffe, Anhaltspunkte immer nur durch Anhaltspunkte verkürzt und erweitert werden, aber Abstraktionen und Kontraktionen greifen in der Orientierung zumeist ineinander: Auch die Bildung von Begriffen setzt bei Anhaltspunkten des Gegebenen an, und einmal gebildete Begriffe geben der Orientierung ihrerseits wieder Anhaltspunkte vor. 4.4 Anhaltspunkte fallen mehr oder weniger auf und sind unterschiedlich attraktiv. Sie lassen, als bloße Anhaltspunkte, immer Alternativen für andere Anhaltspunkte. So muss man entscheiden, an welche Anhaltspunkte man sich jeweils halten will, und trifft, meist stillschweigend, solche Entscheidungen schon, bevor man die Situation hinreichend kennt, also auch hier schon unter Zeitdruck und unter Ungewissheit. Die Orientierung tastet sich voran, indem sie die Gegebenheiten der Situation abtastet. Kriterium der Selektion von Anhaltspunkten ist zum einen, was jeweils von Belang ist, 16 und zum andern, ob sich von ihnen aus weitere Anhaltspunkte ergeben. Ketten von Anhaltspunkten schaffen auch hier Kontinuität. Was regelmäßig von Belang ist, geht in eine unwillkürliche affektive Bewertung der Anhaltspunkte ein: Reflexe und einverleibte Affektreaktionen nehmen der Orientierung Selektionen unter Anhaltspunkten ab und kürzen sie damit weiter ab, schränken aber auch ihre künftigen Alternativen ein (wer Abscheu vor etwas gelernt hat, nähert sich ihm überhaupt nicht mehr). 4.5 Einzelne Anhaltspunkte reichen zu einer haltbaren Orientierung in der Regel nicht aus. Ein hinreichender Anhalt ergibt sich erst dann, wenn mehrere Anhaltspunkte zueinander passen. Er hängt davon ab, wie sich Anhaltspunkte in einer Situation zueinander ›verhalten‹, ob sie einander stützen, einander Halt geben. Je unabhängiger Anhaltspunkte voneinander sind, desto unwahrscheinlicher, darum aber auch aussagekräftiger ist ihre Passung. Passungen sind (als bloße Passungen) 16

Manfred Sommer spricht von »Relevanzprüfung« in Suchen und Finden, S. 375: »Mindestens das wird mir ständig abverlangt: Auffassung (›Kommt da ein Zeichen?‹), Relevanzprüfung (›Geht’s mich was an?‹) und Interpretation (›Was bedeutet es für mich?‹).«

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kontingent, aber evident. Dass etwas zueinander passt, hat in der Orientierung kein Kriterium außer dem, dass es eben passt. Sobald aber etwas passt, wird es selbst zum Kriterium, zum Kriterium der Selektion alles Weiteren. Was nicht zu Anhaltspunkten passt, die untereinander gut zusammenpassen, lässt man ›passieren‹ und ›passt‹ statt dessen auf diejenigen ›auf‹ und diejenigen ›ab‹, die zu den schon passenden ebenfalls passen. So strukturiert sich aus kontingenten Anfängen ohne weitere Vorgaben eine immer besser passende Realität. 4.6 Passung ist auch schon Sinn. Wie oft beschrieben, geht Sinn nach langem Tasten und Suchen ›plötzlich‹ auf, leuchtet er ›auf einmal‹ ein, wird er ›schlagartig‹ klar – er ›springt ins Auge‹, wenn in einer Perspektive zu vielen attraktiven Anhaltspunkten ohne rechten Zusammenhang ein weiterer tritt und sie sich plötzlich wie Stücke eines Puzzles zusammenfügen. In Kriminalromanen und -filmen werden solche Sinnerfahrungen spannungsvoll inszeniert. Ist auf diese Weise Sinn in einer Situation entstanden oder hat die Situation Sinn bekommen, kann man mit ihr ›etwas anfangen‹, d. h. anfangen zu handeln. 4.7 Längerfristig haltbare Verhältnisse entstehen, wenn sich zueinander passende Anhaltspunkte zu Mustern und Schemata ordnen, die man schon bekannten zuordnen kann. (Die Strukturen, in denen die Orientierung Halt in einer Situation gewinnt, zeigen deutliche Entsprechungen zu denen, die in letzter Zeit die Hirnforschung in der Arbeit des Gehirns bei der Orientierung herausgefunden hat.) Muster ermöglichen Wiedererkennen und, über die Abstraktion zu Schemata, erst die Bildung von situationsübergreifenden Begriffen. Muster können wieder zu Mustern passen und lassen sich dann wieder zu Mustern von Mustern abkürzen. So kann die Orientierung unterschiedliche Weisen und Grade der Abkürzung vorhalten und zwischen ihnen wechseln und sie kombinieren, und an jeder Stelle können wieder begriffliche Abkürzungen, Abstraktionen, ansetzen. Die Orientierung hält sich jeweils an die Weise und den Grad der Abkürzung als Realität, die für sie in der gegebenen Situation von Belang ist. Die Realität eines Ostseestrands lässt sich bis in die Realität seiner Sandkörner und deren Realität bis in die Realität ihrer molekularen Strukturen hinein ausbreiten und umgekehrt zu einem bloßen Küstenabschnitt abkürzen.

5 Die Realität der Orientierung III: Zeichen und ihre Spielräume 5.1 Zeichen sind eigens auffällig gemachte Anhaltspunkte. 17 An sie kann sich die Orientierung besonders leicht halten; darum sind sie für sie besonders attraktiv. Zeichen fungieren als Anhaltspunkte für etwas, das sich nicht ohne Weiteres von 17

Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 269–290. Vgl. auch Abel, Zeichen, S. 21.

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selbst zeigt, sie machen auffällig, was nicht von selbst auffällt, sie ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, um auf anderes aufmerksam zu machen. Sie können schon von sich aus markant sein (wie z. B. ein heller Ton, eine starke Farbe oder eine scharfe Kontur), erst eigens markiert oder neu geschaffen werden; die Übergänge sind fließend. Als eigens geschaffene sind sie willkürlich, arbiträr im Verhältnis zum Bezeichneten. Wie der Strukturalismus herausgearbeitet hat, bekommen sie ihren Sinn dann nicht mehr vom Bezeichneten, sondern durch ihre Unterscheidung von anderen Zeichen oder ihre Stelle in einem Zeichensystem – mit der Arbitrarität der Zeichen wird das Zeichensystem selbstständig, autonom gegenüber den Situationen, in denen es verwendet wird. Mit Hilfe arbiträrer Zeichensysteme löst sich die Orientierung weitgehend von der Situation und verschafft sich dadurch neue Spielräume in ihr. Orientierung ist denn auch weitgehend eine Orientierung in Zeichen. 18 5.2 Als besonders auffällige Anhaltspunkte ›prägen sich‹ Zeichen ›ein‹; sie sind Elemente des ›Gedächtnisses‹ (oder der Gedächtnisse) der Orientierung. Das Gedächtnis ›bewahrt‹ sie über wechselnde Situationen hinweg. Wie in der Situation Anhaltspunkte auf Anhaltspunkte, so verweisen im Gedächtnis Zeichen auf Zeichen. Sie bilden Verweisungszusammenhänge, die sich, soweit sie ›behalten‹ werden, zurückverfolgen lassen. So kann über Zeichen Vergangenes wieder erschlossen und durch sie ›festgehalten‹ werden. Auch Zeichen lassen sich wieder in Zeichen abkürzen (die unübersehbaren Zeichen eines Buches z. B. in übersichtliche Titel und Zwischentitel). So kann man eigene Zeichenwelten schaffen und vorhalten, und damit gewinnt die Orientierung Zukunft. Sie kann anhand von Zeichen Zwecke setzen und Pläne entwerfen und dadurch sich selbst steuern. 5.3 Zeichen sind als markante Anhaltspunkte der Orientierung selbst real. Doch sofern sie auf anderes verweisen, geben sie dessen Realität nur vor, und es muss sich dann zeigen, ob es das, worauf sie verweisen, auch gibt (z. B. die Seele, aber auch das Bewusstsein). Die Orientierung geht darum auch mit Zeichen umsichtig und vorsichtig um; wer Zeichen wahrnimmt, muss wiederum unterscheiden und entscheiden, welche in seiner Situation für ihn von welchem Belang sind und was er ›mit ihnen anfangen‹ kann. Dass Zeichen in ihrem Verhältnis zum Bezeichneten arbiträr sind, hat ihnen das Misstrauen der metaphysischen Tradition der europäischen Philosophie eingebracht. Zeichen sind danach ›nur‹ Zeichen, die ›für etwas stehen‹, das auch ohne sie besteht und anders als sie seinen Halt in sich hat – ein Tisch bleibe ein Tisch, auch wenn er ›table‹ genannt werde. Und doch kann dieser Tisch von den Zeichen ›Tisch‹ und ›table‹ wieder nur durch Zeichen und dann meist nur durch schwerer verständliche Zeichen (›Möbelstück aus einer horizontalen, von einem Untergestell getragenen Platte‹) unterschieden werden,

18

Vgl. Simon (Hrsg.), Orientierung in Zeichen.

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und auch die Rede von ›Dingen‹ oder ›Sachen‹ im Unterschied von ihren ›Zeichen‹ ist eine Rede in Zeichen. Die Arbitrarität der Zeichen fällt in der Orientierung jedoch zumeist nicht auf; sie wird durch Anhaltspunkte der Situation unschädlich gemacht. Wenn Zweifel aufkommen, worauf ein Zeichen verweist, zeigt man, wo das möglich ist, mit dem Finger (auch einem Zeichen) auf etwas, wofür es gebraucht wird und wofür nicht (›hier, das ist ein Tisch und auch das, aber das dort nicht‹), und grenzt so die Spielräume des jeweiligen Zeichengebrauchs ab. In komplexeren Fällen (z. B. um deutlich zu machen, was Gerechtigkeit ist, auf die man nicht zeigen kann) sind entsprechend komplexe Vermittlungen notwendig, für die man wiederum komplexer Zeichensysteme bedarf. Aber auch und gerade hier zitiert man für das Verständnis von Zeichen möglichst markante Anhaltspunkte (für das Zeichen ›Gerechtigkeit‹ z. B. die Urteile König Salomos oder die Gesetzgebung Solons). 5.4 An den Zeichen hat die Orientierung eine erste stehenbleibende Realität. Stehen bleiben können vor allem Schriftzeichen. Schriftzeichen entlasten wiederum das Gedächtnis. Man muss sie nicht alle selbst behalten, sondern kann auch nur behalten, wo sie ›stehen‹ und dann dort wieder ›nachsehen‹, kann wiederum mit dem Finger auf sie zeigen und auf ihnen ›bestehen‹ (›aber hier steht es doch‹). Sie sind räumlich geordnet und stehen dadurch gleichzeitig zu Gebote, so dass man unter ihnen ›vor- und zurückgehen‹, Passagen ›übergehen‹ oder ihrem Sinn ›näher nachgehen‹ kann. So geben sie eine neue orientierende Übersicht und ermöglichen neue Passungen: In Schriften kann man auch weit ›Auseinanderstehendes‹ ›zusammensehen‹. Das macht sie für die Orientierung noch attraktiver. 5.5 Ist der Gebrauch der Zeichen einmal gelernt, werden sie wie andere Anhaltspunkte zumeist unmittelbar verstanden. 19 Man gebraucht sie dann routiniert, und sie fallen nicht mehr als Zeichen auf. Nur Zeichen, die nicht oder nicht hinreichend verstanden, die überraschend neu gebraucht oder neu eingeführt werden, fallen in der Orientierung als Zeichen auf. In der alltäglichen Orientierung sucht man dann zumeist ohne sie auszukommen oder ihre Bedeutung aus dem Kontext zu erschließen (z. B., ob ›Hei‹ einen Gruß oder eine Aufforderung bedeutet). Nur in besonders bedeutsamen Fällen tut man, was Philosophen routinemäßig tun: fragt nach ihrer Bedeutung. Auch dann muss man zum einen schon verstanden haben, dass es sich um Zeichen handelt, mit denen etwas gesagt werden soll (und nicht z. B. um ein ›äh‹, mit dem ein Sprecher sich nur Zeit verschafft, um zu klären, was er sagen will), und zum andern zugleich andere Zeichen gebrauchen können, in denen man die Frage stellt (was in einem fremden Land mit einer fremden Sprache oder auf einem neuen Wissensgebiet oft ebenfalls schwerfällt). Und auch dann kann die Antwort wieder nur in Zeichen bestehen, nun in Zeichen, von denen

19

Vgl. Simon, Philosophie des Zeichens, bes. S. 39.

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der andere hofft, dass man sie besser versteht. Auch Fragen nach der Bedeutung von Zeichen bleiben im Kontext der Zeichen. 5.6 Aber auch Zeichen können mit der Zeit, über die hinweg sie stehenbleiben, anders verstanden werden, ihren Sinn verschieben. 20 Sie müssen ihren Sinn auch verschieben können, wenn sie zur Orientierung brauchbar sein sollen. Denn soweit sie eigens erlernt werden müssen, können sie nur in einer begrenzten Anzahl gelernt und müssen doch in unbegrenzt vielen Situationen gebraucht werden. So muss ihr Gebrauch Spielräume für immer andere Situationen lassen, in denen sich ihr Sinn dann mit der Zeit verschieben kann. 21 Doch auch diese Spielräume sind wiederum begrenzt und müssen es sein. Der Gebrauch von Zeichen kann immer nur so weit verschoben werden, wie sie in der jeweiligen Situation noch verstanden werden oder verständlich gemacht werden können; würden Zeichen beliebig gebraucht, ihr Sinn beliebig verändert, würden sie zur Orientierung unbrauchbar. 22 Zeichen müssen nicht über alle Situationen und alle Zeit hinweg eine Bedeutung haben, wohl aber in der jeweiligen Situation hinreichend eindeutig sein. 5.7 Eindeutig werden sie durch die Situation selbst. Um, wenn nötig, den Sinn eines Zeichens zu verdeutlichen, seinen Sinnspielraum einzuschränken, ergänzt man in der jeweiligen Situation weitere dazu geeignete Zeichen. Sagt man: ›Wir treffen uns morgen früh am Bahnhof!‹, wird das dem andern ausreichen, wenn beide häufig mit der Bahn fahren und es sich um eine kleine Bahnstation handelt, aus der am Morgen nur ein Zug abgeht; bei einer größeren wird man etwas hinzufügen müssen wie ›um 9.30 h auf dem Bahnsteig 3‹, und wenn auch das nicht ausreicht, ›beim Wagen 10, wo wir Plätze reserviert haben‹. Man ergänzt jeweils nur so viele Zeichen, wie notwendig sind, und notwendig sind sie immer dann, wenn die gebrauchten Zeichen für die Orientierung in der jeweiligen Situation noch zu große Spielräume lassen. Wie groß die Spielräume sein dürfen, hängt wiederum von der Situation ab. So hat das Wort ›Platte‹ so weite Spielräume, dass man zunächst nicht wissen kann, was gemeint ist: eine Platte, die man in den Boden verlegt, eine Platte, in der man wohnen kann (also ein in der DDR in Plattenbauweise errichteter ›Neubau‹), eine geomorphologische Landoberfläche (›Mecklenburger Seenplatte‹) oder eine Platte auf dem Kopf (also eine Glatze). In Wittgensteins berühmtem ›Sprachspiel‹ zweier Plattenleger genügt in ihrem eingespielten Arbeitsablauf das bloße Wort ›Platte‹, damit der eine dem andern genau 20 21

22

Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 279f. Das Argument findet sich schon bei Lambert, Neues Organon, Band II, 212 (§ 349): Weil »die Sprache lange nicht genug Wörter für jede Begriffe und ihre Modificationen hat, [ist] man gleichsam genöthigt […], die Wörter der Sprache stuffenweise metaphorisch zu machen, bis sie bald vieldeutig werden«. Vgl. dazu Simon, Johann Heinrich Lambert. Vgl. Bichsel, Ein Tisch.

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dann eine neue Platte zureicht, wenn dieser mit der Vorbereitung des Grundes für das Auflegen der Platte fertig ist. 23 Hier ist kein Sinnspielraum mehr – solange nur ein Typ von Platte verlegt wird. Stünden weitere Plattentypen zur Wahl, müssten schon weitere Zeichen gebraucht werden (›große Platte‹, ›kleine Platte‹). Soweit man in der Situation selbst die Sinnspielräume der Zeichen durch weitere Zeichen einschränkt und ihnen dadurch hinreichende Eindeutigkeit verschafft, kommt man in der alltäglichen Orientierung ohne allgemeine, situationsübergreifende Definitionen ihrer Zeichen aus. Und auch Definitionen sind lediglich Ergänzungen von Zeichen durch weitere Zeichen, mit dem Anspruch jedoch, dass dabei alle gebrauchten Zeichen allgemein und immer gleich verstanden werden.

6 Ursprünglichkeit, Zeitlichkeit und Begrenztheit der Orientierung 6.1 Sofern die Realität der Orientierung allem definitiven Feststellen von Realitäten vorausgeht, ist sie ein Ursprung oder Anfang, eine archáe oder ein Prinzip, wie sie die Philosophie seit ihren Ursprüngen oder Anfängen gesucht hat. 24 Sie ist eine archáe, die, eben weil sie allem definitiven Feststellen vorausliegt, seinerseits nicht definitiv festzustellen ist. Wie jede archáe ist sie nicht mehr von anderem her zu begreifen. Denn auch der Frage nach einem Ursprung der Orientierung geht ja schon eine Orientierung voraus. So ist die Orientierung nur aus sich selbst, nur selbstbezüglich zu begreifen. 6.2 Dass jeder Orientierung eine Orientierung vorausgeht (und eine andere folgt), heißt zugleich, dass die Orientierung in sich zeitlich ist. Sofern Orientierung mit immer neuen Umständen, immer anderen Situationen, also unablässiger Veränderung zu tun hat, hat sie es mit der Zeit zu tun, ist es ihre Funktion, mit der Zeit zurechtzukommen. Dazu muss sie Zeit überhaupt und zugleich sich von der Zeit unterscheiden können; sie ist in sich zeitlich, sofern beide Unterscheidungen ihre Unterscheidungen sind. Als in sich zeitliche kann sie sich auf die Zeit einlassen und sich ihr zugleich entziehen. Dabei vollzieht sich auch jede Feststellung der Zeit in der Zeit: Sie braucht Zeit und hat ihre Zeit. Was in der philosophischen Tradition von der Wahrnehmung galt, gilt auch für das Denken: Im Ausgang von der Orientierung ist auch alles Denken ein Denken in der Zeit und auf Zeit. Dennoch lässt die Zeitlichkeit der Orientierung es zu, Feststellungen auch als zeitlose zu denken und Metaphysik zu treiben – soweit sie es nötig hat.

23 24

Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 19f. Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 5–9 u. S. 151–156.

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6.3 Das auf Zeit Gegebene, mit dem die Orientierung es zu tun hat, ist die Situation. Man muss sich wiederum in der Situation über die Situation orientieren. So hat die Orientierung nicht nur keinen Anfang, sondern auch kein Ende, sie überholt sich unablässig selbst. Selbst wenn die Situation sich nicht von sich aus ändert, wird sie durch die Orientierung verändert: Eine Situation, über die man sich orientiert hat, ist schon eine andere Situation, die neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet und dafür wieder neuer Orientierung bedarf. Orientierung ist immer Umorientierung. 6.4 Die Situation ist das unmittelbar gegebene Reale. Ihre unbegrenzt vielen Gegebenheiten sind in begrenzter Zeit nicht zu erschließen, weder für die Wahrnehmung noch für das Denken. Das unmittelbar gegebene Reale ist nur unter den Einschränkungen und Abkürzungen der Orientierung zu erfassen, den Einschränkungen auf Perspektiven zwischen Standpunkten und Horizonten und den Abkürzungen in Anhaltspunkten und Zeichen. Realität zeigt sich nur unter den Bedingungen der Orientierung. In ihr sind Gegebenheiten Gelegenheiten zum Handeln.

7 Fluchtpunkte der Orientierung: Das Wahre, Schöne, Heilige und Gute 7.1 Auch Wahres, Schönes, Heiliges und Gutes kann sich nur in der Orientierung zeigen. Seine Funktion geht ebenfalls aus der Orientierung selbst hervor: sie auszurichten. Das Wahre, Schöne, Heilige und Gute sind Anhaltspunkte besonderer Art: Fluchtpunkte der Orientierung. Das Wort ›Fluchtpunkt‹ kommt von ›fliegen‹, ein Fluchtpunkt ist ein Punkt, auf den eine in ›Fluchtlinie‹ fliegende Vogelschar zuzufliegen scheint. Er ist nicht vorgegeben, er zeichnet sich lediglich durch die Fluchtlinie selber ab. So ist auch in der Perspektivkunst der Fluchtpunkt der Punkt, auf den die perspektivischen Linien eines Bildes zulaufen, ohne dass er selbst markiert sein muss, der Punkt, von dem aus eine sinnvolle Passung der Linien sichtbar wird, ohne dass er selbst sichtbar sein muss. So kann sich die Orientierung selbst ihre Fluchtpunkte vorhalten. Scheinbar fiktiv, haben sie darin ihre Realität, dass sie die Orientierung durch ihre Ausrichtung veranlassen, sich selbst zu strukturieren. Sie verhelfen der Orientierung dazu, mit der Zeit und auf Zeit haltbare Strukturen der Wissenschaft, Kunst, Religion und Moral hervorzubringen. In solchen Strukturen profilieren sich jeweils Grundzüge der Orientierung. 25 7.2 Durch Wissenschaft, Kunst, Religion und Moral gewinnt die Orientierung kritische Distanz zu sich selbst. Sie beruhen, wie auch Erziehung, Ökonomie, Massenmedien, Politik und Recht, auf dem Gebrauch von Zeichen und Sprache, lassen jedoch deutlich größere Spielräume als sie. Während man sich Erziehung, Ökono25

Vgl. ebd., S. 506–626.

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mie, Massenmedien, Politik und Recht kaum entziehen kann, bleibt man sehr viel freier, sich Wissenschaft, Kunst, Religion und Moral zuzuwenden. 7.3 Auch Wissenschaft, Kunst, Religion und Moral können sich nur unter den jeweiligen ökonomischen, politischen und rechtlichen Umständen verbreiten und vollziehen, haben aber die Chance der Universalität. Was tatsächlich universalisiert wird, hängt jedoch wiederum von den jeweiligen Orientierungsbedürfnissen und -entscheidungen ab. Nicht jede Kultur muss in gleicher Weise Wissenschaft, Kunst, Religion und Moral entwickeln, und auch in der europäischen Kultur kann man sich in der Wissenschaft für und gegen bestimmte wissenschaftliche Fragen und Methoden, in der Kunst für und gegen bestimmte künstlerische Gegenstände und Stile, in der Religion für und gegen bestimmte Inhalte, Liturgien und Konfessionen, in der Moral für und gegen bestimmte Werte und Normen entscheiden.

8 Die Realität des Wahren in der Orientierung 8.1 In der Wissenschaft wird die kritische Distanzierung von den alltäglichen Bedürfnissen der Orientierung durch Disziplinierung des Zeichengebrauchs möglich, durch seine gezielte Einschränkung und Festlegung mit Hilfe von Regeln und Definitionen, an denen man auch in wechselnden Situationen konsequent festhält. Die Disziplinierung erlaubt kontrollierte und zeitfeste Abstraktionen und eine schrittweise Aufstufung von Abstraktionsebenen mit entsprechend weitreichenden Übersichten. Sie stellt dadurch Kriterien zur Analyse der alltäglichen Orientierung und Techniken zur Steigerung ihrer Effizienz bereit, sie macht sie durchsichtig. Zugleich aber werden die Gegenstände scharf seligiert: Gegenstand einer Wissenschaft kann etwas nur in dem Maß werden, wie es nach ihren Maßstäben durchsichtig zu machen ist. Dadurch wird die reale Orientierung, die immer wechselnden Situationen unterworfen ist und darum ihre Passungen laufend verschiebt, stark beschränkt. 8.2 In der alltäglichen Orientierung kann Unterschiedliches nach unterschiedlichen Maßstäben wahr sein: Zeitungsmitteilungen anders als Zeugenaussagen, Liebesgeständnisse anders als Beichten, Geschichten anders als wissenschaftliche Ergebnisse. Die wissenschaftliche Wahrheit ist eine unter anderen und nicht Maßstab der übrigen. Innerhalb der Wissenschaft können wiederum in unterschiedlichen Disziplinen unterschiedliche Maßstäbe der Wahrheit gelten. Disziplinen sind ursprünglich methodische Disziplinen, angestrengt einzuübende und streng einzuhaltende Regelwerke eines spezifischen Zeichengebrauchs. 26 Sie schaf26

Kant verstand »unter dem Namen einer Disciplin […] gleichsam ein System der Vorsicht und Selbstprüfung«, das »von Ausschweifung und Irrtum abhalte« und »Täuschungen und Blendwerke« ausschließe (Kritik der reinen Vernunft, A 711/B 739).

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fen kontrollierbare, für jedermann gleich nachvollziehbare und damit verlässliche Orientierungen. Der disziplinierteste und verlässlichste Zeichengebrauch ist der ›logische‹, der vorab festgelegten Regeln einer Logik folgt, 27 und der logisch disziplinierteste ist wiederum der der Mathematik. Er ist uneingeschränkt durchsichtig. Denn bei mathematischen Zeichen handelt es sich um künstliche, nach eigenen Regeln eingeführte und gebrauchte Zeichen. Weil sie von sich aus auf nichts außer sich verweisen, ist ihr Gebrauch von Orientierungssituationen unabhängig, und so kann sich auch ihr Sinn nicht verschieben. Der so zuverlässige mathematische Zeichengebrauch gibt dann aber auch erst Orientierung, wenn die Zeichen wieder auf etwas verweisen – wie in den mathematischen Naturwissenschaften. Dann sind sie aber auch wieder auf Situationen der Natur bezogen (deren Parameter in Experimenten wieder spezifisch eingeschränkt werden können), und dann muss auch wieder entschieden werden, was unter sie fallen und wie sie dabei interpretiert werden sollen. So kehren die Deutungsspielräume der Zeichen zurück. Die Geistes- oder Kulturwissenschaften berücksichtigen diese Deutungsspielräume von Anfang an. Sie sind darum nicht weniger, sondern auf andere Weise genau und ebenso auf Wahrheit ausgerichtet. 28 8.3 Statt als Übereinstimmung von Aussagen mit Sachverhalten (die man nur feststellen könnte, wenn man die Sachverhalte auch ohne Aussagen zu fassen bekäme) ist Wahrheit von der Orientierung her als Standpunktneutralität zu verstehen. Um etwas, in welchen Zusammenhängen auch immer, als wahr auch für andere gelten zu lassen, muss man die Disziplin aufbringen, vom eigenen Standpunkt und den Bedürfnissen, die ihn nahelegen, abzusehen und sich auf andere Standpunkte einzulassen. Dann bleibt ein Urteil, wie Kant es nannte, nicht nur »privatgültig«, 29 sondern kann allgemein gültig werden. In der alltäglichen Orientierung wird dadurch möglich, was man Sachlichkeit nennt. An sie können die Wissenschaften anschließen und sie methodisch zur Objektivität disziplinieren. 8.4 Die Standpunktneutralität der Wissenschaften ist nicht Standpunktlosigkeit. Die Wissenschaften nehmen ihrerseits einen spezifischen Standpunkt, den theoretischen Standpunkt ein. Die ›Theorie‹, die die Griechen entwickelt haben, ist vom griechischen ›Theater‹ her zu verstehen, in dem man das auf der Orchestra ablaufende tragische oder komische Geschehen von einem erhobenen Standpunkt aus interessiert beobachten konnte, ohne selbst darin verwickelt zu sein. Sie bedarf, 27

28 29

›Logik‹ wird freilich auch anders gebraucht. So kann eine politische Entscheidung der Logik einer Politik folgen, die nicht vorab auf Regeln festgelegt ist. Von ›Logik‹ wird im Alltag schon gesprochen, wenn ein Geschehen überhaupt berechenbar (wonach auch immer) oder wenigstens erwartbar ist (›logisch, dass sie das sagen musste‹). Vgl. schon Aristoteles, Nikomachische Ethik, I 1, 1094 b 24–26. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 820 f./B 848f. Man muss dann, so Kant, die eigene Vernunft »fremder Vernunft« aussetzen (ebd.). Vgl. dazu Simon, Kant.

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wie die wissenschaftliche Arbeit in modernen Forschungsinstituten, einer Sondersituation, deren Bedingungen eigens geschaffen werden müssen und die man ebenfalls nur auf Zeit genießen kann. Sie muss ebenfalls wieder in die alltägliche Orientierung zurückvermittelt werden, wenn sie weiter gefördert werden will. Den mathematischen Naturwissenschaften gelingt das vor allem durch technische Erfolge, den Geistes- und Kulturwissenschaften durch die Gewinnung eines breiten Publikums für ihre Analysen. 8.5 Als wahr gilt ein Urteil, solange ihm niemand von Belang, in einer Wissenschaft niemand, der Autorität in ihr erworben hat, widerspricht. Werden neue Anhaltspunkte von Belang geltend gemacht, wird es in Frage gestellt und überprüft. Wissenschaft vollzieht sich als Kritik, als kritische Distanzierung von als wahr geltenden Annahmen, soweit dazu Anlass besteht. 30 Fluchtpunkt der Forschung ist die vollständige Wahrheit im vollständigen System einer Wissenschaft; erreichbar ist jedoch nur die kritische Überholung bisher angenommener Wahrheiten. So ist Wahrheit der jeweilige und vorläufige ›Stand der Forschung‹.

9 Die Realität des Schönen in der Orientierung 9.1 Kunst stellt heraus, dass Orientierung attraktiv sein muss, damit ihr gefolgt wird. Sie bietet, ebenfalls in Sondersituationen, Orientierungswelten von besonderer Attraktivität: Solange sie der Darstellung des Heiligen, Wohlgestalteten und Mächtigen verpflichtet war, mit dem Fluchtpunkt der Schönheit, seit der Romantik mehr und mehr mit dem Fluchtpunkt des Interesses an den Mitteln und Möglichkeiten der Kunst selbst. Während die Wissenschaft Überraschungen durch Erklärungen aufzulösen sucht, inszeniert die Kunst sie attraktiv. Die Kriterien der Attraktivität können wechseln und müssen wechseln, sofern auch das Schönste und Interessanteste mit der Zeit an Attraktivität verliert. 9.2 Kunst muss, ob schön oder auf andere Weise interessant, gefallen. Das Gefallen kann, aber muss nicht allgemeinen und bleibenden Kriterien folgen; Kunst kann gerade dadurch interessant sein, dass sie solche Kriterien in Frage stellt. Sie ist ohne Gründe durch ihre bloße Attraktivität plausibel oder nicht und macht eben dadurch auf Kriterien der Attraktivität und Plausibilität in der alltäglichen Orientierung aufmerksam. 9.3 Die Kunst hat mit der Wissenschaft die Theatersituation (8.4.) gemeinsam: Auch beim Eintritt in künstlerische Orientierungswelten lässt man die Nöte 30

Vgl. die Debatte zu K. Poppers Fallibilismus: Wissenschaftler werden es nicht von sich aus darauf anlegen, ihre Hypothesen zu falsifizieren, sondern nur, wenn sie von Konkurrenten, die andere und folgenreiche Anhaltspunkte geltend machen, dazu genötigt werden.

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und Bedürfnisse der eigenen Orientierung auf begrenzte Zeit zurück und öffnet sich andern, um sie ohne Entscheidungszwang distanziert zu reflektieren. Künsten werden dabei im Unterschied zu wissenschaftlichen Disziplinen besondere Spielräume für Passungen und Deutungen eingeräumt, die neue Orientierungsweisen eröffnen können. Künste bereichern die Orientierung durch kreative Desorientierung. 9.4 Künste erfüllen das Ideal individueller Gestaltungsfreiheit der Orientierung. Einzelne Künstler und selbst einzelne Werke können künstlerische Umorientierungen auslösen, Autoritäten für die Ausbildung neuer Standards und damit ›klassisch‹ werden. Sie werden dann so selbstverständlich, dass ihre Kunst nicht mehr ohne sie zu denken ist (wie die Musik nicht ohne Bach, Mozart oder Beethoven). Die Kunst stellt das Gewicht des Einzelnen gegenüber dem Allgemeinen für die Orientierung heraus. 9.5 Kunst wird eben dadurch attraktiv, dass sie keine Funktion in einem Funktionszusammenhang erfüllt, keinen vorgegebenen Sinn in einem Sinnzusammenhang hat, dass sie auffällig funktionslos, auffällig sinnlos ist. So irritiert sie die alltägliche Orientierung und provoziert sie, einen Sinn für sie zu suchen. Irritierende Kunst macht der Orientierung Lust, ihre Routinen zu verändern. Sind dann neue Routinen entstanden, wird die Kunst, die sie hervorgerufen hat, wieder unauffällig sinnvoll. So führt Kunst der Orientierung ihre Umorientierungsprozesse vor.

10 Die Realität des Heiligen in der Orientierung 10.1 Die Religion geht in der kritischen Distanzierung von der alltäglichen Orientierung am weitesten. Sie entwirft einen Horizont, der alle übrigen Horizonte der Orientierung, auch die der Wissenschaft und der Kunst, übersteigt und sie in ihrer Begrenztheit zeigt. Sie gibt der Orientierung einen äußersten Horizont für einen festen Halt, für den es im alltäglichen Umfeld keine hinreichenden Anhaltspunkte gibt. 10.2 Religion soll und will selbst Orientierung geben, Orientierung sein. 31 Sie lässt sich als Ausrichtung auf Gott oder außerhalb des jüdischen, christlichen und islamischen Monotheismus auf Götter oder Heiliges fassen. In den Monotheismen ist Gott der, aus dem alles zu begreifen ist, der seinerseits aber unbegreiflich ist, ein Paradox, das in seiner Unantastbarkeit heilig ist und aus dem sich zahllose weitere 31

Dalferth, Wirklichkeit des Möglichen, bes. S. 6–46, entwickelt seine hermeneutische Religionsphilosophie als erster systematisch vom »orientierungsphilosophischen Ansatz« aus. Vgl. Stegmaier, Gott. Zum aktuellen Stand der Religionsphilosophie vgl. Dalferth, Wirklichkeit des Möglichen, S. 65–115.

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ergeben. Die Religion kann Paradoxien der Orientierung als Gottes Geheimnisse stehen lassen, sie so zu immer neuen Entparadoxierungen vorhalten und damit eine unbegrenzte Aufmerksamkeit auf sie wachhalten. 10.3 Religion schließt mit ihrem äußersten Horizont die Sinngebung in der Orientierung. Sie orientiert auch im Unbeobachtbaren und Unbegreiflichen, sie gibt dem Unbegreiflichen Sinn. Da ohne hinreichende Anhaltspunkte, muss sie bezeugt werden, muss man als persönlicher Zeuge mit seiner Überzeugung für sie einstehen. Der Gott Bezeugende macht jedoch Gott zur Instanz der Wahrheit auch seines Zeugnisses. 32 Er bekennt sich zu ihm als absolutem Fluchtpunkt seiner Orientierung, er ›glaubt‹. Sein Glaubensbekenntnis ist eine exemplarische Orientierungsentscheidung, die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Orientierung im Ganzen. 10.4 Glaube ist die Entschiedenheit, an seiner Entscheidung nicht mehr zu zweifeln. Unbeobachtbares und Unbegreifliches ist weder zu bestätigen noch zu widerlegen. So kann gerade der Halt an ihm ein unbedingter Halt sein. Im Horizont des Glaubens können auch Glaubensirritationen als Zeichen Gottes zur Prüfung im Glauben verstanden werden. Religiöser Glaube feit so gegen existenzielle Desorientierungen (Hiob), er gibt Vertrauen, Geborgenheit und die Gewissheit, dass selbst die ungewissesten Wege der eigenen Orientierung noch zum Guten führen können. Religion ist eine exemplarische Ausrichtung der Orientierung auf Zuversicht. 10.5 Ohne hinreichende Anhaltspunkte in der Orientierung lässt die Religion extreme Deutungsspielräume und kann, wo sie an Dogmen und Rituale gebunden wird, zu immer neuen Deutungsstreitigkeiten (bis hin zu Religionskriegen) führen. Diese wiederum haben (in Europa) historisch die Toleranz als Fluchtpunkt der ethischen Orientierung notwendig gemacht, die (paradoxe) Haltung, aus Überzeugung andere Überzeugungen gelten zu lassen. Mündet sie (wie in Lessings Ringparabel) in den Glauben, dass die Entscheidung über die rechte Religion letztlich Gott selbst zu verdanken ist, wird Religion zu einer Kultur der Dankbarkeit. Nach Nietzsche (der die Religion nicht nur kritisiert, sondern auch wie wenige gewürdigt hat), ist sie »eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: Dazu braucht man einen Gott.« 33

32

33

»Indem nämlich«, so Kierkegaard, »die ›Mitteilung‹ des Zeugen sich an die Mitlebenden wendet, wendet der ›Zeuge‹ sich zu Gott und macht ihn zur Instanz.« (Kierkegaard, Papirer X1 A 235, in: Gesammelte Werke, 33. Abt., S. 122). Nietzsche, Der Antichrist, Nr. 16.

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11 Die Realität des Guten in der Orientierung 11.1 Der auffälligste und stärkste Anhaltspunkt des Moralischen in der alltäglichen Orientierung ist die innere Nötigung, auf alle Neigung und allen Nutzen zu verzichten und dabei unter Umständen schwere Unannehmlichkeiten hinzunehmen. Sie schließt die Spielräume der Orientierung, richtet sie ohne Vorbehalt aus. Man tut dann, was man muss, und kann nicht anders: Geht man auf brüchiges Eis, um ein ertrinkendes Kind zu retten, sieht man selbst von den eigenen Kindern ab, die dabei doch ihre Mutter oder ihren Vater verlieren können. Auf die innere vorbehaltlose Nötigung oder Selbstbindung eines andern kann man sich am meisten verlassen. Darum schätzt man sie hoch und erzieht zu ihr. Ein moralischer Mensch kann in einer moralisch relevanten Situation nicht einmal denken, anders als moralisch zu handeln. Moral, wenn sie zum Zug kommt, beherrscht die Orientierung. 11.2 Die stärksten Anhaltspunkte moralisch relevanter Situationen sind Nöte anderer. Sie nötigen dann, wenn man in der Situation ›der Nächste‹ ist, wenn niemand sonst sich zeigt, an den man die Verantwortung abgeben kann (wenn Rettungskräfte in der Nähe sind, wird man nicht selbst aufs Eis gehen). Elementaren Lebensnöten anderer wie Armut, Krankheit und Schutzlosigkeit wird heute (unter günstigen Umständen) zumeist durch soziale Institutionen abgeholfen. So wird das Gute mehr und mehr in allgemeinen, alle gleichermaßen nötigenden Normen und Werten und der Schaffung moralischer Institutionen gesucht. Und wo sich in Gesellschaften allgemeine moralische Standards einspielen, festigt sich die Erwartung von Gegenseitigkeit. 11.3 Moralische Orientierung fordert Unterordnung unter moralische Standards, aber auch eigeneVerantwortung, in welcher Situation sie ins Spiel zu bringen und wie sie dort anzuwenden sind. Die Verantwortung kann (a) jemandem zugeschrieben werden, man kann sie (b) von sich aus übernehmen, sie kann jemandem (c) aber auch (als Nächstem in der Situation) zufallen, und sie kann jemandem (d) durch Befugte übertragen werden (und ist dann Zuständigkeit).34 Wem Verantwortung zufällt, weil andere in Not sind, hat für die Zeit ihrer Not ihre Orientierung mitzuverantworten, hat für sie, soweit sie nicht selbst dazu fähig sind, Orientierungsaufgaben zu übernehmen. Daraus kann Macht über sie entspringen (z. B. eines Ratgebenden über einen Ratsuchenden). 35 Soweit jemand solche Macht mit Erfolg zum Vorteil der ihm Anvertrauten gebraucht, erwächst ihm moralische Autorität. Moralische Autorität wirkt als moralischer ›Kredit‹, der Schritt für Schritt vermehrt, aber auch mit einem Schlag ›verspielt‹ werden kann. 34

35

Vgl. Heidbrink, Kritik der Verantwortung. Den in der alltäglichen Orientierung häufigsten Fall (c) berücksichtigt Heidbrink nicht. Dagegen hat Levinas ihn stark gemacht und von ihm aus seine Ethik entwickelt. Vgl. Fürst/Stegmaier (Hrsg.), Der Rat.

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11.4 Auch die moralische Orientierung differenziert und strukturiert und stabilisiert sich dabei selbst. Unterschiedliche moralische Charaktere (vom moralisch Unsensiblen bis zum fanatischen ›Prinzipienreiter‹) sprechen unterschiedlich auf moralische Situationen an, in unterschiedlichen moralischen Orientierungswelten (individuellen, inter-individuellen, gesellschaftlichen, globalen) kommen unterschiedliche moralische Normen und Werte zum Zug. Normen und Werte sind Fluchtpunkte der moralischen Orientierung. Die Normen lassen Spielräume ihrer Befolgung, die Werte Spielräume ihrer Wahl und müssen sie lassen, wenn situationsgerecht nach ihnen gehandelt werden soll. 11.5 Die moralischen Orientierungswelten können füreinander zur Disposition gestellt werden, die globale (mit universalen Normen und Werten) ebenso für die individuellen und inter-individuellen wie umgekehrt; zumeist kommt eine moralische Orientierungswelt desto bedingter zum Zug, je allgemeiner sie ist (man widmet sich moralisch plausibel dem Elend fremder Kinder in fremden Ländern langfristig nur, wenn die eigenen Kinder hinreichend versorgt sind). Gegen den moralischen Standpunkt überhaupt machen sich in der alltäglichen Orientierung mit der Zeit wieder andere geltend, insbesondere der ökonomische des Nutzens. Durch vielfache Perspektivierungen der moralischen Nötigung werden die gewohnten Spielräume der Orientierung wiedergewonnen: Durch die temporale (mit der bloßen Wiederholung eines moralischen Handelns nimmt seine Beachtung und Achtung ab), die rechtfertigende (Handeln muss in der Regel erst dann moralisch gerechtfertigt werden, wenn es zu unerfreulichen Folgen geführt hat, und die Situation und die Bewertungskriterien sind dann schon andere), die inter-individuelle (andere haben in vergleichbaren Situation keinen Anlass zu moralischem Handeln gesehen), die politische (mit Moral, die nicht zu eigenen Gunsten Macht ausüben will, kann man dennoch Geschäfte und Politik machen), die mediale (groß angelegte moralische Engagements brauchen die Aufmerksamkeit der Medien und müssen darum mediengerecht inszeniert werden), die juridische (führen moralische Engagements zu Rechtsstreitigkeiten, muss nicht-moralisch über sie entschieden werden), die wissenschaftliche (die empirischen Moralwissenschaften und die Moralphilosophie müssen die Moral von einem nicht-moralischen theoretischen Standpunkt aus untersuchen, und dabei tritt die moralische Not zwangsläufig zurück), die ästhetische (moralische Ereignisse müssen, um beispielhaft zu werden, gut erzählbar dargestellt werden) und die humoristische (Humor hilft am meisten, sich nicht auf eine moralische Haltung zu ›versteifen‹). 11.6 Die Perspektivierungen der Moral können zu moralischen Innovationen und Evolutionen führen. Sie nötigen zur ethischen Reflexion der moralischen Selbstbindungen, zu einer Moral im Umgang mit Moral, mit der eigenen Moral angesichts anderer Moralen. Von anderen Moralen ist keine Gegenseitigkeit zu erwarten. Ethische Orientierung als Moral zweiter Ordnung verzichtet einseitig auf Gegen-

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seitigkeit: Man erfüllt seine moralischen Pflichten gegenüber anderen, erwartet das aber nicht auch von ihnen. 36 11.7 Als Gabe ohne Erwartung einer Gegengabe gilt der einseitige Verzicht auf Gegenseitigkeit in der alltäglichen ethischen Orientierung als etwas fraglos Gutes. Er kann per definitionem nicht allgemein gefordert werden, sondern zeichnet ethisch aus. Er zeigt sich schon in alltäglichen Tugenden wie Aufgeschlossenheit und Unbefangenheit, Wohlwollen und Freundlichkeit, Takt und Höflichkeit, Vornehmheit und Güte, dann auch im Ringen um ethische Güter wie Toleranz, Würde, Frieden und Gerechtigkeit unter moralisch Andersdenkenden. Er ist am Fluchtpunkt einer unbegrenzten Verantwortung ausgerichtet, die Dostojewski in seinem Roman Die Brüder Karamasow auf die Formel »Ein jeder von uns ist vor allen an allem schuldig, für alles verantwortlich, ich aber bin es mehr als alle anderen« gebracht hat. 37 Menschen, die in diesem Zeichen handeln können, setzen Zeichen für die ethische Orientierung auch der andern.

Literaturverzeichnis Abel, Günter: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2004. Aristoteles: Physikvorlesung, übers. von Hans Wagner, Berlin 4 1983. Bichsel, Peter: »Ein Tisch ist ein Tisch«. In: Ders., Kindergeschichten, Neuwied/Berlin 1969, S. 21–31. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, [1960, Neudruck:] Frankfurt a.M. 1998. Dalferth, Ingolf U.: Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003. 36

37

Das schwer begreifliche, moralisch unmittelbar widersinnige Gebot des christlichen Evangeliums, das »màe antistâenai tô ponerô – Widerstehe nicht dem Bösen« (Mt 5, 38f.), erhält einen guten Sinn, wenn man es als Gebot zur Reflexion und Kritik der eigenen Moral versteht: Das Böse, dem man nicht widerstehen soll, wäre dann das andere Gute einer anderen Moral, das der eigenen Moral unvermeidlich als Böses erscheinen muss. Wenn, nach den Beispielen, die das Evangelium gibt, jemand etwas als schmachvolle Beleidigung erfährt (›wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt …‹), als ungerechtfertigte Drohung mit Rechtsmitteln (›wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen …‹) oder als Zwang, ihm den Weg zu zeigen (›wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen …‹), muss das aus der Sicht des anderen, der so nötigt, nicht schon etwas Böses sein, selbst wenn es so scheint. Auch Feinde und Verfolger als Menschen mit anderen moralischen Überzeugungen zu sehen, statt ihnen seinerseits feindselig entgegenzutreten, könnte der einzige moralische Weg sein, in unterschiedlichen Moralen begründete Feindschaften zu überwinden. Dostojewski, Die Brüder Karamasow, II. Teil, 6. Buch, 2. Kap. (übers. von Rahsin, S. 471/von Nötzel, S. 495).

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Dostojewski, F. M: Die Brüder Karamasow. Roman, aus dem Russ. übers. von E. K. Rahsin, [1906, Neudruck:] München 1985/von Karl Nötzel, [Leipzig 1921, Neudruck:] Frankfurt a.M. 1986. Düwell, Marcus/Hübenthal, Christoph/Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002. Elm, Ralf (Hrsg.): Horizonte des Horizontbegriffs. Hermeneutische, phänomenologische und interkulturelle Studien, Sankt Augustin 2004. Fürst, Gebhard/Stegmaier, Werner (Hrsg.): Der Rat als Quelle des Ethischen. Zur Praxis des Dialogs, Stuttgart 1993 u.ö. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 2 1965. Heidbrink, Ludger: Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns in komplexen Kontexten, Weilerswist 2003. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hg. von der (Königlich-)Preußischen Akademie der Wissenschaften u.a. Berlin 1902ff. [= AA]. Kierkegaard, Søren: Gesammelte Werke in 36 Abteilungen, hg. von Emanuel Hirsch/Hayo Gerdes u.a. Düsseldorf/Köln 1950–1969 und Gütersloh 1979–1986. König, Gert/Kambartel, Walter: »Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 7. Basel/Darmstadt 1989, Sp. 363–377. Lambert, Johann H.: »Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein (1764)«. In: Ders., Philosophische Schriften, Band 1 und 2, hg. von Hans-Werner Arndt. Hildesheim 1965. Nietzsche, Friedrich W.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München/Berlin/New York 1980. Simon, Josef (Hrsg.): Orientierung in Zeichen. Zeichen und Interpretation III , Frankfurt a.M. 1997. Ders.: »Johann Heinrich Lamberts Zeichenkunst als Weg zur Kritik. Überlegungen zum Verhältnis von Kritik und Interpretation«. In: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, hg. von Manfred Beetz/Giuseppe Cacciatore. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 49–65. Ders.: Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin/New York 2003. Ders.: Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989. Sommer, Manfred: Suchen und Finden. Lebensweltliche Formen, Frankfurt a.M. 2002. Stegmaier, Werner: »Gott zur Orientierung. Aus Anlaß von Ingolf U. Dalferths ›Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie‹«. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 30.1. 2005, S. 97–107. Ders.: »Orientierung zum Handeln in wechselnden Horizonten«. In: Horizonte des Horizontbegriffs, hg. von Ralf Elm. Sankt Augustin 2004, S. 251–266. Ders.: Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008.

2. WIRKLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG DES HEILIGEN

Winfried Löffler

DIE ROLLE RELIGIÖSER ERFAHRUNG BEI SWINBURNE, PLANTINGA UND ALSTON

In den analytisch geprägten religionsphilosophischen Debatten der letzten Jahrzehnte spielt der Verweis auf verschiedene Formen religiöser Erfahrung als Rechtfertigungsinstanz eine deutliche Rolle, wenngleich dabei nicht immer auch terminologisch auf »religiöse Erfahrung« rekurriert wird. Die genaue Funktion, die der Erfahrungsverweis jeweils hat, kann dabei durchaus unterschiedlich sein – sogar bei Autoren, denen es insgesamt um einen Vernünftigkeitsausweis der christlichreligiöser Überzeugungen geht. Exemplarisch soll dies an drei der prominentesten Religionsphilosophen der Gegenwart gezeigt werden, nämlich Richard Swinburne, Alvin Plantinga und William P. Alston. Den Analysen vorangestellt sind einige phänomenologische Überlegungen zum breiten Spektrum dessen, was als »religiöse Erfahrung« in Frage kommt. Bei Swinburne tragen die (außergewöhnlichen) religiösen Erfahrungen, die manche Menschen machen, genau genommen einen Hauptteil der Beweislast in seinem Kumulativargument für die Existenz Gottes; die restlichen Indizien haben nur die Rolle, grundlegende Zweifel abzuweisen. Bewerkstelligt wird dies über erkenntnistheoretische Glaubwürdigkeits- und Zeugnisprinzipien. Plantingas Programm der »Reformierten Erkenntnistheorie« läuft darauf hinaus, dass religiöse Meinungen, die sich religiösen Menschen in bestimmten Situationen in erfahrungsähnlicher Weise aufdrängen, erkenntnistheoretisch nicht schlechter gestellt sind als viele andere respektable Bestandteile unseres Meinungssystems, besonders dann, wenn die christlichen Lehren über den Gottesbezug des Menschen wirklich wahr sein sollten. Dies ist (anders als bei Swinburne) kein erfahrungsgestützter Vernünftigkeitsausweis des Christentums nach außen, verändert aber doch die Ausgangssituation eines Dialogs mit bestimmten religionskritischen Anfragen. Alston untersucht religiöse »doxastische Praktiken« und bemüht sich um einen ausführlichen Nachweis, dass sie erkenntnistheoretisch nicht grundsätzlich anders oder unverlässlicher einzuschätzen sind als andere doxastische Praktiken. Grundsätzlich könnten sich manche Formen religiöser Erfahrung also auch als Argument gegenüber nichtreligiösen Adressaten eignen. Anschließend an die Einzelanalyse werden Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den drei Positionen nochmals verdeutlicht. Als ein gemeinsames (wenngleich mehr oder minder stark ausgeprägtes) Defizit ist zu konstatieren, dass die Einbettung religiöser Erfahrung in einen größeren Interpretationsrahmen nicht hin-

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Winfried Löffler reichend beachtet wird und manches an theologischer Begrifflichkeit fraglos vorausgesetzt wird. Religiöse Erfahrungen mögen aus dieser Sicht wie Konfrontationen mit einem unproblematisch Gegebenen erscheinen. Wird allerdings auch dieser Rahmen mitberücksichtigt und seine Geltung ausgewiesen, dann können aufgrund von religiöser Erfahrung gebildete Meinungen durchaus epistemisch rational sein.

1. »Religiöse Erfahrung« als Rechtfertigung? Der Verweis auf »religiöse Erfahrungen« zeigt, argumentationsstrategisch betrachtet, einige Eigentümlichkeiten. Religionsphänomenologisch betrachtet, ist er wohl einer der wesentlichen Wege, auf denen die Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen zu rechtfertigen versucht wird. 1 Wenn mich meine Einschätzung nicht trügt, dürfte die Bedeutung von »Erfahrungs«-Verweisen unter den Anhängern religiöser Bekenntnisse eher im Zunehmen begriffen sein. Für viele Menschen steht und fällt die Vernünftigkeit religiöser Erfahrungen sogar mit dem Vorkommen solcher Phänomene (in welcher Form auch immer man diese »Erfahrungs«-Formen explizieren mag, siehe dazu später). Andererseits ist die Wirksamkeit von Erfahrungsargumenten im Bereich der Religion auch eigentümlich beschränkt: Viele Menschen würden wohl zögern, aus »ihren« religiösen Erfahrungen Argumente abzuleiten, die automatisch auch schon für andere wirksam wären. Gleichzeitig wird der »Erfahrungs«-Verweis in religiösen Kontexten aber nicht selten als schlagendes, unwiderlegbares Argument und damit zum Debatten- und Rechtfertigungsabbruch eingesetzt, etwa nach dem Muster: Wenn man bestimmte Tatsachen eben so erfahren habe in seinem Leben, dann könne dies ein Außenstehender weder beurteilen noch bestreiten, ja dies stehe ihm auch gar nicht zu. 2 Darin liegen nun prima-facie-Unterschiede zu sonstigen Erfahrungsargumenten, denn normalerweise wird der Verweis auf Erfahrung ja als potentiell »öffentlichkeitsrelevanter« Argumentationszug gesehen: Man verweist auf Erfahrungsgegebenheiten, die prinzipiell auch Außenstehenden so (oder zumindest sehr ähnlich) zugänglich wären, und über deren Inhalt und Rechtfertigungswert eine Debatte möglich und sinnvoll ist.

1

2

Zu den kontroversen Explikationsversuchen, was unter »Religion« generell zu verstehen ist, siehe Kapitel 2.1 und 2.5 meiner Einführung in die Religionsphilosophie. In diesem Buch (Kapitel 2.3 und 2.4) begründe ich auch die Auffassung, warum die Frage nach der Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen (und nicht etwa nur die Analyse des religiösen Weltverständnisses, des Funktionierens der religiösen Sprache o.a.) im Zentrum der religionsphilosophischen Aufmerksamkeit stehen sollte. Damit mag zusammenhängen, dass institutionalisierte religiöse Gruppen mit der Anerkennung markanter individueller religiöser Erfahrungen tendenziell vorsichtig sind bzw. versuchen, solchen Erfahrungsträgern eine definierte Funktion in der Gruppe zuzuweisen. Denn derlei Erfahrungen bergen eine gewisse Gefahr für die soziale Struktur und Kohäsion der Gruppe.

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Soweit einige grobe religionsphänomenologische Beobachtungen zu den Eigentümlichkeiten von »religiöser Erfahrung« als Rechtfertigungsinstanz. Auch religionsphilosophisch betrachtet wird sich zeigen, dass Phänomene »religiöser Erfahrung« nur unter einigen Zusatzvoraussetzungen zur Rechtfertigung religiöser Überzeugungen dienlich sind, und dass dazu durchaus verschiedene Wege eingeschlagen wurden und werden. Exemplarisch möchte ich dies an drei der bedeutendsten analytischen Religionsphilosophen der Gegenwart zeigen, die allesamt der religiösen Erfahrung eine wichtige Stelle in ihrem Denken zuweisen: Richard Swinburne, Alvin Plantinga und William P. Alston. Diese drei Denker kommen – bei allen Unterschieden im Detail – auch darin überein, dass sie eine dezidiert kognitive und realistische Deutung der religiösen Rede verfechten und sich darin deutlich von den religionsphilosophischen Non-Kognitivismen absetzen, die in der Philosophie der 1960er und 70er Jahre die Szene dominierten. Gemeinsam ist den drei Autoren auch, dass sie »religiöse Erfahrung« in (unterschiedlich starker) Nähe zur normalen Wahrnehmungserfahrung deuten. 3 Und gemeinsam ist ihnen schließlich auch noch, dass jeweils Paritätsüberlegungen zugunsten der vernünftigen Vertretbarkeit religiöser Überzeugungen eine (wenngleich unterschiedlich deutliche) Rolle spielen: Das heißt, es wird u. a. darauf verwiesen, dass religiöse Überzeugungen nicht grundsätzlich anders oder schwächer zu rechtfertigen wären als manche andere, durchaus akzeptable Überzeugungen. Um den Phänomenbereich abzustecken und möglichen Missverständnissen und Engführungen entgegenzuarbeiten, seien zunächst einige grobe phänomenologische Hinführungen zu »religiösen Erfahrungen« vorausgeschickt und ein Klassifikationsansatz skizziert. All diese Überlegungen sind zunächst rein phänomenologisch, und die Frage nach der möglichen »Wahrheitshaltigkeit« religiöser Erfahrungen wird dabei ausgeklammert. a. Gewöhnliche und außergewöhnliche religiöse Erfahrungen Menschen beurteilen verschiedenste Erfahrungssituationen als irgendwie bedeutsam für die Rechtfertigung religiöser Überzeugungen. Es kann sich dabei durchaus um vertraute, wiederholbare Situationen handeln, die den normalen Lauf des Lebens nicht überschreiten, und es werden sogar meistens solche sein. Beispiele wären Naturerfahrungen, Erfahrungen zwischenmenschlicher Liebe, Erfahrungen von Geburt, Krankheit, Gesundung und Tod, Gemeinschaftserfahrungen im Gottesdienst oder im gemeinsamen wohltätigen Engagement, Erlebnisse persönlichen Gebets, Erlebnisse von Gefahr und Errettung, die Konfrontation mit eigenem oder fremdem Leid, und viele andere mehr. Nennen wir sie vorläufig gewöhnliche religiöse Erfahrungen. 3

Diese Nähe ist nicht unproblematisch; siehe dazu den Aufsatz von Gregor Nickel und Dieter Schönecker in diesem Band sowie Schmidt, Gott wahrnehmen.

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Außergewöhnliche religiöse Erfahrungen überschreiten dagegen, in erster Näherung gesprochen, den normalen Lauf der Dinge, ähnlich wie Wunder. Was dies näher heißt, kann verschieden verstanden werden und wurde auch verschieden umschrieben: Mitunter wurde von nicht durch die üblichen Ursachen erklärbaren Ereignissen gesprochen (etwa bei einer plötzlichen religiösen Vision), mitunter von der Durchbrechung von Naturgesetzen (etwa bei Auferstehungs- oder ähnlichen Wunderberichten), mitunter auch nur von extrem unwahrscheinlichen, aber grundsätzlich naturgesetzlich gedeckten Vorgängen (etwa bei plötzlichen, unerwarteten Heilungen, rettenden Wetterumschwüngen oder ähnlichem). b. Erfahren oder Erleben? Zwischenbetrachtung zu einem Übersetzungsproblem Schon die Wortwahl in meiner Beschreibung besonders des »gewöhnlichen« Phänomenbereichs weist hier auf ein begriffliches und terminologisches Problem hin: Viele der genannten Beispiele würde man im Deutschen spontan wohl eher als »religiöses Erleben« oder als »religiöses Erlebnis« denn als »religiöse Erfahrung« bezeichnen. 4 »Religiöse Erfahrung« mag daher prima facie als schon im Ansatz verfehlte Beschreibungsweise erscheinen. Damit verknüpft ist ein Übersetzungsproblem beim Einbezug der einschlägigen angelsächsischen Literatur: Das Englische verfügt meines Wissens über gar kein Wort, dessen Semantik jener von »Erleben/Erlebnis« entspräche; »erleben«/»Erleben«/»Erlebnis«/»erfahren«/ »Erfahrung« würden also gleichermaßen am ehesten durch »(to) experience« wiedergegeben. Angelsächsische Autoren würden den fraglichen Phänomenbereich daher schon mangels terminologischer Alternative als »religious experiences« beschreiben. 5 Auf den zweiten Blick ist die Beschreibung dieser Phänomene mit »religiöser Erfahrung« aber doch nicht völlig unsachgemäß, denn manche Formen »religiöse Erfahrungen« können zum einen eine gewisse Verfestigung erfahren (ähnlich wie man in praktischen Dingen »lange Erfahrung sammeln« kann), und zum anderen wird »religiöse Erfahrung« eben als Rechtfertigung für bestimmte Überzeugungen verstanden. »Davon bin ich aufgrund meines religiösen Erlebens überzeugt« klänge für das deutsche Sprachempfinden aber deutlich fremdartiger als »Davon bin ich aufgrund meiner religiösen Erfahrung überzeugt.« Ich werde im Folgenden also aus diesen Gründen den Ausdruck »religiöse Erfahrung« weiter benützen – seiner Problematik immer eingedenk.

4 5

Ich danke Gerhard Leibold für den Hinweis auf dieses Problem. Das soll nicht heißen, dass das sachliche Problem dort nicht bekannt wäre: Siehe etwa Plantinga, Belief , S. 33: »The term ›experience‹ (taken as either a noun or a verb) is notoriously slippery.«

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c. Private und öffentliche außergewöhnliche religiöse Erfahrungssituationen Manche außergewöhnliche religiöse Erfahrungssituationen sind öffentlich insofern, als mehrere Menschen in derselben Situation dieselbe Erfahrung machen würden. Typischerweise wäre dies bei religiös signifikanten Wundern der Fall, wie sie in der Religionsgeschichte zahlreich berichtet werden. Unter normalen Beobachtungsbedingungen wäre ihr Vorkommen für mehrere Menschen wahrnehm- und überprüfbar. Andere außergewöhnliche religiöse Erfahrungssituationen sind dagegen privat, d. h. dass sich jeweils nur eine Person bzw. eine eng begrenzte Personengruppe in dieser Situation befindet. Andere Personen können allenfalls aus den Berichten und dem Verhalten der betreffenden Personen etwas über diese religiöse Erfahrung erschließen. Typischerweise (wenngleich nicht begrifflich notwendig) werden gewöhnliche religiöse Erfahrungen dabei privat sein. Beispiele – wie sie ähnlich auch Plantinga erwähnt – wären etwa, dass zwei Menschen demselben grandiosen Natureindruck ausgesetzt sind, an derselben liturgischen Feier teilnehmen oder denselben Bibeltext hören: Die eine Person mag diese Situation als religiös besonders signifikant erfahren, die andere nicht. d. Eine Inhaltstypologie (außergewöhnlicher) religiöser Erfahrungen Es ist naturgemäß nicht leicht, religiöse Erfahrungen phänomenologisch zu beschreiben und zu vergleichen, erst recht quer über verschiedene Religionen hinweg. Der folgende Vorschlag einer Typologie stammt von Caroline Franks Davis. 6 Er ist vor allem an außergewöhnlichen religiösen Erfahrungen orientiert, es gibt allerdings z. T. auch gewöhnliche religiöse Erfahrungen, die in diese Kategorien passen würden. Auch diese Typologie ist natürlich wieder rein phänomenologisch gemeint und klammert die Geltungsfrage aus. (1) Interpretative Erfahrungen liegen vor, wenn jemand bestimmte einschneidende Lebenssituationen als religiös bedeutsam interpretiert, indem er etwa seine Krankheit als Teilhabe am Leiden Jesu Christi erfährt, seine Entscheidungen in einer Weichenstellung seines Lebens als Führung Gottes erfährt, etc. (2) Quasi-sinnliche Erfahrungen kommen in Form von Visionen, Träumen, Auditionen (Einsprachen, d. h. dem Hören von Stimmen etc.), Berührungen, Geschmacks- und Schmerzerlebnissen, Levitationen (Leichtigkeitserfahrungen) 6

Vgl. Franks Davis, Religious Experience, Kap. II. Franks Davis ist eine Schülerin von Richard Swinburne.

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vor. Inhalt solcher Erfahrungen können sowohl Visionen einer Gottheit (mit Kommunikationsangebot) sein als auch »gesandte Bilder« mit metaphorischem Inhalt sowie auch Sinnesgehalte ohne direkt religiösen Gehalt sein, etwa Lichterfahrungen. (3) Offenbarungserfahrungen treten typischerweise kurz und unangekündigt auf und führen beim betroffenen Menschen zum Eindruck einer direkt erworbenen Überzeugung, die gleichsam von außen eingegossen und von völliger Gewissheit gekennzeichnet ist, mehr noch als Überzeugungen aufgrund von Sinneswahrnehmung. Innerhalb der Religionsgemeinschaften werden solche Erfahrungen (wohl aufgrund ihrer besonderen Nähe zu den kognitiven, behauptungsartigen Komponenten der Religionen) übrigens häufig kritisch betrachtet, da sie ein zerstörerisches Potenzial für die etablierte Religion haben können. (4) Erneuerungs-/Regenerationserfahrungen führen zur Erneuerung oder Auffrischung religiöser Lebensprägungen. Sie haben Auswirkungen auf die weitere Lebensführung des betroffenen Menschen, etwa für seinen Weg durch eine Krise. Hier ist die Grenze zu »gewöhnlichen« religiösen Erfahrungen fließend, denn Erneuerungserfahrungen können gleichermaßen stürmisch-einschnitthaft wie unspektakulär-prozessförmig sein. (5) Numinose Erfahrungen sind Erfahrungen einer heiligen Wirklichkeit, wie sie in sich ist (d. h. sie erscheint nicht als bezogen auf den Menschen, etwa als liebend, leitend oder befehlend). Es wird laut Franks Davis auch von vergleichbaren Erfahrungen des Übels berichtet. Da der Inhalt dieser Erfahrungen oft als unaussprechlich erscheint, suchen sie ihren Ausdruck mitunter in Gesang und anderen Formen. (6) Mystische Erfahrungen (»mystisch« hier in einem engeren Sinne verstanden als meist üblich) sind Erfahrungen glückhafter Vereinigung mit einer letztlich bedeutsamen Wirklichkeit, die von einem Gefühl der Freiheit von Zeit, Raum und dem individuellen Ego getragen sind. e. »Inferential« und »evidential arguments« aus der religiösen Erfahrung Was könnte nun die erkenntnistheoretische Relevanz religiöser Erfahrungen sein, besonders jener außergewöhnlicher Natur? Sie könnten in zwei Weisen zur Rechtfertigung religiöser Überzeugungen benützt werden. Man könnte erstens – ähnlich wie bei Wundern – versuchen, zugunsten der Existenz Gottes und seines Handelns als der besten Kausalerklärung solcher Erfahrungen zu argumentieren. Im angelsächsischen Raum wird diese Argumentationsfigur z. T. als inferential argument from religious experience (zu übersetzen etwa als: »Schlussfolgerungsargument«, sachgemäßer wäre vielleicht »Kausalerklärungsargument«)

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bezeichnet. Man könnte aber auch zweitens manche religiösen Erfahrungen als eine Art Gottes-Wahrnehmungen verstehen und sich – analog wie bei anderen Wahrnehmungen – fragen, wie verlässlich solche Wahrnehmungen erkenntnistheoretisch gesehen sind. Die Vorgangsweise ist hier ähnlich wie bei der Untersuchung anderer auf Wahrnehmung basierender Überzeugungen. Wenn wir etwa unter Normalbedingungen einen Baum wahrnehmen, dann bilden wir die Überzeugung: »Dies ist ein Baum«. Das tun wir, ohne irgendwelche Kausalschlüsse etwa folgender Form anzustellen: »Ich habe jetzt baumartige Sinneseindrücke. Die beste Erklärung dafür, sofern nicht ein Ausnahmefall gegeben ist, ist dass sie von einem echten Baum hervorgerufen werden. Nichts deutet auf einen Ausnahmefall hin. Also steht wohl wirklich ein Baum vor mir.« Wenn diese Praxis der Überzeugungsbildung aufgrund von Wahrnehmungen im Normalfall völlig vernünftig und gerechtfertigt erscheint, könnte dies doch auch für religiöse Wahrnehmungsüberzeugungen gelten. Wer so argumentiert, vertritt das evidential argument from religious experience (etwa als »Erfahrungsbelegsargument«, etwas freier vielleicht als »Augenscheinsargument« übersetzbar). Wenden wir uns nach diesen Vorklärungen den drei eingangs erwähnten Autoren und ihren Weisen des Bezugs auf religiöse Erfahrungen zu. In den Kapiteln 2 bis 4 wird dazu zunächst ein Gesamtabriss der jeweiligen religionsphilosophischen Positionen (mit einem gewissen Schwerpunkt auf der Rolle religiöser Erfahrung) versucht; in Kapitel 5 sollen Ähnlichkeiten und Unterschiede dieser Rollen nochmals deutlicher herausgearbeitet werden.

2. Die Rolle der religiösen Erfahrung in Swinburnes Kumulativargument a. Kontext Richard Swinburne (*1934, bis 2002 Nolloth Professor of the Christian Religion in Oxford) überspannt in seinem Œuvre ein weites Gebiet, von der Erkenntnisund Wissenschaftstheorie über die Philosophie des Geistes und die allgemeine Ontologie bis hin zur Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie, ja sogar bis in die Dogmatik. Bei den (im engeren Sinne) religiösen Themen geht es neben der Frage nach Gottes Existenz und seinen Eigenschaften auch um das Problem des Übels, die Möglichkeit von Offenbarung und Inkarnation, von moralischer Verantwortung, von Buße und Versöhnung, und um ähnliches mehr. 7 Insgesamt 7

Wichtigste Monographien: Space and Time (1968), An Introduction to Confirmation Theory (1973), The Coherence of Theism (1977), The Existence of God (1979, revidierte Auflage 1991, 2 2004), Faith and Reason (1983, 2 2005), The Evolution of the Soul (1986), Responsibility and Atonement (1989), Revelation: From Metaphor to Analogy (1992), The Christian God (1994), Providence and the Problem

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strebt Swinburne angesichts der Anfragen der Gegenwartsphilosophie und des Weltbildes, das die Naturwissenschaften nahe zu legen scheinen, einen umfassenden Ausweis der Vernünftigkeit des Christentums an. Allerdings haben Theologen auf sein Werk mit teilweise vehementer Kritik reagiert. Viele irritiert der Anthropomorphismus in Swinburnes Gottesbild (Gott lebt z. B. in der Zeit und er plant seine Handlungen nach recht menschlich anmutenden Moralmaßstäben und Nutzenkalkülen). Damit verbunden irritiert viele auch Swinburnes philosophische Lösung für das Problem des Übels in der Welt, die zwar klassische Argumente aufgreift, aber dennoch manchem als geradezu zynisch erscheinen mag: Gewisse physische Übel in der Welt sind nötig, damit unsere freien Entscheidungen überhaupt einen Unterschied nach mehr oder minder gut machen können; außerdem sind sie Gelegenheiten, wertvolle Haltungen wie Verantwortlichkeit, Solidarität und Hilfsbereitschaft zu entwickeln. Das moralische Übel dagegen ist die unausweichliche Folge, wenn es ernsthaft freie Wesen gibt. Der Kern des Theodizeeproblems sei eher das Ausmaß des Übels, aber dazu meint Swinburne, insgesamt spreche dieses Ausmaß nicht gegen die Existenz eines gütigen Gottes. Auch Swinburnes expliziter Leib-Seele-Dualismus irritiert viele, nicht nur deshalb, weil er philosophisch eine Minderheitenmeinung darstellt, sondern auch, weil er theologisch weder unbedenklich noch erforderlich ist. b. Die Existenz Gottes als Hypothese und die Idee des Kumulativarguments Lassen wir diese kritischen Anfragen aber beiseite und konzentrieren wir uns auf die Gottesfrage im engeren Sinne. Swinburne betrachtet die Existenz eines theistisch gedachten Gottes (also, vereinfacht gesagt 8, eines körperlosen, allmächtigen, allwissenden, omnipräsenten, moralisch vollkommenen personalen Wesens) als eine Art großräumige wissenschaftliche Hypothese, deren Wahrscheinlichkeit im Lichte verschiedenster Erfahrungsbelege eingeschätzt werden kann. 9 Damit unterscheidet sich Swinburnes Denken von den traditionellen Gottesbeweisen in zumindest drei Punkten: Erstens sind Swinburnes Argumente induktiv, sie etablieren nur eine Wahrscheinlichkeit, dass Gott existiert; anders gesagt, Gott ist nicht notwendigerweise als Erklärungsgrund anzusetzen, sondern ist nur die vorläufig beste, aber prinzipiell austauschbare Erklärung für die Welt. Zweitens möchte Swinburne nicht mit synthetisch-apriorischen Grundsätzen operieren, besonders nicht mit dem metaphysischen Kausalprinzip (»jedes kontingente Seiende hat eine entsprechende Wirkursache«). Im Gegenteil, Swinburne hält die traditionel-

8 9

of Evil (1998), Epistemic Justification (2001), The Resurrection of God Incarnate (2003), Was Jesus God? (2008). Seine Konzeption des Theismus entwickelt Swinburne ausführlich in The Coherence of Theism (1977). Vgl. Swinburne, Existence.

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len deduktiven Argumente für Gottes Existenz (etwa die »fünf Wege« bei Thomas oder sonstige Kontingenzargumente wie etwa jene bei Leibniz) fraglos für gescheitert, weil die Annahme der Nichtexistenz Gottes mit der Existenz unserer Welt, wie sie eben ist, durchaus logisch vereinbar sei. Drittens kritisiert Swinburne an der traditionellen philosophischen Gotteslehre, dass man die Möglichkeit der Verbindung mehrerer Argumente bislang übersehen und damit der Religionskritik unnötige Angriffsflächen im Sinne eines divide et impera eröffnet habe: Man habe so den Eindruck zugelassen, dass die Sache der Religion auf einzelnen Argumenten beruhe, die aber sämtlich als unzureichend dargestellt werden konnten. Freilich lehnt Swinburne die traditionellen deduktiven Argumente nicht rundweg ab. Er rekonstruiert sie jedoch als probabilistische Argumente und gibt durchaus zu, dass sie isoliert betrachtet jeweils nur schwach sind. Verbindet man sie jedoch zu einem Kumulativargument, sieht es anders aus. Solche Kumulativargumente sind u. a. aus dem gerichtlichen Bereich wohlbekannt: Richter haben sich angesichts einer Anzahl von Indizien eine Meinung über ein Geschehen zu bilden. Diese Meinung ist dann zwar nicht deduktiv aus den Indizienbeschreibungen ableitbar, sie erscheint aber doch sehr oft als gut begründet. 10 Schon Basil Mitchell, Swinburnes Vorgänger in Oxford, hatte diese Technik des Kumulativarguments auf die Frage der Existenz Gottes angewandt, und die Vorgeschichte solcher Überlegungen ließe sich zumindest bis Kardinal Newman ins 19. Jh. zurückverfolgen. Ob man eine allgemeine Logik hinter solchen Kumulativargumenten angeben kann, ist bis heute umstritten. Mitchell hatte diese Frage bewusst offengelassen. 11 Swinburnes Buch kann nun als der Versuch gelesen werden, genau diese logische Rekonstruktion zu liefern. An einigen Stellen bedient er sich dazu einer Theorie der Hypothesenbestätigung, deren formale Struktur der Wahrscheinlichkeitskalkül ist. Und er kommt abschließend zu dem Ergebnis, dass die epistemische Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes im Lichte der Belege deutlich höher als 0,5 sei; der auf 1, die volle Gewissheit, fehlende Rest sei das legitime Betätigungsfeld für den persönlichen Glauben. Dieses moderate Ergebnis könne, so Swinburne, attraktiv für den Gläubigen erscheinen: Es ist einerseits nicht irrational, an Gott zu glauben – wir glauben ja auch sonst öfters mit gutem Grund an nicht vollständig gesicherte Theorien –, andererseits werde dem theologischen Rationalismus (also der These der vollständigen Ableitbarkeit religiöser Überzeugungen aus allgemeiner, neutraler Vernunft) ausgewichen und dem persönlichen Glauben ein legitimer Ort bewahrt. Vielen Lesern mögen die eher technisch anmutenden Passagen in Swinburnes Buch sowie vielleicht überhaupt die Übertragung wissenschaftstheoretischer 10

11

Ähnlichkeiten bestehen auch zum Verfahren der inference to the best explanation, die in der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie zuweilen als eigenständiger Topos diskutiert wird; siehe etwa Lipton, Inference. Vgl. Mitchell, Justification.

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Überlegungen auf die Religionsphilosophie merkwürdig oder gar sachfremd vorkommen. Andererseits könnte aber doch auch manches dafür sprechen, religiöse Behauptungen nicht in völlig anderen Weisen zu begründen als andere Behauptungen. Bevor ich daher das eigentliche Argument (in möglichst untechnischer Weise) darstelle und analysiere, seien einige Erläuterungen zu den wissenschaftstheoretischen Hintergründen von Swinburnes Denken vorausgeschickt. c. Wissenschaftstheoretische Hintergründe: Bestätigungstheorie, Probabilismus und »Bayesianischer« Probabilismus Dass manche Hypothesen besser und manche schlechter mit der Erfahrung vereinbar scheinen, das gehört zu den Grundintuitionen hinter der wissenschaftlichen Tätigkeit überhaupt. Viele würden noch etwas weitergehen und eine inhaltsreichere These akzeptieren: nämlich die, dass manche Hypothesen stärker und manche schwächer durch die Erfahrung gestützt oder bestätigt werden. Ob unsere spontanen Annahmen solcher Stützungsbeziehungen einer bestimmten Logik folgen (oder ihr zumindest idealerweise folgen sollten), ob es also so etwas wie eine Theorie der Theorienbestätigung oder kurz Bestätigungstheorie gibt, ist seit Jahrhunderten umstritten. 12 Sie ist Teil einer umfassenderen Frage, nämlich der nach einer möglichen allgemeinen Logik für die vernünftige Meinungsbildung und -revision angesichts von Erfahrungszuwachs. Eine der Traditionen von Antwortversuchen auf diese Frage – sie reicht bis in die Zeiten von Pascal und Huygens zurück – geht von der zentralen Idee aus, dass Meinungen, Überzeugungsgrade und dergleichen in irgendeiner Weise auf Wahrscheinlichkeiten abbildbar sein müssen, und dass Prozesse der Meinungsbildung und Meinungsrevision dementsprechend mittels Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung rekonstruierbar sein sollten. Nennen wir diese Tradition – einer verbreiteten Terminologie folgend – Probabilismus. Dass das Wort »wahrscheinlich« zur Umgangssprache und ein wenig Wahrscheinlichkeitsrechnung heute zum Gymnasialstoff gehört, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Probabilismus kein fragloser Gemeinplatz ist, sondern eine gewichtige philosophische These. Und es ist zu ergänzen, dass sich von Francis Bacon über John Stuart Mill bis Karl Popper eine ebenso gewichtige Gegenströmung hinzieht, die den Konnex von Meinungen und Wahrscheinlichkeiten ablehnt. Dem Probabilismus haftet seit jeher auch eine gewisse Zweideutigkeit an, ob man ihn nun deskriptiv oder normativ verstehen sollte: Liefert der Probabilismus eher eine Beschreibung und ein Erklärungsmodell dafür, was in unserem Denken faktisch vorgeht, insbesondere ein Modell dafür, wie unser Erkennen mit unserem praktischen Entscheiden und Bewerten zusammenhängt, oder geht es eher

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Für eine Einführung siehe Lambert/Brittan, Wissenschaftsphilosophie.

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um den normativen Vorschlag einer Logik, der vernünftige Subjekte dabei idealer Weise folgen sollten? Und ist der subjektive und historische Kontext, in dem sich Meinungsbildung und -revision notgedrungen immer abspielen, daher ein wesentlicher Teil des Modells oder ist er möglichst auszublenden? – Als »bayesianisch« werden probabilistische Ansätze der Bestätigungstheorie dann bezeichnet, wenn sie auf diese letzteren Fragen etwa folgende fünf Punkte zur Antwort geben: (1) Bestätigung ist die Zunahme der subjektiven, epistemischen Wahrscheinlichkeit einer Hypothese; (2) die Bestätigung ist abhängig vom neuen Erfahrungsmaterial und der bisherigen Einschätzung der Hypothesenwahrscheinlichkeit; (3) die beteiligten Wahrscheinlichkeiten sind subjektiv und haben einen weiten Spielraum. Nur zur Ausklammerung gänzlich irrationaler subjektiver Wahrscheinlichkeitszuordnungen gibt es ein ganz schwaches Kriterium (auf das ich hier nicht näher eingehe). 13 Daher vertreten Bayesianer, (4) dass langfristig, angesichts derselben Erfahrungsbelege, die Wahrscheinlichkeitsurteile verschiedener Beobachter konvergieren werden, so unterschiedlich sie anfangs auch gewesen sein mögen (dies ist das vielapostrophierte »washing out of prior probabilities«, d. h. das »Herauswaschen« der Anfangswahrscheinlichkeiten). Damit räumt der Bayesianismus den persönlichen und historischen Kontextbedingungen der wissenschaftlichen Tätigkeit einen deutlichen Platz ein, ohne dadurch aber schon in einen unplausiblen Relativismus oder Kontextualismus zu verfallen. (5) Die mathematische Struktur zur Handhabung der Wahrscheinlichkeiten ist der klassische Wahrscheinlichkeitskalkül, insbesondere verschiedene Versionen des darin ableitbaren sogenannten »Bayesschen Theorems« (benannt nach Thomas Bayes). Ich versuche im folgenden ganz kurz, das Bayessche Theorem zumindest intuitiv ein wenig zu plausibilisieren. In einer seiner einfachsten Versionen hat es folgende Gestalt: P(h × e & k ) =

13

P(h × k ) Ø P(e × h & k ) P(e × k )

Dies ist das sogenannte »Dutch book-Kriterium«: Man darf seinen Meinungen keine solchen Wahrscheinlichkeiten zuordnen, dass man, wenn man darauf zu wetten gezwungen wäre, gegen einen gewitzten Wettgegner in jedem Fall verlieren würde (so eine Wettkonstellation nennt man ein Dutch book). Ein sehr simples Beispiel für einen Verstoß gegen das Kriterium: Eine irrationale Person habe unter ihren Meinungen (vielleicht ohne es zu bemerken) auch die folgenden: »Der Yeti existiert« und »Der Yeti existiert nicht«. Beiden Meinungen ordnet sie die Wahrscheinlichkeit 0.75 zu, d.h. sie würde 3:1 auf jede dieser Meinungen wetten. 3:1 wetten bedeutet, dass sie ihrer Meinungen so sicher ist, dass sie 3 Werteinheiten riskieren würde, um eine zusätzliche dazuzugewinnen. Solche Personen sind ein lohnendes Opfer für einen gewitzten Wettgegner: Er müsste nämlich nichts anderes tun, als beide dieser Wetten anzunehmen und jeweils 1 dagegenzusetzen. Existiert der Yeti, verliert er aus der ersten Wette 1 Einheit und gewinnt aus der zweiten Wette 3 dazu. Existiert der Yeti nicht, gewinnt er aus der ersten Wette 3 Einheiten und verliert aus der zweiten 1 Einheit. Wie immer also die Wette ausgeht, immer verdient der Wettgegner 2 Einheiten.

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Ganz allgemein bezeichnet P(x/y) die bedingte Wahrscheinlichkeit (P) von x angesichts eines gegebenen y; in der obigen Gleichung steht h für Hypothesen, e für Indizien (evidence) und k für das Hintergrundwissen (knowledge). Das Theorem scheint tatsächlich unsere Vorgangsweise bei derartigen Wahrscheinlichkeitseinschätzungen zu explizieren: Es geht insgesamt um P (h /e & k), also um die sogenannte Nachwahrscheinlichkeit der Hypothese, gegeben die Indizien und das Hintergrundwissen. Das ist der Term links vom Gleichheitszeichen. Zum Term rechts: Wenn die Hypothese schon vorgängig, d. h. ohne neue Indizien wahrscheinlich ist, dann steigert das natürlich auch ihre Nachwahrscheinlichkeit, die Ausgangswahrscheinlichkeit P (h /k) steht daher im Zähler des rechten Terms. Ebenso steht P(e /h & k) im Zähler, die Erwartbarkeit der Indizien bei gegebener Hypothese und gegebenem Hintergrundwissen. Denn wenn die Indizien besonders aufgrund der fraglichen Hypothese zu erwarten waren, steigert dies natürlich die Hypothesenwahrscheinlichkeit. P (e/k) dagegen, die Wahrscheinlichkeit der Indizien schon aufgrund des Hintergrundwissens, steht im Nenner. Ein hohes P(e /k) würde die Nachwahrscheinlichkeit also senken. Denn Indizien, die schon rein aufgrund unseres Hintergrundwissens mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, sind uninteressante Indizien und tragen zur Hypothesenbestätigung nur wenig bei. Umgekehrt sind Indizien, die rein vom Hintergrundwissen her kaum zu erwarten wären, also ein niedriges P(e /k) haben, gute Indizien. Veranschaulichen wir dies an einem Krimi-Beispiel, wie es auch Swinburne gerne benützt: Am Tatort eines Einbruchs wurden Schuhabdrücke der Größe 47 gefunden. Das sei das Indiz e. Die Hypothese h sei, dass Jones, 2.13 m groß und Träger von 47er-Schuhen, den Einbruch begangen hat. Das Hintergrundwissen k umfasse unser allgemeines Wissen über die Durchführung von Einbrüchen, das Zustandekommen von Schuhabdrücken, die Verteilung von Schuhgrößen in der Bevölkerung etc. P(e /k) ist dann sehr niedrig – dass zufällig 47er Schuhe am Tatort gefunden würden, ist nach allgemeinem Hintergrundwissen sehr unwahrscheinlich. Umgekehrt ist P(e /h & k) recht hoch: Wenn Jones der Täter war, dann lässt das 47er-Schuhabdrücke am Tatort erwarten. Wenn nun die Ausgangswahrscheinlichkeit von Jones’ Täterschaft, also P (h /k), nicht gerade extrem klein oder gar null ist, dann wird die Nachwahrscheinlichkeit P(h /e & k) ziemlich groß werden. 47er-Schuhabdrücke sind ein gutes Indiz, das die Hypothese stark bestätigt. Wären dagegen Abdrücke der Größe 43 gefunden worden und hätte Jones diese Größe, würde dies die Hypothese seiner Täterschaft nur ganz schwach bestätigen. P (e /k) im Nenner wäre ziemlich hoch, denn Abdrücke der häufigen Größe 43 finden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit an verschiedensten Plätzen. Der Wert des Bruches, d. h. die Nachwahrscheinlichkeit der Hypothese, würde dadurch insgesamt kleiner.

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d. Das eigentliche Kumulativargument Kommen wir jetzt zu den wesentlichen Schritten von Swinburnes Argumentation. In einer ganz untechnischen Form kann man sie wie folgt zusammenfassen. 14 Die Schritte (1) bis (3) leiten dabei die großräumige Strategie des Arguments ein, Schritte (4) bis (8) stellen Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit Gottes noch ohne den Einbezug religiöser Erfahrung an, und Schritt (9) – der auf Schritt (3) zurückkommt – führt unter Einbezug auch der religiösen Erfahrung zu einem noch stärkeren Ergebnis für die Wahrscheinlichkeit Gottes: (1) Erfahrungen und Erfahrungsberichten ist solange zu trauen, als ihr Inhalt nicht aus anderen Gründen höchst unwahrscheinlich ist (das sind die sog. Principles of Credulity bzw. Testimony). (2) Einige religiöse Gläubige machen Erfahrungen bzw. berichten von religiösen Erfahrungen, die, sofern sie wahrheitsgemäß sind, die Existenz Gottes implizieren würden. (3) Also sind (Berichte von) religiöse(n) Erfahrungen glaubwürdig, sofern die Existenz Gottes nicht aus anderen Gründen höchst unwahrscheinlich ist (aus (1) und (2)). (4) Die Behauptung der Existenz Gottes ist nicht in sich widersprüchlich. (5) Die Welt zeigt sechs allgemeine Züge, die am besten durch die Existenz eines theistisch verstandenen Gottes erklärt würden. Ein solcher Gott würde mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Universum mit solchen Zügen schaffen. Daher sind sie (wenngleich nicht allzu starke) Belege für Gottes Existenz: (a) die Existenz eines komplexen physikalischen Universums; (b) die erkennbare Ordnung im Universum; (c) die Existenz bewusstseinsbegabter Wesen; (d) die Übereinstimmung zwischen menschlichen und tierischen Bedürfnissen einerseits und Umweltgegebenheiten andererseits; (e) (möglicherweise) das Vorkommen von Wundern; (f) die auffällige Feinabstimmung etlicher grundlegender Naturkonstanten (ohne die es keine stabilen Atomkerne gäbe, damit kein Leben auf Kohlenstoffbasis etc.). (6) Die Existenz und das Ausmaß des Übels in der Welt stellen dagegen keinen entscheidenden Beleg gegen die Existenz Gottes dar, da ein Gott (im Sinn der 14

Vgl. Swinburne, Existence. Zwischen der Argumentationsstrategie der ersten (1979), der revidierten (1991) und der zweiten Auflage (2004) von The Existence of God gibt es allerdings einige Detailunterschiede, auf die ich in meinem Vortrag auf einer Frankfurter Tagung zu Ehren von Richard Swinburne im Oktober 2009 hingewiesen habe; Swinburne scheint die Existenz Gottes inzwischen höher anzusetzen. Die Publikation dieses Vortrags ist für die nähere Zukunft geplant. Meine früheren Analysen in Gott als beste Erklärung und Religiöse Erfahrung beziehen sich jeweils noch auf die erste Auflage. Der Beitrag von Georg Nickel und Dieter Schönecker in diesem Band bezieht sich dagegen auf die zweite Auflage.

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traditionellen theistischen Konzeption) durchaus gute Gründe haben könne, eine Welt wie die unsere zu schaffen. (7) Neben dem Übel gibt es keine weiteren signifikanten Belege, die gegen Gottes Existenz sprechen. (8) Also ist Gottes Existenz aufgrund dieser Belege nicht höchst unwahrscheinlich, sondern sie hat eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit (aus (5), (6) und (7)). (Manche Textstellen [etwa Existence, S. 151] deuten darauf hin, dass Swinburne bereits diese Wahrscheinlichkeit als etwa 0.5 einschätzt.) (9) Also sind (Berichte von) religiöse(n) Erfahrungen glaubwürdig, d. h. Gottes Existenz ist wahrscheinlicher als seine Nichtexistenz (aus (3) und (8)). Das bedeutet, dass die Existenzwahrscheinlichkeit irgendwo zwischen 0.5 und 1 liegt (wohl näher an 1). Der auf 1 jeweils noch fehlende Raum ist das Betätigungsfeld des persönlichen Glaubens. Die Rechtfertigung von These (5) und der Schritt von (5), (6) und (7) auf (8) sind die Stellen, wo bestätigungstheoretische Überlegungen ins Spiel kommen. 15 Swinburne versteht sein Argument nicht als zwingend stichhaltig, sondern lediglich als den Vorschlag einer »besten Erklärung« für bestimmte Eigenschaften der Welt. Als eine solche Erklärung ist sie immer noch offen für persönliche Zustimmung oder Ablehnung – Verhältnisse also, wie sie etwa auch in peripheren und unsicheren Gebieten der Naturwissenschaften herrschen. e. Die entscheidende Rolle religiöser Erfahrung Nicht immer wird in der bisherigen Literatur hinreichend gesehen, dass die religiöse Erfahrung in Swinburnes Argument nicht etwa als ein Beleg unter anderen fungiert. Man beachte, dass die in These (5) erwähnten sechs Indizien (also jene außer der religiösen Erfahrung) nur der Begründung dienen sollen, dass die Hypothese der Existenz Gottes eine gewisse (nicht zu niedrige) Wahrscheinlichkeit hat, möglicherweise vielleicht um die 0.5 (siehe Schritt (8)). 16 Also ruht ein entscheidender Teil der Beweislast eigentlich auf der religiösen Erfahrung und auf Swinburnes erkenntnistheoretischen Glaubwürdigkeitsprinzipien (Principle of Credulity, Principle of Testimony, Schritt (1)). Man ersieht dies leicht an den Schritten (2) und (9), die die wesentliche argumentative Klammer im Argument bilden. Die religiöse Erfahrung ist also nicht ein siebter, gleichrangiger Beleg zusätzlich zu den sechs anderen. Sie spielt vielmehr die Rolle, die Beweislast von vornherein so zu verteilen, dass religiöse Behauptungen prima facie als glaubwürdig zu betrach15 16

Siehe Swinburne, Introduction und Existence, Kap. 3–6 und Kap. 14. In der ersten Auflage sollten diese Belege überhaupt nur sicherstellen, dass die Existenz Gottes nicht höchst unwahrscheinlich ist, also keine Wahrscheinlichkeit nahe 0 hat; siehe dazu Löffler, Gott als beste Erklärung, S. 107.

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ten sind und es nun nur mehr darauf ankommt, grundlegende Zweifel an ihnen abzuweisen. Die übrigen Belege dienen dann eben dazu, diesen Abweis grundlegender Zweifel zu leisten. Eine verwandte Struktur der vorgängigen Beweislastverschiebung zugunsten religiöser Meinungen wird uns auch bei Plantinga und Alston wieder begegnen. Welche Arten religiöser Erfahrungen Swinburne hierfür als geeignet erachtet, führt er nicht allzu breit aus. In unserer obigen Klassifikation denkt er wohl eher an außergewöhnliche religiöse Erfahrungen mit relativ reichem Inhalt, da er sagt, dass sie nur wenigen Menschen zukommen (daher die Erwähnung des Principle of Testimony). Sie müssen jedenfalls reich genug sein, um die Existenz Gottes zu implizieren. Weitere Ansätze etwa einer sozialen doxastischen Praxis (wie bei Alston) finden sich m.W. nicht. Es sieht also insgesamt so aus, dass an den religiösen Erfahrungsepisoden, die nur einzelnen Menschen zu Verfügung stehen, die epistemische Wahrscheinlichkeit der religiösen Hypothese für alle Menschen hängt, und zwar offenbar durchaus auch für jene Menschen, die gar nicht der engeren eigenen »religiösen Erkenntnisgemeinschaft« angehören. Denn Swinburne strebt, wie erwähnt, einen Rationalitätsausweis des Christentums auch nach außen an. f. Was ist problematisch an Swinburnes Argument? aa) Ästhetischer und moralischer Objektivismus als Voraussetzung Einige der Teilüberlegungen aus Schritt 5 setzen voraus, dass es objektive, unabhängig von der Existenz der Welt bestehende und auch für Gott geltende ästhetische und moralische Werte gibt. Deutlich wird dies etwa an Swinburnes Thesen, Ordnung sei intrinsisch schön und die Zahlenwerte null und unendlich hätten eine Natürlichkeit, Schlichtheit und Schönheit, die anderen Werten fehle. Zudem sei es in sich gut, wenn Wesen (wie die Tiere) existieren, die offensichtlich ihr Dasein (Nahrungsaufnahme, Fortbewegung, Fortpflanzung) im Wesentlichen genießen. Ebenso ist die Existenz von bewusstseinsbegabten Lebewesen, die die Welt erkennen und teilweise beeinflussen und sogar mit Gott in Kontakt treten können, in sich gut. Ein extremes Beispiel für Swinburnes ästhetischen und moralischen Objektivismus ist die These, dass den Tieren durch die Erschaffung des Menschen Formen der Kooperation und interessanter Arbeit ermöglicht werden, die ihnen ansonsten verschlossen blieben, ebenso wie den Menschen durch die Erschaffung der Tiere neue Formen der Freundschaft erschlossen werden. Alle diese Möglichkeiten sind in sich gut und ein Grund, eine Welt wie die unsere zu erschaffen. 17 – Es ist fraglich, ob es für manche dieser Thesen Swinburnes

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Vgl. Swinburne, Existence, S. 190f., S. 97, S. 118–123, S. 233 u.a.

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eine personenunabhängige Begründung gibt, oder ob sie nur die Einschätzungen bestimmter Personenkreise zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kulturen widerspiegeln. Und überhaupt ist die realistisch-objektivistische Deutung ästhetischer und moralischer Werten überaus umstritten, sowohl was den ontologischen Status solcher Werte als auch was den epistemischen Zugang zu ihnen betrifft. 18 bb) Das Problem der unabschätzbaren Wahrscheinlichkeiten Der entscheidende Einwand gegen Swinburnes Argument richtet sich aber gegen seine Wahrscheinlichkeitszuordnungen. Was könnten denn vernünftige Kriterien zur Einschätzung der epistemischen Wahrscheinlichkeit von, sagen wir, e bei gegebenem (h und k) sein? Oder von e bei gegebenem (k, aber h)? Was wäre also eine vernünftige epistemische Wahrscheinlichkeit dafür dass, unter der Annahme, dass Gott existiert, er auch bewußtseinsbegabte Wesen schaffen wird? Oder ein feinabgestimmtes Universum eher als ein anderes, oder vielleicht gar ein völlig chaotisches? Und was ist eine vernünftige epistemische Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Universum wie das unsere ganz zufällig, ohne Gottes Eingreifen in Existenz gelangen könnte? All das scheint doch extrem schwierig abzuschätzen. Bekannt ist das bon mot von Niels Bohr, demzufolge Prognosen eine schwierige Sache sind, speziell die für die Zukunft; man könnte hinzufügen, dass auch die Retrodiktion äußerst heikel wird, sobald man sich auf Vorgänge vor der Existenz des Universums bezieht. Der einzige Ausweg scheint dann die Voraussetzung eines großen Wissensbestandes über das Wesen Gottes und seine Handlungsmotive zu sein, und damit verbunden die erwähnte stark realistisch-objektivistische Konzeption ästhetischer, moralischer, methodologischer und anderer Werte, wie Swinburne sie vertritt. Erst aufgrund solcher Werte könnte man dann nicht nur partielle Voraussagen über Gottes Handeln treffen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit von Gottes Existenz (zumindest komparativ) beurteilen. Tatsächlich ist Swinburnes Buch voll von Bemerkungen in dieser Richtung. Spezielle Beachtung verdient dabei seine aprioristische Konzeption der Einfachheit. Wie er selbst hervorhebt, ist simplex sigillum veri (etwa: Einfachheit ist ein Anzeichen der Wahrheit) ein zentrales Motiv seines Buches. Es sind Einfachheitsüberlegungen, die das primäre Kriterium zur Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten darstellen, etwa auch zur Beurteilung der Existenzwahrscheinlichkeit eines unendlichen und in diesem Sinne einfachen Wesens wie Gott. Es ist nun allerdings schwer zu sehen, dass nicht die Vertrautheit mit unserer Welt, wie sie eben ist, solche Einfachheits- und Wahrscheinlichkeitsspekulationen beeinflussen wird. Wir können kaum anders, als solche Wahrscheinlichkeiten

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Für dieses weite Feld sei auch auf die Beiträge zur Ästhetik und Ethik in diesem Band verwiesen.

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anhand unserer Welt, wie sie eben ist, zu beurteilen. Vor allem werden auch weltanschaulich-religiöse Hintergrundannahmen solche Beurteilungen beeinflussen. Eine Person mit theistisch geprägter Weltanschauung mag ihre Wahrscheinlichkeiten vielleicht so zuordnen, wie Swinburne dies skizziert. Andersdenkende können hier allerdings – da die Wahrscheinlichkeiten subjektiv sind – mit gutem Recht anders denken; der Appell an Einfachheitsüberlegungen dürfte also keine weltanschauungsübergreifende argumentative Kraft haben. So weit ich sehe, trifft sich diese Einschätzung übrigens auch mit den Resultaten der wissenschaftstheoretischen Debatte der letzten Jahrzehnte um das Einfachheitskriterium. Stark vereinfacht hat diese Debatte erbracht, dass es objektive Maßstäbe für die Einfachheit von Hypothesen nicht zu geben scheint. 19 Die behauptete Einfachheit einer Hypothese stellt sich meist als die Vertrautheit der Hypothesenbenützer mit ihr heraus, und diese ist wiederum abhängig von der Wahl einer Bezugssprache, eines Begriffsrahmens etc. Mir scheint, dass hier – im Bereich von Swinburnes Einfachheitsannahmen und ihrer Abhängigkeit von unklaren Hintergrundannahmen – das Grundproblem von Swinburnes Ansatz liegt. Dass verschiedene Personen ihre Wahrscheinlichkeitszuordnungen unterschiedlich verteilen, scheint jedenfalls eine immanente Grenze zu sein, der sich eine probabilistische Gotteslehre im Stile Swinburnes bewusst bleiben sollte. cc) Ein getarntes Kontingenzargument? Man kann aus dieser Abhängigkeit des Arguments vom weltanschaulichen Hintergrund aber wohl noch etwas lernen, und zwar in einem allgemeineren religionsphilosophischen Punkt. Wie erwähnt, lehnt Swinburne es ja an sich ab, Argumente für Gottes Existenz auf Prinzipien wie jenes vom zureichenden Grund oder das metaphysische Kausalprinzip aufzubauen. Statt dessen schlägt er die Umformulierung in Wahrscheinlichkeitsargumente vor. Wenn man also immer wieder liest, Swinburne sei der zeitgenössische Fortsetzer der traditionellen scholastischen Gottesbeweise, so stimmt das nur sehr bedingt: Sein Denken hat – zumindest oberflächlich betrachtet – mit der Physikotheologie und den design arguments des späten 17. und des 18. Jahrhunderts wesentlich mehr gemein als mit den Scholastikern. Dennoch: Wenn man Swinburnes Argument näher betrachtet, so dürfte es doch wieder auf ein großangelegtes Argument aus der Kontingenz der Welt hinauslaufen. Erstens lässt sich mit nur wenig technischem Aufwand zeigen, dass die Existenz Gottes fast zur Gewissheit wird (also Wahrscheinlichkeiten um die 0.99 … annimmt), wenn man die Prämissen Swinburnes in einigermaßen faire

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Zur ersten Orientierung über die Einfachheits-Debatte siehe Baker, Simplicity.

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konkrete Zahlenzuordnungen umgießt und mit seiner Bayesianischen Methode weiterrechnet. 20 Die Existenz Gottes ergibt sich also beinahe mit deduktiver Zwangsläufigkeit. Aber auch an einigen einzelnen Punkten, vor allem im Wege über seine Einfachheitsurteile, scheint der Inhalt dieser traditionellen Prinzipien doch wieder durch die Hintertür eingeschleust zu werden. Beispielsweise scheinen Urteile wie »P(e /h & k) ist viel größer als P(e /h & k)« oder »P(h /k) ist viel größer als P(e /h & k)« den Gehalt dieser Prinzipien in verdeckter Form zu enthalten, probabilistisch maskiert und hauptsächlich begründet mit dem Verweis auf »Einfachheit«. Im Grunde bedeuten solche Behauptungen aber doch, dass diese Fakten kaum ohne einen zureichenden Grund bzw. eine entsprechende Ursache existieren können. 21

3. Alvin Plantinga und der warrant religiöser Erfahrungsmeinungen Alvin Plantingas 22 (*1932) Grundthese, die sein Werk in allen Phasen überspannt und die er in verschiedenen Stoßrichtungen verteidigt hat, kann man etwa wie folgt zusammenfassen: Es gibt keine plausible Erkenntnistheorie, die den Theismus als irrational ausschließen würde. Plantinga versteht sein Werk auch dezidiert als christliche Philosophie. Dabei ist in seinem Werk jedoch eine Entwicklung feststellbar, die man übersichtsweise anhand eines klassischen religionskritischen Arguments aufzeigen kann, das zuweilen als evidentialist objection bezeichnet wird:

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Ich habe dies – noch für die erste Auflage von The Existence of God – gezeigt in Löffler, Gott als beste Erklärung, S. 108–112 und ausführlicher in Löffler, Eine vermutlich unerwünschte Konsequenz. Für die zweite Auflage würde sich dieser Schluss erst recht ergeben. Eine generellere religionsphilosophische Überlegung könnte sich an diesen Befund anschließen: Wenn traditionelle Ideen wie das Kausalprinzip anscheinend so hartnäckig sind, dass sie auch in Swinburnes probabilistischer Argumentation in verdeckter Form wieder auftauchen, dann ist das vielleicht ein Hinweis für ihre bleibende Relevanz. Möglicherweise sind sie sogar unverzichtbar für eine Religionsphilosophie, die auch ihren metaphysischen Ambitionen nachkommen möchte. Für eine Autobiographie, kommentierende Darstellungen seines Werkes und eine Sammelreplik Plantingas (alles freilich mit Stand Mitte der 1980er Jahre) siehe Tomberlin/van Inwagen (Hrsg.), Alvin Plantinga. Weitere Sammelbände über Plantingas Werk sind Kvanvig (Hrsg.), Warrant und Baker (Hrsg.), Alvin Plantinga. Eine Auswahl von Primärtexten bietet Sennett, Analytic Theist. Neuere Gesamtdarstellungen von Plantingas Werk bieten auch Sennett, Modality und Beilby, Epistemology as Theology. Für kritische Auseinandersetzungen siehe auch McLeod, Rationality sowie in deutscher Sprache Schärtl, Wahrheit und Gewissheit und Glaubens-Überzeugung; Wiertz, Begründeter Glaube? ; Schupp, Glaube und Erkenntnis. Meine folgende Kurzdarstellung von Plantingas Werk orientiert sich stark an Sennett.

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Der traditionelle religionskritische Einwand (TRK): Theistische Überzeugungen 23 sind epistemisch irrational, denn (i) Es gibt keine gerechtfertigten theistischen Überzeugungen ohne ein stichhaltiges Argument für die Existenz Gottes, aber (ii) Es gibt kein stichhaltiges Argument für die Existenz Gottes. Die Gegenstrategie der traditionellen philosophischen Theologie sei es laut Plantinga gewesen, (i) zu akzeptieren, aber (ii) zu bestreiten, indem sie verschiedene Argumente für Gottes Existenz vorschlug. Auch Plantinga in seinen frühen Werken hat im Grunde noch dieselbe Strategie verfolgt: Es ging ihm darum, (ii) zu relativieren oder zu bestreiten. Am bekanntesten und einflussreichsten wurden dabei die beiden Monographien God and Other Minds (1968) und The Nature of Necessity (1974). In God and Other Minds formulierte Plantinga ein Paritätsargument zur Relativierung der Behauptung (ii): Auch für den Glauben an andere Bewusstseine gäbe es zwar kein absolut zwingendes Argument, dennoch wird er von den allermeisten Menschen zu recht als rational eingestuft. Die besten Argumente für die Existenz anderer Bewusstseine (oder der Außenwelt, etc.) seien ungefähr so gut oder so schlecht wie die besten Argumente für die Existenz Gottes. Wenn man also rationaler Weise an andere Bewusstseine glauben kann, obwohl die Beweislage nicht sonderlich gut ist, warum dann nicht auch an Gott? 24 In Kapitel X von The Nature of Necessity formulierte Plantinga eine moderne Version des ontologischen Arguments für die Existenz Gottes, das sich die Mittel der zeitgenössischen Modallogik und eine bestimmte Deutung der Ontologie hinter unserem Modalitäten-Diskurs zunutze machte. Dieses Argument ist – ebenso wie Plantingas Modalitäten-Metaphysik – inzwischen zu einem Klassiker avanciert. 25 Freilich war Plantinga immer davon überzeugt, dass ein solches Argument zwar theoretisch interessant, aber für die religiöse Praxis der allermeisten Menschen bedeutungslos ist und sich sicher nicht als »Missionswerkzeug« eignet; solche Überlegungen und auch das eben beschriebene Paritätsargument brachten Plantinga in den späten 70er und frühen 80er Jahren dazu, die Ausgangslage einer christlich orientierten Religionsphilosophie überhaupt anders einzuschätzen. Vielleicht, so Plantinga, stecke der angreifbare Schwachpunkt der Religionskritik weniger in Prämisse (ii), sondern in Prämisse (i): Es könnte doch gerechtfertigte theistische Überzeugungen 23

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»Theistische Überzeugungen« sind, in erster Näherung gesprochen, Überzeugungen, die die Existenz eines im Sinne der theistischen Religionen konzipierten Gottes implizieren würden. Wir werden unten (in Abschnitt 3.b) ee)) sehen, dass Plantinga in späteren Werken noch zwischen theistischen und spezifisch christlichen Überzeugungen unterscheidet. Die hier erwähnte Grundthese Plantingas bleibt davon aber unberührt. In God and Other Minds ist damit allerdings bereits auch die Linie des Paritätsarguments angelegt, die Plantinga später deutlich ausbauen wird. Plantingas wesentliche Aufsätze zum Thema sind in der Aufsatzsammlung Metaphysics of Modality zusammengefasst.

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geben, ohne dass man auch ein stichhaltiges Argument für Existenz Gottes zur Verfügung hat. Und diese gedankliche Wendung steckt hinter dem, was Plantinga und seine Mitstreiter eben als »reformierte Erkenntnistheorie« (RE) bezeichneten. Die RE bestreitet also (i) und ist somit eine Gegenposition zur traditionellen Religionskritik ebenso wie zur traditionellen philosophischen Theologie, so wie Plantinga sie skizziert hat. Beide seien nämlich – durch ihre Akzeptanz von (i) – Formen eines schlechten »Begründungsdenkens« (evidentialism), und letztlich Formen des »klassischen erkenntnistheoretischen Fundationalismus«. Die allgemeine These der RE lautet, etwas präzisiert, also so: Theistische Überzeugungen brauchen nicht auf irgendwelche satzartig formulierbare Gründe (propositional evidence) gestützt sein, um epistemisch gerechtfertigt zu sein. Theistische Überzeugungen können berechtigterweise basale Überzeugungen (properly basic beliefs) sein. Diesen Grundgedanken hat Plantinga in einer ganzen Reihe von Aufsätzen 26 sowie in den 1990er Jahren in der Warrant-Trilogie 27 weiter ausgefaltet und begründet. a. Einige erkenntnistheoretische Hintergründe Um Plantingas neuere Position richtig einzuordnen und naheliegenden Missverständnissen schon im Vorfeld entgegenzuwirken, dürften einige Erläuterungen zum Internalismus-/Externalismus-Problem sowie zum Fundationalismus-/ Antifundationalismusproblem nützlich sein. aa) Das Internalismus/Externalismus-Problem, gezeigt anhand des GettierProblems Beginnen wir mit der Frage: Was zeichnet berechtigte Überzeugungen aus? Wann dürfen wir annehmen, dass unsere Meinungen, Annahmen, Überzeugungen auch ein »Wissen« darstellen? Welche Kriterien müssen dafür erfüllt sein? Die traditionelle Antwort, die schon bei Platon grundgelegt ist, hätte wohl gelautet: »Wissen ist gerechtfertigter wahrer Glaube«, und man nennt dies oft den »JTB-account of knowledge« (von justified true belief). Um p zu wissen, muss man p glauben, p muss wahr sein (denn man kann ja nichts Falsches wissen, sondern es allenfalls nur glauben), und man muss eine Rechtfertigung für p haben (das unterscheidet das Wissen eben vom zufällig richtigen Glauben oder Erraten). Mit dem nur dreiseitigen Aufsatz Is justified true belief knowledge? (1963) hat Edmund Gettier – übrigens zeitweise ein Instituts-Kollege Plantingas – diese Auffassung ins Wanken gebracht und die neue Debatte um die Explikation von »Wissen« losgetreten. Es gibt nämlich Beispiele von gerechtfertigtem wahrem Glauben, die man dennoch 26 27

Siehe insbesondere seinen Beitrag Reason and Belief in God. Warrant: The Current Debate; Warrant and Proper Function; Warranted Christian Belief .

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schwerlich als Wissen bezeichnen würde. Ein Beispiel (frei nach Bertrand Russell): Nehmen wir an, jemand blickt kurz nach 4 Uhr auf die Bahnhofsuhr und bildet die Meinung »es ist kurz nach 4«. Nennen wir diese Meinung p. Was die Person nicht weiß, ist, dass die Uhr zufällig genau vor 24 Stunden stehengeblieben ist und bislang nicht repariert wurde. Nun ist p ein Glaube, es ist zudem ein wahrer Glaube (denn es ist ja kurz nach 4!), und unsere Person hat auch eine ziemlich starke Rechtfertigung für p, denn Bahnhofsuhren gelten gemeinhin als verlässliche Auskunftsquellen für Zeitangaben im hier geforderten Präzisionsgrad. Die klassischen drei Bedingungen des Wissens sind also erfüllt, und dennoch würden wir wohl zögern, dieser Person ein Wissen zuzuschreiben, sondern eher sagen, sie hätte mit der Bildung ihrer zufällig richtigen Meinung einfach großes Glück gehabt. Wissen scheint also mehr zu sein als nur gerechtfertigter wahrer Glaube, oder zumindest scheinen nur ganz bestimmte Formen der Rechtfertigung dafür auszureichen. Welche zusätzlichen oder verschärften Bedingungen müssen also erfüllt sein, damit man von »Wissen« sprechen kann? 28 Es gibt zwei unterschiedliche Tendenzen, wie in der Erkenntnistheorie eine Lösung für diese Frage gesucht wird, nämlich den Internalismus und den Externalismus. Erkenntnistheoretische Internalisten glauben, dass die nötigen ZusatzBedingungen für Wissen am ehesten für das erkennende Subjekt selbst (d. h. aus seiner »Innenperspektive«) zugänglich und zu prüfen sind. Bekannte Beispiele für internalistische Theorien sind die sogenannten Kohärenztheorien (im weiteren Sinne): Ein Glaube sei ein Wissen genau dann, wenn er mit den sonstigen Meinungen, Überzeugungen der betreffenden Person ideal kohäriert, das heißt ein stimmiges Ganzes bildet. Inwieweit diese Kohärenz besteht, kann am ehesten das erkennende Subjekt beurteilen. Wie diese »Kohärenz« näher zu definieren ist, ist allerdings ein großes und, so weit ich sehe, bislang ungelöstes Problem. Kohärenz muss mehr sein als bloße logische Konsistenz, aber weniger als strikte logische Folgerbarkeit: Dass eine neu hinzutretende Meinung widerspruchsfrei zu den bisherigen gerechtfertigten Meinungen dieser Person hinzugefügt werden kann, ist für Kohärenz sicher zu wenig (dass es in meinem Keller genau sieben Spinnen gibt, ist widerspruchsfrei zu meinen sonstigen Meinungen hinzufügbar; von rechtfertigender Kohärenz kann man allein deshalb aber wohl noch nicht sprechen, man wird wohl irgendwelche Gründe für diese Meinung verlangen müssen). Zwischen kohärenten Meinungen scheinen also irgendwelche Folgerungsbeziehungen bestehen zu müssen; allerdings darf man diese Folgerungsrelationen zwischen »alten« und »neu hinzutretenden« Meinungen auch nicht zu stark veranschlagen, denn 28

Das Problem der richtigen Explikation von Wissen als Frage nach der »vierten Bedingung« zusätzlich zu JTB aufzuziehen, ist natürlich nicht die einzige logische Möglichkeit des Herangehens an das Problem. Man könnte auch der Meinung sein, dass der JTB-Ansatz schon grundsätzlich verfehlt ist. Aus Gründen der Kürze werde ich im Folgenden aber so tun, als sei die Ergänzung/Präzisierung des JTB-Ansatzes der fraglos einzige Lösungshorizont.

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sonst könnte man ja nichts neues, überraschendes mehr dazulernen. Das Problem ist, wie gesagt, noch ungelöst. Wie auch immer, der Grundeinwand gegen Kohärenztheorien ist der Idealismus-/ bzw. Relativismuseinwand: es könnte mehrere, vielleicht sogar beliebig viele »kohärente Geschichten« über die Welt geben, ohne dass man letztlich weiß, welcher zu trauen ist. Vielleicht ist unser Bild von der Welt damit kein Wissen, sondern nur eine Konstruktion des Meinungen bildenden Subjekts? Diesem Problem versucht eine andere Spielart internalistischer Theorien auszuweichen, nämlich die sogenannten deontologischen Theorien (im weiteren Sinne, von griech. dei, man soll/muss). Eine Meinung ist nach diesen Theorien ein Wissen genau dann, wenn die betreffende Person bei ihrer Gewinnung irgendwelche »epistemischen Pflichten« bzw. »Normen« erfüllt hat. Bekannte Beispiele deontologischer Theorien sind die These von René Descartes, Wissen müsse sich auf »klare und distinkte« Vorstellungen oder Wahrnehmungen stützen, oder John Lockes These, man müsse die Grade seiner Überzeugungen an den verfügbaren Erfahrungsbelegen proportionieren. Zwei Einwände gegen deontologische Theorien liegen auf der Hand. Erstens: Woher und wie ist eigentlich die Intersubjektivität dieser Pflichten bzw. Normen zu begründen, oder anders gefragt, wie argumentiert man gegen Personen, die »abweichende« epistemische Pflichten oder Normen vertreten, etwa epistemische Skrupulanten oder epistemisch fahrlässige Personen? (Notabene: Man kann dazu nicht einfach darauf verweisen, dass diese abweichenden Normen zuwenig Wissen produzieren (sondern vielmehr Irrtum oder uferlosen Zweifel); denn dazu müsste man schon wissen, was »Wissen« ist, und gerade das steht ja zur Frage!) Zweitens: Was ist mit den Meinungen jener Personen, die zwar alle ihre Pflichten erfüllen, aber an irgendwelchen unentdeckten kognitiven Fehlfunktionen leiden (von der Farbenblindheit bis hin zu logischen Fehlertendenzen)? Als strikter Deontologist müsste man deren Meinungen, sofern sie wahr sind, eigentlich als Wissen anerkennen; dennoch scheint dies unplausibel. Die wahren Meinungen solcher Personen wären nur zufällige Glückstreffer ähnlich wie in Russells Uhrenbeispiel oben. Erkenntnistheoretische Externalisten nehmen genau solche Probleme zum Anlass, einen anderen Vorschlag zu machen: Die Zusatzbedingungen für Wissen sind derart, dass man ihre Erfüllung nicht durch das erkennende Subjekt selbst, sondern nur aus einer Außenperspektive überprüfen kann (ob eine Person z. B. farbenblind ist, hohe Tonfrequenzen nicht hört oder zu Verschwörungstheorien neigt, kann besser der Arzt als die betreffende Person entscheiden). Zuverlässigkeitstheorien der epistemischen Rechtfertigung (das ist ein etwas sperriger Übersetzungsvorschlag für den »reliabilism«, wie er etwa von Alvin Goldman vertreten wird) behaupten: Meinungen sind Wissen genau dann, wenn sie aus ansonsten verlässlichen, d. h. meist wahre Überzeugungen produzierenden Erkenntnisprozessen oder -vermögen stammen. Auch gegen solche Theorien liegt ein Einwand auf der Hand: Sind wahre, aber durch »irgendwie falsche«, sachlich irrelevante

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Prozesse erworbene Überzeugungen tatsächlich Wissen? Zuverlässigkeitstheorien scheinen also manche Gettier-Probleme nicht lösen zu können. Denken wir nochmals an unser Uhrenbeispiel zurück: Das zuverlässige Funktionieren ihrer Erkenntniseinrichtungen hat unserer Person unter der Bahnhofsuhr nichts genützt, wir würden ihre Meinung »es ist kurz nach 4« dennoch nicht als Wissen einstufen. Sobald man sich in »unfreundlichen Erkenntnisumgebungen« bewegt, die mit epistemischen Unbilden wie stehen gebliebenen Uhren, Zerrspiegeln, Pflanzenattrappen oder potemkinschen Bauten bestückt sind, nützen auch bestens funktionierende Erkenntniseinrichtungen oft nichts mehr – zufällig wahre Meinungen sind in solchen Umgebungen häufig kein Wissen. Ein anderer externalistischer Vorschlag ist die Theorie der guteingeführten, erfolgreichen Erkenntnispraxis von William Alston (siehe dazu das nächste Kapitel). Eine Meinung stellt nach diesem Vorschlag ein Wissen dar genau dann, wenn sie aus einer bisher gut eingeführten, sozial geteilten Erkenntnispraxis stammt, die bisher nicht als prinzipiell unzuverlässig widerlegt wurde. Solche Erkenntnispraktiken sind z. B. die Sinneswahrnehmung, das Hören auf glaubwürdige Zeugen und allerlei Arten von bewährten Messverfahren, aber nach Alston z. B. auch – und dies ist religionsphilosophisch und theologisch von Bedeutung – die mystische Erfahrung. Bestimmte verfestigte Formen religiöser Erfahrung können durchaus Erkenntnischarakter haben und Wissen produzieren. Das Hauptproblem solcher Theorien ist die offensichtliche Gruppen-, Gemeinschafts- bzw. Kulturrelativität vieler solcher Praktiken. Viele Menschen unserer Kultur würden z. B. auf Schamanen- oder Orakelbefragungen in fremden Religionen allenfalls religionswissenschaftlich interessiert, aber epistemisch wohl achselzuckend bis ablehnend reagieren, und schon innerhalb z. B. des Christentums gibt es einen ansehnlichen Disput über den Wert verschiedener religiöser Erkenntnispraktiken (man denke an sogenannte charismatische Erneuerungsbewegungen und ihre Gottesdienstformen, Privatoffenbarungen, zeitgenössische Volkspropheten und umstrittene religiöse Figuren wie Padre Pio und vieles andere mehr). Vom Wissen dagegen wird gemeinhin gefordert, dass es – entsprechende Aufmerksamkeit und Vorkenntnisse vorausgesetzt – allen gleichermaßen zugänglich ist. Ein dritter externalistischer Vorschlag sind »Proper function«-Theorien, wie sie etwa Ruth Garreth Millikan vertritt 29 und wie sie sich auch Plantinga in seinen jüngeren Werken zu eigen macht: Meinungen sind Wissen genau dann, wenn sie aus »properly functioning«, d. h. bauplangemäß funktionierenden Erkenntniseinrichtungen stammen. Unsere Erkenntniseinrichtungen scheinen nämlich – ähnlich wie andere belebte Naturgegenstände auch – so etwas wie einen Bauplan, einen Zweck und eine Funktion zu haben, die sich in vielen Fällen auch durch eine evolutionäre Erfolgsgeschichte erklären lassen. Das Auge ist zum Sehen, das

29

Vgl. Language, bes. Kap. 1.

