Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne [1. ed.] 3865725376

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Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne [1. ed.]
 3865725376

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Heinz Dieter Kittsteiner, geboren 1942, ist Professor für Vergleichende Europäische Geschichte der Neuzeit an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/O. Veröffentlichungen u. a.: Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980; Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/Main und Leipzig 1991; Das Komma von SANS, SOUCI. Ein Forschungsbericht, Heidelberg 2001; Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin, Wien: Philo & Philo Fine Arts 2004; Mit Marx für Heidegger - mit Heidegger für Marx, München 2004.

Heinz Dieter Kittsteiner Wir werden gelebt Formprobleme der Moderne

PHILO

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Philo & Philo Fine Arts EVA Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2006 Alle Rechte, insbesondere das Recht zur Übersetzung, Vervielfältigung (auch fototechnisch) und Verbreitung, der elektronischen Speicherung auf Datenträgern oder in Datenbanken, der körperlichen und · unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenubertragung) vorbehalten.

www.philo-philofinearts.de Umschlaggestaltung: Bayerl & Ost, Frankfurt am Main, Umschlagfoto: Giorgio de Chirico, Zwei Masken, 1916, © VG-Bild-Kunst, 2006,, Satz: U. Herrmann, Berlin Druck und Bindung: NEXUS-Druck, Frankfurt am Main Printed in Germany ISBN 3-86572-537-6

Inhalt

Einleitung Formprobleme der Moderne

1.

Die Stufen der Moderne II. Das „Geschichtszeichen" III. Die Angst in der Geschichte IV. Das Unbewußte im Ich und das Unbewußte in der Geschichte

7 10 15 18 21

Die Stufen der Moderne 1. Erfahrungsraum, Erwartungshorizont

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symbolische Form und Narration II. Die Stufen der „Moderne" 1. Die Stabilisierungsmoderne (1640-1680/1715) 2. Die evolutive Moderne als Subjekt ihrer selbst (1770-1880) 3. Die heroische Moderne (1880-1945/89) III. Für eine von geschichtsphilosophischen Fragen angeleitete Kulturgeschichte

25 34

Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren

1. II.

Die Ausgangssituation Eine Welt voller Zeichen III. Das „Geschichtszeichen": Die „Begebenheit" und ihr ferner Beobachter IV. Die Transformation der Problemstellung

34 39 44

54

59

59 66

73 80

V. ,,Zeichen der Zeit" VI. Gombrich über Hegel und Burckhardt VII. Hegelianismus ohne Metaphysik? VIII. Erfahrungsraum, Erwartungshorizont und symbolische Form IX. Das Zeichen und seine Dechiffrierung X. Beschluß, aber neue Fragen

Die Angst in der Geschichte und die Re-Personalisierung des Feindes I. Angst, Furcht, Angstbewältigung und Handlung II. Was kann Angst in der Geschichte bedeuten? III. Macht und Ohnmacht der Massen angesichts der Geschichte IV. Prägnanzbildung V. Synergistische Allegorien, heroische Gestalten und entdeckte Personen hinter den Strukturen Wir werden gelebt. Über Analogien zwischen dem Unbewußten in der Geschichte und dem ,,Ich" I. Ein Ausdruck Groddecks II. Schopenhauer als Erzieher III. Philosophien des Unbewußten IV. Die „ Urverdrängung" und die Angst in der Geschichte V. Der „Trieb" des Kapitals bei Karl Marx VI. Das Es und das Kapital

Nachweise

83 85 88 90 96 99

103 103 111 115 118

122

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157 168

Einleitung

Formprobleme der Moderne Der Begriff der „Moderne" hat Konjunktur, seit die Moderne fragwürdig geworden ist. Als einstmals Jean Fran~ois Lyotard das „postmoderne Wissen" ausrief, ging es darum die Mythen dieser Moderne zu dekonstruieren, die „großen Erzählungen" zu zerstören, in denen das Bürgertum und später die Parteien der sogenannten „Arbeiterklasse", sich ihre Geschichte zurechtgemacht hatten. Es galt, Trümmer wegzuräumen, die Stimmung war frohgemut, die Destruktion galt als Reflexionsgewinn. Trauern die Menschen ihren „verlorenen Erzählungen" nach? Keineswegs. Sie waren dazu aufgerufen in „ihrer sprachlichen Praxis und ihrer kommunikationellen Interaktion" ein neues,_ungeschütztes Dasein zu entwerfen, das auf die alten teleologischen Gewißheiten und Ganzheiten verzichtete. 1 Das wurde hin- und herdiskutiert 2 , aber mit der Zeit trübte sich der Horizont ein. Aus dem intellektuellen Spiel war eine gesellschaftliche Realität geworden, die neue Deuter auf den Plan rief. Das Reflexionsspektrum verlagerte sich von Architektur, Literatur und Kunst teilweise wieder zurück auf die Gesellschaftswissenschaften. 1990 veröffentliche Anthony Giddens The Consequences of Modernity: er betonte 1 Jean Fran~ois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1982,

s. 77f.

2

„Die ,condition postmoderne' bedeutet für Lyotard, daß man nunmehr weder an die Geschichte als Emanzipationsraum und zielgerichteten Prozeß noch an . die Gesellschaft als ein strukturiertes Gebilde glaubt. Wer noch von Sinn, Legitimation oder Konsensus spricht, bleibt im historisch ,veralteten', metaerzählerischen Apparat der Legitimation befangen, während sich inzwischen die ,Krise der traditionellen Motivationen' (Habermas) zu einer durchgreifenden ,Agnostik' gesteigert hat." Gerard Raulet: Zur Dialektik der Postmoderne, in: Andreas Huyssen/K.laus R. Scherpe (Hrsg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 138.

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Einleitung

das „disembedding", das Herausgehobensein von sozialen Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen, und er bemühte für den historischen Prozeß das alte Bild vom „Dschagannath-Wagen"3, der alles zermalmt, was sich -ihm entgegenstellt. Hatte die „Postmoderne" sich vom historischen Prozeß abgewandt, weil sie ihn mit Nietzsche nicht mehr zu brauchen schien, so kehrte er nun hinter ihrem Rücken mit erneuter Wucht zurück. In Deutschland prägte der Soziologe Ulrich Beck die Rede von der Ersten und der Zweiten Moderne; letztere hat es in einem einschlägigen Verlag sogar zu einer eigenen Buchreihe gebracht. Unter der „Ersten Moderne" versteht Beck den territorial gebundenen „Container des Nationalstaates". Im Innern dieses Behälters schien alles übersichtlich, in gewissen Grenzen regulierbar und beherrschbar. In dieses neokorporative Idyll bricht nun die ,,Zweite Moderne" als globale Entgrenzung ein. Die „Nebenfolgen" - ein Summenausdruck für unkoordinierte Handlungen der Rationalität überwuchern die Intentionen, und nach dem Epochenbruch stehen wir in einer „reflexiven Moderne", die einen Wandel markiert, der „weder gewollt noch vorhergesehen wurde." Diese Zweite Moderne ist geprägt von der Rückkehr der Unsicherheit, Ungewißheit und Uneindeutigkeit. 4 Ihr eigentlicher Akteur ist nicht mehr die Politik, sondern die Investitionsmacht des global agierenden Kapitals. Zwang wird nicht durch einen drohenden „Einmarsch" ausgeübt, sondern durch die Verweigerung des Einmarsches, durch das Nicht-Investieren: ,,Es gibt nur 3

4

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Das Leben in der modernen Welt gleicht „eher einer Fahrt an Bord eines rasenden Dschagannath-Wagens (... ) als eine Reise mit einem behutsam gesteuerten und sachkundig gelenkten Auto." Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M 1996, S. 72 f. - ,,Der Ausdruck ,Dschagannath' ist von dem Hindiwort für ,Herr der Welt' hergenommen. Dies ist einer der Titel Krischnas. Früher pflegte man einmal im Jahr ein Bild dieses Gottes auf einem riesigen Wagen durch die Straßen zu fahren, und manche Anhänger dieser Religion sollen sich unter den Wagen geworfen haben, um sich von den Rädern zermalmen zu lassen." Ebd., S. 173. Ulrich Beck (Hg.): Die Modernisierung der Modeme, Frankfurt/M 2001, S. 13 und S. 53.

Formprobleme der Moderne

eines, das schlimmer ist, als von Multis überollt zu werden: nicht von Multis überrollt zu werden. " 5 Diese Konstruktion einer ersten und zweiten Moderne, so plausibel sie auf den ersten Blick sein mag, kann dem Historiker nicht genügen, denn ersichtlich greift sie nicht hinter das 19. Jahrhundert zurück. Ein einfacher Blick auf die Geschichte der Globalisierung6 zeigt indes, daß wir weiter zurückgehen müssen, um die Gegenwart zu verstehen. Es geht aber nicht nur um die historische Reichweite; auch die kulturgeschichtliche Dimension ist in diesen soziologischen Betrachtungen weitgehend ausgeblendet. Insofern will die Besinnung auf die „Formprobleme der Moderne" zu einer kulturwissenschaftlichen und geschichtsphilosophischen Ergänzung der gegenwärtigen Diskussion einladen. Nun klingt das Wort „Form" oder gar „Formproblem" reichlich altdeutsch. Dem Kunsthistoriker fällt dazu vielleicht Wilhelm Worringers „Formprobleme der Gotik" 7 ein; der Philosophiehistoriker denkt an „Freiheit und Form"· von Ernst Cassirer. In diesem Buch von 1916 heißt es in Hinblick auf Leibniz' Formbegriff, die Welt sei als ein Kontinuum von Formen zu erfassen: ,,Der Prozeß des Werdens strebt danach, sich in bestimmten, scharf ausgeprägten Formen zu befestigen, aber er drängt, sobald er dieses Ziel erreicht hat, über dasselbe alsbald wieder zu neuen Bildungen hinaus. " 8 Gilt dieser Wandel von „Formen" auch für die Geschichte, und lassen sich aus dem Formwechsel Epochengliederungen herleiten? Einen Versuch scheint es wert zu sein. Was den Epochenbegriff selbst betrifft, so darf er nur als heuristisches Mittel gelten; es wäre auch müßig und pedantisch, alle Formen einer Epoche aus einem gemeinsamen Grundmotiv herleiten zu wollen.

5 Ulrich Beck: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie. Edition Zweite Moderne, Frankfurt/M 2002, S. 97. 6 Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003. 7 Wilhelm Worringer: Formprobleme der Gotik. München 1912. 8 Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Darmstadt 1994, S. 49. 9

Einleitung

Daß Phänomene nicht mehr „auf den Begriff" gebracht werden können, war die Einsicht Ernst Cassirers, die ihn zum Konzept der „symbolischen Formen" führte. Logifiziert man wie Hegel die Geschichte, verliert sich das Besondere im Allgemeinen; zerschlägt man dieses Band, dann stehen die Formen unvermittelt nebeneinander. Es galt, eine Einheit der verschiedenen Gebiete zu finden, die den Zusammenhang wahrt, zugleich aber die Formen in ihrer Eigenheit bewahrt. 9 Wie weit Cassirers symbolische Formen diesem Anspruch genügen, sei dahingestellt; wir haben davon angeleitet eine Stufenfolge der Moderne vom 17. bis zum 20. Jahrhundert konstruiert.

I. Die Stufen der Moderne

„Gelingt es dem Historiker nicht, die symbolische Sprache seiner Denkmäler zu entziffern, so bleibt die Geschichte für ihn ein Buch mit sieben Siegeln." 10 Diese Sentenz Cassirers führt direkt in das Problem der Machbarkeit der Geschichte. Offensichtlich macht der Mensch diese Geschichte; was er hervorbringt, worin er sich ausdrückt, sind seine Denkmäler; sie gerinnen aber zu einer „Form", die es erst wieder zu entziffern gilt. Dieses Entziffern betrifft die Frage, aus welcher „gemeinsamen Grundaufgabe"11 die verschiedenen Formen der Kultur hervorgegangen sind. Diese Grundaufgabe scheint den Akteuren bewußt zu sein; doch wissen sie wirklich, was sie tun? Kombiniert man diese Problemlage mit den Begriffen „Erfahrungsraum" und „Erwartungshorizont" 12 von Reinhart Koselleck, 9

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt 1988, 3 Bde. Bd. 1, S. 15 f. 10 Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen, Frankfurt/M 1990, S. 271. 11 Cassirer, ebd., S. 337. 12 Laut Johan Huizinga stammt der Begriff „Erwartungshorizont" von Karl Mannheim. Bei der von Huizinga angegebenen Fundstelle (Mannheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, 1935, p. 132) konnte ich ihn aber nicht finden. Johan Huizinga: Im Schatten von Morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit, Leipzig 1936, S. 14. - Reinhart

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Die Stufen der Moderne

dann stellt sich die Frage nach der gemeinsamen Grundaufgabe einer Epoche, die aus Erfahrung und Erwartung hervorgegangen ist. Der Epochenbegriff selbst ist dann nichts Objektiv-Vorgegebenes, auch nicht eine subjektivistische Rekonstruktion der Absichten der Handelnden, sondern die Vermittlung von beidem. Dabei sind die Erfahrungen solider als die Erwartungen; ein spekulatives Moment ist jedem. historischen Handeln inhärent. Die ,,historischen Formen" wären dann der symbolische Niederschlag dieser Konstellation. Nach diesem Modell läßt sich die Zeitspanne zwischen der Mitte des 17. und dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in drei Stufen oder Schichten gliedern. Sie sind in Anfang und Ende nicht präzise zu umreißen, durchdringen sich wechselseitig und bilden keine progressive Abfolge. Es überlagern sich nacheinander: -Die „Stabilisierungsmoderne" (1640-1680/1720) - Die „evolutive Moderne" (1770-1880) - Die „heroische Moderne" (1880-1945/89) Den Anstoß zur Konzeption der Stabilisierungsmoderne hat das Buch von Theodore K. Rabb gegeben „The Struggle for Stability in Early Modern Europe"; die evolutive Moderne ist die umgedeutete und um einige Jahrzehnte verschobene „Sattelzeit" von Reinhart Koselleck; die heroische Moderne verdankt sich Untersuchungen zur Kritik Nietzsches an der Hegelschen Geschichtsphilosophie.13 Die erste dieser Modernen versucht Ordnung in die erfahrbare Unordnung der Zeit der konfessionell angeschürten Koselleck: ,Erfahrungsraum' und ,Erwartungshorizont' - zwei historische Kategorien, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M 1979, S. 349-375. 13 H.D. Kittsteiner: Nietzsches ,souveränes Individuum' in seiner ,plastischen Kraft', in: Ders.: Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M 1998, S. 132-149. -Kittsteiner: Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte, in: Ders.: Out of Control. Über die Unverfügbarkeit der Geschichte, Berlin 2004, S. 217-251. - Kittsteiner: Erinnern Vergessen - Orientieren. Nietzsches Begriff des ,umhüllenden Wahns' als geschichtsphilosophische Kategorie, in: Dieter Borchmeyer (Hg.): ,,Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben". Nietzsche und die Erinnerung in der Modeme, Frankfurt/M 1996, S. 48-75.

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Einleitung l

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Bürger- und Großmachtkriege zu bringen. Ihr gelingen Friedensschlüsse, die in den immer bedrohten Balanceakt des „europäischen Gleichgewichts'' einmünden. Sie überwindet die Angst vor Hexen und dämonischen Mächten und ordnet den Kosmos in der gedanklichen Bewegung von Galilei, Kepler und Newton neu. Sie neutralisiert die friedensunfähigen Konfessionen in einer verinnerlichten Religiosität und vollzieht zugleich den Paradigmenwechsel von der Theologie zur Philosophie. Es fällt auf, daß zwischen 1720 und 1770 eine Lücke klafft. Da ich damit begonnen habe, auf der Grundlage meines eigenen Entwurfs eine „Deutsche Geschichte in den Stufen der Moderne" zu schreiben, mußte ich zu meinem Leidwesen erfahren, daß es eines ist, ein übersichtliches Modell zu konstruieren, ein andres aber, damit auch wirklich Geschichte zu schreiben. Nun, die Lücke ist inzwischen überbrückt und ich tendiere dazu, den ersten Band 1780 mit G.E. Lessings „Die Erziehung des Menschengeschlechts" abzuschließen. Das Problem war folgendes: Das Denken in Entwicklungskategorien beginnt nicht plötzlich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, sondern es bereitet sich allmählich vor. Unübertroffen hat Arthur 0. Lovejoy das als „The Temporalizing of the Chain of Being'' beschrieben; der Schöpfer hatte es nicht eilig, in die große Kette der Lebewesen dringt die Zeit ein. Was noch nicht vollkommen ist, kann besser werden.14 Insofern habe ich das eigentliche Zeitalter der Aufklärung als zweite Phase der Stabilisierungsmoderne betrachtet, in der sich aber schon das Neue vorbereitet. Das hat zur Folge, daß mitten durch die Aufklärung ein Riß geht; ein älterer Teil ist noch dem Ordnungsdenken verhaftet, ein jüngerer entwirft in zeitlicher Perspektive eine neuartige Zukunft. 15 14 Arthur 0. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt/M 1985, S. 292-345. 15 Eigentlich folgt schon der alte Zweihänder von Paul Hazard dieser Einteilung. Leider wird heute davon, wenn überhaupt, nur noch der erste Band gelesen. Paul Hazard: Die Krise des europäischen Geistes. La Crise de la Conscience Europeenne. 1680-1715, Hamburg 1939. -Paul Hazard: Die Herrschaft der Vernunft. La Pensee Europeenne au XVIIIe siede de Montesquieu a Lessing, Hamburg 1949.

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Die Stufen der Moderne

Als diese Zukunft dann eintrifft, ist die philosophische Enttäuschung unübersehbar. Zwar ist die Menschheit nun „aufgeklärter" geworden, aber ihr eigener Entwicklungsprozeß, ihre ,,Geschichte" ist nicht in ihrer Hand. Zwei neue Wissensformen: die anglo-schottische „Politische Ökonomie" und die klassische deutsche Geschichtsphilosophie verarbeiten diesen Schock, indem sie jenseits des planlosen Agierens der Handelnden eine metaphysische Instanz in moralischer Absicht konstruieren. Eine „ unsichtbare Hand", eine „Naturabsicht" oder ein „Weltgeist" müssen nun zurechtbringen, wozu die Menschheit selbst nicht in der Lage ist. Der Fortschritt, zunächst nur theoretisch antizipiert, seit den 1830er und 1840er Jahren dann als „industrielle Revolution" handgreiflich erfahrbar, ist selbst nicht steuerbar. Das Problem verschärft sich in der Mitte des Jahrhunderts, als mit den gescheiterten europäischen Revolutionen die demokratischen Illusionen vom· historischen Prozeß abblättern und er nackt als das zutage tritt, als das Karl Marx ihn beschrieben hat: als Prozeß der Kapitalakkumulation. Diese „evolutive Moderne" hat gegenüber der „Stabilisierungsmoderne" einen anderen historischen Stellenwert. Eine endgültige ,,Stabilisierung" der Verhältnisse war ohnenhin nie zu erreichen, was nicht heißt, daß das Problem einer Stabilisierung aus der Welt ist. Mit der kapitalistische.n Fortschrittsmoderne aber hat sich eine Umwälzung von ganz anderen Ausmaßen etabliert. Dieser Prozeß hat im 19. Jahrhundert von Europa aus begonnen; er ist aber keineswegs abgeschlossen; er hat sich noch beschleunigt und globalisiert die Welt in zunehmender Geschwindigkeit. Das bedeutet, daß die darauffolgende Stufe der „heroischen Moderne" im strengen Sinne keine eigene historische „Form" ist, sondern ein Mischgebilde, das auf der weiterlaufenden „evolutiven Moderne" aufruht. So besehen ist die „heroische Moderne" die zivilisationskritische Wendung gegen den Fortschritt. Ihr Begriff besagt auch nicht schlichtes Heldentum; ,,Helden" oder sich heroisch verstehende Epochen hat es immer gegeben. Gemeint ist eine historische Erfahrung, die davon ausgeht, daß es keinen geschichtsphilosophischen Synergismus mehr gibt: Die Geschichte hilft nicht mehr als „List der Vernunft" hinter dem Rücken der 13

Einleitung

Akteure mit, sondern der ganze Prozeß ist dem Leben feindlich. Ihm muß mit übermenschlichen Kräften entgegengetreten werden. Es geht um den verzweifelten Versuch der Bändigung des historischen Prozesses, der sich nicht mehr, wie bei Hegel, qua „Weltgeist" selbst bändigt. Als gedanklicher Initiatiator der „heroischen Moderne" bietet sich Nietzsche an. Die Epoche selbst ist - wie die beiden anderen auch - in sich zweigeteilt. Die Stabilisierungsmoderne verändert sich im Beginn des 18. Jahrhunderts; die evolutive Moderne zeigt eine konzeptionelle Aufschwungphase bis etwa 1830 und eilt dann ihrem Höhepunkt und ihrer Desillusionierung zu. Die heroische Moderne antizipiert das Bild eines Neuen Menschen, der dann im Ersten Weltkrieg und danach zur Tat schreitet. Wenn man fragt, wann das 20. Jahrhundert beginnt, hätte Ernst Jünger geantwortet: 1916, vor Verdun. Nicht umsonst hatte er davon gesprochen daß nun ein neuer, ein gefährlicher Menschenschlag entstanden war. 16 Da man den Ersten und den Zweiten Weltkrieg heute zu einem zweiten „Dreißigjährigen Krieg" zusammenfassen kann, umspannt das ganze Projekt die Deutsche Geschichte zwischen diesen beiden elementaren Einschnitten. Die heroische Moderne geht in Deutschland 1945 abrupt zu Ende; sie hat aber noch Nachläufer· . in den 50er Jahren. Und was die DDR betrifft: Sie durfte im sozialistischen Arbeitskampf noch länger „heroisch" bleiben, bis auch das 1989/90 zu Ende war. Kann man aus der Geschichte etwas lernen? Die Tradition der ,,Historia Magistra Vitae" hatte es bejaht; Hegel hat es bekannt. lieh verneint. 17 Jacob Burckhardt wollte durch historische Erfahrung "nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) 16 Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1941 (E.A. 1932), s. 106 ff. 17 Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Vergangene Zukunft, a.a.O., S. 38-66. - ,,Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozß vollendet und sich fertig gemacht hat." G.W.F. Hegel:

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Das „Geschichtszeichen"

werden. " 18 Lassen wir die Weisheit den Weisen, so wäre unser Ziel eine „histoire raisonnee": nicht eine vernünftige Geschichte, sondern eine Geschichte, die zum Raisonnieren, zum Nachdenken anregt. Bezogen auf unsere „Globalisierungsmoderne" - die sich als vierte Stufe anschließen müßte - würde das heißen: die Probleme einer Stabilisierung sind bestehen geblieben. Sie können aber nicht als endgültige Ordnungsstiftungen betrachtet werden: das hat geradewegs in die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts hineingeführt. Man wird eine relative Stabilisierung heute vor dem Hintergrund der weiterlaufenden evolutiven Moderne als eine Art Fließgleichgewicht betrachten müssen. Eventuell lassen sich Möglichkeiten einer Entschleunigung denken, die aber nicht mehr gegenläufig zur Kapitalverwertung gedacht werden sollten, sondern sich selbst dem Profitmotiv unterstellen müssen. Am bedenklichsten sind alle Formen einer „heroischen" Reaktion auf die kapitalistische „Weltverdüsterung" 19 ; mit einer gewissen Plausibilität könnte man heute davon sprechen, daß sie in andere Kulturkreise ausgewandert sind.

II. Das „Geschichtszeichen"

Wie orientiert man sich in einer Geschichte, die man nicht selbst nach einem Plan machen kann? Man wird zum Zeichendeuter und erhebt bestimmte Phänomene zu epochalen Symbolen. Wie selbstverständlich uns dieses Verfahren ist, läßt sich in Hinblick auf den 11. September 2001 belegen. Es besteht gar kein Zweifel daran, daß die Vernichtung des World-Trade-Centers in New York den Beginn einer neuen Epoche markiert. An.diesem Tag hat das 21. Jahrhundert wirklich begonnen. Doch ist das Faktum schon das „Zeichen" selbst? Für die US-Amerikaner war es Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hg. J. Hoffmeister, Hamburg 1955, s. 17. 18 Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Pfullingen 1949, S. 31. 19 Der Begriff stammt ursprünglich von Nietzsche; Heidegger hat dann in den 30er Jahren mit ihm gearbeitet. Vgl. H.D. Kittsteiner: Mit Marx für Heidegger - Mit Heidegger für Marx, München 2004, S. 182 ff.