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Ohr zum Hören jeweils bestimmter Frequenzbereiche da, das Gehirn und das Bewusstsein zu komplexeren Informationsverarbeitungsprozessen, etc. Sofern unsere Erkenntniseinrichtungen bauplangemäß funktionieren, produzieren sie Wissen. Die Achillesferse von »proper function«-Theorien ist das sachliche und erkenntnismäßige Problem solcher »design plans« in der Natur. Sachlich scheinen solche Redeweisen aufgeladen zu sein mit einer teleologischen Naturbetrachtung, d. h. mit der Unterstellung von Zweckgerichtetheiten in der Natur, die in einer evolutionären Betrachtungsweise eigentlich unzulässig sind. Biologische Phänomene sind nicht »zu einem Zweck da«, sondern haben sich evolutionär eben faktisch so entwickelt. Lässt man dieses grundsätzliche Problem einmal beiseite, so verbleibt das zweite Problem, wie man solche »design plans« bzw. Verstöße gegen sie verlässlich erkennen kann. Plantingas suggestive Beispiele wie das eines Vogels mit gebrochenem Flügel, der verzweifelte Startversuche unternimmt, mögen offensichtliche Fälle von »improper function« sein, helfen in ernsthaften Abgrenzungsfragen aber nicht weiter. Es ist z. B. psychologisch wohlbekannt, dass normal vernünftige, aber mathematisch untrainierte Versuchspersonen deutliche Schwächen im Einschätzen von Statistiken und Wahrscheinlichkeitsargumenten haben (davon leben u. a. Staatslotterien); ist dies nun ein Fall von »improper function«, sieht unser Bauplan für dieses evolutionär relativ neue Phänomen noch nichts vor oder ist die Schwäche vielleicht sogar Teil unseres Bauplans? Wie könnte also unser Erkenntnisbauplan und die volle »proper function« aussehen? bb) Das Fundationalismus/Antifundationalismusproblem Wenden wir uns unserem zweiten Problemkreis zu. Unsere Meinungen sind nicht isoliert voneinander, sondern bilden ein unüberschaubares Netz von logischen und inhaltlichen Beziehungen. Meine Meinung, dass jetzt in Bayern keine Minusgrade herrschen, hängt mit meinen Meinungen über das derzeitige Wetter in Tirol, die Geographie und neuere Geschichte Mitteleuropas, die Zusammensetzung und ungefähre Temperaturschichtung der Erdatmosphäre, die Bewegungen von Luftmassen, die Aggregatzustände von Wasser, und über vieles andere mehr zusammen. In vielen Fällen machen wir uns diese Netzstruktur auch zunutze, nämlich wenn wir schließen oder wenn wir argumentieren. Wenn über eine Meinung Unsicherheit oder Disput besteht, versuchen wir sie auf andere, besser gesicherte Meinungen zurückzuführen oder sie daraus zu begründen. Wer z. B. unsicher ist, ob die weißen Flecken auf dem Käse nur auskristallisiertes Salz oder doch Schimmel sind, wird vielleicht eine Lupe heranziehen, weil man die Frage dann etwa aufgrund folgender drei besser gesicherter Meinungen entscheiden kann: mit der Lupe kann man feine Kristalle von feinen Fäden unterscheiden; Salz hat Kristallstruktur; Schimmel hat Fadenstruktur. Man könnte sich nun fragen, ob solche Zurückführungs- oder Rechtfertigungsprozesse beliebig weit gehen können, oder

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ob sie immer irgendwo abbrechen müssen, und auch dazu gibt es wiederum zwei philosophische Antworttendenzen. Fundationalisten vertreten etwa folgende zwei Thesen: (i) In unserem Meinungssystem gibt es einige »basale«, nicht mehr weiter rechtfertigbare Meinungen. (ii) Unsere Meinungen sind nur insoweit gerechtfertigt, als sie entweder selbst basal sind oder auf basale Meinungen zurückgeführt werden können. Anti-Fundationalisten vertreten dagegen die Ansicht, dass mindestens These (ii) falsch ist. Meinungen können auch ohne dieses Erfordernis gerechtfertigt sein. Beliebte Kandidaten für basale Meinungen sind Meinungen aufgrund einfacher Sinneswahrnehmung (»ich habe es doch selber gesehen« gilt als eine der stärksten Begründungen), es gibt aber noch andere. Etwa sind Meinungen über einfache mathematische und logische Zusammenhänge nur gekünstelter Weise auf andere zurückführbar. b. Die »Reformed Epistemology« und ihre Kritiker Gehen wir nach diesen allgemeinen erkenntnistheoretischen Vorverständigungen zu Plantinga zurück und betrachten wir (in Abschnitt aa) und bb)) noch zwei Theoriestücke, die spezifisch für Plantingas »reformierte« Auffassung sind, und auf die wir später mehrfach zurückkommen werden. Damit sind alle Voraussetzungen bereitgestellt, um die RE in ihren beiden Entwicklungsphasen zu erläutern, dies wird in Abschnitt cc) bis ff) geschehen; Abschnitt gg) wird einige Einwände gegen die RE skizzieren. aa) Plantingas Argumente gegen den klassischen erkenntnistheoretischen Fundationalismus (KEF) Ein Argument, das Plantinga in beiden Phasen der RE vertreten hat, und dessen Grundgedanke auch schon in seinen früheren Schriften vorgezeichnet war, ist jenes gegen den »klassischen erkenntnistheoretischen Fundationalismus« (KEF). Damit meint Plantinga eine Position, die er in einem Großteil der abendländischen Tradition am Werke sieht, und die er durch folgende beiden Thesen kennzeichnet: KEF-(i) Meinungen (beliefs) sind epistemisch gerechtfertigt für eine Person S genau dann, wenn sie »properly basic beliefs« sind oder wenn sie sich voll auf »properly basic beliefs« zurückführen lassen (= »inferential beliefs«). KEF-(ii) Meinungen sind »properly basic beliefs« (PBBs) genau dann, wenn sie selbst-evident für S oder unkorrigierbar für S oder für die Sinneswahrnehmung von S evident sind. KEF-(i) dürfte nach unserer Erläuterung des Fundationalismus keine Verständnisschwierigkeiten bereiten, KEF-(ii) bedarf dagegen einiger Erläuterung. Beispiele

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für selbst-evidente Meinungen wären nach Plantinga solche über einfache logische und mathematische Zusammenhänge (»2 + 2 = 4«, »Teile sind niemals größer als das Ganze«, …); unkorrigierbar für eine Person wäre z. B. die Meinung »ich spüre jetzt einen Schmerz«, der Sinneswahrnehmung evident sind Meinungen wie »ich habe eine grüne Farbwahrnehmung«. Allerdings, wendet Plantinga ein, ist der KEF falsch, wie sich aufgrund folgender Argumente zeigen lässt. Erstens genügt der KEF seinen eigenen Rationalitätsstandards nicht. Die Behauptung KEF-(ii) z. B. ist sicher nicht selbstevident, unkorrigierbar oder evident für die Sinneswahrnehmung. Also ist KEF-(ii) kein PBB. Allerdings ist auch nirgends absehbar, wie man KEF-(ii) auf andere PBBs zurückführen könnte. Also besteht der KEF aus Behauptungen, die er selbst nicht begründen kann. Zweitens gibt es Meinungen, die ganz offensichtlich PBBs sind und auch nicht irgendwie bedenklich erscheinen, die aber die engen Kriterien von KEF nicht erfüllen. Denken wir an Meinungen wie »Emma ist zornig« oder »Ich habe heute gegen 7 Uhr gefrühstückt«. Erstere taucht ganz spontan in uns auf, wenn wir Emma beobachten, wir erschließen sie nicht erst aus Emmas Verhalten, ihrer Gesichtsfarbe etc. Letztere taucht ganz spontan in unserer Erinnerung auf, z. B. wenn wir gefragt werden. Eine Rechtfertigung wäre in vielen Fällen sogar schwer möglich. Also handelt es sich um PBBs. Allerdings erfüllen sie keine der drei Alternativen von KEF-(ii): Dass Emma zornig ist, ist z. B. sicher nicht selbstevident, nicht unkorrigierbar (vielleicht ist ihr Zorn ja nur gut gespielt!) und nicht den Sinnen evident (den Sinnen evident ist allenfalls die Röte im Gesicht, aber nicht das Zornigsein!). Drittens gibt es wichtige und offenkundig rationale Meinungen etwa vom Typ der bekannten Moore-Sätze (z. B. »Es gibt Personen außer meiner selbst« oder »Es gibt materielle Gegenstände« oder »Die Welt besteht seit mehr als 10 Minuten«), für die innerhalb der strengen Kriterien des KEF überhaupt keinerlei Rechtfertigungsmöglichkeit absehbar ist. Dennoch legen sie die meisten Menschen ihrem Weltbild fraglos zugrunde und fühlen sich keineswegs unvernünftig dabei. bb) »Properly basic beliefs« im Sinne Plantingas Plantingas Begriffsbildung von »properly basic beliefs« ist eine Quelle möglicher Missverständnisse und verdient daher einige Erläuterung. Direkt übersetzbar ist »PBB« wohl kaum, auf deutsch könnte man das Gemeinte am ehesten mit »basalen Meinungen, die in ihrer Basalität unbedenklich sind«, oder, etwas salopper, mit »basalen Meinungen, die als solche in Ordnung sind« umschreiben. 30 Denken 30

In der deutschen Literatur wird z.T. die Übersetzung »berechtigterweise basale Meinungen« gebraucht. Dies ist nicht ganz unproblematisch, weil »Berechtigungen« leicht wieder die Assoziation einer Rechtfertigung wecken könnten, auf die man sich stützt, vielleicht einer anderen Meinung, aus der man die berechtigte Meinung ableitet. Aber PBBs sollen eben basal sein.

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wir, um einige Beispiele zu betrachten, an Meinungen aufgrund von Erinnerung (»ich war heute auf der Bank«), von Sinneswahrnehmung und einfachen Beobachtungen (»da drüben blinkt etwas Rotes«, »Hanna ist blass im Gesicht«), von Berichten anderer (»es fängt gerade an zu regnen«) oder von Einsicht a priori (»Zwei Objekte können nicht denselben Raum einnehmen«). All diese Meinungen tauchen in bestimmten Situationen spontan in uns auf und werden nicht irgendwie aufgrund anderer Meinungen gewonnen. Und niemand würde solche Meinungen als grundsätzlich bedenklich einschätzen. Einige zusätzliche Klarstellungen mögen diese Konzeption der PBBs noch weiter präzisieren: (i) PBBs sind zwar nicht auf andere Überzeugungen zurückführbar, aber deshalb nicht etwa grundlos. Ihre Bildung wird von bestimmten typischen Situationen ausgelöst, Wahrnehmungs-PBBs etwa werden durch bestimmte Wahrnehmungssituationen ausgelöst. Werden dagegen Meinungen wie »Hier läuft eine weiße Maus« auch außerhalb solcher Situationen gebildet, dann ist das ein Indiz für ein massiveres Problem. (ii) PBBs sind weder unkorrigierbar noch irrtumsresistent. Basalität garantiert noch nicht, dass sich die Meinung nicht doch als falsch herausstellt. Auch deutliche Erinnerungen können mitunter trügen, glaubwürdige Zeugen ausnahmsweise scherzen, sich selbst getäuscht haben oder lügen, weiße Mäuse können sich als Attrappen herausstellen etc. (iii) PBBs können durch sogenannte defeaters erschüttert werden. Plantinga hat eine ausgefeilte Theorie der defeaters mit vielen Beispielen entwickelt, daher verbietet sich auch hier eine einfache 1:1-Übersetzung des Wortes. Der Sache nach geht es um direkte Hinweise auf die Falschheit einer Meinung, z. T. aber auch um indirekte Glaubwürdigkeitsunterminierungen. Ein PBB, der sich auf den Bericht einer Person stützt, wird z. B. als PBB erschüttert, wenn ich nachträglich Hinweise darauf erhalte, dass diese Person ein notorischer Lügner oder Phantast sei. (iv) PBBs können zu abgeleiteten Überzeugungen werden und umgekehrt; »Proper basicality« ist also zeit- und personenrelativ. Die Meinung »12 Ø 35 = 420« wird für die meisten Menschen abgeleitet (da ausgerechnet) sein. Wer dieselbe Rechnung aber (etwa beim Ausfüllen seiner Steuererklärung) 30 Sekunden später nochmals benötigt, wird dieselbe Meinung noch als (dann basale!) Erinnerungsmeinung im Gedächtnis haben, während sie am nächsten Tag vielleicht schon wieder aufs Neue abgeleitet werden muss. (v) Ein grundsätzliches Missverständnis wäre es, »proper basicality« mit einem bloßen psychologischen Merkmal mancher Meinungen zu verwechseln (etwa mit der Eigenschaft, sich sehr stark aufzudrängen etc.). »Proper basicality« ist vielmehr ein erkenntnistheoretisches Merkmal, eine Form der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung dieser Meinungen.

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(vi) PBBs sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel in unserem Meinungssystem, sie machen den Großteil unserer Meinungen aus. Entgegen einem weit verbreiteten Bild, demzufolge wir relativ häufig schließen würden, besteht unsere Erkenntnistätigkeit großteils aus dem Bilden von basalen Meinungen. Zum Schließen, Ableiten und Argumentieren kommt es meist erst dann, wenn wir unsicher werden, wenn es Hinweise auf Fehler, Irrtümer, Widersprüche etc. gibt. (vii) PBBs gibt es auch im religiösen Bereich. Allerdings sind religiöse PBBs nicht etwa Meinungen wie »Gott existiert«, sondern sogenannte »Manifestationsmeinungen«, die die Meinung, dass Gott existiert (als abgeleitete Meinung) implizieren. (Die Begrifflichkeit stammt meines Wissens von Alston). Solche Meinungen tauchen typischerweise in bestimmten Situationen des Lebens auf (Situationen der Schuld, des Gottesdienstes, des Bibellesens, des Überwältigtseins von Natureindrücken etc.) und sind somit ebenfalls nicht grundlos: manifestation belief als PBB

abgeleitete Überzeugung

Gott spricht jetzt zu mir

Gott existiert

Gott hat all das geschaffen

Gott existiert

Gott mißbilligt, was ich tue

Gott existiert

Gott soll gelobt werden

Gott existiert

In dem für die frühe RE bedeutsamen Aufsatz Reason and Belief in God (1983) beschreibt Plantinga die Manifestationsmeinungen wie folgt: Calvin holds that God ›reveals and daily discloses himself in the whole workmanship of the universe,‹ and the divine art ›reveals itself in the innumerable and yet distinct and well-ordered varieties of the heavenly host.‹ God has so created us that we have a tendency or disposition to believe propositions of the sort this flower was created by God or this vast and intricate universe was created by God when we contemplate the flower or behold the starry heavens or think about the vast reaches of the universe. […] There are […] many conditions and circumstances that call forth belief in God: guilt, gratitude, danger, a sense of God’s presence, a sense that he speaks, perceptions of various parts of the universe. (Reason and Belief in God, S. 80)

cc) Die ältere, schwächere Variante der RE Die Grundthese der RE ist, wie wir gesehen haben, dass religiöse Meinungen – und zwar, wie wir inzwischen besser verstehen, religiöse Manifestationsmeinungen – PBBs sein können. Betrachtet man allerdings die Entwicklung der RE über die Jahre hinweg, so ist etwa ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auch

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hier wiederum eine Entwicklung zu betrachten, und es legt sich nahe, eine ältere, schwächere (d. h. in ihren Thesen weniger anspruchsvolle), und eine jüngere Form der RE zu unterscheiden. Die ältere, schwächere RE, wie sie etwa in Reason and Belief in God kulminiert, will folgende Möglichkeitsbehauptung begründen: Zentrale These der älteren RE: Es ist erkenntnistheoretisch möglich, dass eine Person religiöse Manifestationsmeinungen als PBB in ihrem Meinungssystem hat und dabei rational ist. Es sind im Wesentlichen drei Argumente, die Plantinga dafür anbietet, und wir kennen sie zum Teil bereits. Daher möge folgende knappe Zusammenstellung genügen: (i) Plantingas Kritik am klassischen Fundationalismus: Religiöse Meinungen sind innerhalb des KEF wohl kaum zu rechtfertigen. Wenn aber der KEF, wie wir gesehen haben, sowieso falsch ist und viel zu enge Rechtfertigungsbedingungen festschreiben wollte – was spricht dann dagegen, auch Meinungen wie »diese Blume wurde von Gott geschaffen« oder »dieses riesige und komplizierte Universum wurde von Gott geschaffen« als PPB zu akzeptieren? (ii) Das Paritätsargument mit anderen weltbildartigen Voraussetzungen: Freilich könnte man einwenden, solche religiösen Manifestationsmeinungen seien weit stärker begründungsbedürftig als z. B. die basale Meinung »Emma ist zornig«, die wir im Alltag problemlos akzeptieren. Allerdings akzeptieren wir auch etliche andere Meinungen, deren Begründung uns schwer fiele, z. B.: »Es gibt bewusstseinsbegabte Wesen außer mir selbst«; »Die Welt besteht bereits länger als 10 Minuten«; »Materielle Gegenstände bestehen weiter, auch wenn niemand hinschaut«. Plantinga meint, denkbare Argumente dafür wären ungefähr so gut wie die besten Argumente für die Existenz Gottes. Wenn es also erkenntnistheoretisch vernünftig erscheint, derlei Meinungen im Kernbereich seines Weltbildes zu akzeptieren, obwohl man keine gute Begründung für sie hat – warum dann nicht auch religiöse Meinungen? (iii) Das Argument der Gruppenrelativität: Methodisch gesehen schlägt Plantinga eine Erkenntnistheorie »von unten« vor, die von unstreitigen Beispielen guter bzw. mangelhafter Rechtfertigung ausgeht. Man soll als Erkenntnistheoretiker nicht sofort mit der Formulierung allgemeiner Theorien (d. h. nicht »von oben«) beginnen, sondern besser zunächst Beispiele von geordneten Paaren 〈Erfahrungssituation, basale Meinung〉 sammeln, z. B. 〈Begegnung mit Emma in charakteristischem Verhalten, »Emma ist zornig«〉. Erst dann sollte man anhand dieser Beispielsammlung »induktiv« eine Theorie z. B. über die Kriterien für PBBs erstellen. Nun sei im religiösen Bereich aber kein allgemeiner Konsens über diese Beispielsmenge zu erwarten: Es mag nämlich religiöse Erkenntnispraktiken geben, deren Adäquatheit man von außen nicht einschätzen kann, sondern nur dann, wenn man daran selbst teil-

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genommen hat. Daher sind Vernünftigkeitsansprüche im religiösen Bereich gemeinschaftsrelativ: There is no reason to assume, in advance, that everyone will agree on the examples [»Examples« sind geordnete Paare 〈Erfahrungssituation, dabei hervorgerufener religiöser PBB〉 W.L.]. The Christian will of course suppose that belief in God is entirely proper and rational; if he does not accept this belief on the basis of other propositions, he will conclude that it is basic for him and quite properly so. Followers of Bertrand Russell or Madelyn Murray O’Hare may disagree; but how is this relevant? Must my criteria, or those of the Christian community, conform to their examples? Surely not. The Christian community is responsible to its set of examples, not to theirs. (Reason and Belief in God, S. 77)

dd) Die jüngere RE (Teil 1): »Warrant« als wissenskonstituierende Qualität Gemessen an unserer oben skizzierten Klassifikation von Erkenntnistheorien ist die frühe Form der RE eine im Wesentlichen internalistische Position. Die Kriterien der Rechtfertigung sind von innerhalb des Meinungssystems zu beurteilen (der einzige deutlich externalistische Anteil daran, nämlich der Bezug auf eine sozial geteilte Erkenntnispraxis, ist – ähnlich wie bei Alston – stark gruppenrelativ und daher in vielen Augen nicht überzeugend). Wie zu erwarten, wurde Plantinga daraufhin mit Relativismuseinwänden konfrontiert: Mit welchem Recht kann man behauptete, aber seltsame PBBs einer Einzelperson oder einer Gruppe dann noch abweisen? Was ist, wenn jemand behauptet, in bestimmten Situationen religiöse Manifestationsmeinungen über Jupiter, den Weihnachtsmann oder das große Kürbisgespenst zu Halloween zu bilden? Vor allem auf diese »Great Pumpkin Objection« hin hat Plantinga seine Position in einigen Punkten modifiziert. Man kann diese Modifikationen etwa in folgenden vier Punkten zusammenfassen: Erstens unterscheidet Plantinga nun deutlicher zwischen der Rechtfertigung (justification) einer Meinung und einem allgemeiner zu verstehenden »positiven epistemischen Status«, der nicht unbedingt nur auf Rechtfertigung beruhen muss. War die frühere RE im Wesentlichen noch eine Theorie der Rechtfertigung von Meinungen (und des Abblockens von Zweifeln an der Rechtfertigung religiöser Meinungen) gewesen, geht es ihm nunmehr um eine großräumigere Konzeption, 31 u. a. auch um eine Konzeption, die die Wahrheitsfrage deutlicher thematisiert. Es geht Plantinga zweitens um die Suche nach einer Qualitätseigenschaft, die wahre Meinungen zu Wissen macht und sowohl auf basale wie auf abgeleitete Meinungen anwendbar ist. Diese Eigenschaft bezeichnet er mit warrant. Gleich31

Es wäre reizvoll, Plantingas Entwicklung hier mit jener seines Lehrers Alston zu vergleichen, der in seiner jüngsten Monographie Beyond »Justification« eine ähnliche Verschiebung für die allgemeine Erkenntnistheorie vorschlägt.

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zeitig ist idealer warrant auch mit Wahrheit gekoppelt (zur warrant-Definition gleich mehr). Drittens baut Plantinga – gerade in Reaktion auf die Relativismuseinwände – nunmehr verstärkt externalistische Elemente in seine Konzeption ein. Insbesondere nimmt die »proper function«, d. h. das bauplangemäße Funktionieren des Erkenntnisapparats, eine bedeutsame Rolle ein. Viertens ist darauf hinzuweisen, dass die jüngere Variante der RE stärker ist als die ältere, insofern sie nicht nur eine Möglichkeits-, sondern eine Faktenbehauptung begründen will: Die meisten Gläubigen der westlichen Kultur sind de facto erkenntnistheoretisch vernünftig, wenn sie religiöse Meinungen als basal akzeptieren. 32 Der Zentralbegriff der neueren RE ist, wie schon die Titel von Plantingas erwähnter Buchtrilogie aus 1993 bzw. 2000 andeuten, warrant. Als rechtlicher Begriff bedeutet es »Vollmacht«, »Befugnis«, »Berechtigung«, »Rechtfertigung« oder auch »Garantie«. Erkenntnistheoretisch umgelegt, klingt dies nach Internalismus und/oder abgeleiteten Meinungen, Plantinga aber möchte gerade diesen Assoziationen entgehen: Warrant soll sowohl eine Güteeigenschaft für abgeleitete wie auch für basale Meinungen sein (da man für basale Meinungen keine Rechtfertigung hat, meidet Plantinga das Wort justification), und die warrant-Konzeption ist eine externalistische. Auch die Assoziation zu »warranted assertibility« (begründeter Behauptbarkeit) als pragmatistischem Ersatzbegriff für »Wahrheit« wäre missverständlich, weil hinreichender warrant gerade auch diejenige Eigenschaft ist, die Meinungen wahr macht. Plantingas warrant-Definition (in Kapitel III.5.ii von Warranted Christian Belief ) ist ziemlich kompliziert, etwas vereinfacht lautet sie wie folgt: Eine Meinung M hat warrant für die Person P dann und nur dann, wenn (1) die relevanten Segmente von P s Erkenntniseinrichtungen (das sind die Segmente, die in die Erzeugung von M involviert sind) bauplangemäß funktionieren, (2) dies in einer kognitiven Umgebung stattfindet, die hinreichend ähnlich jener ist, für die P s Erkenntniseinrichtungen geplant wurden, (3) auch die kognitive Mini-Umgebung passend ist, (4) die Module des Bauplans, die die Erzeugung von M leiten, auf Wahrheit ausgerichtet sind und (5) so funktionieren, dass eine Meinung, die in Übereinstimmung mit diesen Modulen in dieser Art von kognitiver Umgebung erzeugt wird, mit hoher objektiver Wahrscheinlichkeit wahr ist. Und je fester P an M glaubt, umso mehr warrant hat M für P . 32

Vorwegnehmend kann gesagt werden, dass Plantinga aber nur zeigt, dass unter der Annahme, der Theismus sei wahr, bestimmte basale religiöse Meinungen warrant haben.

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Einige kurze Erläuterungen dazu: Zunächst fällt auf, dass warrant eine situations- und personenrelative Eigenschaft ist. Unter »bauplangemäßer Funktion« (1) versteht Plantinga, wie gesehen, das dem erkennbaren Zweck entsprechende Funktionieren. Da es aber unfreundliche Erkenntnisumgebungen gibt, wo bauplanmäßige Funktion allein nichts nützt (ein banales Beispiel wäre menschliches Sehen unter Wasser ohne Taucherbrille), sind auch die Bedingungen (2) und (3) nötig. Bedingung (4) klammert Sonderfälle der Meinungserzeugung ohne Wahrheitsziel aus (man denke an William James’ Beispiel des Bergsteigers in Not, der in sich die Meinung »Ich kann weit genug springen« erzeugen muss, um sein Leben durch den Sprung über einen Abgrund zu retten). Bedingung (5) schließlich ist ein Zugeständnis an externalistische Zuverlässigkeitstheorien (reliabilism). Bemerkenswert ist weiters, dass warrant eine graduelle Eigenschaft ist; sind die Bedingungen (1) bis (5) erfüllt, dann ist die Stärke der Meinung ein Anzeichen für hohen warrant. Fasst man diese Definition nochmals vereinfachend zusammen, so bedeutet dies: Wessen Erkenntniseinrichtungen ordentlich funktionieren und wer sich nicht auf das Glatteis unpassender Erkenntnisumgebungen begibt, der kann davon ausgehen, dass seine Meinungen – und zwar auch die basalen! – warrant haben, besonders jene Meinungen, die sich stark nahelegen. Die religionsphilosophische Pointe dahinter ist dann wohl jene: Menschen, die ansonsten nicht durch seltsame Erkenntnisansprüche auffallen, aber in bestimmten Situationen (basale) religiöse Manifestationsmeinungen bilden, tun nichts Bedenkliches, ihre religiösen Meinungen sind (möglicherweise! Nämlich dann – und nur dann –, wenn der Theismus wahr ist!) warranted. Auch für warranted beliefs gilt freilich, was oben schon für PBBs gesagt wurde: es kann defeaters geben, die den warrant einer Meinung beeinträchtigen (in einigen Fällen sogar dann, wenn die fragliche Meinung doch wahr ist). ee) Die jüngere RE (Teil II): Die beiden »Aquinas/Calvin Models« Vergegenwärtigen wir uns aber nochmals zwei unterschiedliche Fragerichtungen in Bezug auf religiöse Meinungen; Plantinga nennt sie die de iure-Frage und die de facto-Frage. Die de iure-Frage lautet: Können religiöse Manifestationsmeinungen warranted sein? Und wie könnte das gehen? Die de facto-Frage dagegen lautet: Sind religiöse Meinungen faktisch warranted? Die terminologische Fassung dieser Unterscheidung ist meines Erachtens nicht ganz glücklich. Es geht ja eigentlich um die Unterscheidung zwischen einer Möglichkeitsfrage und eines Erklärungsmodells für diese Möglichkeit einerseits (das meint Plantinga mit de iure, dieser Ausdruck bedeutet aber gemeinhin etwas anderes) und einer Faktenfrage andererseits (insofern passt der Terminus de facto hier durchaus). Die de iure-Frage und Plantingas Antwort darauf mögen prima facie an den Stand der früheren RE erinnern, sind aber nicht einfach identisch damit:

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Erschöpfte sich die ältere RE im Wesentlichen in der Abweisung von religionskritischen Unmöglichkeitsbehauptungen, so legt die jüngere RE das Augenmerk auf die Begründung, dass warranted religious beliefs möglich sind, und auf eine positive erklärende Theorie dafür. Die de facto-Frage wird dagegen, wie wir sehen werden, auch in der neuen Version der RE nicht vollständig gelöst – zumindest innerphilosophisch nicht. (i) Warranted theistic belief und das »Aquinas/Calvin Model«: Bezüglich der de iure-Frage entwickelt Plantinga in Warranted Christian Belief unter Verweis auf Johannes Calvin und Thomas von Aquin 33 ein Modell, wie warranted theistic beliefs zustande kommen können; er nennt es das »Aquinas/Calvin Model«. Wenn Gott der Schöpfer der Welt ist, dann könnte er uns auch einen kleinen Bestandteil in unserem Bauplan eingestiftet haben, der ein Wahrnehmungsvermögen für theistische Manifestationen vorsieht, das auf bestimmte Situationen anspricht. Plantinga nennt diesen »sechsten Sinn« für religiöse Wahrnehmungen in Anschluss an Calvin den Sensus Divinitatis. Legt man dieses Modell zugrunde, dann haben theistische PBB’s oftmals warrant, denn sie erfüllen problemlos die fünf Bedingungen der warrant-Definition: Die beteiligten Erkenntniseinrichtungen (inclusive eben des Sensus Divinitatis!) funktionieren bauplangemäß (1), es gibt religiös signifikante Situationen, die passende kognitive Umgebungen für solche Meinungsbildungen darstellen (2, 3), wir sind typischerweise an Wahrheit interessiert, wenn wir religiöse Meinungen bilden (4), und in Bezug auf die Zuverlässigkeit steht der Sensus Divinitatis nicht grundsätzlich schlechter da als andere Erkenntnisfähigkeiten (5). Theistische Meinungen können im Aquinas/Calvin Model also durchaus warrant haben. (ii) Warranted Christian belief, der Heilige Geist und das »Extended A/C Model«: Allerdings besteht hier gerade aus christlich-theologischer Sicht ein gravierendes Problem. Die Erbsünde, wie immer man sie interpretieren mag, hat den Sensus Divinitatis beschädigt, wir können nicht mehr mit seiner proper function und mit ungetrübten religiösen Wahrnehmungen rechnen. Wie kann es auf diesem Hintergrund dann noch warranted theistic beliefs geben? Ein weiteres Problem besteht darin, dass es viele spezielle Inhalte des christlichen Glaubens gibt (etwa die Dreifaltigkeit, die Gottessohnschaft Jesu Christi, seine Auferstehung und unsere Erlösung durch ihn, etc.), die zwar durchaus Gegenstände von religious beliefs sein können, die der Sensus Divinitatis aber nicht erfasst. Plantinga erweitert sein Modell um den Heiligen Geist und gelangt so zum »Extended Aquinas/Calvin Model«. Der Heilige Geist leistet in manchen Menschen ein Dreifaches: (a) Er repariert den erbsündlich getrübten Sensus Divinitatis; (b) er bewirkt die Zustimmung zu den spezifischen Grundwahrheiten des Christentums, die über den allgemeinen The33

Philosophiehistorisch ist der Bezug auf Thomas hier nicht ganz unproblematisch, diese Frage muss hier allerdings beiseite bleiben.

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ismus hinausgehen (»Christian beliefs«), und zwar insbesondere beim Hören auf die Heilige Schrift; (c) er bewirkt, dass die Glaubenszustimmung nicht nur theoretisch-epistemischer Art ist, sondern freudig und engagiert. Er bewirkt also »a firm and certain knowledge of God’s benevolence towards us, founded upon the truth of the freely given promise in Christ, both revealed to our minds and sealed upon our hearts through the Holy Spirit« (Plantinga, Belief , S. 290, Hervorhebung W.L.), wie es die englische Übersetzung einer Passage aus Johannes Calvins Institutiones Christianae zum Ausdruck bringt. ff) Zwei Konsequenzen und vier Verdeutlichungen Man mag gegen Plantingas Modelle den Verdacht hegen, dass sie massive theologische Voraussetzungen machen (was in der Tat der Fall ist, dazu später). (i) Eine erste bedeutsame religionsphilosophische Konsequenz dieser Modelle ist allerdings, dass ein bestimmter Typ von religionskritischen Einwänden leicht abweisbar wird. Dieser Typ lautet etwa so: »Das Christentum mag ja vielleicht wahr sein (wer könnte auch das Gegenteil beweisen?); aber es ist epistemisch gesehen sicher unvernünftig, Christ zu sein, da diese Meinungen jedenfalls nicht warranted sind«. Da zum Christentum aber eben auch »erkenntnistheoretische« Lehren darüber gehören, wie religiöse Meinungen zustande kommen (etwa die Lehre vom Sensus Divinitatis, vom Heiligen Geist etc.), kann Plantinga solchen Einwänden prägnant entgegen halten: »If Christian Faith is true, it’s also warranted.« (ii) Damit, und das ist eine zweite Konsequenz, ergibt sich eine bemerkenswerte Verschiebung der Beweislasten, denn ein wirklich erfolgreicher religionskritischer Einwand müsste also zunächst einmal die Falschheit des Christentums erweisen, 34 und der sei ohne petitio principii schwer zu erbringen. Wenden wir dies auf vermutlich wichtigste religionskritische Angriffslinie der Neuzeit an, nämlich den Vorwurf, religiöse Meinungen seien Produkte von Projektion, Wunschdenken u. a. (Plantinga nennt dies den Freud & Marx Complaint). Freilich, räumt Plantinga ein, gibt es auch Fälle von Projektion, Wunschdenken u. a., dies sind aber Resultate von improper function unserer Erkenntnisfähigkeiten, die es im religiösen Bereich natürlich ebenso gibt wie anderswo. Solche Erklärungsmuster sind für manche Fälle von religiösen Meinungen zweifellos angemessen, sie sind aber für den Christen nicht in allen Fällen die Erklärung erster Wahl. Vor allem setzt der Freud & Marx Complaint, demzufolge alle religiösen Meinungen Projektionen etc. sind, schon die Falschheit des Christentums voraus. Der Beweis dafür dürfte allerdings schwer zu erbringen sein, und damit wird der Freud & Marx

34

Wir werden eine ähnliche Denkfigur auch bei Alston antreffen.

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Complaint zirkulär, wenn er meint, ein Argument für die Falschheit des Christentums zu sein. Zum theoretischen Status der jüngeren RE und ihrer Einordnung in die neuere analytisch-religionsphilosophischen Debatte sind vier Verdeutlichungen vielleicht von Nutzen. (i) Erstens ist die RE keine Religionsbegründung durch religiöse Erfahrung (wie sie etwa William Alston und auch Richard Swinburne vertreten), zumindest ist sie keine Begründung mit ausschließlich religionsexternen Prämissen. Freilich sind es bestimmte Erfahrungen, die (unter Voraussetzung des Sensus Divinitatis und des Heiligen Geistes) dem christlichen Glaubensgebäude warrant liefern, aber dieser warrant steht eben immer unter dieser Voraussetzung. (ii) Zweitens zögert Plantinga überhaupt, die Wirkungen des Sensus Divinitatis als »religious experience« oder gar als »religiöse Wahrnehmungen« zu bezeichnen, nicht nur deshalb, weil die Ausdrücke »experience« und »perception« notorisch mehrdeutig sind. Die Situationen, in denen man den Sensus Divinitatis am Werk sehen mag, sind nämlich vielfältig: Die Bandbreite reicht von Situationen, die man tatsächlich als eine Art indirekter Wahrnehmung von Gottes Präsenz deuten könnte (etwa angesichts eines Naturschauspiels) über Situationen, wo man primär Meinungen über Gott bildet (»Gott ist mächtig«, »Gott verdient Verehrung«), ohne ihn schon deutlich als präsent zu vermeinen, bis hin zu Situationen z. B. von Schuld oder Dankbarkeit, die man gar nicht mehr als Präsenzwahrnehmung Gottes deuten würde. Was aber allen diesen Situationen gemeinsam ist, ist dass sie eine Art »doxastischer Erfahrung« (doxastic experience) darstellen: Man erfährt in ihnen, dass es sich eben wirklich so verhält, wie es die gebildeten Meinungen besagen. Diesen Charakter einer »doxastischen Erfahrung« teilen religiös signifikante Erfahrungssituationen mit anderen Situationen korrekter Meinungsbildung, und in dieser doxastischen Erfahrung kann man die Wirkung des Sensus Divinitatis sehen. Ob man dies nun auch schon als »religiöse Erfahrung« bezeichnen möchte oder nicht, ist nach Plantinga ein letztlich unergiebiger Streit um Worte. 35 (iii) Drittens ist die RE kein Schluss auf den Theismus als die beste Erklärung für die Phänomene der Welt (wie er etwa von Richard Swinburne vorgeschlagen wird). Der Theismus ist nach Plantinga primär überhaupt keine Erklärung für irgendetwas, und religiöse basale Meinungen sind kein Explanandum, das es theorie-extern zu erklären gilt. Natürlich erklärt die RE (durch die beiden Aquinas/ Calvin models), wie religiöse PBBs zustande kommen, aber dies ist bereits eine religionsimmanente Erklärung.

35

Vgl. Plantinga, Belief , S. 180–184.

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(iv) Viertens wollen Plantinga und die RE nicht behaupten, dass religiöse Meinungen immer nur als basale Meinungen warrant haben. Sie können natürlich auch abgeleitet (und dabei warranted) sein, man denke an ein sauber durchdachtes kosmologisches Argument – aber sie müssen es eben nicht sein. gg) Die de facto-Frage: Ist der christliche Glaube warranted? Als Fazit der bisherigen Erörterungen kann gezogen werden, dass Plantinga eine bejahende Antwort auf die de iure-Frage vorgelegt hat: Christliche Meinungen können (!) warranted sein. Die entscheidende verbleibende Frage ist natürlich, ob man den beiden Aquinas/Calvin Models vertrauen sollte, ob es warranted Christian belief wirklich gibt. Auf diese de facto-Frage gibt Plantinga eingestandenermaßen keine abschließende Antwort, zumindest keine philosophische: »here we pass beyond the competence of philosophy«. 36 Allerdings gibt Plantinga im Abschlussband seiner Trilogie eine indirekte Antwort, nämlich im Wege der Widerlegung von fünf gängigen defeaters christlicher Meinungen. In diesen Abschnitten von Warranted Christian Belief zeigt sich Plantingas Talent zu Distinktionen und zum Auffinden von Gegenbeispielen besonders deutlich; meine folgende Skizze muss viele dieser argumentativ interessanten Details unterschlagen. (i) Freud, Marx u. a. Projektionstheorien: Hinter solchen Theorien sieht Plantinga ein falsches erkenntnistheoretisches Prinzip am Werk, das er so charakterisiert: Wenn x nicht die einzige/beste Erklärung für religiöse Meinungen ist, dann hat der Glaube an x keinen warrant. (x könnten ins unserem Falle etwa die Existenz Gottes, der Sensus Divinitatis oder der heilige Geist sein). Dagegen verweist Plantinga darauf, dass diese Verknüpfung von Erklärungsleistung und warrant unzulässig ist: Wir haben nämlich sehr viele Meinungen, die keinerlei Erklärung für irgendetwas sind, die aber dennoch warrant haben. (ii) Die historisch-kritische Bibelwissenschaft [im Folgenden: HKBW] mit ihren Resultaten, dass zahlreiche früher für historisch real gehaltene Begebenheiten und Aussprüche in Wahrheit Erzählungen, theologische Deutungen, nachträgliche Bildungen der ersten Gemeinden etc. sind, wird von Plantinga natürlich als ernsthafte Anfrage wahrgenommen. Dennoch deklariert er seine Präferenz für die traditionelle Bibelkommentierung (der zufolge die Bibel – trotz unabstreitbarer historischer Entstehung – insgesamt ein Buch ist, das göttlich inspiriert ist und dessen Botschaft nicht primär aus dem Denken der menschlichen Autoren erschließbar ist; dahinter steht die Voraussetzung, dass göttliche Eingriffe in den Weltlauf möglich sind). Plantinga distinguiert allerdings zwischen zwei Formen der HKBW. Die stärkere HKBW (die göttliche Eingriffe in den Weltlauf a priori

36

Ebd., S. 499.

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ausschließt und die Bibel von vornherein als rein menschliches Produkt ansieht) braucht den Christen nicht zu kümmern, denn sie ist eine kaum begründbare petitio principii, zu der der Christ aus dem Glauben das Gegenteil weiß. Der ernsthaftere Gegner ist die schwächere HKBW, die in Bezug auf die göttlichen oder menschlichen Ursprünge der Bibel völlig voraussetzungslos vorgehen will. Diese Form der HKBW unterstützt den traditionellen Glaubenden nach Plantingas Präferenz zwar nicht, kann ihm aber auch das Gegenteil seiner Glaubensinhalte nicht beweisen. Empirisch gesehen zeige sich nämlich in der historisch-kritischen exegetischen Landschaft, dass es viel Disput, aber wenig konsensuelle Resultate gibt. Der traditionelle Gläubige muss sich deshalb keine großen Sorgen machen: Wer mit schwächerer HKBW begründen wollte, dass die Entstehung der Bibel keinerlei göttliche Hintergründe habe (weil etwa alle berichteten »historischen Eingriffe« Gottes unhistorisch sind), der würde logisch gesehen eine gigantische Konjunktion von Teilbehauptungen aufstellen, deren Gesamtwahrscheinlichkeit dem Prinzip schrumpfender Wahrscheinlichkeiten zum Opfer fiele. Interpretiert man Wahrscheinlichkeiten mit Zahlen zwischen 0 und 1 und kann man verschiedene Teilbehauptungen A, B, C , … als voneinander unabhängig betrachten, dann errechnet sich die Gesamtwahrscheinlichkeit so: P(A & B & C & …) = P(A) Ø P(B) Ø P (C ) Ø P (…). Da die einzelnen Faktoren immer kleiner als 1 sind, ist die Gesamtwahrscheinlichkeit einer solchen Konjunktion immer kleiner als die kleinste Teilwahrscheinlichkeit, und je größer die Zahl der Teilbehauptungen ist, umso schneller geht die Gesamtwahrscheinlichkeit gegen null. (Eine Konjunktion aus vier Teilbehauptungen mit einer Wahrscheinlichkeit von jeweils 0.7 hätte z. B. nur die Wahrscheinlichkeit 0.7 Ø 0.7 Ø 0.7 Ø 0.7 = 0,24, bei Teilwahrscheinlichkeiten von 0.5 gar nur 0,0625.) (iii) Postmodernismus, Konstruktivismus, historischer Perspektivismus u. a. Relativismen: Solchen Positionen, die die Möglichkeit situations- und geschichtsübergreifender Wahrheit und ihrer Erkennbarkeit leugnen, hält Plantinga mehrere Einwände entgegen. Erstens geht in praxi, außerhalb seiner Schriften, auch der hartgesottenste philosophische Relativist von einem einheitlichen und sehr traditionellen Wahrheitsbegriff aus – spätestens dort, wo es um lebenswichtige Dinge geht. Zweitens gehören riskante epistemische Situationen, in denen schwer feststellbar ist, was wirklich der Fall ist, einfach zur conditio humana. Postmodernisten, Perspektivisten u. a. verlieren angesichts dieser Situation nur unnötig früh die Nerven. Drittens liegt solche Positionen eine grundsätzliche Verwechslung zugrunde: Wir erzeugen vielleicht Wahrheiten (indem wir sie erkennen, propagieren etc.), aber wir können nicht, ohne in die Welt einzugreifen, Sätze wahr machen. (iv) Religiöser Pluralismus: Was folgt für den Christen aus den konkurrierenden Ansprüchen verschiedener Religionen, die es gibt? Auch hier distinguiert Plantinga wieder mehrere Formen des religiösen Pluralismus. Ein abstinenter Pluralismus (mit dem Prinzip »wenn ich weiß, dass andere p nicht glauben, sollte

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auch ich p nicht glauben«) wäre eine unplausible, da selbstwiderlegende Position. Da es nämlich bekanntlich Leute gibt, die gerade dieses Prinzip nicht glauben, sollte man ihm, wenn man das Prinzip ernst nimmt, konsequenter Weise nicht glauben. Eine vertretbare Version des Pluralismus müsste also wohl schwächer ausfallen und würde etwa besagen, dass das Vorhandensein von Religionen, die dem Christentum widersprechen, den warrant von christlich-religiösen Meinungen schwächen. Aber auch gegen diese schwächere Variante des Pluralismus hat Plantinga einige Argumente parat. Erstens ist der Fall, dass eine Meinung gegen allen äußeren Anschein doch hohen warrant hat, gar nicht so selten. Ein Beispiel wäre ein zufällig in den Verdacht eines Verbrechens geratener Mensch, gegen den allerlei Indizien sprechen, der aber felsenfest weiß, dass er die Tat nicht begangen hat und zur Tatzeit allein im Wald joggen war. Seine Meinung hat hohen warrant, obwohl er vielleicht niemanden überzeugen kann. Die Situation des Christen in der heutigen Welt habe, so Plantinga, ähnliche Züge. Abzuweisen ist nach Plantinga zweitens die moralische Variante des Pluralismus-Einwandes, demzufolge man sich der Arroganz schuldig macht, wenn angesichts anderer Religionen doch an der Wahrheit des Christentums festhält. Denn es habe doch nichts mit Arroganz zu tun, wenn man – wie im vorigen Beispiel – gegen äußere Widersprüche warranted true beliefs hat. Aus christlicher Sicht kann man drittens einwenden, dass Gläubige, die sich um das Hören auf den Sensus Divinitatis und den Heiligen Geist bemühen, nach den »Aquinas/Calvin Models« einfach in einer besseren epistemischen Situation sind. 37 (v) Leid und Übel, das Theodizeeproblem: Aus der Existenz des Übels in der Welt kann man unterschiedliche religionskritische Argumente entwickeln, 38 und Plantinga hat in früheren Arbeiten selbst zur Systematisierung der gegenwärtigen einschlägigen Debatten beigetragen. Das Übel in der Welt beweist nach Plantinga nicht, dass das Christentum logisch widersprüchlich ist; denn welche Möglichkeiten Gott im Umgang mit dem Übel vielleicht hatte, können wir nicht absehen. Also taugt das Übel in der Welt allenfalls als ein Wahrscheinlichkeitsargument gegen das Christentum. Das Übel scheint die Wahrscheinlichkeit, dass ein gütiger, allmächtiger und allwissender Gott existiert, zu senken, weil es allem Anschein nach Übel gibt, denen man keinen denkbaren Sinn zuschreiben kann. Allerdings, so Plantinga, wissen wir auch hier nicht, wie stark das Argument ist, weil wir die Alternativen nicht kennen. Daraus folgt übrigens auch umgekehrt, dass wir die argumentative Stärke der klassischen »free will defense« nicht abschätzen können: Ob wirklich ein gewisses Ausmaß an Übel nötig war, um Menschen mit echter Wahlfreiheit schaffen zu können, deren Handlungen einen Unterschied 37

38

Plantingas Behandlung der religiösen Diversität dürfte damit deutlich schematischer ausgefallen sein als jene Alstons; eine Detailuntersuchung kann ich hier nicht leisten. Siehe dazu meine Einführung in die Religionsphilosophie, S. 128–132.

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machen, können wir ebenfalls nicht abschätzen, weil uns die Übersicht über die Schöpfungs-Alternativen einfach fehlt. Freilich sieht Plantinga nur zu gut, dass Erfahrungen von Grausamkeit und anderen Übeln massive defeaters für den warrant religiöser Meinungen sein können. Allerdings wissen wir – auch aus »reformierter« Sicht – nicht, wie gut unsere Erkenntnisfähigkeiten jeweils funktionieren. Aus christlicher Sicht könne man aber wohl so viel sagen: Für eine Person mit vollständig bauplangemäß funktionierenden Erkenntnisfähigkeiten wäre das Übel kein defeater. Es gehört zum göttlichen Bauplan, angesichts des Übels den Glauben nicht aufzugeben. c. Umrisse einer Kritik Meine vorstehende kurze Skizze von Plantingas Position sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass besonders seine allgemeine Erkenntnistheorie (d. h. die Theoriebestandteile ohne spezifisch religiösen Bezug) wohl zum Durchdachtesten gehören, was in der zeitgenössischen Erkenntnistheorie angeboten wird. Plantingas Bücher wirken – trotz einer nachvollziehbaren Großgliederung – wie detailreiche Landschaften mit minutiösen Argumenten, die ich in meiner Kurzdarstellung hier großteils übergehen musste. Mehr als berechtigt ist auch Plantingas Kritik an szientistischen Denkweisen und einem merkwürdigen öffentlichen Doppelstandard, was die Akzeptanz weltanschaulicher Stellungnahmen in der Philosophie angeht: Während simplifizierende Szientismen, Materialismen etc., häufig verbrämt mit dem Anspruch, es handle sich hier um »wissenschaftliche« Auffassungen, als indisponibel dargestellt werden und auf breiten öffentlichen Beifall hoffen können, sehen sich Vertreter einer religiös geprägten Weltanschauung häufig massiven Beweislasten oder überhaupt dem Ideologieverdacht gegenüber. Dies ist deshalb merkwürdig, weil es auch gegen Szientismen, Materialismen u. a. besonders seit Hume und Kant eine lange Tradition schwerwiegender philosophischer Einwände gibt, die keinerlei religiöse Hintergründe haben. Dennoch ist Plantingas Position auf viele Einwände gestoßen und hat mit seinen Arbeiten zu einer verzweigten Debatte Anlass gegeben. 39 Ich beschränke mich auf drei kurze Skizzen. (i) Man könnte Plantinga erstens mit der kritischen Frage konfrontieren, ob religiöse Meinungen (auch Manifestationsmeinungen) heute angesichts eines Berges von religionskritischer Literatur aus mehreren Jahrhunderten wirklich warrant haben oder ob religiöse Menschen nicht eher in einer epistemisch unfreundlichen Umgebung leben, die den warrant bei der Meinungsbildung (bezüglich der Bedin39

Vgl. im deutschsprachigen Raum Schärtl, Wahrheit und Gewissheit und Glaubens-Überzeugung; Wiertz, Begründeter Glaube? ; Schupp, Glaube und Erkenntnis; Löffler, Externalistische Erkenntnistheorie.

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gungen (2) und (3)) gefährdet? 40 Den defeaters für religiöse Meinungen und deren Widerlegungen sollte also größeres Interesse gelten (was Plantinga nicht bestreitet; an einigen Stellen in Warranted Christian Belief fordert er selbst, aktiv nach defeaters zu suchen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen). (ii) Damit in Zusammenhang steht allerdings ein zweiter Einwand: Auch wenn man die defeaters widerlegen und den religiösen Meinungen wieder warrant verschaffen kann – raubt diese dem Gläubigen doch wohl irgendwie bewusste Begleitmusik von Anfechtung und Widerlegung den religiösen Meinungen nicht ihre proper basicality? 41 Ist also – so könnte weiter gefragt werden – die philosophische Theologie als ein Projekt religionsexterner, philosophischer Vergewisserung über die Berechtigung religiöser Meinungen doch aktueller, als Plantinga dies einschätzen würde? (iii) Drittens und wohl am offensichtlichsten legt sich der Einwand nahe, ob Plantinga nicht allzu stark die Voraussetzungen einer theologischen Anthropologie übernehmen muss. 42 Die zunehmende Rolle des Sensus Divinitatis und des Heiligen Geistes scheinen aus philosophischer Sicht bedenklich. Als eine (philosophische) Erkenntnistheorie betrachtet, scheint hier nämlich ein Zirkelschluss vorzuliegen: Die erkenntnistheoretische Vernünftigkeit des Glaubens soll durch ein Argument bewiesen werden, in dem eine Prämisse Gottes Schöpfertätigkeit (als Einstifter des Sensus Divinitatis!) und eine Prämisse den Heiligen Geist ins Spiel bringt. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass man die RE besser als eine theologische Erkenntnistheorie verstehen sollte, also als eine Auffassung von der menschlichen (insbesondere der religiösen) Erkenntnis unter der vorausgesetzten Annahme, dass die christlichen Lehren im Wesentlichen wahr sind. Plantingas Auffassung vom religiösen Erkennen ruht also auf theologischen Prämissen auf, die im Verlauf der Entwicklung der RE zunehmend deutlicher wurden. Warranted Christian Belief (2000) schließlich ist schon thematisch eindeutig über weite Strecken als fundamentaltheologischer Traktat erkennbar. Damit stellt sich freilich die Frage nach dem Stellenwert seiner Überlegungen insgesamt: Von philosophischen Überlegungen erwartet man ja gemeinhin, dass sie möglichst allgemein nachvollziehbar sein sollen, und dazu gehört auch, dass sie vom jeweiligen Gesprächspartner möglichst wenig an inhaltlichen Vorleistungen verlangen sollen, die vielleicht umstritten sind. Eine philosophische Position, die von ihren Gesprächspartnern massive theologische Zugeständnisse verlangt, hat in dieser Hinsicht Schwächen, sie wird nicht unbedingt den voraussetzungslosen Dialog über die Vernünftigkeit

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41 42

Diesen Einwand hat besonders Philip L. Quinn mehrfach erhoben, etwa in Auf der Suche und in The Foundations. Vgl. Jäger, Reformierte Erkenntnistheorie. Dieser Frage bin ich ausführlicher nachgegangen in Externalistische Erkenntnistheorie.

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des religiösen Glaubens motivieren. Plantinga kennt diesen Einwand natürlich und zögert auch nicht, sich als »christlicher Philosoph« in einem Sinne zu deklarieren, den er – in Anlehnung an eine Diskussion in den 1920/30er Jahren – »augustinisch« nennt: der christliche Philosoph habe nicht so sehr Vermittlungsarbeit nach außen zu leisten, sondern den Vorschlag eines abgerundeten christlichen Weltbilds unter Zugrundelegung christlicher Glaubensüberzeugungen zu entwickeln. Er darf daher ruhig Prämissen, die nur aus dem Glauben bekannt sein können, auch als Philosoph zugrundelegen. 43

4. Alston: mystisch-religiöse Erfahrung als doxastische Praxis Zentral für William P. Alstons (1921–2009) Erkenntnistheorie ist der Begriff der sozial etablierten, bisher nicht als unzuverlässig erkannten doxastischen Praxis. 44 Einfache Beispiele sind Wahrnehmung, Introspektion, Schlussfolgern, Messen nach bewährten Methoden etc.; solche doxastischen Praxen verschaffen den darin erzeugten Meinungen eine prima facie-Rechtfertigung, die durch Widerlegungsinstanzen (overriders) und die dahinter stehenden Ausschnitte unseres Meinungsund Überzeugungssystems wiederum verschwinden kann. 45 Die Grundabsicht Alstons ist es, auch religiöse Praktiken als dazu zumindest nicht grundsätzlich untauglich herauszustellen. Bestimmte verfestigte Formen religiöser Erfahrung können durchaus Erkenntnischarakter haben und vielleicht sogar Wissen produzieren; ein Beispiel wäre etwa der Prozess der »Unterscheidung der Geister« nach Ignatius von Loyola. Ähnliches gilt aber auch für spontan über das Subjekt hereinbrechende religiöse Erfahrungen. Alstons Erkenntnistheorie hat einen stark pragmatistischen Zug. Letztbegründungsversuche für doxastische Praktiken oder Versuche, den Skeptiker stringent zu widerlegen, scheitern nach Alston immer an irgendeiner Form der epistemischen Zirkularität. Also sei es zumindest pragmatisch rational, den etablierten doxastischen Praktiken zu folgen, die daraus erwachsenden Meinungen vorläufig zu akzeptieren, aber natürlich auch die overriders und die möglichen Schwachstellen jener Praktiken im Auge zu behalten. 46

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Zu dieser Diskussion und zu Plantingas diesbezüglicher Position Löffler, Plantingas »Reformierte Erkenntnistheorie«. Vgl. Alston, Perceiving God; Beyond »Justification«; Mysticism. Overriders sind Plantingas defeaters ähnlich; Alstons ausführlichere Überlegungen zu overriders können hier ähnlich beiseite bleiben wie oben Plantingas ausgefeilte defeater-Theorie. Dieser Zug dürfte in Alstons jüngeren Werken – nach 1993 – eher noch verstärkt worden sein, wo die Fokussierung auf Rechtfertigung aufgegeben wurde zugunsten einer ganzen Liste »epistemischer Desiderata« von Meinungen (etwa: evidence-Basierung, Produktion durch zuverlässige Meinungsbil-

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Alstons religionsphilosophische Forschungen 47 konzentrieren sich auf jene Arten religiöser Erfahrung, die man am ehesten mit Wahrnehmungserfahrungen in Vergleich setzen könnte, bei denen der Gläubige also subjektiv den Eindruck hat, als träte ein »Objekt« eigener Art in sein »Wahrnehmungsfeld« (beides sei hier in einem sehr weiten Sinne verstanden; religiöse Wahrnehmungen müssen nicht eindeutig den gängigen »Sinnen« zuordenbar sein und werden von den betreffenden Menschen häufig als schwer einzuordnende Anmutungszustände berichtet). 48 Alston erwähnt zwar auch die Berichte von »extremen mystischen Erfahrungen«, also von Aufgehens-Erlebnissen, in denen die Unterschiede zwischen Subjekt, Zustand und Objekt der Erfahrung verschwimmen, 49 aber insgesamt passen seine Überlegungen durchaus auch – und wohl primär – auf die unspektakulären Formen religiöser Erfahrungen, wie sie ein großer Prozentsatz von Gläubigen berichtet. a. Merkmale »Mystischer Erfahrung« Beginnen wir mit einigen Merkmalen mystischer Erfahrung, wie sie Alston auflistet; 50 damit ist nicht nahegelegt, dass alle religiösen Erfahrungen diese Merkmale haben müssten. Die folgende Liste soll vielmehr eine erkenntnistheoretisch besonders interessante Teilmenge von Erfahrungen herausgreifen, da in ihrem Fall die Wahrheitshaltigkeit am besten begründbar erscheint. Möglicherweise kann man daraus dann Schlüsse für andere Formen religiöser Erfahrungen ziehen, die das eine oder andere Merkmal nicht haben. aa) Unter »mystischer Erfahrung« versteht Alston jene Erfahrungen, die vom Subjekt als Erfahrungen Gottes eingeordnet werden (das kann sofort oder nachträglich geschehen); viele davon sind wahrnehmungsförmig. Vom bloßen Denken-anetwas unterscheiden sich Wahrnehmungen durch den Gegenwärtigkeits- bzw.

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dungsmechanismen, Verteidigbarkeit, Kohärenz, Erklärungsfähigkeit und andere mehr, die je nach Kontext unterschiedliche Bedeutsamkeit haben. Siehe dazu Alston, Beyond »Justification«. Meine Alston-Darstellung orientiert sich in vielem an dem Zusammenfassungstext Mysticism. Dieser hat mehrere Vorteile: Er ist positionell-verteidigend, er fasst vieles in Alstons weitläufigem Schrifttum (besonders Perceiving God) knapp zusammen, und er ist aktuell, da in hinreichender zeitlicher Nähe zu Alstons erwähnter Wende von einer auf Fragen der Rechtfertigung hin fokussierten Erkenntnistheorie hin zu einer offeneren Auffassung von »epistemischen Desiderata« (in Beyond »Justification«) verfasst. Angemerkt sei, dass auch die übliche Sinnesklassifikation (auch Alston benutzt sie, Mysticism, S. 202) naiv, unvollständig und auch sonst nicht ohne Probleme ist; siehe dazu Scheerer, Sinne und Löffler, Sinn. – Zur Phänomenologie religiöser Wahrnehmungen siehe oben S. 71f. Alston, Mysticism, S. 199 Vgl. ebd., S. 200–204.

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Anwesenheitscharakter 51 und den Erscheinungscharakter des wahrgenommenen Objekts. bb) In der sprachlichen Beschreibung solcher Phänomene ist Vorsicht geboten: Die Bedeutungen von Wörtern wie »sehen«, »fühlen« etc. enthalten nämlich eine Erfolgskomponente, die gerade im religionsphilosophischen Bereich als petitio principii erscheinen könnte: »Ich habe Gott gespürt« scheint die Frage nach der Existenz Gottes als entschieden vorauszusetzen. Alston legt daher Wert darauf, dass er solche Wahrnehmungsverben im rein phänomenologischen Sinne unter Enthaltung von Existenzpräsuppositionen verstanden wissen will. 52 cc) Die Wahrnehmung (wie wahrheitshaltig sie immer sein mag) ist direkt. Beispiele indirekter Wahrnehmung sind Fernsehbilder oder im religiösen Bereich die Berichte von Menschen, die Gott im Sonnenschein und Regen zu fühlen meinen. Alston streitet nicht ab, dass es solches gibt, hält es aber auch nicht mit jenen Religionsphilosophen, die alle Gotteserfahrung als indirekt verstehen wollen. Es gibt auch, so Alston, jene direkte Form, und sie steht im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Erkenntnistheoretisch würde sich Alston wohl als Vertreter des direct realism einordnen. 53 dd) Die Wahrnehmung ist häufig nicht-sinnlich. Es gibt z. B. Berichte von Menschen, die zwar niemanden sehen, hören oder taktil fühlen, aber doch die deutliche Wahrnehmung machen, dass eine Person im Raum ist, die es gut mit ihnen meint. Nirgends ist ja festgelegt, dass unsere fünf Sinne den Bereich möglicher Wahrnehmungen begrenzen. Alston ist freilich auch bekannt, dass es religiöse Wahrnehmungsberichte gibt, die deutlich an Sinneswahrnehmungen erinnern. Und er würde sicherlich einräumen, dass es Berichte in einer Grauzone gibt, man denke etwa an Blaise Pascals mystische Erfahrung, deren niedergeschriebene Form, das sogenannte Mémorial, er danach zeitlebens als kleinen in der Jacke eingenähten Zettel mit sich trug. Dort ist u. a. vom »Feuer« die Rede, das er in jener Nacht einige Stunden lang erfahren habe, was weder als klar sinnlich noch als klar nicht-sinnlich zu rekonstruieren ist. ee) Es handelt sich um fokale Erfahrungen, in denen die Wahrnehmung Gottes alle anderen Inhalte überdeckt bzw. ausblendet. Freilich stellt Alston nicht in

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Die Übersetzung ist nicht ohne Tücken: »Like sense experience, it seems to involve a presentation of the object« (ebd., S. 201). Es wäre ganz irreführend, hier an »Vorstellungen« zu denken (die auch mit bloßem Denken-an und Urteilen verbunden sind); meine Übersetzung »Gegenwärtigkeits- oder Anwesenheitscharakter« ist nur ein Vorschlag. Dass genau dieser Punkt bei Swinburne zu Problemen führt, zeigen Gregor Nickel und Dieter Schönecker in ihrem Beitrag. Zum direct realism siehe den Beitrag von Richard Schantz in diesem Band.

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Abrede, dass es auch so etwas wie begleitende religiöse Erfahrungen gibt, die sogar den Hintergrund der Alltagserfahrung bilden. ff) Solche Erfahrungen können spontan oder bewusstermaßen gesucht auftreten, und beide Formen haben ihre epistemischen Vorteile. Anders als bei sonstigen Wahrnehmungsformen stehen bewusst gesuchte religiöse Wahrnehmungen von vornherein eher unter einem Verdacht, nicht wahrheitshaltig, sondern Produkte psychologischer Mechanismen wie Projektionen, Wunschdenken etc. zu sein; spontan hereinbrechende und dem Subjekt quasi aufgezwungene Wahrnehmungen schneiden unter dieser Rücksicht besser ab. Andererseits sind die bewusst gesuchten Wahrnehmungen dieser Art – wie sie etwa in monastischen Orden und anderen religiösen Gemeinschaften auftreten – stabiler und die entsprechenden spirituellen Praktiken sind oft über viele Jahrhunderte lang geprüft und verfeinert worden. b. Warum mystische Wahrnehmung zu justified rational beliefs führen kann: Alstons komplexe Paritätsargumentation Alston steht natürlich nicht an, zuzugeben, dass nicht alle Meinungen, die sich auf mystische Erfahrung berufen, wahr sein können (schon aus Konsistenzgründen!), und dass es allerlei bizarre religiöse Behauptungen dieser Art gibt. Die interessante Frage ist, ob es grundsätzlich möglich ist, dass mystische Erfahrung zu gerechtfertigten rationalen Meinungen (ich übersetze das notorisch schwierige Wort belief im Folgenden mit »Meinung«) führen kann. Alston bejaht im Ergebnis diese Frage. Ob man dabei auch schon von »Wissen« von Gott sprechen sollte, lässt Alston offen und schickt voraus, dass man Vorkommnisse von knowledge in diesem Text als stilistische Varianten von justified (rational) belief verstehen solle. 54 Ein wesentlicher argumentativer Baustein für Alstons Position ist eine Form des epistemischen Glaubwürdigkeitsprinzips, das er auch bei Swinburne angewandt sieht: (PF) Die Tatsache, dass ein Subjekt S eine Erfahrung hat, die ein Fall davon zu sein scheint, dass x dem S so-und-so erscheint, macht die Meinung, dass x (existiert und) so-und-so ist, prima facie gerechtfertigt. (PF steht dabei für prima facie). Natürlich ist das nur eine Art epistemische Unschuldsvermutung (innocent until proven guilty-Prinzip) oder eine Beweislastregel. Eine solche prima facie gerechtfertigte Meinung kann durch overriders jederzeit ihre Rechtfertigung verlieren. Aber entscheidend ist, dass solche Meinungen keine weitere positive Stützung brauchen, um gerechtfertigt zu sein. Jedenfalls für die normale Sinneswahrnehmung ist PF ein weithin akzeptiertes Prinzip. PF 54

Alston, Mysticism, S. 204.

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scheint in jene Gruppe gehaltvoller philosophischer Prinzipien zu gehören, die man zwar nicht voraussetzungslos beweisen, aber doch als vernünftig verteidigen kann, weil seine Leugnung in einen unplausiblen Skeptizismus führen würde. Aber jeder Versuch, PF weiter zu rechtfertigen, wäre früher oder später epistemisch zirkulär. Das nahe liegende Argument der vielfachen Bewährung von PF etwa führt auf solche Zirkularitäten: Bewährung heißt z. B., dass Prognosen eintreffen, aber dieses Eintreffen überprüft man natürlich auch wiederum durch Hinschauen, Nachmessen etc., also unter Involvierung von Sinneswahrnehmung und damit schon wieder unter Zugrundelegung von PF. Was könnte PF nun für mystisch-religiöse Wahrnehmungen austragen? Welche religiösen Wahrnehmungsmeinungen man im Lichte von PF betrachten mag, ist offen. Alston schlägt vor, sich auf Meinungen über die Existenz und basalen Eigenschaften Gottes zu beschränken (G-beliefs) und somit z. B. behauptete Wahrnehmungen über detailliertere göttliche Botschaften wegzulassen. Es geht also im Weiteren um die Akzeptierbarkeit des folgenden Prinzips: (PFG) Die Tatsache, dass ein Subjekt S eine mystische Erfahrung hat, die ein Fall davon zu sein scheint, dass Gott dem S so-und-so erscheint, macht die Meinung, dass Gott (existiert und) so-und-so ist, prima facie gerechtfertigt. Kann man nun ähnlich einfach wie für PF auch für PFG argumentieren? Natürlich nicht. Wer PFG ablehnt, ist deshalb ja noch lange kein Skeptiker in allen Dingen. Aber Alston plädiert dafür, für mystische Wahrnehmungen auch keinen unfair erhöhten epistemologischen Standard einzuführen. Eine solche Kritik an unbegründeten Doppelstandards zuungunsten religiöser Meinungen ist besonders in der US-amerikanischen Religionsphilosophie ein vielfach beobachtbarer argumentativer Zug; besonders deutlich ist er bei Peter van Inwagen, aber auch Alvin Plantinga macht davon Gebrauch. 55 Wenn es den betroffenen Subjekten eben in beiden Fällen so erscheint, dass sie berichten, was ihnen direkt im Bewusstsein präsent ist, warum soll man dann die eine Fallgruppe als prima facie-Rechtfertigungen akzeptieren, die andere aber unter Generalverdacht stellen? 56 Und wenn epistemische Zirkularität im Fall der Rechtfertigung von PF anscheinend unvermeidbar und unproblematisch akzeptabel ist, sollte dies dann für PFG nicht gelten? Soviel als erste Näherung. Etwas mehr im Detail betrachtet, ist die Argumentation Alstons gegen derlei Doppelstandards meines Erachtens eine dreifache. (1) Die Lehrsysteme der monotheistischen Religionen enthalten auch Doktrinen darüber, dass sich Gott zuweilen in Form von mystischen Wahrnehmungen 55

56

Auch in den Debatten um Evolutionsbiologie oder Kreationismus/Intelligent Design im Schulunterricht spielt dieses Argument (audiatur et altera pars!) eine gewisse Rolle. Wieweit es auf das Ethos der amerikanischen Verfassung und ihre Betonung des free speech zurück geht, wäre eine interessante kulturphilosophische Frage. Vgl. Alston, Mysticism, S. 207

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zeigen wird, und dass diese Wahrnehmungen verlässlich sind. 57 Wer verlässliche mystische Wahrnehmungen als grundsätzlich unmöglich erweisen will, wer also PFG bestreiten will, der müsste auch lückenlos beweisen können, dass diese monotheistischen Lehrgebäude falsch sind und dass Gott niemals zur Ursache religiöser Wahrnehmung werden kann. Dieser Teil von Alstons Strategie ist jener Plantingas ähnlich: Es geht um die Zuweisung einer kaum einlösbaren Beweislast an den Gegner. (2) Alston versucht, die Unterschiede zwischen »normaler« Sinneswahrnehmung (SW) und mystischer Wahrnehmung (MW) zu nivellieren, indem er vier Einwände gegen sein bisheriges Paritätsargument entkräftet. 58 Auch diese Entkräftungen sind durchwegs wieder klassische Paritätsargument-Strategien: (i) SW mache jeder, MW nur wenige. – Alston verweist zunächst an mehreren Stellen darauf, dass MW laut soziologischen Studien weiter verbreitet sein dürfte als gemeinhin angenommen. Das ändert freilich nichts am grundsätzlichen Problem, dass es Menschen gibt, die keinerlei MW machen. Alston erwidert darauf, dass es epistemische Praktiken und Ereignisse gibt, die wichtige Informationen zutage fördern, obwohl sie nur selten und gelegentlich vorkommen und demographisch ungleich verteilt sind. Man denke an wissenschaftliche oder philosophische Einsicht, die Intuitionen gewiefter Kriminalisten oder das absolute Gehör eines Klavierstimmers. Demoskopische Häufigkeit ist also kein Parameter für epistemische Relevanz oder Verlässlichkeit. (ii) SW erfolge kontinuierlich, MW nur selten. – Dagegen erhebt Alston einen analogen Gegeneinwand wie zu (i). (iii) SW sei lebendig und detailreich, während MW typischerweise inhaltlich mager und dunkel bleibe. – Alston wendet ein, dass Lebendigkeit und Detailreichtum zwar die Sehwahrnehmung kennzeichnen mögen, Hören und Tasten allerdings schon viel weniger und andere Wahrnehmungskanäle vielleicht noch weniger. Dennoch würde niemand bestreiten, dass z. B. Tast- und Geruchssinn trotz ihrer relativen Magerkeit doch wahrheitshaltig (so schlage ich vor, veridical zu übersetzen) sind. (iv) Die Meinungen aufgrund von SW ergeben ein intersubjektiv sehr stimmiges Bild, während MW notorischerweise zu inkompatiblen religiösen Behauptungen führt. – Dieser Einwand hat für Alston das meiste Gewicht, aber seine Antwort fällt 57

58

Dies ist ein ähnlicher Gedanke wie bei Plantinga: If Christian doctrine is true, then it’s also warranted (weil die christliche Lehre auch Punkte über die religiöse Erfahrung enthält). Daraus folgt per contrapositionem: if it’s not warranted, then it’s not true. Wer die Irrationalität/unwarrantedness des Christentums behaupten möchte, der müsste auch ein Argument für die Falschheit der christlichen Lehre verfügbar haben. Vgl. Alston, Mysticism, S. 208–213.

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insgesamt weniger überzeugend aus als zu (i) bis (iii). 59 Es dürfte ja tatsächlich kaum abzustreiten sein, dass religiöse Erfahrungen sehr stark durch die Ausgangserwartungen bzw. religiösen Hintergrundannahmen geformt werden. Eine Schnelllösung des Problems – etwa nach dem Muster »jedes Objekt kann verschiedene Aspekte haben, und so könne sich auch Gott einmal personenartig, ein andermal nicht personenartig manifestieren« – verbietet sich für Alston: Denn es gehört eben zum doktrinären Kern mancher Religionen, wie sich die höchste Realität zeigt. Im Hinayana-Buddhismus sei es geradezu ein Glaubensartikel, dass die höchste Realität impersonal ist und jede gegenteilige Wahrnehmung eine Illusion sei. Alstons erkenntnistheoretische Analyse geht aber tiefer: Er weist darauf hin, dass die meisten religiösen Wahrnehmungsinhalte dem entsprechen, was man seit dem 17.Jh. »sekundäre Sinnesqualitäten« nennt (also solche betrachterrelative Qualitäten wie Farbe und Glätte, die dem betrachteten Objekt nicht intrinsisch zukommen). Mit dem Siegeszug der modernen Wissenschaften würden solche sekundäre Qualitäten zwar weithin als nicht wirklich wahre Eigenschaften eingestuft, was aber nichts daran ändert, dass sie – als »wohlfundierte Phänomene« – von praktischer Nützlichkeit sind. 60 Was könnte daraus für die Wahrheitshaltigkeit von MW folgen? Interessanterweise ist der Aspekt mit den sekundären Qualitäten zwar ein Punkt, bei dem die Parallelen zwischen SW und MW zugestandenermaßen weniger deutlich sind, aber das scheint für Alston nicht nur Nachteile zu bergen. Im Falle der Religion liege nämlich die naive Verwechslung von sekundären und primären Qualitäten, wie sie die neuzeitliche Kritik der SW oft anlastet, sogar weniger nahe als bei Objekten der normalen Sinneswahrnehmung: Es sei den Gläubigen durchwegs klar, dass ihre Wahrnehmungen von Gott noch nicht das »eigentliche Wesen« des Objekts der Religion ausmachen. Manche Religionen, etwa das Christentum, legen sogar fest, dass die Möglichkeit positiver Aussagen von Gott ihre sachlichen Grenzen hat. Als einen möglichen Weg, wie man die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen doch mit der Annahme einer einzigen höchsten Realität verbinden könnte, weist Alston auf die Position John Hicks hin: Gott bzw. diese ultimate reality könnte laut Hick zwar in sich (d. h. sozusagen von ihren primären Qualitäten her) immer dieselbe bleiben, sich aber in radikal unterschiedlichen sekundären Qualitäten äußern, sodass die unterschiedlichen Beschreibungsweisen eben doch nur vordergründiger Anschein sind. 61 59

60 61

Zu Alstons Überlegungen bezüglich der Diversität religiöser Erfahrungsbehauptungen siehe den Beitrag von Sebastian Maly in diesem Band. Vgl. Kügler, Qualitäten. Vgl. Alston, Mysticism, S. 212. Es sei darauf hingewiesen, dass die zwei Problemkreise historisch wohl deutlicher zu trennen sind, als Alston dies hier tut. Die sachlichen Grenzen positiver Aussagen von Gott hätte z.B. Thomas v. Aquin nicht nur auf den Unterschied zwischen primären und sekundären Qualitäten zurückgeführt. Auch innerhalb der Aussagen über Gottes primäre Qualitäten gibt es Grenzen; wenn wir von Gott z.B. »Erkenntnisfähigkeit« aussagen, dann kommt ihm diese

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Gegen Alston (und Hick) ist hier kritisch einzuwenden, dass das oben erwähnte Problem damit wohl nicht bereinigt ist: Einzelne Religionen unterscheiden sich de facto derart tiefgreifend in ihren Lehrinhalten und eben auch in ihren Aussagen über Gottes Äußerungsweisen, dass eine Analyse im Wege über unterschiedliche sekundäre Qualitäten bei gleich bleibenden primären Qualitäten zu kurz griffe. Dem entspricht auch, dass Alston (zumindest hier in Mystical and Perceptual Awareness) insgesamt keine sehr eindeutige Position in dieser Frage präsentiert bzw. keine, der er die Lösung des Problems der religiösen Diversität wirklich zuzutrauen scheint. Sein Fazit zu den Einwänden (i) bis (iv) fällt demgemäß zweispältig, aber im Endeffekt doch erstaunlich zuversichtlich aus: […] the support mystical experience gives to beliefs formed on its basis is significantly less than the support sense-experience gives to beliefs on its basis (not that we have any way of measuring this). But […] less support is a far cry from no support at all. It can still be maintained that when someone believes on the basis of a being’s appearing to one so-and-so that the being is so-and-so, that the belief is thereby prima facie justified. And this means that (PFG) can be retained. G-beliefs formed on the basis of mystical experience are to be judged as justified unless and until they run into strong enough overriders. 62

Alston zieht aus seinen Überlegungen dennoch das Fazit, dass PFG haltbar ist und Meinungen über Wahrnehmungen Gottes, die aus mystischer Erfahrung gewonnen wurden, solange als gerechtfertigt gelten können, als sie nicht durch hinreichend starke overriders entkräftet werden. 63 (3) Religiöse Wahrnehmungen sind nach Alston sogar in einem gewissen Sinne »testbar« oder abgleichbar, ähnlich wie man andere Wahrnehmungsformen mit sonstigen doxastischen Praktiken abgleicht. Hier kommt nun Alstons »Socialdoxastic-practice«-Ansatz ins Spiel. Es gibt zwar gerade innerhalb spezialisierter religiöser Gemeinschaften so etwas wie einen öffentlichen Abgleich und einen Test von Wahrnehmungsbehauptungen; Hauptkriterien hier sind seiner Meinung nach die Konformität zum Doktrinenbestand der Gemeinschaft, bestimmte »geistliche Früchte« wie ein stabiler innerer Frieden und spirituelles Wachstum, sowie die Neuigkeit des Erfahrungsinhalts, die reine Projektion und Wunschdenken als Ursache unplausibel macht. Alston räumt aber ein, dass die Testbarkeitsmethoden bei religiösen Wahrnehmungen drastisch schlechter sind und auch die Erfüllung der genannten Kriterien nicht leicht überprüfbar ist. Erneut kommt hier ein Paritätsargument in Anschlag: Auch die Introspektion oder die rationale

62 63

Eigenschaft zwar wirklich zu, aber eben in Form eines intrinsischen Maximums dieser Eigenschaft, das wir inhaltlich nicht kennen und nur hindeutend anzielen können. Ebd., S. 213. Vgl. ebd.

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Intuition sind in ihrem Erfolg nicht leicht objektiv prüfbar, dennoch können sie objektive Wahrheiten zum Inhalt haben. Alston warnt insgesamt vor einem »epistemischen Imperialismus« durch unangemessen hohe Kriterien. Religiöse Erfahrung sei – auch wenn sie manche Eigenarten mit ihr teile – doch nicht unbesehen mit den Kriterien für Sinneswahrnehmung zu messen; überhaupt solle man nicht alle unsere Meinungsbildungspraktiken an der Sinneswahrnehmung messen. c. Das Kausalkriterium: Kann Gott die Ursache von religiösen-mystischen Wahrnehmungen sein? In anderen Fällen von Sinneswahrnehmung fordert man gemeinhin die Erfüllung eines Kausalkriteriums, soll es sich um echte Wahrnehmungen handeln: Eine Wahrnehmung ist nur dann eine Wahrnehmung eines Objekts, wenn das wahrgenommene Objekt unter den Ursachen dieser Wahrnehmung ist. Wie kann dieses Kriterium im Falle von MW erfüllt sein? Der Verfechter religiöser Überzeugungen und der Möglichkeit wahrheitshaltiger MW Erfahrung kann hier wiederum eine ähnliche Argumentationsstrategie wie vorher einschlagen und dem Kritiker eine ohne petitio principii schwer einlösbare Beweislast zuweisen: Der Kritiker müsste begründen können, dass Gott ganz sicher nicht in den Kausalketten vorkommt, die zu einer Wahrnehmungserfahrung führen. Eine starke und durchaus verbreitete Position in diesem Zusammenhang besagt, dass durch die moderne Hirnforschung, besonders ihre bildgebenden Verfahren, und durch andere empirische Zugriffe sämtliche natürliche Kausalfaktoren für religiöse Wahrnehmungen geklärt und bekannt wären. 64 Alston würde erstens einwenden, dass solche Behauptungen schon rein empirisch auf wackligen Beinen stehen. Religiöse Wahrnehmungen sind notorisch selten und könnten, auch wenn eine sofort einsetzende begleitende Beforschung des Gehirns glücken würde, leicht gestört werden, man denke allein an die Lärmbelastung und Enge in Tomographen. 65 Aber nehmen wir einmal an, es sei so. Dann kann sich ein Theist wie Alston immer noch zweitens auf die Position zurückziehen, dass Gott in einer anderen Weise in diesen Kausalketten stehe. Alstons Formulierungen erinnern hier sehr stark an die traditionelle Unterscheidung von Erst- und Zweitursächlichkeit: Gott als Erstursache verursacht religiöse Wahrnehmungen dadurch, dass er die Existenz und das Funktionieren der natürlichen Welt mit ihren innerweltli64

65

Ich gehe damit ein wenig über Alstons Andeutungen (ebd., S. 213ff.) hinaus, bin aber sicher, mich damit in seinem Sinne zu bewegen. Vgl. ebd., S. 215. Dass viele der sich starker medialer und populärwissenschaftlicher Aufmerksamkeit erfreuenden Arbeiten zur sogenannten Neurotheologie in der Tat unter ganz erheblichen methodischen Problemen und Mängeln leiden, hat u.a. Hans Goller gezeigt in Religiöses Erleben und Erschuf Gott das Gehirn? .

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chen Zweitursachen verursacht. 66 Auf den naheliegenden Einwand, dies erkläre aber doch noch nicht, wie Gott als Wahrnehmungsobjekt wirke, kann Alston eine dritte Verteidigungsposition aufbauen, die wiederum einen Vergleich mit der normalen Sinneswahrnehmung auswertet: Durch welchen »Kausalbeitrag« etwas zum Wahrnehmungsobjekt werde, das wisse und erkläre man dort auch nicht a priori, sondern nur durch den Umgang mit einer Menge von Erfahrungsbeispielen und die Hinzuziehung eines Hintergrundwissens. Wenn der Religionskritiker also behaupten würde, dass es ganz gewiss nicht Gott sein könne, der die religiösen Wahrnehmungen kausal mit hervorrufe, dann müsste er eben auch beispielsfundiert wissen, wie Gott zum Wahrnehmungsobjekt werden müsste – aber ein solches Wissen kann der religiöse Wahrnehmungsleugner eben nicht haben. Alston warnt abschließend vor einem »epistemischen Imperialismus«, 67 und dies ist durchaus aufschlussreich für die Gesamtanlage seiner religiösen Epistemologie: Auch wenn mystisch-religiöse Wahrnehmung einerseits manche Gemeinsamkeiten mit der Sinneswahrnehmung habe und daher nicht grundsätzlich schlechter dastehe als sie, so wäre es doch andererseits auch verfehlt, sämtliche unserer doxastischen Praktiken unbesehen am Maßstab der Sinneswahrnehmung zu messen: »Different belief-forming practices work differently.«

5. Vergleichende Betrachtungen Über die schon bei den einzelnen Kapiteln punktuell angestellten Querverweise hinaus sollen hier abschließend einige weitere Vergleiche zwischen den drei analysierten Autoren angestellt werden. Sie sollen überleiten zu dem vorsichtigen Fazit, dass religiöse Erfahrungsbehauptungen durchaus rational sein können, sofern die weltanschauliche Einbettung derselben beachtet wird – und zwar vermutlich mehr, als dies bei den Swinburne, Plantinga und Alston geschieht. a. Grundlegende Gemeinsamkeiten Auf die grundlegende Übereinstimmung der drei Autoren in ihrer kognitiven und ontologisch-realistischen Sicht der Religion wurde bereits hingewiesen. Unübersehbar ist auch das christlich-apologetische Interesse, von dem aus sämtliche drei Autoren schreiben, was freilich nicht verhindert, dass viele ihrer Thesen auch in der jüdischen und vor allem muslimischen Religionsphilosophie auf Interesse und Zustimmung gestoßen sind. Übereinkommen dürften sie auch in einer moderat

66

67

»[…] even if the direct causes of a mystical experience are all within nature, God could figure further back in the causal chain that leads to that experience.« (Alston, Mysticism, S. 214) Vgl. ebd., S. 217.

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fundationalistischen sowie einer direkt-realistischen Position in der Erkenntnistheorie (zumindest jener religiöser Wahrnehmungen). b. Drei Varianten des evidential argument Im Grunde ähnlich ist auch die Funktion, die die drei Autoren der religiösen Erfahrung zudenken: Es geht jeweils um evidential und nicht inferential arguments aus der religiösen Erfahrung, d. h. um deren unmittelbaren Erkenntniswert. Das gilt auch für Swinburne, obwohl er den Theismus deutlich als Hypothese und als Erklärung für etwas behandelt. Sein evidential argument aus der religiösen Erfahrung wird daher mit einem inferential argument verknüpft, das auf den übrigen Indizien aufbaut. Die Hauptlast der Begründung liegt aber, wie gesehen, bei der religiösen Erfahrung. Eine eigene Art des inferential argument konzipiert auch Plantinga, wenngleich er, wie gesehen, mit christlich inspirierten Modellvorstellungen arbeitet und innerphilosophisch keine positive Lösung der de facto-Frage (der Wahrheit dieser Modelle) zu geben vermag. Auch das Hauptergebnis Alstons kann als Erweis der nicht grundsätzlichen Irrationalität von Meinungsbildung aufgrund religiöser Erfahrung gelesen werden. Diese Einordnungen führen weiter zur Frage nach den gedachten Adressaten dieser Argumente. c. Ad-intra- und ad-extra-Argumentationen Von allen drei Autoren argumentiert Swinburne am deutlichsten ad extra, d. h. er strebt einen Glaubwürdigkeitsausweis des Christentums auch gegenüber Andersdenkenden an. Das hängt nicht nur mit der inferential-argument-Komponente seines Kumulativarguments zusammen, sondern betrifft auch das Teilargument aus der religiösen Erfahrung. Sämtliche Schritte seiner Argumentation sind – zumindest vom Versuch her – so angelegt, dass sie keine theologischen Vorleistungen seitens des Dialogpartners benötigen (gefordert ist allenfalls, dass jemand nicht grundsätzlicher und unerschütterlicher Atheist oder starker Agnostiker68 ist und religiöse Erfahrung nicht von vornherein als in jedem Falle unglaubwürdig zurückweist). Ansonsten sind sämtliche Schritte weltanschauungsneutral angelegt: Das Glaubwürdigkeitsprinzip ist nichts spezifisch Religiöses, die Masse an historisch greifbaren religiösen Erfahrungsberichten durchaus rationaler Menschen ist dicht genug, um auch von Andersdenkenden zumindest als Faktum kaum wegdiskutierbar zu sein, und von den übrigen sechs Beleggruppen sollten zumindest einige für Anhänger verschiedenster Weltanschauungen akzeptabel sein. Durch die Verteilung der Beweislast bzw. die Festlegung der zu beantwortenden Frage (ist der Theismus nicht extrem unwahrscheinlich?), die das Glaubwürdigkeitsprinzip leis68

Starker Agnostizismus ist die These, dass es in religiösen Fragen keinerlei gute Erkenntnisgründe gibt, dass solche Fragen also keiner rationalen Diskussion zugänglich sind.

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tet, kommt der religiösen Erfahrung bei Swinburne unter allen drei Autoren auch die bedeutsamste apologetische Rolle zu. Bei Plantinga dagegen wird die religiöse Erfahrung 69 vor allem in ihrer Rolle ad intra betrachtet: Dem christlichen Gläubigen wird eine erklärende Theorie angeboten, warum er seinen religiösen Meinungsbildungen durchaus vertrauen kann (wenngleich er natürlich wachsam und prüfend bleiben sollte, was mögliche Selbsttäuschungen etc. angeht). Eine bedeutsame argumentative Konsequenz ad extra sind jedoch die geänderten Beweislasten für jemanden, der religiöse Meinungen als grundsätzlich unzuverlässig betrachten wollte: Er müsste praktisch, sofern Plantinga recht hat, einen umfassenden Beweis der Nichtexistenz Gottes und der Falschheit der christlichen Lehren liefern. Diese geänderten Beweislasten ergeben sich aber nicht mehr aus der religiösen Erfahrung an sich, sondern aus der Struktur der christlichen Lehre, die auch Aussagen über die religiöse Wahrnehmung enthält. Alston vertritt eine interessante Mittelposition: Natürlich kann man sie zunächst als ad intra-Theorie lesen, also eine Theorie für erkenntnistheoretisch interessierte Christen, wie religiöse Wahrnehmungen zustande kommen, sofern man theologische Prämissen dazunehmen wollte. Als solche wäre die Theorie dann ähnlich leistungsfähig wie jene Plantingas. Alstons Paritätsüberlegungen zwischen religiös-mystischen und sonstigen doxastischen Praktiken sind jedoch auch ohne solche theologische Prämissen einigermaßen attraktiv, d. h. sie sind vom Prinzip her auch ad extra nachvollziehbar bzw. sogar wirksam. d. Der Atomismus-Vorwurf: Religiöse Erfahrung als Quelle isolierter Erfahrungsmeinungen? Allen drei Autoren wird zuweilen vorgeworfen, sie seien in einem unplausiblen »Atomismus« oder »Isolationismus« bezüglich religiöser Meinungen und insbesondere der Meinungen aus religiöser Erfahrung verhaftet und würden die weltanschauliche Einbettung religiöser Erfahrung vernachlässigen. Auf Plantinga dürfte dieser Vorwurf am deutlichsten zutreffen: Das religiöse Subjekt erscheint gleichsam wie eine gut geölte Erkenntnismaschine, die unter passenden Bedingungen zuweilen religiöse Manifestationsmeinungen produziert, ähnlich wie man beim Gehen durch eine Landschaft einzelne Wahrnehmungsmeinungen produziert. Dass jedoch in der begrifflichen Fassung und Einordnung solcher religiöser Meinungen allerlei an theologischen Hintergrundannahmen und Deutungsleistungen einfließen, wird nicht ausreichend deutlich. Plantingas Philosophie dürfte auf dem Hintergrund einer stark gefestigten und stabilen Gemeindepraxis, also einer epistemisch überaus freundlichen Umgebung mit gemeinsamen theologischen Selbstverständlichkeiten, am plausibelsten wirken. Religiöse Meinungen 69

Präziser sollte man sagen: die doxastic experience bei religiösen Meinungsbildungen; wir haben gesehen, dass Plantinga gegen den Terminus »religiöse Erfahrung« Vorbehalte anmeldet.

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erfahren auf diesem Hintergrund gleichsam eine direkte Rechtfertigung aus der Erfahrung. Für Menschen in anderen Situationen – etwa weltanschaulich Suchende und Verunsicherte – sind indirekte, reflexive Vergewisserungen, ob man (einzelnen oder auch allen) religiösen Erfahrungen trauen kann, aber wohl viel wichtiger, als Plantinga dies einschätzt. Bei Swinburne wird die implizite Hintergrundtheologie ebenfalls nicht ausreichend deutlich, zumindest nicht in dem Werk Die Existenz Gottes. Die religiöse Erfahrung erscheint – ähnlich wie bei Plantinga – als eine allein stehende und relativ problemlos funktionierende Erkenntnisquelle, deren begriffliche Voraussetzungen (die sicherstellen, dass solche Erfahrungen wirklich mit Gott zu tun haben können) wohl unterschätzt werden. Damit ergibt sich für die Gesamtarchitektonik von Swinburnes Überlegungen aber ein Problem: Ob Gott überhaupt existiert, welche Eigenschaftszuschreibungen ihm angemessen sein könnten und welche erfahrungswirksamen Äußerungsformen man von ihm eventuell erwarten könnte, das mag für den normalen Gläubigen vielleicht aus religiöser Sozialisation heraus selbstverständlich sein. Im Kontext philosophischer Reflexion sind diese Einsichten aber Ergebnisse gerade jener Argumente, die Swinburne erst entfalten will. (Freilich findet man Ansätze eines solchen kritischen Potenzials zur Bewertung religiöser Erfahrungsbehauptungen in anderen Werken Swinburnes, etwa zum Gottesbegriff und seinen notwendigen logischen Klärungen oder zur Offenbarung.) Am deutlichsten ist die Einbettung der religiösen Wahrnehmung in größere epistemische Zusammenhänge noch bei Alston, zumal in seinen jüngeren Werken. Alston streicht die Vielfalt der doxastischen Praktiken und die Diffizilität, wie in einem Meinungssystem overriders für Erfahrungsmeinungen zustande kommen können, stark heraus. In dieses Bild passt auch, dass gerade Alston das Problem der Diversität religiöser Erfahrungen besonders ernst nimmt. Der Vorwurf des Erfahrungsatomismus trifft Alston also nur bedingt. 70 e. Können religiöse Erfahrungsmeinungen epistemisch rational sein? Aber folgt bei Alston aus der pragmatischen Rationalität des Vertrauens auf die Ergebnisse einer bislang unwiderlegten doxastischen Praxis und der Rationalität ihrer Beibehaltung auch die epistemische Rationalität der dort gebildeten Meinungen? Inwieweit ist also der Geltungsanspruch solcher Meinungen gerechtfertigt? 71 Hier sollte die mehrmals erwähnte Gefahr einer Missdeutung der religiösen 70

71

Kritisch zur Problematik der begrifflichen Voraussetzungen auch bei Alston: Schmidt, Gott wahrnehmen und Hansberger, Wird der Glaube durch Erfahrung gerechtfertigt? . Diese Frage hat C. Jäger aufgeworfen in Religiöse Erfahrung und epistemische Zirkularität; siehe auch ders., Religious Experience and Epistemic Justification.

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Erfahrung als unmissverständlich Gegebenes im Auge behalten werden. Religiöse Erfahrung vollzieht sich immer schon innerhalb eines weltanschaulichen Rahmens einer Person und seiner Konzeptualisierungsleistungen, und nur innerhalb dieses weltanschaulichen Rahmens entfalten religiöse Erfahrungsbehauptungen rechtfertigende Kraft. Darauf hat Otto Muck, einer der Pioniere einer analytisch ausgerichteten Religionsphilosophie im deutschen Sprachraum, in mehreren Werken hingewiesen. 72 Das mag zunächst subjektivistisch klingen. Allerdings unterstehen auch religiöse Erfahrungsbehauptungen dem Geltungskriterium, dass für sie – im Idealfall – keine relevante Frage offen sein sollte (eine für die Behauptung p relevante Frage ist eine, zu deren sinnvollen Antwortmöglichkeiten auch das Gegenteil von p gehört). Ist keine relevante Frage offen, dann ist eine Behauptung wahr und bezieht sich auf die Wirklichkeit. 73 Dieses pragmatische Geltungskriterium zeigt aber, dass epistemische und (ideale) pragmatische Rationalität letztlich nicht auseinanderfallen können: Denn was hieße Wahrheit und Wirklichkeitsbezug einer Behauptung letztlich anderes, als dass sie jedem denkbaren Widerlegungsversuch standhält (d. h., dass keine relevante Frage offen ist)? Angewandt auf eine religiöse Erfahrungsbehauptung, wären relevante Fragen etwa, ob ihr Inhalt mit sonstigen Überzeugungen über Gott kompatibel ist (ob sie nicht z. B. unangemessene Vergegenständlichungen oder Einseitigkeiten involviert), und ob sie mit dem sonstigen Orientierungsrahmen (zunächst) der betreffenden Person vereinbar ist – mit ihren wissenschaftlichen Einschätzungen, aber eben auch ihrem weltanschaulichen Rahmen. Nun sind Weltanschauungen zwar zu einem gewissen Grad persönlich, Personen sind in ihren Erkenntnis- und Orientierungsbemühungen aber auch nicht allein. Auch der weltanschauliche Rahmen selbst untersteht letztlich diesem Geltungskriterium. Daher kann die interpersonale kritische Reflexion von Weltanschauungen ebenso wie von religiöser Erfahrung und ihrer Konzeptualisierungen ein Korrektiv gegen fragwürdige private Meinungsbildung sein (nicht nur in Form regelrechten Dialogs, sondern z. B. auch in der Konsultation schriftlicher Zeugnisse und Überlegungen anderer, des sich-Einarbeitens in eine Tradition etc.). Alston sieht diesen Punkt zum Teil, indem er die soziale Bewährung doxastischer Praktiken fordert. Aufgrund religiöser Erfahrung gebildete Meinungen können also vom Prinzip her durchaus epistemisch rational sein. Stärker als Alston dies tut, wäre aber auch auf die Inhalte der philosophischen Gotteslehre zu verweisen, die traditionell als Korrektiv gegen Einseitigkeiten der erfahrungsgestützten Deutung der Rede von Gott fungiert hat. Denn letztlich weist die epistemologische Analyse religiöser Erfahrung, wie sie hier exemplarisch an drei gegenwärtigen 72 73

Vgl. Muck, Rationalität und Weltanschauung, S. 352–372 bzw. S. 373–378; ders., Sinn und Grenzen. Dieses Kriterium hat Muck vorgeschlagen in Wahrheit und Verifikation (Erstdruck 1976), in: Rationalität und Weltanschauung, S. 81–100, hier: S. 95. [Die Umkehrung gilt freilich nicht: Es kann wahre Behauptungen geben, für die aus Sicht des Beurteilers noch relevante Fragen offen sind (S. 92); es sei denn, man weiß, dass die Aussage wahr ist (S. 94).]

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Autoren gezeigt wurde, über sich hinaus und sollte ergänzt werden durch metaphysische Überlegungen. 74

Literaturverzeichnis Alston, William P.: »Mysticism and Perceptual Awareness of God«. In: The Blackwell Guide to the Philosophy of Religion, hg. von William E. Mann. Malden u.a. 2005, S. 198–219. Ders.: Perceiving God. The Epistemology of Religious Experience, Ithaca 1991. Ders.: Beyond »Justification«. Dimensions of Epistemic Valuation, Ithaca 2005. Baker, Alan: »Simplicity«. Elektronisches Dokument in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/entries/simplicity, 2004ff. Baker, Deane-Peter (Hrsg.): Alvin Plantinga, Cambridge u.a. 2007. Beilby, James K.: Epistemology as Theology: An Evaluation of Alvin Plantinga’s Religious Epistemology, Aldershot u.a. 2005. Franks Davis, Caroline.: The Evidential Force of Religious Experience, Oxford 1989. Goller, Hans: »Religiöses Erleben und Hirntätigkeit«. In: Gehirne und Personen, hg. von Martina Fürst et al. Heusenstamm u.a. 2009, S. 247–258. Ders.: »Erschuf Gott das Gehirn oder das Gehirn Gott?« In: Zeitschrift für katholische Theologie 131, 2009, S. 241–255. Hansberger, Andreas: Wird der Glaube durch Erfahrung gerechtfertigt? Zum erkenntnistheoretischen Status des Gehalts religiöser Erfahrung, Stuttgart 2009. Jäger, Christoph: »Reformierte Erkenntnistheorie«. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 55, 2001, S. 491–515. Ders.: »Religiöse Erfahrung und epistemische Zirkularität«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, 2005, S. 223–238. Ders.: »Religious Experience and Epistemic Justification: Alston on the Reliability of ›Mystical Perception‹«. In: Argument und Analyse, hg. von Carlos U. Moulines/Karl-Georg Niebergall. Paderborn 2002, S. 403–423. Kügler, Peter: Die Philosophie der primären und sekundären Qualitäten, Paderborn 2002. Kvanvig, Jonathan (Hrsg.): Warrant in Contemporary Epistemology. Essays in Honor of Plantinga’s Theory of Knowledge, Totowa 1996. Lambert, K./Brittan, Gordon G.: Eine Einführung in die Wissenschaftsphilosophie, Berlin/ New York 1991. Lipton, Peter: Inference to the Best Explanation, London u.a. 2 2004. Löffler, Winfried: »Eine vermutlich unerwünschte Konsequenz von Swinburnes probabilistischer Gotteslehre«. In: Argument und Analyse. Ausgewählte Sektionsvorträge des 4. Kongresses der Gesellschaft für Analytische Philosophie, Bielefeld 2000, hg. von Ansgar Beckermann/Christian Nimtz. Paderborn 2002, S. 474–484 (elektronische Publikation unter http://www.gap-im-netz.de/gap4Konf/Proceedings4/Proc.htm). 74

Einzelne Passagen dieses Aufsatzes benutzen Material aus meinen Aufsätzen Religiöse Erfahrung und ihre argumentativen Rollen (2010), Gott als beste Erklärung (2007) und Plantingas »Reformierte Erkenntnistheorie« (2006). Ich danke Dieter Schönecker für eine Reihe überaus wertvoller Ergänzungen und Korrekturvorschläge.

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Winfried Löffler

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Die Rolle religiöser Erfahrung

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Gregor Nickel / Dieter Schönecker

RICHARD SWINBURNES BEGRIFF DER RELIGIÖSEN ERFAHRUNG Eine Analyse und Kritik The term ›experience‹ (taken as either a noun or a verb) is notoriously slippery. Alvin Plantinga, Warranted Christian Belief Das sogenannte Argument von der religiösen Erfahrung spielt in der analytisch geprägten Religionsphilosophie und so auch für das apologetische Anliegen Richard Swinburnes eine prominente Rolle. Anstatt sich jedoch in die vielstimmige Debatte um dieses Argument einzureihen, untersucht der vorliegende Aufsatz den hierbei zugrunde gelegten Begriff der religiösen Erfahrung. Es zeigt sich dabei, dass Swinburne u.E. weder einen überzeugenden Erfahrungsbegriff verwendet noch erklären kann, was eine Erfahrung als spezifisch religiös qualifiziert. Der erste Abschnitt untersucht eine (vermutlich im wesentlichen) terminologische Schwierigkeit, die aus Swinburnes Verwendung von Wahrnehmungsverben als Erfolgsverben resultiert. Während sich diese Schwierigkeit noch durch explizite Referenz auf den jeweiligen Beobachter ausräumen ließe, präsentieren der zweite und dritte Abschnitt eine schwerer wiegende Kritik: dass nämlich der verwendete Erfahrungsbegriff – Erfahrung sei ein bewusstes mentales Ereignis – viel zu weit gefasst und damit nicht mehr genügend trennscharf ist (Abschnitt 2) und dass schließlich nicht einmal im Ansatz diskutiert wird, was eine Erfahrung tatsächlich zur Erfahrung eines religiösen Gegenstandes macht (Abschnitt 3). Der abschließende Abschnitt 4 skizziert mögliche Gründe für eine solche, gerade bei einem analytischen Philosophen erstaunliche Ungenauigkeit in der Begriffsbildung.

Das sogenannte Argument von der religiösen Erfahrung (argument from religious experience) spielt in der gegenwärtigen, vor allem in der analytisch geprägten Religionsphilosophie eine prominente Rolle. 1 Es überrascht daher nicht, dass auch in 1

Wir danken Winfried Löffler, Oliver Wiertz und Thomas M. Schmidt für wertvolle Hinweise und Diskussionen. – Das englische Wort »experience« und das deutsche Wort »Erfahrung« haben beide sowohl die Bedeutung des Erfahrens im Sinne eines momentanen, aktualen Erlebens (oder eben

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zwei maßgeblichen Werken von zwei Philosophen, die im Nachdenken über die Rationalität des Gottesglaubens in den letzten Jahrzehnten eine herausragende Rolle gespielt haben, dieses Argument von besonderer Relevanz ist: In William Alstons Perceiving God und in Richard Swinburnes The Existence of God. Dagegen taucht das Argument von der religiösen Erfahrung im nicht minder bedeutsamen Werk Alvin Plantingas, insbesondere in Warranted Christian Belief , nur marginal auf. Aber auch das überrascht nicht, da die Pointe dieser sogenannten reformierten Epistemologie und der Witz an Plantingas Idee von »warrant« ja gerade darin besteht, dass der Glaube an Gott überhaupt keiner Argumente und daher insbesondere auch keines auf Erfahrung basierenden Argumentes bedarf; 2 außerdem sind die von Plantinga sogenannten properly basic beliefs über Gott ohnehin nicht von religiösen Erfahrungen abhängig. Bei Alston ist das Argument von der religiösen Erfahrung (in einer bestimmten Variante und Interpretation) jedoch wichtig, und bei Swinburne ist es sogar von zentraler Wichtigkeit: Zwar kommt es als Überschrift des 13. Kapitels zunächst unscheinbar als eines von vielen Argumenten daher, so dass man denken könnte, es spiele in Swinburnes kumulativer Argumentation eben auch nur eine Rolle wie all die anderen Argumente auch. Swinburne selbst betont jedoch, das Argument von der religiösen Erfahrung sei »of most importance for the purpose of this book [d. h. für The Existence of God]« (296). 3 Der Grund für diese Wichtigkeit besteht darin, dass für den Fall, dass eine nicht allzu geringe Wahrscheinlichkeit des Theismus auf der Grundlage anderer Argumente 4 nachgewiesen ist, das Zeugnis »of many witnesses to experiences apparently of God suffices to make many of those experiences probably veridical« (341). Wenn also die Gesamtwahrscheinlichkeit der theistischen Hypothese auf der Grundlage jener Argumente nicht äußerst gering ist, dann kann das Argument von der religiösen Erfahrung den Ausschlag geben, und das tut es nach Swinburne auch – religiöse Erfahrung sei, so Swinburne, das »crucial piece

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Erfahrens) wie auch die Bedeutung der über einen längeren Zeitraum erworbenen Erfahrung mit einer Sache oder in einer Tätigkeit. Für das Argument von der religiösen Erfahrung ist zumindest bei Swinburne die erste Bedeutung maßgeblich; bei Alston etwa spielt aber auch die Praxis und Tradition eine große Rolle. In Warranted Christian Belief behandelt Plantinga das Argument vor allem auf den Seiten 326–331. Dort schreibt er: »In fact, one of the main points to see here is that the question whether theistic belief can receive warrant by way of religious experience (and thus in the basic way) is a wholly different question from the question whether there is a good argument from the existence of religious experience to the existence of God« (S. 328). Einfache Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf Swinburne, Existence. Eine deutsche Übersetzung liegt leider nur von der ersten Auflage vor. Swinburne diskutiert in dieser Reihenfolge: The Cosmological Argument, Teleological Arguments, Arguments from Consciousness and Morality, The Argument for Providence, The Problem of Evil, Arguments from History and Miracles – und dann The Argument from Religious Experience.

Richard Swinburnes Begriff der religiösen Erfahrung

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of evidence« (341). Allerdings scheint es große Unterschiede zwischen den beiden (bzw. drei) Auflagen von The Existence of God zu geben: Während in der ersten Auflage (1979) die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes auf der Grundlage der klassischen naturtheologischen Argumente nur nicht ganz gering zu sein braucht, damit das Gesamtargument auf der Grundlage der religiösen Erfahrung sticht, scheint Swinburne in der zweiten Auflage (2004) zu meinen, dass jene Wahrscheinlichkeit nicht nur nicht ganz gering ist, sondern sogar relativ hoch (etwas über 0.5). 5 Diese Entwicklungen innerhalb der Swinburnschen Philosophie nachzuzeichnen ist hier aber kein Platz. Es kommt uns nur auf den Hinweis an, dass das Argument aus der religiösen Erfahrung jedenfalls von zentraler Bedeutung in Swinburnes Gesamtargumentation ist. Dennoch werden wir uns in unserem Beitrag nicht mit diesem Argument von der religiösen Erfahrung beschäftigen; weder seine genaue Gestalt noch seine genaue Rolle im kumulativen Gesamtargument werden also für uns von Interesse sein. Vielmehr werden wir versuchen, Swinburnes Begriff der religiösen Erfahrung als solchen einer genauen Analyse unterziehen. Der Grund dafür ist einfach genug: Zum einen leuchtet ein, dass jedes Argument von der religiösen Erfahrung einen klaren Begriff voraussetzen sollte, was religiöse Erfahrung überhaupt ist, und dies natürlich um so mehr, je zentraler das Argument der religiösen Erfahrung im Gesamtargument ist. Swinburne ist also gut beraten, hier begriffliche Klarheit zur Grundlage seines Arguments zu machen. Zum anderen ist bemerkenswert, dass trotz der enormen Tragkraft, die das Argument von der religiösen Erfahrung bei Swinburne innehat, bisher nur Analysen des Argumentes selbst vorliegen, jedoch keine detaillierte Analyse des Swinburneschen Begriffs der religiösen Erfahrung. Eine solche Analyse ist daher, soweit wir sehen, ein echtes Desiderat. 6 Nach einigen Vorbemerkungen eröffnet Swinburne sein Kapitel (Kap. 13) über das Argument von der religiösen Erfahrung mit einem Abschnitt über »The Nature of Religious Experience« (293–298); der folgende Abschnitt ist dann über »Five Kinds of Religious Experience« (298–303). Nachdem Swinburne etwa zwei Seiten in seiner Analyse fortgeschritten ist, schreibt er: »So much for what an ›experience‹ is and the ways in which we can describe it. But what constitutes a

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Wir beschränken und also auf eine Analyse der Auflage aus 2004. Vgl. zu diesem Punkt aber auch Winfried Löfflers Beitrag in diesem Band. So geht Franks Davis in Evidential Force, S. 22f. nur am Rande auf Swinburnes Begriff religiöser Erfahrung ein, obwohl Swinburne eine wichtige Rolle bei ihr spielt; die diversen Einzelheiten und Probleme, die wir diskutieren werden, kommen bei Franks Davis fast gar nicht in den Blick. Einen Überblick über den Stand der Diskussion zum Argument der religiösen Erfahrung findet man bei Kwan, The Argument from Religious Experience. Auch er konzentriert sich bei seiner Wiedergabe der Swinburneschen Variante (S. 507ff.) auf das Argument und sagt kaum etwas zu Swinburnes Begriff der religiösen Erfahrung; vgl. auch Hansberger, Religiöse Erfahrung, S. 56–94.

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›religious experience‹?« (295). Demzufolge gibt es also zwei grundlegende Fragen: Was ist überhaupt eine Erfahrung (experience), und was ist eine religiöse Erfahrung? Wir werden zu zeigen versuchen, dass Swinburne weder auf die eine noch auf die andere Frage eine befriedigende Antwort gibt. Im wesentlichen sehen wir drei Schwierigkeiten für Swinburnes Analyse und Begriff der religiösen Erfahrung: Die erste hängt mit der Unterscheidung von internen und externen Beschreibungen der eigenen (religiösen) Erfahrung zusammen und, damit verknüpft, mit der Unterscheidung zwischen einem epistemischen und einem komparativen Gebrauch sogenannter Wahrnehmungswörter und ›appear-Wörter‹; diese vor allem terminologische Schwierigkeit, obwohl im Detail nicht ohne Aufwand zu beschreiben und zu rekonstruieren, ließe sich wohl einigermaßen leicht beheben, ohne dabei substantielle Änderungen am Swinburnschen Begriff der religiösen Erfahrung vornehmen zu müssen. Die zweite Schwierigkeit, die wir benennen, ist dagegen schon gravierender: Swinburne kann nicht überzeugend erklären, was überhaupt eine Erfahrung ist; und deswegen, aber nicht nur deswegen, kann er, so die aufzuzeigende dritte Schwierigkeit, auch keine überzeugende Analyse des Begriffs der religiösen Erfahrung anbieten. Wir werden unsere Analyse in dieser Reihenfolge gliedern.

1. Die erste Schwierigkeit: Interne und externe Beschreibungen der eigenen (religiösen) Erfahrungen Auf den ersten Blick hat Swinburnes Analyse durchaus eine klare Struktur: Er beginnt zunächst mit einer äußerst allgemeinen und weiten Definition von Erfahrung als einem »conscious mental event« (293). Dann führt er die Unterscheidung zwischen einer externen Beschreibung (»external description«, 294) und einer internen Beschreibung (»internal description«, 294) von Erfahrungen ein, wobei – gemäß seiner Terminologie – eine externe Beschreibung, falls korrekt, impliziert, dass das Objekt, das Gegenstand der beschriebenen Erfahrung ist (grob gesprochen: das wahrgenommen wird), tatsächlich existiert; dagegen impliziert eine interne Beschreibung dies nicht. Swinburne behauptet dann, dass »all arguments from religious experience must be phrased as arguments from experience given internal descriptions« (294). Das Vokabular solch einer internen Beschreibung, so Swinburne weiter, besteht aus Termini wie »appear« oder »seem« sowie aus Wahrnehmungsverben wie ›look‹, ›feel‹, oder ›taste‹. Im Anschluss an die Wahrnehmungstheorie R.M. Chisholms meint Swinburne außerdem, dass all diese Termini einen epistemischen (»epistemic«, 294) wie auch einen komparativen (»comparative«, 294) Gebrauch hätten; folglich darf und muss man erwarten, dass eine interne Beschreibung einer religiösen Erfahrung auch einen epistemi-

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schen oder komparativen Sprachgebrauch mit sich bringt. Wir werden nun dieses Swinburnsche Modell im Folgenden genauer betrachten 7. Swinburne zufolge ist eine religiöse Erfahrung definiert »as an experience that seems (epistemically) to the subject to be an experience of God« (295). 8 Wir werden uns später mit dieser Definition und dem Begriff der religiösen Erfahrung natürlich noch eingehend beschäftigen. Wie man aber sofort sieht, steckt in dieser Definition eine Begrifflichkeit, die nicht ohne weiteres verständlich ist und die der Erläuterung bedarf – denn was genau heißt es, dass eine religiöse Erfahrung eine solche ist, die dem erfahrenden Subjekt ›seems (epistemically) to be an experience of God‹? Um diese Definition verstehen zu können, müssen wir uns zunächst der Swinburnschen Unterscheidung zwischen einer internen und einer externen Beschreibung zuwenden; später werden wir dann sehen, dass genau daraus ein Problem für die Definition erwächst. Eine Erfahrung, so Swinburne, may be described in such a way as to entail the existence of some particular external thing apart from the subject, beyond the stream of his consciousness, normally the thing of which it is an experience; or it may be described in such a way as to carry no such entailment. Thus ›hearing the coach outside the window‹ is not unnaturally described as an experience; but if I have such an experience, if I really do hear the couch outside the window, then it follows that there is a coach outside the window. Yet, if I describe my experience as ›having an auditory sensation that seemed to come from a coach outside the window‹, my description does not entail the existence of anything external of which the experience was purportedly an experience (or anything else external). The former kind of description I will call an external description; the latter an internal description. (293f.)

Es ist offenkundig, dass Swinburne sich mit seiner Rede von externen Beschreibungen auf den realistischen Grundgedanken in der Philosophie der Wahrnehmung bezieht, dass man im engeren Sinne nur wahrnehmen kann, was auch wirklich da ist; so kann man, um das Beispiel Swinburnes aufzugreifen, keine Kutsche vor dem Fenster wahrnehmen, wenn tatsächlich keine Kutsche vor dem Fenster ist. Swinburne behauptet also, dass innerhalb von externen Beschreibungen Wahrnehmungsverben (wie sehen, hören, schmecken usw.) Erfolgsverben sind. Diese auf Gilbert Ryle zurückgehende These, dass Wahrnehmungsverben Erfolgsverben sind, ist im Kern eine semantische These, die besagt, dass Wahrnehmungsverben so gebraucht werden, dass ihr (berechtigter) Gebrauch die Existenz desjenigen Gegenstandes impliziert, von dem behauptet wird, er werde wahrgenommen. 7

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Es ist, dies vorab, bemerkenswert, dass Sinwburne nur zwei Seiten auf die Analyse verwendet, was Erfahrung und Wahrnehmung überhaupt sind. Schon jetzt darf man kritisch anmerken, dass ein kumulatives Gesamtargument, dessen Erfolg und Misserfolg so wesentlich vom Argument von der religiösen Erfahrung abhängt, mehr als nur zwei Seiten Analyse verdient hätte, was Erfahrung und Wahrnehmung überhaupt sind. Das ist eine für unsere vorläufigen Zwecke verkürzte Wiedergabe; zur vollständigen Definition später mehr.

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Wer sagt und damit beansprucht, er habe eine Kutsche vor dem Fenster gehört, beansprucht zugleich, dass tatsächlich eine Kutsche vor dem Fenster ist. Sollte sich herausstellen, dass keine Kutsche vor dem Fenster ist, dann wird diese Person nicht mehr behaupten – oder jedenfalls nicht mehr behaupten dürfen –, dass sie die Kutsche gehört habe; sie hat dann eben tatsächlich keine Kutsche gehört (vielleicht hat sie gar nichts gehört oder etwas anderes). Genau in diesem Sinne schreibt Swinburne: »if I really do hear the coach outside the window, then it follows that there is a coach outside the window« (294, u. H.). Im Unterschied dazu gilt, dass eine interne Beschreibung »does not entail the existence of anything external« (294, u. H.). Wie wir später noch sehen werden, ist diese Art von Wahrnehmungsrealismus eine der wesentlichen Voraussetzungen Swinburnes, 9 aber auch eine der Voraussetzungen, die ihn in Schwierigkeiten bringt. Swinburne unterscheidet explizit Erfahrungen von der Art, wie gegebene Erfahrungen beschrieben werden; und in der Tat ist es ja auch keine interne oder externe Erfahrung, die als Prämisse in einem Argument von der religiösen Erfahrung fungiert, sondern eine interne oder externe Beschreibung einer solchen Erfahrung. Nun ist Swinburne zufolge (1) Ich höre eine Kutsche vor dem Fenster. eine externe Beschreibung, wohingegen (2) Ich mache eine auditorische Wahrnehmung, die von einer Kutsche vor dem Fenster zu kommen scheint. eine interne Beschreibung ist. Unter der Voraussetzung, dass Hören ein Erfolgsverb ist, kann (1) dann und nur dann wahr sein, wenn sich vor dem Fenster eine Kutsche befindet, die Geräusche verursacht, die ich höre. Dagegen kann (2) auch wahr sein, wenn sich keine Kutsche vor dem Fenster befindet; ich kann sehr wohl eine auditorische Wahrnehmung haben, die von einer Kutsche vor dem Fenster zu kommen scheint, auch wenn keine Kutsche vor dem Fenster ist. (2) ist also genau dann wahr, wenn ich tatsächlich eine auditorische Wahrnehmung mache, die von einer Kutsche vor dem Fenster zu kommen scheint; damit (2) wahr ist, brauche ich also nur wahrheitsgetreu meine Erfahrung zu berichten. Die Wahrheitsbedingungen für (1) sind also deutlich anspruchsvoller: Wenn eine Person sagt, sie mache eine auditorische Wahrnehmung, die von einer Kutsche vor dem Fenster zu kommen scheint, muss man, um dieser Aussage Glauben zu schenken, nur annehmen, dass diese Person nicht die Unwahrheit sagt. Auf der Grundlage des Wahrnehmungsrealismus kann man bezweifeln, ob diese Person wirklich eine Kutsche vor dem Fenster gehört hat, ohne daran zu zweifeln, dass 9

Mit Blick auf die Beweislast, die die religiöse Wahrnehmung für die reale Existenz ihres Gegenstandes bei Swinburnes Argumentation übernehmen soll, ist es natürlich nicht überraschend, dass ein solcher realistischer Begriff verwendet wird.