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Einleitung

zunächst ein Schock, dann wurde es politisch instrumentalisiert und kann als als eines der Legitimationen zunächst des Afghanistan- dann des Irak-Krieges gelten. Es bestand patriotischer Handlungsbedarf; im letzteren Fall durchaus mit falscher (oder bewußt falsch kalkulierter) kausaler Zurechnung. Für die Europäer war es ebenfalls das Signal einer neue Epoche. Ihr Jahrhundert der Weltkriege und des „Kalten Krieges" ist beendet; was jetzt folgt ist eine Auseinandersetzung der Weltkulturen im Rahmen der kapitalistischen Globalisierung. Man mußte kein Prophet sein um vorauszusagen, daß Ereignisse dieser Art auch Europa treffen können. Für bestimmte Gruppen in der Welt des Islam war es ein Tag des klammheirrilichen oder gar offenen Triumphes. Der „westliche Satan" war zumindest symbolisch in seinen Grundfesten getroffen. So ist das historische Ereignis nicht schon das Zeichen selbst, sondern es gewinnt seine Funktion als „Geschichtszeichen" erst in der Reaktion des Beobachters. Als erster hat Immanuel Kant diese Zusammenhänge analysiert. Sein Paradigma ist die Französische Revolution; er betrachtet sie nicht als negatives Geschichts-, zeichen - was wir vom 11. September sagen müßten - sondern als positives. Gleichwohl will er die Revolution auf gar keinen Fall wiederholen; sie ist auch nicht selbst schon das „Zeichen." Denn Kant sucht nach „einer Begebenheit unserer Zeit", die Antwort geben soll auf die Frage, ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei. Diese Begebenheit findet er in der „Denkungsart der Zuschauer", die sich angesichts des histor1schen Ereignisses öffentlich äußert. Kant überträgt die Ästhetik des Erhabenen von der Natur auf die Geschichte; der Enthusiasmus, der dort die Affekte der ,,wackeren Art" hervorruft, sich der übermacht der Natur entgegenzustellen, äußert sich hier als „Theilnehmung dem Wunsche nach". Jeder, der nicht vollkommen abgestumpft ist, kennt diese Teilnahme dem Wunsche nach an sich selbst bei Berichten von Revolten und Veränderungen; es ist die Hoffnung, es könne doch noch alles anders werden. Doch diese Hoffnung ist gefährlich; die Geschichtszeichen können zu falschen Leuchtfeuern werden. Kant hatte nämlich vorausgesetzt, daß der Beobachter - vielleicht

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Das „Geschichtszeichen"

bei mäßiger Gefahr angesichts der öffentlichen Äußerung seiner Sympathie - in Sicherheit sich befinden müsse, so wie er selbst aus dem fernen Königsberg nach Paris blickt. Anders könne man das Erhabene der Bestimmung der Menschheit angesichts dieser Begebenheiten nicht empfinden. Zu nahe darf man in solche Revolutionen nicht hineingeraten, sonst lösen sie sich in „Elend und Greuelthaten" auf. 20 · Kants Fragestellung umreißt zugleich das preußisch-deutsche Grundproblem um 1800: Wie macht man eine Revolution ohne eine Revolution? 21 Kant will den Enthusiasmus auf das Gebiet der Reform umlenken, um statt Revolution Evolution zu versuchen.22 Das Gewollte kann nicht unmittelbar hergestellt werden, sondern es wird an eine teleologische Geschichtsphilosophie delegiert. Hegel hat dieses Denken in Geschichtszeichen· vervollkommnet; er konnte alle Begebenheiten in sein System einordnen. Der junge Marx wird ihm dann vorwerfen, er habe es nur zu Allegorien gebracht, bei denen das Einzelne in seiner Bestimmung, das Gefäß des Geistes zu sein, verschwinde. 23Die kapitalistische Evolution schüttelt ihre moralphilosophisch-teleologischen Überlagerungen im Verlauf des 19.Jahrhunderts ab, gleichwohl verschwindet die Suche nach „Zeichen der Zeit" keineswegs. Man kann Marx selbst dabei beobachten, wie er die Arbeiterklasse zum Geschichtszeichen erhebt - unterstützt vom „tendenziellen Fall der Profitrate", und wie er so in die vom Kapital determinierte historische Zeit einen Endzweck namens „Sozialismus" hineindeutet. 24 Auch andere beteiligen sich an der Zeichendeutung,von Jacob Burckhardt über Nietzsche bis zu Ernst H. Gombrich und Walter 20 Immanuel Kant: Der ·Streit der Fakultäten, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. VII, S. 85. .

21 Dazu immer noch aktuell:Joachim Ritter: Hegel und die französischeRevolution, Frankfurt/M 1965. 22 Kant, Der Streit der Fakultäten, a.a.O., S. 93. · 23 Karl Marx: Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW Bd. 1, Berlin 1964, s.241. 24 Zur Kritik an Marx in diesem Punkt vgl. Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger, a.a.O., S. 120-127.

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Einleitung

Benjamin. Der Aufsatz: ,,Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren" versucht sie aufzulisten und die Problemverschiebungen zu beleuchten, die sich in neuen historischen Konstellationen ergeben. Warum diese lange, fußnotengestützte Untersuchung? Weil das Denken in Geschichtszeichen unhintergehbar und von der Struktur des historischen Prozesses selbst bedingt ist. Nur totalitäre Systeme haben dazu tendiert, ihre Geschichtszeichen zu „machen", bis auch sie erfahren mußten, daß sie selbst nur Zeichen im Prozeß waren. Wenn dem aber so ist, dann ist es erforderlich, die Elemente dieses Denkens aufzudecken; wenn wir der geschichtsphilosophischen Zeichendeuterei nicht entkommen können, soll wenigstens ein kritischer Umgang mit ihr gepflogen werden. Denn das Geschichtszeichen, das doch Orientierung in der Gegenwart ermöglicht, gewinnt seine Bedeutung selbst erst von einem antizipierten Geschichtshorizont her, vor dem es rückwirkend als Zeichen erscheint. Die Gegenwart kann überhaupt nur vom Zukunftsentwurf her gedeutet werden. 25 Erweist sich der als falsch, verlieren die Geschichtszeichen ihre Kraft. Anstatt Orientierung zu geben, haben sie in die Irre geführt.

m. Die Angst in der Geschichte Eine nicht-machbare Geschichte, ein Prozeß, der nicht unter unserer Verfügung steht, erzeugt Angst. Es gibt, von Kierkegaard herkommend, eine philosophische Tradition, die begrifflich Angst von Furcht unterscheidet, selbst wenn sich diese Differenzierung umgangssprachlich nicht durchhalten läßt. Denn was habe ich vor einem bissigen Hund? Angst, nicht Furcht. Gleichwohl gilt Angst als diffuses, objektloses Gefühl einer nicht faßbaren Bedrohung. Die Furcht hat dann ein Objekt gefunden. Der entscheidende Unterschied liegt in der Handlungsmöglichkeit: Der Angst bin ich passiv ausgeliefert; ich weiß nicht, wo ich mein angstüberwindendes Handeln ansetzen soll. Am Objekt der Furcht 25 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1963, S. 395.

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Die Angst in der Geschichte

kann ich handeln; ich überwinde meine das Ich zersetzende Angst, indem ich sie in Furcht transformiere. Man könnte diesen psychischen Vorgang als eine Ohnmacht-Machtverschiebung bezeichnen: Ich gewinne meine Handlungsmächtigkeit zurück, wenn ich eine bestimmte Personengruppe als Verursacher eines Übels auffasse, dem ich sonst hilflos ausgeliefert wäre. Gegen ein Schadensgewitter kann ich mich nicht wehren; betrachte ich aber die Hexen als die Schuldigen - an denen kann ich handeln und sie ver brennen. 26 Das ist ein Handeln in falscher kausaler Zurechnung; es gibt aber gesellschaftliche Instanzen, die den Ohnmächtigen diesen Weg gewiesen haben. jahrhundertelang hat die Kirche die Ängste benannt und die Liste der Schuldigen aufgestellt. Der Kreis zog sich zusammen um Juden, Ketzer und Frauen. 27 Die Aufklärung zeigte nun, daß Gewitter nicht darum aufzuhören pflegen, weil man Hexen verbrennt. Sie wollte die Furcht vor den nun veralteten Objekten des Handelns nehmen, setzte aber neue Ängste frei. Der Einsicht in die Unverfügbarkeit der Geschichte konnte sie selbst nicht anders beikommen, als die neu aufbrechende Angst sogleich wieder geschichtsphilosophisch zu bannen: Noch einmal mußte ein „weiser Welturheber" in moralphilosophische Absicht gedacht werden, 28 damit die Subjekte an ihrer Geschichte nicht verzweifelten. Insofern kann man die systematische Funktion der Geschichtsphilosophie selbst als einen Versuch betrachten, die Ängste zu beschwichtigen. Die Überwindung der Angst muß aber nicht unbedingt von der teleologischen Überlagerung des Ganzen herkommen; Gustave Le Bon, aufmerksam gelesen von Sigmund Freud, hat gezeigt, daß auch die „psychologischen Massen" angstreduzierend wirken. Die Geborgenheit in einer Masse bildet sozusagen eine Insel der 26 H.D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/Mund Leipzig 1991, S. 94 ff. 27 Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbeck bei Hamburg 1985. 2 Bde. Bd. 1, S. 29 ff. und S. 38. 28 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Textausgabe, Bd. III, Berlin 1968, S. 529.

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Einleitung ;

Macht im Meer der Ohnmacht. Da die Masse zugleich in Bildern denkt, ist sie für prägnante Symbole von Freund und Feind empfänglich. Emotional beladene Bezugssysteme rufen automatisch innere Bilder hervor: ,,So wecken z.B. Worte wie ,Kommunismus' oder ,Kapitalismus', ,Juden', ,Araber', ,Nationalsozialismus' usw. je nach Herkunft, d.h. nach dem Erfahrunsbereich des Zuhörers, sofort, oft weitgehend unbewußt, ganz bestimmte positive oder negative Affekte, die die ganze ,Einstellung' - ein sehr aufschlußreiches Wort! - des Betroffenen und damit die Art, wie er mit dem in Frage stehenden Thema umgehen wird, bestimmen. Äquilibrierte affektiv-kognitive Bezugssysteme bilden somit eigentliche , Gestalten', die selbst durch bloße Teile regelmäßig als Ganze aktiviert werden. " 29 Die Masse schafft sich ihre „Gestalten" und entdeckt symbolische Figuren hinter den gesellschaftlichen Strukturen. Sie re-personalisiert die Geschichte. Einer Weltwirtschaftskrise kann ich nichts anhaben; ich bin ihr ohnmächtig ausgeliefert. Bin ich aber der Ansicht, daß eine personal zu fassende Verursachergruppe verborgen hinter diesen Ereignissen steckt, so gilt mir das Ereignis selbst gar nicht mehr als anonymes ·,,Schicksal", sondern als bewußt inszenierte Machenschaft~ Und die einzelnen Mitglieder dieser Verursachergruppe kann ich durchaus in die Reichweite meines angstabwehrenden Handelns bringen. Der Aufsatz: ,,Die Angst in der Geschichte und die Re-Personalisierung des Feindes" untersucht diese Zusammenhänge und zeigt die Wanderung einer antikapitalistisch-antisemitischen„ Gestalt" des Prager Malers und Graphikers Franz Kupka aus einer französischen Zeitschrift um die Jahrhundertwende bis zu den "Britischen Bildern" des A. Paul Weber von 1943. 30 29 Luc Ciompi: Zur Integration von Fühlen und Denken im Lichte der ,Affektlogik'. Die Psyche als Teil eines autopoietischen Systems, in: K.P. Kisker u.a. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart, Bd. 1, Heidelberg/New York/Tokio 1986,

s.396.

30 Eine Ergänzung der „Feindbilder" durch kraftverstärkende „Freundbilder", die den Idealtypus der eigenen Gruppe symbolisieren, findet sich in: H.D. Kittsteiner: ,Iconic turn' und ,innere Bilder' in der Kulturgeschichte, in: Ders. (Hg): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 153-182.

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Das Unbewußte im Ich und das Unbewußte in der Geschichte

IV. Das Unbewußte im Ich und das Unbewußte in der Geschichte

Der als letzter Beitrag wieder abgedruckte Text hat dem Sammelband den Titel gegeben: ,,Wir werden gelebt." Er geht zurück auf ein Buch des in Baden-Baden tätigen Kurarztes Georg Groddeck, der seinerseits Anregungen von Nietzsche und Freud bezogen hatte. Der Aufsatz fragt danach, ob es eine Analogie zwischen dem Unbewußten im Ich und dem Unbewußten in der Geschichte gibt. Wir wären dann in zwiefacher Weise nicht „Herr im eigenen Haus" - wir werden gelebt vom „Es" im „Ich" und von der nicht machbaren Geschichte. Die vermittelnde Inspiration dieses Gedankens findet sich bei Schelling, der im „System des transcendentalen Idealismus" aus dem Jahre 1800 die Geschichte als etwas angesprochen hatte, das mir „unbewußt" widerfährt. 31 Haben wir etwa ein Unbewußtes im Ich darum, weil es ein Unbewußtes in der Geschichte gibt? Es ist ein Gedankenexperiment auf Grundlage einer Analogie. Was ist eine Analogie? Eine Analogie sucht nach einer Entsprechung, einer Ähnlichkeit zwischen Konstellationen in verschiedenen Wissensgebieten; sie trägt zur Erweiterung unserer Erkenntnisse bei, will aber mit Vorsicht gehandhabt werden. Sie gehört bei Kant zu den Schlußarten der Urteilskraft, die vom Besonderen zum Allgemeinen fortschreitet. 32 Was Kant dazu in im§ 90 der „Kritik der Urteilskraft" sagt, 33 ist indes nicht so aufregend, wie die Analogie in Aktion, die der§ 59 bietet. In Kurzfassung: Um die Realität von Begriffen darzulegen, bedarf es der Anschauung. Für empirische Begriffe sucht man Beispiele. Reinen Verstandesbegriffen a priori unterlegt man Schemate, apriorische Anschauungen. Verlangt man aber die objektive Realität von Vernunftbegriffen, d.h. von „Ideen" darzutun, und zwar zur 31 Vgl. dazu H.D. Kittsteiner: Freiheit und Notwendigkeit in Schellings ,System des transcendentalen Idealismus', in: Ders.(Hg.): Out of Control, a.a.O., s.49-74. 32 Immanuel Kant: Logik, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. IX, S. 132 f. (§ 84)

33 Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., Bd. V, S. 464 (§ 90).

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Einleitung

theoretischen Erkenntnis, so verlangt man etwas Unmögliches, ,,weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann." Hier hilft nur ein Verfahren weiter, das dem Schematisieren analogisch ist. Die Urteilskraft sucht nach Symbolen, die nicht die sinnliche Anschauung selbst betreffen, sondern „die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung" - die dann auf einen ganz anderen Gegenstand angewendet werden kann. Kants berühmtes Beispiel dafür lautet: ,,So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt. Denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen den Regeln, über beide und ihre Causalität zu reflectiren. " 34 In feiner Ironie will der Königsberger Denker sagen: in einem despotischen Staat werden die Bürger wie in einer Mühle gemahlen. Das ist das analogische Symbol. Übertragen auf unser Problem: Das Unbewußte ün Ich und das Unbewußte in der Geschichte haben nicht die geringste Gemeinsamkeit miteinander. Das eine ist psychisch situiert und kann je nach Herangehensweise psychoanalytisch oder neurobiologisch ausgedrückt werden. Das andere ist ökonomisch bedingt und hängt zusammen mit der Konkurrenz der Kapitale auf dem Weltmarkt. Ähnlich ist nur die Regel, über beide und ihre Causalität zu reflektieren. Und die wiederum besagt: wir sind nicht umstandslos Herr unseres „freien Willens" und wir sind nicht Herr unserer vermeintlich „selbst gemachten" Geschichte. Soweit die Analogie. Fragt man weiter, stößt man auf das Problem, ob das Unbewußte im Ich mit dem Unbewußten in der Geschichte genetisch zusammenhängen könnte. Bedenkenswert ist zumindest folgendes: Freud hat das Verdrängte an einen „Kern des Unbewußten" angelagert, den er als „Urverdrängung" in eine mythische Vorzeit entrückt. C.G. Jung hat dann diesen Vorrang der Phylogenese vor der Ontogenese für seine Theorie des „kollektiven 34 Kant, ebd., S. 351 f. (§ 59).

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Das Unbewußte im Ich und das Unbewußte in der Geschichte

Unbewußten" ausgebaut. Der Aufsatz „Wir werden gelebt" versucht dieses vermeintlich Archaisch-Unbewußte als die Erfahrungsgeschichte des Bürgertums im 19. Jahrhundert zu entziffern. Freud hatte die These aufgestellt, daß die Urverdrängung Folge einer intensiven Angst gewesen sein könnte. Geht man zurück auf das Kapitel über die „Angst in der Geschichte" kann man diesen Vorgang auch anders lesen. Angst, traumatische Angst stellt sich ein, wenn - anders als bei der Furcht - das Objekt des Handelns fehlt. Eben diese Angst entsteht im nicht-machbaren historischen Prozeß: könnte es sein, daß die sogenannte „Urverdrängung" im Nicht-Wahrhabenwollen des Unterworfenseins unter einen nicht verfügbaren Prozeß besteht? Der Denktypus der Geschichtsphilosophie wäre dann eine Kompromißbildung, entstellt durch eine moralphilosophische Zensur, um den Zustand gelebt zu werden überhaupt ertragen zu können. Fällt diese schützende Einhüllung zumindest teilweise weg, zeigt sich das Problem deutlicher. Die Analogien zwischen Freud und Marx sind dann nicht zu übersehen. Bei Freud ist das „Ich" ein armes Ding, eingeklemmt zwischen die Ansprüche der Außenwelt, des Es und des Über-Ich. Bei Marx ergeht es dem „Ich" nicht viel bess.er: Es hat seinen Willen an die Ware abgegeben und existiert nur als „ökonomische Charaktermaske". Wir werden gelebt, zum einen vom Es~ zum andern vom Kapital. Das Es kennt keine Wertungen, kein Gut und Böse, keine Moral. Dasselbe läßt sich vom Kapital sagen. Das Es kennt nur einen Trieb, das Lustprinzip. Das Kapital kennt ebenfalls nur einen Trieb, den Verwertungstrieb. Die Analogie läßt sich noch weiter treiben. Ein psychischer Apparat, der nur aus einem Es bestünde, wäre nicht überlebensfähig, wenn nicht das Ich gegen den Widerstand des Es für Es dächte. Das Kapital ist an sich selbst nur ein blinder Trieb zur profitablen Verwüstung der Welt; alles Denken zu ihrer Rettung - und damit zu seiner irdischen Grundlage - wird von ihm ebenso energisch bekämpft wie. bei Freud das Ich vom Es. Der Aufsatz schließt mit einer Erwägung, ob es möglich ist, das Profitmotiv gegen sich selbst zu kehren, um eine Entschleunigung der Geschichte zu erreichen. 23

Einleitung

Das Problem allerdings, ob das Unbewußte in der Geschichte das Unbewußte im Ich kausal bedingt, oder zumindest sein Fortbestehen gararantiert, muß offenbleiben. Es war ja nur ein heuristischer Versuch, aufgrund einiger Analogien, ,,nach der Regel der Reflexion" überhaupt danach zu fragen. Faszinierend wäre der Gedanke schon, daß sowohl in der Geschichte als im Ich im Zentrum ein Etwas steht, das weder psychisch unterdrückt noch revolutionär ausgeschaltet werden kann, das ebenso schöpferisch wie gefährlich ist, und in dessen Herrschaftsbereich nur vorsichtige Vorstöße unternommen werden können. Als etwas anderes kann „Kulturarbeit" nicht definiert werden. Berlin, den 31. Oktober 2005

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Die Stufen der Moderne

I. Erfahrungsraum, Erwartungshorizont symbolische Form und Narration. Wenn hier von „symbolischer Form" die Rede ist, dann ist primär nicht damit gemeint, was seit einiger Zeit in der historischen Mittelalterforschung und in der Forschung zur Frühen Neuzeit als Ritual und als symbolische Kommunikation untersucht wird. 1 Ich möchte den Bereich des Symbolischen von einer anderen Seite her in den Blick nehmen und von der Frage ausgehen, ob das Verhältnis der Menschen zu dem, was sie unter „Geschichte" verstehen, und was epochenspezifisch sich wandelt, als Grundlage für einen Begriff des Symbolischen genommen werden kann. In einem nächsten Schritt könnte dann, davon ausgehend, eine Epochengliederung der „Moderne" versucht werden. Diese Epochengliederung ist von vornherein beschränkt auf den Zeitraum der „Neuzeit". Denn wenn das Kriterium der „Neuzeit" die „Eroberung der Welt als Bild" ist, dann werden wir die Schwierigkeiten zu untersuchen haben, in die die Menschen mit ihrem „Gebild des vorstellenden Herstellens" 2 hineingeraten. Nun mag man einwenden, ein solcher Ansatz sei geschichtsphilosophisch. 3 Diesem Einwand muß ich mich aussetzen; ich räume ein, daß ich 1

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Gerd Althoff: Rituale - symbolische Kommunikation. Zu einem neuen Feld der historischen Mittelalterforschung, in: GWU, Register des Jahrgangs 50, 1999, S. 140-154. -Barbara Stollberg-Rilinger: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neuere Forschungen zur symbolischen Kommunikation im Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 27. Bd., 2000, S.389-405. - Der Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung eines im Mai 2002 gehaltenen Vortrags auf einer Tagung des Sonderforschungsbereichs 496: ,,Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution" an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: Ders.: Holzwege, Frankfurt/M 1963, s. 87.

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Die Stufen der Moderne

seit längerem versuche, eine von geschichtsphilosophischen Fragen angeleitete Kulturgeschichte 4 auszuarbeiten. Eine Rehabilitierung der zu unrecht in Mißkredit geratenen „Kulturphiloso,phie"5 ist darin impliziert. Um dieses Programm zu erläutern, werde ich zwei Kategorien von Reinhart Koselleck - ,,Erfahrungsraum" und „Erwartungshorizont" mit der „Philosophie der symbolischen Formen" von Ernst Cassirer 6 verbinden. 7 Koselleck hat beide Kategorien sowohl als „anthropologische Vorgegebenheit" als auch als „transzendentale Bestimmungen der Geschichte" betrachtet: ,,Es handelt sich um Erkenntniskategorien, die die Möglichkeit von Geschichte begründen helfen. Anders gewendet: es gibt keine Geschichte, ohne daß sie durch Erfahrungen und Erwartungen der handelnden oder leidenden Menschen konstituiert worden wäre. " 8 Nun betont auch Koselleck, daß beide Kategorien miteinander verschränkt sind; er hat sich aber vor allem mit der in der Neuzeit aufbrechenden Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung beschäftigt. 9 Verbindet man beide Kategorien jedoch mit der 3

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,Jn solchen Modellen werden geschichtsphilosophische Schemata der Aufklärung und der idealistischen Geschichtsphilosophie (Hegel) übernommen und evolutionstheoretisch ,ver.festigt', die unserem heutigen Wissen von der ,Komplexität' und spezifischer Rationalität des symbolischen Handelns nicht gerecht werden." Gerd Althoff/Ludwig Siep: Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertsysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution, in: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, 34. Bd. (2000), S. 400. H. D. Kittsteiner: Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1/2000, S. 74. Ralph Konersmann: Aspekte der Kulturphilosophie, in: Ders.(Hg.): Kulturphilosophie, Leipzig 1996, S. 21 ff., insbes. S. 23 Anm. 15. Cassirer wird unter Wert gehandelt, wenn man nur nachsieht, was er direkt zu Ritual oder Mythos gesagt hat, ohne daß sein ganzer Ansatz in Betracht gezogen wird. Vgl. dazu Althoff/Siep, (Anm. 3), S. 399. H. D. Kittsteiner: Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren, in: Ders. (Hg.): Geschichtszeichen, Köln, Weimar, Wien, 1999, s. 107 ff. Reinhart Koselleck: ,Erfahrungsraum' und ,Erwartungshorizont' - zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M 1979, S. 351.

Erfahrungsraum, Erwartungshorizont

symbolische Form

Philosophie Ernst Cassirers, der den Neukantianismus aus der Enge einer den Aufschwung der exakten Wissenschaften begleitenden Erkenntnistheorie befreit und in Richtung auf eine Theorie der „Grundformen des ,Verstehens' der Welt" 10 ausgeweitet hat, dann kann man zu der Auffassung gelangen, daß sich Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zu symbolischen Formen verdichten. Zunächst einmal zeigt es sich, daß es gar keine unmittelbare Erfahrung gibt, die nicht schon mit theoretischen Deutungen und Bedeutungen durchdrungen wäre.1 1 Bezogen auf beide Kategorien ergibt sich dann eine aus der Einstellung des Menschen zur Geschichte herrührende Asymmetrie: Es gibt keine „Erfahrung" der Gegenwart, die nicht vom „Erwartungshorizont", her geprägt ist. Nur in diesem auf unser Handeln hin ausgelegten Rahmen bedeuten uns die Wahrnehmungserlebnisse etwas. Indem wir sie auf eine antizipierte Ganzheit des Lebens oder der Geschichte beziehen, werden sie zu Trägern eines „Sinns." Cassirer liefert dafür den Begriff der „symbolischen Prägnanz": ,,Unter ,symbolischer Prägnanz' soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis als ,sinnliches' Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ,Sinn' in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt." 12 Eine zusätzliche Bedingung besteht darin, daß diese Antizipation sich nicht zu einem „Ziel" der Geschichte verfestigen soll; wir müssen eine offene Geschichte mit sich wechselseitig kritisierenden Erwartungshorizonten zugrunde legen. 13

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Koselleck, ebd., S. 358

10 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1988, Bd. I, S. V. 11 „Denn nicht erst die Region der wissenschaftlichen, der ,abstrakten' Begriffe, sondern bereits die der ,gemeinen' Erfahrung ist mit theoretischen Deutungen und Bedeutungen durchdrungen." Cassirer, ebd., Bd. HI, S. 14.

12 Cassirer, ebd., Bd. III, S. 235. 13 H. D. Kittsteiner: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?, in: Geschichte und Gesellschaft, 23 Jg./H 1 (1997), S. 23 ff.

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Die Stufen der Moderne

In diesem Sinne hat Cassirer den Menschen als animal symbolicum definiert: ,,Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam beständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts mehr sehen und erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe." 14 Vieles von dem, was wir heute als „linguistic turn" oder „ iconic turn" diskutieren, ist hier schon angedeutet und zwar so, daß einerseits die erkenntnistheoretischen Funktionen in den Blick geraten: Keine Erfahrung ohne symbolische Vermittlung. Andererseits, da es sich um Kategorien des historischen Verhaltens handelt, muß man davon ausgehen, daß sich diese Formen des Selbstverständnisses im Sinne Diltheys „objektiviert" haben. Das „Verstehen" des Historikers besteht dann darin, dieses „symbolische Universum" 15 zu entschlüsseln. Geschichtswissenschaft ist nicht länger eine Wissenschaft von äußeren Fakten oder Ereignissen, sondern eine „Form der (menschlichen) Selbsterkenntnis" 16: ,,Gelingt es dem Historiker nicht, die symbolische Sprache seiner Denkmäler zu entziffern, so bleibt die Geschichte für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. "17 Bezieht man diese Symbolwelten auf die Versuche der Menschen, in Erfahrung und Erwartung ihre Geschichte zu „machen" (ob sie es können, klammere ich vorläufig aus, da diese Problemlage eine Erweiterung der Hermeneutik nach sich zieht) 18 , dann 14 15 16 17 18

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Cassirer: Versuch über den Menschen, Frankfurt/M 1990, S. 50. Cassirer, ebd., S. 297. Cassirer, ebd., S. 291. Cassirer, ebd., S. 2 71. Um das Problem hier nur anzudeuten: H. G. Gadamer macht darauf aufmerksam, daß die oft genannte.Einsicht Giambattista Vicos, die von Dilthey wiederholt werde, daß wir nur geschichtlich erkennen, weil wir selber geschichtlich sind, Schwierigkeiten mit sich bringt, die oft übersehen werden: „Ist Vicos oft genannte Formel denn überhaupt richtig? überträgt sie nicht eine Erfahrung des menschlichen Kunstgeistes auf die geschichtliche Welt, in der man von ,Machen„ d.h. von Planen und Ausführen angesichts des Laufs der Dinge überhaupt nicht reden kann?" Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, S.-217. Was zunächst als erkenntnistheoreti-

Erfahrungsraum,

Erwartungshorizont

symbolische Form

wird man fragen müssen, ob es eine je epochenspezifische Vorherrschaft bestimmter Symbole gibt. Cassirer hätte darauf so geantwortet: ,,Die verschiedenen Formen der Kultur werden nicht durch eine Identität in ihrem inneren Wesen zusammengehalten, sondern dadurch, daß sich ihnen eine gemeinsame Grundaufgabe stellt." 19 Es geht nicht um Substanz begriffe, sondern um Funktionsbegriffe; bezogen auf die Arbeit des Historikers: Es geht nicht darum, eine substanzhafte „Identität" als Wurzel einer Kultur freizulegen, sondern es ist zu fragen, was sich welche Zeiten als ihre „gemeinsame Grundaufgabe" gestellt haben. Das Herausfinden der „gemeinsamen Grundaufgabe" verbindet objektive wie subjektive Kriterien für eine Epochengliederung: Es zeigt die Probleme, also Ereignisse und Strukturen, auf die reagiert werden mußte und also auch die Art und Weise, wie es die Menschen mit ihrer Geschichte aufnehmen wollten. Insofern sucht diese Epochengliederung nach den symbolischen Formen des Verhältnisses der Menschen zur historischen Zeit. 20 Damit wäre man wieder bei „Erfahrungsraum" und „Erwartungshorizont"21 angelangt. Zur Verdeutlichung des Gegenstandes der Geschichtswissenschaft, möchte ich aber noch Heidegger sehe Erleichterung genommen wird, ist in Wahrheit eine Erschwerung. Sie tritt schon bei Vico selbst in Erscheinung, da er sein erstes Prinzip, ,,daß diese politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist" in Hinblick auf ihre „verderbte Natur" durch eine Wissenschaft von der „Vorsehung als geschichtlicher Tatsache" ergänzen muß. Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hg. Vittorio Hösle, Hamburg 1990, Bd. I, S. 142, 149 und 151.- Hegel hatte das Begreifen des Nicht-Machbaren auf seine Weise versucht, indem er die unbeabsichtigten Resultate des menschlichen Handelns zur bewußten Absicht eines ,Weltgeistes' gemacht und also ,verstanden' bzw. begriffen hat. Paul Ricceur: Zeit und Erzählung, München 1988, Bd. III, S. 319. 19 Cassirer, ebd., S. 337. 20 Norbert Elias: Über die Zeit, Frankfurt/M, 1984, S. XXXIII. 21 Zum Begriff „Erwartungshorizont" vgl. J. Huizinga, der sich seinerseits auf Karl Mannheims ,Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus" von ~935 beruft. Johan Huizinga: Im Schatten von Morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit, Bern/Leipzig 1936, S. 14. - Über den Zusammenhang von „Lebenswelt" und „Horizont" bei Husserl vgl. Jean Grondin: Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, S. 116 f.

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Die Stufen der Moderne

zu Rate ziehen. Das mag auf den ersten Blick überraschen, da ich doch im wesentlichen von Cassirer ausgegangen bin. Neue Forschungen zur „Davoser Diskussion" zeigen aber, daß zumindest in der Mitte der 20er Jahre die Positionen beider Denker nicht so weit auseinanderlagen; daß keine Verständigung möglich gewesen wäre. 22 Ich lasse die eigentliche Fragestellung von „Sein und Zeit" beiseite und betone nur, daß ich wie Koselleck starke Zweifel habe, ob sich die „intersubjektiven Zeitstrukturen der Geschichte hinreichend aus einer Daseinsanalyse ableiten lassen. " 23 Im Grunde geht es hier nur um eine Nebenbemerkung Heideggers, die ich zudem aus dem existenzialontologischen Kontext herausnehme. Was ist der Gegenstand der Geschichtsschreibung? ,,Weder das nur einmalige Geschehen noch ein darüber schwebendes Allgemeines ist ihr Thema, sondern die faktisch existent gewesene Möglichkeit. " 24 .Es wäre demnach verkürzt zu sagen, die „Vergangenheit" sei der Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Genau besehen ist es die vergangene Zukunft einer Vergangenheit. Nur wenn die mit in den Blick gerät wird deutlich, was die Bestrebungen der Menschen waren, wie sie an ihrer 't9,svng~J!fg~J?e" gearbeitet haben. · Was ist das primäre Quellenmaterial einer solchen, geschichtsphilosophisch angeleiteten K~l(urgeschichte? Genau genommen weder historische Ereignisse ... ~-~-d St~ukturen für sich allein, noch die unmittelbaren Intentionen der historischen Akteure, sondern die Art und Weise, wie beides von den jeweiligen Zeitgenossen zu „ Geschichtszeichen " 25 oder historischen Symbolen verarbeitet worden ist. Diese Verarbeitung kann in prägnanten Bildern geschehen - deren Aufarbeitung käme insofern einem „iconic turn" 26 in der Geschichtswissenschaft entgegen, sie kann aber auch nach wie vor die sprach.liehe Form einer Erzählung anneh22 John Michael Krois: Warum fand keine Davoser Debatte zwischen Cassirer und Heidegger statt? in: Dominic Kaegi/Enno Rudolph (Hrsg.): CassirerHeidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002. Cassirer-Forschungen Bd. 9, S.234-246. 23 Koselleck, Erfahrungsraum, a.a.O., S. 355, Anm. 4. 24 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1953, S. 395. 25 H. D. Kittsteiner: Kants Theorie des Geschichtszeichens, a.a.O., S. 93 ff.

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Erwartungshorizont

symbolische Form

men. 27 Indem der Historiker eine Geschichte erzählt, deutet er die Stellung der Menschen zur Welt. Diese Narrationen geben Auskunft darüber, wie die Menschen sich in ihre Geschichte gestellt haben; sie wissen dann, wer sie sind, oder besser: sie glauben es zu wissen, denn gerade die „großen Erzählungen" sind bekanntlich irrtumsfähig. 28 In einem von der Geschichtswissenschaft noch viel zu wenig rezipierten Modell spricht Paul Ricreur von einer „dreifachen mimesis", die das Verhältnis der Fabelbildung zu ihrem historischen Umfeld umreißt. Zunächst sind Geschichtserzähler und Zuhörer auch bei Ricreur im Sinne Cassirers von einem gemeinsamen symbolischen Vorverständnis getragen; 29 ohne es wäre keine Verständigung möglich. Daraus entwickelt der Erzähler eine Fabelkomposition: aus der Vielfalt der Ereignisse macht er die „Einheit einer zeitlichen Totalität. " 30 Diese Narration gibt der Kompositeur in der „mimesis III" an die Welt zurück, so daß es zu einer Überschneidung „zwischen der Welt des Textes und der Welt des Hörers oder Lesers" kommt. 31 Nach diesem Modell kann man auch die historischen, philosophischen und künstlerischen „Narrationen" auffassen, um die es uns geht: Getragen von einem gemeinsamen „Erfahrungsraum" in der Beleuchtung eines „Erwartungshorizontes" (mimesis 1), entwickelt der Erzähler Lösungsmöglichkeiten für das, was er und andere für die „Grundaufgabe" seiner Zeit halten. (mimesis II) Diese narrativen Lösungsmöglichkeiten mit normativen Handlungsvorschlägen gehen über viele Vermittlungsschritte an die historisch Handelnden zurück, 32 die ihre „Aufgabe" in der Nar26 Vgl. dazu: Ferdinand Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey, Reinbek 1991, S. 10 f. und S. 26. 27 In der Systematik des Sonderforschungsbereiches 496 wären das die Arbeitsbereiche 4 b} und c}. Althoff/Siep, a.a.O., S. 405-408. 28 Vgl. dazu: Herta Nagl-Docekal: Schwerpunkt: Ist eine Rehabilitierung von Geschichtsphilosophie möglich?, in: DZPhil, 48 (2000), S. 49 f. 29 Paul Rica:ur: Zeit und Erzählung, München 1988, Bd. 1, S. 94. 30 Ricreur, ebd., S. 107. 31 Rica:ur, ebd., S. 122. 32 Diese teilweise Übereinstimmung im ,'Erfahrungsraum', zugleich aber auch Diskrepanz im ,Erwartungshorizont' zwischen den „normsetzenden Schich-

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li

Die Stufen der Moderne

ration erkennen - oder konkurrierende Gegennarrative entwickeln (mimesis III). Um diesen letzten Punkt an einem Beispiel zu beleuchten: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert gibt es die liberale Fortschrittserzählung des Bürgertums, es gibt ein sozialistisches Oppositionsnarrativ und hinter beiden kämpfenden Parteien taucht als drittes eine zivilisationskritische Haltung zur Geschichte auf. Damit bin ich bei meinem Epochenschema angelangt. Ich setze voraus, daß die Notwendigkeit von Epochengliederungen anerkannt wird, zugleich aber auch, daß es sich nur um heuristische Modelle handelt. Alle Phänomene einer Epoche nach einem Modell erklären zu wollen, wäre ebenso sinnlos wie pedantisch. Die Vielfalt des Historischen muß in jedem Fall gewahrt bleiben. 33 Es ist ein wenig wie bei der Abfolge der „Zentralgebiete" im „Neutralisierungsaufsatz" von Carl Schmitt: Außer den Zentralgebieten, über die die diskutierenden Eliten sich verständigen, gibt es ein pluralistisches Nebeneinander anderer Fragen; sie gelten aber als Probleme zweiten Ranges, sofern nur die Fragen der Zentralgebiete gelöst wären. 34 · Ich gehe davon aus, daß sich die Zeitspanne zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert in Europa zunächst in drei ,Schichten' oder ,Stufen' der Moderne gliedern läßt. Daß ich die Begriffe ,Schichten' und ,Stufen' nebeneinander benutze, kann als tenninologische Unsicherheit ausgelegt werden. Denn Schichten liegen sozusagen neutral übereinander, wie die Gesteinsformationen der Erdzeitalter. Sie wären - gut historistisch und frei nach Rankes ten" und ihren Adressaten habe ich meiner „Geschichte des modernen Gewissens" zugrunde gelegt. H. D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/Mund Leipzig 1991, S. 94 ff. 33 Hier ist noch einmal an Cassirers Ausgangspunkt zu erinnern. Er anerkennt, daß Hegel die geistigen Formen als inneren Zusammenhang der menschlichen Entwicklung ausarbeiten wollte, kritisiert aber, daß er diese Formen logifiziert und so um ihre Besonderheit gebracht habe. Zerschneide man andererseits dieses Hegelsche Band, findet man sich in der zusammenhanglosen Empirie wieder. Seine eigene Symboltheorie sollte dieses Dilemma vermeiden. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, S. 15 f. 34 Carl Schmitt: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, in: Ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles 1923-1939, Berlin 1988, S. 122 und S. 125.

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Geschichtstheologie gleichwertig. 35 Sage ich aber ,Stufen', so wird mir jenes teleologische Fortschrittsdenken unterstellt, von dem doch jeder Historiker weiß, daß es verboten zu sein hat. Vielleicht hilft ein sachlicher Befund aus dem Dilemma: Die ZeitSchichten, von denen ich spreche, liegen eben nicht wie in sich abgeschlossene Gesteinsformationen übereinander, sondern sie durchdringen sich auf vielfältige Weise, da die „Grundaufgaben" einer Epoche niemals abgeschlossen sind und „vergangene" Aufgabenstellungen auch in den späteren Schichten weiterwirken. Diese Grundprobleme werden niemals gelöst, sie werden nur von neuen Aufgaben überlagert, die sich in den Vordergrund drängen. Insofern kann man von einer Anreicherung von Problemen sprechen; das Verhältnis zur Geschichte wird zunehmend komplexer. Was die Zeitstruktur selbst betrifft, so sind die verschiedenen Epochen ohnehin ungleichgewichtig: die beschleunigte Zeit dessen, was ich die „evolutive Moderne" nenne, ist insofern vor beiden anderen Schichten ausgezeichnet, als sie überhaupt eine neue Zeit der Weltgeschichte hervorgebracht hat. Und da die „heroische Moderne" darauf nur in ihrem kulturellen Selbstverständnis reagiert, ist sie im strengen Sinn eigentlich gar keine eigenständige ,Stufe'. Sie möchte sich zwar neu entwerfen, bleibt aber in der Geworfenheit durch die unverfügbare, dynamisierte Geschichte. 36 Eine historische Entwicklung ist überhaupt nicht zu übersehen, andererseits läuft sie nicht auf ein geschichtsphilosophisch zu bestimmendes „Ziel" hinaus und ist in diesem Sinne nicht teleologisch. Erstrebenswert erscheint mir eine neue „große Erzählung", die sich in den teleologischen Fallstricken der alten nicht mehr verfängt. 37 35 „Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst." Leopold von Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte. Darmstadt 1965, S. 7. 36 Zu dieser „Hermeneutik der Faktizität" (allerdings ohne den von Marx her zu entziffernden Hintergrund) vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, a.a.O., s. 118. 37 H. D. Kittsteiner: Über die Unhintergehbarkeit geschichtsphilosophischen Denkens, in: Ders.: Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M 1998, S. 31. ff.

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Die Stufen der Moderne

II. Die Stufen der „Moderne"

1. Die Stabilisierungsmoderne

(1640-1680/1715)

In seinem Buch „The Struggle for Stability in Early Modern Europe" versucht Theodore K. Rabb den Großteil der philosophisch-wissenschaftlichen, der politischen und sozialen, aber auch der künstlerischen Bemühungen des 17. Jahrhunderts unter einem einzigen Motiv, einer „Grundaufgabe" in unserem Sinne, zusammenzufassen: Es geht um die Stabilisierung einer als krisenhaft erfahrenen Zeit. ,,The determination to extend ,human empire' reflected the most urgent need of an age confronted by dissolving standards of truth and knowledge. Control was the antidote to disarray" .38 In der Epoche der ,,frühneuzeitlichen Kriegsverdichtung" in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts 39 erstreckt sich der Ruf nach Kontrolle auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Die großen Entwürfe zur Staatstheorie (Hobbes, Spinoza) bemühen sich um eine Entschärfung und Neutralisierung der Differenzen der kämpfenden religiösen und Bürgerkriegsparteien. Darin zeichnet sich ein Diskurswechsel der gebildeten Schichten von der Theologie zur Metaphysik ab. 40 Die Techniken der Affektkontrolle setzen entweder auf einen universalen Staatszwang, oder auf eine Ausbalancierung der Affekte durch mentale Gegengewichte. 41 In den Naturwissenschaften tritt die Suche nach Gewißheit gegen den Probabilismus an, 42 und die ,,Mechanisierung des Weltbildes" durch Newtons Himmelsmechanik nimmt die Angst vor unberechenbaren okkulten Qualitäten der Dinge. 43 38 Theodore K. Rabb: The Struggle for Stability in Early Modem Europe, New York 1975, S. 53. 39 Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt/M 1992, S. 18. 40 Carl Schmitt: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, a.a.O., S. 123. 41 Albert 0. Hirschman: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/M 1980, S. 23 ff. 42 Benjamin Nelson: Der Ursprung der Moderne. Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozeß, Frankfurt/M 1977, S. 118 ff.

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Rabb konstatiert eine Beruhigung der europäischen Unruhe um 1680 und er zieht die eigentliche Stabilisierung in dem dramatisch kurzen Zeitraum zwischen 1640 und 1680 zusammen. Das ist seiner terminologisch korrekten Bestimmung der „Krisis" nach dem medizinischen Grundbegriff geschuldet: ,,,Crisis' is, by definition, the stage directly antecedent to relaxation. " 44 Insofern ist sein Modell nach dem Schema von krisenhafter Verdichtung und Entspannung der Kultur aufgebaut. Den Grund für die Entspannung liefert zuletzt der endlose Krieg selbst; diese Einsicht stellt Rabb u.a. an der Kunst dar. überwiegen zu Beginn des 30jährigen Krieges noch Huldigungen an die kriegführenden Fürsten, so stellt sich mit der Zeit Erschöpfung ein. 45 Die Friedensbilder des Velasquez, die „Übergabe von Breda" (1635) und auch der müde gewordene „Mars" von 1642 geben Zeugnis davon. 46 Man könnte eine Reihe von zusätzlicher Evidenz finden: den Aufstieg des Pietismus, der eine neue verinnerlichte Religiosität an die Stelle der zum Frieden unfähigen Dogmen der orthodoxen Konfessionen setzt, oder die europäischen Friedensordnungen zwischen 1648 und 1660, so daß man auch unter diesem Aspekt von einer „neuen Stabilität" und einem Einschnitt gesprochen hat, ,,der den älteren von dem jüngeren Teil der frühen Neuzeit trennt" .47 Wer den Begriff „Moderne" vorzieht, weil er selbst schon im 18. Jahrhundert zur Epochengliederung benutzt wurde, 48 wird 43 Keith Thomas: Religion and the Decline of Magie, Harmondsworth 1978, s.769. 44 T. K. Rabb, a.a.O., S. 34. . 45 Diese „Erschöpfung" des Krieges aus dem Blickwinkel eines Beteiligten ist hervorragend dokumentiert in: Jan Peters (Hg.): Ein Söldnerleben 1m Dreißigjährigen Krieg. Eine Quelle zur Sozialgeschichte, Berlin 1993. 46 T. K. Rabb, ebd., S. 128 ff. 47 Heinz Schilling: Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648, Berlin 1988, s. 462. 48 Zum Bedeutungsspektrum von „modern" (,gegenwärtig' vs. ,vorherig', ,neu' vs. ,alt', ,vorübergehend' vs. ,ewig') vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Art. ,,Mo~ dem, Modernität, Modeme" in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Hrsg. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 4, Stuttgart 1993, S. 96 und

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darüber hinaus auf die 1687 ausbrechende „Querelle des Anciens et des Modernes" verweisen, in der ein neues Selbstbewußtsein zum Ausdruck kommt. Wie Hans Robert Jauss gezeigt hat, kreist diese Debatte um die Differenz zwischen Perfektion auf dem Gebiet der schönen Künste und der Perfektibilität im Bereich der Naturwissenschaften, so daß sich ein Ausgang aus der humanistischen Zyklentheorie in Richtung auf einen Begriff des „Fortschritts" a.ndeutet. 49 Die Arbeit von Jochen Schlobach bestätigt diesen Befund. 50 Noch ist aber nicht gesichert, ob man sich wirklich in einer in Bewegung geratenen Zeit befindet. Der polnische Historiker Witold Kula hat einen wichtigen Aspekt der Differenz der Zeitstrukturen einer vorkapitalistischen zu einer vom Kapital und seiner Dynamik beherrschten Zeit so zusammengefaßt: In vorindustriellen Gesellschaften schwanken die Amplituden des Lebens von Jahr zu Jahr; es gibt gute Zeiten und schlechte Zeiten - es gibt aber noch nicht die Erfahrung eines generellen Entwicklungstrends.51 Daher würde ich diesen Zeitraum auch unter diesem Aspekt als „Stabilisierungsmoderne" bezeichnen; es gibt „Progresse" 52 auf allen Gebieten - ihr gemeinsames Ziel ist aber eine Beruhigung der Unruhe, noch kein säkulares Fortschrittsrnodell. 53

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S. 101 f. Wie der Artikel von Gumbrecht zeigt, hat der Begriff der „Moderne" den ganzen hier angesprochenen Zeitraum vom 17. bis zum 20. Jahrhundert in den verschiedensten Nuancen begleitet. H. R. Jauss/M. Imdahl {Hrsg.): Parallele des Anciens et die Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences, München 1964, S. 12 f. Jochen Schlobach: Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühaufklärung, München 1980, S. 342. Witold Kula: An Economic Theory of the Feudal System. Towards a Model of the Polish Economy 1500-1800, London 1976, S. 181. Reinhart Koselleck: Art. ,,Fortschritt", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1992, Bd. 2, S. 384 ff. Insofern entspricht die „Stabilisierungsmodeme" noch dem antiken Könnens-Bewußtsein: Es geht um Selbstbehauptung und Zugewinn, aber noch nicht um einen generellen Wandel. Christian Meier hatte in diesem Zusammenhang vom Unterschied zwischen einer „fortschreitenden Weltbemächtigung" und einem „ weltbemächtigenden Fortschritt" gesprochen. C. Meier:

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Von den drei Zeitpunkten, die Immanuel Wallerstein im zweiten Band seines „Modern World System" als Epochengrenzen der Moderne diskutiert: 1500, 1650 und 1800 tritt daher der Mittlere ins Zentrum. Die historische Bedeutung der beiden bekannteren Einsatzpunkte ist klar: Nimmt man „ 1500" zum Ausgangspunkt, dann steht die europäische Expansion und die von Europa her eingeleitete Strukturierung der Weltwirtschaft im Mittelpunkt. 54 Mit „ 1800" setzt die politische und industrielle Doppelrevolution ein. In Anlehnung an Fernand Braudel hatte Wallerstein das „lange 16. Jahrhundert" in zwei Phasen unterteilt: ein von der „Renaissance" begleiteter Aufstieg zwischen 1450 und 1550 kippt um in einen Weg in die Stagnation 55 zwischen 1550 und etwa 1620, so daß die von Rabb konstatierte „Krise" auch als Höhepunkt dieses langfristigen Abschwungs betrachtet werden kann. Innerhalb der globalen Ausdifferenzierung in Kern, Semiperipherie und Peripherie beendet sie die Verlagerung der „starken Kerne" vom Mittelmeer (Venedig, Genua) über Sevilla in den Nordwesten Europas - von Antwerpen nach Amsterdam und schließlich nach London. ,, 1650" steht aber auch bei Wallerstein für die europäische Selbstbesinnung nach dem 30-jährigen Krieg, für die Formulierung der zentralen Ideen der Neuzeit bei Descartes, Spinoza, Leibniz, Newton und Locke. 56 Die drei letzteren zeigen allerdings, daß die Vorstellung von der Überwindung der Krise um 1680 bei Rabb doch zu eng gezogen ist - zwar ist beispielsweise der „Theologisch-Politische Traktat" 1670 erschienen, doch eine breitere Rezeption des Ein antikes Äquivalent des Fortschrittsgedankens, in: Historische Zeitschrift 226 (1978), s. 298. 54 Auch wer Weltgeschichte besser als „Interaktion zwischen Zivilisationen" auffassen möchte, kommt nicht daran vorbei, westliche UniversalisierungsProgramme zu konstatieren. Johan Galtung: Welt-, Global-, Universalgeschichte und die gegenwärtige Historiographie, in: Zeitschrift für Weltgeschichte (ZWG), Jg. 1, Heft 1, 2000, S. 9-34. 55 Wallerstein ersetzt den Begriff der „Krise des 17. Jahrhunderts" durch den der Stagnation und der Umgruppierung. Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem II. - Der Merkantilismus, Wien 1998, S. 17 ff. 56 Wallerstein, ebd., S. 6 f.