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sie glaubt, sie habe eine solche Kutsche vor dem Fenster gehört; man muss nicht die Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen, um die Existenz der Kutsche (vor dem Fenster) in Zweifel zu ziehen. 10 Swinburne sagt all dies nicht in dieser Deutlichkeit und Terminologie, aber es stimmt doch gut mit seinen eher allgemeinen Bemerkungen über die Wahrnehmung überein. Folgendes Zitat bringt knapp, aber deutlich Swinburnes Wahrnehmungsrealismus zum Ausdruck: It seems to me, for reasons that others have given at length, that the causal theory of perception is correct – that S perceives x […] if and only if an experience of its seeming (epistemically) to S that x is present is caused by x’s being present. So S has an experience of God if and only if its seeming to him that God is present is in fact caused by God being present. (296)

Die Kausaltheorie der Wahrnehmung, die Swinburne sich hier zu eigen macht, besagt natürlich noch mehr als dies; denn sie sagt ja auch etwas darüber aus, wie Gegenstände Wahrnehmungen hervorrufen, nämlich kausal. Diese Kausaltheorie der Wahrnehmung wie schon der Kausalitätsbegriff selbst haben ihre eigenen Schwierigkeiten, auf die wir hier aber nicht eingehen wollen. Betrachten wir nun eine Unterscheidung, von der Swinburne, einen Gedanken Chisholms aufgreifend, sagt, sie sei »crucial« (294), und zwar die Unterscheidung »between the epistemic and the comparative uses of such verbs as ›seems‹, ›appears‹, ›looks‹ etc.« (294 f.). Wie schon bemerkt ist es wichtig zu sehen, dass diese Unterscheidung nur innerhalb interner oder für solche internen Beschreibungen relevant und maßgeblich ist. Menschen geben interne Beschreibungen ihrer Erfahrungen, und dabei gebrauchen sie Wahrnehmungswörter und Ausdrücke wie ›mir scheint‹, ›es scheint‹, ›anscheinend‹ usw. (vor dem Hintergrund der englischen Sprache spricht Chisholm von ›appear words‹); sie können solche Wörter und Ausdrücke epistemisch oder komparativ gebrauchen, jedenfalls aber findet ein solcher Gebrauch innerhalb interner Beschreibungen statt. Interne Beschreibungen sind Swinburne zufolge Beschreibungen, die nur die Erfahrung selbst beschreiben, ohne damit etwas über die mögliche Existenz des Gegenstandes zu behaupten oder zu beanspruchen, der die Erfahrung verursacht haben könnte. Und eine solche Existenzbehauptung, so sollte man meinen, wird deswegen nicht aufgestellt, weil derjenige, der die interne Beschreibung macht, einen gewissen Zweifel über die Realität des Gegenstandes hat und zum Ausdruck bringt. Wenn ich eine Erfahrung mache und sie mit (2) beschreibe, dann beanspruche ich, eine auditorische Wahrnehmung zu machen, die von einer Kutsche vor dem Fenster zu kommen scheint, aber es scheint mir eben nur so zu sein, sicher bin ich nicht; 10

Macht man aber den Wahrnehmungsrealismus (und die These der Erfolgsverben) nicht mit, so kann man die Existenz der Kutsche vor dem Fenster in Zweifel ziehen, ohne damit auch in Zweifel zu ziehen, dass jemand eine solche Kutsche hört (und nicht nur eine auditorische Wahrnehmung macht, die von einer Kutsche vor dem Fenster zu kommen scheint).

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vielleicht oder wahrscheinlich ist da eine Kutsche vor dem Fenster, vielleicht aber auch nicht. Einen solchen Gebrauch des ›scheinen‹ 11 nennt Swinburne epistemisch: »To use such words in their epistemic use is to describe what the subject is inclined to believe on the basis of his present sensory experience« (295). Wenn ich (2) sage, behaupte ich also nicht, dass tatsächlich eine Kutsche vor dem Fenster ist, und daher rede ich nur davon, eine auditorische Wahrnehmung zu machen, die von einer Kutsche vor dem Fenster zu kommen scheint; dennoch will ich, wenn das Wort ›scheinen‹ in (2) von mir epistemisch gebraucht wird, zugleich meine Neigung zum Ausdruck bringen, zu glauben, es sei eine Kutsche vor dem Fenster, die Ursache meines Erlebnisses ist (und die dann auch mein Erlebnis zu einer genuinen Wahrnehmung machte), welches Erlebnis in mir diesen Glauben hervorruft. Sicher bin ich aber nicht, denn sonst könnte, würde und sollte ich (1) äußern. Da ich nun aber nur geneigt bin, zu glauben (»inclined to believe«, 295, u. H.), dass eine Kutsche vor dem Fenster ist, also nur eine »inclination« (295) dazu habe, beschreibe ich meine Erfahrung mit (2). Es ist nicht klar – Swinburne sagt nichts dazu –, wie sehr ich im Rahmen einer intern-epistemischen Beschreibung geneigt bin, an die Existenz etwa einer Kutsche vor dem Fenster zu glauben, oder für wie wahrscheinlich ich eine solche Existenz halte; aber klar ist jedenfalls, dass ich die Existenz der Kutsche vor meinem Fenster für wahrscheinlicher halten muss als ihre Nichtexistenz, wenn ich auch nicht fest von ihrer Existenz überzeugt sein darf, weil meine Beschreibung dann nicht mehr intern, sondern extern wäre bzw. sein müsste, ich also (1) äußern müsste. Sollte ich es dagegen für (ziemlich) unwahrscheinlich halten, dass vor dem Fenster eine Kutsche ist, sollte ich also ziemlich sicher sein, dass dort keine Kutsche ist, dann beschreibe ich meine Erfahrung intern, indem ich einen komparativen und damit uneigentlichen Gebrauch von ›hören‹ mache: (3) Ich habe ein akkustisches Erlebnis, das sich so anhört, wie sich normalerweise eine Kutsche vor dem Fenster anhört. Auch mit (3) behaupte ich nicht, dass vor dem Fenster keine Kutsche ist. Dennoch muss ich zumindest einen erheblichen Zweifel haben und zum Ausdruck bringen wollen, wenn ich (3) äußere. Denn wäre ich geneigt zu glauben, dass eine Kutsche vor dem Fenster ist, dann würde ich eher (2) äußern. Im Swinburnschen Modell, so unsere These, ist es wesentlich für interne Beschreibungen, dass sie einen mehr oder weniger starken Zweifel an der Existenz des Gegenstandes zum Ausdruck bringen, der möglicherweise das Wahrnehmungserlebnis hervorruft; und dieses ›mehr oder weniger‹ kann dann durch den epistemischen oder komparativen

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Offenkundig sind die englischsprachigen appear-words (appear, seem) nicht ohne weiteres in die deutsche Sprache übersetzbar; diese Problematik stark semantisch geprägter Begriffsanalysen müssen wir hier außen vor lassen.

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Gebrauch der Wahrnehmungs- und appear-Wörter präzisiert und ausgedrückt werden. Aus dieser Hintergrundtheorie entwickelt sich nun aber ein großes Problem für Swinburnes Definition »religiöser Erfahrung«. Swinburne zufolge muss eine Erfahrung, die dem Subjekt epistemisch eine Erfahrung von Gott zu sein scheint, intern beschrieben werden; denn nur intern beschriebene Erfahrungen erlauben ja überhaupt einen epistemischen Gebrauch der Wahrnehmungs- und appearWörter. Das passt auch gut zu der oben schon zitierten Feststellung Swinburnes, dass »all arguments from religious experience must be phrased as arguments from experiences given internal descriptions« (294); wir kommen gleich darauf zurück. Jede Beschreibung einer religiösen Erfahrung muss innerhalb eines Arguments von der religiösen Erfahrung jedenfalls eine interne Beschreibung sein. Nun ist eine Erfahrung, die dem Subjekt epistemisch eine Erfahrung von Gott zu sein scheint, eine Erfahrung, aus der, wie oben beim Beispiel der Kutsche gezeigt, eine Neigung erwächst zu glauben, dass Gott existiert oder anwesend ist. Daher wird ein Subjekt, das eine solche Erfahrung macht, sie etwa so beschreiben: (4) Ich habe eine (z. B. visuelle) Erfahrung, die von Gott zu stammen scheint. Solch ein Subjekt glaubt nicht sehr stark, dass seine visuelle Erfahrung tatsächlich von Gott stammt. Täte das Subjekt dies, hätte es keinen Grund, so etwas wie (4) zu äußern; vielmehr würde das Subjekt seine Erfahrung extern beschreiben. Das hat aber eine sehr merkwürdige Konsequenz: Nehmen wir an, ein Subjekt sieht Gott (etwa in einem brennenden Dornbusch oder auf dem Berg Sinai) und bildet – »on the basis of his present sensory experience« (295) – die starke Überzeugung, dass Gott existiert und es sich in seiner Gegenwart befindet. Eine solche Erfahrung wäre dann aber, Swinburnes Definition zufolge, überhaupt keine religiöse Erfahrung, und daher auch keine Erfahrung, auf die man in einem Argument von der religiösen Erfahrung als Prämisse Bezug nehmen könnte. Denn Swinburne zufolge ist eine religiöse Erfahrung definiert (wir zitierten es schon) »as an experience that seems (epistemically) to the subject to be an experience of God« (295), so dass das Subjekt nur geneigt ist zu glauben, dass es wirklich Gott ist, der erfahren wird. Demnach können Menschen, die einen festen und starken Glauben haben und auch religiöse Erfahrungen zu machen glauben, tatsächlich gar keine religiösen Erfahrungen machen, weil in die religiöse Erfahrung, so wie Swinburne sie definiert, der Zweifel eingebaut ist. Das scheint eine recht abstruse Konsequenz von Swinburnes Definition zu sein und jedenfalls eine Konsequenz, von der man kaum glauben mag, dass Swinburne sie intendiert oder auch nur akzeptiert. 12 In der Tat scheint diese Konsequenz so abstrus zu sein, dass man vielleicht eine andere Interpretation suchen muss. So könnte man versuchen, Swinburne 12

Auf einer Tagung an der Universität Frankfurt (Oktober 2009) hat Swinburne eingeräumt, dass einige seiner diesbezüglichen Definitionen und Ausführungen wohl etwas »sloppy« seien.

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auf folgende Weise zu verteidigen: Swinburne beruft sich auf Chisholms Unterscheidung zwischen dem epistemischen und dem komparativen Gebrauch der sog. appear-words. Nun schreibt Swinburne, wie schon zitiert, dass »to use such words in their epistemic use is to describe what the subject is inclined to believe on the basis of his present sensory experience« (295, u. H.). Indem Swinburne auf diese Weise den Aspekt des Geneigtseins zu einer Überzeugung als Moment des epistemischen Gebrauchs von appear-Wörtern hervorhebt – den Begriff der Neigung verwendet er in der entscheidenden Passage (295) fünf Mal –, vermittelt er den Eindruck, dass in einer internen Beschreibung, die appear-Wörter epistemisch gebraucht, das betreffende Subjekt S einen Zweifel über den womöglich wahrgenommenen Gegenstand zum Ausdruck bringt; Swinburne vermittelt also den Eindruck, dass S, das seine Erfahrung beschreibt, keine feste Überzeugung hat. Aber dieser Eindruck, so seine Verteidigung, täuscht und ist auch überhaupt nicht von Swinburne intendiert. In der Tat zeige ein Blick auf Chisholms Originaltext, 13 dass der epistemische Gebrauch von appear-Wörtern keineswegs feste Überzeugungen ausschließe. So schreibt Chisholm: If I say that the ship ›appears to be moving‹ […] then it may be inferred that I believe, or that I am inclined to believe, that the ship is moving. When appear words are used in this way, then such locutions as ›x appears to S to be so-and-so‹ and ›x appears so-and-so to S‹ may be taken to imply that the subject believes, or is inclined to believe, that x is so-and-so. (Chisholm, Perceiving, S. 43f., u.H.).

Man beachte, so fährt die Verteidigung Swinburnes fort, dass dort, wo Swinburne schreibt, dass Subjekt S habe eine Neigung zu einer bestimmten Überzeugung, Chisholm zweimal schreibt, S glaube oder sei geneigt zu einer solchen Überzeugung. Vor diesem Hintergrund der Chisholmschen Überlegung seien auch die Ausführungen Swinburnes zu verstehen. Wenn S einen epistemischen Gebrauch eines appear-Wortes macht, etwa so: (5) Gott scheint zu mir zu sprechen. dann folgt aus dieser Formulierung keineswegs, dass S einen Zweifel darüber zum Ausdruck bringt, dass Gott zu ihm spricht; S kann sehr wohl fest davon überzeugt sein, dass es sich so verhält. Chisholm zufolge hätte S genauso gut sagen können: (5*) Offenkundig spricht Gott zu mir. Daher, so die Verteidigung, ist Swinburne in seiner Darstellung vielleicht etwas irreführend; aber gerade weil er sich auf Chisholms Theorie stützt, sollte man nicht annehmen, intern beschriebene Erfahrungen (und damit auch intern beschriebene religiöse Erfahrungen) wären stets mit einem Zweifel verbunden. –

13

Vgl. Chisholm, Perceiving, S. 43–53.

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Leider hilft diese Verteidigung nicht wirklich weiter. Es stimmt, für Chisholm ist der epistemische Gebrauch eines appear-Worts keineswegs ein Indikator dafür, dass das betreffende Subjekt irgendwelche Zweifel hegt; in der Tat ist der epistemische Gebrauch von ›mir scheint‹ nach Chisholm eine von mehreren Möglichkeiten, eine Wahrnehmungsüberzeugung auszudrücken. Wenn S behauptet, dass es ihr scheine, das Schiff bewege sich (um Chisholms Beispiel aufzugreifen), so könnte sie ebenso gut behaupten, dass sie sehe, das Schiff bewege sich (und sie es also glaubt). Chisholm beginnt das Kapitel über den Gebrauch von ›appearwords‹ mit einer Definition der propositionalen Bedeutung von ›wahrnehmen‹, und er schließt es, indem er darauf hinweist, dass ein Subjekt, das einen epistemischen Gebrauch eines appear-Wortes macht, ohne weiteres die Bedingungen erfüllen kann, um das Objekt wahrzunehmen, auf das es unter Verwendung des appear-Wortes beschreibend Bezug nimmt. Nehmen wir also an, Swinburnes Verständnis von internen Beschreibungen entspreche dem von Chisholm. Doch dann sieht sich Swinburne mit einer anderen Schwierigkeit konfrontiert. Der Grund, warum Swinburne überhaupt die Unterscheidung zwischen internen und externen Beschreibungen einführt, besteht darin, dass er eine eklatante petitio principii im Argument von der religiösen Erfahrung vermeiden möchte. Solch ein Argument könnte etwa so aussehen: 1. Joe sieht Poseidon am Fenster stehen. 2. Immer, wenn eine Person x sieht, existiert x wirklich. 3. Also existiert Poseidon wirklich (und steht am Fenster). Das Problem mit Argumenten dieser Art besteht, so Swinburne, darin, »that there is going to be considerable doubt about the truth of the [first] premises« (294). Die erste Prämisse kann nur wahr sein, wenn es Poseidon (das Beispiel stammt von Swinburne) tatsächlich gibt, denn nur dann kann Joe Poseidon am Fenster gesehen haben. Was bewiesen werden soll (die Existenz Poseidons), wird in der ersten Prämisse bereits vorausgesetzt (dagegen hängt die Wahrheit der zweiten Prämisse nicht vom Erfolgsverbcharakter von »Sehen« ab, sondern vom sogenannten »principle of credulity«). Um dieses Problem zu vermeiden, schlägt Swinburne, wie schon bemerkt, vor, in einem Argument von der religiösen Erfahrung nur interne Beschreibungen zu gebrauchen, weil diese »not entail the existence of anything external« (294, u. H.); solche Beschreibungen berichten nur von einer Erfahrung, und sie berichten davon epistemisch. Legt man Swinburnes eigenes Verständnis zugrunde, so muss man von Joe sagen, dass er selbst gar nicht überzeugt ist, dass Poseidon am Fenster steht (und also auch existiert); er hat nur eine Neigung, dies zu glauben. Nimmt man aber (sehr wohlwollend und gegen den Swinburnschen Text) an, Swinburnes Verständnis interner und externer Beschreibungen weiche nicht von Chisholms Originalmodell ab, dann ist Swinburne nicht in der Lage, jenen Zirkel zu vermeiden, auf den er doch selbst hingewiesen hat und der für ihn überhaupt der Grund war, für ein Argument von der religiösen Erfahrung nicht

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extern beschriebene Wahrnehmungsüberzeugungen vorauszusetzen. Swinburne steht also, kurz zusammengefasst, vor folgendem Dilemma: Entweder Wahrnehmungsverben zur Beschreibung religiöser Erfahrungen werden im Sinne externer Beschreibungen, also als Erfolgsverben gebraucht – dann liegt beim Aufbau eines Arguments von der religiösen Erfahrung ein Zirkel vor. Oder Wahrnehmungsverben zur Beschreibung religiöser Erfahrungen werden, wie Swinburne es verlangt, im Sinne interner Beschreibungen epistemisch gebraucht – dann aber kann derjenige, der sie gebraucht, per definitionem nicht jene Glaubensstärke haben, die man üblicherweise Menschen zuspricht, die religiöse Erfahrungen machen. Dieses Dilemma wird, so meinen wir, nicht zuletzt dadurch hervorgerufen, dass Swinburne nicht explizit zwischen der Perspektive der ersten und dritten Person unterscheidet. Swinburne betont deutlich, dass es in einem Argument von der religiösen Erfahrung um (interne) Beschreibungen solcher Erfahrungen gehen muss. Aber um wessen Beschreibungen handelt es sich? So wie Swinburne den Begriff interner und externer Beschreibungen einführt, muss man davon ausgehen, dass dasjenige Subjekt, das die Erfahrung macht, sie auch selbst beschreibt. Jedenfalls ist es in den Beispielen, die Swinburne gibt, immer das Subjekt selbst, das spricht: »If I really do hear the coach outside the window«; or: »Yet, if I describe my experience as …«, or: »I talked to God last night«; or: »I saw Poseidon standing by the window« (294; es gibt noch mehr Beispiele). Wenn nun Religionsphilosophen eine solche Erste-Person-Beschreibung als Prämisse in einem Argument von der religiösen Erfahrung voraussetzen, dann stehen sie entweder vor dem Problem, dass sie in einer externen Beschreibung das zugrundeliegende Wahrnehmungswort als Erfolgsverb verstehen und damit die besagte petitio begehen; oder sie stehen vor dem anderen Problem, als religiöse Erfahrungen nur diejenigen anzuerkennen, die nicht mit festen Überzeugungen einhergehen. Aber warum sollten wir die Dinge so unnötig kompliziert machen wie Swinburne (und gleichzeitig in Bezug auf eine transzendentale Rückfrage so naiv)? Gewiß, wenn wir nicht eigene religiöse Erfahrungen machen, dann müssen wir mit denjenigen arbeiten, über die andere uns berichten. Joe berichtet (beschreibt) seine Erfahrung, Poseidon am Fenster gesehen zu haben. Alles, was wir tun müssen, um diese Beschreibung für ein Argument von der religiösen Erfahrung verwenden zu können, ist doch einfach, zur Dritte-Person-Beschreibung zu wechseln. Auf diese Weise könnte man das obige Argument über Joe und Poseidon mit Blick auf das von Swinburne angestrebte Ziel einer prima-facie-Rechtfertigung 14 so wiedergeben: 14

Dass mit einer solchen prima facie Rechtfertigung für die apologetische Debatte noch nicht viel gewonnen sein dürfte, steht auf einem anderen Blatt. Eine klarere Formulierung des Argumentes zeigt immerhin genauer, wo die argumentativen Schwierigkeiten tatsächlich liegen, u.a. nämlich in der fraglichen Überzeugungskraft von Erfahrungen weniger Subjekte für andere, die diese Erfahrungen nicht machen.

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1. Joe hat eine Erfahrung, die er extern so beschreibt, dass er Poseidon am Fenster stehen sieht. 2. Immer wenn ein Subjekt eine Erfahrung hat, die es extern so beschreibt, dass es ein x sieht, dann ist dieses Subjekt prima facie gerechtfertigt in ihrer Überzeugung, dass dieses x tatsächlich existiert. 3. Also ist Joe prima facie gerechtfertigt in seiner Überzeugung, dass Poseidon tatsächlich existiert. So viel also zum ersten Problem. 15 Wir wenden uns nun dem ernsthafteren zweiten Problem zu, der Frage nämlich, was genau bei Swinburne eine Erfahrung zu einer Erfahrung macht. 15

Die einfachste Lösung der von Swinburne aufgeworfenen Probleme besteht vermutlich darin, die Erfolgsverb-These aufzugeben; aber diesen Weg wollen wir hier nicht ausführlicher verfolgen. Nur soviel: Wir meinen, dass es Fälle gibt, in denen wir tatsächlich und mit gutem Grund so reden, dass wir etwas hören, das nicht existiert; und wenn es solche Fälle gibt, dann beweisen sie auch, dass »hören« keine Erfolgsverb ist und, a fortiori, dass »wahrnehmen« kein Erfolgsverb ist. Dabei muss man sich zunächst klarmachen, was damit gesagt wird, dass »hören« (um darauf direkt Bezug zu nehmen) ein Erfolgsverb ist. Es bedeutet: In der (deutschen) Sprachgemeinschaft, in der das Wort »hören« Verwendung findet, wird es de facto als Erfolgsverb verwendet. In anderen Fällen sollte es nicht verwendet werden; dies wird so von der Sprachgemeinschaft auch als Regel verstanden oder würde nach entsprechender Aufklärung als solche verstanden. Die These, dass »hören« ein Erfolgsverb ist, wird also (faktisch) nicht als (Teil eines) Definitionsversuch(es) verstanden, der sich nicht am Sprachgebrauch orientieren müsste. Nun kann man aber zeigen, dass sogar Philosophen, die Wahrnehmungsverben für Erfolgsverben halten, sie selbst nicht (immer) so gebrauchen. So schreibt z.B. Richard Schantz in einem Aufsatz zur Plastizität der Wahrnehmung (Schantz, Sinnliche Wahrnehmung, S. 66), in dem er u.a. auf das Phänomen der Phonemrestauration eingeht: »In diesen Fällen hört eine Person eine Aufzeichnung eines Wortes, aus dem ein Phonem herausgeschnitten ist und durch ein Klicken ersetzt wurde. Obwohl sie über die Veränderung in Kenntnis gesetzt wird, hört die Person dennoch das ganze Wort«. Es ist bemerkenswert, dass Schantz schreibt, dass die Versuchsperson eine Aufzeichnung eines Wortes ›hört‹, das eine Phonemlücke hat und dass diese Versuchsperson auch dann, wenn sie über die Phonemlücke aufgeklärt ist, dennoch das ganze Wort ›hört‹. Wie sollte dies möglich sein, wenn »hören« ein Erfolgsverb ist? Wäre »hören« ein Erfolgsverb, so könnte man nur hören, was tatsächlich als akustisches Signal vorliegt. Angenommen, es wird »EiseKLICKbahn« geäußert. Die Versuchsperson könnte dann nicht »Eisenbahn« hören, weil das Wort »Eisenbahn« gar nicht geäußert wurde und man nicht hören könnte, was nicht geäußert wird. Da wir (und mit uns Schantz) dennoch faktisch, und ohne dass wir dies aufgeben wollten oder sollten, davon sprechen, dass die Versuchsperson »Eisenbahn« hört, kann »hören« de facto kein Erfolgsverb sein. – Im Gespräch hat Schantz dagegen folgenden Erwiderung vorgetragen: Wenn jemand auf einen Tisch blickt, dessen Oberfläche durch ein Tischtuch größtenteils bedeckt ist, sprechen wir dennoch davon, dass diese Person den (quasi ganzen) Tisch sieht, obwohl sie ihn nicht ganz sieht. Analog dürfen wir bei dem Fallbeispiel davon reden, dass die Person das (quasi ganze) Wort hört, obwohl sie es nur teilweise hört. – Doch diese Analogie hinkt, weil im Tischbeispiel der Tisch (ganz) da ist und nur in der Wahrnehmung nicht vollständig wahrgenommen wird, während die akkustische Abfolge für das Wort »Eisenbahn« eben nicht da ist; es ist also nicht so, dass das Wort ganz da wäre, aber nur teilweise (weil verdeckt durch ein KLICK) gehört wurde. Es ist nicht da (wird nicht gesprochen, existiert nicht) und könnte infolgedessen auch nicht gehört werden, wenn »Hören«

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2. Die zweite Schwierigkeit: Was ist überhaupt eine Erfahrung? Wie schon bemerkt, beginnt Swinburne mit einer sehr weiten Definition von »Erfahrung«: »An experience is a conscious mental event« (293). Wenn Swinburne später zum Begriff der religiösen Erfahrung übergeht, scheint er den Akt, Gott zu erfahren, einfach damit zu identifizieren, dass man sich Gottes bewusst ist: »What is it for the subject to be right, in fact to experience God, that is, to be aware of God, and in a very general sense to perceive God …« (296, u. H.); und mit diesem Sich-bewußt-Sein (awareness) identifiziert Swinburne dann auch, jedenfalls sehr allgemein gesprochen, die Wahrnehmung: » ›Perceive‹ is the general verb for awareness of something apart from oneself« (296). Um mit einem kleinen Kritikpunkt zu beginnen: Während die Definition von »Erfahrung« zu weit ist, ist diese Definition von »Wahrnehmung« sicherlich zu eng. Dass Erfahrung die Erfahrung »of some particular external thing apart from the subject« (292, u. H.) ist, und dass, dem entsprechend, »wahrnehmen« das ›general verb for awareness of something apart from oneself ‹ ist, kann so nicht stimmen. Denn natürlich gibt es auch so etwas wie innere Wahrnehmung, also die Wahrnehmung von etwas, das nicht ›apart from the subject‹ ist, wie etwa bei der Wahrnehmung eines Schmerzes. Natürlich weiß Swinburne dies auch, so dass man sich fragt, warum er den Wahrnehmungsbegriff so eng definiert. Die Antwort auf diese Frage kann wohl nur darin bestehen, dass es bei der religiösen Erfahrung, oder eben: bei der religiösen Wahrnehmung, wenn sie echt ist, um die Wahrnehmung nicht irgendwelcher, womöglich innerer Objekte oder Zustände gehen soll, sondern (letztlich) um die Wahrnehmung Gottes. 16 Dennoch wäre es sinnvoll gewesen, zwischen einer äußeren und einer inneren Wahrnehmung zunächst zu unterscheiden, schon deshalb, weil dies erlaubt hätte, deutlich herauszuarbeiten, wodurch eine Wahrnehmung, sei sie nun eine äußere oder eine innere, überhaupt zu einer Wahrnehmung wird.

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ein Erfolgsverb wäre. Aber wir sprechen so, dass die Versuchsperson es hört. Folglich ist es kein Erfolgsverb. Woran liegt es dann, dass Schantz davon spricht, dass die Versuchsperson das ganze Wort ›hört‹, obwohl das Wort gar nicht geäußert wird? Und woran liegt es, dass wir so sprechen, und uns unsere Sprechweise auch nicht nehmen lassen wollen? Es liegt daran, dass das Wort »hören« zumindest in dieser Situation auf das subjektiv erfahrene Gegebensein bezogen ist, das als solches unverändert bleibt, ob nun das, was das Gegebensein verursacht, existiert oder nicht. – Aber müsste man dann nicht davon sprechen, dass auch Halluzinierende etwas hören, was gar nicht da ist? Der Grund, weshalb wir in diesem Falle viel weniger gewillt sind, von ›hören‹ zu sprechen, liegt u.E. darin, dass wir bei Halluzinierenden davon ausgehen, dass ihr Erkenntnisapparat defekt ist, bei der von Schantz erwähnten Versuchsperson aber nicht. Vgl. die Fußnote 2 auf S. 295f., wo Swinburne ausdrücklich von religiösen oder eben, seiner Definition zufolge, quasi-religiösen Erfahrungen spricht (etwa in der Buddhistischen Tradition), die keine Erfahrungen »of anything external« seien und die er ausschließen wolle.

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Nun ist es gewiss richtig, eine Erfahrung als ein bewusstes mentales Ereignis (›conscious mental event‹) aufzufassen. Für eine Definition ist dies aber viel zu weit gefasst, weil genau die gleiche Eigenschaft – to be a conscious mental event – auch auf andere, aber durchaus verschiedene Dinge zutrifft wie etwa Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Erinnern, die eben auch mentale Ereignisse sind, ohne damit Erfahrungen zu sein. Unsere Kritik ist also einfach, aber gleichwohl massiv: Swinburne sagt überhaupt nichts dazu, wodurch ein bewusstes mentales Ereignis zu einer Erfahrung wird; zwar nennt er eine notwendige Bedingung für etwas, das eine Erfahrung ist (ein bewusstes mentales Ereignis), aber diese Bedingung ist offenkundig nicht hinreichend. Gedanken über Gott zu haben ist ebenfalls ein bewusstes mentales Ereignis; aber wenn wir Gedanken über Gott von Erfahrungen von Gott unterscheiden wollen, müssen wir eben mehr wissen als dass eine Erfahrung Gottes ein bewusstes mentales Ereignis ist. Gott zu erfahren (oder eben auch wahrzunehmen) muss als eine andere Quelle des Wissens über Gott verstanden werden als andere gedankliche, nicht erfahrungsmäßige Quellen wie apriorisches Wissen, logische Argumente, oder Denken ganz allgemein gesprochen. Das ist nicht nur ein kleinkarierter Punkt über einen leicht zu behebenden Definitionsmangel. Denn die Wichtigkeit des Arguments von der religiösen Erfahrung ergibt sich ja gerade daraus, dass die Grundlage dieses Argumentes (eben religiöse Erfahrungen) wesentlich unterschieden ist von der Grundlage der anderen Argumente im vorangehenden Teil von Swinburnes Buch. Es ist zunächst naheliegend, dass Swinburne mit einer religiösen Erfahrung, also einer Erfahrung von Gott, so etwas wie eine religiöse Wahrnehmung meint, also eine Wahrnehmung, die Empfindungen oder sensorische Elemente enthält wie andere, normale Wahrnehmungen auch. So ist sein erstes Beispiel für das, was eine Erfahrung überhaupt ist, eindeutig ein Beispiel aus dem Bereich der Wahrnehmungen, nämlich »hearing the coach outside the window« (294, u. H.). Andererseits ist ein frühes Beispiel für eine religiöse Erfahrung – »I became conscious of a timeless reality beyond myself« (294) – eine Erfahrung, die keineswegs, oder jedenfalls nicht ohne weitere Erläuterung, nach dem Vorbild alltäglicher, sinnlicher Wahrnehmungen zu verstehen ist. Später sieht man dann, dass dieses Beispiel wohl zum fünften Typ religiöser Erfahrungen gehört (wir kommen auf Swinburnes Klassifizierung gleich zurück), und diese Art der religiösen Erfahrung ist laut Swinburne eine solche, die das »subject does not have by having sensations« (300, u. H.), also ohne dass irgendwelche Sinneseindrücke vorhanden sind. 17 Mit diesem fünften Typ religiöser Erfahrung schließt Swinburne aus, dass religiöse Erfahrungen als bewusste mentale Ereignisse immer mit Sinneseindrücken ver17

In diesem Kontext (298ff.) spricht Swinburne auch von »visual sensations« (299) und »auditory sensation« (299), so dass er offenkundig diejenigen Eindrücke meint, die durch unsere Sinne vermittelt werden, also eben (besonders prominent) Eindrücke über die Augen und Ohren, oder kurz: Sinneseindrücke.

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bunden sind; denn solche religiösen Erfahrungen des fünften Typs (Swinburne verweist vor allem auf »mystische« Erfahrungen, 300) entstehen und bestehen ja ohne Sinneseindrücke. Swinburne behauptet zwar, dass eine solches bewusstes mentales Ereignis ohne Sinneseindrücke eine Erfahrung sei, aber wir erhalten keine Informationen darüber, wodurch ein solches Ereignis zur Erfahrung wird; an übliche Erfahrungen oder übliche Wahrnehmungen dürfen wir jedenfalls nicht denken – aber woran dann? Wodurch unterscheidet sich eine religiöse Erfahrung des fünften Typs etwa vom Denken Anselms, wenn er den ontologischen Gottesbeweis denkt und niederschreibt oder vom Erlebnis desjenigen, der dieses Argument nachlesend bedenkt? Diese von Swinburne eingeräumte Möglichkeit einer Erfahrung ohne Sinneseindrücke führt zu einem weiteren Problem bezüglich des Begriffs der internen Beschreibung. Swinburne definiert den Begriff der religiösen Erfahrung (das hatten wir in Kurzform schon zitiert) als »an experience that seems (epistemically) to the subject to be an experience of God (either of him just being there, or of his saying or bringing about something) or of some other supernatural thing« (295). Nun wird aber, wir erinnern uns, der epistemische Gebrauch von appear-words von Swinburne folgendermaßen definiert: »To use such words in their epistemic use is to describe what the subject is inclined to believe on the basis of his present sensory experience« (295, o.e.). Daraus folgt, dass jede religiöse Erfahrung, da sie dem Subjekt ja immer nur eine Erfahrung von Gott epistemisch zu sein scheint (›seems epistemically‹) – in der Beschreibung taucht also ein appear-Wort auf – eine Erfahrung ist, die eine Überzeugung (oder die Neigung zu ihr) hervorbringt ›on the basis of present sensory experience‹, also auf der Grundlage von Sinneseindrücken. Gleichzeitig identifiziert Swinburne die Erfahrung von Gott mit einer Wahrnehmung Gottes, wobei aber der Akt der Wahrnehmung so definiert ist, dass derjenige, der etwas wahrnimmt, dies nicht ›on the basis of present sensory experience‹ tun muss, also nicht vermittelst von Sinneseindrücken; denn »Wahrnehmen«, so Swinburne, ist hier im weiten Sinne definiert als das ›general verb for awareness of something apart from oneself‹, ein Sich-bewußt-Sein (awareness) allerdings »which may be mediated by any of the ordinary senses […] or by none of these« (296, u. H.). Wenn es aber nun religiöse Erfahrung, verstanden in diesem Sinne als religiöse Wahrnehmung, ohne die Vermittlung durch Sinneseindrücke geben kann, dann können solche Erfahrungen nicht in einer intern-epistemischen Sprache beschrieben werden, weil die aus solchen Erfahrungen stammenden Überzeugungen ›on the basis of his present sensory experience‹ gewonnen werden – was offenkundig nicht geht, wenn keine Sinneseindrücke vorliegen. Swinburne muß also entweder seinen weiten Begriff von Wahrnehmung aufgeben; oder er muss sein für ihn so zentrales Verständnis vom epistemischen Gebrauch der appear-Wörter aufgeben, so dass ein solcher Gebrauch eben auch ohne die ›basis‹ der Sinneseindrücke möglich ist. Wie ausgeführt sind religiöse Erfahrungen des fünften Typs solche »that the subject does not have by having

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sensations« (300). Das ist kompatibel mit dem weiten Begriff der Swinburnschen Erfahrung; aber es konfligiert mit Swinburnes Begriff intern-epistemischer Beschreibungen. Fassen wir auch hier wieder kurz zusammen: Swinburne hat u. E. eine zu weite Definition von Erfahrung, die es ihm nicht erlaubt, religiöse Erfahrungen als Erfahrungen zu beschreiben und von anderen mentalen Ereignissen, die ebenfalls einen religiösen Gegenstand haben, zu unterscheiden. Wer von Wahrnehmung oder Erfahrung spricht, sollte, um sich nicht völlig von der Normalsprache (und übrigens auch von der philosophischen Tradition) zu entfernen, den Aspekt des Gegebenseins begrifflich einholen. Gerade wenn dieses Gegebensein nicht auf der Grundlage der Sinnlichkeit (von fünf oder auch mehr Sinnen) zu verstehen ist, liegt es nahe, religiöse Erfahrung im Sinne einer Theorie religiöser Gefühle zu verstehen. Es ist daher bemerkenswert, dass Swinburne überhaupt nichts zu Gefühlen sagt, selbst da nicht, wo er eine Art religiöser Erfahrung beschreibt, die das ›subject does not have by having sensations‹. Wenn wir jetzt zur dritten Schwierigkeit übergehen, wird dieses Grundproblem – Swinburne kann nicht erklären, was überhaupt eine Erfahrung ist – noch weiter verschärft. Swinburne kann nämlich auch nicht erklären, was eine religiöse Erfahrung ist.

3. Die dritte Schwierigkeit: Was ist überhaupt eine religiöse Erfahrung? Per Definition, so haben wir gesehen, ist eine religiöse Erfahrung ›an experience that seems (epistemically) to the subject to be an experience of God or of some other supernatural being‹. Aber was genau macht eine Erfahrung zu einer Erfahrung von Gott? Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf Swinburnes Klassifizierung religiöser Erfahrungen; auch darüber ließe sich mehr (kritisches) sagen, aber wir wollen hier darauf nicht weiter eingehen. Es gibt, so schreibt Swinburne (298– 303), fünf Typen oder Arten religiöser Erfahrung; zwei davon sind öffentlich, drei sind privater Natur. In der ersten Art religiöser Erfahrung werden gewöhnliche (»ordinary«, 299) öffentliche (d. h. allen prinzipiell zugängliche) Objekte wie etwa ein Sternenhimmel als übernatürliche Objekte wahrgenommen. 18 Zur zweiten Kategorie gehört die Wahrnehmung ungewöhnlicher (»unusual« 299) öffentlicher Objekte – etwa zu einem Zeitpunkt nach der Kreuzigung ein Mensch, der aussieht und spricht wie Jesus (im komparativen Sinne) –, die als religiöse Objekte wahrgenommen werden (also etwa als Jesus). Von großer Wichtigkeit ist dabei Swinburnes Bemerkung, dass ungläubige (nichtreligiöse Menschen) die gleichen 18

»Thus someone may look at the night sky, and suddenly ›see it as‹ God’s handiwork« (299).

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Sinneseindrücke haben – sonst wäre es ja keine öffentliche Erfahrung – und dennoch keine religiöse Erfahrung machen: »A sceptic might have had the same visual sensations (described comparatively) and yet not had the religious experience« (299). Die dritte Art religiöser Erfahrung (die zugleich die erste Art privater religiöser Erfahrung ist), basiert auf gewöhnlichen, oder jedenfalls in gewöhnlicher Terminologie beschreibbaren Sinneseindrücken (man hört oder sieht Gott); dagegen ist die vierte Art religiöser Erfahrung eine solche, die zwar mit Sinneseindrücken einhergeht, die aber nicht mit einem »normal vocabulary« (300) beschreibbar sind; die fünfte hatten wir schon kennengelernt. Nachdem Swinburne diese fünf verschiedenen Arten religiöser Erfahrung eingeführt hat, formuliert er selbst (in fingierter Ansprache an ein Subjekt, das eine religiöse Erfahrung macht) die folgende Frage: »What was it about your experience that made it seem to you that you were having an experience of God?« (301). Die Frage zielt deutlich auf den Gegenstand der Erfahrung (»What was it about your experience that made it seem to you that you were having an experience of God?«) und nicht auf die Weise des Gottesbezugs (die Frage ist also nicht: »What was it about your experience that made it seem to you that you were having an experience of God?«). So oder so, es ist nicht klar und nicht einmal im Ansatz diskutiert, was eine Erfahrung zu einer Erfahrung von Gott macht, und der Grund dafür, so meinen wir, ist dieser: Swinburne gibt, wie er selbst schreibt, mit Bezug auf die ersten vier Arten religiöser Erfahrung eine »partial answer« (301). Sie besteht darin, dass das Subjekt, das die religiöse Erfahrung macht, »such-and-such auditory or visual or other describable sensations« (ebd.) hat. Diese Antwort ist nur eine partielle, weil »the mere fact that one was having such-and-such sensations does not make the experience seem to be of God; someone else could have those sensations without thereby having a religious experience« (ebd., u. H.). Wo ein religiöser Mensch also zum Beispiel den nächtlichen Sternenhimmel als ›God’s handiwork‹ sieht, erblickt ein nichtreligiöser Mensch einfach nur einen Sternenhimmel; wo Gläubige in der Kathedrale von Neapel die Verflüssigung des Blutes des Heiligen Januarius sehen, sehen Ungläubige einfach nur eine Flüssigkeit. Wenn aber nun Sinneseindrücke dieser Art, obwohl Teil einer religiösen Erfahrung, nicht dasjenige sind, was die Erfahrung zu einer religiösen Erfahrung macht, was dann? Indem Swinburne seine Antwort eine partielle Antwort nennt, legt er doch offenkundig nahe, dass Sinneseindrücke mit Bezug auf die ersten vier Arten religiöser Erfahrung zwar notwendig sind, aber zugleich nicht hinreichend – wodurch also wird die Erfahrung eine religiöse? Da Swinburne sich über den anderen Teil, der die partielle Antwort ergänzen müsste, in Schweigen hüllt, bleibt es schlechterdings unklar, was denn nun die religiöse Erfahrung zu einer religiösen Erfahrung macht (wenn man denn wüsste, wodurch es eine Erfahrung ist). Es ist naheliegend zu argumentieren, dass dasjenige, was die Erfahrung zu einer Erfahrung von Gott macht, darin liegt, dass das erfahrende Subjekt sich Gottes Existenz oder Gegenwart bewusst ist; wie gesagt, an einer

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Stelle identifiziert Swinburne diese beiden Dinge (»What is it for the subject to be right, in fact to experience God, that is, to be aware of God, and in a very general sense to perceive God …« 296, u. H.). Sich Gottes bewusst zu sein (›to be aware of God‹) reicht aber als Unterscheidungsmerkmal nicht aus. Denn auch derjenige, der über Gott nachdenkt, ist sich Gottes (Existenz) bewusst. Repliziert man darauf, dass man sich in der religiösen Erfahrung der Existenz Gottes auf eine andere, irgendwie sinnlich geprägte oder der Wahrnehmung analoge Weise bewusst ist als im Denken (›… and in a very general sense to perceive God …‹), so muss man feststellen, dass ein solcher sinnlicher Gehalt im engeren Sinne (also bezüglich der Sinneseindrücke) zwar vorliegen kann (Typen religiöser Erfahrung 1–4), aber eben als solcher nicht schon religiös ist, weil die nichtreligiösen Subjekte diese Sinneseindrücke ja auch haben könnten (›might have had the same visual sensations‹); sind aber die Sinneseindrücke nicht dasjenige, was die religiöse Erfahrung zu einer Erfahrung, und zwar einer religiösen, macht, dann ist völlig unklar, was sie dazu macht. Eine emotionale Komponente – man denke nur an Schleiermachers berühmtes ›Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit‹ oder an die Rolle des Gefühls oder der Gestimmheitheit bei Otto 19 – spielt bei Swinburne jedenfalls keine Rolle. Betrachten wir dazu ein Beispiel. Wenn es möglich ist, dass ein Skeptiker ebenso wie Jesu Jünger »had the same visual sensations (described comparatively)« (299) bezüglich des auferstandenen Jesus, dann kann das, was die Erfahrung der Jünger zu einer religiösen macht, nicht einfach in den Sinneseindrücken bestehen. Swinburne selbst spricht von der »religious experience of taking the man to be the risen Jesus« (299, o.e.); aber den Menschen, den die Jünger sehen, als so-und-so (in diesem Fall: als auferstandenen Jesus) zu deuten (wenn wir ›deuten‹ als Übersetzung von ›to take as‹ nehmen wollen), ist etwas ganz anderes als etwas als so-und-so zu erfahren oder wahrzunehmen. Etwas so-und-so zu deuten (to take), heißt, etwas als so-und-so zu interpretieren, und eine Interpretation der eigenen Erfahrung ist etwas ganz anderes als diese Erfahrung selbst. Bei der Verteidigung des principle of credulity diskutiert Swinburne Chisholms Vorschlag, die Anwendung dieses Prinzips auf die von Chisholm sogenannten ›sensible characteristics‹ und ›relations‹ zu beschränken, womit Chisholm die ›proper objects of sense‹ meint (Qualitäten wie blau, weich, kalt usw.) und die ›common sensibiles‹ (wie das gleiche zu sein, rechts, links usw.). 20 Nur die Erfahrung einer ›sensible characteristic‹ wäre also eine genuine Erfahrung. Alles andere ist die Interpretation solcher genuinen Erfahrungen, in denen man schließt, dass etwas so-und-so ist: Man erfährt etwas als blau; man schließt (interpretiert), so Chisholm, dass es sich um einen blauen Zwergstern handelt. Angewendet auf eines von Swinburnes eigenen Beispielen: Babylonische Astronomen interpretieren ihre Erfahrung der 19 20

Vgl. auch den Beitrag von Alexandra Grund in diesem Band. Vgl. Swinburne, Existence, S. 307f.

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Himmelsbewegungen als Löcher im Firmament; griechische Astronomen dagegen interpretieren sie als Bewegungen physischer Körper. – Swinburnes Replik besteht darin, dass man komplexe Gegenstände (die eigene Frau, einen Viktorianischen Tisch, einen blauen Zwergstern) als solche wahrnehmen kann, ohne die darauf gegründeten Wahrnehmungsüberzeugungen (etwa: da geht ja meine Frau!) auf Überzeugungen über Chisholmsche ›sensible characteristics‹ zurückführen zu können. 21 Überträgt man diese altbekannte Problematik – gibt es einen interpretationsfreien, sinnlichen Gehalt der Wahrnehmung? – auf die Wahrnehmung Gottes, so erhellt sofort, welche Schwierigkeiten daraus für den Begriff einer solchen Wahrnehmung erwachsen. So definiert Swinburne ganz zu Anfang seines Buches »Gott« als »a person without a body (i.e. a spirit) who necessarily is eternal, perfectly free, omnipotent, omniscient, perfectly good, and the creator of all things« (7). Später behauptet er dann, dass Gott »[is] defined in terms of properties of which most of us have had experience. He is defined as a ›person‹ without a ›body‹ who is unlimited in his ›power‹, ›knowledge‹, and ›freedom‹« (306 f.). Aber diese Eigenschaften – Personalität, Allmacht, Wissen, und so weiter – sind ganz offenkundig nicht vermittelst unserer Sinne wahrnehmbar. Vielmehr interpretieren wir bestimmte Sinneseindrücke so, dass wir sie als verursacht durch eine körperlose, freie, allwissende usw. Person beschreiben. So oder so, Swinburne scheint entweder behaupten zu müssen, dass Gott wahrnehmbar ist wie andere sensible characteristics auch – also wie blau oder weich –; oder er muss behaupten, dass Gott ein komplexer Gegenstand ist wie ein blauer Zwergstern. Keine der Alternativen scheint sonderlich attraktiv.

4. Zusammenfassung und Ausblick Insgesamt – so meinen wir – wurde deutlich, dass Swinburnes Versuch eines »Arguments aus der religiösen Erfahrung« bereits an einer überzeugenden Bestimmung des Begriffs der religiösen Erfahrung selbst scheitert. Dabei ist die erste beschriebene Schwierigkeit – Erlebnisse, die mit einer festen Überzeugung einhergehen und extern beschrieben werden, sind bei Swinburne per definitionem keine religiösen Erfahrungen – vermutlich im wesentlichen terminologischer Natur; sie ließe sich entweder durch explizites Einbeziehen der Perspektive des Zeugen, oder aber durch Abgehen von der Theorie der Erfolgsverben beheben. Immerhin sind die von uns beobachteten Schwierigkeiten insofern vielsagend, als an ihnen deutlich wird, dass die Erkenntnisbedingungen auch bei scheinbar basalen Erfahrungen nicht ungestraft übersehen werden dürfen. Die anderen Schwierigkeiten sind brisanter. Denn sie zeigen, dass Swinburne weder ein klares und dem 21

Vgl. zu dieser Thematik den Beitrag von Richard Schantz in diesem Band.

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Phänomen adäquates Konzept von Erfahrung noch das Spezifikum des Religiösen an einer Erfahrung überzeugend darlegt. Es erstaunt hierbei, dass sich ausgerechnet ein Vertreter der analytischen Religionsphilosophie, die doch auf begriffliche Präzision so großen Wert legt (und Swinburne mit ihr), eine solche Ungenauigkeit 22 erlaubt, mehr noch: dass eine lange und intensive Debatte um das Argument geführt wird, ohne dass je die genannten Schwierigkeiten diskutiert wurden. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass Swinburne (vielleicht im Unterschied zu Alston) an einer genauen Phänomenologie religiöser Erlebnisse offenkundig nicht (sehr) interessiert ist. Insbesondere fehlt eine sorgsame Exegese (beispielsweise) biblischer Texte, die von ›Gotteserfahrungen‹ berichten. Betrachtet man etwa den Bericht vom brennenden Dornbusch, die Emmaus-Erzählung oder die Osterberichte, so werden hier außerordentlich prekäre Widerfahrnisse geschildert, die als ›Wahrnehmung eines Gegenstandes‹ – analog den Beispielen Swinburnes – höchst unterkomplex beschrieben sind. Ein weiterer Grund liegt wohl in einer Art Zielkonflikt: Auf der einen Seite soll die epistemische Überzeugungskraft der sinnlichen Wahrnehmung auf religiöse Erfahrungen übertragen werden; damit muss jedoch alles, was nach einer religiösen Interpretation gewöhnlicher oder ungewöhnlicher Erlebnisse oder nach einem solche Erlebnisse begleitenden religiösen Gefühl aussieht, von dem Konzept der »religiösen Erfahrung« ferngehalten werden. Auf der anderen Seite handelt es sich bei den angeführten (jedoch von Swinburne nie genau beschriebenen) Beispielen in der Regel um seltene, ungewöhnliche, sogar nicht-sensorische Erlebnisse, die gerade nicht analog zu einer Sinneswahrnehmung verlaufen. Zudem sollen sie die Beweislast für eine Behauptung tragen, die wesentliche Konsequenzen für denjenigen hat, der ihr zustimmt. Während Berichte von Sinneswahrnehmungen in der Regel auf ein prinzipiell mögliches »selber Nachsehen« – unter Umständen nach längerer Übung, wie etwa der Fall Galilei und die Praxis der Fernrohrbeobachtung zeigen – verweisen können, das schließlich überzeugt, ist dies bei religiösen Erfahrungen gerade nicht der Fall. Wie weit der Erfahrungsbegriff überdehnt werden kann, wird besonders deutlich, wenn sich Swinburne gegen Kritik verteidigt, die vorbringt, dass eine religiöse Erfahrung möglicherweise durch etwas anderes hervorgerufen sein könnte als durch den religiösen Gegenstand, den der Zeuge erfahren zu haben vorgibt. Diese gängige Kritik (bereits neutestamentlich, in ApG 2,13: »die Jünger sind voll des Weines« oder als Projektionsthese der klassischen Religionskritik) kontert Swinburne mit dem Hinweis, dass Gott ja ohnehin kausaler Urheber aller Dinge und Ereignisse sei, so dass jede Erfahrung und damit insbesondere jede religiöse Erfah-

22

Am Rande sei bemerkt, dass auch der exzessive Gebrauch der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie bei Swinburne mehr Exaktheit vortäuscht als sie zu demonstrieren; vgl. dazu auch den Beitrag von Gregor Nickel in diesem Band.

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Gregor Nickel/Dieter Schönecker

rung von Gott verursacht sei. 23 Wenn das stimmt, dann kann zwar in der Tat die Behauptung »ich habe ein Erlebnis, das von Gott verursacht zu sein scheint« überhaupt nicht falsch sein. Aber die Frage, ob es stimmt, soll ja u. a. im Rückgriff auf die religiöse Erfahrung überhaupt erst beantwortet werden, so dass sich ein solches Argument vorab gegen jede Kritik zu immunisieren scheint. Im Übrigen hat sich de facto kaum je ein Zweifelnder durch Berichte von religiösen Erfahrungen überzeugen lassen – hier wäre der Zwilling Thomas ein prominenter Schutzpatron. Umso weniger überzeugend dürfte dann ein Argument aus zweiter Hand sein, wie Swinburne es anbietet. Will man das reale Scheitern der Argumentation nicht dem Argument selbst anlasten, so müsste der Chor der Zweifler insgesamt als irrational oder als verblendet abqualifiziert werden. 24 Beide Alternativen scheinen weder besonders rational zu sein noch besonders christlich.

Literaturverzeichnis Alston, William P.: Perceiving God. The Epistemology of Religious Experience, Ithaca/London 1991. Chisholm, Roderick M.: Perceiving: A Philosophical Study, Cornell University Press 1957. Franks Davis, Caroline: The Evidential Force of Religious Experience, Oxford 1989. Hansberger, Andreas: Wird der Glaube durch Erfahrung gerechtfertigt? Zum erkenntnistheoretischen Status des Gehalts religiöser Erfahrung, Stuttgart 2009. Kwan, Kai-Man: »The argument from religious experience«. In: The Blackwell Companion to Natural Theology, hg. von William Lane Craig/James Porter Moreland. Chichester, West Sussex u.a. 2009, S. 498–552. Schantz, Richard: »Wie plastisch ist die sinnliche Wahrnehmung?«. In: Philosophia Naturalis, Band 37, 2000, S. 59–76. Swinburne, Richard: The Existence of God, Oxford 2 2004. Plantinga, Alvin: Warranted Christian Belief , New York/Oxford 2000.

23 24

Vgl. Swinburne, Existence, S. 320. Oder zumindest müsste man ihnen sündhaftes Denken und Wollen vorwerfen; grob vereinfacht, ist dies die Alternative, die Plantinga verfolgt.

Sebastian Maly

DIE VIELFALT DER RELIGIONEN ALS PROBLEM FÜR WILLIAM P. ALSTONS RELIGIÖSE EPISTEMOLOGIE

In seinem religionsphilosophischen Hauptwerk Perceiving God spricht William P. Alston davon, dass das Problem der religiösen Vielfalt (»religious diversity«) die größte Herausforderung für seine religiöse Epistemologie darstellt. Mit »religiöser Vielfalt« ist die Tatsache gemeint, dass es mehrere Religionen und mehrere mit ihnen verbundene religiöse Lebensformen gibt. Das mit der religiösen Vielfalt verbundene epistemologische Problem besteht darin, dass zu den Religionen bestimmte Überzeugungen gehören, die einander zum Teil widersprechen (z.B. personale Gottesvorstellungen in den monotheistischen Religionen gegenüber apersonalen Vorstellungen der höchsten Wirklichkeit im Buddhismus). Es scheint aber keinen objektiven Standpunkt zu geben, von dem aus man entscheiden könnte, welche der Religionen mit ihren jeweiligen Theologien in der Lage ist, die Wahrheit der jeweiligen Überzeugungen und damit die Falschheit der Überzeugungen anderer aufzuweisen. Eine Konsequenz dieser scheinbar nicht aufzuhebenden Inkompatibilität von Überzeugungen ist, dass der Wahrheitsanspruch aller religiösen Überzeugungen in Frage gestellt wird, wobei der Religionskritiker geneigt sein wird, das Ausmaß dieser Minderung so einzuschätzen, dass es als irrational erscheint, einer dieser Religionen angesichts des Problems der religiösen Vielfalt in ihren Lehren zu folgen. Der Beitrag führt zunächst in die grundlegenden Begriffe Alstons religiöser Epistemologie ein. Alston vertritt einen direkten Realismus hinsichtlich religiöser Erfahrung mittels eines Paritätsarguments, wonach religiöse Erfahrung, die Alston als eine Art mystischer Wahrnehmung Gottes auffasst, ähnlich wie sinnliche Wahrnehmung eine verlässliche Quelle von Überzeugungen über diese Wahrnehmungen ist. Anschließend untersucht der Beitrag, in welcher Hinsicht das Problem der religiösen Vielfalt eine Herausforderung für Alstons religiöse Epistemologie darstellt und ob es ihm gelingt, seine Position angesichts der Herausforderung zu behaupten. Alston sieht das Problem der religiösen Vielfalt als eine Herausforderung für seine These der Prima-facie-Rationalität von religiösen Überzeugungen an und verortet die Widersprüchlichkeit der Überzeugungen verschiedener religiöser Traditionen in den jeweiligen »basic belief systems« der Traditionen und nicht in den mystischen Wahrnehmungen selbst. Der Beitrag wird hingegen argumentieren, dass Alston nicht überzeugend aufweisen kann, dass die Inkompatibilitäten

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Sebastian Maly zwischen den verschiedenen religiösen Überzeugungen nicht bereits auf der Ebene der mystischen Wahrnehmung anzusetzen sind. Damit gerät Alstons direkter Realismus hinsichtlich mystischer Wahrnehmungen ins Zwielicht, was noch dadurch unterstützt wird, das Alston den direkten Realismus mit der These zu retten versucht, dass man ohne Widersprüche die höchste Wirklichkeit sowohl als personal als auch als nicht-personal wahrnehmen könnte. Weil Alston außerdem nicht auf Argumente der natürlichen Theologie zurückgreifen will, um die Wahrheit einer bestimmten religiösen Tradition aufzuzeigen, stellt das Problem der religiösen Vielfalt somit ein ernsthaftes Problem für seine religiöse Epistemologie und seinen direkten Realismus dar, das er in den diskutierten Veröffentlichungen nicht überzeugend aus der Welt geschafft hat.

In seinem religionsphilosophischen Hauptwerk Perceiving God spricht William P. Alston davon, dass das Problem der religiösen Vielfalt (»religious diversity«) die größte Herausforderung für seine religiöse Epistemologie darstelle. Der Darstellung und Diskussion von Alstons Position werde ich einige einführende Bemerkungen zum Problem der religiösen Vielfalt allgemein und zu den Grundzügen von Alstons religiöser Epistemologie voranstellen (1. Teil). Dann möchte ich in diesem Beitrag genauer untersuchen, in welcher Hinsicht dieses Problem eine Herausforderung für seine Position darstellt (2. Teil) und ob es ihm gelingt, seine Position angesichts der Herausforderung zu behaupten (3. Teil). 1 1.1 Das religionsphilosophische Problem der religiösen Vielfalt Mit »religiöser Vielfalt« ist zunächst die Tatsache gemeint, dass es mehrere Religionen und mehrere mit ihnen verbundene religiöse Lebensformen gibt. Meistens beschränkt man sich dabei auf die Vielfalt, die mit den großen Weltreligionen vorliegt (Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus, Taoismus). In der Religionsphilosophie kann diese Vielfalt in vielerlei Hinsicht zu einem philosophischen Problem werden. 2 An dieser Stelle soll es v.a. um das epistemologische Problem gehen, das mit der religiösen Vielfalt verbunden ist. Dieses Problem hat seinen Ursprung darin, dass zu den Religionen bestimmte Überzeugungen gehören wie z. B. über die Natur des jeweils verehrten höchsten Wesens, und dass diese Überzeugungen einander widersprechen. So gehen die monotheistischen Religionen von einem personalen Gott aus, während v.a. im Buddhismus die höchste Wirklichkeit als nicht-personal gedacht wird. Während die Christen an einen dreieinigen Gott glauben, behaupten Juden und Muslime einen nicht-differenzierten Monotheismus. Zu diesen Widersprüchen beim Vergleich einzelner Überzeugungen kommen entsprechende Theologien oder religiöse Lehren, wel1

2

Wer mit Alstons religiöser Epistemologie und dem Problem der religiösen Vielfalt in der Religionsphilosophie bereits vertraut ist, kann die Kapitel 1.1 und 1.2 überspringen. Vgl. dazu Quinn, Religious Diversity.

Die Vielfalt der Religionen

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che versuchen, auf verschiedene Weise (z. B. durch philosophische Argumente, durch den Verweis auf bestimmte geschichtliche Ereignisse oder Wunder, durch den Hinweis auf spirituelle und moralische Früchte einer bestimmten Lebensform etc.) die Wahrheit der jeweiligen Überzeugungen und Überlegenheit der jeweiligen Religion als Ganze aufzuweisen. Es scheint aber keinen objektiven Standpunkt zu geben, von dem aus man entscheiden könnte, welche der Religionen mit ihren jeweiligen Theologien in der Lage ist, die Wahrheit der jeweiligen Überzeugungen und damit die Falschheit der Überzeugungen anderer aufzuweisen. Deswegen scheint es so zu sein, dass sich die Religionen mit ihren Theologien gewissermaßen gegenseitig ›das Wasser abgraben‹. Wunder steht gegen Wunder, Aussage (»Jesus Christus ist der Erlöser der Menschheit. So steht es in der Bibel.«) gegen Aussage (»Muhammad ist das Siegel der Propheten. Nur der Quran ist das authentische Wort Allahs.«). David Hume hat dieses Problem der religiösen Vielfalt im Rahmen seiner Diskussion des Wunderglaubens folgendermaßen formuliert: Ich könnte als vierten Grund, der die Glaubwürdigkeit von widernatürlichen Geschehnissen verringert, hinzufügen, daß kein Zeugnis für irgend eines, selbst unter den nicht geradezu entlarvten, vorhanden ist, dem nicht eine Unzahl von Zeugen entgegentreten. So zerstört also nicht nur das Wunder die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses, sondern das Zeugnis sich selbst. Zum besseren Verständnis dieser Behauptung wollen wir in Betracht ziehen, daß in Sachen der Religion jede Verschiedenheit ein Widerstreit ist, daß unmöglich die Religionen des alten Rom, der Türkei, Siams und Chinas sämtlich auf einer irgendwie festen Grundlage ruhen können. Ein jedes Wunder demnach, das angeblich in einer derselben gewirkt worden wäre (und sie alle wimmeln von Wundern) bezweckt unmittelbar die Aufrichtung des besonderen Systems, dem es zugeschrieben wird; und so hat es, freilich mehr mittelbar, die gleiche Kraft zum Umsturz des anderen Systems. Mit der Zerstörung eines rivalisierenden Systems zerstört es gleichermaßen die Glaubwürdigkeit der Wunder, auf denen jenes fußt, so daß all die widernatürlichen Geschehnisse in verschiedenen Religionen als widerstreitende Tatsachen anzusehen sind, und die Aussagen über diese Geschehnisse, ob beweiskräftig oder -schwach, als einander entgegengesetzt. 3

Die Konsequenz, die sich aus dieser scheinbar nicht aufzuhebenden Inkompatibilität von Überzeugungen zwischen verschiedenen religiösen Traditionen in epistemologischer Perspektive ergibt, ist – wie man auch bei Hume erahnen kann –, dass der Wahrheitsanspruch aller religiösen Überzeugungen in Frage gestellt wird, wobei der Religionskritiker geneigt sein wird, das Ausmaß dieser Infragestellung so einzuschätzen, dass es irrational ist, irgendeiner dieser Religionen in ihren Lehren angesichts des Problems der religiösen Vielfalt zu folgen.

3

Hume, Menschlicher Verstand, S. 142.

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1.2 Die Grundzüge von Alstons religiöser Epistemologie William P. Alston hat in mehreren Werken und Aufsätzen, insbesondere aber in der 1991 erschienenen Monographie Perceiving God, seine religiöse Epistemologie entwickelt. 4 Die zentrale These von Perceiving God ist dabei, »that experiential awareness of God – the ›perception of God‹, as I call it – can provide epistemic justification for certain kinds of belief about God.« 5 Was ist zunächst unter einem »experiential awareness of God« zu verstehen? Alston geht im ersten Kapitel von Perceiving God phänomenologisch von Zeugnissen der christlichen Mystik aus (wie z. B. Teresa von Avila, Angela von Foligno etc.). In den Berichten, die bestimmte Mystiker von ihren Erfahrungen geben, sieht Alston direkte, nicht-sinnliche bzw. mystische Erfahrungen Gottes gegeben. Diese mystischen Erfahrungen versteht er wiederum folgendermaßen: I take mystical experiences to involve a presentation, givenness, or appearance of something to the subject as God. It is this presentational character of the experiences that leads me to subsume them under a generic concept of perception, with this species termed mystical perception. 6

Das phänomenologisch Entscheidende an den Erfahrungen der Mystiker für Alston ist also, dass ihnen in ihrer Erfahrung Gott auf eine Art und Weise gegeben ist, die der Art und Weise ähnelt, wie uns empirische Gegenstände unmittelbar gegeben sind. Mystische Erfahrungen sind dabei, was Alston zugibt, in vielerlei Hinsicht von sinnlichen Wahrnehmungen unterschieden – nicht zuletzt darin, dass sie oft nicht-sinnliche Erfahrungen sind (z. B. wenn Teresa von Avila den Eindruck hat, Jesus Christus stünde neben ihr, obwohl sie ihn nicht sieht). Trotzdem sieht Alston sich phänomenologisch berechtigt, diese Erfahrungen der Mystiker als »Wahrnehmungen Gottes« zu bezeichnen, wobei er »Wahrnehmung« als Gattungsbegriff für verschiedene Arten von Wahrnehmungen auffasst, worunter auch, aber nicht nur die sinnliche Wahrnehmung fällt. Nun vertritt Alston mit Bezug auf die Wahrnehmung von empirischen Gegenständen einen direkten Realismus. Diesen direkten Realismus überträgt er auch auf Wahrnehmungen Gottes. According to the Theory of Appearing, which I favor as a generic account of perception, perception just is the awareness of something’s appearing to one as such-and-such, where this ›appearing‹ is a basic, unanalyzable relationship, not reducible to conceptualizing an object as such-and-such, or to judging or believing the object to be such-and-such.

4

5 6

Eine gute, pointierte Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen dieses Werks findet sich in einem Symposion zu Perceiving God in Philosophy and Phenomenological Research. Vgl. Alston, Précis. Ich stütze mich in meiner kurzen Darstellung der Position Alstons v.a. auf diese Zusammenfassung. Alston, Précis, S. 863. Ebd.

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It follows that (putative) direct experiential awareness of God is a mode of perception, though if it is to be veridical God must exist and be properly related to the subject. 7

Wenn einem Mystiker Gott als so-und-so erscheint, dann handelt es sich dabei um eine Wahrnehmung Gottes, wobei die Relation der Wahrnehmung nicht mehr weiter analysierbar ist. Wichtig ist weiterhin, dass Alston zunächst von vermeintlichen Wahrnehmungen Gottes ausgeht. Er gebraucht »Wahrnehmung« also zunächst nicht als einen Erfolgsbegriff, so dass die Aussage, dass S Gott wahrgenommen hat, für Alston nicht impliziert, dass S tatsächlich Gott wahrgenommen hat. Alston geht vielmehr von einer phänomenalen Bedeutung solcher Ausdrücke wie »erscheinen« u. ä. aus. 8 Alston will zugunsten der These argumentieren, dass Wahrnehmungen Gottes eine Grundlage für die Rechtfertigung bestimmter religiöser Überzeugungen darstellen. Welche religiösen Überzeugungen sind damit gemeint? Alston beschäftigt sich vornehmlich mit »M-beliefs«. Unter diesen »M(anifestation)-beliefs« versteht er Überzeugungen, dass Gott gegenüber einem Subjekt etwas tut (z. B. das Subjekt tröstet etc.) oder dass Gott eine bestimmte wahrnehmbare Eigenschaft hat (z. B. Herrlichkeit, Macht etc.). 9 Unter »epistemic justification« und genauer: »prima facie justification« versteht Alston folgendes: To be epistemically justified in believing that p is for that belief to be based on an adequate ground, which could either be experiences or other things one knows or justifiably believes. A ground is adequate provided it is a sufficiently reliable indication of the truth of the belief. […] Perceptual justification, along with most other justification, is prima facie, i.e., is such that in the absence of sufficient reasons to the contrary it counts as unqualified justification […] 10

Alston will folgendes Prinzip der Möglichkeit einer Prima-facie-Rechtfertigung von Wahrnehmungsüberzeugungen auf den Fall von mystischer Wahrnehmung und M-beliefs übertragen: Die Tatsache, dass ein Subjekt S eine sinnliche Wahrnehmung hat, dass ein Gegenstand A ihr als so-und-so erscheint, stellt eine Prima-facie-Rechtfertigung für die Überzeugung dar, dass A so-und-so ist. 11

Wenn keine hinreichenden Gründe (sog. »overrider«) vorliegen, welche eine Überzeugung entweder als falsch erweisen oder welche annehmen lassen, dass die 7 8

9 10 11

Ebd. Alston ist allerdings der Überzeugung, dass das Argument von Perceiving God insgesamt die These stützt, dass mystische Wahrnehmungen Gottes manchmal tatsächliche Wahrnehmungen Gottes sind. Zur Definition von »M-belief« vgl. Alston, Perceiving, S. 1. Alston, Précis, S. 864. Vgl. zur Formulierung dieses Prinzips, das in gewisser Hinsicht dem »Priniple of Credulity« bei Richard Swinburne ähnelt Alston, Perceiving, S. 100.

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Wahrnehmung im vorliegenden Fall keine rechtfertigende Kraft für die Überzeugung hat, dann hat diese Prima-facie-Rechtfertigung als eine »unqualified justification« zu gelten. Für die Art und Weise, wie wir Überzeugungen bilden und epistemologisch bewerten, gebraucht Alston den Begriff der »doxastic practice« (= DP). Doxastische Praxen sind z. B. sinnliche Wahrnehmung, Introspektion, rationales Schließen und Alstons Meinung nach auch mystische Wahrnehmung. Dabei bilden wir unsere Überzeugungen in diesen Praxen nicht nur auf der Grundlage unmittelbarer Wahrnehmungen. Vielmehr fließen auch Hintergrundüberzeugungen insbesondere in die Identifikation des wahrgenommenen Objekts ein. Die Hintergrundüberzeugungen oder das »basic belief system«, das zu doxastischen Praxen dazugehört, bilden dabei ein » ›overrider-system‹ of beliefs and procedures that the subject can use in subjecting prima facie justified beliefs to further tests when that is called for.« 12 Dieses »Overrider-System« ist für die Prima-facie-Rechtfertigung von einzelnen Überzeugungen von großer Bedeutung: But the concept of prima facie justification has application only where there is a system of knowledge or justified belief about the relevant subject matter, against which a particular prima facie justified belief can be checked for correctness and this particular experiential justification checked for efficacy. 13

Wir können also nur dann von einer Prima-facie-Rechtfertigung von Wahrnehmungsüberzeugungen oder M-beliefs sprechen, wenn es möglich ist, diese Primafacie-Rechtfertigung prinzipiell auf ihre Richtigkeit zu überprüfen bzw. ›Overrider‹ auszuschließen. 14 Mit Blick auf die Religionen stellen die religiösen Lehren das Hintergrundwissen und damit das »Overrider-System« zur Verfügung. Anhand dieser Lehren kann man z. B. innerhalb einer bestimmten religiösen doxastischen Praxis überprüfen, ob die Erfahrungen eines Mystikers als authentisch zu gelten haben. Wichtige Kennzeichen von doxastischen Praxen sind ferner, dass sie sozial etabliert sind. Wenn eine solche doxastische Praxis sozial etabliert ist, ist es rational, an ihr teilzunehmen, solange man keine hinreichenden Gründe hat, sie für unzuverlässig zu halten. Nach Alston handelt es sich auch bei der Bildung von M-beliefs auf der Grundlage von mystischer Wahrnehmung – wobei in einigen Fällen Hintergrundüberzeugungen dazu kommen – um eine sozial etablierte Praxis. Alston untersucht dabei v.a. den speziellen Fall der christlichen mystischen doxastischen Praxis, M-beliefs zu bilden (= CMP), und will aufweisen, dass im Speziellen CMP als eine sozial etablierte DP zu gelten hat, und dass es keine 12 13 14

Ebd., S. 159. Ebd., S. 262. Dadurch wird aus einer Prima-facie-Rechtfertigung einer Überzeugung eine, wie oben erläutert, »unqualified justification«.

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hinreichenden Gründe gibt, sie für unzuverlässig zu halten, so dass es rational ist, an CMP teilzunehmen.

2. Alstons religiöse Epistemologie und das Problem der religiösen Vielfalt Wie bereits zu Beginn gesagt, spricht Alston in Perceiving God davon, dass das Problem einer Vielfalt von miteinander inkompatiblen religiösen doxastischen Praxen bzw. mystischen doxastischen Praxen (= MP) die größte Herausforderung für seine Position darstelle. 15 Alston diskutiert das Problem der religiösen Vielfalt im Anschluss an die Kapitel 5 und 6, in denen er gezeigt hat, dass CMP tatsächlich als eine sozial etablierte DP angesehen werden kann und dass es keine hinreichenden Gründe gibt, sie für unzuverlässig zu halten. 16 Wenn Alston nun in Kapitel 7 die religiöse Vielfalt als größte Herausforderung für seine Position diskutiert, wird man also annehmen können, dass diese Vielfalt für Alston ein Problem für die Prima-facie-Rationalität von CMP bzw. die Rechtfertigung der entsprechenden M-beliefs darstellt. 17 Das Faktum der religiösen Vielfalt wäre also ein »Overrider« für die Prima-facie-Rationalität von CMP und damit ein Problem für die Rechtfertigung der entsprechenden M-beliefs. In systematischer Hinsicht kann man das Problem der religiösen Vielfalt aber auch noch an einer anderen Stelle von Alstons religiöser Epistemologie verorten. Denn es könnte sein, dass gerade durch die Vielfalt der religiösen Lebensformen und der damit verbundenen Behauptungen, dass Gott oder ein höchstes Wesen so-und-so sei, die für Alstons religiöse Epistemologie zentrale Analogie zwischen religiöser Erfahrung und sinnlicher Wahrnehmung geschwächt wird. Während wir uns im Fall sinnlicher Wahrnehmungen trotz vieler Uneinigkeiten im Alltag doch meistens darüber einig werden können, dass bestimmte Gegenstände so-und-so sind, scheint genau das im Fall von religiösen Erfahrungen nicht möglich zu sein. Die Gläubigen der verschiedenen Weltreligionen scheinen ihre Uneinigkeiten in dem, was sie z. B. im Gebet oder in der Meditation erfahren, eher zu pflegen, als dass hier eine Konvergenz der entsprechenden Überzeugungen zu erkennen ist. 15

16

17

Vgl. ebd., S. 255. Ich werde außer auf Perceiving God im Folgenden auch noch auf zwei andere Beiträge Alstons zum Thema religiöser Pluralismus Bezug nehmen. Diese sind Religious Diversity und Mysticism. Der Schwerpunkt wird allerdings auf der ausführlichsten Analyse des Problems in Perceiving God liegen. In Kapitel 6 zeigt Alston, dass die sich aus dem Status als doxastische Praxis ergebende Prima-facieRationalität von CMP auch nicht durch mögliche hinreichende Gründe, diese DP für unzuverlässig zu halten (sog. »Overriders«), schwächen lässt. Gleichzeitig gibt es laut Alston hinreichende interne Gründe, diese DP für zuverlässig zu halten. Auch in Alston, Religious Diversity, S. 199 und Mysticism, S. 209 wird das Problem ähnlich verortet.

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Eine solche Konvergenz sollte man aber tendenziell erwarten können, würde es sich in diesen Fällen um Wahrnehmungen handeln, zumal wenn man Wahrnehmung wie Alston im Sinne eines direkten Realismus versteht. Alston selbst thematisiert diesen möglichen systematischen Stellenwert des Problems nur indirekt. Er versucht, gerade in Perceiving God, zu zeigen, dass die religiöse Vielfalt kein Problem auf der Ebene der vermeintlichen Wahrnehmungen Gottes selbst darstellt. Vielmehr bemüht er sich, die Inkompatibilität zwischen den MP in den Glaubenssystemen (»basic belief systems«) der einzelnen Religionen bzw. im jeweiligen Hintergrundwissen, das den verschiedenen MP zugrundeliegt, zu verorten. Ich werde im Folgenden zunächst Alstons Versuche darstellen, das Problem der religiösen Vielfalt von der Ebene der Wahrnehmung fernzuhalten und es gleichzeitig auf der Ebene des »basic belief systems« anzusiedeln, was dann zur Konsequenz hat, dass das Problem der religiösen Vielfalt Auswirkungen auf den epistemologischen Status der M-beliefs von CMP hat. 2.1 Stellt die religiöse Vielfalt ein Problem für Alstons direkten Realismus dar? Alston diskutiert zu Beginn von Kapitel 7, genauer im zweiten Unterkapitel, was es überhaupt bedeutet, dass die verschiedenen MP miteinander inkompatibel sind. 18 Alston hält zunächst fest, dass es sich nicht um Widersprüche in den Ergebnissen ein und derselben DP handelt. Die Inkompatibilität ist also nicht als intrapraxuell, sondern als interpraxuell zwischen den verschiedenen religiösen MP zu verstehen. Die verschiedenen Weltreligionen sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Overrider-Systeme individuierte doxastische Praxen. Irritierend ist dabei, dass Alston nicht bereits zu Beginn des Kapitels sein Konzept einer MP so erweitert, dass es sich auch auf andere als die monotheistischen Religionen anwenden lässt. Denn er spricht in Perceiving God überwiegend von Wahrnehmungen Gottes, womit der Gott der christlichen Tradition oder zumindest ein personales höchstes Wesen gemeint ist. Letztendlich geht aber Alston in diesem Kapitel von einem erweiterten Begriff von MP aus: »It is what is taken by the subject to be a direct experiential awareness of the Ultimate.« 19 Der Begriff »Ultimate« soll dabei für die verschiedenen Konzeptionen des Höchsten oder Transzendenten in den Weltreligionen stehen. 20 Alston untersucht zunächst, ob sich die Inkompatibilität so verstehen lässt, dass sich die »outputs« der verschiedenen MP widersprechen. Dabei versteht er unter diesen »outputs« der verschiedenen MP die M-beliefs und genauer: Aussa18 19 20

Vgl. Alston, Perceiving, S. 256–262. Ebd., S. 258. Ich werde im Folgenden von »höchster Wirklichkeit« oder »höchstem Wesen« sprechen.

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gen in Subjekt-Prädikat-Form, die einem wahrgenommenen Objekt Eigenschaften oder Handlungen zusprechen (z. B. »Gott ist barmherzig«). Damit wäre das Problem der religiösen Vielfalt auf der Ebene der Wahrnehmungen und der daraus resultierenden Überzeugungen angesiedelt. Das Problem würde also bereits vor der weiterführenden Frage auftauchen, ob M-beliefs prima facie gerechtfertigt sind. Alston diskutiert hinsichtlich des Problems der religiösen Vielfalt zwei Fragen: 1) Sind die jeweiligen Subjekte der Aussagen dieselben? 2) Sind die den Subjekten der Aussagen zugeschriebenen Prädikate miteinander inkompatibel? 21 Was die Subjektstelle der Überzeugungen betrifft, meint Alston zunächst, dass zwischen Religionen, die historisch in keiner Abhängigkeit zueinander stehen, also z. B. zwischen Buddhismus und Christentum, die teilweise sehr widersprüchlichen Beschreibungen der Gottheit eher nicht auf ein gemeinsames wahrgenommenes Bezugsobjekt schließen lassen. Allerdings räumt Alston ein, dass es möglich sei, dass z. B. ein Christ und ein Hindu denselben Gott wahrnehmen, obwohl ihre Begriffe von Gott sich deutlich voneinander unterscheiden. Der Grund dafür sei, dass das, was wir aktuell wahrnehmen, nicht durch unsere Überzeugungen über das, was wir aktuell wahrnehmen, festgelegt ist. Alston erläutert diese Aussage durch folgendes Beispiel: »I can take what I see to be a cow, while you, at a different distance and from a different angle, take it to be a boulder, even though we are seeing the same thing (an automobile).« 22 Selbst wenn die dem Objekt der Verehrung zugeschriebenen Prädikate zwischen den Religionen meist miteinander inkompatibel sind, würde diese Inkompatibilität allein nicht zeigen, dass auch die entsprechenden Überzeugungen inkompatibel sind, solange bis wir hinreichende Gründe für die Annahme finden, dass die wahrgenommenen Objekte dieselben sind. 23 Alston stellt weiterhin das Ausmaß des tatsächlichen Widerspruchs zwischen den zugeschriebenen Prädikaten infrage. Das Problem bestehe weniger in einer Inkompatibilität zwischen positiven Behauptungen, sondern eher in der Tatsache, dass jede Religion implizit dem widerspreche, was eine andere Religion behauptet. So widerspreche die Behauptung von buddhistischen Mystikern, sie seien sich in der Meditation einer nicht-differenzierten Einheit bewusst, nicht der Behauptung christlicher Mystiker, sie seien sich eines personalen Wesens bewusst. Auch die Aussage, dass Jesus der Sohn Gottes sei, widerspreche nicht notwendig der Aus21 22 23

Vgl. dazu ebd., S. 256–258. Ebd., S. 257. Nur wenn wir zeigen können, dass z.B. Hindus und Christen sich mit ihren Überzeugungen auf denselben göttlichen Gegenstand beziehen, folgt aus der Inkompatibilität der Prädikate, die wir dem Objekt aufgrund unserer religiösen Wahrnehmung zuschreiben, auch die Inkompatibilität der sich daraus ergebenden Überzeugungen. Es könnte aber eben sein, dass Christen und Hindus nicht dasselbe Bezugsobjekt wahrnehmen.

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sage, dass Mohammed der Prophet Gottes sei. Der Widerspruch entstünde erst, wenn man eine gegenseitige Leugnung in die Behauptungen hineininterpretieren würde. Alston schließt aus diesen Überlegungen in Perceiving God, dass es nicht sehr vielversprechend sei, nach massiven interreligiösen Inkompatibilitäten bei aus der Wahrnehmung herrührenden Zuschreibungen von Prädikaten zu demselben Subjekt zu suchen. Unsere M-beliefs seien als solche über die Grenzen der Religionen hinweg nicht inkompatibel miteinander. Im Folgenden untersucht er, ob sich die Inkompatibilität auf der Ebene der »outputs« von verschiedenen MP dadurch behaupten lässt, dass man das Problem auf der Ebene der Identifikation der jeweiligen wahrgenommenen Objekte verortet, wobei in diese Identifikation dann Informationen aus dem »basic belief system« der jeweiligen MP einfließen, die nicht in der Wahrnehmung des Objekts enthalten sind. Die Strategie, die Alston in diesem zweiten Unterkapitel von Kapitel 7 verfolgt, lässt sich klar erkennen: Er will die Inkompatibilität von der Ebene der Wahrnehmung und der entsprechenden M-beliefs fernhalten und die Inkompatibilität vielmehr in Verbindung mit unseren konzeptuellen Fähigkeiten bringen. Ähnlich argumentiert Alston auch in Mysticism and Perceptual Awareness of God zugunsten der Möglichkeit, dass ein christlicher und ein buddhistischer Mystiker sich verschiedener Aspekte desselben Wesens bewusst sein könnten. 24 Ein und dasselbe Wesen kann personale und nicht-personale Seiten haben. Das gelte auch für Menschen: Wir seien zwar alle Personen mit Bewusstsein, Gefühlen etc., teilen aber auch alle bestimmte Aspekte wie Gewicht, Größe etc. mit nichtpersonalen Entitäten. Deswegen schlägt Alston vor, »that if we stick to what seems to mystical experiencers to be strictly presented to them experientially, even widely different apparent features of what is experienced could often be compatible.« 25 In diesem Text bringt Alston noch ein weiteres Argument vor, das offensichtlich dazu dienen soll, dem Eindruck entgegenzuwirken, die Inkompatibilitäten zwischen den verschiedenen MP hätten ihre Ursache in inkompatiblen Wahrnehmungen und entsprechenden M-beliefs. Mithilfe der Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten vertritt Alston zunächst bezüglich sinnlicher Wahrnehmung die These, dass ein Großteil unserer Überzeugungen über wahrgenommene Objekte nicht im strikten Sinne wahr sind; denn die wahrgenommenen Objekte haben im strikten Sinne nicht die Qualitäten, die wir an ihnen wahrnehmen. 26 Diese Unterscheidung überträgt er dann in den Bereich mystischer Wahrnehmung und setzt sie in Verbindung mit der in vielen mono24 25 26

Vgl. Alston, Mysticism, S. 210–211. Ebd., S. 210. Dabei versteht Alston hier unter »primären Qualitäten« die objektiven Eigenschaften physikalischer Gegenstände wie Größe, Form, Bewegung, Masse etc. »Sekundäre Qualitäten« hingegen werden konstruiert als Resultat der Interaktion der physikalischen Gegenstände mit unseren Sinnesrezep-

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theistischen Traditionen existenten theologischen Tradition einer negativen Theologie, die problematisiert, welche Begriffe, wenn überhaupt, wahrhaft auf Gott angewendet werden können: Given this tendency of the tradition full rein could well result in treating most of what is attributed to God on the basis of experience as secondary properties. This would imply that when someone reports experiencing God as wise or sympathetic or loving, he is reporting a result of God’s interaction with his experiential receptivity, rather than what God is like in himself, even though here too what is experienced is a valid practical guide to one’s relations with God. 27

Auf dieser Grundlage könne man behaupten, dass die sekundären Eigenschaften selbst, die in verschiedenen Traditionen erfahren werden, sich deutlich voneinander unterscheiden können, ohne dass die höchste Wirklichkeit selbst von diesen Unterscheidungen betroffen wäre. Es gebe keine Inkompatibilität darin, dass dasselbe Wesen auf verschiedene Weise in verschiedenen Situationen als so-und-so erscheine. Die Inkompatibilitäten könnten also als nur scheinbare Inkompatibilitäten aufgefasst werden. 28 Alston schließt diese Überlegungen mit der These ab, dass die Konflikte zwischen Überzeugungen über die höchste Wirklichkeit, die aus verschiedenen MP stammen, dadurch deutlich reduziert werden könnten, dass man von einer Inadäquatheit der menschlichen Erkenntnisvermögen ausgeht, ein angemessenes begriffliches Verständnis dessen zu gewinnen, wie Gott in sich selbst ist. 2.2 Die religiöse Vielfalt als Problem für die Rationalität der MP als doxastische Praxen Im überwiegenden Teil des siebten Kapitels von Perceiving God bemüht sich Alston darum, seine These zu erläutern, dass die Inkompatibilität der verschiedenen Religionen an dem Punkt beginnt, wo das Hintergrundwissen bzw. das »basic belief system«, das zu jeder DP notwendig dazugehört, entweder in unsere M-beliefs ›einsickert‹ oder als notwendiges »overrider system« hinsichtlich der Prima-facie-Rechtfertigung von M-beliefs in Erscheinung tritt. Die Religionen haben nach Alston verschiedene Konzeptionen des höchsten Wesens. Diese Konzeptionen, die eigentlich Teil unseres »basic belief system« bzw. Hintergrundwissens aus der jeweiligen religiösen Tradition sind, fließen in die Identifikation des wahrgenommenen Objekts des Höchsten (als Gott, Brahman) durch ein einzelnes religiöses Subjekt ein. Wenn ich als Christ der Überzeugung

27 28

toren. »They are simply how things appear to us, rather than properties physical things have in themselves apart form our way of experiencing them.« (Mysticism, S. 211.) Ebd., S. 212. Dabei verweist er ausdrücklich auf John Hick als Gewährsmann dieser These. Vgl. ebd.

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bin, dass Gott mir gegenwärtig war, dann identifiziere ich das Objekt dieser Wahrnehmung mit dem Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist etc. Alston diskutiert zwei Alternativen, wie man diese Identifikation des wahrgenommenen Objekts verstehen kann. 29 Geht man von einer deskriptivistischen Theorie der Referenz aus, ist »Gott« in dem Satz »Gott hat mich getröstet« eine Abkürzung für eine »definite description« wie »Der Schöpfer des Universums, der in Jesus Christus Menschgewordene etc.«. Weil das Hintergrundwissen auf diese Weise in unsere perzeptuellen Überzeugungen über das wahrgenommene Objekt bzw. unsere M-beliefs ›einsickert‹, sind die M-beliefs selbst zwischen den Religionen miteinander inkompatibel, selbst wenn die Prädikate, die in den perzeptuellen Überzeugungen dem Objekt zugeschrieben werden (z. B. »Barmherzigkeit«), miteinander kompatibel sein sollten. Alston favorisiert allerdings eine Theorie der, wie Alston sie bezeichnet, direkten Referenz. 30 Demnach ist der Ausdruck »Gott« in dem Satz »Gott hat mich getröstet« lediglich eine Kennzeichnung (»label«) für etwas, das ich durch diese Kennzeichnung hervorhebe. Die Kennzeichnungen beinhalten nicht als Teil ihrer Bedeutung, dass bestimmte Dinge von dem gekennzeichneten Gegenstand als wahr ausgesagt werden können. Wenn ich also sage »Gott hat mich getröstet« behaupte ich mit dieser Aussage alleine nicht, dass der Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist, mir gegenwärtig gewesen ist. Wenn ich das mit »Gott« Gekennzeichnete trotzdem mit diesem Gott identifiziere, dann tue ich das aufgrund des Gehalts der in dem Satz geäußerten Überzeugung und weil ich auch der Überzeugung bin, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist. Geht man also von dieser Theorie der direkten Referenz aus, sind es nicht die M-beliefs selbst, die miteinander inkompatibel sind. Vielmehr seien es »some wider systems of belief« die miteinander inkompatibel sind, die mit ihrer Inkompatibilität die M-beliefs selbst aber sozusagen nicht ›infizieren‹. 31 Darunter versteht Alston nun die »basic beliefs systems« der Religionen, also die zentralen Lehren welche u. a. auch das »overrider-« oder »background system« für die entsprechenden doxastischen Praxen der Religionen bilden. Das Overrider-System spielt eine zentrale Rolle für die These, dass M-beliefs prima facie gerechtfertigt werden können: »Hence we can justifiably attribute prima facie justification to M-beliefs only if the practice of forming M-beliefs carries with it such a background system, namely, the very one we have been talking of as utilized in identifying what is perceived as God.« 32 Ohne die Möglichkeit, M-beliefs mithilfe des Hintergrundwissens der jeweiligen religiösen Tradition zu überprüfen, gäbe es überhaupt keine Möglichkeit, die Authentizität einer mystischen Wahrnehmung Gottes festzustel29 30 31 32

Vgl. dazu Alston, Perceiving, S. 258–260. Vgl. ebd., S. 260. Ebd. Ebd., S. 262.

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len. Könnte man M-beliefs nicht zumindest diesem Testverfahren der eigenen Tradition unterwerfen, müssten wir, so Alston, entweder von der Idee ablassen, dass M-beliefs aufgrund ihrer Herkunft aus einer Art Wahrnehmung gerechtfertigt werden können, oder wir müssten einander widersprechenden Überzeugungen die gleiche Beachtung schenken. Damit hat Alston das Problem der religiösen Vielfalt für seine Position klar verortet: Es ist ein Problem für Alstons These, dass CMP prima facie-gerechtfertigte Überzeugungen hervorbringen kann. Wir müssen CMP und andere MP so verstehen, dass in ihnen jeweils das Hintergrundwissen einer bestimmten Tradition, die »main lines of the body of beliefs of the religion within which it flourishes« enthalten ist. 33 Diese »basic belief systems« sind notwendig, damit CMP oder eine andere MP als eine doxastische Praxis aufgefasst werden können, was bedeutet, dass die jeweiligen M-beliefs der religiösen doxastischen Praxen bzw. MP prima facie gerechtfertigt sind. Die »basic belief systems« der Religionen sind jedoch miteinander inkompatibel, was bedeutet, dass sich die Aussagen der jeweiligen »basic beliefs systems« zum Teil widersprechen. Das wiederum bedeutet, dass die inkompatiblen Formen von MP eine Schwierigkeit für die Behauptung einer jeden dieser MP darstellen, dass sie jeweils eine Quelle gerechtfertigter Überzeugungen über das höchste Wesen sind. Denn wenn die Behauptungen einander widersprechen, können nicht alle diese Behauptungen ihren Ursprung in einer verlässlichen doxastischen Praxis haben. Alston entwickelt über weite Teile des siebten Kapitels folgendes Argument, mit dem ein Gegner seiner Position aus dem Problem der religiösen Vielfalt Kapital schlagen könnte. 34 Da jede Form von MP in einem gewissen Ausmaß mit anderen Formen von MP inkompatibel ist, kann nicht mehr als eine dieser Formen als eine hinreichend verlässliche Weise gelten, Überzeugungen über die höchste Wirklichkeit zu bilden. Denn wenn eine dieser Formen verlässlich ist, sind die meisten Überzeugungen, die sich aus ihr ergeben, wahr. Wegen der Inkompatibilität wird also ein Großteil der Überzeugungen, die sich aus anderen Formen von MP ergeben, falsch sein und keine der anderen Formen von MP kann als eine verlässliche Praxis gelten. Welche Gründe aber kann es geben, dass z. B. CMP als diese verlässliche Praxis gelten kann? Innerhalb von CMP gibt es auf jeden Fall interne Gründe, warum CMP eine verlässliche MP ist. Die Lehren des Christentums, dass z. B. der Heilige Geist die Kirche durch die Zeiten führt, unterstützen sehr deutlich die Behauptung, dass CMP eine verlässliche DP ist. Nun ist aber das Problem, dass auch jede andere Form von MP interne Gründe angeben kann, warum sie eine verlässliche MP ist. Eine mögliche Lösung für dieses Problem könnte der Rekurs auf externe, von den jeweiligen MP unabhängige 33 34

Ebd. Vgl. ebd., S. 268–275. Dabei geht Alston davon aus, dass es möglich ist, dass eine MP eine verlässliche doxastische Praxis sein kann.

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Gründe sein, also z. B. auf so etwas wie eine philosophische Theologie, eine theistische Metaphysik o.ä., mit deren Hilfe man direkt zugunsten der Wahrheit der Überzeugungen, die sich aus CMP ergeben, argumentieren könnte. Alston räumt dieser Möglichkeit eine wichtige und in den Diskussionen unterschätzte Bedeutung ein, möchte aber auf diese Lösung nicht zurückgreifen, sondern vielmehr von einem »Worst Case Scenario« ausgehen, das darin besteht, dass es keine hinreichend unabhängigen, externen Gründe für die epistemologische Bevorzugung einer der MP gibt. Somit lässt sich das Problem der religiösen Vielfalt für Alstons religiöse Epistemologie abschließend so darstellen: Wenn es rational ist, an CMP oder einer anderen MP teilzunehmen, dann gibt es hinreichend unabhängige (externe) Gründe, CMP oder eine andere MP für verlässlich zu halten. Solche hinreichend unabhängigen (externen) Gründe gibt es nicht (WorstCase-Szenario). Also ist es nicht rational, an CMP oder einer anderen MP teilzunehmen. Alston geht davon aus, dass der Mangel an externen Gründen die Rationalität, sich an CMP zu beteiligen, in jedem Fall mindert. Er bestreitet jedoch, dass diese Minderung der Rationalität ein solches Ausmaß annimmt, dass es irrational sei, sich an CMP zu beteiligen. Deswegen versucht Alston die Prämisse (1) anzugreifen, indem er auf parallele Fälle von Inkompatibilitäten zwischen verschiedenen DP hinweist, um zu zeigen, dass es andere mögliche Fälle gibt, in denen DP ebenfalls nur intern durch »self-support« ihre Verlässlichkeit erlangen. 35 Zunächst markiert Alston einen wichtigen Unterschied zwischen dem Problem der religiösen Vielfalt und bestimmten, uns vertrauten Beispielen, bei denen wir ähnlich wie beim Problem der religiösen Vielfalt mit Inkompatibilitäten zwischen einzelnen Überzeugungen oder Überzeugungssystemen zu tun haben. Alston nennt als Beispiele konfligierende Berichte über den Hergang eines Autounfalls und verschiedene wissenschaftliche Methoden, meteorologische Vorhersagen zu treffen. Der Unterschied zum Problem der religiösen Vielfalt bestehe darin, dass es trotz der Inkompatibilitäten hier prinzipiell eine gemeinsame Prozedur gebe, die nicht-zirkuläre Gründe liefert, um zwischen den konfligierenden Überzeugungen oder Theorien eine Entscheidung zu treffen, wer in der epistemologisch besseren Position ist. Die Wettbewerber können sich prinzipiell in einer gemeinsam geteilten DP ›treffen‹, um ihre Divergenzen beizulegen. Selbst wenn man aktuell keinen Grund hat, einen der Zeugen des Autounfalls als den verlässlichsten Zeugen anzusehen, wissen wir zumindest, welche nicht-zirkulären Gründe man haben müsste, um diesem Zeugen herauszufinden. Genau das sei laut Alston beim Problem der religiösen Vielfalt anders. Es fehlt eine von allen Religionen geteilte DP 35

Vgl. dazu ebd., S. 270–275.

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zur Auflösung der Inkompatibilitäten. Damit entgehen die religiösen Opponenten aber auch den negativen epistemologischen Konsequenzen, die sich im Fall der anderen Beispiele ergeben, wenn man zwar nicht-zirkuläre Gründe finden könnte, aber aktuell keine finden kann, weil z. B. die Zeugen des Autounfalls alle unter Drogeneinfluss standen. Solange jeder Zeuge keine hinreichenden Gründe hat, epistemologisch in einer besseren Position als andere Zeugen gewesen zu sein, ist er auch nicht gerechtfertigt, seiner Version des Autounfalls mehr zu trauen als den Versionen der anderen. Daraus folgert Alston nun: To put the point most sharply, we have no idea what noncircular proof of the reliability of CMP would look like, even if it is as reliable as you please. Hence why should we take the absence of such a proof to nullify, or even sharply diminish, the justification I have for my Christian M-beliefs? 36

Der Mangel einer gemeinsamen Grundlage, die Inkompatibilitäten aufzulösen, mindert laut Alston die epistemologische Bürde der Inkompatibilität im Fall der religiösen MP. Die Inkompatibilität wird nur dort zum Problem, wenn wir uns vorstellen können, wie sie zu lösen wäre. Diese These versucht Alston nun durch andere Beispiele weiter zu stützen. Alston nennt zunächst den Gegensatz von Psychoanalyse und verhaltenspsychologischen Ansätzen in der Psychotherapie. Auch hier gebe es keine gemeinsame Grundlage, die Inkompatibilität der beiden Ansätze aufzulösen. Deswegen seien wir nicht in der Position zu urteilen, dass es für den Psychoanalytiker irrational sei, ohne nicht-zirkuläre Gründe weiterhin seine Überzeugungen über seine klinischen Fälle so zu bilden, wie er sie bildet. Dann konstruiert Alston ein kontrafaktisches Beispiel. Wir sollten uns vorstellen, dass es bei den perzeptuellen doxastischen Praxen (= SP) einen ähnlichen Pluralismus wie bei den MP gäbe. In einigen Kulturen habe sich eine cartesianische SP, in anderen Kulturen eine aristotelische SP und wieder in anderen Kulturen eine whitehead’sche SP etabliert, die Welt zu sehen und auf dieser Grundlage Überzeugungen zu bilden. Weiterhin sollten wir annehmen, dass jede dieser sozial etablierten Praxen den jeweils Praktizierenden der SP im Umgang mit ihrer Umwelt dienlich ist und dass die jeweils Praktizierenden so eng an ihre jeweilige SP gebunden sind, wie wir Menschen faktisch an unsere SP gebunden sind. Treffen nun Praktizierende der verschiedenen SP aufeinander, werden sie es jeweils schwer haben, die anderen Praktizierenden und die Schilderungen dessen, wie sie die Welt visuell wahrnehmen, ernst zu nehmen. Gleichzeitig finden wir keine neutrale Grundlage, von der aus wir beurteilen könnten, dass eine der SP die Welt genauer visuell wahrnimmt als die andere. Alston fragt, ob es in einer solchen Situation klar wäre, dass es irrational sei, unsere Wahrnehmungsüberzeugungen getreu der aristotelischen SP zu bilden, 36

Ebd., S. 272.

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solange die Praxis sich selbst aufgrund ihrer Früchte bestätigt. Er antwortet auf die Frage, dass eher das Gegenteil klar sei. In the absence of any external reason for supposing that one of the competing practices is more accurate than my own, the only rational course for me is to sit tight with the practice of which I am master and which serves me so well in guiding my activity in the world. 37

Alston schließt nun, dass unsere aktuelle Situation im Fall von CMP vergleichbar mit der Situation der konkurrierenden SP ist. Deswegen sei es auch für den Praktizierenden von CMP trotz eines Mangels an nicht-zirkulären Gründen weiterhin rational, sich an CMP zu halten. Alston problematisiert zwar die Tatsache, dass es sich hier lediglich um eine Art Gedankenexperiment handelt, und dass es alles andere als klar sei, dass es sich bei den verschiedenen SP um wirkliche Möglichkeiten handle. Er behauptet aber trotzdem, dass wenn diese Alternativen der SP wirklich möglich seien, sie hinsichtlich der Rationalität, an unserer faktischen z. B. aristotelischen SP teilzunehmen, ähnliche Schwierigkeiten hervorrufen, die wir infolge des Problems der religiösen Vielfalt hinsichtlich der Rationalität von CMP haben. In diesem Fall gelte, dass, wenn es trotzdem rational sei, an SP teilzunehmen, sich dieselbe Schlussfolgerung auch für CMP oder andere MP ergebe. Alston führt zum Schluss seiner Argumentation noch drei Hinweise an, welche die epistemologischen Ansprüche von CMP angesichts der religiösen Vielfalt stützen sollen. Er nennt zunächst die Tatsache, dass CMP die spirituellen und moralischen Früchte, die es seinen Gläubigen verspricht, auch hervorbringt. Weiterhin weist Alston darauf hin, dass die Minderung des Grades an Rechtfertigung durch das Problem der religiösen Vielfalt zum Teil Überzeugungen betreffe, für die der Gläubige ohnehin auch »faith« benötige, i.e. das Problem beeinträchtige den Status von Überzeugungen nicht in der Weise, dass man ohne das Problem mit vollem Vertrauen an diesen Überzeugungen festhalten könnte. Schließlich weist Alston auf die Möglichkeit hin, dass ähnlich wie beim Fortschritt der Wissenschaften, bei denen sich im Lauf der Geschichte in vielen zentralen Fragen Konvergenzen ergeben haben, auch die Religionen in einem frühen Stadium der Entwicklung seien und sie sich möglicherweise auf einen größeren Konsens zubewegen könnten. 38 Insgesamt hat das Problem der religiösen Vielfalt also die Rationalität, sich an CMP zu beteiligen, gemindert. Alston ist aber der Auffassung, dass er genug Gründe angeführt habe, dass diese Minderung nicht dazu führe, dass es irrational sei, sich an CMP zu beteiligen. Damit bleiben, so Alston, trotz des Problems der religiösen Vielfalt M-beliefs prima facie gerechtfertigt. 37 38

Ebd., S. 274. Vgl. ebd., S. 275–278.

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3. Scheitert Alstons religiöse Epistemiologie an der religiösen Vielfalt? Im letzten Teil dieses Beitrags möchte ich – zunächst gestützt auf die Darstellungen von 2.1 – abschließend fragen, ob es Alston gelungen ist, aufzuweisen, dass die Inkompatibilitäten nicht auf der Ebene der Wahrnehmungen und M-beliefs selbst zu suchen sind (3.1). Dann möchte ich kurz diskutieren, ob er zeigen konnte, dass durch das Problem der religiösen Vielfalt die Rationalität, an CMP oder einer anderen MP teilzunehmen, nicht in einer solchen Weise gemindert wird, dass es als irrational erscheint, eine solche DP anzunehmen (3.2). Dabei werde ich v.a. auf die Darstellung von Alstons Position in 2.2 Bezug nehmen. 3.1 Warum die religiöse Vielfalt doch ein Problem für Alstons direkten Realismus bezüglich vermeintlicher Wahrnehmungen Gottes ist Hat Alston gezeigt, wie er schreibt, dass es tatsächlich nicht sehr vielversprechend ist, auf der Ebene der aus der Wahrnehmung herrührenden Zuschreibungen nach den Inkompatibilitäten zu suchen? Zunächst ist in Perceiving God irritierend, dass Alston zu Beginn des siebten Kapitels keine eindeutige Antwort auf die Frage gibt, ob ein Hindu und ein Christ dasselbe Objekt wahrnehmen.39 Wenn Alston kurz darauf davon spricht, dass sich die verschiedenen Religionen auf ein höchstes Wesen beziehen, scheint er jedoch offensichtlich davon auszugehen, dass es sich um dasselbe Objekt handelt, auf das sich verschiedene MP beziehen, auch wenn sie es jeweils unterschiedlich (als Gott, Brahman etc.) begreifen. 40 Wenn sich die verschiedenen »outputs« der MP aber auf dasselbe Objekt, das höchste Wesen, beziehen, dann folgt aus der Inkompatibilität der Prädikate auch die Inkompatibilität der Überzeugungen über das wahrgenommene Objekt – jedenfalls solange man ein direkter Realist bleiben will. Damit wäre das Problem der religiösen Vielfalt also weiterhin auf der Ebene der mystischen Wahrnehmung angesiedelt. 41 39 40

41

Vgl. ebd., S. 256f. Vgl. ebd., S. 258. Die Annahme, dass sich verschiedene MP auf dasselbe Objekt beziehen, ist wiederum nötig. weil Alston die verschiedenen MP sonst nicht miteinander vergleichen kann. Die gegenteilige Lösung, dass ein Christ und ein Buddhist nicht dasselbe Objekt wahrnehmen, erscheint für Alstons Bemühungen, auf der Ebene der Wahrnehmung keine Konflikte zu sehen, als attraktiver. Allerdings bringt diese Lösung andere Probleme mit sich. Denn dann hätten wir entweder eine Art metaphysischen Pluralismus (die Christen nehmen Gott wahr, die Hindus Brahman etc.), der den meisten religiösen Traditionen widerspricht. Oder man müsste zeigen, dass es sich nicht bei allen vermeintlichen Wahrnehmungen eines höchsten Wesens tatsächlich um eine solche Wahrnehmung eines höchsten Wesens handelt, dass also viele religiöse Menschen sich darin täuschen, dass sie ein höchstes Wesen mit bestimmten Eigenschaften wahrnehmen. Dazu aber bräuchte man

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Auch Alstons Behauptung, dass wir erst im Nachhinein in unsere Beschreibungen von mystischen Wahrnehmungen die Inkompatibilität hineininterpretieren, setzt voraus, dass wir jeweils dasselbe Objekt mit inkompatiblen Prädikaten beschreiben. Um diese Behauptung zu untersuchen, muss gefragt werden: Kann ich eine Wahrnehmungsüberzeugung mit qualifizierenden Prädikaten wie »personal« oder »Sohn Gottes« bilden, ohne dass diese Prädikate zugleich die entsprechenden kontradiktorischen Prädikate ausschließen? Nehmen wir ein anderes Beispiel: Wenn ich und mein Bekannter eine Rose sehen und ich die Überzeugung äußere, dass die Rose rot, mein Bekannter aber, dass die Rose weiß sei, wird man zunächst davon ausgehen, dass es sich um zwei einander widersprechende Überzeugungen handelt. Denn eine notwendige Bedingung, etwas als »rot« zu bezeichnen, ist u. a. dass etwas die Eigenschaft »nicht-weiß« hat. Soweit mein Bekannter und ich kompetente Sprecher sind, wird man die Ursache dieser Widersprüchlichkeit zunächst auf den phänomenalen Gehalt der Wahrnehmungen selbst zurückführen und fragen, warum ich eine andere Farbwahrnehmung als mein Bekannter habe. Der Grund dafür könnte z. B. sein, dass die Seite der Rose, die in meinem Gesichtsfeld ist, mit rotem Licht angestrahlt wird. Warum soll die Situation im Fall eines hinduistischen oder buddhistischen und eines christlichen Mystikers eine andere sein als in diesem Fall? Als kompetenter Sprecher der christlichen Tradition sollte der christliche Mystiker eigentlich wissen, dass das Prädikat »personal« im Widerspruch zu »nicht-personal« steht. Deswegen ist es wie beim Beispiel der Rose zunächst einmal naheliegend, die Ursache des Widerspruchs zwischen den Aussagen in der Wahrnehmung selbst zu vermuten. Auch wenn diese Überlegungen nicht überzeugend sein sollten, so muss man doch auf jeden Fall konstatieren, dass die Beispiele in der von Alston vorgetragenen Form nicht zur Begründung seiner These taugen. Bei beiden Beispielen, dem Mystiker- und dem Jesus-Muhammad-Beispiel, ist das Problem, dass die jeweilige von Alston geschilderte Beschreibung der Erfahrung bereits mit Begriffen erfolgt, die man in der Regel auf dem Hintergrund einer bestimmten Tradition verwendet. Alston müsste eigentlich untersuchen, wie eine Wahrnehmung der Gottessohnschaft des Jesus von Nazareth beschaffen sein soll, die unabhängig von einem entsprechenden Hintergrundwissen ist, das den Ausschließlichkeitsanspruch dieser Offenbarung Gottes beinhaltet. Alston müsste das Beispiel also so wählen, dass deutlich wird, dass wir eine Wahrnehmung mit der phänomenalen Qualität haben können, dass wir uns der Gegenwart des Sohnes Gottes bewusst sind, dass diese Wahrnehmung aber gleichzeitig so beschaffen ist, dass eine wesentliche Eigenschaft des – in christlich-orthodoxer Weise gedachten – Sohnes Gottes, nämlich seine eine entsprechende philosophische Theologie, die zeigen könnte, dass nur bestimmte vermeintliche Wahrnehmungen eines höchsten Wesens tatsächlich Wahrnehmungen eines höchsten Wesens sind. Weder ein metaphysischer Pluralismus noch eine starke philosophische Theologie liegen im Interesse von Alstons religionsphilosophischer Position.

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Einzigartigkeit, nicht in der Wahrnehmung enthalten ist. Es ist jedoch alles andere als klar, was man sich unter einer solchen phänomenalen Qualität vorzustellen hat und auf welche Weise wir dann in die entsprechende Wahrnehmungsüberzeugung die in der Wahrnehmung nicht gegebene Exklusivität hineinlesen. Ähnliches gilt für das Mystiker-Beispiel. Welcher phänomenalen Qualität soll eine Wahrnehmung Gottes als eines personalen höchsten Wesens entsprechen, die nicht bereits impliziert, dass er kein nicht-personales Wesen sein kann? Es ist zunächst auf der Grundlage der monotheistischen Traditionen kontraintuitiv anzunehmen, dass es eine genuine Wahrnehmung eines personalen Gottes gibt, die mit einem entsprechenden Vokabular beschrieben wird, das nicht implizieren würde, dass Gott nicht in gleicher Weise nicht-personale Eigenschaften wie personale Eigenschaften haben kann. Gerade die Beispiele christlicher Mystiker, auf die Alston im ersten Kapitel von Perceiving God Bezug nimmt, belegen diese Tatsache. Alston kann somit die Kompatibilität der zugeschriebenen Prädikate nur dann behaupten, wenn er zeigt – was er nicht tut –, wie es möglich ist, einen phänomenalen Gehalt der jeweiligen Wahrnehmung freizulegen, der bar allen Hintergrundwissens der jeweiligen religiösen Tradition und dennoch religiös signifikant, also als mystische Wahrnehmung zu charakterisieren ist. Er müsste die jeweiligen Kontrahenten bitten, ihre Wahrnehmungen mit – gegenüber den Spezifika der religiösen Traditionen – neutralen Ausdrücken zu beschreiben, wie man es z. B. versucht, wenn man eine Phänomenologie des Heiligen entwickelt. Auf der anderen Seite tappt Alston mit der Annahme, dass es auf der Ebene der Wahrnehmungen des höchsten Wesens und der ihnen entsprechenden Überzeugungen keine Widersprüche zwischen den Zuschreibungen von Prädikaten zum wahrgenommenen Objekt geben muss, womöglich in genau die Falle, in der er – später im Kapitel – John Hick und seine Theorie eines religiösen Pluralismus gefangen sieht; 42 denn Alston müsste zumindest in einigen Fällen, das, was religiöse Menschen wahrnehmen, anders begreifen, als sie selbst es begreifen. 43 Es mag zwar Zeugnisse von mystischen Erfahrungen christlicher Mystiker geben, in denen Gott in gleicher Weise als personal und nicht-personal beschrieben wird. Was geschieht jedoch mit Mystikern, die berichten, dass sie Gott als personal und nicht als undifferenzierte Einheit erfahren haben? Falls M-beliefs, die sich aus mystischen Wahrnehmungen Gottes ergeben, die Exklusivität der Personalität Gottes zum Inhalt haben, weil die entsprechende mystische Wahrnehmung für den Mystiker die Qualität hat, dass Gott so (personal) und nicht anders sein kann, müsste Alston in diesem Fall den entsprechenden M-beliefs unterstellen, 42

43

John Hick hat seine Theorie des religiösen Pluralismus in verschiedenen Werken und zahlreichen Aufsätzen entfaltet. Als eine Art Summe dieser Theorie gilt sein Buch An Interpretation of Religion aus dem Jahr 1989. Vgl. dazu Alston, Perceiving, S. 264–266

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dass sie sich nur vermeintlich auf das höchste Wesen selbst beziehen und dass ihre Wahrnehmung, dass das höchste Wesen so und nicht anders ist, eigentlich eine Interpretation der Wahrnehmung auf dem Hintergrund ihrer jeweiligen Tradition ist. Genau diesem Zug einer »reconception« von religiöser Erfahrung in John Hicks Theorie stellt Alston jedoch sein eigenes Bemühen um einen Realismus hinsichtlich mystischer Wahrnehmung entgegen. Alstons Versuch, die Wahrnehmung des höchsten Wesens als indifferent gegenüber exklusiven Beschreibungen aufzufassen, schwächt somit seine eigene grundsätzlich realistische Position. Alstons Versuch, in Perceiving God, die Inkompatibilität allein unseren kognitiven und konzeptuellen Fähigkeiten zuzuschreiben, ist in der von ihm vorgetragenen Form also nicht überzeugend und stellt eher seine eigene grundsätzlich realistische Position in Frage, als dass er sie unterstützt. Auch die kurz referierten Ausführungen in Mysticism zu diesem Thema sind wenig überzeugend. Zunächst spricht Alston dort immer wieder davon, dass die verschiedenen Aspekte zu demselben Wesen gehören könnten oder dass die verschiedenen Eigenschaften miteinander kompatibel sein könnten. Das einzige Argument, das Alston hier zugunsten der Behauptung der Möglichkeit der Kompatibilität vorbringt, trägt aber zur Stützung der Behauptung nichts bei. Der Vergleich zwischen den unterschiedlichen Wahrnehmungen eines christlichen und eines buddhistischen Mystikers mit der Tatsache, dass wir Menschen alle Personen sind, aber auch Eigenschaften mit nicht-personalen Entitäten teilen, ist irreführend. Denn die Mystiker im Beispiel nehmen jeweils wahr, dass das höchste Wesen z. B. personal ist und nicht, dass es auch Eigenschaften mit nicht-personalen Entitäten teilt. Außerdem könnte man fragen, ob die menschliche Selbstwahrnehmung, dass ich eine Person mit Bewusstsein, Gefühlen etc. bin, denselben Status wie die Wahrnehmung hat, dass ich auch Eigenschaften mit nicht-personalen Entitäten teile. Es scheint plausibel zu sein, davon auszugehen, dass ein Mensch nicht in derselben Weise Person ist, wie er Eigenschaften einer nicht-personalen Entität hat. Auch mit dem zweiten Argument aus Mysticism – der Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten und der Verbindung dieser Unterscheidung mit der Tradition einer negativen Theologie – erweist Alston seiner grundsätzlich realistischen Position einen Bärendienst, indem er sich hier eine letztlich anti-realistische Konzeption religiöser Erfahrung zu eigen macht. 44 Wie bereits angedeutet wählt Alston in Perceiving God John Hicks Theorie der religiösen Vielfalt gerade deswegen nicht als Ausweg aus dem Problem der religiösen Vielfalt, weil sie eher als Vorschlag für eine »reconception of religious doxastic practices« anstatt als Beschreibung und Auswertung dieser Praxen angesehen werden muss. Die meis44

Dass Alston sich diese Konzeption zu eigen macht und dass er sie nicht nur referiert, lässt sich gerade daran ablesen, dass er in dieser Konzeption eine Möglichkeit sieht, das Problem der religiösen Vielfalt als Einwand gegen den epistemologischen Wert von MP zu entkräften. Vgl. Alston, Mysticism, S. 212–213.

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ten religiösen Menschen hätten ein realistisches Verständnis ihrer Überzeugungen. Sie gingen davon aus, dass ihre Überzeugungen einen Zugang zur höchsten Wirklichkeit darstellen, wie sie wirklich in sich selbst und in ihrer Relation zur Schöpfung ist. 45 Genau diese Selbstverständlichkeit eines direkten Realismus im Hinblick auf den perzeptuellen Zugang zur höchsten Wirklichkeit stellt Alston mit seinen Überlegungen aus Mysticism in Frage. Denn diesen Überlegungen folgend stellen z. B. die Wahrnehmungen Gottes in CMP keinen Zugang zur höchsten Wirklichkeit an sich dar, was zur Folge hat, dass die entsprechenden M-beliefs nicht im strikten Sinne wahr sind. Alston muss sich somit ebenso wie Hick fragen lassen, wie man einerseits einen metaphysischen Realismus – die höchste Wirklichkeit bzw. bei Hick das »Real« existieren unabhängig vom menschlichen Erkenntnisvermögen – und andererseits eine Art epistemologischen Anti-Realismus – wir erfahren oder erkennen die höchste Wirklichkeit nicht, wie sie an sich ist, sondern jeweils in Abhängigkeit von unserem menschlichen Erkenntnisvermögen – konsistent vertreten kann. 3.2 Wie stark mindert das Problem der religiösen Vielfalt die Rationalität, an CMP oder einer anderen MP teilzunehmen? Alston gesteht in Perceiving God zu, dass das Problem der religiösen Vielfalt die Rationalität, an CMP oder einer anderen MP teilzunehmen, gemindert habe. Er ist allerdings davon überzeugt, dass insbesondere durch das kontrafaktische Beispiel der verschiedenen SP gezeigt werden kann, dass diese Minderung nicht dazu führt, dass es irrational sei, sich an CMP zu beteiligen, so dass trotz des Problems der religiösen Vielfalt M-beliefs prima facie gerechtfertigt seien. Eine Kritik an dieser Schlussfolgerung Alstons aus seiner Diskussion der religiösen Vielfalt in Perceiving God kann an verschiedenen Punkten ansetzen. So könnte man zunächst seine Voraussetzung eines Worst-Case-Scenarios in Frage stellen, wonach es keine externen Gründe gibt, die Verlässlichkeit einer der MP aufzuzeigen. Die Voraussetzung eines solchen Worst-Case-Scenarios ist wichtig für seine These, dass die epistemologische Bürde der Inkompatibilität im Fall der religiösen Vielfalt dadurch gemindert wird, dass im Gegensatz zu den Zeugenberichten eines Autounfalls oder unterschiedlicher Methoden, das Wetter vorherzusagen, hier keine gemeinsame Prozedur vorliege, die Inkompatibilitäten beizulegen. Geht man wie Alston von der Möglichkeit einer natürlichen Theologie aus, scheint es aber eine solche gemeinsame Prozedur zumindest prinzipiell zu geben bzw. es stimmt nicht, dass wir keine Vorstellung hätten, wie ein nichtzirkulärer Beweis für die Verlässlichkeit der MP aussehen könnte. Nachdem die prinzipielle Möglichkeit externer Gründe, um die Inkompatibilitäten aufzuklären,

45

Vgl. Alston, Perceiving, S. 265–266.

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aber ausreichend ist, um den faktischen Mangel an externen Gründen epistemologisch zu diskreditieren, gilt für die Konflikte unter den MP dasselbe wie für die Konflikte unter den Methoden, das Wetter vorherzusagen: Solange ich als Teilnehmer an CMP keine externen Gründe angeben kann, kann ich mich nicht mit vollem Zutrauen an meine Überzeugungen, die den Überzeugungen anderer MP widersprechen, halten. Ein Einfallstor für kritische Einwände stellt auch Alstons kontrafaktisches Beispiel mit den verschiedenen SP und seine Eignung dar, als Parallelfall zur Inkompatibilität der MP zu gelten. 46 William Wainwright hat außerdem darauf hingewiesen, dass sich nur für Angehörige von CMP oder einer anderen MP die Haltung nahelegt, trotz mangelnder externer Gründe und faktischer Inkompatibilität der eigenen MP zu trauen. Für jemanden, der an keiner MP teilnimmt, sei es angesichts der Inkompatibilität dagegen rational, sich eines Urteils über den Rechtfertigungszustand der jeweiligen M-beliefs zu enthalten. 47

Resümee Abschließend kann man festhalten, dass das Problem der religiösen Vielfalt ein ernstes Problem für einen direkten Realismus hinsichtlich vermeintlicher Wahrnehmungen Gottes darstellt, auch wenn Alston versucht, das Problem auf die Ebene der »basic belief systems« zu verschieben. Bei seinen Versuchen, das Problem der religiösen Vielfalt von der Ebene der Wahrnehmung und der M-beliefs fernzuhalten, bemüht Alston zudem Argumente, die auf eine indirekte Adaption eines Anti-Realismus mit Bezug auf vermeintliche Wahrnehmungen Gottes schließen lassen. Gewiss ist z. B. John Hicks Theorie der religiösen Vielfalt ein zumindest bedenkenswerter Ausweg aus dem Problem der religiösen Vielfalt. 46 47

Vgl. dazu Wainwright, Religious Experience und Quinn, Thinner Theologies. Alstons Argument lässt sich folgendermaßen rekonstruieren (vgl. dazu Wainwright, Religious Experience, S. 220). Demnach ist der ›religiös Unmusikalische‹ (= A) zur rationalen Einschätzung religiöser Überzeugungen auf das Zeugnis von Teilnehmern an MP angewiesen. Nach Alston gebe es drei Bedingungen, auf der Grundlage dieses Zeugnisses zu einer gerechtfertigten Überzeugunge zu gelangen. Diese Bedingungen sind: 1) Eine Person X ist prima facie in der Überzeugung gerechtfertigt, dass p. 2) X teilt einer Person Z mit, dass p. 3) Z ist gerechtfertigt in der Annahme, dass X gerechtfertigt ist, davon überzeugt zu sein, dass p. Das Problem ist nun, dass A ähnliche Gründe für die Annahme hat, dass z.B. eine buddhistische mystische doxastische Praxis (= BMP) und dass CMP jeweils prima facie-gerechtfertigte Überzeugungen hervorbringen. Ebenso hat A ähnliche Gründe dafür, jeweils das Zeugnis derjenigen, die an den beiden grundverschiedenen doxastischen Praxen teilnehmen, zu akzeptieren. Zumindest die »basic belief systems« dieser verschiedenen MP sind aber inkompatibel, so dass auch die jeweiligen Überzeugungen als Produkte der beiden MP inkompatibel sind. Deswegen sind alle Gründe, die A hat, den von BMP hervorgebrachten Überzeugungen zuzustimmen Gründe gegen die Zustimmung der von CMP hervorgebrachten Überzeugungen (und umgekehrt). Und das sei ein guter Grund für A, sich der Zustimmung ganz zu enthalten.