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Spinoza setzt erst sehr viel später ein. 57 Das alte Buch von Paul Hazard hatte solchen Phänomenen eher Rechnung getragen und die Durchsetzung der Stabilisierungsphase in einer ersten Welle der Aufklärung um 1680 beginnen lassen und sie bis 1715 datiert. 58 Korrelliert man diese Entwicklung mit den Forschungen von Hartmut Lehmann und Jean Delumeau, so könnte man sagen: Die „Stabilisierungsmoderne" fällt zusammen mit einer unruhigen Stagnationsphase nach dem stürmischen Aufbruch in einen ,,ersten Kapitalismus". Ein Europa der Angst 59 -dessen prägnanteste symbolische Form die Hexenprozesse sind - wandelt sich durch eine geistige Anstrengung auf allen Gebieten in ein Europa der Hoffnung. 60 Anders gewendet: ohne die Erfahrung der „frühneuzeitlichen Kriegsverdichtung" und der religiösen Bürgerkriege keine Aufklärung. Ohne die Aufklärung kein europäischer Sonderweg gegenüber den anderen Weltkulturen. Ohne diesen europäischen Sonderweg keine „evolutive Moderne". Sie macht die zweite Schicht meines Modells aus. 57 Günter Gawlick (Hg.): Baruch de Spinoza: Theologisch-Politischer Traktat, Hamburg 1976, S. XXIX. 58 Paul Hazard: Die Krise des europäischen Geistes. 1680-1715, Hamburg 1939. - Dort v.a. die Abschnitte: ,,Der Kampf gegen die Überlieferungen", S. 151 ff. und „Der Versuch eines Wiederaufbaus", S. 286 ff. 59 Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Reinbek 1985. 60 Hartmut Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus, Stuttgart u.a. 1980, S. 161 ff. - Inwiefern Hexenverfolgungen als „symbolische Form" aufgefaßt werden können, kann hier nicht näher erläutert werden. Im Grunde handelt es sich aber um ein symbolisches Handeln, das - sozusagen in falscher kausaler Zurechnung - durch den Tod der vermeintlichen „ Verursacher" des Unheils den Zorn Gottes bändigen und die gestörte Ordnung wiederherstellen will. H. D. Kittsteiner: Spee-Thomasius-Bekker: ,Cautio Criminalis' und ,prinzipielles Argument', in: Doris Brockmann/Peter Eicher (Hrsg.}: Die politische Theologie Friedrich von Spees, München 1991, S. 199. - Erst vor dem Hintergrund der Cartesianischen Philosophie entwickelt dann Balthasar Bekker ein „prinzipielles" Argument gegen die Verfolgung der Hexen: Es kann zwischen „Geistern" und „Körpern" keine Verbindung geben, Körper können daher von Geistern nicht durch die Luft geführt werden. Ebd., S. 207 ff.

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Die evolutive Moderne als Subjekt ihrer selbst

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2. Die evolutive Moderne als Subjekt ihrer selbst (1770-1880) In dieser Stufe der „evolutiven Moderne" ist unschwer die „Sattelzeit"61 Reinhart Kosellecks wiederzuerkennen; sie ist nur um etwa 20 Jahre verschoben. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts machen die Stabilisierungsmodelle einer dynamischen Geschichtsauffassung Platz. 62 Mit dem Bewußtsein, in einer sich beschleunigenden Zeit zu leben, entstehen fast gleichzeitig zwei neue Wissenschaften, die den Fortschritt nun auch sprachlich zum Subjekt seiner selbst erheben: In England die Politische Ökonomie von Adam Smith bis Ricardo, auf dem Kontinent die Geschichtsphilosophien yon Turgot bis Condorcet und in Deutschland von Kant bis zu Hegel - um die wichtigsten Namen zu nennen. Bei Adam Smith wird die bloße „Stabilisierung" als Grundaufgabe der Zeit durch eine Theorie des wirtschaftlichen Wachstums ersetzt. Wenn Reichtum gleich Wachstum ist 63 , sind nicht mehr die „wohlangebauten" Nationen zu beneiden, sondern diejenigen, die am schnellsten wachsen. Sein Kollege Adam Ferguson verallgemeinert: Das Sinnbild des Menschen ist nicht ein „stehendes Gewässer", sondern ein „fließender Strom". 64 Mit dieser Einsicht koppelt sich Europa von dem letzten noch verbliebenen Erdteil seiner Bewunderung ab, von Asien, nachdem es selbst wie z.B. in Indien - dessen Produktivität ruiniert hatte. 65 „Länder wie China, Japan, Siam und Cochinchina beeindruckten ( .... ) bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts durch den Wohlstand der einfachen Bevölkerung." Für Adam Smith sind Indien und China i

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Erst diese Argumentation, die z.B. Thomasius nur bedingt teilt, leitet ein Ende der Hexenangst und damit eine „Stabilisierung" ein. Reinhart Koselleck: Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 11 (1967), S. 81-99. Reinhart Koselleck: Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? in: Ders., Zeitschichten, Frankfurt/M 2000, S. 150-176. H. D. Kittsteiner: Ethik und Teleologie: Das Problem der ,unsichtbaren Hand' bei Adam Smith, in: Ders., Listen der Vernunft, a.a.O., S. 62. Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (Hrsg. Zwi Batscha/Hans Medick), Frankfurt/M 1986, S. 104. Eric J. Hobsbawm: Industrie und Empire. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750, Frankfurt/M 1970, Bd. I, S. 48.

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nur noch „ stagnierende Wirtschaften". 66 Ein Eurozentrismus, wie er im 19. und 20. Jahrhundert seinen Höhepunkt fand, formiert sich in dieser Zeit. Es ist ein dynamisches Europa, das sich nun mit der „Geschichte selbst" identifiziert, 67 und für das es in den bisherigen Weltkulturen kein Vorbild gegeben hatte. Europa, die Geraubte, war selbst zur Räuberin geworden. Doch wer oder was treibt diese Entwicklung voran? Der 'f „Mensch"? Oder sind hier Strukturen in Bewegung geraten, jenseits der menschlichen Verfügung, die ihn selbst in einen Fortschritt hineinreißen, ob er will oder nicht? Diese neuen Wissenschaften der Politischen Ökonomie und der Geschichtsphilosophie korrigieren je in ihrer Weise eine Prämisse der Stabilisierungsmoderne des 17. Jahrhunderts; Der cartesianische Mensch als fundamentum inconcussum ist gar nicht das Subjekt der Geschichte, das dazu berufen wäre, eine stabile und dauerhafte Ordnung more geometrico in die Unordnung zu bringen. 68 Das, was als „fortschreitende Weltbemächtigung" gedacht war, hat in ·1 einen „ weltbemächtigenden Fortschritt" hineingeführt. Zwar beginnt nun die im 17. Jahrhundert inaugurierte Zivilisierungskampagne zu greifen, auch die Angst vor der Natur schwindet. 69 Doch im Jahre 1784 formuliert Immanuel Kant bei der Betrach66 Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 383 ff. 67 Besonders deutlich bei Hegel. Nordamerika ist noch nicht in den Bereich der Weltgeschichte eingetreten, das östliche Asien von ihr zu weit entfernt, und Afrika ist ohnehin geschichtslos. G.W.F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, Hg. J. Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 198 ff. 68 Es ist typisch für ein Denken, das diese geschichtsphilosophischen Einsichten des 18. Jahrhunderts weitgehend ausklammert, daß es die „Neuzeit" immer mit Descartes beginnen läßt: ,,Das Zeitalter, das wir Neuzeit nennen und in dessen Vollendung die abendländische Geschichte jetzt einzutreten beginnt, bestimmt sich dadurch, daß der Mensch Maß und Mitte des Seienden wird." Martin Heideggei: Nietzsche: Der europäische Nihilismus, Gesamtausgab.e Bd. 48, S. 52. - Was für die „Stabilisierungsmoderne" verständlich ist, die Welt von einem unerschütterlichen Fundament her neu zu ordnen, wird schon in Kants Geschichtsphilosophie obsolet. Seit Nietzsche waren aber deren Einsichten destruiert, so daß spätere Denker sie als „unverfügbare Geworfenheit" neu wieder konzipieren mußten.

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tung der Geschichte den „Unwillen" des Philosophen: nichts geschieht nach einem „verabredeten Plane im Ganzen" wie man es von „vernünftigen Weltbürgern" erwarten sollte - die Geschichte scheint dem Wechselspiel aus „ Thorheit" und „kindischer Eitelkeit" preisgegeben. 7 Fast alles können die Menschen machen nur nicht ihre eigene Geschichte. Die Geschichtsphilosophie verarbeitet diese narzistische Kränkung des homo (aber dadurch, daß sie ein „Subjekt", konstruiert, das nun an Stelle des Menschen, als „List der Vernunft" hinter seinem Rücken - für ihn zurechtbringt, was er selbst nicht vermag: eine „Naturabsicht", eine „unsichtbare Hand", einen „Weltgeist". 71 Damit hat sie eine „große Erzählung" entworfen und ein teleologisches Symbol geschaffen, auf das hin das Handeln der Menschen sich ausrichtet. Inhaltlich beschreibt die große Erzählung ein Paradox; sie erzählt die Machbarkeit des Nicht-Machbaren. Denn indem Hegels Weltgeist der Geschichte ein vernünftiges Ziel aufzeigt, macht er die nicht-intendierten Folgen des menschlichen Handelns zu seinem bewußten Zweck. 72 Tritt eine Theorie mit dem Anspruch auf, dieses Ziel erkannt zu haben, verschafft sie ihren Anhängern eine Genugtuung, die sonst nur Religionen spendeten: eine Lebensführung - statt aus der Glaubensgewißheit nun aus der erkannten Notwendigkeit der Geschichte. Man kann sich einer historischen Entwicklung unterstellen und an ihr mitarbeiten - allerdings entfaltet sich zugleich ein Paradox, auf das ebenfalls als erster Kant hingewiesen hat: Ist die Vollendung der Gattung unendlich, dann wird den früheren Generationen zugemutet, an einem Glück für die späteren zu arbeiten, das sie doch selbst nicht mehr genießen werden. 73 In den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts wird sich dieses Paradox als das Problem der geopferten Generation verschärfen.

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69 Ich habe versucht, das anhand der kulturellen Auswirkungen der Erfindung des Blitzableiters zu zeigen. H. D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/Mund Leipzig 1991, S. 31-94. 70 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Akademie-Textausgabe,Berlin 1968, Bd. VIII, S. 17 f. 71 H. D. Kittsteiner: Listen der Vernunft, a.a.O., S. 11 ff. 72 Paul Ricreur: Zeit und Erzählung, München 1988, Bd. III, S. 319.

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Man kann versuchen, diese Übergangszeit von der ,,Stabilisierung" zur „Evolution" an einem - vergleichsweise marginalen Wandel der Symbolisierung der Zeit nachzüweisen. In der Neubebilderung der „Iconologia" des Cesare Ripa von 1593 durch Johann Georg Hertel zwischen 17 52 und 1772 gibt es noch keine Allegorie der Geschichtszeit. ,,Tempus" wird noch der „Ewigkeit" entgegengesetzt; das Symbol der Zeit ist der Kreislauf der Himmelskörper und die in sich verschlungene Schlange. 74 Es ist eben noch nicht ausgemacht, ob man sich wirklich in einer neu sich bewegenden Geschichtszeit befindet. Moses Mendelssohn wendet noch gegen Lessing ein, er habe keinen Begriff von der „Erziehung des Menschengeschlechts" und daß das „Ganze der Menschheit" immer fortrücken solle, sei für den Begriff von einer Vorsehung Gottes nicht so wichtig.7 5 Noch 1797 bemerkt Kant, die meisten Menschen lebten in einem System des „Geschichtsabderitismus": es geht nicht vorwärts, es geht nicht rückwärts, sondern der Gang der Dinge sei ein planloses Auf und Ab. 76 Nur drei Jahre später schreibt Fichte: ,,Das Universum ist mir nicht mehr jener in sich zurücklaufende Cirkel, jenes unaufhörlich sich wiederholende Spiel, jenes Ungeheuer, das sich selbst verschlingt, um sich wieder zu gebären, wie es schon war: Es ist vor meinem Blicke vergeistigt, und trägt das eigene Gepräge des Geistes: stetes Fortschreiten zum Vollkommenen in einer geraden Linie, die in die Unendlichkeit geht. " 77 Es ist, als ob Fichte die Eisenbahnschiene als Symbol der Zeit habe antizipieren wollen, die zusammen mit dem Flügelrad in 73 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, a.a.O., S. 20. -Auch Lessing hatte 1780 dieses Problem erkannt und darauf mit der spekulativen These der Metempsychose geantwortet. 74 H. D. Kittsteiner: Einheit im Pluralismus: Wie kann Geschichtstheorie widersprüchliche Zeitvorstellungen verbinden?, in: Evelyn Schulz/Wolfgang Sonne (Hrsg.): Kontinuität und Wandel. Geschichtsbilder in verschiedenen Fächern und Kulturen, Zürich 1999, S.41-87. 75 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, S. 261. 76 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, AT, Berlin 1968, Bd. VII, S. 82. 77 J. G. Fichte: Über die Bestimmung des Menschen, Werke Bd. 2, Berlin 1845, 317.

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unendlichen Varianten die Allegorisierung der Zeit im 19. Jahrhundert dominiert.7 8 In den Fortschrittsallegorien, auch und gerade im Narrativ der Sozialisten ist es oft die aufgehende Sonne am Horizont, die als Fluchtlinie das Ziel zeigt. Die Figuren weisen auf sie hin, rütteln die noch Unentschlossenen oder Schlafenden auf. Zugleich taucht dieser Erwartungshorizont sie in sein Licht: das Alltägliche ist nicht das Alltägliche, sondern ein mit zusätzlicher Bedeutung beladenes Geschichtszeichen. 79 Eine Revolution ist dann nicht primär eine gewaltsame politische Umwälzung, sondern ein Schritt auf dem Weg zur Befreiung der Menschheit: Eugene Delacroix hat 1831 mit „Die Freiheit führt das Volk'' die gültige Allegorie der Geschichtszeit des 19. Jahrhunderts geschaffen. 80Es ist bezeichnend, daß sich„ bürgerliche" oder „sozialistische" Symbole so ähnlich sehen. Beide denken in evolutiven Modellen. Der Unterschied besteht nur darin, daß die Sozialisten den Fortschritt einem „falschen" Subjekt zurechnen, das erst „revolutionär" überwunden werden muß, damit die Früchte des Progresses allen zukommen. Dennoch bleibt die Kapitalverwertung als das sich selbst bewegende „Substanz-Subjekt"81 der Motor dieser „evolutiven Moderne". Es gibt eine theoretische Leistung von Karl Marx, die noch heute Bestand hat. Er hat erkannt, daß die Herrschaft des Hegelsehen Weltgeistes kein „Sparren" war, wie Max Stirner wollte, sondern daß er sein fundamentum in re im Weltmarkt hat. 82 Marx hat seine Erkenntnis nicht ausgeschöpft, weil er den Weltmarkt nur darauf befragt hat, ob er die krisenhaften Grundlagen 78 Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, Frankfurt/M 1974, S. 27 ff. - Wolfgang Schievelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M 1995, S. 25 ff. 79 H. D. Kittsteiner: ,,Maienwerk", in: Uta Grund (Hg.): Unweit von Eden. Schriftenreihe des Museums der deutschen Lebensreform, Bd. 1, Potsdam 2000, s. 55-80. 80 H. D. Kittsteiner: Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts, in: Willem van Reijen: Allegorie und Melancholie, Frankfurt/M 1992, s. 147-171. 81 Karl Marx: D~s Kapital. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Berlin

1962,Bd.23,S. 169.

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für seine eigene Abschaffung liefere. 83 Am Ende der Geschichte sollte auch für Marx eine „Stabilisierung" stehen, allerdings jetzt in Form einer Rückgabe der Geschichte aus der Phase ihrer „Naturwüchsigkeit" an die „ assoziierten Produzenten", die über Ausrichtung der Produktion und Akkumulationsgeschwindigkeit selbst bestimmen sollten. 84 Man sieht daran, daß die mit der Stabilisierungsmoderne begonnene und bei Kant wieder aufgenommene Frage nach der Planbarkeit der Geschichte nicht in Vergessenheit geraten war. Sie wird nur nicht mehr als eine unmittelbare Ordnungsstiftung betrachtet, sondern nach dem Vorbild Hegels an das Ende des historischen Prozesses verlegt. So zeigt es sich, wie sich die verschiedenen Stufen der Moderne durchdringen. Die Probleme einer „Stabilisierung" der Geschichte sind nach wie vor ungelöst. Sie werden in der evolutiven Moderne oder in der heroischen Moderne aber anders beantwortet. Damit bin ich bei meiner letzten Schicht der Moderne angekommen.

3. Die heroische Moderne (1880-1945/89) Der Begriff der „Stabilisierungsmoderne" ist anhand von Theodore K. Rabb entwickelt; die „evolutive Moderne" beruht teilweise auf den Arbeiten von Reinhart Koselleck. Die „heroische Moderne" ist ein eigenes Konstrukt, das sich allerdings in Übereinstimmung mit einem Teil der neueren Forschung glaubt. 85 Für keine Schicht der Moderne gilt - wie bereits angedeutet - die Durchdringung mit der vorigen Stufe so sehr wie für die „heroische Moderne". Denn die evolutive Moderne, der industriekapi82 Daß die „Weltordnung" die „Weltmarktordnung" ist, betont auch: Jacques Derrida: Marx' Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/M 2004, S. 153. 83 Karl Marx: Grundrisse, Berlin 1953, S. 635. 84 Marx: Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 71. 85 So war ich erfreut feststellen zu können, daß Georg Bollenbeck, was die Eckdaten betrifft, zu einer vergleichbaren Epochengliederung kommt. Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Modeme 1880-1945, Frankfurt/M 1999:

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talistische Fortschritt in Europa unter Einbeziehung der Welt läuft ungebremst weiter - was sich ändert ist seine kulturelle Bewertung für das "Leben". Das ist zum ersten Male bei Nietzsche deutlich formuliert, denn seine „Zweite unzeitgemäße Betrachtung" handelt nur auf den ersten Blick von einer monumentalischen, antiquarischen und kritischen Geschichtsschreibung; dahinter eröffnet sich eine neue Einstellung zur Geschichte selbst. Nietzsche sieht sehr wohl, daß Hegels Geschichtsphilosophie ein „Bändigungsversuch" des nicht-machbaren Geschehens war - nur ist diese teleologische Theodizee gescheitert. ,,Historie dem Leben schädlich", ,,Geschichte dem Leben feindlich" - das sind Notizen aus den Vorarbeiten zum „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben". Es gibt in der Geschichte keinen Plan; einen Plan gibt es nur in den „Absichten eines gewaltigen Menschen". Alles Übrige ist Wirrsal. ,,Wer nicht begreift, wie brutal und sinnlos die Geschichte ist, der wird den Antrieb gar nicht verstehn, die Geschichte sinnvoll zu machen. " 86 Dieser Satz macht die Abwendung von und zugleich eine neue Hinwendung zur Geschichte deutlich. Geschichte hilft nun nicht mehr mit, sich selbst sinnvoll zu gestalten; sie muß - gegen ihre Verlaufsform - mit Gewalt „sinnvoll" gemacht werden. Nietzsche kündigt Hegels geschichtsphilosophischen Synergismus auf. Man kann sich die Konsequenzen dieser Operation so verdeutlichen: In allen Denkmodellen der Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel, auch noch bis zu M'arx, handelt der Mensch im Rahmen einer hinter seinem Rücken sich durchsetzenden „List der Vernunft". Er kann sozusagen mit halber Kraft arbeiten, denn die Geschichte selbst hilft mit, das, was er nicht vermag, ins Werk zu setzen. Wenn es aber den Anschein hat, als ob der gesamte historische Prozeß sich in eine falsche Richtung entwickek oder im Chaos versinkt, dann hilft „Geschichte" nicht mehr mit, dann müssen übermenschliche Kräfte beschworen werden, um den 86 H. D. Kittsteiner: Erinnern-Vergessen-Orientieren. Nietzsches Begriff des ,umhüllenden Wahns' als geschichtsphilosophische Kategorie, in: Dieter Borchmeyer: "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", FrankfurtiM 1996, S. 59.

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widerspenstigen Prozeß unter Kontrolle zu bringen. 87 Nietzsches Leitsatz könnte lauten: ,,Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß?" 88 Der erste Teil des Satzes kritisiert Hegel mit Schopenhauer, der zweite wendet sich gegen ihn. Hier sind beide Möglichkeiten der „heroischen Moderne" offengehalten: eine nihilistische Konfrontation mit dem sinnlosen Weltgeschehen, ein heroisch-leidendes Standhalten - oder ein letzter Bändigungsversuch mit übermenschlichen Kräften. Nietzsche hat die Weltanschauung einer ganzen Generation beeinflußt: ,,Der durchschnittliche Dummkopf vom Jahrhundertende sprach vom Übermenschen, als ob es sein grosser Bruder wäre. " 89 Die Suche nach Kraft und Kraftverstärkung in kulturellen und völkischen Wurzeln wird allgemein. Wer die deutsche Geschichte 90 des frühen 20. Jahrhunderts unter diesem Aspekt untersucht, wird finden, daß sich von beiden von Nietzsche umrissenen Möglichkeiten - der Decadence oder des kraftvollen Aufbruchs in eine Neue Zeit 91 - die Vorstellung einer Bändigung der „Weltverdüsterung" mit heroischer Anstrengung als kulturelle Aufgabe durchgesetzt hatte. Diese Haltung verschärft sich mit dem Verlauf des Ersten Weltkrieges. Was bei Nietzsche noch Spiel war, wird für diese Generation von Nietzsche-Lesern blutiger Ernst. 92 Oswald Speng87 H. D. K.ittsteiner: Nietzsches ,souveränes Individuum' in seiner plastischen Kraft, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie (1993), Heft 2, S. 294316. 88 Friedrich Nietzsche: Der' Wille zur Macht, Hg. Ralph-Rainer Wuthenow, Frankfurt/M 1992, S. 53. 89 Johan Huizinga: Im Schatten von morgen, a.a.O., S. 134. 90 Im Grunde müßte die "Stabilisierungsmoderne" an Holland und Frankreich, die „evolutive Moderne" an England, die „heroische Modeme" aber an Italien und Deutschland exemplifiziert werden. Das bedeutet nicht, daß sich die übergreifenden Züge dieser Epochen nicht auch an den anderen Ländern zeigen ließen, es scheint nur so zu sein, daß man sie dort in besonderer "Reinheit" studieren kann. 91 Alfred v. Martin: Der heroische Nihilismus und seine Überwindung. Ernst Jüngers Weg durch die Krise, Krefeld 1948, S. 57 ff. 92 Vgl. dazu: Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000.