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Folgt man John Hick, kann man jedoch nicht mehr einen direkten Realismus mit Blick auf (vermeintliche) Wahrnehmungen Gottes vertreten. Will man wie Alston angesichts des Problems der religiösen Vielfalt an einem direkten Realismus festhalten, müsste man anders argumentieren als Alston. Eine Möglichkeit wäre, eine Art Phänomenologie des Heiligen zu entwickeln, also eine Beschreibungsebene für mystische Wahrnehmungen der Religionen zu finden, auf der sich eine größtmögliche Kompatibilität der Beschreibungen herstellen lässt. Die Problematik dieses Ansatzes einer Phänomenologie des Heiligen besteht jedoch u. a. gerade darin, eine solche religionsübergreifende Beschreibungsebene überhaupt erst zu finden. 48

Literaturverzeichnis Alston, William P.: Perceiving God. The Epistemology of Religious Experience, Ithaca/London 1991. Ders.: »Précis of Perceiving God«. In: Philosophy and Phenomenological Research, 54, 1994, Heft 4, S. 863–868. Ders.: »Religious Diversity and Perceptual Knowledge of God«. In: The philosophical challenge of religious diversity, hg. von Philip L. Quinn/Kevin Meeker. New York 2000, S. 193–207. Ders.: »Mysticism and Perceptual Awareness of God.« In: The Blackwell Guide to the Philosophy of Religion, hg. von William E. Mann. Malden 2005, S. 198–218. Hick, John: An Interpretation of Religion. Human Responses to the Transcendent. Second Edition, Yale 2004. Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hg. von Raoul Richter. Hamburg 1964. Quinn, Philip L.: »Towards Thinner Theologies. Hick and Alston on Religious Diversity«. In: The philosophical challenge of religious diversity, hg. von Philip L. Quinn/Kevin Meeker. New York 2000, S. 226–243. Ders.: »Religious Diversity: Familiar Problems, Novel Opportunities«. In: The Oxford handbook of philosophy of religion, hg. von William J. Wainwright. Oxford 2005, S. 392– 417. Wainwright, William J.: »Religious Experience and Religious Pluralism«. In: The philosophical challenge of religious diversity, hg. von Philip L. Quinn/Kevin Meeker. New York 2000, S. 218–225.

48

Vgl. dazu auch den Beitrag von Alexandra Grund in diesem Band.

Elisabeth Heinrich

WIE REALISTISCH IST WILLIAM P. ALSTONS THEORIE DER ERSCHEINUNG?

In Elisabeth Heinrichs Beitrag Wie realistisch ist William P. Alstons Theorie der Erscheinung? geht es um die Frage, ob der von Alston erhobene Anspruch, in Perceiving God einen erkenntnistheoretischen Realismus zu vertreten, aufrecht erhalten werden kann. Im ersten Teil wird die von Alston behauptete strukturelle Identität von Sinneswahrnehmung und sog. mystischer Wahrnehmung herausgearbeitet und problematisiert. Der zweite Teil enthält eine Rekonstruktion von Alstons Theorie der Erscheinung, einer seinem Selbstverständnis nach realistischen Theorie der Objektwahrnehmung. Vor dem Hintergrund der Phänomenologie Brentanos stellt die Autorin im abschließenden dritten Teil den realistischen Anspruch Alstons in Frage. Insbesondere wendet sie ein, dass Alston das Erscheinen als eine Relation zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt versteht, in die die Objekteigenschaften nicht eingeschlossen sind. Diese werden eher auf das Erkenntnissubjekt zurückgeführt.

In seinem religionsphilosophischen Hauptwerk Perceiving God. The Epistemology of Religious Experience vertritt William P. Alston eine Erkenntnistheorie, in deren Zentrum der Begriff der ›mystischen Wahrnehmung‹ (mystical perception) steht. Alston bezieht sich mit diesem Begriff auf eine Art religiöser Erfahrung, deren Eigenschaften jenen gewöhnlicher sinnlicher Erfahrung (sense perception) ähneln. Für die Rechtfertigung religiöser Überzeugungen kann religiöse Erfahrung daher nach Alston eine ähnliche Funktion übernehmen, wie die Sinneserfahrung für die Rechtfertigung empirischer Überzeugungen. 1 Alston entwickelt seine Theorie der Wahrnehmung als eine Theorie der Erscheinung (theory of appearing). Mit dieser nimmt er die Position eines ›direkten‹ oder ›naiven‹ Realismus ein, den er auch auf die Wahrnehmung Gottes überträgt. Ich werde im Folgenden Alstons Begriff der Wahrnehmung und seine Theorie der Erscheinung analysieren und einer kritischen Prüfung unterziehen. Dabei soll es insbesondere um die Frage gehen, ob Alston in Perceiving God tatsächlich einen echten erkenntnistheoretischen Realismus vertritt, wie dies von ihm selbst behauptet wird. 1

Vgl. hierzu den Beitrag von Winfried Löffler in diesem Band.

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I. Die empirische Grundlage der religionsphilosophischen Überlegungen Alstons in Perceiving God bilden Berichte über Gotteserfahrungen, welche große Mystiker der Tradition, aber auch religiöse Laien der neueren Zeit niedergelegt haben. Die Art der religiösen Erfahrung, die in diesen Berichten begegnet, bezeichnet Alston als ein ›vermeintliches, direktes Bewusstsein Gottes‹ (putative direct awareness of God). Es handelt sich dabei um plötzliche und überwältigende Erfahrungen der Gegenwart Gottes, 2 die Alston von einer weniger intensiven, aber länger anhaltenden Form des vermeintlichen direkten Bewusstseins Gottes unterscheidet, wie sie etwa ein Gefühl der Gegenwart Gottes darstellt, das den konstanten Hintergrund für die Erfahrungen des Alltags bilden kann. 3 Alston konzentriert sich in seinen Darlegungen auf die erstgenannte Form der religiösen Erfahrung, wohl nicht zuletzt deshalb, weil diese sich leichter mit der gewöhnlichen Sinneserfahrung vergleichen lässt. Alston spricht im Zusammenhang mit der Erfahrung Gottes zunächst von einem ›vermeintlichen‹ direkten Bewusstsein Gottes, um nicht, ähnlich wie Swinburne, 4 den ›Erfolgs‹-Charakter der Wahrnehmung zu präjudizieren und damit die Frage nach der tatsächlichen Existenz Gottes und nach der Möglichkeit einer für die Gotteserfahrung geeigneten Beziehung zwischen Subjekt und Objekt als entschieden vorauszusetzen. Für seine rein phänomenologische Analyse der Erfahrung Gottes klammert Alston den ›Erfolgs‹-Charakter explizit aus, so dass der Zusatz ›vermeintlich‹ entfallen kann. 5 Die oben beschriebene Art der Erfahrung Gottes fasst Alston unter den Begriff der ›mystischen Wahrnehmung‹ (mystical perception [MP]), wobei er den Terminus mit einem gewissen Vorbehalt wählt, da er gänzlich von der in der Tradition geläufigen Bedeutung abweicht. 6 Leitend bei der Rekonstruktion von MP ist das Paradigma der Sinneswahrnehmung (sense perception [SP]). Alston grenzt sich in diesem Zusammenhang von solchen Theoretikern ab, die die hier diskutierten Erfahrungen als rein subjektive Gefühle oder Empfindungen ansehen und eine Erklärung dafür benötigen, weshalb diese von Gott, dem Heiligen Geist oder einem anderen religiösen Gegenüber herrühren sollen. 7 Das in den Quellen beschriebene Bewusstsein der Gegenwart Gottes weist nach Alston vor allem drei Merkmale auf, die es nahelegen, dieses als eine Wahr2 3 4 5 6

7

Vgl. Alston, Perceiving, S. 12ff. Vgl. ebd., S. 32f. Vgl. hierzu den Beitrag von Gregor Nickel und Dieter Schönecker in diesem Band. Vgl. Alston, Perceiving, S. 11. Alston entscheidet sich für diesen Terminus, da er ein Pendant zum Begriff der Sinneswahrnehmung benötigt (vgl. ebd.). Vgl. ebd., S. 16/39ff.

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nehmung Gottes zu klassifizieren: (a) Es handelt sich um ein erfahrungsförmiges Bewusstsein von Gott (an experiential awareness of God); (b) es handelt sich um eine direkte Wahrnehmung Gottes (direct perception of God); (c) es handelt sich um ein Bewusstsein Gottes (awareness of God). Ad a) Die Quellen berichten nach Alston vom Bewusstsein einer Erfahrung Gottes (an experiential awareness of God), welches mit SP das Merkmal des Gegebenseins oder der Gegenwärtigkeit (presence) gemeinsam hat: »Our sources take it that something, namely, God, has been presented or given to their consciousness, in generically the same way as that in which objects in the environment are (apparently) presented to one’s consciousness in sense perception.« (Perceiving, S. 14) Alston verdeutlicht das Spezifische einer Erfahrung in Abgrenzung zum bloßen Denken, Erinnern oder Vorstellen. Habe ich im ersten Fall ein Bewusstsein von der unmittelbaren Gegenwart eines Objekts, so ist mir beim bloßen An-etwasdenken, Erinnern oder Vorstellen die Abwesenheit des Gegenstandes bewusst. 8 Betont Alston einerseits eine Übereinstimmung zwischen SP und MP hinsichtlich des Charakters der Gegenwärtigkeit, so anerkennt er andererseits eine spezifische Differenz, die den phänomenalen Gehalt betrifft. SP haben ausschließlich sinnliche, MP in der Regel nicht-sinnliche Gehalte. So berichten Personen z. B. von der plötzlichen Wahrnehmung der persönlichen Gegenwart Gottes oder eines weisen, gütigen und wohlgesonnenen Wesens im Raum, ohne dass diese Wahrnehmung von einem sinnlichen Eindruck begleitet ist. 9 Zwar kennt Alston auch Berichte, in denen die religiöse Erfahrung eine Wahrnehmung sinnlicher Qualia einschließt, wenn etwa die Gläubigen ein Licht gesehen, große Wärme gespürt oder eine Stimme gehört haben. 10 Alston konzentriert sich in Perceiving God jedoch auf MP von nicht-sinnlichem Gehalt, denn: »It seems clear that a nonsensory appearance of a purely spiritual deity has a greater chance of presenting Him as He is than any sensory presentation« (Perceiving, S. 20). In der Tat liegt aber eines der großen Probleme Alstons darin, nicht deutlich machen zu können, worin der Wahrnehmungsgehalt einer MP besteht, wenn hier nicht irgendein sinnlicher Gehalt gegeben ist. 11 Ad b) MP stellt sich Alston in den Berichten als eine direkte Wahrnehmung Gottes (direct perception of God) dar. Gott ist dem Subjekt so unmittelbar präsent, wie ihm im Falle von SP eine Person unmittelbar präsent ist, sofern diese nicht aufgrund von etwas anderem, Y, wahrgenommen wird (z. B. durch einen Spiegel

8 9 10 11

Vgl. ebd., S. 14f. Vgl. ebd., S. 15ff. Vgl. ebd., S. 18f. Vgl. hierzu den Beitrag von Gregor Nickel und Dieter Schönecker in diesem Band.

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oder durch Bilder im Fernsehen). Hier läge eine Form von Wahrnehmung vor, bei der sich der Gegenstand selbst außerhalb des Gesichtsfelds befände. MP schließt allerdings das Bewusstsein einer Differenz zwischen Subjekt und Objekt ein. Im Hinblick auf die Unmittelbarkeit bezeichnet Alston MP daher auch als eine Wahrnehmung von der Art vermittelter Unmittelbarkeit (mediated immediacy), denn das Subjekt S ist sich des wahrgenommenen Gegenstandes X durch einen Bewusstseinszustand bewusst, der von X unterscheidbar ist. MP unterscheidet sich damit von Wahrnehmungen absoluter Unmittelbarkeit (absolute immediacy), die keine Unterscheidung zwischen dem Bewusstseinszustand eines Subjekts S und dem wahrgenommenen Gegenstand X zulassen. Alston denkt hier an die Erfahrung der unio mystica, einer aus seiner Sicht außerordentlichen mystischen Erfahrung (extreme mystical experience). Ad c) Die von Alston untersuchten Quellen berichten von einem Bewusstsein Gottes (awareness of God). Allerdings hält Alston den Gottesbegriff im Eingangskapitel von Perceiving God sehr vage. Als Kriterium für MP stellt er die Bedingung auf, dass das Subjekt in Begriffen der führenden theistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) über das wahrgenommene Objekt denkt. 12 Eine Erweiterung des Objektbegriffs von MP stellt Alston für spätere Kapitel des Buches in Aussicht. 13 Es ist deutlich geworden, dass Alston MP und SP als zwei Arten einer Gattung, der Wahrnehmung, auffasst, deren spezifische Differenz im phänomenalen Gehalt liegt. Problematisch daran ist, dass Alston nicht zeigen kann, worin der phänomenale Gehalt von MP liegt, wenn es kein sinnlicher ist. Alston kann darüber hinaus nicht umhin, auch formale Unterschiede zwischen SP und MP einzuräumen. So ist SP im Wachzustand fortwährend und dauerhaft, MP hingegen punktuell und selten. SP ist vom Informationsgehalt her reich, MP hingegen dunkel und unklar. Schließlich ist SP universal, MP jedoch nur wenigen Menschen eigen. 14 Alston hält diese Unterschiede allerdings nicht für schwerwiegend genug, um die strukturelle Identität von SP und MP aufzugeben.

II. Alston skizziert in Perceiving God eine allgemeine Theorie der Wahrnehmung, die Theorie der Erscheinung (Theory of Appearing [TA]), mit der er sich erkenntnistheoretisch als ›naiver‹ oder ›direkter‹ Realist verortet. 15 Vor dem Hintergrund seiner Strukturanalyse von SP und MP ist es nur konsequent, dass er die Theo12 13 14 15

Vgl. Alston, Perceiving, S. 29. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 55.

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rie der Erscheinung gleichermaßen auf die gewöhnliche Sinneserfahrung und auf nicht-sinnliche mystische Erfahrungen anwendet. Eine Schwierigkeit stellt dabei die Tatsache dar, dass es den Wahrnehmungen der MP an phänomenalen Qualitäten mangelt. Mit der TA knüpft Alston an die bereits zu Beginn des 20. Jhs. von Hick, Prichard und Barnes vertretene Theory of Appearing an, deren Ziel es war, den Wahrnehmungsbegriff des common sense philosophisch zu rekonstruieren. 16 Im Fokus der Aufmerksamkeit stand dabei ausschließlich die gewöhnliche Sinneswahrnehmung. 17 Alston stellt seine TA in bewusster Entgegensetzung zu sog. externalistischen Theorien dar, die die Bedingungen für Wahrnehmung außerhalb der Sinneserfahrung suchen und deren Begriff von Sinneswahrnehmung den Bezug zu den Gegenständen der Außenwelt nicht berücksichtigt. Namentlich kritisiert er die Sinnesdatentheorie Russels und die sog. Adverbialtheorie Chisholms. So sehe die Sinnesdatentheorie das Objekt des sinnlichen Bewusstseins in den Sinnesdaten oder Wahrnehmungseindrücken, die privater Natur seien. Die Adverbialtheorie verstehe unter der Sinneserfahrung einen Bewusstseinszustand, nicht aber ein Gegenstandsbewusstsein (d. h. ein Bewusstsein von Etwas). Wahrnehmungen lägen gemäß dieser Theorien erst vor, wenn zusätzliche Bedingungen erfüllt sind. Im Falle der Sinnesdatentheorie sei dies eine kausale Relation zwischen dem Gegenstand X und der Sinneserfahrung E. Für die Vertreter der Adverbialtheorie liege eine Wahrnehmung nur dann vor, wenn eine doxastische Bedingung erfüllt ist, nämlich die, dass aufgrund der Sinneserfahrung E eine Überzeugung bezüglich des Gegenstandes X gebildet worden ist. 18 Demgegenüber ist nach Alston die Analyse des Begriffs der Objektwahrnehmung durch die TA von einer geradezu ›atemberaubenden Einfachheit‹: »For S to perceive X is simply for X to appear to S as so-and-so. That is all there is to it.« (Perceiving, S. 55) In Alstons TA gilt die Relation des Erscheinens als konstitutiv für jeden Fall von Sinneswahrnehmung, d. h. jede Sinneswahrnehmung besitzt eine » ›act-object‹-structure« (Perceiving, S. 56). Der Begriff des Erscheinens von X für S ist dabei fundamental und nicht weiter analysierbar. Alston vertritt somit in Perceiving God einen Wahrnehmungsrealismus, der besagt, dass wir einen direkten Zugang zu den Dingen haben. Wahrnehmung wird in der TA als ein unmittelbares Gegebensein von Gegenständen und als eine nichtbegriffliche Erkenntnisart verstanden. Mit dieser Festlegung wendet sich Alston gegen Kant und die idealistische Kritik am Begriff des direkten Bewusstseins von Objekten im 19. Jh. Die damals vertretene Ansicht, alles Erkennen werde durch

16 17 18

Vgl. z.B. Prichard, Knowledge and Perception; Barnes, Seeing and Hearing, S. 63–82. Diesen Hinweis entnehme ich Wasmaier, Pragmatismus und Realismus, S. 21. Vgl. Alston, Perceiving, S. 56ff.

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allgemeine Begriffe und Urteile vermittelt, erscheint Alston als ein unbegründetes Vorurteil. 19 Inwiefern kann nun die im Hinblick auf die SP entwickelte TA Anwendung auf MP finden? Lässt sich die Position des direkten Realismus auf MP übertragen? Oder schränkt MP als eine Klasse nicht-sinnlicher Wahrnehmungen den Geltungsbereich von TA ein? Alston rekurriert zur Klärung dieser Frage auf seine Analyse des in den Quellen beschriebenen Bewusstseins der Gegenwart Gottes. Diese hatte als erstes hervorstechendes Merkmal ein direktes Gewahren Gottes ergeben, in dem Gott sich dem Subjekt zu präsentieren scheint. Die mystische Erfahrung erfüllt somit die phänomenologische Anforderung für den Status einer Wahrnehmungsform: Sie beinhaltet die Präsentation eines Objekts (Gott). Ein Problem für die Anwendung der TA auf MP stellt jedoch die Tatsache dar, dass sich das wahrgenommene Objekt nicht mittels phänomenaler Qualitäten präsentiert. Die Quellen berichten vielmehr von komplexen charakterlichen Eigenschaften oder Handlungen wie z. B. Macht, Güte oder Liebe. Aber kann sich etwas der Erfahrung überhaupt als mächtig, gütig, liebend etc. präsentieren? Macht, Güte, Liebe etc. sind keine phänomenalen Begriffe, und dennoch meint Alston, dass durch den Gebrauch solcher Begriffe darüber berichtet werden kann, wie Gott der Erfahrung erscheint. Es gebe Alternativen zum Gebrauch phänomenaler Begriffe, die auch in der SP häufig angewandt werden, vor allem den Gebrauch komparativer Begriffe. Die Quellen, auf die Alston sich stützt, nutzten komparative Begriffe um anzugeben, wie Gott ihnen erscheint. 20 Im Hinblick auf SP und MP unterscheiden wir also nicht verschiedene Arten oder Formen der Erscheinung, sondern verschiedene Arten der Begriffsbildung. Es ist jedoch zu fragen, ob es eine unverwechselbare Art gibt, in der sich ein mächtiges, gütiges, liebendes Wesen präsentiert. Alston ist davon überzeugt, dass aus Erfahrung gelernt werden kann, welche Eigenschaften und Handlungen Gottes durch die Art, wie Gott sich der Erfahrung präsentiert, erkannt werden können. 21 Allerdings hält er es für unmöglich, die grundlegenden phänomenalen Qualitäten aufzuzählen, die göttliche Phänomene erzeugen. Dies ist für ihn jedoch kein Grund daran zu zweifeln, dass göttliche Erscheinungen distinkte phänomenale Eigenschaften haben. 22 19 20

21 22

Vgl. ebd., S. 37f. Vgl. ebd., S. 45ff. A. Hansberger ist in Gott wahrnehmen der Ansicht, dass in der Verwendung komparativer Beschreibungsweisen keine Lösung des Wahrnehmungsproblems für MP zu sehen ist. Denn die Verwendung solcher Beschreibungsweisen setze voraus, »dass die Wahrnehmungserfahrungen tatsächlich in ihrem phänomenalen Gehalt vergleichbar sind.« (S. 122) Vgl. Alston, Perceiving, S. 47. Eine Unterstützung der Annahme, dass mystische Wahrnehmung distinkte nicht-affektive Qualia beinhaltet, sieht Alston in Origines’ Lehre von den spirituellen Empfindungen. Origines zeigt, dass mystische Wahrnehmung eine Vielzahl von Ähnlichkeiten und Unterschieden phänomenaler Qualia

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Folgt man Alston, so zeigt sich, dass die TA gegenüber der Art des phänomenalen Gehalts einer Wahrnehmung neutral ist, eine Anwendbarkeit auf sinnliche und nicht-sinnliche Wahrnehmungen also gleichermaßen möglich ist.

III. Es soll nun gefragt werden, ob Alstons Theorie der Erscheinung in Perceiving God den Anforderungen eines erkenntnistheoretischen Realismus entspricht und damit auch in dem von ihm gewünschten Umfang zu einer Lösung der Rechtfertigungsproblematik von religiösen Überzeugungen beitragen kann. Bedauerlicherweise wird die TA, die für Alston durchaus grundlegend ist, in Perceiving God nur skizzenhaft dargestellt und wenig entfaltet. Das Werk enthält jedoch markante Charakterisierungen und Bezugnahmen, von denen ich in meinen folgenden Überlegungen ausgehe. Die Relation der Erscheinung weist nach Alston eine Akt-Objekt-Struktur auf. Damit bezieht er sich auf einen Gedanken, den in neuerer Zeit vor allem Brentano bearbeitet hat. Alston knüpft auch mit weiteren Formulierungen an die Tradition der Phänomenologie an, etwa wenn er in der TA die Wendung »being presented« als Synonym für »appearing« einsetzt (Perceiving, S. 55). Er geht aber in seiner Theorie nicht näher auf Brentanos ontologische Analyse der Intentionalität ein, sondern berücksichtigt nur Chisholms Abwandlung von Brentano, die sog. adverbiale Theorie der Erkenntnis, bei der die Beziehung zum Objekt gerade verloren geht. Wie oben dargestellt, weist Alston die adverbiale Theorie der Erkenntnis aus diesem Grunde auch zurück. Er selbst hält sich an die besagten Vertreter der theory of appearance, die sich auf die Rekonstruktion der Auffassung des common sense beschränken. Daher kommen die ontologischen Schwierigkeiten einer intentionalen Relation, denen z. B. Brentano zu begegnen versucht, bei Alston gar nicht erst zum Vorschein. 23 Ganz entscheidend für einen erkenntnistheoretischen Realismus ist es aus meiner Sicht, dass eine Beziehung des Subjekts zu dem Ding und seinen Eigenschaften besteht. Dies ist aber in Alstons TA offenbar nicht eingelöst. Bereits Alstons Erklärung des Realismus in der Einleitung von Perceiving God hält nur

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beinhaltet, die zu einem großen Maß zu den Ähnlichkeiten und Unterschieden sinnlicher Qualia parallel laufen (vgl. ebd., S. 51f.). Ich denke hier etwa an Brentanos Bemühungen, auch solche mentalen Akte in die intentionale Beziehung zu setzen, deren Objekt nicht existiert (z.B. im Fall des Irrtums oder der Halluzination). Brentano fasst die Kategorie der Relationen so, dass eine Relation zwischen zwei Relata auch dann bestehen kann, wenn nicht beide existieren; vgl. Brentano, Psychologie, Anhang I. Von jenen Schwierigkeiten einer Relation zwischen Akt und Objekt ahnt Alston offenbar nichts, sonst würde er nicht so begeistert von der ›atemberaubenden Einfachheit‹ seiner Theorie der Erscheinung sprechen (s.o.).

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die Bewusstseinsunabhängigkeit des Objekts fest und stellt diesem die Begriffe, die wir darauf anwenden, gegenüber: […] this discussion is conducted from a full-bloodedly realist perspective, acording to which in religion as elsewhere we mean what we assert to be true of realities that are what they are regardless of what we or other human beings believe of them, and regardless of the ›conceptual scheme‹ we apply to them […]. (Perceiving, S. 4)

Die Begriffe werden also nach Alston vom Erkenntnissubjekt an das Erkenntnisobjekt herangetragen. Darüber hinaus lässt das Zitat erkennen, dass das Erkenntnisobjekt für Alston seine Eigenschaften nicht einschließt. Offenbar ist Alston der Ansicht, es sei für den erkenntnistheoretischen Realismus nicht relevant, dass z. B. die Tulpenblüte die Eigenschaft, gelb zu sein, hat (weil es sich dabei nur darum handelt, dass wir den Begriff des Gelben auf die Tulpenblüte anwenden). Alston will als Realist nur darauf bestehen, dass die Tulpe unabhängig von unserer Erkenntnis existiert. Dass der Realist auch deren Eigenschaften für unabhängig erklärt, hält er nicht für notwendig. Die Unabhängigkeit des Erkenntnisobjekts bedeutet aber nicht viel im Hinblick auf den erkenntnistheoretischen Realismus, wenn diese nicht mit der Bewusstseinsunabhängigkeit von dessen Eigenschaften einhergeht. Das Bekenntnis Alstons zu einem unabhängigen Erkenntnisobjekt ist daher von einem echten Realismus weit entfernt. Um das Erscheinen zu paraphrasieren, formuliert Alston, wie bereits oben zitiert, an anderer Stelle auch: »For S to perceive X is simply for X to appear to S as so-and-so.« (Perceiving, S. 55). Daraus, dass Alston nur die beiden Variablen »S« und »X« einsetzt, ist zu ersehen, dass er das Erscheinen als eine Relation auffasst, und zwar als eine zweistellige Relation. Die ersten Relata dieser Relation sind immer Erkenntnissubjekte, repräsentiert durch die Variable S, und die zweiten Relata, repräsentiert durch die Variable X, immer Erkenntnisobjekte. Diese Objekte, ohne ihre Eigenschaften, wären bloße Einzeldinge, was im Hinblick auf den Realismus aber noch keine Schwierigkeit darstellt. Unvereinbar mit dem erkenntnistheoretischen Realismus ist es jedoch, dass Alston nicht die Eigenschaften des Erkenntnisobjekts durch die Relation des Erscheinens verbinden lässt, d. h. die wahrgenommenen Eigenschaften werden nicht als weiteres Relatum der Relation des Erscheinens analysiert. Alston fasst also die Relation des Erscheinens nicht als eine dreistellige Relation auf, was dazu passt, dass er die Begriffe als etwas versteht, das vom Erkenntnissubjekt an den Erkenntnisgegenstand herangetragen wird. Man kann also sagen, dass nach Alston nur die Objekte, nicht aber ihre Beschaffenheiten, das Wahrgenommene, Erkannte oder Erscheinende sind. 24 Die 24

Ganz anders verhält sich dies z.B. in der Erkenntnislehre Brentanos. Hier ist das Objekt ein Komplex aus Eigenschaften. Das zweite Relatum der intentionalen Relation schließt somit das Sosein ein; vgl. Brentano, Psychologie, 7. Kap., § 5.

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Beschaffenheiten kommen als unsere Begriffe hinzu, wie in dem oben erläuterten Zitat aus der Einleitung bereits deutlich wurde. Schon die Rede, X erscheine dem S als ein So-und-so, ist historisch eher einer anti-realistischen Tendenz zuzuordnen. Dabei wird das Sosein als Beitrag des Erkenntnissubjekts verstanden. Eine solche Auffassung verträgt sich durchaus mit der von Alston an anderer Stelle betonten Unterscheidung zwischen dem Erscheinen des Objekts mit einer bestimmten Beschaffenheit und dem tatsächlichen Haben dieser Beschaffenheit. Auch wenn der Begriff der Beschaffenheit ein Beitrag des Subjekts ist, kann das Fallen eines Objekts unter einen Begriff trotzdem subjektunabhängig sein. Alston grenzt sich mit jener Unterscheidung von der naivsten aller denkbaren Formen des Realismus ab: »It [die TA, E.H.] differs from the most naive conceivable form of realism only in recognizing that what an external object presents itself as may diverge from what that object actually is.« (ebd.) Trifft meine Analyse zu, so ist Alstons Bekenntnis zu einem unabhängigen physischen Objekt von einem echten erkenntnistheoretischen Realismus weit entfernt und weist eher eine Nähe zu Kants Rede von einem Ding an sich auf. Kant erklärt das Ding an sich allerdings für unerkennbar, während Alstons Objekt an sich gerade das Objekt unserer Erkenntnis sein soll. Darin bestünde dann ein Unterschied zwischen Alston und Kant. Trotz seines Bekenntnis zu einem ›direkten‹ Realismus vertritt Alston in seiner TA also auch antirealistische Auffassungen. Dies ist ein Befund, der die Erkenntnistheorie Alstons schwächen mag und seine Bemühungen um eine Rechtfertigung religiöser Überzeugungen auf der Grundlage der TA fragwürdig erscheinen lässt. Er kann jedoch dazu beitragen, die mit der Diversitätsproblematik verbundenen Aporien zu relativieren. 25

Literaturverzeichnis Alston, William P.: Perceiving God. The Epistemology of Religious Experience, Cornell 1993. Barnes, Winston H. F.: »On Seeing and Hearing«. In: Contemporary British Philosophy, Band III, hg. von Hywel D. Lewis. London 1956, S. 63–82. Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkt, Band 2: Von der Klassifikation der psychischen Phänomene, mit Einleitung, Anmerkungen und Register, hg. von Oskar Kraus. Hamburg 1971. Hansberger, Andreas: »Gott wahrnehmen. William Alstons perzeptives Modell religiöser Erfahrung«. In: Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch, hg. von Friedo Ricken. Stuttgart 2004, S. 113–125. Prichard, Harold A.: Knowledge and Perception, Oxford 1970. Wasmaier, Margit.: Zwischen Pragmatismus und Realismus. Eine Analyse der Religionsphilosophie von William P. Alston, Frankfurt a.M. u.a. 2007. 25

Vgl. hierzu den Beitrag von Sebastian Maly in diesem Band.

Alexandra Grund

DAS HEILIGE IN DER VIELFALT DER ERFAHRUNGEN Zum epistemologischen Realismus und seinen Schwierigkeiten am Beispiel der religionsphilosophischen Konzepte von R. Otto und W. Gantke

Dieser Beitrag diskutiert R. Ottos Schrift Das Heilige (1917) und die religionswissenschaftliche Studie von W. Gantke Der umstrittene Begriff des Heiligen (1998) hinsichtlich einiger charakteristischer Probleme realistischer Positionen religiöser Epistemologie. Auch wenn beide Entwürfe keine genuin religionsphilosophischen Beiträge der neuen Debatte der analytischen Philosophie darstellen, sind sie von Interesse, da sie religiöse Erfahrungen außerhalb der theistischen Religionen programmatisch einbeziehen. Während Ottos These eines allen religiösen Erfahrungen im Letzten Vorgegebenen (»das Heilige«) der Divergenz des Inhalts religiöser Erfahrungen in den Religionen bzw. anderen als Heiligkeitserfahrungen nicht gerecht wird, sucht Gantke gegenüber einem ahistorischen Verständnis des Heiligen den Gedanken einer Geschichtlichkeit des Heiligen zu entwickeln und versucht, ihn auf eine ›Familienähnlichkeit‹ irreduzibel pluraler religiöser Erfahrungen zu beziehen. Doch verbleibt auch hier immer noch eine Reihe von Fragen, etwa danach, ob die singularische und bestimmte Rede von »dem Heiligen« nicht eine unangemessene Homogeneität bzw. einen einheitlichen Ursprung dieser Erfahrungen impliziert.

In diesem Beitrag diskutiere ich R. Ottos einflussreiche Schrift Das Heilige (1917) 1 und die religionswissenschaftliche Studie von W. Gantke Der umstrittene Begriff des Heiligen (1998) 2, um einige in diesen Entwürfen aufkommende charakteristische Probleme realistischer Positionen religiöser Epistemologie aufzuzeigen. Beide Entwürfe stellen offensichtlich keine genuin religionsphilosophischen Beiträge der neuen Debatte der analytischen Philosophie dar; ihre impliziten Beiträge können aber mit ihr ins Gespräch gebracht werden. Denn da sie – anders als die Mehrzahl der einschlägigen Beiträge der jüngeren nordamerikanischen religionsphilosophischen Debatte – religiöse Erfahrungen außerhalb der theistischen Religionen pro1 2

Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Otto, Das Heilige. Gantke, Der Begriff des Heiligen.

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grammatisch einbeziehen, dabei auf verschiedene Weise ›realistische‹ Positionen favorisieren und charakteristische Probleme religiöser Epistemologie vor Augen führen, sind sie auch in systematisch-religionsphilosophischer Hinsicht von Interesse.

1. Probleme religiöser Epistemologie im Anschluss an Ottos Entwurf R. Ottos im Grenzbereich von Religionswissenschaft, Religionsphilosophie und Theologie angesiedeltes Werk ist zunächst kurz in Erinnerung zu rufen. Er beschreibt das Erlebnis des Heiligen als eine – so die These – allen Religionen wesentlich zugrunde liegende Erfahrung. 3 Ottos sich unverkennbar an Schleiermacher und an die Kantsche und Friessche Erkenntniskritik anschließende Untersuchung zu Struktur und Inhalt des religiösen Erlebnisses sucht durch Abgrenzung der von der Vernunft und vom Gefühl vermittelten Einsichten das »Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen« 4 zu bestimmen. Das Heilige sei eine für die begriffliche Erfassung unzugängliche, aber dem religiösen Erlebnis irreduzibel vorgegebene Größe sui generis. 5 Während Schleiermacher religiöse Erfahrung als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit vom Unendlichen beschrieb, sieht Otto darin die subjektive Begegnung mit einem objektiv Seienden, 6 das als das »ganz Andere« erlebt wird, als objektiv Gegebenes, schlechthin Übermächtiges. 7

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»Das wovon wir reden und was wir versuchen wollen einigermaßen anzugeben, nämlich zu Gefühl zu bringen, lebt in allen Religionen als ihr eigentlich Innerstes und ohne es wären sie garnicht [sic] Religion« (Otto, Das Heilige, S. 6). So der Untertitel des Werks. Er spricht von einer »eigentümlichen numinosen Deutungs- und Bewertungs-kategorie [sic] und ebenso von einer numinosen Gemüts-gestimmtheit [sic] die allemal da eintritt«, wo ein »Objekt als numinoses vermeint worden ist. Da diese Kategorie vollkommen sui generis ist so ist sie wie jedes ursprüngliche und Grund-datum [sic] nicht definibel im strengen Sinne sondern nur erörterbar« (ebd., S. 7). Damit nimmt er explizit W. James auf, der angesichts der »varieties of religious experience« folgert: »Es ist, als läge im menschlichen Bewußtsein ein Sinn für Realität, ein Gefühl für objektive Gegenwart, eine Wahrnehmung von – man möchte sage – ›da ist etwas‹ tiefer und allgemeiner als irgendeier der einzelnen und besonderen ›Sinne‹, denen die gängige Psychologie das ursprüngliche Entdecken von existierenden Realitäten zuspricht.« (James, Die religiöse Erfahrung, S. 68) Otto unterscheidet verschiedene ›Momente‹ des Numinosen: Das Gefühl der Nichtigkeit des Menschen angesichts eines begrifflich nicht faßbaren Übermächtigen; das ›Kreaturgefühl‹; das Gefühl des mysterium tremendum, des ›schauervollen Geheimnisses‹, das Moment des Übermächtigen und der Erhabenheit des Heiligen, der majestas; das Moment des Mysterium, des ›Ganz Anderen‹, das der menschlichen Erkenntnis entzogen bleibt und ihr Grenzen setzt; das Moment des ›Energischen‹,

Das Heilige in der Vielfalt der Erfahrungen

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Nun wird in religionsphilosophischer und theologischer Literatur unter dem, was als ›religiöse Erfahrung‹ bezeichnet wird, ein breites Spektrum von Erfahrungen unterschiedlichster Struktur und Intensität verhandelt, oft ohne dass ihre Art näher spezifiziert oder gar in eine Typologie eingeordnet wird. 8 Plantinga etwa führt Formen religiöser Wahrnehmung wie den Anblick des Nachthimmels an, die zur Bildung der religiösen Überzeugung »Gott hat das alles geschaffen« führt. 9 Hingegen wird in den von Otto beschriebenen unmittelbaren Erfahrungen eines ›ganz Anderen‹, ebenso wie in den von W. Alston in seiner Untersuchung favorisierten mystischen Erfahrungen, 10 auf wahrnehmungsähnliche, unmittelbare Weise die Erfahrung von einer vorgegebenen heiligen Gegenwart gemacht. Nach der Typologie von C. Franks Davis gehören etwa die von Plantinga angeführten Beispiele zur Gruppe der interpretativen Erfahrungen, 11 während Alston sich vorwiegend mit quasi-sinnlichen und mystischen Erfahrungen und Otto mit numinosen Erfahrungen befasst. Bei einer interpretativen Erfahrung gibt eine sinnliche Wahrnehmung den Anstoß für eine umfassende religiöse Deutung, die auf vorliegende religiöse Traditionen zurückgreift; solche Erfahrungen sind der Art nach eher Intuitionen. Doch liefert die Wahrnehmung selbst hierbei noch keine hinreichende Begründungsbasis für die Bildung von Überzeugungen wie »Gott hat das alles geschaffen«. 12 Der sinnlichen Wahrnehmung sehr ähnliche mystische und numinose Erfahrungen eines als vorgegeben, gegenwärtig erlebten Heiligen sind für die Diskussion realistischer Positionen religiöser Epistemologie von anderer Valenz, da sie unmittelbar die Frage aufwerfen, ob es sich um Täuschungen handelt oder ob sie auf verlässliche Weise zustande gekommen sind. Nach Otto entstehen die auf das Numinose antwortenden Gefühle nun nicht durch Sinneseindrücke, sondern vielmehr aus dem »tiefsten Erkenntnisgrunde der Seele selber«. 13 Diesem ›Seelengrund‹ schreibt er – entsprechend den ›reinen Verstandesbegriffen‹ Kants – die Fähigkeit erkenntnisbegründender Objekterfassung zu. Otto beschreibt das Heilige als eine aus rationalen und irrationalen Momenten zusammengesetzte Kategorie, die nach beiden Momenten eine Kategorie a priori im Kantischen Sinne sei. Mit der – häufig kritisierten – Bestimmung des Heiligen

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der Kraft und Lebendigkeit, das den Menschen mit religiöser Leidenschaft erfüllt; das Moment des Faszinosum, das den Menschen trotz der erfahrenen Übermacht des Heiligen in dessen Bann zieht. Einen hilfreichen Beitrag in dieser Frage leisten die Beiträge in: Ricken, Religiöse Erfahrung. Plantinga, Warranted Belief in God, S. 289. Vgl. Alston, Perceiving, v.a. S. 20f. Zur Typologie religiöser Erfahrung von Franks Davis: Vgl. ders., The Evidential Force. Siehe im vorliegenden Band den Beitrag von Winfied Löffler. Vgl. die Kritik von Alston, Perceiving, S. 196, sowie von Niederbacher, Epistemologie, S. 13. »Solcher Art ist das Gefühl des Numinosen. Es bricht auf aus dem ›Seelengrunde‹, aus dem tiefsten Erkenntnis-grunde der Seele selber, zweifellos nicht vor und nicht ohne Anregung und Reizung durch weltliche und sinnliche Gegebenheiten und Erfahrnisse sondern in diesen und zwischen diesen« (Otto, Das Heilige, S. 138).

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als einer ›Kategorie a priori‹ stellt sich ›das Heilige‹ bei Otto als eine zeitlose und bei verschiedenen Erscheinungsformen unveränderliche Größe dar, die in allen Religionen vorgegeben sein soll. Die Erfahrung des Numinosen lässt sich nach Otto prinzipiell nicht begrifflich fassen, sondern allenfalls auf phänomenologischem Wege aufzeigen: »Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen.« 14 Doch was ist der eigentliche Grund dafür, dass eine große Zahl von Menschen ›religiös unmusikalisch‹ ist, während andere solche Momente »religiöser Erregtheit« häufig erleben oder gar mystische Erfahrungen machen? Nach Otto resultiert dies daraus, dass solche Erfahrungen Erkenntnissen a priori vergleichbar sind, die nicht solche […] [sind,] die jeder Vernünftige hat [das wären ›angeborene‹, A.G.], sondern die jeder haben kann. […] Die allgemeine ›Anlage‹ ist hier nur das allgemeine Vermögen der Empfänglichkeit und ein Prinzip der Beurteilung nicht aber der eigenen selbständigen Hervorbringung der betreffenden Erkenntnisse. Solche Hervorbringung hat nur statt in den ›Begabten‹ […] In der Masse ist auch hier [auf dem Gebiet des religiösen Gefühls] die Anlage nur als die Empfänglichkeit vorhanden, das heißt als Erregbarkeit für Religion […]. 15

Während etwa in Plantingas epistemologischem Modell lediglich von einem bauplanmäßigen Funktionieren des sensus divinitatis die Rede ist, beschreibt Otto entsprechend seinem Interesse an unmittelbaren und außergewöhnlichen Erfahrungen des Heiligen ein Erkenntnisvermögen, das über das bei Menschen gewöhnliche Maß hinausgeht, das aber im Blick auf eine solche mystische Erfahrung gerade als angemessen zu bezeichnen ist. Gewiss wäre an Ottos Entwurf eine ganze Reihe von Fragen zu stellen; es seien hier jedoch lediglich die für die religionsphilosophisch-systematische Diskussion wichtigsten formuliert. Insbesondere die letzteren Ausführungen haben Otto die Kritik an einer »religiösen Begabten- und Elitetheorie« 16 eingebracht; dennoch ist dieses Modell unterschiedlicher Ausbildung einer Anlage zu religiöser Erfahrung diskussionswürdig. Denn die Verfeinerung spezifischer Sinneswahrnehmungen bei ausgebildeten Experten stellt ein Grundproblem dar für die in einer externalistischen Epistemologie unausweichliche Frage, wie darüber entschieden werden kann, was als verlässliche Wahrnehmung gelten soll. Eine Vielzahl von Wahrnehmungen ist bloß dem gebildeten bzw. begabten Kenner überhaupt möglich, sei es die Wahrnehmung der exakten Höhe eines beliebigen gehörten Tons bei einem Musiker mit dem absoluten Gehör, sei es die des Feinheitsgrads von Holzoberflächen bei einem Schreiner u.ä. Auch wenn so exakte Wahrnehmungen 14 15 16

Otto, Das Heilige, S. 8. Ebd., S. 204. Gantke, Der Begriff des Heiligen, S. 247.

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nicht allen Menschen ohne Hilfsmittel jederzeit zugänglich sind, kann ihnen ein Anspruch, prima facie gerechtfertigte Überzeugungen zu bilden, kaum abgesprochen werden. Aber können Erfahrungen, die nur von wenigen Menschen gemacht werden und die sich der intersubjektiven Überprüfung entziehen, denselben Wissen begründenden Status beanspruchen wie Formen der Wahrnehmung, die allen Menschen zugänglich sind? Wie soll verfahren werden, wenn kein anderer in der Lage ist, zu bestimmen, ob die Wahrnehmung auf verlässliche Weise zustande gekommen ist, wie es in externalistischen Zuverlässigkeitstheorien der epistemischen Rechtfertigung verlangt wird? Offenbar gibt es verschiedene Formen eines »korrekten Funktionierens« (»proper function«), das in Plantingas religiöser Epistemologie eine wichtige Rolle spielt. Denn ob von einem angemessenen (»proper«) Funktionieren eines Sinnesorgans gesprochen werden kann, bemisst sich auch nach dem wahrzunehmenden Gegenstand, etwa ob es gilt, einen Klang lediglich als die Türklingel oder einen Ton exakt in der Höhe von 440 Hz = a1 identifizieren zu können. Es ist sinnvoll, dieses Modell auch für wahrnehmungsähnliche religiöse Erfahrungen geltend zu machen: Es ist möglich, dass bei manchen Menschen eine Anlage zur mystischen Erfahrung in besonderer Weise ausgebildet ist, bei den meisten jedoch nicht, so dass das Urteil über ein verlässliches Zustandekommen schwer fällt. Ottos Modell unterschiedlich ausgebildeter Anlagen zu religiöser Erfahrung weist zudem auf sinnvolle Modifikationen an Plantingas Modell hin. Denn das fehlende Zustandekommen religiöser Erfahrung im Anschluss an christliche Dogmatik lediglich auf die sündhafte Verfasstheit des gefallenen Menschen, und ihr erneutes Zustandekommen auf die Wiederherstellung dieses Vermögens durch den Heiligen Geist zurückzuführen, wie Plantinga es etwas schematisch tut, 17 greift angesichts der Vielfalt und Komplexität religiöser Erfahrung doch reichlich kurz. Zum einen ist auf den kategorialen Unterschied zwischen Glaube und religiöser Erfahrung hinzuweisen: Auch gläubige Menschen machen nicht ständig solche Erfahrungen. Plantingas Modell ist zudem unbedingt um die Dimension einer je unterschiedlichen individuellen religiösen Bildungsgeschichte zu erweitern. Auch ist aus Sicht vieler Religionsgemeinschaften die grundsätzliche Unverfügbarkeit des »Heiligen« geradezu eines seiner Merkmale; aus Sicht der christlichen Theologie etwa zeigt bzw. erschließt sich Gott aus freiem Willen wann und wem er will. Wer nun geltend machen will, dass Erfahrungen des Heiligen auf verlässliche Weise zustande kommen, muss auch das beteiligte Wahrnehmungs- oder Erkenntnisvermögen genauer bestimmen. R. Otto beschreibt es mit dem an Meister Eckart anschließenden Begriff des »Seelengrundes«, den er analog zu Kants ›reiner Vernunft‹ verstehen will. Darüber hinaus gibt es eine Vielfalt an Bezeichnungen

17

Vgl. Plantinga, Warranted Christian Belief , S. 291–293.

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und Beschreibungen des an religiöser Erfahrung beteiligten Wahrnehmungs- oder Erkenntnisvermögens, sei es der von A. Plantinga rezipierte sensus divinitatis bei J. Calvin, der sensus numinis bei N. von Zinzendorf, das »unmittelbare Selbstbewusstsein« bei F. D. E. Schleiermacher, der »(Gottes-)Instinkt« bei Ch.S. Peirce. Man kann jedoch mit Th. Schärtl fragen, ob Gotteserfahrung tatsächlich in einem eigenen »Erkenntnisapparat« zu verorten sei, oder nicht vielmehr aus einem »Ineinanderschwingen verschiedener geistiger Kräfte […] entspringt« und »ein Resultat aus dem Zusammenklang anderer Erkenntnisapparate ist«. 18 Stimmt man ihm zu, dass von einem eigenständigen Erkenntnisapparat nicht zu sprechen ist, kann auch nicht mehr so einfach von seiner »proper function« gesprochen werden, wie sie etwa für Plantingas epistemisches Modell konstitutiv ist. Man muss sich dann darauf berufen, dass auch ein solcher Zusammenklang menschlicher Sinne einem »design plan« entspricht und im Hinblick auf außergewöhnliche religiöse Erfahrungen zu verlässlichen Ergebnissen führen kann. Dass nach Otto allen Religionen die Erfahrung ›des‹ Heiligen zugrunde liege – andernfalls könne man von Religion nicht reden 19 –, kann man mit der neueren Religionswissenschaft, in der vorwiegend umfassendere funktionalistische Definitionen von Religion zu geben versucht werden, als eine substantialistische Engführung der Bestimmung von Religion kritisieren. Auch nach ihrem eigenen Selbstverständnis werden die meisten Religionen (nicht nur die sog. Offenbarungs- bzw. »Buch-Religionen«) faktisch nur zu geringem Anteil durch die religiösen Erfahrungen ihrer Anhänger konstituiert. Und legt man die Typologie religiöser Erfahrung von C. Franks Davis zugrunde, deckt die von Otto beschriebene Erfahrung des Heiligen lediglich den Typus der numinosen (allenfalls noch der quasi-sinnlichen und der mystischen) Erfahrung ab. 20 Die These, dass allen Religionen die Erfahrung des (einen) Heiligen zugrunde liegt, ist angesichts der grundsätzlichen Verschiedenheit animistischer, theistischer und nicht-theistischer religiöser Erfahrung verständlicherweise in der Religionswissenschaft nach Otto bestritten worden. Kann die ahistorische Kategorie (a priori) des Heiligen bei Otto der Geschichtlichkeit und Vielfalt religöser Erfahrung gerecht werden? Oder wird nicht der Begriff des Heiligen vielmehr restlos überdehnt, wenn so gegensätzliche Erfahrungen wie die eines personalen Gottes und des Nirvana unter ihn gefasst werden? 21 Der Verdacht liegt nahe, dass durch die Annahme eines allen religiösen

18 19 20 21

Schärtl, Wahrheit und Gewissheit, S. 66. Vgl. Otto, Das Heilige, S. 6. Siehe o. Anm. 11. Es ist hervorzuheben, dass die Ottosche Kategorie des Heiligen bereits für die im Bereich des Christentums beschriebenen religiösen Erfahrungen unzureichend, da zu eng ist; die im christlichen Glauben als entscheidend beschriebenen religiösen Erfahrungen wie die der heilvollen, vergebenden oder befreienden Gegenwart Gottes oder die Erfahrung der Gerechtigkeit Gottes als Gnadengeschenk können darunter nicht subsumiert werden.

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Erfahrungen im Letzten Vorgegebenen (»Das Heilige«) das religionsphilosophische Problem der Vielfalt der Religionen und damit der Widersprüchlichkeit der von ihnen beanspruchten Wahrheiten lediglich überdeckt wird. W. Gantke hat in seiner religionswissenschaftlichen Untersuchung zum »umstrittenen Begriff des Heiligen« versucht, insbesondere für das letztere Problem eine Lösung zu finden.

2. Das Heilige in der Vielfalt seiner Erfahrungen bei W. Gantke 1. Gantkes Entwurf Der umstrittene Begriff des Heiligen R. Ottos Schrift blieb in der religionsphänomenologisch ausgerichteten Religionswissenschaft bis in die 1960er Jahre sehr einflussreich, doch zusammen mit der religionsphänomenologischen Arbeitsweise wurde in der religionswissenschaftlichen Diskussion seitdem auch Ottos Entwurf als essentialisierend, ahistorisch, eurozentrisch und insgesamt unhaltbar kritisiert und mittlerweile von vorwiegend konstruktivistischen Ansätzen abgelöst. In jüngerer Zeit kommen hier allerdings Formen einer ›neuen Religionsphänomenologie‹ auf, die etwa zur Überwindung der ›Subjekt-Objekt-Spaltung‹ den Begriff der ›Atmosphäre‹ einführen. Dass sich in religiösen Erfahrungen tatsächlich etwas Anderes, Vorgegebenes zeige, wird hier erneut angenommen, insbesondere in der von W. Gantke vorgeschlagenen ›problemorientierten Religionsphänomenologie‹, die er in seiner Habilitationsschrift Der umstrittene Begriff des Heiligen programmatisch skizziert. Er sucht den Begriff des Heiligen als zentrale Kategorie der Religionswissenschaft zu erhalten, allerdings in einer Weise, die sich die Kritik am Eurozentrismus, Ahistorismus und Essentialismus der ›klassischen Religionsphänomenologie‹ selbst zu eigen macht und der Pluralisierung religiöser Phänomene und wissenschaftlicher Methoden gerecht zu werden sucht. Gantke wendet sich gegen einen methodisch naiven, aus dem Abgrenzungsbedürfnis zur Theologie erwachsenen Objektivismus und Empirismus in der Religionswissenschaft. Dabei kann er leicht an die neuere kulturhermeneutische und postmoderne Kritik der Verabsolutierung des modern-säkularistischen europäischen Werte- und Kategoriensystems samt seiner strikten Trennung von religiösem und (religions-)wissenschaftlichem Subjekt anschließen und die in der Religionswissenschaft vielfach zugrundeliegende Vorentscheidung zurückweisen, dass das Heilige lediglich eine »Kopfgeburt« des Menschen sei: »Immer deutlicher wird doch erkennbar, daß der Verzicht auf den Begriff des Heiligen einer Vorentscheidung zugunsten einer bereits weitgehend säkularisierten Betrachtungsweise gleichkommt, der gerade heute im interkulturellen Kontext nicht zu Unrecht

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eurozentrische Einseitigkeit […] vorgeworfen wird«. 22 Die konstruktivistische und empiristische Vorentscheidung kritisiert er aus wissenschaftstheoretischen und wissenschaftspragmatischen Gründen – zum einen, weil sie sich nicht legitimieren lasse, 23 zum anderen, weil sie der Offenheit religionswissenschaftlicher Forschung und Erkenntnissuche abträglich sei. Gantke unterstreicht, es sei unzulässig, von der Nichtobjektivierbarkeit des Heiligen auf dessen Nicht-Sein zu schließen. Eine konstruktivistisch-empiristische Religionswissenschaft lasse jedoch, wenn sie wie häufig mit einem Ausschließlichkeitsanspruch auftritt, von vorne herein lediglich eine ganz bestimmte Wirklichkeit zu und wird damit Phänomenen wie der Heiligkeitserfahrung nicht gerecht: Die Möglichkeit der genauen Vorhersagbarkeit ist an eine stilisierte Zurechtlegung von Wirklichkeitsaspekten gebunden, die eine Reproduktion unter bestimmten, eindeutig angebbaren Bedingungen (wenn-dann) erlauben. Heiligkeitserfahrungen sind aber keine handhabbaren Experimentalerfahrungen, weshalb eine das Heilige berücksichtigende Religionswissenschaft keine Kontrollwissenschaft sein kann. 24

Für die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Religionswissenschaft ist bereits der Hinweis wichtig, dass sie die Möglichkeit offenhalten muss, dass religiöse Wahrnehmungen nicht auf einen irregeleiteten Erkenntnisapparat zurückgeführt werden müssen, sondern dass ihnen ein vorgegebener Wirklichkeitsgehalt zugrunde liegen kann. Gantke weist darüber hinaus auf den Aspekt der Unverfügbarkeit des Heiligen hin: »Ob, wann und wo sich das Heilige zeigt, hängt möglicherweise nicht nur vom Menschen ab.« 25 Wie versteht Gantke Religion, und was bedeutet »das Heilige« in seinem Entwurf? »Entscheidend für das religiöse Bewußtsein scheint mir das erfahrungsgesättigte oder einfach naiv gewagte Vertrauen in eine Kraft oder Macht, die gerade nicht unsere eigene menschliche Kraft oder Macht ist, und die ich mit dem traditionellen Begriff als ›das Heilige‹ bezeichne«. 26 Alle Formen religiösen Bewusstseins beziehen sich nach dieser Definition auf ein ihnen gegenüberstehendes Heiliges. Auch Gantke liefert also eine offene Flanke für die Kritik an einer engen Bestimmung von Religion nach dem Kriterium der Heiligkeitserfahrung. In Anlehnung an O. F. Bollnow versteht er ›das Heilige‹ als eine »historisch-heuristisch-hermeneutische 22

23

24 25 26

Gantke, Der Begriff des Heilgen, S. 44f.; vgl. auch ebd., S. 32: »Während die vormodernen Gesellschaften […] an einer vom Menschen als vorgegeben erlebten Ordnung orientiert blieben, begreift die moderne Gesellschaft […] Ordnung als menschliche Aufgabe. Der Moderne liegt eine Tendenz zur Herstellung einer transzendenzverschlossenen, einheitlichen Ordnung zugrunde«. Damit folgt Gantke also – allerdings kulturhermeneutisch argumentierend – strukturell einer ähnlichen Strategie wie etwa Plantinga bei seiner Kritik des epistemischen Fundationalismus, dem er selbstreferentielle Inkohärenz vorwirft, s. Plantinga, Warranted Christian Belief , S. 94–99 und dazu Halbig, Theismus und Rationalität, S. 289f. Gantke, Der Begriff des Heiligen, S. 417, Anm. 6. Ebd., S. 50 und S. 44f. Ebd., S. 27f.

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Lebenskategorie«. 27 ›Das Heilige‹ ist demnach für ihn ein heuristischer Begriff, doch geht er in einer Platzhalter-Funktion für die Religionswissenschaft nicht auf. So unterscheidet er ausdrücklich »zwischen Begriff und Sache des Heiligen« und betont »phänomenologisch de[n] Vorrang der Sache vor dem sie bezeichnenden Begriff.« 28 Somit bezieht er hinsichtlich des Heiligen eine durchaus »realistische« Position: Es sei ein »auch uns Heutige noch zutiefst beunruhigende[s] Phänomen, das sich offenbar nie ganz in menschliche Interpretationskonstrukte, in rein sprachlichbegriffliche Elemente auf lösen läßt«. 29 Obwohl er somit von der Existenz dieser ›Sache‹ ausgeht, verzichtet er programmatisch auf jeden Definitionsversuch, sondern will das Heilige als ›offene Frage‹ verstehen. 2. Das Heilige und die Verschiedenartigkeit religiöser Erfahrung in den Religionen Die gut begründete Zurückweisung der in der Religionswissenschaft verbreiteten impliziten Voraussetzung, es gebe etwas wie »das Heilige« nicht, sondern dies sei lediglich ein menschliches Konstrukt, ist für Theorie und Methode der Religionswissenschaft gewiss von großer Bedeutung; das gleiche gilt für Gantkes Beharren auf der heuristischen Bedeutung der Annahme eines der religiösen Erfahrung irreduzibel Vorgegebenen. Während die Religionswissenschaft aber über eine solche heuristische Annahme der Realität des Heiligen gerade nicht hinausgeht und die Frage nach der Realität des Heiligen nicht abschließend beantworten kann, ohne wiederum ihre Grenzen zu überschreiten und so die ihr zugleich zustehende heuristische Offenheit zu verlieren, ist eine solche bloße Annahme für die religionsphilosophische Frage nach der Realität und Wahrnehmbarkeit weniger interessant, da Gantke keine Argumentation für die Realität des Heiligen führt, sondern aufzeigt, dass die Religionswissenschaft dessen Existenz nicht methodisch ausblenden darf. Von Interesse für die religionsphilosophische Diskussion ist eher, inwieweit es Gantke gelingt, den letztlich doch Einheit suggerierenden Begriff des Heiligen dennoch für die Vielfalt religiöser Erfahrungen offenzuhalten. Entgegen dem Ottoschen ahistorischen Verständnis des Heiligen als einer Kategorie a priori und in Aufnahme von Heideggers Spätschriften sucht Gantke den Gedanken zu entwickeln, dass das Heilige selber geschichtlich sei. 30 Angesichts der angenommenen Geschichtlichkeit und der Pluriformität der Erscheinungsformen des Heiligen in der Gegenwart drängt sich aber auch Gantke selbst die Frage auf, »ob es sich überhaupt noch um das handelt, was traditionell mit dem Namen 27 28 29 30

Ebd., S. 46. Ebd. Ebd. Auch in den biblischen Schriften findet er »den Gedanken der unwiederholbaren Geschichtlichkeit« nahe gelegt (ebd., S. 343, vgl. auch S. 347).

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›das Heilige‹ bezeichnet wurde. Zugespitzt gefragt: Gibt es überhaupt eine sich in der Zeit durchhaltende Identität des Heiligen?« 31 Und das bleibt an dieser Stelle – entsprechend Gantkes eigenem Grundsatz? – eine ›offene Frage‹, die er in dieser Hinsicht auch nicht weiter zu beantworten sucht. Gantke nimmt die Mehrdeutigkeit des Heiligen ausgesprochen ernst: Es sei »zu beachten, daß das Heilige in der christlichen Theologie und von der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit in Europa als ›der‹ Heilige, als der personale Gott […] interpretiert wird«. 32 Jedoch: »Wechselt man vom theistischen in einen eher einheitsmystisch-monistisch-pantheistischen Kontext, dann erscheint das Heilige als impersonale, übergreifende, ›letzte‹ Einheit in der Vielheit«. 33 Damit formuliert er selbst treffend die Problematik, inwieweit so gegensätzliche Erfahrungen vom selben Gegenstand verursacht sein sollen. Auch möchte er sich ausdrücklich absetzen von religionsphänomenologischen Ansätzen, die die Einheit der ›letzten Wirklichkeit‹, des Heiligen, allen Relativierungen und Pluralisierungen auf der Ebene der positiven Religionen zum Trotz voraussetzen, und den Antwortcharakter der Erfahrung des Heiligen betonen (wie F. D. E. Schleiermacher, R. Otto und J. Wach). Gantke setzt dem entgegen: Das Heilige ist kein festes Prinzip, kein höchster Wert, keine fertige stets bereitliegende und bei Bedarf aufrufbare Antwort, sondern eine die Menschen zu allen Zeiten zutiefst beunruhigende, zuweilen auch verunsichernde und für die heutige Religionswissenschaft nach wie vor wichtige, ›offene Frage‹. 34

Dass »in der Diskussion um das Heilige behauptet wird, entweder müsse das Heilige als eine für alle Zeiten und Kulturen gültige, objektive Grundkategorie vorausgesetzt werden oder die Rede vom Heiligen verliere in der Religionswissenschaft jeden verbindlichen Sinn« 35, ist tatsächlich eine Scheinalternative, bedenkt man allein die heuristische Bedeutung der Annahme eines vorgegebenen Heiligen. Dennoch setzt ein sinnvoller Gebrauch des Begriffs ›das Heilige‹ für ein verschiedensten religiösen Erfahrungen Vorgegebenes bereits ein sich Gleichbleibendes, eine Gemeinsamkeit der Phänomene oder gar eine Einheitlichkeit ihres Ursprungs voraus, auch wenn man auf eine Definition oder Füllung des Begriffs programmatisch verzichet. Gantke versucht diesem Problem mit einer ›gradualistischen Lösung‹ beizukommen: Die problemorientierte Religionsphänomenologie betrachtet den Begriff des Heiligen nicht als einen Gattungsbegriff, sondern geht davon aus, daß innerhalb der uneinheitlichen religiösen Sphäre sinnvoll von Familienähnlichkeiten gesprochen werden kann, ohne daß eine letzte, übergreifende Einheit unterstellt werden muß. Auch hier wird eine 31 32 33 34 35

Ebd., S. 420. Ebd., S. 173. Ebd., S. 175. Ebd., S. 280. Ebd., S. 327.

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gradualistische Lösung bevorzugt. […] Es gibt hier sehr viel mehr Möglichkeiten als nur Identität oder Nicht-Identität. 36

Dann jedoch ist es irreführend, singularisch und bestimmt von »dem Heiligen« zu sprechen – sinnvoll wäre dann allein eine unbestimmte Rede von »Heiligem«, die es erlaubt, unterschiedlichsten Heiligkeitserfahrungen in verschiedenen Religionen weder von vorneherein einen Konstruktcharakter noch eine Homogeneität oder gar einen letztlich einheitlichen Ursprung zu unterstellen. Religionswissenschaft kann betrieben werden unter der heuristischen Voraussetzung, dass es Heiliges geben kann, ohne den unähnlichen Heiligkeitserfahrungen doch Gemeinsamkeiten zu unterstellen, die aber den Berichten über den Gehalt der Erfahrung widersprechen. Alles in allem ist anzuzweifeln, ob es sinnvoll ist, einen gemeinsamen Kern oder eine ›Familienähnlichkeit‹ religiöser Erfahrungen anzunehmen, die lediglich aufgrund jeweils verschiedener kultureller und religiöser Traditionen und Deutungsmuster zu verschiedenen Auffassungen über eine letzte Wirklichkeit und so zum Widerstreit religiöser Wahrheitsansprüche führt. Wer für einen gemeinsamen Ursprung theistischer und nichttheistischer mystischer Erfahrung votiert, 37 muss in die metaphysische Annahme ausweichen, dass das sich zeigende Heilige sowohl un- oder transpersonal als auch personal erscheinen kann, und zudem jeweils nicht in vollem Umfang wahrgenommen wird, so dass ein bloßer Anschein der Inkommensurablität entsteht. Diese Denkmöglichkeit ist zwar schwer falsifizierbar, wirkt sehr konstruiert und hat folglich wenig Überzeugungskraft. Insgesamt ist es daher ratsamer, in Kauf zu nehmen, dass die erfahrungsgestützte Rationalität religiöser Überzeugungen möglicherweise dadurch geschwächt wird, dass es widersprechende muslimische, christliche, buddhistische, hinduistische etc. religiöse Erfahrungen gibt. Das Projekt der sogenannten Reformed Epistemology, aufzuweisen, dass religiösen Überzeugungen unter bestimmten Bedingungen der Status von Wissen zukommen kann, ist ohnehin sehr ehrgeizig formuliert. Zudem können aber auch religionsphilosophische Modelle, nach denen manche religiöse Erfahrungen einen vorgegebenen, manche einen abgeschwächten und andere wiederum gar keinen vorgegebenen Wirklichkeitsgehalt haben, den Befund der Pluralität religiöser Erfahrung auf nicht weniger rationale Weise 36

37

Ebd., S. 331. Gegen den »Gedanken der unbewegten (rationalen) Identität« der westlichen Tradition bemüht Gantke auch die »Erfahrung der ›übergegensätzlichen Einheit‹« (ebd., S. 49). Doch ist diese Erfahrung eine in einer partikularen Religion gemachte Erfahrung, die nicht leichthin zum religionsphilosophischen Argument gemacht werden kann. Bei aller akzeptablen Kritik am zuschneidenden – wer die Annahme akzeptiert, dass unter einen Begriff zugleich auch dessen Gegenteil fallen kann, zieht sich aus einer sinnvollen Teilnahme am logischen Sprachspiel zurück. Und wenn uns das nicht überzeugt, tut es dies nur deshalb nicht, weil wir (unzulässiger Weise?) dem westlichen Identitätsdenken verhaftet bleiben? Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag von Sebastian Maly zum Problem der Vielfalt der Religionen bei Alston.

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erklären. Solche Modelle werden zudem der Tatsache viel besser gerecht, dass die Annahme einer letztlichen Identität des Ursprungs der in den verschiedenen Religionen gemachten religiösen Erfahrungen, damit ihrer Austauschbarkeit und Verwechselbarkeit, für das Selbstverständnis der meisten Religionen ohnehin keine befriedigende Option ist.

Literaturverzeichnis Alston, William P.: Perceiving God. The Epistemology of Religious Experience, Ithaca/London 1991. Franks Davis, Caroline: The Evidential Force of Religious Experience, Oxford 1989. Gantke, Wolfgang: Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung, Religionswissenschaftliche Reihe 10, Marburg 1998. Haeffner, Gerd: »Erfahrung, Lebenserfahrung – religiöse Erfahrung. Versuch einer Begriffsklärung«. In: Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch, hg. von Friedo Ricken. Stuttgart 2004, S. 15–39. Halbig, Christoph: »Theismus und Rationalität (I). Neuere Beiträge zur analytischen Religionsphilosophie: Varianten des Realismus, Dimensionen der Rationalität«. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 55, 2001, S. 277–296. James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, übers., hg. und mit einem Nachwort versehen von Eilert Herms. Olten/Freiburg i.Br. 1979. Niederbacher, Bruno, SJ: »Zur Epistemologie des theistischen Glaubens. Gotteserkenntnis nach Alvin Plantinga«. In: Theologie und Philosophie 74, 1999, S. 1–16. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1979. Plantinga, Alvin: »Warranted Belief in God«. In: Philosophy of Religion, hg. von Eleonore Stump/Michael J. Murray. Oxford 1999, S. 285–297. Ders.: Warranted Christian Belief , New York u.a. 2000. Ricken, Friedo: »Einführung«. In: Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch, hg. von ders. Stuttgart 2004, S. 9–14. Schärtl, Thomas: Wahrheit und Gewissheit. Zur Eigenart religiösen Glaubens, Regensburg 2004.

Gregor Nickel

MUTMASSENDES SEHEN ODER WAHRSCHEINLICHE WAHRNEHMUNG? Kues contra Oxford

Den Bemühungen Richard Swinburnes, der in The Existence of God, wesentlich auf ›religiöse Erfahrung‹ (religious experience) rekurriert, wird ein scheinbar verwandter Denker gegenübergestellt: Nikolaus von Kues. Dabei werden wir uns außer auf das Konzept der religiösen Erfahrung auf ein weiteres zentrales Konzept der kumulativen Argumentation Swinburnes konzentrieren, das der Wahrscheinlichkeit. Kontrastiert werden diese durch das für Cusanus zentrale Konzept der Mutmaßung und seine Reflexionen über das Sehen Gottes. Sowohl in theologischer wie philosophischer Hinsicht zeigt die genauere Betrachtung wesentliche Unterschiede bei beiden Autoren in Begründung und Gebrauch der Erkenntnismittel. Während Swinburne beide Konzepte mit Blick auf sein apologetisches Ziel im wesentlichen als ungeklärte bzw. phänomenologisch weitgehend unterbestimmte Hilfsmittel verwendet, ist es bei Cusanus gerade die sorgsame Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Mutmaßung und Sehen, die seine theologische Spekulation befördern. Stratonikos, ein Kitharöde des 4. Jahrhunderts vor Christus, vernahm, daß ein bekannter Bösewicht von einem herabstürzenden Balken erschlagen sei. »Meine Herren«, sagte Stratonikos, »es gibt doch Götter. – Gibt es aber keine, so gibt es zumindest Balken.«

Der Hinweis auf offenkundige Wahrnehmungstatsachen ist für eine religiöse, gar für eine theologische Argumentation ein prekäres Unterfangen. Mag auch die wahrgenommene Tatsache als solche nicht strittig sein, so ist es ihre (religiöse) Interpretation in aller Regel eben doch. Will man aber die fraglose Sicherheit der unmittelbaren (sinnlichen) Wahrnehmung auch auf – wie immer geartete – Erlebnisse mit religiösen ›Gegenständen‹ übertragen, so muss der Begriff der Wahrnehmung so weit oder so unklar gefasst werden, dass er eine Analogie zur vertrauten und im allgemeinen verlässlichen sinnlichen Wahrnehmung kaum

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Gregor Nickel

noch erahnen lässt. 1 In beiden Fällen wird es kaum gelingen, Zweifler in einem apologetischen (Meta)Streit zu überzeugen. Den Bemühungen Richard Swinburnes, der, etwa in The Existence of God, wesentlich auf ›religiöse Erfahrung‹, religious experience, rekurriert, soll hier ein (nur) auf den ersten Blick verwandter Denker gegenübergestellt werden: Nikolaus von Kues. Dabei werden wir uns auf zwei zentrale Konzepte der kumulativen Argumentation Swinburnes konzentrieren, das Konzept der Wahrscheinlichkeit und die bereits erwähnte (religiöse) Erfahrung. Während jedoch Swinburne beide Konzepte mit Blick auf sein apologetisches Ziel im wesentlichen als ungeklärte Hilfsmittel verwendet, ist es bei Cusanus gerade die sorgsame Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Mutmaßung und Sehen, die seine theologische Spekulation befördern.

1. Wahrscheinlichkeit oder Mutmaßung 1.1 Ängstliche Versicherungsmathematik In Zeiten, die offenbar als verunsichernd empfunden werden, 2 sucht die analytische Religionsphilosophie nach neuen Argumentationsfiguren für eine Versicherung des christlichen Glaubens. Dabei werden die epistemologischen Ansprüche klassischer theologischer Autoren als überzogen aufgegeben. So wirkt Swinburnes Zugeständnis dem Atheisten oder Agnostiker gegenüber zunächst konziliant, wenn er das Programm zu einer ›Deduktion der Existenz Gottes‹ als gescheitert ansieht und endgültig auf solche ›Gottesbeweise‹ verzichten möchte. Statt einer Deduktion könne man lediglich Plausibilitäten aufzeigen, das Urteil bleibe ungezwungen, es sei gar noch Platz für Glauben. An die Stelle einer Deduktion soll etwa in Swinburne, Existence eine Vielzahl induktiver Argumente treten, die es in ihrer Gesamtheit ermöglichen, die ›Wahrscheinlichkeit‹ für ›Gottes Existenz‹ mit einem ›Wert‹ oberhalb von 0,5 abzuschätzen. Im Gegensatz zu dieser Konzilianz legt jedoch der Stil des Autors nahe, dass versucht wird, ›wasserdicht‹ zu argumentieren, also den logischen Zwang der Deduktion zu reproduzieren. Jeder 1 2

Vgl. den Aufsatz von Gregor Nickel und Dieter Schönecker in diesem Band. Vgl. etwa den Abschnitt zur Postmoderne in Plantinga, Belief , S. 422. Mir scheint, dass hierbei die Charakterisierung Ingolf U. Dalferths weitgehend zutrifft, wenn er das erneut verstärkte Aufkommen religionsphilosophischer Bemühungen damit erklärt, dass »unsere verunsicherte Vernunft in ihren diversen Sinnkrisen die funktionale Stabilisierung durch Religion wiederentdeckt« (Dalferth, Gott, S. 1). Auch seiner kritischen Schlussfolgerung ist zuzustimmen: »Denken wir Gott aber nur als wohlfeile und von uns dringend benötigte Sinnressource, dann haben wir überhaupt noch nicht begonnen ihn zu denken, weil wir damit noch ganz in den Vorstellungszusammenhängen unseres Wunschdenkens […] befangen sind: In Gottesbildern maskiert denken wir dann nur unsere eigenen Probleme […]«

Mutmaßendes Sehen oder wahrscheinliche Wahrnehmung?

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›rationale‹ Leser, der überhaupt in der Lage ist, die Argumentation zu verstehen, müsste – sofern Swinburnes Vorhaben gelingt – gezwungen sein, ihr bis zum Ziel zu folgen. Dem entspricht, dass der verwendete Wahrscheinlichkeitsansatz dem Anspruch nach ein scharfes Rationalitätskriterium liefert: Wer einem Satz eine Wahrscheinlichkeit > 0,5 zuweise, könne diesen rationaler Weise nicht mehr ablehnen. Kämen überdies noch Zeugen hinzu, die seine Richtigkeit behaupteten, müsste, den Gesetzen der Ratio folgend, diesen Zeugen geglaubt werden. 3 Die Pointe der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie ist es ja gerade, den zunächst unkontrollierbaren Zufall – zumindest seine harmloseren Varianten – in den Bereich deduktiver Sicherheit zu integrieren. Die Theoreme der Wahrscheinlichkeitstheorie gelten eben nicht nur wahrscheinlich, sondern im Rahmen deduktiver Sicherheit. Wenn also Swinburne versucht, diese mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie in Dienst zu nehmen, so entpuppt sich der scheinbar konziliante Ansatz im Kern eben doch als Versuch einer Deduktion. Es bleibt darüber hinaus noch anzufragen, in welchem Sinne Swinburne seinen Begriff der Wahrscheinlichkeit verstanden wissen will. Nun hat allerdings seit Beginn der Geschichte der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie der Begriff der Wahrscheinlichkeit ein metaphysisch-mathematisches Doppelgesicht, 4 das sich auch innerhalb der Mathematik u. a. noch in Form des Schulstreits zwischen klassischer und Bayesianischer Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik von Ferne zeigt. Hier kann man grob eine frequentistische Standardinterpretation von diversen Nebenströmungen unterscheiden, die ›Wahrscheinlichkeit‹ als individuelle Eigenschaft eines Ereignisses interpretieren, sei dies nun als die subjektive Überzeugung des Beobachters oder als eine intrinsische Neigung, propensity, des beobachteten Gegenstandes. Für die frequentistische Auffassung muss allerdings ein unter identischen Bedingungen beliebig oft wiederholbares Experiment vorausgesetzt werden. Die relative Häufigkeit eines bestimmten Ergebnisses wird dann als angenäherte Wahrscheinlichkeit dieses Ergebnisses aufgefasst. Würfelt man etwa mit einem handelsüblichen Würfel und erhält bei 100 000 Würfen 16 606 mal das Ergebnis , so würde man die Wahrscheinlichkeit dieses Ergebnisses mit dem Wert P( ) = 0,16606 annähern. Eine gewisse Rechtfertigung für dieses Vorgehen liefert das »Gesetz der großen Zahl« n-facher Wiederholung eines ›identischen‹ Experimentes. Eine typische Textbuchformulierung paraphrasiert dieses Theorem etwa folgendermaßen:

3

4

Dass bei genauerem Hinsehen und Nachrechnen aus Swinburnes Ansatz Wahrscheinlichkeiten ganz nahe bei 1 resultieren, ist dann noch eine zusätzliche ironische Pointe, vgl. Löffler, Unerwünschte Konsequenz. Für eine genaue Analyse dieser doppelten Wurzel des Wahrscheinlichkeitsbegriffs vgl. Hacking, Probability.

196

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Für großes n ist […] die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die relative Häufigkeit der Erfolge sich um mehr als  von der Erfolgswahrscheinlichkeit p unterscheidet, sehr klein. 5

Die doppelte Verwendung von ›Wahrscheinlichkeit‹ – auf der ›Objekt-‹ und auf der ›Metaebene‹ – zeigt die Schwierigkeit, den axiomatisch eingeführten Wahrscheinlichkeitsbegriff mit dem empirischen Begriff relativer Häufigkeiten zu verbinden. Im Zusammenhang der Überlegungen Swinburnes kann nun sicherlich nicht an eine frequentistische Deutung gedacht werden, denn man wird wohl kaum eine Experimentalanordnung unterstellen, bei der verschiedene mögliche Welt-Szenarien mit einem personalen oder einem apersonalen oder ganz ohne Schöpfer nach Zufallsprinzip aus einer Urne gezogen werden. Inwiefern man individuellen Ereignissen jedoch überhaupt eine Wahrscheinlichkeit zuschreiben kann, bleibt umstritten. Bestenfalls die subjektivistische Deutung ist einigermaßen unproblematisch. Hierbei wird einem Ereignis durch einen Beobachter eine Wahrscheinlichkeit (subjektiv) zugeschrieben; diese könnte man an Hand der Bereitschaft zum Eingehen einer Wette auf das Eintreten des Ereignisses ermitteln. Wer etwa bereit ist, bei einem einmaligen Würfelwurf auf das Ergebnis einen Betrag von 1 EUR zu setzen, wenn die Auszahlung mehr als 6 EUR bei und 0 EUR bei allen anderen Resultaten ist, der hält die Wahrscheinlichkeit P( ) mindestens für 1/6. Deutlich kontroverser ist die Frage, ob sich individuellen Ereignissen eine intrinsische, objektive Wahrscheinlichkeit überhaupt zuschreiben lässt. Hier müsste sozusagen der Würfel selbst eine objektive Neigung verspüren, auf die Seite mit der 2 zu fallen und die vorzuzeigen; und diese Neigung müsste sich z. B. mit dem Wert 1/6 quantifizieren lassen. Trotz dieser Interpretationsschwierigkeiten möchte Swinburne die von ihm abgeschätzte Wahrscheinlichkeit dezidiert als objektive Eigenschaft des individuellen Ereignisse ›Gott existiert‹ verstanden wissen. 6 Dabei ist es meines Erachtens jedoch im höchsten Maße unklar, wie man sich eine solche objektive Neigung ›Gottes zu existieren‹ überhaupt denken soll. Bemerkenswert ist hierbei allemal, dass Swinburne durch die Behauptung des objektiven Charakters wiederum auf einen allgemeingültigen Einsichts-Zwang setzt und nicht die jeweils individuelle Situation des zweifelnden Menschen als Referenzrahmen in den Blick nehmen will. Vermutlich der erste, der theologische Fragen und mathematische Wahrscheinlichkeitserwägungen kombiniert, ist Blaise Pascal in dem Fragment Infini – rien; dies gilt allein schon aus dem Grunde, dass die verwendeten Konzepte der Wahrscheinlichkeits- und Entscheidungstheorie hier erstmals entwickelt werden. 7 Eine Referenz auf Pascal oder dessen Konzepte erwartet der Leser bei Swinburne allerdings vergeblich. Das ist auch deswegen bedauerlich, weil die entscheidungs5 6 7

Krengel, Wahrscheinlichkeitstheorie, S. 59. Vgl. etwa die Ausführungen in Swinburne, Existence, S. 29. Vgl. die sorgfältige Rekonstruktion von Ian Hacking in Pascal’s Wager.

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theoretische Version Pascals die Frage nach dem Status der bei Swinburne angenommenen Wahrscheinlichkeiten einigermaßen zwanglos beantworten könnte; allerdings müsste man sich dann natürlich auf eine subjektivistische Variante einlassen. Auch könnte die Kontextualisierung, die bei Pascal ganz deutlich ist – dem fiktiven Gesprächspartner bzw. Kontrahenten des Fragmentes ist als Angehörigem des Adels die Situation des Glücksspiels und der Wette durchaus vertraut –, zur Rückfrage motivieren, an wen sich eigentlich Swinburnes Argumente richten sollen. Die bewusste Wahl des jeweiligen Argumentationskontexts könnte nämlich mehr als eine unwesentliche, allenfalls didaktische Angelegenheit sein, sondern vielmehr darauf aufmerksam machen, dass ein solches apologetisches Unternehmen – im Unterschied etwa zu einem mathematischen Beweis – vermutlich nicht auf die unter allen Umständen erzwungene Zustimmung eines beliebigen Gesprächspartners abzielen kann. 1.2 Die Einheit in mutmaßlicher Andersheit Auf den ersten Blick – aber auch nur auf den ersten Blick – erscheinen das oben skizzierte Vorgehen Swinburnes und der epistemologische Ansatz des Nikolaus von Kues ähnlich, wenn dieser etwa die in seine theologischen Traktate integrierten, mathematischen Bilder nicht als Beweise, sondern als Handreichungen, manuductiones, bezeichet, vor allem aber, wenn die Mutmaßung, coniectura, ein zentrales Konzept seiner Erkenntnislehre darstellt. Diese benennt in einem Begriff den gleichzeitig demütigen und hochgemuten Umgang des Erkennenden mit seinem Gegenstand. Hierbei wird zunächst die unvermeidliche Unsicherheit aller menschlichen Erkenntnis, die Unmöglichkeit genauen Wissens, nicht nur in Bezug auf theologische Fragen, ausdrücklich anerkannt. Die (genaue) Erkenntnis des Wesens eines Gegenstandes bleibt Gott vorbehalten, für den Erkennen und Schaffen zusammenfallen, für den Menschen bleiben Erkenntnis und Gegenstand stets verschieden: Wenn du deinen Intellekt für ein anderes Ding hältst als den Gegenstand deiner Erkenntnis, dann merkst du, daß du nichts Erkennbares in seinem Wesen erkennen kannst. […] Nur im göttlichen Erkennen, durch das jedes Seiende sein Sein hat, wird die Wahrheit aller Dinge in ihrem Wesen erreicht, in einem anderen Erkenntnisvermögen nur anders und abgewandelt. 8

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Vgl. De Coniecturis I (n. 55,1): Nullum enim intelligibile, uti est, te intelligere posse conspicis, si intellectum tuum aliam quandam rem esse admittis quam intelligibile ipsum. […] In solo igitur divino intellectu, per quem omne ens exsistit, veritas rerum omnium, uti est, attingitur, in aliis intellectibus aliter atque varie. Die Schriften des Cusanus werden im Lateinischen Original nach Opera omnia zitiert, deutsche Übersetzungen bis auf kleinere Modifikationen aus Nikolaus von Kues, Werke bzw. Nikolaus von Kues, Sehen Gottes übernommen.

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Eine wichtige Konsequenz dieser Einsicht ist, dass jeder seinen eigenen ›Seh-Winkel‹, angulum oculi, hat, seine jeweils eigenen Mutmaßungen. Im Unterschied zu postmoderner Beliebigkeit (oder deren Karikatur) bleiben alle Konjekturen jedoch auf eine – allerdings unverfügbare – Einheit bezogen und sind damit zwar bleibend verschieden, aber nie völlig unvermittelbar. Es wird also die Standpunktabhängigkeit der Mutmaßungen bei gleichzeitiger gemeinsamer Bezogenheit betont: Am Sehen haben die mannigfaltigen Sehenden unterschiedlich teil, und die Mannigfaltigkeit der sichtbaren Dinge wird in der Einheit des Gesichtssinnes einträchtig zusammengefaltet, so wie auch die Verschiedenheit der Sehenden in der Einheit des absoluten Sehens einträchtig zusammengehalten ist. 9

Ebenso wie die Mutmaßenden bei bleibender Verschiedenheit aufeinander bezogen bleiben, ist die Mutmaßung auch ein vermittelndes, verbindendes Konzept zwischen Beobachter und Gegenstand – hier zeigt sich, wie so oft, dass Nikolaus bis in jedes Detail hinein trinitarisch denkt. Die Mutmaßung ›hintergeht‹ also auch die spätere cartesianische Trennung von vornherein, und benennt damit gerade nicht eine das Gegenüber zum Objekt petrifizierende Beobachtung. 10 Konjektural agieren nach Cusanus die gesamten Vermögen des menschlichen Geistes, die er in vier Stufen zu unterscheiden vorschlägt: – Der Sinn, sensus, nimmt rein positiv wahr, er unterscheidet nicht die Position eines Sachverhalts von der Negation eines anderen: »[D]er Sinn nimmt wahr und unterscheidet nicht. Jede Unterscheidung stammt aus dem Verstand. […] Der Sinn stellt nur fest, daß etwas sinnlich Wahrnehmbares da ist, aber nicht, ob dieses oder jenes.« 11 – Der Verstand, ratio, fasst die Eindrücke der Sinne durch Begriffe zusammen, unterscheidet (bzw. entfaltet) Negation und Position (als einander ausschließend): »So benutzt der Verstand den Sinn als Werkzeug, um die Sinnendinge zu unterscheiden; doch er selbst ist es, der im Sinn das Sinnending unterscheidet.« 12 – Die Vernunft, intellectus, fasst die Unterscheidungen des Verstandes zur Einheit zusammen, faltet also die Gegensätze Position und Negation ein: »Sie eint die Andersheiten des sinnlich Wahrgenommenen im Vorstellungsvermögen, sie eint dann die Mannigfaltigkeit der Andersheiten der Vorstellungsbilder im 9

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Vgl. De Coniecturis I (n. 55,14): Visio enim in variis videntibus differenter participatur, et visibilium varietas in unitate visus concordanter complicatur, sicut et videntium diversitas in unitate visionis absolutae concorditer continetur. Zu Bezugnahme auf und Abgrenzung vom Beobachtungsbegriff bei Niklas Luhmann vgl. Nickel u. Nickel-Schwäbisch, Visio Dei. Vgl. De Coniecturis I (n. 32,3): Sensus enim sentit et non discernit. Omnis enim discretio a ratione est; […] affirmat sensibile esse, sed non hoc aut illud. Vgl. a.a.O.: Ratio ergo sensu ut instrumento ad discernendum sensibilia utitur; sed ipsa est, quae in sensu sensibile discernit.

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Verstand, und sie eint schließlich die mannigfaltige Andersheit der Begriffe in ihrer einfachen Vernunfteinheit.« 13 – Die Schau, visio, geht als (rein negatives) ›Grenzvermögen‹ noch über die Vernunft hinaus; sie: »führt den Betrachtenden über allen Sinn, Verstand und alle Vernunft hinaus zur mystischen Schau, in welcher der Aufstieg jeder erkennenden Kraft sein Ende und die Enthüllung des unbekannten Gottes ihren Anfang hat.« 14 Sicherlich hatte Cusanus eine Mathematisierung der Konjekturen nicht beabsichtigt, 15 aber auch die im Cusanischen Werk auffällige Integration mathematischer Konzepte zeigt ein verwandtes, reflektierendes Vorgehen. Besonders seine Reflexionen über das Erkenntnismittel Mathematik gehen weit über das Problembewusstsein Swinburnes hinaus. Bereits im ersten Buch seines frühen Hauptwerks, De docta ignorantia, betont er die Angewiesenheit der theologischen Spekulation, vom Gegebenen, Geschöpflichen, Begrifflichen auszugehen, das jedoch für die Suche nach Gotteserkenntnis allenfalls Ähnlichkeit, similitudo, niemals aber Genauigkeit, rectitudo, veritas, vermitteln könne. In Bezug auf die Gotteslehre sei also zunächst nur das schiere Nichtwissen selbstverständlich und bereits ein genaues Wissen um dieses Nichtwissen viel schwieriger. Dennoch präsentiert uns Nikolaus bereits in De docta ignorantia und verstärkt noch in den späteren Werken keine pure negative Theologie. Im Rahmen der einzig möglichen, »symbolischen« Erkenntnis zeichnen sich nun die mathematischen Gegenstände als Symbole durch ihre besondere Sicherheit und Unwandelbarkeit aus, was mit ihrem ausschließlichen Ursprung aus der unterscheidenden ratio des Menschen – frei von störenden, ändernden Einflüssen der Sinne – begründet wird. Schon hier also wird die Mathematik nicht einfach fraglos verwendet, sondern begründet und gezielt eingesetzt. Der bekannte Überstieg von endlichen mathematischen Figuren zu deren unendlichen (auch von Cusanus nicht mehr als mathematisch bezeichneten!) Analoga soll verdeutlichen, wie die endlichen Gegensätze (etwa gerade und gekrümmt bei Polygon und Kreis) im Unendlichen koinzidieren. Diese bekannte Figur der coincidentia oppositorum soll uns hier jedoch nur am Rande interessieren. Dagegen ist für uns entscheidend, dass sich diesem ›Aufstieg‹ aus der Mathematik sowohl eine intellektuale Weiterführung, vor allem eine trinitätstheologische Spekulation, anschließt als auch eine Rückwendung, eine Reflexion des menschlichen Geistes, der mens, einsetzt. Die Mathematik dient dann einer Selbstbeobachtung der mens und dadurch erst einer indirekten Beobachtung der Wahrheit: 13

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Vgl. De Coniecturis I (n. 32,3): Unit enim alteritates sensatorum in phantasia, varietatem alteritatum phantasmatum unit in ratione, variam alteritatem rationum in sua unit intellectuali simplici unitate. Vgl. De Possest (n. 15,1): Ducit […] speculantem super omnem sensum, rationem et intellectum in mysticam visionem, ubi est finis ascensus omnis cognitivae virtutis et revelationis incogniti dei initium. Zu einer Deutung des Cusanischen Begriff der coniectura mit Blick auf die Wahrscheinlichkeitstheorie vgl. Pukelsheim/Schwaetzer, Mathematikverständnis, S. 111ff.

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Die mens erblickt jedoch nicht die Wahrheit selbst, durch die sie sich und alles erblickt. Sie weiß darum, daß diese ist (quia-est), nicht was sie ist (quid-est), so wie das Sehen nicht die Klarheit jenes Sonnenlichtes sieht, durch das es alles Sichtbare sieht und dennoch erfährt, daß es ohne es nicht sieht und so das ›quia-est‹ erreicht, das ›quid-est‹ jedoch in keiner Weise. 16

Die mens zeigt sich beim Hervorbringen der – neuplatonisch gesprochen – besonders edlen Gegenstände der Mathematik auf exemplarische Weise; und insofern alle Cusanischen Werke als Denk-Experimente verstanden werden können, bei denen sich die mens allerdings als Experimentator und Untersuchungsgegenstand gleichzeitig erweist, wird ›aus den Augenwinkeln‹ immer auch ein Blick auf Gott geworfen, und zwar per infinitum, was gleichzeitig als »trennend« und »verbindend« zu übersetzten wäre. Es darf nun allerdings die Frage gestellt werden, was die sorgfältigen Selbst-Erfahrungen der mens mit einer christlichen Gotteslehre zu tun haben können. Hier scheinen mir zwei Aspekte wichtig. Zum einen wird die mens als imago dei beschrieben; schöpfungstheologisch ist also verbürgt, daß die intellektuale Spekulation schließlich nicht nur bei der mens selbst bleibt, sondern wenigstens Ähnlichkeit mit Gott erreichen könnte. Eine Weiterführung dieses Arguments zeigt, dass gerade die imitierte – nicht usurpierte! – Kreativität des menschlichen Geistes, nämlich die freie Schöpfung der mathematischen Gegenstände, den ursprünglichen schöpferischen Akt Gottes reflektieren hilft. 17 Zum anderen ist der Zielpunkt stets eine trinitarische Gotteslehre, also eine differenzierte Einheit jenseits der – noch nicht hinreichend differenzierten und bestimmten – Koinzidenz des Gegensätzlichen. Insofern sich die Trinität gerade nur (oder wenigstens auch) ökonomisch äußert und erkennen lässt, das heißt im Sinne der Einfaltung-Ausfaltung, complicatio-explicatio, findet diese Figur nun gerade in der Mathematik als »mittlerer«, also rationaler Tätigkeit des Geistes par excellence

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Vgl. De Theologicis Complementis (n. 2,46): Sed non intuetur mens veritatem ipsam, per quam intuetur se et omnia, nisi quia est, non quid sit ipsa, sicut visus non videt claritatem illius solaris lucis, per quam videt omne visibile; experitur tamen se sine ipsa non videre, et sic quia est attingit, sed quid est nequaquam. Es ist eine bleibende Hinterlassenschaft des Cusanus für die Mathematikphilosophie, dass er die mathematischen Gegenstände erstmals in der Geschichte als freie Schöpfungen des menschlichen Geistes beschreibt; gerade deswegen sei die Mathematik so sicher wie keine andere Erkenntnis. So wie das Geschöpf Cusanus an seinen Gott gerichtet sagen kann »ich bin, weil Du mich anschaust« (s.u.) so existieren nach Cusanus die Gegenstände der Mathematik nur im und durch das Betrachten des Mathematikers. Diese kreative Freiheit des Menschen, die zudem in ihrer Ausfaltung durch Cusanus eine prekäres Konzept bleibt, bezieht er allerdings ausschließlich auf Begriffsbildung und auf Handlungen. Die selbstgeschaffenen Begriffe ermöglichen dann allenfalls eine Angleichung an die Wesenheit der empirischen Dinge, niemals genaue Kenntnis. Damit eignet sich die Mathematik jedoch nicht nur als Mittel zur approximativen Beschreibung der Welt, sondern auch für das Experiment einer Selbstbeobachtung der mens, die sich hier als imago, nicht als explicatio Gottes darstellt – und ebendarin einer indirekten Gottesbeobachtung.

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ihre Entsprechung, insofern die ratio die Verschiedenheit der Sinne (vereinigend) einfaltet und ihrerseits aus der die kontradiktorischen Widersprüche vereinigenden Einfachheit des intellectus entfaltet ist. Damit ist sie ein besonders geeignetes Beobachtungsfeld für diese Denkfigur. Wiederum an einem mathematischen Bild kann dies illustriert werden. Betrachtet wird die Annäherung des Kreises durch Polygone mit wachsender Eckenzahl (vgl. Abbildung 1). Dabei werden zu dem jeweiligen Polygon der Inkreis und der Umkreis konstruiert. Je größer die Zahl der Ecken ist, desto mehr nähern sich der eingeschriebene Kreis, der umschriebene Kreis und das Polygon selbst. Im Grenzfall kommen der Umkreis, der Inkreis und das ›Unendlich-eck‹ zur Deckung. Diese Drei-Einheit kann aber an dem dann nur noch sichtbaren einen Kreis selbst nicht wahrgenommen werden: Und sie sind so drei Kreise, daß sie einer sind, und zwar ein dreieiniger Kreis. Dies kann auf keine Weise erscheinen, wenn es nicht an den Polygonen betrachtet wird. 18

Abb. 1: Circulus Unitrinus, De Theol. Com. (n. 3,10–15)

Erst vermittels der rationalen Unterscheidung, durch das Polygon symbolisiert, kommen also die Momente der (trinitarischen) Einheit, symbolisch der dreieinheitliche Kreis, zur Darstellung. Und wiederum in umgekehrter Richtung ist überhaupt nur ein trinitarischer Gott überhaupt erkennbar: Weil Du nämlich einsehende Einsicht, einsehbare Einsicht und die Verbindung beider bist, kann darum die geschaffene Einsicht in Dir, ihrem einsehbaren Gott, die Einung mit Dir und ihre Glückseligkeit erreichen. 19

Wie schon der spannungsreiche Titel der docta ignorantia in einer konzentrierten Formel darstellt, geht es Cusanus immer um ein dynamisches Wechselspiel von Wissen und (bzw. um das) Nicht-Wissen, beide Aspekte dürfen nicht vergessen

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Vgl. De Theologicis Complementis (n. 3,10–15): Et ita sunt tres circuli quod unus, et est circulus unitrinus. Nec hoc quovis modo apparere potest, nisi respiciatur ad polygonias. Vgl. De visione dei (c. 19, n. 81,5): Nam quia es intellectus intelligens et intellectus intelligibilis et utriusque nexus, tunc intellectus creatus in te deo suo intelligibili unionem tui et felicitatem assequi potest. Sic cum sis amor amabilis, potest creata voluntas amans in te deo suo amabili unionem et felicitatem assequi.

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werden. In der Werkfolge 20 wird allerdings spätestens mit den Idiota-Dialogen die Leichtigkeit der Gotteserkenntnis betont, kann schließlich das ein-fache Können, das posse, zum Gottesnamen werden. Die zunächst metaphysisch behauptete Koinzidenz des Gegensätzlichen wird hier auf den Erkenntnisgang selbst angewendet, die Koinzidenz von Wissen und Nichtwissen auf ein – freilich kategorial verschiedenes – Wissen hin überschritten: »die Wahrheit ruft auf den Gassen!« 21 Die intellektuale Spekulation zeigt also, wie sich die Begründungsverhältnisse umkehren, und damit auch die relative Klarheit und Sicherheit. Nach einer geometrischen Handführung in De venatione sapientiae heißt es: Wenn ich diese [geometrischen, G.N.] Verhältnisse irgendwie als notwendig erschaue, so bin ich mir absolut sicher, daß sie in noch unvergleichlich wahrerer Weise im KönnenSein [einer der Cusanischen Gottesnamen, G.N.] wirklich sind. Der Verstand kann nämlich nichts finden, was dem Können-Sein fehlte, da es alles Begreifbare und das Begreifen übersteigende in Vollkommenheit wirklich ist, gemäß der richtigen Bemerkung des seligen Anselm, Gott sei das über alles Begreifen Größere. 22

Dem entspricht das ontologische Begründungsverhältnis (bzw. Schöpfungsverhältnis); das Unendliche misst, das heißt begründet das Endliche: Das Unendliche ist nicht meßbar, da es unbegrenzt ist. Es kann also nicht mit den Grenzen irgendeines Maßes eingeschlossen werden, sondern ist selbst das Maß von allem. 23

Der nach Erkenntnis suchende Theologe erfährt sich selbst schließlich als längst schon erkannt; aber gerade dies kann er gerade noch ›erkennen‹. Dieser Wechsel der Perspektiven bleibt allerdings unverfügbar, wird als Entrückung, raptus, erfahren und beschrieben. Aber gerade dieses kann nochmals am mathematischen Bild illustriert – und damit rationalisiert! – werden, dass nämlich die mens vom winkelartigen Umfassen zu kreisartigem emporgerissen [wird]; so wie die Schüler durch das Lesen bestimmter Bücher zuerst zur allgemeinen Kunst und dann zur Meisterschaft, alle Bücher zu lesen, emporgerissen werden. 24

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Besonders Kurt Flasch betont die Entwicklung im Denken des Nikolaus von Kues und weist dabei dem Werk über die Mutmaßungen, De coniecturis, eine Schlüsselfunktion zu; vgl. Flasch, Nikolaus von Kues. Vgl. De Sapientia I (n. 3,19): Ego autem tibi dico, quod »sapientia foris« clamat »in plateis«. Vgl. De venatione sapientiae (n. 77,1): Certissimus autem sum, si haec qualitercumque necessaria video, incomparabiliter verius in possest actu esse. Non enim potest quicquam rationabiliter videri, quo ipsum possest careat, cum omnia comprehensibilia et omnem comprehensionem excedentia perfectissime actu exsistat, beato Anselmo veraciter asserente deum esse maius quam concipi possit. Vgl. De Theologicis Complementis (n. 2,46): Infinitum non est mensurabile, quia infinitum et interminum. Non igitur potest claudi terminis ciuscumque mensurare, sed ipsum est mensura omnium. Vgl. De theologicis complementis (n. 9,68): Ad circularem igitur capacitatem continue accedit, quam sua virtute numquam attingit, sedde gratia creatoris rapitur de angulari capacitate in circularem, sicut

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Im Gegensatz zum Wahrscheinlichkeitsbegriff Swinburnes kippt die Konjektur bei Cusanus nicht in eine falsche Allgemeingültigkeit oder falsche Sicherheit und respektiert sowohl die Unvergleichbarkeit mit anderen Mutmaßungen wie auch die bleibende Andersheit des ›Gegenstandes‹. Ein universaler, objektiver Standpunkt wird gerade nicht usurpiert, auch die eigenen Betrachtungen werden explizit als Mutmaßungen präsentiert. Die Mutmaßung fordert aber zugleich auch eine nicht beliebige Bezugnahme auf den Gegenstand hin und die gegenseitige Bezogenheit der unterschiedlichen Mutmaßungen. Die Emotion des Erkennenden könnte man als hochgemute Demut beschreiben – wir dürfen uns an immer neuen, immer anderen Konjekturen erfreuen, die Näherung, aber nie Gleichheit erlauben: Unaussprechlich ist die Freude, wenn jemand in der Mannigfaltigkeit der der Vernunft einsichtigen wahren Dinge die Einheit der unendlichen Wahrheit berührt. Er sieht nämlich auf geistige Weise in der Andersheit der sichtbaren Dinge die Einheit jeder Schönheit, er hört auf geistige Weise die Einheit jeder Harmonie, er kostet die Einheit der Süßigkeit aller Freude, er umfasst die Einheit aller Ursachen und Verstandesgründe, er umarmt mit geistiger Freude alles in der Wahrheit, die er allein liebt. 25

2. Sinn(e) für die Religion 2.1 Gott als Gegenstand der Wahrnehmung? Der Bezug auf ›religiöse Erfahrung‹, religious experience, ist im Argumentationsgang Swinburnes mehr als ein Argument unter anderen, denn derartige Erfahrungen sollen nach einem Unentschieden zwischen Theismus und Atheismus – P(G) ist nur ein wenig größer als ½ – 26 mittels eines Glaubwürdigkeitsprinzips, principle of credulity, den entscheidenden Beitrag liefern: »what one seems to perceive is probably so.« 27 Nun wird aber immer wieder von religiösen Erlebnissen berichtet, die Swinburne als »experience which seems (epistemically) to the subject to be an

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rapiuntur scholares de lectione particularium librorum ad artem universalem atque magisterium legendi omnes libros […] Vgl. De conieturis II (n. 105, 10): Ineffabile igitur est hoc gaudium, ubi quis in varietate intelligibilium verorum ipsam unitatem veritatis infinitae attingit. Videt enim in alteritate intellectualiter visibilium unitatem omnis pulchritudinis, audit intellectualiter unitatem omnis harmoniae, gustat unitatem suavitatis omnis delectabilis, causarum et rationum omnium unitatem apprehendit et omnia in veritate, quam solum amat, intellectuali gaudio amplexatur. Die abgeschätzte Größenordnung dieser Wahrscheinlichkeit vor der Berücksichtigung von Erfahrungszeugnissen ändert sich zwar deutlich von der ersten Auflage Swinburne, Existence zur zweiten Swinburne, Existence, Second Edition. Dennoch wird das ›Argument aus der religiösen Erfahrung‹ durchgehend als crucial bezeichnet. Swinburne, Existence, S. 254.

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experience of God […] or of some other supernatural thing« 28 definiert. 29 Wer also beispielsweise Poseidon am Fenster stehen sehe, 30 der habe guten Grund, von der Existenz Poseidons auszugehen. Dabei habe der Theist den Vorteil einer allgemeinen Asymmetrie der Wahrnehmung, dass sich nämlich die Existenz einer Entität leichter wahrnehmen lasse als ihre Nicht-Existenz. Auch wenn also der Stellenwert der religious experience für die Argumentation beträchtlich ist, möchte ich bezweifeln, dass hier religiöse Erfahrungen oder gar Wahrnehmungen tatsächlich ernst genommen werden. Zum einen ist (die Vielfalt) religiöse(r) Erfahrung gerade nicht der Ausgangspunkt der Fragestellung, das Fundament der Argumentation, sondern starke metaphysische Voraussetzungen (etwa der gewählte Gottesbegriff); Religionsphilosophie wird hier nicht zur Erfahrungswissenschaft. Da bekanntlich nicht einmal die Naturwissenschaften rein von der Erfahrung ausgehen (können), sondern an Hand des gewählten Theorierahmens vorab entscheiden, was (experimentell) erfahren werden kann, ist dies zunächst kein zu kritisierender Sonderfall. Wenn allerdings die Theorie über die Fakten (mit)entscheidet, entfällt die vorgeblich zwingende Überzeugungskraft des Verweises auf Erfahrung. Unabhängig von diesen theoretischen Erwägungen wäre es sicherlich lohnend, eine genaue Phänomenologie religiöser Erfahrung bzw. Wahrnehmung zu entwerfen; eine solche vermisst man aber bei Swinburne. 31 Brisanter ist allerdings, dass gerade diejenigen Berichte über religiöse Erfahrungen nicht berücksichtigt werden, die wesentliche Grundentscheidungen der präsentierten, analytischen Religionsphilosophie selbst fragwürdig werden lassen. Insbesondere fehlt eine sorgsame Exegese (etwa) biblischer Texte, die von ›Gotteserfahrungen‹ berichten. Betrachtet man beispielsweise den Bericht vom brennenden Dornbusch, die Emmaus-Erzählung oder die Osterberichte, so werden hier außerordentlich prekäre Widerfahrnisse geschildert, die als ›Wahrnehmung eines Gegenstandes‹ höchst unterkomplex beschrieben wären. Ebenso werden große Mystiker praktisch gar nicht rezipiert. 32 Hier wären doch wohl Quellen, die man wahrnehmen müsste. Letztere stellen jedoch sorgsam gehütete Unterscheidungen radikal in Frage, etwa die von Subjekt (innen) und Objekt (außen) oder von Sein und Nicht-Sein, und überschreiten diese auf eine zugrunde liegende Einheit hin. 33 28 29

30 31

32 33

Ebd., S. 246. Es bleibe dahingestellt, wie sich bei einer Definition, die eine ›Erfahrung übernatürlicher Gegenstände‹ voraussetzt, Natur- und Erfahrungsbegriff zueinander verhalten mögen. Vgl. ebd., S. 254. Die gerade nicht aus einem sorgfältigen Studium der Phänomene bzw. Berichte stammende Klassifikation, die Swinburne in Existence, S. 244 vornimmt, ersetzt eine solche nicht; vgl. auch die Kritik bei Gregor Nickel und Dieter Schönecker in diesem Band. Eine sorgsame Phänomenologie religiöser Erfahrungen findet man hingegen etwa in Esterbauer, Anspruch und Entscheidung. Vgl. etwa die Studien in Molinaro/Salmann, Filosofia e Mistica. Diese allzu schlichte Charakterisierung ist sicherlich höchst unzulänglich und auch nicht unstrittig; vergleiche etwa Sudbrack, Mystik, in dem das Spezifische christlicher Mystik als personale Begegnung

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Oder aber sie benennen explizit – wie etwa Blaise Pascal –, dass es ihnen gerade nicht um den ›Gott der Philosophen‹ gehe. Will man dies nicht nur als die existentielle Krise eines Mathematikers mit schwachen Nerven abtun, ist zumindest eine Rückfrage an die Legitimität der metaphysischen Begrifflichkeit nötig. An dieser Stelle müsste natürlich viel mehr gesagt werden, als der Rahmen des vorliegenden Aufsatzes zulässt; hier möge sich lediglich eine kurze Bemerkung anschließen. Das Konzept einer naiv objektivierenden Gegenstands-Wahrnehmung wird problematisch, wenn die Anschauungsformen der Wahrnehmung, nämlich Raum und Zeit als solche erkannt werden. Damit können sie nicht mehr die Rolle eines objektiv vorgegebenen ›Weltrahmens‹ spielen; vielmehr wird ihre Funktion für die bzw. ihre Herkunft aus der Wahrnehmung des Beobachtenden thematisiert (über ihre apriorische bzw. empirische Struktur kann man dann anschließend weidlich streiten). Nur am Rande sei erwähnt, dass dies nicht nur im Gefolge mystischer Erfahrung der Fall sein kann, sondern etwa auch durch eine philosophische Reflexion auf die Voraussetzungen der Naturwissenschaften. Dagegen wird bei Swinburne in ähnlich unbefangener Weise wie mit dem Gottesbegriff bereits mit dem Welt- und Objektbegriff umgegangen, werden der Raum der Schulphysik, die Zeit, die man auf der Uhr ablesen kann, und eine Ontologie schlichter Dinge mit Eigenschaften vorausgesetzt. 34 Dabei gilt bereits innerhalb der positiven Wissenschaften (Physik, Chemie, Biologie etc.), dass alle drei Konzepte sowohl auf theoretischer wie auf empirischer Ebene längst sehr viel differenzierter beschrieben werden. Man beachte nur die genaue Diskussion über empirischen vs. apriorischen Charakter der Raumzeit im Rahmen der Relativitätstheorie und die Problematisierung des Objektbegriffes in der Quantentheorie. Hier kann etwa schon der scheinbar selbstverständliche Ausgangspunkt, dass es ›in der Welt‹ einzelne ›Gegenstände‹ mit ›Eigenschaften‹ gäbe, als Resultat eines beobachtenden Eingriffes aufgefasst werden. 35 Bereits dies sollte dazu führen, die Konzepte Raum und Zeit sowie den Objektbegriff in ihrer vorgängigen Funktion für eine

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charakterisiert wird und einer Verschmelzung mit dem Absoluten entgegengesetzt wird. Aber auch dann müssten wesentliche Unterschiede zum Konzept einer objektivierenden, sinnlichen Wahrnehmung eines Gegenstandes konstatiert werden, so dass die behauptete Analogie, zumal in epistemischer Hinsicht, kaum mehr überzeugen dürfte. Die vorausgesetzten Konzepte von Raum und Gegenständen scheinen mir – vergleichbar mit dem sog. direkten Realismus – einander zirkulär wechselseitig zu stützen. Wenn es darum geht, die Objektivität der Wahrnehmung eines unbekannten Gegenstandes (eines Samowars zum Beispiel) gegen die Auffassung einer internen Konstruktion zu behaupten, so gilt: Der ›Samowar an sich‹ ist das, was im ›Raum‹ ist. Und genau dieses wird – auch von demjenigen, der keinen Samowar kennt – wahrgenommen. Auf die Frage aber, was den ›Raum‹ ausmache, erfolgt die Antwort: ›Raum‹ ist, wo der ›Samowar‹ ist. Vgl. ausführlich zu dieser Thematik Primas, Chemistry.

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Erkenntnislehre zu untersuchen. 36 Verwendet man diese Konzepte unreflektiert, sind aber schon wichtige metaphysische Weichen gestellt. Spätestens aber wenn es um einen sprachlichen Ausdruck für die Wahrnehmung des Heiligen, oder gar Gottes gehen könnte, scheinen mir zumindest Reflexionsbemühungen in dieser Hinsicht unerlässlich. 2.2 Vom Sehen Gottes In seinem »schönsten Buch« (K. Flasch), dem Traktat De visione dei, nimmt Cusanus das sinnliche Sehen zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen; dabei finden wir wiederum einen Wechsel der Perspektive, wiederum den Übergang von der Verwendung eines Erkenntnismittels zur Reflexion über dieses. 37 Dabei ist – im Unterschied zu Swinburne – die Zielrichtung gerade nicht, die epistemologische Zuverlässigkeit (sinnlicher) Wahrnehmung zu begründen und durch ein Übertragen auf die religiöse Situation für das apologetische Geschäft in Anspruch zu nehmen. Nicht dass das Sehen, sondern wie das Sehen etwas zeigt, ist der Ausgangspunkt, um dem »Sehen Gottes«, der Bedingung der Möglichkeit allen endlichen Sehens nachzuspüren. Ausgangspunkt in diesem Werk, das Nikolaus den Mönchen des Klosters Tegernsee als Einführung in die mystische Theologie widmete, ist die Beschreibung eines optischen Wahrnehmungs-Experimentes. Beim Betrachten eines sog. Allsehenden – Cusanus zählt einige berühmte Beispiele auf und schickt für die Mönche ein solches Bild mit – kann mittels kunstvoller Maltechnik der Eindruck vermittelt werden, als würden die Augen einer porträtierten Person dem Betrachter folgen. Dieser Eindruck wird auch bei Apsismosaiken erzeugt, etwa beim Christusportrait in der Kirche Santi Cosma e Damiano in Rom. Dabei kommt den Künstlern zugute, dass der menschliche Betrachter das zweidimensionale Objekt als dreidimensional wahrnimmt, und damit Informationen produziert, die 36

37

Dass ganz im Gegensatz zu Swinburnes Ansicht, vgl. Swinburne, Existence, S. 54, die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften hervorragend in einem Kantischen Rahmen zu verstehen sind, zeigen u.a. bereits die Analysen Ernst Cassirers. Aber auch Cusanus hätte man zu diesem Thema nach einem erhellenden Kommentar fragen können: »Auf die Frage, ob die Intelligenz ausgedehnt ist, könnte man in einer nächstliegenden Mutmaßung antworten – gesprochen nach der Weise des Verstandes –, sie sei nicht anders ausgedehnt, als der Verstandesbegriff ›ausgedehnt‹ zeigt. […] Ebenso muss man auf die Frage, ob sie an einem Ort ist, antworten, sie sei so an einem Ort, wie das der Verstandesbegriff ›Ort‹ zeige. Der Ort der Intelligenz ist nämlich der Verstandesbegriff ›Ort‹ […] ebenso ist sie Substanz in dem Sinn, daß aus ihr der Begriff ›Substanz‹ hervorgeht« Vgl. De Coniecturis (n. 25, 17): Quapropter si quaeritur ›an intelligentia sit quanta‹, propinqua coniectura poterit responderi per rationem dicendo ipsam non aliter quantam quam ratio quanti ostendit. […] Ita quidem ad quaestionem ›an in loco sit‹, dicendum eam in loco esse, ut loci ratio ostendit. Locus enim intelligentiae est ratio loci. […] Ita equidem ipsa est substantia, hoc est quia de ipsa ratio substantiae effluit. Ich beschränke mich hier nur auf wenige Aspekte des Werkes und übergehe etwa die christologische Thematik des zweiten Teils vollständig.

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im Gegenstand selbst gar nicht vorhanden sein können. Damit wird der visuelle Eindruck des jeweiligen Betrachters unter der Voraussetzung der eigenen Positionierung zum Bild wahrnehmend interpretiert. Nikolaus gibt den Mönchen nun eine stufenweise Experimental-Anleitung: Zunächst wundert sich der einzelne Betrachter, dass die Augen des an fester Position fixierten Porträts sich stets auf ihn richten, von wo auch immer er das Bild betrachtet; ja dass er sogar von ihrem Blick verfolgt zu werden scheint, während er kontinuierlich seine eigene Position verändert. Tauschen sich verschiedene Beobachter – einander vertrauend – über ihre Eindrücke aus, so werden sie wiederum erstaunt feststellen, dass der Blick des Bildes gleichzeitig jedem einzelnen Beobachter folgt. Für Cusanus wird an diesem »Bild Gottes«, eicona dei, eine Koinzidenz verschiedener, einander ausschließender Perspektiven, aber auch von Stillstand und Bewegung illustriert. Nach dieser Vorübung wird dann aber das Sehen selbst zum Thema der Überlegungen; Cusanus fragt von der Beobachtung eines paradoxen Phänomens ausgehend zurück auf das absolute Sehen, das jedes endliche Sehen überhaupt erst ermöglicht. So geht es schließlich um das ›Sehen Gottes‹, die visione dei, als absolutes, von aller Bedingtheit freies Sehen. Dieses begreift alles perspektivische Sehen in sich, ohne aber die Differenzen zwischen den Konkreta schlicht zu vermengen: Denn du, o Herr! schauest jedes Wesen so an, daß man denken sollte, du habest keine andere Sorge, als daß nur dieses Wesen auf die bestmögliche Weise existiere […] 38

Das unbedingte Sehen kann jedoch wegen der vorausgesetzten oder erkannten Unendlichkeit Gottes keine realen Differenzen zulassen; damit wird das Sehen Gottes auch zur Vorsehung, zum (Be)Wirken, sogar zum Schaffen, 39 und so kann Cusanus formulieren: Da Dein Sehen Dein Sein ist, bin ich also, weil Du mich anschaust. 40

Der Kontrast zur fest-stellenden Argumentation bei Swinburne: ›Gottes Existenz wird bewiesen, weil Swinburne (oder wer auch immer) ihn sieht‹ könnte kaum größer sein; hier bleiben der Beobachter, sein Sehen und Urteilen gegenüber der beobachteten Tatsache unbeteiligt und unverändert. Ob ›Gott‹ gesehen wird oder ›Poseidon‹ oder ein Samowar, ist für die Argumentation und für den Argumentierenden prima facie völlig unerheblich. Bei Cusanus hingegen offenbart sich dem verwunderten Denkenden in seiner Betrachtung über das Sehen ein ihn selbst

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39 40

Vgl. De visione dei (c. 4, n. 9,16): Ita enim tu, domine, intueris quodlibet, quod est, ut non possit concipi per omne id, quod est, te aliam curam habere, quam ut id solum sit meliori modo, quo esse potest […] Nikolaus dekliniert ebenso die Koinzidenz des Sehens u.a. mit Lesen, Erfassen, Lieben durch. Vgl. De visione dei (c. 4, n. 10,9): In tantum enim sum, in quantum tu mecum es; et cum videre tuum sit esse tuum, ideo ego sum, quia tu me respicis, et si a me vultum tuum subtraxeris, nequaquam subsistam.

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immer schon anblickender Ursprung des Sehens, erfährt er sich als gesehen und damit in seinem Sein, Denken und Sehen begründet. Dieser von Cusanus beschriebene Gott ist allerdings kein alles observierender big brother, er lässt sich schließlich doch auch radikal darauf ein, selbst gesehen zu werden. Stets ist also der doppelte Sinn des Genitivs bei der visione dei mitzudenken: Was anderes ist daher dein Sehen, o Herr! wenn du mich mit mildem Auge anblickst, als daß du von mir gesehen wirst? Indem du mich siehst, gibst du dich mir zu sehen, der du der verborgene Gott bist. 41

Wir finden darüber hinaus eine weitreichende Symmetrie von sehen und gesehen werden. Die Projektion ›von unten‹, aus der menschlichen Perspektive – das »homo mensura«, das Cusanus explizit bekräftigt – und die Offenbarung ›von oben‹ koinzidieren: Wer mit liebevollem Antlitze dich anschaut, wird auch dein Antlitz nicht anders als liebreich finden, und je liebreicher er dich anschaut, umso liebreicher wird er dein Antlitz finden. Wer dich mit Unwillen anschaut, wird dein Antlitz gleichfalls unwillig finden […] 42

Diese in letzter Konsequenz gnadenlose Symmetrie wird dann allerdings durch das göttliche Erbarmen liebevoll durchbrochen; wendet sich der sündige Mensch von Gott ab, so impliziert dies gerade nicht ein korrespondierendes Abwenden Gottes: Gleichwohl wendest du dich nicht ganz von mir, dein Erbarmen folgt mir nach, ob ich etwa wieder zu dir zurückkehre. 43

Der Gottsucher Cusanus beschreibt schließlich sein eigenes ›Sehen‹ wiederum mit dem Begriff des raptus. Er starrt dabei jedoch weder in das (nur subjektive) Dunkel eines Unerkennbaren noch beobachtet er Cartesianisch distanziert clare et distincte einen objektiven Gegenstand, sondern er erhält beglückt einen Vorblick auf die verheißene Erfüllung seiner durch kein Endliches stillbaren Sehnsucht: Ich sehe dich, Herr und Gott! in einer Art von Entrückung; denn wenn das Auge nicht durch den Anblick, das Ohr nicht durch das Gehörte, so wird noch weniger der Intellekt durch das Intellektuale gesättigt. Was also den Intellekt sättigt und sein Ziel ist,

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Vgl. De visione dei (c. 5, n. 13,10): Quid aliud, domine, est videre tuum, quando me pietatis oculo respicis, quam a me videri? Videndo me das te a me videri, qui es deus absconditus. Vgl. De visione dei (c. 6, n. 19,5): Visus tuus, domine, est facies tua. Qui igitur amorosa facie te intuetur, non reperiet nisi faciem tuam se amorose intuentem, et quanto studebit te amorosius inspicere, tanto reperiet similiter faciem tuam amorosiorem; qui te indignanter inspicit, reperiet similiter faciem tuam talem; Vgl. De visione dei (c. 6, n. 14,7): Non tamen adhuc avertis te penitus, sed misericordia tua sequitur me, an aliquando velim reverti ad te, ut sim capax gratiae tuae.

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ist nicht das, was er erkennt, so wie ihn auch das nicht sättigen kann, was er durchaus nicht erkennt, sondern nur das, was er ohne es zu begreifen erkennt. 44

Literaturverzeichnis Nicolai de Cusa: Opera omnia, iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis ad codicum fidem edita, Leipzig/Hamburg 1932ff. Nikolaus von Kues: Philosophisch-Theologische Werke, Hamburg 2002. Ders.: Vom Sehen Gottes, Zürich 1987. Dalferth, Ingolf U.: Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, Tübingen 1992. Esterbauer, Reinhold: Anspruch und Entscheidung. Zu einer Phänomenologie der Erfahrung des Heiligen, Stuttgart 2002. Flasch, Kurt: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt a.M. 1998. Hacking, Ian: The Emergence of Probability, Cambridge 1975. Ders.: »The Logic of Pascal’s Wager«. In: Gambling on God, hg. von Jeff Jordan. London 1994, S. 21–29. Krengel, Ulrich: Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie, Braunschweig 1988. Löffler, Winfried: »Eine vermutlich unerwünschte Konequenz von Swinburnes probabilistischer Gotteslehre«. In: Argument und Analyse, hg. von Ansgar Beckermann/Christian Nimtz. Bielefeld 2000, S. 474–484. Molinaro, Aniceto/Salmann, Elmar (Hrsg.): Filosofia e Mistica, Rom 1997. Nickel, Gregor: »Nikolaus von Kues: Zur Möglichkeit von theologischer Mathematik und mathematischer Theologie«. In: Spiegel und Porträt. Zur Bedeutung zweier zentraler Bilder im Denken des Nicolaus Cusanus, hg. von Inigo Bocken/Harald Schwaetzer. Maastricht 2005, S. 9–28. Nickel, Gregor/Nickel-Schwäbisch, Andrea: »Visio Dei ante omnia quae differunt. Niklas aus Lüneburg beobachtet Nikolaus von Kues«. In: Cusanus-Rezeption in der Philosophie 44

Vgl. De visione dei (c. 16, n. 70,1): Video te, domine deus meus, in raptu quodam mentali, quoniam si visus non satiatur visu nec auris auditu, tunc minus intellectus intellectu. Non igitur id, quod satiat intellectum seu est finis eius, est id, quod intelligit, neque id satiare potest, quod penitus non intelligit, sed solum illud, quod non intelligendo intelligit.

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Gregor Nickel

des 20. Jahrhunderts, hg. von Klaus Reinhardt/Harald Schwaetzer. Regensburg 2005, S. 67–92. Plantinga, Alvin: Warranted Christian Belief, Oxford 2000. Primas, Hans: Chemistry, Quantum Mechanics, and Reductionism, Berlin 1983. Pukelsheim, Friedrich/Schwaetzer, Harald (Hrsg.): Das Mathematikverständnis des Nikolaus von Kues. Mathematische, naturwissenschaftliche und philosophisch-theologische Perspektiven, MFCG 29, Trier 2005. Sudbrack, Josef: Mysik. Sinnsuche und die Erfahrung des Absoluten, Darmstadt 2002. Swinburne, Richard: The Existence of God, Oxford 1979. Ders.: The Coherence of Theism, Oxford 1993. Ders.: Epistemic Justification, Oxford 2001. Ders.: The Existence of God. Second Edition, Oxford 2004.

3. WIRKLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG DES SCHÖNEN

Maria E. Reicher

DIE WAHRNEHMUNG DES SCHÖNEN In diesem Beitrag geht es zunächst um zwei miteinander zusammenhängende Fragen ästhetische Werturteile betreffend und in der Folge um die Ontologie ästhetischer Wertqualitäten. Die erste Frage lautet: Wie sind ästhetische Werturteile zu interpretieren? Unter »ästhetischen Werturteilen« werden hier Äußerungen verstanden, in denen ein Subjektausdruck mit (mindestens) einem ästhetischen Wertprädikat verbunden wird, zum Beispiel »Diese Landschaft ist schön« oder »Das ist ein guter Film«. Es wird die These verteidigt, dass ästhetische Werturteile zumindest in manchen Fällen als genuine ästhetische Werturteile zu interpretieren sind, d.h. als Urteile, durch die einem Gegenstand eine Werteigenschaft zugeschrieben wird. Die zweite Frage lautet: Wie können genuine ästhetische Werturteile epistemisch begründet werden? Auf welcher epistemischen Basis kann man also z.B. behaupten, dass eine bestimmte Landschaft schön, ein bestimmter Film gut ist? Es wird die These vertreten, dass genuine ästhetische Werturteile durch eine spezielle Art von Wahrnehmung begründet sind, die als »ästhetische Wahrnehmung« bzw. auch »ästhetische Erfahrung« bezeichnet werden kann, wobei ästhetische Wahrnehmung als ein unmittelbares Erleben ästhetischer (Wert-)Qualitäten aufgefasst wird. Die Natur der ästhetischen Wahrnehmung wird näher untersucht. Dabei geht es unter anderem um die Frage, welche Rolle Emotionen einerseits und kognitive Prozesse andererseits für die ästhetische Wahrnehmung spielen. Außerdem wird für eine Dispositionstheorie der ästhetischen Werteigenschaften argumentiert. Ästhetische Werteigenschaften werden als dispositionelle Eigenschaften interpretiert, analog den sekundären Qualitäten John Lockes. Diese Auffassung wird gegen folgende Einwände verteidigt: das Problem der Normalbedingungen der ästhetischen Wahrnehmung, der Einwand der ontologischen Absonderlichkeit, der Einwand der Überflüssigkeit, der Kein-Realismus-Einwand, der Normativitätseinwand und das Problem der Unterscheidung von Geschmacksurteilen und genuinen Werturteilen.

1. Einleitung »Über Geschmack lässt sich streiten« und »Über Geschmack lässt sich nicht streiten« – so lauten zwei gleichermaßen bekannte und häufig verwendete, einander aber gleichwohl prima facie widersprechende Redewendungen. Der Widerspruch

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Maria E. Reicher

ist jedoch nur ein scheinbarer. Die erste Redensart drückt nämlich (in ihrer üblichen Verwendung) nur aus, dass Geschmäcker eben verschieden sind. Die zweite Wendung hingegen – »Über Geschmack lässt sich nicht streiten« – ist eine konzise Formulierung der These, dass Geschmacksurteile nicht rational begründet oder verteidigt werden können, weil sie nichts weiter als persönliche Vorlieben und Abneigungen zum Ausdruck bringen, die ihrerseits zwar unter Umständen erklärbar, nicht aber epistemisch begründbar sind. Unter einem »Geschmacksurteil« verstehe ich ein Urteil, durch welches die urteilende Person ausdrückt, dass ihr ein Gegenstand gefällt oder nicht gefällt. Den Terminus »Urteil« verwende ich hier für Sätze, also für linguistische Entitäten (nicht für mentale Akte). »Diese Landschaft ist schön« würde demnach, als Geschmacksurteil interpretiert, dasselbe ausdrücken wie »Diese Landschaft gefällt mir«. Geschmacksurteile sind also nicht primär Urteile über den Gegenstand, dem (scheinbar) ein ästhetisches Wertprädikat zugesprochen wird, sondern Urteile über die urteilende Person selbst bzw. über die Beziehung der urteilenden Person zu dem Gegenstand. Dass Geschmacksurteile nicht begründbar sind, widerspricht selbstverständlich nicht der These, dass verschiedene Individuen in ihren Vorlieben und Abneigungen häufig nicht übereinstimmen. Die beiden Redensarten sind also konsistent; aber nicht nur das: sie sind auch (in den soeben explizierten Lesarten jedenfalls) beide wahr. Das vielleicht wichtigste Anwendungsfeld beider Redewendungen ist das Gebiet der ästhetischen Werturteile. Unter »ästhetischen Werturteilen« verstehe ich Äußerungen, in denen ein Subjektausdruck mit (mindestens) einem ästhetischen Wertprädikat verbunden wird, zum Beispiel »Diese Landschaft ist schön« oder »Das ist ein guter Film«. Es ist zu beachten, dass dieser Gebrauch des Terminus »ästhetisches Werturteil« nichts darüber aussagt, wie ästhetische Werturteile zu interpretieren sind, was Sprecher mit solchen Urteilen tatsächlich ausdrücken wollen. Man kann ästhetische Werturteile unter anderem als Geschmacksurteile interpretieren. Man kann sie aber auch als genuine Werturteile interpretieren. Genuine Werturteile sind Urteile, durch die einem Gegenstand eine Werteigenschaft zugeschrieben wird. Wenn also »Diese Landschaft ist schön« als genuines ästhetisches Werturteil zu interpretieren ist, dann wird mit diesem Urteil einer bestimmten Landschaft die Eigenschaft der Schönheit zugeschrieben. Drittens kann man ästhetische Werturteile physikalistisch interpretieren. Das heißt, dass ästhetische Wertprädikate (»ist schön«, »ist ausgewogen«) als physikalische Prädikate interpretiert werden, so dass ästhetische Werturteile ohne Bedeutungsänderung in die Sprache der Physik »übersetzt« werden können. Eine weitere wichtige Interpretation ästhetischer Werturteile ist der Nonkognitivismus. Gemäß dieser Interpretation drücken ästhetische Werturteile überhaupt keine Behauptungen aus (weder Behauptungen betreffend die eigene Person noch

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Behauptungen über irgendeinen anderen Gegenstand), sondern nur eine Einstellung der Zustimmung bzw. Ablehnung, die als solche nicht wahrheitswertfähig ist. Ich möchte mich in diesem Beitrag vor allem auf die ersten beiden genannten Interpretationen, ihre Beziehung zueinander und die Rolle, die Emotionen für beide spielen, konzentrieren. Ich werde die These verteidigen, dass ästhetische Werturteile in manchen Fällen als genuine ästhetische Werturteile zu interpretieren sind, und dass sie in diesem Fall durch eine spezielle Art von Wahrnehmung begründet sind, die ich als »ästhetische Wahrnehmung« bzw. auch »ästhetische Erfahrung« bezeichne. Ästhetische Wahrnehmung ist ein unmittelbares Erleben ästhetischer (Wert-)Qualitäten. Wenn wir etwa urteilen, dass ein bestimmtes Musikstück leidenschaftlich ist, dann ist dieses Urteil üblicherweise nicht das Resultat eines inferentiellen Prozesses, sondern wir »hören« einfach, dass das Stück leidenschaftlich ist. Die Verwendung von Vokabular aus dem Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung bei der Beschreibung ästhetischer Erlebnisse (»hören«, dass ein Stück traurig ist, »sehen«, dass zwei Farben miteinander harmonieren) weist auf die phänomenale Ähnlichkeit zwischen (manchen Fällen) ästhetischer Erfahrung und sinnlicher Erfahrung hin. Aber ästhetische Erfahrung ist nicht Sinneserfahrung (wenngleich sie in vielen Fällen mit sinnlicher Erfahrung viel zu tun hat). In meinem Beitrag soll die Natur der ästhetischen Wahrnehmung näher untersucht werden. Dabei wird es unter anderem um die Frage gehen, welche Rolle Emotionen einerseits und kognitive Prozesse andererseits für die ästhetische Wahrnehmung spielen.

2. Semantischer Objektivismus Es ist zu beachten, dass die Frage, ob ästhetische Werturteile Geschmacksurteile oder genuine Werturteile sind, die Bedeutung einer bestimmten Art von Sätzen betrifft, nicht die Existenz von Werteigenschaften. Es handelt sich also zunächst einmal um eine semantische Frage, nicht um eine ontologische. Ästhetische Werturteile werden sowohl als Geschmacksurteile als auch als genuine Werturteile gebraucht. 1 Dabei muss den urteilenden Personen diese Mehr1

Sie werden auch noch in anderen Bedeutungen gebraucht, insbesondere zum nicht-behauptenden Ausdruck von Zustimmung oder Ablehnung. Das ist der wahre Kern des ästhetischen Nonkognitivismus. Der ästhetische Nonkognitivismus besagt jedoch, dass ästhetische Werturteile immer so gebraucht werden. Ich werde gleich Gründe dafür angeben, warum diese These unplausibel ist. Der ästhetische Physikalismus steht in dieser Hinsicht m.E. noch schlechter da als der ästhetische Nonkognitivismus. Dass ästhetische Werturteile zum Ausdruck von Einstellungen gebraucht werden, ist vermutlich wesentlich weniger außergewöhnlich als dass sie zur Zuschreibung von physikalischen Eigenschaften gebraucht werden.

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deutigkeit freilich nicht unbedingt bewusst sein. Dennoch gibt es eindeutige Fälle für beide Gebrauchsweisen. Das wesentliche Unterscheidungskriterium besteht darin, welche Reaktionsdispositionen die urteilende Person für den Fall hat, dass jemand ihrem ästhetischen Urteil widerspricht. Die Frage ist also: Wenn eine Person urteilt »Diese Landschaft ist schön«, wie würde sie reagieren, wenn jemand dagegen behauptet: »Nein, diese Landschaft ist nicht schön«? 2 Ist sie in diesem Fall bereit, ihr Urteil zu verteidigen bzw. zu begründen bzw. die andere Person zur Zustimmung zu bewegen, oder begnügt sie sich mit einem Geschmacksurteil (»Mir gefällt diese Landschaft aber«)? Im ersten Fall können wir davon ausgehen, dass das ursprüngliche Urteil ein genuines Werturteil war, im zweiten davon, dass es sich um ein Geschmacksurteil handelte. 3 Ich will nicht bestreiten, dass ästhetische Werturteile in manchen Fällen von der urteilenden Person als Geschmacksurteile gemeint sind. Aber das ist nicht immer der Fall. Denn die Erfahrung lehrt, dass Leute zwar nicht immer, aber doch in vielen Fällen ihre ästhetischen Werturteile gegen Widerspruch verteidigen bzw. begründen bzw. andere von der Richtigkeit dieser Urteile zu überzeugen versuchen. Ich vertrete die (nicht von allen Philosophen geteilte) Auffassung, dass die Bedeutung einer Äußerung wesentlich von den Sprecherabsichten abhängt, und zwar (unter anderem) in folgendem Sinn: Wenn ein Satz zwei oder mehr konventionelle Bedeutungen hat (also mehrdeutig ist), dann hängt es von den Sprecherabsichten ab, ob eine konkrete Äußerung dieses Satzes eine oder mehrere dieser Bedeutungen hat, und wenn eine, welche von diesen. 4 Für unseren Fall bedeutet das: Wenn eine Sprecherin den Satz »Diese Landschaft ist schön« (ausschließlich) in der Absicht äußert, damit einer Landschaft eine ästhetische Werteigenschaft zuzuschreiben, dann ist dieses Urteil (also die konkrete Äußerung dieses Satzes) 2

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In diesem Fall besteht der Widerspruch in der Behauptung der Negation desjenigen Urteils, dem widersprochen wird. Das muss aber nicht so sein. Der Widerspruch könnte auch in Form eines genuinen Geschmacksurteils erfolgen, also: »Mir gefällt diese Landschaft nicht.« Streng genommen ist das nicht ganz richtig. Die zweite Reaktion könnte auch auf eine nonkognitivistische Bedeutung des ursprünglichen Urteils hinweisen. Aber diese Komplikation möchte ich hier beiseite lassen. Die Auffassung, dass die Bedeutung einer konkreten Äußerung von den Sprecherintentionen abhängt, wird oft als »semantischer Intentionalismus« bezeichnet. Semantischer Intentionalismus existiert jedoch in zahlreichen und unterschiedlich starken Varianten. Die wohl denkbar stärkste (meines Wissens aber von niemandem vertretene) Variante würde besagen, dass die Bedeutung einer Äußerung generell identisch sei mit dem, was der Sprecher mit der Äußerung sagen wollte – unabhängig von Bedeutungskonventionen, Sprachkompetenz des Sprechers und Äußerungskontext. Der folgenden Argumentation liegt eine wesentlich schwächere Version des semantischen Intentionalismus zugrunde: Dieser zufolge werden, kurz gesagt, die Sprecherintentionen erst dort bedeutungskonstitutiv, wo Sprachkonventionen und Kontext keine eindeutige Entscheidung zwischen konkurrierenden Interpretationsmöglichkeiten mehr erlauben. Aber selbst diese sehr schwache Form des semantischen Intentionalismus wird von manchen Philosophen abgelehnt.

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ein genuines ästhetisches Werturteil. Wenn die Sprecherin denselben Satz hingegen (ausschließlich) in der Absicht äußert, damit auszudrücken, dass ihr die Landschaft gefällt, dann ist dieses Urteil ein Geschmacksurteil. Ein dritter Fall ist auch noch denkbar: Die Sprecherin beabsichtigt sowohl die Zuschreibung einer ästhetischen Werteigenschaft als auch den Ausdruck des subjektiven Gefallens. In diesem Fall hätten wir es mit einem mehrdeutigen Urteil zu tun, das sowohl ein Geschmacksurteil als auch ein genuines Werturteil ist. Ein Argument für die These, dass ästhetische Werturteile zumindest manchmal als genuine Werturteile zu interpretieren sind, lautet wie folgt: 1. Es ist eine Tatsache, dass Sprecher zumindest in manchen Fällen bereit sind, ihre ästhetischen Werturteile gegen Widerspruch zu verteidigen bzw. zu rechtfertigen. 2. Die einzig plausible Erklärung für diese Tatsache lautet, dass in diesen Fällen die ästhetischen Werturteile als genuine Werturteile zu interpretieren sind (dass also die Sprecher mit diesen Urteilen Gegenständen ästhetische Werteigenschaften zusprechen). 3. Also sind ästhetische Werturteile zumindest in manchen Fällen als genuine Werturteile zu interpretieren. Freilich akzeptieren nicht alle Werttheoretiker die zweite Prämisse dieses Arguments. Es gibt Versuche, das in der ersten Prämisse genannte Datum auf andere Weise zu erklären. Ich möchte hier zwei solcher Versuche herausgreifen. Ich nenne diese die soziokulturelle Auffassung und die anthropologische Auffassung. Gemäß der soziokulturellen Auffassung wird Schönheit primär als ein gewissermaßen soziales Phänomen betrachtet. Vertreter dieser Auffassung weisen darauf hin, dass sich in jeder Kultur (im weitesten Sinne von »Kultur«) gewisse ästhetische Normen herausbilden, die festlegen, was die Subjekte als schön empfinden sollen, mit anderen Worten: in Bezug auf welche Gegenstände ein Schönheitsgefühl als angemessen gilt. Demnach gibt es eine spezielle Kategorie sozialer Regeln (die natürlich von sozialer Gruppe zu sozialer Gruppe variieren können), welche Kriterien für die Angemessenheit ästhetischer Gefühle schaffen. Die Tatsache, dass ästhetische Werturteile Gegenstand von Auseinandersetzungen sein können, kann man im Rahmen dieser Auffassung so erklären: Der Streit um Richtigkeit oder Falschheit eines ästhetischen Werturteils dreht sich nicht darum, ob einem bestimmten Gegenstand eine bestimmte ästhetische Eigenschaft zukommt oder nicht, sondern darum, ob das betreffende Werturteil mit den ästhetischen Normen der jeweiligen sozialen Gruppe übereinstimmt oder nicht. 5 Diese Erklärung wird jedoch m. E. dem zu erklärenden Datum überhaupt nicht gerecht. Wer ein ästhetisches Werturteil rechtfertigt, tut dies im Allgemeinen

5

Siehe zum Beispiel Marek, Ontologie von Werten.

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nicht mit dem Hinweis darauf, dass das Urteil mit den Urteilen der Mehrheit der eigenen sozialen Gruppe (oder auch den Urteilen der Mehrheit anerkannter Experten) über denselben oder ähnliche Gegenstände übereinstimmt. Ein solches Argument würde jedenfalls, wenn es vorgebracht werden würde, kaum als gutes Argument akzeptiert werden. Es ist kein Widerspruch in einer Behauptung wie der folgenden: »Dies Ding ist schön, obwohl es den gültigen Schönheitsnormen nicht entspricht.« Damit leugne ich nicht, dass es so etwas wie soziale ästhetische Normen gibt und dass sie Einfluss auf das ästhetische Fühlen der einzelnen Subjekte haben. Ich leugne nur, dass diese Normen typischerweise (oder gar immer) der Gegenstand von Auseinandersetzungen über ästhetische Werturteile sind. Gemäß der anthropologischen Auffassung gibt es so etwas wie angeborene allgemein-menschliche Dispositionen, auf bestimmte Eindrücke mit bestimmten ästhetischen Gefühlen zu reagieren. In gewisser Weise ist die anthropologische Auffassung eine Verallgemeinerung der soziokulturellen Auffassung. Entsprechend könnte ein Vertreter der anthropologischen Auffassung versuchen, das Datum der Auseinandersetzung um ästhetische Werturteile so zu erklären: Die Auseinandersetzung um ästhetische Werturteile betrifft nicht die Frage, ob einem Gegenstand eine bestimmte ästhetische Eigenschaft zukommt, sondern vielmehr die Frage, ob das ästhetische Werturteil mit den (innerhalb der Spezies Mensch) universellen ästhetischen Gefühlsdispositionen übereinstimmt oder nicht. Diese Erklärung wird jedoch dem zu erklärenden Datum ebenso wenig gerecht wie die soziokulturelle Erklärung, und zwar aus analogen Gründen. Der Hinweis auf Reaktionen anderer (und sei es auch der Mehrheit der Menschheit) ist keine Rechtfertigung für ästhetische Werturteile. Rechtfertigungen ästhetischer Werturteile haben sich mit dem beurteilten Gegenstand zu befassen, nicht mit den Reaktionen anderer Rezipienten auf denselben. Dies bedeutet aber nicht, dass ich die empirische These der anthropologischen Auffassung leugne. Ich halte diese vielmehr für richtig, und sie spielt auch eine Rolle für die von mir vertretene Werttheorie. Um das Argument zusammenzufassen: Sprecher verteidigen ihre ästhetischen Werturteile gegen Widerspruch bzw. rechtfertigen diese. Dieses Datum lässt sich weder durch die soziokulturelle noch durch die anthropologische Auffassung angemessen erklären, wohl aber durch die Annahme, dass ästhetische Werturteile als das zu nehmen sind, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen: nämlich genuine ästhetische Werturteile. Daher ist es plausibel anzunehmen, dass ästhetische Werturteile zumindest in manchen Fällen genuine ästhetische Werturteile sind. Gegen dieses Argument wurde eingewendet, es zeige in Wahrheit nicht, dass ästhetische Werturteile zumindest manchmal als genuine Werturteile zu interpretieren sind, sondern lediglich, dass sie von den Sprechern zumindest manchmal so gemeint sind. Dies aber sei nicht dasselbe – es sei denn, man setze die Richtigkeit

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des semantischen Intentionalismus voraus. Wenn man dies aber täte, so geht der Einwand weiter, dann wäre »das Argument überflüssig, denn aus der Tatsache, dass es Sprecher gibt, die ihre ästhetischen Werturteile als genuine Werturteile meinen (und dafür lassen sich genug Beispiele anführen), folgte dann ja bereits die Konklusion.« 6 In der Tat setze ich in diesem Argument die erläuterte schwache Version des semantischen Intentionalismus voraus, und daher betrachte ich den Satz »Dieses ästhetische Werturteil ist vom Sprecher als genuines Werturteil gemeint« tatsächlich als synonym mit »Dieses ästhetische Werturteil ist ein genuines ästhetisches Werturteil«. Nichts weiter sollte das Argument zeigen als dass Sprecher zumindest manchmal ihre ästhetischen Werturteile als genuine ästhetische Werturteile meinen. 7 Erfahrung aus vielen Diskussionen hat mich allerdings gelehrt, dass auch diese These nicht allgemein akzeptiert wird, weshalb ich das Argument nicht für gänzlich überflüssig halte. Ich bleibe daher bei der These, dass es genuine ästhetische Werturteile gibt. Ich vertrete also eine Auffassung, die man als semantischen Objektivismus bezeichnen kann.

3. Ästhetische Wertqualitäten als dispositionelle und relationale Eigenschaften Die Tatsache, dass Leute die Absicht haben, Gegenständen ästhetische Werteigenschaften zuzuschreiben, impliziert freilich nicht, dass es ästhetische Werteigenschaften auch tatsächlich gibt. Letzteres wäre die (ontologische) These des Wertrealismus. Semantischer Wertobjektivismus impliziert also nicht Wertrealismus. Dennoch stellt Ersterer zumindest einen prima facie Grund für Letzteren dar, gemäß dem Prinzip, dass eine revisionäre Metaphysik stärker begründungsbedürftig ist als eine deskriptive 8 und dass an den Ergebnissen der deskriptiven 6

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So Magdalena Eckes und Dieter Schönecker in einem Kommentar zu einer früheren Version dieses Aufsatzes. Offensichtlich stimmen Schönecker und Eckes mir in diesem Punkt zu – ja sie scheinen das für eine so gut verifizierbare empirische These zu halten, dass es eines Arguments dafür gar nicht bedarf. Sie artikulieren außerdem eine gewisse Skepsis (um es vorsichtig auszudrücken) gegenüber dem hier vertretenen semantischen Intentionalismus, der meinem Argument zugrunde liegt. Da aber die Konklusion (»Ästhetische Werturteile sind zumindest manchmal als genuine ästhetische Werturteile gemeint«) unter uns ohnehin nicht strittig ist, hängt in dieser Diskussion auch nichts von der Richtigkeit des semantischen Intentionalismus ab. Mein Argument richtet sich also an diejenigen Leser/innen, die es nicht von vorne herein für ganz selbstverständlich halten, dass Leute ihre ästhetischen Werturteile manchmal als genuine ästhetische Werturteile meinen und die außerdem auch akzeptieren können, dass die Bedeutung einer Äußerung unter anderem von den Sprecherintentionen abhängt. Unter »deskriptiver Metaphysik« verstehe ich eine Metaphysik, die grundsätzlich am Commonsense orientiert ist, das heißt, eine metaphysische Theorie, die es sich als eines ihrer Ziele setzt, den

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Metaphysik so lange festgehalten werden soll, so lange keine starken Gründe dagegen sprechen. Ich möchte hier eine Variante des Wertrealismus verteidigen, und zwar indem ich (unter anderem) versuche, die Frage zu beantworten, die mir als das schwierigste Problem für jede Form des Wertrealismus erscheint, nämlich die Frage, wie ästhetische Werteigenschaften erkannt werden können. Angenommen, es gibt Schönheit in den Dingen, wie kann man sie erkennen? 9 Es liegt die Annahme nahe, dass das Erkennen von Schönheit wesentlich mit sinnlicher Wahrnehmung zu tun hat. Auf der anderen Seite ist es evident, dass ein funktionierendes sinnliches Wahrnehmungsvermögen für das Erkennen von Schönheit nicht ausreicht. Es gibt Menschen, die sehen, welche Farben zusammenpassen und welche nicht, und es gibt Menschen, die sehen das nicht; und nur ein Teil der Letzteren ist sehbehindert im üblichen Sinn des Wortes. Analog gilt: Wenn zwei Musikfreunde über die ästhetischen Qualitäten eines eben gehörten Musikstücks uneinig sind, so muss das nicht daran liegen, dass mindestens einer der beiden unter einem Gehörschaden leidet. Andererseits ist ästhetische Erkenntnis aber auch definitiv keine Sache von begrifflich-logischem Denken. Ästhetische Erkenntnis ist, falls es sie gibt, eine Form der Erkenntnis, die genauso unmittelbar ist wie die sinnliche Wahrnehmung. Es ist nicht so, dass wir, zum Beispiel bei der Betrachtung eines Bildes, denken: »Dieses Bild ist im unteren Drittel blau, darüber dominieren Ocker- und Rottöne, im Vordergrund erkennt man Schiffe, im Hintergrund eine Hafenmauer und Gebäude […], also: Dieses Bild ist schön (bzw. nicht schön).« Vielleicht denken manche jetzt, dass meine Beschreibung des Bildes viel zu ungenau ist, als dass man daraus Schlüsse über die ästhetische Qualität ziehen könnte, dass dies aber bei einer genaueren Beschreibung vielleicht doch möglich wäre. Ob das so ist, ist ein strittiger Punkt, aber es spielt im gegenwärtigen Kontext keine wichtige Rolle. Entscheidend ist vielmehr, dass das nicht die Art und Weise ist, wie wir gewöhnlich zu ästhetischen Werturteilen gelangen. Das impliziert selbstverständlich nicht, dass begrifflich-logisches Denken für die Genese ästhetischer Erkenntnis niemals eine Rolle spielt. Die Gegenstände der ästhetischen Erkenntnis sind sehr verschieden, und so verwundert es nicht, dass auch die Wege zu ihrem Erkennen verschieden sind. Um festzustellen, ob

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herkömmlichen Sprachgebrauch und das herkömmliche Denken ontologisch zu rekonstruieren. Eine solche Theorie muss selbstverständlich weitgehend verträglich mit dem Commonsense sein. Eine »revisionäre Metaphysik« zielt im Gegensatz dazu auf eine Revision des Commonsense ab. Sie erklärt wesentliche Teile des herkömmlichen Sprechens und Denkens über die Welt als falsch bzw. unangemessen und versucht, das herkömmliche Weltbild durch ein radikal anderes zu ersetzen. Die Unterscheidung zwischen deskriptiver und revisionärer Metaphysik geht zurück auf Peter F. Strawson. Siehe Strawson, Individuals. Wenn ich hier und im Folgenden von »Schönheit« spreche, so soll die Schönheit pars pro toto für ästhetische Werteigenschaften im Allgemeinen stehen.

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zwei Farben zusammenpassen oder nicht (und das ist bereits eine ästhetische Erkenntnis!), muss man nur zwei entsprechende Farbmuster nebeneinanderhalten und unter günstigen Wahrnehmungsbedingungen anschauen. Andere Fälle sind schwieriger gelagert. Es kann sein, dass etwa dem Erkennen der ästhetischen Qualitäten eines Gedichts ein langer und mühsamer Prozess der Interpretation vorausgehen muss oder dass das Erkennen der ästhetischen Qualitäten eines Gemäldes eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Künstler, seinem Werk und seiner Kultur erfordert. Aber auch in diesen komplexeren Fällen ist die ästhetische Erkenntnis unmittelbar in dem Sinn, dass sie nicht abgeleitet ist. Es kann sein, dass ich die ästhetischen Qualitäten eines Verses erst erkennen kann, nachdem ich einen langwierigen Prozess der Interpretation durchlaufen habe; aber in dem Moment, wo ich diese Qualitäten erkenne, erkenne ich sie unmittelbar. Ich kann das entsprechende ästhetische Werturteil nicht aus den vorangegangenen Interpretationsüberlegungen ableiten. Das Argument des ästhetischen Skeptikers lautet nun folgendermaßen: 1. Alles, was erkannt werden kann, wird entweder durch die Sinne oder durch den Verstand erkannt. 2. Schönheit wird weder durch die Sinne noch durch den Verstand erkannt. 3. Also ist Schönheit überhaupt nicht erkennbar. 4. Es gibt aber keinen Grund, von etwas, das überhaupt nicht erkennbar ist, anzunehmen, dass es existiert. 5. Also haben wir keinen Grund anzunehmen, dass Schönheit existiert. Ich werde eine Antwort auf diesen skeptischen Einwand geben, aber zuvor ist es nötig, dass ich etwas darüber sage, was für eine Art von Eigenschaft Schönheit nach der von mir vertretenen realistischen Auffassung ist. Ich meine, dass Schönheit eine dispositionelle und relationale Eigenschaft von Gegenständen ist. 10 Man nennt eine Eigenschaft dispositionell, wenn in der Definition dieser Eigenschaft eine Bezugnahme auf gewisse Bedingungen enthalten ist, die nicht erfüllt sein müssen, damit der Gegenstand die betreffende Eigenschaft hat. (Ja es kann sogar sein, dass ein Gegenstand durch das Eintreten dieser Bedingungen die betreffende dispositionelle Eigenschaft verliert.) Zerbrechlichkeit und Wasserlöslichkeit sind Standardbeispiele für dispositionelle Eigenschaften. Ein Gegenstand ist zerbrechlich genau dann, wenn er unter Einwirkung einer hinreichend großen mechanischen Kraft zerbricht. Ein Gegenstand ist wasserlöslich genau dann, wenn er sich in Wasser auflöst. Ein wasserlöslicher Gegenstand ist auch dann wasserlöslich, wenn er sich 10

Nicht nur in Bezug auf Schönheit, sondern in Bezug auf Werteigenschaften im Allgemeinen und ethische Werteigenschaften im Besonderen hat die Dispositionstheorie eine lange Tradition. Siehe z.B. Meinong, Emotionale Präsentation und Landmann-Kalischer, Erkenntniswert ästhetischer Urteile; neuere Vertreter einer dispositionalistischen Werttheorie sind z.B. John McDowell und Bruce W. Brower.

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nicht im Wasser befindet; und wenn er sich in Wasser aufgelöst hat, hat er die Eigenschaft der Wasserlöslichkeit sogar verloren. Es ist also die in der Definition der Eigenschaft genannte Bedingung nicht notwendig, sondern gewissermaßen sogar kontraproduktiv für das Haben der Eigenschaft. Man könnte auch sagen: Dispositionelle Eigenschaften sind Wenn-dann-Eigenschaften. Eine relationale Eigenschaft ist eine Eigenschaft, in deren Definition eine Bezugnahme auf einen oder mehrere andere Gegenstände enthalten ist (andere Gegenstände als die Träger der betreffenden relationalen Eigenschaft). Das jüngste Kind in der Familie zu sein ist ein Beispiel für eine relationale Eigenschaft. Ich schlage vor, Schönheit aufzufassen als die Eigenschaft, unter bestimmten (noch näher zu bestimmenden) Bedingungen ein Schönheitsgefühl auszulösen. Diese Eigenschaft ist dispositionell, weil in ihrer Definition auf Bedingungen Bezug genommen wird, die nicht erfüllt sein müssen dafür, dass ein Gegenstand diese Eigenschaften hat. Eine der Bedingungen dafür, dass ein Gegenstand Schönheitsgefühle auslöst, besteht darin, dass ein zu Schönheitsgefühlen fähiges Subjekt vorhanden ist, auf das der betreffende Gegenstand in geeigneter Weise einwirkt. Ein Sonnenaufgang an einem Ostseestrand kann zum Beispiel nur dann Schönheitsgefühle auslösen, wenn er von jemandem gesehen wird. Aber nach der hier vertretenen Auffassung hängt die Schönheit eines Sonnenaufgangs nicht davon ab, dass er von jemandem gesehen wird. Der von niemandem gesehene Sonnenaufgang kann schön sein (gerade so, wie ein Stück Zucker, das nicht in Wasser aufgelöst wird, dennoch die Eigenschaft der Wasserlöslichkeit besitzt). Die Eigenschaft der Schönheit ist (nach der hier vertretenen Auffassung) relational, weil in ihrer Definition eine Bezugnahme auf andere Gegenstände enthalten ist – nämlich auf Subjekte, die (unter geeigneten Bedingungen) Schönheitsgefühle haben könnten. Diese Auffassung vom Wesen der Schönheit hat eine freilich keineswegs zufällige Ähnlichkeit mit Lockes Theorie der sekundären Qualitäten. Es gibt aber mindestens zwei wichtige Unterschiede zwischen Lockes sekundären Qualitäten und der Schönheit. Erstens lösen sekundäre Qualitäten Sinnesempfindungen aus, ästhetische Empfindungen sind aber (wie bereits festgestellt wurde) keine Sinnesempfindungen, sondern Gefühle. Sinnesempfindungen (bzw. Sinneseindrücke) sind alle diejenigen Erlebnisse, die wir unmittelbar den Sinnen verdanken, also etwa Farb- und Formempfindungen (z. B. eine Rotempfindung, ein Kreiseindruck), Klangeindrücke, Geruchs-, Geschmacks- und Tastempfindungen (z. B. ein Eindruck von Wärme, Rauheit, Rosenduft etc.). Im Alltag verwenden wir die Termini »Empfindung« und »Gefühl« oft austauschbar; aber hier soll »Empfindung« tatsächlich nur für die sinnlichen Erlebnisse reserviert sein, während »Gefühl« ausschließlich zur Bezeichnung emotionaler Phänomene bezeichnet wird. Gefühle in diesem Sinn sind z. B. Liebe und Hass, Bewunderung, Neid, Verlangen und Abscheu, und (für das Thema dieses Aufsatzes besonders wichtig) allgemein jede Form von Gefallen und Missfallen.

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Dafür, dass ästhetische Erlebnisse eher auf der emotionalen denn auf der sinnlichen Seite zu verorten sind, sprechen Überlegungen wie die folgende: Stellen wir uns zwei Subjekte vor, die unter denselben Wahrnehmungsbedingungen denselben Gegenstand wahrnehmen (etwa ein Bild, eine Landschaft, eine musikalische Darbietung). Wenn ich sage, die beiden nehmen das Objekt »unter denselben Wahrnehmungsbedingungen« wahr, dann meine ich hier damit alle jene Bedingungen, von denen herkömmlich angenommen wird, dass sie die Wahrnehmung beeinflussen (also z. B. Beleuchtung, Entfernung, Perspektive, akustische Gegebenheiten, Zustand der Sinnesorgane und des Nervensystems, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Vorhandensein oder Fehlen technischer Hilfsmittel). Auch wenn alle diese Bedingungen bei beiden Beobachtern genau gleich sind, ist es immer noch denkbar, dass einer der beiden ein ästhetisches Erlebnis hat und der andere nicht. Einer der beiden könnte gewissermaßen »ästhetisch wertblind« sein, und zugleich könnten seine Sinne einwandfrei funktionieren. Daher kann das ästhetische Erleben nicht einfach ein gewöhnliches Sehen oder Hören sein. Der zweite Unterschied zwischen den sekundären Qualitäten und der Schönheit besteht in den spezifischen Bedingungen, von denen jeweils die Rede ist. Im Fall der sekundären Qualitäten ist es vergleichsweise einfach, diese »Normalbedingungen der Wahrnehmung« zu spezifizieren: Ein Gegenstand ist zum Beispiel rot genau dann, wenn er in einem normalsichtigen, gesunden, nüchternen Menschen, der keine getönte Brille trägt etc., bei normalem Tageslicht eine Rotempfindung auslöst. Die Frage ist, ob es auch so etwas wie »Normalbedingungen des ästhetischen Fühlens« gibt, und wenn ja, wie diese zu spezifizieren wären. (Einfach den Geschmack der Mehrheit zur Norm zu erklären, würde zu unbefriedigenden Ergebnissen führen.) Die Schönheit eines Gegenstandes ist selbstverständlich abhängig von anderen Eigenschaften desselben Gegenstandes – insbesondere von den sekundären Qualitäten (analog zur Abhängigkeit der sekundären Qualitäten von den primären Qualitäten). Daher werden ästhetische Qualitäten manchmal auch als »tertiäre Qualitäten« bezeichnet. 11 Zurück zu dem oben formulierten skeptischen Argument: Eine (in dem eben Gesagten schon implizit vorweggenommene) Entgegnung auf dieses Argument besteht darin, die erste Prämisse zurückzuweisen, also die Prämisse »Alles, was 11

Vgl. z.B. Scruton, Public Text. Scruton verwendet »tertiary quality« nicht genau in diesem, aber in einem eng verwandten Zusammenhang (nämlich in Zusammenhang mit »literarischer Bedeutung«). Wenn ich Scruton an dieser Stelle zitiere, dann vor allem deshalb, weil er (was leider nicht selbstverständlich ist) eine Explikation dieses Terminus gibt, nämlich: »A tertiary quality is one that is observable only to beings possessing certain intellectual and emotional capacities. From the scientific point of view such a property would be even less part of the ›real constitution‹ of an object than the secondary qualities which it appears to have. This is because tertiary qualities, not being dependent only on the senses, are inseparable from the ›response‹ of the being who observes them.« (Scruton, Public Text, S. 31f.)

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erkannt werden kann, wird entweder durch die Sinne oder durch den Verstand erkannt«. Ich habe gesagt, dass Schönheit die Fähigkeit eines Gegenstandes ist, unter bestimmten Bedingungen Schönheitsgefühle hervorzurufen, gerade so, wie sekundäre Qualitäten die Fähigkeit eines Gegenstandes sind, unter bestimmten Bedingungen gewisse Sinnesempfindungen hervorzurufen. Im Rahmen dieser Auffassung bekommen Emotionen also eine kognitive Funktion zugewiesen. Sie sind nicht mehr bloß subjektive Stellungnahmen zu etwas Gegebenem, sondern Mittel zur Erkenntnis von in den Dingen liegenden Qualitäten – gerade so wie die (ihrem Wesen nach ja ebenso subjektiven) Sinnesempfindungen uns zum Erkennen sekundärer Qualitäten verhelfen.

4. Einwände gegen die Dispositionstheorie der ästhetischen Werteigenschaften Gegen die dispositionalistische Theorie der ästhetischen Eigenschaften gibt es eine Reihe von Problemen und Einwänden, die ich im verbleibenden Teil dieses Aufsatzes diskutieren möchte: – – – – – –

Das Problem der Normalbedingungen der ästhetischen Wahrnehmung Der Einwand der ontologischen Absonderlichkeit Der Einwand der Überflüssigkeit Der Kein-Realismus-Einwand Der Normativitätseinwand Das Problem der Unterscheidung von Geschmacksurteilen und genuinen Werturteilen

4a. Das Problem der Normalbedingungen der ästhetischen Wahrnehmung Die dargestellte Theorie funktioniert nur dann, wenn es möglich ist, Bedingungen der ästhetischen Wahrnehmung zu formulieren, analog den »Normalbedingungen« der Sinneswahrnehmung. Manche halten es aber für zweifelhaft, ob das möglich ist. 12 In der Tat erscheint es nicht angebracht, in diesem Zusammenhang von »Normalbedingungen« zu sprechen. Denn diese Bezeichnung suggeriert, dass die Normalbedingungen meist vorliegen und Abweichungen davon die Ausnahme sind. Tatsächlich ist es aber zweifelhaft, ob dies für jene Bedingungen zutrifft, die man mit guten Gründen als Bedingungen für adäquate ästhetische Wahrnehmung angeben kann. Ich möchte daher lieber von Idealbedingungen der ästhetischen Wahr12

Siehe zum Beispiel Piecha, Schön und gut.

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nehmung sprechen. Ebenso wie die Normalbedingungen der sinnlichen Wahrnehmung, so sollen auch die Idealbedingungen der ästhetischen Wahrnehmung mögliche Störfaktoren identifizieren und benennen. Solche Störfaktoren sind im Falle der ästhetischen Wahrnehmung etwa Vorurteile gegen einen Künstler (sei es auf Basis persönlicher Bekanntschaft oder gesellschaftlichen Dünkels), persönliche Stilvorlieben (auf der Grundlage von Erziehung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe), Unaufmerksamkeit, unzulängliche Gestaltwahrnehmungsfähigkeit, eine starke Färbung allen Erlebens durch eine Stimmung und anderes mehr. 13 Es versteht sich von selbst, dass das Nicht-Vorliegen von Normalbedingungen der sinnlichen Wahrnehmung ebenfalls die ästhetische Wahrnehmung stören kann. Durch getönte Brillengläser wird man die meisten Gemälde nicht adäquat wahrnehmen können. Insoweit also eine ästhetische Wahrnehmung auf sinnlicher Wahrnehmung aufbaut, schließen die Idealbedingungen der ästhetischen Wahrnehmung die Normalbedingungen der sinnlichen Wahrnehmung ein. Entscheidend ist aber, dass Erstere mehr umfassen als Letztere. Es gibt Faktoren, die unsere emotionale Reaktion auf einen Gegenstand wesentlich beeinflussen können, die aber mit der Qualität des Gegenstandes selbst nichts zu tun haben. Es ist tatsächlich nicht leicht, eine vollständige Aufzählung oder Klassifikation dieser Störfaktoren zu geben, aber es gibt andererseits keinen triftigen Grund für die Annahme, dass das grundsätzlich ein unmögliches Unterfangen ist. (Ich komme auf das Thema »Störfaktoren« weiter unten, in den Abschnitten 4d und 4e, noch einmal zurück.) 4b. Die Einwände der ontologischen Absonderlichkeit und der Überflüssigkeit Es wurde eingewendet, die Annahme von dispositionellen Werteigenschaften sei erstens ontologisch problematisch (weil man nicht genau verstehe, was dispositionelle Eigenschaften überhaupt seien) und sie sei zweitens überflüssig, da sie nicht mehr Erklärungskraft habe als eine naturalistisch-subjektivistische Theorie ohne dispositionelle Werteigenschaften. 14 Was den Einwand der ontologischen Absonderlichkeit anlangt, so soll nicht bestritten werden, dass dispositionelle Eigenschaften eine Reihe von komplexen ontologischen Fragen aufwerfen. Aber das allein wäre noch ein sehr schwacher Grund dafür, ihre Existenz zu leugnen. Außerdem wird diesem Einwand nicht zuletzt dadurch einiges von seiner Spitze genommen, dass dispositionelle Eigenschaften keine ad hoc-Erfindung von Anhängern der Dispositionstheorie 13

14

Zu den Idealbedingungen der ästhetischen Wahrnehmung siehe Hume, Maßstab des Geschmacks und Ehrenfels, Ästhetisches Urteil sowie Was ist Schönheit? . So Eckes und Schönecker in dem schon erwähnten Kommentar zu einer früheren Version dieses Aufsatzes.

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der Werte sind. Dispositionelle Eigenschaften spielen nicht nur in verschiedenen philosophischen Kontexten eine Rolle, sondern sind offenbar ein ganz vertrautes Alltagsphänomen: Glas ist zerbrechlich, Benzin ist brennbar, Paracetamol wirkt fiebersenkend. Das sind alles dispositionelle Eigenschaften, und sie sind nicht prima facie mysteriös. Betrachten wir den Einwand mit der Erklärungskraft zunächst am Beispiel der Zerbrechlichkeit: Wozu brauchen wir in unserer Ontologie die dispositionelle Eigenschaft der Zerbrechlichkeit? Können wir nicht genau das, was wir sagen wollen, wenn wir einer Vase Zerbrechlichkeit zuschreiben, zum Ausdruck bringen, ohne von Zerbrechlichkeit zu reden, etwa indem wir sagen, dass die Vase die-und-die Mikrostruktur hat? – Nein, das können wir nicht. Letztere Äußerung ist nicht bedeutungsgleich mit »Diese Vase ist zerbrechlich«. Etwas könnte genau die-und-die Mikrostruktur haben, ohne zerbrechlich zu sein, und umgekehrt. Zwar ist es gewiss so, dass die Zerbrechlichkeit der Vase von deren Mikrostruktur abhängt, aber das impliziert nicht, dass die Eigenschaft der Zerbrechlichkeit identisch ist mit der Eigenschaft, die-und-die Mikrostruktur zu haben. In der Tat könnten Gegenstände mit sehr unterschiedlichen Mikrostrukturen die Eigenschaft der Zerbrechlichkeit haben, und es ist eine rein kontingente Tatsache, dass gerade Gegenstände mit dieser Mikrostruktur (der Mikrostruktur, die meine Vase zufällig hat) zerbrechlich sind. Mit anderen Worten, es ist denkbar, dass Gegenstände mit genau dieser Mikrostruktur nicht zerbrechlich sind. 15 Es ist keine begriffliche Wahrheit, dass Gegenstände mit dieser Mikrostruktur zerbrechlich sind (was aber der Fall sein müsste, wenn die Eigenschaft, zerbrechlich zu sein identisch wäre mit der Eigenschaft, diese Mikrostruktur zu haben). Wir können die dispositionelle Eigenschaft der Zerbrechlichkeit aber auch nicht auf das aktuelle Verhalten eines in diesem Moment zerbrechenden Gegenstandes reduzieren. Denn meine Vase ist jetzt zerbrechlich, aber sie zerbricht jetzt nicht. Das gehört mit zum Wesen dispositioneller Eigenschaften: Sie sind Eigenschaften der Dinge auch (und gerade) unter solchen Umständen, die eine »Aktualisierung« der Disposition nicht zulassen. Wenn ich beim Umzug meine Vase sorgfältig einpacke, dann nicht, weil ich fürchte, sie könnte eine Eigenschaft bekommen, wenn jemand den Karton fallen lässt, sondern wegen einer Eigenschaft, die sie jetzt bereit hat – nämlich Zerbrechlichkeit.

15

Zerbrechlichkeit superveniert auf der Mikrostruktur, aber es handelt sich hier um schwache Supervenienz, das heißt (in der Mögliche-Welten-Redeweise ausgedrückt), um Supervenienz, die nicht in allen möglichen Welten gilt: In der aktualen Welt sind alle Gegenstände mit einer bestimmten Mikrostruktur zerbrechlich, aber es gibt mögliche Welten, in denen Gegenstände mit dieser Mikrostruktur nicht zerbrechlich sind. Wenn »Diese Vase ist zerbrechlich« bedeutungsgleich wäre mit »Diese Vase hat dieund-die Mikrostruktur«, dann müsste die Beziehung zwischen Zerbrechlichkeit und Mikrostruktur eine starke Supervenienzbeziehung sein, d.h. (wiederum in der Mögliche-Welten-Redeweise) eine Supervenienzbeziehung, die in allen möglichen Welten gilt.

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Genauso verhält es sich mit der Schönheit. Die Schönheit eines Gegenstandes hängt ab von bestimmten natürlichen Eigenschaften desselben, ist aber nicht auf Letztere reduzierbar. Gegenstände mit sehr verschiedenen natürlichen Eigenschaften können (unter bestimmten Umständen) ästhetische Wertgefühle auslösen; und es ist eine kontingente Tatsache, dass gerade Gegenstände mit den-und-den natürlichen Eigenschaften ästhetische Wertgefühle auslösen. Außerdem ist ein Gegenstand auch dann schön, wenn er aktuell gerade keine ästhetischen Wertgefühle auslöst, weil die geeigneten Umstände (zum Beispiel die Anwesenheit eines wahrnehmungsfähigen Subjekts) nicht erfüllt sind. Aber könnte man nicht statt »Diese Vase ist zerbrechlich« einfach sagen »Wenn die-und-die Bedingungen erfüllt wären, dann würde diese Vase zerbrechen«? – Ja, das könnte man wohl sagen. Aber dies lässt sich auf mindestens zwei Weisen interpretieren: In der einen – der reduktionistischen – Interpretation würde man damit ausdrücken, dass die Vase eine bestimmte Eigenschaft (zu zerbrechen) eventuell bekommen könnte; man würde aber keine Eigenschaft der Vase aktuell zuschreiben. In der anderen (der nicht-reduktionistischen) Interpretation würde man damit der Vase eine Eigenschaft zuschreiben, welche sie jetzt schon hat, nämlich die Eigenschaft derart zu sein, dass sie zerbrechen würde, wenn die-unddie Bedingungen erfüllt wären – und das ist nichts anderes als die dispositionelle Eigenschaft der Zerbrechlichkeit. Analog verhält es sich mit der Schönheit. Aber warum sollte man sich für die nicht-reduktionistische Interpretation entscheiden? – Ich plädiere dafür letztlich aufgrund des schon erwähnten Prinzips, dass prima facie eine deskriptive Metaphysik einer revisionären vorzuziehen ist. Weit verzweigte und fest verwurzelte Commonsense-Annahmen scheinen mir alles in allem schwerer zu wiegen als eine bloß durch irgendeine philosophische Ideologie motivierte Abneigung gegen bestimmte Arten von Entitäten. Um die Entgegnung auf den Erklärungskraft-Einwand in aller Kürze zu formulieren: Die Annahme, dass Schönheit eine dispositionelle Eigenschaft sei, erklärt natürlich nicht, warum bestimmte Dinge die-und-die ästhetischen Wirkungen haben (so wenig wie die Annahme der Eigenschaft der Zerbrechlichkeit eine Erklärung dafür liefert, warum Dinge zerbrechen). Es wäre ein grobes Missverständnis anzunehmen, dies sei die Aufgabe einer Dispositionstheorie der ästhetischen Eigenschaften. Die Dispositionstheorie erklärt aber, warum ästhetische Werturteile wörtlich genommen wahr sein können, warum andererseits Irrtum und Fortschritt auf dem Gebiet des ästhetischen Urteilens möglich sind und warum ästhetische Urteile gerechtfertigt werden können. Sie erklärt, inwiefern die Eigenschaft der Schönheit wahrheitsgemäß zugesprochen werden kann – als eine beobachterunabhängige Eigenschaft von Gegenständen; und zugleich erklärt sie, inwiefern es trotzdem einen engen Zusammenhang zwischen den ästhetischen Eigenschaften der Objekte und den Erlebnisdispositionen bzw. subjektiven Erlebnissen der Betrachter gibt.

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4c. Der Kein-Realismus-Einwand Ein weiterer Einwand lautet, die Dispositionstheorie der ästhetischen Werteigenschaften verdiene den »Ehrentitel ›Realismus‹« nicht. 16 Real sei, was unabhängig von uns da ist und so ist, wie es ist. Dass dies bei den dispositionellen Eigenschaften nicht der Fall sei, zeige das Problem der Inversion: Es sei ja ohne weiteres vorstellbar, dass Schönheit als dispositionelle Eigenschaft ist, was sie ist, wir aber auf sie nicht mit einem Schönheitsgefühl reagieren, sondern mit einem Hässlichkeitsgefühl. Ich könne aber in diesem Fall nicht sagen, wir sollten nicht so reagieren, da die Qualität der Schönheit (oder Hässlichkeit) der dispositionalistischen Theorie zufolge in keinerlei Ähnlichkeits- oder Abbildbeziehung zu der dispositionellen Eigenschaft stehe. Zwar seien nach der dispositionalistischen Auffassung die Schönheitserlebnisse nicht willkürlich (so wenig wie Farberlebnisse willkürlich sind), aber so wenig die subjektiv wahrgenommene Qualität von Farben irgendetwas mit den zugrunde liegenden dispositionell gedeuteten Farbeigenschaften zu tun habe, so wenig hätten die Schönheitserlebnisse etwas damit zu tun, wie die zugrunde liegenden dispositionell gedeuteten ästhetischen Eigenschaften beschaffen seien. (Dies beweise das Inversionsproblem.) Ich möchte das Inversionsproblem zunächst hintanstellen und mich als erstes dem Einwand widmen, die dispositionalistische Werttheorie sei in Wirklichkeit keine realistische Theorie. Die Basis dieses Einwands könnte die Beobachtung sein, dass die dispositionalistische Theorie eine Art von naturalistischer Werttheorie darstellt. Der Terminus »Naturalismus« hat in der zeitgenössischen Philosophie leider keine allgemein akzeptierte scharf definierte Bedeutung, spielt aber andererseits in einer Reihe von gegenwärtigen Debatten eine zentrale Rolle – so auch in der Debatte um Realismus und Anti-Realismus in Ethik und Ästhetik. Es ist hier nicht der Ort, die vielen verschiedenen Verwendungsweisen von »Naturalismus« in der gegenwärtigen Philosophie darzulegen. 17 Es muss ein Hinweis auf die für diesen Einwand hauptsächlich relevante Verwendungsweise genügen: Naturalismus in dem hier in erster Linie relevanten Sinn ist die Auffassung, dass es ausschließlich »natürliche« Eigenschaften und Tatsachen gibt. »Natürlich« ist eine Eigenschaft in dem hier gemeinten Sinn dann, wenn die Frage, ob ein Gegenstand diese Eigenschaft hat oder nicht, grundsätzlich mit den Methoden der Naturwissenschaften (insbesondere der Physik und Chemie) geklärt werden kann. Analog wäre eine Tatsache in diesem Sinn »natürlich«, wenn ihr Bestehen grundsätzlich mit den Methoden der Naturwissenschaften festgestellt werden kann. Mit anderen Worten, natürliche Eigenschaften und Tatsachen sind solche, die für die physikalische Welt einen Unterschied machen. (Der Gegenbegriff zu »natürlich« in diesem Sinne wäre also nicht »unnatürlich«, sondern eher »übernatürlich«.) Die Eigenschaft, 16 17

Wieder Schönecker und Eckes. Siehe dazu etwa Papineau, Naturalism, sowie Keil, Naturalism.

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Licht von der-und-der Wellenlänge zu reflektieren, die Eigenschaft, bei 800 Grad zu schmelzen, oder die Eigenschaft, das-und-das Gewicht zu haben, sind klare Beispiele für natürliche Eigenschaften. Werteigenschaften sind prima facie keine natürlichen Eigenschaften. Die dispositionalistische Theorie ist nicht naturalistisch im Sinne eines reduktionistischen Physikalismus, das heißt: Werteigenschaften werden darin nicht mit der »natürlichen (also physikalischen) Basis« der betreffenden Disposition identifiziert (also mit Lichtwellenreflexionseigenschaften etc.). Allerdings ist die Eigenschaft, in Subjekten unter den-und-den Bedingungen die-und-die Gefühle auszulösen, ebenfalls eine natürliche Eigenschaft im weiteren Sinne; 18 diese Eigenschaft hat nichts Mysteriöses oder »Übernatürliches« an sich, ihre Annahme ist mit einem naturwissenschaftlichen Weltbild vollkommen verträglich. Die dispositionalistische Theorie identifiziert also in der Tat Werteigenschaften mit natürlichen Eigenschaften und ist in diesem Sinne »naturalistisch«. Ist die dispositionalistische Theorie aber eine anti-realistische Theorie? Darauf antworte ich zunächst: Über Namen zu streiten, lohnt sich nicht. Ob die hier verteidigte Position »Realismus« oder »nicht-reduktiver Naturalismus« oder anders genannt werden soll, ist allenfalls eine zweitrangige Frage. Mir scheint zwar, dass die Bezeichnung »Realismus« für meine Position insofern angemessen ist, als die Existenz von ästhetischen Werteigenschaften bzw. Werttatsachen ausdrücklich behauptet wird, aber man kann die Positionen auch anders kategorisieren. Es gibt allerdings darüber hinaus in der Tat ein sachhaltiges Problem für die dispositionalistische Theorie, nämlich das Problem, dem »Wertcharakter« von Werteigenschaften gerecht zu werden. Darauf komme ich weiter unten (in Abschnitt 4d) zu sprechen. Zunächst aber zum Inversions-Einwand: Es wurde behauptet, das Inversionsproblem zeige, dass dispositionelle Eigenschaften nicht unabhängig von uns existierten und seien wie sie seien. Das ist so nicht richtig. Dispositionelle Eigenschaften sind exakt in folgendem Sinn unabhängig von uns: Ob ein Gegenstand eine bestimmte dispositionelle Eigenschaft hat oder nicht, hängt ausschließlich von dem Gegenstand selbst ab. Dies gilt für Farbeigenschaften ebenso wie für ästhetische Eigenschaften. Um die Farbanalogie zu bemühen: Ein Gegenstand ist (nach der dispositionalistischen Theorie der Farbeigenschaften) rot genau dann, wenn er unter bestimmten äußeren Bedingungen in Wesen mit einer bestimmten Beschaffenheit Roterlebnisse hervorruft. Die äußeren Bedingungen betreffen Beleuchtung etc., die Beschaffenheit der Wesen betrifft unter anderem unsere Sinnesausstattung, aber auch unsere Reaktionsdispositionen. Das Inversionsproblem besteht nun darin, dass es denkbar wäre, dass wir – ohne relevante Änderung in den umgebenden Bedingungen – plötzlich blau 18

Das gilt jedenfalls dann, wenn Gefühle naturalistisch gedeutet werden; das will ich hier, um des Arguments willen, tun.

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empfinden, wo wir früher rot empfunden haben (und umgekehrt). Man beachte aber, dass das an den dispositionellen Eigenschaften der Dinge in unserer Welt nichts ändern würde. Reife Erdbeeren wären immer noch rot, auch wenn sie uns plötzlich blau erscheinen würden. Denn es sind unsere aktuellen, realen Reaktionsdispositionen, die in die Definition unserer dispositionellen Prädikate eingehen. Das heißt, in dieser kontrafaktischen Situation hätten die Dinge ihre Farben nicht verändert, sondern wir würden unter einer kollektiven Farb-Fehlsichtigkeit leiden. Natürlich könnte es sein, dass in der Inversionswelt unsere Farbprädikate eine neue Bedeutung bekommen, so dass unsere neuen Reaktionsdispositionen in die Definition der dispositionellen Eigenschaften Eingang finden. (Das würde wahrscheinlich geschehen, wenn der Inversionszustand zum Dauerzustand werden würde.) Aber das ist eine andere Geschichte. Analog könnte es natürlich geschehen, dass wir plötzlich auf alles, worauf wir bisher mit einem Schönheitsgefühl reagiert haben, neuerdings mit einem Hässlichkeitsgefühl reagieren (ohne irgendwelche sonstigen Änderungen in der Welt oder in unserem Wahrnehmungsvermögen). An der Schönheit oder Hässlichkeit der Dinge rings um uns würde das aber gar nichts ändern. Richtig ist, dass – der dispositionalistischen Theorie zufolge – keine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Schönheitsgefühl (bzw. der jeweiligen Farbempfindung) und der zugrunde liegenden dispositionellen Eigenschaft besteht. Aber es ist voreilig, daraus zu schließen, das eine habe mit dem anderen »nichts zu tun«. Die Beziehung zwischen dem subjektiven Erlebnis auf der einen und der objektiven dispositionellen Eigenschaft auf der anderen Seite lässt sich grundsätzlich in Form eines (mehr oder weniger komplexen) Wenn-dann-Satzes angeben. Richtig ist allerdings auch, dass man als Vertreter einer Dispositionstheorie nicht generell Reaktionsweisen als richtig oder falsch klassifizieren kann: Die Dispositionstheorie der ästhetischen Eigenschaften setzt voraus, dass menschliche Wesen unter bestimmten (idealen) Bedingungen auf bestimmte Außenreize mit bestimmten ästhetischen Erlebnissen reagieren. (Analog muss eine Dispositionstheorie der Farbeigenschaften voraussetzen, dass menschliche Wesen unter bestimmten idealen Bedingungen auf bestimmte Außenreize mit bestimmten Sinnesempfindungen reagieren.) Die dispositionalistische Interpretation der ästhetischen Eigenschaften ist auf die Annahme solcher normaler ästhetischer Reaktionsdispositionen gegründet. Was wäre, wenn unsere ästhetischen Reaktionsdispositionen radikal anders wären als sie tatsächlich sind, oder wenn es überhaupt keine »normalen« ästhetischen Reaktionsdispositionen gäbe, sondern unterschiedliche Menschen unter denselben Bedingungen auf dieselben Reize ganz unterschiedlich reagieren würden? – In diesen Fällen hätten unsere ästhetischen Wertprädikate wahrscheinlich nicht die Bedeutung, die sie jetzt haben. Analog hätten unsere Farbprädikate nicht die Bedeutung, die sie jetzt haben, wenn unsere Farbempfindungsdispositionen radikal andere wären als sie tatsächlich sind oder wenn es gar keine normalen

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Farbempfindungsdispositionen gäbe. Es ist also richtig, dass wir bei der Analyse ästhetischer Wertprädikate letztlich auf unsere (subjektiven) Reaktionsdispositionen rekurrieren müssen, aber, um einen Vertreter einer dispositionalistischen Werttheorie in der Ethik zu zitieren, »much goes on before we get to this ultimate level« 19. 4d. Der Normativitätseinwand Der vielleicht ernsteste Einwand gegen die dispositionalistische Theorie lautet, dass sie dem Wertcharakter von Werteigenschaften nicht gerecht zu werden vermöge. Sehr unscharf formuliert: Inwiefern kann so eine Dispositionseigenschaft noch mit Recht eine Werteigenschaft genannt werden? Dieser Einwand kann allerdings auf verschiedene Weisen ausbuchstabiert werden. In einer Interpretation geht es hier nur darum zu erklären, warum wir die vermeintlichen Werteigenschaften ihrerseits (positiv oder negativ) bewerten. Schönheit ist eine gute Sache, Hässlichkeit eine schlechte. Generell fällt jede Werteigenschaft auf eine Seite einer Positiv-negativ-Dichotomie. Das scheint nun aber für natürliche Eigenschaften gerade nicht zu gelten. Warum soll es eine gute Sache sein, dass Leute unter den-und-den Bedingungen soundso auf einen Gegenstand reagieren? Die dispositionalistische Theorie trägt in dieser Hinsicht dem Wertcharakter von Werteigenschaften dadurch Rechnung, dass in die Definition der Werteigenschaften Wertgefühlsbegriffe eingehen. Wertgefühle sind ihrem Wesen nach niemals wertneutral. Ein Schönheitsgefühl ist positiv, ein Hässlichkeitsgefühl negativ. Mit anderen Worten, ein Schönheitsgefühl ist eine Art von Pro-Einstellung, ein Hässlichkeitsgefühl eine Art von Kontra-Einstellung. 20 Das ist nicht eine Sache der Bewertung dieser Gefühle; vielmehr ist die Werthaftigkeit ihnen inhärent. 21 Die dispositionell gedeuteten Werteigenschaften »erben« gewissermaßen ihre Wert19 20

21

Brower, Dispositional Ethical Realism, S. 242. Die Einteilung der Gefühle in positive und negative ist von jeher eine der fundamentalsten Klassifikationsgesichtspunkte, deren sich Emotionstheoretiker bedienten. Sie betrifft selbstverständlich keineswegs nur ästhetische Gefühle. Liebe, Bewunderung und Freude sind Standardbeispiele für positive, Hass, Neid und Angst sind Standardbeispiele für negative Gefühle. Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien siehe Schmitter, Theories of Emotions. Eine zentrale Rolle spielt die Positiv-negativ-Dichotomie auch in der Werttheorie Franz Brentanos, vgl. ders., Ursprung sittlicher Erkenntnis. Selbstverständlich kann man Gefühle, wie alles andere auch, einer Bewertung unterziehen, und unter Umständen kann auch ein seiner Natur nach positives Gefühl negativ bewertet werden, und umgekehrt. Ein Schönheitsgefühl kann zum Beispiel negativ bewertet werden, wenn es durch ästhetische Mittel ausgelöst wurde, die für zweifelhafte ideologische Zwecke missbraucht wurden oder werden (man denke an die Ästhetik der Nationalsozialisten oder den »sozialistischen Realismus«). Umgekehrt kann ein Ekelgefühl positiv bewertet werden, in Hinblick darauf, dass es uns von Dingen fernhält, die uns nicht gut tun. Das ändert aber nichts daran, dass das Schönheitsgefühl als solches

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vorzeichen von den Wertgefühlen, die für sie begrifflich konstitutiv sind. Insofern sind die Wertgefühle die Grundlage des Wertes in der Welt – aber daraus folgt weder, dass Werteigenschaften mit Wertgefühlen identisch sind noch dass Werteigenschaften in ihrer Existenz von Wertgefühlen abhängig sind. In einer anderen Interpretation des Normativitäts-Einwandes geht es um die handlungsmotivierende Kraft der Einsicht in Werturteile. Der Einwand geht dann so: Es gehört zum Wesen von echten Werturteilen, dass Einsicht in Werturteile Menschen motivieren kann, bestimmte Handlungen auszuführen bzw. zu unterlassen. Aber Einsicht in bloße Tatsachenurteile (also in das Bestehen rein natürlicher Sachverhalte) kann unmöglich eine solche handlungsmotivierende Kraft haben. Daher kann die dispositionalistische Theorie der Werte die handlungsmotivierende Kraft der Einsicht in Werturteile nicht erklären. Dieser Einwand wird normalerweise auf ethische Werturteile gemünzt 22 und ist für diese intuitiv vielleicht zunächst stärker als für ästhetische, aber er lässt sich auch auf die Ästhetik umlegen. Zweifellos werden viele Handlungen von ästhetischen Wertungen bestimmt (man denke etwa an alltägliche Kaufentscheidungen oder an die Entscheidung für einen Ehepartner oder eine Wohnung). Die dispositionalistische Antwort auf diesen Einwand hat wesentlich mit der Art des Erkennens (ästhetischer) Werttatsachen bzw. Werteigenschaften zu tun. Das Erkennen der Schönheit eines Gegenstandes besteht nicht im irgendwie (zum Beispiel durch das Zeugnis einer in dieser Hinsicht vertrauenswürdigen Person) gerechtfertigten Für-wahr-Halten des Gedankens »Dieser Gegenstand ist schön«. Vielmehr schließt das Erkennen von Schönheit das Haben eines Schönheitserlebnisses ein. Generell schließt das Erkennen von Werttatsachen das Haben von Werterlebnissen ein. 23 Werterlebnisse haben aber motivierende Kraft. Wer verschiedene Handlungsoptionen hat und erkennt, dass eine Handlung besser ist als eine andere (in dem eben erläuterten Sinn des Erkennens von Werteigenschaften) hat dadurch ein Motiv für die als besser erkannte Handlung (unabhängig von persönlichen Interessen). Wer auf Wohnungssuche ist und erkennt, dass die besichtigte Wohnung im Dachgeschoß schöner ist als die im Parterre, hat dadurch ein Motiv, die Dachwohnung zu mieten. In einer dritten Interpretation besagt der Normativitätseinwand, dass die Dispositionstheorie dem Zusammenhang von Werten und Normen nicht gerecht werden kann. Etwas ausführlicher formuliert lautet der Einwand: Werte hängen mit Normen zusammen. Dass ein Gegenstand Wert hat, zieht nach sich, dass

22 23

positiv und das Ekelgefühl als solches negativ ist. Damit ist übrigens nicht behauptet, dass alle Gefühle werthaft sind. Es gibt auch wertneutrale Gefühle, zum Beispiel die Überraschung. Siehe Hume, Menschliche Natur, Drittes Buch, Erster Teil. Analog schließt das Erkennen von Farben das Haben von Farbempfindungen ein. Ein von Geburt an blinder Mensch kann natürlich in einem gewissen Sinn lernen, dass reife Erdbeeren rot sind, aber er kann in einem relevanten Sinn die Farbe reifer Erdbeeren niemals erkennen.

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bestimmte Handlungen oder Einstellungen gegenüber diesem Gegenstand gesollt sind. Dies ist im Fall ethischer Werte klarer als im Fall ästhetischer Werte: Wenn ich erkenne, dass Handlungsoption A (in moralischer Hinsicht) besser ist als Handlungsoption B, dann soll ich A tun und B unterlassen. Übertragen auf ästhetische Werte könnte dieses Prinzip etwa lauten: Wenn ich zwischen zwei Gegenständen A und B zu wählen habe und erkenne, dass A schöner ist als B, dann soll ich A vorziehen. 24 Aber – so lautet der Normativitätseinwand – die Dispositionstheorie bietet keine Erklärung für dieses Sollen an: Aus der bloßen Tatsache, dass bestimmte Werthaltungen in der menschlichen Natur begründet sind (einmal angenommen, das wäre eine Tatsache), folgt nicht, dass bestimmte Handlungen oder Präferenzen gesollt sind (unabhängig von unseren Werthaltungsdispositionen). Man kann vielleicht feststellen, dass bestimmte Dinge unter bestimmten Bedingungen stets ein Schönheitsgefühl hervorrufen, aber man kann immer noch fragen, warum das, was ein Schönheitsgefühl hervorruft, vorgezogen werden soll. 25 Was in diesem Einwand behauptet wird, ist in letzter Konsequenz richtig: Letzten Endes gibt es kein Sollen, das völlig unabhängig von unseren Werthaltungsdispositionen ist. Die Einschränkung »in letzter Konsequenz« ist allerdings bedeutsam: Die Dispositionstheorie ist sehr weit entfernt von gängigen subjektivistischen oder relativistischen Theorien. Dispositionstheoretiker behaupten, dass es ideale Bedingungen des Werterkennens gibt, und dass unter diesen idealen Bedingungen alle Angehörigen der Spezies Mensch gleiche oder zumindest sehr ähnliche Werterlebnisse haben. (Letzteres ist eine empirische These.) Individuelle oder auch kulturspezifische Wertdifferenzen sind nach der Dispositionstheorie immer damit zu erklären, dass in mindestens einem Fall keine idealen Bedingungen des Werterkennens vorliegen. Für kulturellen Wertrealismus lässt diese Theorie keinen Raum. Auf der Basis der empirischen These, dass alle Angehörigen der Spezies Mensch unter ähnlichen Bedingungen ähnliche Werterlebnisse haben, ist auch zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen immer rationale Argumentation über Wertfragen und Auflösung von Wertdifferenzen möglich: Man einigt sich auf einen Katalog idealer Bedingungen des Werterlebens, versucht, vorhandene Störfaktoren auszuräumen oder von diesen zumindest zu abstrahieren und die jeweils eigenen Werthaltungen im Lichte der neuen Bedingungen zu revidieren. Allenfalls sind Vertreter der Dispositionstheorie auf eine Art von »SpeziesRelativismus« festgelegt: Es ist eine Spezies vorstellbar, die uns in ihren intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten gleicht, aber radikal andere Werthaltungsdispositionen hat. Gegenüber solchen Wesen könnten wir unsere Normen nicht 24

25

Es ist klar, dass diese Forderung nur unter der Einschränkung sonstiger Gleichwertigkeit der Optionen akzeptabel ist. Natürlich kann es viele gute Gründe geben, das weniger Schöne vorzuziehen. Vgl. G. E. Moores »Argument der offenen Frage« in Prinicipia Ethica, § 13.

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rechtfertigen; die Wertdifferenzen zwischen ihnen und uns wären in der Tat unüberbrückbar. Ich betrachte dies jedoch nicht als einen vernichtenden Einwand gegen die Dispositionstheorie der Werte – eher im Gegenteil. Es reflektiert einfach die Tatsache, dass Werttatsachen letzten Endes in der menschlichen Natur begründet sind. Von dem eben diskutierten Normativitätseinwand ist übrigens, streng genommen, ein anderer Einwand zu unterscheiden, den man den »epistemischen Normativitätseinwand« nennen könnte (im Gegensatz zu dem vorhin besprochenen »entscheidungstheoretischen Normativitätseinwand«). Hierbei geht es um eine spezielle Art von Normativität, nämlich um die Normativität von emotionalen Reaktionen. Gemäß der Dispositionstheorie ist ein Schönheitsgefühl gegenüber manchen, aber nicht allen Gegenständen angemessen oder richtig. 26 Der epistemische Normativitätseinwand kann nun wie folgt formuliert werden: Zu sagen, dass ein Schönheitsgefühl gegenüber einem bestimmten Gegenstand angemessen ist, ist dasselbe wie zu sagen, dass man gegenüber diesem Gegenstand ein Schönheitsgefühl haben soll. Aber warum soll man das? Auch hier gilt, dass aus der Tatsache, dass Menschen die Disposition haben, unter bestimmten Bedingungen gegenüber bestimmten Gegenständen ein Schönheitsgefühl zu haben, nicht folgt, dass Menschen gegenüber diesen Gegenständen ein Schönheitsgefühl haben sollen. Warum also soll man mit einem Schönheitsgefühl auf einen Gegenstand reagieren, der in geeigneten Rezipienten unter Idealbedingungen ein Schönheitsgefühl verursacht? Wie gesagt enthält die Dispositionstheorie die Annahme, dass unsere emotionalen Reaktionen Werteigenschaften präsentieren (gerade so wie unsere Sinnesempfindungen sekundäre Qualitäten präsentieren). Unseren Emotionen kommt demnach eine epistemische Funktion zu (analog zu unseren Sinnesempfindungen); wir gründen unsere Werturteile auf sie. Ein Grundprinzip epistemischer Normativität lautet, dass wir nach Erkenntnis streben und Irrtum vermeiden sollen. Es gibt keinen Grund, die Werterkenntnis aus dem Geltungsbereich dieses Prinzips auszuschließen. Daraus folgt, dass wir alles vermeiden sollen, was zu Wertirrtümern führen könnte, insbesondere alles, was zu unangemessenen emotionalen Reaktionen führen könnte (die dann ihrerseits als Basis von falschen Werturteilen dienen könnten). Das ist der Gedanke, der hinter der Forderung steckt, dass wir so fühlen sollten, wie wir unter idealen Bedingungen fühlen würden. Worin bestehen nun aber diese Idealbedingungen? – Es ist sicher schwierig, diese Bedingungen vollständig auszuformulieren. Ich werde dies hier nicht versuchen. Ich halte nur fest, dass diese Idealbedingungen sich grob in zwei Kategorien einteilen lassen. Die erste Kategorie betrifft das Erkennen von Eigenschaften »niedrigerer Stufe« (also von nicht-ästhetischen Eigenschaften, auf denen 26

Zur »Angemessenheit« (»appropriateness«) von Emotionen siehe z.B. D’Arms/Jacobson, Moralistic Fallacy sowie Mulligan, Appropriate Emotions.

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die ästhetischen Eigenschaften supervenieren). Zu diesen Bedingungen gehören die allgemein bekannten Idealbedingungen für das Erkennen von »gewöhnlichen« (»natürlichen«) Eigenschaften, wie etwa normale Wahrnehmungsbedingungen, hinreichende Informiertheit etc. Die zweite Kategorie von Idealbedingungen betrifft direkt die Bedingungen für das Zustandekommen emotionaler Reaktionen. Der wesentliche Punkt in diesem Zusammenhang ist die generelle Störanfälligkeit emotionaler Reaktionen durch persönliche Interessen und Gefühle, die mit dem ästhetisch beurteilten Objekt nicht in relevantem Zusammenhang stehen. So kann zum Beispiel Sympathie oder Antipathie für die politische Gesinnung eines Künstlers darauf abfärben, wie wir emotional auf dessen Werke reagieren; aber das ist ein Störfaktor für die Beurteilung der ästhetischen Qualität. Es dürfte einleuchten, dass der Maßstab für die adäquate ästhetische Reaktion die Reaktion eines Menschen ist, der nicht von solchen störenden Nebenemotionen beeinträchtigt wird. Die Antwort auf die Frage »Warum sollten wir so fühlen, wie wir unter idealen Bedingungen fühlen würden«, lautet also, ganz kurz gefasst: weil das nötig ist, um auf dem Gebiet der Werturteile das epistemische Prinzip zu erfüllen, dass man nach Erkenntnis streben und Irrtum vermeiden soll. Hier wird also die Normativität des Wertfühlens auf ein Grundprinzip epistemischer Normativität zurückgeführt. An dieser Stelle könnte allerdings eingewendet werden, dass dies nicht genau die ursprüngliche Frage beantwortet, also die Frage, warum wir auf bestimmte Gegenstände ausgerechnet mit einem Schönheitsgefühl reagieren sollten. Es wäre doch denkbar, dass die spezifizierten Idealbedingungen erfüllt wären und manche (oder sogar alle) Menschen trotzdem nicht mit einem Schönheitsgefühl auf jene Gegenstände reagieren würden, die wir für schön halten. Wie könnten wir dann sagen, dass jene Menschen in den betreffenden Umständen mit einem Schönheitsgefühl reagieren sollten? Wie könnten wir eine solche normative Forderung begründen? Die Antwort auf diese Frage lautet: Wir könnten es nicht. Die Dispositionstheorie enthält – wie gesagt – die These, dass die beschriebene Situation eine kontrafaktische Situation ist, dass also faktisch alle Menschen unter Idealbedingungen die gleichen oder doch sehr ähnliche Wertgefühle haben. Wenn diese empirische These richtig ist, dann ist der eben formulierte Einwand praktisch irrelevant. Denn wir können (so lange die Menschen sich nicht radikal verändern) nie in die Situation geraten, unsere normativen Ansprüche gegenüber Menschen verteidigen zu müssen, die radikal andere Wertgefühls-Dispositionen haben als wir selber. Wenn die empirische These allerdings falsch wäre, dann hätten wir tatsächlich ein ernstes Problem bei der Begründung unserer Normen. Auf dem Gebiet der Ästhetik könnte man damit wahrscheinlich leichter leben als auf dem Gebiet der Moral, aber ich fürchte, auf beiden Gebieten würden wir dann an eine überwindliche Grenze der Begründbarkeit von Normen geraten. Das mag aus vielen Gründen misslich sein, ist aber m. E. kein Einwand gegen die Dispositions-

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theorie. Vielmehr spricht es, wie gesagt, eher für die Dispositionstheorie, dass sie Werte letztlich an die menschliche Natur bindet. 4e. Das Problem der Unterscheidung von Geschmacksurteilen und genuinen Werturteilen Man könnte noch einwenden, dass die dispositionalistische Theorie nicht in der Lage ist, den Unterschied zwischen Geschmacksurteilen und genuinen Werturteilen adäquat zu erklären. Dass es diesen Unterschied gibt, zeigt sich unter anderem darin, dass Geschmacksurteil und genuines Werturteil auseinanderfallen können. Es kann sein, dass einer Person etwas gefällt, das sie nicht für gut hält, oder dass sie etwas für gut hält, das ihr nicht gefällt (wobei aus leicht nachvollziehbaren Gründen Letzteres eher zugegeben wird als Ersteres). Dass es Geschmacksurteile ohne entsprechende Werturteile geben kann leuchtet vielleicht unmittelbarer ein als das Umgekehrte, also dass es auch Werturteile ohne entsprechende Geschmacksurteile geben kann. In diesem Sinne wenden Dieter Schönecker und Magdalena Eckes ein: »[D]as dem Objekt zugeschriebene Prädikat schreibe ich ja nur dann zu, wenn ich die entsprechende ästhetische Erfahrung mache oder zumindest irgendwann gemacht habe. Dafür spricht auch, dass man oft so etwas sagt wie: ›Ich habe gehört, der Film soll sehr gut sein‹, ›Das ist bestimmt eine schöne Oper‹, oder Ähnliches. Das bringt zum Ausdruck, dass man das Werturteil selbst noch nicht fällen kann, weil man eben die Erfahrung nicht gemacht hat.« 27 Die genannten Beispiele sind in der Tat Beispiele für Fälle, in denen sich jemand eines ästhetischen Werturteils enthält. Sie zeigen aber natürlich nicht, dass immer dann, wenn jemand ein ästhetisches Werturteil fällt, ein Geschmacksurteil zugrunde gelegt sein muss. Es ist kein Widerspruch in einer Äußerung der Form »x ist schön, aber mir gefällt x nicht«. Das Erkennen ästhetischer Werte ist eine Sache, persönliche Präferenzen sind eine andere. Geschmacksurteile und genuine Werturteile unterscheiden sich offenbar nicht bloß in ihren Inhalten, sondern auch in ihrer Evidenzbasis und der Art und Weise, wie sie gerechtfertigt werden. Wenn Sie mich fragen, ob mir das Wandbild vor dem Fenster meines Büros gefällt, dann muss ich (sofern ich eine ehrliche Antwort geben möchte) in mich gehen und auf meine emotionalen Reaktionen bei der Betrachtung des Werks achten. Ich finde also die Evidenzbasis für dieses Geschmacksurteil in der inneren Wahrnehmung. Aber dies ist offenbar nicht das Verfahren, das ich anwende, wenn Sie mich fragen, ob das Bild meiner Ansicht nach schön ist; und wenn Sie mich bitten, mein Urteil zu begründen, werde ich nicht auf meine ästhetischen Gefühle hinweisen. Ich finde die Evidenzbasis für 27

Eckes und Schönecker in dem schon mehrfach erwähnten Kommentar zu einer früheren Version dieses Aufsatzes.

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mein ästhetisches Werturteil vielmehr in dem beurteilten Gegenstand. Aber ist die dispositionalistische Theorie nicht darauf festgelegt, dass die Evidenzbasis und Rechtfertigung für genuine Werturteile ebenfalls in der inneren Wahrnehmung zu finden ist, wo doch gemäß dieser Theorie die Wahrnehmung ästhetischer Qualitäten auch im Erleben von Gefühlen besteht? Ich möchte, um diese Frage zu beantworten, näher untersuchen, wie wir zu (prima facie) genuinen Werturteilen gelangen und wie wir diese rechtfertigen. Wie verfahren wir dabei eigentlich? – Um mir die Beantwortung dieser schwierigen Frage ein wenig leichter zu machen, beschränke ich mich jetzt auf die ästhetische Beurteilung eines Bildes (denke aber, dass sich das, was ich gleich ausführen werde, mutatis mutandis, auf andere Gegenstände der ästhetischen Beurteilung übertragen lässt). Ich beginne mit einer Feststellung, die ziemlich trivial klingt und wohl auch ist: Das Verfahren zur Generierung eines (fundierten) genuinen ästhetischen Werturteils über ein Bild ist die möglichst genaue und aufmerksame Betrachtung desselben. Die Evidenz für ästhetischen Wert oder Unwert findet man im beurteilten Gegenstand selbst, nicht in den eigenen Reaktionen auf ihn. Weniger trivial ist schon die folgende Feststellung: Die beste Rechtfertigung für genuine ästhetische Urteile besteht darin, auf jene Merkmale des beurteilten Gegenstandes hinzuweisen, die die Basis des Urteils sind. Ich kann zum Beispiel (im Falle eines positiven Werturteils) auf die Wahl des Bildausschnitts hinweisen, auf feine Details, auf Ausdrucksqualitäten, auf Kontraste, auf den Schwung der Linienführung, auf die Beziehung zwischen Vorder- und Hintergrund, auf den Nuancenreichtum der Farben, auf die Darstellung von Licht und Schatten, auf Dynamik und Spannung etc. Vielleicht enthält das Bild aber auch Bezüge zu Gegenständen, die außerhalb seiner selbst liegen (andere Kunstwerke etwa oder Personen, Dinge und Ereignisse nicht-künstlerischer Natur); auch dies kann für den ästhetischen Wert des Bildes relevant sein. All dies sind jedenfalls Eigenschaften des beurteilten Gegenstandes, nicht Eigenschaften der Gefühle des Betrachters. Beachtenswert ist auch, dass es sich nicht um Werteigenschaften handelt, jedenfalls nicht in erster Linie. (Natürlich wird man bei der Rechtfertigung eines ästhetischen Urteils öfters auch Wertprädikate verwenden, etwa wenn man auf die Ausgewogenheit einer Bildkomposition hinweist oder Ähnliches. Aber ich denke, dass sich alle diese Eigenschaften auf nicht-axiologische Eigenschaften zurückführen lassen.) Ein guter Kritiker ist einer, der diese Eigenschaften nicht bloß bemerkt, sondern auch in der Lage ist, sie als jene Eigenschaften zu identifizieren, die die Basis seines Werturteils sind, und die Aufmerksamkeit seiner Leser/innen auf genau diese Eigenschaften zu lenken. Auf diese Weise kann der gute Kritiker die Rezipienten von der Richtigkeit seines Werturteils überzeugen – indem er sie dazu bringt, die ästhetischen Werteigenschaften selbst wahrzunehmen, und das bedeutet, unter anderem: selbst die betreffenden ästhetischen Gefühle zu erleben. Dass dies funktioniert, hat auch mit der empirischen These der anthropologischen Auffassung

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zu tun: Es muss wohl so etwas wie (mehr oder weniger) universelle ästhetische Gefühlsdispositionen geben. Andernfalls wäre die Konvergenz der ästhetischen Urteile bei Menschen, die gelernt haben, dieselben Gegenstände auf ähnliche Weise zu sehen, schwer zu erklären. Emotionen spielen sowohl für Geschmacksurteile als auch für genuine Werturteile eine wesentliche Rolle. Aber die Beziehung zwischen Emotion und Urteil ist im Fall der genuinen ästhetischen Urteile eine andere als im Fall der Geschmacksurteile. Im Fall der Geschmacksurteile sind die Emotionen die primäre Evidenzbasis. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf unsere Gefühle, um festzustellen, ob uns etwas gefällt oder nicht. Nicht so im Fall genuiner Werturteile. In diesem Fall richten wir unsere Aufmerksamkeit auf den zu beurteilenden Gegenstand. Die Betrachtung dieses Gegenstandes löst ästhetische Gefühle aus oder nicht. Der Gegenstand kann uns gefallen oder missfallen oder er kann uns »kalt lassen«. Dies bemerken wir unmittelbar, und es ist der Anfang eines Prozesses, der zu einem genuinen Werturteil führen kann. Es ist zu beachten, dass man innere Zustände auch bemerken kann, wenn die Aufmerksamkeit »nach außen« gerichtet ist. (Natürlich erlebe ich meine Rotempfindung, wenn ich ein rotes Ding betrachte, auch wenn meine Aufmerksamkeit auf das Ding gerichtet ist, nicht auf mein Bewusstsein.) Um zu einem genuinen Werturteil zu gelangen, genügt aber das Erleben eines Wertgefühls nicht. Es kommt wesentlich darauf an, warum der Gegenstand uns gefällt oder missfällt oder uns »kalt lässt«. Die Gründe für unsere Gefühlsreaktion können sowohl im Gegenstand selbst liegen als auch extern sein. Solche externen Gründe wären zum Beispiel: Wir kennen den Künstler, der das Bild gemalt hat, persönlich und sind mit ihm eng befreundet (oder können ihn nicht ausstehen) – oder wir wissen, dass der Künstler religiöse oder politische Auffassungen vertritt, die wir teilen (bzw. nicht teilen). Wir haben in der dargestellten Landschaft gelebt (oder leben noch dort) und waren/sind dort glücklich (oder unglücklich). Wir sind im Moment so sehr in starke Emotionen oder Stimmungen verstrickt (etwa in einer Phase frischer Verliebtheit oder in einer Phase tiefer Depression), die mit dem betrachteten Gegenstand nichts zu tun haben, dass uns entweder gar nichts anderes berühren kann oder dass alles von diesen Emotionen bzw. Stimmungen gefärbt ist. Wir haben eine Vorliebe für bzw. eine Abneigung gegen einen bestimmten Stil, weil wir so erzogen wurden. Wir sind übersättigt mit ästhetischen Reizen, langweilen uns, haben das Gefühl, alles schon tausendmal gesehen zu haben. Und so fort. Um zu einem genuinen Werturteil zu gelangen, muss ein guter Kritiker von diesen externen Faktoren in hinreichendem Maß abstrahieren (oder sie, so weit als möglich, ausschalten) können. Wenn er es nicht tut, läuft er Gefahr, einer »ästhetischen Wahrnehmungstäuschung« zu erliegen, die durchaus analog den üblichen Beispielen für Sinnestäuschungen zu betrachten ist. (Man denke an die Redensart »alles durch die rosa Brille sehen«!) Wenn ein Kritiker sich solche externen Störfaktoren bewusst machen und in hinreichendem Maß davon abstra-

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hieren kann, dann kann sich unter Umständen seine Gefühlsreaktion auf den zu beurteilenden Gegenstand allein dadurch schon ändern: Aus Gleichgültigkeit kann Gefallen werden, aus Gefallen Missfallen, oder umgekehrt. Aber die Gefühlsreaktionen des Kritikers können sich auch im Zuge der Betrachtung des zu beurteilenden Gegenstandes ändern. Je mehr Elemente und Komponenten des zu beurteilenden Gegenstandes der Kritiker bemerkt, desto wahrscheinlicher wird eine solche Änderung. Bei einem geübten Kritiker wird vermutlich im Zuge dieses Prozesses selten ein radikaler Umschlag von Gefallen zu Missfallen – oder umgekehrt – stattfinden (obwohl auch das möglich ist), sondern eher eine Art Feinabstimmung. Um nun eine konzise Antwort auf die gestellte Frage zu geben: Geschmacksurteile unterscheiden sich von genuinen ästhetischen Werturteilen sowohl durch die Art ihrer Entstehung als auch durch die Art ihrer Rechtfertigung. Für das Geschmacksurteil richten wir unsere Aufmerksamkeit »nach innen«, für das genuine Werturteil richten wir sie »nach außen«. Die primäre Evidenzbasis für das Geschmacksurteil ist die Wahrnehmung der eigenen emotionalen Reaktionen auf den beurteilten Gegenstand, und diese ist auch die Basis der epistemischen Rechtfertigung des Geschmacksurteils. Im Falle des genuinen Werturteils ist die Evidenzbasis (und damit auch die epistemische Rechtfertigung) sehr viel komplexer. Das genuine Werturteil ist ein Resultat eines komplizierten Wechselspiels kognitiver und emotionaler Prozesse, wobei den kognitiven Prozessen die Funktion zukommt, die emotionalen Reaktionen dem Gegenstand immer angemessener zu machen. Um ein genuines Werturteil zu rechtfertigen, muss der Kritiker auf Eigenschaften des Gegenstandes Bezug nehmen, nicht auf seine Befindlichkeit. Dennoch sind die Emotionen ein irreduzibler Bestandteil der Wahrnehmung des Schönen. Die Wahrnehmung des Schönen besteht auch im Bemerken gewisser nicht-werthafter Qualitäten an dem wahrgenommenen Gegenstand, aber sie erschöpft sich nicht darin. Das Erleben ästhetischer Wertgefühle ist essentieller Bestandteil der Wahrnehmung des Schönen. Wenn man will, könnte man auch sagen: Ein genuines Werturteil ist ein qualifiziertes Geschmacksurteil. Das erklärt, wie Geschmacksurteile ohne Werturteile möglich sind. Wie aber sind Werturteile ohne Geschmacksurteile möglich? Wie kommt es, dass jemand gerechtfertigt und aufrichtig urteilen kann »Dieser Gegenstand ist schön, aber er gefällt mir nicht«? – Das kann dann der Fall sein, wenn die urteilende Person zwar in der Lage ist, von vorhandenen Störfaktoren zu abstrahieren, aber diese Störfaktoren nicht ausschalten kann. Dass die urteilende Person von den Störfaktoren abstrahieren kann, heißt, dass sie sich vorstellen kann, wie sie emotional reagieren würde, wenn die Störfaktoren nicht vorhanden wären. Genauer: Sie kann ein (positives oder negatives) Werterlebnis als Phantasiegefühl erleben. Angenommen, eine Person soll ein Musikstück beurteilen, das stark mit einer bestimmten Kultur assoziiert ist, gegen die die urteilende Person aus irgendwelchen Gründen (die allerdings nichts mit Musik zu tun haben) starke Vorbehalte hat. Idealerweise

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sollte die urteilende Person sich – für die Beurteilung des Musikstücks – von ihren Vorbehalten gegen die assoziierte Kultur frei machen können. Aber es kann sein, dass ihr das nicht gelingt und sie deshalb niemals ein ernsthaftes positives Wertgefühl gegenüber dem Musikstück haben kann. Zugleich ist aber möglich, dass sich die urteilende Person zumindest vorstellen kann, sie höre das Musikstück in einer gegenüber der assoziierten Kultur neutralen Einstellung, und auf der Basis dieser Phantasievorstellung könnte sie ein positives Wertgefühl gegenüber dem Musikstück erleben. 28 In diesem Fall könnte die Person gerechtfertigt und aufrichtig sagen: »Diese Musik ist gut, aber sie gefällt mir nicht.« 29

Literaturverzeichnis Brentano, Franz C.: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis. Zweite Auflage. Nebst kleineren Abhandlungen zur ethischen Erkenntnistheorie und Lebensweisheit, hg. und eingeleitet von Oskar Kraus. Leipzig 1921. Brower, Bruce W.: »Dispositional Ethical Realism«. In: Ethics 103, 2, 1993, S. 221–249. D’Arms, Justin/Jacobson, Daniel: »The Moralistic Fallacy: On the ›Appropriateness‹ of Emotions«. In: Philosophy and Phenomenological Research 61, 2000, S. 65–90. Ehrenfels, Christian von: »Was ist Schönheit?« In: Christian von Ehrenfels. Ästhetik. Philosophische Schriften, Band 2, hg. von Reinhard Fabian. München/Wien 1986, S. 155–171. Ders.: »Über das ästhetische Urteil«. In: Christian von Ehrenfels. Ästhetik. Philosophische Schriften, Band 2, hg. von Reinhard Fabian. München/Wien 1986, S. 201–260. Hume, David: Abhandlung über die menschliche Natur, Hamburg 1973. Ders.: »Vom Maßstab des Geschmacks«. In: David Hume. Vom schwachen Trost der Philosophie. Essays, hg. von Jens Kulenkampff. Göttingen 1990, S. 73–103. Keil, Geert: »Naturalism«. In: The Routledge Companion to Twentieth Century Philosophy, hg. von Dermot Moran. Abingdon/New York 2008, S. 254–307. Landmann-Kalischer, Edith: »Über den Erkenntniswert ästhetischer Urteile. Ein Vergleich zwischen Sinnes- und Werturteilen«. In: Archiv für die gesamte Psychologie 5, 1905, S. 263–328. 28

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Ich bezeichne ein Gefühl als Phantasiegefühl genau dann, wenn die kognitive Basis des Gefühls Phantasievorstellungen bzw. Annahmen (anstelle »ernster« Vorstellungen bzw. Urteile) sind. Vergleiche zum Begriff des Phantasiegefühls Meinong, Über Annahmen, §§ 54 und 55. (Meine Auffassung von Phantasiegefühlen entspricht nicht der Meinongs, sondern der in § 55 diskutierten – und von Meinong zurückgewiesenen – alternativen Auffassung von Stephan Witasek.) Für überaus wertvolle Kritik an früheren Fassungen dieses Textes bin ich vor allem Magdalena Eckes, Johann Christian Marek und Dieter Schönecker zu Dank verpflichtet. Sie haben wesentlich zur Verbesserung dieses Textes beigetragen. Dank geht aber auch an die hier nicht namentlich erwähnten Mitglieder des DFG-Netzwerks Das Gute, Schöne und Heilige wahrnehmen – epistemologischer Realismus und Anti-Realismus in der gegenwärtigen Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie, die an dem der Ästhetik gewidmeten Netzwerk-Treffen im November 2008 in Greifswald teilgenommen haben, bei dem eine frühere Version dieses Beitrags diskutiert wurde.

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Marek, Johann C.: »Zur Ontologie von Werten. Wertsubjektivismus versus Wertobjektivismus«. In: Markt – Wert – Gefühle. Positionen und Perspektiven einer multidisziplinären Wertedebatte, hg. von Andrea Fruhwirth/Maria E. Reicher/Peter Wilhelmer. Wien 2005, S. 57–75. McDowell, John: »Values and Secondary Qualities«. In: Essays on Moral Realism, hg. von Geoffrey Sayre-McCord. Ithaca/London 1988, S. 166–180. Meinong, Alexius: »Über emotionale Präsentation«. In: Alexius Meinong Gesamtausgabe, Band 3: Abhandlungen zur Werttheorie, hg. von Rudolf Haller/Rudolf Kindinger. Graz 1968, S. 285–465. Ders.: Über Annahmen, hg. von Rudolf Haller/Rudolf Kindinger, gemeinsam mit Roderick Chisholm. Graz 1977. Moore, George E.: Principia Ethica, Cambridge 1903. Mulligan, Kevin: »From Appropriate Emotions to Values«. In: Monist 81, 1998, S. 161–188. Papineau, David: »Naturalism«. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2009 Edition), hg. von Edward N. Zalta, URL = 〈http://plato.stanford.edu/archives/spr2009/entries/naturalism/〉. Piecha, Alexander: »Schön und gut. Die Frage nach der Objektivierbarkeit von Werturteilen«. In: Markt – Wert – Gefühle. Positionen und Perspektiven einer multidisziplinären Wertedebatte, hg. von Andrea Fruhwirth/Maria E. Reicher/Peter Wilhelmer. Wien 2005, S. 77–98. Schmitter, Amy M.: »17th and 18th Century Theories of Emotions«. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2008 Edition), hg. von Edward N. Zalta, URL = 〈http://plato.stanford.edu/archives/fall2008/entries/emotions-17th18th/〉. Scruton, Roger: »Public Text and Common Reader«. In: Roger Scruton, The Aesthetic Understanding. Essays in the Philosophy of Art and Culture. South Bend, Indiana 2 1998, S. 15–36. Strawson, Peter F.: Individuals, London 1959.

Gerhard Ernst

DER SINN FÜR SCHÖNHEIT Angenommen, es gibt einen Sinn für Schönheit: Was ist dann seine Natur? Das Hauptproblem, mit dem wir bei der Beantwortung dieser Frage konfrontiert sind, besteht darin, dass der Sinn für Schönheit zwar einerseits irgendwie mit gewöhnlicher Wahrnehmung zusammenhängen muss, andererseits jedoch nicht auf gewöhnliche Wahrnehmung reduzierbar zu sein scheint. In diesem Aufsatz argumentiere ich für die These, dass der Sinn für Schönheit als ein Vermögen der Vernunft angesehen werden sollte. Ich versuche die Natur dieses Vermögens zu erhellen, indem ich Gemeinsamkeiten zwischen ästhetischer, moralischer und wissenschaftlicher Erkenntnis herausarbeite.

Einleitung Das Vermögen, mit dem wir erkennen können, dass etwas schön ist, nenne ich im Folgenden »den Sinn für Schönheit«. Ich gehe für die Zwecke dieses Aufsatzes davon aus, dass es ein solches Vermögen gibt. Meine Frage lautet: Was ist seine Natur? Diese Frage ist vor allem deshalb schwer zu beantworten, weil ein Sinn für Schönheit zwar einerseits offensichtlich etwas mit »gewöhnlicher« Wahrnehmung zu tun hat – jedenfalls in zentralen Fällen –, andererseits jedoch nicht auf diese reduzierbar zu sein scheint (vgl. dazu Abschnitt 1 und 2). Die Klärung der Natur eines Sinnes für Schönheit verlangt darum zunächst einmal die genauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen diesem Sinn und gewöhnlicher Wahrnehmung. Diese Bestimmung werde ich im Wesentlichen anhand einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Dominique Lopes vornehmen (Abschnitt 3). Das Ergebnis meiner Überlegungen wird sein, dass der Sinn für Schönheit, wenn es ihn gibt, als ein Vermögen unserer Vernunft angesehen werden muss. Die Natur dieses Vermögens werde ich durch den Vergleich mit moralischer (Abschnitt 4) und wissenschaftlicher Erkenntnis (Abschnitt 5) zu klären versuchen. 1

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Der vorliegende Aufsatz ist erstmals in Grazer Philosophische Studien 76, 2008, S. 167–189, erschienen. Ich bedanke mich für die Genehmigung des Wiederabdrucks.

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1. Sehen schöne Dinge schön aus? Die Suche nach einem Sinn für Schönheit scheint sehr schnell ans Ziel zu gelangen: Sehen wir die Schönheit vieler Dinge nicht einfach? Anders formuliert: Können wir die Schönheit schöner Dinge nicht einfach deshalb erfassen, weil schöne Dinge schön aussehen? Auf den ersten Blick scheint diese Frage nur eine Antwort haben zu können: Natürlich! Wir können doch von ganz vielen Dingen sagen, dass sie schön sind, weil sie schön aussehen. Kunstwerke, etwa Bilder, Skulpturen und Bauwerke, können, wie es scheint, ebenso gut aufgrund ihres Aussehens schön sein wie andere Artefakte, aber auch wie natürliche Objekte, etwa Landschaften oder Wolkenformationen. Sehen alle schönen Dinge schön aus? Natürlich nicht. Ein Musikstück oder das Rauschen des Windes etwa können schön sein, ohne irgendwie auszusehen, und auch eine Skulptur oder ein Stoffstück können vielleicht schön sein, obwohl sie nicht schön aussehen: Das Musikstück und der Wind können sich schön anhören, die Skulptur und das Stoffstück können sich schön anfühlen. Das Gehör und vielleicht der Tastsinn wären damit ebenso Sinne für Schönheit wie unsere Augen. Sind alle Sinne potenzielle Sinne für Schönheit? Es ist klar, dass sich etwas schön anhören kann; etwas zweifelhafter erscheint es mir, ob sich etwas tatsächlich auch schön (und nicht etwa nur angenehm) anfühlen kann. Dass es irgendwo schön riecht, kann man aber eigentlich nicht sagen 2, und auch das beste Essen schmeckt nicht schön, sondern gut. Ich werde auf diese Beobachtung später kurz zurückkommen. Halten wir zunächst fest, dass primär unser Sehvermögen, das Gehör und vielleicht der Tastsinn als Sinne für Schönheit in Frage kommen. Wir müssen uns dann allerdings auf sinnliche Schönheit beschränken, denn wir sprechen auch in Fällen von Schönheit, in denen unsere Sinne offensichtlich keine Rolle spielen. Wenn beispielsweise überhaupt etwas an einem Roman unseren Sinnen zugänglich ist (und dieser nicht eher als ein abstraktes Objekt zu betrachten ist), dann sind es Lesungen oder gedruckte Ausgaben des Textes. Aber ein Roman kann schön sein, obwohl es nur misslungene Lesungen und hässliche Ausgaben des Textes gibt. Ähnliches lässt sich über andere Literaturgattungen sagen: Auch wissenschaftliche Theorien können, so scheint es, eine eigene Schönheit besitzen. Und das könnte vielleicht sogar dann der Fall sein, wenn nicht nur alle Ausgaben entsprechender Texte unansehnlich wären, sondern wenn zudem auch noch alle Darstellungen der Theorie als wenig gelungen bezeichnet werden müssten. Manche Philosophen sind der Ansicht, dass man in den soeben genannten Fällen streng genommen überhaupt nicht oder nur in einem metaphorischen Sinn von Schönheit sprechen kann. Schönheit ist für sie etwas, was notwendigerweise 2

Wir sagen manchmal: »Hier riecht es aber ganz schön!« Dann meinen wir aber, dass es ganz schön (also ziemlich) stark (und zwar unangenehm) riecht.

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an Sinnlichkeit gebunden ist. 3 Ich möchte mich auf diese Diskussion hier jedoch nicht einlassen und schränke darum mein Thema entsprechend ein: Die Frage, um die es mir geht, ist allein die nach der Natur eines Sinnes für sinnliche Schönheit, also für die Schönheit der sinnlich wahrnehmbaren Welt, zu der insbesondere viele Werke der Kunst gehören. Mit dieser Einschränkung ist es dann tatsächlich naheliegend, zu behaupten, dass Schönheit unseren Sinnen zugänglich ist. Die genannten Dinge sind nun einmal schön, weil sie schön aussehen oder sich schön anhören. Wie könnte man eine derartige Trivialität leugnen? Umso beunruhigender ist es, dass diese Trivialität falsch zu sein scheint. Die folgende bekannte Überlegung spricht dafür, dass man tatsächlich die Schönheit eines Dinges niemals mit den Sinnen erfassen kann: Nehmen wir an, zwei Betrachter stehen vor einem Gemälde. Der eine kommt zu dem Schluss, dass das Gemälde sehr schön ist, der andere ist dagegen der Ansicht, dass das Bild nicht nur nicht als besonders schön, sondern geradezu als abstoßend bezeichnet werden muss. Was können wir daraus schließen? Eines jedenfalls nicht: Dass nämlich einer der beiden nicht weiß, wie das Bild aussieht. Es kann sein, dass beide Betrachter sich völlig einig darüber sind, was es hier zu sehen gibt, und doch hält der eine das Gemälde für schön, der andere nicht. Natürlich gibt es eine Vielzahl von Faktoren, die dazu führen können, dass die beiden Betrachter sich entweder nicht einig darüber sind, was es zu sehen gibt, oder dass sie nur glauben, sich einig zu sein, in Wirklichkeit aber Verschiedenes wahrnehmen. Ich werde auf diese Faktoren noch zurückkommen. Aber die Tatsache, dass ein Betrachter das Gemälde für schön hält, der andere nicht, zeigt noch nicht, dass auch nur einer dieser Faktoren zum Tragen kommt. Was für das Gemälde gilt, gilt für beliebige Dinge, und was für das Aussehen gilt, gilt auch für das, was dem Gehör (und vielleicht dem Tastsinn) zugänglich ist: Man kann sich über die wahrnehmbaren Eigenschaften eines Dinges einig, über seine Schönheit jedoch uneinig sein. Folglich scheint die Schönheit schöner Dinge unseren Sinnen allein unzugänglich zu sein. Das beschriebene Beispiel wird gewöhnlich herangezogen, um für die Relativität ästhetischer Urteile zu argumentieren. 4 Es gibt hier, so scheint es, einen rational nicht auflösbaren Dissens. Und daraus folgert man, dass Urteile über die Schönheit einer Sache zu relativieren sind. Man muss das Beispiel jedoch nicht in dieser Weise deuten, denn man kann ja durchaus der Ansicht sein, dass tatsächlich nur einer der beiden Betrachter Recht, der andere Unrecht hat. Die Relativierung von Urteilen über Schönheit ist nur dann notwendig, wenn man glaubt, dass möglicherweise keiner von beiden einen Fehler macht. Ich nehme dagegen nur an, dass der Dissens zwischen beiden nicht allein durch den Verweis auf das, was unseren Sinnen zugänglich ist, entscheidbar ist. Von der Relativismusfrage sehe ich 3 4

Vgl. Schmücker, Das schönste Mädchen, S. 250–253; sowie Zangwill, Aesthetic/Sensory Dependence. Vgl. Bender, Realism; Goldman, Aesthetic Value, S. 26–39 und Steinbrenner, Lassen sich ästhetische Werte erkennen?.

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dagegen in diesem Aufsatz einmal ab. Immerhin: Auch so scheiden damit unsere fünf Sinne als Sinne für Schönheit aus. Was ist das also: der Sinn für Schönheit?

2. Einige Unterscheidungen Die Behauptung, dass sich die beiden Betrachter über das, was sie sehen, einig sein können, nicht jedoch über dessen Schönheit, setzt einige wichtige Unterscheidungen voraus, die ich in diesem Abschnitt kurz erläutern möchte. Zunächst sollte man zwischen zwei Bedeutungen des Satzes »Das ist schön« unterscheiden. Zum einen verwenden wir diesen Satz durchaus, um einem Gegenstand bestimmte sinnliche Qualitäten zuzuschreiben. In diesem Sinn kann man beispielsweise von dem Triptychon Mai–Juni 1973, in dem Francis Bacon den Selbstmord seines Liebhabers George Dyer darstellt, kaum sagen, dass es schön ist, wohl aber von Botticellis Geburt der Venus. In der gesamten Kunstgeschichte (und besonders in der Kunst des späteren 20. Jahrhunderts) finden sich zahlreiche Werke, deren Hauptaufgabe es geradezu ist, den ästhetischen Reiz des Hässlichen, ja sogar des Ekelerregenden zu enthüllen. 5 Jemand, der diese Kunstwerke als schön bezeichnet, verwendet den Satz »Das ist schön« vermutlich nicht im hier gemeinten, sondern in einem zweiten Sinn. Zum anderen bringen wir nämlich mit diesem Satz auch ein Gesamturteil über den ästhetischen Wert einer Sache zum Ausdruck. Statt zu sagen »Das ist schön« könnte man dann auch sagen »Das ist ästhetisch wertvoll«. Alle ästhetisch wertvollen Kunstwerke sind in diesem abstrakten Sinn schön, auch diejenigen, die kaum als schön im ersten Sinn bezeichnet werden können wie Bacons Triptychon. Umgekehrt sind nicht alle Dinge, die im ersten Sinn schön sind, auch besonders schön im zweiten Sinn, also ästhetisch wertvoll. Manche Kunstwerke sind beispielsweise »nur schön«, sonst aber langweilig anzusehen. Unser Beispiel der beiden Gemäldebetrachter spricht nur dafür, dass der ästhetische Wert einer Sache den Sinnen niemals zugänglich ist. Das Prädikat »ist schön« kann also zwei Funktionen übernehmen. Es kann zum einen dazu dienen, eine inhaltsreiche ästhetische Bewertung einer Sache zum Ausdruck zu bringen. Zum anderen fällen wir damit auch abstrakte ästhetische Werturteile. 6 Im ersten Fall wird die Sache nicht nur positiv bewertet; es werden ihr vielmehr auch bestimmte empirische Eigenschaften zugeschrieben. Im zweiten

5 6

Vgl. dazu beispielsweise die Diskussion von Kieran, Revealing Art, S. 75–86. Ich lehne mich hier an Sibleys Unterscheidung zwischen »substantive aesthetic evaluations« und »aesthetic verdicts« an. Vgl. dazu Sibley, Aesthetic Concepts; siehe auch Zangwill, The Beautiful, S. 12ff.

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Fall dagegen geht es allein um die Bewertung. 7 Viele ästhetische Prädikate können dazu dienen, inhaltsreiche ästhetische Bewertungen zum Ausdruck zu bringen – »ist langweilig«, »ist lebendig«, »ist verworren«, »ist differenziert« … Die entsprechenden ästhetischen Begriffe hat man, in Analogie zu bestimmten ethischen Begriffen, als »thick concepts«, als inhaltreiche Begriffe, bezeichnet. 8 Diese haben neben einer deskriptiven immer auch eine wertende Komponente. 9 Wenn im Folgenden von Schönheit die Rede ist, wird es allerdings nicht um Schönheit im inhaltsreichen Sinn, sondern allein um Schönheit als ästhetischem Wert gehen. Die Frage nach der Natur des Sinnes für Schönheit verstehe ich somit als die Frage nach der Natur der Erkenntnis ästhetischen Wertes. Dass Schönheit im abstrakten Sinn den Sinnen allein nicht zugänglich ist, scheint prima facie nicht so überraschend zu sein. Loben wir beispielsweise Kunstwerke nicht aus den unterschiedlichsten Gründen?10 Und könnte es nicht sein, dass der Wert eines Kunstwerkes immer in Eigenschaften liegt, die den Sinnen nicht (direkt) zugänglich sind, etwa in der politischen Wirksamkeit des Werkes etc.? Hier sind allerdings zwei weitere Unterscheidungen zu beachten: Erstens kann man den nicht-künstlerischen Wert eines Kunstwerkes von seinem künstlerischen Wert unterscheiden. Ein Kunstwerk kann für die verschiedensten Zwecke eingesetzt werden: Eine Skulptur als Briefbeschwerer, ein Musikstück, um Hühner zum Eierlegen zu animieren, ein Gedicht als Eselsbrücke. 11 Ein Kunstwerk kann darum wertvoll sein, ohne künstlerisch wertvoll zu sein. Letzteres ist nur dann der Fall, wenn es als Kunstwerk wertvoll ist. Dass der nicht-künstlerische Wert eines Kunstwerks den Sinnen häufig nicht (direkt) zugänglich ist, ist kaum überraschend. Vielleicht ist nicht einmal die These, dass der künstlerische Wert eines Kunstwerks den Sinnen häufig nicht zugänglich ist, besonders beunruhigend. Aber der künstlerische Wert eines Kunstwerks ist, zweitens, noch einmal von seinem ästhe-

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Ein Naturalist müsste die Unterscheidung allerdings in anderer Weise charakterisieren, da für ihn wohl auch die abstrakte ästhetische Bewertung der Zuschreibung einer (komplexen) empirischen Eigenschaft dient. Ich danke Jakob Steinbrenner für diesen Hinweis. Vgl. Willams, Ethics, S. 141–143; Gibbard, Morality; Zangwill, The Beautiful, S. 16–20. Die Frage, ob alle, die meisten oder die wenigsten ästhetischen Begriffe von dieser Art sind und was das Spezifikum ästhetischer Begriffe ist, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Vgl. Zangwill, The Beautiful. Vgl. dazu Schmücker, Funktionen der Kunst und Kunstkritik. Im ersten Fall kann man vielleicht sagen, dass es nicht das Kunstwerk ist, das zweckentfremdet wird, sondern das physische Objekt, in dem sich das Kunstwerk manifestiert. Vgl. zu dieser Unterscheidung Schmücker, Funktionen der Kunst, S. 16f. Im zweiten Fall ist das aber nicht so leicht möglich und im dritten Fall überhaupt nicht. Falls allerdings gerade die künstlerische Funktion etwas erst zu einem Kunstwerk macht (vgl. dazu When is Art? in Goodman, Worldmaking), kann ein Kunstwerk nicht zweckentfremdet werden. Die gerade diskutierte Unterscheidung ist dann hinfällig.

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tischen Wert zu unterscheiden. 12 Was auch immer ein Kunstwerk zu einem guten Kunstwerk macht, muss als sein künstlerischer Wert angesehen werden. Aber es ist nicht notwendigerweise der ästhetische Wert eines Kunstwerks, der es zu einem guten Kunstwerk macht. Man denke an dieser Stelle noch einmal an das Beispiel der Literatur: Romane etwa haben (häufig) einen künstlerischen Wert, auch wenn sie keinen ästhetischen Wert im hier behandelten Sinn, also keinen sinnlichen ästhetischen Wert haben. Umgekehrt gibt es jedenfalls Dinge, die einen ästhetischen, aber keinen künstlerischen Wert haben: Viele Objekte der Natur haben einen ästhetischen Wert, aber keinen künstlerischen, einfach deshalb, weil es sich bei ihnen (in aller Regel) nicht um Kunstwerke handelt. Wenn wir vom ästhetischen Wert der sinnlich wahrnehmbaren Welt (deren Teil viele Kunstwerke sind) sprechen, meinen wir einen Wert, der an die wahrnehmbaren Eigenschaften einer Sache gebunden ist. Dass der ästhetische Wert den Sinnen allein dennoch nicht zugänglich zu sein scheint, macht die Natur eines Sinnes für Schönheit so schwer verstehbar.

3. Sinnliche Schönheit Die Natur des Sinns für sinnliche Schönheit beziehungsweise, wie wir jetzt sagen können, für ästhetischen Wert, lässt sich nur klären, indem man die Beziehung zwischen ästhetischem Wert und Sinnlichkeit genauer bestimmt. Als Ausgangspunkt dafür wähle ich die Analyse ästhetischer Bewertung, die Dominique Lopes in seinem Buch Sight and Sensibility vorschlägt. 13 Lopes bezieht sich speziell auf die ästhetische Bewertung von Bildern; sein Ansatz ließe sich jedoch leicht verallgemeinern. Er schreibt: Letting ›P‹ stand for any picture and ›F‹ for any property (such as ›square‹, ›insipid‹, or ›beautiful‹), the internalist conjecture holds that an evaluation, R, of P as F is an aesthetic evaluation if and only if, were R accurate, (1) being F would be a (de)merit in P, all else being equal; (2) a suitable observer’s experience, E, of P as F is partly constitutive of (1); and (3) R is an experience with the same content as E or R is a representation warranted by E. 14

Die entscheidende Bedingung in dieser Analyse ästhetischer Bewertung ist die zweite. Hier wird deutlich, worin die besondere Beziehung zwischen der ästhetischen Bewertung eines Objektes – bei Lopes: eines Bildes – und der Wahrnehmung des Objektes ist: Die Wahrnehmung ist konstitutiv für den Wert. Lopes erläutert 12

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Diese Unterscheidung wird häufig übergangen. Goldman etwa beschäftigt sich in seinem bekannten Buch Aesthetic Value allein mit künstlerischem Wert. Vgl. auch Steinbrenner, Wertung/Wert, ästhetischer. Vgl. zum Folgenden Lopes, Sight and Sensibility, 3. Kapitel. Ebd., S. 107.