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ler stellt nicht „Kultur" und „Zivilisation" als kämpfende Parteien gegeneinander, wie es in der professoralen Kriegsliteratur von 1914/15 üblich war, am deutlichsten und einfachsten bei Werner Sombart in „Händler und Helden" von 1915. Die Deutschen sind die Helden, 93 die Engländer leider nur die Händler. Spengler, und das ist tatsächlich das Neue an seinem morphologischen Anspruch die „Formensprache der Geschichte" zu verstehen, schaltet Kultur und Zivilisation hintereinander: ,,Denn jede Kultur hat ihre eigene Zivilisation. Zum ersten Male werden hier die beiden Worte (.... ) als ein strenges und notwendiges, organisches Nacheinander gefaßt. Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. " 94 Nun hat diese Spenglersche „Zivilisation" allerdings nichts mit der westeuropäischen Zivilisation gemein. Es ist innerhalb ihrer ein heroischer Endkampf zwischen Rom und Karthago, zwischen Geld und Blut auszufechten. 95 Es geht um eine deutsch-faustische Moderne. Deutschland ist „Rom", und der Krieg ist noch nicht entschieden. Insofern fügt sich der Erfolg dieses Buches nahtlos in die Verdrängung der Niederlage ein. Spengler will die Deutschen „in Form" 96 bringen für ihre künftige Aufgabe; und tatsächlich gibt es - trotz der Abkehr Spenglers vom Dritten Reich und des Dritten Reiches von Spengler -1941 eine schmale Auswahl aus seinem Werk, deren Drucklegung mit dem Brief eines jungen Soldaten begründet wird, der in „Haltung" und „in Form" gebracht werden möchte. 97 Es bedarf eines neuen Menschen. Auch hier geht es letztlich um eine 93

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„Militarismus ist der zum kriegerischen Geist hinaufgesteigerte heldische Geist. Er ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. Er ist ,Faust' und ,Zarathustra' und Beethoven-Partitur in den Schützengräben." Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München/Leipzig 1915, s. 84 f. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes, München 1922, 2 Bde., Bd. I, S. 42. Spengler, ebd., Bd. II, S. 634. Die Deutschen befanden sich in einer „Unform" - der Krieg aber ist die „ewige Form" höheren menschlichen Daseins. 0. Spengler: Preußischer Sozialismus, in: Politische Schriften, München 1932, S. 30 und S. 55. 0. Spengler: Gedanken, München 1941, S. 129. - Vgl. dazu: H. D. Kittsteiner: Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen, in: Alfred Opitz

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„Stabilisierung" der Geschichte. Sie ist nun aber nicht mehr an das Ende eines langen Prozesses verlegt, sondern soll unmittelbar, hier und jetzt, d.h. noch zu Lebzeiten des „Führers" 98 zu einer endgültigen Lösung führen. Vergleichbare Denkfiguren gehen seit dem Ersten Weltkrieg quer durch das ganze politische Spektrum. Bei Ernst Jünger überrascht es nicht, wenn er die „Gestalt" von Soldat und Arbeiter zu einem neuen Typus verschmilzt: Das Gesicht, das unter dem Stahlheln1 hervorblickt ist „metallischer geworden, auf seiner Oberfläche gleichsam galvanisiert, der Knochenbau tritt deutlicher hervor, die Züge sind ausgespart und angespannt. " 99 Die langersehnten „Barbaren des 20. Jahrhunderts" 100 formieren sich ästhetisch-zivilisationskritisch. Aber Aufrufe zum heroischen Leben gibt es - wenn auch gedämpfter - in den Kriegsschriften von Georg Simmel1°1 und Sigmund Freud ebenfalls. 102 Auf der linken Seite des politischen Spektrums findet sich das Phantasma (Hg.): Erfahrung und Form. Zur kulturwissenschaftlichen Perspektivierung eines transdisziplinären Problemkomplexes, Trier 2001, S. 147-159. 98 „Ich hingegen stehe unter dem Schicksalsgebot, alles innerhalb eines einzigen kurzen Menschenlebens zu vollenden (... )Wofür die anderen die Ewigkeit haben, dafür bleiben mir nur ein paar armselige Jahre." Hitler in den Bormann-Diktaten vom 25. Februar 1945, zit. n. Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M 1986, S. 83. 99 Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. (1932), Hamburg 1941, S. 107. 100 Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, a.a.O., S. 104 (Nr. 130). 101 Simmel betrachtet den Krieg als mögliche Überwindung der von ihm selbst konstatierten „Tragödie der Kultur": ,,Unzählige Gebilde, die zu erstarren und sich der schöpferischen Bewegtheit zu entziehen angefangen haben, sind wieder in den Lebensstrom hineingezogen." Georg Simmel: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze, München und Leipzig 1917, S. 60 f. - Zum Begriff der „Tragödie der Kultur" vgl. Simmel: Philosophische Kultur. Gesammelte Essays, Hg. Jürgen fiabermas, Berlin 1983, s.203. 102 „Dies unser Verhältnis zum Tode hat aber eine starke Wirkung auf unser Leben. Das Leben verarmt, es verliert an Interesse, wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen, eben das Leben selbst, nicht gewagt werden darf." Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: Ders.: Kulturtheoretische Schriften, Frankfurt/M 1986, S. 50.

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von einem „Leben aus der Notwendigkeit": man kann es am besten an Georg Lukacs' Weg aus der „transzendentalen Obdachlosigkeit"103 in den verzweifelten Aufruf zu einer erneuerten Fichteanischen „Tathandlung" am Ende des Verdinglichungsaufsatzes von 1923 studieren. 104 Seit Mitte der zwanziger Jahre ziehen Heideggers Marburger Vorlesungen und seit 1927 „Sein und Zeit" die akademische Jugend in ihren Bann. 105 Lukacs hatte die Entfremdungsproblematik ein letztes Mal und auf hohem philosophischen Niveau als das Problem einer bestimmten Klasse behandelt; Heidegger universalisiert und radikalisiert sie106in der Darstellung des „Man" als Existenzial1°7 und in der existenziellen Frage nach dem „eigentlichen Ganzseinkönnen des Daseins" . 108 Nun taucht bereits in „Sein und Zeit" ein Gegenentwurf zum Verfallensein an das „Man" auf: das Geschick als das „Geschehen der Gemeinschaft des Volkes. " 109 Paul Ricreur hat zu recht moniert - nicht nur, daß Heidegger hier das Sein zum Tode auf eine Gemeinschaft überträgt, sondern daß er damit in die Bahnen einer „tragisch-heroischen politischen Philosophie" abgleitet. 110 103 „Die größte Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit ist die Zeit: der Ablauf der Zeit als Dauer. Das tiefste und erniedrigendste Sich-nichtbewähren-Können der Subjektivität besteht weniger in dem vergeblichen Kampfe gegen ideenlose Gebilde und deren menschliche Vertreter, als darin, daß sie dem träg-stetigen Ablauf nicht standhalten kann." Georg Lukacs: Die Theorie des Romans, Neuwied 1981, S. 107. 104 Für Lukacs steht das „Proletariat" in der Entscheidung, seine eigenen positiven Inhalte an die Stelle der „entleerten und platzenden Hüllen" des Bürgertums zu setzen und zugleich in der Gefahr, sich ihnen zu unterwerfen. Die Entscheidung darüber kann nur „die - freie - Tat des Proletariats selbst sein." Georg Lukacs: Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, in: Ders.: Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 227. 105 Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, München 1988, S. 97 und S. 114. 106 „Das verfallende In-der-Welt-sein ist als versuchend-beruhigendes zugleich entfremdend." Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1953, S. 178. (§ 38). 107 Heidegger, ebd., S. 129 (§ 27). 108 Heidegger, ebd., S. 301 (§ 60). 109 Heidegger, ebd., S. 384 (§74). 110 Paul Ricreur, Zeit und Erzählung, a.a.O., Bd. III, S. 121, Anm. 29.

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Heideggers Denkwege im Dritten Reich als auch die Entwürfe einer genuin nationalsozialistischen Schicksalsphilosophie 111 müssen außerhalb dieser Skizze bleiben. Wichtiger ist, daß es zum Begriff der „heroischen Moderne" gehört, nicht nur die eigene heroische Existenz in einer „ Gestalt" zu verdichten, sondern auch den Gegenspieler „ Gestalt" werden zu lassen. Die deutsche Selbstmodellierung 112 ist an dem Kult um den „Bamberger Reiter" und die „Uta von Naumburg" zu erkennen113- ja man könnte hinzufügen, daß aus rassischen Gesichtspunkten eine Vermählung dieser beiden Steinfiguren zum Zwecke von „Zucht und Züchtung" 114 der Mehrzahl der Deutschen höchst erwünscht gewesen wäre. Von diesen Bildern - wie auch von Dürers „Ritter, Tod und Teufel" 115 geht eine Kraftverstärkung aus. Diese kraftspendenden „Freund-Bilder" scheinen vonnöten zu sein, weil die „Weltgeschichte" nicht mehr für Deutschland arbeitet; sie ist sozusagen auf die Seite der Siegermächte von Versailles übergetreten. Die Grundfigur der „Heroischen Moderne" war ja die Überzeugung, daß die Geschichte der eigenen Intention nicht mehr nachhilft, sondern daß sie ihr widerstreitet. Diese zunächst zivilisationskritische Haltung wird nun explizit politisch: Deutschland sieht sich von Feinden umgeben und einer Geschichte ausgeliefert, die in fremder Hand ist. Und diese fremde Hand bekommt ebenfalls eine Gestalt: es ist die Gestalt „des 111 Z.B. Hans Heyse: Idee und Existenz, Hamburg 1935.- Christoph Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1938. 112 Das Deutsche Gesicht. Ein Weg zur Zukunft. Zum XXX. Jahr des Verlages Eugen Diederichs in Jena, Jena 1926. 113 Wolfgang Ullrich: Der Bamberger Reiter und Uta von Naumburg, in: Etienne Fran~ois/Hagen Schulze: Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, Bd. I, S. 322-334. Wolfgang Ullrich: Uta von Naumburg. Eine deutsche Ikone, Berlin 1998. 114 „Eine Kriegserklärung der höheren Menschen an die Masse ist nötig!" Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht, Viertes Buch: Zucht und Züchtung, Hg. Ralph-Rainer Wuthenow, Frankfurt/M 1992, S. 598 (Nr. 861). 115 Hans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie, Stuttgart 1962, S. 243 ff. 116 Heinrich v. Treitschke: Unsere Aussichten, in: Walter Boehlich (Hg.}:Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt/M 1965, S. 11.

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Juden". Seit Heinrich von Treitschke die Parole ausgegeben hatte: „Die Juden sind unser Unglück!" 116war der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts auf eine griffige Formel gebracht. Im Ersten Weltkrieg brach dieser Antisemitismus mit der „Judenzählung" im Heer von 1916 verstärkt wieder hervor; 117 er bestimmte das politische Klima der Weimarer Republik von Anfang bis zum Ende.118 Gearbeitet wird mit plakativen politischen Bildern, die nach folgendem Grundschema verfahren: Es geht um eine Zurückholung des „Feindes" in die Reichweite des eigenen Handelns. Die lähmende Angst, die keinen Ansatzpunkt für das Handeln findet, wird dann in Furcht transformiert, die ein greifbares Objekt für das Handeln aufzeigt. Im Grunde geht es um eine Re-Personalisierung ökonomischer Strukturen oder um den Entwurf einer Hintergrundfigur für historische Schicksale. Eine Niederlage im Weltkrieg kann der Einzelne nicht abwenden. Ist man aber der Auffassung, daß hinter der Bewegung von ökonomischen Strukturen bestimmte Personengruppen stehen, dann gewinnt man seine Handlungsmächtigkeit zurück wenn es gelingt, dieser Personen habhaft zu werden. Gegen eine Weltwirtschaftskrise läßt sich nichts ausrichten. Personalisiert man aber ihre vermeintlichen Verursacher, und sucht in falscher kausaler Zurechnung nach pseudo-empirischer Evidenz 119 kann man eben jene „Gestalt" 117 Vgl. dazu: Jacob Toury: Die politische Orientierung der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar, Tübingen 1966, S. 315 ff. - Wener Jochmann: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923. Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Tübingen 1971, S. 425 ff. - Egmont Zechlin: Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969, S. 516 ff. - Uwe Lohalm: Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz und Trutz-Bundes 19191923, Hamburg 1970, S. 71 ff. - Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle irri Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001, S. 87 ff. 118 Arnold Paucker: Der jüdische Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus in den letzen Jahren der Weimarer Republik, Hamburg 1968. 119 Zu methodischen Problemen vgl. H. D. Kittsteiner: ,,Gedächtniskultur" und Geschichtsschreibung, in: Volkhard Knigge/Robert Frei: Verbrechen

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aufbauen, die an allem „schuld" ist. Diese „Gestalt" wird nun als· halb-verborgener Hintergrund-Drahtzieher dem deutschen Helden entgegengestellt. 120 In dieser spezifischen Form findet die ,,Heroische Moderne"' im Dritten Reich ihren Kulminationspunkt. Am 5. April 1937 gibt die Post zum 48. Geburtstag Adolf Hitlers einen Viererblock zu 6 + 19 Pfennig heraus, der die Randbeschriftung trägt: ,,WER EIN VOLK RETTEN WILL KANN NUR HEROISCH DENKEN" .121 Der Inhalt dieser „Rettung" war im schwülstigen, pseudo-religiösen 122 Pathos schon vorgegeben: ,,Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, denn wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen. (... ) So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn. " 123 Diese pervertierte Aufgipfelung der ,,heroischen Moderne" endete abrupt im Jahre 1945 - allerdings nicht ohne Nachbeben bis in die 50er Jahre hinein. Das darzustellen ist jetzt nicht meine Aufgabe. 124 Ebensowenig die Geschichte der Absatzbewegungen auch und gerade jener Teile der Intelligenz, die sich 1933 nach dem Wort von Gottfried Benn - in einem „Schicksalsrausch" befunden hatte. 125 Ich möchte mit der Überlegung schließen, daß

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erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 315-335. H. D. Kittsteiner: Die Angst in der Geschichte und die Re-Personalisierung des Feindes, in: Sabine Eichenrodt/Stefan Porombka/Susanne Scharnowski: Übersetzen, Übertragen, Überreden, Würzburg 1999, S. 145-162. Michel-Briefmarken-Katalog. Deutschland, München 1983, S. 84. Michael Rißmann: Hitlers Gott. Vorsehung, Glaube und Sendungs bewußtsein, Zürich/München 2001. · Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1934, S. 69 f. Vgl. dazu: H. D. Kittsteiner: Das deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert, in: Richard Faber (Hg.): Politische Religion-religiöse Politik, Würzburg 1997, s.227-242. Gottfried Benn: Doppelleben, in: Gesammelte Werke, Hg. Dieter Wellershoff, Stuttgart 1986, Bd. IV, S. 80 und S. 83 f. - Benn verwendet diesen Begriff in einem Briefwechsel mit dem bereits emigrierten Klaus Mann, nicht

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sich die heroische Moderne aus der Geschichte asymmetrisch verabschiedet hat, weil von den beiden großen totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts das eine zwar 1945 besiegt wurde, das andere aber noch über 40 Jahre lang fortexistierte. In Sowjetrußland gab es ebenfalls die Tradition eines „sozialistischen Übermenschen" 126 ; in der DDR gab es zumindest eine in sich gebrochene Heroisierung, 127 die die Niederlage der Deutschen Kommunisten 1933 zu kompensieren suchte. Doch auch diese Variante der „heroischen Moderne" hat 1989/90 ihr Ende gefunden. Die „evolutive Moderne", der nun endgültig globalisierte Weltmarkt, hat seine „heroischen Abweichungen" wieder in sich zurückgenommen. Inwiefern mit dem 11. September 2001 ein nun im Rahmen anderer Kulturen und Religionen sich entfaltender neuer „Heroismus" zutage getreten ist, muß außerhalb dieser Skizze verbleiben. Diese Frage wäre gleichbedeutend mit dem Versuch einer Gegenwartsbestimmung aufgrund, zugleich aber auch jenseits der dargestellten Schichten der Moderne. 128 Sie würde die Frage implizieren, ob nicht ein neues Verhältnis zur nichtverfügbaren Geschichte angemessen wäre, eines, das das Phantasma der „Stabilisierung" durchschaut hat und sich mit dem Leben in einer ent-teleologisierten Geschichte begnügt, die in ihrer Bewegtheit selbst immer wieder neu ausbalanciert werden muß.

ohne darauf hinzuweisen, daß Thomas Mann ihn in Bezug auf den Ersten Weltkrieg geprägt hatte. 126 Hans Günther: Der sozialistische Übermensch. Maksim Gorkij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart, Weimar 1993. - Gottfried Küenzlen: Der neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994. 127 H. D. Kittsteiner: Die in sich gebrochene Heroisierung. Ein geschichtstheoretischer Versuch zum Menschenbild in der Kunst der DDR, in: Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag, 2. Jg. 1994, Heft 3, S. 442-461. 128 Als Bild für die nach wie vor existierende Nicht-Machbarkeit der Geschichte benutzt A. Giddens den indischen „Dschagannath-Wagen". Anthony Giddens: Konsequ~nzen der Modeme, Frankfurt/M 1996, S. 173.

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Die Stufen der Moderne

III. Für eine von geschichtsphilosophischen Fragen angeleitete Kulturgeschichte

Die hier vorgestellte Epochengliederung nach der Einstellung der Menschen zu ihrer Geschichte ist kein geschichtsphilosophischer Selbstzweck- ihr Ziel ist eine von geschichtsphilosophischen Fragen angeleitete Kulturgeschichte. (Vgl. Anm. 4) Sie sucht wieder zu verbinden, was im Konstituierungsprozeß der Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert auseinandergefallen war, denn das Selbstverständnis der Historiker speiste sich wesentlich aus der Abgrenzung zur Geschichtsphilosophie. 129 Dadurch, daß eine akademische Zunft sich von einem bestimmten Fragenbereich abwendet (Ausnahmen bestätigen die Regel), hörten aber diese Fragen nicht auf. Es ist wie mit Kants Unterscheidung der Philosophie nach dem Schulbegriff und nach dem Weltbegriff: ,, Weltbegriff heißt hier derjenige, der das betrifft, was jedermann nothwendig interessiert; mithin bestimme ich die Absicht einer Wissenschaft nach Schulbegriffen, wenn sie nur als eine von den Geschicklichkeiten zu gewissen beliebigen Zwecken angesehen wird. " 130 Da dasjenige, was „jedermann nothwendig interessiert" aber auch den Bereich der Metaphysik tangiert, müssen wir uns damit abfinden, daß philosophische Fragen an die Geschichte zu einem Bereich von Problemen gehören, die wir letztlich nicht beantworten können, die wir als Fragen aber auch nicht abweisen

dürfen. 131 129 Ganz zu recht bemerkt Hayden White, daß die Geschichtswissenschaft sich damit an die Politik auslieferte: ,,Die ,Theorie', auf der die ,Verwissenschaftlichung' beruhte, war nichts anderes als die Ideologie des mittleren Bereichs im sozialen Spektrum, den einerseits die Konservativen, andererseits die Liberalen repräsentierten." Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M 1991, S. 183. - Dies einzusehen schließt die Einsicht nicht aus, daß die Geschichtsphilosophie ihrerseits politisch diskreditierbar war. 130 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. III, S. 543, Anm. (B 868) 131 „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben,

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Von geschichtsphilosophischen

Fragen angeleitete Kulturgeschichte

Insofern ist es nicht verwunderlich, daß diese Geschichtsschreibung nach dem Weltbegriff aus der akademischen Disziplin auswanderte und sich zwischen Kulturphilosophie und Geschichtsschreibung niederließ, bald zur einen, bald mehr zur anderen Seite neigend. Um noch einmal das Beispiel Oswald Spenglers zu bemühen: zwar rafften sich dann die Historiker und andere Fachwissenschaftler zu einer Detailkritik auf, sie machten sich dadurch aber erst recht lächerlich. 132 Denn Spengler hatte eine - wenn auch äußerst fragwürdige - ,,Orientierung" in der Welt geliefert, die eine ganze Generation beeinflußte. Gegen Ende der 20er Jahre wurde er von der „Existenzphilosophie" überholt, die nun das Amt der Deutung des „Daseins" übernahm. Sie kam fast ganz ohne Historie aus; verglichen mit dem historischen Wissen Heideggers 133 war Spengler ein Herkules an Geschichtskenntnis. Das hält Heidegger aber nicht davon ab, ja es prädestiniert ihn vielmehr dazu, der Geschichtswissenschaft jedes „ursprüngliche Verhältnis" zur Geschichte abzusprechen: ,,Geschichtswissenschaft kann den geschichtlichen Bezug zur Geschichte nie stiften. " 134 Und ganz so, als wolle nun doch eine Krähe der anderen ein Auge aushacken, bemerkt er 1940: ,,Die Historiker haben die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft." Kant: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl.), AT, Berlin 1968, Bd. IV, S. VII. 132 „Sieben in jeder Beziehung ordentliche Professoren haben sich zusammengetan, um den Spengler zu töten.( .... ) Auf 150 gelehrten und manchmal auch klugen Seiten liefern sie haarscharf den Beweis, daß p. Spengler auf keinem der sieben Spezialgebiete die nötigen Kenntnisse besitzt." Sie möchten die Leser vor dem ,,Minderwertigen" schützen und verweisen auf die „gediegene .Geschichtsforschung", müssen allerdings einräumen, daß die gediegene Geschichtsforschung zur Zeit leider nicht in der Lage sei, ,,das Bedürfnis nach einer Gesamterfassung der Gegenwart und ihres geschichtlichen Hintergrundes zu stillen.". Richard Lewinsohn in der „Weltbühne" vom 16. VI. 1921, zit. n. Manfred Schroeter: Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker, München 1922, S. 19 f., Anm. 1. 133 Heidegger - so Michael Theunissen - sei „von einer kaum glaublichen Bewußtlosigkeit über die den Geschichtsprozeß real bestimmenden Mächte" gewesen. Michael Theunissen: Was heute ist. Über Not und Notwendigkeit des Umgangs mit Heidegger, in: Martin Heidegger. Fragen an sein Werk, Stuttgart 1977, S. 21.

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Die Stufen der Moderne

darin ihre Auszeichnung, daß sie nicht geschichtlich denken können und auch nicht zu denken brauchen; denn sie sind nur die verärgerten oder übereifrigen Handlanger ihrer Gegenwart." 135 Wie wahr. Doch der vom historischen Wissen befreiten Philosophie ergeht es nicht besser. Den Bezug zur Geschichte zu stiften gilt dann als Sache des Denkens, das seinerseits ganz unvermittelt die „Bändigung der Gefahr der Weltverdüsterung" als Aufgabe für das Volk in der „abendländischen Mitte" bestimmt. 136 An die Stelle des Geschichtsdenkens tritt wieder der Mythos. Will man ihm entkommen, scheint es ratsam, noch einmal auf Ernst Cassirer zurückzugehen. Seine „Philosophie der symbolischen Formen" sollte ja -wie bereits angedeutet (Vgl. Anm. 33) eine nicht mehr mögliche Totalität, die Hegelsche Form der begriffenen Geschichte ersetzen. 137 Hegel hatte die geistigen Formen logifiziert und sie damit um ihre Autonomie gebracht. Zerschlägt man aber seine Systematik, dann stehen die Forn1en unverbunden nebeneinander. ,,Die Philosophie dieser Formen müßte dann schließlich in ihre Geschichte ausmünden, die sich je nach ihren Gegenständen als Sprachgeschichte, als Religions- und Mythengeschichte, als Kunstgeschichte usf. darstellen und spezifizieren würde." Um diesem Dilemma zu entgehen, müßte man in jeder dieser geistigen Grundformen ein Moment aufzeigen, das auf ihren ideellen Zusammenhang verweist, ohne die Besonderheit zu gefährden, weil es „in keiner von ihnen in schlechthin gleicher Gestalt wiederkehrt. " 138 Als dieses innere Band der symbolischen Formen in den Handlungen und Objektivationen der 134 Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1987, S. 33. 135 Martin Heidegger: Nietzsche. Der europäische Nihilismus, Gesamtausgabe Bd. 48, Frankfurt/M 1986, S. 184. 136 Heidegger, Einführung, a.a.O., S. 38. - Vgl. dazu: H. D. Kittsteiner: Heideggers Amerika als Ursprungsort der Weltverdüsterung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 4/1997, S. 599-617. 13 7 Insofern läge bei Cassirer ein ähnlicher Versuch vor, wie bei Ricceur, die Hegelsche „Totalität" in eine bescheidenere „Totalisierung" zurückzuführen. Ricceur, Zeit und Erzählung, a.a.O., Bd. III, S. 401. -Allerdings müßte auch diese „Totalisierung" für die Geschichtswissenschaft erst operationalisierbar gemacht werden. 138 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, S. 16.