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seine zweite Bedingung folgendermaßen (wobei er hier für P das Bild Moonlit Kittens und für F »sentimental« als Beispiele einsetzt): This language in clause (2) about partial constitution requires caution on two fronts. First, the claim is not that the experience of Kittens as sentimental is part of what it is for the picture to be sentimental. Nor is it that an experience of the sentimentality as a flaw is part of what makes the picture’s sentimentality a flaw. […] The claim advanced in clause (2) is that the experience of Kittens as sentimental is part of what it is for the picture’s sentimentality to be a flaw in it. Here are three facts: (i) Kittens is sentimental, (ii) Kittens is experienced as sentimental, and (iii) being sentimental is a flaw in Kittens. The conjecture says that (ii) partly constitutes (iii). 15

Die Analyse von Lopes ist ziemlich abstrakt. Betrachten wir darum auch einmal, zu welchen Ergebnissen wir kommen, wenn wir die Beispiele verwenden, die Lopes (im ersten oben angeführten Zitat) selbst vorschlägt: Was liefert die Analyse, wenn man für F »quadratisch«, »geschmacklos« und »schön« einsetzt? Nehmen wir an, wir kritisieren ein Bild, indem wir sagen, es sei quadratisch. Nehmen wir weiterhin an, die Bewertung sei korrekt, so dass es tatsächlich ein Fehler des Bildes ist, dass es quadratisch ist. Was diese Bewertung zu einer ästhetischen Bewertung macht, ist nach Lopes, dass die Erfahrung (eines geeigneten Betrachters) des Bildes als quadratisch (teilweise) konstitutiv dafür ist, dass es ein Fehler des Bildes ist, dass es quadratisch ist. Nach der Erläuterung der zweiten Bedingung von Lopes ist die Erfahrung des Bildes als quadratisch nicht konstitutiv dafür, dass das Bild quadratisch ist. Und das ist natürlich plausibel. Weiterhin kommt es nicht darauf an, dass es als Fehler wahrgenommen wird, dass das Bild quadratisch ist. Es ist vielmehr die Erfahrung des Bildes als quadratisch allein, welche die quadratische Form des Bildes zu einem seiner Schwachpunkte macht. Die naheliegende Deutung dieser These ist: Die quadratische Form des Bildes ist ein Schwachpunkt, weil sie Ursache davon ist, dass wir das Bild als quadratisch wahrnehmen und diese Wahrnehmung keinen (oder negativen) Wert hat. Es ist also gerade die These des sogenannten ästhetischen Empiristen, welche die Bedingung (2) von Lopes verständlich macht: Dass nämlich der ästhetische Wert einer Sache in den Erfahrungen liegt, die ein geeigneter Beobachter 16 mit der Sache machen kann, dass es also letztlich diese Erfahrungen sind, die eigentlich wertvoll sind. 17 Lopes möchte sich jedoch nicht auf einen ästhetischen Empirismus festlegen. Er schreibt: 15 16

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Ebd., S. 108. Ein geeigneter Beobachter ist jemand, dem es nicht am Sinn für Realität fehlt. Was das heißt, wird im vierten Abschnitt genauer erläutert werden. Entscheidend im gegenwärtigen Zusammenhang ist, dass nicht nur derjenige, der einen Sinn für Schönheit hat, als geeigneter Beobachter zählt. Diese Auffassung kann als die klassische Auffassung ästhetischen Wertes gelten, die angefangen von den Geschmackstheorien des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein (vgl. etwa Budd, Values of Art und Levinson, Works of Art) vorherrschend ist.

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All the same, the internalist conjecture suggests a way to argue for aesthetic empiricism. Why is clause (2) true? Perhaps the best explanation of why an experience of Kittens as sentimental makes its sentimentality a flaw in it is that the experience of Kittens as sentimental is intrinsically bad. By the same token, one may accept the conjecture and reject aesthetic empiricism by denying that the latter explains the former. 18

Der Grund dafür, dass Lopes keinen ästhetischen Empirismus vertreten möchte, ist, dass er diese Position für zu umstritten hält. Und tatsächlich gibt es gerade in der neueren Diskussion eine Reihe von Kritikern dieses klassischen Ansatzes. 19 Diese Kritik basiert jedoch meines Erachtens vollständig darauf, dass viele ästhetische Empiristen ästhetischen und künstlerischen Wert gleichsetzen: Der künstlerische Wert einer Sache kann aber tatsächlich kaum allein in den Erfahrungen liegen, die wir mit der Sache machen können. Es wäre sonst beispielsweise schwer verständlich, warum wir Originale mehr schätzen als (selbst perfekte) Kopien und vielleicht auch warum wir Ready-Mades als Kunstwerke klassifizieren. 20 Damit ist jedoch noch nichts über den ästhetischen Empirismus als Theorie des ästhetischen Wertes gesagt. In Bezug auf diesen bleibt er meines Erachtens die einzig plausible Position. Wie auch immer: Lopes muss sich an dieser Stelle festlegen, da die Aussage, dass bestimmte Erfahrungen einer Sache den ästhetischen Wert dieser Sache konstituieren, für sich genommen unverständlich ist. Und es ist schwer zu sehen, wie diese Bedingung ohne ästhetischen Empirismus erläutert werden könnte. Lopes bietet jedenfalls keine Alternative an. Setzen wir den ästhetischen Empirismus voraus, so lässt sich die Analyse von Lopes, wie gesagt, plausibel deuten: Eine Schwäche unseres quadratischen Bildes liegt in bestimmten Erfahrungen, die man (das heißt ein geeigneter Beobachter) mit dem Bild machen kann, nämlich in der Erfahrung des Bildes als quadratisch. Diese Erfahrung ist wertlos oder sogar negativ zu bewerten. Es ist aber nicht die Erfahrung der Form des Bildes als Fehler, worin die Schwäche wurzelt, sondern allein die Erfahrung der Form. Anders gesagt: Der ästhetische Wert liegt in den Erfahrungen bestimmter Eigenschaften des Bildes, nicht in der Erfahrung, dass bestimmte Eigenschaften des Bildes wertvoll/los sind! Das einzige Problem mit diesem ersten Beispiel von Lopes besteht darin, dass die Aussage »Das Bild ist quadratisch« für sich genommen überhaupt keine Wertung zum Ausdruck bringt. Insofern ist es meines Erachtens nicht klar, ob Lopes für F überhaupt »quadratisch« einsetzen darf. 18 19

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Lopes, Sight and Sensibility, S. 118. Vgl. Davies, Art as Performance; Kieran, Revealing Art, S. 21–33; sowie die Literaturangaben in Kieran, Contemporary Debates, S. 35. Die (perfekte) Kopie ermöglicht nämlich prinzipiell die gleichen Erfahrungen wie das Original (auch wenn wir vielleicht bestimmte Informationen über das Original brauchen, um diese Erfahrungen machen zu können; vgl. unten). Ob auch das Ready-Made genau die gleichen Erfahrungen ermöglicht wie sein alltägliches Pendent, ist schon eher fraglich.

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Springen wir zum dritten Beispiel von Lopes und setzen »schön« für F ein. Jetzt verschwindet das zuletzt genannte Problem. Klarerweise kann man ein Bild als schön bewerten. Allerdings scheint jetzt die Erläuterung der zweiten Bedingung von Lopes keinen rechten Sinn mehr zu ergeben. Denn wie kann man behaupten, dass zwar die Erfahrung des Bildes als schön (teilweise) konstitutiv dafür ist, dass es eine Stärke des Bildes ist, schön zu sein, dass aber die Erfahrung der Schönheit des Bildes als einer Stärke nicht (teilweise) konstitutiv dafür ist, dass es eine Stärke des Bildes ist, schön zu sein? Die Erfahrung der Schönheit einer Sache ist die Erfahrung der Schönheit der Sache als einer Stärke, jedenfalls dann, wenn wir Schönheit im abstrakten Sinn meinen, die ja gerade mit dem ästhetischen Wert gleichgesetzt werden kann. Die Erfahrung des (positiven) Wertes einer Sache ist notwendigerweise die Erfahrung des Wertes als einer Stärke! Es ist darum unklar, was Lopes hier behaupten möchte. Jedenfalls ist es auch hier nicht die Erfahrung des ästhetischen Wertes eines Bildes, die das Bild wertvoll macht, sondern die Erfahrung bestimmter (nichtevaluativer) Eigenschaften des Bildes. Das zweite Beispiel, bei dem wir für F »geschmacklos« einsetzen sollen, führt entweder zum Problem des ersten oder des dritten Beispiels. Es handelt sich hier wohl nach Ansicht der meisten um einen inhaltsreichen ästhetischen Begriff, und je nachdem, ob wir seinen evaluativen oder seinen deskriptiven Anteil betrachten, kommen wir zu der einen oder anderen gerade geschilderten Schwierigkeit. 21 Wenn wir ein Bild als geschmacklos erfahren, dann kommen wir meines Erachtens nicht umhin, die Geschmacklosigkeit des Bildes als einen Fehler zu erfahren. Es ist aber nicht die Erfahrung der Geschmacklosigkeit als Fehler, die konstitutiv dafür ist, dass die Geschmacklosigkeit ein Fehler des Bildes ist. Das Schlechte an dem Bild ist vielmehr, dass wir (potenziell) bestimmte nichtevaluative Erfahrungen mit ihm machen. Sehen wir aber von der evaluativen Komponente ab, so ist das Urteil »Dieses Bild ist geschmacklos« überhaupt kein Werturteil mehr und kann darum auch nicht Ausgangspunkt für die Analyse von Lopes sein. Wir können aus dieser Diskussion der Analyse von Lopes folgende Schlüsse ziehen: Der ästhetische Wert einer Sache liegt in der (potenziellen) Wahrnehmung der Sache. 22 Der ästhetische Wert eines Sonnenuntergangs liegt in der (Möglichkeit der) Betrachtung des Sonnenuntergangs, der ästhetische Wert eines Musikstückes 21

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Stellt in Bezug auf bestimmte Kunstwerke (etwa solche von Jeff Koons oder Andy Warhol) die Behauptung »Dieses Werk ist geschmacklos« vielleicht für sich genommen keine Wertung oder sogar eine positive Wertung – »Dieses Werk ist herrlich geschmacklos« – dar? (Ich danke Jakob Steinbrenner für den Hinweis auf diese Frage.) Da meine gegenwärtige Überlegung nicht davon abhängt, ob das Prädikat »ist geschmacklos« für sich genommen überhaupt nicht wertend ist (und damit wie das Prädikat »ist quadratisch« behandelt werden kann) oder ob es sogar für sich genommen positiv wertend sein kann (und damit die folgenden Sätze einfach entsprechend variiert werden müssen), muss ich diese Frage hier nicht entscheiden. Das Wort »Wahrnehmung« ist hier in einem weiten Sinn zu verstehen. Es gibt beispielsweise viele Weisen, ein Kunstwerk wahrzunehmen, die alle erfasst sein sollen.

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liegt im (potenziellen) Hören des Musikstückes etc. Anders gesagt: Was den Sonnenuntergang schön macht, ist, dass er schön aussieht, was das Musikstück schön macht, ist, dass es sich schön anhört. Die Wahrnehmung selbst ist dabei jedoch noch nicht mit einer Wertung verbunden. Es ist die Wahrnehmung bestimmter Eigenschaften, die wertvoll ist, nicht die Wahrnehmung bestimmter Eigenschaften als Stärken oder Schwächen. Man kann das auch so auf den Punkt bringen: Das Schöne (und damit ästhetisch Wertvolle) an einer Sache ist nicht die (potenzielle) Erfahrung der Schönheit, sondern die Erfahrung von etwas Schönem. Wir erkennen demnach den ästhetischen Wert einer Sache, indem wir den Wert von (potenziellen) Wahrnehmungen der Sache erkennen. Bevor wir die Natur dieser Werterkenntnis (und damit die Natur des Sinns für Schönheit) weiter klären, sind noch drei Abgrenzungen zumindest anzudeuten. Erstens können wir Wahrnehmungen, wie es scheint, auch in Hinblick auf ihren Nutzen beurteilen. Darum geht es jedoch bei der ästhetischen Bewertung offensichtlich nicht. Man sollte deshalb sagen, dass wir es nur dann mit dem ästhetischen Wert einer Sache zu tun haben, wenn wir es mit dem intrinsischen Wert einer Wahrnehmung zu tun haben. Allerdings bleibt es dann, zweitens, immer noch schwierig, den ästhetischen Wert einer Wahrnehmung von ihrem kognitiven Wert zu unterscheiden, denn auch bei Letzterem kann es sich um einen intrinsischen Wert handeln. Dieses Problem kann im vorliegenden Rahmen nicht gelöst werden, da dazu zunächst eine genauere Charakterisierung des kognitiven Wertes der Wahrnehmung vorzunehmen wäre, was hier nicht geleistet werden kann. 23 Drittens schließlich umfasst unsere Charakterisierung ästhetischer Bewertung offensichtlich auch hedonistische Bewertungen. 24 Indem wir eine bestimmte Empfindung als angenehm bezeichnen, schreiben wir ihr einen intrinsischen Wert zu, und der Wert angenehmer Dinge liegt stets in der (potenziellen) Wahrnehmung dieser Dinge. Das Angenehme an einem heißen Bad im Winter ist, dass es uns die Erfahrung der allmählichen Erwärmung ermöglicht. Die (potenzielle) Erfahrung ist konstitutiv für den Wert eines heißen Bades. Das Angenehme an einem heißen Bad ist auch hier nicht die (potenzielle) Erfahrung der allmählichen Erwärmung als etwas Positives. Man kann wieder sagen: Das Angenehme (und damit Wertvolle) an einem heißen Bad ist demnach nicht die (potenzielle) Erfahrung von Angenehmheit, sondern die (potenzielle) Erfahrung von etwas Angenehmem. Man kann sich fragen, ob es überhaupt eine Schwäche der bisherigen Analyse ist, dass sie nicht zwischen hedonistischem und ästhetischem Wert unterscheidet. Beiden scheint ja tatsächlich derselbe Bezug zur Sinnlichkeit gemeinsam zu sein. Im Hinblick auf die Frage, um die es mir geht, ist die Unterscheidung des23

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Zum Verhältnis von ästhetischem und kognitivem Wert von Bildern vgl. Lopes, Sight and Sensibility, 4. Kapitel. Diese Konsequenz zieht auch Lopes explizit. Vgl. ebd., S. 118.

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halb nicht unbedingt notwendig. Ich gehe vielmehr davon aus, dass der Sinn für Schönheit prinzipiell von der gleichen Art ist wie der Sinn für das Angenehme. Möchte man dennoch zwischen beiden Bereichen unterscheiden, so hat man verschiedene Möglichkeiten. Man kann etwa bei der Beobachtung ansetzen, auf die ich im ersten Abschnitt hingewiesen habe, dass nämlich typischerweise das Gesehene und das Gehörte als schön bezeichnet werden, während man in erster Linie das Gefühlte als angenehm klassifiziert. Gerüche und Geschmäcker nennt man meistens einfach gut. Es scheint daher eine gewisse Zuordnung zu den verschiedenen Sinnen zu geben: Ästhetische Bewertungen beziehen sich primär auf das Gesehene und das Gehörte, hedonistische Bewertungen auf das Gefühlte. 25 Aber die Zuordnung ist nicht strikt: Blendendes Licht kann ebenso wie ein schriller Ton nicht nur unschön, sondern auch unangenehm sein, und eine Skulptur oder ein Stoffstück kann sich, wie gesagt, vielleicht nicht nur angenehm sondern auch schön anfühlen. Man muss zur Unterscheidung beider Bereiche darum zumindest auch den Inhalt der entsprechenden Wahrnehmungen berücksichtigen. 26 Da meine weiteren Überlegungen nicht davon abhängen, zu welchen Ergebnissen man dabei kommt, führe ich diesen Gedanken hier jedoch nicht weiter. 27

4. Schön und gut Wenn man den ästhetischen Wert einer Sache im intrinsischen Wert bestimmter (potenzieller) Wahrnehmungen dieser Sache sieht, so muss der Sinn für Schönheit ein Vermögen sein, mit dessen Hilfe wir den intrinsischen Wert bestimmter Wahrnehmungen erkennen können. Wie aber erkennt man intrinsische Werte? Hier hilft es meines Erachtens, die enge Verbindung zwischen intrinsischen Werten und Gründen für Handlungen zu beachten: Wenn ich durch meine Handlung etwas intrinsisch Wertvolles erreichen kann, dann spricht das stets für die Handlung. Wenn ich beispielsweise durch eine Handlung erreichen kann, dass beim Kindergeburtstag der Kuchen gerecht zwischen den Kindern aufgeteilt wird, dann spricht das dafür, die Handlung auszuführen. 28 Das heißt natürlich nicht, dass ich die Handlung zwangsläufig ausführen sollte – es kann ja auch vieles gegen die Handlung sprechen. Dass der Kuchen gerecht zwischen den Kindern aufge25

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Der entsprechende Sinn ist der Tastsinn, aber auch die innere Körperwahrnehmung (etwa wenn man sich satt fühlt oder einen Muskelkater hat). Letzteres nennt man »Propriozeption«. Natürlich kann man das Problem dadurch verschieben, dass man sagt, Schönheitsurteile bezögen sich, anders als Urteile über das Angenehme, auf ästhetische Erfahrungen. Die Frage nach der Natur ästhetischer Erfahrungen ist meines Erachtens dann aber ihrerseits durch den Verweis auf den Inhalt beziehungsweise Gegenstand dieser Erfahrungen zu klären. Vgl. Carroll, Aesthetic Experience. Ebenso verzichte ich auf die in diesem Zusammenhang naheliegende Analyse der kantischen Position. Das betrachte ich als Beispiel für ein intrinsisch wertvolles Resultat. Wer diese Überzeugung nicht teilt, kann leicht ein anderer Beispiel finden.

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teilt werden würde, konstituiert aber jedenfalls einen Grund für die Handlung. Was für Gerechtigkeit gilt, gilt für alle intrinsischen Werte: Wenn ich sie durch meine Handlung realisieren kann, dann habe ich einen Grund für meine Handlung. Jemand, der so etwas sagt wie: »Ich kann zwar mit dieser Handlung etwas (in bestimmter Hinsicht) Gutes erreichen, aber es spricht überhaupt nichts dafür, die Handlung auszuführen, anders gesagt: ich sehe überhaupt keinen Grund, die Handlung auszuführen«, äußert sich letztlich unverständlich. 29 Somit habe ich also beispielsweise auch einen Grund, ins Museum zu gehen, wenn es dort ästhetisch Wertvolles zu sehen gibt. Wenn bestimmte Erfahrungen intrinsisch wertvoll sind, dann habe ich auch Grund, diese Erfahrungen zu ermöglichen – für mich selbst, aber auch für andere. Der Sinn für Schönheit kann somit als ein Sinn für Gründe identifiziert werden: Jemand, der einen Sinn für Schönheit hat, erkennt, dass er bestimmte Gründe für Handlungen hat. Er erkennt beispielsweise, dass die Tatsache, dass man im Museum bestimmte Erfahrungen machen kann, einen Grund dafür konstituiert, ins Museum zu gehen. So gesehen ist der Sinn für Schönheit nicht nur mit dem Sinn für das Angenehme, sondern insbesondere mit dem moralischen Sinn eng verwandt. Jemand, der einen Sinn für Moral hat, erkennt, dass bestimmte Tatsachen Gründe für Handlungen konstituieren, ebenso wie derjenige, der einen Sinn für Schönheit (und für das Angenehme) hat, erkennt, dass bestimmte Tatsachen Gründe für Handlungen konstituieren. Die Sinne unterscheiden sich darin, welche Tatsachen jeweils als Gründe erkannt werden. Sie kommen darin überein, dass beide als Vermögen der Vernunft zu deuten sind, denn sie ist es, auf die Gründe (als solche) ihrer Natur nach zielen. Gehen wir vor diesem Hintergrund noch einmal zurück zu unserem Ausgangsbeispiel: den beiden Gemäldebetrachtern mit abweichenden ästhetischen Urteilen. Möchte man keine relativistische Interpretation der Situation geben, so muss man davon ausgehen, dass einer der beiden Unrecht hat. Wie kann das sein? Wenn die vorliegende Analyse unseres Sinnes für Schönheit korrekt ist, können wir einfach entsprechende Überlegungen aus der Metaethik übertragen. Wenn jemand zu einem falschen moralischen Urteil kommt, dann kann das zwei grundlegend verschiedene Ursachen haben. Eine Ursache besteht darin, dass die Person die zu bewertende Handlung oder die Handlungsumstände falsch einschätzt. Es kann beispielsweise sein, dass die Person sich über die Folgen der Handlung täuscht oder auch über die Frage, welche Handlungen in einer Situation möglich sind und welche nicht. Wenn dass der Fall ist, kann es sein, dass die Person fälschlicherweise zu dem Schluss kommt, dass es richtig ist, Handlung A auszuführen, obwohl es richtig wäre, Handlung B auszuführen. Dieser Person fehlt es dann 29

Externalisten bestreiten (jedenfalls nach einer Deutung) den internen Zusammenhang zwischen dem (in irgendeiner Hinsicht) Guten und Gründen. Dafür, dass der Externalismus nicht haltbar ist, argumentiere ich in Ernst, Das Amoralistenargument.

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nicht am Sinn für Moral, sondern am Sinn für Realität. Sie erkennt einfach nicht, was möglich ist beziehungsweise welche Folgen sich ergeben werden. Eine ganz andere Ursache für ein moralisches Fehlurteil ist im Spiel, wenn eine Person die Lage und die Handlungsfolgen völlig richtig einschätzt und dennoch zur falschen Bewertung der Handlung kommt. Nehmen wir an, Helga ist sich völlig darüber im Klaren, dass ein Kind keinen Kuchen bekommen wird, wenn sie den Kuchen in fünf Stücke teilt und diese an die ersten fünf Kinder verteilt. Dass sich diese Verteilung ergeben wird, konstituiert in ihren Augen aber einfach keinen Grund dafür, den Kuchen anders zu schneiden. 30 Sie ist nicht blind für die Realität, hat aber offensichtlich keinen Sinn für Gerechtigkeit. Sie ist darum ein (zumindest partieller) Amoralist. Beide Arten von Fehlern kann man auch im Fall ästhetischer Bewertungen finden. 31 Zum einen kommt es häufig vor, dass ästhetische Fehlurteile auf einer unzureichenden Wahrnehmung der Gegebenheiten beruhen. Es ist oft schwierig, die Feinheiten zu erkennen, die für ein richtiges ästhetisches Urteil relevant sind. Diese Erkenntnis setzt häufig eine Menge Wissen voraus. Kendall Walton ist beispielsweise der Ansicht, dass die ästhetischen Eigenschaften eines Dinges nicht nur von den intrinsischen Eigenschaften des Dinges abhängen, sondern auch von bestimmten relationalen Eigenschaften, wie etwa der Herstellungsgeschichte oder den Künstlerintentionen bei einem Kunstwerk. 32 Die Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften kann so eine Fülle von Hintergrundinformationen verlangen. Auch Nelson Goodman weist beispielsweise darauf hin, dass häufig erst Informationen über den (kunst-)historischen Kontext die Wahrnehmung eines Stils ermöglichen. 33 Und es ist völlig klar, dass man eine Anspielung in der Regel nur dann erkennen kann, wenn man das kennt, worauf angespielt wird. Man kann diese Phänomene unter das aus der Wissenschaftstheorie bekannte Schlagwort von der Theoriegeladenheit der Beobachtung subsumieren. So wie man aus einem Röntgenbild die relevanten Informationen nur ersehen kann, wenn man die entsprechenden Hintergrundinformationen (und die entsprechende Übung) hat, so kann man auch die ästhetischen (beziehungsweise die ästhetisch relevanten) Eigenschaften einer Sache häufig nur aufgrund entsprechender Hintergrundinformationen (und entsprechender Übung) wahrnehmen. Wenn in der Ästhetik von idealen Beobachtern die Rede ist, dann möchte man in erster Linie Beobachter auszeichnen, denen keine ästhetisch relevanten Aspekte der Wirklichkeit entgehen. Sie sollen eine geschulte und feine, durch keine Ablenkungen gestörte Wahrneh30

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Es soll hier also nicht so sein, dass Helga den Grund zwar sieht, aber bessere Gründe hat, den Kuchen dennoch ungerecht zu verteilen. Vgl. zum Folgenden die klassischen Ausführungen von Hume (Standard of Taste) sowie deren Interpretation bei Dickie (Evaluating Art, S. 141ff.). Vgl. Walton, Categories of Art. Vgl. Goodman, Worldmaking, 2. Kapitel.

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mung haben und über alle relevanten Hintergrundinformationen verfügen. Erst dann ist ihrem ästhetischen Urteil zu trauen. 34 Man sollte sich meines Erachtens der These anschließen, dass die meisten moralischen und ästhetischen Meinungsverschiedenheiten durch abweichende Meinungen über nichtmoralische und nichtästhetische Fakten zu erklären sind. 35 Wenn zwei Betrachter eines Gemäldes zu unterschiedlichen ästhetischen Urteilen kommen, dann liegt die Vermutung nahe, dass der eine in dem Bild etwas findet (oder zu finden glaubt), was der andere nicht findet (oder nicht zu finden glaubt). Einer von beiden täuscht sich dann, aber nicht aufgrund eines fehlenden Sinnes für Schönheit, sondern aufgrund eines fehlenden Sinnes für die Realität. Dennoch: Es kann eben auch der Fall eintreten, dass beide Betrachter alle relevanten Aspekte erkennen und dennoch nicht zu dem gleichen ästhetischen Urteil kommen. Dann muss der Fehler, den mindestens einer von beiden macht, von anderer Art sein. Wie im Fall der Amoralistin muss man dann davon ausgehen, dass einer von beiden eine bestimmte Tatsache, die er tatsächlich erkennt, nicht in gleicher Weise wie der andere als Grund betrachtet. Ihm fehlt es dann am Sinn für Schönheit. Beide Fehler sind unabhängig voneinander. Es gibt im Ästhetischen wie im Moralischen Menschen, die einen ausgeprägten Sinn für Schönheit und Moral haben, aber leider völlig unsensibel (oder unwissend) sind, was die Wahrnehmung ihrer Umwelt angeht. Sie kommen zu ästhetischen und moralischen Fehlurteilen (und dementsprechend auch zu falschen Handlungen), weil sie die Realität nicht erkennen. Umgekehrt gibt es hier wie dort auch Menschen, die eine feine Wahrnehmung haben, aber das, was sie erkennen, nicht in der richtigen Weise als Gründe erkennen. Wir betrachten solche Menschen als (partielle) Amoralisten und als (partielle) Banausen. Es fehlt ihnen nicht am Sinn für Realität, sondern am Sinn für Moral beziehungsweise Schönheit.

5. Schön und natürlich Die bisherigen Überlegungen sollten deutlich machen, dass die Fähigkeit zur Erkenntnis von Schönheit von der gleichen Art ist wie die Fähigkeit zu moralischer Erkenntnis. In beiden Fällen handelt es sich um »Sinne für Gründe«. Damit ist aber, so scheint es, eher das Problem präzisiert als eine Lösung gefunden. Denn die Natur des Sinnes für Moral ist sicherlich nicht leichter zu klären als die Natur des Sinnes für Schönheit. Die kontroverse Debatte um die Natur moralischer (Tatsachen und) Erkenntnis überträgt sich damit unmittelbar auf die Ästhetik.

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Im dritten Abschnitt war genau in diesem Sinn von »geeigneten Beobachtern« die Rede. Diese Einsicht wird vor allem von Nonkognitivisten betont. Vgl. etwa Ayer, Language, S. 114f.

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Dementsprechend findet man hier wie dort nonkognitivistische, naturalistische und nonnaturalistische Positionen. 36 Im vorliegenden Rahmen ist es nicht möglich, diese Positionen im Einzelnen zu diskutieren, um ihre Vorzüge und Nachteile aufzuzeigen. Stattdessen möchte ich im Folgenden meinen eigenen Ansatz zur Klärung der Natur ästhetischer Erkenntnis skizzieren. 37 Möchte man die Natur ästhetischer Erkenntnis klären, so besteht ein Hauptproblem, wie es scheint, darin, den richtigen Grad von Abhängigkeit und Unabhängigkeit der korrespondierenden ästhetischen Tatsachen vom Erkenntnissubjekt zu erfassen. Hier bietet sich bekanntlich der Vergleich zwischen ästhetischer Erkenntnis und der Erkenntnis sekundärer Qualitäten an: 38 So wie die Wahrnehmung etwa von Farben zwar nicht völlig unabhängig von uns (insbesondere von der spezifischen Ausbildung unserer Augen), aber dennoch objektiv (das heißt hier vor allem: eine echte Form der Erkenntnis) ist, so könnte auch ästhetische Erkenntnis als objektive aber subjektabhängige Erkenntnis gedeutet werden. Dieser Vergleich geht meines Erachtens in die richtige Richtung. Auch ich bin der Ansicht, dass sich die Rätselhaftigkeit unseres Sinnes für Schönheit nur beseitigen lässt, indem man deutlich macht, dass sich die Besonderheiten dieser Erkenntnisart auch in Bereichen finden, die wir für weniger problematisch halten. Das beste Vergleichsobjekt wäre natürlich moralische Erkenntnis. Aber diese ist, wie gesagt, nicht weniger problematisch als ästhetische Erkenntnis. Der Vergleich mit der Erkenntnis sekundärer Qualitäten ist diesbezüglich hilfreicher. Allerdings hat auch er eine gravierende Schwachstelle: Was ästhetische (ebenso wie moralische) Erkenntnis so schwer verständlich macht, ist gerade die Tatsache, dass wir es hier mit einem Vermögen zur Erkenntnis von Gründen (als solchen) zu tun haben. Die Erkenntnis sekundärer Qualitäten ist aber genau in diesem Punkt von anderer Art. Die Tatsache, dass etwas schön ist, impliziert das Vorliegen von Gründen; die Tatsache, dass etwas diese oder jene Farbe hat, nicht. Die Abhängigkeit etwa der Farbwahrnehmung von uns ist darum gerade keine Abhängigkeit von unserer Vernunft, sondern eine Abhängigkeit von unserer Sinnlichkeit. Obwohl also in beiden Bereichen eine Abhängigkeit von uns vorliegt, handelt es sich um grundlegend verschiedene Abhängigkeiten. Dementsprechend fällt es uns auch schwer, zu sagen, welches Vermögen uns zur Erkenntnis von Schönheit befähigt, während es uns leicht fällt, zu sagen, welches Vermögen uns die Erkenntnis etwa von Farben erlaubt: das Sehvermögen. Der Vergleich ist darum letztlich wenig erhellend.

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Einen kurzen Überblick für den Bereich der Ästhetik gibt beispielsweise Reicher, Philosophische Ästhetik, S. 63–80. Zur metaethischen Debatte vgl. Miller, Contemporary Metaethics. Grundlage für das Folgende sind meine metaethischen Überlegungen, die ich insbesondere in Ernst, Moralische Erkenntnis und Die Objektivität der Moral darlege. Vgl. McDowell, Aesthetic Value und Values and Secondary Qualities.

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Es gibt jedoch einen besseren Vergleich. Ästhetische Erkenntnis weist nämlich (ebenso wie moralische Erkenntnis) eine grundlegende Analogie mit wissenschaftlicher Erkenntnis auf. Um das zu sehen, muss man sich klar machen, dass Wissenschaft nicht einfach im Sammeln von Faktenwissen besteht. Es geht vielmehr um die miteinander zusammenhängenden Ziele, Erklärungen zu geben und Vorhersagen zu machen. 39 Um diese Ziele erreichen zu können, müssen Wissenschaftler nicht einfach nur herausfinden, was der Fall ist. Sie müssen vielmehr Gesetzmäßigkeiten erkennen beziehungsweise natürliche Arten finden. Erst der Verweis auf Gesetze und natürliche Arten macht Erklärungen und Vorhersagen möglich. 40 Die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten und natürlichen Arten ist jedoch eine Erkenntnis von Gründen (als solchen) und damit keine rein empirische Angelegenheit. Das lässt sich besonders gut an Goodmans bekanntem »neuen Rätsel der Induktion« deutlich machen: 41 Nehmen wir an, wir stellen fest, dass alle Smaragde, die wir bisher gesehen haben, grün sind, und wir schließen daraus (induktiv) auf die Gesetzmäßigkeit, dass alle Smaragde grün sind. Daraus ergibt sich dann insbesondere die Vorhersage, dass die Smaragde, die wir in Zukunft beobachten werden, auch grün sein werden. Betrachten wir aber jetzt folgende Definition: Das Prädikat »grot« trifft auf alle Gegenstände zu, die vor dem Zeitpunkt t beobachtet wurden und grün sind, und auf solche, die nicht vor dem Zeitpunkt t beobachtet wurden und rot sind. Nehmen wir an, wir setzen für t einen Zeitpunkt ein, der gerade knapp in der Zukunft liegt. Dann gilt Folgendes: Alle Smaragde, die wir bisher beobachtet haben, waren ja grün, also waren sie der Definition entsprechend auch grot. Würden wir daraus jedoch den (induktiven) Schluss ziehen, dass alle Smaragde grot sind, so kämen wir zu der Vorhersage, dass die Smaragde, die wir erstmals nach t beobachten werden, rot sein werden, denn ein Gegenstand ist, falls er nicht vor t beobachtet wurde, nur dann grot, wenn er rot ist. Wir sind offensichtlich der Ansicht, dass unsere bisherigen Beobachtungen die Hypothese bestätigen, dass

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Wie man sieht, habe ich hier vor allem die Naturwissenschaften vor Augen. Meine These ist also, dass ästhetische Erkenntnis analog zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu deuten ist. Vgl. dazu auch Goodman, Worldmaking; Steinbrenner, Art Samples. Die Besonderheit meines Ansatzes besteht, wie noch deutlich werden wird, darin, dass ich das entscheidende Vergleichsmoment in der Normativität wissenschaftlicher Urteile, also in deren Bezogenheit auf Gründe sehe. Tatsächlich haben wir es hier mit einem komplizierten Netz von miteinander zusammenhängenden Begriffen zu tun: Erklärung, Vorhersage, Naturgesetz, natürliche Art, Kausalität, kontrafaktische Konditionale, Bestätigung, Induktion etc. Ich greife hier der Übersichtlichkeit wegen nur einen Aspekt, nämlich die Beziehung zwischen Vorhersage, Gesetzesartigkeit und natürlichen Arten, heraus. Vgl. zum Folgenden Goodman, Fact, 3. Kapitel.

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alle Smaragde grün sind, nicht jedoch die Hypothese, dass alle Smaragde grot sind. Anders gesagt: Wir betrachten die Tatsache, dass die bisher beobachteten Smaragde grün aussahen, als Grund für die Überzeugung, dass alle Smaragde grün sind, während wir die Tatsache (sic!), dass die bisher beobachteten Smaragde grot aussahen, nicht als Grund für die Überzeugung auffassen, dass alle Smaragde grot sind. Der entscheidende Punkt ist nun: Grüne und grote Smaragde sehen vor dem Zeitpunkt t, also solange wir noch Interesse an einer Vorhersage haben, gleich aus. Das heißt aber, dass wir nicht sehen können, ob die beobachteten Smaragde tatsächlich grün oder grot sind. Dennoch glauben wir (zumindest wenn wir keine Induktionsskeptiker sind), dass wir erkennen können, dass die beobachteten Smaragde grün und nicht grot sind. Wäre das nicht möglich, so könnten wir keinen entsprechenden induktiven Schluss ziehen und eine Vorhersage wäre nicht möglich. Wissenschaftliche Erkenntnis setzt damit die Möglichkeit nichtsinnlicher Erkenntnis voraus. Diese Form der Erkenntnis kann man auf verschiedene Weise beschreiben: Man kann sagen, dass der Wissenschaftler erkennen muss, welche Hypothesen gesetzesartig sind – die Hypothese, dass alle Smaragde grün sind, gilt dann als gesetzesartig, die Hypothese, dass alle Smaragde grot sind, nicht –, oder dass der Wissenschaftler natürliche Arten finden muss – grüne Dinge gehören dann einer (abgeleiteten) natürlichen Art an, grote Dinge nicht – und es gibt noch einige weitere mögliche Charakterisierungen. Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang: Wie auch immer wir wissenschaftliche Erkenntnis beschreiben, es handelt sich nicht um sinnliche Erkenntnis, sondern um die Erkenntnis von Gründen (als solchen). Wenn wir entscheiden, ob die Smaragde grün oder grot sind, tun wir das nicht allein aufgrund der Art und Weise, wie Smaragde aussehen, denn grüne und grote Smaragde sehen gleich aus – zumindest solange wie wir ein Interesse an induktiven Schlüssen haben, also vor t. Entscheidend ist hier vielmehr, wie wir das, was wir sehen, auffassen: als grüne oder als grote Smaragde. Und je nachdem glauben wir, einen Grund zu der Erwartung zu haben, dass andere Smaragde auch grün oder auch grot (also rot) aussehen werden. Damit liegt hier aber dieselbe Konstellation vor wie im Fall von ästhetischer Erkenntnis: Wenn wir von einer Sache sagen, sie sei »schön«, dann erkennen wir, dass die (potenzielle) Wahrnehmung dieser Sache intrinsisch wertvoll ist. Das impliziert, dass wir einen Bezug zu Gründen und damit zu unserer Vernunft herstellen. Wir sehen aber nicht, dass die Sache schön ist. Wir sehen, wie wir gesagt hatten, etwas Schönes, aber nicht die Schönheit. Entsprechend gilt im wissenschaftlichen Fall: Wenn wir von einer Eigenschaft sagen, sie sei »natürlich«, dann bewerten wir diese Eigenschaft ebenfalls in gewisser Weise. Wir stellen nämlich auch hier einen Bezug zu Gründen und damit zu unserer Vernunft her. Und auch hier sehen wir nicht, dass die Eigenschaft natürlich ist. Wir sehen, wie wir sagen können, natürliche Eigenschaften. Aber die Natürlichkeit selbst sehen wir nicht! Die Natur ästhetischer Erkenntnis, und damit unser Sinn für Schönheit,

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Gerhard Ernst

lässt sich somit in Analogie zu wissenschaftlicher Erkenntnis verständlich machen. 42 Fassen wir zusammen: Ich habe in diesem Aufsatz versucht, die Natur des Sinns für Schönheit zu klären. Dazu habe ich zunächst das Verhältnis zwischen diesem Sinn für Schönheit und unserer »gewöhnlichen« Wahrnehmung untersucht. Wie sich zeigte, ist ästhetische Erkenntnis nichts anderes als die Erkenntnis des intrinsischen Wertes bestimmter Wahrnehmungen (oder wie man auch sagen kann: des intrinsischen Wertes ästhetischer Erlebnisse). Damit zeigt sich der Sinn für Schönheit aber, darin dem Sinn für Moral gleich, als ein Sinn für Gründe. Da moralische Erkenntnis nicht weniger problematisch ist als ästhetische Erkenntnis, habe ich versucht, Letztere durch einen anderen Vergleich verständlicher zu machen: Durch den Vergleich mit wissenschaftlicher Erkenntnis. Vielleicht wird man auf dieser Grundlage zu dem Schluss kommen, dass auch wissenschaftliche Erkenntnis alles andere als leicht zu verstehen ist. Diese Ansicht teile ich. Immerhin wäre aber gezeigt, dass ästhetische und moralische Erkenntnis ihrer Natur nach nicht problematischer ist als wissenschaftliche Erkenntnis. Alle drei sind aus dem gleichen Grund schwer zu verstehen: Es handelt sich um Formen der Vernunfterkenntnis. Ein wesentlicher Unterschied zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer Erkenntnis scheint jedoch auch vor diesem Hintergrund bestehen zu bleiben: Während in Bezug auf jene kaum jemand relativistische Intuitionen hat, ist im Bereich der Ästhetik der Relativismus geradezu die Standardposition. Die Frage nach der Relativität ästhetischer Urteile habe ich in diesem Aufsatz eingeklammert. Möchte man die Natur des Sinnes für Schönheit weiter klären, muss man sie aufgreifen. 43

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43

Tatsächlich habe ich die Analogie hier nur skizziert. Wie die Analogie zwischen Moral und Wissenschaft genau aussieht, beschreibe ich in Ernst, Die Objektivität der Moral. Den Bereich der Ästhetik deute ich prinzipiell in der gleichen Weise. Für hilfreiche Kommentare zu früheren Fassungen dieses Aufsatzes danke ich Erich Ammereller, Karin Ernst, Geert Keil, Maria E. Reicher, Reinold Schmücker und Jakob Steinbrenner.

Der Sinn für Schönheit

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Gerhard Ernst

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Reinold Schmücker

WARUM ICH KEIN ÄSTHETISCHER REALIST BIN Es gibt Gründe, sich nicht zum ästhetischen Realismus zu bekennen. So ist es fraglich, ob der ästhetische Realismus es uns tatsächlich eher als arealistische Auffassungen in aestheticis erlaubt, alltagssprachliche Redeweisen wörtlich zu nehmen (I). Zudem ist eine nichtrealistische (und nichtobjektivistische) Deutung des Gebrauchs wertender Adjektive im Kontext ästhetischer Evaluationen nicht notwendigerweise auf Annahmen festgelegt, die ihr nach Meinung ästhetischer Realisten zugrunde liegen (II). Auch der Umstand, dass über ästhetische Urteile Streit entbrennen kann, spricht nicht notwendigerweise für den ästhetischen Realismus (III). Darüber hinaus ist es unklar, wie objektive, von einem subjektiven Fürwahrhalten unabhängige Werttatsachen erkannt werden können – und es ist deshalb auch unklar, wie sich unser Urteil über den Wert von Gegenständen ästhetischer Erfahrung an solchen Werttatsachen soll orientieren können (IV). Auch das sogenannte ›Wahrmacherargument‹ stellt kein tragfähiges Fundament für den ästhetischen Realismus dar, weil es auf einem Verständnis des semantischen Gehalts von Wertbegriffen beruht, das deren Eigenart verkennt (V). Unsere Werturteile über Gegenstände unserer ästhetischen Erfahrung lassen sich vielmehr plausibler in einer Weise verstehen, die ohne realistische Prämissen auskommt: Im Mittelpunkt steht dabei zum einen die Vorstellung, dass wir im Vollzug ästhetischer Erfahrung potentielle Funktionen der Gegenstände dieser Erfahrung, denen wir jeweils einen bestimmten Wert zumessen, sowohl erfassen als auch aktualisieren. Unser Werturteil über den fraglichen Gegenstand wird dabei maßgeblich durch dessen Funktionalität in Bezug auf diejenigen dieser Funktionen bestimmt, die uns besonders wichtig erscheinen. Zum anderen lässt sich zeigen, dass der Schein der Objektivität unserer Werturteile über Gegenstände unserer ästhetischen Erfahrung (und der solchen Werturteilen eigentümliche Anspruch auf Objektivität) daher rührt, dass sich solche Werturteile immer schon auf normative Standards beziehen, deren Geltung ein weitreichender, mitunter sogar über (Sub-)Kulturen und einzelne Sprachgemeinschaften hinausreichender intersubjektiver Konsens verbürgt (VI).

Was ist ein ästhetischer Realist? Ästhetischer Realist ist, so nehme ich an, wer mindestens eine der folgenden teilweise eng miteinander verwandten Thesen vertritt: 1. Es gibt objektive Werttatsachen, die von einem subjektiven Fürwahrhalten unabhängig sind und an denen sich unser Urteil über die Qualität oder den

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Reinold Schmücker

Wert von Gegenständen ästhetischer Erfahrung orientiert, orientieren kann oder orientieren sollte. 2. Ästhetische Erfahrung impliziert die Erfahrung objektiver, von subjektivem Fürwahrhalten unabhängiger Werttatsachen. 3. Es gibt (spezifisch) ästhetische Eigenschaften (bzw. ästhetische Qualitäten). 4. Es gibt genuin ästhetische Gegenstände, d. h. Gegenstände, die spezifisch ästhetische Eigenschaften besitzen. Wenn ich mich nicht als ästhetischen Realisten bekenne, so deshalb, weil ich nicht davon überzeugt bin, dass wenigstens eine dieser Thesen wahr ist. Ich erhebe nicht den Anspruch, die Falschheit auch nur einer dieser Thesen darlegen zu können. Das würde mir möglicherweise schon deshalb schwerer fallen als manch anderem, der dem ästhetischen Realismus skeptisch gegenübersteht, weil ich eine Kernprämisse des ästhetischen Realismus teile: die platonistische Annahme, dass es Entitäten gibt, die sich dem Bereich dessen zurechnen lassen, was Frege das Objektiv-Nichtwirkliche nennt. 1 Außerdem neige ich in Fragen der Moral zu einer Annahme, die man – wenn auch nicht in dem von Christoph Halbig definierten Sinn 2 – als einen minimalen moralischen Realismus bezeichnen könnte: zu der Annahme nämlich, dass sich einige Handlungen eindeutig als moralisch bzw. unmoralisch und einige moralische Urteile als wahr ausweisen lassen. 3 Ich beschränke mich also darauf, einige Gründe anzugeben, warum es mir schwerfällt, an die Botschaft des ästhetischen Realismus zu glauben. Ich beziehe mich dabei insbesondere auf Argumente für einen ästhetischen Realismus, die Maria Reicher in ihrer Einführung in die philosophische Ästhetik vorgetragen hat; denn Maria Reicher begründet den von ihr vertretenen ästhetischen Realismus sehr klar.

1

2 3

Zu dieser fregeanischen Prämisse meiner Überzeugungen in aestheticis vgl. Schmücker, Was ist Kunst? , S. 238ff. Vgl. Halbig, Praktische Gründe, S. 196ff. Dass manche Handlungen – jedenfalls unter bestimmten Umständen – eindeutig moralisch bzw. unmoralisch sind, ergibt sich daraus, dass der Begriff der Moral nicht semantisch leer ist. Ein Angriffskrieg gegen einen nahezu wehrlosen Gegner, der offensichtlich allein deshalb geführt wird, weil dies die für den Angreiferstaat kostengünstigste und für seine Bevölkerung mit den geringsten gesundheitlichen Risiken verbundene Art und Weise ist, seine angerosteten Atomsprengköpfe zu verschrotten, wäre ein Beispiel für eine Handlung, die klarerweise unmoralisch ist. Ein anderes Beispiel wäre das Verhungernlassen eines sechs Monate alten Kindes, obwohl geeignete Nahrungsmittel in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen. Jeder, der weiß, was es heißt, etwas als moralisch zu qualifizieren, wird zu dieser Auffassung gelangen – und nach meiner Überzeugung trifft dies in den genannten und in einer Reihe diesbezüglich ihnen ähnlicher Fälle für alle Kulturen zu, die über den Begriff der Moral verfügen. Das bedeutet aber nicht, dass es möglich wäre, über die Moralität einer jeden Handlung zu einem ebenso universell gültigen Urteil zu gelangen.

Warum ich kein ästhetischer Realist bin

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I Der erste Grund, warum ich kein ästhetischer Realist bin, hängt mit meinem Verdacht zusammen, dass der ästhetische Realismus der Art und Weise nicht gerecht wird, wie wir alltagssprachlich Ausdrücke der Form »x ist a« verwenden, wobei die Variable x eine beliebige Gegenstandsbezeichnung, die auch ein Eigenname sein kann, vertritt, während die Variable a Platzhalter eines beliebigen Adjektivs ist. Ich bezweifle, dass der ästhetische Realismus es uns eher als arealistische Auffassungen in aestheticis erlaubt, alltagssprachliche Redeweisen wörtlich zu nehmen; denn diese Annahme beruht auf der Prämisse, dass wir es bei einem sprachlichen Ausdruck der Form »x ist a« wenn nicht immer, so doch in aller Regel mit einer Prädikation zu tun haben, durch die eine Eigenschaft zugeschrieben wird. Nur unter dieser Voraussetzung lässt sich nämlich plausibel annehmen, dass der ästhetische Realismus uns eher als ein ästhetischer Arealismus alltagssprachliche Redeweisen wörtlich zu nehmen erlaubt. Unter jener Prämisse kommt aber andererseits ebendiese Annahme einer petitio gefährlich nahe; denn sie ergibt sich aus einer Voraussetzung, die sprachliche Ausdrücke der Form »x ist a« wenn nicht prinzipiell, so doch im Regelfall im Sinne des ästhetischen Realismus interpretiert. Meines Erachtens wird durch diese Voraussetzung die Differenz zwischen unterschiedlichen Arten der Prädikation – beziehungsweise (wenn man den Ausdruck »Prädikation« für die Zuschreibung von Eigenschaften reservieren will) zwischen unterschiedlichen Arten des Gebrauchs sprachlicher Ausdrücke der Form »x ist a« – eingeebnet. Denn solche sprachlichen Ausdrücke können nicht nur der Zuschreibung von Eigenschaften, sondern auch der Artikulation von Werturteilen dienen, und sie finden im Alltag auch in beiderlei Funktion Verwendung. Als Beispiele für ästhetische Eigenschaften werden gemeinhin Schönheit und Hässlichkeit, aber auch eine Fülle weiterer Eigenschaften angeführt. Maria Reicher schlägt in ihrer Einführung eine Typologie ästhetischer Eigenschaften vor, die sie durch eine Reihe von Beispielen illustriert. 4 Sie unterscheidet »reine ästhetische Wertqualitäten«, »Gefühlsqualitäten«, »formale Qualitäten«, »Verhaltensqualitäten«, »Evokationsqualitäten«, »repräsentationale Qualitäten«, »Wahrnehmungsqualitäten zweiter Ordnung« und »historische Qualitäten«. Beispiele für reine ästhetische Wertqualitäten sind in ihren Augen »schön, hässlich, erhaben, lächerlich«; als Gefühlsqualitäten genannt werden »traurig, fröhlich, zornig, melancholisch«; formale Qualitäten sind beispielsweise »ausgewogen, harmonisch, streng komponiert«; exemplarische Verhaltensqualitäten sind »kühn, träge, sprunghaft«; zu den Evokationsqualitäten zählen »langweilig, unterhaltsam, rührend, aufwühlend, spannend«; Beispiele für repräsentationale Qualitäten

4

Vgl. hierzu und zum Folgenden Reicher, Ästhetik, S. 58.

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Reinold Schmücker

sind »realistisch, wirklichkeitsgetreu, verfremdet«; Erwähnung finden außerdem als Wahrnehmungsqualitäten zweiter Ordnung »lebhaft, intensiv, gedämpft, trübe (als Qualitäten von Farben und Tönen)« sowie als historische Qualitäten »originell, bahnbrechend, konservativ«. Meines Erachtens ist es bezeichnend, dass Reicher die vorgenannten Eigenschaften nicht in der substantivierten Form eines eigenschaftsbezeichnenden Nomens anführt, sondern zur Veranschaulichung ihrer »Klassifikation ästhetischer Eigenschaften« auf ästhetische Prädikate zurückgreift. Denn für eine ganze Reihe der vorgenannten Prädikate fällt uns die Bildung eines Substantivs, das die in Rede stehende Eigenschaft als solche treffend zu bezeichnen vermöchte, schwer: Vielleicht kann man das Hervorrufen von Rührung als eine dispositionelle Eigenschaft auffassen, die wir einem Gegenstand ästhetischer Erfahrung zusprechen, wenn wir ihn als rührend charakterisieren. 5 Lässt sich aber das Urteil, Caspar David Friedrich sei mit dem Mönch am Meer ein bahnbrechendes Werk gelungen, tatsächlich als die Zuschreibung der Eigenschaft der Bahnbrechendheit an Friedrichs Gemälde verstehen – gar als ein ›Sehen‹ dieser Eigenschaft? Ich hege diesbezüglich nicht nur sprachästhetische Bedenken. Denn mir scheint die Schwierigkeit, die es uns vielfach bereitet, ästhetische Prädikate angemessen und ohne Inkaufnahme allzu großer sprachlicher Holprigkeit in Eigenschaftsnominalisierungen zu transformieren, ein Indiz dafür zu sein, dass unsere Alltagssprache gerade nicht die Annahme nahelegt, dass der Gebrauch solcher Prädikate Ausdruck einer Zuschreibung von Eigenschaften ist. Vielleicht handelt es sich dabei nur um ein schwaches Indiz. Aber ich sehe nicht einmal einen vergleichbar schwachen Anhaltspunkt für die gegenteilige Auffassung, dass gerade der ästhetische Realismus es uns erlaube, alltagssprachliche »ästhetische Werturteile wörtlich zu nehmen […] als das […], was sie zu sein scheinen, nämlich Urteile, mit denen einem Gegenstand eine ästhetische Werteigenschaft zugesprochen wird« 6. Denn es wäre ein von der Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten gleicher oder gleich gearteter sprachlicher Zeichen und grammatikalisch ähnlicher oder sogar gleicher Strukturen geradezu fahrlässig absehender Trugschluss, wollte man allein von der bloßen Form des sprachlichen Ausdrucks »x ist a« darauf schließen, dass durch ein solches Urteil eine Eigenschaft zugesprochen werde. Dann nämlich müsste man auch aus der bloßen Form eines Urteils wie »Anna ist lieb« schließen können, dass 5

6

Allerdings scheint sich eine solche dispositionelle Eigenschaft selbst mittels einer kontrafaktischen Implikation nicht wirklich befriedigend definieren zu lassen. Denn einer solchen Definition zufolge wäre x rührend genau dann, wenn gilt: Wenn x von einem entsprechend disponierten Subjekt S wahrgenommen wird, ruft x bei S Rührung hervor. Diese Definition zeigt indes an, dass auch die Interpretation von »rührend« als Eigenschaftsbezeichnung die gleichsam von Haus aus bestehende Subjektabhängigkeit dessen, was mit Hilfe des prädikativen Gebrauchs des wertenden Adjektivs »rührend« zum Ausdruck gebracht werden kann, nicht zu tilgen vermag. Meines Erachtens spricht auch diese Beobachtung eher für eine subjektivistische als für eine realistische Interpretation des Gebrauchs adjektivischer Wertausdrücke. Reicher, Ästhetik, S. 80.

Warum ich kein ästhetischer Realist bin

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hier Anna eine Eigenschaft (wir müssten sie wohl Liebheit nennen) zugesprochen wird, während doch ein solcher Satz, wenn er in einem alltagssprachlichen Kontext geäußert wird, im Regelfall das Werturteil des Sprechers zum Ausdruck bringen dürfte, dass Anna lieb sei. Werturteile und Eigenschaftszuschreibungen sind aber nicht dasselbe. Sie unterscheiden sich insbesondere dadurch, dass wir demjenigen, der eine unseres Erachtens zutreffende Eigenschaftszuschreibung in Zweifel zieht, einen Irrtum oder unzureichende Sprachkompetenz unterstellen und ihm, wenn es uns darauf ankommt, ihn zu überzeugen, ggf. unter Aufbietung von (in der Regel konventionellen) Beweismitteln oder (weithin anerkannten) Experten die Richtigkeit unserer Auffassung zu demonstrieren suchen, während wir jemandem, der unser Werturteil in Zweifel zieht, dann, wenn unsere Überzeugungsversuche nichts fruchten, das Recht auf eine abweichende Meinung zubilligen – ein Umstand, der mir eine subjektivistische oder intersubjektivistische Interpretation ästhetischer Wertungen nahezulegen scheint.

II An dieser Stelle kommt der zweite Grund, der mich davon abhält, mich zum ästhetischen Realismus zu bekennen, ins Spiel. Die Skepsis gegenüber einem subjektivistischen – oder intersubjektivistischen – Verständnis des prädikativen Gebrauchs wertender Adjektive im Kontext ästhetischer Evaluationen scheint mir nicht ausreichend begründet zu sein. Eine nichtrealistische (und nichtobjektivistische) Deutung des Gebrauchs wertender Adjektive im Kontext ästhetischer Evaluationen ist nämlich nicht notwendigerweise auf Annahmen festgelegt, die ihr nach Meinung ästhetischer Realisten zugrunde liegen. Maria Reicher motiviert ihre Skepsis gegenüber einem subjektivistischen Verständnis des prädikativen Gebrauchs wertender Adjektive wie folgt: »Für das Urteil ›Dieser Film ist amüsant‹ bietet sich die subjektivistische Interpretation ›Dieser Film hat mich amüsiert‹ an. Aber wie sollen wir ›Diese Kirche ist kitschig‹ oder ›Dieser Dialog ist pointenreich‹ subjektivistisch interpretieren?« 7 Hier ist, wie mir scheint, zunächst die Gegenfrage zu stellen: Wie sollte sich ein Urteil wie ›Diese Kirche ist kitschig‹ überhaupt nichtsubjektivistisch auffassen lassen? Ich kann mir kein Kirchengebäude vorstellen, in Bezug auf dessen Anmutungsqualität das Urteil ›Diese Kirche ist kitschig‹ unwidersprochen bleiben würde. Immerhin haben beispielsweise die Reaktionen auf Gerhard Richters Kölner Dom-Fenster und auf Martin Kippenbergers gekreuzigten Frosch im Bozener Museion erst jüngst wieder überdeutlich gezeigt, wie tiefgreifend Wertungsdifferenzen bereits innerhalb einer westlichen Gesellschaft und selbst angesichts von Werken etablier7

Ebd., S. 71.

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Reinold Schmücker

ter Künstler ausfallen können, ohne dass sich das Urteil irgendeiner Seite als ein nichtästhetisches oder irriges Urteil ausweisen ließe. Aufschlussreich ist auch der Satz: ›Dieser Dialog ist pointenreich.‹ Insofern ›pointenreich‹ in diesem Satz ein ästhetisches, d. h. ein spezifisches Wahrnehmen artikulierendes Prädikat ist, nimmt es in meinen Augen auf die subjektive Beurteilung des in Rede stehenden Dialogs als pointenreich Bezug. Insofern Pointenreichtum hingegen etwas sozusagen diesseits von Werturteilen deskriptiv Erhebbares ist, kann es sich jedenfalls nicht um eine Werttatsache handeln. Der Satz ›Dieser Dialog ist pointenreich‹ könnte dann zwar wahrheitswertfähig sein, er brächte aber keine Wertung zum Ausdruck. Meines Erachtens verdankt sich das negative Urteil über den Subjektivismus oftmals einem Missverständnis. Dem Subjektivismus wird unterstellt, er verstehe ein Urteil wie ›Dieser Film ist amüsant‹ im Sinne von ›Dieser Film hat mich amüsiert‹. Der Subjektivist wird aber in aller Regel eine andere Auffassung vertreten; denn er wird ein Urteil wie ›Dieser Film ist amüsant‹ im Sinne von ›Dieser Film erscheint mir [oder: vielen]/ist in meinen Augen [oder: in den Augen vieler]/ ist meines Erachtens [oder: nach der Einschätzung vieler] amüsant‹ verstehen. Dies ist aber etwas anderes als die dem Subjektivisten zugeschriebene Deutung im Sinne von ›Dieser Film hat mich amüsiert‹. Sobald der Unterschied zwischen beiden Auffassungen des Urteils ›Dieser Film ist amüsant‹ beachtet wird, wird der als angeblich »springende[r] Punkt« geltend gemachte Einwand gegenstandslos: Einer hinreichend geschulten Person ist es möglich zu erkennen, dass ein Dialog oder ein Film amüsant ist, auch wenn sie sich selbst dabei nicht amüsiert. Das ist ein Einwand gegen den ästhetischen Subjektivismus. Wenn es möglich ist, dass ein und dasselbe Subjekt etwas als amüsant anerkennt, ohne jedoch selber amüsiert zu sein, dann kann ein Urteil der Art ›x ist amüsant‹ nicht mit ›x amüsiert mich‹ gleichbedeutend sein. 8

Letzteres ist zweifelsohne richtig, aber ebenjene Synonymie wird vom subjektivistischen Arealisten auch nicht – jedenfalls nicht notwendigerweise – behauptet. Erst die gegenteilige Unterstellung lässt den arealistischen Subjektivismus als jenen so schwachen Gegner erscheinen, als der er uns mitunter präsentiert wird. In ähnlicher Weise kann der subjektivistische Arealist meines Erachtens auch den nächsten Stich der Realistin parieren: »Es rettet den Subjektivismus auch nicht, die Paraphrasierung ›x amüsiert mich‹ durch ›x amüsiert jemanden‹ zu ersetzen. Denn es ist denkbar, dass ein Film im Augenblick niemanden amüsiert (vielleicht noch nie jemanden amüsiert hat) und dennoch amüsant ist.«9 Natürlich ist es denkbar, dass ein Film zwar noch nie jemanden amüsiert hat, aber nach irgend jemandes Urteil das Potential besitzt, jemanden zu amüsieren. Das ist allerdings ein Umstand, den der Subjektivist, der einen sprachlichen Ausdruck der Form »x ist a« als Artikulation eines subjektiven oder intersubjektiven Werturteils auffassen kann, 8 9

Ebd. Ebd.

Warum ich kein ästhetischer Realist bin

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viel besser begreiflich zu machen vermag als ein ästhetischer Realist. Denn der ästhetische Realist muss annehmen, dass es einen Film geben kann, der amüsant ist, ohne dass dies jemals jemandem aufgefallen wäre. Ontologisch und logisch mag eine solche Annahme zwar unproblematisch sein. Mir leuchtet aber nicht ein, dass sie geeignet sein soll, zur Erhellung der Bedeutung dessen beizutragen, was wir meinen, wenn wir von einem Gegenstand ästhetischer Erfahrung sagen, er sei amüsant. Im Übrigen scheint es mir in der Logik der realistischen Interpretation des Beispiels zu liegen, dass der ästhetische Realist auch mit der Möglichkeit rechnen muss, dass ein Film niemals jemanden amüsiert und dennoch amüsant ist. Dies aber – dass ein Film amüsant ist, aber niemals jemanden amüsiert – lässt sich meines Erachtens nur dann annehmen, wenn man von vornherein im Sinne des ästhetischen Realismus voraussetzt, dass es eine Werteigenschaft ›amüsant‹ gibt – und dass das Prädikat ›amüsant‹ nicht etwa nur dazu dient, dem Umstand Ausdruck zu verleihen, dass ein Film einzelnen oder mehreren Subjekten als amüsant erscheint, d. h. in ihren Augen grundsätzlich geeignet ist, jemanden zu amüsieren. Der subjektivistische Arealist hingegen kann ohne weiteres annehmen, dass es Filme gibt, die noch nie jemanden amüsiert haben und dennoch in dem Sinne amüsant sind, in dem er als Arealist diese Auskunft versteht: in dem Sinne nämlich, dass sie jemanden amüsieren könnten.

III Auch der dritte Grund meiner Skepsis bezieht sich auf ein Argument, das von Realisten für die Überlegenheit des ästhetischen Realismus gegenüber einem subjektivistischen Arealismus angeführt wird: Der Einwand, ästhetische Urteile könnten, wenn der Subjektivismus Recht hätte, keinen Streit auslösen, ist meines Erachtens nicht stichhaltig. Denn er beruht, wie mir scheint, auf einem verkürzten Verständnis dessen, was Anlass und Auslöser einer Diskussion oder eines Streits sein kann. Maria Reicher resümiert diesen Einwand wie folgt: Es ist eine Tatsache, dass es über ästhetische Urteile Diskussionen gibt. Wenn es Diskussionen gibt, muss es auch Meinungsverschiedenheiten geben. Worüber sollte man sonst diskutieren? Aber im Lichte der subjektivistischen Position sind echte ästhetische Meinungsverschiedenheiten unmöglich. Wenn ›Dieses Bild ist schön‹ gleichbedeutend wäre mit ›Dieses Bild gefällt mir‹, dann könnte es in Bezug auf diese Frage keine Meinungsverschiedenheiten geben. Denn die beiden Sätze ›Der Person A gefällt der Gegenstand x‹ und ›Der Person B gefällt der Gegenstand x nicht‹ widersprechen sich ja nicht. 10

10

Ebd., S. 71f.

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Reinold Schmücker

Nehmen wir aber einmal an, zwei Arbeitskollegen unterhielten sich über eine dritte, gerade abwesende Kollegin. Der eine sagt: »Ich finde Anna zickig.« Der andere äußert den Satz (und interessanterweise würde jedenfalls ein literarischer Schriftsteller an dieser Stelle wohl auch sagen können: ›Der andere widerspricht‹): »Ich finde Anna ziemlich souverän.« Dem antisubjektivistischen Einwand zufolge dürfte zwischen beiden gar kein Streit entbrennen. Denn wir hätten es mit zwei Geschmacksurteilen zu tun, die sich dahingehend resümieren ließen, dass Anna Person A nicht gefällt, während sie Person B gefällt. Tatsächlich sind es aber in der alltagssprachlichen Wirklichkeit sehr oft gerade solche Meinungsverschiedenheiten, die sich nicht als logische Widersprüche rekonstruieren lassen, die zu heftigen Auseinandersetzungen führen. Ich vermute, dass dieser Umstand etwas mit der sozialen Funktion von Werturteilsäußerungen zu tun hat. Durch Äußerungen wie diejenigen über Anna in meinem Beispiel teilen wir uns ja zum Beispiel immer auch etwas darüber mit, wen wir sympathisch finden und wen nicht, mit wem wir uns im Zweifelsfall solidarisch verhalten würden und mit wem nicht usw. Sie geben insofern immer schon Auskunft über interpersonale Verhältnisse. Eine solche Auskunft kann deshalb auch dann, wenn sie zu einer anderen in keinem logischen Widerspruch steht, rhetorischen ›Widerspruch‹ (wenn diese Redeweise hier einmal erlaubt ist) auslösen: ›Widerspruch‹, der beispielsweise darauf abzielt, die zwischen Dritten bestehenden interpersonalen Verhältnisse zu jemandes Gunsten oder Ungunsten zu verändern. Als Einwand gegen einen subjektivistischen Arealismus in aestheticis taugt die logische Vereinbarkeit solcher Äußerungen deshalb in meinen Augen nicht.

IV Ein vierter Grund meiner Skepsis hängt mit einem epistemischen Problem zusammen: Es ist unklar, wie objektive, von einem subjektiven Fürwahrhalten unabhängige Werttatsachen erkannt werden können, an denen sich unser Urteil über die Qualität oder den Wert von Gegenständen ästhetischer Erfahrung orientiert, orientieren kann oder orientieren sollte. Das epistemische Problem der Erkennbarkeit bzw. Unerkennbarkeit ästhetischer Werttatsachen stellt natürlich kein zwingendes Argument für die Falschheit des ästhetischen Realismus dar. Es ist logisch möglich und durchaus denkbar, dass es solche Werttatsachen gibt, ohne dass wir sie erkennen können. Dennoch ist es von besonderem Interesse, von Realisten zu erfahren, wie denn die vorgeblichen Wertqualitäten erkannt werden können. Denn zumindest die Forderung, dass sich unser Urteil über die Qualität von Gegenständen ästhetischer Erfahrung an bestimmten Werttatsachen orientieren sollte, liefe ins Leere, wenn sich diese von uns nicht erkennen ließen. Deshalb darf und sollte man meines Erachtens von einem ästhetischen Realisten eine überzeugende Antwort auf die Frage nach

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der Erkennbarkeit ästhetischer Werttatsachen erwarten. Indessen kommt Maria Reicher zu dem (nachvollziehbaren) Schluss, dass »weder Sinneswahrnehmung allein noch Intellekt allein noch Sinneswahrnehmung und Intellekt zusammen das Erkennen ästhetischer Wertqualitäten ermöglichen«. 11 Für das epistemische Problem der Erkennbarkeit bzw. Unerkennbarkeit ästhetischer Werttatsachen schlägt sie folgende Lösung vor: Wir erkennen ästhetische Wertqualitäten durch unsere Emotionen, genauer: durch unsere Gefühle. Das Mittel zur ästhetischen Werterkenntnis ist unsere Fähigkeit, ästhetische Gefühle zu erleben. Wenn wir zum Beispiel erkennen, dass etwas schön ist, dann haben wir so etwas wie ein ›Schönheitsgefühl‹. Dieses Gefühl sagt uns, dass der Gegenstand unserer Wahrnehmung schön ist. 12

Meines Erachtens lässt ein solcher Rekurs auf das Gefühl – oder auf einen analog konzipierten Schönheitssinn – zwei Probleme ungelöst, die man das Universalitätsproblem und das Definitionsproblem nennen kann. Das Universalitätsproblem ergibt sich daraus, dass der Begriff der Werttatsache – vorsichtig formuliert – einen gewissen Universalitätsanspruch hinsichtlich des materialen Gehalts einer ästhetischen Wertung zum Ausdruck zu bringen scheint, von dem – zumal angesichts der oben bereits erwähnten empirischen Evidenz tiefgreifender Wertungsdifferenzen – unklar ist, wie er durch den Rekurs auf das Gefühl eingelöst werden kann. Das Definitionsproblem hingegen artikuliert sich in der Frage, wie der Zusammenhang zwischen Schönheitsgefühl und dem Begriff des Schönen zu denken ist, wenn denn Schönheit allein qua Gefühl erkannt und also offenbar nicht durch ein bestimmtes Bündel von Merkmalen charakterisiert oder definiert werden kann. Mir sind bisher keine Lösungsvorschläge für diese beiden Probleme bekannt, die mich überzeugt hätten.

V Ein fünfter Grund meiner Skepsis ergibt sich aus meiner skeptischen Einschätzung der Leistungsfähigkeit des sogenannten Wahrmacherarguments. Darunter versteht man im Allgemeinen das folgende Argument, das aus der (unterstellten) Existenz wahrer ästhetischer Urteile die Existenz von Eigenschaften abzuleiten sucht, die in ästhetischen Werturteilen als ›Wahrmacher‹ fungieren: »1. Es gibt genuine ästhetische Werturteile, die wahr sind. 2. Genuine ästhetische Werturteile können nur wahr sein, wenn es ästhetische Werteigenschaften gibt. 3. Also gibt es ästhetische Werteigenschaften.« 13 Dieses ›Wahrmacherargument‹ ist nach meinem 11 12 13

Ebd., S. 75. Ebd. Ebd., S. 64.

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Dafürhalten kein tragfähiges Fundament für den ästhetischen Realismus, weil es auf einem Verständnis des semantischen Gehalts von Wertbegriffen beruht, das deren Eigenart verkennt. Meines Erachtens ist es für Wertbegriffe charakteristisch, dass sich ihr semantischer Gehalt weder intensional-kriterial angeben noch auf eine paradigmatische Referenz zurückbeziehen lässt. Wertbegriffe besitzen nicht die gleiche semantische Struktur wie ein Begriff, dessen Intension in Form von Eigenschaftsmerkmalen angebbar ist. Die Differenz wird sichtbar, sobald wir darüber im Zweifel sind, ob von einem Gegenstand unserer Wahrnehmung prädiziert werden kann, er sei Wasser bzw. er sei schön. Dann zeigt sich nämlich, dass der Geltungsanspruch, den wir mit der Behauptung ›x ist Wasser‹ verbinden, eine intersubjektive Verbindlichkeit des Behaupteten impliziert, die dem Geltungsanspruch, den wir mit der Aussage ›x ist schön‹ erheben, fremd ist. Wer den mit ›x ist Wasser‹ erhobenen Geltungsanspruch bestreitet, den werde ich, sofern ich von der Wahrheit meiner Behauptung überzeugt bin, für unwissend halten. Wer aber den mit ›x ist schön‹ erhobenen Geltungsanspruch bestreitet, dem werde ich auch dann, wenn ich der Auffassung bin, dass x schön ist, das Recht auf eine abweichende Meinung zubilligen. Denken wir uns den Fall, dass mich jemand bittet, ihm ein Glas Wasser zu trinken zu geben. Während er das Glas entgegennimmt, empört er sich, die eingegossene Flüssigkeit sei ja gar kein Wasser, sondern Milch. Wenn ich seinen Zweifel für unberechtigt halte, werde ich ihm entgegnen, natürlich sei das Eingegossene Wasser; er möge doch davon probieren und sich selbst überzeugen. Da wir beide, sofern wir sprachkompetent sind und im Horizont derselben Sprachgemeinschaft kommunizieren, spontan wissen, wie Wasser schmeckt, riecht, aussieht und auf Temperaturveränderung reagiert, wird sich unser Dissens in aller Regel durch Probieren ausräumen lassen. Sollte sich aber mein Gegenüber weigern, die Wasserhaftigkeit des Eingegossenen anzuerkennen, obwohl ich mich selbst davon überzeugt habe, dass es schmeckt, riecht, aussieht und auf Temperaturveränderung reagiert wie Wasser, werde ich mich schwerlich des Eindrucks erwehren können, er wolle mich entweder zum Narren halten oder wisse nicht, was Wasser ist. Nun lassen sich Fälle denken, in denen Probieren nicht genügt, um den Zweifel auszuräumen, ob etwas (im Sinne kompetenter und eigentlicher Begriffsverwendung) als Wasser bezeichnet werden kann. Mein Gegenüber könnte sich zum Beispiel als einer jener Pedanten entpuppen, die allein chemisch reines Wasser für Wasser halten. Meine Behauptung, das Eingegossene sei Wasser, könnte er nämlich mit dem Argument bestreiten, es handele sich dabei nicht um chemisch reines Wasser. In diesem (und in jedem vergleichbaren) Fall griffe die von Putnam beobachtete sprachliche Arbeitsteilung. 14 Denn wo fraglich ist, ob es sich

14

Vgl. Putnam, Meaning, S. 145f.

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bei einer Flüssigkeit im strengen Sinne unserer sprachlichen Konventionen um Wasser handelt, verlassen wir uns auf das Urteil von Experten, die Flüssigkeiten chemisch analysieren und so ihre Wasserhaftigkeit beurteilen können. Ermöglicht wird diese sprachliche Arbeitsteilung durch die besondere Art, in der sich das lebensweltliche Hintergrundwissen auf einen Klassifikationsbegriff wie ›Wasser‹ bezieht: Mag auch im Einzelfall strittig sein, ob etwas unter den Begriff ›Wasser‹ subsumiert werden kann oder nicht, herrscht doch Einigkeit, welche Kriterien darüber entscheiden. Wasser hat, mit anderen Worten, Eigenschaften, die die Intension des Begriffs ›Wasser‹ bestimmen. Und sofern diese nicht jedem Mitglied einer Sprachgemeinschaft bekannt sind, sind sie zumindest einer Teilklasse von Sprechern vertraut, die zugleich von geeigneten Analyseverfahren Kenntnis haben. Anders verhält es sich mit Urteilen des Typs ›x ist schön‹. Angenommen, ich beschwöre die Schönheit des Greifswalder Doms: »Ein phänomenales Werk der Backsteingotik, wirklich erhaben und schön!«, und ernte von einer Gruppe süddeutscher Kollegen, denen dem Greifswalder Dom die in ihren Augen für die Schönheit eines repräsentativen Kirchenbaus konstitutive Ähnlichkeit mit dem Petersdom fehlt, nur ein lapidares »Tatsächlich?«. In dieser Situation reicht es nicht aus, an das sinnliche Wahrnehmungsvermögen meiner süddeutschen Kollegen zu appellieren. Vielmehr muss ich, wenn mir daran liegt, sie von der Schönheit des 700 Jahre alten vorpommerschen Gotteshauses zu überzeugen, ihnen erklären, warum es in meinen Augen von beeindruckender Schönheit ist. Gelingt mir das jedoch nicht – weil sie meine Gründe nicht akzeptieren oder mit Gegengründen kontern –, werde ich ihnen nicht unterstellen, Sie wüssten nicht, was das Wort ›schön‹ bedeutet, sondern mich – nolens volens – damit abfinden, dass sie St. Nikolai in Greifswald unter der Bewertungshinsicht Schönheit anders bewerten als ich. Mag es im Einzelfall auch schmerzhaft oder unbefriedigend sein, einen solchen Dissens akzeptieren zu müssen – vermeiden lässt es sich nicht. Semantisch sind Wertbegriffe in meinen Augen nämlich durch begriffsspezifische Bewertungshinsichten definiert: Ein Nachteil ist ein Aspekt einer Sache oder Handlung oder eines Sachverhalts, der vom Urteilenden als ungünstig bewertet wird. Denn die Bedeutung des Wortes ›Nachteil‹ ist durch die Bewertungshinsicht Ungünstigkeit bestimmt. Entsprechend ist die Bedeutung des Prädikats ›originell‹ durch die Bewertungshinsicht Originalität, die des Prädikats ›ausgewogen‹ durch die Bewertungshinsicht Ausgewogenheit bestimmt. Wertbegriffe artikulieren dabei (anders als die ihnen verwandten Beurteilungsbegriffe) 15 eine Bewertung, die ich mir als Sprecher notwendigerweise zu eigen mache, wenn ich einen Wertbegriff in direkter Rede prädikatorisch verwende: Ich kann nicht etwas als gut bezeichnen, ohne ihm – und sei es unaufrichtigerweise – auch subjektiv den

15

Dazu Schmücker, Was ist Kunst?, S. 143ff.

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Status von Gutem zuzuerkennen. Ich kann also nicht, ohne mich der Gefahr der Unterstellung mangelnder Sprachkompetenz auszusetzen, sagen: »Greifswald ist eine schnuckelige Stadt, aber ich finde sie nicht schnuckelig.« (Bei einem Beurteilungsbegriff wie ›Kunst‹ hingegen ist es mir jederzeit möglich, etwa ein ready made im Einklang mit dem intersubjektiven Kunstverständnis als Kunstwerk zu bezeichnen und im selben Atemzug – etwa durch Beifügung eines geeigneten Attributs – Zweifel an der Richtigkeit des konsensuellen Urteils anzumelden.) Insofern sind Wertbegriffe immanent urteilsbezogen: Anders als Klassifikationsbegriffe, die primär auf Erfüllungsbedingungen verweisen, verweisen sie primär auf die urteilende Subjektivität. Das ›Wahrmacherargument‹ verdankt seine vordergründige Plausibilität dem Umstand, dass es diese eminente Differenz des semantischen Gehalts von Wertbegriffen und Klassifikationsbegriffen ignoriert. Der Unterscheidung zwischen Klassifikation und Bewertung steht im Übrigen nicht entgegen, dass auch der klassifikatorische Begriffsgebrauch ein evaluatives Moment enthält, genauso wie umgekehrt der evaluative Begriffsgebrauch eine bestimmte Wahrnehmung von Gegebenem impliziert. Dessen ungeachtet bringen nämlich jene Begriffe, die ich ebendeshalb Klassifikationsbegriffe nenne, in erster Linie eine spontane Klassifizierung zum Ausdruck, während jene, für die ich den Terminus ›Wertbegriff‹ reserviere, primär eine subjektive Wertung artikulieren und solche eines dritten Typs – die Beurteilungsbegriffe – von sich aus für beide Möglichkeiten gleichermaßen offen sind, so dass der Kontext ihres jeweiligen Gebrauchs darüber entscheidet, ob sie einen klassifikatorischen oder einen evaluativen Akzent tragen. Der Unterschied zeigt sich daran, dass der prädikatorischen Anwendung von Klassifikationsbegriffen durch intersubjektive Konventionen verhältnismäßig enge Grenzen gesteckt sind, ohne deren Beachtung wir Gefahr laufen, dass man uns sprachliche Inkompetenz unterstellt. Demgegenüber liegen der prädikatorischen Applikation von Wertbegriffen Entscheidungen zugrunde, etwas als etwas zu bewerten, die grundsätzlich auch anders hätten ausfallen können, ohne dass sie deshalb einem sprachkompetenten Gesprächspartner Grund gegeben hätten, auf sprachliche Inkompetenz zu schließen.

VI Wenn meiner Bekehrung zum ästhetischen Realismus noch ein sechster Grund entgegensteht, so ist dies der Umstand, dass sich unsere Werturteile über Gegenstände unserer ästhetischen Erfahrung nach meinem Dafürhalten in einer Weise verstehen lassen, die ohne realistische Prämissen auskommt: Im Mittelpunkt steht dabei zum einen die Vorstellung, dass wir im Vollzug ästhetischer Erfahrung potentielle Funktionen der Gegenstände dieser Erfahrung, denen wir jeweils einen bestimmten Wert zumessen, sowohl erfassen als auch aktualisieren. Unser Werturteil über den fraglichen Gegenstand wird dabei maßgeblich durch unsere Einschätzung seiner

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Funktionalität in Bezug auf diejenigen potentiellen Funktionen von Gegenständen ästhetischer Erfahrung bestimmt, die uns besonders wichtig erscheinen. Zum anderen lässt sich zeigen, dass der Schein der Objektivität unserer Werturteile über Gegenstände unserer ästhetischen Erfahrung (und der solchen Werturteilen eigentümliche Anspruch auf Objektivität) daher rührt, dass sich Werturteile über Gegenstände ästhetischer Erfahrung immer schon auf normative Standards beziehen, deren Geltung ein breiter, mitunter sogar über (Sub-)Kulturen und einzelne Sprachgemeinschaften hinausreichender intersubjektiver Konsens verbürgt. Gegenstände ästhetischer Erfahrung lassen sich nicht nur unter einer einzigen Hinsicht bewerten, etwa derjenigen der Schönheit. Wir können Wahrnehmungsdinge vielmehr im Vollzug ästhetischer Erfahrung unter einer Vielzahl von Hinsichten evaluieren. Wenn wir an Kunstwerke als paradigmatische Gegenstände ästhetischer Erfahrung denken, dann können wir festhalten, dass ein Kunstwerk zum Beispiel innovativ sein kann oder epigonal, überladen oder monoton, fragmentarisch oder in sich geschlossen. Über solche Aspekturteile hinaus, die das Werk jeweils unter einem speziellen Aspekt bewerten, können wir jedoch auch ein kunstkritisches Gesamturteil fällen. Denn ein Kunstwerk lässt sich auch als ein Ganzes unter dem allgemeinen Gesichtspunkt bewerten, ob es ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit und Wertschätzung verdient, dessen uns nicht alle Kunstwerke wert erscheinen. Dass wir einem Kunstwerk dieses besondere Maß an Aufmerksamkeit und Wertschätzung zubilligen, können wir dadurch zum Ausdruck bringen, dass wir von dem betreffenden Werk sagen, es sei gelungen. Auch durch andere sehr allgemeine Wertprädikate wie ›gut‹ oder ›schön‹ können wir der Zubilligung eines besonderen Maßes an Aufmerksamkeit und Wertschätzung Ausdruck verleihen, wenngleich die unterschiedlichen Wertprädikate jeweils auf andere Begründungen dafür verweisen. (Da der Bedeutungsunterschied solch allgemeiner Wertprädikate für meine Überlegungen keine Rolle spielt, dient mir das Prädikat ›gelungen‹ im Folgenden zugleich als Stellvertreter für andere vergleichbar allgemeine Wertprädikate.) Sowohl unter speziellen Aspekten als auch im Hinblick auf ihre Qualität als Ganze lassen sich Kunstwerke wiederum nicht nur je für sich, sondern auch vergleichend bewerten. Wenn sich ein vergleichendes Urteil auf einen speziellen Gesichtspunkt bezieht – zum Beispiel auf die Überzeugungskraft von Farbgebung und Linienführung eines Gemäldes oder auf die Prägnanz der Metaphorik eines Gedichts –, dient es oft der genaueren Wahrnehmung und Würdigung der Eigenart der betreffenden Werke oder einem speziellen kunsthistorischen oder kunstwissenschaftlichen Interesse. Ein vergleichendes Aspekturteil kann aber auch die Funktion haben, ein relationierendes Urteil über den Rang der verglichenen Werke zu begründen. Dass sich in Günter Grass’ spätem Roman Ein weites Feld nicht jene barocke Fabulierkunst manifestiert, der Die Blechtrommel ihren Reiz verdankt, könnte ich beispielsweise zur Begründung meiner Überzeugung anführen, dass Ein weites Feld weniger gelungen ist als Die Blechtrommel. Das relationie-

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rende Urteil, dass Die Blechtrommel das gelungenere Werk ist, ist aber selbst kein Aspekt-, sondern ein Gesamturteil. Durch solche relationierenden Gesamturteile geben wir an, ob ein bestimmtes Werk ein größeres Maß an Aufmerksamkeit und Wertschätzung verdient als bestimmte andere Werke. Wir suchen also den Rang zu bestimmen, der einem Werk in einer gedachten Hierarchie ausgewählter (womöglich sogar sämtlicher) Kunstwerke zukommt. Meines Erachtens lassen sich jedoch keine empirischen Eigenschaften angeben, aus denen sich ableiten ließe, dass ein Kunstwerk gelungen (oder misslungen) ist. Die sprachanalytische Debatte über das ästhetische Urteil scheint mir das hinreichend deutlich gezeigt zu haben: Der Versuch, Werturteile auf Beschreibungen empirischer Sachverhalte zu reduzieren, muss daran scheitern, dass jedes Wertprädikat ein »Moment positiver oder negativer Empfehlung« 16 enthält, das der Beschreibung empirischer Sachverhalte fehlt. Wenn wir unser Urteil über den Wert eines bestimmten Kunstwerks begründen, nehmen wir zwar in aller Regel auf empirische Eigenschaften des betreffenden Werkes Bezug. Wir weisen zum Beispiel auf Größenverhältnisse, Farbabweichungen, Anaphern, Reime, grammatische Eigenwilligkeiten usw. hin. Aber aus diesen Eigenschaften folgt kein bestimmter Wert des betreffenden Werks. 17 Jemand kann unserer Beschreibung solcher Eigenschaften des Werks vollständig zustimmen und über dessen Wert dennoch anderer Meinung sein. Denn der Hinweis auf empirische Eigenschaften eines Werks nimmt erst vor dem Hintergrund geteilter Überzeugungen über die Relevanz solcher Eigenschaften oder Eigenschaftskonstellationen den Charakter eines Arguments an, das einen anderen womöglich von der Richtigkeit unseres Werturteils zu überzeugen vermag. 18 Dass wir unsere Werturteile über Kunstwerke überhaupt anderen ›anzusinnen‹ und deshalb zu begründen suchen und dass wir dies in einer Weise tun, die mit gemeinsamen Überzeugungen über die Relevanz von Artefakteigenschaften rechnet, sollte den Subjektivisten allerdings zu einem Zugeständnis bewegen: Auch wenn es keine objektiven Kriterien gibt, anhand deren sich der Wert eines Kunstwerks definitiv feststellen ließe, dürfte es mehr oder weniger weit reichende intersubjektive Konsense geben, auf die wir Bezug nehmen und die wir zugleich entweder aufkündigen oder tradieren, wenn wir über den Wert eines Kunstwerks befinden. Worauf aber beziehen sich solche Konsense? Und worauf bezieht sich das Urteil, das wir als individuelle Rezipienten über den Wert eines Kunstwerks (oder auch eines nichtkünstlerischen Gegenstands ästhetischer Erfahrung) fällen? 16 17 18

Piecha, Begründbarkeit, S. 190. Das zeigt sehr klar Kleimann in Weltverhältnis, S. 293–296. Von einer »logische[n] Folgerung« des kunstkritischen Werturteils aus empirischen Eigenschaften des betreffenden Werks kann deshalb allenfalls vor dem Hintergrund »geschmackssoziologische[r] Hypothese[n]« die Rede sein, die als Einstufungskriterien fungieren (vgl. Strube, Sprachanalytische Ästhetik, S. 147 und S. 143).

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Meines Erachtens erlangt der Hinweis auf empirische Eigenschaften eines Kunstwerks (oder eben eines anderen Gegenstands ästhetischer Erfahrung, auf den das hier am Beispiel von Kunstwerken Erläuterte in meinen Augen ohne Weiteres übertragbar ist) erst im Hinblick auf Funktionen, die das betreffende Objekt aufgrund seiner Eigenschaften zu erfüllen vermag, werturteilsbegründende Kraft. Die Eigenschaften und Eigenschaftskonstellationen, die wir an einem Gegenstand der ästhetischen Erfahrung ausmachen können, besitzen nämlich nicht schon als solche, als bloße Eigenschaften, irgendeinen Wert, sondern gewinnen allererst im Hinblick auf Funktionen, die zu erfüllen sie das betreffende Objekt in die Lage versetzen, Bedeutung und Relevanz. In unser Urteil über den Wert des ästhetisch erfahrenen Objekts geht deshalb unser Urteil darüber, welche dieser Funktionen (wie) wichtig ist, stets mit ein. Mein Werturteil über ein solches Objekt wird deshalb immer auch diejenige Hierarchisierung der Funktionen, die es nach meinem Dafürhalten gegebenenfalls zu erfüllen vermag, widerspiegeln, die mir vor dem Hintergrund meines Welt- und Selbstverständnisses angemessen erscheint. 19 Tiefreligiöse Menschen werden wahrscheinlich die religiöse Funktion etwa von Kunstwerken sehr hoch gewichten; Kunsthistoriker vermutlich bestimmte kunstimmanente Funktionen. Deshalb kann, was die eine Betrachterin als misslungen oder als hässlich erachtet, einer anderen als beispielhaft gelten. Und so, wie sich unser Welt- und Selbstverständnis im Laufe unseres Lebens ändern kann, kann sich – jedenfalls bei solchen Wahrnehmungsdingen, die wir immer wieder neu zum Gegenstand einer ästhetischen Erfahrung machen können – natürlich auch unser Urteil über den Wert eines bestimmten Objekts ändern. Nicht nur deshalb also, weil uns die Wahrnehmung neuer Details oder die neue Wahrnehmung von Details zur Revision unseres Urteils über ein Objekt veranlassen kann, sondern auch aufgrund der prinzipiellen Veränderlichkeit unserer Funktionenhierarchisierungen kann sich unser Urteil über die Qualität ein und desselben Objekts im Laufe des Lebens so grundlegend wandeln, dass mir ein Werk, das ich einst für bedeutend hielt, heute kein besonderes Maß an Aufmerksamkeit und Wertschätzung mehr zu verdienen scheint. Auch dass der einen Epoche oder Kultur als maßstabsetzend gilt, was einer anderen nicht als sonderlich gelungen erscheint, ist unter Umständen durch unterschiedliche Funktionenhierarchisierungen bedingt. Dass etwa die Skulptur der klassischen griechischen und römischen Antike, die im Mittelalter außerhalb Italiens keine der späteren Zeit vergleichbare Wertschätzung genoss, in der Renaissanceepoche zum Vorbild plastischer Kunst par excellence avancierte, dürfte sich nicht zuletzt dadurch erklären, dass der Kunst in jener Zeit in viel höherem Maß als im Mittelalter die Funktion eines Mediums menschlicher Selbstverständi19

Mir scheint es deshalb verfehlt, zwischen einem intrinsischen und einem instrumentellen Wert eines Kunstwerks zu unterscheiden. Denn die Wertschätzung, die wir einem Kunstwerk zuteilwerden lassen, ist von unserer Wertschätzung der Wirkungen, die es zeitigt oder zeitigen kann, nicht ablösbar.

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gung zukam – während sich die Malerei der Präraffaeliten heute sicherlich auch deshalb geringerer Wertschätzung erfreut als im neunzehnten Jahrhundert, weil die mimetischen und religiösen Funktionen der Kunst gegenwärtig weniger hoch im Kurs stehen als im Viktorianismus. Aus dem Umstand, dass wir die Gegenstände unserer ästhetischen Erfahrung stets vor dem Hintergrund unserer je eigenen Überzeugungen über den relativen Stellenwert unterschiedlicher Funktionen evaluieren, die sie nach unserem Dafürhalten zu übernehmen vermögen, folgt, dass der Bewertung der Gegenstände ästhetischer Erfahrung in gewisser Hinsicht ein demokratisches Moment innewohnt: Welches von zwei Kunstwerken zum Beispiel besser oder gelungener ist als das andere, lässt sich meines Erachtens in einem transsubjektiven Sinn tatsächlich nur im Hinblick auf Mehrheiten, d. h. im Hinblick auf mehr oder weniger weit reichende intersubjektive Konsense sagen, auf die wir Bezug nehmen und die wir zugleich entweder aufkündigen oder tradieren, wenn wir über den Wert eines Kunstwerks ein Urteil fällen. Weil solche Konsense nicht zuletzt die Frage betreffen, welcher Rang welchen potentiellen Funktionen der Gegenstände unserer ästhetischen Erfahrung zukommt, kann die Theorie der Bewertung der Gegenstände ästhetischer Erfahrung auch einen Hinweis darauf geben, worin die gesellschaftliche Bedeutung ästhetischer Erfahrung als solcher besteht: Sie gibt uns immer wieder Anlass zum Streit darüber, welcher Rang welchen Funktionen gebührt, die die Gegenstände ästhetischer Erfahrung (nach unserem Dafürhalten) auszuüben vermögen. Und dieser Streit betrifft – nicht nur, aber auch – die Frage, wie wir leben wollen und wie die Gesellschaft geordnet sein soll, in der wir leben. 20 Jede Gesellschaft, die unterschiedliche Lebensformen zulässt und deren Ordnung nicht in unhinterfragten Traditionen gründet, muss auf diese Frage immer wieder neu eine Antwort suchen. Dazu gibt ihr zwar nicht nur die ästhetische Erfahrung von Kunst und anderen Gegenständen Anlass. Der Disput über den Wert solcher Gegenstände bietet uns aber die Möglichkeit, die Auseinandersetzung über die richtige Lebens- und Gesellschaftsform indirekt zu führen: auf einem Terrain, auf dem sich normative Differenzen ohne unmittelbare Interaktionsfolgen austragen lassen und auf dem die Lösung ethischer und politischer Konflikte deshalb gleichsam experimentell erprobt werden kann. Die Herstellung eines Minimalkonsenses über die richtige Lebens- und Gesellschaftsform scheint mir im Übrigen umso dringlicher zu werden, je stärker der normative Konsens einer Gesellschaft erodiert. Der Streit um den Wert der Gegenstände ästhetischer Erfahrung ist deshalb gerade für pluralistische und in ihren normativen Überzeugungen heterogene Gesellschaften unverzichtbar – Grund, sich zum ästhetischen Realismus zu bekehren, gibt er (mir) hingegen nicht.

20

Ähnlich bereits Otto, Wertschätzung, S. 271f.

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Literaturverzeichnis Halbig, Christoph: Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frankfurt a.M. 2007. Kleimann, Bernd: Das ästhetische Weltverhältnis. Eine Untersuchung zu den grundlegenden Dimensionen des Ästhetischen, München 2002. Otto, Marcus: Ästhetische Wertschätzung. Bausteine zu einer Theorie des Ästhetischen, Berlin 1993. Piecha, Alexander: Die Begründbarkeit ästhetischer Werturteile, Paderborn 2002. Putnam, Hilary: »The Meaning of ›Meaning‹«. In: Language, Mind, and Knowledge, hg. von Keith Gunderson. Minneapolis 1975, S. 131–193. Reicher, Maria E.: Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 2005. Schmücker, Reinold: Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998. Strube, Werner: Sprachanalytische Ästhetik, München 1981.

Georg W. Bertram

DIE OBJEKTIVITÄT DER KÜNSTE

Der Aufsatz verfolgt eine zweifache Strategie: Einerseits argumentiert er, dass sich in Bezug auf die Künste die Frage nach der Objektivität ästhetischer (Wert-)Eigenschaften nicht direkt beantworten lässt. Es bedarf vielmehr eines Blicks auf die Auseinandersetzung mit Kunstwerken und einer Bestimmung der Funktion einer solchen Auseinandersetzung, um die Frage zu beantworten. Ist dies geschehen, so zeigt sich andererseits, dass Objektivität im Zusammenhang mit Kunstwerken in zweifacher Hinsicht geltend gemacht werden kann: Die ästhetischen Eigenschaften von Kunstwerken, die rezeptive Auseinandersetzungen mit Kunstwerken leiten, sind im Lichte dieser Auseinandersetzungen genauso als objektiv zu begreifen wie diese Auseinandersetzungen zugleich einen Sinn für die Objektivität der Beschaffenheiten der Welt initiieren. Zu diesem Ergebnis kommt der Aufsatz auf folgendem Weg: Zuerst wird unter Rekurs auf die Kunstphilosophien Adornos und Goodmans argumentiert, dass ästhetische Eigenschaften nur durch besondere Aktivitäten (z.B. Wahrnehmungsaktivitäten) in der Konfrontation mit einem Kunstwerk zugänglich werden. Die Eigenschaften sind also nicht direkt zugänglich (wie es zum Beispiel McDowell behauptet). Zweitens wird die Funktion ästhetischer (Wert-)Eigenschaften mit der These bestimmt, dass der kognitive Wert von Kunst darin liegt, Medien der Auseinandersetzung mit der Welt zu reflektieren. Drittens wird der reflexive Charakter von Kunst, von dem hier die Rede ist, weitergehend erläutert. Dabei wird die These vertreten, dass die Auseinandersetzungen mit Kunstwerken ein Verständnis für die Objektivität der Beschaffenheiten der Welt initiieren. Diese Initiierung geht von den objektiven ästhetischen Eigenschaften aus, die in verstehenden Auseinandersetzungen mit Kunstwerken erfahren werden.

Nur jemand, der in freier Weise Wahrnehmungen zu vollziehen vermag, kann sich mit Gegenständen der Welt als Gegenständen einer unabhängig von ihm bestehenden Objektivität auseinandersetzen. Die eigenständige Realität der uns umgebenden Gegenstände wird nicht direkt erfahren. Erfahren wird sie nur aus der reflektierten Perspektive eines freien Erkenntnissubjekts. Diese Einsicht, die in der Diskussion zwischen Kant und Hegel wohl erstmals in aller Klarheit gewonnen wurde, droht in der gegenwärtigen Diskussion verloren zu gehen. Dafür verantwortlich sind die vielfach anzutreffenden Argumentationen für einen direkten Realismus. Es soll gelten, dass wir die Welt direkt in begrifflichen Strukturen

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wahrnehmen. Auf diese Weise wird der direkte Kontakt zur Welt folgendermaßen begriffen: Die Welt gibt uns in Wahrnehmungen Gründe für bestimmte Überzeugungen und Handlungen. 1 Die Art und Weise, wie eine solche Position vielfach entwickelt wird, ist insofern mit einer gewissen Ironie verbunden, als dabei Kant oftmals zum Kronzeugen avanciert. Die Ambivalenzen der Kantischen Position werden dabei zugunsten eines Standpunkts aufgelöst, bei dem eine zentrale Kantische Frage verloren geht: die Frage, inwiefern die begrifflich geprägten Erfahrungen der Welt als Erfahrungen im Rahmen einer einheitlichen Perspektive verstanden werden können. Wie können sich die unterschiedlichen Erfahrungen, die wir begrifflich artikulieren, zu einem Bild der Welt zusammensetzen? Kant vertritt bekanntlich die These, dass dies nur für ein Subjekt möglich sei, das Anschauungen und begriffliche Artikulationen in einer einheitlichen Perspektive versammelt. 2 Diese Erläuterung Kants hat mit einem Motiv zu tun, das auch den direkten Realismus bewegt: mit dem Motiv, der Welt gegenüber kognitiv verantwortlich zu sein, also die eigenen Überzeugungen vor dem Tribunal der Erfahrung vertreten zu können. Es stellt sich auch für Kant die Frage, wie wir eine entsprechende Verantwortlichkeit zu begründen vermögen. Seine Antwort allerdings ist anders gelagert als die des direkten Realisten. Nach Kants Verständnis konstituiert sich die Verantwortlichkeit dadurch, dass das Subjekt Anschauungen und begriffliche Artikulationen in einer rationalen (beziehungsweise allgemeiner gesagt: selbstbestimmten) Weise in einer einheitlichen Perspektive verbindet. 3 Bei Kant nun ist die Erläuterung der Verantwortlichkeit eines verstehenden Subjekts gegenüber der Welt damit verbunden, dem Ästhetischen eine besondere Rolle zuzuschreiben: Das Ästhetische wird als eine Reflexion der epistemisch verantwortlichen Haltung eines verstehenden Subjekts gegenüber der Welt begriffen. Kant vertritt die These, dass die Auseinandersetzung mit schönen Gegenständen zu einer Reflexion der Perspektive eines verstehenden endlichen Subjekts führt. Ein schöner Gegenstand löst demnach ein »freies Spiel der Erkenntnisvermögen« 4 aus. Dieses freie Spiel demonstriert das Zusammenwirken von Anschauungen und Begriffen. Sie demonstriert damit die Möglichkeit, eine Perspektive auszubilden, die Anschauungen und Begriffe in einen einheitlichen Zusammenhang bringt. In

1

2

3

4

Eine entsprechende Position ist besonders von McDowell begründet worden; vgl. bes. Geist und Welt, 1. Vorlesung sowie in diesem Band den Beitrag von Richard Schantz. Die entsprechende Argumentation Kants findet sich besonders in der berühmt-berüchtigten Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe: KrV , B 129ff. Vgl. zu einer entsprechenden Interpretation der Kantischen Position u.a.: Korsgaard, Personale Identität. Kant, KdU, B 28; AA V, 217.

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der ästhetischen Erfahrung erfährt somit Kant zufolge das Subjekt die kognitive Verantwortlichkeit als Moment allgemeiner Subjektivität. 5 Diese Kantische Bestimmung allerdings ist aus mehreren Gründen problematisch, von denen ich hier nur einen anführen will: Die ästhetische Reflexion macht nicht verständlich, wie die einheitliche Perspektive sich gegenüber bestimmten Aspekten der Welt zu bewähren vermag. Sie bleibt als Reflexion in ihrem Bezug auf die Welt unbestimmt. 6 Kant kann nicht erklären, inwiefern die Reflexion irgendwie mit der bestimmten Art und Weise zusammenhängt, in der sich ein erkennendes Subjekt mit der Welt auseinandersetzt. Die Reflexion erfasst nicht die Begegnung mit der bestimmten Objektivität der Welt. Aus diesem Grund wird bei Kant nicht verständlich, wie das Ästhetische die erkennende Perspektive eines Subjekts als eine der bestimmten Beschaffenheit der Welt gegenüber verantwortliche Perspektive zu reflektieren vermag. Charakteristisch für Kants Position ist, dass er zwei Fragen nicht zu beantworten vermag: erstens die Frage, ob es ästhetische Eigenschaften gibt – Eigenschaften, die ein ästhetisch erfahrendes Subjekt an ästhetischen Gegenständen ausmacht. Hat das Ästhetische selbst einen objektiven Charakter? Mit dieser Frage verbunden ist ein zweiter Punkt, in dem Kant keine Klarheit herstellt: Inwiefern sind ästhetische Erfahrungen mit einem Zugang zu einer objektiven Welt verbunden, die eine bestimmte Gestalt hat? Beziehen sich ästhetische Gegenstände beziehungsweise die Auseinandersetzung mit ihnen auf die bestimmte Objektivität der Welt? Ich will im Folgenden dafür argumentieren, dass man diese beiden Fragen, die bei Kant offen bleiben, im Zusammenhang beantworten muss: Die Objektivität ästhetischer Eigenschaften lässt sich nur dann begreifen, wenn man den Beitrag dieser Eigenschaften zu einer Auseinandersetzung mit der Welt als einer objektiven Welt verständlich macht. Diese These allerdings verstehe und begründe ich im Folgenden in einer eingeschränkten Weise: Es geht mir nicht um das Ästhetische insgesamt, sondern um Kunst. Ich gehe davon aus, dass Kunst die Frage nach der Objektivität ästhetischer Eigenschaften zumindest in besonderer Weise aufwirft. In diesem Sinn handeln die folgenden Überlegungen von der Objektivität der Künste. Den Zusammenhang zwischen dem ästhetischen Bezug auf die Welt als einer objektiven Welt und der Objektivität ästhetischer Eigenschaften will ich erkunden, indem ich bei der Frage ansetze, wie ästhetische Eigenschaften konstituiert und wie sie zugänglich sind. Ich argumentiere, dass diese Frage sich nur beantworten lässt, wenn man zugleich die Relevanz solcher Eigenschaften im Rahmen eines menschlichen Weltverhältnisses klärt. Mit einer solchen Klärung komme ich zu der These, dass die Auseinandersetzung mit ästhetischen Eigenschaften einen Sinn 5

6

Kant spricht davon, das Geschmacksurteil komme nach einem Prinzip zustande, das »subjektivallgemein« (ebd., B 67; AA V, 240) sei. Vgl. zur weiteren Diskussion dieser Unbestimmtheit und der aus ihr resultierenden Ungereimtheiten der Kantischen Position: Bertram, Kunst und Alltag.

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für Objektivität stiftet, so dass die Objektivität ästhetischer Eigenschaften in dem Maße begreiflich wird, wie begreiflich wird, dass die Auseinandersetzung mit ihnen einen Bezug auf die Objektivität der Welt begründet. Auf diese Weise will ich an Kant anknüpfen: Die Auseinandersetzung mit Kunst soll als eine Praxis begreiflich werden, die den geistigen Bezug auf eine objektive Welt reflektiert. Ich argumentiere so für einen reflexiven Realismus in Bezug auf die Objektivität der Künste – für eine Spielart des Realismus, von der man auch sagen kann, dass sie die übliche Alternative von Realismus und Anti-Realismus unterläuft.

1. Der Zugang zu ästhetischen Eigenschaften John McDowell hat in den letzten gut 20 Jahren zunehmend eine philosophische Position ausgearbeitet, die in neuer Weise für eine begriffsrealistische Perspektive plädiert. In Anschluss an Aristoteles und Wittgenstein sowie mit einem Seitenblick auf Kant, Hegel und Gadamer argumentiert McDowell, dass unsere epistemische Situation durch begrifflich strukturierte Wahrnehmungen geprägt ist. Dies gilt nach McDowells Verständnis nicht nur für handgreifliche Beschaffenheiten von Gegenständen und Situationen, sondern auch für die Wahrnehmung von Zeichen 7, für die Wahrnehmung moralisch relevanter Aspekte der Welt 8 und für ästhetische Erfahrungen. 9 In Bezug auf ästhetische Erfahrung schließt dies eine direkte Antwort auf die Frage nach dem Zugang zu ästhetischen Eigenschaften ein: Solche Eigenschaften werden, McDowell zufolge, direkt wahrgenommen. Die heitere Harmonie des dritten Streichquartetts von Brahms gehört demnach genauso wie die fein gearbeiteten Intarsien einer Geige zur Beschaffenheit der Welt. McDowell beruft sich dabei darauf, »was unsere ästhetische Erfahrung uns gleichsam mitzuteilen scheint, wenn sie [einen ästhetischen] Wert als Teil des Gefüges der Welt darstellt«. 10 Ästhetische Werte bzw. ästhetische Eigenschaften werden, so der phänomenologische Punkt, als etwas wahrgenommen, das es in der objektiven Welt gibt. McDowell will genau diese phänomenologische Beschreibung erkenntnistheoretisch untermauern. Ich bin nun der Meinung, dass ästhetische Eigenschaften und der Zugang zu ihnen nicht auf diese Weise begriffen werden können. Zwar ist es nicht falsch zu sagen, dass ästhetische Eigenschaften als solche erfahren werden können. Dennoch ist bei ästhetischen Eigenschaften die Art und Weise, wie sie erfahren werden, spezifisch. Die Erfahrung ästhetischer Eigenschaften schließt ein Moment von genuiner und spezifischer Aktivität ein. Dieses Moment ist in McDowells Beschrei7 8 9 10

Vgl. McDowell, Anti-Realism. Vgl. McDowell, Tugend und Vernunft. Vgl. McDowell, Ästhetischer Wert. Ebd., S. 180.

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bungen nicht gefasst. Ich will es zutage fördern, indem ich ein Argument vortrage, das ich als Argument von der Unumgänglichkeit der verstehenden Auseinandersetzungen mit ästhetischen Gegenständen bezeichne. Dieses Argument ist ein erster Schritt, um zu einem Verständnis der Objektivität ästhetischer Eigenschaften zu gelangen. Ich werde es so entwickeln, dass ich von einer Spezifik der Gegenstände ästhetischer Erfahrung ausgehe und dann mit Goodman und Adorno verfolge, wie sich diese Spezifik in ästhetischen Erfahrungen niederschlägt. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein Gemeinplatz in der ästhetischen Diskussion: Ästhetische Erfahrungen sind demnach als Erfahrungen zu begreifen, in denen der sinnlich-materialen Dimension ihrer Gegenstände eine besondere Relevanz zukommt. So ist die bloße Erfahrung bedeutungsvoller Worte von einer ästhetischen Erfahrung mit ihnen unterschieden: Im normalen Gespräch ist die spezifische Stimme für das Gesagte mehr oder weniger irrelevant; auf dem Theater hingegen kommt der spezifischen stimmlichen Realisierung sprachlicher Ausdrücke eine große Relevanz zu. Hegel hat entsprechend Kunstwerke als Gegenstände verstanden, die etwas Geistiges in sinnlich-anschaulicher Gestalt darbieten. In diesem Sinn bestimmt er das Ideal der Kunst als das »sinnliche Scheinen der Idee«. 11 Nun gilt von diesem Grundbegriff der Spezifik ästhetischer Gegenstände her, dass ästhetische Eigenschaften in der spezifisch sinnlichen Verfasstheit eines entsprechenden Gegenstands realisiert sind. Sie können also nur in Auseinandersetzung mit dieser Verfasstheit zugänglich werden. Ein aufschlussreicher Versuch, diese Spezifik verständlich zu machen, findet sich in der Kunstphilosophie Nelson Goodmans. Goodman vertritt die These, dass die Relevanz sinnlich-materialer Momente an einem Gegenstand symboltheoretisch begriffen werden muss. Sie resultiert aus einem spezifischen Zeichenverhältnis, das für Kunstwerke charakteristisch ist: Kunstwerke verweisen als Zeichen nicht nur auf Gegenstände, die von ihnen denotiert werden. Sie verweisen insbesondere auch auf andere Zeichen, unter die sie ihrerseits fallen. Goodman bezeichnet die Zeichenrelation, die dabei zum Tragen kommt, mit dem Begriff der Exemplifikation. 12 Ein Gegenstand exemplifiziert dann, wenn er sich als eine Instanz eines bestimmten Zeichens präsentiert bzw. wenn er als eine solche Instanz präsentiert wird. Ein roter Gegenstand exemplifiziert dann Röte, wenn er als Instanz des Prädikats »ist rot« (oder eines anderen koextensiven Prädikats) präsentiert wird. Exemplifikationen sind damit verbunden, dass der Verfasstheit des exemplifizierenden Gegenstands besondere Aufmerksamkeit zuteil wird: Die Eigenschaften, die er exemplifiziert, werden intensiv wahrgenommen. So kann man erklären, dass sinnlich-materiale Momente bei bestimmten Gegenständen relevant werden. Sie werden dann relevant, wenn es sich um Eigenschaften han-

11 12

Hegel, Ästhetik I , S. 151. Vgl. Goodman, Sprachen der Kunst, S. 59ff.; und Welterzeugung, S. 166.

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delt, die der Gegenstand exemplifiziert (woraus allerdings nicht folgt, dass Exemplifikationen nur von sinnlich-materialen Momenten ausgehen). Nun ist es nicht die Funktion von Kunstwerken, Zeichen wie das der Röte etc. zu exemplifizieren. Das leisten auch andere Gegenstände wie bestimmte Kinderspielzeuge oder Farbtafeln, über die ein Maler verfügt oder die einer Schachtel von Buntstiften beiliegen. Kunstwerke exemplifizieren spezifische sinnliche Farbrealisierungen wie das besondere Blau der Gegenstände von Yves Klein. Mit dieser besonderen Bestimmung von Exemplifikation in der Kunst allerdings kommt es zu einem Problem, das man mit folgender Frage umreißen kann: Warum kommt es in Kunstwerken zu einer komplexen materialen Gestaltung, um etwas zu exemplifizieren? Denken wir an eine bestimmte farbliche Realisierung der Darstellung von einem Gebirge oder um klangliche Realisierungen von Melodien. Inwiefern ist die bestimmte sinnlich-materiale Gestaltung hier exemplifizierend? Man gewinnt schnell den Eindruck, dass die Auseinandersetzung mit ihnen restlos selbstzweckhaft ist. Eine bestimmte klangliche Konstellation eines Streichquartetts findet sich vielfach nur in genau einem einzigen Kunstwerk. Analoges gilt für die farbliche Realisierung zum Beispiel in einem von Cézannes Gemälden, die die Montagne Ste. Victoire darstellen. Verweisen entsprechende sinnlich-materiale Eigenschaften eines Kunstwerks nur auf sich selbst?13 Man kann die Realisierung sinnlich-materialer Aspekte in einem Kunstwerk nur dann in einer aufschlussreichen Weise als exemplifizierend verstehen, wenn man zu sagen vermag, was sich mit den exemplifizierten Zeichen auch außerhalb eines Kunstwerks anfangen lässt. 14 Goodman suggeriert (begrifflich, nicht faktisch), dass die exemplifizierten Eigenschaften in einem Kunstwerk isoliert auftreten. Genau dies aber ist nicht der Fall. Sinnliche Eigenschaften wie die Bläue der Gegenstände von Yves Klein spielen in komplexer Weise mit anderen Momenten dieser Gegenstände zusammen. Die ästhetische Bedeutung lässt sich nicht erfassen, wenn man es von diesen Momenten löst. Das aber hat zur Folge, dass in einem Kunstwerk komplexe Zusammenhänge bestehen, aus denen mögliche Exemplifikationen des Kunstwerks hervorgehen. In einem Kunstwerk spielen eine Vielzahl von Elementen zusammen, die sich wechselseitig bestimmen. Mit Adorno kann man davon sprechen, dass ein Kunstwerk einen monadischen Charakter hat. Kunstwerke sind demnach als Gegenstände zu begreifen, die eigene Formen und sinnlich-mate13

14

Man kann erwägen, ob Goodman mit seiner Theorie des Ausdrucks (vgl. Sprachen der Kunst, 2. Kap.) auf dieses Problem reagiert hat. Aber auch der Rekurs auf eine metaphorische Exemplifikation (eine bestimmte Rhythmik von Musik als Exemplifikation von Schwere etc.) löst das Problem nicht: Die komplexe sinnlich-materiale Gestaltung wird in ihrer Relevanz für eine solche Exemplifikation nicht verständlich. Um sich diese Bedingung verständlich zu machen, kann man noch einmal an die Stoffprobe denken, die das Paradigma für Exemplifikation abgibt: Ein Stoffstück, das nur einmal realisiert ist und auch nur einmal realisiert werden kann, fungiert deshalb nicht als Probe, weil ohne andere Gegenstände, die relevante Eigenschaften mit ihr teilen, der Verweis auf diese Eigenschaften witzlos wird.

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riale Momente aufweisen und dabei jeweils spezifisch komplexe Zusammenhänge solcher Formen und Momente realisieren. 15 So hat ein Kunstwerk komplexe Eigenschaften, die sowohl buchstäblich als auch metaphorisch nur in Bezug auf ihre spezifische Gegebenheit in diesem konkreten Gegenstand als Zeichen fungieren. Die Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk erweist sich damit gegen alle Intentionen Goodmans doch als ein selbstzweckhaftes Geschehen. Wenn man Goodmans Erläuterungen beibehält, kann man hier von Selbstexemplifikation sprechen. Die komplexen Zusammenhänge in einem Kunstwerk sind selbstexemplifikativ. Eine solche Selbstexemplifikation wird von Adorno mit dem Begriff der Mimesis artikuliert. Er spricht davon, dass Kunstwerke Mimesis an sich selbst betreiben. Sie machen sich sich selbst gleich. 16 Dieses Zwischenergebnis allerdings kann nicht zufrieden stellen. Je mehr man den monadischen Charakter eines Kunstwerks betont, desto mehr wird fraglich, inwiefern ein Kunstwerk und seine ästhetischen Eigenschaften überhaupt erfasst zu werden vermögen. An diesem Punkt scheint es mir hilfreich, zu einem Aspekt von Goodmans Bestimmung der Exemplifikation bei Kunstwerken zurückzukehren. Goodman behauptet, dass sinnlich-material exemplifizierende Momente in Kunstwerken mit einer besonderen Entwicklung von Wahrnehmung verbunden sind. Genau dieser Aspekt lässt sich nun aufgreifen. Wenn ein Kunstwerk Mimesis an sich selbst betreibt (also in Goodmans Vokabular: komplexe Zusammenhänge realisiert, die das Kunstwerk exemplifiziert), dann kann eine Auseinandersetzung mit diesen Zusammenhängen nur gelingen, wenn man besondere Weisen der Wahrnehmung entwickelt. Es muss sich um Weisen der Wahrnehmung handeln, die den spezifischen Momenten und Zusammenhängen in einem Kunstwerk gerecht werden. Diese Bedingung kann man unter anderem folgendermaßen artikulieren: Es ist erforderlich, die Momente und Zusammenhänge in dem Kunstwerk in der Wahrnehmung nachzuvollziehen. Genau diesen Schluss zieht Adorno explizit: »Machen Kunstwerke nichts nach als sich selbst, so wird ihnen nur gerecht, wer sie nachmacht.« 17 Adorno erläutert das entsprechende Nachmachen in der Auseinandersetzung mit einem Bild zum Beispiel so, dass es darin bestehe, die »Kurven nachzufahren«, die sich in der Gestaltung des Bildes zeigen. 18 In dieser Erläuterung kommen nun zwei Momente zusammen, die sich begrifflich unterscheiden lassen: Einerseits muss man in der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk die Wahrnehmung so einstellen, dass die Eigenarten der Momente und Zusammenhänge eines Kunstwerks wahrnehmbar werden. Ande15

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Adorno spricht bekanntlich von diesen komplexen Zusammenhängen als dem »Formgesetz« eines Kunstwerks (vgl. Ästhetische Theorie, S. 15 u.a.). Vgl. ebd., S. 190 u.a. Ebd., S. 190. Ebd.

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rerseits muss man dem Kunstwerk auch körperlich folgen. Es ist erforderlich, Bewegungen so zu vollführen, dass die Zusammenhänge im Kunstwerk erfahrbar werden. Im Falle eines Gemäldes handelt es sich normalerweise um Augenbewegungen, aber auch vielfach darum, sich dem Gemälde zu nähern, sich von ihm zu entfernen oder an ihm entlang zu gehen. Deutlicher ausgeprägt ist eine motorische Erschließung im Falle einer Skulptur oder einer Architektur. Es fehlt allerdings der Auseinandersetzung mit der automimetischen Verfassung noch ein Moment, das in Adornos Explikation der Mimesis ans Kunstwerk nicht angesprochen ist, das Adorno allerdings an anderen Stellen seiner Ästhetischen Theorie durchaus thematisiert: Die Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk findet immer auch sprachlich oder anderweitig symbolisch statt. Das Bild wird nicht nur wahrgenommen oder motorisch erschlossen: Es kommt auch zu sprachlichen Artikulationen in der Form expliziter Sprechakte oder sprachlich artikulierter Gedanken. Auch in dieser Weise suchen diejenigen, die sich mit ästhetischen Gegenständen auseinandersetzen, der Spezifik dieser Gegenstände gerecht zu werden. Ich kann meine Explikationen der Konsequenzen der automimetischen Verfassung von Kunstwerken für den Umgang mit denselben dadurch zusammenfassen, dass ich den allgemeinen Begriff der verstehenden Auseinandersetzungen mit Kunstwerken einführe. 19 Ich habe in meinen Erläuterungen drei Typen solcher verstehenden Auseinandersetzungen unterschieden: körperlich-motorische Aktivitäten, Wahrnehmungen (als Wahrnehmungsaktivitäten verstanden 20) und symbolische Aktivitäten. Den Begriff der verstehenden Auseinandersetzungen mit Kunstwerken kann man entsprechend so begreifen, dass er den Begriff der Interpretation erweitert. Ein Kunstwerk verlangt aufgrund seiner selbstexemplifizierenden beziehungsweise automimetischen Konstitution unterschiedliche Aktivitäten, die der Begriff der verstehenden Auseinandersetzungen zusammenfasst – wobei gilt, dass es je nach Künsten und Kunstwerken je unterschiedliche Aktivitäten sind, die zum Tragen kommen. Genau dies unterscheidet Kunstwerke von anderen Gegenständen der uns umgebenden Welt. Auch für andere Gegenstände gilt, dass wir ihnen mit Aktivitäten gerecht zu werden versuchen. Diese Aktivitäten stehen allerdings in Kontinuitäten mehr oder weniger alltäglicher Gegenstandsauseinandersetzungen. Dies ist bei Kunstwerken anders. Kunstwerke sind Gegenstände, an denen wir besondere Aktivitäten entwickeln. Diese besonderen Aktivitäten tragen der Tatsache Rechnung, dass in einem Kunstwerk alle Momente von dem Zusammenhang, in dem sie stehen, affiziert werden. Ein Kunstwerk erfordert so Aktivitäten, die sich auf seine spezifische Verfasstheit einstellen. 19

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Vgl. zu diesem Begriff und zu unterschiedlichen Typen verstehender Auseinandersetzung mit Kunstwerken auch: Bertram, Was die Kunst …, 3. Abschnitt. Ein solches Verständnis stützt sich auf einen phänomenologischen bzw. postphänomenologischen Begriff der Wahrnehmung. Vgl. u.a. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung; Noë, Action in Perception.

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Ich sehe mich nun gerüstet, die Frage zu beantworten, die mich zu den Überlegungen dieses Abschnitts gebracht hat. Meine Antwort auf die Frage nach dem Zugang zu ästhetischen Eigenschaften lautet: Diesen Zugang haben wir nur durch verstehende Auseinandersetzungen mit Kunstwerken. Ästhetische Eigenschaften kann nur der erschließen, der in spezifischer Weise körperlich-motorische Aktivitäten entfaltet, wahrnimmt oder sprachlich bzw. anderweitig symbolisch die Momente und Zusammenhänge in einem Kunstwerk artikuliert. An diesem Punkt nun muss ich also McDowell widersprechen. Der Zugang zu ästhetischen Eigenschaften lässt sich nicht so erläutern wie der Zugang zu irgendwelchen begrifflichen Aspekten unserer nichtästhetischen Wahrnehmungswelt. Ich kann es so artikulieren: Für die Erfassung begrifflicher Aspekte der Wahrnehmungswelt ist man gerüstet, sofern man eine Initiation in begriffliche Zusammenhänge erfahren hat. 21 Das gilt nicht für die Eigenschaften von Kunstwerken. In diese kann man nicht initiiert werden. Man muss sich gewissermaßen selbst dadurch in sie initiieren, dass man in komplexe Auseinandersetzungen mit einem Kunstwerk tritt. Es ist dazu zweifelsohne erforderlich, dass man in eine Praxis des Umgangs mit Kunstwerken eingeführt wird, wobei eine solche Praxis – wie man, möglicherweise leidvoll, erfahren kann – nicht Künste und Kunstwerke insgesamt umgreift, sondern für unterschiedliche Künste und Kunstwerke je spezifisch ausfällt. Aus der Übung, die man in einer Praxis der Auseinandersetzung mit Kunstwerken – die auch mit Kenntnissen in Bezug auf bestimmte Künste und deren Praktiken verbunden ist – erlangt hat, kann man verstehende Auseinandersetzungen mit Kunstwerken in unterschiedlicher Intensität und in unterschiedlicher Art und Weise aufnehmen. Erst durch solche Auseinandersetzungen hindurch aber werden die ästhetischen Eigenschaften zugänglich, die die Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk wertvoll machen.

2. Die Bedeutung verstehender Auseinandersetzungen mit Kunstwerken Es scheint mir nun keine hinreichende Bestimmung ästhetischer Eigenschaften zu sein, dass diese durch verstehende Auseinandersetzungen mit Kunstwerken zugänglich werden. Der Status dieser Eigenschaften ist weiterhin fragwürdig. Es ist deshalb aufschlussreich, über den bislang erreichten Stand der Überlegungen hinaus zu fragen, welche Bedeutung die besagten Auseinandersetzungen haben. Erst auf diese Weise, so meine These, werden ästhetische Eigenschaften in ihrer komplexen Konstitution verständlich. Die Bedeutung ästhetischer Eigenschaften 21

Vgl. zu einer kritischen Perspektive auf ein im weitesten Sinne wittgensteinianisches Verständnis der Initiation in eine begriffliche bzw. rationale Praxis: Bertram, Sprache als Explikation.

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lässt sich nun dadurch aufklären, dass man eine weit verbreitete Intuition verfolgt. Es handelt sich um die Intuition, dass die Auseinandersetzung mit Kunstwerken unser Verständnis der Welt zu verändern vermag. Genau dies hat unter anderem Goodman vielfältig behauptet. 22 Sein Begriff der Exemplifikation in Kunstwerken soll unter anderem hierfür eine Erklärung liefern. Die von einem Kunstwerk – sei es buchstäblich oder sei es metaphorisch – exemplifizierten Zeichen sind demnach auch Zeichen, mittels deren sich Aspekte der Welt in neuer Weise erkennen lassen. So lernen diejenigen, die durch ein Kunstwerk auf entsprechende Zeichen gebracht werden, die Welt in neuer Weise zu sehen. Nun habe ich oben argumentiert, dass Goodmans Begriff der Exemplifikation in Kunstwerken nicht so funktioniert, wie von Goodman beabsichtigt, und bin von daher auf den Begriff der verstehenden Auseinandersetzungen mit einem Kunstwerk gestoßen. Wie lässt sich nun von diesem Begriff aus die Intuition, dass die Auseinandersetzung mit Kunstwerken unsere Verständnisse der Welt zu verändern vermag, erläutern? Dieser Frage will ich nun nachgehen. Eine Antwort auf diese Frage kann man dadurch auf den Weg bringen, dass man von einer sehr einfachen Prämisse ausgeht. Sie lautet: Die Aktivitäten, die im Zuge verstehender Auseinandersetzungen mit Kunstwerken ins Spiel kommen (körperlich-motorische Aktivitäten, Wahrnehmungsaktivitäten und symbolische Aktivitäten), sind nicht in der Spezifik, wie Kunstwerke sie erfordern, aber doch allgemein auch sonst in alltäglichen und nichtalltäglichen Praktiken gegeben. Von dieser Prämisse aus kann man nun folgendermaßen argumentieren: Wenn eine Praxis einen Typ von Aktivitäten realisiert und eine andere Praxis diesen Typ ebenfalls realisiert, so kann die eine Praxis die andere beeinflussen. Genau in dieser Weise scheint mir der Ertrag ästhetischer Praktiken grundsätzlich erläutert werden zu müssen: Auseinandersetzungen mit Kunstwerken prägen Praktiken in der sonstigen Welt, in der analoge Typen von Aktivitäten zum Tragen kommen. Diese pauschale These ist allerdings erst verständlich, wenn man erklärt, wie eine solche Prägung begriffen werden kann. Man kann versucht sein, die Prägung als ein kausales Geschehen zu deuten. Demnach bewirkte die Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk bestimmte Veränderungen von Weltsichten. Dies allerdings halte ich für unzureichend. Der Anstoß, der von ästhetischen Wahrnehmungen etc. ausgeht, muss – so meine These – als normativ begriffen werden. Ich bringe entsprechend ein Argument vor, das ich als Argument von den normativen Bindungen durch verstehende Auseinandersetzungen mit Kunstwerken bezeichne. Die erste Prämisse dieses Arguments lautet: Alltägliche Realisierungen von körperlich-motorischen Praktiken, Wahr22

Deutlich kommt dies bspw. in folgender Aussage zum Ausdruck: »Aber Beardsley weiß genauso gut wie ich, dass wir nach ein paar Stunden in einer Ausstellung häufig in eine visuelle Welt hinaustreten, die ganz anders ist als die, die wir verlassen haben. Wir sehen, was wir vorher nicht sahen, und wir sehen auf eine neue Weise. Wir haben gelernt.« (Goodman, Vom Denken, S. 126).

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nehmungsaktivitäten und symbolischen Praktiken sind jeweils als solche normativ gebunden. So (auf der Basis dieser ersten Prämisse) sind auch alle ästhetischen Realisierungen als solche zu begreifen, die normativ gebunden sind. 23 Die Normen der Praktiken, von denen hier die Rede ist, lassen sich auf drei Arten und Weisen entwickeln: sprachlich-explizit, sozial-interaktiv (z. B. durch wechselseitiges Nachahmen) oder qua selbstbezüglicher Formen, die in den Praktiken selbst realisiert sind. Da ästhetische Praktiken nicht sprachlich-explizit und auch nur in einem indirekten Sinn sozial-interaktiv sind, müssen sie als selbstbezügliche Praktiken begriffen werden. Sie beziehen sich auf alltägliche Realisierungsformen der Praktiken und reflektieren bzw. entwickeln deren normative Ordnungen. 24 Dieses soweit in seinen Grundzügen skizzierte Argument will ich nun ein wenig erläutern. Die These von dem umfassend normativen Charakter alltäglicher Praktiken will ich erst einmal phänomenologisch motivieren: Für Praktiken wie optische Wahrnehmungen oder Bewegungen des Arms gilt, dass man sie richtig oder falsch ausführen kann. Ich kann falsch hinsehen, kann mit dem Arm falsch ausholen und kann meine Schritte in einer (zum Beispiel rhythmisch) falschen Weise hintereinander setzen. Was für sprachliche Praktiken vertraut ist, muss so für alltägliche Praktiken insgesamt geltend gemacht werden. In Bezug auf alltägliche Praktiken muss man also einen Begriff der Richtigkeit verständlich machen, der wiederum für unterschiedliche Typen solcher Praktiken wie zum Beispiel Wahrnehmungen und Bewegungen zu spezifizieren ist. 25 Man kann diese These als eine Korrektur von McDowells Erklärung der zweiten Natur als des Raums der Gründe verstehen. Die zweite Natur ist in dieser Weise zu eng bestimmt, was sich unter anderem darin niederschlägt, dass McDowell einen seltsam schmalen Begriff von sinnlicher Wahrnehmung entwickelt. 26 Die sinnlich-leibliche Dimension menschlicher Praxis, die unter anderem Merleau-Ponty expliziert hat, 27 wird damit nicht verständlich. So gilt es, einen umfassenderen Begriff normativer Prak-

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25 26

27

Vgl. hierzu Bertram, Sprache und das Ganze, 3. Kap. Diese Thematisierung darf dabei allerdings nicht so verstanden werden, dass sie bestehende Normen im Sinne einer Repräsentation artikuliert; vielmehr ist eine solche Thematisierung in einer grundsätzlichen Weise als solche zu verstehen, die eingreift. Ein entsprechender Eingriff qua Thematisierung kann dabei gleichermaßen den Charakter einer Bestätigung und den Charakter einer Veränderung haben. Vgl. hierzu Bertram, Kunst und Alltag. Ich schließe hiermit indirekt an Überlegungen Goodmans an; vgl. ders., Welterzeugung, 7. Kap. Dieses Defizit von McDowells Position lässt sich zweifelsohne als kantisches Erbe begreifen. Vgl. hierzu auch Bertram, Sprache und Objektivität. Besonders deutlich markiert Merleau-Ponty seine Kritik an einem einseitig theoretizistischen Weltbild in der »Einleitung« der Phänomenologie der Wahrnehmung, in der für eine grundsätzliche Prozessualität und holistische Anlage leiblicher Praktiken argumentiert wird. Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Einleitung. Die Position Merleau-Pontys ist eine wesentliche Inspiration von Weiterentwicklungen in der Philosophie sinnlicher Leiblichkeit und der Wahrnehmung. Vgl. bes. Todes, Body and World; Noë, Action in Perception.

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tiken zu entwerfen, um den Begriff der zweiten Natur, auf den McDowell zielt, zu plausibilisieren. Dazu ist es erforderlich, zum Beispiel Wahrnehmungen und körperlich-motorische Praktiken als solche zu begreifen, die durch eigene Formen der Richtigkeit geprägt sind. Damit gelangt man zu einem Begriff der zweiten Natur als einem Raum unterschiedlicher Formen von Richtigkeiten. 28 Wie dargelegt präsentieren Kunstwerke spezifische Momente und Zusammenhänge so, dass sie verstehende Auseinandersetzungen mit ihnen anstoßen. Für die in diesen Auseinandersetzungen entwickelten Praktiken ist es erst einmal charakteristisch, dass sie sich ganz der spezifischen Verfasstheit des Kunstwerks widmen. Ein Bild wird in seinem spezifischen Aufbau, seiner Anordnung von Elementen, seiner Präsentation einer oder mehrerer Sichtweisen etc. gesehen. Ein Musikstück wird als solches verfolgt. Die Praktiken, die im Zuge einer solchen Auseinandersetzung zustande kommen, erschöpfen sich aber nicht in ihrem Bezug auf das Kunstwerk. Sie beziehen sich auch auf alltägliche Formen von Praktiken. Diesen Bezug kann man nun verständlich machen, wenn man ihn als eine Form der Reflexion erläutert. Für eine solche Erläuterung scheint mir eine Analogie hilfreich zu sein: Denken wir an reflexive sprachliche Elemente (metasprachliches Vokabular) und die Art und Weise, wie diese sich auf sonstige sprachliche Praktiken beziehen. Praktiken mit reflexiven sprachlichen Elementen – ich spreche hier allgemein von explikativem Sprachgebrauch (im Sinne von zum Beispiel Wittgenstein kann man aber auch die Bezeichnung »grammatischer Sprachgebrauch« verwenden) – setzen Bestimmungen für sonstige sprachliche Praktiken. Sie legen diese sonstigen Praktiken fest. Wenn ich in vielfältiger Weise über ein grammatisches Vokabular in Bezug auf meine sprachlichen Praktiken verfüge, dann kann ich diese Praktiken in einer anderen Weise durchführen als zuvor. Ich werde sicherer in Bezug auf bestimmte Konjugationen, Deklinationen und anderes. Die Reflexion ist insofern in einer praktischen Weise selbstbestimmend. 29 Wenn ich in grammatischem Vokabular geschult bin, vollziehe ich meine sprachlichen Praktiken unter einer gewissen Kontrolle dieses Vokabulars. Ich spreche von einer ›gewissen Kontrolle‹, da auch bei Verfügbarkeit grammatischen Vokabulars das normale Sprechen nicht durchweg von grammatischen Sprechakten oder Überlegungen begleitet ist. Nicht nach jeder Äußerung sage oder denke ich Dinge wie »Gerade habe ich eine Verbform der Ersten Person Singular Präsens verwendet«. So kann es auch immer wieder dazu kommen, dass unbemerkt sprachliche Äußerungen zustande kommen, die der grammatischen Disziplin entgehen. Sicherlich 28

29

Ohne hier näher darauf eingehen zu können, will ich am Rand bemerken, dass diese unterschiedlichen Formen von Richtigkeiten in der menschlichen Praxis irreduzibel miteinander verquickt sind. Gerade ästhetische Praktiken lassen sich ohne diese Verquickung nicht begreifen. Vgl. hierzu nochmals Bertram, Sprache und das Ganze, 5. Kap. Ich will dezidiert darauf hinweisen, dass ich »Selbstbestimmung« nicht in einem kantischen Sinn als ausschließlich individuell begreife, sondern mein Begriff der Selbstbestimmung auch kollektive Formen der Selbstbestimmung kennt.

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gibt es hier Unterschiede in der Praxis: In wissenschaftlichen Diskussionen und Beziehungsstreitigkeiten zum Beispiel werden wir eher Sprechweisen als solche beachten und sie mit explikativen Sprechakten begleiten. In alltäglichen Sprechsituationen ist dies nicht gleichermaßen der Fall. Ich schlage nun vor, verstehende Auseinandersetzungen mit Kunstwerken analog zu explikativen Sprechakten zu verstehen. So wie explikative Sprechakte Äußerungen eines bestimmten Typs prägen, so prägen verstehende Auseinandersetzungen mit Kunstwerken Praktiken eines bestimmten Typs in der Welt, zum Beispiel bestimmte körperlich-motorische Praktiken. Bestimmte körperlichmotorische Artikulationen, die wir in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken entwickeln, prägen bestimmte körperlich-motorische Aktivitäten in der sonstigen Welt. Die Bewegungen, die wir körperlich beim Gang durch die Straßen vollziehen, sind so zum Beispiel von rhythmischen Bewegungen in der Auseinandersetzung mit einem Musikstück bestimmt. Die Wahrnehmungsaktivitäten in der Betrachtung eines Straßenbildes sind es entsprechend von den Wahrnehmungsaktivitäten, die ein Gemälde uns abnötigt. Entsprechendes gilt auch für sprachliche Praktiken: Auch hier werden sprachliche Praktiken der sonstigen Welt durch die sprachlichen Artikulationen, die ein Kunstwerk von uns fordert, geprägt. Die Auseinandersetzungen mit Kunstwerken bringen uns so dazu, andere Praktiken in anderer Weise durchzuführen. Allerdings ist die Selbstbestimmung, die durch diese Auseinandersetzungen zustande kommt, anders beschaffen als diejenige, die explikative Sprechakte im oben angedeuteten Sinn herstellen. Explikative Sprechakte zielen auf eine Beherrschung bestimmter Praktiken in festen Formen. Hier fällt die Prägung von Praktiken so aus, dass diese Praktiken aufgrund der Prägung an selbstgesetzter Stabilität gewinnen. Verstehende Auseinandersetzungen mit Kunstwerken hingegen etablieren neue Spielräume für Praktiken. Pauschal gesagt: Bei ihnen fällt die Prägung von Praktiken so aus, dass die Praktiken aufgrund der Prägung ein innovatives Potential gewinnen. Ich habe damit den Begriff ästhetischer Eigenschaften folgendermaßen bestimmt. Ästhetische Eigenschaften sind Eigenschaften von Gegenständen, die uns bestimmte Aspekte der Welt auf neue Weise erfahren lassen. Kunstwerke sind Gegenstände, die in spezifischer Weise eine Veränderung der Strukturierung von Erfahrung anstoßen. Spezifisch für diesen Anstoß ist, dass die Gegenstände, von denen er ausgeht, komplexe Zusammenhänge von Elementen aufweisen. Die Gegenstände fordern, in diesen komplexen Zusammenhängen erfasst zu werden. Sie lassen sich in diesem Sinn (nach Goodman) als selbstexemplikativ beziehungsweise (nach Adorno) als automimetisch begreifen. Die verstehenden Auseinandersetzungen, die solche Gegenstände fordern, führen zu einer Veränderung von Weisen, die Welt wahrzunehmen beziehungsweise zu erfahren. Diese Veränderung ist selbstgesetzt, da Kunstwerke selbstgesetzte Gegenstände sind und da die Auseinandersetzung mit ihnen immer auch aus eigener Aktivität heraus (und damit im weitesten Sinn selbstbestimmt) verläuft. Damit unterscheiden sich ästhe-

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tische Eigenschaften von Eigenschaften anderer Gegenstände oder Ereignisse, die auch zu Veränderungen von Weltsichten führen. Ästhetische Eigenschaften sind Eigenschaften von Gegenständen besonderer Selbstbestimmungspraktiken. Der Begriff der ästhetischen Eigenschaften bleibt ohne diese Verortung ästhetischer Praktiken im geistigen Haushalt des Menschen unverständlich.

3. Die Objektivität der Künste Nachdem ich den Begriff der ästhetischen Eigenschaften so weit geklärt habe, kann ich nun daran gehen, eine Antwort auf die Frage nach der Objektivität von Kunst zu geben, also die Frage zu beantworten, inwiefern ästhetische Eigenschaften als objektiv begriffen werden können. Diese Antwort aber, so zeigt sich nun, kann nicht direkt ausfallen. Sie kann erst dadurch gegeben werden, dass man betrachtet, wie das Ästhetische den Begriff der Objektivität der Welt mitkonstituiert. In der Art und Weise, wie durch ästhetische Praktiken die Objektivität der Welt mit eröffnet wird, lässt sich auch die Objektivität ästhetischer Eigenschaften begreifen. Um diesen Zusammenhang verständlich zu machen, komme ich erst noch einmal auf die Analogie von verstehenden Auseinandersetzungen mit Kunstwerken und explikativem Sprachgebrauch zurück, die ich im zurückliegenden Abschnitt eingeführt habe. Ich habe explikativen Sprachgebrauch oben als ein Medium der Weiterentwicklung und Disziplinierung sonstigen Sprachgebrauchs charakterisiert. Als ein solches Medium erfüllt explikativer Sprachgebrauch aber noch eine andere Funktion: Er eröffnet eine Perspektive auf die Objektivität der Welt. Dies leistet explikativer Sprachgebrauch dadurch, dass er das Verhältnis sprachlicher Ausdrücke zueinander und zu Aspekten der Welt zu thematisieren erlaubt. Erst in dem Moment, in dem sprachliche Ausdrücke in ihrem Verhältnis zur Welt thematisiert werden können, wird der Begriff der Objektivität des Gegenständlichen verständlich 30 – und wird es zugleich möglich zu erläutern, wie ein Subjekt der Welt gegenüber kognitiv verantwortlich zu sein vermag: Das Subjekt kann die eigenen Überzeugungen an dem Tribunal gegenständlicher Objektivität messen. Die Objektivität des Gegenständlichen ist das, was von sprachlichen Ausdrücken erfasst wird, was aber auch von ihnen verfehlt werden kann. Genau eine solche 30

Indirekt lässt sich dieser Zusammenhang an Davidsons Erläuterung der Triangulation als eines notwendigen Moments wechselseitiger sprachlicher Interpretation und damit sprachlichen Verstehens überhaupt nachvollziehen. Davidson argumentiert, dass erst aus der Perspektive von Überzeugungen zweiter Stufe (Überzeugungen, die man in Bezug auf Überzeugungen ausbildet) der Begriff der »objektiven Wahrheit« und damit der Begriff der Objektivität verständlich wird, und legt dann dar, dass in wechselseitiger sprachlicher Interpretation stets Überzeugungen zweiter Stufe (Überzeugungen in Bezug auf die Überzeugungen des anderen, dessen Äußerungen interpretiert werden) im Spiel sind (Vernünftige Tiere, S. 179ff.).

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Unterscheidung lässt sich dadurch etablieren, dass man Äußerungen prägt wie: »Was du gesagt hast, ist wahr.« oder »Man kann mit diesem Ausdruck nicht das artikulieren, was du artikulieren willst.« etc. Der realistische Standpunkt in Bezug auf Sprache erweist sich also als ein Standpunkt einer reflexiven Praxis in Bezug auf das Verhältnis von Sprache und Welt. 31 Ich will mich nun wieder ästhetischen Praktiken zuwenden. Wenn ich sie jetzt noch einmal von der Analogie zu explikativem Sprachgebrauch zu verstehen vorschlage, dann geht es mir um ein Argument, das ich als Argument von der Gewinnung von Objektivität mittels ästhetischer Praktiken bezeichnen kann. Der Ausgangspunkt dieses Arguments ist die These, dass ästhetische Praktiken (verstehende Auseinandersetzungen mit Kunstwerken) als reflexive Praktiken verstanden werden müssen. Sie prägen, so habe ich im zweiten Abschnitt dieses Textes dargelegt, sonstige Praktiken in der Welt. Aus der Analogie mit explikativem Sprachgebrauch heraus sind genau solche reflexiven Praktiken nun so zu verstehen, dass sie die Objektivität der Welt verständlich machen. Alltägliche Praktiken werden durch die Praktiken in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken als solche thematisiert, die die Welt zu erfassen, sie aber auch zu verfehlen vermögen. Es gilt dabei genauso für eine körperlich-motorische Praktik wie für eine Wahrnehmungsaktivität, dass sie der Welt gegenüber angemessen oder unangemessen auszufallen vermag. Diese Alternative aber wird erst aus der Perspektive verständlich, aus der heraus entsprechende Praktiken thematisiert werden. Und eine entsprechende Thematisierung ist in verstehenden Auseinandersetzungen mit Kunstwerken gegeben. Nun sind, wie dargelegt, nicht alle verstehenden Auseinandersetzungen mit Kunstwerken sprachlich verfasst. Die reflexive Gewinnung von Objektivität vollzieht sich entsprechend auch in Form nichtsprachlicher Artikulationen. Wie dies zu denken sein könnte, will ich an einem Beispiel erläutern: Die Auseinandersetzung mit einer besonderen Bildsprache wie derjenigen Cézannes reflektiert andere optische Wahrnehmungen zum Beispiel als unangemessen, da zum Beispiel der farblichen Reichhaltigkeit der Welt keine Beachtung geschenkt wird. Diese Reflexion führt günstigstenfalls zu einer Weiterentwicklung optischer Wahrnehmungsprak31

Hier kann ich einen Aspekt meiner Kritik an McDowells Position verständlich machen: McDowells Begriffsrealismus ist davon geprägt, dass er entsprechende Aussagen trifft, ohne die Position einzuholen, von der aus ihm dies möglich ist. Letztlich expliziert McDowell die zweite Natur von Begriffsbenutzern unter Aussparung des für diese irreduziblen reflexiven Standpunkts (ich kann auch sagen, dass er Letzteren unerläutert voraussetzt: vgl. z.B. »Die Tradition ist der reflektierenden Veränderung durch jede Generation unterworfen, die sie von der vorhergehenden erbt.« [Geist und Welt, S. 153]). Aus diesem Grund kann er auch den Status seiner eigenen Überlegungen nicht verständlich machen und verwirrt seine Leser damit, dass er für sich einen wittgensteinianischen Quietismus reklamiert, dabei aber irgendwie doch konstruktive Philosophie betreibt etc. Solche Irritationen lassen sich nur dann vermeiden, wenn die Möglichkeit, einen realistischen Standpunkt zu beziehen und zu verteidigen, selbst einsichtig gemacht wird – was McDowell nicht leistet.

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tiken derart, dass diese Praktiken dem Gegenständlichen gerecht werden. Insofern kann man sagen, dass ein Gemälde von Cézanne ein etabliertes Verständnis von Wahrnehmungsobjekten kritisiert. Unter diesen Vorzeichen entwickelt eine Rezipientin günstigstenfalls ein neues Verständnis der objektiven Wahrnehmungswelt. Eine solche Weiterentwicklung impliziert ein Verständnis der Angemessenheit beziehungsweise Unangemessenheit von Wahrnehmungspraktiken in Bezug auf das, worauf diese sich als Objektives beziehen. Und genau ein solches Verständnis wird von den reflektierenden Wahrnehmungen gestiftet. Wer in der Auseinandersetzung mit Cézannes Gemälde entsprechende Wahrnehmungsaktivitäten entwickelt, gewinnt damit ein Verständnis für die Angemessenheit beziehungsweise Unangemessenheit von Wahrnehmungsaktivitäten in Bezug auf die Beschaffenheit des Gegenständlichen und damit ein Verständnis für Objektivität. An diesem Punkt nun kann ich endlich zu ästhetischen Eigenschaften zurückkommen. Dabei ist es hilfreich, die Analogie zwischen explikativem Sprachgebrauch und ästhetischen Praktiken noch einen Schritt weiter zu treiben. Es gilt, dass erst aus der ästhetischen Reflexion von Wahrnehmungsaktivitäten (und anderen Aktivitäten) heraus die Objektivität ästhetischer Eigenschaften verständlich gemacht werden kann. 32 Dass ein Gedicht eine spezifische Struktur aufweist, die dem Verstehen Widerstände entgegenbringt, und dass diese Struktur dennoch objektive Forderungen an die Wahrnehmung oder die sprachliche Artikulation stellt; dass ein Gemälde eine unüberschaubare Komplexität oder Erhabenheit aufweist, die dem Sehen jeden Halt verweigert: All dies lässt sich ohne Rekurs auf einen reflexiven Standpunkt nicht erläutern. Da ästhetische Praktiken nun wiederum in sehr unterschiedlichen Typen von Praktiken vonstatten gehen (da Kunstwerke nicht allein sprachlich verstanden werden), bedarf es auch hier eines reflexiven Standpunkts, der in Bezug auf solch unterschiedliche Typen von Praktiken ein Verständnis von Objektivität zu gewinnen erlaubt. Und genau dies ist in ästhetischen Praktiken der Fall. Ästhetische Praktiken, so hat sich in den vorangehenden Überlegungen gezeigt, sind mit einem besonderen reflexiven Standpunkt verbunden. Die Reflexion zielt hier nicht auf die beherrschende Bestimmung von Praktiken, sondern auf die innovative Prägung derselben. Eine solche Prägung reflektiert Objektivität, wobei man diese Reflexion, wie gesehen, mit dem Kriterium der Angemessenheit beziehungsweise Unangemessenheit gegenüber dem Objektiven erläutern kann. Ästhetische Praktiken sind so mit einer Perspektive verbunden, die auch eine Auseinandersetzung mit der Objektivität der Beschaffen32

Diese These hat in sehr grundsätzlicher Weise Adorno vertreten, der davon spricht, dass ästhetische Erfahrungen als Erfahrungen vom »Vorrang des Objekts« verstanden werden müssen (Ästhetische Theorie, S. 166 u.a.). Adorno allerdings erläutert diesen Vorrang so, dass er in der Erfahrung subjektiver Ohnmacht besteht. Damit gelingt ihm keine plausible Erläuterung ästhetischer Praktiken, was wiederum zur Folge hat, dass Adorno den reflexiven Sinn dieser Praktiken nicht in den Blick bekommt.

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heit von Kunstwerken beziehungsweise von ästhetischen Geschehnissen erlaubt. 33 Man kann es so sagen: Die Artikulationen, die man in Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk entwickelt, reflektieren die unterschiedlichen Widerstände, die ein Kunstwerk allen artikulierenden Aktivitäten entgegensetzt. Diese Widerstände aber sind nichts anderes als ästhetische Eigenschaften. So wird in ästhetischen Praktiken als reflexiven Praktiken eine Haltung begründet, die ästhetische Eigenschaften als objektiv zu begreifen erlaubt. Ich komme somit zu dem Ergebnis, dass die Objektivität ästhetischer Eigenschaften nur von der ästhetischen Reflexion ästhetischer Gegenstände (verstehender Auseinandersetzungen in Form unterschiedlicher Aktivitäten) her verstanden werden kann. Dieses Ergebnis macht aus meiner Sicht verständlich, warum die Frage dieser Objektivität so vertrackt ist. Es ist wie immer, wenn Reflexion ins Spiel kommen muss, damit die Dinge verständlich werden: Man gewinnt zuerst den Eindruck, dass ästhetische (oder allgemeiner gesagt: kulturelle) Praktiken in Selbstbeschäftigung versinken. Wenn man über diesen Eindruck hinweggelangt ist, beginnt man allerdings zu sehen, dass die Reflexion gerade nicht auf Selbstbeschäftigung hinausläuft, sondern darauf, einen Sinn für die Objektivität der Welt zu gewinnen. Nur ein reflexiver Realismus vermag ästhetische Eigenschaften als objektive Eigenschaften verständlich zu machen. Mit einem Realismus dieser Spielart schließt man an die Kantische Einsicht an, dass erst subjektive Formen – bei Kant: ein Apparat kategorialer Begriffe – Beschaffenheiten der Welt als objektiv zu verstehen erlauben. Diese Einsicht allerdings wird dahingehend (man kann sagen: im Sinne Hegels) neu gefasst, dass bestimmte (in Traditionen entwickelte) Praktiken als Basis entsprechender Formen begriffen werden. Ich komme damit zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück. Ausgegangen bin ich von der Kantischen Bestimmung des Ästhetischen als einer Reflexion der selbstbestimmten Weltbegegnung des Menschen. Diese Bestimmung habe ich dafür kritisiert, dass sie weder die Objektivität der Welt noch die Objektivität ästhetischer Eigenschaften verständlich macht. Ich habe nun einen Begriff der Reflexion im Sinne Kants reformuliert, der diese Defizite beseitigt. Die ästhetische Reflexion konstituiert sich, so habe ich argumentiert, über die spezifischen Eigenschaften von Kunstwerken, die eine Rezipientin in eine besondere Form von Auseinandersetzung bringen. Diese Auseinandersetzung führt zu Aktivitäten, die einen Bezug auf die objektive Beschaffenheit der Welt ermöglichen. In dieser Art und Weise leistet die ästhetische Reflexion genau das, was Kant sich von ihr verspricht: Sie reflektiert die Selbstbestimmtheit der menschlichen Auseinandersetzung mit der Welt. In dieser Reflexion allerdings bleiben diejenigen, 33

Diese Reflexion schlägt sich nicht zuletzt in der Entwicklung der Künste darin nieder, dass diese sich aneinander abarbeiten. Die Intermedialität und »Verfransung« (Adorno) der Künste (vgl. dazu u.a. Eichel, Avantgarde) hat unter anderem die Bedeutung von Reflexionen ästhetischer Gegenständlichkeiten, mittels deren ein Sinn für deren Objektivität entwickelt bzw. verändert wird.

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Georg W. Bertram

die ästhetische Erfahrungen machen, nicht bei sich. Sie öffnen sich gerade in ihren spezifischen Aktivitäten den unabhängig von ihnen gegebenen Beschaffenheiten der Welt. Ästhetische Praktiken entwickeln in unterschiedlichen Aktivitäten Formen, mittels deren ein Sinn für die Objektivität der Welt – und damit auch für die Objektivität ästhetischer Eigenschaften – konstituiert wird. Sie sind somit Teil einer reflexiven Artikulation des Weltverhältnisses und artikulieren nicht direkt die Welt als solche. So wird verständlich, dass die Alternative nicht greift, das Ästhetische entweder als selbstzweckhaft 34 oder als weltbezogen 35 zu explizieren. Pointiert gesagt: Ästhetische Praktiken sind in ihrer Selbstzweckhaftigkeit weltbezogen. Um dies sagen zu können, ist es erforderlich, die reflexive Struktur dieser Praktiken verständlich zu machen. Ästhetische Praktiken sind Praktiken, mittels deren sich ein Selbstbewusstsein in Bezug auf unterschiedliche Typen von Praktiken der Auseinandersetzung mit der Welt konstituiert und somit auch ein Selbstbewusstsein in Bezug auf unterschiedliche Dimensionen der Objektivität dieser Welt. 36

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970. Bertram, Georg W.: »Der Zusammenhang von Sprache und Objektivität im semantischen Holismus oder Wie überlebt der Empirismus unter den Bedingungen des Holismus?«. In: Die Artikulation der Welt. Die Rolle der Sprache für das menschliche Denken, Wahrnehmen und Erkennen, hg. von Georg W. Bertram, u.a. Frankfurt a.M. 2006, S. 187–207. Ders.: Die Sprache und das Ganze. Versuch einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist 2006. Ders.: »Kunst und Alltag. Von Kant zu Hegel und darüber hinaus«. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, im Erscheinen. Ders.: »Sprache als Explikation von Sprache. Warum die Philosophischen Untersuchungen über eine Gebrauchstheorie der Bedeutung hinausweisen«. In: Philosophisch-theologische Anstöße zur Urteilsbildung, hg. von Norbert C. Baumgart und Gerhard Ringshausen. Münster 2007, S. 31–43. Ders.: »Was die Kunst der Philosophie zu denken gibt«. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 34, 2009, S. 79–97. 34

35 36

Die Selbstbezüglichkeitsthese ist in die neuere Diskussion unter anderem gebracht worden von: Bubner, Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik. Neuere Positionen finden sich bei: Seel, Ästhetik des Erscheinens; Menke, Souveränität der Kunst. Vgl. zu einer entsprechenden Position vor allem Goodman, Sprachen der Kunst, 6. Kapitel. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Netzwerk-Tagung in Greifswald im November 2008, besonders Maria E. Reicher und Gerhard Ernst, für gute und hilfreiche Diskussionen und Manuel Scheidegger für viele produktive Kommentare zu vorigen Versionen dieses Textes.

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Bubner, Rüdiger: »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«. In: Ästhetische Erfahrung, hg. von ders. Frankfurt a.M. 1989, S. 9–51. Davidson, Donald: »Vernünftige Tiere«. In: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv, hg. von ders. Frankfurt a.M. 2004, S. 167–185. Eichel, Christine: Vom Ermatten der Avantgarde zur Vernetzung der Künste, Frankfurt a.M. 1998. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst, Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1995. Ders.: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 1984. Ders.: Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt a.M. 1987. Hegel, Georg W. F.: Vorlesungen über die Ästhetik I . In: Werke, hg. von Eva Moldenhauer/ Karl M. Michel. Frankfurt a.M. 1970, Band 13. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe, Band III, Frankfurt a.M. 1977. Ders.: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, Band X, Frankfurt a.M. 1977. Korsgaard, Christine: »Personale Identität und die Einheit des Handelns: eine kantianische Antwort auf Parfit«. In: Personale Identität, hg. von Michael Quante. Paderborn 1999, S. 195–237. Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst, Frankfurt a.M. 1991. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. McDowell, John: »Ästhetischer Wert, Objektivität und das Gefüge der Welt«. In: Wert und Wirklichkeit. Aufsätze zur Moralphilosophie, hg. von ders. Frankfurt a.M. 2002, S. 179–203. Ders.: »Anti-Realism and the Epistemology of Understanding«. In: Meaning and Understanding, hg. von Herman Parret. Berlin 1981, S. 225–248. Ders.: Geist und Welt, Paderborn 1998. Ders.: »Tugend und Vernunft«. In: Wert und Wirklichkeit. Aufsätze zur Moralphilosophie, hg. von ders. Frankfurt a.M. 2002, S. 74–106. Noë, Alva: Action in Perception, Cambridge/MA 2004. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München 2000. Todes, Samuel: Body and World, Cambridge/MA 2001.

4. WIRKLICHKEIT UND WAHRNEHMUNG DES GUTEN

Andreas Trampota

TUGEND ALS WAHRNEHMUNGSPOTENZIAL Der Begriff der ethischen Wahrnehmung in tugendethischen Konzeptionen Der Beitrag von Andreas Trampota diskutiert den Begriff der ethischen Wahrnehmung, der in der Tugendethik, die gegenwärtig eine Renaissance erlebt, eine prominente Rolle spielt. Spätestens mit der These Kants, dass das im moralischen (d.h. unbedingten) Sinne Gute ein von unseren Vernunftbegriffen abgeleiteter Begriff ist, ist dieser Begriff aber problematisch geworden. Alles, was wir als moralisch gut bezeichnen, – so die These – muss zunächst einmal als solches erkannt werden und das sei nur möglich, indem wir es mit unserem Ideal der sittlichen Vollkommenheit vergleichen. Im Rahmen einer solchen Moralkonzeption ist also nicht einsichtig, wie das moralisch Gute zum Gegenstand einer unmittelbaren Erfahrung werden könnte. In einem zweiten Schritt wird dann der Frage nachgegangen, warum in einem aristotelisch konzipierten Modell der praktischen Vernunft, an das viele zeitgenössische Tugendethiker anknüpfen, die Annahme einer gewissen Unmittelbarkeit der ethischen Wahrnehmung durchaus sinnvoll ist. Möglich wird das durch die deutlich anderen erkenntnis- und handlungstheoretischen Weichenstellungen. Vor allem geht man hier von einer stärkeren Wechselwirkung zwischen Streben und Erkennen aus. Allerdings sollte die sich dadurch nahelegende spontane ethische Wahrnehmung nicht im Sinne einer intuitionistischen Wesensschau verstanden werden. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Form von Situations- und Gestaltwahrnehmung, für die durch vernünftiges Überlegen der Boden bereitet werden muss. Die tugendhaften charakterlichen Dispositionen, die einer solchen Wahrnehmung ermöglichend zugrunde liegen, sind sowohl motivational (konativ) als auch kognitiv wirksame Kräfte. Auf dem Hintergrund dieser in den Bereich der praktischen Epistemologie gehörenden Überlegungen wird schließlich nach den ontologischen Implikationen einer solchen Konzeption gefragt. Verschiedene Autoren (unter ihnen John McDowell) haben auf die realistische Komponente dieses tugendethischen Modells hingewiesen. Vieles spricht dafür, dass man auch in der Ethik von objektiven Gegebenheiten bzw. Sachlagen ausgehen kann, die unserer Wahrnehmung offenstehen und, wenn das entsprechende Wahrnehmungspotenzial durch Erziehung und Selbsterziehung in uns entfaltet wird, eine entsprechende moralische Reaktion bei uns hervorrufen. Sie sollen gewährleisten, dass die ethische Wahrnehmung eine feste ontologische Verankerung in den Strukturen unserer menschlichen Lebenswelt bekommt.

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Andreas Trampota

Die Fragwürdigkeit der Rede von einer Wahrnehmung des Guten Es bietet sich an, einen Aufsatz zum Begriff der Wahrnehmung des Guten mit kritischen Überlegungen zu beginnen, die zunächst einmal auf das Problematische dieser Redeweise hinweisen und die was den Sinn eines solchen Sprachgebrauchs anbelangt äußerst skeptisch stimmen. Am deutlichsten hat diese Kritik vielleicht Immanuel Kant im zweiten Abschnitt seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zum Ausdruck gebracht, 1 wo er u. a. im Kontext von Bemerkungen über den Wert von Vorbildern (er spricht von ›Beispielen‹ und ›Exempeln‹) im Bereich der Moral die These formuliert, dass das im moralischen, d. h. unbedingten Sinne Gute kein Gegenstand einer (direkten, unmittelbaren) Anschauung ist, sondern von unseren Begriffen der Sittlichkeit bzw. der sittlichen Vollkommenheit abgeleitet werden muss, deren Original (bzw. Muster) in der Vernunft liegt. 2 Alles, was wir als moralisch gut bezeichnen, muss zunächst – so die Pointe der entsprechenden Textabschnitte – als solches erkannt werden, und das ist nur möglich, indem wir es mit unserem Ideal der sittlichen Vollkommenheit vergleichen. Und auf die Frage, woher wir das haben, antwortet Kant: »Lediglich aus der Idee, die die Vernunft a priori von sittlicher Vollkommenheit entwirft und mit dem Begriffe eines freien Willens unzertrennlich verknüpft.« 3 Diese Position, der zufolge das im moralischen Sinne Gute ein von unseren Vernunftbegriffen der Sittlichkeit abgeleiteter Begriff ist, 4 hat erhebliche Konsequenzen, und zwar nicht nur im Bereich abstrakter philosophischer Theoriebildung, sondern auch im Bereich der Moralpädagogik. Das kommt schon in einem prägnanten Satz im gerade erwähnten Textabschnitt der Grundlegung zum Ausdruck, wo es heißt: Nachahmung findet im Sittlichen gar nicht statt, und Beispiele [Vorbilder, A.T.] dienen nur zur Aufmunterung, d.i. sie setzen die Thunlichkeit dessen, was das Gesetz gebietet, außer Zweifel, sie machen das, was die praktische Regel allgemeiner ausdrückt, anschaulich, können aber niemals berechtigen, ihr wahres Original, das in der Vernunft liegt, bei Seite zu setzen und sich nach Beispielen zu richten. 5

Vorbilder dienen also in der Moralerziehung nur dazu, (1). das, was die praktische Regel allgemein ausdrückt, zu veranschaulichen und (2.) uns zu ihrer Befolgung zu ermutigen, indem sie die Durchführbarkeit (»Thunlichkeit«) dieser Forderungen 1

2 3 4 5

Kants Werke werden jeweils mit Band und Seitenzahl der Akademieausgabe (AA) zitiert. Folgende Siglen werden verwendet: ›GMS‹ für Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, ›KpV ‹ für Kritik der praktischen Vernunft, ›KU ‹ für Kritik der Urteilskraft und ›TL‹ für Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (Erster Teil der Metaphysik der Sitten). Vgl. GMS, AA 04: 408f., 443. GMS, AA 04: 409. Siehe auch KpV , AA 05: 62f. GMS, AA 04: 409.

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aufzeigen. Ganz ähnlich, aber etwas detaillierter äußert Kant sich zu dieser Thematik dann auch in der ethischen Didaktik seiner Methodenlehre in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, wo er schreibt: Was aber die Kraft des Exempels (es sei zum Guten oder Bösen) betrifft, was sich dem Hange zur Nachahmung oder Warnung darbietet, so kann das, was uns Andere geben, keine Tugendmaxime begründen. Denn diese besteht gerade in der subjectiven Autonomie der praktischen Vernunft eines jeden Menschen, mithin daß nicht Anderer Menschen Verhalten, sondern das Gesetz uns zur Triebfeder dienen müsse. Daher wird der Erzieher seinem verunarteten [missratenen, A.T.] Lehrling nicht sagen: Nimm ein Exempel an jenem guten (ordentlichen, fleißigen) Knaben! denn das wird jenem nur zur Ursache dienen, diesen zu hassen, weil er durch ihn in ein nachtheiliges Licht gestellt wird. Das gute Exempel (der exemplarische Wandel) [Lebenswandel, A.T.] soll nicht als Muster, sondern nur zum Beweise der Thunlichkeit des Pflichtmäßigen dienen. Also nicht die Vergleichung mit irgend einem andern Menschen (wie er ist), sondern mit der Idee (der Menschheit), wie er sein soll, also mit dem Gesetz, muß dem Lehrer das nie fehlende Richtmaß seiner Erziehung an die Hand geben. 6

Man könnte hier noch ergänzen: Nicht nur für den Lehrer und den Erzieher soll das Moralgesetz, das sich unter den Vernunftbegriffen findet, und nicht ein anschauliches Beispiel in der phänomenalen Welt das Richtmaß sein, sondern auch für den, der erzogen wird. Auch er soll lernen (das ist ein wesentliches Ziel des ganzen Erziehungsprozesses), sich nicht an irgendwelchen anschaulichen Vorbildern zu orientieren, sondern an der Regel und der Anweisung, die er in Form des kategorischen Imperativs in seiner eigenen Vernunft vorfindet. Er hat es nicht nötig, diese Regel seines Verhaltens aus der Erfahrung oder durch die Unterweisung von anderen zu lernen, sondern in letzter Konsequenz ist es seine eigene Vernunft, die ihn lehrt und ihm gebietet. 7 Am deutlichsten wird diese Kernthese von Kants praktischer Epistemologie, wonach das moralisch Gute kein Gegenstand einer unmittelbaren Erfahrung sein kann, sondern von unseren Vernunftprinzipien abgeleitet werden muss, vielleicht an jener Stelle in der Grundlegung, wo er schreibt, dass selbst der »Heilige des Evangelii« (das ist der Name, den Kant vorzugsweise für die Person verwendet, die im Zentrum des christlichen Glaubens steht) erst mit unserem Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden muss, bevor man ihn als sittlich vollkommen erkennt. Und um den Sinn dieses Gedankens dem bibelfesten Christen plausibel zu machen, verknüpft er ihn dann noch mit der ausdeutenden Paraphrase eines Schriftzitats aus dem Markusevangelium: 8 »[…] was nennt ihr mich (den ihr sehet) gut? niemand ist gut (das Urbild des Guten) als der einige Gott (den ihr

6 7 8

TL, AA 06: 479f. Vgl. TL, AA 06: 481. Vgl. Mk 10,18.

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Andreas Trampota

nicht sehet).« 9 Auch hier wieder der nachdrückliche Hinweis, dass das sittlich Gute kein Gegenstand der Erfahrung ist. Es gibt keine unmittelbare Wahrnehmung des Guten. Wir können nur das als moralisch gut bezeichnen, was wir nach Prinzipien der Moralität beurteilt haben. Dieses Modell der praktischen Vernunft, das den ethischen Reflexions- und Entscheidungsprozess sehr stark von der phänomenalen Psyche des Menschen absetzt, indem sie ihn von der Sinnlichkeit weg an den Gerichtshof der Vernunft zieht, 10 scheint keinen Raum zu lassen für eine Phänomenologie der Werte und für Werterfahrungen, für die z. B. John McDowell eintritt. Natürlich gibt es auch in der kantischen Philosophie eine Brücke zur phänomenalen Welt in Form der Urteilskraft, die zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen in beide Richtungen vermittelt. 11 Außerdem behauptet Kant ja auch, dass es zusätzlich zur reinen Moralphilosophie noch eine empirische Anthropologie brauche. Dessen ungeachtet verbleibt die ethische Reflexion bei ihm aber mit durchaus guten Gründen auf der Ebene des Allgemeinen. Es ist kein Zufall, dass sie bei Maximen ansetzt, also bei praktischen Regeln mit einem mittleren Abstraktionsgrad, und diese auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin prüft. Das sittliche Handeln ist bei Kant ein freies Handeln, und dieses lässt sich seinerseits nur als ein vernünftiges, Prinzipien-geleitetes Handeln verstehen. Die zentrale Stellung der Freiheitsproblematik in Kants Moralphilosophie verlangt eine absolute Transzendenz des moralischen Werts gegenüber der Welt des phänomenalen Bewusstseins. Kant setzt also die Schwelle für die Erkenntnis des sittlich Guten ganz bewusst oberhalb der Wahrnehmung an, nämlich auf der Ebene der mittleren Abstraktion. Die reine praktische Vernunft ist nicht in der phänomenalen Welt der Einzeldinge tätig. Und im Kontext einer derartigen Konzeption der praktischen Vernunft von einer Wahrnehmung des Guten zu sprechen, ergibt keinen Sinn – jedenfalls dann nicht, wenn man damit den unmittelbaren Charakter dieser Erfahrung unterstreichen will.

Der Wahrnehmungsbegriff in der aristotelischen Tugendethik Eben diese unmittelbare Form von Wahrnehmung spielt aber in zeitgenössischen tugendethischen Konzeptionen, von denen viele in der aristotelischen Tradition des praktischen Denkens stehen, eine wichtige Rolle. Es gibt eine ganze Reihe von Autoren in dieser Denktradition (Martha Nussbaum, John McDowell, Lawrence Blum, Nancy Sherman, David Wiggins …), bei denen der Wahrnehmungsbegriff 9 10 11

GMS, AA 04: 408. Vgl. GMS, AA 04: 443.24–25. Vgl. GMS, AA 04: 389; KU , AA 05: 179f. Siehe dazu auch: Trampota, Autonome Vernunft? .

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oder eng damit verwandte Begriffe, von denen ich im Folgenden noch einige nennen werde, an prominenter Stelle auftauchen. Als Leitprinzip für dieses Modell der praktischen Vernunft könnte das Diktum des Aristoteles gelten: 12 ›Das ethische Urteil liegt in der Wahrnehmung‹ (der einzelnen Handlungsumstände). 13 Während der moralische Wert bei Kant einer ganz anderen Ordnung angehört als das Wahrgenommene, kann in den tugendethischen Konzeptionen aristotelischer Provenienz moralischer Wert im wahrgenommenen Einzelnen (in den konkreten Handlungsumständen) erfasst werden. Dass das möglich ist, hat mit dem aristo¯ telischen Begriff der praktischen Vernunft (phronesis) zu tun. Dabei handelt es sich nämlich um eine Form von Vernunft, die auf verschiedenen epistemologischen Ebenen und in verschiedenen anthropologischen Dimensionen tätig ist. Sie ¯ in ihrer Funktion, das ist sowohl auf der Ebene des Allgemeinen (die phronesis ¯ in Allgemeine zu erfassen) als auch auf der Ebene des Besonderen (die phronesis ihrer Funktion, das Besondere zu erfassen) wirksam, und nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch im affektiven. 14 Für Kant manifestiert sich das sittliche Bewusstsein erst in der aktiv-reflexiven Anstrengung der praktischen Vernunft (in der Reflexion über Maximen) und nicht wie bei Platon und Aristoteles auch in einer unreflektierten Weise in spontanen (d. h. nicht diskursiv herleitbaren) Urteilen und auch in bestimmten spontanen Affekten (mit einem bestimmten propositionalen Gehalt). Im Folgenden soll gezeigt werden, wie das möglich ist und was man sich in diesem Zusammenhang unter einer ethischen Wahrnehmung vorzustellen hat. Dabei geht es nicht nur darum, die Sinnhaftigkeit dieser Konzeption aufzuzeigen, sondern auch darum, sie von naheliegenden (intuitionistischen) Missverständnissen zu befreien. Das aristotelische Modell der praktischen Vernunft, so hatten wir festgestellt, geht von anderen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen aus als das kantische und erlaubt es deshalb, von ethischer Wahrnehmung zu sprechen. Es gibt eine andere Antwort auf die Frage, wie das sittlich Gute erkannt wird. Die Grundidee dieser tugendethischen Konzeption könnte man folgendermaßen ausdrücken: Der Charakter eines Menschen kommt sowohl in dem zum Ausdruck, was er tut, als auch in dem, was er sieht. Die Tugend ist bei Aristoteles in erster Linie eine Disposition, die auf Entscheidung ausgerichtet ist. 15 Sie muss also, wenn sie echt ist, zu Entscheidungen führen. Aber einem solchen Entscheidungsakt (prohairesis), der in der aristotelischen Tugendethik ganz zentral ist, geht ein bestimmter Wahrnehmungsakt voraus, der ebenfalls ein Ausdruck des Charakters eines Menschen 12

13 14

15

Bei Verweisen auf die Nikomachische Ethik (NE) des Aristoteles werden jeweils Buch (römische Ziffer), Kapitel (arabische Ziffer) und Bekker-Zahl genannt. Vgl. NE II-9 1109b23: »[…] en t¯e aisth¯esei h¯e krisis.« Dass das möglich ist, hat mit der Dreiteilung der Seele in die Bereiche logos, alogos und logon echon zu tun. Vgl. NE II-6 1106b36: »hexis prohairetik¯e«.

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ist. Der Leitgedanke von tugendethischen Konzeptionen ist, dass eine gute ethische Entscheidung eine gute charakterliche Verfassung in Form von unterschiedlichen Charaktertugenden voraussetzt. Und diese Verfasstheit des menschlichen Strebevermögens prägt sowohl das, was jemand unter bestimmten, konkreten Umständen im ethischen Sinne wahrzunehmen vermag, als auch die Entscheidung, die daraus resultiert. Der Grundgedanke des Wahrnehmungsmodells der Tugend (also jener tugendethischen Konzeption, die den kognitiven Aspekt der Tugend stark macht) ist also, dass nicht erst der Entscheidungsakt, sondern bereits der vorausgehende Wahrnehmungsakt ein Ausdruck des Charakters eines Menschen ist. Wenn Aristoteles in der Nikomachischen Ethik sagt, Taten seien wie Kinder, weil der Mensch auf dieselbe Weise Ursprung und Erzeuger seiner Handlungen ist, wie er das in Bezug auf seine Kinder ist, 16 gilt das in gewisser Weise auch für seine ethischen Wahrnehmungen. Auch von ihnen könnte man sagen, dass sie von derselben Art bzw. Form sind wie der Mensch selbst. Auch sie sind ein Ausdruck seines Charakters. Das, was jemand sieht oder nicht sieht, bzw. das, was er zu sehen vermag oder nicht zu sehen vermag (sein Wahrnehmungspotenzial), ist eine Manifestation seines Charakters. Freilich geht es hier nicht um die ganz gewöhnlichen, trivialen Wahrnehmungen (wie die eines Baumes, vor dem ich stehe), sondern um ein Sehen mit dem ¯ psyches ¯ omma), das – wie Aristoteles im 6. Buch der Niko›Auge der Seele‹ (to tes machischen Ethik sagt – seine richtige Disposition (hexis) nicht ohne die Gutheit des Charakters erhält. 17 Die Rede vom Auge der Seele klingt beim ersten Hören vielleicht ein wenig esoterisch, 18 ist aber im aristotelischen Kontext alles andere als das, wie hoffentlich im Folgenden deutlich wird. Wenn in tugendethischen Konzeptionen von ethischer Wahrnehmung die Rede ist, geht es um sehr voraussetzungsreiche Wahrnehmungen, die auf vielfältige Weise an Erfahrung und Reflexion rückgebunden sind und bestimmte Lebensformen reflektieren. 19 Von welcher Art sind diese Voraussetzungen?

Die erkenntnis- und handlungstheoretischen Weichenstellungen Wie bereits ansatzweise deutlich wurde, interessiert sich die aristotelische Ethik hauptsächlich für den Akt der ethischen Entscheidung darüber, was hier und jetzt (unter bestimmten, gegebenen Umständen) zu tun ist, und für die appetitiven und kognitiven Voraussetzungen einer solchen Entscheidung (bzw. des Entschei16 17 18 19

Vgl. NE III-7 1113b18ff. Vgl. NE VI-13 1144a29f. Platon war offenbar der Erste, der diese Metapher verwendet hat: Vgl. Politeia, 533d. Vgl. Honneth/Seel, Einleitung, S. 27f.

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dungsprozesses, der ihr vorausgeht). Eben diese dauerhaften und verlässlichen Dispositionen, die den Charakter eines Menschen prägen und dazu beitragen, dass er richtige Entscheidungen trifft, heißen bei Aristoteles ›Tugenden‹. Die entscheidende erkenntnistheoretische Weichenstellung scheint mir die zu sein, dass es bei der Erörterung dieser konativen und kognitiven Vorbedingungen guter Entscheidungen zu einer Verschränkung dieser beiden Aspekte kommt. Die praktische Vernunft operiert nicht in einem Raum ungetrübter Klarheit; es gibt starke Wechselwirkungen zwischen dem Kognitiven und dem Appetitiven (Affektiven), und zwar in beide Richtungen. Unsere emotionalen Dispositionen können unsere Wahrnehmung der Welt auch und gerade in ethischer Hinsicht steigern oder mindern. Und die Welt, die wir wahrnehmen, hat umgekehrt auch einen Einfluss auf unsere emotionalen Dispositionen, indem sie z. B. unsere tugendhafteren Antriebe stärkt oder schwächt. Wie die Tätigkeit der praktischen Vernunft durch das Zusammenspiel von Streben und Erkennen geprägt ist, wird deutlich, wenn man sich die aristotelische Handlungstheorie anschaut. In diesem Zusammenhang ist es äußerst erhellend, zunächst das Handeln von Tieren ganz allgemein zu betrachten, bevor man sich dem spezifisch menschlichen Handeln zuwendet. Nach Auffassung des Aristoteles ist das tierische Handeln durch zwei Faktoren geprägt, einerseits durch das Begehren und andererseits durch die Wahrnehmung. 20 Das gilt – wie gesagt – für alle Tiere, nicht nur für den Menschen. Bei allen Tieren begründen die Dispositionen, die ihnen durch ihre spezifische Form von Begehrungsvermögen vorgegeben sind, ein anfängliches aktives Interesse oder Desinteresse an bestimmten Arten von allgemeinen Gegenständen. Dem entsprechend stehen z. B. bestimmte Gegenstände für potentielle Gefahren, andere hingegen für potentielle Nahrungsquellen und wieder andere für potentielle Fortpflanzungspartner. Mit den appetitiven Dispositionen bestimmter Tierarten ist eine allgemeine kognitive Offenheit für bestimmte Arten von Gegenständen gegeben. Man kann also sagen: Die appetitiven Dispositionen der Tiere disponieren sie kognitiv dazu, ihre Umgebung in einer bestimmten Weise wahrzunehmen. Auch beim menschlichen Tier wird das Handeln durch das Zusammenspiel von Streben und Erkennen gesteuert, allerdings fällt das bei ihm wesentlich komplexer aus. Im Falle des Menschen ist das Begehren nicht eine Begierde, sondern ein Wunsch. 21 Im Unterschied zur Begierde, die unmittelbar durch die Wahrnehmung des sinnlich Angenehmen hervorgerufen wird, ist das Wünschen eine Form des Strebens, die von der Vorstellung eines Guts geleitet wird. 22 Und dieser Wunsch wird durch eine bestimmte Art der Wahrnehmung von Einzeldingen (eine Wahrnehmung, welche die konkreten Handlungsumstände betrifft) in eine bestimmte 20 21 22

Vgl. Broadie, Ethics, S. 251. Vgl. ebd., S. 232. Vgl. Ricken, Lustbegriff , S. 58f.

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durchführbare Handlung verwandelt. Die Konversion von Wunsch in Handlung findet allerdings nicht unmittelbar statt, sondern wird beim Menschen durch den überlegenden Verstand bewirkt, der eine konkrete Situation so ›wahrnimmt‹, dass der Charakter des Akteurs seiner spezifischen Natur gemäß (und nicht nur aufgrund angeborener Dispositionen) darauf reagiert. Der Mensch ist eine besondere Art ¯ Sein Handeln geht aus einem ›denkenden Streben‹ bzw. von Ursprung (arche). einem ›strebenden Denken‹ hervor. 23

Keine intuitionistische Wesensschau Der Grund, weshalb es so wichtig ist, dem handlungstheoretischen Kontext der aristotelischen Tugendethik große Aufmerksamkeit zu schenken, ist folgender: Aus diesem Blickwinkel wird deutlich, dass der Gegenstand der ethischen Wahrnehmung das Einzelne-Besondere ist, 24 aber diese Wahrnehmung des Partikulären im Lichte von Allgemeinem erfolgt. Deshalb hat z. B. Richard Sorabji Recht, wenn er die ethische Wahrnehmung wie folgt charakterisiert: »Perceiving what to do in particular circumstances in the light of knowledge of something more universal.« 25 Mit anderen Worten: In der ethischen Wahrnehmung wird eine konkrete Handlungssituation mit den für sie charakteristischen spezifischen Handlungsumständen als Instanz einer allgemeinen Wertvorstellung betrachtet. Das muss nachdrücklich betont werden, weil eine Reihe von Interpreten dieser Wahrnehmung eine stark intuitionistische Deutung gegeben haben. 26 Was zu dieser intuitionistischen Lesart einlädt, ist die Tatsache, dass Aristoteles genau an der Stelle des ¯ ethischen Reflexions- und Entscheidungsprozesses von ›Wahrnehmung‹ (aisthesis) spricht, an der er nicht mehr diskursiv dargelegt werden kann. Das mit der Wahrnehmung verbundene Urteil ist das letzte Glied einer praktischen Reflexionskette und kann, weil es als solches auch mit dem Einzelnen und Besonderen (dem Letzten, wie Aristoteles sagt) zu tun hat, nicht mehr bewiesen oder begründet werden. Damit wird anerkannt, dass das Urteil über das richtige Handeln nicht vollständig durch rationale Überlegung bestimmt werden kann. Und diese Tatsache scheint eine intuitionistische Deutung nahezulegen.

23 24

25 26

Vgl. NE VI-2 1139b4f. Die Dispositionen des Begehrungsvermögens, von denen zuvor die Rede war, beziehen sich hingegen auf allgemeine Gegenstände. Sorabji, Aristotle, S. 114. Hervorhebung von mir (A.T.) ergänzt. John Burnet, Harold H. Joachim und Bernard H. Baumrin gehören zu ihnen. Vgl. hierzu die Debatte in Apeiron X (1976), XI (1977) und XIII (1979), an der sich Lawrence J. Jost (Aristotle), Rex Martin (Intuitionism) und Roger A. Shiner (Ethical Perception) beteiligt haben. Siehe auch: Dirlmeier, Nachwort, S. 459.

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Gegen diese Interpretation spricht aber, dass diese Wahrnehmung am Ende eines Reflexionsprozesses steht. Es muss also zunächst einmal durch vernünftige Überlegung der Boden für sie bereitet werden. Der ethische Reflexions- und Entscheidungsprozess mündet am Ende in eine Wahrnehmung, in der erfasst wird, dass eine bestimmte Handlungsweise die richtige Reaktion auf eine bestimmte Situation ist, die im Hinblick auf das Ziel des guten Handelns (der eupraxia) betrachtet wird. Und die Richtigkeit dieses Aktes kann weder bewiesen noch begründet werden; er lässt sich nicht aus irgendwelchen Prinzipien ableiten, weil er sich nicht mehr in explizierbare Überlegungsschritte zerlegen lässt. Das ist der Grund für die Rede von einer (direkten, unmittelbaren) ethischen Wahrnehmung. Aber diese Wahrnehmung steht ungeachtet ihrer Unableitbarkeit am Ende eines vernünftigen Überlegungsprozesses und damit in einem rationalen Kontext. Im Zuge dieses Prozesses werden die in den verschiedenen Tugenden enthaltenen Wertvorstellungen (Tapferkeit, Selbstbeherrschung, Freigebigkeit, Gerechtigkeit …) im Hinblick auf verfügbare Handlungsmöglichkeiten artikuliert. Er mündet schließlich am Ende in die Wahrnehmung eines konkreten Handlungsentwurfs, von dem man annimmt, dass er zusammen mit den expliziten Überlegungskomponenten die angezielte Gestalt des guten Handelns (der eupraxia) ergibt. 27 Die Wahrnehmungen, die das letzte Glied eines Reflexionsprozesses sind, können genauso wenig begründet werden wie die obersten Axiome der theoretischen Wissenschaften. Gemäß der aristotelischen Wissenschaftstheorie werden sowohl die obersten-allgemeinsten Prinzipien der theoretischen Wissenschaften als auch das Letzte-Besondere im praktischen Reflexionsprozess von einem intuitiven geistigen Vermögen namens nous unmittelbar erfasst; aber nicht in einem erfahrungsfreien Raum, sondern auf der Grundlage von empirischem Wissen. 28 In der Ethik kommt es vor allem auf das Letzte-Einzelne an. Das muss der mit praktischer Vernunft ausgestattete Mensch erfassen, um handeln zu können. 29 Schließlich soll die praktische Vernunft in der aristotelischen Ethik zum Handeln führen, und nicht nur zum Nachdenken über Handeln. Die ethischen Reflexionen zielen letztlich darauf, dass der Handelnde selbst das im Hinblick auf seine Situation (den kairos) Angemessene erwägt, wie es auch die Mediziner und Seeleute tun. 30 Man sollte also der Vorstellung entgegenwirken, dass es sich bei der ethischen Wahrnehmung, von der Aristoteles spricht, um etwas Esoterisches handelt. Ich denke z. B. an Simon Blackburns polemische Rede von einer »cultivation of a

27 28 29 30

Vgl. Wolf, Aristoteles, S. 153. Vgl. NE VI-8 1142a23–30. Vgl. NE VI-12 1143a34–45. Vgl. NE II-2 1104a9.

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mysterious ability to spot the immutable fitnesses of things« 31 im Zuge seiner Auseinandersetzung mit anti-projektivistischen Moralkonzeptionen wie der John McDowells. Das in der ethischen Wahrnehmung enthaltene Urteil ist nicht deduktiv ableitbar und hat insofern einen intuitiven Charakter. Aber dieses Urteil wird einerseits durch den Deliberationsprozess der praktischen Vernunft vorbereitet, über den sich einiges sagen lässt. Und andererseits ist diese Urteilsfähigkeit sehr stark an Erfahrung rückgebunden. Man solle, schreibt Aristoteles, die unbewiesenen Aussagen und Meinungen der Erfahrenen und Älteren ebenso beachten wie Beweise, weil sie ein durch Erfahrung geschärftes Auge haben und deshalb richtig sehen. 32 Wenn man also den Eindruck vermeiden will, dass es sich bei der ethischen Wahrnehmung um etwas Mysteriöses handelt, ist es sinnvoll, auf den rationalen Überlegungskontext hinzuweisen, in dem die ethische Wahrnehmung steht. Der erklärt dann auch, warum diese Wahrnehmung es nicht nur mit Einzeldingen zu tun hat, sondern auch mit Allgemeinem, in dessen Licht diese betrachtet werden.

Die Analogie mit einer bestimmten Form von geometrischer Wahrnehmung Bedauerlicherweise gibt uns Aristoteles nicht ein einziges Beispiel für die Art von Wahrnehmung, die den im praktischen Sinne Weisen (den Menschen mit praktischer Vernunft, der bei ihm phronimos heißt) kennzeichnet, bzw. für deren propositionalen Gehalt. Und die Meinungen darüber, wie diese ausfällt, gehen deutlich auseinander. 33 Zu dem Wenigen, was Aristoteles selbst zur näheren Charakterisierung dieser Form von Wahrnehmung beiträgt, mit der wir es hier zu tun haben, gehört die von ihm vorgeschlagene Analogie mit einer bestimmten Art von geometrischer Wahrnehmung. 34 Er schreibt, dass man sich die ethische Wahrnehmung nicht wie die spezielle Wahrnehmung vorstellen dürfe, also z. B. wie das Sehen von Farben und das Hören von Tönen. Vielmehr handele es sich dabei um eine Wahrnehmung wie die, wenn man wahrnimmt, dass das Letzte in der Geometrie das Dreieck ist. Vermutlich hat er dabei den Prozess der Analyse einer komplizierten geometrischen Figur in eine einfachere vor Augen, mit der man die Konstruktion der komplizierten Figur beginnen kann. Für eine solche Analyse gibt es keine Standardprozedur. Deshalb wird das Erfassen des Dreiecks als letzter Schritt des Analyseprozesses von Aristoteles als eine Form von Wahrnehmung beschrieben, als ein intuitiver Akt, der nicht mehr in Sätzen erklärbar 31 32 33 34

Blackburn, Rule-Following, S. 186. Vgl. NE VI-12 1143b12-14. Vgl. z.B. Kenny, Aristotelian Ethics, S. 172; Woods, Intuition and Perception, S. 157. Vgl. NE VI-8 1142a25ff.

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ist. Es handelt sich dabei wie bei der gewöhnlichen Wahrnehmung um eine nichtdiskursive Fähigkeit, um eine unmittelbare (unvermittelte) Form des Erfassens. Allerdings ist bei dieser geometrischen Wahrnehmung immerhin noch eine Form von gewöhnlicher (sinnlicher) Wahrnehmung impliziert, nämlich das Sehen eines Dreiecks. Das ist bei der ethischen Wahrnehmung nicht der Fall. Hier bleibt nur noch die sekundäre Bedeutung von Wahrnehmung erhalten, also das unmittelbare intuitive Erfassen in einem rationalen Kontext. Eben das ist das charakteristische Merkmal dieser Wahrnehmung. Sie befähigt uns dazu, die moralischen Werte zu erfassen, um die es in ganz konkreten Handlungssituationen geht, und zwar bis zu dem Punkt, wo wir sie handelnd realisieren können.

Situations- und Gestaltwahrnehmung Es handelt sich bei dieser Form von Wahrnehmung, von der Aristoteles in der Nikomachischen Ethik spricht, in erster Linie um eine Form von ethischer Situationswahrnehmung. Da es um ein Handeln geht, das eine angemessene Reaktion auf eine konkrete Situation mit den für sie charakteristischen Eigenschaften ist, geht es bei dieser Wahrnehmung ganz wesentlich um eine situative Einschätzung. Man könnte also – David Wiggins folgend – den Tugendhaften als jemanden charakterisieren, der an konkrete Handlungssituationen mit einem weiten Spektrum an Empfindungsfähigkeiten herangeht, aufgrund deren er in der Lage ist, Anliegen und Erwägungen an sie heranzutragen, die dazu beitragen, sie zu erhellen. 35 In ähnlicher Weise charakterisiert auch Dunne die ethische Wahrnehmung als eine Kreativität des Geistes (resourcefulness of the mind), die in konkreten Situationen, in denen es um ethische Werte geht, aktiviert wird und in einzigartiger Weise auf sie reagiert. 36 Und man sollte an dieser Stelle vielleicht noch ergänzen, dass Aristoteles die Auffassung vertritt, dass es zwar in jeder Situation viele Arten gibt, das Richtige zu verfehlen, aber nur eine, es zu treffen. 37 Die ethische Wahrnehmung ist bei Aristoteles aber nicht nur eine Form von Situationswahrnehmung, sondern sie ist ganz wesentlich auch eine Form von Gestaltwahrnehmung. Denn ¯ die Wahrnehmung, in der die praktische Vernunft (phronesis) auf der konkreten Ebene besteht, hat gewissermaßen einen doppelten Bezugspunkt. Durch sie soll erfasst werden, welche Handlung unter den gegebenen Umständen das Leben des Handelnden im Ganzen gut macht. Die situationsbezogene Angemessenheit ist also nur ein Aspekt, auf den es ankommt; er betrifft – wie Nikolai Hartmann das nennt – die reale Seinsbestimmtheit der Tugend, das ontologische Bestimmungsstück des sittlichen Werts. Die ethischen Werte müssen zu den Real35 36 37

Vgl. Wiggins, Deliberation, S. 233f. Vgl. Dunne, Back, S. 272. Vgl. NE II-5, 1106b28–36.

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strukturen des menschlichen Lebens passen, zu seinen Nöten, Befürfnissen und Aufgaben. Diese ontologischen Gegebenheiten gehen seinem ethischen Freiheitsgebrauch voraus. 38 Der andere, axiologische Aspekt ist, dass die Handlungsoption zur kontinuierlichen Selbstgestaltung der Person im Hinblick auf das praktische Ziel des guten Handelns (der eupraxia) passen soll. 39 Dabei handelt es sich in der Sprache Hartmanns um das axiologische Bestimmungsstück des sittlichen Werts. Die Kunst besteht also darin, im Hinblick auf die konkreten Umstände eine Handlung zu finden, die das Personsein des Handelnden so prägt, dass sein Leben im Ganzen gut wird. Eine andere Möglichkeit, den Gestaltcharakter dieser Wahrnehmung zu beschreiben, ist die von John McDowell, der die ethische Wahrnehmung als eine Wahrnehmung charakterisiert, die eine bestimmte Situation im Licht von bestimmten hervorstechenden Tatsachen betrachtet, die ihre Gestalt repräsentieren. Abhängig davon, im Hinblick auf welche dieser Tatsachen wir die Situation sehen, werden wir bewogen, uns an diesem oder jenem Anliegen (concern) zu orientieren. Dieses Modell geht davon aus, dass es in einer bestimmten Situation mehr als eine hervorstechende Tatsache geben kann und man folglich auch zu unterschiedlichen Sichtweisen bewogen werden kann, die unterschiedliche Anliegen nahelegen. 40 Welche der beiden Interpretationen dem aristotelischen Modell besser gerecht wird, oder ob sie möglicherweise beide wichtige Elemente davon thematisieren, muss hier nicht weiter verfolgt werden, weil unter systematischer Rücksicht beide wichtig sind. Und beide unterstreichen, dass bei der ethischen Wahrnehmung in jedem Fall Allgemeines im Spiel ist, in dessen Licht das Einzelne wahrgenommen wird. Die Struktur dieser Wahrnehmung ist, dass x als Einzelfall von y wahrgenommen wird, wobei y für eine allgemeine Moralvorstellung steht. Dass dieses Allgemeine ins Spiel kommen kann, dazu braucht es aus aristotelischer Sicht die entsprechenden charakterlichen Ressourcen. Es ist unmöglich, im praktischen Sinne vernünftig zu sein (ein phronimos zu sein), ohne über die entsprechenden emotionalen Dispositionen in Form von Charaktertugenden zu verfügen, die gewährleisten, dass die Ziele richtig sind, von denen wir uns bei unserem praktischen Überlegen leiten lassen.

38 39 40

Vgl. Hartmann, Wertdimensionen, S. 200, S. 207, S. 212. Vgl. Wolf, Aristoteles, S. 153. Vgl. McDowell, Wert und Wirklichkeit, S. 98ff.

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Der perzeptive, motivationale und behaviorale Aspekt der Tugend Weil wir dauerhafte und verlässliche habituelle Dispositionen, die den Charakter eines Menschen ausmachen und dazu beitragen, dass er richtige Entscheidungen trifft, ›Tugenden‹ nennen, möchte ich auf dem Hintergrund des Gesagten dafür plädieren, dass man den Wahrnehmungsbegriff (einen epistemischen Begriff) in die Definition des Tugendbegriffs einbezieht. Demnach wären Tugenden Charaktereigenschaften, die dauerhafte und verlässliche habituelle Dispositionen (a) perzeptiver, (b) motivationaler und (c) behavioraler Art darstellen, die dazu beitragen, dass wir das Richtige tun. Eine Tugend ist folglich ein dreifacher Habitus: Ein Habitus, der uns dazu disponiert, (a) handlungsrelevante Situationen in einer bestimmten Weise zu sehen, wobei dabei möglicherweise schon emotionale Dispositionen wirksam werden, (b) dadurch in einer ganz bestimmten Weise zum Handeln motiviert zu sein und (c) dann auch entsprechend zu handeln. 41 Wichtig an dieser Definition des Tugendbegriffs ist, dass sie den Begriff der Wahrnehmung einschließt, also ein kognitives Element. Denn derjenige, der tugendhaft ist, verfügt nicht nur über bestimmte emotionale Ressourcen, die in bestimmten Situationen Einfluss nehmen und ihn dazu motivieren, das Richtige zu tun. Sondern er sieht bestimmte Situationen, in denen er sich zum Handeln herausgefordert fühlt, auch anders als jemand, der diese Tugenden nicht hat. Die Tugenden sind also – so die These – nicht nur motivational, sondern auch kognitiv wirksame Kräfte. Und deshalb meine ich, dass der klassische Traktat der Charaktertugenden in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles erst vollständig ist, wenn im 6. Buch der ¯ Nikomachischen Ethik die praktische Vernunft (die phronesis) behandelt wird: diejenige Verstandestugend (die einzige Verstandestugend, die in der Ethik relevant ist), die »unter wechselnden Umständen zuverlässig, phantasievoll und umsichtig Chancen und Erfordernisse des Handelns aufweist, die den ethischen Tugenden 42 hier und jetzt zum Zug verhelfen« 43. Um z. B. in einer bestimmten Situation zu wissen, was ›tapfer sein‹ oder ›in angemessener Weise zornig sein‹ konkret bedeutet, bedarf es der ethischen Wahrnehmung, die durch Aufmerksamkeit, affektive Dispositionen, Lebenserfahrung und eine ausgeprägte Vorstellungskraft gestützt wird. Eben diese Fähigkeit heißt bei Aristoteles ›Wahrnehmung‹.

41 42 43

Eine ähnliche Definition findet sich in: Harman, Virtue Ehics. Das sind die Charaktertugenden. Müller, Tugend? , S. 27.

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Die ethische Wahrnehmung und ihre ontologischen Implikationen Wenn in der Ethik vom ›Sehen‹ oder der ›Wahrnehmung‹ die Rede ist, dann ist das – wie wir gesehen haben – in einem ganz spezifischen und tiefgründigen Sinn zu verstehen. Es geht dann nicht um ein Sehen im Sinne einer passiv-rezeptiven Fähigkeit zur Aufnahme von ›Sinnesdaten‹ oder Ähnlichem, sondern um ein Sehen, das am aktiv-kreativen Potenzial der menschlichen Vorstellungskraft (und in Verbindung damit auch am sprachlichen Potenzial) partizipiert. Die moralische Wirklichkeit, die erfasst werden soll, geht über die Fakten der gewöhnlichen sinnlichen Erfahrungswirklichkeit hinaus. Und deshalb braucht es eine starke und feine Vorstellungskraft, um diese Wirklichkeit zu erfassen. Im Unterschied zum Sehen im trivialen Sinn genügt es beim ethischen Sehen nicht, dass man einfach seine Augen öffnet. Nicht-vernünftige (a-rationale) Kräfte emotionaler und instinktiver Art, die aber keineswegs irrational sein müssen, haben einen starken Einfluss auf diese Fähigkeit. Es handelt sich dabei nicht um etwas rein Kognitives. Die Tugendethik legt die Annahme verschiedener Stufen der Wirklichkeitserkenntnis nahe, die in der Stärke der ethischen Sehkraft begründet sind. Aus ihrer Sicht ist die Richtigkeit des Handelns in einem bestimmten Lebensbereich eine Sache der angemessenen Situationswahrnehmung. Ziel der Entfaltung des Tugendpotenzials ist die Fähigkeit, der ethischen Wirklichkeit, mit der wir konfrontiert werden, sehenden Auges gerecht zu werden. Diese Konzeption ist freilich nicht unproblematisch, weil in ihr zum einen das Vertrautsein mit einer bestimmten Lebenspraxis, in die man hineinwächst (hinein sozialisiert wird) und die dem moralischen Akteur zur zweiten Natur geworden ist, eine wichtige Rolle spielt und weil zum anderen das Idealbild des vollkommen Tugendhaften (des phronimos) den letzten Maßstab der Objektivität darstellt. Er ist derjenige, der jede Situation in einer für ihn charakteristischen Weise sieht und dem entsprechend handelt. 44 Die ethischen Überzeugungen, die dabei eine Rolle spielen, lassen sich – wie John McDowell das ausdrückt – nicht kodifizieren. Hinzu kommt die schwierige Frage nach den ontologischen Implikationen einer solchen Moralkonzeption. So ist z. B. der, welcher über die Tugend der Tapferkeit (oder der Zivilcourage) verfügt, derjenige, der zu erkennen vermag, dass er mit einer Situation konfrontiert ist, in der es auf Tapferkeit ankommt. Welche Ontologie wird derartigen ›moralischen Tatsachen‹, die der Tugendhafte

44

Vgl. dazu McDowell, Wert und Wirklichkeit, S. 105: »Von Gelegenheit zu Gelegenheit weiß man, was man tun soll, sofern man es überhaupt weiß, aber man weißt es nicht dadurch, dass man allgemeine Prinzipien anwendet, sondern dadurch, dass man eine bestimmte Art von Person ist: jemand, der Situationen in einer bestimmten, für ihn bezeichnenden Weise sieht.«

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wahrnimmt, am besten gerecht, wenn es sich dabei nicht um bloße Projektionen handeln soll? Eine Stärke der aristotelischen Konzeption ist, dass die Wertvorstellungen, die in die ethische Wahrnehmung einfließen, nicht vom Himmel fallen. Sie haben eine feste personale Verankerung in Form der Charaktertugenden. Aber die müssen zunächst einmal durch Gewöhnung in den Charakter ›eingepflanzt‹ werden. Das erklärt die große Bedeutung, die der Erziehung und Selbsterziehung in der Tugendethik zukommt. Eine weitere Stärke dieser Konzeption ist, dass sie (wie ich bereits zuvor angedeutet habe) die Unterscheidung zwischen Fakten und Werten nicht völlig aufhebt. Trotz des Zusammenspiels zwischen konativen und kognitiven Faktoren im Bereich der praktischen Vernunft gibt es in der aristotelischen Ethik m. E. eine Unterscheidung zwischen Sein und Wert. Es geht um den Umgang mit der empirisch gegebenen Welt, die uns in unterschiedlichen Lebensbereichen vor unterschiedliche Aufgaben stellt. Tapfer oder feige sein kann man z. B. nur da, wo es angesichts von Bedrohungen Furcht und Zuversicht gibt. Beherrscht oder zügellos sein, kann man nur, wo der rechte Umgang mit den eigenen Leidenschaften verlangt ist. Und freigebig und knauserig sein kann man nur in dem Lebensbereich, in dem es um den Umgang mit Geld oder anderen Wertgegenständen geht. Es gibt also eine durch die spezifischen Lebens- und Handlungsbereiche unserer menschlichen Lebenswelt vorgegebene Seinsstruktur, an die die ethische Reflexion anknüpft. Auf diese realistische Komponente der Tugendethik legt auch John McDowell großen Wert. Allerdings hat es in seinem Denken, das eine Entflechtung von Fakten und Werten ablehnt, damit eine andere Bewandtnis. So schreibt er z. B.: The ethical is the domain of rational requirements, which are there in any case, whether or not we are responsive to them. We are alerted to these demands by acquiring appropriate conceptual capacities. When a decent upbringing initiates us into the relevant way of thinking, our eyes are opened to the very existence of this tract of the space of reasons. Thereafter, our appreciation of its detailed layout is indefinitely subject to refinement, in reflective scrutinity of our ethical thinking. We can so much as understand, let alone seek to justify, the thought that reason makes these demands on us only at a standpoint within a system of concepts and conceptions that enables us to think about such demands, that is, only at a standpoint from which demands of this kind seem to be in view. 45

McDowell meint also, dass es vernünftige, ethische Forderungen gibt, die auch unabhängig davon da sind, ob wir sensibel dafür sind. Sie sind zwar nicht in derselben Weise existent, in der es primäre Sinnesqualitäten sind, weil ihre Existenz von unserer spezifisch menschlichen Form von praktischer Subjektivität abhängig ist. Es handelt sich dabei also nicht um Entitäten, die man ohne weiteres als ›geist-

45

McDowell, Mind and World, S. 82.

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unabhängig‹ charakterisieren könnte. Aber ihre geistige Existenz ist unabhängig von der Wahrnehmungsfähigkeit des einzelnen Menschen. 46 Es spricht vieles dafür, dass man auch im ethischen Bereich von objektiven Gegebenheiten bzw. Sachlagen ausgehen kann, die unserer Wahrnehmung offenstehen und – wenn es uns gelingt, dieses Wahrnehmungspotenzial zu aktualisieren – eine entsprechende Reaktion bei uns hervorrufen. Man denke z. B. an die biblische Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter aus dem Lukasevangelium, die in der christlich-abendländischen Tradition einen prägenden Einfluss auf das Moralverständnis hatte. 47 Sie erzählt davon, wie nacheinander ein Priester, ein Levit und ein Samariter einen von Räubern ausgeplünderten und schwer verwundet am Wegrand liegen gelassenen Menschen sehen, aber nur der letzte von den dreien sich seiner erbarmt, seine Wunden versorgt und sich um ihn kümmert. Diese realitätsbezogene und objektivierende Redeweise von ethischen Wertvorstellungen, 48 die sie an bestimmten Objekten der Wahrnehmung festmacht, die dadurch gewissermaßen zum Träger dieser Werte werden, ist ein Gegengewicht zu einer Form der ethischen Reflexion, für welche die Wirklichkeit keine Reibungsfläche darstellt, weil sie sich ganz in einen subjektiven Innenraum zurückgezogen hat. In diesem Sinne ist auch die Analogie zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen zu verstehen, auf die u. a. Iris Murdoch hingewiesen hat: We might say […] that art is an excellent analogy of morals, or indeed that it is in this respect a case of morals. We cease to be in order to attend to the existence of something else, a natural object, a person in need. We can see in mediocre art, where perhaps it is even more clearly seen than in mediocre conduct, the intrusion of fantasy, the assertion of self, the dimming of any reflection of the real world. It may be agreed that the direction of attention should properly be outward, away from self […] 49

So wie in der Kunst das Kunstobjekt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht und ihm dadurch hilft, sich selbst zu vergessen, so gibt es auch ethische ›Gegenstände‹ (eine Situation, die Zivilcourage fordert etc.), die im Idealfall diese Wirkung auf uns haben. Aber auch im Kontext der antiken Ethik, die uns diese Vorstellung einer Wahrnehmung des Guten erschlossen hat, – und damit komme ich auf die eingangs erwähnte Kritik Kants am Begriff der ethischen Wahrnehmung und dem Nachahmungsmodell der Tugend zurück – ist die Reaktion auf eine bestimmte Situation, die zum Handeln auffordert, nichts Mechanisches, sondern etwas, das aus einer souveränen und spontanen Entscheidung der praktischen Vernunft hervorgeht. Bereits Aristoteles hat nachdrücklich betont, dass die echte Tugend etwas ganz anderes ist als die natürliche Tugend, die bloß durch Gewöhnung erworben wird 46 47 48 49

Vgl. McDowell, Wert und Wirklichkeit, S. 225f. Vgl. Lk 10, 25–37. In der Erzählung vom barmherzigen Samariter geht es um den Wert der Hilfeleistung in der Not. Murdoch, Sovereignty, S. 59.

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und deshalb ziemlich unflexibel ist. 50 Und McDowell, der Aristoteles in vielem folgt, legt Wert darauf, dass das, was uns unsere moralische Sensibilität nahelegt, nichts ist, was uns einfach vorgegeben wird und folglich jenseits unserer Freiheit liegt. 51 McDowells ethischer Internalismus ist ein Versuch, einerseits den erwähnten ethischen Realismus sehr stark zu machen, der nachdrücklich betont, dass die moralischen Forderungen ein fundamentum in re in bestimmten Handlungsumständen haben, andererseits aber auch die Freiheit sehr ernst zu nehmen, die uns im Bereich der praktischen Gründe eröffnet wird. Ihm geht es also um eine Konzeption der praktischen Vernunft, die eine feste ontologische Verankerung in den Strukturen der menschlichen Lebenswelt hat, aber im Umgang damit ganz frei ist. Das soll dadurch gewährleistet werden, dass der motivierende Handlungsgrund in dieser Konzeption unsere Auffassung der Tatsachen ist, die eine konkrete Situation ausmachen, in der wir uns moralisch zum Handeln aufgefordert erfahren, und nicht ein unabhängig davon gegebenes und verständliches Begehren. Wenn wir uns also das, was uns unsere moralische Sensibilität nahelegt, nicht als etwas vorstellen dürfen, das von der Spontaneität unserer Vernunft unabhängig ist, dann muss die Beurteilung und Kritik dessen, was uns durch diese ethische Form der Sinnlichkeit empfohlen wird, so im begrifflichen Bereich durchgeführt werden, dass sich in ihr ebenfalls eine Offenheit für Gründe zeigt. 52 Die mit der Domäne der Gründe einhergehende Freiheit ist eine Freiheit, die dadurch entsteht, dass allgemeine Anliegen mit dem perzeptiv-evaluativen Einzelnen eine Verbindung eingehen. Das erklärt, warum das Wirkliche unweigerlich zu etwas Normativem wird, 53 und im Falle der Objekte der ethischen Wahrnehmung zu etwas, das uns sagt, was wir tun sollten.

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Nico Scarano

HANDLUNGSORIENTIERUNG STATT WAHRHEITSSUCHE? Epistemologie der Moral vom Standpunkt einer antirealistischen Metaethik

Antirealistische Metaethiken gehen davon aus, dass es keine moralischen Tatsachen gibt. Demnach können moralische Urteile nicht in einem strikten Sinn wahr oder falsch sein. Wie lässt sich dann erklären, dass bezüglich moralischer Fragen rationale Argumentationen möglich sind? Auf welchen Grundlagen beruht die Epistemologie der Moral? Der Weg für die Beantwortung dieser Frage zeigt sich über eine Vergegenwärtigung der Funktion moralischer Überzeugungen. Sie dienen in erster Linie der Handlungsorientierung. Offensichtlich besteht ihre Hauptfunktion darin, sowohl unser eigenes Handeln als auch das Verhalten anderer Personen zu bewerten. Dies führt zur Vermutung, der Begriff der Kohärenz spiele eine wesentliche Rolle, um Rechtfertigungen im Bereich der Moral zu verstehen. Demnach bildet nicht die Wahrheit, sondern die Kohärenz unserer moralischen Überzeugungen der Bezugspunkt für Argumentationen und Erkenntnis im Bereich der Moral. Diesem Gedanken geht der vorliegende Beitrag nach. Im ersten Teil werden zunächst die Grundzüge einer antirealistischen Metaethik skizziert. Der zweite Teil arbeitet dann den systematischen Ort des Kohärenzbegriffs innerhalb eines solchen Ansatzes heraus. Schließlich befasst sich der dritte Teil mit der ethischen Theoriebildung. Dabei geht es auch um die Möglichkeit eines moralischen Universalismus und um die epistemische Relevanz der Wahrnehmung des moralisch Guten und Schlechten. »das Ziel ist hier nicht Erkenntnis, sondern Handeln« Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095a5

Unsere moralischen Überzeugungen sind zugänglich für Rechtfertigung und rationale Kritik. Ohne Zweifel gibt es so etwas wie richtige und falsche Antworten auf moralische Fragen. Wir scheinen die Fähigkeit zu haben, das moralisch Gute und Schlechte direkt wahrzunehmen. Und wir entwickeln ethische Theorien, die

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Nico Scarano

uns in unserem moralischen Überlegen unterstützen. Eine zentrale Aufgabe jeder Moraltheorie besteht darin, diese zwar vertrauten, aber in hohem Maß erklärungsbedürftigen Phänomene verständlich zu machen. Im vorliegenden Beitrag soll es darum gehen, auf welche Weise sich diese epistemologischen Phänomene vom Standpunkt einer antirealistischen Metaethik verstehen lassen. 1 Realismus-Antirealismus-Debatten handeln von der Existenz bzw. Nichtexistenz bestimmter Arten von Tatsachen. Dies gilt auch für die Metaethik. Realistische Metaethiken gehen davon aus, dass es moralische Tatsachen gibt, während antirealistische Theorien deren Existenz verneinen. Im Zentrum dieser Debatte steht demnach eine ontologische These. Die ontologischen Annahmen der beiden Kontrahenten haben allerdings auch weitreichende semantische und epistemologische Implikationen. 2 Die wichtigste semantische Implikation des metaethischen Antirealismus besteht darin, dass moralische Urteile nicht in einem strikten Sinn wahr oder falsch sein können. Denn laut antirealistischer Annahme gibt es keine Tatsachen, die diese Urteile wahr oder falsch machen. Dass moralische Urteile nicht wahrheitsfähig sind, hat nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die Epistemologie der Moral, das heißt auf das Teilgebiet der Metaethik, das sich mit der Frage nach der Erkennbarkeit von Moral bzw. der Rechtfertigbarkeit moralischer Urteile befasst. Während realistische Metaethiken wie selbstverständlich davon ausgehen, dass es bei der Rechtfertigung moralischer Urteile um die Frage nach deren Wahrheit geht, steht diese Annahme den antirealistischen Positionen nicht zur Verfügung. Sie haben ein völlig anderes Verständnis von moralischer Rechtfertigung. Aber was kann Rechtfertigung überhaupt heißen, wenn es dabei nicht um die Wahrheit der moralischen Urteile geht? Für eine erste Annäherung an die Beantwortung dieser Frage ist es von Nutzen, sich die Funktion moralischer Überzeugungen zu vergegenwärtigen. Wozu dienen sie? Offensichtlich besteht ihre Hauptfunktion darin, sowohl unser eigenes Handeln als auch das Verhalten anderer Personen zu bewerten. Moralische Überzeugungen legen fest, was getan und was unterlassen werden soll. Sie dienen in erster Linie der Handlungsorientierung. In diesem Punkt unterscheiden sie sich nicht von anderen Arten von Wertungen. Wenn man nach der Bedeutung von Rechtfertigung und Erkenntnis bezüglich moralischer Urteile fragt, darf diese Funktion nicht aus dem Blick geraten. Andernfalls besteht die Gefahr, praktisches 1

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Die Abhandlung entstand während meines Aufenthalts als Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Sie beruht auf Überlegungen, die ich in Scarano, Moralische Überzeugungen, ausgearbeitet habe. Ich danke dem Forschungsinstitut für hervorragende Arbeitsbedingungen, den Mitgliedern des DFG-Netzwerks für intensive Diskussionen und E. Heinrich, D. Horster, M. E. Reicher sowie D. Schönecker für hilfreiche schriftliche Kommentare. Für die Zuordnung metaethischer Fragen zu den vier Teilgebieten Ontologie, Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes sowie Epistemologie und ihre Interdependenzen vgl. Scarano, Metaethik.

Handlungsorientierung statt Wahrheitssuche?

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Überlegen und Urteilen zu stark dem theoretischen Erkennen anzugleichen und dadurch misszuverstehen. Dass moralische Überzeugungen in erster Linie die Funktion der Handlungsorientierung haben, führt zur Vermutung, der Begriff der Kohärenz spiele eine tragende Rolle für das Verständnis von moralischer Rechtfertigung. Denn inkohärente Wertungssysteme können keine vernünftige Handlungsorientierung bieten. Aus antirealistischer Sicht ist demnach nicht die Wahrheit, sondern Kohärenz der Hauptbezugspunkt für Argumentationen und Erkenntnis im Bereich der Moral. Diesem Gedanken möchte ich im Folgenden nachgehen. Im ersten Teil werde ich zunächst den Umriss einer antirealistischen Metaethik skizzieren, die einen Zugang zu epistemologischen Fragen ermöglicht. Der zweite Teil soll auf den systematischen Ort des Kohärenzbegriffs innerhalb eines solchen Ansatzes aufmerksam machen. Schließlich befasst sich der dritte Teil mit der ethischen Theoriebildung. Dabei werde ich auch auf die Möglichkeit des moralischen Universalismus und auf die epistemische Relevanz der Wahrnehmung des moralisch Guten und Schlechten eingehen.

1. Grundzüge einer antirealistischen Metaethik Zunächst möchte ich in aller Kürze erläutern, was ich unter einer antirealistischen Metaethik verstehe. Meines Erachtens besteht eines der grundlegenden Unterscheidungsmerkmale metaethischer Theorien darin, was sie unter moralischen Überzeugungen verstehen. Geht man von einer realistischen Interpretation moralischer Urteile aus, nimmt man also an, moralische Urteile seien wie deskriptive Urteile entweder wahr oder falsch, so muss auch angenommen werden, dass es sich bei den zugrundeliegenden mentalen Zuständen um genuine Glaubenszustände handelt. Moralische Überzeugungen wären demnach nichts anderes als Meinungen über das Bestehen spezifischer Tatsachen. Im Gegensatz dazu kann eine antirealistische Theorie nicht davon ausgehen, moralische Überzeugungen seien Glaubenszustände. 3 Bei diesem negativen Resultat muss sie jedoch nicht stehen bleiben. Ein Blick auf ihre Funktion für unser Handeln legt vielmehr die Vermutung nahe, bei moralischen Überzeugungen hätten wir es mit einer spezifischen Art von handlungsmotivierenden Zuständen zu tun. Was kann es heißen, dass ein mentaler Zustand handlungsmotivierend ist? Ich möchte dafür einen Terminus aufgreifen, der in der Handlungstheorie Donald

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Ich übergehe hier die meiner Auffassung nach unplausible Irrtumstheorie, wie sie etwa von Mackie vertreten wird. Demnach wären unsere moralischen Überzeugungen zwar genuine Glaubenszustände; sie wären jedoch alle falsch.

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Davidsons eine tragende Rolle spielt: Es ist der Begriff einer Pro-Einstellung. 4 Der Grundgedanke besteht darin, dass es kein Handeln geben kann, ohne dass die handelnde Person irgendeinen Aspekt der Handlung (sei es der mit ihr verfolgte Zweck, eine Konsequenz oder ein Merkmal der Handlung selbst) positiv wertet. Das Vorliegen geeigneter Pro-Einstellungen gehört demnach zu den notwendigen Bedingungen der Ausführung einer Handlung. Ohne Wertungen keine Handlungen. Auch moralische Überzeugungen sind Wertungen und können zu Handlungen motivieren. Wie lassen sie sich von anderen Arten von Pro-Einstellungen abgrenzen? Ohne diese Frage hier hinreichend beantworten zu können, 5 möchte ich im Folgenden dennoch so weit darauf eingehen, dass ein möglicher Ansatzpunkt für die Behandlung epistemologischer Fragestellungen sichtbar wird. Pro-Einstellungen sind ebenso wie Glaubenszustände mentale Zustände mit einem repräsentationalen Gehalt. Angenommen, jemand ist der Meinung, es werde heute Nachmittag regnen. Dann lässt sich der Glaubenszustand, in dem er sich befindet, grob wie in Beispiel (1) analysieren: (1) glauben (dass es heute Nachmittag regnen wird) Während das übergeordnete Verb die Art des zugeschriebenen mentalen Zustands bezeichnet, gibt der eingebettete dass-Satz den Sachverhalt an, auf den sich der mentale Zustand bezieht. Wenn dieser Sachverhalt existiert, ist die Meinung wahr, wenn nicht, ist sie falsch. Der Repräsentationsgehalt eines Glaubenszustands legt dessen Wahrheitsbedingungen fest. 6 Ähnliches lässt sich bei intentionalen Zuständen beobachten, die keine Meinungen, sondern handlungsmotivierende mentale Zustände, das heißt Pro-Einstellungen, sind. Wenn man nach paradigmatischen Pro-Einstellungen sucht, denkt man oft an Wünsche, obwohl diese eine spezifische Unterklasse der Pro-Einstellungen bilden, die für unser Handeln wohl nicht die herausragende Rolle spielt, wie oft angenommen wird. Dennoch lässt sich an ihnen der wesentliche Unterschied von Pro-Einstellungen gegenüber Glaubenszuständen veranschaulichen. Beispiel (2) gibt das Vorliegen eines Wunsches an: (2) wünschen (dass man die Prüfung bestehen wird) Auch hier lässt sich der Gehalt des intentionalen Zustands dem eingebetteten dass-Satz entnehmen. Allerdings nimmt die in diesem Zustand befindliche Person nicht an, dass der entsprechende Sachverhalt existiert. Vielmehr wird die 4 5 6

Vgl. Davidson, Essays, Teil 1. Vgl. dazu ausführlicher Scarano, Moralische Überzeugungen, Kap. 4. Ich schließe mich bei der Analyse intentionaler Zustände der Terminologie von Searle an, der bei intentionalen Zuständen zwischen ihrem »psychischen Modus« und ihrem »Repräsentationsgehalt« unterscheidet (vgl. Intentionality, Kap. 1).

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Existenz des Sachverhalts gewünscht. Obwohl ein Wunsch nicht wie ein Glaubenszustand wahr oder falsch ist, lässt sich dennoch eine Parallele zum vorherigen Beispiel ziehen: So wie der repräsentationale Gehalt eines Glaubenszustands dessen Wahrheitsbedingungen festlegt, bestimmt der Repräsentationsgehalt eines Wunsches die Bedingungen, unter denen dieser erfüllt ist. Unsere Meinungen über die Welt sollen wahr sein, und unsere Wünsche zielen darauf ab, erfüllt zu werden. Glaubenszustände haben demnach Wahrheitsbedingungen, während Pro-Einstellungen Erfüllungsbedingungen besitzen. Genauso wie Wünsche und Glaubenszustände sind auch moralische Überzeugungen intentionale Zustände mit einem repräsentationalen Gehalt. Aus antirealistischer Sicht sind unsere grundlegenden moralischen Überzeugungen jedoch keine genuinen Glaubenszustände, haben also keine Wahrheits-, sondern Erfüllungsbedingungen. Sie ähneln darin eher den Wünschen als den Meinungen. Allerdings darf die Parallelisierung von moralischen Überzeugungen und Wünschen nicht zu weit getrieben werden. Moralische Überzeugungen sind keine bloßen Wünsche. Vielmehr kommt es oft zu Konflikten zwischen den Wertungen, die in unseren Wünschen zum Ausdruck kommen, und unseren moralischen Bewertungen. Jedoch gibt es eine fundamentale Gemeinsamkeit. Auch moralische Überzeugungen sind wie Wünsche handlungsmotivierende Zustände. Dieses Merkmal teilen sie mit allen anderen Pro-Einstellungen. Deren Funktion besteht nicht darin, zum Ausdruck zu bringen, wie die Welt faktisch ist. Ihnen lässt sich vielmehr entnehmen, wie unserer Ansicht nach die Welt sein sollte. Entspricht die Welt nicht unseren moralischen Überzeugungen (gibt es beispielsweise von uns als unmoralisch angesehene Handlungen oder Institutionen), dann müssen wir deshalb nicht unsere moralischen Überzeugungen aufgeben, sondern es ist die Welt, die sich ändern sollte. 7 Wir besitzen also ein Motiv, entsprechend unseren moralischen Überzeugungen zu handeln und die Welt zu verändern. Die Parallelen zu anderen Arten des Wertens sind unübersehbar. Moralische Überzeugungen zu haben heißt, bestimmte Sachverhalte (z. B. dass Versprechen gehalten werden oder dass Notleidenden geholfen wird) zu befürworten und andere Sachverhalte (dass etwa gefoltert, gelogen oder betrogen wird) abzulehnen. Zu bestimmten Sachverhalten haben wir eine positive, zu anderen eine negative Einstellung. Solche Einstellungen spielen eine unverzichtbare Rolle in unserer Handlungsorientierung. Moralische Überzeugungen lassen sich demnach wie in den Beispielen (3) und (4) analysieren: (3) befürworten (dass Versprechen gehalten werden) (4) ablehnen (dass gelogen wird)

7

Zur sogenannten »direction of fit« bzw. der »Ausrichtung« intentionaler Zustände vgl. wieder Searle, Intentionality, Kap. 1.

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Diese Analyse ist noch unvollständig. An ihr ist nicht erkennbar, dass es sich um moralische Überzeugungen und nicht um eine andere Art Wertung handelt. Zum Ausdruck gebracht wird zunächst nur, was unsere basalen moralischen Überzeugungen mit anderen Pro-Einstellungen gemeinsam haben: Ihr repräsentationaler Gehalt legt Erfüllungsbedingungen und keine Wahrheitsbedingungen fest. Moralische Überzeugungen sind demnach zunächst nichts anderes als mögliche Motive für unser Handeln. Worin aber liegt der spezifische Unterschied zwischen moralischen Überzeugungen und anderen Arten von Wertungen, z. B. prudenziellen? Ich kann hier auf diese Frage nicht genauer eingehen, nur einige Andeutungen machen, welchen Ansatz ich für aussichtsreich halte. Der antirealistischen Metaethik stehen hier unterschiedliche Wege offen. Man könnte versuchen, moralische Überzeugungen von anderen Arten des Wertens entweder über ihren psychischen Modus oder über ihren spezifischen Repräsentationsgehalt (also über ein semantisches Merkmal) zu unterscheiden. Beispielsweise könnte man wie Ernst Tugendhat den internen (das heißt semantischen) Bezug der in moralischen Überzeugungen vorkommenden Begriffe zu bestimmten Sanktionsformen als konstitutiv ansehen. 8 Außerdem wäre zu überlegen, ob moralische Überzeugungen mentale Zustände zweiter Stufe sind (das heißt propositionale Einstellungen, die sich in ihrem repräsentationalen Gehalt selbst wieder auf propositionale Einstellungen beziehen 9), und von dort aus weiterfragen, was sie von anderen Pro-Einstellungen höherer Stufe unterscheidet. Die Antwort, die ich selbst favorisiere, ist formaler Natur. Sie knüpft an die Moraltheorie Kants an und wird mit besonderer Klarheit etwa von Richard Hare vertreten. Dieser spricht zwar nicht von mentalen Zuständen, aber die von ihm vertretenen Abgrenzungskriterien für moralische Forderungen gegenüber anderen Arten von Präskriptionen lassen sich mit einigen Modifikationen auch auf die Analyse moralischer Überzeugungen übertragen. Demnach sind moralische Überzeugungen diejenigen unserer Pro-Einstellungen, die erstens kontrafaktische Überlegungen unterstützen, also in einem ganz bestimmten Sinn universalisierbar sind, die sich zweitens allgemein auf Handlungen beziehen, unabhängig davon, welche Person sie ausführt, und die sich drittens durch ihren spezifischen Vorrang gegenüber unseren anderen Pro-Einstellungen auszeichnen. Bei diesem dritten Kriterium spricht Hare vom Merkmal der »unterordnenden Kraft« (overridingness) moralischer Vorschriften. 10 Was kann es heißen, dass sich unsere moralspezifischen Pro-Einstellungen durch ihre unterordnende Kraft gegenüber anderen Arten des Wertens auszeichnen? Es bedeutet, dass wir im Konfliktfall diesen Wertungen einen Vor8 9 10

Vgl. z.B. Tugendhat, Autonome Moral, und für eine Analyse sowie Kritik Scarano, Sanktionstheorie. Vgl. z.B. die Ansätze von Frankfurt, Freedom of the Will; und Lewis, Dispositional Theories. Vgl. Hare, Moral Thinking, Kap. 3.5–3.8.

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rang gegenüber anderen Arten von Wertungen einräumen. Wenn uns in einem konkreten Fall zwei Handlungsmöglichkeiten A und B offen stehen, wir jedoch annehmen, dass A im Gegensatz zu B moralisch geboten ist, dann werden wir uns, insofern wir rational sind – das heißt: wenn wir unseren eigenen Wertmaßstäben folgen –, für Handlung A entscheiden. Dies gilt auch dann, wenn andere Bewertungskriterien (etwa prudenzielle oder auch ästhetische) für B und gegen A sprechen. In Anlehnung an Kants Sprachgebrauch kann man die moralspezifischen Arten des Wertens als ein kategorisches Befürworten bzw. als kategorisches Ablehnen benennen. Die Beispiele (5) und (6) bringen dies zum Ausdruck: (5) kategorisch befürworten (dass Versprechen gehalten werden) (6) kategorisch ablehnen (dass gelogen wird) Weil unsere moralischen Überzeugungen vorrangige Wertungen sind, verlangen wir von uns, beim Vorliegen eines moralischen Gebots andere Handlungsoptionen zurückzustellen. Aus diesem Grund interpretieren wir das, was unsere moralischen Überzeugungen vorschreiben, als kategorische Imperative. Wenn wir uns in solchen Fällen nicht nach unseren moralischen Überzeugungen richten, würden wir gegen unsere eigenen Bewertungsmaßstäbe verstoßen. Wir könnten unser Handeln weder vor uns selbst noch gegenüber anderen rechtfertigen. Angenommen, unsere grundlegenden moralischen Überzeugungen sind tatsächlich Pro-Einstellungen und keine Glaubenszustände. Dann ist damit immer noch nicht geklärt, warum es so etwas wie moralische Begriffe gibt. Denn im Repräsentationsgehalt der mentalen Zustände (5) und (6) kommen keine Wertbegriffe vor. Dies ist eine direkte Konsequenz des antirealistischen Ansatzes. Wenn es keine genuinen moralischen Tatsachen und Eigenschaften gibt, dann werden diese in unseren basalen moralischen Überzeugungen auch nicht repräsentiert. Nun besitzen wir zweifellos auch Wertbegriffe. Wir schreiben Handlungen die Eigenschaft zu, gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht zu sein. Wie lässt sich dies auf antirealistischer Grundlage verständlich machen? Auch innerhalb einer antirealistischen Metaethik kann durchaus von der Existenz von Werteigenschaften gesprochen werden. Allerdings sind Werteigenschaften dann als subjektrelative Eigenschaften anzusehen. Wenn eine Person einer Handlung die Eigenschaft zuschreibt, moralisch gut zu sein, bedeutet dies – grob vereinfacht –, dass sie dieser Handlung die Eigenschaft zuschreibt, ihre moralspezifischen Pro-Einstellungen zu erfüllen. 11 Werteigenschaften haben demnach einen irreduziblen Bezug auf die mentalen Zustände der urteilenden Person. Man kann auch sagen, dass

11

Es ist nahe liegend, an dieser Stelle noch bestimmte Idealisierungen in die Analyse mit aufzunehmen. Vgl. dazu etwa die dispositionale Analyse von Werten, wie sie in Lewis, Dispositional Theories, entwickelt wird.

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Werteigenschaften zum einen durch den Träger der Eigenschaft (in diesem Fall die Handlung) und zum anderen durch subjektive Leistungen des Urteilenden (seine grundlegenden Pro-Einstellungen) konstituiert werden. 12 Auf diese Weise lässt sich auch die Verwendung von Wertbegriffen verständlich machen. Demnach gibt es auch intentionale Zustände, in deren Gehalt genuine Wertbegriffe vorkommen. Zum Beispiel enthält der Glaubenszustand (7), bei dem es um die moralische Bewertung einer Einzelhandlung H geht, in seinem repräsentationalen Gehalt einen solchen Begriff: (7) glauben (dass Handlung H ungerecht ist) In diesem Fall handelt es sich nicht um eine Pro-Einstellung, sondern um einen Glaubenszustand. Demnach bleiben die Pro-Einstellungen, die selbst weder wahr noch falsch sein können, die Grundlage für alle intentionalen Zustände, in deren Gehalt Wertbegriffe eingehen. Denn ohne diese hätten die Wertbegriffe keine Bedeutung. 13 Im Folgenden werde ich davon ausgehen, dass unsere basalen moralischen Überzeugungen handlungsmotivierende Pro-Einstellungen und keine Glaubenszustände sind. Dadurch wird verständlich, warum moralische Überzeugungen genauso wie andere Arten des Wertens der Handlungsorientierung dienen. Hingegen ist noch nicht deutlich geworden, woran es liegt, dass wir uns mit anderen auch über moralische Fragen streiten können bzw. dass unsere moralischen Überzeugungen offen sind für rationale Kritik.

2. Kohärenz als epistemologischer Grundbegriff Wie ist der Kognitivismus in der Moral erklärbar? Weshalb kann es bezüglich moralischer Fragen zu rationalen Argumentationen kommen? Eine der möglichen Antworten ist einer antirealistischen Metaethik von vornherein verschlossen. Sie kann sich nicht darauf berufen, dass unsere basalen moralischen Überzeugungen entweder wahr oder falsch sind, dass also zwei moralische Urteile einander in einem wörtlichen Sinn widersprechen können. Dem Antirealismus steht allerdings eine ähnliche Antwort zur Verfügung. Wenn unsere basalen moralischen Überzeugungen als Pro-Einstellungen zu analysieren sind, dann besitzen sie zwar keine Wahrheitsbedingungen, aber sie haben Erfüllungsbedingungen. In ihrem

12

13

Vgl. dazu die Überlegungen in Scarano, Moralische Überzeugungen, Kap. 5.2: »Moralische Eigenschaften als subjektive Qualitäten«. In der Metaethik von Hare findet sich ein sehr ähnlicher, jedoch terminologisch anders gefasster Gedanke in seiner zentralen These, dass Wertaussagen Imperative implizieren (vgl. Language of Morals, Teil II).

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propositionalen Gehalt ist festgelegt, durch welche Zustände der Welt sie erfüllt werden und durch welche nicht. Es kann vorkommen, dass eine Person moralische Überzeugungen besitzt, die sich nicht zugleich erfüllen lassen. Tritt dieser Fall auf, dann kann im Handeln nur einer von beiden entsprochen werden. Die andere wird unweigerlich verletzt. Denn einander widerstreitende moralische Urteile schreiben unvereinbare Handlungsweisen vor. Dasselbe gilt, wenn verschiedene Personen moralische Überzeugungen besitzen, die sich nicht zugleich erfüllen lassen. Auch hier kann nur einer von beiden Überzeugungen entsprochen werden. Deshalb gibt es sowohl intrasubjektive als auch intersubjektive moralische Konflikte. Die Möglichkeit des Streits über moralische Fragen lässt sich auf Grundlage des Antirealismus durchaus verständlich machen. Dass zwei miteinander inkompatible Pro-Einstellungen nicht zugleich erfüllt werden können, ist zwar eine plausible Erklärung für die Existenz moralischer Konflikte. Aber warum ist es möglich, bezüglich der Beantwortung moralischer Fragen rational zu argumentieren? Aus der Perspektive einer antirealistischen Metaethik ist auch dies darauf zurückzuführen, dass Pro-Einstellungen einen propositionalen Gehalt haben. Deshalb stehen in sie logischen Beziehungen zu anderen propositionalen Einstellungen. Und aus diesem Grund sind sie auch offen für rationale Kritik. Für eine solche Kritik gibt es vielfältige Ansatzpunkte. Um zu handeln, müssen wir einzelne Handlungsoptionen bewerten. Wir fällen solche Urteile auf der Basis einer Vielzahl von Pro-Einstellungen. Denn eine konkrete Einzelhandlung instanziiert die verschiedensten Eigenschaften. Deshalb kann es vorkommen, dass zwar einige unserer Pro-Einstellungen durch ein Bewertungsobjekt erfüllt, andere jedoch durch es verletzt werden. Eine Handlung kann zugleich eine Lüge und die Rettung eines potentiellen Opfers sein. Wenn wir einen solchen Fall angemessen beurteilen wollen, so geschieht dies mit Hilfe eines Abwägungsprozesses, in dem die verschiedenen Faktoren unterschiedlich gewichtet werden. Unser Bewertungssystem sollte ein solches Abwägen ermöglichen. Zu diesem Zweck bilden die Elemente untereinander eine komplexe Hierarchie. Das System insgesamt sollte idealerweise zu jedem Einzelfall eine eindeutige Einstellung festlegen. Es bestimmt, welche Handlungen kategorisch abzulehnen, welche kategorisch zu befürworten und welche als moralisch erlaubt anzusehen sind. Unter welche dieser drei Kategorien eine Handlung fällt, hängt davon ab, welche moralisch relevanten Eigenschaften sie tatsächlich aufweist. Zu einer vollkommen angemessenen Bewertung kämen wir also erst durch die Berücksichtigung aller moralisch relevanten Eigenschaften der zu bewertenden Einzelhandlung. Dabei wird von dem System selbst festlegt, welche Eigenschaften als relevant zu zählen sind und welche nicht. Moralisch relevant sind genau die Eigenschaften, die im Gehalt unserer allgemeinen moralischen Pro-Einstellungen eine Rolle spielen (beispielsweise »eine Lüge sein«, »ein Akt des Folterns sein«, »Hilfeleistung für Notleidende sein« usw.).

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Wie ein Einzelfall von uns moralisch zu bewerten ist, hängt also neben den Kriterien, die uns als Bewertungsgrundlage dienen, allein von den Eigenschaften ab, die der bewertete Gegenstand de facto aufweist. Zwar können wir immer nur auf Basis der uns bekannten bzw. der von uns vermuteten Merkmale unser Urteil bilden. Dem Gegenstand vollkommen angemessen kann eine Bewertung jedoch nur dann sein, wenn die von uns angenommenen Merkmale auch diejenigen sind, die dem Gegenstand in Wirklichkeit zukommen. Nun ist unser empirisches Wissen weder vollständig, noch ist es infallibel. Im Normalfall sind uns nicht alle Eigenschaften eines zu beurteilenden Gegenstands bekannt. Hier liegt eine Möglichkeit, im moralischen Denken einem Irrtum zu unterliegen. Es kann vorkommen, dass wir aus unvollständigem Wissen oder durch falsche empirische Annahmen dazu gebracht werden, ein irrtümliches singuläres moralisches Urteil zu fällen. In der Korrektur empirischer Fehleinschätzungen liegt jedoch nicht der einzige Ansatzpunkt für eine rationale Kritik. Auch dann, wenn uns alle relevanten Eigenschaften eines Gegenstands bekannt wären, könnte es immer noch vorkommen, dass uns bei dem Abwägungsprozess ein Fehler unterläuft, beispielsweise, wenn wir die unterschiedlichen Aspekte nicht entsprechend unseren eigenen Maßstäben gewichten. Diese Art des Irrtums im Bereich der Moral beruht nicht wie die erste auf einem Defizit unseres empirischen Wissens, sondern ist intellektuellen Unzulänglichkeiten geschuldet. Neben empirischer Unwissenheit und logischen Irrtümern gibt es noch einen weiteren wichtigen Ansatzpunkt für rationale Kritik. Dies wird deutlich, wenn eine Idealisierung explizit gemacht wird, von der ich bisher ausgegangen bin. Ich bin von der kontrafaktischen Annahme ausgegangen, dass unser System von moralischen Bewertungskriterien in sich kohärent ist. 14 Von dem moralischen Bewertungssystem einer Person kann nur dann gesagt werden, es habe die Eigenschaft vollständiger Kohärenz, wenn es zumindest zwei Bedingungen erfüllt: Die eine besteht in der Konsistenz und die andere in der (wie ich sie nennen möchte) Inklusivität des Systems. Die erste dieser beiden Bedingungen ist wohl unkontrovers. Damit ein Bewertungssystem in sich konsistent ist, darf es nicht vorkommen, dass in ihm miteinander inkompatible Elemente auftreten. Zwar ist klar, dass in einem System von Pro-Einstellungen keine eigentlichen Widersprüche auftreten. Denn Pro-Einstellungen können ja nicht wie Glaubenszustände wahr oder falsch sein. Insofern kann Konsistenz hier nicht gleichbedeutend sein mit Widerspruchsfreiheit. Jedoch gibt es hierfür ein Äquivalent. Zwei Pro-Einstellungen sind genau dann miteinander inkompatibel, wenn sie nicht zugleich erfüllt werden können. Da sie genauso wie unsere Glaubenszustände einen propositionalen Gehalt aufweisen, der ihre Erfüllungsbedingungen festlegt, kann es bei ihnen ebenso zu Inkompatibilitäten kommen wie bei unseren Mei14

Zur Rolle der Kohärenz in der Ethik und den Schwierigkeiten, den Begriff genauer zu fassen, vgl. die Studie von Hoffmann, Kohärenzbegriffe.

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nungen über die Welt, bei denen der propositionale Gehalt die entsprechenden Wahrheitsbedingungen bestimmt. Konsistenz ist jedoch nicht die einzige Bedingung, die ein vollständig kohärentes Bewertungssystem zu erfüllen hat. Die zweite der oben genannten Anforderungen, Inklusivität, scheint ebenfalls große Bedeutung zu besitzen. Ein moralisches Bewertungssystem sollte im Idealfall nicht nur konsistent, es sollte auch umfassend genug sein, um zu jedem möglicherweise auftretendem Einzelfall eine eindeutige Beurteilung festzulegen. Jeder mögliche Gegenstand einer moralischen Bewertung sollte zu dem Bewertungssystem der jeweiligen Person in einer eindeutigen Relation stehen: Entweder er erfüllt die in diesem System festgelegten Kriterien für »kategorisches Befürworten«, oder er erfüllt diejenigen für »kategorisches Ablehnen«, oder aber er erfüllt die Kriterien für »moralische Indifferenz«. Es sollten keine Lücken vorhanden sein. Dies scheint eine notwendige Bedingung für vollständige Kohärenz zu sein. Gegen die Verwendung des Kohärenzbegriffs innerhalb einer antirealistischen Metaethik wird oft der Einwand erhoben, dass es keine inferenziellen Beziehungen zwischen moralischen Überzeugungen geben könne, wenn diese nicht wahrheitsfähig sind. 15 Antirealistischen Metaethiken stehen unterschiedliche Wege offen, diesem Einwand zu begegnen. So kann man versuchen, die Inferenzen über eine Imperativlogik (R. M. Hare) oder über eine spezielle Logik von Expressionen (S. Blackburn) aufzuklären. Es stehen jedoch noch andere Wege offen. Wenn die Bedeutung moralischer Begriffe über ihren internen Bezug zu unseren basalen Pro-Einstellungen erklärbar ist, 16 dann lassen sich logische Beziehungen zwischen Überzeugungen, in deren Gehalt solche Begriffe enthalten sind, durchaus auch wahrheitsfunktional verstehen. Sicherlich haben antirealistische Metaethiken im Vergleich zu ihren realistischen Konkurrenten in Bezug auf den von ihnen verwendeten Kohärenzbegriff einen erhöhten Erklärungsbedarf. Ich sehe jedoch keine grundsätzlichen Einwände, die gegen die Verwendung des Begriffs innerhalb eines antirealistischen Theorierahmens sprechen. Aber warum sollten wir nach Kohärenz unseres Bewertungssystems streben? Wenn moralische Urteile genauso wie deskriptive Urteile entweder wahr oder falsch wären, gäbe es auf diese Frage eine ganz einfache Antwort. Einander widersprechende Urteile können nicht beide zugleich wahr sein. Da wir aber an der Wahrheit unserer Meinungen ein Interesse haben, ist es für uns rational, Widersprüche zu vermeiden. Diese Antwort steht im Rahmen einer antirealistischen Theorie der Moral selbstverständlich nicht zur Verfügung. Allerdings verfügt sie über eine ähnlich einfache Antwort: Auf der Grundlage einer antirealistischen Metaethik liegt die Antwort auf die Frage, warum unser moralisches Bewertungssystem in sich kohärent sein sollte, in dem Verweis auf die handlungsleitende 15 16

Vgl. z.B. die Darstellung und Kritik meiner Auffassung bei Hoffmann, Kohärenzbegriffe, Kap. 3.3.2. Vgl. oben, Teil 1.