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Von geschichtsphilosophischen Fragen angeleitete Kulturgeschichte

Menschen habe ich ihre jeweilige Vorstellung von ihrem Verhältnis zur Geschichte betrachtet. Es kehrt nicht schlechthin in gleicher Gestalt wieder, sondern es ändert sich in jeder der von uns skizzierten Stufen, bestimmt also ihre Eigenheiten gerade aus der sich verändernden Haltung zur Geschichte. Diese Zusammenhänge näher auszuarbeiten wird eine der Aufgaben einer geschichtsphilosophisch angeleiteten Kulturgeschichte jenseits der alten „Geschichtsphilosophie" sein. Sie beansprucht kein privilegiertes Wissen mehr, sondern muß sich - wie jede andere Geschichtsschreibung auch - der Kritik stellen. 139 Was sie leisten kann liegt nicht in ihrem Entwurf, sondern in der Bewährung am historischen Material.

139 Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie, a.a.O., s. 76.

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Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren

I. Die Ausgangssituation Der - erst auf den zweiten Blick - so folgenreiche Begriff des ,,Geschichtszeichens" findet sich bei Kant im Streit der Fakultäten und zwar im Streit der philosophischen mit der juristischen Fakultät. Die Philosophen machen dort nämlich den Juristen das Recht zur staatlichen Gesetzgebung streitig, und auf diesem Wege gerät ein Stück der kantischen Geschichtsphilosophie mit in die Auseinandersetzung hinein. Die natürlichen Verküncliger der Prinzipien einer sich wandelnden, zeitgemäßen Grundsätzen folgenden Gesetzgebung sind nicht „ vom Staat bestellte amtsmäßige, sondern freie Rechtslehrer, d.i. Philosophen, welche eben um dieser Freiheit willen, die, sie sich erlauben, dem Staate, der immer nur herrschen will, anstößig sind." Man nennt sie Aufklärer und der Staat verschreit sie als „gefährliche Leute" - obwohl sie sich, wie Kant sogleich hinzufügt, doch gar nicht unmittelbar an das Volk wenden, das von ihren Schriften ohnehin „wenig oder gar keine Notiz nimmt", sondern ehrerbietig an den Staat selbst. 1 Diese Philosophen richten an die Menschheit eine Frage, die einem Juristen, sofern er nicht zugleich auch Rechtsphilosoph ist, so ohne weiteres nicht beikommen würde: Ob das „menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei." Daher muß erörtert werden, ob denn Hoffnung auf diese Entwicklung bestehe, so daß auch der Staat diese Möglichkeit nicht ignorieren könne, vielmehr es nötig habe, sich „ von Zeit zu Zeit" selbst zu reformieren, damit er, ,,statt Revolution Evolution versuchend, zum Besseren beständig fortschreite. " 2 1 2

Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, Kants Werke, Akademie-Ausgabe, Berlin 1902 ff., im Folg. zit. AA, Bd. VII, S. 89. Ebd., S. 93.

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Kants Theorie des Geschichtszeichens

Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Um eine solche Frage beantworten zu können, ist ein Blick in die Zukunft, eine „vorhersagende" oder eine „wahrsagende" Geschichtskenntnis notwendig. Wie ist sie möglich? Kant sieht sogleich, daß die Frage nach einer ins Künftige reichenden Geschichtskunde nicht einfach nur von der Zeitgrenze im Jetzt der Gegenwart bedingt, sondern daß sie auch von der auf das Machenkönnen von „ Geschichte" bezogenen Struktur der Gesellschaft selbst abhängig ist. Wie wäre denn eine ins Künftige hineinreichende Geschichte machbar? Wenn sie planbar wäre. ,,Wie aber ist eine Geschichte a priori möglich? - Antwort: wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum Voraus verkündigt. " 3 Der Nachsatz, die jüdischen Propheten hätten gut weissagen vom Verfall ihres Staates, denn sie hätten diesen Verfall selbst mit herbeigeführt, bestätigt nicht etwa die Möglichkeit dieser selbst zu machenden „ Geschichte a priori", sondern fordert dazu auf, in der Geschichtsschrift von 1784 die Parallelstelle nachzuschlagen. Dort grenzt Kant eine „bloß empirisch abgefaßte Historie" von der „Idee einer Weltgeschichte" ab, die „gewissermaßen einen Leitfaden a priori" habe. Dieser Leitfaden ist aber nichts anderes als die Entfaltung des Begriffs einer „Naturabsicht", die auf der Prämisse beruht, daß die Menschen ihre Geschichte eben nicht als „ vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen" machen. Die Grundaussage der Kantischen Geschichtsphilosophie ist diese eine: daß die Geschichte der Menschen nicht unter ihrer Verfügung steht. 4 Für die Aufklärer war an diesem Problempunkt ein Dilemma entstanden. Sie treten mit einem neuen moralischen Anspruch an die Geschichte heran, müssen aber zugleich erkennen, daß der historische Prozeß nicht ihrem Willen gehorcht. Insofern kann man die Frage stellen, welcher Sinn überhaupt mit den Worten verbunden ist, die Menschen „machten" ihre Geschichte. Da sie 3 Ebd., S. 80. 4 Vgl. dazu: Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M~ 1998, S. 11 ff. - Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA Bd. VIII, S. 17 und S. 30.

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Die Ausgangssituation

in ihrer Geschichte zwar beständig „handeln", sie aber als Ganzes nicht unmittelbar gestalten können, ist nach den Regeln einer ,,genetischen Definition" Geschichte nicht erkennbar, weil sie insgesamt nicht herstellbar ist. Der von Ernst Cassirer für die Philo:sophie des 17. Jahrhunderts betonte Kardinalpunkt der Methodenlehre, ,,daß wir nur dasjenige begreifen, was unser Verstand selbst erschafft" zeigt, daß „Geschichte" sich diesem Grundsatz des Begreifens aus dem Konstruieren-Können nicht fügt. 5 Vor eben diesem Problem stand bereits Giambattista Vico, als er die durch das „Machen" begründete Behauptung einer Erkennbarkeit der Geschichte durch die Einführung einer „Vorsehung" ergänzen mußte. Er beginnt mit dem Grundsatz der „genetischen Definition", die eine Wahrheit verbürge, die auch in unbekannte Urzeiten zurückleuchte: ,,Doch in solch dichter Nacht voller Finsternis, mit der die erste von uns so weit entfernte Urzeit bedeckt ist, erscheint dieses ewige Licht, das nicht untergeht, folgender Wahrheit, die auf keine· Weise in Zweifel gezogen werden kann: daß diese politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikation unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden." Nicht von der Natur ~önnen wir gesichertes Wissen haben, da sie doch Gottes Werk ist, während die politische Welt von den Menschen selbst geschaffen sei. Doch kaum ist dieses Prinzip aufgestellt, führt Vico auf dem Umweg über den Hinweis, daß alle Völker an eine„ vorsehende Gottheit" geglaubt haben, im Abschnitt über die Methode einen zweiten Grundsatz ein. Da die Menschen wegen ihrer „verderbten Natur" von Selbstsucht geplagt sind, müssen die politischen Regeln ihrer Gesellschaft gegen ihren Willen durchgesetzt werden - von einer „göttlichen Vorsehung". Daher kann die „Neue Wissenschaft" nur 5

Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Darmstadt 1974, Bd. II, S. 98. - Cassirer beruft sich auf den § 94 von Spinozas „ Tractatus de intellectus emendatione" und führt aus: ,,So gibt es ein demonstratives ,apriorisches' Wissen, wie von der Geometrie auch von Recht und Unrecht, Billigkeit und Unbilligkeit, weil wir selber es sind, die ebenso wie die Gestalten der Geometrie, auch die Grundlagen des Rechts, nämlich Gesetz und Verträge geschaffen haben."

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eine „rationale politische Theologie der göttlichen Vorsehung" sein, und ihre Aufgabenstellung mündet in eine Überlagerung des Prinzips der selbstgemachten Geschichte durch eine teleologische Konstruktion ein: ,,Daher muß diese Wissenschaft sozusagen ein Beweis der Vorsehung als geschichtliche Tatsache sein, denn sie muß eine Geschichte der Ordnungen sein, die jene, ohne menschliche Absicht oder Vorkehrung, ja häufig gegen deren eigene Pläne, dieser großen Gemeinde des Menschengeschlechts gegeben hat." Erst durch diese Institution gelingt es dem Menschen, das zu erlangen, was er aus eigenem Vorsatz nicht vermag - sich in seiner menschlichen Gesellschaft zu erhalten. 6 Am Schluß seines Werkes resümiert Vico diese Spannung zwischen eigenem Handeln und einer dieses Handeln in Ordnungen zurechtbringenden Vorsehung noch einmal: · Denn zwar haben die Menschen selbst diese Welt der Völker gemacht (welches das erste, unanfechtbare Prinzip dieser Wissenschaft war, da wir daran verzweifelten, sie bei den Philosophen und bei den Philologen zu finden); dennoch ist sie, diese Welt, ohne Zweifel einem Geist entsprungen, der oft verschieden und manchmal ganz entgegengesetzt und immer überlegen ist den besonderen Zwecken, die die Menschen selber sich vorgesetzt hatten, welche beschränkten Zwecke, zu Mitteln im Dienste höherer Zwecke gemacht, er immer dazu verwandt hat, das Menschengeschlecht auf der Erde zu erhalten. 7

Dieser fließende Übergang von den Grundsätzen einer rationalen Konstruktion der Welt in die tröstliche Einsicht, einem übermächtigen, gnädigen Geschehen unterstellt zu sein, bildet eines der Hauptthemen der Geschichts- und Gesellschaftstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts, und liefert mit seiner endgültigen Hinneigung auf das Walten einer „Vorsehung" das zentrale Kriterium für das Neue an der seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts 6

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Giovanni Batista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hg. Vittorio Hösle, 2 Bde. Hamburg 1990, Bd. I, S. 142 f. (§ 331) und S. 150 f. (§ 342).

Die Ausgangssituation

sich konstituierenden klassischen Geschichtsphilosophie. Die Vicosche Lösung steht in einem weiter gesteckten Rahmen, den Albert 0. Hirschman umrissen hat. Der Hinweis auf die postlapsarische „verderbte Natur" des Menschen liefert das Stichwort. Wie wird die Macht des Negativen in der Geschichte in Positives umgeschaffen? Es geht um die wechselseitige Neutralisierung der Leidenschaften, die eine Zuflucht bei einem höheren Prinzip, eben einer „Vorsehung" nahelegen. Ausgehend von der Betrachtung des Menschen „wie er ist" macht die göttliche Vorsehung aus den „drei Lastern, die das ganze Menschengeschlecht verwirren" - Grausamkeit, Habsucht und Ehrgeiz - die Tugen~ den des Militärs, des Handels und des Hofes, sie zivilisiert sozusagen die Menschheit gegen deren Willen. 8 Auch Kants Geschichtsphilosophie steht in der Tradition dieser Problemstellung. Sogar die drei Grundlaster, Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, treten im Vierten Abschnitt der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" noch einmal auf, um im Rahmen des Waltens einer „Naturabsicht" von schädlichen zu förderlichen Eigenschaften umgeschmolzen zu werden, förderlich nun allerdings nicht nur für die „Erhaltung" der Welt, sondern für ihre fortschreitende Verbesserung. Kant wiederholt im „Streit der Fakultäten" aber nicht seinen Lösungsversuch von 1784, der mit der Einführung der Begriffe „Vorsehung" und „Naturabsicht" auf den Entwurf für eine „Teleologie in praktischer Absicht" hinausläuft, und der die „Kritik der Urteilskraft" zum theoretischen Hintergrund hat. 1798 scheint er einen neuen Anlauf zu versuchen; man muß zu dessen Verständnis seine bisherigen Aussagen zu einer Philosophie der Geschichte aber mitbringen. Was gibt es an geläufigen Behauptungen für den Gang der Menschheitsgeschichte? Der Grundannahmen sind gar nicht so 7 Vico, ebd., Bd. II, S. 606 (§ 1108). - Vgl. dazu den Kommentar von Vittorio Hösle, ebd., Bd. I, S. CXXIV ff. 8 Albert 0. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a. M. 1980, S. 25 ff. - Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft, a.a.O., Bd. I, S. 91 (§§ 132, 133).

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viele; das gilt bis heute - hinzugekommen ist im 20. Jahrhundert einzig die technische Möglichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit. Insofern besteht über die bei Kant genannten Vorstellungen hinaus die Möglichkeit eines radikalen (auf dem Wege eines mit atomaren Mitteln geführten Weltkrieges) oder eines schleichenden (auf dem Wege der Zerstörung der natürlichen Ressourcen) Abbruchs der Geschichte. Kant entwirft drei große Geschichtsmodelle, die in moralischer Absicht auf die Entwicklung der Menschheit bezogen sind. Der eine behauptet eine Deteriorierung, einen ,, Verfall ins Ärgere". Er geht von einem paradiesisch-guten Urzustand aus, sieht in der Gegenwart nur den Abfall vom heilen Ursprung und ist beliebt bei theologischen Sekten. Nun könne es - sagt man dann - nicht mehr schlimmer werden, ,,der jüngste Tag ist vor der Thür, und der fromme Schwärmer träumt nun schon von der Wiederbringung aller Dinge und einer erneuerten Welt, nachdem diese im Feuer untergegangen ist." 9 9 Kant, Streit der Fakultäten, a.a.O., S. 81. - Die Wendung „Wiederbringung aller Dinge" ist eine Anspielung auf die zu Beginn des 18. Jahrhunderts im radikalen Pietismus virulente Vorstellung von der „Apokatastasis Panton". Vgl. dazu: H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M. und Leipzig 1991, S. 134-150. Die kritische Handhabung dieser Formel an dieser Stelle ist insofern bemerkenswert, als Kant 1793 selbst das in diesem Zusammenhang zentrale Zitat aus Origenes nach 1.Kor. 15. v. 28 -für den zeitgenössischen Leser deutlich genug zu erkennen - benutzt hatte, um den Sieg des guten Prinzips über das Böse im Rahmen seiner Idee einer „ unsichtbaren Kirche" zu kennzeichnen. Eine reine Vernunftreligion solle herrschen, ,,damit Gott sei alles in allem". Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA Bd. VI, S. 121. - Die entsprechende Passage bei Origenes lautet: ,,Wenn also das Ende zum Beginn zurückkehrt, der Ausgang der Dinge mit dem Anfang zusammenfällt und jenen Zustand wiederherstellt, den die Vernunftwesen damals hatten, als sie noch nicht ,vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen' brauchten; wenn dadurch jede böse Empfindung beseitigt und bis zur völligen Reinheit weggewaschen ist und allein Gott, der einzig Gute, für ihn ,alles' wird, und wenn nicht in wenigen oder einigen, sondern in allem er selbst alles ist - nirgends mehr ,der Tod', nirgends der ,Stachel des Todes' (vgl. 1. Kor. 55-56), nirgends etwas Böses ist -, dann wird wahrhaft Gott ,alles in allem' sein." Origenes, Vier Bücher von den Prinzipien. Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp (Hrsg.), Darmstadt 1992, VI, 2/3, S. 649 f. - Offenbar will Kant bereits in der Schrift von 1793

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Die Ausgangssituation

Das ebenso unglaubwürdige Gegenstück zum moralischen Terrorismus ist der naive Eudämonismus „mit seinen sanguinischen Hoffnungen". Die meisten Menschen glauben jedoch weder an das eine noch an das andere; sie sind Anhänger des abderitischen Systems der Geschichte. Es herrscht Stillstand in der sinnlosen Bewegung, ,,eine leere Geschäftigkeit; das Gute mit dem Bösen durch Vorwärts und Rückwärts gehen so abwechseln zu lassen, daß das ganze Spiel des Verkehrs unserer Gattung mit sich selbst auf diesem Glob als ein bloßes Possenspiel angesehen werden müßte ... " Gegen diese Sicht der Dinge zu argumentieren ist schwer, denn „durch Erfahrung unmittelbar" ist das Problem, welcher der drei Geschichtsentwürfe der größte Wirklichkeitsgehalt zukommt, nicht zu lösen. 1 Kant versucht, den Blickpunkt zu wechseln. Aus der Sicht der Handelnden ist kein sicherer Gang des Ganzen auszumachen - könnte man dann nicht, um nach der Analogie des Planetensystems Ordnung in die Geschichte zu bringen, den Standpunkt der Sonne, d.h. einer „Vorsehung" annehmen? Doch diese neuerliche Kopernikanische Wende würde ein Wissen voraussetzen, das „ über alle menschliche Weisheit hinausliegt", denn dies wäre ein Sehepunkt für ein „göttliches Auge" .11 Soll dennoch an „irgendeine Erfahrung im Menschengeschlechte" die erforderliche „wahrsagende Geschichte" anknüpfen können, so muß eine andere Konstruktion versucht werden.

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andeuten, daß er selbst eine kritische Verwendung für das bei den Sekten unkritisch verwendete Prinzip gefunden hat. Zur Häufigkeit des Rückgriffs auf Origenes vgl. Dieter Breuer, Origenes im 18. Jahrhundert. In: Seminar, Bd. 21 {1985), S. 1-30. 10 Kant, ebd., S. 82. - Die alltägliche Erfahrung würde auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts übrigens eher noch für dieses Oszillieren im Stillstand sprechen, nicht aber schon für einen generellen Fortschritt der Geschichte. Vgl. dazu H. D. Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980, s. 132. 11 Kant, ebd., S. 83 f. - Vgl. zu diesem Problem: Karl Löwith: Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen. In: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1968/1, S. 5-36.

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Kant sucht nach einer historischen „Begebenheit", die ihr Dasein einer moralisch-guten Regung im Menschen verdankt, und die wiederum auf weiteres Fortrücken zum Besseren schließen läßt. Wenn das zulässig ist - denn diese moralische Regung, anders als das Handeln, kann sich sehr wohl auf das Ganze von Geschichte erstrecken - könnte man auch rückblickend die Geschichte als Fortschritt betrachten. Doch ist die Begebenheit selbst nicht „Ursache" des Fortschritts - sie ist nur „hindeutend" und müßte als ein „Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognostikon)" gelesen werden, das eine „Tendenz" des menschlichen Geschlechts im Ganzen ausdrückt. 12 Bevor ich nun auf dieses Problem zurückkomme, mache ich einen Umweg, der an die erläuternden Bestimmungen des Geschichtszeichens bei Kant anknüpft. Dieser Umweg ist das Zedlersche Lexikon. Denn die präzisierenden Zusätze sind keine Neologismen Kants - es sind geläufige Wendungen, die man in einem Lexikonartikel über „Zeichen" wiederfinden kann.

II. Eine Welt voller Zeichen Der Artikel „Zeichen" im Zedlerschen Lexikon macht über 200 Spalten aus; nimmt man die verwandten Artikel „Wunder", ,,Wunder-Zeichen", ,,Prodigien" und „Vorsehung Gottes" hinzu, dann verdoppelt sich dieser Wissensschatz noch einmal. Die entsprechenden Bände sind 1746/49 erschienen. Schlägt man dagegen in der französische „Encyclopedie" in dem 15. Band von 17 6 5 nach, dann ist der Ra um für „Zeichen" auf vier Spalten zusammengeschrumpft. Der Artikel „Prevision" kommt ganz und gar mit zwei dürren Sätzen aus: ,,Prevision, f.f. (Theolog.) connoissance de ce qui arrivera. On dit la prevision de Dieu, & l'on regarde cette prevision comme contraire a la liberte; la prevision des merites est le fondement de la predestination" .13 Diese Verengung legt den Schluß nahe, daß mit dem Übergang in die 12 Kant, ebd., S.84. 13 Art. ,,PREVISION". In: Encyclopedie, Neufcharel 1765, Bd. 13, S. 346:

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Eine Welt voller Zeichen

Aufklärung eine ungeheure Entwertung von Zeichen stattgefunden haben muß, eine Veränderung der Orientierung in der Welt. Im „Zedler" ist die alte Welt noch in Ordnung; in ihrer Komplexität würde sie eine eigene Darstellung erfordern. Nur einige Grundbegriffe. ,,Zeichen, Lat. Signum, ist ein Ding, daraus man entweder die Gegenwart, oder die Ankunft, eines anderen Dinges erkennen kann." Gegenwart und Zukunft, aber auch die Vergangenheit sind sogleich angesprochen: Die Abendröte deutet auf künftiges schönes Wetter, der Rauch zeigt die Gegenwart von Feuer und die Fußstapfen deuten darauf, daß hier ein Mensch einmal gegangen ist. Man kann - neben einer Reihe von anderen Definitionen - unterscheiden zwischen einem „VorbedeutungsZeichen" (signum prognosticum), einem gegenwärtig-demonstrativischen Zeichen (signum demonstrativum) und einem Erinnerungs-Zeichen (signum rememorativum). 14 Damit ist schon die Kantische Dreiheit beisammen. Sie ist aber nicht auf die Geschichte bezogen, denn dies alles sind entweder „natürliche Zeichen", die außer einem kausalen Hinweis im eigentlichen Sinne nichts „bedeuten", oder es sind „willkührliche Zeichen", von Menschen gemacht, um eine Bedeutung anzuzeigen. 15

14 Johan Heinrich Zedler, Grosses Vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Leipzig und Halle 1749, Bd. 61, Sp. 545 und Sp. 548: ,,Unter andern wird ein Zeichen 1) getheilet in Ansehung des Objects in ein Vorbedeurungs-zeichen, (signum prognosticum) welches etwas zukünfftiges, so erfolgen werde, vorher anzeige, wie z. E. bey einem Krancken gewisse Phänomena solche Zeichen des heranrückenden Endes wären, (... ) in ein demonstrativisches Zeichen (signum demonstrativum) so eine gegenwärtige Sache anzeige, z. E. Der Rauch, daß wo Feuer; der Strauch; der am Hause hänget, daß anjetzo Wein darinnen zu verkauffen; und in ein Wiedererinnerungs-Zeichen (signum rememorativum) so uns eine vergangene Sache, uns derselben zu erinnern, vorstelle, z. E. die Epitaphien, so man Verstorbenen setzet, und dabey uns desjenigen, dem ein Epitaphium aufgerichtet worden, erinnert." 15 Ebd. - Vgl. dazu auch Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde. Darmstadt 1982, Bd. 3, S. 377. -Daß Kant diese Bestimmungen geläufig waren, geht aus der Einteilung des § 39 in seiner späten „Anthropologie" hervor. Auch er unterscheidet zwischen „willkürlichen" und „natürlichen" Zeichen und bringt in Bezug zur Zeit die bekannte Reihung von „demonstra-

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Die Unterscheidung zwischen „natürlichen" und „willkührlichen" Zeichen erfährt eine Erweiterung, als auch Gott als Zeichengeber fungieren kann. Ein solches willkürliches Zeichen ist „ von Gott oder Mensch besonders dazu verordnet, daß es zu einem Zeichen einer gewissen Sache dienen soll; wie ein solches Zeichen der Regenbogen von dem Göttlichen Bunde, daß keine Sündfluth mehr kommen solle." 16 Hier geht es um etwas ganz anderes: jetzt ist eine materielle Erscheinung zum symbolischen Träger einer unmittelbar nicht sichtbaren handelnden Instanz geworden, die etwas mitteilen will. Gilt Gott als der Autor dieser Botschaft, dann heftet sich an ein natürliches Ding eine zweite Bedeutungsschicht an; etwas Geistiges wird materiell sichtbar. Dadurch wird umgekehrt das Sichtbare zum Zeichen für ein Unsichtbares; die Welt verdoppelt sich. Dinge, Ereignisse sind nicht ausschließlich sie selbst, sondern sie verweisen auf etwas anderes: Der Regenbogen verweist auf das in die Welt eingreifende Handeln Gottes, und der Zeichenbeobachter reagiert auf das Zeichen mit religiöser Andacht oder Erhebung. Zugleich ist nun das göttlich-willkürliche Zeichen zu einem quasi-natürlichen Zeichen geworden, zu einem Zeichen, das aber nicht jeder zu lesen versteht. Was der gemeinen, der „profanen" Weltansicht als die unmittelbar gegebene Wirklichkeit der „Dinge" erscheint- das wandelt die religiöse Auffassung in eine Welt der „Zeichen" um. Der spezifisch-religiöse Blickpunkt ist geradezu durch diese Umkehr bestimmt. Alles Physische und Materielle, jegliches Dasein und jegliches Geschehen wird jetzt zum Gleichnis: zum leiblich-bildlichen Ausdruck eines Geistigen.( ... ) Kein Ding und kein Ereignis bedeutet mehr schlechthin sich selbst, sondern es ist zum Hinweis auf ein „Anderes", ,,Jenseitiges" geworden. 17

tiv, rememorativ und prognostisch". Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A.A. VII, S. 192 f. 16 Zedler, a.a.O., Bd. 61, Sp. 547. 17 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 2, S. 301.

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Diese ganze Zeichen-Welt ist im „Zedler" in einer bemerkenswerten Vielfalt noch beisammen; es gibt natürliche Zeichen, biblische Zeichen, Himmels-Zeichen, Tierkreiszeichen. Aufgezählt wird, was sie für das Leben, die Gesundheit und die Krankheit bedeuten. Es gibt Anzeichen der Pest oder der Geburt. Es gibt auch im 18. Jahrhundert immer noch Zeichen des Jüngsten Tages, für den übrigens nicht ausgeschlossen wird, daß - ungeachtet der Newtonschen Himmelsmechanik- Gott ihn vielleicht doch durch einen Kometen ankündigen wird. 18 Mit einer ausführlichen Polemik gegen die „ Charakteromantia" - die „Wahrsager-Kunst" schließt der Artikel „Zeichen'' .19 Hinweise auf mögliche „Geschichtszeichen" im Sinne Kants finden sich bei aller Zeichen-Fülle nicht. Zwar gibt es die „Zeichen dieser Zeit" nach Matth. 16, v. 1-3., aber sie betreffen die Erkenntnis des Gegenwärtigen als die Erfüllung der Weissagungen der Propheten - aber hatte Kant die nicht gerade ironisch ausgeschlossen? 20 Propheten deuten das Heilshandeln Gottes mit den Menschen; das bleibt für den „Zedler" zulässig - das außerbiblische Zeichen-Deuten hingegen verfällt der Kritik. Der Artikel „Prodigia" im 29. Bande assistiert dieser Grundlinie: ,,Prodigia, waren gewisse Anzeigungen, welche sonst ganz natürlich zugehen mochten, von den abergläubischen 18 „Dieses ist aber gewiß, daß ebenfalls in den alten Zeiten und vor vielen Jahrhunderten Cometen und andere neue Sterne sind beobachtet worden, darum können sie überhaupt und insgemein nicht Zeichen des jüngsten Tages seyn, oder desselben Einbrechung ankündigen. Doch wissen wir auch nicht, ob nicht Gott den jüngsten Tag zuletzt durch einen oder etliche besondere Cometen, oder andere ausserordentliche Sterne, die Menschen zu warnen, erscheinen lassen werde." Zedler, a.a.O., Bd. 61, Sp. 619. 19 „Die Vorhersagung zukünfftiger Dinge ist zwar auf vielerley Weise vor diesen und heutiges Tages versucht, niemals aber, als nehmlich ihrer Würckung nach, wahrhafftig unbetrüglich, jederzeit und allenthalben erlangt worden." Zedler, ebd., Sp. 634 ff. 20 „Zeichen dieser Zeit( ... ) sind gewisse Begebnisse, welche nach den Weissagungen der Propheten auf gewisse Zeiten geschehen, und sich zutragen musten, aus welchen geschehenen oder sich zutragenden Dingen die gewissen Zeiten könnten erkannt werden, und darneben zu schliessen war, daß dasjenige, was auf gewisse Zeit verheissen worden, muste erfüllet werden, oder schon erfüllet war." Zedler, ebd., Sp. 563.

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Römern aber als etwas sonderliches angenommen wurden. " 21 Man kann von folgendem Befund ausgehen: die religiöse Verdoppelung der Welt wird im Zedlerschen Lexikon akzeptiert; hier behalten „Zeichen" ihre Gültigkeit. Die jenseits dieser biblischen Legitimität auf die Geschichte bezogene Lehre von den „Vorzeichen" wird als antiker Aberglauben abgetan. Das Kantische Geschichtszeichen wird daher am ehesten verständlich, wenn man von dem noch geläufigen religiösen Gebrauch der Zeichen ausgeht, zugleich aber der Geschichte eine neue Dimension zuweist, die eine solche Übertragung überhaupt erst möglich und erforderlich macht. Es ist daher ein Blick auf den Begriff der Vorsehung angezeigt. Am Ende der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" enthüllt Kant die Herkunft dieses Begriffs aus der Analogie mit der Physikotheologie: ,,Eine solche Rechtfertigung der Natur - oder besser der Vorsehung - ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen. Denn was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält - die Geschichte des menschlichen Geschlechts ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll. " 22 Hier ist ein Wandel im Verhältnis der Abhängigkeit des Menschen von der Geschichte und von der Natur angelegt, der erst richtig deutlich wird, wenn man - wieder mit dem „Zedler" in der Hand - sich den noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geläufigen Begriff der „Vorsehung" ansieht. Bei Kant geht es um eine dynamisierte Vorsehung, um einen Begriff, der auf die künftige Verbesserung der Welt gerichtet ist. Im „Zedler" geht es - unter Hinweis auf Wolff - bei der Vorsehung um „Erhalten und Regieren", eigentlich noch um die Verknüpfung aller Dinge in einer eher statischen Welt, die nicht auf generellen „Fortschritt", sondern auf

21 Zedler, a.a.O. Bd. 29, Leipzig und Halle 1741, Sp. 750. 22 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, AA Bd.VIII, S. 30.

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sich vervollkommende Stabilisierung hin angelegt ist. ,,Erhal. tung" ist ganz wörtlich zu verstehen; Gott erhält seine Schöpfung, unter anderem mit Speise und Trank; seine „gubernatio" geschieht durch vermittelnde, natürliche Ursachen, nur in den seltensten Fällen durch unmittelbaren Eingriff, obwohl •ihm ein direkter Eingriff in das Weltgeschehen ebenso leicht fiele. 23 Die Vorsehung Gottes wird dem Objekte nach eingeteilt in die allgemeine, die besondere und die allerbesonderste. Gegenstand der allgemeinen Vorsehung sind alle Kreaturen, Gegenstand der besonderen Vorsehung ist das menschliche Geschlecht, Gegenstand der allerbesondersten Vorsehung sind die ,,Frommen", die „Gott als seinen Aug-Apfel behütet" .24 Dieses Absondern der Gläubigen aus der großen Masse der Menschen verweist auf den theologischen Hintergrund des „Zedler": Tatsächlich wird hier das „menschliche Geschlecht" noch nicht als eine Einheit verstanden, sondern es geht um das Leben und vor allem die Seele des einzelnen Menschen - von seiner durch die Vorsehung behüteten Empfängnis, über die Führung des Lebens, bis hin zum Tode. Den Frommen, den im Geiste Wiedergeborenen, die versuchen, ihren „Gnadenstand" zu bewahren, kommt dann ein besonderer Lebensweg zu. 25 Mit diesen speziellen Führungen, Reizungen, Lockungen und Ziehungen Gottes ist vor allem die pietistische Literatur des 18. Jahrhunderts angefüllt. Um ein Beispiel zu geben: Der hypochondrische Pietist Adam Bernd spielt für sein Leben gern Karten. Er weiß aber auch, daß der Teufel in den Karten steckt. Zugleich ist er sich jedoch sicher, daß den Frommen alles zum Besten ausschlägt - wenn er also beim Spiel gewinnt, dann klingt das in seiner Lebens-Beschreibung so: ,,Wo Gottes Providenz auch bei Glücks-Spielen seine Hand hat, wie ich 23 Zedler, a.a.O., Bd.50, Leipzig und Halle 1746, Sp. 1146 und Sp. 1173 f. 24 „Der Gegenstand der Vorsehung, das ist, dasjenige, für welches GOtt Sorge trägt, und dasselbe erhält und regieret, kan eingetheilet werden in den allgemeinen, (objectum generale,) in den besondern (speciale objectum,} und in den allerbesondersten, (specialissimum objectum) '', Ebd., Sp. 1165 und Sp. 1168. 25 Ebd., Sp. 1183 ff. - Zur „Bewahrung des Gnadenstandes" vgl. H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, a.a.O., S. 187 ff.

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solches stets geglaubet, so mag ich sagen, daß Gott dieses Jahr· das 36 Blätter-Buch (i.e. das Kartenspiel, H.D.K.) zu einem Mittel gemacht, oder ein Mittel hat sein lassen, meine Armut zu lindern. " 26 Damit aus diesem Umfeld der Zeichen-Deutungen das ,,Geschichtszeichen" sich herausschält und aus der" Vorsehung" eine auf die Geschichte bezogenen Instanz werden konnte, mußte zweierlei geschehen: Erstens. Die Geschichte mußte sich überhaupt erst von der "Welt" und ihrer bloßen „Erhaltung" loslösen und als ein Gegenstand erscheinen, der auf allen Gebieten in Bewegung kommt, d.h. sie mußte ihre „abderitische" Verfassung hinter sich lassen. Sie mußte aus ihrer kreisförmigen Verlaufsform in eine ,,gerade Linie" (wie Fichte zwanzig Jahre später sagen wird) übergehen, bei der die Zukunft etwas wirklich Neues bringen soll und keine Wiederholung der ewig gleichen Mischung von Gut und Böse mehr darstellt. Wie ungewohnt diese Vorstellung im 18. Jahrhundert noch ist, geht aus der Bemerkung von Moses Mendelssohn zu Lessings Schrift „ Über die Erziehung des Menschengeschlechts" von 1780 hervor. Der Fortgang sei nur für den einzelnen•Menschen, der sich vervollkommnen könne. Aber daß auch das Ganze, die Menschheit hienieden, in der Folge der Zeiten immer vorwärts rücken, und sich vervollkommnen soll, dieses scheint mir der Zweck der Vorsehung nicht gewesen zu seyn; wenigstens ist dieses so ausgemacht und zur Rettung der Vorsehung Gottes bey weitem so nothwendig nicht, als man sich vorzustellen pflegt. 27 Zweitens. Der Begriff der Vorsehung mußte seine theologische Ausdifferenzierung und seine Konzentration auf die Führung der 26 Adam Bernd, Eigene Lebensbeschreibung, München 1973, S. 105. 2 7 Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum. In: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Fromman - Holzboog 1983, Bd. 8, S. 163. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen. In: Werke (Hg. I. H. Fichte), Berlin 1845, Bd. II, S. 317.

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einzelnen Seelen überwinden. Die Moralität mußte an die Stelle einer wie immer gefühlten oder „bewiesenen" Nähe zu Gott treten. Kants Kritik am Pietismus zeigt das hinlänglich: Es geht nicht mehr darum, in einem übernatürlichen Akt der Wiedergeburt ein „anderer" Mensch zu werden, es genügt, sich zu bemühen, ein ,,besserer" zu sein. Die von der „ Vorsehung" anscheinend so bevorzugten „Frommen" werden dann zu einer Sekte, die „bei allem Schein der Demuth" stolze Anmaßung als die „übernatürlichbegünstigten Kinder des Himmels" an den Tag legen, deren Moralität aber vor der jener von ihnen so benannten Weltkinder nicht den geringsten Vorzug hat. 28 Der Begriff der Moralität schließt die Exklusiv-Rechte der frommen Heuchler aus und vereinigt überhaupt erst die Menschheit als Menschheit, die nun zum Gegenstand der Vorsehung werden kann. Auf der anderen Seite mußte diese „generelle Vorsehung" von einer noch vorrangig auf die Natur und deren Bändigung bezogene Einrichtung Gottes abgezogen und auf das neue Gebiet der Geschichte so übertragen werden, daß die vormalige Heilsgeschichte sich nun moralphilosophisch umdeuten ließ. Dies ist der Hintergrund, vor dem sich Kants Blick auf die Französische Revolution richtet.

III. Das „Geschichtszeichen": Die „Begebenheit" und ihr ferner Beobachter

Der vierte Paragraph aus dem Zweiten Abschnitt des ,~Streits der Fakult.äten" hatte das Problem aufgeworfen, daß durch „Erfahrung unmittelbar" die Frage nach dem Fortschreiten der Menschheit nicht zu lösen sei. Sicherlich: Hätte man es mit Wesen von einem angeborenen guten Willen zu tun, dann könnte man den Fortgang der Gattung zum Guten mit Sicherheit voraussagen, denn das wäre eine Begebenheit, die der Mensch „selbst machen kann." Das Problem der Nicht-Machbarkeit der Geschichte ist hier noch einmal moralphilosophisch reformuliert; die dafür erforderliche Bedingung existiert aber nicht,. denn: ,,Bei der 28 Kant, Der Streit der Fakultäten, AA Bd. VII, S. 54 ff.

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Mischung des Bösen aber mit dem Guten in der Anlage, deren Maß er nicht kennt, weiß er selbst nicht, welcher Wirkung er sich davon gewärtigen könne." Von dieser Ausgangslage her war der Begriff des „Geschichtszeichens" eingeführt. Wir haben auf den theologischen Hintergrund in der Zeichenlehre hingewiesen, zugleich aber entwickelt, daß das „Zeichen" von den Individuen abgezogen und auf den Bereich einer in der Geschichte moralisch sich fortbewegenden Menschheit übertragen worden ist. Kant betont diese Ausweitung zur Gattung selbst: Gesucht wird eine „Begebenheit", die als Geschichtszeichen „die Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen, d.i. nicht nach den Individuen betrachtet( ... ) beweisen könnte. " 29 Schon die Überschrift des sechsten Paragraphen verkündet die gefundene Lösung: ,,Von einer Begebenheit unserer Zeit, welche diese moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweiset." Nicht Taten oder Untaten, historische „Begebenheiten", sind der Beweis; ,,es ist bloß die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öff entlieh verräth." Das zugrundeliegende Ereignis ist die „Revolution eines geistreichen Volkes". Sie selbst kann zum Beweis nicht dienen, denn sie ist mit Elend und Greueltaten so angefüllt, daß gutgewillte Menschen, selbst bei positivem Resultat, sie nicht noch einmal unternehmen würden. Der Kernsatz aber lautet: Diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die selbst nicht in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann. 30

Das „Geschichtszeichen" beruht zunächst auf einer Trennung von Ereignis und Betrachter. Kant nimmt nicht das in seinen realen historischen Dimensionen „zweckwidrige" Geschehen, 29 Kant, ebd., S. 84. 30 Kant, ebd., S. 85.

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Das „Geschichtszeichen"

sondern die innere Reaktion auf dieses Geschehen zum „Zeichen" für die moralische Tendenz des Menschengeschlechts. Zugleich ist die Frage nach dem „Zeichen" der Ansatzpunkt, an dem sich der „a priorische Leitfaden" der Geschichte an diesem in sich verdoppelten „Ereignis" für die Erfahrung festmachen soll. Das Ganze ist eine theoretische Hinterlassenschaft aus der Schrift von 1784, die dort bereits angesprochen, aber nicht aufgelöst worden war. Denn Kant führt im Achten Satz seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" aus, sein geschichtsphilosophischer „Chiliasmus", der „nichts weniger als schwärmerisch ist", habe letztlich praktische Bedeutung. So besehen ist seine Geschichtsphilosophie nur eine Hilfskonstruktion für die Moralphilosophie unter der Voraussetzung, daß man etwas von einem Gang der Geschichte wahrnehmen könne, der die Neigung zu moralischem Handeln bestärkte. ,,Es kommt nur darauf an, ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke". Diese Forderung wird allerdings im Neunten Satz durch den Hinweis erschwert, zwar diene die Idee dazu, ,,ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen .als ein System darzustellen", gleichwohl seien wir zu kurzsichtig, ,,den geheimen Mechanismus" jener Veranstaltung der „Naturabsicht" zu durchschauen. 31 Das „Geschichtszeichen" will offensichtlich diesem „geheimen Mechanismus" auf die Spur kommen, um Geschichte als ein System zu erweisen, das moralisches Handeln nicht sinnlos erscheinen läßt. Zunächst führt die räumliche Distanz zwischen dem Pariser Geschehen und der Königsberger „Theilnehmung dem Wunsche nach" über den gefühlten „Enthusiasmus" für die Revolution die Kategorie des „Erhabenen" auf den Plan. Daß diese in der am „Dynamisch-Erhabenen" der Natur entfaltete Kategorie auf die Geschichte übertragen werden kann, hängt damit zusammen, daß Kants ganze „ Teleologie in praktischer Absicht" nach der Analogie 31 Kant, Idee, AA VIII, S. 2 7 u. 29. - Mit der Forderung nach der Umwandlung eines „Aggregats" in ein "System" nimmt Kant Formulierungen der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft auf. Vgl. dazu: H. D. Kittsteiner, Naturabsicht, a.a.O., S. 175 f.

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mit der „physischen Teleologie, welche letzere uns die Natur wahrnehmen läßt" entwickelt ist. 32 ,,Kühne, überhängende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich aufthürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulcane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung ... " - sie alle beweisen nur unsere Ohnmacht im Vergleich mit ihrer Macht. Und doch ist ihr Anblick nur desto anziehender - vorausgesetzt, daß „wir uns nur in Sicherheit befinden". Dann nämlich nennen wir diese Gegenstände erhaben, „weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Muth macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können." Das Erhabene kommt nicht den Gegenständen selbst zu, sondern es ist unsere innere Reaktion auf sie - unter der Bedingung einer gewissen Distanzierungsleistung. Ist man hingegen von der überwältigenden Gewalt der Natur unmittelbar betroffen, empfindet man nur Furcht. Ebenso ist es im Verhältnis zu einer zürnenden Gottheit. Der abergläubische Mensch vermag im Gewitter, im Erdbeben nur den Zorn des Gottes und seine eigene Ohnmacht zu erkennen; sklavische Niederwerfung ist sein Los, nicht aber die „Idee der Erhabenheit". 33 Die räumliche Trennung vom Ereignis verbürgt diese „Sicherheit" bis zu einem gewissen Grade, wenn auch Kant im Hinblick auf sein zeitgenössisches Preußen kritisch hinzufügt, dort sei die Äußerung dieses Enthusiasmus „selbst mit Gefahr" verbunden gewesen. Doch ist diese begrenzte Gefahr desto besser für den Enthusiasmus: es erledigt sich zumindest der Einwand, wenn die _ Gefahr nicht ernstlich drohe, sei wohl auch der Enthusiasmus so ernsthaft nicht. 34 Die räumliche Distanz schafft aber nicht nur 32 Kant, Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 307. 33 „Der Mensch, der sich wirklich fürchtet, weil er dazu in sich Ursache findet, indem er si~h bewußt ist, mit seiner verwerflichen Gesinnung wider eine Macht zu verstoßen, deren Wille unwiderstehlich und zugleich gerecht ist, befindet sich gar nicht in der Gemüthsverfassung, um die göttliche Größe zu bewundern, wozu eine Stimmung zur ruhigen Contemplation und ganz freies Urtheil erforderlich ist." Kant, Kritik der Urtheilskraft, AA V, S. 261 ff.

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das Kriterium der (relativen) Sicherheit, es läßt auch die der Moralität zuwiderlaufenden Details des Geschehens in einem Gesamtanblick verschwinden. Kant hatte sie im „Streit der Fakultäten" genau benannt: Die Französische Revolution sei mit „ Greuelthaten dermaßen angefüllt", daß ein wohldenkender Mensch sie auf diese Unkosten hin nicht zum zweiten Male beginnen würde, selbst wenn er des glücklichen Ausgangs sicher sei. Mit einer Revolution verhält es sich wie mit den ägyptischen Pyramiden: weder darf man ihnen zu nahe kommen, noch darf man zu weit von ihnen entfernt sein, wenn man „die ganze Rührung von ihrer Größe" empfinden will. Es ist bekannt, daß wer von den deutschen Jakobinern der Revolution zu nahe kam, seinen Enthusiasmus bald verloren hatte. 35 Ist aber die Bedingung der räumlichen Distanz gegeben, erfüllt uns der Anblick auch eines überwältigenden historischen Schauspiels mit Enthusiasmus. Enthusiasmus ist die „Theilnehmung am Guten mit Affekt". Kant wiederholt im „Streit der Fakultäten" fast wörtlich die Definition aus der „Kritik der Urtheilskraft". Dort hatte es geheißen: ,,Die Idee des Guten mit Affect heißt der Enthusiasm". Hier, in der Schrift von 1798 fließen die Überlegungen aus dem Entwurf „Zum ewigen Frieden" von 179 5 mit ein, wenn Kant auf das Recht pocht, das jedes Volk habe, sich ungehindert von anderen Mächten eine bürgerliche Verfassung zu 34 Kant, Kritik der Urtheilskraft, AA V, S. 262. 35 Kant, ebd., S. 251. Kant, Streit, AA VII, S. 85. -1793 schreibt Johann Georg Forster aus Paris an seine Frau: ,,Ich die Geschichte dieser greuelvollen Zeit schreiben? Ich kann es nicht. Oh, seitdem ich weiß, daß keine Tugend in der Revolution ist, ekelt mich's an. Ich konnte, fern von aller idealischen Träumerei, mit unvollkommnen Menschen zum Ziele gehen, unterwegs fallen und wieder aufstehen und wieder gehen. Aber mit Teufeln, und herzlosen Teufeln, wie sie hier alle sind, ist es mir eine Sünde an der Menschheit, an der heiligen Mutter Erde und an dem Lichte der Sonne. Die schmutzigen unterirdischen Kanäle nachzugraben, in denen diese Molche wühlen, lohnt keines Geschichtschreibers.( ... ) Es ist nicht Bitterkeit, was mich so sprechen läßt, es · ist Resultat der Beobachtung." J. G. Forster, Brief an Therese Forster vorn 16.4.1793. In: Horst Günther (Hg.): Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen deutscher Schriftsteller und Historiker, Frankfurt a. M. 1985, Bd. 2, S. 693 #-

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geben, die insofern „rechtlich und moralisch-gut" sei, weil sie ihrer Natur nach jeden Angriffskrieg unmöglich mache. ,,Dies also und die Theilnehmung am Gute mit Aff ect, der Enthusiasm (... ) giebt (... ) zu der für die Anthropologie wichtigen Bemerkung Anlaß: daß wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf Eigennutz gepfropft werden kann. " 36 Enthusiasmus ist zwar nicht selbst erhaben, weil jeder Affekt Tadel verdient, er führt aber den „Affekt der wackeren Art" mit sich, das Gefühl, Widerstände überwinden zu können. Erhaben sind die Gefühle für das moralische Gesetz „und die Anlage zur Moralität in uns. " 37 Die aber sind durch die Revolution ausgelöst und bestärken als „Zeichen" wiederum die „Hoffnung besser~r Zeiten, ohne welche eine ernstliche Begierde, etwas dem allgemeinen Wohl ersprießliches zu thun, nie das menschliche Herz erwärmt hätte. " 38 Auf den ersten Blick schien es so, als sei allein der „Enthusiasmus" das Geschichtszeichen. Es darf aber nicht vergessen werden, daß er durch ein historisches Ereignis erst ausgelöst werden mußte. Dieses Ereignis ist nicht beliebig, sondern es ist eines, das selbst auf eine „bürgerliche Verfassung" hindrängt, von der Kant fest überzeugt ist, daß sie zum „Ewigen Frieden" führen wird. 39 Ein „Geschichtszeichen" - könnte man genauer sagen - ist bei Kant ein Verhältnis zwischen einem aus räumlicher Distanz betrachteten Ereignis und einem von ihm ausgelösten Gefühl für 36 Kant, Streit, AA VII, S. 86.- Kant, Urteilskraft, AA V, S. 271 f. 37 Kant, ebd., S. 272 f. -Dieses von außen induzierte Gefühl, Widerstände überwinden zu können, ist zugleich ein Symbol für den inneren Widerstand gegen unsere „pathologisch affizierte Natur", so daß zugleich „die Erhabenheit unsere eigenen übersinnlichen Existenz" spürbar wird. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA Bd. V, S. 88. 38 Kant, Über den Gemeinspruch, AA Bd.VIII, S. 309. 39 ,,... welche keine andere als die republicanische Verfassung, wenigstens der Idee nach sein kann, mithin in die Bedingung einzutreten, wodurch der Krieg (der Quell aller Übel ui1d Verderbniß der Sitten) abgehalten und so dem Menschengeschlechte bei aller seiner Gebrechlichkeit der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird, im Fortschreiten wenigstens nicht gestört zu werden." Kant, Streit, AA Bd.VII, S. 85 f.

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die moralische Anlage der Menschheit. Zugrunde liegt das Problem, daß Geschichte als Ganzes jenseits der Verfügung menschlichen Handelns ist, nur darum entsteht überhaupt das Bedürfnis nach „Zeichen". Das Geschichtszeichen war erläutert als Zeichen in den drei Dimensionen der Zeit: rememorativum, demonstrativum, prognostikon. Die Völker der Welt werden sich an die Französische Revolution erinnern, 40 gerade auch dann, wenn die Weiterführung ihrer Bestrebungen einen anderen Weg einschlagen soll. Für die Gegenwart evoziert sie diese „moralische Anlage im Menschengeschlecht" durch den Enthusiasmus des Beobachters. Kant will die von der französischen Revolution ausgelösten moralischen Energien in eine reformatorische Politik umlenken, die einen sichereren Gang einschlägt, und von den Greueln einer Revolution verschont bleibt. 41 Nur vor diesem Hintergrund scheint es denkbar, daß er, was das Prognostikon betrifft, schließlich so massiv wird, daß er es „allen Ungläubigen zum Trotz" als einen für die strengste Theorie haltbaren Satz niederschreibt: „daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde." Denn Kant erwartet nicht ein „immer wachsendes Quantum der Moralität in der. Gesinnung, sondern Vermehrung der Producte der Legalität in pflichtmäßigen Handlungen. " 42

40 „Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Bessern aufgedeckt hat ... " Kant, ebd., S. 88. 41 Daher führt das „Zeichen'' nicht zu einer Wiederholung der Revolution, sondern es mündet in die Verstärkung einer Position ein, die Kant schon in der Aufklärungsschrift von 1784 eingenommen hatte: ,,In welcher Ordnung allein kann der Fortschritt zum Besseren erwartet werden? Die Antwort ist: nicht durch den Gang der Dinge von unten hinauf, sondern von oben herab." Kant, ebd., S. 92. 42 Kant, ebd., S. 88 und S. 91.