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Kraft unserer Pro-Einstellungen. Solche mentalen Zustände haben die Funktion, unsere Handlungsbewertungen und damit auch unser Handeln anzuleiten. Wenn uns eine Handlungsoption offen steht, zu der unser moralisches Bewertungssystem miteinander inkompatible oder überhaupt keine singulären Bewertungen liefert, so gibt es für uns in dieser Situation keine Möglichkeit, uns rational zu entscheiden und entsprechend zu handeln. Ein inkohärentes Bewertungssystem führt zu unvernünftigem Handeln. Deshalb kann es für eine Person auch nicht rational sein, ein solches Bewertungssystem beizubehalten. Falls Inkohärenzen auftreten, sollte sie es entsprechend modifizieren. Ansonsten kann das System seine Funktion nicht erfüllen. In Anbetracht der faktischen Verhältnisse liegt in der Annahme, unsere moralischen Bewertungssysteme seien kohärent, eine starke Idealisierung. Es ist fraglich, inwieweit sie diese Bedingung tatsächlich erfüllen. Offensichtlich weisen die Kriterien, auf die wir uns in unserem alltäglichen Denken und Handeln stützen, nicht immer dieses anspruchsvolle Merkmal auf. Wenn uns Anhaltspunkte bekannt werden, die auf Inkohärenzen innerhalb unseres Systems von Bewertungskriterien hindeuten, sollten wir versuchen, es zu modifizieren. Und die rationale Kritik verhilft uns dazu, die Modifikationen angemessen durchzuführen. Eine antirealistische Metaethik kann also durchaus verständlich machen, warum wir uns in Bezug auf moralische Fragen mit Hilfe rationaler Argumente streiten können. Der Bezugspunkt dieser Argumente ist die Kohärenz unseres moralischen Bewertungssystems.

3. Ethische Theorien und moralischer Universalismus Der Rückgriff auf Kohärenz als epistemologischem Grundbegriff der Metaethik eröffnet auch ein Verständnis davon, was ethische Theorien sind und was sie leisten können. Ein naheliegendes Modell einer ethischen Theorie, das mit einer antirealistischen Metaethik ohne Weiteres vereinbar ist, basiert auf der von John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit angewandten Idee eines sogenannten »Überlegungsgleichgewichts«. 17 In einem solchen Gleichgewicht befinden wir uns genau dann, wenn unsere Einzelbewertungen, unsere allgemeinen Bewertungsprinzipien und alle relevanten deskriptiven Überzeugungen in einem kohärenten Zusammenhang stehen und uns außerdem die logischen Beziehungen zwischen den Elementen bekannt sind. Wir befinden uns im Normalfall nicht in einem solchen Zustand. Eine Ethik, die sich an dem methodischen Leitziel des Überlegungsgleichgewichts orientiert, hat das Ziel, uns dabei zu unterstützen, unser 17

Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, § 4 u.ö.

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eigenes System moralischer Überzeugungen kohärenter zu machen. Man kann bei einem solchen Theorietyp deshalb auch von einer »rekonstruktiven Ethik« sprechen. Wie könnte eine solche Theorie genauer aussehen? Geht man von dem klassischen Theoriebegriff aus, der eine Theorie als ein inferenzielles System von Aussagen auffasst, dann ist eine ethische Theorie ein Aussagensystem, in dem normative Aussagen zusammen mit relevanten deskriptiven Aussagen einen inferenziellen Zusammenhang bilden. 18 Im Gegensatz beispielsweise zu naturwissenschaftlichen Theorien, die ausschließlich aus deskriptiven Aussagen bestehen, enthalten normative Theorien sowohl normative als auch deskriptive Aussagen. Nach diesem Modell würde eine ethische Theorie moralische Urteile unterschiedlicher Allgemeinheitsgrade zusammen mit relevanten deskriptiven Aussagen in einen systematischen Zusammenhang bringen. Wenn man dieses Theoriemodell mit der Idee der Kohärenz als Grundbegriff der moralischen Epistemologie verknüpft, dann ergibt sich das folgende Bild: Eine Ethik als ein aus moralischen und deskriptiven Aussagen bestehendes inferenzielles System könnte als das strukturanaloge Abbild des Überzeugungssystems bzw. eines Teils des Überzeugungssystems einer Person aufgefasst werden, insofern dieses die Eigenschaft vollständiger Kohärenz aufweist. Während auf der einen Seite die Theorie aus einem Netzwerk von Aussagen unterschiedlichen Allgemeinheitsgrades besteht, die in einem inferenziellen Zusammenhang zueinander stehen, bilden auf der anderen Seite die moralischen Überzeugungen der Person zusammen mit ihren relevanten deskriptiven Meinungen einen analogen logischen Zusammenhang. Zwischen der ethischen Theorie und dem Überzeugungssystem der Person bestünde also eine Art Isomorphie. Diese Isomorphie kann selbstverständlich nur in dem Maß bestehen, in dem das Überzeugungssystem der jeweiligen Person tatsächlich kohärent ist. Im Normalfall wird es also zu einem Spannungsverhältnis zwischen der ethischen Theorie und dem Überzeugungssystem der jeweiligen Person kommen. In diesem Spannungsverhältnis gründet sich das epistemische Potential der Theorie. Denn man kann die Theorie als den Endpunkt eines Entwicklungsprozesses auffassen, zu dem die Person dann gelangen kann, wenn sie ihr eigenes Bewertungssystem so modifiziert, dass es letztlich das Merkmal der Kohärenz erlangt. Würde sie einen solchen Zustand erreichen, dann befände sich die Person hinsichtlich ihrer moralischen Überzeugungen in einem Überlegungsgleichgewicht. Die Isomophie zwischen Theorie und Überzeugungssystem wäre dann vollständig. Eine rekonstruktive Ethik kann dazu dienen, den Prozess der Revision und Modifikation der eigenen Überzeugungen anzuleiten. Allerdings eignet sie sich 18

Dieser Theoriebegriff ist zwar in einem gewissen Sinn veraltet, da mit ihm Fragen der Theoriendynamik nicht behandelt werden können. Für eine erste Annäherung an die Grundstruktur ethischer Theorien ist er meines Erachtens dennoch sehr nützlich. Zum klassischen Theoriebegriff und seinen Grenzen vgl. Lambert/Brittan, Einführung, Kap. 4.

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nur dann dazu, einen solchen Lernprozess anzuleiten, wenn das inkohärente Überzeugungssystem starke Ähnlichkeiten mit der Theorie aufweist. Wesentliche Elemente müssen schon vor der Revision übereinstimmen. Nur dann kann die betreffende Person sich in ihrem Lernprozess an der Theorie orientieren. Eine rekonstruktive Ethik ist demnach dazu geeignet, dass eine Person in der Auseinandersetzung mit ihr ihre schon vorhandenen moralischen Überzeugungen systematisiert, das heißt deren Kohärenzgrad erhöht. Dieses Modell einer ethischen Theorie entspricht der Interpretation, die Rawls von seiner eigenen Gerechtigkeitstheorie gibt. Auch Rawls geht davon aus, dass eine ethische Theorie ein inferenzielles System ist, das moralische Aussagen unterschiedlichen Allgemeinheitsgrads in logische Zusammenhänge bringt. Er spricht hier von einer »moralischen Geometrie«, nach der man »mit der ganzen Strenge […], die dieser Ausdruck andeutet«, streben solle. Die Argumentation für seine Theorie der Gerechtigkeit »soll letzten Endes streng deduktiv sein«. 19 Auch bei Rawls haben wir also das Bild, dass es auf der einen Seite die ethische Theorie als ein deduktives Aussagensystem gibt und auf der anderen Seite die mehr oder weniger kohärenten Überzeugungen von Personen, die zum moralischen Denken und handeln fähig sind. Personen, die sich mit der Theorie auseinandersetzen, sollen dadurch in den Zustand eines Überlegungsgleichgewichts gelangen. Nach Rawls zeichnet sich dieser Zustand durch zwei Bedingungen aus: Erstens ist es ein Zustand, in dem die moralischen Überzeugungen einen kohärenten Zusammenhang bilden. Und zweitens weiß der Träger dieser Überzeugungen auch, wie die logischen Zusammenhänge aussehen. Das Überlegungsgleichgewicht ist »ein Gleichgewicht, weil […] unsere Grundsätze und Urteile übereinstimmen; und es ist ein Gleichgewicht der Überlegung, weil wir wissen, welchen Grundsätzen unsere Urteile entsprechen und aus welchen Voraussetzungen diese abgeleitet sind«. 20 In der Unterstützung eines solchen Lernprozesses scheint mir nicht nur ein legitimes, sondern auch ein vorrangiges Ziel der philosophischen Ethik zu liegen. Die Auseinandersetzung mit einer rekonstruktiven Theorie kann dazu dienen, das eigene Überzeugungssystem insgesamt kohärenter zu machen. Je kohärenter ein Bewertungssystem ist, umso besser kann es seine Funktion erfüllen, das Handeln anzuleiten. Deshalb kann man hier auch von einem genuinen Lernprozess sprechen. In der Auseinandersetzung mit einer rekonstruktiven Ethik lassen sich bestehende Widersprüche besser erkennen und Wege zu deren Beseitigung finden. Außerdem kann man mit Hilfe der in der Theorie explizit formulierten Prinzipien zur Bewertung von Einzelfällen kommen, zu denen man zuvor noch kein eindeutiges Urteil fällen konnte. Durch die Theorie wird man vielleicht auch in die Lage versetzt, mögliche Begründungen für die eigenen Überzeugungen 19 20

Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 143. Ebd., S. 38.

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zu erkennen. Diese Begründungen lassen sich auch zur Rechtfertigung der eigenen Überzeugungen einsetzen, falls deren Berechtigung von anderen Personen bezweifelt wird. Unter Umständen ist das argumentative Potential einer solchen Ethik sehr beträchtlich. Rekonstruktive Ethiken haben selbstverständlich auch ihre Grenzen. Sie sind nur für die Personen von direktem Nutzen, die in der jeweiligen Theorie ihre eigenen moralischen Überzeugungen zu einem wesentlichen Teil wiederentdecken können. Sie sollten die Theorie als eine adäquate Rekonstruktion ihrer eigenen Überzeugungen anerkennen können. In dem Maß, in dem sie dies können, steht ihnen auch das argumentative Potential der Theorie zur Verfügung. Rawls scheint diesen Punkt deutlich zu sehen. In der Theorie der Gerechtigkeit konzipiert er deshalb die Darstellung der Theorie als eine Art Gespräch zwischen dem Autor und seinem Leser. Er schreibt: »Man kann annehmen, dass jeder die vollständige Form eines Gerechtigkeitssinns in sich trägt. Daher zählt für die Absicht dieses Buches nur die Auffassung des Lesers und die des Verfassers. Die Meinungen anderer dienen nur zur eigenen Klärung.« 21 Eine rekonstruktive Ethik ist aus prinzipiellen Gründen nicht in der Lage zu zeigen, dass andere Personen, wenn sie sich in einem Überlegungsgleichgewicht befänden, dieselben moralischen Bewertungsprinzipien akzeptieren würden. Diese Frage zu beantworten läge eindeutig außerhalb der Reichweite einer solchen Theorie. Ist man an anderen argumentativen Zielsetzungen interessiert, sollte man versuchen, alternative Theorieformen zu entwickeln. Ich kann hier der Idee und Reichweite rekonstruktiver Ethiken nicht weiter nachgehen. Der große Einfluss, den die Theorie der Gerechtigkeit seit ihrem Erscheinen auf die weltweiten Debatten der politischen Philosophie ausgeübt hat und immer noch ausübt, kann durchaus als ein Indiz dafür gesehen werden, dass rekonstruktive Ethiken ein erhebliches argumentatives Potential besitzen und zu echten Lernfortschritten beitragen können. Antirealistische Metaethiken sind demnach umstandslos mit der Idee einer anspruchsvollen normativen Ethik vereinbar. Aber sind sie auch mit der Idee eines moralischen Universalismus zu vereinbaren? Die Ablehnung einer antirealistischen Deutung moralischer Urteile scheint oft durch die Vermutung motiviert, dass der Antirealismus einen moralischen Relativismus impliziert. Aber impliziert der metaethische Antirealismus tatsächlich einen moralischen Relativismus? Mir scheint dies keineswegs der Fall zu sein. Der Antirealismus ist durchaus mit der Idee des moralischen Universalismus kompatibel. Zwar ist für jede antirealistische Theorie der Moral die Vorstellung unausweichlich, dass es Überlegungsgleichgewichte im Plural geben könnte, und zwar auch dann, wenn alle empirischen Irrtümer ausgeräumt wären. Es könnten ja von

21

Ebd., S. 70.

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zwei Personen verschiedene, jeweils in sich kohärente Systeme vertreten werden, die an einigen Punkten nicht miteinander kompatibel sind. Mit der Annahme einer universalistischen Moral ist eine solche Vorstellung genau dann vereinbar, wenn man davon ausgehen kann, dass es eine nichtleere Schnittmenge zwischen all diesen Systemen gibt. Es müssten also kategorische Pro-Einstellungen identifizierbar sein, die in jedem einzelnen der für uns erreichbaren Überlegungsgleichgewichte vorkämen. Gäbe es solche gemeinsamen Elemente, dann wäre auch eine universalistische Ethik formulierbar, die intersubjektiv gerechtfertigt werden könnte. Die Existenz moralischer Universalien wäre gesichert. Allein der Umstand, dass die Existenz solcher gemeinsamen Elemente widerspruchsfrei vorstellbar ist, zeigt schon die prinzipielle Vereinbarkeit des metaethischen Antirealismus mit der Idee einer universalistischen Moral. Ob solche Universalien tatsächlich existieren, ist allerdings eine andere Frage. Es ist eine Aufgabe der philosophischen Ethik, Argumentationsmuster zu entwickeln, die zeigen, dass es solche moralischen Universalien gibt. Bei Argumentationen, die die Existenz moralischer Universalien nachzuweisen versuchen, kann es allerdings nicht einfach darum gehen, ob schon jetzt solche Gemeinsamkeiten bei uns faktisch feststellbar sind. Entscheidend ist vielmehr, ob in allen von uns erreichbaren vollständig kohärenten Bewertungssystemen solche gemeinsamen Elemente vorkommen würden. Im Verlauf der Philosophiegeschichte wurde eine Reihe von Argumenten für den Nachweis moralischer Universalien entwickelt. Es gibt anthropologische, kontraktualistische, transzendentale oder auch sprachphilosophische Begründungsversuche. Ich möchte die Erfolgsaussichten dieser miteinander konkurrierenden Ansätze hier nicht beurteilen. Nur die detaillierte Ausführung kann zeigen, wie überzeugend sie jeweils sind. Eines scheint mir jedoch offensichtlich: Alle diese Argumente und Argumentationsmuster lassen sich auf der Grundlage einer antirealistischen Metaethik verständlich machen. Sobald eine Ethik zu zeigen versucht, dass es moralische Universalien gibt, kann dies aus antirealistischer Sicht als Versuch interpretiert werden, dass bestimmte moralische Wertungen in jedem der für uns erreichbaren Überlegungsgleichgewichte vorkommen. Ob es solche Universalien gibt oder nicht, ist allerdings keine metaethische Frage. Sie kann nicht durch die Metaethik, sondern allein durch eine normative Ethik beantwortet werden, die sich – im Gegensatz zu einer rekonstruktiven Ethik – genau diese Aufgabe zum Ziel setzt. Ich möchte die Ergebnisse meiner Überlegungen zusammenfassen: Eine antirealistische Metaethik, die sich auf den Begriff der Kohärenz als epistemologischem Grundbegriff stützt, kann erstens verständlich machen, warum es überhaupt so etwas wie Irrtum und Streit über moralische Fragen geben kann. Sie kann zweitens zeigen, inwiefern sich ein solcher Streit mit Hilfe rationaler Argumentationen austragen lässt und es dabei zu echten Lernfortschritten kommen kann. Sie kann drittens verständlich machen, was ethische Theorien sind und was sie leisten

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können. Schließlich ist sie viertens auch mit der Idee einer universalistischen Moral kompatibel. Bleibt noch die Frage zu beantworten, ob eine antirealistische Metaethik sich den Gedanken zu eigen machen kann, es gebe so etwas wie moralische Wahrnehmung. Können wir das moralisch Gute und Schlechte direkt beobachten? Meines Erachtens sollte die Metaethik diesen Gedanken ernst nehmen. Nicht jedes moralische Urteil über einen Einzelgegenstand beruht auf einem expliziten Schluss aus deskriptiven Prämissen auf der einen Seite und evaluativen bzw. normativen Prämissen auf der anderen Seite. Wenn wir beobachten, dass Jugendliche aus Vergnügen eine Katze mit Benzin übergießen und anzünden, dann nehmen wir direkt wahr, dass sie etwas Verwerfliches tun. 22 Wir scheinen nicht zuerst eine wertneutrale Wahrnehmung zu haben, um erst in einem zweiten Schritt über die Konfrontation mit unseren Moralprinzipien explizit den Schluss zu ziehen, dass das, was wir beobachten, moralisch verwerflich ist. Wie lässt sich dies innerhalb eines antirealistischen Rahmens verstehen? Der meines Erachtens beste Ansatzpunkt, um verstehen zu können, was man alltagssprachlich als »moralische Wahrnehmung« bezeichnet, liegt in einem Rückgriff auf unsere moralischen Emotionen. Angesichts offensichtlicher Ungerechtigkeit empfinden wir Empörung. Und auf unsere eigenen moralischen Verfehlungen reagieren wir mit Schuldgefühlen. Solche Emotionen sind wie unsere moralischen Überzeugungen intentionale mentale Zustände mit einem Repräsentationsgehalt. Das heißt, dass auch sie Erfüllungs- bzw. Wahrheitsbedingungen haben. Wie moralische Emotionen im Einzelnen zu analysieren sind, kann hier dahingestellt bleiben. 23 Meines Erachtens spricht einiges dafür, dass die spezifische Intentionalität moralischer Gefühle am besten im Rahmen einer antirealistischen Metaethik verständlich gemacht werden kann. Denn moralische Emotionen wie Empörung und Schuldgefühl sind affektive Wertungen. Wie bei anderen Arten von Wertungen besteht auch ihre Hauptfunktion darin, unserem Handeln Orientierung zu geben. Wenn wir eine Situation als empörend wahrnehmen, haben wir ein Motiv, einzuschreiten und die Situation zu verändern. Wenn wir angesichts unserer eigenen Handlungen Schuldgefühle empfinden, erkennen wir einen Grund an, solche Handlungen in Zukunft zu unterlassen. Die Tatsache, dass moralische Emotionen selbst Wertungen sind, erklärt auch die epistemische Relevanz, die unsere moralischen Gefühle haben. Sowohl unsere moralischen Gefühle als auch unsere moralischen Überzeugungen dienen gleicher-

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23

Vgl. für eine Diskussion dieses Beispiels aus einer antirealistischen Perspektive Harman, Nature of Morality, Kap. 1. Vgl. für einen einführenden Überblick über die neuere Debatte zur Intentionalität moralischer Gefühle Döring, Moralität der Gefühle.

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maßen der Handlungsorientierung. 24 Deshalb kann es zwischen ihnen zu Inkompatibilitäten kommen. Es kann vorkommen, dass unsere moralischen Gefühle uns eine Situation als empörend präsentieren, während wir über explizite moralische Überlegungen zu einem gegenteiligen Schluss kommen. Was sollen wir in einer solchen Situation tun? Offensichtlich ist unser moralisches Bewertungssystem in einem solchen Fall defizitär. Es ist nicht in der Lage, unserem Handeln eine eindeutige Orientierung zu geben. Die Wahrnehmung des Guten und Bösen kann also einen Grund liefern, unser System von moralischen Überzeugungen im Hinblick auf mehr Kohärenz zu verändern. Moralische Wahrnehmungen haben durchaus epistemologische Relevanz. Demnach kann die antirealistische Metaethik nicht nur universalistische Begründungsmuster in der Ethik verständlich machen. Sie lässt sich ebenfalls mit einer intuitionistischen Epistemologie verbinden.

Literaturverzeichnis Davidson, Donald: Essays on Actions and Events, Oxford 1980. Döring, Sabine A.: »Die Moralität der Gefühle: Eine Art Einleitung«. In: Die Moralität der Gefühle, hg. von dies./Verena Mayer. Berlin 2002, S. 15–35. Fankfurt, Harry G.: »Freedom of the Will and the Concept of a Person«. In: The Importance of What We Care About, hg. von ders. New York 1988, S. 11–25. Hare, Richard M.: The Language of Morals, Oxford 1952. Ders.: Moral Thinking: Its Levels, Method, and Point, Oxford/London 1981. Harman, Gilbert: The Nature of Morality. An Introduction to Ethics, Oxford 1977. Hoffmann, Martin: Kohärenzbegriffe in der Ethik, Berlin/New York 2008. Lambert, Karel/Brittan, Gordon G.: Eine Einführung in die Wissenschaftsphilosophie, Berlin/ New York 1991. Lewis, David: »Dispositional Theories of Value«. In: Proceedings of the Aristotelian Society, Suppl. Vol. 43, 1989, S. 113–137. Rawls, John: A Theory of Justice, Cambridge/MA 1971; dt. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1975. Scarano, Nico: Moralische Überzeugungen. Grundlinien einer antirealistischen Theorie der Moral, Paderborn 2001. Ders.: »Metaethik – ein systematischer Überblick«. In: Handbuch Ethik, hg. von Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner. Stuttgart/Weimar 2002, S. 25–35. 24

Eine ausgereifte Emotionstheorie müsste selbstverständlich auch den Unterschied zwischen moralischen Überzeugungen und moralischen Gefühlen genauer herausarbeiten. Zwei Ansatzpunkte scheinen hier zur Verfügung zu stehen. Zum einen liegt es nahe, nur den Emotionen, aber nicht den Überzeugungen einen phänomenalen Gehalt zuzuschreiben. Zum anderen wäre zu untersuchen, ob der repräsentationale Gehalt von basalen moralischen Emotionen im Gegensatz zu moralischen Überzeugungen nichtbegrifflicher Natur ist. Beide Ansatzpunkte scheinen mir mit der Idee einer antirealistischen Metaethik kompatibel zu sein.

Handlungsorientierung statt Wahrheitssuche?

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Ders.: »Die Sanktionstheorie der Moral. Überlegungen zum formalen Begriff der Moral bei Ernst Tugendhat«. In: Ernst Tugendhats Ethik. Einwände und Erwiderungen, hg. von Nico Scarano/Mauricio Suárez. München 2006, S. 91–114. Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, Cambridge 1983. Tugendhat, Ernst: »Das Problem einer autonomen Moral«. In: Ernst Tugendhats Ethik. Einwände und Erwiderungen, hg. von Nico Scarano/Mauricio Suárez. München 2006, S. 13–30 u. 313.

Christoph Halbig

ZWEI PROBLEME AUS DER MEINUNGSVERSCHIEDENHEIT

Ethische Debatten zeichnen sich oft durch das hartnäckige Fortbestehen von Meinungsverschiedenheiten aus, die sich scheinbar nicht rational auflösen lassen. Die Verbreitung und Hartnäckigkeit solcher Meinungsverschiedenheiten scheint gerade für die Moral so charakteristisch zu sein, dass sie nicht ohne Implikationen für die metaethische Reflexion über Moral bleiben kann. Doch um welche Implikationen handelt es sich und wie genau lassen sie sich aus dem genannten Befund ableiten? Ich werde zwischen einem metaphysischen und einem epistemologischen Argument aus der Meinungsverschiedenheit unterscheiden. Das metaphysische Argument wendet sich ausgehend von der Tatsache hartnäckiger moralischer Meinungsverschiedenheiten gegen die realistische Annahme objektiver moralischer Werte. Obwohl dieses metaphysische Argument seit den 70er Jahren ein ständiger Bezugspunkt der Debatte zwischen moralischen Antirealisten und Realisten ist, wird es in seiner Beweiskraft von beiden Seiten überschätzt. Im Gegensatz zum metaphysischen Argument aus der Meinungsverschiedenheit hat das epistemologische Argument bisher weit weniger Beachtung gefunden, auch deshalb, weil noch immer kein Konsens über seine genaue Form besteht. Ich möchte daher zunächst eine Rekonstruktion der grundlegenden Struktur dieses Arguments anbieten, um es dann auf dieser Basis gegen das metaphysische Argument abzugrenzen und auf die für es spezifischen Potentiale aufmerksam zu machen. Dann werden die einzelnen Prämissen des Arguments näher geprüft und inhaltlich präzisiert, bevor der Frage nachgegangen wird, ob das epistemologische Argument aus der Meinungsverschiedenheit sein Beweisziel tatsächlich erreicht. Außerdem wird in Form eines kurzen Ausblicks die metaethische Relevanz der Tatsache hartnäckiger moralischer Meinungsverschiedenheiten neu erwogen.

0. Debatten über zentrale moralische Probleme wie die der Zulässigkeit von Abtreibungen, des Klonens von Menschen oder der Todesstrafe zeichnen sich durch das hartnäckige Fortbestehen von Meinungsverschiedenheiten aus, die sich auch bei sorgfältiger und wiederholter Prüfung der jeweils relevanten Argumente und unter günstigen epistemischen Bedingungen (z. B. Expertenkommissionen, Einführung epistemischer Filter zur Ausschaltung von Vorurteilen bzw. unzulässigen Hintergrundannahmen) nicht rational auflösen lassen. Natürlich sind solche

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hartnäckigen Meinungsverschiedenheiten keineswegs auf den Bereich der Moral beschränkt, sie finden sich etwa auch in der Theologie, der Kosmologie, der Biologie oder in anderen Naturwissenschaften. Dennoch erscheint die Verbreitung und Hartnäckigkeit von Meinungsverschiedenheiten als eine gerade für die Moral so charakteristische Tatsache, dass sie nicht ohne Implikationen für die metaethische Reflexion über Moral bleiben kann. Doch um welche Implikationen handelt es sich und wie genau lassen sie sich aus der genannten Tatsache ableiten? Ich möchte im Folgenden zwischen zwei grundlegenden metaethischen Argumenten aus der Meinungsverschiedenheit unterscheiden, nämlich einem metaphysischen (= MAM) und einem epistemologischen (= EAM). 1 Das metaphysische Argument wendet sich ausgehend von der Tatsache hartnäckiger moralischer Meinungsverschiedenheiten (= THM) gegen die realistische Annahme objektiver moralischer Werte. Obwohl dieses metaphysische Argument seit den 70er Jahren ein ständiger Bezugspunkt der Debatte zwischen moralischen Antirealisten und Realisten ist, wird es, wie ich im ersten Abschnitt zeigen möchte, in seiner Beweiskraft von beiden Seiten überschätzt. Im Gegensatz zu MAM hat das epistemologische Argument bisher weit weniger Beachtung gefunden, auch deshalb, weil noch immer kein Konsens über seine genaue Form besteht. Ich möchte daher zunächst im zweiten Abschnitt eine Rekonstruktion der grundlegenden Struktur dieses Arguments anbieten, um es dann im dritten Abschnitt auf dieser Basis gegen das metaphysische Argument abzugrenzen und auf die für es spezifischen Potentiale aufmerksam zu machen. Im vierten Abschnitt werden die einzelnen Prämissen des Arguments näher zu prüfen und inhaltlich zu präzisieren sein, bevor dann im fünften Abschnitt der Frage nachgegangen werden kann, ob EAM sein Beweisziel tatsächlich erreicht. Abschließend wird im sechsten Abschnitt in Form eines kurzen Ausblicks die metaethische Relevanz von THM neu zu erwägen sein. 1. Das erste, metaphysische Argument nimmt seinen Ausgang im Rahmen von John Mackies Verteidigung einer Irrtumstheorie der Moral, derzufolge moralische Aussagen zwar eine kognitive Struktur aufweisen und damit wahrheitsfähig sind, sie sich aber notwendig als falsch erweisen, weil es die Arten von Entitäten, nämlich objektive moralische Werteigenschaften, die allein sie wahr machen könnten, nicht geben kann. Das sog. Argument aus der Relativität (argument from relativity), das sich auf die Tatsache hartnäckiger moralischer Meinungsverschiedenheiten als zentraler Prämisse stützt, 2 bildet ein Argument neben anderen, 3 auf die Mackie

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2 3

Auf die Bedeutung einer Differenzierung zwischen beiden Argumenten aufmerksam gemacht haben insbesondere Shafer-Landau in Ethics as Philosophy, S. 218–224, und McGrath in Moral Disagreement. Vgl. Mackie, Ethics, S. 36–38. Für eine Übersicht über Mackies Argumente vgl. Halbig, Praktische Gründe, S. 191f.

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seine metaphysische Position, nämlich die antirealistische Bestreitung der Existenz objektiver Werte, gründet. 4 Aus THM metaphysische, antirealistische Positionen deduzieren zu wollen, erscheint freilich als aussichtslos: Auch wenn sich die Meinungsverschiedenheit darüber, an welcher Krankheit ein römischer Kaiser gelitten hat, auf der Grundlage der verfügbaren Belege nie wird klären lassen, begründet dies keinen Zweifel an der Tatsache selbst, dass er an dieser oder jener Krankheit gelitten hat. Mackie argumentiert daher nicht deduktiv, sondern abduktiv, indem er einen Schluss auf die beste Erklärung zieht: Erklärungsbedürftig ist THM selbst. Zur Erklärung von THM stehen nach Mackie zwei unterschiedliche Modelle zur Verfügung: Modell 1 erklärt THM im Sinne eines moralischen Realismus durch die unzulängliche und verzerrte Wahrnehmung objektiver moralischer Werte durch die Parteien der Meinungsverschiedenheit, Modell 2 erklärt THM im Sinne von Mackies eigener, antirealistischer Position durch die unterschiedlichen Lebensweisen der Parteien, die sich in ihren moralischen Überzeugungen widerspiegeln. Modell 2 liefert, so Mackies Ergebnis, die beste Erklärung für THM, eine Erklärung, die ohne die Annahme objektiver moralischer Werte auskommt. Moralische Werte fallen daher als explanatorisch überflüssig Ockhams Rasiermesser anheim. Das metaphysische Argument aus der Meinungsverschiedenheit leidet indes an zumindest drei grundlegenden Schwächen: Erstens kann der moralische Realist MAM akzeptieren, ohne dadurch genötigt zu sein, seine Annahme objektiver moralischer Werte in Frage zu stellen. Selbst wenn sich die hartnäckigen moralischen Meinungsverschiedenheiten nur als Reflexe kontingenter Lebensformen und kultureller Praktiken erklären ließen, wäre dies mit der Existenz objektiver moralischer Werte durchaus vereinbar. In diesem Fall bestünde zwar eine tragische Kluft zwischen der moralischen Realität einerseits, der Reichweite unserer epistemischen Fähigkeiten andererseits, die an die jeweiligen kulturellen Vorgaben des urteilenden Subjekts gebunden blieben. Die daraus zu ziehende Konsequenz läge jedoch in einem moralepistemologischen Skeptizismus, nicht in dem moralontologischen Skeptizismus (nämlich in Bezug auf die Existenz objektiver moralischer Werte), wie Mackie selbst ihn im Rahmen seiner Irrtumstheorie verteidigen möchte. Nun mag der Antirealist argumentieren, dass ein solches Szenario zwar logisch widerspruchsfrei möglich ist, die dialektische Situation des Realisten aber entscheidend schwächt. Bevor wir in die Diagnose einer solchen tragischen Situation einwilligen, scheint es geboten, etwa eine subjektivistische Deutung moralischer Werte in Betracht zu ziehen, die diese als partiell 4

Für die Schwierigkeiten, die sich aus dem Versuch ergeben, THM als Grundlage einer Argumentation zugunsten einer nonkognitivistischen Variante des metaethischen Antirealismus (die im Gegensatz zu Mackies Irrtumstheorie bestreitet, dass moralische Urteile überhaupt wahrheitsfähig sind) in Anspruch zu nehmen, vgl. Jackson, Persistence.

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oder vollständig durch subjektive Leistungen konstituiert versteht und damit ihre Bindung an kulturelle Vorgaben verständlich macht. Dieses Zugeständnis könnte der Antirealist zumindest als Teilerfolg auf dem Weg seiner Kritik an objektiven Werten auffassen. Zweitens jedoch besteht für den Realisten kein Anlass, sich angesichts von THM auf das gerade genannte tragische Szenario zurückzuziehen, um seine Position zu behaupten. Bei MAM handelt es sich ja um einen Schluss auf die beste Erklärung. Dem Realisten steht es nun aber frei, seinerseits eine Erklärung für THM anzubieten, die sich pace Mackie als der des Antirealisten überlegen erweisen könnte. Von realistischer Seite sind unterschiedliche Argumente vorgelegt worden, die sich dieser Strategie zuordnen lassen, 5 sie kommen jedoch alle strukturell darin überein, dass (i) zunächst das Ausmaß der erklärungsbedürftigen hartnäckigen Meinungsverschiedenheiten gegenüber der antirealistischen Diagnose eingeschränkt wird: Aus realistischer Sicht etwa erweisen sich zahlreiche moralische Meinungsverschiedenheiten bei näherer Prüfung als nicht-moralische Meinungsverschiedenheiten (so z. B. bei unterschiedlichen Bewertungen der Zulässigkeit der Todesstrafe, die sich lediglich unterschiedlichen empirischen Befunden über ihre abschreckende Wirkung verdanken), die keinerlei spezifische Probleme für die Ethik aufwerfen. Für die verbleibenden, genuin moralischen Meinungsverschiedenheiten vermag der Realist dann (ii) Erklärungen anzubieten, die sich gerade aus der spezifischen Ontologie moralischer Werte gegenüber anderen Bereichen der Wirklichkeit ergeben. So fundieren, wie auch Mackie selbst im Rahmen seines Arguments aus der Merkwürdigkeit konzediert, 6 moralische Werte normative Ansprüche; darin unterscheiden sie sich etwa von physikalischen Entitäten. Gerade diese normative Inanspruchnahme jedoch liefert eine plausible Erklärung dafür, warum sich die Adressaten dieser Ansprüche durch unterschiedliche psychologische Strategien (Rationalisierung etc.) über sie hinwegtäuschen und damit in hartnäckige Meinungsverschiedenheiten geraten, die als unauflösbar erscheinen. Die von realistischer Seite angebotenen Erklärungsmuster können hier nicht im Einzelnen geprüft werden. Entscheidend bleibt, dass sich der Realist durchaus auf den Wettstreit um die beste Erklärung für die – angemessen bestimmte – THM einlassen kann, und zwar gerade in Rekurs auf die wertontologischen Annahmen, die ein Antirealist wie Mackie mithilfe von MAM in Frage stellen möchte. Der Antirealist kann seinem Gegner den Rekurs auf das explanatorische Potential, 5

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Solche Argumente fallen je nach der Form des vertretenen moralischen Realismus durchaus unterschiedlich aus, vgl. etwa für die Implikationen, die sich aus einem naturalistischen moralischen Realismus für MAM ergeben Loeb, Moral Realism. Grundlegend für die Auseinandersetzung des moralischen Realismus mit MAM ist weiterhin Brink, Moral Realism, Kap. 7.4. Für meine eigene Entgegnung auf MAM vgl. Halbig, Praktische Gründe, S. 306–313. Für das Argument aus der Merkwürdigkeit (argument from queerness), demzufolge moralische Werte die miteinander unvereinbaren Merkmale der Objektivität und der intrinsischen Präskriptivität in sich vereinigen müssten, vgl. Mackie, Ethics, S. 38–42.

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das sich gerade aus seinen ontologischen Annahmen ergibt, nur um den Preis verwehren, dass sein Argument insgesamt question-begging wird. Drittens schließlich kann der moralische Realist parallel zu der gerade genannten Strategie auf die bedenklichen Konsequenzen von MAM verweisen: MAM nämlich scheint in der vorliegenden Form zu viel zu beweisen. 7 Wenn hartnäckige Meinungsverschiedenheiten in einem bestimmten Bereich ipso facto zu dessen antirealistischer Deutung nötigen würden, würde dies zu einer besorgniserregenden Verarmung unserer Ontologie führen: Hartnäckige Meinungsverschiedenheiten finden sich nämlich keineswegs nur im Bereich der Moral, sondern etwa auch in der Physik, der Theologie 8 und insbesondere in der Philosophie selbst. 9 Ob etwa ein personaler Gott existiert oder nicht, oder ob Freiheit und Determinismus miteinander kompatibel sind oder nicht, sind jeweils Fragen, die über Jahrtausende eingehende Prüfung erfahren haben, ohne dass sich ein Konsens zwischen den Parteien ergeben hätte. In beiden Bereichen ziehen wir daraus jedoch keineswegs ipso facto die Konsequenz, die Rede von Gott oder von Freiheit antirealistisch zu reinterpretieren, sondern wir halten (sofern wir nicht aus zusätzlichen, unabhängigen Gründen eine antirealistische Position in den entsprechenden Bereichen vertreten) an der Überzeugung fest, dass wir es hier mit Tatsachen zu tun haben, die eben schwierig zu erkennen sind – und zwar wiederum aus Gründen, über die im Sinne der zweiten der gerade genannten Strategien der Theologe und der Philosoph unabhängig von ihrer konkreten inhaltlichen Position durchaus Auskunft geben können. Der Realist wird also angesichts von MAM mühelos companions in innocence benennen können, für die der Übergang von THM zu einer antirealistischen Deutung des jeweiligen ontologischen Bereichs als ebenso fragwürdig erscheint, wie es der Realist für die Moral annimmt. Demgegenüber kann der moralische Antirealist zwar entweder einen globalen, auch für die anderen mit THM konfrontierten Bereiche geltenden Antirealismus vertreten, oder aber auf relevante Disanalogien verweisen, die erklären, warum MAM im Bereich der Moral, nicht aber anderswo zu überzeugen vermag. In beiden Fällen jedoch müsste er sein 7 8

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So die treffende Diagnose von McGrath, Moral Disagreement, S. 90. Den Problemen, die sich für eine exklusivistische Theologie – definiert als eine Position, die die Glaubensüberzeugungen einer einzigen Religion für wahr und die damit unvereinbaren anderer Religionen für falsch hält (vgl. Plantinga, Belief , S. 440) – angesichts hartnäckiger religiöser Meinungsverschiedenheiten ergeben, geht etwa Plantinga (vgl. ebd., S. 437–457) in einer Weise nach, die eine aufschlussreiche Parallele zu den metaethischen Problemen aus der Meinungsverschiedenheit bildet. Shafer-Landau macht in Ethics as Philosophy, S. 220f., zu Recht auf die Probleme der Selbstbezüglichkeit aufmerksam, die sich für philosophische Kritiker der Moral daraus ergeben, dass sich das Problem der hartnäckigen Meinungsverschiedenheiten nicht nur für ihren Gegenstandsbereich, sondern auch für ihre eigene Position stellt (Mackies Variante eines metaethischen Antirealismus ist ihrerseits notorisch umstritten).

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Argument gegenüber der von Mackie vorgelegten Version durch ihrerseits begründungsbedürftige Zusatzannahmen anreichern und damit schwächen. Die Beweiskraft von MAM erweist sich mithin als gering. Es eignet sich allenfalls als ein Glied unter anderen (etwa dem Argument aus der Merkwürdigkeit) 10 eines kumulativen Arguments zugunsten eines metaethischen Antirealismus. Der metapyhsische Realist trägt zwar, will er nicht die erste der drei gerade unterschiedenen Optionen ergreifen, die Beweislast, eine bessere Erklärung für THM als der Antirealist anzubieten. Berücksichtigt man die – auch von Seiten antirealistischer Kritiker wie Mackie – anerkannten Besonderheiten der ontologischen Verpflichtungen auf moralische Werte, wie wir sie in unserer alltäglichen Praxis eingehen, insbesondere ihre intrinsische normative Dimension 11 und die damit verbundenen psychologischen Anreize, sich diesen Ansprüchen durch unterschiedliche Selbsttäuschungen zu entziehen, besteht wenig Anlass, diese Aufgabe für aussichtslos zu halten. 12 2. Schwerer als das MAM wiegt, wie ich nun zeigen möchte, gerade auch aus Sicht des moralischen Realisten, das epistemologische Argument aus der Meinungsverschiedenheit. EAM fragt nach den epistemologischen Konsequenzen, die sich aus THM für die einzelnen Subjekte moralischer Überzeugungen ergeben. Das Argument lässt sich wie folgt rekonstruieren: P1: Person x verfügt über die moralische Überzeugung p. P2: Person y verfügt über die moralische Überzeugung non-p. P3: Person x ist sich bewusst, dass y über die moralische Überzeugung non-p verfügt. P4: Person x verfügt über keine Gründe für die Annahme, dass sie selbst Recht hat, während y sich täuscht. P5: Wenn für Person x P1–P4 erfüllt sind, darf x nicht länger unverändert an ihrer moralischen Überzeugung p festhalten. C: Person x darf nicht länger unverändert an ihrer moralischen Überzeugung p festhalten. Die Existenz hartnäckiger moralischer Meinungsverschiedenheiten, die wir sowohl inter- wie intrakulturell alltäglich erleben, so der Kerngedanke von EAM, bringt jeden einzelnen von uns in Bezug auf seine moralischen Überzeugungen in

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Vgl. Anm. 6. Für eine rationalistische Deutung des normativen Anspruchs der Moral vgl. Halbig, Praktische Gründe, Kap. 5. Eine Analyse dieser Strategien, die sie unter dem prägnanten Titel der fantasy zusammenfasst, liefert Murdoch im Rahmen der Verteidigung einer nicht-theistischen, an Platon anschließenden Variante des moralischen Realismus. Vgl. The Sovereignty, Kap. 2.

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die Position der Person x. Wir dürfen nicht länger unverändert an unseren moralischen Überzeugungen festhalten, weil THM die epistemische Rechtfertigung, die wir für diese Überzeugungen haben, unterläuft. Insofern Wissen Rechtfertigung impliziert, stellt EAM zugleich die Möglichkeit, moralisches Wissen zu erwerben, in Frage. 3. Bevor im Folgenden die einzelnen Prämissen von EAM näher geprüft und inhaltlich präzisiert werden sollten, möchte ich zunächst vorbereitend EAM durch Abgrenzung von dem gerade untersuchten metaphysischen Argument aus der Meinungsverschiedenheit näher zu bestimmen versuchen. EAM erweist sich als zugleich schwächer und stärker als MAM: Schwächer in dem Sinne, dass EAM vollständig ohne metaphysische Annahmen auskommt. Der Vertreter von EAM kann sich agnostisch gegenüber der Debatte zwischen Realisten und Antirealisten darüber, ob es objektive moralische Werte gibt, die unsere moralischen Urteile wahr machen könnten, oder nicht, verhalten. 13 Wenn etwa die Diagnose des Irrtumstheoretikers zutrifft und es keine wahren moralischen Urteile gibt, würde EAM zeigen, dass moralisches Wissen, wäre es nicht ohnehin aus dem vom Irrtumstheoretiker benannten Grund unmöglich, aus einem weiteren Grund, der sich eben aus THM ergibt, unterlaufen wird. Umgekehrt erweist sich EAM als kompatibel mit der realistischen Annahme der Existenz objektiver moralischer Werte – nur könnten wir über sie eben nichts wissen; es würde sich dieselbe tragische Situation ergeben, die oben bereits im Zusammenhang der ersten Strategie des Realisten, MAM zu begegnen, diskutiert wurde. 14 Gerade der Verzicht auf ontologische Verpflichtungen in Bezug auf die Existenz oder Nicht-Existenz objektiver moralischer Werte stärkt indes die Beweiskraft von EAM in Bezug auf die Möglichkeit moralischen Wissens: Anstatt nach der besten Erklärung für THM zu fragen, die sich dann (wenn etwa Mackie Recht hätte) mit der Möglichkeit moralischen Wissens als unvereinbar erweisen würde, weil die Wahrheitsbedingungen für moralische Urteile aufgrund der Nicht-Existenz objektiver Werte nicht zu erfüllen sind, fragt EAM nach den Konsequenzen, die sich aus THM selbst, und zwar ganz unabhängig von der Frage nach seiner Erklärung, für die Möglichkeit moralischen Wissens ergeben. EAM beansprucht nichts weniger als den Nachweis, dass THM, sofern die in P1–P5 genannten

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Vgl. McGrath, Moral Disagreement, S. 93. Der moralepistemologische Skeptizismus würde sich hier freilich aus einem anderen Grund, nämlich nicht daraus ergeben, dass unsere moralischen Urteile bloße Reflexe unserer Lebensformen bilden und damit qua Voraussetzung in keinem epistemologisch relevanten Zusammenhang mit der Dimension objektiver moralischer Werte stehen, sondern im Sinne von EAM dadurch, dass die Koexistenz von gleich gut gerechtfertigten, aber miteinander unvereinbaren Überzeugungen die Rechtfertigung, an einer von ihnen festzuhalten, aufhebt, ganz unabhängig von der Frage, ob ein solcher Zusammenhang für einzelne dieser Überzeugungen nun faktisch besteht oder nicht.

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Bedingungen erfüllt sind, dazu nötigt, den Anspruch auf gerechtfertigte moralische Überzeugungen und damit auf moralisches Wissen aufzugeben. 4. Aber treffen diese fünf Prämissen von EAM tatsächlich zu? Dieser Frage soll nun im Durchgang durch die einzelnen Prämissen nachgegangen werden, die, wie sich zeigen wird, zusätzlicher inhaltlicher Präzisierung bedürfen. 4.1. P1 und P2 werfen die Frage auf, wie genau die Reichweite von THM im Bereich der Moral zu bestimmen ist. Nicht alle moralischen Fragen nämlich sind strittig: Dass es moralisch pro tanto verwerflich ist, kleinen Kindern oder Tieren Schmerz zuzufügen, um ein sadistisches Lustgefühl zu erzeugen, bildet keinen Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten. Der Konsens erstreckt sich vielleicht sogar auf die moralischen Prinzipien, die die Grundlage für unsere Intuitionen in den genannten Fällen bilden, etwa das von Roger Crisp vorgeschlagene Prinzip Schmerz 2: Unverdientes Leid eines empfindungsfähigen Wesens, das durch die Handlung von A verursacht würde, zählt (wenn auch nicht immer ausschlaggebend) als Grund für A gegen den Vollzug dieser Handlung. 15

Selbst wenn man konzediert, dass THM in Bezug auf hinreichend viele moralische Überzeugungen zutrifft, bleibt zu klären, (i) um welche Arten von Überzeugungen es sich handelt und (ii) welchen Status diese haben. In Hinblick auf die Arten von strittigen moralischen Überzeugungen ist zu fragen, ob diese moralische Prinzipien beinhalten, oder aber all-things-considered Urteile darüber, was ein Handelnder in einer konkreten Situation tun sollte. Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf Letztere sind ohne Zweifel faktisch verbreiteter als Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf Erstere. Andererseits jedoch erscheinen gerade diese Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf all-things-considered Urteile als wenig geeigneter Ausgangspunkt für das EAM, insofern als sie, selbst wenn ein Konsens über die in der Situation relevanten moralischen Prinzipien vorausgesetzt würde, erwartbar und erklärbar sind: Erwartbar sind sie zumindest dann, wenn ein Prinzipienpluralismus – ganz unabhängig von dessen inhaltlicher Gestalt – unterstellt wird, der keinen festen (etwa lexikalischen) Ordnungskriterien unterliegt. In diesem Fall stellt sich für das Subjekt immer dann, wenn mehrere Prinzipien in der Situation relevant sind, das schwierige Problem, ihr normatives Gewicht gegeneinander abzuwägen. 16 Diese Frage unterliegt nicht nur komplexen epistemologischen Kriterien und erfordert vielfältige Fähigkeiten (etwa Sensibilität 15 16

Crisp, Intuitionism and Disagreement, S. 34. Meine Übersetzung, C.H. Falls den von den einzelnen moralischen Prinzipien artikulierten moralischen Gesichtspunkten im Sinne des Partikularismus kein invariantes normatives Gewicht beigemessen wird (also etwa der Schmerz des Schuldigen als Teil einer verdienten Strafe nicht gegen, sondern für die entsprechende

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für relevante Gesichtspunkte und deren Interaktion in der konkreten Situation), sondern erweist sich auch als anfällig für vielfältige Irrtumsmöglichkeiten (z. B. durch unbewusstes special pleading des Handelnden, der mit einer ihm unangenehmen Verpflichtung konfrontiert ist). Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf all-things-considered Urteile sind aus diesen Gründen von vornherein erwartbar, und sie verlangen jeweils nach einer Erklärung mit Blick auf die konkrete Handlungssituation. Inwieweit sich solche Erklärungen jeweils tatsächlich geben lassen, ist eine offene Frage, die Aussicht jedenfalls, aus solchen Meinungsverschiedenheiten im Sinne von EAM weitreichende epistemologischer Schlussfolgerungen abzuleiten, erscheint als gering. Anders steht es bei den moralischen Prinzipien selbst. Da diese keine unmittelbaren normativen Forderungen an den Handelnden stellen, sind die Täuschungsanreize geringer; zum anderen wird etwa von moralepistemologischen Intuitionisten für solche Prinzipien der Status der Selbstevidenz in Anspruch genommen – wer den Inhalt solcher Prinzipien verstanden hat, ist darin gerechtfertigt, sie für wahr zu halten, und er weiß um sie, wenn er sie tatsächlich auf der Grundlage dieses Verständnisses für wahr hält. 17 Auch das Problem des holistischen Zusammenwirkens unterschiedlicher normativer Gesichtspunkte stellt sich hier nicht. Das EAM sollte also auf der Ebene von moralischen Prinzipien ansetzen, nicht auf der Ebene von all-things-considered Urteilen. Der Vertreter von EAM kann sich hier darauf berufen, dass Prinzipien häufig nur um den Preis allgemeine Zustimmung finden, dass sie von den einzelnen Parteien stillschweigend unterschiedlich gedeutet werden. 18 Das Verbot des Mordes mag allgemeine Zustimmung finden, doch was ist der Gegenstandsbereich dieses Prinzips – findet es auf alle Angehörigen der Spezies Mensch Anwendung, oder reicht es sogar über deren Grenzen hinaus? Wann liegt überhaupt ein Fall von Mord vor – ist die Todesstrafe, unzweifelhaft ein Akt der Tötung, nicht doch ein Mord? Dieses Problem verschärft sich noch, wenn der Status der Prinzipien berücksichtigt wird: Handelt es sich bei diesen Prinzipien um den Ausdruck einer vorphilosophischen Praxis, oder werden sie als Bestandteile philosophischer Theorien verstanden? 19 Ist letzteres der Fall, vergrößert sich die Reichweite von Meinungs-

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Strafhandlung sprechen könnte), erweist sich diese Aufgabe als noch schwieriger als sie es unter der generalistischen Unterstellung eines solchen invarianten Gewichts ohnehin schon ist. Vgl. dazu Shafer-Landau, Moral Rules, bes. § 3 und Dancy, Ethics, Kap. 5 und 6. So die Definition von R. Audi in Moral Knowledge, S. 45. Vgl. Sinnott-Armstrong, Moral Scepticism, S. 36. In diesem Zusammenhang differenziert Audi treffend zwischen agreement in reasons (= AIR) und agreement on reasons (= AOR). Das Fehlen von AOR kann dabei durchaus mit AIR koexistieren: In diesem Fall stimmen die jeweiligen Personen etwa darin überein, dass sie sich normativ gebunden fühlen, ein gegebenes Versprechen einzuhalten: Sie erfüllen ihre Versprechen, auch wenn keine anderen normativ relevanten Gesichtspunkte dies verlangen, sie akzeptieren die Forderung desjenigen,

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verschiedenheiten erheblich. Auch Prinzipien wie Schmerz 2 erfahren nämlich ganz unterschiedliche Begründungen innerhalb unterschiedlicher Ansätze normativer Ethik, die gleichwohl alle in der Akzeptanz dieses Prinzips übereinkommen – ein Kantianer etwa wird der Missachtung des Opfers, dem Schmerz zugefügt wird, eine andere Bedeutung bei der Begründung von Schmerz 2 zuweisen als ein Utilitarist. Darüber hinaus ist jedes moralische Prinzip ipso facto in dem Sinne philosophisch strittig, dass es von den Vertretern etwa eines allgemeinen moralischen Nihilismus in Frage gestellt wird. 20 EAM sollte sich jedoch nicht auf Meinungsverschiedenheiten stützen, die sich aus philosophischen Begründungsdiskursen ergeben, auch wenn diese versprechen, die Reichweite von Meinungsverschiedenheiten erheblich auszudehnen. Hier droht zum einen die Gefahr eines Zirkels: Positionen wie der moralische Nihilismus stützen sich ihrerseits auf Argumente wie das MAM oder das EAM, insofern bilden sie keinen unabhängigen Beleg, auf den sich diese Argumente bei der Diagnose der Verbreitung von THM berufen könnten. Zum anderen verschiebt die Berufung auf unterschiedliche Begründungsstrategien für moralische Prinzipien das Problem der Meinungsverschiedenheiten auf eine andere, nämlich eine reflexiv-philosophische Ebene. 21 Ausgangspunkt für EAM sind aber Meinungsverschiedenheiten über moralische Prinzipien selbst, mit denen sich Subjekte konfrontiert sehen, die mit konkreten normativen Problemen ringen, ohne dass sie dies ipso facto auf bestimmte ethische Systeme verpflichten würde. 22 4.2. Selbst wenn andere Personen über Überzeugungen verfügen, die mit denen von x unvereinbar sind (P2) und x keinen Grund zu der Annahme hat, dass diese anderen Personen sich täuschen, während er selbst Recht hat, unterläuft dies keineswegs notwendig seine entsprechenden Überzeugungen – nämlich etwa dann nicht, wenn x sich dieser Tatsache schlicht nicht bewusst ist. Eine Person, die einem indigenen Stamm auf Neu-Guinea angehört, keinerlei Schulbildung genossen und nie in Kontakt mit dem Stand der Naturwissenschaften getreten ist, mag gerechtfertigterweise annehmen, dass die Erde eine Scheibe ist. Dass der

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dem sie das Versprechen gegeben haben, nach Einhaltung des Versprechens als wohlbegründet etc. Meinungsverschiedenheiten über Gründe, die etwa die Frage betreffen, warum das Geben eines Versprechens normatives Gewicht hat, wie stark dieses Gewicht ist, usf. können ausgetragen werden, ohne AIR zu berühren. Vgl. Audi, The Good, S. 60–63 und ders., Rational Disagreement, S. 228f. Darauf weist Sinnott-Armstrong, Moral Scepticisms, S. 38, zu Recht hin. Die THM auf der Ebene philosophischer Fragen bildet ihrerseits eine epistemologische Herausforderung, die jedoch spezifischer, eigener Argumente bedarf. Vgl. etwa die von Plakias und Doris in Find a Disagreement, S. 346, angebotene »defusing explanation« für das hartnäckige Fortbestehen philosophischer Dissense durch den Umstand, dass die Anreizsysteme für (akademische) Philosophen Dissens und nicht Konsens prämieren. Insofern bleibt unklar, mit welchem Recht Crisp angesichts des Konsenses über Schmerz 2 verlangt, dass jeder (»anyone«), der Schmerz 2 zustimmt, darüber Auskunft geben soll, »what [i.e. philosophical, C.H.] principle lies behind it.« (Crisp, Intuitionism and Disagreement, S. 34)

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Großteil der Erdbevölkerung anderer Meinung ist, unterläuft in diesem Fall ihre Rechtfertigung nicht. 23 Außer Frage steht indes, dass sich die meisten Menschen in einer globalisierten Welt in Bezug auf moralische Fragen nicht in der Position des Ureinwohners befinden. THM ist eine wohlbekannte Tatsache; dass es miteinander unvereinbare Positionen in zentralen moralischen Fragen gibt, bildet einen integralen Bestandteil unserer moralischen Selbstverständigung. Sogar der Fundamentalist weiß genau, dass seine Position mit unvereinbaren Gegenpositionen konfrontiert ist – sein fundamentalistisches Selbstverständnis lässt sich nur als Reaktion auf sie verstehen. Sich angesichts dieser Situation gegenüber abweichenden Meinungen abzuschirmen und deren Existenz schließlich ganz zu verdrängen, mag, sofern psychologisch unter den Bedingungen moderner Massenkommunikationen überhaupt möglich, die epistemische Situation des Ureinwohners in Bezug auf moralische Überzeugungen restituieren, stellt die Rechtfertigung für sie aber deshalb nicht wieder her, weil dieser Zustand schuldhaft, nämlich unter epistemisch willkürlicher Ausblendung relevanter Belege, die zur kritischen Prüfung der eigenen Position zwingen, hergestellt wurde. Die epistemologische Unschuld in Bezug auf moralische Überzeugungen ist für die meisten Menschen unwiederbringlich verloren und rational nicht erneuerbar. Die in P3 genannte Bedingung ist also für die meisten Menschen erfüllt oder, sofern dies nicht der Fall ist, liegt dies an einem Verstoß gegen grundlegende epistemische Pflichten, der die Rechtfertigung der ursprünglichen Überzeugung nicht weniger unterläuft als P3 selbst. 4.3. Der bloße Umstand, dass x davon weiß, dass seine Überzeugung p von y nicht geteilt wird, der vielmehr seinerseits von non-p überzeugt ist, stellt für sich genommen x noch vor keine epistemischen Probleme – solange x Grund zu der Annahme hat, dass seine Überzeugung besser begründet ist als die von y. So kann sich x (i) etwa im Besitz von Belegen für seine Überzeugung wissen, über die y nicht verfügt, (ii) sich selbst zu Recht größere epistemische Fähigkeiten zuschreiben als y (wie etwa ein gutes Gedächtnis, ein hohes Abstraktionsvermögen verbunden mit situationsangemessener Urteilskraft, die Fähigkeit zu komplexen theoretischen und praktischen Schlüssen etc.), von denen er annehmen darf, dass sie in Bezug auf die Bildung der Überzeugung p zum Tragen kommen, oder (iii) auf epistemisches Fehlverhalten aufmerksam machen (wie etwa schlichte Faulheit, Orientierung an hartnäckigen Vorurteilen etc.), die y dazu geführt haben, dass er trotz gleich guter Belege und vergleichbarer epistemischer Fähigkeiten hier zu einer abweichenden Überzeugung gelangt ist. In all diesen Fällen darf x, obwohl er sich der Meinungsverschiedenheit mit y wohl bewusst ist, zu Recht an seiner ursprünglichen Überzeugung festhalten. Auch wenn keine der Bedingungen (i)–(iii) erfüllt ist, kann sich x zudem auf das Urteil anerkannter 23

Vgl. auch das analoge Beispiel bei Sinnott-Armstrong, Moral Relativity, S. 323.

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Experten in dem strittigen Bereich berufen – auch wenn x selbst nicht über bessere Belege zugunsten von p verfügt, als y zugunsten von non-p, hat er vielleicht Grund zu der Annahme zweiter Ordnung, dass die entsprechenden Experten (z. B. aufgrund ihrer Ausbildung, des Verfügens über Heuristiken oder technische Geräte, die zur Wahrheitsfindung in dem fraglichen Bereich besonders geeignet sind etc.) zu einem Urteil über p in der Lage sind, das dem Urteil der NichtExperten x und y gleichermaßen überlegen ist. Stimmt dieses Urteil mit dem von x überein, besteht wiederum für x kein Grund, seine Ausgangsüberzeugung in Frage zu stellen. Was aber, wenn keine der Bedingungen (i)–(iii) erfüllt ist und es auch keine gesicherte Expertenmeinung gibt, an die x appellieren kann? In diesem Fall ist x genötigt, y in Bezug auf die fragliche Überzeugung als seinen epistemic peer anzuerkennen, 24 ohne dass er zugleich in der Lage wäre, die Entscheidung der Meinungsverschiedenheit sozial zu delegieren, also etwa an die überlegene epistemische Instanz der Experten zu verweisen. P4 beinhaltet, dass sich x in genau dieser Situation befindet. P5 wiederum formuliert in Form einer allgemeinen epistemischen Norm, welche Verpflichtungen sich für x aus dieser Situation ergeben – x darf nicht länger unverändert an seiner ursprünglichen Überzeugung festhalten. Würde x dies entgegen P5 dennoch tun, würde er sich einer nicht zu rechtfertigenden Form epistemischer Willkür schuldig machen, insofern er eine Überzeugung schlicht deshalb privilegiert, weil es seine eigene ist; das aber bildet natürlich keinen zulässigen Grund für sie. P5 beruht also auf der Annahme, dass eine solche Meinungsverschiedenheit die ursprüngliche Überzeugung in irgendeiner Weise unterläuft, also einen defeater für sie darstellt. Doch in welcher Weise genau ist dies der Fall? Alvin Plantinga unterscheidet zwei distinkte Typen von defeaters, nämlich rebutting defeaters (= RD) einerseits, undercutting defeaters (= UD) andererseits. 25 UD unterlaufen die Gründe für eine bestimmte Überzeugung, sind aber mit deren Inhalt durchaus vereinbar. Wenn ich mich beispielsweise in einem rot ausgeleuchteten Raum befinde, ist das mit meiner Überzeugung, vor einem roten Plakat zu stehen, durchaus vereinbar. Das Plakat mag durchaus rot sein, nur würde ich es auch als rot wahrnehmen, wenn es in Wirklichkeit weiß wäre – das Rotlicht würde es so erscheinen lassen. In Frage gestellt wird aber der Grund, aus dem ich das Plakat für rot halte, nämlich die entsprechende visuelle Wahrnehmung von ihm als rot. RD hingegen unterlaufen nicht die Gründe für eine bestimmte Überzeugung wie UD, sondern liefern direkt Gründe für eine mit dieser Überzeugung unvereinbare Überzeugung. Wenn ich etwa erfahre, dass gelbe Plakate an Straßen verboten sind, weil sie sich zu leicht mit Verkehrszeichen verwechseln lassen, 24

25

Zur Definition von epistemic peers vgl. Kelly, Epistemic Significance, § 2 und Elga, Reflection, bes. S. 484. Für diese Unterscheidung vgl. Plantinga, Belief , S. 359.

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und deshalb vollkommen aus dem Straßenbild des Landes verschwunden sind, bildet diese Informationen einen RD für meine ursprüngliche Überzeugung, es mit einem gelben Plakat zu tun zu haben. Ein entscheidender epistemologischer Unterschied zwischen UD und RD besteht darin, dass RD die Gründe für die fragliche Überzeugung selbst nicht unterlaufen, sondern ihrerseits weitere Gründe liefern, die gegen die ursprünglichen Gründe abzuwägen sind – diese selbst bleiben aber in Geltung. UD hingegen unterlaufen die ursprünglichen Gründe selbst, die sich als bloß scheinbare erweisen. 26 Um welche Art von defeater handelt es sich nun bei THM? Wenn ich erfahre, dass jemand über Gründe für eine mit meiner eigenen unvereinbare Überzeugung verfügt, scheint dies die Gründe, die ich für diese habe, selbst nicht zu unterlaufen. Wenn ich etwa die retributionstheoretischen Gründe kennen lerne, auf die mein Gesprächspartner seine Befürwortung der Todesstrafe stützt, stellt dies meine eigenen Gründe, die gegen die Todessstrafe sprechen, noch nicht in Frage. Insofern scheint es sich bei THM um einen RD zu handeln. Andererseits erscheint der Übergang zwischen RD und UD dann fließend, wenn es nicht bloß zu lokalen Meinungsverschiedenheiten kommt, sondern jede Überzeugung einer bestimmten Art, hier jede meiner moralischen Überzeugungen, mit einer Vielzahl von anderen, unvereinbaren Überzeugungen konfrontiert ist. Hier führt der Widerspruch nicht dazu, dass ich meine ursprüngliche Überzeugung zugunsten einer konkreten, anderen Überzeugung in Frage stelle. Was ich in Frage stelle, ist vielmehr, ob die Gründe, die in diesem Bereich verfügbar sind – und damit auch die, auf die ich mich selbst in meiner ursprünglichen Meinungsbildung gestützt habe – überhaupt geeignet sind, zu gerechtfertigten Überzeugungen zu führen. In diesem Fall, in dem sich grundlegende skeptische Zweifel an der gesamten Praxis selbst regen, fungiert THM als UD, nicht als RD. P5 scheint eine allgemeine epistemologische Norm darzustellen, die ganz unabhängig von dem konkreten Gegenstandsbereich moralischer Überzeugungen gilt. Die jüngst von Mark E. Kalderon vorgeschlagene Weise, zwischen zwei Arten der Akzeptanz einer Überzeugung zu unterscheiden, 27 von denen eben jene für den Bereich der Moral charakteristisch ist, die zu der durch EAM aufgeworfenen Schwierigkeit führt, legt indes nahe, dass sich im Bereich der Moral aus THM sogar größere epistemologische Probleme ergeben als dies für andere Arten von Überzeugungen der Fall ist. Doch was unterscheidet beispielsweise den Fall, in dem ich zu der Überzeugung komme, dass diese Krawatte zu breit ist, und mein ebenso informierter, geschmackssicherer und rationaler Kollege die Krawatte im Gegenteil für zu schmal hält, ohne dass ich irgendwelche Gründe zu der Annahme hätte, dass ich selbst richtig liege, während er sich täuscht, von dem Fall, in dem 26

27

In der epistemologischen Literatur werden UD daher auch als undermining, RD hingegen als overriding defeaters bezeichnet. Vgl. dazu Kalderon, Moral Fictionalism, S. 20ff.

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eine solche Meinungsverschiedenheit in Bezug auf eine moralische Frage, etwa die moralische Zulässigkeit der Todesstrafe, auftritt? Ein wichtiger Unterschied liegt Kalderons Unterscheidung zufolge darin, dass ich beide Überzeugungen in je unterschiedlicher Weise akzeptiere: Ich akzeptiere die Geschmacksüberzeugung als zutreffend für mich selbst, die moralische Überzeugung als zutreffend für alle – darunter auch mich, aber eben auch alle anderen. Aus der zweiten Art von Akzeptanz ergeben sich erheblich höhere epistemische Verpflichtungen als aus der ersten: Eine in dieser Weise akzeptierte Überzeugung betrachte ich etwa als geeignet, eine Prämisse für das theoretische und praktische Überlegen von allen anderen zu bilden. Um diese Unterstellung verantworten zu können, bin ich aber verpflichtet, mögliche Gründe, die andere Personen zu gegenteiligen Überzeugungen führen, nicht einfach zu verwerfen – wie es im Fall einer nur für mich selbst akzeptierten Überzeugung durchaus zulässig sein kann –, sondern sie einer näheren Prüfung zu unterziehen. Ergeben sich aus dieser Prüfung keine Gründe, die es erlauben, die Gründe für die unvereinbare Überzeugung zu verwerfen, muss ich darauf verzichten, meine Überzeugung weiterhin als für alle zutreffend zu akzeptieren. 28 Die epistemologische Norm, die im Fall dieser Art von Akzeptanz zur Anwendung kommt, fasst Kalderon als die der Noncomplacency: If acceptance is cognitive, then, in the context of a disagreement about reasons, a person is under a lax obligation to inquire further into the grounds of acceptance. Specifically, if a person is interested in the truth of S, then, in the context of disagreement about reasons, he would have a reason to re-examine his ground for accepting S, at least if his disputant is otherwise rational and reasonable, informed, and similarly interested in inquiring about S. 29

Entscheidend für die Einschätzung von EAM ist nun, dass moralische Überzeugungen offenbar paradigmatische Fälle von Überzeugungen darstellen, die wir in der zweiten der von Kalderon unterschiedenen Weisen akzeptieren und die daher der Norm Noncomplacency unterliegen: Wir erheben mit moralischen Überzeugungen einen kategorischen Anspruch, der beinhaltet, dass das, wovon wir überzeugt sind, für alle einen guten Grund darstellt, in einer bestimmten Weise zu handeln – eben deshalb erwarten wir, dass jemand, der unserem Urteil beipflichtet, damit auch die normativen Konsequenzen anerkennt, die sich für ihn daraus ergeben. 30 Dies gilt für Geschmacksüberzeugungen, zumindest sol28 29 30

Für ein entsprechendes Beispiel vgl. ebd., S. 23–25. Ebd., S. 21. Kalderon selbst freilich führt die Unterscheidung zwischen den beiden Arten der Akzeptanz im Rahmen eines Arguments für eine nonkognitivistische Deutung der Akzeptanz moralischer Überzeugungen ein: Träfe eine kognitivistische Deutung zu, so Kalderon, würde daraus zwingend folgen, dass wir in unseren moralischen Meinungsverschiedenheiten der Norm Noncomplacency unterliegen – insofern wir eben mit unseren moralischen Überzeugungen Ansprüche an alle richten. Kalderon

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che in Bezug auf die Krawattenbreite, nicht – wer sie akzeptiert, erwartet nicht, dass jeder andere Grund hat, seine Krawattensammlung entsprechend auszusortieren. Die epistemische Selbstzufriedenheit, die sich im Krawatten-Fall aus dieser Beschränkung der Akzeptanz auf den eigenen Fall ergibt, fehlt jedoch im Bereich der Moral, und zwar nicht aus kontingenten, sondern aus begrifflichen Gründen. Entschärfungsstrategien für EAM, die sich aus der Nichtanwendbarkeit der Noncomplacency-Norm ergeben, fallen damit im Bereich der Moral aus. Selbstzufriedenheit angesichts von Meinungsverschiedenheiten bildet, sofern die in den Prämissen von EAM genannten Bedingungen erfüllt sind, hier keine epistemologisch zulässige Option. EAM ergibt sich, wie die bisher angestellten Überlegungen nahe legen, also nicht bloß aus der Anwendung allgemeiner epistemologischer Normen auf den Bereich der Moral, sondern stellt sich in ihm aufgrund des für sie spezifischen kategorischen Anspruchs erst in voller Schärfe. Bevor ich im nächsten Abschnitt zwischen drei Strategien unterscheiden möchte, dieser Situation zu begegnen, bleibt zunächst die letzte Prämisse von EAM zu prüfen. 4.4. Welche Konsequenzen ergeben sich schließlich aus der durch P1–P4 charakterisierten epistemischen Situation? Die in P5 aufgestellte Norm ist durch ihre negative Formulierung bewusst offen gehalten: Gefordert ist lediglich, nicht unverändert an der ursprünglichen moralischen Überzeugung festzuhalten; diese muss vielmehr entweder (i) ganz aufgegeben, oder (ii) zumindest abgeschwächt werden. Die Forderung, in einer solchen Situation sein Urteil zu suspendieren, wird etwa von Henry Sidgwick erhoben: And it will be easily seen that the absence of […] disagreement must remain an indispensable negative condition of the certainty of our beliefs. For if I find any of my judgements, intuitive or inferential, in direct conflict with the judgement of some other mind, there must be error somewhere; and if I have no more reason to suspect error in the other mind than in my own, reflective comparison between the two judgements necessarily reduces me to a state of neutrality. And though the total result in my mind is not exactly suspense of judgment, but an alternation and conflict between positive affirmation by one act of thought and the neutrality that is the result of another, it is obviously something very different from scientific certitude. 31

31

hält es aber für eine begriffliche Wahrheit, dass unsere moralische Praxis keine solche Norm beinhaltet, und leitet daraus in einer Art von modus tollens ab, dass moralische Akzeptanz einer nonkognitivistischen Deutung unterzogen werden muss. (Vgl. ebd., S. 36f.) Für die These, es handele sich um eine begriffliche Wahrheit, dass unsere moralische Praxis nicht der Norm Noncomplacency unterliegt, bringt Kalderon indes keine weiteren Belege bei, die über die bloße Äußerung seiner entsprechenden begrifflichen Intuition hinausreichen. Sidgwick, Methods, S. 342.

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Die Notwendigkeit, die Sidgwick hier im Auge hat, ist offensichtlich eine rationale Notwendigkeit. Es gibt aus seiner Sicht hier keinen guten Grund, an der ursprünglichen Überzeugung festzuhalten. Gleichzeitig zeigt sich Sidgwick an der zitierten Stelle aber skeptisch, ob der faktische psychologische Haushalt des Subjekts der Überzeugung den Forderungen der Rationalität tatsächlich zu entsprechen vermag. Als die psychologisch wahrscheinliche Folge aus der Konfrontation mit THM sieht Sidgwick ein Schwanken zwischen der rational geforderten Einstellung der Suspendierung der eigenen Überzeugung einerseits, dem hartnäckigen Festhalten an ihr andererseits – es scheint dem Subjekt, auch wenn es sich der Meinungsverschiedenheit bewusst ist und es über keine guten Gründe für die Überlegenheit der eigenen Auffassung verfügt, weiterhin schlicht so zu sein, wie es seiner ursprünglichen Überzeugung entspricht. 32 Die rational geforderte Neutralität gegenüber der Möglichkeit von non-p wie gegenüber der von p erweist sich als psychologisch nur schwer realisierbar. Doch ist die einzig rational zulässige – wenn auch psychologisch schwer zu realisierende – Konsequenz tatsächlich die Suspension der ursprünglichen Überzeugung? Eine zu dem Sidgwick’schen Ansatz alternative Option besteht darin, die epistemische Einstellung zum Inhalt der ursprünglichen Überzeugung von einer Einstellung des Überzeugt-Seins zu einer der bloßen Akzeptanz abzuschwächen: 33 Wer p akzeptiert, ist von p zwar nicht überzeugt, handelt aber weiter so, als träfe p zu – im Fall der Moral wird er also p als Prämisse seines praktischen Überlegens verwenden, im Fall einer akzeptierten naturwissenschaftlichen Hypothese wird er sie seinen weiteren Experimenten und deren Deutung zugrunde legen. 34 Das Subjekt tritt damit im Falle der Akzeptanz in deutlich geringere Distanz zum Inhalt seiner ursprünglichen Überzeugung als dies bei deren Suspension der Fall 32

33

34

Crisp (Intuitionism and Disagreement, S. 33) spricht in Bezug auf einen solchen Zustand des Schwankens zwischen unvereinbaren epistemischen Einstellungen treffend von einer Art von »epistemological schizophrenia«. Eine solche Schizophrenie hat indes hohe psychologische – beide Einstellungen müssen mental voneinander getrennt gehalten werden – und rationale – welche der Einstellungen bildet den geeigneten Ausgangspunkt für das eigene praktische Überlegen? – Folgekosten. Für diese Option vgl. Audi, Rational Disagreement, S. 234. Zur Kategorie der Akzeptanz vgl. auch Audi, Doxastic Voluntarism. Zu beachten bleibt, dass Audi mithin den Begriff der Akzeptanz in einer terminologischen Weise verwendet, die von der an Kalderon anschließenden Unterscheidung zweier Weisen der Akzeptanz einer Überzeugung (vgl. oben) deutlich zu unterscheiden ist: Kalderon versteht die Akzeptanz eines moralischen Satzes – unabhängig davon, ob dieser kognitivistisch oder non-kognitivistisch vestanden wird – gerade als Schlusspunkt einer Untersuchung: »A person is justified in fully accepting if, by the norms internal to inquiry or by authoritative norms external to it, he possesses sufficient reason to end inquiry.« (Kalderon, Moral Fictionalism, S. 7) Akzeptanz in Audis Bedeutung des Begriffs hingegen eignet sich gerade nicht als ein solcher Schlusspunkt, sondern bleibt prinzipiell offen für die Entdeckung neuer Belege, die es erlauben könnten, erneut in den Zustand des Überzeugt-Seins überzugehen. Das Akzeptieren von p ist allerdings, anders als die bloß hypothetische Annahme von p for the sake of argument, unvereinbar damit, p für falsch zu halten.

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ist; da er im epistemischen Haushalt des Subjekts weiterhin präsent bleibt, entfällt zumindest ein Teil der Motivation für die im Fall der Suspension drohende Schizophrenie eines ständigen Schwankens zwischen inkompatiblen epistemischen Einstellungen. 5. Unabhängig von der Frage, zu einer wie starken Veränderung seiner epistemischen Einstellungen EAM Person x nötigt, ob sie also ihre ursprüngliche Überzeugung ganz zu suspendieren hat, oder an ihr in einem abgeschwächten epistemischen Modus, etwa dem der Akzeptanz, festhalten darf, scheint EAM sein Beweisziel zu erreichen: Wer an einer moralischen Überzeugung angesichts von THM und in der durch P1–P5 charakterisierten epistemischen Position festhält, macht sich eines ungerechtfertigten Dogmatismus schuldig, der auf der willkürlichen Privilegierung der eigenen Überzeugung allein deshalb, weil es die eigene ist, beruht. 35 Unterläuft THM damit in der Tat die Rechtfertigung für die Mehrzahl unserer moralischen Überzeugungen, wie EAM nahe legt? Bevor eine so weitreichende Schlussfolgerung zu ziehen wäre, gilt es zunächst, zwei grundlegende Strategien zu prüfen, die es erlauben sollen, die Konklusion von EAM zu vermeiden: 36 Die erste dieser Strategien erreicht dieses Ergebnis, indem sie bestreitet, dass die in P4 genannte Bedingung überhaupt erfüllbar ist. Ist dies nicht der Fall, wäre EAM zwar ein schlüssiges Argument, es liefe aber leer. Wir befinden uns, so die Kernannahme dieser Strategie, nie in einer epistemischen Situation, in der wir konzedieren müssen, mit epistemischen peers konfrontiert zu sein, die mit unseren eigenen unvereinbare moralische Überzeugungen vertreten, ohne dass wir selbst Grund zu der Annahme hätten, im Recht zu sein, während sich diese peers täuschen. Die zweite dieser Strategien konzediert im Gegensatz zur ersten, dass wir uns durchaus häufig in solchen Situationen befinden, bestreitet aber, dass dies die Rechtfertigung für unsere ursprüngliche Überzeugung unterläuft und uns dazu nötigt, an ihr nicht länger unverändert festzuhalten; sie bestreitet also P5. Wie überzeugend sind diese beiden Strategien? Im Rahmen der ersten Strategie möchte ich zunächst ein Argument von Adam Elga prüfen. 37 Nach Elga sind wir genau dann mit einem epistemischen peer konfrontiert, wenn wir schon vor der Diskussion einer bestimmten Frage annehmen dürfen, dass er mit gleicher Wahrscheinlichkeit zur richtigen Antwort auf diese Frage gelangen wird, wie wir 35

36

37

So die These von Crisp; seiner Auffassung nach trifft der Dogmatismusvorwurf den Großteil der in der philosophischen Ethik vertretenen Positionen. Vgl. Crisp, Intuitionism and Disagreement, S. 34. Die Unterscheidung dieser beiden Strategien und ihre inhaltliche Definition ist eine idealtypische, die sich aus meiner eigenen Strukturierung des Problems, insbesondere der argumentativen Struktur von EAM, ergibt. Die im Folgenden zu diskutierenden philosophischen Positionen werde daher jeweils nur insofern ausgewertet, als sie einen Beitrag zu der so gefassten Problemstellung leisten. Vgl. Elga, Reflection.

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dies für uns selbst annehmen dürfen. Zu eben dieser Annahme sind wir nach Elga aber in den Fällen, auf die sich THM bezieht, nie berechtigt: Geht es um ein konkretes moralisches Problem wie die Zulässigkeit der Todesstrafe, so steht dieses Problem im Kontext einer ganzen Reihe anderer Fragen (Retribution, Freiheitsbegriff, Existenz einer unsterblichen Seele etc.), über die zwischen den Parteien der Meinungsverschiedenheit ebenfalls keine Einigkeit bestehen wird. Da dies so ist, haben sie aber auch keinen Anlass, voneinander zu erwarten, dass sie mit gleicher Wahrscheinlichkeit zu einer richtigen Antwort auf die Frage nach der Zulässigkeit gelangen werden, und damit auch keinen Anlass, sich wechselseitig als epistemische peers anzuerkennen. Mit dieser Argumentation wird jedoch das Problem offenbar nur verschoben: Denn mit welchem Recht nimmt die jeweilige Partei an, dass der Gesamtkomplex ihrer Überzeugungen dem der anderen Partei überlegen ist? Unter selbstverständlicher Voraussetzung der Richtigkeit des eigenen Überzeugungssystems den Vertreter einer Gegenposition als epistemischen peer auszuschließen, weil er für die Einschätzung eines konkreten Problems nicht über die zutreffenden Hintergrundannahmen verfügt, erscheint als question-begging. Sofern die einzelne Partei aber über keinen Grund für die Annahme verfügt, dass ihr eigener Gesamtkomplex an Überzeugungen dem der anderen Partei überlegen ist, muss sie diese andere Partei eben als epistemischen peer in Bezug auf ihr Überzeugungssystem insgesamt anerkennen und damit alle entsprechenden Überzeugungen suspendieren. Dann aber entfällt nach Elga die Grundlage für jegliche Bewertung der Ausgangsfrage. 38 Mit diesem Argument, würde es zeigen, was es zeigen soll, wäre der Infragestellung der eigenen epistemischen Position durch epistemische peers tatsächlich der Boden entzogen: In Bezug auf ein einzelnes Problem lassen sich immer Hintergrundannahmen identifizieren, die der Vertreter der Gegenposition nicht teilt und die es damit erlauben, ihn als peer zu disqualifizieren; das eigene Überzeugungssystem als ganzes wiederum lässt sich nur um den Preis suspendieren, dass einer Einschätzung der Ausgangsfrage jede Grundlage entzogen wird. Elgas Argument beruht indes auf einer simplifizierenden Dichotomie: Selbst wenn man Elga konzediert, dass die Suspendierung des gesamten Überzeugungssystems keine Option darstellt, ist das dogmatische Festhalten an jeder einzelnen Überzeugung außer der jeweils strittigen als Grundlage für die Gewährung des Status eines epistemischen peers weder die einzige noch eine überzeugende Alternative: Wer etwa über die Todesstrafe streitet, wird dies erstens durchaus auf der Basis einer Reihe von gemeinsamen Überzeugungen tun, die trotz weiterer Divergenzen bereits ausreichen können, um den Status des epistemischen peer zu gewähren. 39 Zweitens besteht kein Anlass, die ihrerseits strittigen Hintergrundan38

39

Vgl. ebd., S. 496: »Once so much has been set aside, there is no determinate fact about what opinion of [x] remains.« Für ein Beispiel, das diese Möglichkeit belegt, vgl. McGrath, Moral Disagreement, S. 105f.

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nahmen bei der Prüfung, ob jemand den Status des epistemischen peer verdient, schlicht als zutreffend vorauszusetzen – wer die Todesstrafe entscheidend deshalb befürwortet, weil er an ein ewiges Leben und das Jüngste Gericht glaubt, darf diese ihrerseits hochgradig umstrittenen Annahmen nicht als Ausschlusskriterien verwenden. Die Immunisierungsstrategie Elgas gegen die Zulassung von epistemischen peers scheitert damit – der für die Frage entscheidende Bereich zwischen der isolierten Prüfung der strittigen Frage bei Voraussetzung aller weiteren Überzeugungen als zutreffend einerseits, der vollständigen Suspendierung aller dieser Überzeugungen andererseits wird durch sein Argument nicht einmal berührt. Auch wenn sich kein Argument finden lässt, das nachweist, dass die in P4 genannte Bedingung unerfüllt bleiben muss, stellt sich die Frage, wie leicht oder wie schwer sie de facto erfüllbar ist. Sofern x über bessere Belege für p als y verfügt, größere epistemische Fähigkeiten aufweist, oder seinerseits defeaters für die Überzeugung von y, dass non-p, anführen kann, besteht für x kein Anlass, y als epistemischen peer in Bezug auf die strittige Frage anzuerkennen. Nun ist aber aus folgenden Gründen davon auszugehen, dass diese Bedingungen nur selten nicht entweder schon zu Beginn der Meinungsverschiedenheit erfüllt sind, oder aber sich zumindest als Resultat des Reflexionsprozesses, der bei x als Reaktion auf die Herausforderung durch y einsetzt, erfüllen lassen: 40 Erstens sind x seine eigenen Belege für seine Überzeugung p epistemisch zugänglich, nicht aber die Belege von y (sofern es sich nicht um öffentlich zugängliche Belege handelt, von denen er annehmen kann, dass sie allen Subjekten gleichermaßen offen stehen). Damit liegt im Falle einer Meinungsverschiedenheit der Verdacht nahe, dass y relevante Belege nicht zur Kenntnis genommen hat und damit seine Überzeugung, dass non-p, auf einer gegenüber der eigenen unterlegenen Basis gebildet hat. Zweitens sind x ebenso wenig die epistemischen Fähigkeiten seines Gegners zugänglich. Selbst wenn x also konzediert, über keine überlegenen Belege zu verfügen, darf er immer noch annehmen, dass sich die Meinungsverschiedenheit mit y auf dessen unterlegene epistemische Fähigkeiten, diese Belege auszuwerten und zu einem Urteil über die strittige Frage zu gelangen, zurückführen lässt. Drittens schließlich verbessern wir im Zuge der kritischen Reflexion selbst, die durch die Meinungsverschiedenheit angestoßen wird, die Rechtfertigung für

40

Audi (Intuition, S. 490) vertritt ohne weitere Begründung die Auffassung, dass bereits die bloße Tatsache, dass y non-p glaubt, »for a person who rationally believes p« einen Grund darstellt, y nicht als epistemischen peer anzuerkennen. Das erscheint mir die Problemstellung insofern zu präjudizieren, als x qua Voraussetzung durch die entdeckte Meinungsverschiedenheit zu der Frage Anlass hat, ob er es ist, der vernünftigerweise p glaubt – und nicht etwa y vernünftigerweise vom Gegenteil überzeugt ist.

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unsere ursprüngliche Überzeugung – wir überprüfen unsere Belege, stellen die Argumente in Frage, auf die sie sich stützt etc. 41 Überlegungen dieser Art führen Philosophen wie Audi zu der Auffassung, dass auch angesichts von THM nur sehr schwer eine epistemische Situation hergestellt werden kann, in der P4 tatsächlich erfüllt ist. 42 Ein solches Urteil scheint mir aber voreilig zu sein, insofern es die soziale Dimension ausblendet, die gerade für paradigmatische moralische Meinungsverschiedenheiten charakteristisch ist. Spezielle Kontexte wie Ethikkommissionen, in denen eine Vielzahl von Subjekten ethischen Problemstellungen nachgehen, sind bewusst so eingerichtet, dass etwa die drei genannten Bedingungen, die es einem einzelnen Subjekt erlauben können, das Eingeständnis epistemischer Parität zu Recht zu vermeiden, ausgeschaltet bleiben: So bemühen sich Kommissionen darum, eine allen gleichermaßen zugängliche Basis an Belegen, die anhand transparenter Relevanzkriterien ausgewählt werden, sicherzustellen; individuelle Unterschiede in den epistemischen Fähigkeiten werden durch epistemologische Arbeitsteilung aufgehoben (auf beiden Seiten einer Streitfrage werden sich gleichermaßen kluge und weniger kluge Vertreter wiederfinden); die gesteigerte Rechtfertigung durch den Reflexionsdruck, den die Meinungsverschiedenheit auslöst, kommt beiden Seiten zugute. Es bleibt daher festzuhalten, dass P4 zwar auf der Ebene der Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Individuen x und y in der Tat schwer erfüllbar sein mag, jedoch durchaus geeignete epistemische Kontexte in der intersubjektiven Erörterung moralischer Probleme bereitstehen, in denen die Beteiligten begründet zu dem Ergebnis kommen können, dass P4 mit Bezug auf die jeweilige Streitfrage erfüllt ist. Insofern die Ergebnisse der Diskurse in solchen Kontexten über trickle-down-Prozesse ihrerseits zu den Belegen gehören, die die einzelnen Subjekte bei ihrer eigenen moralischen Meinungsbildung zu berücksichtigen haben, findet das durch EAM aufgeworfene Problem damit auch Eingang in deren individuelle moralische Urteilsbildung. Doch selbst wenn wir uns in einer Position epistemischer Parität mit dem Vertreter einer mit unserer eigenen unvereinbaren Überzeugung befinden, sind wir dann wirklich, wie P5 unterstellt, verpflichtet, nicht länger unverändert an unserer ursprünglichen Überzeugung festzuhalten? Sollte diese Frage im Sinne der zweiten der oben unterschiedenen Strategien verneint werden müssen, wäre der Versuch, P4 als unerfüllbar bzw. schwer zu erfüllen zu erweisen, überflüssig; wir könnten selbst angesichts der in P4 dargestellten epistemischen Situation unverändert an unserer Überzeugung festhalten.

41 42

Vgl. ebd. S. 490. Vgl. ebd., S. 489: »Reflection shows […] that it is very hard to be justified in believing (a) or (b) [i.e. the conditions for epistemic parity, C.H.].« Vgl. auch: Audi, Rational Disagreement, S. 236–239.

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Für Shafer-Landau befinden wir uns in Bezug auf die große Mehrzahl unserer Überzeugungen in einer solchen Position: 43 Alle unsere empirischen Überzeugungen etwa sehen sich durch skeptische Argumente in Frage gestellt, die in keiner Weise durch weitere Belege oder durch Verweis auf epistemische Schwächen der Skeptiker entkräftet werden können, ohne zu Recht den Vorwurf auf sich zu ziehen, die Sache zu eigenen Gunsten zu präjudizieren. Dasselbe gilt für die meisten Fragen der Philosophie, in der nach Shafer-Landau ebenfalls keine solche Möglichkeit besteht. Moralische Meinungsverschiedenheiten werfen damit gar kein spezifisches Problem auf: Da wir nur um den Preis einer inakzeptablen Verarmung unseres Überzeugungssystems in Situationen, in denen P4 erfüllt ist, unsere ursprünglichen Überzeugungen suspendieren könnten, dürfen wir in allen genannten Bereichen an ihnen festhalten – »we have no choice but to rely on our intuitions and considered judgements.« 44 Shafer-Landau identifiziert also zur Abwehr des EAM so viele partners in crime, dass fraglich werden soll, ob überhaupt noch von einem crime die Rede sein kann. Sein Argument führt jedoch auf die folgenden zwei Probleme: Erstens ist unklar, warum ein Verbrechen (hier: ein Verstoß gegen berechtigte epistemologische Prinzipien wie P5) durch die bloße Tatsache, dass es sich als weit verbreitet erweist, entschuldigt werden sollte. Es geht eben um normative Prinzipien, die von der Frage nach ihrer faktischen Befolgung nicht notwendig berührt werden. Zweitens setzt das Argument voraus, dass sich überzeugende Analogien zwischen unserer epistemischen Situation in Bezug auf empirische, philosophische und moralische Überzeugungen finden lassen. Dass diese bestehen, hat ShaferLandau m. E. nicht ausreichend gezeigt: Moralische Meinungsverschiedenheiten, wie sie THM zugrunde liegen, sind ja von philosophischen Begründungsdiskursen (etwa zwischen Kantianern, Utilitaristen und Tugendethikern) zu unterscheiden; eine Analogie zu philosophischen Meinungsverschiedenheiten wie die zwischen Kompatibilisten und Inkompatibilisten legt sich eher für diese Begründungsebene nahe. Eine ähnliche Vermischung von Ebenen lässt sich für die Infragestellung alltäglicher empirischer Überzeugungen durch den epistemologischen Skeptiker konstatieren: Hier unterstellt Shafer-Landau eine epistemische Parität, die dadurch zustande kommt, dass eine alltägliche empirische Überzeugung mit dem Einwand eines epistemologischen Skeptikers konfrontiert ist. Die Parität entsteht aber eben nicht schon auf der Ebene alltäglicher empirischer Überzeugungen selbst (oder ist dort einfach zu überwinden, etwa durch zusätzliche Belege, die Konsultierung von Experten, den Einsatz anerkannter Verfahren etc.). Im Bereich der Ethik hingegen entsteht die fragliche Parität nicht erst dann, wenn alltägliche moralische Überzeugungen mit den Einwänden eines moralepistemologischen Skeptikers konfrontiert werden, sondern sie findet sich eben schon auf der Ebene alltäglicher moralischer 43 44

Vgl. Shafer-Landau, Ethics as Philosophy, S. 222f. Ebd., S. 224.

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Überzeugungen selbst – genau darin besteht die spezifische Schwierigkeit, die THM in der Moral aufwirft. Shafer-Landaus Versuch einer »globalen« Entschärfung von EAM durch die Identifizierung von partners in crime, die sich dann gleichermaßen als companions in innocence erweisen, scheitert damit. Doch vielleicht haben wir nicht nur keine Wahl, wie Shafer-Landau meint, P5 zu verletzen, vielleicht beruht P5 selbst auf einem Irrtum? Dieser Frage möchte ich im Folgenden anhand von drei, von Thomas Kelly in seinem Aufsatz The Epistemic Significance of Disagreement 45 formulierten Argumenten nachgehen, die eine positive Antwort auf diese Frage nahe legen. Erstens argumentiert Kelly, dass x selbst dann, wenn x y als epistemischen peer anerkennt, er also konzediert, weder im Besitz besserer Belege noch überlegener epistemischer Fähigkeiten zu sein, y dennoch zu Recht eine irrige Beurteilung der Belege vorwerfen kann, die ihn zu der mit der eigenen inkompatiblen Überzeugung geführt hat. So wie im Schach zwei Spieler, die auf demselben Niveau spielen, keineswegs immer ein Patt erzielen, darf auch x in der genannten Situation annehmen, dass sein peer im konkreten Fall (»on this particular occasion« 46) eben einen Fehler begangen hat, der aber seine allgemeinen, den eigenen gleichwertigen, epistemischen Fähigkeiten nicht in Frage stellt. Abgesehen davon, dass, wie Kelly konzediert, damit die Frage noch gar nicht berührt ist, wer denn faktisch richtig liegt, bleibt unklar, welches Recht x eigentlich dazu hat, y (anstatt sich selbst) einen Fehler zu unterstellen; diese Unterstellung erscheint als willkürlich und insofern petitiös, als sie sich auf nichts anderes als die Tatsache der Meinungsverschiedenheit selbst stützt – wenn y von non-p überzeugt ist, muss eben etwas falsch gelaufen sein. Zweitens wirft Kelly die Frage auf, ob die Überzeugungen der epistemischen peers zusätzliche Belege für die strittige Frage darstellen, nämlich Belege höherer Ordnung. Dass jemand, der, wie ich weiß, über vergleichbare (hohe) epistemische Fähigkeiten wie ich selbst verfügt, zu einer bestimmten Einschätzung einer Frage kommt, stellt zumindest einen Beleg für die Überzeugung dar, dass die entsprechenden Belege, auf die er sich stützt, für diese Einschätzung sprechen. Aber bildet diese Tatsache auch einen Beleg für die Einschätzung selbst? Aus der erstpersönlichen Perspektive dessen, der zu dieser Einschätzung kommt, ist dies jedenfalls nicht der Fall; er bildet sich seine Meinung auf der Grundlage der Belege erster Ordnung, zu denen er keineswegs die höherstufige Überzeugung hinzuzählen wird, dass er eben als Person mit hohen epistemischen Fähigkeiten zu einer solchen Einschätzung gekommen ist; dies hieße, die Belege in unzulässiger Weise doppelt zu werten. Warum aber, so der Kern von Kellys Überlegung, sollte dann jemand, der zu einer abweichenden Einschätzung gelangt, eben diese 45 46

Vgl. Kelly, Epistemic Significance. Ebd., S. 180.

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Tatsache als Beleg gegen sie werten, wenn der peer sie selbst nicht als Beleg für sie wertet? 47 Drittens aber bestreitet Kelly, dass x, selbst dann, wenn er im Gegensatz zum Ergebnis der gerade angestellten Überlegung die mit seiner eigenen unvereinbare Überzeugung seines epistemischen peers als zusätzlichen Beleg erster Ordnung gegen seine eigene Überzeugung wertet, im Sinne von P5 dazu verpflichtet ist, an dieser nicht länger unverändert festzuhalten. Wenn nämlich zu den Belegen, die x und seinem peer y zur Verfügung stehen, die Tatsache als weiterer Beleg hinzugezählt werden darf, dass y auf der Grundlage dieser Belege zur Überzeugung von non-p kommt, dann muss auch die Tatsache als Beleg zugelassen werden, dass x selbst auf derselben Grundlage eben zu der Überzeugung von p kommt. Damit aber ist kein Fortschritt über die Ausgangssituation hinaus erreicht. 48 Die dritte Überlegung Kellys macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Belege erster Ordnung nicht einfach vor dem Hintergrund des Umstands, dass verschiedene Personen zu einer unvereinbaren Einschätzung dessen, wofür sie sprechen, gelangen, irrelevant werden. Dass die Patt-Situation in der Einschätzung der Belege erster Ordnung aber einfach dadurch restitutiert wird, dass nun die Tatsachen, dass x zur Überzeugung von p und y zur Überzeugung von non-p kommt, als weitere Belege pro und contra hinzugezählt werden, hilft nicht viel weiter – was nämlich, wenn 999 epistemische peers (und nicht nur einer) zu einer mit der von x inkompatiblen Überzeugung gelangen? Werden die Tatsachen, dass dies bei ihnen jeweils der Fall ist, als Belege zugelassen, ergibt sich ein sehr klares Resultat in Bezug auf die strittige Frage. Hier könnte sich Kelly auf seine zweite Überlegung zurückziehen, die ja in Frage stellen sollte, dass Belege höherer Ordnung überhaupt für die Einschätzung der Ausgangsfrage zugelassen werden dürfen. Auch hier ist die Situation, in der dies unzulässig sein könnte, eine recht künstliche – dann nämlich, wenn zwischen den streitenden Parteien Konsens über die relevanten Belege erster Ordnung und über gleichwertige epistemische Fähigkeiten besteht. Dies wird aber in der Praxis kaum der Fall sein: Wenn ein von mir geschätzter epistemischer peer zu einer mit meiner eigenen unvereinbaren Überzeugung kommt, werde ich dies daher zunächst zum Anlass nehmen zu prüfen, ob er über Belege verfügt, die mir selbst bisher nicht zugänglich sind, anstatt ohne Weiteres die Tatsache selbst, dass er zu einer solchen Überzeugung gekommen ist, als Beleg gegen meine eigene Überzeugung zu rechnen. Damit sind wir aber auf die Überlegungen des letzten Abschnitts zurückverwiesen, nämlich die Frage, ob tatsächlich die 47

48

Vgl. ebd., S. 187. Ein solches Verfahren mag allerdings dann gerechtfertigt sein, wenn für x die Belege, auf die y seine Einschätzung stützt, selbst nicht zugänglich sind; in diesem Fall kann er die Tatsache, dass y als Person mit hohen epistemischen Fähigkeiten zu der entsprechenden Einschätzung kommt, gleichsam als Stellvertreter für die ihm unzugänglichen Belege verwenden. Vgl. ebd., S. 189f.

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Bedingung epistemischer Parität erfüllt ist. Der Versuch, diese Frage durch die gerade erörterten Argumente zu erübrigen, scheitert damit – er überzeugt nur unter epistemologischen Laborbedingungen, die im Falle der durch THM im Bereich der Moral aufgeworfenen Probleme gerade nicht gegeben sind. 6. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich nun aus den in den letzten Abschnitten angestellten Überlegungen zu EAM? Erstens bleibt festzuhalten, dass die Strategien einer globalen Immunisierung gegen EAM scheitern, und zwar sowohl aus für das normative System der Moral spezifischen wie aus allgemeinen epistemologischen Gründen: Zum einen hat sich gezeigt, dass die schlichte Bestreitung des Verbots epistemologischer Selbstzufriedenheit mit dem kategorischen Anspruch der Moral unvereinbar ist: In Fragen der Mode mag es zulässig sein, den Anspruch des eigenen Geschmacks auf den eigenen Fall zu begrenzen und Meinungsverschiedenheiten über Geschmacksfragen achselzuckend zur Kenntnis zu nehmen, ohne entweder das eigene Urteil zu modifizieren oder aber eine begründete Zurückweisung des damit unvereinbaren Urteils zu versuchen. Angesichts des für das normative System der Moral wesentlichen Merkmals der Kategorizität – ihre Normen bilden die Quelle von Gründen, die sich an alle richten, auf die sie Anwendung finden – würde das Verfolgen einer solchen Strategie nicht dazu führen, die Möglichkeit moralischen Wissens zu verteidigen, sondern es als moralisches zum Verschwinden bringen. Zum anderen konnten auch die allgemeinen, epistemologischen Argumente nicht überzeugen, die nachweisen sollten, dass die epistemologische Norm P5, also das Verbot, angesichts von epistemischer Parität an der umstrittenen Überzeugung unverändert festzuhalten, aufgegeben werden sollte: Entweder, weil sie faktisch für die große Mehrzahl unserer Überzeugungen unerfüllbar bleibt (dann würde sich kein spezifisches Problem für die Moral ergeben) oder weil die Überzeugungen epistemischer peers keine zulässigen weiteren Belege für bzw. gegen die umstrittene Überzeugung darstellen und damit die epistemische Ausgangslage nicht verändern können. Das EAM stellt sich damit gerade im Bereich der Moral in voller Schärfe. Sind wir also tatsächlich genötigt, angesichts von THM die Mehrzahl unserer moralischen Überzeugungen ganz zu suspendieren oder zumindest unseren Anspruch auf moralisches Wissen in solchen Fragen erheblich abzuschwächen? Auch eine solche Konsequenz erscheint vor dem Hintergrund der angestellten Überlegungen als übereilt und zu pauschal. Zweitens bleibt nämlich kritisch zu prüfen, ob nicht das Ausmaß der überhaupt strittigen moralischen Überzeugungen durch EAM überschätzt wird. In diesem Zusammenhang gilt es zunächst, die Meinungsverschiedenheiten auszuscheiden, die sich nicht-moralischen Aspekten moralischer Probleme verdanken; bereits diese methodische Forderung ist angesichts einer durch zunehmende Tech-

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nisierung und Vernetzung charakterisierten Situation, in der moralische und nichtmoralische Probleme in immer komplexerer Weise interagieren, schwer erfüllbar. Weiter hat sich gezeigt, dass nicht all-things-considered Urteile, sondern solche, die moralische Prinzipien zum Inhalt haben, den aussichtsreichsten Ansatzpunkt für EAM darstellen. Macht man sich hier jedoch erstens die Unterscheidung zwischen Konsensen und Dissensen in moralischen Gründen einerseits, über solche Gründe andererseits klar, und trennt die Frage nach den Implikationen hartnäckiger Meinungsverschiedenheiten in den philosophischen Begründungsdebatten für normativ-ethische Positionen als gesonderten Problembereich ab, 49 erscheint der Versuch, einen ethischen Konsens auf der Ebene von normativ invarianten pro tanto-Gesichtspunkten zu erreichen, keineswegs als aussichtslos. 50 Unabhängig von der weiterhin offenen Frage, ein wie großer Konsens sich auf diesem Wege erreichen lässt, zeichnet sich doch ein hinreichend großer Konsens ab, um das Umschlagen von konkreten Meinungsverschiedenheiten als rebutting defeaters in undermining defeaters auszuschließen: Auch in der Moral sind Meinungsverschiedenheiten nicht so verbreitet, dass sie ipso facto skeptische Zweifel an der Möglichkeit, überhaupt gute Gründe für oder gegen eine bestimmte Überzeugung finden zu können, rechtfertigen würden. Drittens ist damit für jede einzelne Meinungsverschiedenheit zu prüfen, ob sie tatsächlich in eine Situation führt, die einen Ansatzpunkt für EAM liefert. Sind die Bedingungen für epistemische Parität tatsächlich erfüllt? Entscheidend scheint mir zu sein, dass genau diese Frage gerade im Bereich der Moral nur schwer zu bejahen sein wird: Selbst in einer Frage der Teilchenphysik läßt sich ein Konsens über die relevanten Belege, die einschlägigen epistemischen Fähigkeiten der Forscher, potentielle defeaters etc. oft nur schwer erreichen. In der Moral hingegen fällt es noch weitaus schwerer, zwischen den Vertretern miteinander unvereinbarer Positionen einen solchen Konsens zu erzielen: Fragen wie die, welche inner- und außermoralischen Belege für die jeweilige Frage relevant sind, welche epistemischen Fähigkeiten zum Tragen kommen, wie hoch diese einzuschätzen sind (und ob sie überhaupt kommensurabel sind – wie etwa ist das intuitiv-emotionale Urteil einer Krankenschwester mit langjähriger Berufserfahrungen gegen die analytischen Fähigkeiten eines beratenden Bioethikers zu gewichten?), welche defeaters in welcher Weise zum Tragen kommen (gerade der normative Anspruch der Moral erhöht gegenüber etwa physikalischen Problemen 49

50

Die Frage, inwiefern sich auf dieser Ebene ein Pendant zu EAM formulieren ließe und wie dessen Verhältnis zu EAM zu bestimmen wäre, bedürfte einer eigenen Prüfung. Das wohl einflussreichste historische Beispiel für ein solches Projekt stellt weiterhin Ross’ Liste von prima facie-Pflichten dar, vgl. The Right, S. 19ff. Einschlägig sind in diesem Zusammenhang auch die insbesondere durch die Notwendigkeit, globale Lösungen für Probleme der angewandten Ethik wie Umweltschutz, Reproduktionsmedizin etc. zu finden, motivierten Versuche, eine Minimalmoral auf der Grundlage solcher Pflichten zu formulieren, vgl. Bok, Values.

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die Relevanz von – zugleich schwer lokalisierbaren und psychologisch häufig abgeschirmten – Einflüssen des Eigeninteresses etc.) bleiben notorisch umstritten. Die Diagnose epistemischer Parität lässt sich in der Moral mithin ebenso schwer stellen, wie durch Rekurs auf unumstrittene Experten überwinden. Wie wir gesehen haben, stellt sich sowohl das Problem, diese Experten überhaupt zu identifizieren (ist es in Bezug auf die Frage des Hirntodkriteriums die Krankenschwester oder der Bioethiker?) als auch, falls dies gelingt, die Schwierigkeit einer Iteration von EAM, etwa auf der Ebene philosophischer Expertenkommissionen, die ihre eigenen epistemologischen Probleme aufwerfen (z. B. systematische Belohnung von begründetem Widerspruch im Gegensatz zur alltäglichen Prämierung von konsensstabilisierendem Verhalten). Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die Konklusion von EAM nicht für das System unserer moralischen Überzeugungen insgesamt erreicht werden wird, sondern lediglich für einzelne Überzeugungen, die den Gegenstand einer fokussierten Debatte bilden, in der Konsens über die epistemische Parität der Gesprächspartner, nicht aber Konsens in der strittigen Frage selbst tatsächlich erreicht wurde. Hier mag eine lokale Suspendierung der fraglichen Überzeugung oder zumindest ihre Abschwächung etwa in den Modus der bloßen Akzeptanz ihres Inhalts im Sinne von EAM tatsächlich zwingend sein. Dass allerdings die von Seiten des moralepistemologischen Skeptikers in EAM gesetzte Hoffnung, die Möglichkeit moralischen Wissens insgesamt in Frage zu stellen, unerfüllt bleibt, hat auch Auswirkungen auf den Umgang mit dem je konkreten Fall von Meinungsverschiedenheit: Angesichts der in anderen Fällen realisierten Möglichkeit moralischen Wissens bilden weder das Sich-Einrichten in einer Moral des Als-Ob, 51 die die suspendierten Überzeugungen weiterhin als Prämissen des eigenen praktischen Überlegens verwendet, ohne sie für wahr zu halten, noch deren dogmatische Affirmation unter bewusster Ausblendung der sie in Frage stellenden Meinungsverschiedenheit rational verantwortliche Optionen. Angemessener erscheint eine Haltung der Wachsamkeit, die offen bleibt für eine Neubewertung der epistemischen Situation (etwa durch neue Belege, eine Neubewertung der alten Belege, eine Einbeziehung bisher nicht in Anspruch genommener epistemischer Fähigkeiten etc.) und damit für eine nun erreichbare, begründete Lösung des Ausgangsproblems. In einer Hinsicht erweist sich damit auch das Versprechen von EAM wie bereits das von MAM als überzogen – anstatt ein grundlegendes metaethisches Problem wie das der Existenz objektiver Werte oder das der Verfügbarkeit moralischen Wissens zu entscheiden, verweist es zurück auf die irreduzible Vielfalt moralischer Meinungsverschiedenheiten und die damit verbundene, ebenso irreduzible Vielfalt epistemischer Kontexte. Recht verstanden erübrigt EAM nicht die Suche nach

51

Vgl. dazu Vaihinger, Als Ob und die Diskussion bei Joyce, The Myth, S. 186ff.

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moralischem Wissen durch globale skeptische Zweifel, sondern informiert sie durch explizite Thematisierung der epistemologischen Rahmenbedingungen für eine solche Suche angesichts hartnäckiger Meinungsverschiedenheiten und des durch sie nicht bloß für den Philosophen, sondern für den moralischen common sense erwachsenden Reflexionsdrucks.

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Christoph Halbig

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN Georg W. Bertram: geboren 1967; 1997 Promotion an der Justus-Liebig-Universität Gießen; 2004 Habilitation an der Universität Hildesheim; 1996–2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen; 2002–2007 Juniorprofessor für Philosophie an der Universität Hildesheim; 2004 Research Scholar am Department of Philosophy der University of Pittsburgh bei Prof. John McDowell; 2006 Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien; seit 1996 Mitorganisator der Internationalen Philosophie-Kolloquien Evian (Genfer See); seit 2007 Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin (Schwerpunkte: Philosophische Ästhetik und theoretische Philosophie); seit 2009 Mitherausgeber der Buchkritik der DZfPh. Ausgewählte Publikationen: Hermeneutik und Dekonstruktion, München 2002; Kunst. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2005; Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist 2006; mit David Lauer/Jasper Liptow/Martin Seel: In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus, Frankfurt a.M. 2008. Gerhard Ernst: geboren 1971; Studium der Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie sowie Physik; 2001 Promotion in Philosophie; 2004 Habilitation in Philosophie sowie in Logik und Wissenschaftstheorie; 2003 Wolfgang-Stegmüller-Preis der GAP; 2005–2010 Mitglied der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina; 2005–2008 mehrere Lehrstuhlvertretungen; seit 2008 Professor für Geschichte der Philosophie und praktische Philosophie an der Universität Stuttgart (Forschungsschwerpunkte: Moralphilosophie und Erkenntnistheorie). Ausgewählte Publikationen: Das Problem des Wissens, Paderborn 2002; Die Zunahme der Entropie, Paderborn 2003; Einführung in die Erkenntnistheorie, Darmstadt 2 2010; Die Objektivität der Moral, Paderborn 2008. Alexandra Grund: geboren 1971; Studium der Evangelischen Theologie; Gasthörerin im Fach Jüdische Studien; 2003 Promotion an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; 2008 Habilitation im Fach Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; seit 2010 Professorin für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg. Ausgewählte Publikationen: Hrsg.: »Wie schön sind deine Zelte, Jakob!« Beiträge zur Ästhetik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2003; Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes. Psalm 19 im Kontext der frühjüdischen Toraweisheit, Neukirchen-Vluyn 2004; Die Entstehung des Sabbats. Seine Bedeutung für Israels Zeitkonzept und Erinnerungskultur , Tübingen 2010; »Motive des Erinnerns. Vom sozialen zum kanonischen Gedächtnis«, in: Die Macht der Erinnerung, hg. von Bernd Janowski/Ottmar Fuchs, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 41–62; mit Bernd Janowski: »›Solange die Erde steht‹ … Zur Erfahrung von Raum und Zeit im Alten Israel«, in: Der

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Die Autorinnen und Autoren

Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie, hg. von Bernd Janowski/Kathrin Liess, Freiburg u.a. 2009, S. 487–535. Christoph Halbig: geboren 1972; Studium der Philosophie, kath. Theologie und klass. Philologie in Münster; 1999 Promotion; 2005 Habilitation an der Universität Münster; 2004 Visiting Fellow, Universität Oxford; 2005/06 Lehrstuhlvertretungen HU Berlin und Universität Jena; 2006 Heisenberg-Stipendium; seit 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Universität Jena. Ausgewählte Publikationen: Objektives Denken. Erkenntnistheorie und Philosophy of Mind in Hegels System, Stuttgart/Bad Canstatt 2002; Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frankfurt 2007; Aufsätze zur Ethik, Rationalitätstheorie, Religionsphilosophie sowie zum dt. Idealismus und seiner Rezeption in der analytischen Philosophie. Elisabeth Heinrich: geboren 1959; Studium der Philosophie und Germanistik in Köln und Siegen; 1993–1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Philosophie an der Universität Siegen; 1998 Promotion; 1998–2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Alte Geschichte an der Universität Siegen; seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Philosophie an der Universität Siegen. Ausgewählte Publikationen: Religionskritik in der Neuzeit. Hume, Feuerbach, Nietzsche, Freiburg/München 2001; Aufsätze zur Moralphilosophie und Religionskritik. Winfried Löffler: geboren 1965; Studium der Rechtswissenschaften (Promotion 1991), Philosophie (Promotion 1995) und Katholischen Theologie in Innsbruck; Habilitation 2004 an der Hochschule für Philosophie München; Professor am Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck; Gastlehrveranstaltungen in München, Zagreb, Brixen, Krakau, Münster, Tübingen u.a.; Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie; Mitherausgeber der Reihe Beiträge zur Bolzano-Forschung und Associate Editor der Zeitschrift European Journal for Philosophy of Religion. Neuere Veröffentlichungen: Einführung in die Logik, Stuttgart 2008; Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006; Notwendigkeit, S5 und Gott. Das ontologische Argument für die Existenz Gottes in der zeitgenössischen Modallogik, Münster et. al. 2000; Hrsg.: Bernard Bolzanos Religionsphilosophie und Theologie, St. Augustin 2002. Sebastian Maly: geboren 1976; Studium der Philosophie und Katholischen Theologie, dann Promotionsstudium in Philosophie in Siegen; 2006–2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Dieter Schönecker am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Universität Siegen; seit Oktober 2008 Referent in der Geschäftsstelle des Cusanuswerks (Bischöfliche Studienförderung); 2010 Promotion in Philosophie. Ausgewählte Publikationen: V.a. zur Religionsphilosophie und zur Philosophie Kants, u.a. »Die Rolle der Religion in der postsäkularen Gesellschaft. Zur Religionsphilosophie von Jürgen Habermas«, in: ThPh 80, 2005, S. 546–565; »Der Unterschied von Gottesdienst und Religion. Kants Beitrag zu einem nicht-empiristischen Erfahrungsbegriff in der Religionsphilosophie«, in: Religiöse Erfahrung in der Moderne. William James und die Folgen, hg. von Christian Thies, Wiesbaden 2009, S. 75–92; Kant über die symbolische Erkenntnis Gottes (Dissertation, im Erscheinen). Gregor Nickel: geboren 1966; Studium der Chemie, Mathematik und Theologie; 1996 Promotion am mathematischen Institut der Universität Tübingen; 1997–1999 und 2000– 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Assistent an der Universität Tübingen; 1999–2000

Die Autorinnen und Autoren

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Referent für Promotionsförderung beim Cusanuswerk (Bischöfliche Studienförderung); seit 2006 Professor für Mathematik an der Universität Siegen. Ausgewählte Publikationen: »Nikolaus von Kues: Zur Möglichkeit von theologischer Mathematik und mathematischer Theologie«, in: Spiegel und Porträt, hg. von Inigo Bocken/Harald Schwaetzer, Maastricht 2005, S. 9–28; »Ethik und Mathematik – Randbemerkungen zu einem prekären Verhältnis«, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie u. Religionsphilosophie 47, 2006, S. 412–429; Mithrsg.: Unendlichkeit – Interdisziplinäre Perspektiven, Tübingen 2008; weitere mathematische und mathematikphilosophische Aufsätze. Maria E. Reicher: geboren 1966; Studium der Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz; 1998 Promotion; 2004 Habilitation; seit 2009 Professorin für Philosophie an der RWTH Aachen; Lehrtätigkeiten an der Universität Graz, der Universität Maribor (Slowenien), der University of Tucson (Arizona), der University of Minnesota (Minneapolis), der Universität Belgrad und der Universität Bern; 2008/9 Junior Fellow am Alfried-KruppWissenschaftskolleg in Greifswald; seit 2008 Mitherausgeberin der Grazer Philosophischen Studien. Ausgewählte Publikationen: Zur Metaphysik der Kunst. Eine logisch-ontologische Untersuchung des Werkbegriffs, Graz 1998; Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 2005; Referenz, Quantifikation und ontologische Festlegung, Frankfurt/London 2005; Mithrsg.: Markt – Wert – Gefühle. Positionen und Perspektiven einer multidisziplinären Wertedebatte, Wien 2005; Hrsg.: Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, Paderborn 2007; Hrsg.: States of Affairs, Heusenstamm 2009. Nico Scarano: geboren 1965; Privatdozent für Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. Ausgewählte Publikationen: Moralische Überzeugungen. Grundlinien einer antirealistischen Theorie der Moral, Paderborn 2001; Mithrsg.: Modelle politischer Philosophie, Paderborn 2003; Mithrsg.: Ernst Tugendhats Ethik. Einwände und Erwiderungen, München 2006; Mithrsg.: Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Text und Kommentar), Frankfurt a.M. 2007; Aufsätze zur Metaethik, politischen Philosophie, Handlungstheorie und zur praktischen Philosophie Kants. Richard Schantz: geboren 1950; Studium der Philosophie, Germanistik und Anglistik; 1982 Promotion an der Universität Heidelberg; 1982–85 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Heidelberg; 1985–1991 Wissenschaftlicher Assistent an der Freien Universität Berlin; 1991–1999 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin; seit 1999 Professor für Philosophie an der Universität Siegen. Ausgewählte Publikationen: Der sinnliche Gehalt der Wahrnehmung, München/Hamden/Wien 1990; Wahrheit, Referenz und Realismus. Eine Studie zur Sprachphilosophie und Metaphysik, Berlin/New York 1996; Hrsg.: What is Truth?, Berlin/New York 2002; Hrsg.: The Externalist Challenge, Berlin/ New York 2004; Hrsg.: Wahrnehmung und Wirklichkeit, Frankfurt/Paris 2009; Aufsätze zur Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Philosophie der Logik, Philosophie des Geistes und Metaphysik. Reinold Schmücker: geboren 1964; Studium der Philosophie, Germanistik und Evangelischen Theologie; 1997 Promotion; 1991–1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und 1997– 2004 Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg; 2004–2009 Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald; seit 2009 Professor für Philosophie am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ausgewählte Publikationen: Was ist Kunst?

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Die Autorinnen und Autoren

Eine Grundlegung, München 1998; Mithrsg.: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, Paderborn/München/Wien/Zürich 1998; Mithrsg.: Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt 2001; Mithrsg.: Gerechtigkeit und Politik. Philosophische Perspektiven, Berlin 2002; Mithrsg.: Kunst und Kunstbegriff. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik, Paderborn 2 2005; Hrsg.: Identität und Existenz. Studien zur Ontologie der Kunst, Paderborn 3 2009; Hrsg.: Ästhetische Erfahrung. Ein deutscher Diskurs, Paderborn 2011. Dieter Schönecker: geboren 1965; Studium der Philosophie, Vergleichenden Religionswissenschaft und Neueren Deutschen Literaturwissenschaft; 1997 Promotion an der Universität Bonn, 1997–1999 Visiting Fellow an der Yale University; 2000–2002 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Halle-Wittenberg; 2003–2005 Associate Professor (tenured) am Stonehill College (USA); seit 2006 Professor für Praktische Philosophie an der Universität Siegen. Ausgewählte Publikationen: Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs, Freiburg/München 1999; Mithrsg.: Der moralische Status menschlicher Embryonen. Argumente pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument, Berlin 2003; Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie, Berlin 2005; mit Allen W. Wood: Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«. Ein einführender Kommentar , Paderborn 4 2011; Aufsätze zur Erkenntnistheorie und Ethik. Werner Stegmaier: geboren 1946; Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Greifswald; Schriftleiter der Nietzsche-Studien; Forschungen zur Philosophie der Orientierung, des Zeichens und der Zeit, zur Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere zu Nietzsche, zu den literarischen Formen philosophischer Schriftstellerei, zur philosophischen Aktualität der jüdischen Tradition und zur Systemtheorie Niklas Luhmanns. Ausgewählte Publikationen: Substanz. Grundbegriff der Metaphysik, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977; Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992; Nietzsches »Genealogie der Moral«. Werkinterpretation, Darmstadt 1994; mit Hartwig Frank: Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie: Von Kant bis Nietzsche, Stuttgart 1997; Mithrsg.: Jüdischer Nietzscheanismus, Berlin/New York 1997; Mithrsg.: Zeichen und Interpretation I–VI , Frankfurt a.M. 1994–2000; Hrsg.: Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt a.M. 2000; Levinas, Freiburg/Basel/Wien 2002, Neuauflage Hamburg 2009; Hrsg.: Orientierung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt a.M. 2005; Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008. Andreas Trampota: geboren 1963; Studium der Philosophie und Theologie; 2003 Promotion an der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Eberhard-Karls Universität in Tübingen (Promotionsschrift: Autonome Vernunft oder moralische Sehkraft? Das epistemische Fundament der Ethik bei Immanuel Kant und Iris Murdoch, Stuttgart 2003); seit 2002 Lehrbeauftragter und seit 2003 Dozent für Ethik und Geschichte für Philosophie an der Hochschule für Philosophie in München. Antragsteller und Leiter eines DFG-Forschungsprojekts zu Kants Tugendlehre, aus dem folgender Kommentarband hervorgeht: Andreas Trampota/Oliver Sensen/Jens Timmermann (Hrsg.): Kant’s Doctrine of Virtue. A Comprehensive Commentary (im Erscheinen). Ausgewählte Publikationen: Lexikonartikel und Aufsätze, vor allem zur praktischen Philosophie.