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IV. Die Transformation der Problemstellung

Ich gebe die Engführung an Kant nun auf und skizziere, in welche Problematik das „Geschichtszeichen" im 19. und frühen 20. Jahrhundert geraten ist. Klar scheint zu sein, daß „Geschichtszeichen" mit ihrem teleologischen Rahmen stehen und fallen. Fichte, der seine Gegenwart 1804/05 als den „ Stand der vollendeten Sündhaftigkeit" be-zeichnet, appelliert an die Urteilskraft seiner Zuhörer, sie möchten döch die Idee mit ihren Erfahrungen verbinden. 43 Mit der Hegelschen Kritik an der Differenz von Sein und Sollen fällt auch die Distanz zwischen Ereignis und Enthusiasmus in sich zusammen. Scheinbar vereinfacht sich nun das Verfahren des Zeichenlesens in der Geschichte. Die Einsicht in die Nicht-Planbarkeit der Geschichte und ihre hypothetische Konstruktion in moralphilosophischer Absicht ist dem Vertrauen auf einen Gang der Entwicklung gewichen, in der die Arbeit des Negativen mephistophelisch integriert ist. Das „Auge der Vernunft" durchdringt dieses bunte Gewühl an der Oberfläche des Geschehens und erkennt seinen substanziellen Gehalt. Ein „ Glaube an die Vorsehung" ist Hegel zu unbestimmt; er geht davon aus, daß der „Plan der Vorsehung" (den Kant nur als hypothetischen Leitfaden ·hatte gelten lassen wollen) selbst offen zutage getreten ist und gewußt werden kann. 44 Die „Zeichen" sind zu „Erscheinungen" der Vernunft geworden und haben ihren bloß hindeutenden Charakter verloren. Genau an diesem Punkt wiederholt Hegel noch ·einmal das Theorem von der Nicht-Machbarkeit der Geschichte: ,,Das Erscheinende hat sich ohne unser Zutun zu einem Wirklichen gestaltet; es ist nur das Bewußtsein, und zwar das denkende Bewußtsein nötig, es aufzufassen. " 45 Die Ereignisse selbst sind nun die Zeichen. Mit großer Sicherheit umreißt Hegel in der „Phänomenologie" den Anbruch einer

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J. G. Fichte,

Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. In: Sämtliche Werke, Hg. 1. H. Fichte, Berlin 1846, Bd. VII, S. 12 f. 44 G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Hg. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 32, S. 39 f. und S. 45. 45 Hegel, ebd., S. 48 f.

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Die Transformation der Problemstellung

neuen Zeit; mit ebenso großer Sicherheit wird er später die Französische Revolution oder die Lutherische Reformation als „Sonnenaufgang" einer Zeitenwende erfassen. Diese Erhebung historischer Daten zu Geschichtszeichen geht gut, solange der teleologische Rahmen plausibel erscheint. Hegels Deutungen leben davon, daß sie gleichsam einen Punkt einnehmen, der in Wirklichkeit nicht einnehmbar ist: den eines gewußten Zusa1nmenhangs des Ganzen von Geschichte. Von daher kann jeder Einzelheit ihr Platz zugewiesen werden. Solche Geschichtsbilder sind unerschütterlich, weil jedes Ereignis in ein festes Koordinatensystem eingeordnet wird- sollten sie aber dennoch einmal erschüttert werden, bricht eine Welt zusammen. Dieser Zusammenbruch vollzieht sich im „Untergang der Hegelschen Schule". Der feine Hinweis des jungen Marx, es sei Hegel nur um eine „Allegorie" gegangen, trifft - bei aller Sachhaltigkeit der Hegelschen Deutungen im Einzelnen - sehr wohl den Nerv der ganzen Konstruktion. 46 Doch scheinbar unbeeindruckt von seiner eigenen Kritik hat Marx selbst Bestimmungen getroffen, die eine empirische Gestalt allegorisch überlagern. Die Arbeiterklasse bleibt nicht sie selbst, sie wird zum Zeichen und schließlich zum handelnden Vollstrecker für die Tendenz des Geschehens, aus den inneren Widersprüchen des Kapitalismus einen Sozialismus hervorzubringen. Man müßte nun zeigen, wie der teleologische Rahmen im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich abbröckelt und schließlich zusammenbricht. Verschwimmt die Sicherheit, den Sinn entziffern zu können, bekommen wir es mit „Zeichen" zu tun, die von ihrem ehemaligen übergreifenden Zusammenhang verlassen sind und die nun wieder auf ein historisches Ereignis ohne welthistorischen Nimbus reduziert werden. Wir haben den Einbruch der Aufklärung in die alte Zeichen-Welt des „Zedler" behandelt; am Ende des 20. Jahrhunderts ist es der Deutungswelt des Sozialis46 „Da es eigentlich nur um eine Allegorie, nur darum zu tun ist, irgendeiner empirischen Existenz die Bedeutung der verwirklichten Idee beizulegen, so versteht es sich, daß diese Gefäße ihre Bestimmung erfüllt haben, sobald sie zu einer bestimmten Inkorporation eines Lebensmomentes der Idee geworden sind." KarlMarx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts. In Marx-Engels Werke, Berlin 1964, Bd. 1, S. 241.

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mus so ergangen. Nichts aber ist veralteter als ruinierte Geschichtszeichen. Man kann das Deuten von „Geschichtszeichen" mit Ernst Cassirer als eine Art der symbolischen Orientierung beschreiben. Sie boten ein Wahrnehmungserlebnis, das „als ,sinnliches' Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen , ,Sinn' in sich faßt und ihn zur unmittelbar konkreten Darstellung bringt. " 47 Die Deutung setzt gerade die Beziehung auf ein „charakteristisches Sinn-Ganzes" voraus. Wenn sich dieses zersetzt, werden die alten Orientierungsmarken undeutlich. Andererseits wird eine neue Generation von Geschichts-Zeichen sogleich wieder konstruiert. Das wirft die Frage auf, ob überhaupt eine Orientierung in der Geschichte ohne „Geschichtszeichen" möglich ist. Wenn aber der teleologische Rahmen konstitutiv für das Zustandekommen von Geschichtszeichen ist, mit der Kritik an der Teleologie diese Möglichkeit aber nicht mehr gangbar ist, dann wird man fragen müssen, ob es eine nicht-teleologische Theorie von Geschichtszeichen geben kann. Ich diskutiere dieses Problem anhand eines Aufsatzes von Ernst Gombrich.

V. ,,Zeichen der Zeit'' Gombrichs Vortrag „In Search of Cultural History" aus dem Jahre 1967 enthält den für jeden Kulturhistoriker schmeichelhaften Satz: ,,Wenn es keine Kulturgeschichte gäbe, müßte man sie jetzt erfinden" .48 Warum jetzt und warum Kulturgeschichte? Das hängt zusammen mit dem Begriff ,,Zeichen der Zeit". Den Hinweis auf das neutestamentarische „Z~ichen der Zeit" hatten wir im Zusammenhang mit dem „Zedler" behandelt. Die Pharisäer treten an Jesus heran und fordern ihn auf, Zeichen am Himmel zu deuten. ,,Aber er antwortete und sprach: Des Abends sprecht ihr: Es wird ein schöner Tag werden, denn der Himmel ist rot; und des Morgens sprecht ihr: Es wird heute ein Ungewitter sein, denn der Himmel ist rot und trübe. Ihr Heuchler! über des Himmels 47 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 3, S. 235. 48 Ernst H. Gombrich, Die Krise der Kulturgeschichte, München 1991, S. 85.

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,,Zeichen der Zeit"

Gestalt könnt ihr urteilen; könnt ihr denn nicht auch über die Zeichen dieser Zeit urteilen?" 49 Die „Zeichen der Zeit" zu lesen und zu verstehen - das bedeutet auch bei Gombrich, sich Orientierung in der Geschichte zu verschaffen. Meine Lektüre fragt danach, was es an „Zeichen der Zeit" geben kann, die nicht in einem teleologischen System gedacht werden müssen, die aber auch nicht einem der unmittelbar aus der Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie hervorgegangenen Gegenentwürfe entstammen. Vorerst ausgeschaltet sind damit der Begriff des „Geschichtszeichens" in der Tradition von Kant, aber auch Geschichtsentwürfe in der Tradition Nietzsches. Denn obwohl Nietzsche in den Vorarbeiten zu „Wir Philologen" sich notiert: ,,Zeichen und Wunder werden nicht geglaubt; nur eine ,Vorsehung' braucht so etwas" - entwickelt er doch eine Art von Nachfolgekategorie. Man kann diesen Typus des Geschichtedenkens so beschreiben, daß ihm aus der Kritik an der Teleologie eine bewußte Einschließung in einen handlungsaktivierenden „ begrenzten Horizont" hervorgeht, innerhalb dessen dann doch wieder historische Ereignisse zu „Zeichen" werden. Wenn Nietzsche in der italienischen Renaissance und in der lutherischen Reformation die Wiederkehr des Kampfes zwischen „Rom" und „Judäa" sieht, oder wenn Heidegger unter Bezug auf Nietzsche 1935 sagen konnte, Rußland und Amerika seien die Orte der „Weltverdüsterung", so ist auch das Zeichendeutung im Rahmen eines sich mehr und mehr abschließenden Systems der deutschen Zivilisationskritik. 50 49 Gombrich, ebd., S. 43, 55, 65 und 69. - Luthers Eindeutschung von Matth. 16 v. 1-3 ist in der „Einheitsüberseztung" gekürzt, da gerade die hier interessierenden Verse heute als spätere Einfügung gelten. Die Bibel. Altes und Neues Testament, Freiburg, Basel, Wien 1980, S.1108. 50 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. In: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hrsg.): Kritische Studienausgabe, im folg. zit. KSA, München 1988, Bd. 8, S. 45 f.- Vgl. dazu: H. D. Kittsteiner, Erinnern - Vergessen Orientieren. Nietzsches Begriff des ,umhüllenden Wahns' als geschichtsphilosophische Kategorie. In: D. Borchmeyer (Hg.), ,Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben', Frankfurt a. M. 1996, S. 48-75. - Ders., Heideggers Amerika als Ursprungsort der Weltverdüsterung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 45 (1997), S. 599-617.

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Zeichen zu deuten in einem geschlossenen Deutungsrahmen, in einem mit teleologischen Ideen oder erneuerten Mythen abgerundeten Horizont, scheint allein möglich zu sein. Eben das war ja Nietzsches frühe Forderung für eine Erneuerung der Kultur gewesen: ,,Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab." Schwierig wird es, wenn man sich eingestehen muß, daß der Weg der Geschichte unbestimmt, daß der Horizont offen ist. Gleichwohl scheint dieser Ausblick nur schwer erträglich zu sein, denn der geschichtliche Horizont wird sofort wieder mit ästhetischen oder politischen Antizipationen vollgestellt. Diesen horror vacui hat ebenfalls Nietzsche bezeichnet. ,,Worauf weist das ungeheure historische Bedürfnis der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloserer anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus ... " 51 Sicherlich, je geschlossener das „Weltbild", desto umfassender die Einordnung aller historischen Phänomene. Desto größer aber auch die Gefahr, einer fundamentalen Fehldeutung zu erliegen, so daß letztlich die Fehldeutung der Phänomene selbst zum Untergang des „Weltbildes" beiträgt, weil es sich selbst nicht mehr korrigieren kann. Dabei ist es gerade nicht so, wie Heidegger will, daß in der neuzeitlichen „Eroberung der Welt als Bild" das Wort Bild das „Gebilde des vorstellenden Herstellens" bedeute. 52 Nur wer davon ausgeht, daß das Neue der neuen Zeit darin bestehe, ,,daß der Mensch von sich aus und mit eigenem Vermögen sich aufmacht, seines Menschseins inmitten des Seienden im Ganzen gewiß und sicher zu werden" kann so sprechen. 53 Hier ist die

51 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA Bd. 1, S. 145 f. 52 Martin Heidegger, Das Zeitalter des Weltbildes. In: Ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 1964, S. 87. 53 M. Heidegger: Friedrich Nietzsche: Der europäische Nihilismus, Frankfurt a. M. 1986, S.164. - Wir hatten dieses Problem bereits oben als die Nicht-Übertragbarkeit der „genetischen Definition" auf das Feld der Geschichte gestreift. Vgl. Anm. 5.

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Gombrich über Hegel und Burckhardt

„Neuzeit" auf die Stabilisierungsmoderne des 17. Jahrhunderts reduziert; unterschlagen wird die Einsicht des späten 18. Jahrhunderts, daß Geschichte gerade nicht das ist, was bewußt von Menschen gemacht wird. Wenn diese Grundkonstellation bis heute Bestand hat, dann kann die Frage nur lauten: Gibt es einen kritischen Umgang mit „Geschichtszeichen'', wenn sie schon zur Orientierung in der Gegenwart unerläßlich sind?

VI. Gombrich über Hegel und Burckhardt Gombrich liest Hegel vor dem Hintergrund von Arthur Lovejoys „The Great Chain of Being", genauer vor dem 9. Kapitel über die Formverwandlung der „Kette der Geschöpfe" durch das Eindringen der Zeit. Die vormals vertikal zu Gott aufsteigende Abstufung der Wesen kippt in eine horizontale Zeitachse um. ,,Hegel übersetzte diesen Aufstieg in eine Terminologie logischer Kategorien und verwandelte damit den kosmischen Prozeß in eine Progression des göttlichen Geistes, der sich selbst denkt, wobei der Zwang, Widersprüche aufzulösen, ihn treibt, zu immer höheren Ebenen des Bewußtseins aufzusteigen." Die Folge davon ist, daß nun jede „Kultur" ihren notwendigen Platz in der sich vervollkommnenden Entwicklung des Weltgeistes zugewiesen bekommt. In der Geschichte herrscht zwar keine unmittelbar-machbare Ordnung; auf dem Umweg über die „List der Vernunft" herrscht aber die Ordnung des Weltgeistes. Hier taucht der Terminus „Zeichen der Zeit" bei Gombrich zum ersten Male auf: ,,Der Weltgeist hat immer recht. Das gilt für die Gegenwart genauso wie für die Vergangenheit. Man kann die Zeichen der Zeit beobachten, aber man hat kein Recht, über sie zu urteilen" .54 Jedes historische Phänomen, jeder Mensch, kann in diesem System zum Träger der Entwicklungsschritte des Weltgeistes werden. Gombrich bewundert wie Hegel diese das Einzelne in seiner Bedeutung erfassenden Bestimmungen handhabt, an einem Detail 54 Gombrich, a.a.O., S. 43. - Arthur 0. Lovejoy, Die große Kette der Wesen, Frankfurt a. M. 1985, S. 292 ff.

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beim Übergang vom Feudalismus in die Neue Zeit. In Bezug auf die Kriegstechnik heißt es dort: ,,Denn beim Gebrauch des Schießpulvers wird ins Allgemeine hineingeschossen, gegen den abstrakten Feind und nicht gegen besondere Personen". Betrachtet man den Kontext des Zitates, wird Hegels Deutung noch erstaunlicher und umfassender. Man bedauert - sagt er - oft den Untergang der Tapferkeit, denn jeder Edle kann nun von einem Schuft aus dem Hinterhalt erschossen werden. Indes: ,,Nur durch dieses Mittel konnte die höhere Tapferkeit hervorgehen, die Tapferkeit ohne Leidenschaft; denn beim Gebrauch des Schießpulvers wird ins Allgemeine hineingeschossen, gegen den abstrakten Feind und nicht gegen besondere Personen. Ruhig geht der Krieger der Todesgefahr entgegen, indem er sich für das Allgemeine aufopfert, und das eben ist der Mut der gebildeten Nationen, daß er seine Stärke nicht in den Arm allein setzt, sondern wesentlich in den Verstand, die Anführung, den Charakter der Anführer und, wie bei den Alten, in den Zusammenhalt und das Bewußtsein des Ganzen. " 55 Das Schießpulver ist nicht einfach nur das Schießpulver; indem es in seiner wahren Bedeutung erkannt wird, gilt es als Zeichen der Geschichte für eine neue Form der Tapferkeit und des Patriotismus. Es ist ein faszinierendes System des Erkennens, in dem mehrere Zeitebenen zusammengeschlossen werden, um dem einzelnen Ereignis zu seiner „Bedeutung" zu verhelfen. Andererseits warnt Gombrich vor Hegel. Er verfällt auf die gleiche Kritik, die auch Marx vorgebracht hatte; wir haben sie bereits erwähnt: Hegel liefert nur Allegorien. Das Einzelne verschwindet in seiner Bestimmung, Gefäß des Geistes zu sein und wird um seinen Eigenwert gebracht. (Vgl. Anm. 46.) Die allegorische Bestimmung eines Phänomens als „Zeichen" vom gewußt_en Ende her überwuchert das Material, an das der Zeichencharakter sich anheftet. Die Allegorie weiß daher immer schon zu viel zugleich aber auch zu wenig. 56 Gombrich führt diese Kritik nicht 55 Gombrich, ebd., S. 44. -G. W. F.Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Werke in zwanzig Bänden, Hrsg. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, Bd. 12, S.482. 56 Vgl. dazu H. D. Kittsteiner, Listen der Vernunft, a.a.O., S. 29.

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weiter aus. Ihn interessiert das Positive am Hegelschen Verfahren: Wer eine Entwicklung in den Gang des Weltgeistes einordnen kann, ist an normativen Vergleichen der Phänomene untereinander nicht mehr interessiert. Sie haben alle ihr Existenzrecht in der Kette der Entwicklung: ,,Jetzt gab es keinen Verfall mehr, sondern nur das logische Fortschreiten des Geistes, dem die Veränderungen in den Denkmälern der Vergangenheit zuzuschreiben sind. Die verschiedenen Kunststile wurden dadurch zu sichtbaren Zeichen (Herv. v. mir) eines sich wandelnden Geistes". 57 Das sind die beiden Pole seiner Argumentation: Zum einen die Idee der Gleichberechtigung aller Stile innerhalb einer notwendigen Entwicklung, zum andern die Furcht, daß Hegels Zeichenbestimmungen zu allegorisch-diktatorisch ausfallen möchte. Er sucht nach einem „Hegelianismus ohne Metaphysik". Als eine erste Stufe dazu betrachtet er den „Hegelianismus Burckhardts". Das muß überraschen, denn die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" sind ein Gegenentwurf zu Hegel. Gombrich bezieht sich auf den jungen Burckhardt von 1842, der an seinen Freund schreibt, ihm liege zwar nicht das Deduzieren aus Prinzipien, er hoffe aber, durch „ unablässiges Parallelisieren" sich manches Allgemeine zu abstrahieren. 58 Gombrich behandelt Burckhardt als einen der Versuche, Hegels Gesamtentwurf der Geschichte auf empirische Grundlagen zu stellen - und er ist der Auffassung, Burckhardt habe zum Schluß in den Tatsachen den Hegelschen Weltgeist wiederentdeckt. Im Zusammenhang mit diesem Auswahlverfahren taucht unser Begriff des „Zeichens" wieder auf: ,,Aber was uns schließlich unsere Bewunderung abnötigt, ist nicht so sehr die Zahl der Seiten, die er las und exzerpierte, als vielmehr die Genialität, mit der er diese ausgewählten Exzerpte in Zeichen der Zeit zu verwandeln wußte." Material wird zum Zeitzeichen dadurch, daß es zu einem „Bild" der Zeit erhoben wird. Gombrich umschreibt dieses Verfahren so: Burckhardt habe sein Bild der Epoche nicht aus einer „vorgefaßten 57 Gombrich, ebd., S. 51. 58 Jacob Burckhardt, Brief an Karl Fresenius. In: Max Burckhardt (Hg.): Briefe, Basel 1949, Bd. 1, S. 206 f.

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Idee" hergeleitet - doch in der Unendlichkeit der Dokumente brauche man eine leitende Idee, die „Ordnung" in das Chaos bringt: ,,Sie gleicht dem Magnet, der aus gestaltlosen Eisenfeilspänen Figuren entstehen läßt." Bild, Figur, Magnet - sind das die Gegenbegriffe zu Hegel? 59

VIl. Hegelianismus ohne Metaphysik? Kann man die Geschichts-Philosophie Hegels retten, ohne seine Metaphysik akzeptieren zu müssen? Dann wird man seine Versicherung zu Beginn seiner Philosophie der Geschichte, deren Kategorien lägen schon fertig in der Logik vor, nicht nachvollziehen wollen. Gombrich führt Wölfflin, Lamprecht und Dilthey als Kronzeugen an, den Gedanken der stilistischen „Einheit einer Kultur" oder eines Zeitalters neu und anders auszudrücken. Gombrichs vornehmstes Beispiel ist Alois Riegls „Spätrömische Kunstindustrie". Aus dem Abschnitt über das römische „Kunstwollen" stellt er seine an Hegel entwickelten beiden Grundsätze heraus. Es gibt keine Verfallszeiten, sondern alles ist notwendige Stufe im Entwicklungsprozeß. Die spätrömische Kunst ist dann nicht mehr klassisch-haptisch, sondern „optisch", diese Wendung entspreche aber den Wandlungen der Weltanschauung. Die altorientalische und die archaisch-griechische Zeit war „monistisch": Die Seele galt nur als verfeinerter Stoff. Die klassische Zeit ist dualistisch, die Spätzeit kehrt mit Plotin zu einem umgekehrten Monismus zurück: Nun gelte der Körper nur als eine vergröberte Seele - das Auge als Seelenspiegel werde dominierend hervorgehoben. ,,Und er bewies zu seiner eigenen Zufriedenheit (und zur Zufriedenheit vieler anderer), daß dieser epochale Prozeß ebenso klar in den Ornamenten spätrömischer Fibeln zum Ausdruck kommt wie in der Philosophie Plotins. Es ist klar, daß dieser Anspruch, die ,Zeichen der Zeit' lesen und die Geheimnisse des historischen Pro59 Gombrich, Kulturgeschichte, S. 55 und 61.

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Hegelianismus ohne Metaphysik? zesses erkunden zu können, dem Studium der Kunstgeschichte neue Impulse geben mußte. "60

Auch Panofsky habe niemals die Hoffnung aufgegeben, ,,die organische Einheit aller Aspekte einer Periode aufzeigen zu können". Das Faszinosum der Deutung des Geschichtsprozesses in dem von ihm selbst ausgedrückten „Zeichen" bleibt bestehen: ,,Wie Hegel selbst die Erfindung des Schießpulvers als einen notwendigen Ausdruck des fortschreitenden Geistes ansah, soll der geschulte Historiker die Erfindung der Ölmalerei (oder was man damals so nannte) als ein Zeichen der Zeit behandeln." Andererseits: warum soll man nicht einfach argumentieren, Feuerwaffen seien neu und überlegen, in der Technik van Eycks lasse sich Licht und Glanz besser darstellen als in Temperafarben? 61 Warum galt den romantischen Künstlern die Linie als rein, naiv und sittlich, das malerisch-verwischte dagegen als Verlust der Unschuld? Die Nazarener hielten sich an Fra Angelico und suchten das fromme Paradies des Mittelalters hinter der rioch nicht so weit zurückliegenden Französischen Revolution. ,,Wäre man einem Mitglied dieses Kreises begegnet, hätte man aus seiner Kleidung allein beinahe mit Sicherheit darauf schließen können, was für Meinungen er äußert und was für Bilder er malen würde." Diesen komplexen Zusammenhang nennt Gombrich ein ,,Syndrom": ,,Ein solches Syndrom ist charakteristisch für das, was man eine ,Bewegung' nennt". Das zielt auf den Unterschied von Bewegungen und Perioden ab. Bewegungen werden von Menschen angefangen; als überindividuelle Perioden faßte Hegel sie auf, weil er sie als Ausdruck eines kollektiven Geistes sah. Damit kommt Gombrich zu seinem Kernpunkt. Ihm will scheinen, ,,daß es dieser Glaube an die Existenz eines unabhängigen überindividuellen kollektiven Geistes war, der die Entwicklung einer wahren Kulturgeschichte verhindert hat." Die Kulturgeschichte wird nur Fortschritte machen, wenn sie unbeirrt dem ,,Kollektivgeist" abschwört und sich dem Individuum zuwendet. 60 Gombrich, eb